The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 9-10: Die Brüder Karamasoff This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Sämtliche Werke 9-10: Die Brüder Karamasoff Author: Fyodor Dostoyevsky Contributor: Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky Editor: Arthur Moeller van den Bruck Translator: E. K. Rahsin Release date: March 2, 2022 [eBook #67541] Language: German Original publication: Germany: Piper Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library. *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 9-10: DIE BRÜDER KARAMASOFF *** F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski herausgegeben von Moeller van den Bruck Übertragen von E. K. Rahsin Erste Abteilung: Neunter und zehnter Band F. M. Dostojewski Die Brüder Karamasoff Roman R. Piper & Co. Verlag, München R. Piper & Co. Verlag, München, 1914 Vierte Auflage Copyright 1914 by R. Piper & Co., G. m. b. H., Verlag in München. [Illustration: F. M. Dostojewski] Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte. Ev. Johannis, Kap. XII, 24. Inhalt Erstes Buch: Die Geschichte einer Familie Seite I. Kap. Fedor Pawlowitsch Karamasoff 1 II. „ Der erste Sohn 7 III. „ Die zweite Frau und deren Kinder 12 IV. „ Der dritte Sohn Aljoscha 23 V. „ Die Startzen 38 Zweites Buch: Die unschickliche Versammlung I. Kap. Die Ankunft im Kloster 55 II. „ Der alte Narr 64 III. „ Die gläubigen Weiber 80 IV. „ Die kleingläubige Dame 94 V. „ Und es geschehe also 108 VI. „ Wozu lebt solch ein Mensch? 125 VII. „ Der Seminarist und Streber 144 VIII. „ Der Skandal 160 Drittes Buch: Die Wollüstlinge I. Kap. In der Bedientenstube 176 II. „ Lisaweta Ssmerdjäschtschaja 186 III. „ Die Beichte eines heißen Herzens. In Versen 193 IV. „ Die Beichte eines heißen Herzens. In Prosa 208 V. „ Die Beichte des heißen Herzens. „Kopfüber hinab“ 222 VI. „ Ssmerdjäkoff 237 VII. „ Die Kontroverse 247 VIII. „ Beim Gläschen 257 IX. „ Die Wollüstlinge 271 X. „ Beide zusammen 281 XI. „ Noch ein verlorener Ruf 301 Viertes Buch: Ausbrüche I. Kap. Pater Ferapont 316 II. „ Beim Vater 335 III. „ Die kleinen Schuljungen 344 IV. „ Bei Chochlakoffs 352 V. „ Im Empfangssalon 364 VI. „ In der Stube 385 VII. „ Und in frischer Luft 400 Fünftes Buch: Pro und Contra I. Kap. Das Verlöbnis 420 II. „ Ssmerdjäkoff mit der Gitarre 440 III. „ Die beiden Brüder 452 IV. „ „Empörung“ 470 V. „ „Der Großinquisitor“ 492 VI. „ Ein vorläufig noch sehr unklares Gespräch 532 VII. „ „Mit einem klugen Menschen ist auch das Reden ein 553 Vergnügen“ Sechstes Buch: Ein russischer Mönch I. Kap. Der Staretz Sossima und seine Gäste 569 II. „ Aufzeichnungen aus dem Leben des in Gott verschiedenen Priestereinsiedlermönches, des Staretz Sossima, zusammengestellt nach dessen eigenen Worten von Alexei Fedorowitsch Karamasoff. Biographische Aufzeichnungen a) Vom jungen Bruder des Staretz Sossima 577 b) Von der Heiligen Schrift im Leben des Staretz 584 Sossima c) Erinnerungen des Staretz Sossima aus den 594 Knaben- und Jugendjahren seines weltlichen Lebens. Das Duell d) Der geheimnisvolle Gast 607 III. „ Aus den Gesprächen und Predigten des Staretz Sossima e) Einiges über den russischen Mönch und seine 630 Bedeutung f) Einiges über Herren und Diener: Kann es 635 zwischen Herr und Diener eine geistige Bruderschaft geben? g) Vom Gebet, von der Liebe und von der Berührung 642 mit anderen Welten h) Kann man Richter über seinesgleichen sein? Vom 647 Glauben bis ans Ende i) Von der Hölle und vom höllischen Feuer. Eine 651 mystische Betrachtung Siebentes Buch: Aljoscha I. Kap. Der Verwesungsgeruch 656 II. „ Solch ein Augenblick 678 III. „ Das Zwiebelchen 688 IV. „ Die Hochzeit zu Kana in Galiläa 722 Achtes Buch: Mitjä I. Kap. Kusjma Ssamssonoff 731 II. „ Ljägawyj 750 III. „ Die Goldgruben 763 IV. „ In der Dunkelheit 784 V. „ Der plötzliche Entschluß 795 VI. „ „Ich fahre!“ 825 VII. „ Der Erste und Unbestrittene 840 VIII. „ Rausch 871 Neuntes Buch: Die Voruntersuchung I. Kap. Der Anfang der Laufbahn des Beamten Perchotin 897 II. „ Der Alarm 910 III. „ Der Gang der Seele durch die Hölle. Das erste 922 Purgatorium IV. „ Zweites Purgatorium 939 V. „ Das dritte Purgatorium 954 VI. „ Der Staatsanwalt 976 VII. „ Mitjäs großes Geheimnis 991 VIII. „ Die Aussagen der Zeugen. „Das Kindichen“ 1014 IX. „ Wie Mitjä fortgeführt wurde 1032 Zehntes Buch: Die Knaben I. Kap. Koljä Krassotkin 1041 II. „ Die Gören 1051 III. Kap. Die Schüler 1062 IV. „ Shutschka 1077 V. „ An Iljuschas Bettchen 1092 VI. „ Frühe Entwicklung 1122 VII. „ Iljuscha 1135 Elftes Buch: Iwan Fedorowitsch I. Kap. Bei Gruschenka 1143 II. „ Das kranke Füßchen 1162 III. „ Das Teufelchen 1182 IV. „ Die Hymne und das Geheimnis 1194 V. „ „Nicht du, nicht du!“ 1221 VI. „ Erstes Wiedersehen mit Ssmerdjäkoff 1233 VII. „ Der zweite Besuch bei Ssmerdjäkoff 1252 VIII. „ Der dritte und letzte Besuch bei Ssmerdjäkoff 1271 IX. „ Der Teufel. Iwan Fedorowitschs Alb 1303 X. „ „Das hat Er gesagt!“ 1341 Zwölftes Buch: Der Justizirrtum I. Kap. Der verhängnisvolle Tag 1352 II. „ Die gefährlichen Zeugen 1366 III. „ Die ärztliche Expertise und die Geschichte von 1383 dem einen Pfund Nüsse IV. „ Das Glück lächelt Mitjä 1393 V. „ Die Katastrophe 1410 VI. „ Die Rede des Staatsanwalts: Die Charakteristik 1428 VII. „ Der Überblick 1448 VIII. „ Über Ssmerdjäkoff 1459 IX. „ Der Schluß der Rede des Staatsanwalts: Der Gipfel 1479 der Psychologie. Die jagende Troika X. „ Die Rede des Verteidigers. Ein Stock hat zwei 1503 Enden XI. „ Kein Geld. Keine Beraubung 1512 XII. „ Und kein Mord 1524 XIII. Kap. Der Übertreter des Gebots 1539 XIV. „ Das Urteil der Bauern 1555 Epilog I. Kap. Pläne zu Mitjäs Rettung 1569 II. „ Auf einen Augenblick ward die Lüge Wahrheit 1579 III. „ Iljuschas Beerdigung. Die Rede am großen Stein 1595 Zur Einführung. Bemerkungen über Dostojewski Zwanzig Jahre haben wir nach dem Tode Dostojewskis gebraucht, um zu begreifen, daß wir heute keine zufällige „Degeneration“, keinen zeitweiligen „Niedergang“, keine, wie man meint, aus dem Westen herübergebrachte Dekadenz, sondern das lange vorbereitete, natürliche und notwendige Ende der russischen Literatur erleben. Furchtbar ist es uns, das einzugestehen. Vielleicht aber liegt in diesem Furchtbaren zugleich auch Freudiges für uns, vielleicht ist die russische Literatur, so groß sie auch sein mag, doch noch kleiner als das russische Leben? Vielleicht ist das Ende der russischen Literatur d. h. unserer großen russischen Anschauungsweise, der Anfang zu der großen russischen Tat? Erst jetzt, da die russische Literatur ihr Ende erreicht hat, oder wenigstens ein vollkommen bestimmter, unwiederholbarer Kreis ihrer Entwicklung sich abschließt, erst jetzt fangen wir an zu verstehen, was eigentlich von den dreißiger bis zu den achtziger Jahren des XIX. Jahrhunderts in Rußland vor sich gegangen ist, von Puschkins „Onégin“ bis zu „Anna Karenina“ und den „Brüdern Karamasoff“. Um in der Weltkultur etwas dieser plötzlichen Offenbarung, oder richtiger, etwas diesem Ausbruch geistiger Kräfte Ähnliches zu finden, müßte man zur Entwicklung der griechischen Tragödie von Äschylos’ „Prometheus“ bis zu Euripides’ „Alkestis“ oder zur Geschichte der Malerei der italienischen Renaissance zurückgreifen. Acht Jahrhunderte lang, seit dem Anfang Rußlands bis zu Peter, schliefen wir; in dem Jahrhundert von Peter bis Puschkin begannen wir zu erwachen; und dann, in dem halben Jahrhundert von Puschkin bis Tolstoj und Dostojewski, durchlebten wir nach dem plötzlichen Erwachen, das erfolgt war, drei ganze Jahrtausende der westeuropäischen Menschheit. Der Atem vergeht einem von dieser Schnelligkeit des Erwachens, die der Schnelligkeit eines Steinfluges in den Abgrund gleichkommt. L. Tolstoj und Dostojewski – diese beiden Gipfel der russischen Kultur – wurden vom ersten Strahl der furchtbaren Sonne erleuchtet, wie bis jetzt noch kein einziger aller Gipfel der westeuropäischen Kultur erleuchtet worden ist. Diese furchtbare Sonne aber, das ist der Gedanke an das Ende der Weltgeschichte. Ich fühle die mir drohende Gefahr, das Heiligste lächerlich zu machen, denn für die Kinder dieses Jahrhunderts, für die Menschen der ewigen Mittelmäßigkeit, des endlosen „Fortschritts“, der Weiterentwicklung der Welt, gibt es nichts Lächerlicheres, Dümmeres, Unwahrscheinlicheres, Beleidigenderes als diesen Hauptgedanken des ganzen Christentums – der Gedanke an das Ende der Welt. Doch ich beruhige mich damit, daß mich jetzt ja doch niemand oder so gut wie niemand hören wird: meine Worte, die uns wie Donnergetöse betäuben, werden den „Menschen dieses Jahrhunderts“ kaum vernehmbares Geflüster scheinen. „Allem ist das Ende nahe,“ „Kinder, es ist die letzte Stunde,“ wiederholte vor dem Tode der hundertjährige Greis, der geliebte Jünger des Herrn, der an Seinem Herzen geruht und das Geheimnis dieses Herzens gehört hatte – Johannes, „der Sohn der Gewitter“. Ja, je näher wir dem Herzen des Herrn sind, um so verständiger wird dieser sein geheimer Gedanke – der Gedanke an das Ende. Fast zwei Jahrtausende sind seit der Zeit vergangen, als dieses Wort gesagt ward: „Das Ende der Welt ist nahe“ – das Ende aber kommt nicht. „Wo ist die Verheißung seiner Zukunft? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles, wie es von Anfang der Kreatur gewesen ist“ (Zw. Sendschr. Petri III, 4). Und gerade jetzt glauben die Menschen mehr denn je, daß es ein Ende überhaupt nicht geben werde, daß eher seine Worte vergehen werden, als Himmel und Erde. Doch selbst wenn die Zentripetalkraft unseres Planeten noch für ganze zwei Jahrtausende ausreichte – für zwei Augenblicke vor dem Angesicht des Ewigen – was hat das zu sagen? Ist es doch unmöglich, daß wir das _nicht_ sehen, was wir erblickt haben. Gleich denen, die, auf einer Höhe stehend, über die Köpfe der Menschen hinweg das ihnen Nahende erblicken, während dieses der unter ihnen stehenden Masse vorläufig noch unsichtbar ist, haben wir, über alle kommenden Jahrhunderte und möglichen geschichtlichen Ereignisse hinweg, das Ende der Weltgeschichte erblickt. Das Anzeichen unserer neuen Annäherung an Christus ist dieser plötzlich zu gleicher Zeit auf allen äußersten, höchsten Punkten des Menschengeistes aufdämmernde Gedanke an das Ende. „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß,“ also spricht Zarathustra-Nietzsche. „Das Menschengeschlecht muß erlöschen“ – stimmt L. Tolstoj Nietzsche bei. „Das Ende der Welt kommt,“ gibt auch Dostojewski zu. Alle drei haben sie sich auf diese für die zeitgenössischen Menschen des unendlichen „Fortschritts“ lächerlichste und unwahrscheinlichste, für uns furchtbarste und glaubwürdigste Prophezeiung gleichsam verschworen: „Das Ende ist nahe“. Nicht umsonst stimmt das, was auf den höchsten Gipfeln der russischen und universalen Kultur aufgedämmert ist, mit dem überein, was in dem tiefsten Elemente des russischen Volkes vor sich geht: nicht umsonst hat in den letzten drei Jahrhunderten gerade das russische Volk so hartnäckig und unablässig wie kein einziges der anderen westeuropäischen Völker über das Ende der Welt nachgedacht. Wir sind „Dekadente“, obgleich auch unsere „Dekadenz“ vielleicht etwas Verwandtes, Volkliches, Russisches ist – das nicht von außen, sondern von innen kommt, nicht aus Westeuropa, sondern aus der Tiefe, aus dem blutverwandtesten Mutterschoß der russischen Erde (ist denn Dostojewski vom Gesichtspunkte des klassischen, akademischen Puschkin nicht „dekadenter“ als wir alle?); vielleicht ist auch unsere „Dekadenz“ gleichfalls etwas Historisch-Natürliches, etwas Notwendiges, denn was sind wir anderes, als das natürliche und notwendige Ende der russischen Literatur, die selbst das Ende von etwas noch Größerem ist? Mögen wir die Schwächsten der Schwachen sein. „In der Schwäche vollendet sich unsere Kraft.“ Unsere Kraft aber besteht darin, daß uns selbst der Mächtigste aller Teufel mit keiner einzigen Verlockung der ewigen Mittelmäßigkeit, des unendlichen „Fortschritts“ gewinnen kann. Wir nehmen keine Durchschnittsphilosophie an, denn wir glauben an das Ende, sehen das Ende, wollen das Ende, denn wir selbst – sind das Ende oder wenigstens der Anfang vom Ende. In unseren Augen liegt ein Ausdruck, der noch nie in Menschenaugen gelegen hat; in unseren Herzen ist ein Gefühl, das kein einziger Mensch nun schon seit neunzehn Jahrhunderten mehr empfunden hat, seit der Zeit, als dem Einsiedler von Pathmos die Vision erschien: „Und der Geist und die Braut sagen: komm! und der es hört, sage: komm! Es spricht, der solches zeuget: wahrlich, ich komme bald! Amen. Wahrlich, komme, Herr Jesus Christus!“ Wir sind wie Gräser auf dem äußersten Rande eines steilen Abhanges, auf einer Höhe, wo nichts mehr wächst. Dort unten in den Tälern reichen hohe Eichenbäume mit ihren Wurzeln bis tief hinein in die Erde. Wir aber sind die Schwachen, Kleinen, von der Erde aus kaum Sichtbaren, wir stehen unbeschützt vor allen Winden und Stürmen, fast wurzellos, fast verwelkt. Dafür stehen wir früh morgens, wenn die Wipfel der Eichen noch dunkel sind, schon im Licht; wir sehen das, was noch niemand sieht; wir sind die ersten, die die Sonne des großen Tages sehen; wir sind die ersten, die zu Ihm sagen: „Wahrlich, Herr, komme!“ Dmitri Mereschkowski. Vorwort Die „Brüder Karamasoff“ sind das Epos aller der dunklen Innenmächte, die durch das Russentum drängen. In seinen anderen Romanen, vor allem in „Rodion Raskolnikoff“ und in den „Dämonen“, hat sich Dostojewski mit erklärt zeitlichen Werten, moralkritischen oder kritischpolitischen, auf eine neue und großartige Weise auseinandergesetzt. In den „Karamasoffs“ dagegen ist Allgemein-Volkliches und im volklichen Sinne Ewiges ausgedrückt. Deshalb wirken jene in ihrer Knappheit und Schärfe fast wie Dramen, die „Brüder Karamasoff“ dagegen sind in der heiligen Schwere, mit der ihr erregender und leidenschaftlicher Inhalt vorgetragen wird, ein echtes Epos. Zwar sollte noch ein großer Schlußteil das für alles Russentum geradezu typische Geschlecht der Karamasoff unmittelbar einführen in religiös-politische Gegenwartskonflikte. Ausdrücklich kündete Dostojewski an: „Dieser Schlußteil wird die Tätigkeit meines Helden (Aljoscha Karamasoff) in unserer Zeit bringen, gerade im gegenwärtigen Augenblick.“ Aber dieser Schlußteil ist ungeschrieben geblieben. Warum? Der äußere Grund lautet: Dostojewski starb über der Vollendung seines Hauptwerkes. Etwa vom Jahre 1870 an hatte ihn die Idee der „Brüder Karamasoff“ beschäftigt. Doch immer wieder schob sich zwischen die Niederschrift anderes: die „Dämonen“ und die Hauptmasse seiner kritischen Schriften, in denen er gleichfalls seine tiefsten und notwendigsten russischen Gedanken ausdrücken konnte – bis er dann endlich in den Jahren 1879 und 1880 sein Werk wenigstens zu der vollendeten und doch unabgeschlossenen Form brachte, in der wir es heute kennen. Das Jahr 1881 aber war dann, schon im Januar, das Todesjahr Dostojewskis. Doch die Beziehungen zwischen der Entwicklungsgeschichte der Werke eines Genies und dem Leben des Genies pflegen niemals bloß äußerliche zu sein. Diese inneren Gründe, die Dostojewski verwehrten, das Epos der Karamasoff in einem Umkreise abzurunden, der alle russischen Möglichkeiten in der Summe erfaßte und aussprach, hat zuerst Mereschkowski klar erkannt: „Die ‚Brüder Karamasoff‘ zu Ende zu führen, das war, wie sich zeigte, unmöglich für Dostojewski, denn dieses Ende war im Leben noch nicht vorhanden; und als hätte er selbst gefühlt, daß er alles getan, was möglich war, verließ er das Leben – er starb.“ Gleichwohl liegt in den „Brüdern Karamasoff“ das Russentum, so weit es und so wie es sich bis heute entwickelt hat, in mächtiger Basis aufgerollt. Und vielleicht ist gerade ihr Prototypisches, daß Dostojewski wenigstens im Gedanken und in der Absicht den Versuch machte, den zentralen Ausdruck allen Russentums der Gegenwart wie der Zukunft aus dem Riesenplane zu heben. Das war nur möglich auf dem Wege einer vorbildhaften russischen Einheldigkeit, die an die Stelle des problematischen und nihilistischen Heldentums trat, das Dostojewski in seinen früheren Romanen auf dem Hintergrunde des leidenden und doch so wirklichen Heldentums in der russischen Volksbreite geschildert hatte. Von den drei Brüdern Karamasoff war Mitjä, der Enthusiast, der unendliche Lebensbejaher, die verkörperte Grundlage eines volklich-russischen Heldentums, in dem sich Güte mit Gewaltsamkeit, Empfindung mit Überschwang zu einer Einheit verband. Darüber hinaus sollte Aljoscha Karamasoff in der Kraft seiner naiven Reinheit zum russischen Einhelden auswachsen. Oder wäre nicht vielleicht doch Iwan Karamasoff, der Ideologe, dieser Einheld geworden? Aber hier bricht das Werk ab, wie hier das russische Leben abbricht, das nach außen als ein so festes und schweres Massiv erscheint und doch in seinem Innern von zersplitternden und zersetzenden Dualismen erfüllt ist, die sich nicht selbst befruchten, sondern eher gegenseitig aufheben. Moeller van den Bruck. Erstes Buch. Die Geschichte einer Familie I. Fedor Pawlowitsch Karamasoff Alexei Fedorowitsch Karamasoff war der dritte Sohn des Gutsbesitzers unseres Gouvernements Fedor Pawlowitsch Karamasoff, der seinerzeit – vor jetzt gerade dreizehn Jahren – durch sein tragisches und dunkles Ende, auf das ich noch später zu sprechen kommen werde, so viel von sich reden machte. Vorläufig will ich über diesen „Gutsbesitzer“, wie man ihn gewöhnlich bei uns nannte, obgleich er in seinem ganzen Leben fast nie auf seinem Gute wohnte, nur bemerken, daß er ein sehr eigenartiger Mensch war, ein Typ, den man aber, genau genommen, nicht einmal so selten antrifft: der Typ eines nichtsnutzigen und ausschweifenden Menschen, der zu gleicher Zeit ganz auffallend närrisch ist, – jedoch zu jener besonderen Art von Narren gehört, die ihre Geschäftchen immer vorzüglich zu machen verstehen, und zwar scheint das das einzige zu sein, was sie verstehen. Fedor Pawlowitsch, zum Beispiel, begann mit fast nichts in der Tasche. Von den Gutsbesitzern war er einer der ärmsten: er fuhr uneingeladen zu allen Bekannten zum Besuch und lebte so als ewiger Gast auf Kosten fremder Menschen, aber nach seinem Tode erwies es sich, daß er allein an barem Kapital runde hunderttausend Rubel besaß. Und doch war er sein ganzes Leben lang einer der einfältigsten Narren unseres Gouvernements. Ich will damit nicht sagen, daß er etwa dumm gewesen wäre – größtenteils sind diese Narren sogar sehr klug und schlau –, sondern gerade einfältig, und dazu war es bei ihm noch eine ganz besondere Einfältigkeit, eine nationale. Er war zweimal verheiratet gewesen und hatte drei Söhne, – den ältesten, Dmitrij Fedorowitsch, von der ersten Frau; die beiden anderen, Iwan und Alexei, von der zweiten. Die erste Gemahlin Fedor Pawlowitschs stammte aus dem wohlhabenden und angesehenen Adelsgeschlecht der Miussoffs, – gleichfalls Gutsbesitzer unseres Bezirks. Wie es kam, daß dieses reiche Mädchen – das dazu noch hübsch war und zu den temperamentvollen, intelligenten Frauen gehörte, die man in unserer Generation so häufig antrifft, die aber auch schon in der vergangenen auftauchten –, solch einen jämmerlichen Menschen heiraten konnte, will ich weiter nicht zu erklären versuchen. Kannte ich doch ein junges Mädchen, allerdings war es eines aus der vorigen „romantischen“ Generation, das sich nach etlichen Jahren rätselhafter Liebe zu einem Mann, den es zu jeder Zeit ruhig hätte heiraten können, schließlich die unüberwindlichsten Hindernisse ausdachte, die eine Vereinigung unbedingt ausschlossen, und die sich darauf in einer stürmischen Nacht von einem hohen Ufer, das fast einem Felsen glich, in einen ziemlich tiefen und reißenden Strom hinabstürzte und in ihm ertrank, – eigentlich doch nur deshalb, um der Shakespeareschen Ophelia zu gleichen. Ja, es ist sogar anzunehmen, daß sie, wenn an der Stelle des malerischen Felsens nur ein prosaisches, flaches Flußufer gewesen wäre, an die phantastische Idee, aus Liebe in den Tod zu gehen, überhaupt nicht gedacht hätte. Dieser Selbstmord ist aber Tatsache, und ich glaube annehmen zu dürfen, daß sich in unseren beiden letzten Generationen nicht selten Ähnliches zugetragen hat. Auch die Heirat Adelaida Iwanowna Miussoffs war ein Schritt von derselben Art und zweifellos auf fremde Einflüsse zurückzuführen. Vielleicht wollte sie durch ihn ihre weibliche Selbständigkeit beweisen, gegen die gesellschaftlichen Fesseln, gegen den Despotismus ihrer Eltern und Verwandten auftreten, und vielleicht hatte ihr noch die bereitwillige Phantasie die Überzeugung eingeflößt, wenn auch nur auf einen Augenblick, daß Fedor Pawlowitsch trotz seiner Rolle als ewiger Freischlucker einer der geistreichsten und eigenartigsten Spötter dieser Übergangsepoche sei, die zweifellos zu Besserem führte, obgleich er in Wirklichkeit doch nichts als ein boshafter Narr war. Das eigentlich Reizvolle der Sache bestand jedoch darin, daß sie von ihm entführt wurde – das aber war für sie ausschlaggebend. Hinzu kam, daß Fedor Pawlowitsch damals unbedingt, gleichviel mit welchen Mitteln, Karriere machen wollte, und so war er denn infolge seiner sozialen Lage geradezu gezwungen, sie zu entführen: war doch die Aussicht auf eine Mitgift und die Gelegenheit, zu einer reichen und angesehenen Familie in so nahe Beziehung zu treten, gar zu verführerisch. Was nun die beiderseitige Liebe anbelangt, so war die überhaupt nicht vorhanden, weder von seiten der Braut, noch, trotz deren Schönheit, von seiten Fedor Pawlowitschs, – eine Tatsache, die in ihrer Art denn auch den einzigen Ausnahmefall im Leben Fedor Pawlowitschs bildete, dieses größten Lüstlings, der sein Leben lang immer sofort bereit war, nach einerlei was für einem Weiberrock zu langen, wenn er ihn nur anlockte. So war also diese Frau die einzige, die, was seine Leidenschaft anbetraf, nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht hatte. Adelaida Iwanowna kam denn auch schon bald nach der Entführung zur Überzeugung, daß sie für ihren Mann nur Verachtung empfinden konnte, und so stellten sich die Folgen dieser Heirat unverzüglich ein. Ungeachtet dessen, daß ihre Familie sich sehr bald darauf mit der Tatsache aussöhnte und der Entlaufenen die Mitgift auszahlte, kam es zwischen den Eheleuten doch zu unaufhörlichen Szenen. Später erzählte man, daß die junge Frau unvergleichlich mehr Anstand und Vornehmheit bewiesen habe als Fedor Pawlowitsch, der sich, wie man es jetzt genau weiß, fast ihr ganzes Geld, an fünfundzwanzigtausend Rubel, sofort einsteckte, so daß sie von diesen Tausenden nichts mehr zu sehen bekam. Das Gütchen jedoch und das Haus in der Stadt, die gleichfalls zu ihrer Mitgift gehörten, wollte er lange Zeit unbedingt auf seinen Namen überführen, und er würde auch bestimmt erreicht haben, was er wollte, da sein unaufhörliches Betteln und seine unverschämten Erpressungsversuche in ihr nur Verachtung und Ekel hervorriefen, und sie vielleicht aus seelischer Ermüdung, und um ihn los zu werden, schließlich eingewilligt hätte. Zum Glück aber trat ihre Familie für sie ein und machte diesen Erpressungsversuchen ein Ende. Wahr ist gleichfalls, daß zwischen ihnen nicht selten Prügeleien stattfanden, doch war es nach der Überlieferung nicht Fedor Pawlowitsch, der schlug, sondern Adelaida Iwanowna, die eine heißblütige, kühne, ungeduldige Dame von bräunlicher Gesichtsfarbe und nicht geringer körperlicher Kraft war. Schließlich aber hielt sie es doch nicht mehr aus und lief Fedor Pawlowitsch mit einem in Armut verkommenen Seminaristen, der übrigens Lehrer war, einfach davon, und überließ ihm außer ihrem Kapital noch ihren dreijährigen Sohn Mitjä.[1] Fedor Pawlowitsch machte aus seinem Hause sofort einen Harem und ein Lokal für die wüstesten Gelage, von Zeit zu Zeit aber fuhr er zu allen Bekannten, also fast durch das ganze Gouvernement, und beklagte sich mit Tränen in den Augen über Adelaida Iwanowna, wobei er so ausführlich von seinem Eheleben erzählte, wie es ein anderer Ehemann schon allein aus Schamgefühl nie getan haben würde. Es schien ihm beinahe angenehm und womöglich noch schmeichelhaft zu sein, diese lächerliche Rolle des gekränkten Gatten zu spielen und anderen sein Leid in allen Farben auszumalen. „Man könnte ja wirklich glauben, Fedor Pawlowitsch, daß Sie einen höheren Rang erhalten haben, so zufrieden scheinen Sie trotz Ihres vermeintlichen Kummers zu sein,“ sagten ihm denn auch manche, denen er sein Leid klagte, nicht ohne spöttische Verachtung. Viele fügten sogar noch hinzu, er solle sich doch nicht verstellen, da er ja im Grunde nur froh sei, eine neue Narrenrolle spielen zu können, und sich bloß, um die Komik zu erhöhen, den Anschein gäbe, als bemerke er die eigene Lächerlichkeit nicht. Wer aber kann es wissen, vielleicht war das alles wirklich ganz naiv von ihm? Endlich gelang es ihm, seiner Flüchtigen auf die Spur zu kommen. Die Arme befand sich in Petersburg, wohin sie mit ihrem Seminaristen gefahren war, und wo sie in der größten Ungebundenheit lebte. Fedor Pawlowitsch traf sofort große Anstalten zur Reise nach Petersburg – warum aber und wozu dorthin? – das wußte er natürlich selbst nicht. Vielleicht wäre er damals auch wirklich abgefahren, doch nachdem er einen so großen Entschluß gefaßt hatte, fühlte er sich sofort vollkommen berechtigt, sich zur Stärkung auf einen so weiten und schweren Weg vorher noch dem uferlosesten Trunk zu ergeben. Inzwischen aber erhielt die Familie seiner Frau die Nachricht von deren Tode. Sie war ganz plötzlich gestorben, irgendwo in einer Dachkammer, am Typhus, wie die einen behaupteten, oder wie die anderen meinten – vor Hunger. Als der gerade betrunkene Fedor Pawlowitsch die Nachricht vom Tode seiner Frau erhielt, soll er auf die Straße hinausgelaufen sein, die Hände wie zum Dank zum Himmel emporgehoben und laut ausgerufen haben: „Herr, nun lässest du mich in Frieden fahren!“ – Andere aber sagen, er habe wie ein kleines Kind geweint, und zwar so sehr, daß man für ihn trotz der Verachtung Mitleid habe empfinden können. Es ist sehr leicht möglich, daß sowohl das eine wie das andere wahr ist, daß er sich über seine Befreiung von ihr gefreut, und zu gleicher Zeit über ihren Tod geweint hat – beides zusammen. In den meisten Fällen sind die Menschen, und sogar Bösewichte, viel naiver und aufrichtiger, als wir es von ihnen voraussetzen. Ja, und wir selbst sind es doch gleichfalls. – II. Der erste Sohn Man kann sich natürlich denken, welch ein Erzieher oder Vater solch ein Mensch sein konnte. Fedor Pawlowitsch vergaß das Kind vollständig, doch nicht etwa aus Bosheit oder aus irgendwelchen beleidigten Gattengefühlen, sondern ganz einfach, weil er es eben vollkommen vergaß. Solange er noch trauerte, klagte und weinte und sein Haus dabei in eine unzüchtige Höhle verwandelte, nahm sich des kleinen, dreijährigen Knaben Grigorij, der treue Diener seines Hauses, an – wenn dieser es nicht getan hätte, so würde der Kleine kaum ein Hemdchen zum Wechseln gehabt haben, da auch die Familie seiner Mutter ihn in der ersten Zeit gleichfalls ganz vergaß. Sein Großvater Miussoff, der Vater Adelaida Iwanownas, war schon gestorben, und dessen Witwe, Mitjäs Großmutter, war nach Moskau übergesiedelt und dort erkrankt; ihre jüngeren Töchter heirateten gerade, und so blieb denn Mitjä ein ganzes Jahr beim Diener Grigorij und lebte in dessen Wohnung auf dem Hofe. Übrigens, wenn sich der Vater seiner auch erinnert hätte (denn er konnte doch unmöglich von seiner Existenz überhaupt nichts wissen), so würde er ihn doch selbst wieder in die Leutewohnung auf den Hof geschickt haben, da das Kind ihm bei diesem Völlerleben nur im Wege gewesen wäre. Doch da kehrte eines schönen Tages der Vetter der Verstorbenen, Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, aus Paris zurück, wo er viele Jahre hindurch gelebt hatte. Er war damals noch ein ganz junger Mann, der sich aber unter den Miussoffs doch schon als aufgeklärter Großstädter und Ausländer auszeichnete; er fühlte sich von jeher als Europäer, und am Ende seines Lebens konnte er zu den Liberalen der vierziger und fünfziger Jahre gezählt werden. Natürlich stand er mit allen liberalen Größen seiner Epoche in Rußland wie im Auslande in Verbindung, kannte persönlich Proudhon und Bakunin, und liebte zum Schluß seiner Wanderschaft ganz besonders, sich der drei Tage der Pariser Februarrevolution zu erinnern und anzudeuten, daß er selbst beinahe auf den Barrikaden gestanden hätte. Das waren für ihn die schönsten Erinnerungen seiner Jugendjahre. Er besaß ein ansehnliches Vermögen – nach den früheren Verhältnissen gerechnet, ungefähr tausend Seelen. Sein wundervolles Gut lag ganz in der Nähe unsres Städtchens und grenzte an die Ländereien des berühmten Klosters, mit dem Miussoff sofort, nachdem er sein Erbe angetreten hatte, einen Prozeß begann (wegen irgendwelcher Rechte auf den Fischfang im Fluß oder auf das Holzfällen in einem Walde, ich weiß es nicht mehr ganz genau), da er als aufgeklärter Mensch selbstverständlich für seine bürgerliche Pflicht hielt, mit den „Klerikalen“ Prozeß zu führen. Als er nun das Schicksal Adelaida Iwanownas, deren er sich natürlich noch sehr gut erinnerte und für die er sich früher sogar interessiert hatte, erfuhr, und von ihrem Sohn Mitjä hörte, beschloß er sofort, sich trotz seines heftigen Unwillens über Fedor Pawlowitsch, in die Sache einzumischen. Bei der Gelegenheit war es denn, daß er Fedor Pawlowitsch zum erstenmal sah und kennen lernte. Er erklärte sich bereit, die Erziehung Mitjäs auf sich zu nehmen. Noch lange nachher erzählte er, gewissermaßen zur Charakterisierung Fedor Pawlowitschs, daß dieser, als er ihm von Mitjä gesprochen, ein Gesicht gemacht habe, als ob er überhaupt nicht verstehen könne, von welch einem Kinde die Rede sei und ersichtlich sogar sehr erstaunt gewesen wäre, zu hören, daß bei ihm im Hause irgendwo ein kleiner Sohn lebte. Wenn Pjotr Alexandrowitsch in seiner Erzählung auch etwas übertrieben haben mag, so muß doch immerhin etwas Wahres daran gewesen sein. Außerdem aber liebte es Fedor Pawlowitsch tatsächlich, sich plötzlich zu verstellen, oder eine ganz unerwartete Rolle zu spielen, und zwar, was die Hauptsache dabei schien, ohne daß die geringste Notwendigkeit dazu vorhanden gewesen wäre, mitunter sogar zu seinem eigenen Nachteil, wie z. B. in diesem Falle. Dieser Zug ist übrigens vielen Leuten eigen, und sogar sehr klugen Leuten, nicht nur solchen wie Fedor Pawlowitsch. Miussoff führte also die Sache durch und wurde sogar als Vormund des Knaben eingesetzt (zusammen mit Fedor Pawlowitsch natürlich), da doch dem Kleinen nach dem Tode der Mutter immerhin das Gütchen und das Haus verblieben. Mitjä wurde denn auch wirklich in das Haus Pjotr Alexandrowitschs gebracht; der aber hatte keine Familie, und da er selbst, nachdem er seine Wirtschafts- und Geldangelegenheiten auf dem Gute geordnet hatte, so schnell als möglich und auf lange Zeit wieder nach Paris eilte, so wurde das Kind einer Tante, einer älteren Dame, die in Moskau wohnte, anvertraut. Und so kam es denn, daß auch Miussoff in Paris den Knaben vollständig vergaß, besonders als diese Februarrevolution ausbrach, die ihm so imponierte, daß er sie sein Lebtag nicht vergessen konnte. Die Moskauer Dame aber starb bald darauf, und Mitjä kam zu einer ihrer verheirateten Töchter. Ich glaube, er hat dann noch einmal, zum viertenmal, das Nest gewechselt. Doch darüber werde ich mich weiter nicht verbreiten, da ich noch viel über diesen Erstling Fedor Pawlowitschs zu erzählen habe; ich will mich jetzt nur auf die notwendigsten Mitteilungen beschränken, ohne die ich den Roman nicht beginnen kann. Dieser Dmitrij Fedorowitsch war der einzige von den drei Söhnen Fedor Pawlowitschs, der mit dem Bewußtsein aufwuchs, daß er immerhin über einige Mittel verfügte und, wenn er mündig geworden, unabhängig sein werde. Seine Kinder- und Jugendjahre verlebte er ziemlich unordentlich: das Gymnasium beendete er nicht, darauf kam er auf eine Kriegsschule, diente dann im Kaukasus, hatte dort ein Duell, wurde deswegen degradiert, diente sich aber wieder in die Höhe, führte ein wildes Leben und gab verhältnismäßig viel Geld aus. Vor seiner Mündigkeit bekam er von Fedor Pawlowitsch kein Geld, lebte daher bis dahin von Schulden. Fedor Pawlowitsch, seinen Vater, lernte er erst nach seiner Mündigkeit kennen; er kam damals zum erstenmal in unsere Stadt, um sich mit ihm über seine Vermögensverhältnisse auszusprechen. Wie es schien, gefiel ihm sein Vater nicht, denn er verließ ihn sofort wieder, als er eine gewisse Summe erhalten und mit ihm über die weiteren Einnahmen seines Gutes verhandelt hatte; doch konnte er weder die Einkünfte, noch den Wert des Gutes jemals von seinem Vater erfahren. (Bitte das wohl zu beachten.) Fedor Pawlowitsch aber bemerkte damals sofort (und auch dies bitte nicht zu vergessen), daß Mitjä sich von seinem Vermögen eine unrichtige und übertriebene Vorstellung machte, womit Fedor Pawlowitsch jedoch sehr zufrieden war, denn er hatte dabei seine eigenen Berechnungen. Er sagte sich, daß der junge Mann leichtsinnig, stürmisch, leidenschaftlich, ungeduldig war und wild lebte, daß man ihn aber, wenn man ihm immer wieder etwas schickte, sehr wohl beruhigen könnte, wenn auch natürlich immer nur auf kurze Zeit. So begann dann Fedor Pawlowitsch seinen Sohn zu exploitieren, d. h. er speiste ihn mit kleinen Almosen und zufälligen Sendungen ab, und zum Schluß, als Mitjä nach vier Jahren seine Geduld endlich verlor und zum zweitenmal in unser Städtchen kam, um noch einmal mit seinem Vater die Angelegenheit zu besprechen, da erwies sich plötzlich zu seinem größten Erstaunen, daß er überhaupt nichts mehr zu verlangen hatte, daß er mit dem erhaltenen Gelde schon der Schuldner seines Vaters geworden war, daß er nach der und der Abmachung, die er selbst einmal, dann und dann, gewünscht, kein Recht mehr hatte, noch irgendetwas zu verlangen usw. Der junge Mann war sehr betroffen, witterte einen Betrug, geriet außer sich und schien fast den Verstand zu verlieren. Dieser Umstand führte dann zu der Katastrophe, deren Wiedergabe der Gegenstand meines ersten, einführenden Romanes, oder besser gesagt, sein äußerer Anlaß ist. Doch bevor ich zu dem Roman übergehe, muß ich noch von den beiden anderen Söhnen Fedor Pawlowitschs, Mitjäs Brüdern, erzählen, und erklären, wie er zu diesen beiden gekommen war. III. Die zweite Frau und deren Kinder Nachdem Fedor Pawlowitsch sich des vierjährigen Mitjä entledigt hatte, heiratete er kurz darauf zum zweitenmal. Diese Ehe dauerte acht Jahre. Ssofja Iwanowna, seine zweite Frau, war gleichfalls noch sehr jung, als er sie heiratete. Er lernte sie in einem andern Gouvernement kennen, wohin er in „Geschäftchen“ mit einem Juden gefahren war, denn wenn Fedor Pawlowitsch auch unsolide und ausschweifend lebte und viel trank, so hörte er doch nie auf, für die vorteilhafte Umsetzung seines Kapitals zu sorgen und überall gute Geschäftchen zu machen, wenn auch immer auf betrügerische Weise. Ssofja Iwanowna war als Tochter eines kleinen Diakons und als Ganzwaise in dem reichen Hause ihrer Wohltäterin, Erzieherin und Peinigerin, der angesehenen alten Witwe des Generals Worochoff, aufgewachsen. Ausführlicheres über sie weiß ich nicht, nur hörte ich, daß man die bescheidene, demütige Kleine einmal in der Kleiderkammer aus einer Schlinge gezogen hatte – so schwer war es ihr gewesen, die Launen und ewigen Vorwürfe dieser anscheinend bösen Alten zu ertragen, die aber eigentlich nur vom Nichtstun und der Langeweile zu diesem unerträglichen, launischen Parasit geworden war. Fedor Pawlowitsch warb um ihre Hand; man zog Erkundigungen über ihn ein und setzte ihn vor die Tür – da schlug er dann der Waise, wie bei seiner ersten Heirat, eine Entführung vor. Es ist sehr möglich, daß auch sie ihn um nichts in der Welt geheiratet haben würde, wenn sie etwas mehr über ihn erfahren hätte. Aber sie lebte ja in einem andern Gouvernement, und was hätte denn auch ein sechzehnjähriges Mädchen von allem dem verstanden, ganz abgesehen davon, daß sie vorgezogen hätte, in den Fluß zu gehen, als noch länger bei ihrer Wohltäterin zu bleiben. So vertauschte denn die Ärmste ihre Wohltäterin mit einem Wohltäter. Fedor Pawlowitsch, oder vielmehr seine Frau, bekam diesmal keine Kopeke Mitgift, da die Generalin über die Entführung in Wut geriet und nichts gab und sie obendrein noch beide verfluchte; er rechnete aber auch nicht darauf, sondern berauschte sich an der eigenartigen Schönheit dieses zarten Mädchens und vor allem an ihrem unschuldigen Ausdruck, der ihn, den Lüstling, der bis dahin nur der lasterhafte Liebhaber gemeiner Frauenschönheit gewesen war, ganz betroffen gemacht hatte. „Diese unschuldigen Äuglein fuhren mir wie ein Rasiermesser übers Herz!“ erzählte er später mit seinem gemeinen Lachen. Aber auch das konnte für solch einen Menschen, wie Fedor Pawlowitsch, nur einen sinnlichen Reiz haben. Da sie also gar keine Mitgift bekam, machte er mit ihr weiter keine Zeremonien und benutzte es, daß sie vor ihm, wie er sagte, „schuldig“ war und er sie „aus der Schlinge gezogen“ hatte, benutzte außerdem noch ihre phänomenale Güte und Unselbständigkeit, und trat jeglichen ehelichen Anstand einfach mit Füßen. So führte er nach wie vor die berüchtigsten Weibsbilder in sein Haus und feierte ungestört seine Orgien mit ihnen. Als charakteristischen Zug will ich hier noch anführen, daß der Diener Grigorij, ein finsterer, eigensinniger und dummrechthaberischer Mensch, der seine frühere Herrin, Adelaida Iwanowna, geradezu gehaßt hatte, nun aber entschieden zur neuen Herrin hielt, diese immer verteidigte, Fedor Pawlowitsch auf eine für einen Diener fast unerhörte Weise ihretwegen durchschimpfte, und einmal sogar, als wieder eine Orgie gefeiert wurde, alle Weiber mit Gewalt aus dem Hause jagte. Die unglückliche, von Kindheit an so verschüchterte junge Frau bekam späterhin ein nervöses Frauenleiden, das man sonst wohl am häufigsten im Volke antrifft, bei den Bäuerinnen, die dann „Klikuschi“[2] genannt werden. Durch die schrecklichen, hysterischen Anfälle dieser Krankheit verlor die Arme zeitweilig sogar ihren Verstand. Sie gebar aber Fedor Pawlowitsch doch zwei Söhne, Iwan und Alexei, den älteren im ersten Jahr ihrer Ehe und drei Jahre danach den jüngeren. Als sie starb, war der kleine Alexei kaum vier Jahre alt, doch jedenfalls war Eines Tatsache, wie unglaublich es klingen mag: er konnte sich, wie ich genau weiß, seiner Mutter noch sein ganzes Leben lang erinnern, wenn diese Erinnerung auch etwas verschwommen, wie ein halber Traum war. Nach ihrem Tode geschah mit ihren beiden Söhnen genau dasselbe, was mit dem ersten, Mitjä, geschehen war: sie wurden vom Vater vollkommen vergessen und kamen zu demselben Grigorij in dieselbe Stube. In dieser Stube fand sie denn auch die alte Generalin, die Wohltäterin und Erzieherin ihrer Mutter. Sie lebte noch und konnte selbst nach acht Jahren die ihr zugefügte Beleidigung nicht vergessen. Vom Leben und Treiben ihrer Ssofja war sie alle diese acht Jahre hindurch unter der Hand ganz genau unterrichtet worden, und als sie gehört hatte, wie krank diese war und welche Scheußlichkeiten sie umgaben, hatte sie sich zwei oder dreimal ihren Bedienten gegenüber geäußert, es geschehe ihr ganz recht, so strafe Gott sie für ihre Undankbarkeit. Genau drei Monate nach dem Tode Ssofja Iwanownas erschien nun plötzlich die Generalin persönlich in der Stadt und fuhr geradenwegs zu Fedor Pawlowitsch, blieb im ganzen nur eine halbe Stunde in der Stadt, richtete aber in dieser kurzen Zeit sehr viel aus. Es war zur Abendzeit. Fedor Pawlowitsch, der sie acht Jahre lang nicht gesehen hatte, empfing sie in betrunkenem Zustande. Man sagt, daß sie ihm sofort ohne jegliche vorhergehende Erklärung zwei tüchtige, lautschallende Ohrfeigen gegeben und ihn dann noch dreimal kräftig an den Haaren gezogen habe. Darauf – das ist Tatsache – begab sie sich, ohne ein Wort zu verlieren, geradenwegs in die Leutewohnung auf den Hof zu den beiden Knaben. Sie überzeugte sich auf den ersten Blick, daß sie ungewaschen waren und schmutzige Wäsche anhatten, verabfolgte daher dem Diener Grigorij gleichfalls eine Ohrfeige und erklärte ihm darauf kurz und bündig, daß sie die beiden Kinder mitnehmen werde. Sie wickelte sie so wie sie waren in ein Plaid ein, setzte sie auf den Wagen und fuhr mit ihnen davon. Grigorij ertrug diese Ohrfeige wie ein ergebener Sklave, wurde nicht grob und sagte kein Wort, und als er die alte Dame zum Wagen begleitete, verneigte er sich noch tief vor ihr und sagte nur ernst und ehrerbietig, daß Gott es ihr für die Waisen lohnen werde, wofür ihm aber die Generalin im Fortfahren zurief: „Du aber bist und bleibst doch ein alter Esel.“ Fedor Pawlowitsch überlegte sich die Sache und fand, daß es sehr gut war, so wie es gekommen war, und widersetzte sich der Generalin, der er sogar die formelle Erlaubnis gab, seine Kinder zu erziehen, in keinem einzigen Punkte. Von den erhaltenen Ohrfeigen aber erzählte er sofort selbst in der ganzen Stadt. Die Generalin starb jedoch schon bald darauf und vermachte in ihrem Testament jedem der Kleinen tausend Rubel – „Zu ihrer Bildung zu verwenden, und daß dieses Geld unbedingt für sie verausgabt wird, aber so, daß es bis zu ihrer Mündigkeit ausreicht, denn diese Gabe muß für solche Kinder genügen; wenn es aber jemandem gefällt, so mag er seinen eigenen Beutel öffnen“ usw. Ich habe das Testament nicht selbst gelesen, aber ich hörte, daß es in dieser Art und jedenfalls in recht sonderbarem Tone abgefaßt gewesen sei. Der Haupterbe der Alten erwies sich indessen als sehr ehrenwerter Mensch: es war das der Adelsmarschall eines Kreises in jenem Gouvernement, Jefim Petrowitsch Polenoff. Er verhandelte mit Fedor Pawlowitsch brieflich über die Erziehung der Kinder, erriet sofort, daß Geld von diesem Vater nicht zu bekommen war – obgleich dieser nie geradezu absagte, sondern in solchen Fällen die Sache nur hinzog und dabei sogar in Gefühlsduselei verfiel – und nahm sich der Waisen persönlich an; er gewann namentlich den jüngeren Bruder Alexei sehr lieb und so wurde denn dieser lange Zeit ganz in seiner Familie erzogen. Wenn diese Jungen für ihre Erziehung und Bildung jemandem zu Dank verpflichtet waren, so waren sie es ausschließlich Polenoff, diesem ehrenwertesten und humansten Menschen, den man sich nur denken kann. Er bewahrte den Kleinen ihre tausend Rubel auf, die ihnen die Generalin hinterlassen hatte, so daß sie bis zu deren Mündigkeit mit den Prozenten auf je Zweitausend anwuchsen, bestritt die Erziehungskosten aus seiner eigenen Tasche, und verausgabte natürlich für jeden von ihnen viel mehr als tausend Rubel. Auf eine ausführliche Erzählung ihrer Kinder- und Jugendjahre kann ich mich wiederum nicht einlassen, daher werde ich nur die springenden Punkte aus ihrem Leben angeben. Über den älteren, Iwan, teile ich nur mit, daß er als düsterer und verschlossener Knabe aufwuchs, weit entfernt davon, schüchtern zu sein, aber es war – als ob er von Kindheit an gefühlt hätte, daß er in einer fremden Familie erzogen wurde und von fremder Barmherzigkeit lebte, und daß ihr Vater ein Mensch war, von dem zu sprechen man sich schämen mußte. Dieser Knabe bewies schon seit der frühesten Kindheit (so erzählte man wenigstens) eine außergewöhnliche und glänzende Begabung. Wie es geschah, daß er schon mit dreizehn Jahren die Familie Jefim Petrowitschs verließ und in ein Moskauer Gymnasium eintrat und bei der Gelegenheit zu einem erfahrenen und berühmten Pädagogen in Pension kam, zu einem Jugendfreunde Polenoffs, weiß ich nicht genau. Wie Iwan später selbst erzählte, war es sozusagen aus Jefim Petrowitschs „begeisterter Liebe zu guten Taten“ geschehen: Jefim Petrowitsch hätte sich nämlich für die Idee begeistert, daß die genialen Fähigkeiten des Knaben auch von einem genialen Pädagogen ausgebildet werden müßten. Übrigens waren beide schon tot, sowohl Polenoff wie auch der geniale Pädagoge, als Iwan das Gymnasium beendete und auf die Universität ging. Da aber Jefim Petrowitsch das von der Generalin den Kindern hinterlassene Geld schlecht angelegt hatte, so verzögerte sich infolge der bei uns unvermeidlichen Formalitäten die Auszahlung des Geldes dermaßen, daß der junge Mann in den zwei ersten Jahren auf der Universität gezwungen war, seinen Lebensunterhalt und das Studium sich selbst zu verdienen. Ich muß hier bemerken, daß er damals nicht einmal den Versuch machte, sich mit seinem Vater brieflich über eine Unterstützung zu verständigen – vielleicht aus persönlichem Stolz oder auch aus Verachtung, vielleicht aber auch aus kühler, gesunder Einsicht, da er sich wohl sagen konnte, daß von Papachen eine Unterstützung nicht zu erwarten war. Wie dem aber auch sein mochte, jedenfalls wußte sich der junge Mann sofort zu helfen und sich durch Arbeit das nötige Geld zu beschaffen: zuerst durch Stunden für zwanzig Kopeken, und darauf durch Zeitungsberichte von zehn Zeilen über Straßenvorfälle, mit der Unterschrift „Ein Augenzeuge“. Diese Berichte, sagt man, sollen stets so eigenartig und geistreich verfaßt gewesen sein, daß sie bald vorzüglich bezahlt wurden; so bewies er allein schon dadurch seine praktische und geistige Überlegenheit im Vergleich zu jenem großen Teil unserer unglücklichen und notleidenden studierenden Jugend beiderlei Geschlechts, die in den Großstädten gewöhnlich vom Morgen bis zum Abend die Türschwellen der Redaktionen abläuft, und sich nichts Besseres ausdenken kann, als ewig ein und dieselbe Bitte um Übersetzung aus dem Französischen oder um Kopierarbeit zu wiederholen. Iwan Fedorowitsch gab auch später seine Verbindungen mit den Redaktionen nie ganz auf, und in den letzten Jahren auf der Universität veröffentlichte er dann sehr talentvolle Abhandlungen über Bücher und Spezialfragen, die ihn sogar in den literarischen Kreisen bekannt machten. Doch erst in der allerletzten Zeit lenkte er plötzlich die Aufmerksamkeit eines weit größeren Kreises von Lesern auf sich: kurz nachdem er die Universität verlassen hatte und sich gerade anschickte, für seine zweitausend Rubel ins Ausland zu reisen, veröffentlichte er in einer der großen Tageszeitungen einen ganz besonderen Artikel, der geradezu Aufsehen erregte und sogar die Aufmerksamkeit der Spezialisten auf ihn lenkte. Es war das ein Artikel über eine Frage, die ihm, wie man meinen sollte, ganz fern liegen mußte, denn er hatte Naturwissenschaft studiert. Der Artikel behandelte die damals überall besprochene Frage „Kirchenjustiz“. Er untersuchte zuerst etliche schon geäußerte Meinungen und kam dann auf seine persönliche Anschauung der Sache. Besonders fiel der Ton auf und das Unerwartete seiner Schlüsse. Viele Geistliche hielten den Autor entschieden für einen von den Ihrigen. Und plötzlich begannen nicht nur die Anhänger der Staatspartei, sondern sogar die Atheisten ihm immer lebhafter ihren Beifall zu zollen. Schließlich aber behaupteten einige kluge Leute, die eine etwas feinere Nase hatten, daß der ganze Artikel nur eine freche Farce und eine Verhöhnung sei. Ich erwähne die Geschichte nur darum, weil dieser Artikel auch in dem bei unserer Stadt gelegenen berühmten Kloster bekannt wurde und die Mönche, die sich sehr für die aufgeworfene Kirchengerichtsfrage interessierten, einfach vor den Kopf stieß. Wie groß war die Verwunderung, als man auch den Namen des Autors erfuhr und somit, daß er ein Kind unserer Stadt und der Sohn „dieses selben Fedor Pawlowitsch“ sei! Da aber erschien der Autor selbst in unserer Stadt. Warum Iwan Fedorowitsch zu uns kam, das fragte ich mich auch damals schon mit einer gewissen Unruhe. Diese so verhängnisvolle Ankunft, die den Anfang so vieler Ereignisse bildete, blieb für mich noch lange nachher unaufgeklärt und ist es teilweise vielleicht auch jetzt noch. Überhaupt war es sonderbar, daß dieser junge Mann, der so stolz, so gelehrt und dem Anschein nach gleichzeitig so vorsichtig war, plötzlich in dieses berüchtigte Haus kam, zu diesem Vater, der ihn bis dahin völlig ignoriert hatte, der ihn nicht einmal kannte, sich kaum seiner erinnerte und ihm natürlich auf keinen Fall und unter keinen Bedingungen Geld gegeben hätte, selbst wenn der Sohn ihn um welches gebeten haben würde, der sich aber trotzdem beständig fürchtete, daß seine Söhne Iwan und Alexei doch auch einmal kommen und ihn dann um Geld bitten könnten. Und siehe da, plötzlich kommt der junge Mann in das Haus solch eines Vaters, lebt mit ihm einen Monat und dann noch einen, und beide leben miteinander, wie man es sich besser nicht wünschen könnte. Wahrlich, das setzte nicht nur mich in Erstaunen, sondern auch noch viele andere. Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, der Vetter der ersten Frau Fedor Pawlowitschs, war kurz vorher aus Paris, wo er sich endgültig niedergelassen hatte, auf einige Zeit wieder in die Heimat gekommen und wohnte damals auf seinem Gute. Ich erinnere mich noch, daß gerade er mehr als alle anderen über dieses gute Einvernehmen erstaunt war, als er diesen ihn sehr interessierenden jungen Mann kennen lernte, dem er, nebenbei bemerkt nicht ganz ohne Neid, Kenntnisse zugestehen mußte, die die seinigen weit überstiegen. „Er ist sehr stolz,“ sagte er damals von Iwan Karamasoff, „wird sich immer sein Geld selbst verdienen und besitzt bereits so viel, daß er ins Ausland reisen kann – was also sucht er noch hier? Es ist doch allen klar, daß er nicht zum Vater gekommen ist, um Geld zu holen, ganz abgesehen davon, daß der Vater ihm doch auf keinen Fall welches geben würde. Zu trinken und ausschweifend zu leben, liebt er auch nicht, und doch kann der Alte ohne ihn kaum noch auskommen, dermaßen gut vertragen sich die beiden!“ Und so war es auch. Der junge Mann hatte ersichtlich einen großen Einfluß auf den Vater; der schien ihm sogar zu gehorchen, wenn er auch bisweilen unglaublich und geradezu heimtückisch eigensinnig sein konnte; ja, er fing sogar an sich anständiger aufzuführen. Erst später stellte sich heraus, daß Iwan Fedorowitsch zum Teil auf die Bitte seines älteren Bruders Dmitrij Fedorowitsch gekommen war, den er kurz vorher zum erstenmal gesehen und kennen gelernt hatte, doch mit dem er schon längere Zeit vor seiner Fahrt hierher in einer wichtigen Angelegenheit, die wiederum nur Dmitrij Fedorowitsch anging, im Briefwechsel gestanden hatte. Was das für eine Angelegenheit war, wird der Leser späterhin bis in alle Einzelheiten erfahren. Nichtsdestoweniger schien mir Iwan Fedorowitsch auch dann noch rätselhaft, als ich schon alles, selbst diesen sonderbaren Umstand, wußte, und sein Aufenthalt bei uns immerhin unerklärlich. Ich füge noch hinzu, daß Iwan Fedorowitsch zwischen dem Vater und dem älteren Bruder Dmitrij Fedorowitsch, der gegen den Vater eine gerichtliche Klage einzureichen beabsichtigte, der Vermittler und Friedensstifter zu sein schien. Die Familie war damals, wie ich schon erwähnte, zum erstenmal vollzählig versammelt, und so sahen sich denn auch einige ihrer Glieder zum erstenmal im Leben. Nur der jüngste Sohn, Alexei Fedorowitsch, lebte schon seit fast einem Jahr bei uns; ihn hatten wir von den drei Brüdern zuerst kennen gelernt. Über ihn bereits in meiner Einleitung etwas zu sagen, ist mir aber am schwersten. Nur kann ich das eine, wie ich sehe, nicht umgehen, da es eine sehr sonderbare Tatsache zu erklären gilt, nämlich: warum ich meinen Helden schon in der ersten Szene seines Romans in der Kutte eines Klosternovizen vorführen muß. Denn fast seit einem Jahr lebte er schon in unserem Kloster und beabsichtigte, wie es schien, sich für sein ganzes Leben in ihm einzuschließen. IV. Der dritte Sohn Aljoscha[3] Er zählte erst zwanzig Jahre (sein Bruder Iwan war vierundzwanzig und der älteste Bruder Dmitrij achtundzwanzig Jahre alt). Vor allem möchte ich bemerken, daß dieser Jüngling durchaus kein Fanatiker war und, wenigstens meines Erachtens, auch kein Mystiker. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich in ihm einfach einen jugendlichen Menschenfreund sehe. Wenn er aber ins Kloster ging, so tat er das nur, weil das Klosterleben einen tiefen Eindruck auf ihn machte und ihm als Ideal eines Ausgangs seiner sich aus dem Dunkel des Bösen dieser Welt zum Licht der Liebe sehnenden Seele erschien. Und einen so tiefen Eindruck machte dieses Leben auf ihn wohl nur, weil er dort im Kloster einen so ungewöhnlichen Menschen antraf: unseren berühmten Staretz[4] Sossima, an den er sich sofort mit der ganzen großen ersten Liebe seines heißen, sehnsüchtigen Herzens hing. Übrigens will ich nicht bestreiten, daß er schon damals sehr sonderbar war; ja, er war es eigentlich schon seit seiner frühesten Kindheit. Als seine Mutter starb, hatte er kaum das vierte Jahr erreicht, und doch erinnerte er sich, wie ich schon erwähnte, ihres Gesichts, ihrer Liebkosungen, „ganz, als ob sie lebend vor mir stände“. Solche Erinnerungen kann man bekanntlich aus noch jüngeren Jahren haben, schon aus dem zweiten Lebensjahre, doch treten sie im späteren Leben nur wie helle Punkte aus der Dunkelheit hervor, wie ein hellgebliebenes Eckchen eines riesigen Bildes, das bis zur Unkenntlichkeit nachgedunkelt und verloschen ist – bis auf diesen einen begrenzten Fleck. So war es auch mit seiner Erinnerung. Er entsann sich eines stillen Sommerabends: durch das offene Fenster fallen die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne in das Zimmer und in die Ecke auf das Heiligenbild, vor dem das Lämpchen brennt (der schrägen Sonnenstrahlen erinnerte er sich am besten), vor dem Heiligenbild kniet seine Mutter, die „Klikuscha“, die hysterisch weint, schluchzt und Schmerzensschreie ausstößt; sie zieht ihn zu sich heran, umarmt ihn so fest, daß es ihm weh tut, und während sie die Muttergottes um Schutz für ihn anfleht, hebt sie ihn zum schimmernden Heiligenbild empor, als ob sie ihn unter den Schutz der Muttergottes stellen wollte ... und plötzlich kommt die Kinderfrau ins Zimmer hereingestürzt und reißt ihn ganz erschrocken aus den Händen der Mutter. Das war das Bild. Er erinnerte sich auch noch des Gesichtes der Mutter in jenem Augenblick; er sagte: „Es muß wie wahnsinnig, wie verzückt gewesen sein und doch wunderbar schön, wenigstens darnach zu urteilen, wie ich es noch vor mir sehe“. Doch liebte er es nicht, davon zu sprechen. Als Knabe, und auch späterhin als Jüngling, war er wenig mitteilsam und gar nicht gesprächig, doch war er es nicht etwa aus Schüchternheit, sondern aus ganz anderen Gründen, aus gleichsam unbewußten, innerlichen Empfindungen, die eigentlich nur ihn persönlich angingen und mit anderen Menschen nichts zu tun hatten, die aber für ihn so wichtig waren, daß er seine Umgebung darüber ganz zu vergessen schien. Doch er liebte die Menschen: er glaubte an sie sein ganzes Leben hindurch und doch hielt ihn niemand für beschränkt oder naiv. Es war etwas in ihm, was ihm die Menschen zu richten verbot, und ihm immer zuflüsterte, daß er nicht der Richter der Menschen sein, nicht das Verurteilen auf sich nehmen wolle und darum auch unter keiner Bedingung verurteilen werde. Es schien sogar, daß er alles zugab und nichts verurteilte, wenn er auch oftmals selbst schwer darunter litt. Ja, schließlich konnte ihn nichts und niemand mehr weder in Erstaunen setzen noch erschrecken, und das war eigentlich schon von seiner frühesten Jugend an der Fall. Als er mit zwanzig Jahren rein und keusch zu seinem Vater kam, in diese Höhle schmutzigen Lasters, entfernte er sich nur schweigend, wenn er es nicht mehr mit ansehen konnte; doch tat er das ohne den geringsten Ausdruck von Verachtung und Verurteilung, einerlei wessen. Sein Vater, der als ehemaliger Freischlucker gegen solche Beleidigungen ungemein feinfühlig und mißtrauisch war, und ihn denn auch sehr voreingenommen empfing („Er schweigt zu viel und denkt mir viel zu viel,“ sagte er), kam schon nach kurzer Zeit, nach kaum zwei Wochen, immer häufiger zu ihm, um ihn zu umarmen und zu küssen, allerdings mit trunkenen Tränen und in berauschter Rührseligkeit, doch ersichtlich auch, weil er ihn aufrichtig immer mehr lieb gewann, so, wie er vielleicht noch nie jemanden geliebt hatte. Ja, alle Menschen liebten diesen Jüngling, überall brachte man ihm, wo er auch erschien, schon von Kindheit an sofort Liebe entgegen. Im Hause seines Wohltäters und Erziehers Jefim Petrowitsch Polenoff hatten ihn alle so lieb, daß man ihn wirklich wie einen leiblichen Sohn behandelte. Und doch kam er in dieses Haus in so jungen Jahren, daß es unmöglich ist anzunehmen, er habe durch Schlauheit oder die Kunst zu gefallen oder sich einzuschmeicheln, die allgemeine Liebe erworben. So trug er denn diese Gabe, in allen Liebe zu erwecken, ganz unbewußt in sich, sie lag sozusagen schon in seiner Natur. Dasselbe geschah mit ihm auch in der Schule, während man doch hätte glauben können, daß er gerade zu jenen Kindern gehörte, die in den Kameraden gewöhnlich Spott hervorrufen, nicht selten aber Mißtrauen und sogar Haß. Er war zum Beispiel immer nachdenklich und schien sich gern von allen abzusondern. Er liebte es schon von Kindheit an, sich in einen Winkel zurückzuziehen und Bücher zu lesen. Und doch liebten ihn auch seine Schulkameraden sogar so auffallend, daß man ihn tatsächlich während seiner ganzen Schulzeit den allgemeinen Liebling nennen konnte. Er war selten ausgelassen, selten auch nur lustig; aber ein jeder, der ihn ansah, wußte sofort, daß er nicht finster oder mürrisch war, sondern heiter und gutmütig. Unter seinen Altersgenossen suchte er nie sich hervorzutun. Vielleicht kam dies daher, daß er niemanden und nichts fürchtete, und doch begriffen die Knaben sofort, daß seine Unerschrockenheit keine Prahlerei sein konnte und er selbst nicht einmal wußte, daß er kühn und furchtlos war. Beleidigungen trug er nie nach. Es kam vor, daß er nach einer Stunde dem Beleidiger antwortete oder mit ihm selbst so heiter und zutraulich ein Gespräch begann, als ob niemals etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre. Und nie hatte es dabei den Anschein, daß er absichtlich vergessen oder dem Beleidiger verzeihen wollte, sondern es geschah immer ganz harmlos von ihm, als ob er es gar nicht für eine Beleidigung gehalten hätte – und das war es, was die Kinder bestrickte und sie ihm unterwarf. Nur eine Eigenschaft hatte er, die in allen Klassen des Gymnasiums, von der niedrigsten bis zur höchsten, in den Kameraden immerwährend den Wunsch erweckte, ihn zu necken, nicht etwa aus Bosheit, sondern einfach, weil es ihnen Spaß machte. Das waren seine Scham und seine Keuschheit. Er konnte gewisse Worte und gewisse Gespräche über Frauen nicht ertragen. Diese „gewissen“ Worte und Gespräche sind zum Unglück in den Schulen unausrottbar. In der Seele und im Herzen reine Jungen, fast noch Kinder, lieben es zuweilen, in den Klassen unter sich und auch laut von solchen Sachen, Bildern und Vorstellungen zu sprechen, über die selbst einfache Soldaten nicht sprechen würden, denn Soldaten wissen und verstehen vieles nicht von dem, was ganz jungen Kindern unserer höheren Gesellschaft schon bekannt ist. Eine Sittenverderbnis kann man das nicht gut nennen, ein wirklicher innerer Zynismus ist es auch nicht, wohl aber ist es ein äußerer Zynismus, den man oft für vornehm, „schneidig“ und womöglich noch für nachahmungswürdig hält. Als man nun bemerkte, daß „Aljoschka Karamasoff“, wenn man „davon“ sprach, seine Finger in die Ohren steckte, so versammelte man sich um ihn und riß ihm mit Gewalt die Hände fort und schrie ihm dann Gemeinheiten in beide Ohren: er jedoch riß sich los, wälzte sich auf dem Fußboden herum, versuchte sich zu verstecken und zu bedecken, ertrug aber, ohne ihnen ein Wort zu erwidern, ohne zu schreien, schweigend die Beleidigung. Zu guter Letzt ließen sie ihn denn auch in Ruh und neckten ihn nicht mehr als „das Mädchen“, sahen aber in der Beziehung doch mit Bedauern auf ihn herab. Als Schüler war er einer von den besseren, doch niemals war er der erste. Als Polenoff starb, blieb Aljoscha noch zwei Jahre im Kreisgymnasium. Die untröstliche Gemahlin Jefim Petrowitschs begab sich sofort nach seinem Tode, und zwar auf lange Zeit, mit ihrer ganzen Familie, die nur aus Wesen weiblichen Geschlechts bestand, nach Italien. Aljoscha kam zu zwei Damen, die er früher niemals gesehen hatte, zu entfernten Verwandten Jefim Petrowitschs; unter welchen Bedingungen, das wußte er selbst nicht. Charakteristisch, und das sogar im höchsten Grade, war diese eine Eigenschaft an ihm, daß er sich niemals darum bekümmerte, auf wessen Kosten er lebte. Darin war er der größte Gegensatz seines älteren Bruders Iwan Fedorowitsch, der die zwei ersten Jahre auf der Universität Not litt und sich durch seine eigene Arbeit ernährte, und es von Kindheit an immer bitter empfunden hatte, daß er auf fremde Kosten, auf die seines Wohltäters, leben mußte. Diese sonderbare Charaktereigenschaft Aljoschas konnte man indessen nicht streng verurteilen, denn ein jeder, der ihn nur etwas näher kennen lernte, überzeugte sich alsbald, daß Aljoscha in der Beziehung zu dem Typ der gleichsam einfältigen Jünglinge gehörte, die, wenn man ihnen ein ganzes Kapital gäbe, es bei der ersten Gelegenheit fortgeben würden, sei es zu einem guten Zweck oder einfach einem gewandten Menschen, wenn er sie darum bäte. Ja, und überhaupt kannte er nicht den Wert des Geldes – versteht sich, nicht im buchstäblichen Sinne gesprochen. Aber wenn man ihm Taschengeld gab, um das er niemals selbst bat, so wußte er wochenlang nicht, was er mit ihm anfangen sollte, oder er gab es sofort, und ohne zu berechnen, aus. Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, ein Mensch, der in Geldsachen und bourgeoisen Ehrbegriffen sehr empfindlich war, sprach über Alexei einmal folgenden Aphorismus aus: „Er ist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der, wenn man ihn plötzlich allein und ohne Geld auf einem Platze einer ihm unbekannten Millionenstadt ließe, weder verloren gehen würde, noch vor Kälte oder Hunger sterben, denn man würde ihm sofort zu essen geben, ihm sofort alles verschaffen, ohne daß er sich auch nur anzustrengen brauchte oder sich erniedrigen müßte, und ohne daß er dem Gönner zur Last fiele, im Gegenteil, man würde es sich noch zur Ehre anrechnen.“ Das Gymnasium beendete er nicht; er hatte noch ein ganzes Jahr vor sich, als er plötzlich seinen Damen erklärte, daß er wegen einer Sache, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, zu seinem Vater fahren müsse. Die Damen waren sehr betrübt und erschrocken darüber und wollten es ihm zuerst nicht gestatten. Die Fahrt kostete nicht viel, doch die Damen erlaubten ihm nicht, seine Uhr zu dem Zwecke zu versetzen – ein Geschenk, das er zur Erinnerung von der Familie seines Wohltäters erhalten hatte, als diese ins Ausland abgereist war – und statteten ihn selbst nicht nur mit reichen Mitteln, sondern auch noch mit neuen Kleidern und guter Wäsche aus. Er gab ihnen aber die Hälfte des Geldes zurück und erklärte ihnen, daß er durchaus in der dritten Klasse fahren wolle. Als er dann in unserem Städtchen ankam, antwortete er auf die ersten Fragen seines Vaters: „Warum hast du dich denn hierher begeben, ohne deinen Kursus beendet zu haben?“ einfach überhaupt nichts, sondern war, wie man sich allgemein erzählte, in sich gekehrt und nachdenklich. Bald darauf brachte man heraus, daß er das Grab seiner Mutter suchte. Er sagte später sogar selbst, daß er nur darum gekommen sei. Aber es ist wohl kaum anzunehmen, daß dies allein der Grund seiner Reise war. Viel wahrscheinlicher ist, daß er sich damals selbst nicht erklären konnte, was er wollte: irgend etwas hatte sich in seiner Brust erhoben, etwas, das ihn schon auf einen neuen, unbekannten und unvermeidlichen Weg zog. Fedor Pawlowitsch konnte ihm übrigens den Platz, wo er seine zweite Frau begraben hatte, nicht zeigen, da er nach der Beerdigung niemals mehr an ihrem Grabe gewesen war, und daher im Laufe der Jahre ganz vergessen hatte, wo sie eigentlich beerdigt lag ... Noch ein Wort über Fedor Pawlowitsch. Er hatte längere Zeit über nicht in unserem Städtchen gelebt. Im dritten oder vierten Jahre nach dem Tode seiner Frau war er in den Süden Rußlands gereist und zu guter Letzt in Odessa angekommen, wo er einige Jahre verlebte. Nach seinen eigenen Worten hatte er sich dort mit vielen „Juden und Jüdchen der verschiedensten Sorten“ angefreundet, und war zum Schluß sogar „bei richtigen Hebräern“ empfangen worden. Es ist wohl anzunehmen, daß er in dieser Periode seines Lebens die besondere Kunst entwickelt hatte, aus allem Geld herauszuschlagen und so sein Kapital beträchtlich zu vergrößern. Er kehrte erst drei Jahre vor der Ankunft Aljoschas endgültig in unser Städtchen zurück. Seine früheren Bekannten fanden ihn sehr gealtert, obgleich er noch längst kein Greis war; auch hielt er sich nicht etwa anständiger, sondern womöglich noch unanständiger. Vor allem tat sich in dem alten Narren das Bedürfnis kund, jetzt auch andere zu Narren zu machen. Mit Frauen verkehrte er nicht nur wie früher, sondern tat es noch gemeiner, noch widerlicher. In kurzer Zeit gründete er viele neue Schenken in unserem Gouvernement. Es war klar, daß er mindestens hunderttausend Rubel Kapital besitzen mußte. Viele von den Stadteinwohnern, aber auch viele vom Lande, wurden denn auch alsbald seine Schuldner, doch natürlich nur unter den sichersten Garantieen. Äußerlich veränderte er sich in der letzten Zeit ganz ansehnlich: er bekam etwas Aufgedunsenes, das er früher nicht gehabt hatte, schien sich auch von seinen Handlungen nicht mehr Rechenschaft ablegen zu können, bekundete einen gewissen Leichtsinn, begann mit dem einen und endete mit etwas ganz anderem, wurde auffallend unruhig und betrank sich immer öfter, und wenn ihn nicht zuweilen sein treuer Diener Grigorij, der in der Zwischenzeit gleichfalls recht gealtert war, fast wie seinen Zögling bewacht und beschützt hätte, so würde er sich vielleicht durch seine Lebensweise ernste Unannehmlichkeiten zugezogen haben. Die Ankunft Aljoschas machte aber in moralischer Beziehung doch einen gewissen Eindruck auf ihn: es schien, als ob in diesem verderbten Alten etwas von dem wiedererwachte, was in seiner Seele schon längst verstummt war. „Weißt du auch, Alexei,“ sagte er oftmals, wenn er ihn betrachtete, „daß du ihr sehr ähnlich bist, ich meine der Klikuscha?“ So nannte er stets seine verstorbene Frau, die Mutter Iwans und Aljoschas. Das Grab der „Klikuscha“ zeigte dem Jungen schließlich der Diener Grigorij. Er führte ihn auf unseren Friedhof, und dort zeigte er ihm in einer entlegenen Ecke eine kleine, nicht gerade teuere, doch immerhin sauber gearbeitete gußeiserne Platte, auf der sogar eine Inschrift stand: der Name, das Geburts- und Todesjahr der Verstorbenen, und darunter war noch ein vierstrophiger Spruch eingraviert, einer von den allgemein gebräuchlichen auf den Gräbern des Mittelstandes. Diese Platte erwies sich zu Aljoschas nicht geringer Verwunderung als ein Liebeswerk Grigorijs. Er hatte sie selbst auf dem Grabe der armen „Klikuscha“ errichten lassen, auf seine Kosten, nachdem Fedor Pawlowitsch, den er mehrmals mit der Erinnerung an dieses Grab geärgert hatte, schließlich nach Odessa gefahren war und hinfort nicht nur von Gräbern, sondern auch von allem Gewesenen nichts mehr wissen wollte. Aljoscha äußerte am kleinen Grabe seiner Mutter keinerlei besondere Rührung; er hörte nur der wichtig und ernst vorgetragenen Erzählung Grigorijs von der Errichtung der Grabplatte zu, stand mit gesenktem Kopf, und sprach die ganze Zeit über kein Wort. Seit jenem Tage war er vielleicht im ganzen Jahr kein einziges Mal wieder auf den Kirchhof gegangen. Doch auf Fedor Pawlowitsch machte auch diese kleine Episode einen gewissen Eindruck, was sich in einer sehr originellen Weise äußerte. Er nahm plötzlich tausend Rubel und brachte dieses Tausend in unser Kloster, um Seelenmessen für seine verstorbene Frau lesen zu lassen, doch nicht für die zweite, die Mutter Aljoschas, die „Klikuscha“, sondern für die erste, Adelaida Iwanowna, die ihn geprügelt hatte. Am Abend dieses Tages betrank er sich, und schimpfte dann in Aljoschas Gegenwart gewaltig über die Mönche. Selbst war er nichts weniger als ein religiöser Mensch; er hatte vielleicht kein einziges Mal im Leben ein Fünfkopekenlicht vor ein Heiligenbild gestellt. Aber gerade solche Burschen können zuweilen ganz sonderbare Ausbrüche plötzlicher Gefühle und plötzlicher Gedanken haben. Ich sagte schon, daß sein Gesicht aufgedunsen war. Seine Züge drückten damals etwas aus, das scharf die Charakteristik und das Wesentliche seines durchlebten Lebens kennzeichnete. Außer den langen und fleischigen Säcken unter seinen kleinen, ewig unverschämten, mißtrauischen und spöttischen Äuglein, außer einer Menge kleiner, tiefer Runzeln in seinem kleinen, doch fetten Gesicht, hing sich an sein spitzes Kinn noch ein großes, fleischiges und sackartig längliches Doppelkinn, das ihm ein ganz besonders widerlich-lüsternes Aussehen verlieh. Hinzu füge man jetzt noch einen großen, sinnlichen Mund mit fleischigen Lippen, hinter denen man die kleinen Stummel schwarz gewordener, fast verfaulter Zähne sah. Wenn er zu sprechen begann, spritzte jedesmal Speichel von seinen Lippen. Übrigens liebte er selbst, über sein Gesicht zu scherzen, obgleich er, wie es schien, ganz zufrieden mit ihm war. Besonders wies er auf seine Nase hin, die nicht sehr groß, doch sehr schmal und stark gebogen war: „Echt römisch,“ pflegte er zu sagen, „zusammen mit dem Doppelkinn die echte Physiognomie eines alten römischen Patriziers aus der Verfallszeit.“ Darauf, glaube ich, war er sogar ziemlich stolz. Eines Tages nun, bald nachdem Aljoscha das Grab seiner Mutter besucht hatte, erklärte dieser plötzlich seinem Vater, daß er in das Kloster eintreten wolle, und daß die Mönche bereit seien, ihn als Novizen aufzunehmen. Er fügte noch hinzu, daß es sein heißer Wunsch sei, und daß er jetzt von ihm, seinem Vater, die feierliche Erlaubnis dazu erbäte. Der Alte wußte schon, daß der Staretz Sossima, der in der Einsiedelei des Klosters lebte, auf seinen „sanften, stillen Jungen“ einen tiefen Eindruck gemacht hatte. „Dieser Staretz ist bei ihnen noch der ehrlichste von allen,“ brummte er vor sich hin, nachdem er Aljoschas Bitte, über die er sich weiter gar nicht wunderte, angehört hatte. „Hm ... sieh mal einer an, wohin du willst ... Also dorthin willst du, mein sanfter Junge!“ Er war halbtrunken, und plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem langen, stumpfen Grinsen, das aber doch nicht einer gewissen Schlauheit und Hinterlist entbehrte: „Hm ... weißt du, ich ahnte es ja, daß du gerade mit irgend so etwas enden würdest, kannst du dir das vorstellen? Gerade darauf hattest du’s doch abgesehen. Nun, was, meinetwegen ... Du hast doch deine Zweitausend, das wäre denn die Aussteuer. Ich aber werde dich, mein Liebling, nie verlassen, und auch jetzt werde ich dir alles geben, was du zum Eintritt nötig hast, wenn sie’s verlangen. Nun, und wenn sie’s nicht verlangen, warum dann aufdrängen, nicht wahr? Geld gibst du ja nur wie’n Kanarienvogel aus, kaum zwei Körnchen in einer Woche ... Hm ... weißt du, bei einem bekannten Kloster gibt’s so eine kleine Vorstadt, und alle wissen dort schon, daß in ihr nur die ‚Klosterweiber‘ leben, so werden sie dort allgemein genannt, etwa dreißig an der Zahl, glaube ich ... Ich war dort mal, nicht uninteressant, natürlich in ihrer Art, so als Abwechslung einmal. Gemein war nur der furchtbare Russizismus, nicht eine einzige Französin war dabei, könnten aber sein, denn die Mittel sind bedeutend. Nun, werden’s schon bald riechen und angeflogen kommen. Hier aber, alle Achtung, hier gibt’s keine Klosterweiber, Mönche an zweihundert Stück. Alle ehrsam, nichts zu sagen. Fasten bloß. Ich muß gestehen ... Hm! Also du willst zu den Mönchen gehen? Aber du tust mir doch leid, Aljoscha, wirklich, glaub mir, ich habe dich liebgewonnen! ... Übrigens, das wäre eine günstige Gelegenheit: Du kannst dort auch für uns Sünder beten, haben wir doch hier schon gar zu viel gesündigt. Ich habe immer daran gedacht: wer wird einmal für mich beten? Gibt es in der Welt auch nur einen einzigen Menschen, der für mich beten wird? Du mein lieber Junge, ich bin doch in dieser Beziehung ganz furchtbar dumm, du glaubst es nicht, wie dumm! Ganz furchtbar. Siehst du: wie dumm ich aber nun auch bin, an dieses denke ich doch ununterbrochen, ununterbrochen, d. h. versteht sich, so mitunter, aber ich denke doch immerhin daran! Es kann doch nicht sein, denke ich, daß die Teufel vergessen sollten, mich mit Ofenkrücken oder spitzen Haken zu sich hinabzuziehen, wenn ich gestorben bin? Nun, und da denke ich denn so: Haken? Woher nehmen sie die? Schön, – Haken! – aber was für welche? Etwa eiserne? Wo werden sie denn dort geschmiedet? Oder haben sie dort womöglich so ’ne ganze Fabrik? Im Kloster glauben doch die Mönche sicherlich, daß es in der Hölle, zum Beispiel, einen Plafond, eine Decke gibt. Ich aber, siehst du, bin bereit, an die Hölle zu glauben, nur muß sie ohne Decke sein; das ist gewissermaßen delikater, aufgeklärter – das heißt lutherischer. Im Grunde aber sollte man meinen, – ist’s denn nicht einerlei: mit ’ner Decke oder ohne Decke? Das aber ist ja die verflixte Frage! Nun, sage doch selbst: wenn es keine Decke gibt, so gibt es folglich auch keine Haken. Gibt’s aber keine Haken, so geht ja die ganze Hölle flöten, dann ist ja das Ganze nur ’ne Fabel; also – wiederum unwahrscheinlich: wer wird mich dann noch mit Ofengabeln hinunterziehen, denn wenn man nicht einmal mich hinunterzieht, wer soll dann überhaupt noch gezogen werden, und wo ist dann die Gerechtigkeit in der Welt? _Il faudrait les inventer_, diese Ofengabeln, speziell für mich, für mich allein, denn, ach Aljoscha! – wenn du wüßtest, was ich für ein Schandkerl bin! ...“ „Aber dort gibt es doch gar keine Ofengabeln,“ sagte still und ruhig Aljoscha, der ernst den Vater betrachtete. „Stimmt, nur Schatten von Ofengabeln. Ich weiß, ich weiß. Das ist, wie ein Franzose die Hölle beschreibt: _J’ai vu l’ombre d’un cocher qui avec l’ombre d’une brosse frottait l’ombre d’une carrosse._ Aber woher weißt du denn, mein Täubchen, daß es dort keine Ofengabeln gibt? Bleib mal erst ein bißchen bei den Mönchen, dann wirst du schon was andres anstimmen, wirst piepen, wie die Alten singen. Doch, übrigens, gehe hin, wenn du willst, trachte, bis zur Wahrheit vorzudringen und komm dann her erzählen: es wird doch immerhin leichter sein, ins Jenseits abzugehen, wenn man genau weiß, wie’s dort eigentlich zugeht. Und dort bei den Mönchen ist’s auch anständiger für dich als hier bei mir, dem alten Trinker und den Mädels ... wenn auch dich, wie einen Engel, nichts berührt. Nun, vielleicht wird dich auch dort nichts berühren, nur darum erlaube ich dir alles, weil ich eben darauf hoffe. Deinen Verstand hat doch nicht der Teufel aufgefressen. Wirst entflammen und erlöschen, gesund werden und zurückkommen. Ich aber werde dich erwarten. Fühle ich doch, daß du der einzige Mensch auf der ganzen Welt bist, der mich nicht verurteilt hat, du mein lieber Junge, das fühle ich doch, wie soll ich denn das nicht fühlen! ...“ Und er fing sogar an zu flennen. Er war ein sentimentaler Mensch. Er war gemein und sentimental zugleich. V. Die Startzen Vielleicht werden meine Leser denken, Aljoscha Karamasoff sei ein kränklicher, ekstatischer, dürftig entwickelter Jüngling gewesen, ein bleicher Träumer, ein blutarmer, kraft- und saftloser Mensch. Im Gegenteil: Aljoscha war schon ein stattlicher, neunzehnjähriger junger Mann mit einem hellen, offenen Blick und strotzte fast vor Gesundheit. Er war sogar sehr hübsch, prächtig gewachsen, dabei von mittelhohem Wuchs, dunkelblond, das Gesicht von einem regelmäßigen, etwas länglichen Oval, in dem die glänzenden, dunkelgrauen Augen weit auseinanderstanden, war sehr nachdenklich und – wenigstens schien es so – sehr ruhig. Man wird vielleicht sagen, daß rote Wangen weder Fanatismus noch Mystizismus ausschließen; ich aber glaube, daß Aljoscha mehr als sonst jemand Realist war. O, versteht sich, im Kloster glaubte er vollkommen an Wunder, doch meiner Meinung nach machen Wunder einen Realisten niemals irre. Nicht die Wunder führen den Realisten zum Glauben. Wenn der echte Realist ungläubig ist, wird er immer die Kraft und die Fähigkeit in sich finden, dem Wunder nicht zu glauben, wenn aber das Wunder vor ihm zur unabweisbaren Tatsache wird, so wird er eher seinen Sinnen nicht trauen, als daß er die Tatsache zugäbe. Oder gibt er sie auch einmal zu, so wird er sie doch nur als ganz natürlichen Vorgang zugeben, der ihm nur bis dahin noch unbekannt war. Im Realisten wird der Glaube nicht durch das Wunder hervorgerufen, sondern das Wunder durch den Glauben. Wenn der Realist einmal glaubt, so muß er gerade infolge seines Realismus unbedingt auch das Wunder zugeben. Der Apostel Thomas sagte, daß er nicht eher glauben werde, als bis er selbst sähe, als er aber sah, da rief er: „Mein Herr und mein Gott!“ Machte ihn das Wunder glauben? Wahrscheinlich nicht, sondern er glaubte ausschließlich darum, weil er glauben wollte, und vielleicht glaubte er in seinem Innersten schon damals vollkommen, als er sagte, er werde nicht eher glauben, als bis er selbst sähe. Oder vielleicht wird man sagen, Aljoscha sei stumpf gewesen, unentwickelt, habe das Gymnasium nicht beendet usw. Letzteres ist allerdings wahr, doch wäre es eine große Ungerechtigkeit, zu sagen, daß er dumm gewesen sei. Ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: Der einzige Grund, warum er diesen Weg einschlug, war der, daß nur dieser Weg allein auf ihn damals einen tiefen Eindruck machte und ihm mit einemmal das ganze Ideal der Erlösung seiner leidenschaftlich aus der Finsternis zum Licht strebenden Seele zeigte. Jetzt bedenke man noch, daß er seinem Alter nach teilweise schon unserer neuen Zeit angehörte, also schon von Natur ehrlich war, nach Wahrheit verlangte, sie suchte, an sie glaubte und mit der ganzen Kraft seiner Seele der Wahrheit unmittelbar teilhaftig werden wollte, sich nach einer Heldentat sehnte, und zwar mit dem bedingungslosen Wunsch, für diese Tat womöglich alles, selbst das Leben zu opfern. Nur sehen es diese Jünglinge leider nicht ein, daß das Opfer des Lebens in den meisten Fällen vielleicht das leichteste von allen Opfern ist, und daß, zum Beispiel, von seinem in Jugend schäumenden Leben fünf oder sechs Jahre schwerem, mühsamem Studium der Wissenschaft zu opfern – und wenn auch nur, um in sich die Kraft zur Förderung dieser selben Wahrheit und zur Ausführung derselben Heldentat, für die man schwärmt, und die zu erfüllen man sich vorgenommen hat, zu verzehnfachen – daß solch ein Opfer vielen von ihnen weit über ihre Kräfte geht. Aljoscha erwählte bloß den Weg, der allen anderen entgegengesetzt war, doch tat er es mit demselben heißen Verlangen nach einer schnellen Heldentat. Kaum war er in ernstem Nachdenken von der Überzeugung, daß es Unsterblichkeit und Gott gibt, ergriffen worden, als er sich natürlicherweise sofort sagte: „Ich will für die Unsterblichkeit leben, auf einen Kompromiß aber gehe ich nicht ein.“ Ebenso wäre er, wenn er sich überzeugt hätte, daß es Unsterblichkeit und Gott nicht gibt, sofort zu den Atheisten und Sozialisten übergegangen (denn der Sozialismus ist nicht nur eine Arbeiterfrage oder eine Frage des sog. vierten Standes, sondern hauptsächlich eine atheistische Frage, die Frage der gegenwärtigen Inkarnation des Atheismus, die Frage des „Turmes zu Babel“, der gerade ohne Gott gebaut wird, nicht zur Erreichung des Himmels von der Erde aus, sondern zur Niederführung des Himmels auf die Erde). Es schien Aljoscha sogar sonderbar und unmöglich, so weiter zu leben. Es steht geschrieben: „Verteile dein Gut und folge mir nach, wenn du vollkommen sein willst.“ Und so sagte sich denn auch Aljoscha: „Ich kann doch nicht an Stelle meines ganzen Gutes nur zwei Rubel geben, und anstatt des ‚folge mir nach‘ nur zur Kirche gehen.“ Von den Eindrücken seiner Kinderjahre erinnerte er sich vielleicht noch einiger aus unserem Kloster, wohin ihn die Mutter oftmals mitgenommen hatte. Vielleicht waren auch die schrägen Strahlen der Abendsonne, die auf das schimmernde Heiligenbild fielen, als ihn seine Mutter, die Klikuscha, zu jenem hingehalten hatte, auf ewig in seine Seele gefallen. Nachdenklich und still war er damals, als er herkam, vielleicht nur, um zu sehen: Ist hier alles, oder sind auch hier nur zwei Rubel? – Da traf er im Kloster diesen Staretz ... Dieser Staretz war, wie ich schon früher sagte, der Staretz Sossima. Doch hier sehe ich mich gezwungen, zunächst ein wenig zu erläutern, wer und was diese „Startzen“ in unseren Klöstern eigentlich sind. Es tut mir nur leid, daß ich mich in dieser Frage nicht ganz maßgebend fühle; ich werde mich daher mit einer kurzen, mehr oberflächlichen Erklärung begnügen. Viele Sachkundige behaupten, daß das Startzentum bei uns in unseren russischen Klöstern erst seit sehr kurzer Zeit eingeführt sei, kaum seit hundert Jahren, während es im ganzen orthodoxen Osten, besonders auf dem Sinai und dem Athos, schon seit mehr denn tausend Jahren vorkomme. Es wird zwar behauptet, daß das Startzentum auch bei uns früher, schon in den ältesten Zeiten, bestanden habe, dann aber infolge der vielen Heimsuchungen Rußlands, infolge des Tatarenjochs, der inneren Unruhen, der Unterbrechung unserer früheren Verbindungen mit dem Westen und schließlich der Eroberung Konstantinopels durch die Türken vergessen worden sei. Aufgekommen aber wäre es jetzt wieder seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts durch einen der großen Eiferer, Paissij Welitschkowskij und seine Schüler, doch ist es noch heute, also selbst nach fast hundert Jahren, nur in sehr wenigen Klöstern eingeführt, und nicht selten ist es sogar als in Rußland unerhörte Neuerung nahezu Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Zu besonderer Blüte kam es bei uns in Rußland in der berühmten Einsiedelei der Koselskischen Optina. Wann und durch wen es auch in unserem, ganz nahe bei der Stadt gelegenen Kloster eingeführt worden ist, weiß ich nicht; doch sind dort schon drei Startzen gewesen, von denen der Staretz Sossima der dritte und der letzte Nachfolger war. Auch er siechte schon in Krankheit und Schwäche dahin. Durch wen man ihn aber ersetzen sollte, das wußte man noch nicht einmal. Für unser Kloster war das eine wichtige Frage, da es sich bis dahin eigentlich noch durch nichts ausgezeichnet hatte: Es gab in ihm weder Gebeine Heiliger noch „wunderbar erschienene,[5] wundertätige Heiligenbilder“, und nicht einmal alte Sagen, die es mit unserer Geschichte verknüpft oder von ihm Großes, um das Vaterland Verdienstvolles zu berichten gewußt hätten. Aufgeblüht aber und in ganz Rußland bekannt geworden war es gerade durch seine Startzen, die zu sehen und zu hören Pilger in Scharen von weitem herkamen und oft Tausende von Werst zu Fuß zurücklegten. Doch was ist nun solch ein Staretz? Der Staretz ist einer, der eines Menschen Seele und Willen in seine Seele und seinen Willen aufnimmt. Wenn man einen Staretz gewählt hat, sagt man sich von dem eigenen Willen los und gibt ihn dem Staretz zu vollem Gehorsam mit vollständiger Selbstverleugnung. Diese Prüfung, diese furchtbare Lebensüberwindung nimmt der sich dem Staretz Ergebende freiwillig auf sich: in der Hoffnung, nach langer Prüfung sich selbst überwinden zu können, sich seiner selbst dermaßen zu bemächtigen, daß er endlich durch lebenslänglichen Gehorsam die volle Freiheit erlange, – das heißt, um vor sich selbst frei zu sein, auf daß er dem Los derer entgehe, die das ganze Leben verleben und doch ewig ihr eigener Knecht bleiben. Diese Einrichtung, ich meine das Startzentum, ist nicht theoretisch entstanden, sondern hat sich im Osten aus der Praxis ergeben und ist heutzutage schon tausendjährig. Die Verpflichtungen dem Staretz gegenüber sind nicht etwa der gewöhnliche „Gehorsam“ (oder „Dienst“), der in unseren russischen Klöstern seit jeher üblich ist; nein, hier handelt es sich um die ewige Beichte aller sich dem Staretz Ergebenden und die unlösbare Verbindung zwischen dem Gebundenen und dem Bindenden. Man erzählt sich zum Beispiel, daß einmal in den ältesten Zeiten des Christentums ein derart Gebundener eine Buße, die ihm von seinem Staretz auferlegt worden war, nicht erfüllt und das Kloster verlassen hatte, und in ein anderes Land, ich glaube aus Syrien nach Ägypten, gezogen war. Dort hatte er lange Zeit Großes vollbracht, und schließlich war er für seinen Glauben den Märtyrertod gestorben. Als aber die Kirche ihn, den sie fast schon als Heiligen ehrte, bestatten wollte, da war der Sarg plötzlich bei den Worten des Diakonus: „Katechumenen, geht hinaus“, mit der in ihm liegenden Leiche des Märtyrers von der Stelle gerückt und zur Kirche hinausgeworfen worden, und also war es dreimal geschehen. Erst später hatte man erfahren, daß der heilige Dulder den Gehorsam gebrochen und seinen Staretz verlassen hatte, und darum konnte ihm ohne die Erlaubnis dieses Staretz, selbst trotz seiner großen Taten, nicht verziehen werden. Und seine Bestattung konnte erst stattfinden, als sein Staretz ihn der Buße enthoben hatte. Natürlich ist das nur eine alte Legende, doch will ich noch eine andere Begebenheit aus unserer Zeit erzählen: Einer unserer zeitgenössischen Mönche hatte sich in das Kloster des Athos zurückgezogen, und plötzlich befiehlt ihm sein Staretz, Athos zu verlassen – Athos, das er bis in die tiefste Tiefe seiner Seele in Liebe eingeschlossen hatte! – und zuerst nach Jerusalem und dann zurück nach Rußland, in den Norden, nach Sibirien zu gehen: „Dort ist dein Platz, nicht hier.“ Der erschrockene und vor Leid niedergedrückte Mönch ging nach Konstantinopel zum Ökumenischen Patriarchen und flehte ihn an, ihn des Gehorsams zu entbinden; da aber antwortete ihm der Ökumenische Machthaber, daß nicht nur er, der Ökumenische Patriarch, ihn nicht befreien könne, sondern daß es auf der ganzen Erde keine Macht gäbe, die ihn von dem, was ihm einmal sein Staretz auferlegt hätte, entbinden könnte, abgesehen natürlich von dem Staretz selbst. So haben denn die Startzen in gewissen Fällen eine grenzenlose und unvergleichliche Macht. Das ist auch der Grund, warum bei uns das Startzentum in vielen Klöstern auf solche Feindseligkeit stieß. Indessen aber wurden die Startzen im Volk alsbald sehr geachtet und verehrt. Zu den Startzen unseres Klosters kamen sowohl die einfachsten als die vornehmsten Leute, um ihnen kniend ihre Zweifel, Sünden und Leiden zu beichten und sie um Rat und Leitung zu bitten. Dagegen führten dann die Gegner der Startzen unter anderen Beschuldigungen aus, daß hierbei das Mysterium der Beichte eigenmächtig und leichtsinnig profaniert werde – obgleich in diesem Falle das ununterbrochene Beichten des sich ihm ergebenden Klosterbruders oder Weltlichen keineswegs als Mysterium aufgefaßt wurde. Es endete schließlich damit, daß das Startzentum sich doch behauptete und allmählich in den Klöstern verbreitete. Allerdings ist auch das wahr, daß dieses erprobte und schon tausendjährige Mittel zur sittlichen Auferstehung des Menschen von der Sklaverei zur Freiheit und zur moralischen Vervollkommnung sich in ein zweischneidiges Schwert verwandeln kann, so daß es manchen vielleicht, statt zur Demut und endgültigen Selbstüberwindung, zu satanischem Stolz, also zu Ketten, nicht aber zur Freiheit führt. Der Staretz Sossima war fünfundsechzig Jahre alt; er stammte aus einer Gutsbesitzerfamilie, war als Junge Kadett gewesen und hatte im Kaukasus als Oberleutnant gedient. Zweifellos hatte er auf Aljoscha durch irgendeine ganz besondere Eigenschaft seiner Seele einen so tiefen Eindruck gemacht. Aljoscha lebte in seiner unmittelbaren Nähe, in seiner Zelle, da der Staretz ihn sehr liebgewonnen hatte. Ich muß noch bemerken, daß Aljoscha, als er damals im Kloster lebte, noch durch nichts gebunden war, zu jeder Zeit aus dem Kloster gehen und ganze Tage lang fortbleiben konnte, und wenn er die Kutte trug, so geschah es von ihm freiwillig, um nicht unter den anderen im Kloster aufzufallen, und natürlich gefiel es ihm auch selbst, die Kutte zu tragen. Vielleicht wirkten auf seine jugendliche Phantasie auch die Macht und der Ruhm, die seinen Staretz ununterbrochen umgaben. Von dem Staretz Sossima sagte man, er hätte in all den Jahren dermaßen viel Geständnisse und Geheimnisse in seine Seele aufgenommen, daß er schließlich schon auf den ersten Blick in das Gesicht des Unbekannten erraten könne, womit jemand zu ihm kam, was er suchte, und sogar, welch eine Qual sein Gewissen peinigte, und ihn, noch bevor der Andere ein Wort gesprochen, durch diese Kenntnis seines Geheimnisses in Erstaunen setzte, verwirrte und nicht selten erschreckte. Dabei fiel es Aljoscha besonders auf, daß viele, wenn nicht alle, die das erstemal zum Staretz zu einem Gespräch unter vier Augen kamen, ängstlich und unruhig bei ihm eintraten, dafür aber beinahe immer heiter und glücklich wieder fortgingen, daß selbst das finsterste Gesicht sich in ein fröhliches verwandelte. Auch wunderte es ihn sehr, daß der Staretz keineswegs streng war; im Gegenteil, er war stets heiter. Die Mönche sagten von ihm, daß er mit seiner Seele am meisten an denen hinge, die sündiger wären, und den am meisten liebte, der am sündigsten war. Unter den Mönchen gab es selbst bis zu seinem Lebensende noch manche, die ihn haßten und beneideten, doch war ihre Zahl schon recht klein geworden, und auch sie schwiegen, obgleich zu ihnen sogar sehr bekannte und im Kloster hochangesehene Mönche gehörten, wie zum Beispiel einer der ältesten Einsiedler, Pater Ferapont, der ein großer Schweiger und außergewöhnlicher Faster war. Doch immerhin hielt schon die übergroße Mehrzahl unbedingt zum Staretz Sossima, und von ihnen liebten ihn viele von ganzem Herzen; einige aber hingen geradezu fanatisch an ihm. Letztere sagten sogar – übrigens sagten sie es doch nicht ganz laut –, daß er ein Heiliger sei, daß darüber kein Zweifel bestehen könne, und da sie seinen nahen Tod voraussahen, so erwarteten sie sogar Wunder und schon in nächster Zukunft von dem Verscheidenden großen Ruhm fürs Kloster. Auch Aljoscha glaubte widerspruchslos an die wundertätige Kraft des Staretz, ganz wie er widerspruchslos auch an die Geschichte von dem dreimal aus der Kirche hinausgeflogenen Sarge glaubte. Er sah es, wie viele, die mit kranken Kindern oder erwachsenen Kranken hinkamen und den Staretz baten, seine Hände auf sie zu legen und ein Gebet über ihnen zu sprechen, alsbald wiederkehrten – viele sogar schon am nächsten Tage – und weinend vor dem Staretz niederfielen, um ihm für die Heilung ihrer Kranken zu danken. War’s nun wirklich Heilung, oder war’s nur eine natürliche Erleichterung – das konnte für Aljoscha weiter keine Frage sein, denn er glaubte bedingungslos an die geistige Kraft seines Lehrers, dessen Ruhm für ihn gleichsam sein eigener Triumph war. Besonders jedoch erbebte sein Herz und verklärte sich sein ganzes Gesicht, wenn der Staretz zu dem Volke, das ihn an der Pforte der Einsiedelei erwartete, hinausging. Diese Pilger kamen von weit her, von allen Gauen Rußlands, um den Staretz zu sehen und seinen Segen zu empfangen. Sie knieten vor ihm nieder, weinten, küßten seine Füße, küßten die Erde, auf der er stand, und die Weiber hielten ihm ihre Kinder hin oder führten ihm eine kranke Klikuscha zu. Der Staretz redete mit ihnen, sprach über ihnen ein kurzes Gebet und segnete sie dann. In der letzten Zeit war er durch seine Krankheit so schwach geworden, daß er nicht mehr die Zelle verlassen konnte, und dann warteten die Pilger im Kloster oft tagelang auf sein Erscheinen. Niemals fragte sich Aljoscha, warum das Volk den Staretz so liebte, warum die Leute vor ihm niederfielen und vor Rührung weinten, sobald sie nur sein Antlitz sahen. O, er begriff vorzüglich, daß es für die demütige Seele des einfachen Russen, die von Leid und Arbeit zerquält ist, und vor allem durch die immerwährende Ungerechtigkeit und die Sünde – wie durch die eigene, so auch durch die Sünde der ganzen Welt –, keinen größeren Trost und kein größeres Verlangen gibt, als ein Heiligtum oder einen Heiligen zu finden, vor ihm niederzufallen und ihn anzubeten: „Wenn es auch bei uns Sünde, Unwahrheit und Versuchung gibt, so gibt es dort irgendwo auf Erden doch einen Heiligen und Höheren; dafür hat er die Wahrheit, dafür kennt er die Wahrheit: also ist sie auf Erden noch nicht gestorben, also wird sie einmal auch zu uns kommen und sich über die ganze Erde verbreiten, wie es verheißen ist.“ Aljoscha wußte, daß nur das Volk so fühlt und so denkt – das begriff er wohl; doch daran, daß gerade der Staretz dieser Heilige, dieser Hüter der Gotteswahrheit in den Augen des Volkes war – daran zweifelte er auch keinen Augenblick, gleich diesen weinenden Bauern und ihren kranken Weibern, die ihre Kinder dem Staretz entgegenbrachten. Die Überzeugung, daß der Staretz sterbend oder erst durch seinen Tod dem Kloster ungewöhnlichen Ruhm verschaffen werde, herrschte in Aljoschas Seele vielleicht sogar noch stärker als in allen anderen Anhängern des Staretz. Und überhaupt erhob sich und entbrannte in dieser ganzen letzten Zeit eine unbestimmbare, tiefe, flammende Begeisterung immer stärker und stärker in seinem Herzen. Es verwirrte ihn nicht im geringsten, daß dieser Staretz doch immerhin als ein einzelner vor ihm stand: „Gleichviel, er ist heilig, in seinem Herzen liegt das Geheimnis der Erneuerung aller, jene Kraft, die endlich die Wahrheit auf der Erde aufrichten wird, und alle werden heilig sein, und alle werden einander lieben, und es wird weder Reiche noch Arme, weder sich Überhebende noch Erniedrigte mehr geben, sondern es werden alle wie Kinder Gottes sein, und es wird das wahre Reich Christi beginnen.“ Das war es, wovon Aljoschas Herz träumte. Ich glaube, die Ankunft seiner beiden Brüder, die er bis dahin überhaupt noch nicht gekannt hatte, machte einen ungewöhnlich starken Eindruck auf ihn. Mit seinem ältesten Bruder, Dmitrij Fedorowitsch, freundete er sich schneller und näher an, obgleich jener erst später ankam, als mit dem zweiten, seinem leiblichen Bruder Iwan Fedorowitsch. Es reizte ihn heftig, seinen Bruder Iwan näher kennen zu lernen; doch dieser lebte schon ganze zwei Monate beim Vater, sie aber waren sich noch immer nicht nähergetreten, was um so auffallender war, als sie sich sogar ziemlich oft sahen: Aljoscha war selbst schweigsam und schien etwas zu erwarten, schien sich irgendeiner Sache zu schämen; sein Bruder Iwan jedoch hörte, wie es schien, bald gänzlich auf, an ihn auch nur zu denken, obgleich Aljoscha zu Anfang sehr wohl seine langen, fragenden Blicke auf sich ruhen gefühlt und auch bemerkt hatte. Aljoscha schrieb diese Gleichgültigkeit seines Bruders, die ihn nicht wenig befangen machte, ihrem Alters- und besonders Bildungsunterschied zu. Doch machte sich Aljoscha auch noch andere Gedanken: ein so geringes Interesse für ihn und so wenig Teilnahme konnte bei Iwan vielleicht von etwas ganz anderem herrühren, das ihm, Aljoscha, völlig unbekannt blieb. Aus irgendeinem Grunde schien es ihm immer, daß Iwan mit etwas Besonderem beschäftigt war, mit etwas Innerlichem und Ungeheurem, daß er zu einem bestimmten Ziele strebte, vielleicht zu einem sehr schweren, so daß es ihm jetzt nicht um Brüder zu tun war, und daß dies also der einzige Grund sein konnte, warum er auf ihn, Aljoscha, so zerstreut blickte. Auch dachte Aljoscha noch darüber nach, ob sich darin nicht eine gewisse Verachtung des klugen Atheisten für ihn, den dummen Novizen, verbarg. Er wußte es, daß sein Bruder Atheist war. Diese Verachtung aber, selbst wenn sie vorhanden gewesen wäre, hätte ihn nicht kränken können; doch trotz allem erwartete er mit einer ihm selbst unerklärlichen, ihn verwirrenden Unruhe, wann denn der Bruder ihm endlich würde nähertreten wollen. Dmitrij Fedorowitsch äußerte sich über Iwan stets mit der größten Hochachtung und sprach überhaupt immer ganz besonders durchdrungen und begeistert von ihm. Durch ihn erfuhr denn auch Aljoscha alle Einzelheiten jener wichtigen Angelegenheit, die in der letzten Zeit seine beiden älteren Brüder so sonderbar und eng verbunden hatte. Diese begeisterten Äußerungen Dmitrijs über seinen Bruder Iwan waren in Aljoschas Augen um so auffallender, als Dmitrij im Vergleich zu Iwan so gut wie ganz ungebildet war und sie beide, wenn man sie als Persönlichkeiten und Charaktere verglich, einen so schroffen Gegensatz bildeten, wie man ihn sich größer nicht hätte vorstellen können. Zu dieser Zeit fand dann die Zusammenkunft in der Zelle des Staretz statt, oder richtiger, die Familienversammlung aller Glieder dieser uneinigen Familie, die einen so ungewöhnlichen Eindruck auf Aljoscha machte. Der Vorwand, unter dem man zusammenkam, war natürlich erlogen. Gerade damals hatten die Uneinigkeiten zwischen Dmitrij Fedorowitsch und seinem Vater wegen der Vermögensabrechnungen einen Punkt erreicht, an dem jede Verständigung ausgeschlossen schien. Ihr Verhältnis zueinander spitzte sich immer mehr zu und wurde unerträglich. Ich glaube, Fedor Pawlowitsch war der erste, der scherzend vorschlug, sich doch in der Zelle des Staretz zu versammeln, und wenn auch nicht gerade seine Vermittlerschaft zu suchen, so sich doch immerhin etwas anständiger zu besprechen, wobei die Würde und die Person des Staretz natürlich einen gewissen Einfluß in gutem Sinne haben könnte. Dmitrij Fedorowitsch, der nie beim Staretz gewesen war und ihn nie gesehen hatte, glaubte natürlich, daß man ihn mit dem Staretz schrecken wollte; schließlich aber nahm er den Vorschlag an, besonders deshalb, weil er sich im Herzen für viele, gar zu heftige Ausfälle gegen den Vater heimlich ernste Vorwürfe machte. Bei der Gelegenheit will ich noch bemerken, daß er nicht im Hause seines Vaters lebte, wie Iwan Fedorowitsch, sondern ganz am anderen Ende der Stadt eine Wohnung gemietet hatte. Hinzu kam jetzt noch, daß Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, der zu jener Zeit gerade auf seinem Gute lebte, ganz besonders diese Idee Fedor Pawlowitschs gefiel. Als Liberaler der vierziger und fünfziger Jahre, Freigeist und Atheist, nahm er mehr aus Langeweile oder aus leichtsinniger Zerstreuungssucht an dieser ganzen Angelegenheit lebhaften Anteil. Er wollte plötzlich ungeheuer gern das Kloster und den „Heiligen“ sehen, und da sich sein alter Prozeß mit dem Kloster wegen der Grenze ihrer Güter und irgendwelcher Rechte auf das Holzfällen im Walde und den Fischfang im Fluß immer noch hinzog, so beeilte er sich jetzt, diesen Umstand zur Einwilligung des Staretz auszunutzen, unter dem Vorwande, daß er selbst mündlich mit dem Prior besprechen wollte, ob sich der Streit nicht irgendwie gütlich beilegen ließ. Einen Gast, der mit so wohlgesinnten Absichten kam, mußte man im Kloster selbstverständlich aufmerksamer und zuvorkommender empfangen als einen gewöhnlichen Neugierigen. Und infolge aller dieser Kombinationen konnte man dann einen gewissen Einfluß vom Kloster aus auf den kranken Staretz erwarten, denn sonst war die Hoffnung, vom Staretz empfangen zu werden, ziemlich gering: er verließ in letzter Zeit fast überhaupt nicht mehr seine Zelle und empfing selbst nicht einmal außergewöhnlichen Besuch. Nun, und so endete es denn auch damit, daß der Staretz seine Einwilligung gab und Tag und Stunde bestimmt wurde. „Wer hat mich berufen, ihr Richter zu sein?“ sagte er nur lächelnd zu Aljoscha. Als Aljoscha von dieser Zusammenkunft erfuhr, erschrak er. Der einzige von allen, der diesen Besuch ernst nehmen konnte, war sein Bruder Dmitrij; die anderen jedoch würden alle aus leichtsinnigen und für den Staretz vielleicht sogar beleidigenden Gründen kommen – das war es, was Aljoscha sich sagte. Sein Bruder Iwan und Miussoff würden aus Neugier kommen, vielleicht sogar aus einer sehr rohen, sein Vater aber, um als Narr irgendeine dumme Szene zu machen. O, wenn Aljoscha auch schwieg, so kannte er seinen Vater doch schon zur Genüge. Ich wiederhole es: Dieser Jüngling war keineswegs so naiv einfältig, wie alle glaubten. Mit schweren Gefühlen erwartete er den festgesetzten Tag. Zweifellos sorgte er sich im Herzen viel darum, daß alle diese Familienzwistigkeiten sich nicht beilegen ließen. Doch trotzdem galt seine größte Sorge dem Staretz: er zitterte für ihn, fürchtete, daß sie ihn beleidigen könnten, fürchtete besonders den feinen, immer höflichen Spott Miussoffs und das stolze Schweigen seines intelligenten Bruders Iwan. Er wollte es sogar wagen, dem Staretz etwas davon zu sagen, ihn vorzubereiten, bedachte sich aber und sagte nichts. Nur ließ er am Vorabend seinem Bruder Dmitrij durch einen Bekannten sagen, daß er ihn sehr liebe und von ihm die Erfüllung des Versprechens erwarte. Dmitrij wurde nachdenklich, denn er konnte sich auf keine Weise erinnern, was er ihm versprochen haben sollte, und antwortete nur mit einem Brief, in dem er schrieb, daß er sich aus allen Kräften „von einer Niedrigkeit“ zurückhalten werde, und wenn er auch den Staretz und ihren Bruder Iwan sehr hoch achte, so sei er doch überzeugt, daß es sich um eine Falle für ihn oder um eine unwürdige Komödie handele. „Nichtsdestoweniger werde ich eher meine Zunge hinunterschlucken, als daß ich den Respekt vor dem heiligen Manne, den Du so verehrst, irgendwie vergessen sollte,“ schloß Dmitrij seinen kurzen Brief. Aljoscha fühlte sich aber durch ihn nicht sonderlich beruhigt. Zweites Buch. Die unschickliche Versammlung I. Die Ankunft im Kloster Es war ein schöner, warmer und klarer Augusttag. Der September stand schon vor der Tür. Man hatte verabredet, daß sich alle gleich nach dem zweiten Hochamt, also ungefähr um halb zwölf Uhr, beim Staretz versammeln sollten. Unsere Klostergäste geruhten aber nicht, zum Gottesdienst zu kommen, sondern erschienen erst, als er gerade beendet war. Sie kamen in zwei Wagen angefahren: im ersten, einem eleganten kleineren Gefährt, das mit zwei teuren Pferden bespannt war, Pjotr Alexandrowitsch Miussoff mit seinem entfernten Verwandten Pjotr Fomitsch Kalganoff. Das war ein junger Mann von zwanzig Jahren, der sich vorbereitete, eine russische Universität zu besuchen, doch wußte er noch immer nicht, welche; Miussoff dagegen, bei dem er augenblicklich wohnte, beredete seinen jungen Verwandten, mit ihm nach Zürich oder Jena zu fahren, um dort die Universität zu besuchen und sein Studium zu beenden. Der junge Mann aber konnte sich noch immer nicht recht entscheiden. Er war nachdenklich und schien meist zerstreut zu sein. Er hatte ein angenehmes Gesicht, war stark gebaut und ziemlich hoch von Wuchs. Sein Blick konnte mitunter ganz auffallend unbeweglich sein: wie alle zerstreuten Menschen blickte er einen dann lange und starr an, ohne aber dabei etwas zu sehen. Er war schweigsam und ein wenig ungeschickt, doch kam es vor – übrigens nur, wenn er mit jemandem unter vier Augen war –, daß er plötzlich äußerst gesprächig, scherzhaft, heftig oder heiter sein, und herzlich, doch Gott weiß, über was eigentlich, lachen konnte. Aber seine Lebhaftigkeit verging gewöhnlich ebenso schnell, wie sie kam. Gekleidet war er immer gut, wenn nicht gar gesucht. Er besaß schon ein gewisses Vermögen und hatte die besten Aussichten, noch viel mehr zu erben. Mit Aljoscha war er befreundet. Im zweiten Wagen, in einer äußerst alten, stöhnenden, doch recht umfangreichen Kutsche, vor der zwei alte Schimmel trabten, die aber hinter Miussoffs leichtem Gefährt beträchtlich zurückblieben, kam Fedor Pawlowitsch Karamasoff mit seinem zweiten Sohn Iwan Fedorowitsch angefahren. Dmitrij Fedorowitsch hatte man schon am vorhergehenden Tage die Stunde angesagt, doch trotzdem war er nicht zu sehen. Man ließ die Wagen außerhalb der Klostermauer bei der Herberge halten, stieg aus und trat zu Fuß durch das Klostertor ein. Außer dem alten Karamasoff hatte von den übrigen drei, wie es schien, kein einziger je ein Kloster von innen gesehen; Miussoff aber war vielleicht schon seit dreißig Jahren nicht mehr in einer Kirche gewesen. Er blickte mit einer Neugier um sich, die nicht ganz ohne eine gewisse gemachte Ungezwungenheit war. Doch leider gab es für seinen ausschauenden Verstand im Innern der Klostermauern außer den übrigens sehr einfachen Kirchen- und Wirtschaftsgebäuden nichts Besonderes zu entdecken. Aus der Kirche strömte sich bekreuzend das Volk, die Mützen in der Hand. Unter dem einfachen Volk fielen zwei oder drei Damen der höheren Gesellschaft sowie ein alter General auf: alle standen sie im großen Zimmer der Herberge. Bettler umringten alsbald die Neuangekommenen, doch keiner von ihnen gab etwas. Nur Petruscha Kalganoff nahm aus seiner Börse ein Zehnkopekenstück, das er verlegen einem Weibe zusteckte, wobei er hastig hervorstieß: „Richtig verteilen.“ Die anderen sagten ihm nichts darauf, so daß er ganz grundlos verwirrt wurde; trotzdem wurde er, als er bemerkte, daß die anderen dies schweigend übersahen, noch verlegener. Etwas war aber sehr sonderbar: man sollte meinen, daß Gäste, wie sie, ganz anders empfangen werden müßten; Karamasoff hatte vor noch nicht langer Zeit tausend Rubel geschenkt, und Miussoff war der reichste Gutsbesitzer und der sozusagen gebildetste Mensch, von dem man hier im Kloster teilweise geradezu abhing, da der Prozeß, den man mit ihm wegen des Fischrechts im Fluß führte, noch nicht beendet war. Und siehe da: keine einzige der offiziellen Persönlichkeiten des Klosters war zu ihrem Empfang erschienen. Miussoff blickte zerstreut auf die Grabsteine an der Kirche und wollte schon bemerken, daß das Recht, an einem so „heiligen“ Ort begraben zu liegen, den Leidtragenden nicht wenig aus der Tasche gezogen haben müsse, schwieg aber und sagte nichts: die gewöhnliche liberale Ironie verwandelte sich in ihm fast in Zorn. „Teufel, wo gibt es denn hier bei dieser blödsinnigen Einrichtung so etwas, wo man sich erkundigen kann ... Das muß man doch endlich feststellen, sonst verlieren wir hier bloß unsere kostbare Zeit,“ brummte er leise, als wollte er es nur so vor sich hinsagen. Da trat ein älterer, kahlköpfiger Herr dienstbereit auf sie zu, ein Herr mit ungemein freundlich blickenden und etwas hervorstehenden Augen, der einen weiten Sommermantel trug. Er zog den Hut und stellte sich mit wahrhaft honigsüßer Stimme als Tulascher Gutsbesitzer Maximoff vor. „Der Staretz Sossima lebt in der Einsiedelei, hermetisch verschlossen, hermetisch, vierhundert Schritt vom Kloster, durch das Wäldchen, durch das Wäldchen ...“ „Das weiß ich selbst, daß man durch das Wäldchen zu ihm gehen muß,“ unterbrach ihn Fedor Pawlowitsch Karamasoff, „aber den Weg dorthin hab ich total vergessen, bin lange nicht mehr hier gewesen.“ „Hier, hier, gleich durch diese Pforte und dann gerade durch das Wäldchen ... durch das Wäldchen. Wenn gefällig ... ich muß selbst ... ich werde selbst ... Hier, sehen Sie, hier ...“ Sie traten aus dem Torgang und schritten auf den Wald zu. Der Gutsbesitzer Maximoff, ein Mann von sechzig Jahren, ging nicht eigentlich, sondern lief geradezu neben ihnen her, während er sie dabei mit einer krampfhaften, schier unglaublichen Neugier betrachtete, wobei seine Glotzäugigkeit noch unangenehmer auffiel. „Wir sind in einer besonderen Angelegenheit zum Staretz gekommen,“ bemerkte mit strenger Miene Miussoff. „Diese ‚Persönlichkeit‘ hat uns sozusagen eine Audienz gewährt, und daher müssen wir Sie bitten, obgleich wir Ihnen für das Wegweisen sehr dankbar sind, doch nicht mit uns zusammen einzutreten.“ „Ich war ja schon, ich war ja schon ... _Un chevalier parfait!_“ versicherte sofort der Gutsbesitzer und knipste mit den Fingern vor Begeisterung. „Wer ist ein Chevalier?“ fragte Miussoff. „Der Staretz, der prachtvolle Staretz, der Staretz! ... Die Ehre und der Ruhm des ganzen Klosters! Sossima! Das ist solch ein Staretz ...“ Seine krause Rede wurde unterbrochen: Ein kleiner, bleicher, magerer Mönch in einer Kutte kam ihnen nachgelaufen. Karamasoff und Miussoff blieben stehen. Der Mönch verbeugte sich tief und sagte höflich: „Seine Hochehrwürden, der Prior, läßt Sie alle, meine Herren, bitten, nach Ihrem Besuch in der Einsiedelei zu ihm zum Mittagsmahl zu kommen. Und Sie gleichfalls,“ fügte er, sich an Maximoff wendend, hinzu. „Das werde ich unbedingt!“ rief der alte Karamasoff, ungemein erfreut über die Einladung, „unbedingt! Und wissen Sie, wir haben uns alle das Wort gegeben, uns hier anständig aufzuführen ... Und Sie, Miussoff, werden Sie auch kommen?“ „Warum sollte ich denn nicht? Wozu bin ich denn sonst hergekommen, wenn nicht, um hier alle diese Bräuche kennen zu lernen. Nur eines macht mir Bedenken, und das ist gerade, was ich jetzt mit Ihnen, Fedor Pawlowitsch ...“ „Ja, meinen Sohn Dmitrij Fedorowitsch gibt’s aber vorläufig noch nicht.“ „Und er täte gut, überhaupt nicht zu kommen; ist mir denn diese Ihre ganze schmutzige Geschichte etwa angenehm, und zudem noch mit Ihnen als Zugabe! – Wir werden gern der freundlichen Einladung Folge leisten, überbringen Sie Seiner Hochehrwürden unseren besten Dank,“ sagte er darauf zum Mönch. „Ich soll Sie zum Staretz führen,“ antwortete der Mönch. „Dann werde ich jetzt solange zum Prior gehen!“ sagte eilig der Gutsbesitzer Maximoff. „Der Prior ist augenblicklich in Anspruch genommen ... aber ... wie Sie wollen ...“ meinte etwas unentschlossen der Mönch. „Ein äußerst zudringlicher Kauz,“ bemerkte Miussoff laut, als Maximoff zum Kloster zurückeilte. „Gleicht ungemein dem berühmten Herrn von Sohn,“ sagte plötzlich der alte Karamasoff. „Das scheint das einzige zu sein, was Sie sagen können ... Warum soll er denn Herrn von Sohn gleichen? Haben Sie überhaupt jemals Herrn von Sohn gesehen?“ „Selbstverständlich: auf der Photographie. Er gleicht ihm fabelhaft, sag ich Ihnen, wenn auch nicht in den Gesichtszügen, sondern in etwas ganz Unerklärlichem. Von Sohns Doppelgänger, mit einem Wort. Das sehe ich ihm sofort an der Physiognomie an.“ „Nun, meinetwegen,“ bemerkte Miussoff gereizt, „Sie sind ja Kenner in solchen Sachen. Nur noch eines, Fedor Pawlowitsch: Sie geruhten soeben selbst daran zu erinnern, daß wir uns das Wort gegeben haben, uns anständig aufzuführen, wie Sie sich wohl noch entsinnen werden. Ich sage Ihnen: Vergessen Sie das nicht! Sollten Sie aber wieder anfangen, den Narren zu spielen, so werde ich es, glauben Sie mir, nicht dulden, daß man mich hier mit Ihnen auf eine Stufe stellt! ... Sehen Sie, was das für ein Mensch ist,“ fügte er darauf, zum Mönch gewandt, hinzu, „ich fürchte mich geradezu, mit ihm bei anständigen Menschen einzutreten.“ Auf den blassen, blutleeren Lippen des kleinen Mönches erschien ein feines, verschwiegenes Lächeln, das in seiner Art doch eine gewisse Geriebenheit verriet, aber er antwortete nicht, und es war nur zu augenscheinlich, daß er aus dem Gefühl der eigenen Würde heraus schwieg. Miussoff runzelte die Stirn. „Ach, der Teufel hole sie allesamt; das ist ja doch bloß eine in Jahrhunderten ausgearbeitete Äußerlichkeit; in Wirklichkeit ist es nur Scharlatanerie und Blödsinn.“ „Ah, da sind wir also glücklich angelangt: da ist die Einsiedelei!“ rief Fedor Pawlowitsch. „Die Mauer und die Pforte sind aber geschlossen, wie ich sehe.“ Und er begann, sich eifrig vor den Heiligenbildern zu bekreuzen, die über und zu beiden Seiten der Pforte gemalt waren. „In ein fremdes Kloster soll man nicht mit seinem Reglement eintreten,“ bemerkte er. „Im ganzen suchen hier in dieser Einsiedelei fünfundzwanzig Heilige ihr Seelenheil, beobachten einander und vertilgen Sauerkohl. Und kein einziges Frauenzimmerchen darf hier durch diese Pforte treten, das ist das Bemerkenswerteste dabei, und das ist wirklich so. Aber, mein Lieber, wie kommt es – ich habe nämlich trotzdem gehört, daß der Staretz auch Damen empfängt?“ damit wandte er sich plötzlich an den Mönch. „Aus dem Volk sind auch jetzt Weiber hier; sehen Sie dort, sie warten an der Galerie. Für die höheren Damen aber sind hier bei der Galerie, außerhalb der Einfriedung, zwei Zimmerchen angebaut, diese Fenster dort, und der Staretz kommt dann zu ihnen durch den inneren Gang, wenn er gesund ist, also immer außerhalb der Einfriedung. Auch jetzt ist dort eine vornehme Dame, eine Gutsbesitzerin aus dem Charkoffschen, Frau Chochlakoff; sie erwartet ihn mit ihrer gelähmten Tochter. Wahrscheinlich hat er versprochen, zu ihnen hinauszukommen, obgleich er in letzter Zeit so schwach geworden ist, daß er sich kaum noch dem Volk zeigen kann.“ „Also gibt es immerhin doch noch ein Schlupfloch, das aus der Einsiedelei zu den Weibern führt? Das heißt, heiliger Vater, glauben Sie um Gottes willen nicht, daß ich irgend etwas! – ich meinte ja nur so. Wissen Sie, auf dem Athos, Sie haben es vielleicht schon gehört, ist nicht nur der Besuch von Frauen verboten, sondern überhaupt jede Gotteskreatur weiblichen Geschlechts; weder werden dort Hühnchen geduldet, noch Putchen, noch Kälbchen ...“ „Fedor Pawlowitsch, ich werde sofort zurückgehen und Sie allein eintreten lassen! Man wird Sie hier sowieso hinausschmeißen, das prophezeie ich Ihnen!“ „Aber was tue ich Ihnen denn, Pjotr Alexandrowitsch? Sehen Sie doch mal,“ rief er plötzlich, da er durch die Pforte trat, „sehen Sie doch, in welch einem Rosental sie hier leben!“ Tatsächlich waren dort, wenn auch keine Rosen, so doch überall, wo man sie nur hatte pflanzen können, eine Menge seltener und schöner Herbstblumen. Augenscheinlich pflegte sie eine geübte Hand. Blumenbeete lagen zwischen Gräbern, und Blumen wuchsen als Spalier an der Mauer. Das einstöckige Holzhäuschen, in dem sich die Zelle des Staretz befand, war mit seiner Galerie vor dem Eingang gleichfalls von Blumen umgeben. „War denn das auch beim früheren Staretz Warssonofij so? Der soll ja, wie man sagt, Schönheit überhaupt nicht geliebt haben, soll sogar das schöne Geschlecht mit dem Stock geschlagen haben,“ bemerkte Fedor Pawlowitsch, als er die Stufen hinanstieg. „Der Staretz Warssonofij war zuweilen allerdings etwas wunderlich, aber auch viel Unwahres wird von ihm erzählt. Mit dem Stock hat er niemanden geschlagen,“ antwortete der Mönch. „Bitte sich hier einen Augenblick zu gedulden, ich werde Sie anmelden.“ „Fedor Pawlowitsch, zum letztenmal die Bedingung, hören Sie! Führen Sie sich gut auf, sonst haben Sie es mit mir zu tun,“ gelang es Miussoff, ihm noch schnell zuzuflüstern. „’s ist wirklich unbegreiflich, warum Sie dermaßen erregt sind,“ bemerkte spöttisch Fedor Pawlowitsch, „oder fürchten Sie sich wegen Ihrer Sünden? Man sagt ja, daß er es an den Augen erkenne, womit man zu ihm kommt. Und wie hoch Sie plötzlich seine Meinung schätzen, Sie, solch ein Pariser und Fortschrittler! Sie setzen mich ja heute wahrhaftig in Erstaunen.“ Doch Miussoff konnte nichts mehr auf diesen Sarkasmus entgegnen: man bat sie einzutreten. „Wie ich mich kenne, werde ich jetzt zu streiten anfangen, wie immer, wenn ich gereizt bin, ... werde heftig werden – und mich und die Idee erniedrigen, das weiß ich schon im voraus,“ fuhr es Miussoff noch durch den Kopf, als er ins andere Zimmer trat. II. Der alte Narr Sie betraten das Zimmer fast zu gleicher Zeit mit dem Staretz, der bei ihrem Erscheinen sofort seinen kleinen Schlafraum verlassen hatte. Sein Erscheinen erwarteten in der Zelle schon seit längerer Zeit zwei Priestermönche der Einsiedelei, der Pater Bibliothekar und der Pater Paissij, ein kranker, noch nicht alter, jedenfalls aber sehr gelehrter Mann, wie es hieß. Außerdem erwartete ihn noch stehend in einem Winkel ein junger, etwa zweiundzwanzigjähriger Bursche in einem Zivilrock, ein Seminarist und zukünftiger Theologe, der, unbekannt warum, von der ganzen Klosterbrüderschaft gönnerhaft beschützt wurde. Er war ziemlich groß von Wuchs, hatte ein frisches Gesicht mit breiten Kinnbacken, kluge und aufmerksame, schmale, braune Augen. Auf seinem Gesicht drückte sich vollkommene Ehrerbietung aus, doch war es eine anständige Ehrerbietung, d. h. ohne sichtbares sich Einschmeichelnwollen. Die eingetretenen Gäste begrüßte er nicht einmal mit einer Verbeugung, wie eine ihnen nicht gleichstehende, sondern untergeordnete oder gar von ihnen abhängige Person. Der Staretz Sossima erschien in Begleitung Aljoschas und eines Novizen. Die Priestermönche erhoben sich und verneigten sich tief vor ihm, wobei sie mit den Fingern den Boden berührten, und küßten ihm darauf, nachdem sie sich bekreuzt hatten, ehrfürchtig die Hand. Der Staretz erteilte ihnen seinen Segen, verneigte sich vor einem jeden von ihnen ebenso tief, wobei er gleichfalls den Fußboden mit den Fingern berührte und auch von ihnen ihren Segen erbat. Die ganze Zeremonie ging sehr ernst vor sich, durchaus nicht wie irgendein alltäglicher Brauch, sondern fast mit einem tiefen Gefühl. Miussoff aber argwöhnte plötzlich, daß alles ihretwegen absichtlich so ernst und feierlich gemacht werde. Er stand, da er als erster eingetreten war, vor den anderen. Nun hätte er, ganz abgesehen von seinen Ideen, einfach aus gewöhnlicher Höflichkeit (da hier nun einmal solche Bräuche waren), auf den Staretz zutreten, und, wenn ihm auch nicht gerade die Hand küssen, so ihn doch wenigstens um seinen Segen bitten müssen. Das hatte er sich am Abend vorher sogar schon vorgenommen. Als er aber jetzt alle diese Verbeugungen sah, änderte er im Augenblick seinen Entschluß: wichtig und ernst machte er eine tiefe, gesellschaftliche Verbeugung und trat darauf zurück. Genau dasselbe tat auch Fedor Pawlowitsch, der diesmal wie ein Affe Miussoff auf ein Haar kopierte. Iwan Fedorowitsch machte ernst und höflich seine Verbeugung, doch gleichfalls „Hände an den Nähten“, Kalganoff dagegen verwirrte sich dermaßen, daß er überhaupt nicht grüßte. Der Staretz ließ seine zum Segen erhobene Hand wieder sinken, und bat sie, indem er sich zum zweitenmal vor ihnen verneigte, Platz zu nehmen. Aljoscha stieg das Blut ins Gesicht; er schämte sich – seine schlechten Ahnungen hatten ihn also nicht getäuscht! Der Staretz setzte sich auf ein kleines, altmodisches Ledersofa aus rotem Holz, den Gästen aber wies er an der entgegengesetzten Wand vier Stühle an, die alle in einer Reihe standen, gleichfalls aus rotem Holz waren und einen stark abgenutzten Lederbezug hatten. Die Priestermönche setzten sich etwas abseits, der eine bei der Tür, der andere am Fenster. Der Seminarist, Aljoscha und der Novize blieben stehen. Die Zelle war nicht gerade groß und hatte so ein, fast möchte man sagen, welkes Aussehen. Die Sachen und die Möbel, nur die notwendigsten, waren von ganz einfacher Arbeit, fast ärmlich. Zwei Blumentöpfe auf dem Fensterbrett und in der Ecke viele Heiligenbilder – darunter ein sehr großes der Muttergottes, das wahrscheinlich schon lange vor der Kirchenspaltung[6] gemalt worden war. Vor ihm brannte ein Lämpchen. Daneben hingen zwei andere Heiligenbilder mit reicher Verzierung, etwas weiter zwei kleine Cherubim, Ostereier aus Porzellan, ein katholisches Kreuz aus Elfenbein mit einer es umarmenden _Mater dolorosa_, und dann hingen an den Wänden noch einige ausländische Gravüren großer italienischer Meister der vergangenen Jahrhunderte. Neben diesen schönen und teuren Gravüren hingen aber die allereinfachsten russischen Buntdrucke verschiedener Heiliger, Märtyrer, Erzbischöfe usw., kurz, Bilder, wie sie zu einer Kopeke das Stück auf allen Jahrmärkten verkauft werden. Ebenso hingen an den anderen Wänden noch mehrere Bilder lebender wie verstorbener Geistlicher. Miussoff streifte mit seinem Blick nur flüchtig diesen ganzen „Heiligenkram“ und richtete ihn dann fest auf das Gesicht des Staretz. Er schätzte seinen Blick sehr hoch: er hatte diese an ihm jedenfalls verzeihliche Schwäche, verzeihlich, wenn man bedenkt, daß er ein Mann von fünfzig Jahren war, also schon ein Alter erreicht hatte, in dem ein kluger, wohlsituierter Weltmann zu seiner eigenen Person immer ehrerbietiger wird – und wäre es unwillkürlich. Im ersten Augenblick gefiel ihm der Staretz nicht. Allerdings war in dessen Gesicht etwas, das vielen, auch außer Miussoff, nicht gefallen hätte. Er war ein mittelgroßer, gebeugter Mann mit sehr schwachen Füßen, erst fünfundsechzig Jahre alt, doch erschien er infolge seiner Krankheit wenigstens um zehn Jahre älter. Sein mageres Gesicht war von kleinen, feinen Runzeln übersät, besonders um die Augen herum. Diese Augen waren nicht groß, wohl aber hell und glänzend wie zwei leuchtende Punkte. Nur an den Schläfen hatte er noch ein wenig graues Haar, das Bärtchen war spitz und klein und spärlich, die Lippen aber, die häufig lächelten, waren so schmal wie zwei dünne Schnürchen. Die Nase war nicht gerade lang, dafür aber fast so spitz wie ein Vogelschnabel. „Allem Anschein nach ein boshaftes und kleinlich-anmaßendes Männchen,“ zuckte es Miussoff durch den Kopf. Er war sehr unzufrieden mit sich. Da schlug die Uhr und half somit, ein Gespräch zu beginnen. Es schlug von einer billigen Wanduhr mit Gewichten in schnellen Schlägen gerade zwölf. „Genau die festgesetzte Stunde!“ rief Fedor Pawlowitsch, „mein Sohn Dmitrij Fedorowitsch ist aber noch immer nicht erschienen. Ich bitte für ihn um Entschuldigung, heiliger Staretz!“ (Aljoscha fuhr zusammen, als er das „heiliger Staretz“ hörte.) „Ich selbst dagegen bin immer pünktlich auf die Minute, da ich weiß, daß Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist.“ „Soviel ich weiß, sind Sie nichts weniger als ein König,“ brummte Miussoff, der sich schon nicht mehr recht in der Gewalt hatte. „Stimmt! Nichts weniger als ’n König. Und denken Sie nur, Pjotr Alexandrowitsch, das wußte ich ja selbst, bei Gott! Und sehen Sie, immer muß ich alles so _mal à propos_ sagen! Ehrwürden!“ rief er darauf mit einem ganz plötzlichen, unerwarteten Pathos aus: „Sie sehen vor sich einen leibhaftigen Narren! Habe die Ehre, mich Ihnen als solchen vorzustellen. Alte Angewohnheit – leider! Daß ich aber am unrechten Ort und zur unrechten Zeit zuweilen etwas lüge, o, das geschieht sogar mit Absicht von mir, um andere zu erheitern und ihnen angenehm zu sein. Denn das muß man doch, nicht wahr? Wissen Sie, einmal, so vor etwa sieben Jahren, kam ich in ein Städtchen, es gab Geschäftchen abzuwickeln, wollte dort mit ein paar Kaufleuten eine Kompanie gründen. Kurz, wir gehen zum Kreispolizeichef – man mußte ihn doch um dies und jenes bitten –, um ihn zu einem Schmaus einzuladen. Er kommt heraus, groß, dick, blond und mürrisch, – eines der gefährlichsten Subjekte in solchen Fällen: ‚Herr Isprawnik,‘[7] sage ich zu ihm, ‚seien Sie unser Naprawnik!‘ – ‚Was soll ich sein?‘ fragte er. Ich sehe schon in der ersten Viertelsekunde, daß die Sache schief gegangen ist, er steht steif, fixiert mich: ‚Ich erlaubte mir, nur zu scherzen,‘ sage ich, ‚bloß so zur allgemeinen Heiterkeit, da Herr Naprawnik unser bekannter russischer Dirigent und Kapellmeister der kaiserlichen Oper ist, wir aber zur Harmonie unseres Unternehmens gleichfalls so etwas wie einen Kapellmeister brauchen‘ ... Kurz und gut, ich erkläre ihm vernünftig den ganzen Vergleich, nicht wahr, er aber sagt: ‚Ich bin der Isprawnik und verbitte mir unpassende Witzchen mit meinem Titel,‘ – kehrt sich um und geht! Ich ihm nach, rufe: ‚Ah, selbstverständlich sind Sie nur Isprawnik und kein Naprawnik!‘ – Er aber sagt nichts darauf und geht, geht wahrhaftig! Und was glauben Sie wohl: unsere ganze Geschichte ging aus dem Leim! Und immer bin ich so, immer verpfusche ich mir alles selbst mit meiner Liebenswürdigkeit! – Einmal, das ist jetzt schon viele Jahre her, sagte ich zu einer angesehenen, sogar einflußreichen Persönlichkeit: ‚Ihre Frau Gemahlin ist etwas sehr kitzlich,‘ – in dem Sinne, meine ich, was die Ehre anbetrifft, ich meine – in moralischer Hinsicht; er aber fragt mich: ‚Haben Sie sie denn gekitzelt?‘ Wart, denke ich, werde mir ein Witzchen erlauben: ‚Versteht sich,‘ sage ich. Nun, darauf hat er mich aber etwas anders gekitzelt ... Doch das ist schon so lange her, daß man sich weiter nicht mehr schämt, es zu erzählen. Und immer schade ich mir selbst auf diese Weise.“ „Das tun Sie ja auch jetzt wieder,“ brummte Miussoff mit Verachtung. Der Staretz betrachtete sie beide stumm. „Und ob! Stellen Sie es sich nur vor, Pjotr Alexandrowitsch, ich wußte das ja selbst, ich ahnte es bereits, als ich den Mund auftat und, wissen Sie, ich wußte sogar, daß Sie zu mir als erster diese Bemerkung machen würden. In diesen Sekunden, Ehrwürden, wenn ich sehe, daß der Spaß mir nicht gelingt, trocknen mir allmählich beide Wangen an das Zahnfleisch der unteren Kinnbacken an, und es kommt so etwas wie ein Krampf über mich: Das habe ich von Jugend auf, als ich noch bei den Edelleuten aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen wurde und mir auf diese Weise, also dafür, daß ich bei ihnen lustiger Gast war, mein Brot verdiente. Ich bin ein eingefleischter Narr, bin’s von Kindesbeinen an, bin so geboren, Ehrwürden, ’s ist angeborene Blödsinnigkeit, wie gesagt! Oder möglich, daß sich ein unreiner Geist in mir verbirgt, will’s nicht verreden, übrigens, keines großen Kalibers, denn ein bedeutenderer würde sich ein anderes Quartier mieten, nur ist damit nicht gesagt, daß er dabei das Ihrige, Pjotr Alexandrowitsch, wählen würde, denn, nicht wahr, auch Sie sind ja kein bedeutendes Quartier. Dafür aber bin ich gläubig, glaube an Gott! Nur in der letzten Zeit habe ich so einige Bedenken gekriegt, dafür aber sitze ich jetzt hier in Erwartung heiliger Worte. Ich, Ehrwürden, bin wie Diderot. Kennen Sie die Geschichte, wie der Philosoph Diderot zum Metropoliten Platon kam? – zur Zeit der Kaiserin Katharina? Er kommt herein und sagt direkt, ganz ohne jegliche Einleitung: ‚Es gibt keinen Gott.‘ Worauf der große Kirchenvater seine Hand erhebt und sagt: ‚Rede nur, Sinnloser, in deinem Herzen trägst du Gott!‘ Diderot ihm sofort zu Füßen: ‚Ich glaube,‘ ruft er aus, ‚und empfange die Taufe.‘ Und so wurde er denn auch sofort getauft. Fürstin Daschkowa hob ihn aus der Taufe, und Potemkin war sein Pate ...“ „Fedor Pawlowitsch, das ist unerträglich! Sie wissen es ja selbst, daß Sie lügen, daß diese dumme Anekdote nichts weniger als wahr ist, wozu machen Sie denn diese Faxen?“ unterbrach ihn mit zitternder Stimme Miussoff, der sich nicht länger beherrschen konnte. „Mein ganzes Leben lang habe ich’s ja geahnt, daß sie nicht wahr ist!“ bestätigte sofort und gleichsam in heller Begeisterung Fedor Pawlowitsch. „Meine Herren, ich werde Ihnen dafür die ganze Wahrheit sagen! Großer Staretz! Verzeihen Sie mir: das letzte, dieses von der Taufe Diderots, habe ich mir selbst soeben ausgedacht, erst jetzt, genau, als ich es erzählte, früher ist es mir nie in den Kopf gekommen. Hab’s mir nur so zur Pikanterie ausgedacht. Darum mache ich ja nur diese Faxen, Pjotr Alexandrowitsch, um sympathischer zu sein. Zuweilen weiß ich übrigens selbst nicht, warum. Und was den Diderot betrifft, so habe ich dieses: ‚rede nur, Sinnloser,‘ etwa zwanzigmal von den hiesigen Gutsbesitzern erzählen gehört, hab’s bereits als halbes Kind gehört, als ich bei ihnen lebte; auch von Ihrer lieben Tante, Pjotr Alexandrowitsch, von Mawra Fominitschna, habe ich’s gehört. Alle sind sie durch die Bank, bis auf den heutigen Tag, noch überzeugt, daß der gottlose Diderot zum Metropoliten Platon über Gott disputieren gegangen ist ...“ Miussoff erhob sich, nicht nur, weil er die Geduld verloren hatte, sondern er tat es offenbar, weil er im Augenblick in seiner Erregung nichts anderes zu tun wußte. Er war empört und sagte sich, daß er dadurch selbst lächerlich werde. Ja, in der Zelle ging wirklich etwas ganz Unmögliches vor sich. Diese Zelle, in der vielleicht schon seit vierzig oder fünfzig Jahren, noch bei den früheren Startzen, die Fremden empfangen wurden, hatte nur tiefste Ehrfurcht gesehen. Alle, die in ihr empfangen worden waren, hatten gewußt, daß man ihnen damit eine große Gnade erwies. Viele sanken auf die Knie und erhoben sich erst, wenn sie fortgehen mußten. Viele sogar von den „höheren“ Persönlichkeiten, sogar viele Gelehrte, ja, selbst viele Freigeister, die entweder aus Neugierde oder aus sonst einem Grunde gekommen waren, machten es sich alle, bis auf den letzten, beim Eintritt in die Zelle zur ersten Pflicht, sich während des Besuchs tief ehrerbietig, tadellos zu benehmen, um so mehr, als man nicht für Geld empfangen wurde, sondern aus Liebe und Mitleid. Und die hinkamen, waren entweder Reuige, die Trost suchten, oder Menschen, die einer schweren Frage ihrer Seele eine Antwort suchen wollten, oder einen schweren Augenblick im Leben des eigenen Herzens zu überwinden hatten, und die dann um Beistand, Rat und Hilfe baten. So riefen denn solche Possen, wie sie plötzlich Fedor Pawlowitsch an diesem Ort trieb, bei den übrigen Anwesenden oder wenigstens bei einigen von ihnen stumme Verwunderung und erstauntes Nichtverstehenkönnen hervor. Die Priestermönche, die übrigens ihren Gesichtsausdruck nicht im geringsten veränderten, warteten ernst und aufmerksam, was der Staretz sagen werde, doch bereiteten auch sie sich schon vor, wie Miussoff, aufzustehen. Aljoscha war dem Weinen nahe und stand stumm mit gesenktem Kopf. Am sonderbarsten schien ihm, daß sein Bruder Iwan Fedorowitsch, der einzige, auf den er gehofft hatte, und der allein solch einen Einfluß auf seinen Vater besaß, daß er ihn hätte zügeln können, jetzt vollkommen unbeweglich auf seinem Stuhl saß, den Blick zu Boden gesenkt hielt, und, wie es schien, mit einer geradezu wißbegierigen Neugier abwartete, womit das enden werde, ganz als ob er selbst nur eine fremde Nebenperson wäre. Auf Rakitin, den Seminaristen, wagte Aljoscha nicht einmal einen Blick zu werfen, obgleich er ihn gut kannte, und ihm fast nahe stand: oh, er kannte dessen Gedanken nur zu gut (vielleicht er allein im ganzen Kloster). „Entschuldigen Sie mich ...,“ begann Miussoff zum Staretz gewandt, „wenn ich Ihnen vielleicht gleichfalls als Teilnehmer an diesem unwürdigen Scherz erscheine. Meine Schuld besteht bloß darin, daß ich geglaubt habe, selbst so einer, wie Fedor Pawlowitsch, würde, wenn er an solch einem Ort ist, seine Pflichten begreifen ... Ich hätte es nicht gedacht, daß man dafür noch um Verzeihung werde bitten müssen, daß man mit ihm zusammen eintritt ...“ Miussoff sprach seinen Satz nicht zu Ende und wollte schon ganz verwirrt hinausgehen. „Beunruhigen Sie sich nicht, ich bitte Sie darum,“ sagte der Staretz und erhob sich plötzlich, trotz seiner kranken Füße, von seinem Platz, ergriff Miussoff an beiden Händen und nötigte ihn, sich wieder auf den Stuhl zu setzen. „Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie darum, und besonders bitte ich Sie, mein Gast zu sein;“ und nachdem er sich nochmals verbeugt hatte, setzte er sich wieder auf sein kleines Sofa. „Großer Staretz, sprechen Sie es aus: beleidige ich Sie durch meine Lebhaftigkeit oder nicht?“ rief plötzlich Fedor Pawlowitsch, wobei er auf dem Stuhl nach vorn rückte und mit den Händen schon die Armlehnen seines Stuhles ergriff, als ob er mit der Antwort zugleich aufspringen wollte. „Und auch Sie bitte ich aufrichtig, sich nicht zu beunruhigen und sich keinen Zwang anzutun,“ sagte ihm eindringlich der Staretz. „Seien Sie ganz wie zu Haus. Und vor allem, schämen Sie sich nicht so sehr Ihrer selbst, denn nur daher kommt bei Ihnen alles.“ „Ganz wie zu Haus? Das heißt wohl so recht natürlich? O, das ist viel, viel zu viel, doch – nehme es in Rührung an! Wissen Sie, gesegneter Vater, beschwören Sie mich nicht auf das Natürliche, riskieren Sie es lieber nicht ... Bis zur Natürlichkeit komme ich ja noch nicht einmal bei mir selbst. Ich warne Sie nur, um Sie vor Schlimmem zu bewahren. Na ja, und was das übrige anbetrifft, so liegt das noch in der Finsternis der Unbekanntheit, obgleich mich gewisse Leute gern anschwärzen wollen. Das ist an Ihre Adresse gesagt, Pjotr Alexandrowitsch. Ihnen aber, heiligstes Wesen, Ihnen sage ich folgendes: ‚Ich spreche meine Begeisterung aus!‘“ Er erhob sich, erhob die Hände und rief: „‚Selig der Schoß, der dich getragen, und die Brüste, die dich genährt,‘ besonders die Brüste! Sie haben mich soeben mit Ihrer Bemerkung: ‚Schämen Sie sich nicht so sehr Ihrer selbst, denn nur daher kommt alles,‘ mit dieser Bemerkung haben Sie mich einfach durchbohrt und mir gezeigt, daß Sie in meinem Innersten lesen. Das ist es ja, daß es mir immer scheint, wenn ich zu Leuten hineingehe, daß ich gemeiner als alle bin, und daß mich alle für einen Narren halten, und darum denke ich: ‚wart, werde meinetwegen den Narren spielen, fürchte eure Meinung nicht, denn ihr seid doch alle, bis auf den letzten, gemeiner als ich!‘ Sehen Sie, und darum bin ich denn Narr, bin vor Scham Narr, großer Staretz, nur vor Scham! Nur aus Argwohn bin ich frech, mache ich sofort Skandal. Denn wäre ich überzeugt, wenn ich eintrete, daß mich alle sofort für den liebenswürdigsten und klügsten Menschen halten, – Herrgott, was würde ich dann für ein guter Mensch sein! Mein Lehrer!“ rief er aus und sank ganz plötzlich auf die Knie nieder, „was soll ich tun, um das ewige Leben zu erwerben?“ Selbst jetzt war es schwer, zu sagen, ob er scherzte, oder ob er tatsächlich so begeistert war? Der Staretz blickte ihn an und sagte lächelnd: „Das wissen Sie selbst schon längst, was man dazu tun muß, Verstand haben Sie genug: Ergeben Sie sich nicht dem Trunk, mäßigen Sie sich in Ihren Worten, ergeben Sie sich nicht der Sinnenlust und vor allem nicht der Vergötterung des Geldes, und schließen Sie Ihre Trinkstuben, wenn nicht alle, falls Ihnen das unmöglich ist, so doch wenigstens zwei oder drei. Und die Hauptsache, das allerwichtigste – lügen Sie nicht.“ „Das geht wohl auf das von dem Diderot?“ „Nein, nicht nur auf die Geschichte vom Diderot. Die Hauptsache ist, belügen Sie sich nicht selbst. Wer sich selbst belügt und auf seine eigene Lüge hört, kommt schließlich dazu, daß er keine einzige Wahrheit mehr, weder in sich noch um sich, unterscheidet, das aber führt zu Nichtachtung sowohl seiner selbst als der anderen. Wer aber niemanden achtet, der hört auch auf zu lieben; um sich aber ohne Liebe zu beschäftigen und zu zerstreuen, ergibt er sich den Leidenschaften und rohen Ausschweifungen und steigt in seinen Lastern hinab bis zum Viehischen; und also geschieht das nur durch seine fortwährende Lüge, den Menschen wie sich selbst gegenüber. Wer sich selbst belügt, kann sich auch am ehesten beleidigt fühlen. Ist es doch mitunter sogar sehr angenehm, sich gekränkt zu fühlen, ist’s nicht so? Und der Mensch weiß es doch selbst, daß ihn niemand gekränkt hat, daß er sich selbst die Kränkung ausgedacht und vorgelogen hat zur vermeintlichen Zierde, daß er es selbst vergrößert hat, daß er aus einer Erbse einen Berg macht, – er weiß es selbst nur zu gut, und doch fühlt er sich gekränkt, fühlt er sich bis zum Wohlbehagen gekränkt, bis zur Empfindung eines Genusses, und das bringt ihn dann bis zur wahren Feindschaft gegen die Menschen ... Aber so stehen Sie doch auf, setzen Sie sich doch, ich bitte Sie darum; das sind doch gleichfalls nur erlogene Gebärden.“ „Heiligster Mensch! Lassen Sie mich Ihre Hand küssen,“ rief aufspringend Fedor Pawlowitsch begeistert aus, beugte sich geschwind und drückte schmatzend einen Kuß auf die magere Hand des Staretz. „Das ist es ja, das ist’s: jawohl, geradezu angenehm ist es, sich gekränkt zu fühlen! Das haben Sie so schön gesagt, wie ich es überhaupt noch nicht gehört habe. Das ist es ja, mein Lebelang habe ich mich bis zum Genuß gekränkt gefühlt, habe mich nur um der Ästhetik willen gekränkt gefühlt, denn es ist nicht nur angenehm, sondern zuweilen sogar hübsch, gekränkt zu sein; – das haben Sie vergessen, hinzuzufügen, großer Staretz: wirklich hübsch. Das werde ich mir ins Notizbuch schreiben! Aber gelogen habe ich entschieden mein ganzes Leben, an jedem Herrgottstag, in jeder Stunde und Minute; bin die leibhaftige Lüge, bin der Vater der Lüge! Übrigens verhaue ich mich wahrscheinlich wieder im Text, sagen wir lieber, der Sohn der Lüge, das dürfte ja auch schon genügen. Nur ... hören Sie, mein Engel ... so etwas wie das vom Diderot kann man zuweilen doch erfinden! Diderot schadet weiter nicht, aber so gewisse Wörtchen können mitunter schaden. Ach, bei der Gelegenheit, großer Staretz, hätt’s beinahe total vergessen, und hab’s mir doch schon seit drei Jahren fest vorgenommen, mich hier danach zu erkundigen, gerade hier anzufragen und es positiv zu erfahren – wollten Sie aber nicht vorher Pjotr Alexandrowitsch sagen, daß er mich nicht unterbricht! – also, ich wollte sagen: ist es wahr, großer Mann, was in der Vita Sanctorum irgendwo geschrieben steht, von irgendeinem heiligen Wundertäter, den man um seines Glaubens willen gemartert hat? Es heißt dort nämlich, daß er, nachdem man ihn schließlich enthauptet hatte, aufgestanden sei, seinen Kopf aufgehoben und ihn ‚liebevoll geküßt‘ habe, und lange so mit ihm in den Armen herumgegangen sei, das Haupt immer ‚liebevoll küssend‘. Ist das nun wahr oder nicht, meine ehrenwerten Väter?“ „Nein, das ist nicht wahr,“ sagte der Staretz. „So etwas steht überhaupt nicht in der Vita Sanctorum. Von welch einem Heiligen soll denn das geschrieben stehen?“ fragte der eine Priestermönch, der Pater Bibliothekar. „Das weiß ich selbst nicht, von welch einem. Weiß es nicht und ahne es nicht einmal. Hab’s nur so reden hören, bin aber betrogen worden. Und wissen Sie, wer es erzählt hat? Nun, dieser selbe Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, der sich soeben dermaßen über den Diderot zu entrüsten geruhte; er selbst ist es, der es erzählt hat!“ „Niemals habe ich Ihnen das erzählt! Mit Ihnen spreche ich überhaupt nicht!“ „Stimmt, Sie haben es nicht mir erzählt; aber Sie haben es in einer Gesellschaft erzählt, in der auch ich mich befand, und das war so vor ungefähr vier Jahren. Ich erwähne es ja nur aus dem einen Grunde, weil Sie, Pjotr Alexandrowitsch, durch diese spaßige Geschichte meinen Glauben erschütterten. Sie wußten es nicht und ahnten es nicht; ich aber kehrte mit erschüttertem Glauben heim, und seit der Zeit wird er immer noch mehr erschüttert. Ja, Pjotr Alexandrowitsch, Sie waren die Ursache eines großen Falles! Das ist nicht bloß so ein Geschichtchen von Diderot!“ Der alte Karamasoff geriet bereits in Pathos, doch war allen vollkommen klar, daß er sich wieder nur verstellte. Miussoff aber war doch tief verletzt. „Welch ein Unsinn,“ sagte er gekränkt. „Ich habe es vielleicht wirklich einmal gesagt ... nur nicht Ihnen. Ich habe es selbst von anderen gehört. Man hat es mir in Paris erzählt; es war ein sehr gelehrter Franzose, der sich speziell mit russischer Theologie beschäftigte ... hatte lange in Rußland gelebt ... er sagte, es werde bei uns nach der Frühmesse in der Vita Sanctorum gelesen ... Ich habe es zwar selbst nicht gelesen ... und werde es auch nicht ... als ob man wenig bei Tisch spricht? ... Wir tafelten damals gerade ...“ „Ja, Sie tafelten damals gerade; ich aber verlor dabei meinen Glauben!“ neckte der alte Karamasoff geflissentlich weiter. „Was geht mich Ihr Glaube an!“ fuhr Miussoff auf, bezwang sich aber plötzlich und fügte nur mit Verachtung hinzu: „Sie machen wirklich alles gemein, womit Sie in Berührung kommen.“ Der Staretz erhob sich von seinem Platz. „Entschuldigen Sie mich, meine Herren, ich muß Sie auf wenige Minuten verlassen,“ sagte er, sich an alle wendend, „ich werde von Leuten erwartet, die noch vor Ihnen gekommen sind. Sie aber, lügen Sie ein für allemal nicht mehr,“ fügte er mit heiterem Gesicht zu Fedor Pawlowitsch gewendet hinzu. Er verließ die Zelle. Aljoscha und der Novize gingen ihm sofort nach, um ihn die Treppe hinunterzugeleiten. Aljoscha war fast atemlos, war froh, fortgehen zu können, doch freute es ihn besonders, daß der Staretz nicht gekränkt, sondern heiter zu sein schien. Der Staretz wollte zur kleinen Galerie gehen, um die ihn Erwartenden zu segnen. Aber Fedor Pawlowitsch hielt ihn noch an der Zellentür auf: „Gesegneter Mensch!“ rief er gefühlvoll, „erlauben Sie mir, noch einmal Ihre Hände zu küssen! Nein, mit Ihnen kann man doch reden! Sie glauben, daß ich immer so dumm bin und so den Narren spiele? So sage ich Ihnen denn, daß ich es die ganze Zeit mit Absicht getan habe, um Sie zu erproben. Die ganze Zeit befühle ich Sie ja doch nur, ob man mit Ihnen auch leben kann? Hat denn meine Wenigkeit Platz neben Eurer Hoheit!? Stelle Ihnen einen Belobigungsschein aus: man kann wahrhaftig mit Ihnen leben! Jetzt aber verstumme ich, verstumme für die ganze Zeit. Werde mich auf meinen Lehnstuhl setzen und verstummen! Jetzt ist die Reihe an Ihnen, Pjotr Alexandrowitsch, zu sprechen; jetzt sind Sie als Hauptperson zurückgeblieben ... auf zehn Minuten.“ III. Die gläubigen Weiber Diesmal warteten unten an der kleinen Holzgalerie, die an der Außenseite der Einfriedigungsmauer angebaut war, nur Frauen, etwa zwanzig Weiber aus dem Volk. Man hatte sie benachrichtigt, daß der Staretz endlich käme, und alle hatten sich daraufhin erwartungsvoll herangedrängt. Auf die Galerie war auch Frau Chochlakoff mit ihrer Tochter gekommen, doch blieb sie in der anderen, für vornehme Gäste reservierten Hälfte. Frau Chochlakoff, eine reiche und stets geschmackvoll gekleidete Dame, war noch ziemlich jung, an sich sehr nett, etwas bleich vielleicht, mit sehr lebhaften, fast ganz schwarzen Augen. Sie war erst dreiunddreißig Jahre alt und seit fünf Jahren Witwe. Ihre vierzehnjährige Tochter hatte gelähmte Füße, und so wurde denn das arme Ding, das seit einem halben Jahr nicht gehen konnte, in einem langen Rollstuhl auf Gummirädern geschoben. Sie hatte ein ganz reizendes Gesichtchen, von der Krankheit sah es allerdings etwas abgezehrt aus, doch war es nichtsdestoweniger stets lustig. Etwas Schalkhaftes spielte in ihren großen, dunklen Augen mit den langen Wimpern. Die Mutter beabsichtigte schon seit dem Frühling, mit ihr ins Ausland zu reisen, hatte aber im Sommer ihr Gut nicht verlassen können. In unserer Stadt wohnte sie bereits seit einer Woche, wohl mehr aus geschäftlichen Gründen, als um hier zu beten; doch hatte sie vor drei Tagen schon einmal den Staretz besucht. Jetzt aber waren sie plötzlich wiedergekommen, obgleich sie wußten, daß er so gut wie niemanden mehr empfangen konnte, und hatten unentwegt um das „Glück, dem großen Arzt danken zu können“, gebeten. Inzwischen warteten sie auf ihn. Die Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Rollstuhl ihrer Tochter. Zwei Schritt von ihnen stand ein alter Mönch, der aus einem fernen, unbekannten Kloster im Norden gekommen war. Er wartete gleichfalls auf den Segen des Staretz. Doch dieser schritt, als er auf die Galerie trat, geradenwegs zum Volk. Man drängte sich sofort zur kleinen, dreistufigen Treppe, die von der niedrigen Galerie auf den Rasen hinabführte. Der Staretz blieb auf der obersten Stufe stehen, nahm das Epitrachelion um und begann die sich zu ihm drängenden Frauen zu segnen. Man zog auch eine „Klikuscha“ an beiden Händen zu ihm heran. Kaum aber hatte diese den Staretz erblickt, als sie plötzlich ganz absonderlich zu kreischen, zu schnucken und am ganzen Körper zu zittern begann, so, wie kleine Kinder zittern, wenn sie Krämpfe haben. Der Staretz breitete sein Epitrachelion mit einer Handbewegung über ihren Kopf, sprach ein kurzes Gebet – und sie verstummte und beruhigte sich sofort. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, doch in meiner Kindheit habe ich häufig auf dem Lande und in Klöstern solche „Klikuschi“ gesehen und gehört. Sie wurden zum Gottesdienst geführt; sie kreischten oder bellten wie Hunde durch die ganze Kirche, doch wenn die geweihten Gaben des heiligen Abendmahles herausgetragen und sie dann zu ihnen geführt wurden, so hörte die „Besessenheit“ sofort auf, und die Kranken beruhigten sich stets auf einige Zeit. Mir fiel das als Kind ungemein auf, und ich wunderte mich nicht wenig darüber. Doch schon damals erfuhr ich auf meine Fragen von verschiedenen benachbarten Gutsbesitzern und besonders in der Stadt von meinen Lehrern, daß alles nur Verstellung sei, um nicht arbeiten zu müssen, und daß diese Krankheit mit der gehörigen Strenge stets auszurotten sei, wobei es dann noch zur Bekräftigung dieser Behauptung verschiedene Anekdoten gab. Späterhin aber erfuhr ich zu meinem Erstaunen von Medizinern, von Spezialisten, daß hierbei von Verstellung überhaupt nicht die Rede sein könne, daß das ganz einfach eine furchtbare Frauenkrankheit sei, die, wie es scheint, am häufigsten hier bei uns in Rußland vorkommt und von dem schweren Los unserer Bauernweiber zeugt, eine Krankheit, die von der allzu früh begonnenen, anstrengenden Arbeit nach einer schweren, unnormalen Entbindung ohne jede ärztliche Hilfe herrührt, oder auch von aussichtslosem Leid, von Schlägen usw., was gewisse Frauennaturen denn doch nicht ertragen können. Was aber die sonderbare und sofortige Heilung des „besessenen“ und tobenden Weibes anbetrifft, die man mir als Verstellung erklärt hatte oder als eine Posse, die womöglich von dem „Klerus“ selbst arrangiert werde, so ging sie wahrscheinlich gleichfalls auf ganz natürliche Weise vor sich: Sowohl die Kranke als die Weiber, die sie zur Hostie führten, glaubten daran, wie an eine allbekannte Wahrheit, daß der unreine Geist, der sich der Kranken bemächtigt hatte, diese einfach verlassen müsse, weil er es nicht ertragen könne, wenn man sie zum Altar bringt und sie vor der Hostie niederkniet. Darum aber ging dann in dem nervösen und natürlich auch psychisch kranken Weibe gewissermaßen eine Erschütterung des ganzen Organismus vor sich, die selbstverständlich durch die Erwartung des unbedingten Wunders hervorgerufen wurde, ja, infolge des unerschütterlichen Glaubens daran, daß es geschehen werde, hervorgerufen werden mußte. Und so geschah es denn auch, wenn auch nur auf eine Minute. Und so geschah es denn auch diesmal, kaum daß der Staretz die Kranke mit dem Epitrachelion bedeckt hatte. Viele von den sich zu ihm drängenden Weibern brachen unter dem Eindruck des Augenblicks in Tränen der Rührung und der Begeisterung aus; andere wiederum drängten sich zu ihm, um wenigstens den Saum seines Gewandes zu küssen; wieder andere murmelten Gebete oder Segenssprüche vor sich hin. Er segnete sie alle, und mit einigen von ihnen sprach er auch. Die „Klikuscha“ kannte er schon von früher, sie wurde aus einem Dorfe, das nur sechs Werst vom Kloster entfernt war, zu ihm gebracht, und zwar hatte man das schon des öfteren getan. „Du dort, du bist von fern hergekommen!“ sagte er zu einem noch ziemlich jungen Weibe, das aber sehr mager und im Gesicht nicht etwa bloß sonnverbrannt, sondern geradezu schwarz war. Sie lag auf den Knien und sah mit unbeweglichem Blick auf den Staretz. In ihrem Blick lag etwas wie Verzückung. „Von weitem, Vater, von weitem, dreihundert Werst von hier. Von weitem, Vater, von weitem,“ sagte das Weib, die Worte fast singend, wobei es den Kopf langsam hin und her wiegte und die Hand an die Wange legte. Und ihre ganze Sprache war wie ein Klagegesang. Es gibt im Volk stummes und vielgeduldiges Leid: es zieht sich in sich selbst zurück und schweigt. Doch gibt es auch anderes Leid: das bricht einmal in Tränen aus, und von dem Augenblicke an geht es dann in Klage oder Gebet über. Dies kommt besonders bei den Frauen vor. Doch ist es nicht leichter als das schweigende Leid. Die Klage lindert nur dadurch das Leid, daß sie das Herz zerreißt. Solch ein Leid verlangt nicht einmal nach Trost, es nährt sich am Gefühl seiner Unstillbarkeit, an seiner Trostlosigkeit. Die Klage aber ist nur das Bedürfnis, die schmerzende Wunde immer wieder zu berühren. „Du bist wohl vom Kleinbürgerstande?“ fragte der Staretz, der sich aufmerksam in ihr Gesicht hineinsah. „Aus der Stadt sind wir, Vater, aus der Stadt, sind einfache Leute, sind vom Bauernstande, wohnen aber in der Stadt, Vater, in der Stadt. Bin gekommen, um dich zu sehen. Wir haben von dir gehört, Vater, viel gehört. Habe mein Söhnchen, mein Kleines, beerdigt, bin gegangen, um zu Gott zu beten. Bin in drei Klöstern gewesen, doch alle sagen sie mir: ‚Gehe hin, Nastassjuschka, gehe hin, zu ihm,‘ zu dir, mein Liebling, soll ich gehen. So bin ich gekommen, war gestern im nächtlichen Gottesdienst, und heute bin ich zu dir gekommen.“ „Worüber weinst du?“ „Über mein Söhnchen, Vater, ein dreijähriges Kindchen war’s, nur noch drei Monate fehlten, und es wäre drei Jahre alt gewesen. Um mein Söhnchen quäle ich mich, Vater, um mein Söhnchen. Es war das letzte, das mir blieb, vier hatten wir, vier, Nikituschka und ich. Aber die Kinderchen bleiben nicht bei uns, du Guter, sie bleiben nicht. Die drei ersten begrub ich, begrub sie, und es tat mir nicht gar so weh; diesen letzten aber begrub ich, und nun kann ich ihn nicht mehr vergessen. Es ist mir, als ob er hier vor mir steht und nicht fortgeht. Hat mir die Seele ausgesogen. Betrachte ich seine Sächelchen, seine Hemdchen oder seine kleinen Stiefelchen, da stöhne ich und heule auf. Breite alles aus, was von ihm übriggeblieben ist, jedes kleine Sächelchen, sehe und heule. Sage Nikituschka, meinem Manne: Laß du mich, Lieber, beten gehen. Droschkenkutscher ist er, nicht arm sind wir, Vater, nicht arm, er ist sein eigener Herr, alles gehört uns selbst, die Pferde und auch die Wagen. Aber wozu nützt uns jetzt unser Besitz? Wieder wird er jetzt fehlgehen, mein Nikituschka, das ist schon so, ohne mich, und ist auch immer so gewesen: Wenn ich mich nur von ihm abwende, wird er sofort wieder schwach. Aber jetzt denke ich gar nicht mehr an ihn. Bin jetzt schon drei Monate fort von Hause. Habe vergessen, alles vergessen, und will auch nichts wissen; was soll ich jetzt mit ihm? Es ist aus mit ihm, habe mit allem abgeschlossen, mit allem. Würde ich doch jetzt nicht mein Haus sehen wollen und all mein Hab und Gut, und würde ich doch auch nichts mehr sehen!“ „Höre mich, Mutter,“ sagte der Staretz, „einstmals erblickte ein alter Heiliger im Tempel eine weinende Mutter, wie du, und sie weinte gleichfalls über ihr kleines Kind, um ihr einziges, das Gott von ihr zu sich genommen hatte. ‚Oder weißt du nicht,‘ sprach der Heilige zur Mutter, ‚wie kühn diese Kindlein vor dem Throne Gottes sind? Gibt es doch niemanden, der im Himmelreiche kühner wäre, denn sie. Du, Herr, hast uns das Leben geschenkt, sagen sie zu Gott, und kaum, daß wir es erschauten, da nahmst du es wieder von uns. Und so kühn bitten und flehen sie, daß der Herr sie alsbald zu Engeln macht. Und darum,‘ sprach der Heilige, ‚freue du dich, Weib, und weine nicht, denn dein Kind ist bei Gott und weilet in seiner Engelschar.‘ Also sprach in alten Zeiten der Heilige zum weinenden Weibe. War aber ein großer Heiliger, wie also hätte er ihr Unwahrheit sagen können? So wisse denn auch du, Mutter, daß auch dein Kind vor dem Throne Gottes steht und fröhlich und selig ist, und Gott für dich bittet. Und darum weine auch du nicht, sondern freue dich.“ Das Weib hörte ihn an, die Wange in die Hand gestützt. Sie seufzte tief. „Damit hat mich auch Nikituschka getröstet, Wort für Wort, wie du es sagst: ‚Was weinst du,‘ sagt er, ‚unser Söhnchen ist jetzt bestimmt beim lieben Herrgott und singt dort mit den Engelein.‘ Das sagt er mir, weint aber dabei selbst, ich sehe es ja, weint, wie ich weine. ‚Das weiß ich, Nikituschka,‘ sage ich, ‚wo sollte er denn sonst sein, wenn nicht beim lieben Herrgott, nur ist er nicht bei uns, Nikituschka, sitzt nicht mehr hier neben uns, wie er früher saß!‘ Wenn ich nur ein einziges Mal ihn wiedersehen könnte, nur ein einziges Mal, würde ja nicht zu ihm gehen, würde kein Wörtchen sagen, würde mich in der Ecke verstecken, nur ein Minutchen, nur ein einziges, ihn sehen, ihn hören, wie er auf dem Hof spielt, oder hereinkommt und mit seinem Stimmchen ruft: ‚Mammi, wo bist du?‘ Nur einmal noch will ich hören, wie er im Zimmer herumtrippelt, nur ein einziges Mal, mit seinen Beinchen, tipp tapp, und so schnell, schnell geht’s, ich weiß noch, wie er zuweilen so zu mir gestrampelt kam, schrie und lachte dabei ... wenn ich nur einmal noch seine Schrittchen hören könnte, nur einmal, ich würde ihn gleich wiedererkennen! Aber er ist nicht mehr, Vater, er ist nicht mehr, und niemals mehr werde ich ihn hören. Sieh, hier ist sein Gürtelchen, er aber ist nicht mehr da, und niemals mehr, niemals mehr werde ich ihn sehen noch hören! ...“ Sie zog einen kleinen mit Borten bestickten Gürtel hervor, den sie in den Busen gesteckt hatte, doch kaum sah sie ihn an, da brach sie auch schon in Tränen aus; ihr ganzer Körper wurde vom Schluchzen erschüttert, sie bedeckte die Augen mit den Händen, doch die Tränen flossen durch die Finger über die Hände herab. „So hat auch Rachel über ihre Kinder geweint und sich nicht trösten können; das sind die Schranken, die euch Müttern hier auf Erden gezogen worden sind. Und so gib dich denn nicht damit zufrieden, Weib, tröste dich nicht, und laß dich nicht trösten, sondern weine, nur wisse in jeder Stunde, in der du weinst, daß dein Sohn einer der Engel Gottes ist, daß er von dort auf dich niederschaut, dich sieht, und sich deiner Tränen freut, und sie Gott dem Herrn zeigt. Und lange noch, Mutter, wirst du die Tränen deines großen Schmerzes weinen, doch schließlich werden sie sich in eine stille Freude verwandeln, und deine bitteren Tränen werden dann nur Tränen einer stillen Rührung sein, eine Herzensläuterung, die vor allen Sünden bewahrt. Deines Sohnes aber werde ich im Gebete gedenken. Wie hieß er mit Namen?“ „Alexei, Vater.“ „Ein lieber Name. Nach dem Gottesknecht Alexei?“ „Nach dem Gottesknecht, Vater, ja, nach dem Gottesknecht, nach dem Gottesknecht Alexei.“ „Das war ein heiliger Mann! Ich werde seiner gedenken, Mutter, und auch deiner Trauer in meinem Gebet, und auch deines Mannes werde ich gedenken, auf daß es ihm wohl ergehe, und er gesund bleibe. Nur ist es Sünde von dir, ihn so allein zu lassen. Kehre zurück zu deinem Manne und beschütze ihn. Sonst sieht es dein Sohn von droben, daß du seinen Vater verlassen hast, und er wird über euch weinen: Warum störst du also seine Seligkeit? Denn er lebt doch, er lebt, denn die Seele ist ewig lebendig, und wenn du ihn auch nicht im Hause siehst, so ist er doch unsichtbar bei euch. Wie soll er nun in euer Haus kommen, wenn dir dein Haus, wie du sagst, nicht mehr lieb ist? Und zu wem soll er kommen, wenn er nicht euch beide, Vater und Mutter, beisammen findet? Sieh, jetzt träumst du von ihm, und das quält dich, dann aber wird er dir sanfte Träume schicken. Geh zu deinem Manne, Weib, kehre noch heutigen Tages zu ihm zurück, Mutter.“ „Ich werde gehen, du mein Lieber, werde gehen, wie du sagst. Hast mir mein Herz erleichtert! ... Nikituschka, du mein Nikituschka, erwartest mich wohl, mein Täubchen,“ begann sie vor sich hinzusagen, doch der Staretz wandte sich schon zu einem alten Mütterchen, das städtisch, aber ganz sonderbar und altmodisch gekleidet war. An ihren Augen konnte man sehen, daß sie etwas Besonderes auf dem Herzen hatte und gekommen war, um es mitzuteilen. Sie war die Witwe eines Unteroffiziers aus unserem Städtchen. Ihr Sohn Wassenjka hatte irgendwo im Kommissariat gedient, war aber dann nach Sibirien, nach Irkutsk, gefahren. Zweimal hatte er ihr von dort geschrieben, dann aber hatte sie ein ganzes Jahr lang keine Nachricht mehr von ihm erhalten. Sie hatte sich darauf wohl nach ihm erkundigt, doch genau genommen, wußte sie nicht recht, wo man sich eigentlich erkundigen sollte. „Nun sagte mir noch neulich Stepanida Iljinitschna Bedrjägina, die Kaufmannsfrau, sie ist sehr reich – sie sagte mir, laß doch, Prochorowna, für deinen Sohn eine Seelenmesse lesen. Dann wird seine Seele Heimweh bekommen, und er wird dir sofort einen Brief schreiben. Das ist schon mehrmals erprobt worden und hat sich immer als richtig erwiesen, sagt Stepanida Iljinitschna. Nur denke ich so bei mir ... weiß nicht, was ich tun soll ... Sage du mir, unser Augenlicht, was soll ich tun, soll ich die Messe für seine Seele lesen lassen?“ „Du solltest an so etwas überhaupt nicht denken. Es ist schon eine Schande, solches auch nur zu fragen. Und wie wäre denn das möglich, daß man für eine lebende Seele die Totenmesse lesen läßt, und dazu noch die leibliche Mutter. Das wäre eine große Sünde, wäre wie Zauberei, und nur wegen deiner Unwissenheit sei es dir verziehen. Bete lieber zur Muttergottes für seine Gesundheit und auf daß sie dir deine unrechten Gedanken verzeihe. Und höre, was ich dir noch sagen werde, Prochorowna: Dein Sohn wird bald entweder selbst zu dir zurückkehren, oder er wird dir einen Brief schicken. Das wisse. Gehe jetzt und sei ruhig. Dein Sohn lebt, das sage ich dir.“ „Unser Lieber, du unser Augenlicht, Gott schütze dich, unser Wohltäter, weiß ich doch, daß du für uns alle betest und für alle unsere Sünden!“ Der Staretz aber hatte schon zwei brennende Augen bemerkt, mit denen ihn eine magere, dem Anscheine nach schwindsüchtige, doch noch junge Bäuerin unverwandt ansah. Sie blickte ihn stumm an, ihre Augen baten um etwas, doch schien sie Angst zu haben, näher zu kommen. „Womit bist du gekommen, mein Kind?“ „Erlöse meine Seele, Vater,“ sagte sie leise und unübereilt, kniete nieder und verbeugte sich vor ihm bis zur Erde. „Ich habe gefehlt, mein Vater, ich fürchte meine Sünde.“ Der Staretz setzte sich auf die unterste Stufe, die Bäuerin näherte sich ihm, ohne sich dabei von den Knien zu erheben. „Ich bin Witwe, schon das dritte Jahr,“ begann sie halb flüsternd, wobei sie fast zusammenschauerte. „Schwer hatte ich es in der Ehe, alt war er, und schmerzhaft schlug er mich. Dann wurde er krank und lag zu Bett; und so denke ich, wie ich ihn so sehe, wenn er aber gesund wird und wieder aufsteht, was dann? Und da kam mir dieser selbe Gedanke! ...“ „Wart,“ sagte der Staretz und näherte sein Ohr ganz dicht ihren Lippen. Sie fuhr mit leisem Flüstern in ihrer Beichte fort, doch konnte man nichts mehr verstehen. Sie war bald zu Ende damit. „Das dritte Jahr?“ fragte der Staretz. „Das dritte. Zuerst dachte ich nicht daran, jetzt aber ist das Kränkeln gekommen und damit auch die Seelenangst.“ „Bist du von weitem hergekommen?“ „Über fünfhundert Werst von hier.“ „Hast du es in der Beichte gestanden?“ „Habe gestanden, habe es zweimal gestanden.“ „Hat man dich zum Abendmahl zugelassen?“ „Ja, man ließ mich zu. Ich fürchte mich, fürchte mich, zu sterben.“ „Fürchte nichts, und fürchte dich niemals, und ängstige deine Seele nicht. Wenn nur die Reue in dir nicht verarmt – wird Gott dir alles verzeihen. Gibt es doch keine Sünde, kann es doch auf der ganzen Welt keine so große Sünde geben, die Gott der Herr dem wahrhaft reuigen Sünder nicht verziehe. Und kann doch der Mensch nie und nimmer eine so große Sünde begehen, daß sie die endlose Liebe Gottes ganz erschöpfte. Oder glaubst du, daß es eine Sünde gäbe, die größer wäre als die Liebe Gottes? Trage nur Sorge um die Reue, sei unermüdlich im Bereuen, doch die Angst sollst du von dir scheuchen. Glaube daran, daß Gott dich so liebt, wie du es dir gar nicht denken kannst, daß er dich zusammen mit deiner Sünde und dich in deiner Sünde liebt. Weißt du nicht, daß es geschrieben steht: Über einen reuigen Sünder wird im Himmel mehr Freude sein, als über zehn Gerechte? So geh denn hin und fürchte dich nicht. Laß dich von den Menschen nicht erbittern und ärgere dich nicht über Kränkungen. Dem Verstorbenen vergib im Herzen alles, söhne dich aus mit ihm in Wahrheit. Wenn du bußfertig bist, so liebst du, liebst du aber, so bist du schon Gottes Kind ... Liebe erkauft alles, Liebe rettet alles. Wenn du schon mich, der ich doch ein ebenso sündiger Mensch bin wie du, gerührt hast und ich Mitleid mit dir empfinde, um wieviel mehr wird es dann Gott tun. Die Liebe ist ein so unschätzbarer Schatz, daß du mit ihr die ganze Welt kaufen kannst und nicht nur deine, sondern auch fremde Sünden auskaufst. So gehe jetzt hin in Frieden und fürchte dich nicht.“ Dreimal schlug er das Kreuz über sie, nahm dann von seinem Halse ein kleines Heiligenbild und legte es um ihren Hals. Schweigend neigte sie sich vor ihm bis zur Erde. Er erhob sich, und blickte heiter auf ein gesundes Bauernweib, das ein Brustkind auf den Armen trug. „Bin aus Wyschegorje, Liebster.“ „Immerhin sechs Werst von hier, hast noch dazu das Kindchen getragen. Was wolltest du?“ „Dich sehen wollte ich; ich bin doch schon früher bei dir gewesen, oder hast du’s vergessen? Dann hast du wohl kein großes Gedächtnis, wenn du mich schon vergessen hast! Die Leute sprachen dort bei uns, daß du krank sein sollst; da dachte ich, wart, werde ich selbst hingehen, sehen, was er macht. Und da sehe ich dich nun; was bist du denn für ein Kranker? Wirst noch zwanzig Jahre leben, wirklich! Gott mit dir! Und als ob du wenig Fürbitter hättest! Wie sollst du denn krank sein?“ „Ich danke dir für alles, Liebe.“ „Wart, ich habe noch eine kleine Bitte an dich, sie ist nicht groß: Hier sind sechzig Kopeken, gib sie, Liebster, einer, die ärmer ist als ich. Als ich herkam, dachte ich so bei mir: Besser, ich gebe es durch ihn; er wird schon wissen, wer es nötig hat.“ „Ich danke dir, Liebste, danke, meine Gute. Ich habe dich lieb, du Gute; ich werde unbedingt so handeln, wie du wünscht. – Ist es ein Mädchen?“ „Ein Mädchen, Liebster, Lisaweta.“ „Der Herr segne euch beide, dich wie die kleine Lisaweta. Mein Herz hast du mir erheitert, Mutter. Lebt wohl, meine Lieben, lebt wohl, meine teuren Lieben!“ Er segnete alle und verneigte sich tief vor ihnen. IV. Die kleingläubige Dame Die zugereiste Gutsbesitzerin, die dem ganzen Gespräch des Staretz mit dem einfachen Volk zugehört hatte, vergoß stille Tränen und tupfte sie mit ihrem Batisttüchlein ab. Sie war eine gefühlvolle Weltdame mit in gar manchen Dingen wahrhaft guten Neigungen. Als der Staretz endlich auch zu ihr trat, begrüßte sie ihn ganz begeistert. „Ich habe soviel, soviel empfunden beim Anblick dieser rührenden Szene ...“ Vor Erregung stockte sie im Sprechen. „O, ich verstehe nur zu gut, daß das Volk Sie liebt, ich liebe es auch selbst, ich will es lieben, und wie sollte man es auch nicht lieben, dieses prachtvolle, in seiner Größe so treuherzige, russische Volk!“ „Wie steht es mit der Gesundheit Ihrer Tochter? Man sagte mir, daß Sie mit mir sprechen wollten?“ „O, ich habe darum gebeten, gefleht! ich war bereit, auf die Knie zu fallen und meinetwegen drei Tage lang vor Ihren Fenstern zu knien, bis Sie mich dann endlich empfangen hätten! Wir sind zu Ihnen gekommen, großer Arzt, um Ihnen unseren heißen, heißen Dank auszusprechen! Sie haben doch meine Lisa ganz gesund gemacht, aber ganz, und wodurch? – Durch Ihr Gebet am Donnerstag, dadurch daß Sie Ihre Hände beim Gebet auf sie gelegt haben! Wir sind hergekommen, um diese Hände zu küssen, um unsere Gefühle, unsere Ehrfurcht auszudrücken!“ „Wieso habe ich sie geheilt? Sie liegt doch noch im Rollstuhl?“ „Aber sie fiebert jetzt in der Nacht überhaupt nicht mehr, zwei Nächte nicht mehr, seit Donnerstag!“ sagte nervös erregt die Dame. „Und nicht nur das allein, auch ihre Füße sind erstarkt. Heute morgen stand sie ganz gesund auf, sie hat die ganze Nacht geschlafen; sehen Sie doch, wie rosig sie heute ist, wie ihre Augen glänzen! Sonst weinte sie immer, jetzt aber lacht sie, ist lustig und fröhlich. Heute wollte sie unbedingt, daß man sie auf die Füße stelle, und so stand sie eine ganze Minute ohne jede Stütze. Sie hat mit mir gewettet, daß sie nach zwei Wochen Walzer tanzen werde. Ich ließ den hiesigen Doktor Herzenstube zu mir bitten; er aber zuckte bloß mit den Achseln und sagte: ‚Das überrascht mich, ist mir unverständlich!‘ Und Sie verlangen, daß wir Sie nicht mehr beunruhigen sollen, daß wir nicht danken? _Lise_, bedank dich doch, aber so bedanke dich doch!“ Lisas reizendes, lachendes Gesichtchen wurde plötzlich ganz ernst; sie erhob sich im Stuhl, soweit sie es konnte, blickte ernst den Staretz an und legte ihre Händchen vor ihm zusammen, doch konnte sie sich nicht bezwingen und fing von neuem an zu lachen ... „Über ihn, ach, ich lache ja nur über ihn!“ rief sie, auf Aljoscha weisend, in kindlichem Unwillen über sich selbst, weil sie nicht ernst geblieben war und gelacht hatte. Wer Aljoscha, der einen Schritt hinter dem Staretz stand, betrachtet hätte, der würde die Röte bemerkt haben, die auf einen Augenblick in sein Gesicht stieg. Seine Augen blitzten auf, und er senkte den Blick zu Boden. „Sie hat einen Auftrag an Sie, Alexei Fedorowitsch ... Wie geht es Ihnen?“ wandte sich die Mama an Aljoscha und streckte ihm ihr reizendes behandschuhtes Händchen entgegen. Der Staretz sah sich hastig nach Aljoscha um und betrachtete ihn lange Zeit sehr aufmerksam. Jener näherte sich Lisa und reichte ihr ein wenig ungeschickt lächelnd die Hand. _Lise_ machte ein wichtiges Gesichtchen. „Katerina Iwanowna schickt Ihnen durch mich diesen Brief,“ sagte sie und überreichte ihm ein kleines Schreiben. „Sie läßt Sie sehr, sehr bitten, zu ihr zu kommen und so schnell als möglich, und nicht nur zu versprechen, sondern bestimmt zu kommen.“ „Sie bittet mich, zu ihr zu kommen? Zu ihr, mich ... Warum denn?“ stotterte Aljoscha höchst verwundert. Er sah plötzlich ganz besorgt aus. „O, es handelt sich natürlich um Dmitrij Fedorowitsch und ... um alle diese jüngsten Begebenheiten,“ erklärte flüchtig die Mama. „Katerina Iwanowna hat sich jetzt zu etwas entschlossen ... zu diesem Zweck aber muß sie Sie sehen – warum? Das weiß ich natürlich nicht; aber sie läßt Sie bitten, sobald als möglich zu kommen. Und Sie kommen doch, nicht wahr? Kommen Sie unbedingt, hier gebietet es sogar die Christenpflicht.“ „Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen,“ sagte Aljoscha immer noch ganz verwundert. „O, das ist ein so edles, ein so unerreichbar edles Mädchen! ... Schon allein, was sie gelitten hat ... Bedenken Sie doch nur, was sie ertragen hat, und was sie jetzt ertragen muß, und bedenken Sie nur, was sie noch erwartet! ... Es ist schrecklich, wirklich schrecklich, wenn man das bedenkt!“ „Gut, ich werde hingehen,“ beschloß Aljoscha, nachdem er das kurze, rätselhafte Schreiben überflogen hatte, das außer der dringenden Bitte, zu ihr zu kommen, weiter nichts, keine einzige Erklärung enthielt. „Ach, wie nett das von Ihnen ist, und es wird herrlich sein!“ rief Lisa ganz entzückt aus. „Ich habe Mama immer gesagt: Er wird bestimmt nicht kommen, um keinen Preis wird er kommen! Wie nett, wie reizend Sie sind! Ich habe mir immer gedacht, daß Sie reizend sind, und es ist mir angenehm, Ihnen das jetzt sagen zu können.“ „_Lise!_“ rief ernst die Mama, doch lächelte auch sie gleich wieder. „Sie haben uns ganz vergessen, Alexei Fedorowitsch; Sie kommen ja gar nicht mehr zu uns! _Lise_ aber hat mir schon zweimal gesagt, daß sie sich nur in Ihrer Gesellschaft wohl fühle.“ Aljoscha erhob den gesenkten Blick, wurde plötzlich wieder über und über rot und lachte abermals, ohne selbst zu wissen, warum. Der Staretz aber beobachtete ihn nicht mehr; er unterhielt sich bereits mit dem Mönch, der, wie schon erwähnt, neben Lisas Rollstuhl auf sein Erscheinen gewartet hatte. Es war dem Aussehen nach ein ganz einfacher Mönch, ein Mensch mit einer kleinen, doch unzerstörbaren Weltanschauung, dabei aber gläubig und in seiner Art ungemein starrköpfig. Er sagte, daß er aus dem fernen Norden gekommen sei, aus Obdorsk vom heiligen Silvester, – aus einem armen, kleinen Kloster, in dem nur neun Mönche lebten. Der Staretz segnete ihn und forderte ihn auf, einerlei wann, zu ihm in die Zelle zu kommen. „Wie können Sie so was erreichen?“ fragte plötzlich der Mönch, wobei er ernst und feierlich auf Lisa hinwies. Er fragte es in betreff ihrer „Heilung“. „Davon zu sprechen, ist natürlich noch zu früh. Erleichterung ist nicht völlige Heilung und kann auch durch andere Ursachen hervorgerufen worden sein. Und selbst das wird nicht anders als nach Gottes Wunsch und durch Gottes Kraft geschehen sein. Alles kommt von Gott. Besuchen Sie mich bald, Pater,“ fügte er nochmals hinzu, „denn nicht zu jeder Zeit kann ich aufstehen; ich bin krank und weiß, daß meine Tage gezählt sind.“ „O nein, nein, Gott wird Sie nicht von uns nehmen; Sie werden noch lange, lange leben!“ fiel die Mama ihm ins Wort. „Und woran sind Sie denn erkrankt? Sie sehen so gesund aus, so fröhlich und glücklich!“ „Heute fühle ich mich auch viel besser, aber ich weiß, daß es nur eine Erleichterung auf eine Minute ist. Ich kenne jetzt meine Krankheit und kann mich nicht mehr darüber täuschen. Wenn ich Ihnen aber so fröhlich und glücklich scheine, so hätten Sie mich mit nichts so erfreuen können wie durch diese Bemerkung. Denn zum Glück sind die Menschen geschaffen, und wer vollkommen glücklich ist, der darf sich selbst sagen: ‚Ich habe das Gebot Gottes auf dieser Welt erfüllt.‘ Alle Heiligen, alle heiligen Märtyrer sind glücklich gewesen.“ „O wie schön Sie reden, welch große und hohe Worte Sie gebrauchen,“ sagte begeistert die Mama. „Wenn Sie etwas sagen, so durchdringen Sie einen gleichsam. Und doch! ... das Glück, ja, das Glück – wo ist es? Wer kann von sich sagen, daß er glücklich sei? O, wenn Sie schon so gut gewesen sind, heute nochmals zu uns zu kommen, so hören Sie denn auch alles, was ich Ihnen das vorige Mal nicht sagen konnte, was ich nicht zu sagen wagte, alles, worunter ich so lange, so lange schon leide! Ich leide, verzeihen Sie mir, ich leide ...“ Und sie faltete in einem plötzlich sie überkommenden heißen Gefühl die Hände vor ihm. „Worunter denn so besonders?“ „Ich leide ... unter meinem Unglauben ...“ „Unglauben an Gott?“ „O nein, nein, daran wage ich nicht einmal zu denken: aber das Leben im Jenseits – das ist solch ein Rätsel! Und niemand, niemand kann genau auf die Frage antworten! Hören Sie mich an, Sie tiefer Kenner der Menschenseele; ich habe natürlich keine Ansprüche darauf, daß Sie meinen Worten vollen Glauben schenken, aber ich versichere Ihnen, daß ich jetzt nicht aus Leichtsinn rede: Der Gedanke an das Leben nach dem Tode regt mich Unglückliche auf, bis zur Beängstigung, bis zum Entsetzen bringt er mich! Und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll, niemals habe ich gewagt ... Und sehen Sie, jetzt habe ich gewagt, mich an Sie zu wenden ... O Gott, für was werden Sie mich nun halten!“ Und sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. „Beunruhigen Sie sich nicht wegen meiner Meinung,“ entgegnete der Staretz. „Ich glaube vollkommen an die Aufrichtigkeit Ihres Kummers.“ „O, ich danke Ihnen dafür! Sehen Sie, ich schließe die Augen und denke: Wenn alle glauben, so – woher kommt das? Jetzt aber versichert man, das sei zuerst nur aus der Furcht vor den Schrecken einflößenden Naturerscheinungen gekommen, und daß es alles das überhaupt nicht gäbe. Wie nun, denke ich, ich habe geglaubt so lange ich lebe – und da sterbe ich nun, und plötzlich ist nichts da, und nur ‚Kletten wachsen auf meinem Grabe‘, wie ich vor kurzem bei einem Schriftsteller las. Das ist doch entsetzlich! Wodurch den Glauben wiedergewinnen, wodurch? Und wissen Sie, ich habe eigentlich nur als ganz kleines Mädchen geglaubt, mechanisch, ohne etwas dabei zu denken ... Wodurch sich nun überzeugen? Ich bin zu Ihnen gekommen, um vor Ihnen niederzuknien und Sie zu fragen; denn wenn ich jetzt diese Gelegenheit unbenutzt vorübergehen lasse, so wird mir doch in meinem ganzen Leben niemand mehr darauf Antwort geben. Womit nun beweisen, wodurch sich überzeugen? O, das ist ein zu großes Unglück! Ich stehe und sehe, daß allen alles einerlei ist, oder fast allen, niemand denkt jetzt daran, nur ich allein kann das nicht mehr ertragen. Das ist ja entsetzlich, ganz entsetzlich, einfach tötend!“ „Zweifellos tötend. Doch beweisen läßt sich hierbei nichts, wohl aber kann man sich überzeugen.“ „Wie? Wodurch?“ „Durch die Erfahrung der werktätigen Liebe. Bemühen Sie sich, Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben. In dem Maße, wie Sie in der Liebe fortschreiten, werden Sie sich auch vom Sein Gottes und von der Unsterblichkeit Ihrer Seele überzeugen. Wenn Sie aber in Ihrer Liebe zum Nächsten bis zur vollen Selbstverleugnung gekommen sind, dann werden Sie auch den vollen Glauben errungen haben, und kein Zweifel wird sich dann mehr in Ihre Seele einschleichen können. Das ist eine alterprobte Wahrheit.“ „Durch werktätige Liebe? Aber da erhebt sich die andere Frage, und was das für eine Frage ist! Sehen Sie: ich liebe die Menschheit dermaßen, daß ich – werden Sie es mir glauben? – zuweilen daran denke, alles zu verlassen, alles, was ich habe, _Lise_ und alles, alles, und barmherzige Schwester zu werden. Ich schließe die Augen, denke und träume, und in diesen Augenblicken fühle ich eine unüberwindliche Kraft in mir. Keine Wunden, keine eiternden Beulen könnten mich abschrecken, ich würde sie mit meinen eigenen Händen waschen und verbinden; ich möchte die Wärterin dieser Leidenden sein und wäre bereit, diese Schwären zu küssen ...“ „Und selbst das ist schon viel und gut, daß Ihre Gedanken davon träumen und nicht von anderem. Bestimmt werden Sie doch noch eine gute Tat tun, wenn auch vielleicht nur aus Versehen ...“ „Ja, aber wie lange könnte ich denn dieses Leben aushalten?“ fragte erregt, fast außer sich, die Dame. „Das ist ja die Hauptfrage! Das ist die allerquälendste Frage! Ich schließe die Augen und frage mich: Wie lange würdest du auf diesem Wege gehen können? Und wenn der Kranke, dessen Wunden du wäschst, dir nicht sofort seine ganze Dankbarkeit schenkt, dich im Gegenteil womöglich noch mit Launen quält, ohne deine menschenfreundliche Aufopferung zu schätzen oder auch nur zu beachten, dich anschreit, sogar roh von dir verlangt, was du doch freiwillig gibst, sich sogar bei den Vorgesetzten über dich beklagt – wie das doch häufig Schwerleidende tun –, was dann? Wird dann deine Liebe noch fortdauern oder nicht? Und denken Sie sich, ich habe mir selbst sofort angstvoll eingestanden: wenn es etwas gibt, was meine ‚tätige‘ Liebe zur Menschheit sofort erkalten machen könnte, so ist das einzige die Undankbarkeit. Mit einem Wort, ich bin eine Arbeiterin um Lohn, ich verlange den Lohn sofort; ich meine, daß man mich lobt, ich verlange Gegenliebe als Lohn für meine Liebe. Anders bin ich überhaupt nicht fähig, jemanden zu lieben!“ Es schien ein Anfall der aufrichtigsten Selbstgeißelung über sie gekommen zu sein. Als sie geendet hatte, blickte sie mit einer geradezu herausfordernden Entschlossenheit auf den Staretz. „Was Sie mir sagen, hat mir fast Wort für Wort einmal, es ist schon lange her, ein Arzt gesagt,“ bemerkte dieser. „Es war ein bereits bejahrter und zweifellos kluger Mensch. Er sprach ebenso aufrichtig wie Sie, wenn auch halb scherzend, jedenfalls aber traurig scherzend. Ich liebe die Menschheit, sagte er, doch wundere ich mich über mich selbst: je mehr ich die Menschheit im allgemeinen liebe, desto weniger liebe ich die Menschen im einzelnen, das heißt, als einzelne Personen genommen. In Gedanken, sagte er, bin ich nicht selten zu ganz sonderbaren Absichten, der Menschheit zu dienen, gekommen, und vielleicht wäre ich wirklich fähig gewesen, mich für die Menschen kreuzigen zu lassen, wenn das, sagen wir, irgendwie unbedingt vonnöten gewesen wäre; indessen aber könnte ich nicht einmal zwei Tage lang mit irgend jemandem in einem Zimmer leben, was ich aus mehrfacher Erfahrung weiß. Kaum daß jemand bei mir ist, so verletzt er schon meine Persönlichkeit, meine Eigenliebe und beeinträchtigt meine Freiheit. In vierundzwanzig Stunden kann ich den besten Menschen hassen: den einen, weil er langsam ißt bei Tisch, den anderen, weil er Schnupfen hat und sich immer schnauben muß. Und so werde ich, sagte er, sofort ein Menschenfeind, sobald ich nur mit Menschen in Berührung komme. Dafür aber wurde, je mehr ich die Menschen im einzelnen haßte, meine Liebe zur Menschheit im allgemeinen immer größer und leidenschaftlicher.“ „Aber was soll man denn tun? Was soll man denn in diesem Falle tun? Das ist doch zum Verzweifeln!“ „Nein, denn auch das genügt, daß Sie sich darum grämen. Tun Sie, was in Ihren Kräften steht, und auch das wird Ihnen angerechnet werden. Sie haben schon vieles getan, denn Sie haben sich so tief und aufrichtig selbst erkannt! Wenn Sie aber auch mit mir nur deswegen so aufrichtig gesprochen haben, um von mir nur ein Lob zu hören für Ihre Aufrichtigkeit, so werden Sie natürlich mit Ihrer werktätigen Liebe nichts erreichen, so wird alles nur in Ihren Gedanken bleiben, und das ganze Leben wird wie ein Phantom vorüberfliehen. Dann werden Sie natürlich auch das jenseitige Leben vergessen und sich schließlich vielleicht irgendwie beruhigen.“ „Sie haben mich vernichtet! Erst jetzt, erst in diesem Augenblick, da Sie sprachen, begriff ich, daß ich wirklich nur Ihr Lob für meine Aufrichtigkeit erwartete, als ich Ihnen sagte, ich würde Undankbarkeit nicht ertragen können. Sie haben mich ganz begriffen, und Sie haben mich mir selbst erklärt!“ „Sagen Sie das jetzt wirklich ganz aufrichtig? Nun, dann kann ich Ihnen sagen: Jetzt, nach solch einem Bekenntnis, glaube ich, daß Sie aufrichtig und im Herzen ein guter Mensch sind. Wenn Sie auch das Glück nicht erreichen sollten, so denken Sie daran, daß Sie auf einem guten Wege sind, und bemühen Sie sich, nicht von ihm abzugehen. Die erste Bedingung ist: vermeiden Sie die Lüge, jede Lüge, die Lüge vor sich selbst ganz besonders. Geben Sie acht auf Ihre Lüge und beobachten Sie sie in jeder Stunde, in jeder Minute. Desgleichen vermeiden Sie Launenhaftigkeit, sich selbst sowohl als anderen gegenüber. Das, was Ihnen im Herzen schlecht erscheint, wird schon allein dadurch, daß Sie es in sich bemerken, geläutert. Meiden Sie die Furcht, obgleich Furcht nur die Folge jeder Lüge ist. Lassen Sie sich niemals durch Ihren eigenen Kleinmut vom Werben um Liebe abschrecken, sogar Ihre eigenen, schlechten Handlungen in der Beziehung brauchen Sie nicht so sehr zu fürchten. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nichts Beruhigenderes sagen kann, denn die werktätige Liebe ist im Vergleich zur schwärmerischen Liebe etwas Grausames und Abschreckendes. Die schwärmerische Liebe lechzt nach einer schnellen Heldentat, die man in kurzer Zeit vollbringen kann, und zwar unbedingt so, daß alle sie beachten. Dabei kommt es wirklich so weit, daß man bereit ist, das Leben hinzugeben, wenn es nur nicht lange dauert, sondern schnell vollbracht ist, wie auf der Bühne, und alle es sehen und loben. Die werktätige Liebe dagegen, die ist Arbeit und Ausdauer, für einige sogar eine ganze Wissenschaft. Ich aber sage Ihnen, in derselben Minute, in der Sie sich mit Entsetzen gestehen, daß Sie sich trotz all Ihrer Bestrebungen nicht nur dem Ziele nicht genähert, sondern sich von ihm scheinbar noch entfernt haben – in diesem Augenblick, das sage ich Ihnen, werden Sie mit einemmal das Ziel erreichen und über sich klar die wundertätige Kraft des Herrn fühlen, die Kraft Gottes, der Sie immer geliebt hat und Sie die ganze Zeit unsichtbar lenkt. Verzeihen Sie, aber ich muß jetzt gehen, man erwartet mich. Auf Wiedersehen.“ Die Dame weinte. „_Lise, Lise_, o segnen Sie sie, segnen Sie sie!“ bat sie erregt. „Nun, Ihr Töchterchen zu lieben, lohnt sich gar nicht. Ich habe sehr wohl gesehen, wie unartig sie die ganze Zeit gewesen ist,“ sagte scherzend der Staretz. „Warum haben Sie die ganze Zeit über Alexei gelacht?“ _Lise_ hatte sich tatsächlich die ganze Zeit nur mit dieser kleinen Spitzbüberei beschäftigt. Sie hatte es schon längst bemerkt, daß Aljoscha verlegen wurde, wenn sie ihn ansah, und daß er sich immer bemühte, sie nicht anzusehen; nun, und das fand sie ungeheuer interessant. Aufmerksam wartete sie und suchte sie, seinen Blick zu erhaschen. Aljoscha aber, der den unverwandt auf ihn gerichteten Blick nicht ertragen konnte, bezwang sich, bezwang sich wieder, und plötzlich, – plötzlich blickte er doch selbst, von einer unbezwingbaren Kraft angezogen, zu ihr hin, worauf _Lise_ ihm natürlich sofort triumphierend ins Gesicht lachte. Aljoscha wurde immer verlegener und ärgerte sich immer mehr über sich selbst. Zu guter Letzt wandte er sich ganz von ihr ab und versteckte sich halbwegs hinter dem Rücken des Staretz. Doch schon nach kurzer Zeit wandte er sich, wieder von dieser unbezwingbaren Kraft angezogen, vorsichtig ein wenig zur Seite, um zu sehen, ob er betrachtet werde oder nicht, und da sah er denn, daß _Lise_, die sich ganz über die Armlehne ihres Stuhles bog, ihn von der Seite betrachtete und krampfhaft den Augenblick erwartete, da er sich nach ihr umsehen werde; als sie aber dann seinen Blick auffing, lachte sie so lustig auf, daß selbst der Staretz nicht ernst bleiben konnte. „Sie Unart Sie, warum machen Sie ihn denn so verlegen?“ _Lise_ wurde plötzlich ganz unerwarteterweise feuerrot, ihre Augen blitzten auf, ihr Gesichtchen aber wurde furchtbar ernst, und dann kam es in heißer, unwilliger Klage hastig, erregt aus ihr heraus: „Ja, aber warum hat er alles vergessen? Er hat mich auf den Armen getragen, als ich klein war, und wir haben zusammen gespielt! Und später hat er mich lesen gelehrt, ist deswegen zu uns gekommen, wissen Sie das auch? Und als er vor zwei Jahren fortfuhr, sagte er noch, er würde nie vergessen, daß wir ewige Freunde sind, ewige, ewige Freunde! Und jetzt fürchtet er mich auf einmal! Werde ich ihn denn beißen oder aufessen? Warum will er nicht zu mir kommen, warum spricht er nicht mit mir? Warum will er nicht zu uns kommen? Oder erlauben Sie es ihm nicht? Wir wissen doch, daß er sonst überall hingeht. Ich kann ihn doch nicht dazu zwingen, er muß von selbst kommen; er hätte selbst daran denken müssen, wenn er es nicht vergessen hat. Nein, er kommt nicht, er sucht jetzt hier sein Seelenheil! Wozu haben Sie ihm diesen langschößigen Lappen angezogen? ... Er wird ja fallen, wenn er läuft ...“ Und plötzlich bedeckte sie das Gesicht mit der Hand und lachte, lachte unbezwingbar, unaufhörlich ihr gezogenes, nervöses, schüttelndes und unhörbares Lachen. Der Staretz hatte sie lächelnd angehört, und zärtlich segnete er sie; als sie aber darauf seine Hand küssen wollte, preßte sie diese plötzlich an ihre Augen und brach in Tränen aus: „Seien Sie nicht böse auf mich, ich bin so dumm, bin überhaupt nichts wert ... Aljoscha hat vielleicht recht, ganz recht, wenn er zu einer so Dummen nicht kommen will.“ „Ich werde ihn ganz bestimmt zu Ihnen schicken,“ versprach ihr lächelnd der Staretz. V. Und es geschehe also Die Abwesenheit des Staretz aus der Zelle dauerte im ganzen vielleicht nur fünfundzwanzig Minuten. Es war schon halb eins, doch Dmitrij Fedorowitsch war noch immer nicht gekommen, obgleich sich alle nur seinetwegen versammelt hatten. Trotzdem schien man ihn fast ganz vergessen zu haben, und als der Staretz wieder in die Zelle trat, fand er seine Gäste in lebhaftem Gespräch vor. An diesem Gespräch beteiligten sich vor allen anderen Iwan Fedorowitsch und die beiden Priestermönche. Auch Miussoff mischte sich in das Gespräch ein, dem Anscheine nach sogar sehr hitzig, doch hatte er wieder kein Glück: er blieb ersichtlich zweitrangig, und man antwortete ihm nur wenig, so daß dieser neue Umstand seine ganze sich anstauende Reizbarkeit nur noch verstärkte. Es gab aber noch einen anderen Grund, warum er so reizbar war; er hatte nämlich auch früher schon Iwan Fedorowitsch im Wissen zu überbieten gesucht; doch da es ihm immer mißlungen war, konnte er dessen gewisse Nachlässigkeit ihm gegenüber um so weniger kaltblütig ertragen: „Bis jetzt wenigstens bin ich auf der Höhe alles dessen gewesen, was in Europa das Fortgeschrittenste war; diese neue Generation aber will uns einfach ignorieren,“ dachte er empört bei sich. Fedor Pawlowitsch, der doch freiwillig sein Wort gegeben hatte, sich auf den Stuhl zu setzen und hinfort zu schweigen, schwieg tatsächlich eine gewisse Zeitlang, beobachtete aber mit einem kleinen, maliziös-spöttischen Lächeln seinen Nachbar Miussoff, dessen Reizbarkeit ihn augenscheinlich freute. Er hatte sich schon längst vorgenommen, diesem gewisse Dinge heimzuzahlen, und wollte jetzt die Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, beugte sich zum Ohr seines Stuhlnachbars und neckte ihn, halblaut flüsternd, geflissentlich noch einmal: „Warum gingen Sie denn vorhin nach dem ‚küßte es liebend‘ nicht fort, und warum ließen Sie sich dazu herab, in so unanständiger Gesellschaft zu bleiben? Ich werd’s Ihnen sagen, warum: Weil Sie sich erniedrigt und beleidigt fühlten, und so blieben Sie denn, um zur Rache Ihren Verstand leuchten zu lassen. Und jetzt werden Sie für keinen Preis früher fortgehen, als bis Sie Ihren Verstand gezeigt haben.“ „So fangen Sie schon wieder an? Ich gehe sofort!“ „Als letzter, als letzter werden Sie fortgehen, Pjotr Alexandrowitsch!“ neckte noch einmal Fedor Pawlowitsch. Das war fast im selben Augenblick, als der Staretz wieder eintrat. Das Gespräch verstummte sofort; doch der Staretz, der wieder seinen alten Platz einnahm, blickte alle so freundlich an, als wolle er sie mit dem Blick auffordern, doch fortzufahren. Aljoscha aber, der jeden Ausdruck seines Gesichtes kannte, sah deutlich, daß er furchtbar müde und überanstrengt war. In der letzten Zeit seiner Krankheit war er schon mehrere Male vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen. Sein Gesicht war fast ebenso bleich wie vor einer Ohnmacht, und seine Lippen wurden ganz blaß. Doch augenscheinlich wollte er die Versammelten nicht fortschicken, und zwar schien er dabei noch ein besonderes Ziel zu haben – welch eines nur? Aljoscha beobachtete ihn gespannt. „Wir sprechen über seinen ungemein interessanten Artikel,“ sagte der Priestermönch Pater Jossiff, der Bibliothekar, zum Staretz, und wies dabei auf Iwan Fedorowitsch. „Er bringt in diesem Artikel viel Neues vor, doch kommt es, glaube ich, auf dasselbe hinaus. Bei Gelegenheit der Erörterung der kirchlich-zivilen Justizfrage, und des Umfanges ihrer Berechtigung, hat er mit einem kleinen Zeitungsartikel dem Geistlichen geantwortet, der über diese Frage ein ganzes Buch geschrieben hat.“ „Leider habe ich Ihren Artikel nicht gelesen, aber ich habe von ihm gehört,“ sagte der Staretz, der Iwan Fedorowitsch aufmerksam anblickte. „Er nimmt einen interessanten Standpunkt ein,“ fuhr der Pater-Bibliothekar fort. „Wie es scheint, verneint er in der Frage der kirchlichen Ziviljustiz die Trennung von Kirche und Staat.“ „Das ist sehr interessant; aber in welchem Sinne meinen Sie das?“ fragte der Staretz Iwan Fedorowitsch. Der antwortete ihm; doch tat er es nicht etwa mit einer herablassenden Höflichkeit, wie Aljoscha noch vor kurzem befürchtet hatte, sondern bescheiden und zurückhaltend, mit augenscheinlicher Zuvorkommenheit und offenbar ohne jeden Hintergedanken: „Ich gehe von der Überzeugung aus, daß diese Verwechselung der Elemente, d. h. des Wesens der Kirche mit dem Wesen des Staates, beide als einzelne Begriffe genommen, natürlich ewig sein wird, obgleich sie überhaupt nicht sein dürfte, und man die beiden niemals nicht nur in ein normales, sondern selbst nicht einmal in ein einigermaßen befriedigendes Verhältnis wird bringen können, da die ganze Sache sich auf einer Lüge aufbaut. Ein Kompromiß zwischen dem Staate und der Kirche in Fragen, wie zum Beispiel der des Gerichts, ist meines Erachtens schon allein ihrem Wesen nach unmöglich. Der Geistliche, dem ich in meinem Artikel entgegnet habe, behauptet, daß die Kirche im Staat eine ganz genaue und bestimmte Stellung einnehme. Ich aber antwortete ihm, daß die Kirche im Gegenteil den ganzen Staat in sich einschließen müßte, nicht aber in ihm nur eine bestimmte Ecke einnehmen sollte, und daß dies, wenn es jetzt aus bestimmten Gründen unmöglich ist, dem Wesen der Dinge nach doch unbedingt das feste und erste Ziel der ganzen Weiterentwicklung des Christentums sein müßte.“ „Das ist vollkommen richtig,“ sagte fest, doch nervös, Pater Paissij, der schweigsame und gelehrte Priestermönch. „Der reinste Ultramontanismus!“ rief Miussoff aus, der vor Ungeduld ein Bein über das andere schlug. „Ach, wir haben ja nicht einmal Berge!“ meinte Pater Jossiff, worauf er, zum Staretz gewandt, fortfuhr: „Er antwortet unter anderem auch auf folgende, grundlegende und wesentliche Behauptungen seines Gegners, des Geistlichen – beachten Sie es wohl. Erstens, sagt der Geistliche: ‚Es kann und darf sich kein einziger gesellschaftlicher Verband die Macht, über die bürgerlichen und politischen Rechte seiner Mitglieder zu verfügen, aneignen.‘ Zweitens: ‚Die Macht des Kriminal- und Zivilgerichts darf nicht der Kirche gehören, denn die ist mit ihrem Wesen als göttliche Einrichtung und als Verband der Menschen zu religiösen Zwecken unvereinbar,‘ und schließlich drittens: ‚Daß die Kirche kein Reich von dieser Welt sei‘ ...“ „Das allerunwürdigste Wortspiel für einen Geistlichen!“ unterbrach wieder ungeduldig Pater Paissij. „Ich habe dieses Buch gelesen, auf das Sie geantwortet haben,“ sagte er zu Iwan Fedorowitsch, „und ich war nicht wenig erstaunt über die Worte des Geistlichen, daß die Kirche ‚kein Reich von dieser Welt‘ sei. Wenn sie nicht von dieser Welt wäre, so könnte sie folglich überhaupt nicht auf der Welt existieren. Im heiligen Evangelium sind die Worte: ‚nicht von dieser Welt‘ nicht in diesem Sinne gebraucht. Mit solchen Worten aber zu spielen, geht nicht an. Unser Herr Jesus Christus ist doch nur deswegen gekommen, um die Kirche gerade hier auf Erden zu gründen. Das Himmelreich ist natürlich nicht von dieser Welt, sondern im Himmel, doch kann man in dasselbe nicht anders eingehen als durch die Kirche, die auf der Erde gegründet und errichtet ist. Und darum sind alle Wortspiele in diesem Sinne unmöglich und unwürdig. Die Kirche aber ist in Wahrheit Herrschaft hier auf Erden und ihr ist bestimmt, zu herrschen, und ihr Ziel kann zweifellos nur eines sein: Ihre Herrschaft über die ganze Welt auszudehnen, – wie es uns auch die Verheißung sagt ...“ Er verstummte plötzlich, als ob er sich bezwingen wollte. Iwan Fedorowitsch, der ihm höflich und aufmerksam zugehört hatte, fuhr mit ungewöhnlicher Ruhe wie vorher bereitwillig und offenherzig, zum Staretz gewandt, in seiner Erklärung fort: „Der ganze Gedanke, den ich in meinem Artikel entwickelt habe, besteht darin, daß das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten auf der Erde bloß in Gestalt einer Kirche erschien und auch nur Kirche war. Als aber das heidnische römische Imperium christlich werden sollte, war es ja nur natürlich, daß es, indem es christlich wurde, die Kirche bloß in sich aufnahm, selbst aber fortfuhr, in äußerst vielen Dingen wie früher ein heidnischer Staat zu bleiben. Und im Grunde genommen, hätte es zweifellos anders überhaupt nicht geschehen können. Es blieb in Rom, als Imperium genommen, gar zu viel von der alten Zivilisation und der heidnischen Weisheit übrig, wie zum Beispiel die Ziele und Grundsätze des Imperiums selbst. Die Kirche Christi jedoch konnte, als sie in den Staat eintrat, natürlich nichts von ihrem Grundgedanken, diesem Stein, auf dem sie stand, aufgeben oder abtreten und konnte also nur ihre Ziele verfolgen, die ihr einmal vom Herrn selbst gesetzt und angewiesen waren, wie unter anderem: Die ganze Welt und damit folglich auch das ganze frühere heidnische Imperium in Kirche zu verwandeln. So muß denn also – versteht sich, vom zukünftigen Ziel der Kirche gesprochen – nicht die Kirche sich einen bestimmten Platz im Staate suchen, wie ‚jeder andere gesellschaftliche Verband‘ oder wie ‚ein Verband der Menschen zu religiösen Zwecken‘ – so drückt sich der geistliche Autor, dem ich entgegnete, über die Kirche aus –, sondern im Gegenteil, jeder Erdenstaat müßte sich zum Schluß vollkommen in Kirche verwandeln und nichts anderes werden als bloß Kirche, und sich dann natürlich von allen seinen Zielen, die mit den Zielen der Kirche nicht übereinstimmen, einfach abwenden. Das alles würde den Staat als solchen in nichts erniedrigen, ihm weder seine Ehre noch seinen Ruhm als Großmacht nehmen, noch würde es den Ruhm seiner Herrscher schmälern, sondern würde den Staat nur von dem falschen, noch heidnischen und irreführenden Weg auf den richtigen und wahren Weg stellen, auf den einzigen, der zu ewigen Zielen führt. Darum hätte der Autor des Buches über die Grundlagen des kirchlich-zivilen Gerichts ganz richtig geurteilt, wenn er bei seiner Untersuchung und Feststellung dieser Grundlagen dieselben als einen zeitlichen, in unserer sündigen, noch unvollendeten Zeit notwendigen Kompromiß und sonst nichts weiter behandelt hätte. Sobald aber der Autor dieser ‚Grundlagen‘ sich erdreistet, zu erklären, daß seine Grundlagen, die er jetzt aufstellt, und die teilweise Pater Jossiff soeben aufzählte, unerschütterliche, elementarische und ewige seien, geht er direkt gegen die Kirche vor und gegen ihre heilige, ewige und unerschütterliche Bestimmung. Das ist der ganze Standpunkt meines Artikels.“ „Das heißt also, kurz gesagt,“ begann wieder Pater Paissij, jedes Wort betonend, „nach gewissen Theorien, die sich in unserem neunzehnten Jahrhundert nur zu deutlich ausgeprägt haben, soll sich die Kirche in Staat verwandeln – gleichsam aus einer niedrigeren Form in eine höhere –, um darauf ganz in ihm zu verschwinden, indem sie vor der Wissenschaft, dem Zeitgeist und der Zivilisation zurücktritt, ihnen also einfach Platz macht. Wenn sie das aber nicht will und sich dem widersetzt, so wird ihr im Staat gleichsam nur eine gewisse Ecke eingeräumt, und selbst die nur unter Aufsicht. Und das geschieht jetzt überall in den gegenwärtigen europäischen Ländern. Nach der russischen Auffassung und Zuversicht dagegen soll sich nicht die Kirche in Staat verwandeln, wie aus einem niedrigeren in einen höheren Typ, sondern der Staat soll sich vorbereiten, einzig und allein Kirche und nichts weiter als das zu werden. Dieses sei sein Endziel. Und also geschehe es, Amen!“ „Nun, ich muß gestehen, Sie haben mich jetzt wieder etwas ermutigt,“ sagte Miussoff und schlug ein Bein übers andere. „Soweit ich es verstehe, handelt es sich also um die Verwirklichung irgendeines Ideals, eines unendlich fernen, bei der Wiederkunft des Herrn. Nun, dagegen habe ich nichts. Ein wunderschöner utopischer Traum von der Abschaffung der Kriege, Diplomaten, Banken usw. Etwas, was sogar wie Sozialismus aussieht. Ich aber dachte schon, daß das alles Ernst sei, und die Kirche _jetzt_ bereits über Kriminalfragen richten, zu Ruten und Zwangsarbeit und vielleicht sogar zur Todesstrafe verurteilen solle.“ „Wenn es nur ein einziges kirchlich-ziviles Gericht gäbe, so würde die Kirche auch jetzt nicht zur Zwangsarbeit oder zur Todesstrafe verurteilen. Das Verbrechen und seine Auffassung müßten sich dann selbstverständlich ganz verändern, natürlich allmählich, nicht plötzlich und nicht sofort, immerhin ziemlich bald ...“ sagte ruhig, und ohne mit der Wimper zu zucken, Iwan Fedorowitsch. „Meinen Sie das etwa im Ernst?“ Miussoff blickte ihn aufmerksam an. „Wenn alles Kirche wäre, so würde die Kirche den Verbrecher oder den Ungehorsamen ausschließen, nicht aber Köpfe fällen,“ fuhr Iwan Fedorowitsch fort. „Nun frage ich Sie aber, wohin würde dann der Exkommunizierte gehen? Dann müßte er ja nicht nur von den Menschen, wie jetzt, sondern auch von Christus fortgehen. Dann würde er sich mit seinem Verbrechen nicht nur gegen die Menschen, sondern auch gegen die Kirche Christi vergangen haben. Das ist natürlich im strengsten Sinne auch jetzt so, doch ist es immerhin nicht offiziell erklärt, und so findet sich denn heute der Verbrecher sehr häufig mit seinem Gewissen auf diese Weise ab, indem er sich sagt: ‚Habe wohl gestohlen, greife aber nicht die Kirche an, bin Christus kein Feind.‘ Das sagt sich heutzutage fast ausnahmslos jeder Verbrecher. Wenn aber die Kirche an Stelle des Staates getreten ist, dann könnte er es sich schwerlich sagen, es sei denn, daß er die ganze Kirche auf der ganzen Welt verneinte: ‚Alle irren sich, alle sind vom richtigen Wege abgekommen, alle sind Pseudokirche, nur ich allein, der Mörder und Dieb – bin die wahre christliche Kirche.‘ Das aber sich zu sagen, ist doch sehr schwer und verlangt ungeheure Bedingungen, setzt Umstände voraus, die es nicht häufig gibt. Jetzt nehmen Sie andererseits jene Auffassung des Verbrechens, wie sie die Kirche hat: Wird sich dann die allgemeine Auffassung des Verbrechens nicht ändern müssen, im Vergleich zur gegenwärtigen, fast heidnischen Auffassung, wird sie sich dann nicht vielmehr aus der Idee, das kranke Glied mechanisch abtrennen zu müssen, wie es jetzt zum Schutze der Gesellschaft getan wird, wahrhaft und nicht nur scheinbar in die Idee der Wiedergeburt des Menschen, seiner Auferstehung und Rettung verwandeln ...“ „Was soll denn das jetzt wieder bedeuten? Ich höre wieder auf, zu verstehen,“ unterbrach Miussoff, „wieder irgendeine Phantasie! etwas Formloses, aus dem man überhaupt nicht klug werden kann. Wie meinen Sie das – ‚ausschließen‘ und was soll das für eine Exkommunikation sein? Ich vermute stark, daß Sie einfach nur zu scherzen belieben, Iwan Fedorowitsch.“ „Aber genau genommen ist es ja auch jetzt ganz dasselbe,“ sagte plötzlich der Staretz, und sofort wandten sich aller Blicke ihm zu, „denn wenn es jetzt keine Kirche Christi gäbe, so hätte der Verbrecher keinen einzigen Halt nach dem Verbrechen und nicht einmal die Möglichkeit einer Buße, das heißt, einer wirklichen und nicht, wie Sie sagten, mechanischen Buße, die in der Mehrzahl der Fälle nur das Herz erbittert – sondern die wirkliche Buße, die einzige abschreckende und die einzige friedenbringende Buße, die in der Erkenntnis des eigenen Gewissens liegt.“ „Erlauben Sie, wie meinen Sie das?“ erkundigte sich mit dem lebhaftesten Interesse Miussoff. „Ich meine das so,“ begann der Staretz. „Alle diese Verschickungen, die Zwangsarbeit und früher noch die Körperstrafe verbessern niemanden, und vor allem schrecken sie keinen einzigen Verbrecher ab; die Zahl der Verbrechen verringert sich nicht etwa, sondern vergrößert sich noch immer. Das müssen Sie mir doch vollkommen zugeben. Und so ergibt sich, daß die Gesellschaft auf diese Weise keineswegs beschützt ist, denn wenn auch das schädliche Mitglied mechanisch abgetrennt und weit fortgeschickt wird, aus den Augen, aus dem Sinn, so wird es doch sofort durch einen anderen Verbrecher, vielleicht sogar durch zwei Verbrecher, ersetzt. Wenn es etwas gibt, das die Gesellschaft in unserer Zeit beschützt und sogar den Verbrecher selbst bessert und in einen anderen Menschen verwandelt, so ist das wiederum nur das Gebot Christi, das sich in der Erkenntnis des eigenen Gewissens kundtut. Nur wenn er sich seine Schuld als Sohn der Gemeinschaft Christi, das heißt, der Kirche, eingesteht, sieht er auch seine Schuld vor der Gemeinschaft selbst, das heißt, vor der Kirche, ein. Somit ist denn der gegenwärtige Verbrecher einzig vor der Kirche fähig, seine Schuld anzuerkennen, nicht aber vor dem Staat. Und darum, wenn nun das Gericht der Gemeinschaft als Kirche gehören würde, dann würde dieselbe wissen, wen sie aus der Verbannung zurückführen und wieder aufnehmen könnte. Jetzt jedoch entfernt sich die Kirche, da sie wohl die Möglichkeit allein des sittlichen Verurteilens, nicht aber ein aktives Gericht hat, von der aktiven Buße des Verbrechers ganz von selbst. Sie schließt ihn nicht aus und verläßt ihn nie mit ihrem väterlichen Trost. Ja, sie bemüht sich sogar, mit dem Verbrecher die ganze christliche, kirchliche Gemeinschaft zu erhalten: Sie läßt ihn zum Gottesdienst, zum Abendmahl zu, sie gibt ihm Almosen und verhält sich zu ihm mehr wie zu einem Verführten, als wie zu einem Schuldigen. Und was würde mit dem Verbrecher geschehen, o Gott! wenn auch die christliche Gemeinschaft, das heißt die Kirche, ihn ebenso verstoßen würde, wie ihn das bürgerliche Gesetz verstößt und ausschließt? Was würde mit ihm geschehen, wenn jedesmal und sofort nach der Strafe des staatlichen Gesetzes auch die Kirche ihn mit der Ausschließung strafte? Eine größere Verzweiflung kann es ja gar nicht geben, wenigstens nicht für den russischen Verbrecher, denn die russischen Verbrecher sind noch gläubig. Doch übrigens, wer kann es wissen: vielleicht würde dann etwas ganz Furchtbares geschehen: das verzweifelte Herz des Verbrechers würde vielleicht völlig den Glauben verlieren, und was dann? Doch die Kirche zieht sich als zärtliche und liebende Mutter freiwillig von einer aktiven Bestrafung zurück, da der Schuldige auch ohne ihre Strafe durch das staatliche Gericht sowieso schon gar zu grausam bestraft ist, ihn aber wenigstens irgend jemand bemitleiden muß. Vor allem deswegen, weil das Gericht der Kirche das einzige ist, welches nichts als die Wahrheit enthält und sich infolgedessen wesentlich und sittlich mit keinem einzigen anderen Gericht, nicht einmal zu einem provisorischen Kompromiß, vereinigen kann. Hierbei kann man sich nicht auf Vergleiche einlassen. Der ausländische Verbrecher, sagt man, bereue selten, denn sogar die jetzt sich verbreitenden Lehren bestärken ihn in dem Gedanken, daß sein Verbrechen kein Verbrechen sei, sondern nur eine Auflehnung gegen die ungerecht unterdrückende Macht. Die Gesellschaft scheidet ihn vollkommen mechanisch durch die über ihn triumphierende Macht aus und begleitet diese Ausscheidung noch mit Haß – wenigstens sagen sie in Europa selbst so von sich –, mit Haß und vollster Gleichgültigkeit für ihres Bruders weiteres Schicksal. So geschieht denn dort alles ohne das geringste kirchliche Mitleid, denn in vielen Fällen gibt es dort überhaupt keine Kirchen mehr, es gibt dort nur noch Kleriker, Kirchendiener und prachtvolle Kirchengebäude; die Kirchen selbst jedoch streben dort schon längst nach dem Übergang aus der niedrigeren Form der Kirche in die höhere Form des Staates, um in ihm ganz zu verschwinden. So ist es, glaube ich, wenigstens in den lutherischen Ländern. In Rom aber wird ja schon seit tausend Jahren an Stelle der Kirche der Staat verkündet. Darum also hält sich der Verbrecher selbst nicht mehr für ein Glied der Kirche und verbleibt als Ausgestoßener in der Verzweiflung. Wenn er aber in die Gesellschaft zurückkehrt, so geschieht dies nicht selten mit solch einem Haß, daß die Gesellschaft ihn ganz von selbst wieder ausstößt. Womit das endet, können Sie sich selbst sagen. In vielen Fällen könnte es scheinen, daß es auch bei uns dasselbe sei: Doch das ist es ja gerade, daß es bei uns außer dem staatlichen Gericht noch die Kirche gibt, die niemals die Verbindung mit dem Verbrecher, als mit ihrem lieben und immer noch teuren Sohne, aufgibt. Und überdies gibt es bei uns noch – und wenn auch meinetwegen nur geistig – das Gericht der Kirche, das jetzt allerdings noch nicht in Tätigkeit ist, doch immerhin für die Zukunft lebt; und wenn es sich auch nur im Geiste erhält, so wird es doch vom Verbrecher selbst fraglos durch den Instinkt seiner Seele schon jetzt anerkannt. Und auch das ist ganz richtig, was hier vorhin gesagt wurde: Wenn das Gericht der Kirche wirklich und in seiner ganzen Macht eingeführt werden würde, das heißt, wenn die ganze Gesellschaft sich ausschließlich in Kirche verwandeln sollte, so würde nicht nur das Gericht der Kirche selbst auf die Besserung des Verbrechers in einer Weise einwirken, wie es jetzt ganz undenkbar ist, sondern es würden sich vielleicht auch die Verbrechen in unglaublichem Maße verringern, im Verhältnis zu früher gesprochen. Und auch darüber kann kein Zweifel bestehen, daß die Kirche den zukünftigen Verbrecher und das zukünftige Verbrechen in vielen Fällen ganz anders auffassen würde, als man es jetzt auffaßt, und daß sie es verstehen würde, den Ausgestoßenen zurückzuführen, den Böses Sinnenden zu warnen und den Gefallenen wieder aufzurichten. Allerdings,“ fuhr der Staretz lächelnd fort, „vorläufig ist ja die christliche Gesellschaft noch selbst nicht fertig und steht nur auf den sieben Gerechten; da aber diese nicht aussterben werden, so bleibt sie immerhin unerschütterlich in der Erwartung ihrer vollständigen Verwandlung aus der Gesellschaft, als einer fast noch heidnischen Verbindung, in die einzige ökumenische und herrschende Kirche. Und also geschehe es, und wenn auch zu Ende der Zeiten, denn nur diesem allein ist vorherbestimmt, in Erfüllung zu gehen! Und wozu sich durch die lange Zeit verwirren lassen, das Geheimnis der Zeiten und des Endzieles liegt in der Allwissenheit Gottes, in seiner Vorsehung und seiner Liebe. Und was nach menschlichem Ermessen sehr weit entfernt ist, das kann nach der Vorherbestimmung Gottes vielleicht schon vor der Tür stehen. Hoffen wir, daß dieses also ist! Amen!“ „Amen, Amen!“ wiederholte andächtig und streng Pater Paissij. „Sonderbar, höchst sonderbar!“ meinte Miussoff nicht etwa heftig, wohl aber wie mit einem heimlichen, sagen wir – Unwillen. „Was scheint Ihnen denn so sonderbar?“ erkundigte sich vorsichtig Pater Jossiff. „Ja, was bedeutet denn das eigentlich?“ fuhr Miussoff sofort auf, als ob er sich plötzlich nicht mehr zurückhalten wollte. „Der Staat wird auf der Erde beseitigt, die Kirche aber wird zum Staate erhoben! Das ist ja nicht mehr Ultramontanismus, das ist einfach Erz-Ultramontanismus! Das hat sich selbst Papst Gregor der Siebente nicht einmal träumen lassen!“ „Verzeihung, Sie haben es gerade umgekehrt aufgefaßt!“ sagte streng Pater Paissij. „Nicht die Kirche verwandelt sich in Staat, beachten Sie das wohl. Das ist Rom und sein Ideal. Das ist die dritte Versuchung des Teufels! Sondern im Gegenteil: Der Staat verwandelt sich in Kirche, erhebt sich bis zur Kirche und wird Kirche auf der ganzen Erde, – was dem Ultramontanismus Roms und Ihrer Auffassung vollkommen entgegengesetzt und nur die große Bestimmung der Rechtgläubigkeit auf Erden ist. Von Osten her kommt das Licht.“ Miussoff schwieg bedeutsam. Seine ganze Gestalt drückte ungewöhnliche persönliche Würde aus. Ein ungemein herablassendes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Aljoscha hatte alles mit stark klopfendem Herzen verfolgt. Dieses ganze Gespräch regte ihn bis in die Grundtiefen auf; zufällig blickte er zu Rakitin hinüber: der stand unbeweglich auf seinem alten Platz an der Tür und beobachtete und hörte aufmerksam zu, obgleich er den Blick gesenkt hielt. Doch an der lebhaften Farbe seines Gesichts erriet Aljoscha, daß auch Rakitin vielleicht nicht weniger als er selbst erregt war; Aljoscha wußte, was ihn erregte. „Gestatten Sie mir, meine Herren, Ihnen eine kleine Geschichte zu erzählen,“ sagte plötzlich eindringlich und mit gewissermaßen besonders würdevoller Miene Miussoff. „Es war vor etlichen Jahren in Paris, kurz nach der Dezemberrevolution, da traf ich einmal, als ich im Hause eines sehr hochstehenden Mannes – er war damals einer von der Regierung – meine Aufwartung machte, da traf ich, wie gesagt, dort in seinen Empfangsräumen einen ungemein interessanten Herrn. Dieses Individuum war nicht gerade Detektiv, aber doch so etwas in der Art eines Direktors, sagen wir, eines ganzen Kommandos politischer Detektivs – in seiner Art ein ganz einflußreicher Mann. Nun, ich knüpfte mit ihm ein Gespräch an, da er mich ungemein interessierte, und da er nicht als Bekannter, sondern als untergebener Beamter mit einer gewissen Art von Rapporten gekommen war, so teilte er mir, da er sah, wie ich bei seinem Vorgesetzten empfangen wurde, seinerseits einige Amtsgeheimnisse mit – nun, versteht sich, nur bis zu einem gewissen Grade, das heißt, er war eher nur höflich als gerade aufrichtig, so wie die Franzosen höflich zu sein verstehen, um so mehr, als er in mir einen Ausländer erkannte. Doch ich begriff ihn sehr gut. Das Gespräch drehte sich um die sozialistischen Revolutionäre, die damals verfolgt wurden. Ich übergehe die Hauptpunkte des Gesprächs; ich will nur eine sehr interessante Bemerkung, die er plötzlich fallen ließ, wiedergeben: ‚Diese Sozialisten, Anarchisten, Atheisten und Revolutionäre fürchten wir nicht sonderlich,‘ sagte er, ‚wir beobachten sie nur, und im übrigen sind uns alle ihre Schachzüge bekannt. Unter ihnen aber gibt es, wenn auch nicht viele, so doch einige besondere Leute: das sind Christen, die an Gott glauben, zu gleicher Zeit aber auch Sozialisten sind. Sehen Sie, die sind es, die wir am meisten fürchten; das ist ein gefährliches Volk! Der christliche Sozialist ist viel gefährlicher als der atheistische Sozialist.‘ Diese Worte frappierten mich auch damals schon; jetzt aber, hier bei Ihnen, meine Herren, sind sie mir wieder eingefallen ...“ „Das heißt, daß Sie sie auf uns anwenden und auch in uns Sozialisten sehen?“ fragte gerade heraus, ohne alle Umschweife Pater Paissij. Doch bevor noch Miussoff an eine Antwort denken konnte, öffnete sich die Tür, und Dmitrij Fedorowitsch, der sich so unverzeihlich verspätet hatte, trat ein. Man hatte ihn, wie es schien, ganz vergessen, und sein plötzliches Erscheinen rief im ersten Augenblick sogar ein gewisses Erstaunen hervor. VI. Wozu lebt solch ein Mensch? Dmitrij Fedorowitsch, mittelgroß, mit einem sympathischen Gesicht, war erst achtundzwanzig Jahre alt, sah jedoch weit älter aus. Er war muskulös, und man konnte ihm eine bedeutende körperliche Kraft ansehen, doch drückte sich in seinem Gesicht zugleich etwas Krankhaftes aus. Er war mager, die Wangen waren eingefallen, und er hatte eine sonderbare, ungesunde, bleiche Farbe. Seine ziemlich großen, dunklen, etwas hervorstehenden Augen blickten scheinbar in fester Beharrlichkeit und doch gewissermaßen unbestimmt. Selbst wenn er erregt war oder gereizt sprach, gehorchte sein Blick, wie es schien, nicht seiner inneren Stimmung und drückte etwas anderes aus, zuweilen sogar etwas, was seinen Worten oder der Situation gar nicht entsprach. „Es ist schwer zu sagen, woran er eigentlich denkt,“ äußerten sich zuweilen Menschen, die mit ihm gesprochen hatten. Andere wiederum, die in seinen Augen etwas Nachdenkliches, Trauriges sahen, waren erstaunt, ihn ganz plötzlich lachen zu hören, was von seinen heiteren, spielerischen Gedanken in dem Moment zeugte, als seine Augen noch so düster und trübe geblickt hatten. Übrigens war sein etwas krankhaftes Aussehen noch aus einem besonderen Grunde begreiflich: man sprach ja allgemein von dem ungewöhnlich unruhigen und flotten Leben, dem er sich gerade in der letzten Zeit bei uns ergeben hatte. Man sprach auch von den unglaublichen Zornausbrüchen, zu denen er sich in den Streitigkeiten mit seinem Vater wegen des ihm vorenthaltenen Geldes hatte hinreißen lassen; in der Stadt liefen darüber sogar mehrere Anekdoten um. Es ist wahr, daß er auch schon von Natur reizbar war, „von unregelmäßigem, veränderlichem Gemüt,“ wie sich unser Friedensrichter Ssemjon Iwanowitsch Katschaljnikoff in einer Gesellschaft einmal charakteristisch über ihn äußerte. Er war tadellos und elegant gekleidet: in einem zugeknöpften Gehrock, mit schwarzen Handschuhen, den Zylinder in der Hand, trat er ein. Als Offizier, der erst vor kurzem seinen Abschied genommen hatte, trug er einen Schnurrbart und ein glattrasiertes Kinn. Sein dunkelblondes Haar war kurzgeschoren und an den Schläfen etwas nach vorn gekämmt; er hatte einen energischen Gang, schritt weit aus wie eben ein Frontoffizier. Er blieb auf der Schwelle stehen und, nachdem sein Blick alle Anwesenden überflogen hatte, schritt er entschlossen auf den Staretz zu, in dem er sofort die Hauptperson erraten hatte. Er verneigte sich tief vor ihm und bat ihn um seinen Segen. Der Staretz erhob sich und segnete ihn. Dmitrij Fedorowitsch küßte ihm ehrerbietig die Hand und sagte darauf ungewöhnlich erregt, fast gereizt: „Verzeihen Sie, bitte, daß ich Sie so lange habe warten lassen. Der Diener Ssmerdjäkoff, den mein Vater zu mir geschickt hatte, sagte mir auf meine wiederholte Frage nach der Zeit des Besuches zweimal in der bestimmtesten Weise, daß er zu 1 Uhr angesagt worden sei, und jetzt erfahre ich plötzlich ...“ „Beunruhigen Sie sich nicht,“ unterbrach ihn der Staretz, „Sie haben sich etwas verspätet; aber das hat ja nichts zu sagen ...“ „Ich bin Ihnen sehr dankbar und habe auch von Ihrer Güte nicht weniger erwartet.“ Nachdem er dies hervorgestoßen, verbeugte sich Dmitrij Fedorowitsch noch einmal vor ihm, darauf aber wandte er sich zu seinem Vater und machte vor ihm plötzlich eine ehrerbietige und tiefe Verbeugung. Man sah ihm an, daß er sich diese Höflichkeit vorgenommen hatte und sie wirklich aufrichtig meinte, da er es für seine Pflicht hielt, wenigstens auf diese Weise seine Ehrerbietung sowie seine guten Absichten auszudrücken. Fedor Pawlowitsch aber, der zuerst vor Überraschung nicht recht wußte, wie ihm geschah, fand sich nach einem Augenblick doch wieder auf seine Art: Er sprang hastig von seinem Stuhl auf und antwortete seinem Sohne auf die Höflichkeit mit ganz genau solch einer Verbeugung. Sein Gesicht wurde plötzlich wichtig und bedeutsam, was ihm einstweilen ein entschieden böses Aussehen verlieh. Dmitrij Fedorowitsch begrüßte schweigend mit einem kurzen Gruß die übrigen Anwesenden und ging dann mit seinen großen, gleichmäßigen Schritten zum Fenster, wo er sich auf den einzigen freien Stuhl setzte, nicht weit vom Pater Paissij, und sitzend vorgeneigt, sofort dem unterbrochenen Gespräch zuhören zu wollen schien. Die ganze Unterbrechung hatte nicht mehr als zwei Minuten gedauert, und so war es nur selbstverständlich, daß das Gespräch wieder aufgenommen wurde. Diesmal hielt es Miussoff nicht für nötig, auf die bestimmte und fast gereizte Frage des Paters zu antworten. „Gestatten Sie, dieses Thema abzubrechen,“ sagte er mit einer gewissen gesellschaftlichen Nachlässigkeit. „Zudem ist dieses Thema doch etwas schwierig; sehen Sie, Iwan Fedorowitsch lächelt über uns: er muß wahrscheinlich etwas besonders Interessantes auf diese Frage zu antworten haben. Fragen Sie daher, bitte, ihn.“ „O, nichts Besonderes, außer der kleinen Bemerkung,“ entgegnete sofort Iwan Fedorowitsch, „daß der europäische Liberalismus, im allgemeinen, und sogar unser russischer liberaler Dilettantismus schon längst und nicht etwa selten die Endresultate des Sozialismus mit denen des Christentums verwechseln. Diese unsinnige Folgerung ist natürlich ein charakteristischer Zug; übrigens verwechseln den Sozialismus mit dem Christentum, wie man sieht, nicht nur die Liberalen und Dilettanten, sondern mit ihnen in vielen Fällen auch noch die Gendarmen, versteht sich, nur die ausländischen. Ihre Pariser Geschichte ist wirklich recht charakteristisch, Pjotr Alexandrowitsch!“ „Im übrigen bitte ich nochmals um die Erlaubnis, dieses Thema abzubrechen,“ wiederholte Miussoff, „dafür aber werde ich Ihnen eine äußerst interessante und charakteristische Geschichte von Iwan Fedorowitsch erzählen. Vor nicht länger als fünf Tagen erklärte er in einer hiesigen vornehmlich aus Damen bestehenden Gesellschaft während eines Disputs feierlichst, daß es auf der ganzen Erde entschieden nichts gäbe, was den Menschen veranlassen könnte, Seinesgleichen zu lieben, daß solch ein Naturgesetz: der Mensch muß die Menschheit lieben – überhaupt nicht vorhanden und, wenn es bis jetzt auf der Erde trotzdem Liebe gäbe, dieses nicht nach dem Naturgesetz, sondern einzig darum so sei, weil die Menschen noch an ihre Unsterblichkeit glaubten. Iwan Fedorowitsch fügte bei der Gelegenheit noch _en parenthèse_ hinzu, daß darin gerade das ganze Naturgesetz bestünde, so daß, wenn man im Menschen den Glauben an seine Unsterblichkeit vernichtete, in ihm nicht nur die Liebe, sondern überhaupt jede lebendige Kraft zur Fortsetzung des irdischen Lebens versiegen würde, und nicht nur das: es würde dann nichts Unsittliches mehr geben, sagte er, alles würde dann erlaubt sein, sogar die Menschenfresserei. Und auch damit war’s noch nicht genug: er schloß mit der Behauptung, daß sich für jede Privatperson, wie hier zum Beispiel ich, die weder an Gott noch an ihre Unsterblichkeit glaubt, das sittliche Gesetz der Natur in das volle Gegenteil des früheren religiösen Gesetzes verwandeln müsse, und daß ein Egoismus sogar bis zum Verbrechen dem Menschen nicht nur erlaubt sein, sondern für ihn als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich gar edelster Ausweg in seiner Lage anerkannt werden müsse. Nach diesem Paradoxon, meine Herren, können Sie auf das übrige schließen, was unser lieber paradoxer Exzentriker, Iwan Fedorowitsch, proklamiert und vielleicht auch noch zu proklamieren beabsichtigt.“ „Erlauben Sie,“ rief plötzlich ganz unerwartet Dmitrij Fedorowitsch dazwischen, „habe ich recht gehört: ‚Das Verbrechen muß nicht nur erlaubt sein, sondern sogar als unvermeidlicher und vernünftigster Ausweg aus der Lage eines jeden Gottlosen anerkannt werden!‘ War es so oder nicht?“ „Genau so,“ sagte Pater Paissij. „Das werde ich mir merken!“ Und Dmitrij Fedorowitsch verstummte ebenso plötzlich, wie er sich in das Gespräch hineingemischt hatte. Alle blickten ihn neugierig an. „Ist das von den Folgen, die der Verlust des Glaubens der Menschen an die Unsterblichkeit ihrer Seele haben würde, wirklich Ihre Überzeugung?“ fragte plötzlich der Staretz Iwan Fedorowitsch. „Ich habe das einmal behauptet. Es gäbe keine Tugend, wenn es keine Unsterblichkeit gibt.“ „Selig sind Sie, wenn das Ihr Glaube ist, oder aber maßlos unglücklich!“ „Warum denn unglücklich?“ fragte Iwan Fedorowitsch lächelnd. „Weil Sie selbst aller Wahrscheinlichkeit nach weder an die Unsterblichkeit Ihrer Seele glauben, noch daran, was Sie von der Kirche und über die Kirchenfrage geschrieben haben.“ „Vielleicht haben Sie recht ... Aber immerhin habe ich doch nicht nur gescherzt ...“ gestand plötzlich sonderbarerweise Iwan Fedorowitsch, wobei er übrigens flüchtig errötete. „Nicht nur gescherzt, das ist wahr; diese Idee hat sich in Ihrem Herzen noch nicht entschieden, und so quält sie das Herz. Doch auch der Märtyrer liebt es zuweilen, mit seiner Verzweiflung zu spielen, gewissermaßen gleichfalls aus Verzweiflung. Vorläufig spielen auch Sie aus Verzweiflung, wenn Sie Zeitungsartikel schreiben und in Gesellschaften disputieren, ohne dabei selbst an Ihre Dialektik zu glauben, über die sie bei sich mit wehem Herzen lachen ... Dieses Problem ist in Ihnen nicht gelöst, und darin besteht Ihr großes Leid, denn es heischt unerbittlich eine Lösung ...“ „Aber kann es denn in mir überhaupt gelöst werden? Gelöst im positiven Sinne?“ fuhr Iwan Fedorowitsch fort, sonderbar zu fragen, wobei er immer noch mit einem unerklärlichen Lächeln auf den Staretz blickte. „Wenn es sich nicht im positiven Sinne lösen kann, so wird es sich auch niemals im negativen Sinne lösen, Sie kennen doch selbst diese Eigenschaft Ihres Herzens, darin besteht seine ganze Qual. Danken Sie dem Schöpfer, daß er Ihnen ein höheres Herz gegeben hat, das fähig ist, sich mit dieser furchtbaren Frage zu quälen, ‚trachtend nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist, denn unser Leben ist im Himmelreich‘. Gebe Gott, daß Ihr Herz noch auf Erden seine Lösung finde, und möge Gott Ihre Wege segnen!“ Der Staretz erhob die Hand und wollte schon von seinem Platz aus das Zeichen des Kreuzes über Iwan Fedorowitsch machen. Doch der erhob sich plötzlich, trat zu ihm und empfing den Segen; darauf küßte er ihm die Hand und kehrte stumm zu seinem Platz zurück. Der Ausdruck seines Gesichts war entschlossen und ernst. Diese Handlung, sowie das ganze vorhergegangene sonderbare Gespräch mit dem Staretz, das man von Iwan Fedorowitsch niemals erwartet hätte, schienen alle durch ihre Rätselhaftigkeit und fast Feierlichkeit stutzig zu machen, so daß das Schweigen eine ganze Minute andauerte. Auf Aljoschas Gesicht drückte sich beinahe Schrecken aus. Da aber zuckte Miussoff plötzlich mit den Achseln, und sofort sprang auch der alte Karamasoff auf. „Göttlicher, heiligster Staretz!“ rief er pathetisch aus, auf Iwan Fedorowitsch weisend. „Das ist mein Sohn, Leib von meinem Leib, mein liebster Leib! Das ist mein ehrerbietigster, sozusagen Karl Moor, jener dort aber, mein Sohn Dmitrij Fedorowitsch, der jetzt erst eingetreten ist und gegen den ich bei Ihnen mein Recht suche – das ist der unehrerbietigste Franz Moor – beide aus Schillers ‚Räubern‘ –, ich selbst aber, ich selbst bin in diesem Falle natürlich der regierende Graf von Moor! Jetzt urteilen Sie! Und retten Sie! Wir bedürfen nicht nur Ihrer Gebete, sondern auch Ihrer Weissagungen.“ „Reden Sie, ohne dabei den Narren zu spielen, und beginnen Sie nicht mit Beleidigungen Ihrer Angehörigen,“ sagte der Staretz mit schwacher, erschöpfter Stimme. Ersichtlich wurde er immer müder, und seine Kräfte verließen ihn fast wahrnehmbar. „Diese unwürdige Komödie habe ich schon vorausgeahnt!“ rief unmutig Dmitrij Fedorowitsch, der gleichfalls aufsprang. „Verzeihen Sie, ehrwürdiger Vater,“ wandte er sich an den Staretz, „ich bin nur ein ungebildeter Mensch und weiß sogar nicht einmal, wie man Sie anreden muß, man hat Sie aber betrogen, und es war von Ihnen eine viel zu große Güte, uns hier zu empfangen. Mein Vater will es nur zu einem Skandal bringen, wozu er den nötig hat – das weiß ich nicht; doch wird er dabei schon auf seine Rechnung kommen. Er hat bei allem, was er tut, seine besondere Rechnung; übrigens glaube ich zu wissen, wozu ...“ „Natürlich beschuldigen sie mich alle, alle beschuldigen sie mich!“ rief seinerseits der alte Karamasoff; „auch Pjotr Alexandrowitsch beschuldigt mich! Das haben Sie getan, Pjotr Alexandrowitsch, das haben Sie ...!“ rief er plötzlich, sich zu Miussoff umdrehend, heftig, obgleich es diesem gar nicht eingefallen war, ihm zu widersprechen. „Man beschuldigt mich, ich soll das Geld meiner Kinder in meine Stiefel gesteckt haben und allen das Fell über die Ohren ziehen. Aber erlauben Sie, gibt es denn etwa kein Gericht? Dort würde man Ihnen, Dmitrij Fedorowitsch, nach Ihren eigenen Quittungen, Briefen und Kontrakten sofort verrechnen, wieviel Sie besaßen, wieviel Sie durchgebracht haben und wieviel Ihnen übrigbleibt! Warum vermeidet es Pjotr Alexandrowitsch, die Sache vors Gericht zu bringen? Dmitrij Fedorowitsch ist ihm doch kein Fremder! Er tut’s aber nicht, weil alle auf mich loshacken; Dmitrij Fedorowitsch jedoch ist mir in Summa noch schuldig, und nicht etwas, sondern viele Tausende, was ich mit allen Dokumenten beweisen kann! Die ganze Stadt schnattert ja von seinen überall bekannten Trinkgelagen! Dort aber, wo er in Garnison stand, dort hat er tausend oder zweitausend Rubel hinausgeworfen, um ehrsame Mädchen zu verführen; ja ja, das wissen wir, Dmitrij Fedorowitsch, samt allen sekreten Ausführlichkeiten, – das kann ich gleichfalls beweisen ... Heiligster Vater, werden Sie’s glauben: hat das edelste aller Mädchen bestrickt, eine Tochter aus gutem Hause, mit einem Kapital, die Tochter seines früheren Kommandeurs, eines tapferen, verdienten Obersten, der schon Orden und sogar die Anna mit den Schwertern am Halse trug, hat das Mädchen mit einem Heiratsantrag kompromittiert; jetzt ist sie hier, ist Waise, seine Braut; er aber geht vor ihren Augen mit einer hiesigen Kurtisane. Und wenn auch diese Dame mit einem ehrenwerten Menschen in sozusagen bürgerlicher Ehe gelebt hat, so ist sie doch, was den Charakter anbetrifft, sehr unabhängig, ist für alle eine uneinnehmbare Festung, als ob sie eine rechtmäßige Frau wäre; denn sie ist tugendhaft – ja! meine heiligen Väter, sie ist tugendhaft! Und Dmitrij Fedorowitsch will nun diese Festung mit goldenem Schlüssel öffnen, weswegen er sich denn jetzt auf das Geld, das ich ihm schulden soll, versteift, es herauspressen will; inzwischen aber hat er schon Tausende ihretwegen verzettelt. Ihretwegen borgt er ununterbrochen Geld, und unter anderem auch bei wem, was glauben Sie wohl? Soll ich’s sagen oder nicht, Mitjä!“ „Schweigen Sie!“ schrie Dmitrij Fedorowitsch. „Warten Sie, bis ich hinausgegangen bin; aber in meiner Gegenwart dürfen Sie sich nicht unterstehen, das edelste Mädchen, die Tochter meines Kommandeurs, zu beschimpfen ..., allein schon, daß Sie überhaupt nur ein Wort von ihr gesagt haben, ist eine Schmach für sie ... Das erlaube ich nicht!“ Er war atemlos. „Mitjä! Mitjä!“ rief schwachnervig der Alte und preßte sich Tränen aus den Augen. „Wozu gibt es denn einen Vatersegen? Was aber dann, wenn ich dich verfluche?“ „Unverschämter Heuchler!“ schrie ihn Dmitrij Fedorowitsch wütend an. „Das sagt er dem Vater, dem Vater! Was wird er dann noch den anderen sagen? Meine Herren, stellen Sie sich vor: Hier ist ein armer, doch ehrenwerter Mensch, ein verabschiedeter Hauptmann; er hat Unglück gehabt und den Abschied bekommen, doch nicht durch ein Urteil, sondern ohne seiner Ehre verlustig zu gehen; wohnt hier mit seiner zahlreichen Familie. Vor drei Wochen aber hat ihn unser Dmitrij Fedorowitsch im Restaurant am Bart gepackt und ihn an diesem selben Bart hinaus auf die Straße gezogen, wo er ihn dann öffentlich durchgeprügelt hat, und das nur darum, weil jener in einer gewissen Angelegenheit mein heimlicher Bevollmächtigter ist.“ „Nichts als Lüge! Von außen sieht es wie Wahrheit aus, doch inwendig ist nichts als Lüge!“ rief Dmitrij Fedorowitsch zitternd vor Wut. „Ich will meine Handlungen nicht rechtfertigen; ja, ich gestehe selbst vor allen Menschen: Ich habe wie ein Tier an diesem Hauptmann gehandelt, und meine tierische Wut tut mir jetzt leid, ich schäme mich deswegen; aber dieser Hauptmann, Ihr Bevollmächtigter, war zu dieser selben Dame gegangen, von der Sie äußerten, daß sie eine Kurtisane sei, und hatte ihr in Ihrem Namen vorgeschlagen, sie solle alle meine Wechsel, die sich in Ihren Händen befinden, nehmen und sie einklagen, um mich auf diese Weise, wenn ich mit meiner Vermögensabrechnung Ihnen zu sehr auf den Hals rücke, einfach ins Gefängnis zu bringen. Und Sie machen mir jetzt meine Gefühle für diese Dame zum Vorwurf, während Sie sie doch selbst gelehrt haben, mich zu fangen! Sie erzählte es ja Allen ganz offen; sie hat es mir selbst erzählt und sich dabei über Sie lustig gemacht! Ins Gefängnis aber wollen Sie mich nur darum bringen, weil Sie ihretwegen auf mich eifersüchtig sind, weil Sie selbst begonnen haben, sich mit Ihrer gemeinen Liebe dieser Dame zu nähern, und das weiß ich wiederum durch sie selbst, und sie hat es mir wiederum lachend – hören Sie! – über Sie lachend erzählt. Da sehen Sie jetzt, meine heiligen Väter, wie dieser Mensch ist, dieser dem ausschweifenden Sohne Vorwürfe machende Vater! Meine Herren, verzeihen Sie mir meinen Zorn; aber ich ahnte ja schon, daß dieser verschlagene, hinterlistige Greis Sie alle hier zusammengerufen hat, um es zu einem Skandal zu bringen. Ich kam her, um zu verzeihen, wenn er mir seine Hand entgegengestreckt hätte, und selbst um Verzeihung zu bitten! Da er aber hier nicht nur mich beleidigt hat, sondern auch das edelste Mädchen, deren Namen ich aus Hochachtung nicht unnütz aussprechen will, so entschloß ich mich, sein ganzes Spiel aufzudecken, obgleich er doch mein Vater ist ...“ Er konnte nicht weitersprechen. Seine Augen blitzten, und er atmete schwer. Doch auch die anderen in der Zelle Anwesenden waren erregt. Außer dem Staretz erhoben sie sich alle von ihren Plätzen; die beiden Priestermönche blickten streng drein, warteten aber ab, was der Staretz sagen werde. Der war ungewöhnlich bleich, doch nicht vor Aufregung, sondern infolge seiner krankhaften Schwäche. Ein flehendes Lächeln lag auf seinen Lippen; zuweilen erhob er die Hand, wie um die Tobenden aufzuhalten, und natürlich hätte eine Bewegung von ihm genügt, um den ganzen Auftritt zu beenden; aber er schien es selbst nicht zu wollen, schien noch irgend etwas abzuwarten und beobachtete nur aufmerksam, als ob er noch etwas begreifen wollte, als ob er sich über irgend etwas noch nicht klar geworden sei. Endlich unterbrach Miussoff, der sich endgültig erniedrigt und beschimpft fühlte, das Schweigen. „An diesem Skandal sind wir alle schuld!“ sagte er erregt, „doch immerhin habe ich mir so etwas nicht träumen lassen, als ich herkam, obgleich ich wußte, mit wem ich es zu tun hatte ... Dem muß sofort ein Ende gemacht werden! Ehrwürden, glauben Sie mir, daß mir alle hier zutage gekommenen Einzelheiten nicht bekannt waren; ich hätte sie nicht für möglich gehalten, erst jetzt erfahre ich zum erstenmal ... Der Vater ist auf den Sohn eifersüchtig wegen eines Weibes, das ein unanständiges Leben führt, und verabredet sich selbst mit diesem gemeinen Geschöpf, den Sohn ins Gefängnis zu bringen! ... Und in solch einer Gesellschaft hat man mich herzukommen gezwungen ... Ich bin betrogen worden! Und ich erkläre hiermit, daß ich nicht weniger als alle anderen betrogen worden bin ...“ „Dmitrij Fedorowitsch!“ rief plötzlich mit einer ganz sonderbaren, ihm ganz fremden Stimme Fedor Pawlowitsch: „Wenn Sie nicht mein Sohn wären, so würde ich Sie unverzüglich fordern ... auf Pistolen, auf drei Schritt Distanz ... übers Schnupftuch, übers Schnupftuch!“ schrie er, mit den Beinen stampfend. Es kommt zuweilen vor, daß alte Lügner, die sich ihr ganzes Leben lang verstellt haben, plötzlich vor Erregung tatsächlich zittern und weinen – wenn sie sich in ihrer Verstellung schon gar zu sehr verrannt haben –, ungeachtet dessen, daß sie sich selbst noch im selben Augenblick – oder noch vor einer Sekunde – haben zuflüstern können: „Du bist ja doch ein Lügner, alter schamloser Narr; bist ja auch jetzt ein Komödiant trotz deines ganzen ‚heiligen‘ Zornes.“ Dmitrij Fedorowitschs Gesicht verfinsterte sich unheimlich, und mit unbeschreiblicher Verachtung blickte er auf seinen Vater. „Ich glaubte ... ich glaubte,“ sagte er sonderbar leise und zurückhaltend, „ich würde mit meinem Schutzengel, mit meiner Braut, in die Heimat zurückkehren, um ihn hier im Alter zu pflegen, und jetzt sehe ich vor mir nur einen ausschweifenden Lüstling und den gemeinsten Komödianten!“ „Auf Pistolen!“ schrie wieder der Alte atemlos, und Speichel spritzte bei jedem Wort von seinen Lippen. „Sie aber, Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, merken Sie sich, mein Verehrtester, daß es vielleicht in Ihrer ganzen Sippe – weder jetzt noch früher – kein höheres und ehrenwerteres – hören Sie, ehrenwerteres – Weib jemals gegeben hat als dieses ‚gemeine Geschöpf‘, wie Sie jene Dame vorhin zu nennen wagten! Sie aber, Dmitrij Fedorowitsch, haben gegen dieses ‚gemeine Geschöpf‘ Ihre Braut eingetauscht, somit also selbst gefunden, daß Ihre Braut nicht einmal deren Schuhsohlen wert ist, derart ist also dieses Geschöpf!“ „Welch eine Schmach!“ entrang es sich dem Pater Jossiff. „Ja, eine Schmach und eine Schande ist es!“ rief plötzlich Kalganoff, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, mit seiner brechenden und vor Erregung zitternden Stimme und wurde über und über rot. „Wozu lebt solch ein Mensch!“ stieß fast außer sich vor Wut, fast brüllend, Dmitrij Fedorowitsch hervor, wobei er ganz absonderlich die Schultern hob, so daß er beinahe gekrümmt aussah. „Nein, sagt mir doch, kann man es noch länger zulassen, daß er mit seiner Person die Erde schändet?“ Er blickte sich, auf seinen Vater weisend, im Kreise um. Er sprach langsam und gemessen. „Hört ihr, hört ihr, Mönche, den Vatermörder!“ damit stürzte sich Fedor Pawlowitsch auf den Pater Jossiff. „Das ist die Antwort auf Ihr ‚welch eine Schmach!‘ Was ist eine Schmach? Dieses ‚gemeine Geschöpf‘, dieses Weib, das ein ‚unanständiges Leben führt‘, ist vielleicht heiliger als ihr selber, meine Herren Hieromonachen, die ihr hier euer Seelenheil sucht! Sie ist vielleicht in ihrer Jugend gefallen, als Opfer ihrer Umgebung; sie hat eben ‚viel geliebt‘; jenem Weibe aber, das ‚viel geliebt‘ hatte, wurde von Christus alles vergeben ...“ „Christus hat ihr nicht für diese Liebe vergeben ...“ stieß ungeduldig der sonst so sanfte Pater Jossiff hervor. „Nein, für diese, für diese selbe, hört ihr, Mönche, gerade für diese! Ihr sucht hier in Sauerkraut euer Seelenheil und glaubt, daß ihr Gerechte seid! Ihr eßt bloß Gründlinge, pro Tag ’nen einzigen Gründling, und glaubt mit Fischfleisch Gott zu kaufen!“ „Unmöglich, unmöglich!“ hörte man in der Zelle von allen Seiten. Doch diese ganze, bis zur Unanständigkeit getriebene Szene sollte in der unvorhergesehensten Weise enden. Plötzlich erhob sich der Staretz von seinem Platz. Aljoscha gelang es noch, obgleich er vor Angst um ihn und um die anderen seine Geistesgegenwart ganz verloren hatte, ihn beim Aufstehen mit der Hand zu stützen. Der Staretz schritt der Richtung nach auf Dmitrij Fedorowitsch zu, und als er bei ihm angelangt war, dicht vor ihm stand – fiel er plötzlich vor ihm auf die Knie nieder. Aljoscha glaubte zuerst, er sei vor Schwäche zu Boden gefallen, doch das war es nicht. Nachdem der Staretz niedergekniet war, verneigte er sich vor Dmitrij Fedorowitsch in einer vollen, deutlichen, bewußten Verbeugung und berührte sogar mit der Stirn den Boden. Aljoscha war so verwundert, daß er ihm nicht einmal half, aufzustehen. Ein schwaches Lächeln schimmerte kaum merklich auf seinen Lippen. „Verzeihen Sie, verzeihen Sie alle!“ sagte er, sich nach allen Seiten hin vor seinen Gästen verneigend. Dmitrij Fedorowitsch stand eine Weile wie vom Schlag gerührt: vor _ihm_ eine Verbeugung bis zur Erde – was war das? ... „O Gott!“ stammelte er endlich und stürzte, das Gesicht mit den Händen bedeckend, aus dem Zimmer hinaus. Ihm folgten hastig alle anderen Gäste, die in der Verwirrung ganz vergaßen, sich noch vom Staretz zu verabschieden. Nur die beiden Priestermönche baten ihn wieder um seinen Segen. „Was war denn das für eine Verbeugung bis zur Erde, wohl wieder mal was Symbolisches?“ versuchte der plötzlich aus irgendeinem Grunde ganz zahm gewordene Fedor Pawlowitsch ein Gespräch zu beginnen; übrigens wagte er nicht, seine Frage an jemanden persönlich zu stellen. In diesem Augenblick verließen sie gerade die Einsiedelei. „Für eine Irrenanstalt und Verrückte bin ich nicht verantwortlich,“ entgegnete sofort Miussoff bissig, „dafür aber verzichte ich auf Ihre Gesellschaft, Fedor Pawlowitsch, und das, glauben Sie mir, ein für allemal! Wo ist denn dieser Mönch ...?“ „Dieser Mönch“, d. h. jener, der sie zum Prior zu Tisch gebeten hatte, ließ nicht auf sich warten. Als sie hinaustraten, sahen sie ihn an der Treppe stehen, als ob er sie die ganze Zeit erwartet hätte. „Haben Sie die Güte, verehrter Pater,“ sagte Miussoff gereizt zu ihm, „mich gehorsamst Seiner Hochwürden zu empfehlen, mich selbst aber, Miussoff, zu entschuldigen, da ich infolge plötzlich eingetretener und unvorhergesehener Umstände unmöglich die Ehre haben kann, trotz meines aufrichtigen Wunsches, an seiner Mahlzeit teilzunehmen.“ „Aber dieser unvorhergesehene Umstand – das bin ja _ich_!“ griff sofort Fedor Pawlowitsch auf. „Hören Sie, Pater, Pjotr Alexandrowitsch will ja bloß nicht mit mir zusammen hingehen, sonst aber würde er mit Handkuß hingehen! Und Sie werden’s auch, Pjotr Alexandrowitsch; haben Sie die Güte, zum Pater Prior zu gehen, und – ich wünsche Ihnen vorzüglichen Appetit! Denn ich bin es, der sich zurückzieht, nicht Sie. Zu Hause, zu Hause werde ich essen, hier aber fühle ich mich unfähig dazu, Pjotr Alexandrowitsch, mein allerliebster Anverwandter!“ „Ich bin nicht Ihr Anverwandter und bin es nie gewesen, Sie niedriger Mensch!“ „Das habe ich ja absichtlich gesagt, um Sie so ein wenig zu necken, da Sie sich so gern von der Verwandtschaft lossagen wollen, obgleich Sie doch immer mein lieber Verwandter bleiben, da helfen Ihnen keine Finten, kann’s Ihnen in den Kirchenbüchern nachweisen. Dir, Iwan, werde ich schon zur rechten Zeit die Pferde herschicken; bleib also hier, wenn du willst. Ihnen aber, Pjotr Alexandrowitsch, gebietet sogar der Anstand, jetzt zu seiner Hochehrwürden zu gehen; man muß doch seine Entschuldigung machen für das, was wir dort beide losgeschossen haben ...“ „Ja, ist es denn auch wahr, daß Sie zurückfahren wollen? Lügen Sie nicht wieder einmal?“ „Pjotr Alexandrowitsch, wie sollte ich das, nach allem, was geschehen ist! Habe mich hinreißen lassen! Bin aber erschüttert! Und man schämt sich doch, weiß Gott. Meine Herrschaften, der eine hat ein Herz wie Alexander der Große, der andere aber – wie ein Schoßhündchen Fidelka. Nun, ich habe letzteres. Habe Angst bekommen! Wie soll ich denn noch nach solch einer Eskapade zu einem Mittagsmahle gehen und Klostersaucen schlecken? Schäme mich, kann nicht, entschuldigen Sie mich!“ „Weiß der Teufel, wie aber, wenn er mich wieder betrügt!“ dachte nachdenklich Miussoff, der stehen geblieben war und mit fragend mißtrauischem Blick der Gestalt des sich entfernenden alten Narren folgte. Da wandte sich jener noch einmal um, und da er Miussoffs beobachtenden Blick bemerkte, warf er ihm eine Kußhand zu. „Und Sie? Werden Sie zum Prior gehen?“ fragte Miussoff schroff Iwan Fedorowitsch. „Warum denn nicht? Und zudem hat mich der Prior gestern noch besonders eingeladen.“ „Zum Unglück fühle ich mich wirklich fast verpflichtet, zu diesem verfluchten Mittagsmahl zu gehen,“ fuhr Miussoff mit derselben Gereiztheit bitter fort, ohne weiter zu beachten, daß der kleine Mönch dabei war und alles hörte. „Man muß dort wenigstens seine Entschuldigung machen wegen der Geschichten, die wir hier angerichtet haben, und erklären, daß nicht wir es gewesen sind ... Was meinen Sie?“ „Ja, man muß erklären, daß nicht wir es gewesen sind. Und mein Vater wird ja nicht dabei sein,“ meinte Iwan Fedorowitsch. „Das fehlte noch! Mit Ihrem Vater! Dieses verfluchte Mittagsmahl!“ Einstweilen gingen sie doch alle drei. Der kleine Mönch schwieg und spitzte die Ohren. Unterwegs, als sie durch das Wäldchen gingen, bemerkte er nur einmal, daß Seine Hochwürden schon lange warteten und sie sich um eine ganze halbe Stunde verspätet hätten. Er erhielt aber keine Antwort. Miussoff blickte haßerfüllt Iwan Fedorowitsch von der Seite an: „Und er geht auch wirklich hin, als wäre überhaupt nichts vorgefallen!“ dachte er bei sich. „Eherne Stirn und Karamasoffsches Gewissen!“ VII. Der Seminarist und Streber Aljoscha führte seinen Staretz in das kleine Schlafgemach und ließ ihn sich auf das Bett niedersetzen. Es war ein kleines Zimmer, in dem nur die notwendigsten Möbel standen. Das eiserne Bett war klein und schmal, und auf ihm lag anstatt einer Matratze nur eine Filzdecke. In der Ecke unter den Heiligenbildern stand sein Lesepult, und auf ihm lagen ein Kreuz und die Bibel. Der Staretz sank erschöpft auf das Bett; seine Augen glänzten, und er atmete nur schwer. Nachdem er sich gesetzt hatte, richtete er seinen Blick auf Aljoscha und betrachtete ihn aufmerksam, als ob er über etwas nachdächte. „Geh, mein Liebling, geh, Porfirij wird hier bei mir bleiben, du aber mußt dich beeilen. Du bist dort nötig, geh zum Prior, bediene beim Essen.“ „Bitte, erlauben Sie mir, hier zu bleiben,“ bat Aljoscha leise. „Du bist dort nötiger. Dort herrscht kein Friede. Du wirst dich nützlich machen können. Wenn die Dämonen sich erheben, so sprich ein Gebet. Und wisse, mein Sohn“ (der Staretz liebte es, ihn so zu nennen), „daß auch hinfort nicht hier dein Platz ist. Denk daran, Jüngling. Wenn es Gott gefallen wird, mich in die Ewigkeit abzurufen – so gehe fort aus dem Kloster. Verlaß es ganz.“ Aljoscha fuhr zusammen. „Was hast du? Nicht hier ist jetzt dein Platz. Ich segne dich zu deiner großen Aufgabe in der Welt. Lang ist noch deine Wanderschaft, mein Sohn. Und auch heiraten wirst du müssen, Jüngling, du mußt es. Alles wirst du ertragen müssen, bis du wieder da anlangst, von wo du ausgegangen bist. Und du wirst viel zu tun haben. Doch an dir zweifle ich nicht und darum schicke ich dich. Christus ist mit dir. Bewahre du ihn, so wird auch er dich bewahren. Großes Leid wirst du erfahren, und in diesem Leid wirst du glücklich sein. Und hier hast du mein Vermächtnis: Suche im Leid das Glück. Arbeite, arbeite unermüdlich. Behalte hinfort meine Worte, denn wenn ich auch noch mit dir sprechen werde, so sind doch nicht nur meine Tage, sondern selbst meine Stunden gezählt.“ Im Antlitz Aljoschas drückte sich wieder eine mächtige Bewegung aus. Seine Mundwinkel zitterten. „Was hast du nur wieder?“ fragte sanft lächelnd der Staretz. „Mögen weltliche Tränen ihre Sterbenden begleiten, hier aber freuen wir uns des in die Ewigkeit Eingehenden. Wir freuen uns und beten für ihn. Geh jetzt. Ich muß beten. Gehe und beeile dich. Sei bei deinen Brüdern. Nicht nur bei einem, sondern bei beiden, mein Sohn.“ Der Staretz erhob die Hand zum Segen. Aljoscha wagte nicht, zu widersprechen, obwohl er so gern bei ihm geblieben wäre. Auch wollte er noch fragen, und schon schwebte ihm die Frage auf der Zunge, was diese Verbeugung bis zur Erde vor seinem Bruder Dmitrij bedeuten sollte? – Aber er wagte es nicht. Er wußte, daß der Staretz es ihm auch ungefragt gesagt haben würde, wenn es möglich gewesen wäre. Also hatte er es selbst nicht gewollt. Diese Verbeugung aber hatte auf Aljoscha einen furchtbaren Eindruck gemacht; er glaubte blind, daß in ihr ein geheimnisvoller Sinn lag – eine geheimnisvolle und vielleicht entsetzliche Bedeutung. Als er aus der Einfriedung der Einsiedelei trat, um noch zur rechten Zeit ins Kloster zum Mittagsmahl des Priors zu gelangen, natürlich, nur um bei Tisch zu bedienen, zog sich ihm plötzlich schmerzhaft das Herz zusammen, und er blieb stehen: In seinen Ohren erklangen von neuem die Worte des Staretz, die seinen nahen Tod verkündet hatten. Was aber der Staretz vorhersagte und noch dazu mit solch einer Bestimmtheit, das mußte auch in Erfüllung gehen – dieser Glaube war für Aljoscha heilig. Wie aber sollte er dann ohne ihn bleiben, wie ihn nicht mehr sehen, wie ihn nicht mehr hören? Und wohin sollte er dann gehen? Nicht weinen und das Kloster verlassen, o Gott! Lange schon hatte Aljoscha nicht mehr so großes Leid empfunden. Er schritt schneller durch den Wald, der die Einsiedelei vom Kloster trennte, und da ihn seine Gedanken fast erdrückten, blickte er hinauf in die Wipfel der hundertjährigen Kiefern zu beiden Seiten des schmalen Waldwegs. Es war nicht weit bis zum Kloster: fünfhundert Schritt, nicht mehr. Zu dieser Tageszeit hätte er eigentlich niemanden treffen können, doch plötzlich erblickte er bei einer Wegbiegung Rakitin, den Seminaristen, der jemanden zu erwarten schien. „Wartest du etwa auf mich?“ fragte Aljoscha, als er ihn erreicht hatte. „Hast’s erraten,“ antwortete Rakitin. „Du begibst dich zum Prior. Ich weiß; bei ihm gibt es heute wieder ein Essen. Seitdem er damals den Bischof und den General Pachatoff aufgenommen, weißt du noch, hat es bei ihm solch ein Mahl nicht mehr gegeben. Ich werde nicht dabei sein, du aber geh mal hin, um die Saucen zu reichen. Sage mir aber vorher eines, Alexei: Was hat diese Vision des Staretz zu bedeuten? Das ist es, was ich dich fragen will.“ „Welch eine Vision?“ „Nun, diese Verbeugung vor deinem Brüderlein Dmitrij Fedorowitsch. Und wie er noch mit der Stirn auf den Boden knallte!“ „Du sprichst vom Staretz Sossima?“ „Von wem denn sonst?“ „Knallte? ...“ „Ach so, hab mich unehrerbietig ausgedrückt. Nun, meinetwegen. Aber was hat denn diese Vision zu bedeuten?“ „Ich weiß es nicht, Mischa, was sie zu bedeuten hat.“ „Das konnte ich mir ja denken, daß er’s dir nicht erklären würde. Gescheites steckt dabei natürlich nichts dahinter; wie’s scheint, wieder nur die ewigen Heilsdummheiten. Aber das Kunststück wurde absichtlich gemacht. Jetzt werden alle Kirchenschwalben in der Stadt losschnattern, und dann wird’s vom einen zum anderen durch das ganze Gouvernement gehen: ‚Was hat wohl diese Vision zu bedeuten?‘ Der Alte ist ja wirklich mit Seherkraft begabt: hat ein Kriminalverbrechen gewittert. Es stinkt bei euch.“ „Was für ein Kriminalverbrechen?“ Augenscheinlich wollte Rakitin etwas sagen. „Dasselbe, das in eurer Familie begangen werden wird. Und zwar wird es zwischen deinen Brüdern und deinem reichen Papachen unbedingt dazu kommen. Und so hat denn Sossima auf alle zukünftigen Fälle mit der Stirn den Fußboden berührt. Was dann später auch geschehen mag, jedenfalls wird’s heißen: ‚Ach, das hat doch der heilige Staretz prophezeit,‘ – obgleich, sage doch selbst, was soll denn das für eine Prophezeiung sein? Nein, das war sozusagen eine sinnbildliche, eine allegorische Handlung, und weiß der Teufel, was noch! Man wird’s ausposaunen und behalten: Hat das Verbrechen vorausgesehen, den Verbrecher erkannt. Alle sich blödsinnig stellenden Stadtverrückten tun dasselbe: Bekreuzen sich vor der Schenke, auf die Kirche aber werfen sie Steine. So tut’s auch dein Staretz: Den Gerechten mit dem Knüppel raus, dem Mörder aber eine Verbeugung bis zur Erde.“ „Was für ein Verbrechen? Welch einem Mörder? Was sagst du?“ Aljoscha stand wie erstarrt, da blieb auch Rakitin stehen. „Welch einem? Als ob du’s nicht wüßtest? Ich könnte wetten, daß du schon selbst daran gedacht hast. Aber wart mal, das ist ja ganz interessant: Hör, Aljoscha, du sagst doch immer die Wahrheit, wenn du dich auch immer zwischen die Stühle setzt: hast du daran gedacht, oder hast du nicht daran gedacht, antworte?“ „Ich habe daran gedacht,“ antwortete Aljoscha leise. Selbst Rakitin wurde etwas verlegen. „Was du sagst? Also auch du hast schon daran gedacht?“ rief er erstaunt. „Ich ... ich ... nicht gerade, daß ich gedacht habe,“ murmelte Aljoscha, „als du aber jetzt anfingst, so sonderbar darüber zu sprechen, da schien es mir, daß ich selbst daran gedacht habe.“ „Siehst du, und wie deutlich du das ausdrückst! Also heute hast du beim Anblick deines Papachen und deines Brüderleins Mitjenka an ein Verbrechen gedacht? Also täusche ich mich doch nicht?“ „Aber wart, wart doch,“ unterbrach ihn erregt Aljoscha, „woraus schließt du das alles? ... Und vor allen Dingen: Warum beschäftigt dich das so?“ „Zwei verschiedene Fragen auf einmal, doch sind sie beide verständlich. Ich werde jede einzeln beantworten. Woraus ich das schließe? Nichts würde ich hieraus schließen, wenn ich deinen Bruder Dmitrij Fedorowitsch heute nicht ganz erkannt hätte, ganz plötzlich, und ganz und gar durchschaut hätte. An so einem einzigen Zuge begriff ich mit einem Schlage den ganzen Menschen. Bei diesem allerehrlichsten, doch wollüstigen Menschen gibt es eine Grenze, die man nicht überschreiten darf, oder er spießt mit seinem Messer selbst das Papachen auf. Papachen aber ist ein stets besoffener und zügelloser Wüstling, niemals und in nichts wird er maßzuhalten verstehen, wie er es nie verstanden hat – sie werden sich beide nicht beherrschen und plumps, beide in den Graben purzeln ...“ „Nein, Mischa, nein, wenn es nur das ist, so ... so hast du mich beruhigt. Dazu wird es nicht kommen.“ „Warum aber zitterst du am ganzen Körper? Weißt du was? Mag er auch ein ehrlicher Mensch sein, der Mitjenka – er ist dumm, aber ehrlich; aber, aber er ist ein Wollüstling. Das ist die richtige Bezeichnung für sein ganzes inneres Wesen. Und das hat er vom Vater, der hat ihm seine gemeine Lüsternheit vermacht. Ich muß mich immer nur über dich wundern, Aljoscha: Wie bist du noch so ganz Knabe? Du bist doch auch ein Karamasoff! Ist doch in eurer Familie die Sinnlichkeit bis zur chronischen Entzündung gesteigert. Nun, und diese drei Wollüstlinge beobachten jetzt einer den anderen ... mit Messern in den Stiefelschäften. Drei sind mit den Köpfen aneinandergestoßen, du aber bist vielleicht der vierte.“ „Aber in ihr täuschst du dich. Dmitrij ... verachtet sie,“ sagte Aljoscha fast zusammenzuckend. „Wen, Gruschenka etwa? Nein, mein Lieber, die verachtet er nicht! Wenn er sogar seine Braut gegen sie eingetauscht hat, so verachtet er sie nicht. Hier ... hier, weißt du, ist etwas, was du noch nicht verstehen kannst. Wenn sich der Mensch in irgendeine Schönheit, in den weiblichen Körper oder selbst nur in einen Teil des weiblichen Körpers verliebt – ein Wollüstling kann das wohl verstehen –, so gibt er für ihn seine eigenen Kinder hin, verkauft Vater und Mutter, Rußland und das Vaterland. Ist er ehrlich, so wird er stehlen gehen; ist er sanftmütig, so wird er morden; ist er treu – verraten. Puschkin, der Sänger der Weiberfüßchen, hat diese Füßchen in Gedichten besungen, andere besingen sie nicht, können aber auf diese Füßchen nicht ohne Erregung blicken. Und nicht nur auf die Füßchen ... Hier, mein Lieber, hilft keine Verachtung – selbst wenn er Gruschenka verachtete. Oder gut, er verachtet sie, kann sich aber doch nicht losreißen.“ „Das verstehe ich,“ platzte ganz unvermutet Aljoscha heraus. „Was du sagst? Mußt es ja wirklich verstehen, wenn es so plötzlich und so unverhofft aus dir herausfährt!“ rief schadenfroh Rakitin. „Es kam ja fast ganz aus Versehen aus dir heraus. Um so wertvoller das Geständnis: Also bereits bekanntes Thema für dich, hast schon darüber nachgedacht, über die Wollust! Ach, du unberührtes Mädchen! Du, Aljoscha, bist ein Duckmäuser, still und verschwiegen, schön, du bist ein Heiliger, gebe es zu, aber du bist verschlossen, und der Teufel mag wissen, woran du schon gedacht hast, was dir alles schon bekannt ist! Bist ’ne Jungfer und bist schon in solche Tiefen hinabgestiegen! Ich beobachte dich schon lange. Auch du bist ein Karamasoff, ein echter Karamasoff – also haben doch die Herkunft und der Stamm etwas zu bedeuten! Nach dem Vater Wollüstling, nach der Mutter geistesschwacher Heiliger. Warum zitterst du? Oder sage ich die Wahrheit? Weißt du was: Gruschenka hat mich gebeten, ‚bring ihn – das heißt also, dich – bring ihn her, ich werde ihm die Kutte abziehen.‘ Und wie sie noch gebeten hat: Bring ihn und bring ihn! Ich frage mich nur, wodurch du für sie so interessant bist? Weißt du, auch sie ist ein ungewöhnliches Weib!“ „Grüße sie und sage ihr, daß ich nicht kommen werde,“ sagte Aljoscha mit einem verzogenen Lächeln. „Du, Michail, sprich aus, was du vorhin sagen wolltest, ich werde dir dann auch meine Gedanken sagen.“ „Was ist hier auszusprechen, es ist doch klar. Das Ganze, mein Lieber, ist eine alte Geschichte. Wenn auch du schon in dir den Wollüstling fühlst, was ist dann dein Bruder Iwan, dein leiblicher Bruder? Auch er ist doch ein Karamasoff, darin besteht ja euer ganzes Karamasoffsches Problem: Wollüstlinge, Besitzgierige und Heilige! Dein Bruder Iwan schreibt jetzt vorläufig scherzweise aus irgendeiner theologischen, allerdümmsten, unbekannten Berechnung Zeitungsartikel, ist aber dabei Atheist, und diese Gemeinheit gesteht er zum Überfluß noch selbst ein, dieser dein Bruder Iwan. Außerdem will er seinem älteren Bruder die Braut abspenstig machen und wird, wie’s scheint, auch dieses Ziel erreichen. Und wie noch: mit Mitjenkas eigener Erlaubnis – denn Mitjenka tritt ihm ja selbst seine Braut ab, um sie vom Halse zu haben und von ihr schneller ganz zu Gruschenka übergehen zu können. Und das alles bei seiner edlen Denkweise und Uneigennützigkeit, vergiß das nicht! Der Teufel soll aus euch klug werden: Mitjä sieht seine Gemeinheit selbst ein und rennt doch mit dem Kopf voran in sie hinein! Höre weiter. Nun aber kommt der Alte und kreuzt Mitjenkas Weg – der Vater! Der ist doch jetzt plötzlich wie besessen hinter Gruschenka her; bei ihm fließt ja schon der Geifer aus den Mundwinkeln, wenn er sie bloß von weitem sieht; hat er doch nur ihretwegen in der Zelle diesen Skandal gemacht, weil Miussoff sich erdreistete, sie ein gemeines Geschöpf zu nennen; ist wie ein Kater in sie verliebt. Früher diente sie ihm bloß für Geld zu gewissen dunklen Trinkstubengeschäftchen, jetzt aber hat er sie entdeckt und ist wie rasend geworden, drängt sich täglich mit Anträgen, natürlich mit unanständigen, an sie heran. Nun und auf diesem Wege werden sie dann aneinanderprallen, das Papachen mit dem Söhnchen. Gruschenka aber entscheidet sich noch für keinen von beiden, macht vorläufig noch Winkelzüge und führt sie beide an der Nase herum, überlegt sich, welcher vorteilhafter wäre; denn wenn man dem Papachen auch viel Geld abzapfen könnte, so heiratet er dafür doch nicht, und womöglich wird er zum Schluß noch knickerig und hängt den Beutel höher oder schließt ihn ganz. In diesem Falle hat auch Mitjenka seinen Wert: Geld hat er zwar nicht, dafür aber ist er fähig, zu heiraten. Ja, dazu ist er fähig! Die Braut zu verlassen, Katerina Iwanowna, die schön, wunderschön, reich, adlig und die Tochter eines Obersten ist, und Gruschenka zu heiraten, die gewesene Maitresse eines alten, ausschweifenden Krämers, des Stadthaupts Ssamssonoff. Aus alledem kann wirklich ein Kriminalverbrechen zustande kommen, und darauf wartet nur dein Bruder Iwan, dann würde er in der Wolle sitzen: würde Katerina Iwanowna, nach der er vor Sehnsucht vergeht, erwerben und dazu noch die Sechzigtausend ihrer Mitgift schnappen. Für einen Habenichts, wie er, ist das für den Anfang sehr verlockend. Und vergiß dabei nicht: nicht nur, daß er Mitjä damit nicht beleidigt, er verpflichtet ihn sich noch bis zum Grabe. Ich weiß doch, daß Mitjä selbst noch in der vergangenen Woche im Gasthaus geschrien hat, nachdem er sich in Gesellschaft von Zigeunerinnen angetrunken, daß er seiner Braut, der Katjenka, nicht wert sei, sein Bruder Iwan aber, der sei es! Und was Katerina Iwanowna anbetrifft, so wird sie solch einen Bezauberer, wie Iwan Fedorowitsch, schließlich doch nicht verschmähen; sie schwankt ja schon jetzt zwischen beiden. Wodurch hat nur dieser Iwan euch alle dermaßen bestrickt, daß ihr ihn ausnahmslos so ehrfurchtsvoll verehrt? Er lacht doch einfach über euch: sitze in der Wolle, denkt er, und wärme mich auf eure Rechnung!“ „Woher weißt du das? Warum sprichst du so überzeugt?“ fragte plötzlich Aljoscha schroff und runzelte die Stirn. „Warum fragst du das jetzt, und warum fürchtest du meine Antwort schon im voraus? Gibst damit doch selbst zu, daß ich die Wahrheit gesagt habe.“ „Du magst ihn nicht; Iwan läßt sich nicht durch Geld verlocken.“ „Was du sagst? Und die Schönheit Katerina Iwanownas? Da handelt es sich nicht um Geld allein, obgleich sechzigtausend Rubel ein verlockendes Sümmchen sind.“ „Iwan denkt höher; ihn werden auch Tausende nicht anlocken. Iwan sucht nicht Geld, nicht Wohlleben. Vielleicht sind es Qualen, die er sucht.“ „Was soll denn das bedeuten? Ach, ihr Edelleute!“ „Ja, Mischa, seine Seele ist stürmisch, sein Verstand liegt in Fesseln; er trägt große, noch unentschiedene Gedanken mit sich. Er ist einer von denen, die nicht Millionen brauchen, sondern Probleme lösen müssen.“ „Literarischer Diebstahl, Aljoscha! Du kopierst deinen Staretz in schönen Phrasen. Und was für ein Rätsel euch dieser Iwan aufgegeben hat!“ sagte Rakitin mit unverhohlener Bosheit. Sein Gesicht veränderte sich sogar, und seine Lippen verzogen sich. „Und das Rätsel ist dazu noch dumm, ’s ist dabei nichts zu erraten! Streng dein Gehirn etwas an und denk mal nach, dann wirst du’s einsehen. Sein Artikel ist lächerlich und absurd. Und hörtest du vorhin seine dumme Theorie: ‚Gibt es keine Unsterblichkeit der Seele, so gibt es auch keine Tugend, folglich ist alles erlaubt.‘ – Und Mitjenka, weißt du noch, wie der ausrief: ‚Das werde ich mir merken!‘ – Wahrlich – eine verlockende Theorie für Spitzbuben ... Ich schimpfe wieder, das ist dumm ... nicht für Spitzbuben, sondern für schuljungenhafte Aufschneider – mit ‚unergründlicher Gedankentiefe‘. Ein Prahlhänschen, und der ganze Kern: ‚Einerseits ist es unmöglich, zuzugeben, und andererseits – ist es unmöglich, nicht anzuerkennen!‘ Seine ganze Theorie ist eine Gemeinheit. Die Menschheit wird in sich selbst die Kraft finden, für die Tugend zu leben, sogar ohne dabei an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben! In der Liebe zur Freiheit, zur Gleichheit, Brüderlichkeit wird sie sie finden ...“ Rakitin ereiferte sich dermaßen, daß er sich kaum noch beherrschen konnte. Doch plötzlich brach er ab, als ob ihm etwas eingefallen wäre. „Nun genug,“ meinte er mit schiefem Lächeln. „Warum lachst du? Denkst wohl, daß ich ein Hundsfott bin?“ „Nein, ich dachte nicht einmal daran, das zu denken. Du bist klug, aber ... laß gut sein, ich lächelte nur so aus Dummheit; ich verstehe, daß du dich ereiferst, Mischa. Aus deiner Erregung habe ich erraten, daß du selbst nicht gleichgültig bist gegen Katerina Iwanowna, und das, Freund, habe ich schon längst vermutet; darum aber liebst du auch meinen Bruder Iwan nicht. Bist du eifersüchtig auf ihn?“ „Und auf ihr Geld? Sag nur, was du denkst.“ „Nein, das werde ich nicht sagen; ich will dich nicht beleidigen.“ „Glaub’s, weil du es sagst. Aber der Teufel hole euch alle mitsamt eurem lieben Iwan! Kein einziger von euch will’s begreifen, daß man ihn auch ohne Katerina Iwanowna nichts weniger als lieben kann. Und warum soll ich ihn denn lieben, Teufel noch eins! Würdigt er mich doch dessen, sogar persönlich über mich zu schimpfen. Warum soll ich dann kein Recht haben, auch über ihn zu schimpfen?“ „Ich habe noch nie gehört, daß er etwas über dich gesagt hat, weder Gutes noch Schlechtes; er spricht überhaupt nicht von dir.“ „Ich aber habe gehört, daß er mich vor drei Tagen bei Katerina Iwanowna, was das Zeug hält, heruntergerissen hat – dermaßen also interessiert er sich für meine Wenigkeit. Und wer auf wen eifersüchtig ist – das weiß ich nicht! Er hat geruht, den Gedanken auszudrücken, daß ich, wenn ich mich nicht bald für die Karriere des Erzbischofs entscheide und mich nicht als Mönch einkleiden lasse, unbedingt nach Petersburg fahren würde, um dort an einer großen Zeitung anzukommen, unbedingt in die kritische Abteilung, um etwa zehn Jahre zu schreiben und dann das Blatt auf meinen Namen zu überführen. Darauf würde ich’s weiter herausgeben, und zwar unbedingt mit einer liberalen und atheistischen Tendenz, mit sozialistischer Färbung, doch dabei wohl auf der Hut sein, das heißt also, im Grunde weder auf dieser noch auf jener Seite stehen und den Eseln Sand in die Augen streuen. Das Ende meiner Karriere wäre nach der Weissagung deines lieben Brüderchens: daß die sozialistische Färbung mich nicht hindern würde, die Abonnementsgelder zurückzulegen und mit ihnen bei passender Gelegenheit unter Anleitung irgendeines Juden zu spekulieren, bis ich mir ein kapitales Haus in Petersburg aufgebaut habe, um in dasselbe die ganze Redaktion überzuführen und in die übrigen Etagen Mieter aufzunehmen. Er hat sogar den Platz fürs Haus schon bestimmt: an der neuen Steinbrücke, die jetzt, wie es heißt, in Petersburg vom Liteinyj auf die Wyborger Seite projektiert wird ...“ „Ach, Mischa, das wird doch auch genau so sein, aufs Wort genau!“ rief plötzlich Aljoscha aus und lachte fröhlich auf. „Ah – auch Sie ergehen sich in Sarkasmen, Alexei Fedorowitsch?“ „Nein, nein, ich scherzte nur, verzeih! Ich habe ganz anderes im Sinne. Aber erlaube: Wer hat dir das so bis in alle Einzelheiten erzählen können, von wem hättest du das hören können? Persönlich konntest du doch nicht bei Katerina Iwanowna sein, als er von dir sprach?“ „Ich war allerdings nicht bei ihr, dafür aber war Dmitrij Fedorowitsch dort, und so hörte ich es denn später mit eigenen Ohren von ihm, das heißt, wenn du willst, er sagte es nicht mir, sondern ich hörte es, unfreiwillig natürlich, denn ich saß in Gruschenkas Schlafzimmer und konnte nicht hinausgehen, solange er sich im vorderen Zimmer befand.“ „Ach richtig, ich hatte es fast vergessen, sie ist ja mit dir verwandt.“ „Verwandt? Gruschenka, diese Gruschenka mit mir verwandt?“ schrie Rakitin, ganz rot im Gesicht. „Du hast wohl den Verstand verloren! Deinem Gehirnkasten scheint ja die Vernunft völlig abhanden gekommen zu sein!“ „Wie, ist sie denn wirklich nicht mit dir verwandt? Ich habe es so gehört ...“ „Wo hast du das hören können? Nein, ihr, meine Herren Karamasoff, ihr spielt euch ja wahrlich als große, erhabene, alte Edelleute auf, während doch dein Vater als Narr von einem fremden Tisch zum anderen lief und Gnadenbrot aß! Gut, ich bin bloß ein Popensohn und vor euch Adligen nur eine Blattlaus, aber beleidigt mich deshalb nicht so sorglos auf Schritt und Tritt! Auch ich habe eine Ehre, Alexei Fedorowitsch. Ich kann nicht mit Gruschenka verwandt sein, mit einer öffentlichen Dirne, das bitte ich zu begreifen!“ Rakitin war ungewöhnlich gereizt. „Verzeih mir, um Gottes willen, ich konnte das doch nicht ahnen, und zudem – wieso ist sie denn eine öffentliche? Ist sie etwa ... so eine?“ fragte plötzlich errötend Aljoscha. „Ich versichere dir, ich habe es so gehört, daß du mit ihr verwandt sein sollst. Du gehst so oft zu ihr und hast mir dabei selbst gesagt, daß du mit ihr kein ... Liebesverhältnis hast ... Ich hätte daher nie gedacht, daß du sie so verachtest! Und hat sie das denn wirklich verdient?“ „Wenn ich sie besuche, so kann ich dazu meine Gründe haben; das mag dir genügen. Was aber die Verwandtschaft anbetrifft, so wird dein Brüderchen oder vielleicht sogar das Papachen eher dich mit dieser Verwandtschaft beglücken, als daß ich mit ihr verwandt wäre. So, da sind wir ja. Schieb mal jetzt in die Küche ab. O! was ist denn das, was hat das zu bedeuten? Etwa zu spät gekommen? Aber so schnell konnten sie doch nicht abspeisen? Oder haben hier wieder die Karamasoffs etwas Schönes angerichtet? Bestimmt wird’s so sein! Da kommt ja auch schon dein Papachen und hinter ihm Iwan Fedorowitsch. Kommen beide vom Prior heraus. Da ruft ihnen ja noch Pater Issidor etwas von der Treppe nach. Ah, und auch dein Vater schreit jetzt und fuchtelt mit den Armen, schimpft natürlich. Ah, und da fährt ja schon Miussoff in seinem Wagen fort, siehst du, dort fährt er. Und da läuft ja auch noch Maximoff – aber dort gibt’s unbedingt einen Skandal! Haben wohl überhaupt nicht gespeist! Oder sollten sie womöglich den Prior verprügelt haben? Oder selbst verprügelt worden sein? Das wäre was! ...“ Rakitin hatte es erraten. Es war tatsächlich zu einem Skandal gekommen, zu einem unerhörten und ganz unerwarteten Skandal. Und alles war „aus Begeisterung“ geschehen. VIII. Der Skandal Als Miussoff, Iwan Fedorowitsch und Kalganoff beim Prior eintraten, ging in ersterem als aufrichtigem, anständigem und feinfühligem Menschen eine in ihrer Art sehr delikate Veränderung vor sich: Er schämte sich plötzlich, sich noch zu ärgern. Er sagte sich, daß er den elenden Fedor Pawlowitsch im Grunde viel zu gering schätzen müßte, um seinetwegen die Kaltblütigkeit zu verlieren, wie er es in der Zelle des Staretz leider getan hatte. „Wenigstens sind die Mönche hier an nichts schuld,“ entschied er bei sich, als er die Treppe hinaufstieg, „und wenn auch hie anständige Leute sind – dieser Pater Nikolai, dieser Prior, ist, glaube ich, gleichfalls von adliger Herkunft –, warum soll ich dann nicht liebenswürdig und höflich mit ihnen sein? ... Werde nicht streiten, kann ja sogar beistimmen, nehme sie mit Liebenswürdigkeit und ... und ... beweise ihnen zum Schluß, daß ich nicht zur Gesellschaft dieses Aesop, dieses Narren, dieses Pierrot gehöre, und ebenso hereingefallen bin, wie sie alle ...“ Das umstrittene Recht auf das Waldfällen und den Fischfang (wo sich dieser Wald und diese Flußstelle befanden, wußte er selbst nicht einmal), beschloß er, ihnen endgültig abzutreten, ein für allemal, und das sofort (um so mehr, als das Ganze nur sehr wenig kostete), und alle seine Klagen gegen das Kloster zurückzuziehen. Diese guten und wohlgemeinten Vorsätze verstärkten sich noch mehr in ihm, als sie in das Speisezimmer des Priors eintraten. Übrigens war es nicht gerade ein Speisezimmer, da der Prior nur zwei Zimmer bewohnte, allerdings viel größere und bequemere als der Staretz. Doch die Einrichtung zeichnete sich ebensowenig durch Luxus aus: die Möbel waren aus rotem Holz mit Lederbezug, alt, Fasson der zwanziger Jahre; der Fußboden war sogar ungestrichen; dafür aber glänzte alles vor Sauberkeit, und vor den Fenstern standen viele teure Blumen. Das Schönste war in diesem Augenblick gewissermaßen der Tisch: das Tischtuch war blendend weiß, und alles, was darauf stand, glänzte gleichfalls vor Sauberkeit; drei Sorten prachtvoll gebackenes Brot, zwei Flaschen Wein, zwei Flaschen Met vom vorzüglichen Klosterhonig und eine große Glaskanne mit Kwas,[8] der im Kloster selbst gebraut wurde und in der ganzen Umgegend berühmt war. Schnaps gab es nicht. Rakitin wußte später zu erzählen, daß zu diesem Diner fünf Gänge bereitet worden waren: Es gab Sterletsuppe mit Fischpiroggen, dann einen ganz besonders zubereiteten Fisch, darauf in Scheiben gebratenen roten Fisch, Gefrorenes und Kompott, und zum Schluß noch eine süße Speise in der Art eines Blanc-manger. Das alles hatte Rakitin herausgeschnüffelt, war sogar zu diesem Zweck in die Küche des Priors gegangen, wo er noch von früher her seine Verbindungen hatte. Er hatte nämlich überall Verbindungen und verstand, alles zu erfahren, was er erfahren wollte. Er hatte ein unruhiges, neidisches Herz. Über seine ziemlich gute Begabung wußte er selbst vollkommen Bescheid, doch vergrößerte er sie noch in seinem Eigendünkel. Er wußte, daß er in seiner Art bestimmt ein Tatmensch sein werde; doch quälte Aljoscha, der ihm sonst sehr zugetan war, besonders das eine, daß sein Freund Rakitin unehrlich war und sich das entschieden nicht selbst eingestand, im Gegenteil, da er wußte, daß er niemals Geld vom Tisch stehlen würde, sich tatsächlich für einen über alles erhaben ehrlichen Menschen hielt. Daran konnte nicht nur Aljoscha, sondern überhaupt niemand etwas ändern. Rakitin war als tieferstehende Persönlichkeit natürlich nicht zur Tafel eingeladen, dafür aber waren es Pater Jossiff und Pater Paissij und mit ihnen noch ein dritter Priestermönch. Sie erwarteten bereits im Speisezimmer den Prior, als Miussoff, Kalganoff und Iwan Karamasoff eintraten. Desgleichen wartete noch abseits stehend der Gutsbesitzer Maximoff. Der Prior trat zur Begrüßung der Gäste bis in die Mitte des Zimmers vor. Es war ein hochgewachsener, magerer, noch kräftiger, alter Mann mit stark ergrautem, dunklem Haar, das ein langes, einfaches, doch bedeutendes Gesicht umrahmte. Schweigend begrüßte er die Gäste, die aber traten diesmal alle auf ihn zu, um den Segen zu empfangen. Miussoff beabsichtigte sogar, seine Hand zu küssen, doch der Prior zog noch vorher ganz unauffällig seine Hand so fort, daß es nicht zum Kusse kam. Dafür aber küßten sie Kalganoff und Iwan Karamasoff in der offenherzigsten und einfachsten Weise. „Wir müssen sehr um Entschuldigung bitten, Ew. Hochehrwürden,“ begann Miussoff lächelnd, doch immerhin in wichtigem und höflichem Ton, „daß wir allein kommen, ohne den gleichfalls von Ihnen eingeladenen Fedor Pawlowitsch; er war gezwungen, von Ihrer Aufforderung abzusehen, und nicht ohne Grund. In der Zelle beim ehrwürdigen Staretz Sossima ließ er sich, durch den unglücklichen Streit mit seinem Sohne aufgebracht, zu einigen durchaus unpassenden Worten hinreißen ... kurz, zu durchaus unanständigen Äußerungen ... was Ew. Hochehrwürden, wie es scheint“ (er warf einen Blick auf die beiden Priestermönche), „schon bekannt sein dürfte. Und darum, weil er selbst, wie gesagt, sich schuldig fühlt und aufrichtig bereut, schämte er sich, der freundlichen Aufforderung Folge zu leisten, und so bat er uns, mich wie seinen Sohn Iwan Fedorowitsch, Ihnen, Hochehrwürden, sein ganzes aufrichtiges Bedauern sowie seine Reue auszudrücken ... Kurz, er hofft, es später wieder gutmachen zu können, und läßt Sie jetzt nur um Ihren Segen und um gütiges Vergessenwollen des Vorgefallenen bitten ...“ Miussoff verstummte. Als er die letzten Worte seiner Tirade sprach, war er mit sich bereits vollkommen zufrieden, ja, er war es sogar dermaßen, daß von seinem ganzen Zorn in seiner Seele nicht einmal eine Spur nachblieb. Er liebte wieder aufrichtig die Menschheit. Der Prior, der ihm mit ernster Miene zugehört hatte, neigte ein wenig das Haupt und sagte zur Antwort: „Es tut mir aufrichtig leid um den Abwesenden. Vielleicht hätte er uns beim Mahle liebgewonnen, wie auch wir ihn. Ich bitte, meine Herren.“ Da geschah es aber, daß Fedor Pawlowitsch seinen letzten Streich spielte. Ich muß bemerken, daß er tatsächlich schon fortfahren wollte und wirklich die Unmöglichkeit empfand, nach seinem schmachvollen Betragen in der Zelle des Staretz zum Prior zur Tafel zu gehen, als ob nichts geschehen wäre. Es ist zwar nicht anzunehmen, daß er sich gar so sehr schämte oder selbst beschuldigte; vielleicht war sogar ganz das Gegenteil der Fall; doch wie dem auch war, jedenfalls fühlte er, daß es nicht anging, zur Tafel zu erscheinen. Als aber sein alter Wagen bei der Herberge vorfuhr und er sich anschickte, einzusteigen, fiel ihm plötzlich etwas ein: Es waren seine eigenen Worte, die er beim Staretz gesprochen hatte: „Es scheint mir immer so, wenn ich irgendwo eintrete, daß ich gemeiner als alle bin, und daß mich alle für einen Narren halten, und so denke ich denn: wart, werde jetzt absichtlich den Narren spielen, denn ihr seid doch alle bis auf den letzten, ohne Ausnahme, dümmer und gemeiner als ich.“ Er wollte sich an allen für seine eigenen Schändlichkeiten rächen. Und da fiel ihm auch noch ein, wie man ihn früher einmal gefragt hatte: „Warum hassen Sie denn diesen Menschen so sehr?“ und wie er darauf in einem Anfall seiner Narrenschamlosigkeit geantwortet hatte: „Warum? Sehen Sie: Er hat mir nichts getan, das ist wahr, dafür aber habe ich ihm eine gewissenlose Gemeinheit angetan, und kaum war es geschehen, da haßte ich ihn auch schon gerade deswegen.“ Als ihm jetzt diese Worte einfielen, lachte er in minutenlangem Nachdenken leise und boshaft vor sich hin. Seine Augen blitzten, und sogar die Lippen zitterten. „Wenn du angefangen hast, mußt du auch beenden,“ sagte er plötzlich entschlossen. Sein geheimstes Gefühl in diesem Augenblick hätte man in folgenden Worten ausdrücken können: „Jetzt kannst du dich ja doch nicht mehr rehabilitieren, geh einfach und spuck sie bis zur letzten Schamlosigkeit an: Seht, schäme mich nicht vor euch, und weiter nichts!“ Dem Kutscher befahl er, zu warten, er selbst aber kehrte mit schnellen Schritten ins Kloster zurück und begab sich geradeswegs zum Prior. Er wußte zwar noch nicht genau, was er machen würde, doch wußte er, daß er seiner nicht mehr mächtig war und sich – nach dem geringsten Anstoß – sofort bis zur letzten Grenze der Gemeinheit hinreißen lassen werde, – übrigens, nur bis zur letzten Grenze der Gemeinheit, keineswegs aber bis zu einem Verbrechen oder bis zu einem Ausfall, für den ihn das Gericht verurteilen könnte. In der Beziehung verstand er sich immer zu beherrschen, worüber er sich sogar selbst bei manchen Gelegenheiten nicht wenig wunderte. Er erschien also im Speisezimmer des Priors gerade in dem Augenblick, als das Gebet beendet war und alle zum Tisch traten. Er blieb auf der Schwelle stehen, betrachtete die Anwesenden und lachte ein langes, schamloses, boshaftes Gelächter, wobei er allen verwegen in die Augen blickte. „Und die glauben, ich sei fortgefahren!“ rief er laut durch den ganzen saalartigen Raum. Einen Moment blickten ihn alle unverwandt an, und plötzlich fühlten sie alle, daß sofort etwas Widerliches, Ungereimtes geschehen und zweifellos einen Skandal nach sich ziehen werde. Miussoff verfiel denn auch in einer Sekunde aus der edelsten Stimmung in die grimmigste Wut. Alles, was sich in seinem Herzen schon besänftigt hatte, erhob sich mit einem Schlage und brauste auf: „Nein, das ist zu viel!“ schrie er auf, „nein, das ertrage ich nicht ... auf keinen Fall!“ Das Blut schoß ihm in den Kopf. Er verwirrte sich sogar im Satz, doch war es ihm jetzt nicht mehr um die Ausdrucksformen zu tun. Er griff nach seinem Hut. „Was kann er auf keine Weise?“ fragte Fedor Pawlowitsch. „‚Erträgt es nicht und kann es nicht!‘ – was ist denn das, was er nicht kann? Ew. Hochehrwürden, soll ich eintreten oder nicht? Empfangen Sie den Gast?“ „Bitte, von ganzem Herzen,“ entgegnete der Prior. „Meine Herren! Darf ich mir erlauben,“ fügte er plötzlich hinzu, „Sie von ganzem Herzen zu bitten, ihren zufälligen Streit zu vergessen und sich in Liebe und verwandtschaftlicher Eintracht nach einem Gebet zu Gott an unserer bescheidenen und friedlichen Tafel zu vereinigen ...“ „Nein, nein, unmöglich,“ rief Miussoff ganz außer sich. „Wenn es Pjotr Alexandrowitsch unmöglich ist, so ist es auch mir unmöglich, auch ich will dann nicht bleiben. Mit diesem Vorsatz bin ich hergekommen. Von jetzt ab werde ich überall mit Pjotr Alexandrowitsch zusammen sein: Wenn Sie fortgehen, Pjotr Alexandrowitsch, so gehe auch ich, bleiben Sie – bleibe auch ich. – Mit der verwandtschaftlichen Eintracht haben Sie ihn am meisten verletzt, Hochehrwürden: Er will mich doch nicht als seinen Anverwandten anerkennen. Nicht wahr, von Sohn? Da ist ja auch von Sohn. Guten Tag, von Sohn.“ „Sie ... sagen das zu mir?“ fragte stotternd der verwunderte Gutsbesitzer Maximoff. „Versteht sich, zu dir!“ schrie Fedor Pawlowitsch, „zu wem denn sonst? Hochehrwürden kann doch nicht Herr von Sohn sein!“ „Aber auch ich bin doch nicht von Sohn, ich bin Maximoff.“ „Nein, du bist von Sohn. Ew. Hochehrwürden wissen wahrscheinlich nicht, wer von Sohn ist? Es gab mal solch ’nen Kriminalprozeß: Er wurde in einem unzüchtigen Hause –, so, glaube ich, benennt ihr hier die Bordelle – ermordet und beraubt und trotz seines ehrwürdigen Alters in einen Kasten eingepackt, letzterer vernagelt, und aus Petersburg per Eisenbahn als Frachtgut nach Moskau expediert. Während der Verpackung aber sangen die ausgelassenen Tänzerinnen entsprechende Lieder und schlugen die Harfen wundervoll dazu, äh, wollte sagen: sie spielten, spielten auf dem Klavier dazu. Und dieser selbe von Sohn ist er, er! Er ist einfach von den Toten auferstanden, nicht wahr, von Sohn?“ „Wie? Was? Was soll das bedeuten?“ ertönten Stimmen aus der Gruppe der Priestermönche. „Gehen wir!“ rief Miussoff Kalganoff zu. „Nein, nein, erlauben Sie!“ hielt Fedor Pawlowitsch sie auf und trat noch einen Schritt vor. „Erlauben Sie mir, daß ich mich ausspreche. Dort in der Zelle hat man mich verleumdet, soll mich unehrerbietig aufgeführt haben, und die Unehrerbietigkeit soll gerade darin bestanden haben, daß ich ihnen die paar Worte von den Gründlingen gesagt habe. Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, mein Anverwandter, liebt es, daß in der Rede _plus de noblesse que de sincérité_ sei, ich aber liebe es umgekehrt, daß in meiner Rede _plus de sincérité que de noblesse_ ist, und – überhaupt, der Teufel hole die _noblesse_! Nicht wahr, von Sohn? Erlauben Sie, ehrwürdiger Prior, wenn ich auch ein Narr bin und selbst freiwillig den Narren spiele, so bin ich doch ein Ritter von Ehre und will es rund heraussagen. Ja, ich bin ein Ritter von Ehre, in Pjotr Alexandrowitsch steckt aber nur – kondensierte Eigenliebe und weiter nichts. Vielleicht bin ich nur deswegen hierhergefahren, um das hier zu besehen und mich auszusprechen. Ich habe einen Sohn, der hier sein Seelenheil finden will: Ich bin sein Vater, sorge mich um ihn und muß mich auch sorgen. Bis jetzt hörte ich nur zu und verstellte mich und beobachtete im geheimen, jetzt aber will ich den letzten Akt der Vorstellung spielen. Wie ist’s denn bei euch? Was bei euch einmal fällt, das liegt auch schon. Was einmal gefallen ist, das hat ewig zu liegen. Was denn sonst? Ich aber will mich erheben. Heilige Väter, die Beichte ist ein großes Sakrament, für das auch ich andächtige Ehrfurcht empfinde, und ich bin bereit, mich ihm in Demut zu unterwerfen. Und da muß ich plötzlich in der Zelle sehen, wie hier alle auf den Knien liegen und laut beichten. Ist es denn erlaubt, laut zu beichten? Von den heiligen Kirchenvätern ist die Ohrenbeichte eingeführt, und nur so wird eure Beichte ein Sakrament sein, und so ist es von alters her gebräuchlich. Denn sonst, wie soll ich ihm in Gegenwart aller so einfach erklären, daß ich zum Beispiel dieses und jenes ... nun, eben dieses und jenes, Sie verstehen doch? ... Mitunter ist es schon unanständig, es auch nur zu sagen. Das ist doch ein Skandal! Nein, Pater Prior, mit Euch kann man ja noch Sektierer werden ... Bei der ersten Gelegenheit schreibe ich an den Synod, meinen Sohn Alexei nehme ich aber fort von hier.“ Eine Anmerkung. Fedor Pawlowitsch hatte irgendwo die Glocken läuten gehört. Es hatten sich nämlich boshafte Klatschereien verbreitet, die schließlich selbst zum Erzbischof gedrungen waren (nicht nur in unserem Kloster, sondern auch in anderen, wo sich das Startzentum festgesetzt hatte): daß die Startzen viel zu sehr geachtet würden, sogar zum Nachteil des Ansehens der Äbte, und unter anderem, daß die Startzen die Beichte mißbrauchten usw. usw. Kurz, es waren ganz unsinnige Beschuldigungen, die denn auch alsbald bei uns, wie überall, von selbst vergessen wurden. Aber der dumme Teufel, der Fedor Pawlowitsch ergriffen hatte und ihn jetzt an den Nerven irgend wohin, immer weiter und tiefer in einen schmachvollen Abgrund zog, flüsterte ihm plötzlich diese verjährte Anschuldigung zu, und Fedor Pawlowitsch sprach sie sofort aus, obgleich er selbst nicht wußte, noch sich überhaupt denken konnte, um was es sich dabei eigentlich handelte. Auch verstand er nicht einmal, die Sache richtig auszudrücken, und zudem hatte diesmal niemand in der Zelle des Staretz gekniet oder gar laut gebeichtet, so daß Fedor Pawlowitsch selbst nichts von dem gesehen haben konnte und nur die alten Gerüchte und Klatschereien, deren er sich dunkel erinnerte, nachsprach. Kaum jedoch hatte er seine dumme Bemerkung gemacht, als er auch schon fühlte, daß er ganz gehörigen Unsinn gesagt hatte, und so wollte er plötzlich allen Anwesenden, am meisten aber sich selbst, beweisen, daß er durchaus keinen Unsinn gesagt habe. Und obgleich er selbst vorzüglich wußte, daß er mit jedem weiteren Wort zu dem Gesagten noch mehr und noch dümmeren Unsinn hinzufügen werde, konnte er sich doch nicht bezwingen und flog hinab, wie auf einer Rutschbahn. „Welch eine Niedertracht!“ rief Miussoff empört aus. „Verzeihen Sie,“ sagte plötzlich der Prior. „Es ist gesagt: ‚Und viele redeten wider mich und brachten sogar unsaubere Sachen wider mich vor; als ich aber alles gehört, sprach ich bei mir selbst: Diese Arznei ist von Christus gesandt, um meine eitle Seele zu heilen.‘ Und darum danken auch wir Ihnen demütig, unser werter Gast.“ Und er verneigte sich tief vor ihm. „Ta–ta–ta! Scheinheiligkeit und alte Phrasen! Alte Phrasen und alte Heuchelei! Alte Lüge und die alten Faxen der Verbeugungen bis zur Erde! Wir kennen diese Verbeugungen! ‚Einen Kuß auf die Lippen und einen Dolch ins Herz,‘ wie in Schillers Räubern. Ich will keine Falschheit, Väter, ich liebe die Wahrheit! Die aber liegt nicht in den Gründlingen, und das habe ich verkündet! Sie, meine Heiligen, warum fasten Sie denn eigentlich? Warum erwarten Sie dafür Belohnungen im Himmelreich? Für so eine Belohnung würde ja auch ich fasten! Nein, mein heiliger Mönch, sei lieber im Leben wohltätig, bringe lieber, anstatt daß du dich hier zu fertig gebackenen Broten zurückziehst, der Menschheit Nutzen, und ohne dafür noch eine Belohnung dort oben zu erwarten, – das dürfte wohl etwas schwieriger sein. Ew. Hochehrwürden, ich verstehe gleichfalls, schön zu reden. Aber was haben Sie denn hier aufgetischt?“ fragte er, sich plötzlich unterbrechend, und trat näher. „Hm! Portwein, keine üble Nummer, Honig, wahrscheinlich von den Gebrüdern Jelissejeff,[9] ach, ihr heiligen Väter! Das sieht anders aus als Gründlinge! Und auch die Flaschen haben sie nicht vergessen, he–he–he! Wer aber hat das alles hergebracht? Das ist ja der russische Bauer, der Arbeitssklave, der die wenigen Kopeken, die er mit seinen schwieligen Händen verdient, von seinem Munde und seiner Familie abspart, um sie herzubringen trotz der schreienden Not unseres Staates! Nein, ihr, meine heiligen Väter, ihr saugt ja das Volk aus!“ „Das ist von Ihnen wirklich schon mehr als unwürdig,“ sagte Pater Jossiff. Pater Paissij schwieg hartnäckig. Miussoff stürzte hinaus, und ihm folgte Kalganoff. „Nun, meine Heiligen, nach Pjotr Alexandrowitsch gehe auch ich! Werde nie mehr herkommen, und wenn ihr mich auch auf den Knien darum bätet, komme nicht! Habe euch tausend Rubel geschenkt, da habt ihr jetzt wieder die Ohren gespitzt, he–he–he! Nein, mehr gibt’s nicht! Ich räche mich für meine vergangene Jugend, für meine ganze Erniedrigung!“ rief er in einem Anfall gespielter Empfindsamkeit aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Viel hat dieses liebe Kloster in meinem Leben bedeutet! Viel bittere Tränen habe ich seinetwegen vergossen! Ihr habt meine Frau, die Klikuscha, gegen mich aufgehetzt! Ihr habt mich in sieben Kirchen verflucht, habt’s in der ganzen Umgegend verbreitet! Jetzt Strich drunter, meine Väter, heutzutage ist man liberal, jetzt haben wir das Jahrhundert der Dampfschiffe und Eisenbahnen! Nicht tausend, nicht hundert Rubel, nicht hundert Kopeken bekommt ihr mehr von uns zu sehen!“ Noch eine Anmerkung: Niemals hatte unser Kloster etwas Besonderes in seinem Leben bedeutet, und niemals hatte er seinetwegen irgendwelche Tränen vergossen. Er aber ließ sich dermaßen hinreißen, daß er einen Augenblick fast selbst daran glaubte; ihm traten vor Rührung Tränen in die Augen, doch in derselben Sekunde fühlte er, daß es für ihn Zeit war, kehrtzumachen. Der Prior senkte ein wenig den Kopf und sagte auf seine boshafte Lüge wieder mit eindringlicher Stimme: „Es ist wiederum gesagt: ‚Ertrage freudig das dir zugefügte Unrecht, lasse dich dadurch weder verwirren, noch nähre deswegen Haß gegen deinen Widersacher‘. Also werden auch wir tun.“ „Weiß schon, ‚und halte noch die andere Backe hin!‘ und so weiter, der ganze Gallimatthias! Man kennt doch den Rummel! Aber jetzt gehe ich. Meinen Sohn Alexei nehme ich mit väterlicher Vollmacht ein für allemal von hier fort. Iwan Fedorowitsch, mein gehorsamster Sohn, erlauben Sie, Ihnen zu befehlen, mir zu folgen! Und, von Sohn, was hast du noch hier zu suchen? Komm mit mir in die Stadt! Bei mir ist es lustiger. Im ganzen nur ’ne lumpige Werst, und dafür gibt’s anstatt Fastenbutter Ferkelbraten mit Kartoffelbrei; werden nicht übel schmausen; verspreche dir guten Kognak und nachher noch Likörchen; habe auch Mamurowka[10] ... Ei, von Sohn, versäume doch dein Glück nicht!“ Schreiend und gestikulierend ging er hinaus. Und da erblickte ihn denn Rakitin und machte Aljoscha auf ihn aufmerksam. „Alexei!“ rief ihm der Vater von weitem zu, als er ihn erblickte, „heute noch ziehe ganz zu mir über, auch das Kissen und das Federbett schlepp mit – daß von dir hier keine Spur mehr nachbleibt, hörst du!“ Aljoscha blieb ganz erstarrt stehen und verfolgte nur schweigend und aufmerksam, was vor seinen Augen geschah. Fedor Pawlowitsch kletterte inzwischen in seinen Wagen, und nach ihm schickte sich schweigend und sichtlich geärgert auch Iwan Fedorowitsch an, einzusteigen, ohne sich vorher von Aljoscha zu verabschieden, oder sich auch nur nach ihm umzuwenden. Da aber kam es noch zu einer lächerlichen und fast unglaublichen Szene, die den ganzen unerhörten Skandal gleichsam abschloß. Plötzlich erschien am Wagentritt der Gutsbesitzer Maximoff. Er war atemlos herangelaufen, um sich nicht zu verspäten. Rakitin und Aljoscha sahen, wie er lief. Er beeilte sich dermaßen, daß er in der Angst, zurückzubleiben, den einen Fuß schon auf den Wagentritt setzte, obgleich auf ihm noch der linke Fuß Iwan Fedorowitschs stand, und, mit der einen Hand sich an den Bockrand klammernd, mehrmals hopste, um schneller einzusteigen. „Ich auch, ich auch, auch ich komme mit!“ rief er, immer hopsend, unter dünnem, fröhlichem Gelächter mit einem seligen Gesicht, und natürlich zu allem bereit. „Nehmen Sie auch mich mit!“ „Na, habe ich’s nicht gesagt, daß das von Sohn ist!“ rief triumphierend Fedor Pawlowitsch. „Der echte, von den Toten auferstandene von Sohn! Wie hast du dich denn von dort losgerissen? Was hast du denn dort vorvonsohniert? Und wie hast du nur dem schönen Mahle den Rücken gekehrt? Dazu muß man doch eine eherne Stirn haben! Ich habe sie, über deine aber, Bruder, wundere ich mich! Nun, spring herein, hop! Laß ihn, Wanjä,[11] es wird lustiger sein! Er kann sich hier irgendwie vor den Füßen hinlegen. Wirst du vor den Füßen liegen, von Sohn? Oder soll man ihn neben dem Kutscher unterbringen? ... Spring mal auf den Bock, von Sohn.“ Doch Iwan Fedorowitsch, der sich inzwischen schon gesetzt hatte, stieß plötzlich Maximoff mit aller Kraft vor die Brust, so daß der weit zurückflog. Es war nur ein Zufall, daß er nicht hinfiel. „Fahr zu!“ rief Iwan Fedorowitsch wütend den Kutscher an. „Aber, was fällt dir ein? Was sollte denn das bedeuten? Warum hast du ihn so fortgestoßen?“ fuhr zwar Fedor Pawlowitsch sofort auf, doch der Wagen rollte schon davon. Iwan Fedorowitsch antwortete nicht. „Sieh mal einer an, wie du bist!“ brummte Fedor Pawlowitsch nach zwei Minuten Schweigen und schielte nur vorsichtig auf seinen Sohn. „Hast selbst diesen ganzen Klosterbesuch ausgedacht, selbst alles angestiftet, selbst gutgeheißen, warum ärgerst du dich denn jetzt?“ „Sie haben wirklich genug Blödsinn geschwatzt, erholen Sie sich doch etwas,“ schnitt ihm Iwan Fedorowitsch grob das Wort ab. Fedor Pawlowitsch schwieg wieder etwa zwei Minuten lang. „Ein Gläschen Kognak wäre jetzt nicht übel,“ bemerkte er bedeutsam. Doch Iwan Fedorowitsch antwortete wieder nicht. „Nun, wenn wir ankommen, wirst auch du eins trinken.“ Iwan Fedorowitsch schwieg immer noch. „Aber Aljoscha werde ich doch aus dem Kloster nehmen, obgleich das Ihnen, mein ehrerbietigster Karl von Moor, sehr unangenehm sein wird.“ Iwan Fedorowitsch zuckte verächtlich mit den Achseln, wandte sich von ihm ab, und blickte auf die Landstraße. Darauf wurde während der ganzen Fahrt kein Wort mehr gesprochen. Drittes Buch. Die Wollüstlinge I. In der Bedientenstube Das Haus Fedor Pawlowitsch Karamasoffs lag nicht im Zentrum der Stadt, doch war es auch nicht gerade sehr weit davon entfernt. Es war schon ziemlich alt, machte aber trotzdem einen guten Eindruck: es war einstöckig, mit einem spitzen Giebel, grau angestrichen und hatte ein rotes Blechdach. Übrigens konnte es noch lange so stehen. Im Inneren war es geräumig und gemütlich. Es gab in ihm viel verschiedene Dach- und Rumpelkammern, eigenartige Verstecke und ganz unvermutete Treppchen. Auch Ratten gab es in ihm, doch Fedor Pawlowitsch konnte sich nicht recht über sie ärgern. „’S ist doch immerhin nicht so langweilig am Abend, wenn man allein bleibt,“ pflegte er zu sagen. Er aber hatte wirklich die Angewohnheit, die Dienstboten für die Nacht in das Nebengebäude auf dem Hof zu schicken und sich dann allein im großen Hause einzuschließen. Dieses Nebengebäude auf dem Hof war gleichfalls groß und gemütlich; in ihm wurde das Essen gekocht, obgleich auch das große Haus eine Küche hatte, doch Fedor Pawlowitsch konnte den Küchengeruch nicht vertragen, und so wurden denn die Speisen im Winter wie im Sommer über den Hof gebracht. Überhaupt war das Haus für eine große Familie gebaut, und man hätte das Fünffache an Herrschaft und Dienerschaft bequem in ihm unterbringen können; doch damals wohnten im großen Hause nur Fedor Pawlowitsch und sein zweiter Sohn, Iwan Fedorowitsch, und im Nebengebäude nur die drei Bedienten: der alte Grigorij, seine Frau, die alte Marfa, und der Diener Ssmerdjäkoff, ein noch junger Mensch. Ich sehe, daß ich etwas ausführlicher von diesen drei Dienstboten berichten muß. Von dem alten Grigorij Wassiljewitsch Kutusoff habe ich übrigens schon gesprochen; das war ein strenger, starrköpfiger Mensch, der hartnäckig und unablenkbar seine Ziele verfolgte, wenn nur so ein Ziel aus irgendwelchen Gründen – häufig aus erstaunlich unlogischen – vor ihm als unwandelbare Wahrheit erschien. Überhaupt war er ein ehrlicher, unbestechlicher und treuer Diener. Sein Weib, Marfa Ignatjewna, wollte nach der Aufhebung der Leibeigenschaft unsäglich gern von Fedor Pawlowitsch fortgehen und nach Moskau ziehen, um dort irgendein kleines Geschäft zu gründen (sie hatten beide ein kleines Kapital), und kam ihrem Mann immer wieder mit diesem Plan, wenn sie sich auch sonst stets widerspruchslos vor seinem Willen beugte; Grigorij aber behauptete, daß das Weib lüge, „denn jedes Weib ist unehrlich“, und daß es ihnen nicht zustände, den früheren Herrn, wie er auch sein mag, zu verlassen, denn „das ist jetzig also unsere Pflicht“. „Begreifst du auch, was das ist – Pflicht?“ wandte er sich an Marfa Ignatjewna. „Was Pflicht ist, das schon, Grigorij Wassiljewitsch; aber wo hier etwas von Pflicht sein soll, davon begreife ich nichts,“ antwortete Marfa Ignatjewna. „Nun, so begreif’s dann nicht; es bleibt doch so, wie’s ist. Schweig aber lieber.“ Und dabei blieb es denn auch: sie zogen nicht fort, und Fedor Pawlowitsch bestimmte für sie ein Monatsgehalt, zwar kein großes, aber er zahlte es doch aus. Zudem wußte Grigorij, daß er auf seinen Herrn einen gewissen Einfluß hatte; das fühlte er, und so war es auch in der Tat: der schlaue und eigensinnige Fedor Pawlowitsch, der, wie er sich selbst ausdrückte, „in manchen Lebensdingen“ einen sehr festen Charakter bewies, war zu seiner eigenen nicht geringen Verwunderung wiederum äußerst charakterschwach in gewissen anderen „Lebensdingen“. Er wußte selbst ganz genau, in welchen Dingen er es war; wußte es, und fürchtete sich vor vielem. In diesen gewissen „Lebensdingen“ hieß es, auf der Hut sein, und dann war es schwer, ohne einen zuverlässigen Menschen auszukommen; Grigorij aber war der zuverlässigste von allen. Es kam sogar vor, daß Fedor Pawlowitsch mitunter auch Prügel verabfolgt wurden, und zwar gehörige, und dann hatte ihm immer Grigorij herausgeholfen und nachher eine Predigt gehalten. Doch Prügel allein schreckten Fedor Pawlowitsch nicht: es gab dagegen höhere Fälle, und sogar sehr zarte und verzwickte, in denen Fedor Pawlowitsch selbst nicht einmal imstande gewesen wäre, dieses ungewöhnliche Bedürfnis nach einem treuen und nahestehenden Menschen, das er dann augenblicks in sich fühlte, zu erklären. Das waren fast krankhafte Augenblicke: Der verderbte und in seiner Wollust oftmals wie ein böses Insekt grausame Fedor Pawlowitsch empfand zuweilen, wenn er trunken war, eine geistige Angst und eine moralische Erschütterung, die beinahe physisch, wenn man sich so ausdrücken kann, auf seine Seele wirkten. „Die ganze Seele sitzt mir dann zitternd in der Kehle,“ äußerte er sich zuweilen über diese sonderbaren Anwandlungen. Und in diesen Augenblicken liebte er es, wenn irgendwo in der Nähe, es brauchte nicht einmal in seinem Zimmer zu sein, meinetwegen auch nur im Nebengebäude auf dem Hof, ein ihm ergebener Mensch war, einer, der aber keineswegs ihm glich, nicht verdorben, sondern ehrlich und streng war, der selbst die ganze Liederlichkeit mit ansah und alle Geheimnisse kannte, doch aus Ergebenheit und Anhänglichkeit alles zuließ, und – die Hauptsache – keine Vorwürfe machte und mit nichts drohte, weder mit dem Diesseits noch mit dem Jenseits, im Notfalle ihn aber beschützte – vor wem? Vor irgendeinem Unbekannten, doch Furchtbaren und Gefährlichen. Es mußte unbedingt gerade ein _anderer_ Mensch sein, ein alter und freundschaftlicher, den brauchte er, um ihn im „kranken Augenblick“ rufen zu können, natürlich nur, um sein Gesicht zu sehen, meinetwegen auch ein Wort mit ihm zu wechseln, irgendein nebensächliches: ärgerte er sich deswegen nicht, dann werde es dem Herzen leichter, ärgerte er sich aber, nun, dann wurde man etwas trauriger! Es kam vor – übrigens nur äußerst selten –, daß Fedor Pawlowitsch sogar mitten in der Nacht über den Hof zu Grigorij ging und ihn auf einen Augenblick zu sich rief. Der kam dann auch; doch Fedor Pawlowitsch sprach mit ihm dummes Zeug und entließ ihn bald wieder, nicht selten sogar noch mit einer spöttischen Bemerkung oder einem Scherz, selbst aber legte er sich, kräftig ausspuckend, schlafen und schlief dann den Schlaf eines Gerechten. Auch nach der Ankunft Aljoschas geschah mit Fedor Pawlowitsch etwas Ähnliches. Aljoscha „eroberte sein Herz“ sofort durch den einen Umstand, daß er „lebte, alles sah und nichts verurteilte“, und außerdem noch durch das Unglaubliche: daß er nicht die geringste Verachtung für ihn, den Alten, zeigte, sondern im Gegenteil, immer freundlich war und eine ganz natürliche, offenherzige Anhänglichkeit an ihn, der sie doch so wenig verdient hatte, zu haben schien. Das war für den alten Herumtreiber und familienlosen Wüstling eine Überraschung, die ihn ganz stutzig machte: nein, das kam für ihn, der bis dahin nur Unzucht geliebt hatte, doch zu unerwartet! Als Aljoscha in das Kloster ging, gestand er sich, daß er etwas begriffen hatte, was er bis dahin nicht hatte begreifen wollen. Ich erwähnte schon einmal, wie Grigorij, der Diener, Adelaida Iwanowna, die erste Frau Fedor Pawlowitschs und die Mutter Dmitrij Fedorowitschs gehaßt, und wie er dagegen die zweite Frau, die Klikuscha Ssofja Iwanowna, sogar gegen seinen Herrn verteidigt hatte und überhaupt gegen jeden, der es sich einfallen ließ, ein leichtfertiges oder schlechtes Wort über sie zu sagen. Sein Mitleid mit dieser unglücklichen Frau ließ es ihn allmählich als seine heilige Pflicht empfinden, sie zu beschützen, so daß er auch noch nach zwanzig Jahren keine einzige schlechte Anspielung, einerlei von wem, ertragen konnte. Äußerlich war Grigorij ein kalter Mensch mit ziemlich wichtiger Miene, der nur wohlbedachte, niemals leichtsinnige Worte sprach, wofern er überhaupt sprach. Unmöglich war es gleichfalls, nach dem Äußeren zu schließen, ob er seine ebenso wortkarge, ihm stets ergebene Marfa Ignatjewna liebte oder nicht; er aber liebte sie wirklich, und sie fühlte das wohl. Diese Marfa Ignatjewna war nicht nur keine dumme Frau, sondern war vielleicht sogar klüger als ihr Mann, oder wenigstens in Lebensfragen weit vernünftiger; indessen unterwarf sie sich ihm widerspruchslos schon gleich zu Anfang der Ehe und achtete ihn selbstverständlich wegen seiner, wie sie meinte, geistigen Überlegenheit. Bemerkenswert ist, daß sie beide ihr ganzes Leben lang auffallend wenig miteinander sprachen, es sei denn über die notwendigsten alltäglichen Dinge. Grigorij bedachte alles allein, und Marfa Ignatjewna hatte schon längst ein für allemal begriffen, daß ihr Mann ihrer Ratschläge nicht bedurfte, dafür aber ihr Schweigen zu schätzen wußte und das auch für ihr Bestes hielt. Schlagen tat er sie eigentlich nicht, abgesehen von einem einzigen Ausnahmefall. Im ersten Jahr der Ehe Adelaida Iwanownas mit Fedor Pawlowitsch waren einmal auf dem Gutshof die damals noch leibeigenen jungen Mädchen und Weiber versammelt worden, um der Herrschaft vorzutanzen und zu singen. Der Chor begann „Auf grünen Wiesen und Auen“, und plötzlich sprang Marfa Ignatjewna, die damals noch ein junges Weib war, vor und tanzte die „Rußkaja“ in einer ganz besonderen Weise, nicht so, wie das Volk sie tanzt, sondern wie es ihr früher, als sie noch Leibeigene der reichen Miussoffs gewesen war, zu den Theateraufführungen im Herrenhause ein aus Moskau bestellter Ballettmeister gezeigt hatte. Grigorij sah, wie sein Weib tanzte; doch nach einer Stunde belehrte er sie eines Besseren, indem er auf sie einhieb und sie an den Haaren zog. Damit war das Prügeln abgetan; es wiederholte sich niemals mehr, denn Marfa Ignatjewna hatte sich geschworen, nie wieder die „Rußkaja“ zu tanzen. Kinder schenkte ihnen Gott leider nicht; sie hatten zwar einmal ein Kleines gehabt, aber das war alsbald gestorben. Grigorij jedoch liebte kleine Kinder sehr und verheimlichte das nicht einmal, das heißt, er schämte sich nicht, es zu zeigen. Den kleinen dreijährigen Dmitrij Fedorowitsch hatte er, als dessen Mutter fortgelaufen war, zu sich genommen und hatte sich mit ihm fast ein ganzes Jahr lang abgegeben, ihn eigenhändig gekämmt, gewaschen und im kleinen Waschtrog gebadet. Darauf hatte er sich auch mit den zwei anderen Kleinen, Iwan und Aljoscha, abgeplagt, was ihm später die Ohrfeige von der Generalin eintrug; doch davon habe ich ja schon gesprochen. Das eigene Kindchen aber erfreute ihn nur mit der Hoffnung, solange Marfa Ignatjewna noch schwanger war. Als aber der Junge geboren wurde, da erfüllte er sein Herz mit Angst und Trauer: denn das Kind hatte sechs Finger. Als Grigorij das sah, war er dermaßen erschrocken und erschüttert, daß er bis zur Taufe kein Wort mehr sprach und in den Garten ging, um dort mit sich allein zu sein. Es war gerade Frühling, und so grub er denn im Gemüsegarten Beete. Am dritten Tage mußte das Kind getauft werden; Grigorij hatte inzwischen Zeit gehabt, sich zu bedenken. Als er ins Haus trat, wo sich schon die ganze Verwandtschaft und die Gäste versammelt hatten und sogar Fedor Pawlowitsch in höchsteigener Person als Pate erschienen war, erklärte er plötzlich, daß man das Kind „eigentlich überhaupt nicht taufen sollte“ – verbreitete sich jedoch nicht weiter über seine Meinung, sondern blickte nur stumpf und aufmerksam auf den Popen. „Warum nicht?“ erkundigte sich in heiterer Verwunderung der Geistliche. „Weil ... das ist ein Drache ...“ brummte schließlich Grigorij. „Wieso, was für ein Drache?“ Grigorij schwieg eine Zeitlang. „Eine Verwechslung der Natur ...“ murmelte er, wenn auch sehr undeutlich, so doch fest überzeugt; augenscheinlich wollte er sich nicht darüber aussprechen. Man lachte natürlich und taufte das arme Kind. Grigorij betete eifrig, änderte aber seine Meinung über das Neugeborene nicht im geringsten. Übrigens verhinderte er nichts, nur bemühte er sich in den ganzen zwei Wochen, die das schwächliche Kindchen lebte, dasselbe überhaupt nicht zu bemerken, und verließ, so oft er nur konnte, das Haus. Als aber der Knabe nach zwei Wochen am Milchfieber starb, da legte er ihn sorgfältig in den kleinen Sarg, blickte ihn in tiefer Trauer an, und als sein kleines Grab zugeschüttet wurde, da kniete er nieder und verneigte sich vor dem Grabe. Seit der Zeit sprach er lange Jahre kein einziges Mal von seinem Kinde, und selbst Marfa Ignatjewna wagte nicht, in seiner Gegenwart ihres toten Kleinen zu erwähnen; konnte sie aber sonst mit irgend jemandem von ihrem „Kindchen“ sprechen, so tat sie es immer nur flüsternd, selbst wenn Grigorij überhaupt nicht im Hause war. Es fiel ihr auf, daß Grigorij Wassiljewitsch seit jener Beerdigung sich ganz besonders mit „Religiösem“ zu beschäftigen begann, das Leben der Heiligen las, doch nur still für sich, wozu er dann seine silberne Brille mit den großen, runden Gläsern aufsetzte. Nur selten las er laut vor, höchstens zur Fastenzeit. Er liebte das Buch Hiob sehr, wußte sich von irgend jemandem die mystischen „Predigten unseres von Gott erleuchteten Paters Issaak Ssirin“ zu verschaffen, las sie unermüdlich jahrelang, verstand so gut wie überhaupt nichts davon und schätzte vielleicht gerade darum dieses Buch am meisten. In der letzten Zeit begann er sich für die Geißler[12] zu interessieren, von denen sich einige in der Nachbarschaft eingefunden hatten. Er war sichtlich erschüttert, fand es aber doch nicht für richtig, zu einem anderen Glauben überzutreten. Seine Belesenheit „in göttlichen Dingen“ äußerte sich nur auf seinem Gesicht in einem noch wichtigeren Ausdruck. Vielleicht war er auch zum Mystizismus geneigt. Und da mußte es noch geschehen, daß ihn nach der Geburt seines sechsfingrigen Sohnes und dessen Tode eine ganz sonderbare Überraschung erwartete, die, wie er sich selbst äußerte, in seiner Seele auf ewig einen „Stempel“ hinterließ. Es war in der Nacht desselben Tages, an dem der kleine Sechsfingrige begraben worden war, als Marfa Ignatjewna plötzlich erwachte und das Weinen eines neugeborenen Kindes zu vernehmen glaubte. Sie erschrak und weckte ihren Mann. Grigorij horchte hinaus, meinte aber, daß eher jemand stöhne, „wahrscheinlich ein Weib“. Er erhob sich und kleidete sich an. Es war eine ziemlich dunkle Mainacht; als er auf die Treppe hinaustrat, hörte er deutlich, daß das Gestöhn aus dem Garten kam. Die Hoftür aber zum Garten wurde jeden Abend verschlossen, anders jedoch, als durch diese Tür oder unmittelbar aus dem Hause, konnte man nicht in den Garten gelangen, denn er war von einem hohen, starken Zaun umgeben. Grigorij kam zurück, nahm den Gartenschlüssel und die Laterne und ging schweigend hinaus in den Garten, ohne auf das Entsetzen Marfa Ignatjewnas zu achten, die immer noch behauptete, sie höre das Weinen eines kleinen Kindes, und das sei bestimmt ihr Söhnchen, das sie rufe. Hier hörte er deutlich, daß das Gestöhn aus ihrem kleinen Badehause, das nicht weit von der Hoftür im Garten stand, kam, und daß es wirklich eine Frauenstimme war. Als er die Tür des Häuschens öffnete, bot sich ihm ein Schauspiel, das ihn erstarren machte: die Stadtverrückte, die sich überall herumtrieb und allen bekannt war, namens Lisaweta Ssmerdjäschtschaja, die auf unerklärliche Weise in dieses Badehaus gekommen war, hatte gerade ein Kind geboren. Das Neugeborene lag neben ihr, sie aber wand sich in Todeskrämpfen. Sie sprach nichts, sie konnte ja überhaupt nicht richtig sprechen. Doch von ihr muß ich etwas mehr erzählen. II. Lisaweta Ssmerdjäschtschaja Hier gab es einen besonderen Umstand, der Grigorij tief erschütterte und ihn in einem früheren, unangenehmen, wenn nicht ekelhaften Verdacht bestärkte. Diese Lisaweta war sehr klein von Wuchs, „zwei Arschin und vielleicht noch eine Kleinigkeit war das Mädchen hoch“, wie mitleidig einige unserer gottesfürchtigen Greisinnen nach ihrem Tode sagten, wenn sie ihrer gedachten. Ihr zwanzigjähriges, gesundes, breites und rotwangiges Gesicht war vollkommen idiotisch, der Blick ihrer Augen unbeweglich und unangenehm, wenn auch ruhig. Sie ging im Sommer wie im Winter barfuß und nur in einem hanfleinenen Hemde. Ihr fast schwarzes, ungewöhnlich dickes Haar war so kraus wie die Wolle eines Schafes und stand wie eine große Mütze auf ihrem Kopf; außerdem war es voller Schmutz, Erdstückchen und Blätter, Holzspänchen und Stroh- und Grashälmchen, denn sie schlief immer auf der Erde. Ihr Vater war ein obdachloser, heruntergekommener, kranker Kleinbürger Ilja, der trank und schon viele Jahre als Arbeiter bei einem wohlhabenden Kleinbürger diente. Lisawetas Mutter war vor langer Zeit gestorben. Der ewig kranke und wütende Ilja schlug seine Tochter ganz unbarmherzig, wenn sie ihm unter die Augen kam; doch geschah das nur selten, denn sie lebte überall in der Stadt herum, als geistesschwaches, heiliges Gotteskind. Alle Welt, die Wirtsleute ihres Vaters, der Vater selbst und sogar viele Mitleidige, meistens Kaufmannsfamilien und Kaufmannsfrauen, versuchten nicht einmal, Lisaweta etwas anständiger anzukleiden, um sie nicht so im Hemd herumlaufen zu lassen; nur im Winter zogen sie ihr immer einen Schafpelz und Stiefel an; sie aber, die sich alles ruhig anziehen ließ, ging dann gewöhnlich zur Kirchentür und zog sich dort alles wieder aus, was man ihr angezogen hatte – ob es nun ein Tuch, ein Rock, ein Pelz oder sonst was war –, ließ es daselbst vor der Kirche liegen und ging dann wieder nur mit dem Hemd bekleidet fort. Einmal, als der neue Gouverneur unsers Gouvernements auch unser Städtchen besuchte, fühlte er sich in seinen besten Gefühlen tief gekränkt, als er diese Lisaweta erblickte, und wenn er auch einsah, daß es eine Geistesschwache war, wie ihm sofort gemeldet wurde, so meinte er doch, daß ein junges Mädchen, das nur in einem Hemde herumlaufe, den Anstand verletze: darum dürfe das in Zukunft nicht mehr vorkommen. Doch der Gouverneur fuhr wieder fort, und Lisaweta ließ man, wie sie war. Schließlich starb auch ihr Vater, und sie wurde als Waise den Gottesfürchtigen noch lieber. Man schien sie tatsächlich zu lieben, selbst die Straßenjungen neckten sie nicht, und doch sind unsere kleinen Jungen, besonders die Schulrangen, eine naseweise, unverfrorene Bande. Sie trat in fremde Häuser ein, doch niemand schrie sie an oder wies ihr die Tür, im Gegenteil, man war immer gut zu ihr und gab ihr stets etwas. Gab man ihr Geld, so brachte sie es sofort in irgendeine Armenbüchse an der Kirche oder am Gefängnis; gab man ihr auf dem Markt einen Kringel oder ein Weißbrot, so gab sie es sofort dem ersten kleinen Kinde, das sie erblickte, oder sie blieb gar vor einer unserer reichsten Damen stehen und gab es der; und die Damen nahmen es dankend und sogar freudig entgegen. Sie selbst aber nährte sich nur von Schwarzbrot und Wasser. Zuweilen trat sie in einen teuren Laden ein und setzte sich; überall lag teure Ware, sogar loses Geld, doch niemandem fiel es ein, auf sie achtzugeben, denn alle wußten, daß man Tausende auf den Ladentisch legen konnte, daß sie aber keine Kopeke anrühren werde. In die Kirche ging sie nur selten; sie schlief entweder vor der Kirchentür, oder sie kletterte über einen Flechtzaun (bei uns gibt es noch heute viel solcher Zäune) und schlief dann in einem Gemüsegarten. Nach Haus, das heißt ins Haus jener Kleinbürger, bei denen ihr Vater diente, ging sie ungefähr nur einmal in der Woche, im Winter jedoch täglich zur Nacht, und dann schlief sie entweder im Flur oder im Kuhstall. Man wunderte sich, daß sie solch ein Leben aushalten konnte; doch sie hatte sich schon daran gewöhnt; wenn sie auch klein von Wuchs war, so war sie doch ungewöhnlich stark gebaut. Einige behaupteten, sie täte das alles nur aus Stolz, doch fand das keinen rechten Glauben; sie konnte ja nicht einmal richtig sprechen, nur zuweilen bewegte sie die Zunge und stieß irgendwelche lallende Laute hervor – wo konnte da von Stolz die Rede sein! Und so geschah es denn einmal (es ist schon lange her), daß in einer warmen und hellen Septembernacht bei Halbmond, zu einer nach unseren Begriffen sehr späten Stunde, eine stark angeheiterte Gesellschaft, etwa fünf oder sechs Herren, aus dem Klub durch die Hinterstraßen nach Hause ging. Zu beiden Seiten der Straße zogen sich niedrige Zäune hin, hinter denen die Gemüsegärten der an den größeren Straßen stehenden Häuser lagen; diese Hinterstraße jedoch führte zu einer kleinen Brücke über einen breiten, versumpften Graben, der bei uns wohl das Flüßchen genannt wurde. Da bemerkte unsere lustige Gesellschaft am Zaun zwischen Nesseln und Salbei die schlafende Lisaweta. Die Herren blieben lachend stehen und begannen in nicht wiederzugebender Weise über sie zu witzeln. Einer von ihnen, ein junger Milchbart, stellte plötzlich die exzentrische Frage: „Könnte irgend jemand, einerlei wer, dieses Tier für ein Weib halten, meinetwegen jetzt gleich usw.“, womit er ein ganz unmögliches Thema anschlug. Alle meinten darauf mit stolzem Widerwillen, daß dies undenkbar wäre. Doch in dieser angeheiterten Gesellschaft befand sich auch Fedor Pawlowitsch, und sofort sprang er vor und behauptete, man könne sie wohl für ein Weib halten, sogar sehr, und daß es hierbei sogar eine gewisse Art von Pikanterie gäbe, usw. usw. Es ist wahr, damals drängte er sich schon gar zu absichtlich in die Rolle des Narren; er liebte es sehr, die anderen zu belustigen und dabei den Gleichstehenden zu spielen, in Wirklichkeit aber war er doch der echte Ham unter ihnen. Das war gerade in der Zeit, als er aus Petersburg die Nachricht von dem Tode seiner ersten Frau erhalten hatte und darauf mit dem Trauerflor am Hut dermaßen trank und sich so unanständig aufführte, daß sich viele, selbst die Liederlichsten, bei seinem Anblick unangenehm berührt fühlten. Die Bande lachte natürlich über die unerwartete Behauptung Fedor Pawlowitschs; einer von ihnen versuchte, ihn noch mehr aufzustacheln, doch die anderen schimpften nun erst recht, natürlich immer unter allgemeiner Heiterkeit, und endlich gingen sie alle ihres Weges. Später schwor Fedor Pawlowitsch, daß auch er damals mit den anderen fortgegangen sei; vielleicht war er es auch, das weiß niemand genau und kann es auch nicht wissen, doch nach fünf oder sechs Monaten sprach man allgemein und aufrichtig empört davon, daß die Lisaweta schwanger sei. Man fragte und riet, auf wen die Sünde fiele, wer der Schänder wäre? Und da verbreitete sich denn in der ganzen Stadt das Gerücht, daß es gerade Fedor Pawlowitsch Karamasoff sei. Woher aber war dieses Gerücht gekommen? Von jenen Herren, die sie damals bemerkt hatten, war zurzeit nur noch ein einziger in der Stadt, und das war ein schon bejahrter Staatsrat, ein Vater erwachsener Töchter, der es bestimmt nicht verbreitet haben würde, selbst wenn er etwas Positives gewußt hätte; die übrigen Kumpane waren aber alle verreist. Doch das Gerücht fuhr fort, hartnäckig gerade auf Fedor Pawlowitsch hinzuweisen. Der machte sich natürlich nicht viel daraus; Kaufleuten und einfachen Bürgern hätte er darauf überhaupt nicht geantwortet. Damals war er stolz und sprach nur in seiner Gesellschaft von höheren Beamten und Edelleuten, die er so vorzüglich zu unterhalten verstand. Da trat denn Grigorij heftig für seinen Herrn ein und verteidigte ihn nicht nur gegen alle Klatschereien, sondern geriet sogar seinetwegen in ernsten Streit, überzeugte aber schließlich doch viele von Fedor Pawlowitschs Unschuld in diesem Falle. „Sie, diese elende Herumtreiberin, ist selbst an allem schuld,“ behauptete er steif und fest, und der Schänder sei niemand anderes als der „Schrauben-Karp“ (ein in der ganzen Stadt berüchtigter Verbrecher, der gerade zu der Zeit aus dem Gefängnis unserer Gouvernementsstadt entsprungen war und sich darauf in unserer kleinen Kreisstadt herumgetrieben hatte). Diese Beschuldigung schien glaubwürdig, denn man erinnerte sich noch des Entsprungenen; erinnerte sich, daß er gerade in jenen Herbstnächten die Stadt unsicher gemacht und drei Menschen überfallen und beraubt hatte. Doch all diese Erörterungen verminderten keineswegs die Sympathie für die arme Idiotin, im Gegenteil, sie verstärkten sie nur noch; alle beschützten sie und taten ihr Gutes. Und Frau Kondratjewa, eine wohlhabende Kaufmannswitwe, richtete es so ein, daß Lisaweta schon Ende April ganz bei ihr blieb und bis zur Entbindung bei ihr bleiben sollte. Sie wurde unermüdlich bewacht; trotzdem gelang es ihr am Abend des letzten Tages, heimlich zu entkommen. Wie sie in ihrem Zustande über den hohen, starken Zaun in den Karamasoffschen Park hatte klettern können, ist ein Rätsel geblieben. Wahrscheinlich ist es ganz natürlich geschehen, denn Lisaweta, die wie eine Katze über die Zäune kletterte, um in fremden Gemüsegärten zu nächtigen, wird wohl ebenso auch auf den hohen Zaun Fedor Pawlowitschs gekommen und dann zu ihrem Unglück heruntergesprungen sein, trotz ihres Zustandes. Grigorij stürzte nach dem ersten Schreck zurück zu Marfa Ignatjewna, die er zur Hilfe in das Badehaus schickte, selbst aber lief er zu einer alten Hebamme, die in der Nachbarschaft wohnte. Das Kind wurde gerettet, doch Lisaweta starb schon beim ersten Morgengrauen. Grigorij nahm das Neugeborene, brachte es ins Haus, hieß Marfa Ignatjewna sich hinsetzen und legte ihr dann das Kind auf den Schoß, an die Brust: „Eine Waise ist Gotteskind und unser aller Kind, für uns beide aber erst recht unser Kind. Das hat unser totes Söhnchen geschickt, und geboren ist es von einem Teufelssohn und einer Gerechten. Nähre es, und weine jetzt nicht mehr.“ Und so erzog denn Marfa Ignatjewna den kleinen Jungen. Er wurde Pawel getauft und allmählich, ohne daß es jemand bestimmt hätte, ganz von selbst Fedorowitsch gerufen. Fedor Pawlowitsch hatte nichts dagegen einzuwenden und fand das alles sogar sehr spaßhaft, obgleich er immer noch fortfuhr, seine Vaterschaft zu verneinen. In der Stadt gefiel es, daß er das Kind angenommen hatte. Später dachte sich Fedor Pawlowitsch auch noch einen Familiennamen für den Jungen aus: er nannte ihn Ssmerdjäkoff nach dem Spitznamen seiner Mutter Lisaweta Ssmerdjäschtschaja.[13] Also dieser Ssmerdjäkoff wurde dann Fedor Pawlowitschs Koch und zweiter Diener; er lebte in dem Nebengebäude auf dem Hof zusammen mit dem alten Grigorij und der alten Marfa. Eigentlich müßte ich noch vieles gerade über ihn sagen, doch will ich jetzt nicht die Aufmerksamkeit meines Lesers zu sehr für die Dienstboten in Anspruch nehmen, daher gehe ich jetzt wieder zu meinen Hauptpersonen über; wird sich doch über Ssmerdjäkoff noch später, im Verlauf der ganzen Geschichte, einiges sagen lassen. III. Die Beichte eines heißen Herzens. In Versen Als Aljoscha den Befehl seines Vaters, mit allen Kissen und Federbetten das Kloster zu verlassen, vernommen hatte, blieb er in nicht geringer Verwunderung zurück. Ich will damit nicht sagen, daß er etwa wie ein Pfosten stehen blieb, nein, er ging sogar noch in die Küche des Priors, um dort zu erfahren, was sein Vater oben angestiftet hatte. Dann erst machte er sich auf den Weg, in der Hoffnung, unterwegs mit sich über alles ihn Quälende ins reine zu kommen. Der Befehl seines Vaters, mit „Kissen und Federbetten nach Hause zu kommen“, schreckte ihn nicht im geringsten. Er begriff nur zu gut, daß dieser Befehl, der ihm so laut zugerufen worden war, nur „in der Hitze“ gegeben sein konnte, sozusagen zur Verschönerung, – etwa in der Art, wie vor kurzem ein Kleinbürger an seinem Namenstage aus Wut darüber, daß man ihm nicht mehr Schnaps gegeben, in Gegenwart der Gäste plötzlich seine eigenen Teller und Schüssel zerschlagen, seine, wie seines Weibes Kleider zerrissen, die eigenen Möbel zertrümmert und die Fensterscheiben eingeschlagen hatte. Am nächsten Tage bedauerte natürlich der nüchtern gewordene Kleinbürger seine zerschlagenen Tassen und Teller ... Aljoscha wußte, daß auch sein Vater ihn am nächsten Tage wieder zurück ins Kloster gehen lassen werde oder vielleicht schon nach wenigen Stunden. War er doch überzeugt, daß der Vater nicht ihn, sondern einen anderen hatte kränken wollen. Aljoscha war sogar fest überzeugt, daß niemand in der Welt ihn jemals würde beleidigen wollen, und es auch nicht könne. Das war für ihn ein Axiom, das er ohne Bedenken angenommen hatte, und so machte er sich denn in dieser Hinsicht ohne die geringste Sorge auf den Weg. Doch in diesem Augenblick quälte ihn eine ganz andere Angst, die um so quälender war, als er sie sich nicht recht erklären konnte: Es war die Angst vor einem Weibe, und zwar gerade vor Katerina Iwanowna, die ihn in dem von Lisa Chochlakoff überbrachten Brief so inständig zu ihr zu kommen bat, nicht nur bat, sondern verlangte. Dieser Brief nun und die Notwendigkeit, zu ihr zu gehen, hatten sofort ein quälendes Gefühl in seinem Herzen hervorgerufen; und den ganzen Morgen, je mehr die Zeit vorrückte, desto heftiger quälte ihn dieses Gefühl, trotz aller darauffolgenden Szenen in der Zelle des Staretz, wie auch später bei der Abfahrt des Vaters. Nicht die Ungewißheit, wovon sie mit ihm sprechen werde, und was er ihr antworten sollte, ängstigte ihn; auch nicht das Weib überhaupt fürchtete er in ihr: O, Frauen kannte er natürlich wenig, immerhin hatte er von Kindesbeinen an bis zum Eintritt ins Kloster nur bei Frauen gelebt. Er fürchtete gerade Katerina Iwanowna. Er fürchtete sie bereits seit dem Augenblick, da er zum erstenmal bei ihr gewesen war. Nun kam aber noch das hinzu, daß er sie im ganzen nur zwei, oder genau genommen, dreimal gesehen und nur einmal, wenn auch ganz zufällig, ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Er erinnerte sich ihrer als eines schönen, stolzen, gebieterischen Mädchens. Doch nicht ihre Schönheit verwirrte ihn, sondern etwas ganz anderes. Und gerade die Unerklärlichkeit seiner Angst verstärkte diese in ihm noch. Daß die Absichten des jungen Mädchens edel waren, wußte er: Sie wollte seinen Bruder Dmitrij, der sich ihr gegenüber schon vergangen hatte, retten, und zwar wollte sie das nur aus Hochherzigkeit. Doch trotz dieser Erkenntnis und aller Gerechtigkeit, die er diesen guten und edlen Gefühlen unbedingt widerfahren lassen mußte, lief ein Frösteln über seinen Rücken, als es ihm einfiel, daß er schon bald bei ihr sein werde. Er überlegte hin und her und sagte sich, daß er seinen Bruder Iwan Fedorowitsch, der ihr so nahe stand, nicht bei ihr antreffen werde: Iwan war jetzt bestimmt bei seinem Vater. Dmitrij dagegen würde er ganz sicher nicht antreffen, und er ahnte es, warum nicht. Also würde ihr Gespräch unter vier Augen stattfinden. Er wäre aber doch so gern noch vor diesem schrecklichen Gespräch zu seinem Bruder Dmitrij gegangen. Ohne den Brief zu zeigen, hätte er mit ihm über einiges sprechen können. Doch Dmitrij wohnte weit ab und war jetzt bestimmt nicht zu Hause. Aljoscha blieb einen Augenblick stehen, dann aber entschloß er sich. Er schlug hastig ein Kreuz, wie er es immer zu tun pflegte, und ein flüchtiges Lächeln erschien auf seinen Lippen; dann ging er mit festen Schritten weiter zu der gefürchteten Dame. Er wußte, wo sie wohnte. Doch wenn er durch die Große Straße, über den Platz usw. gegangen wäre, so wäre es ein sehr weiter Weg gewesen. Unser kleines Städtchen ist nämlich sehr zerstreut gebaut, zwischen den Häusern ziehen sich oft große Gärten hin, und so sind denn auch die Entfernungen nicht gering. Zudem erwartete ihn doch der Vater, der vielleicht seinen Befehl noch nicht vergessen hatte, infolgedessen aber, wenn Aljoscha nun nicht sofort zu ihm kam, leicht gereizt und eigensinnig werden konnte! Darum mußte sich Aljoscha sehr beeilen. Diese letzte Erwägung brachte ihn auf den Gedanken, den Weg abzukürzen, nämlich durch die Hinterstraßen zu gehen, die er schon wie seine fünf Finger kannte. Dieses „durch die Hinterstraßen“ bedeutete aber fast ohne Straßen gehen, längs einsamer Gemüsegärten und zuweilen selbst unter Hindernissen, da es über kleinere Zäune klettern oder durch fremde Höfe gehen hieß, wo ihn übrigens ein jeder kannte und freundlich grüßte. Auf diese Weise kürzte er den Weg bis zur Großen Straße um die Hälfte. Hier kam er an einer Stelle sogar sehr nahe am väterlichen Hause vorüber, da er längs dem Nachbargarten, der zu einem alten, kleinen, schiefen Häuschen mit vier Fenstern gehörte, gehen mußte. Die Besitzerin dieses Häuschens war, wie Aljoscha wußte, eine städtische Kleinbürgerin, eine halbgelähmte Greisin; sie lebte hier mit ihrer Tochter, einer bereits zivilisierten Kammerzofe, die in der Großstadt bei Generälen gedient hatte, jetzt aber schon seit einem Jahre bei der alten Mutter sich aufhielt und in aufgeputzten Kleidern einherstolzierte. Mutter und Tochter waren nun sehr verarmt, und so gingen sie denn als Nachbarn täglich in die karamasoffsche Küche, wo sie Suppe und Brot bekamen. Marfa Ignatjewna gab es ihnen gern. Und die Tochter kam wohl zum Essen holen, verkaufte aber kein einziges ihrer teuren Kleider, von denen eines sogar eine riesenlange Schleppe haben sollte. Dieses letztere hatte Aljoscha ganz zufällig von seinem Freunde Rakitin gehört, dem wirklich alles in der Stadt bekannt war, und hatte es, nachdem er es gehört, natürlich sofort wieder vergessen. Doch als er jetzt am Garten dieser Nachbarin vorüberging, fiel ihm plötzlich wieder die Schleppe ein; er erhob seinen nachdenklich gesenkten Kopf und ... hatte eine ganz unerwartete Begegnung. Hinter dem Zaun stand, auf irgend etwas hinaufgestiegen, bis zur Brust über dem Zaunrand, sein Bruder Dmitrij Fedorowitsch, der ihm mit den Armen aus allen Kräften irgendwelche Zeichen machte, ihn augenscheinlich heranwinkte, doch wie es schien, nicht nur zu rufen, sondern auch nur ein Wort laut zu sprechen sich fürchtete. Aljoscha ging schnell zum Zaun. „Gut, daß du selbst aufblicktest, sonst hätte ich dich womöglich noch anrufen müssen,“ flüsterte ihm hastig und erfreut Dmitrij Fedorowitsch zu. „Spring rüber! Schnell! Ach, wirklich großartig, daß du gekommen bist. Ich habe die ganze Zeit nur an dich gedacht ...“ Aljoscha war gleichfalls erfreut, nur wußte er nicht, wie er es anstellen sollte, über den Zaun zu kommen. Doch Mitjäs Reckenhand ergriff schon seinen Ellenbogen, um beim kühnen Sprung zu helfen. Aljoscha nahm seine Kutte auf und sprang mit der Gewandtheit eines barfüßigen Straßenbengels über den Zaun. „So, famos, gehen wir!“ stieß Mitjä leise entzückt hervor. „Wohin?“ fragte gleichfalls leise Aljoscha, der sich nach allen Seiten umblickte und sich in einem völlig verlassenen Garten sah, in dem außer ihnen niemand zu sehen war. Der Garten war klein, doch immerhin war das Häuschen mehr als fünfzig Schritt von ihnen entfernt. „Aber hier ist doch kein Mensch, warum flüsterst du?“ „Warum ich flüstere? Ach, ja, Teufel noch eins!“ rief plötzlich Dmitrij Fedorowitsch mit voller, lauter Stimme: „Ja, warum flüsterte ich nur? Da siehst du’s selbst, wie dumm man zuweilen ist. Ich bin heimlich hergekommen und bewache ein Geheimnis. Die Erklärung wird gleich folgen. Da nun hierbei so viel Geheimnis war, fing ich auch geheimnisvoll, wollte sagen, nur ganz leise zu sprechen an und flüsterte wie ein Esel, während das doch gar nicht nötig ist. Gehen wir! Siehst du, dorthin! Bis dahin sei still. Ach, küssen will ich dich! Heil dem Höchsten in der Welt, Heil dem Höchsten auch in mir ... Das habe ich vorhin die ganze Zeit hier auf der Bank wiederholt, bevor du kamst ...“ Der Garten war ziemlich groß und nur ringsum am Zaun mit Bäumen bepflanzt, mit Apfelbäumen, Ahorn, Linden und Birken. In der Mitte des Gartens war ein freier, grüner Platz, eine Wiese, von der im Sommer einige Pud Heu geerntet wurden. Vom Frühling bis zum Herbst wurde dieser Garten von der Besitzerin für ein paar Rubel vermietet. Es waren dort auch einige Beete mit verschiedenen Sträuchern: Stachelbeeren, Johannisbeeren und Himbeerstauden, doch zogen die sich gleichfalls längs des Zaunes hin, und beim Hause waren dann noch ein paar Gemüsebeete. Dmitrij Fedorowitsch führte seinen Bruder in die vom Hause entfernteste Ecke des Gartens. Dort bemerkte Aljoscha plötzlich zwischen alten Linden, dichtem Holundergebüsch und spanischem Flieder eine uralte, schiefe Laube, unter deren Bretterdach, das nicht mehr grün, sondern schon schwarz war, man immerhin noch vor dem Regen hätte Schutz finden können. Diese Laube war, Gott weiß wann, vielleicht vor fünfzig Jahren gebaut worden, von dem früheren Besitzer des Häuschens, Alexander Karlowitsch von Schmidt, einem Oberstleutnant a. D., wie man sich erzählte. Doch alles war schon verfault: Die Bohlen wackelten, und es roch nach feuchtem Holz. In der Mitte stand auf eingerammtem Pfosten ein noch etwas grüner Tisch, um den auf gleichfalls eingerammten Pflöcken drei Bänke standen. Aljoscha war sofort die gehobene Stimmung seines Bruders aufgefallen – als sie jetzt in die Laube traten, bemerkte er auf dem Tisch eine halbe Flasche Kognak und ein Gläschen. „Ja, das ist Kognak!“ sagte Mitjä lachend, „du aber fragst dich schon: ‚Sollte er wieder trinken?‘ Glaube nicht dem Phantom. Glaube nicht der stumpfen Masse, Oh, vergiß die Zweifel alle ... usw. Ich trinke nicht, ich ‚nasche‘ bloß, wie dein Freund, das Schwein Rakitin, sagt, der angehende Staatsrat. Setze dich. Aljoscha, ich würde dich jetzt am liebsten einfach so nehmen und an mein Herz pressen, aus allen Kräften würde ich dich an mich drücken, denn ... im Grunde – begreifst du das? – im Grunde – behalte das! – liebe ich auf der ganzen Welt nur dich allein!“ Er sprach die letzten Worte fast wie in einem Rausch, wie in Verzückung. „Nur dich allein und dann noch eine ‚Niederträchtige‘, in die ich mich verliebt habe, und durch die ich verloren bin. Doch sich verlieben, heißt nicht lieben. Sich in jemanden verlieben kann man auch, wenn man ihn haßt. Behalte das! Jetzt spreche ich vorläufig noch mit heiterer Miene! Setze dich dorthin, hinter den Tisch. Ich werde mich hierher neben dich setzen, dich betrachten und die ganze Zeit sprechen. Du sollst schweigen, ich aber werde alles erzählen, denn jetzt ist es Zeit dazu. Aber, weißt du, ich glaube, es ist doch besser, wenn wir leise sprechen, denn hier ... hier ... können überall die unerwartetsten Ohren horchen. Ich werde alles erklären. Wie gesagt: Erklärung folgt. Warum nur sehnte ich mich nach dir, warum nur erwartete ich dich in all diesen Tagen? – Ich habe mich hier doch schon seit fünf Tagen verankert. – Alle diese Tage? Weil ich nur dir allein alles sagen kann, dir allein, das ist es ja, denn ich brauche dich, denn morgen werde ich aus den Wolken herabfliegen, denn morgen wird das Leben enden und neu beginnen ... Hast du es jemals gefühlt, oder weißt du, wie das ist, wenn man im Traum von einem Berge in ein tiefes, dunkles Loch fällt? Nun, auch ich fliege jetzt hinab, doch nicht im Traum. Fürchte mich aber nicht, und auch du sollst dich nicht fürchten. Das heißt, ich fürchte mich wohl, aber es ist – so süß. Das heißt, nicht süß, sondern ein Rausch des Entzückens ... Ach, nun hol’s der Teufel, einerlei, was das ist. Stark oder schwach oder weibisch – einerlei! Besingen wir lieber die Natur! Sieh, wieviel Sonne hier ist, der Himmel so rein, so hell und hoch, die Blätter sind noch alle grün, ganz wie im Sommer. Vier Uhr nachmittags, diese Stille! ... Wohin wolltest du gehen?“ „Zum Vater, und zuerst wollte ich noch zu Katerina Iwanowna gehen.“ „Zu ihr und zum Vater! Herrgott! Das ist mir mal ein Zusammentreffen! Ja, warum rief ich dich denn, warum ersehnte ich dich, warum dürstete und lechzte ich denn mit allen Ecken und Kanten meiner Seele gerade nach dir? Um dich von mir gerade zum Vater und dann zu ihr, zu Katerina Iwanowna, zu schicken und damit die ganze Geschichte zu beenden, mit ihr wie mit ihm! Ich hätte ja einen jeden schicken können, aber ich wollte nur einen Engel schicken. Und siehe, du wolltest von selbst zu ihr und zum Vater gehen!“ „Wolltest du mich wirklich schicken?“ fragte hastig mit einem krankhaften Gesichtsausdruck Aljoscha, fast gegen seinen Willen. „Wart, – du wußtest es doch. Ich sehe schon, daß du bereits alles begriffen hast. Aber sage noch nichts, schweige. Bedaure nicht und weine nicht!“ Dmitrij Fedorowitsch erhob sich nachdenklich und legte den Finger an die Stirn: „Sie muß dich selbst gerufen haben, sie hat dir einen Brief geschrieben oder vielleicht sonst etwas, darum wolltest du zu ihr gehen, denn sonst wäre es dir doch nicht eingefallen?“ „Ja, sie hat mir geschrieben, hier,“ sagte Aljoscha und zog den Brief aus der Tasche. Mitjä durchflog ihn schnell. „Und du gingst durch die Hinterstraßen! O Götter, ich danke euch, daß ihr ihn durch die Hinterstraßen und mir in die Arme führtet, wie das goldene Fischlein dem alten, törichten Fischer im Märchen. Höre, Aljoscha, Freund und Bruder. Jetzt will ich dir alles sagen. Denn irgend jemandem muß man es doch sagen. Dem himmlischen Engel habe ich es schon gesagt, jetzt muß ich es auch dem irdischen Engel sagen. Das bist du. Du wirst es anhören, du wirst dann urteilen, und du wirst verzeihen ... Gerade das aber habe ich nötig, daß mir ein höheres Wesen verzeiht. Höre: Wenn sich zwei Wesen plötzlich von allem Irdischen losreißen und irgendwohin in etwas Unbekanntes fliegen, oder wenigstens einer von ihnen, und kurz vorher, also – vor dem Aufbruch oder dem Verderben zum anderen geht und ihm sagt: Tue das und das für mich, etwas, worum man sonst nie bittet oder höchstens auf dem Sterbebett, – würde der es dann wirklich verweigern ... wenn er sein Freund, sein Bruder ist?“ „Ich werde es tun,“ sagte Aljoscha, „sage nur, was es ist, und sage es etwas schneller.“ „Schneller ... Hm. Beeile dich nicht so, Aljoscha. Du beeilst dich und bist unruhig. Jetzt hat’s keine Eile mehr. Jetzt ist die Welt in eine neue Bahn gelenkt. Ach, Aljoscha, schade, daß du noch nie bis zur Begeisterung gedacht hast! Doch, übrigens, was sage ich? Du sollst etwa nicht bis zur Begeisterung gedacht haben! Wovon rede ich Dummkopf? ‚Edel sei der Mensch!‘ – Wer hat das gesagt?“ Aljoscha beschloß zu warten. Er sah ein, daß er jetzt hier vielleicht am nötigsten war. Mitjä sann einen Augenblick nach, den Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt. Beide schwiegen sie. „Ljoscha,“ sagte plötzlich Mitjä, „nur du allein wirst nicht lachen! Ich würde am liebsten meine ... Beichte ... mit Schillers Hymne an die Freude beginnen ... Aber ich verstehe kein Deutsch, weiß nur, daß sie ‚An die Freude!‘ heißt. Denk nicht, daß ich betrunken bin und darum so schwatze. Ich bin durchaus nicht betrunken. Kognak ist Kognak, doch ich brauche zwei Flaschen, um mich anzutrinken, – Silen der feiste, kahlköpfige, Ritt trunken auf stolperndem Esel ... ich aber habe noch keine Viertelflasche getrunken und bin nichts weniger als Silen. Bin nicht trunken, wohl aber bin ich stark, denn ich habe auf ewig meinen Entschluß gefaßt. Verzeih mir die dummen Gedichte ... Heute wirst du mir vieles verzeihen müssen und nicht nur Gedichte. Beunruhige dich nicht, ich bin ganz ruhig und werde sofort zur Sache kommen. Will aus meiner Seele keine Mördergrube machen. Wart, wie war doch dieses Gedicht ...“ Er erhob den Kopf, sann ein wenig nach, und plötzlich begann er begeistert: Scheu in des Gebirges Klüften Barg der Troglodyte sich; Der Nomade ließ die Triften Wüste liegen, wo er strich. Mit dem Wurfspieß, mit dem Bogen Schritt der Jäger durch das Land; Weh dem Fremdling, den die Wogen Warfen an den Unglücksstrand! Und auf ihrem Pfad begrüßte, Irrend nach des Kindes Spur, Ceres die verlass’ne Küste, Ach, da grünte keine Flur! Daß sie hier vertraulich weile, Ist kein Obdach ihr gewährt; Keines Tempels heitre Säule Zeuget, daß man Götter ehrt. Keine Frucht der süßen Ähren Lädt zum reinen Mahl sie ein, Nur auf gräßlichen Altären Dorret menschliches Gebein. Ja, so weit sie wandernd kreiste, Fand sie Elend überall, Und in ihrem großen Geiste Jammert sie des Menschen Fall. Ein Schluchzen rang sich aus Mitjäs Seele heraus, und er umklammerte Aljoschas Hand. „Freund, mein Freund, gesunken ist der Mensch, tief gesunken! Der Mensch hat so viel Qualen auf der Erde zu ertragen, hat so viel im Leben zu leiden! Glaub nicht, daß ich nur ein Narr im Offiziersrock bin, einer, der Kognak trinkt und ausschweifend lebt. Freund, denke ich doch fast an nichts anderes, als an diesen erniedrigten Menschen – wenn ich nicht lüge. Gott, laß mich jetzt nicht lügen, nicht mich selbst loben! Ich denke an diesen Menschen, weil ich selbst so ein Mensch bin. Daß der Mensch zum Menschen werde, Stift er einen ew’gen Bund Gläubig mit der frommen Erde, Seinem mütterlichen Grund ... Nur sage mir jetzt: Wie soll ich mich auf ewig mit der Erde verbinden? Ich küsse doch nicht die Erde, ich schneide ihr doch nicht die Brust auf; oder soll ich etwa ein Bauer werden und pflügen oder ein Hirt? Ich gehe und lebe und weiß nicht: Bin ich in Schande und Gestank geraten oder ins Licht und in die Freude? Siehst du, das ist mein Unglück, denn alles auf der Welt ist Rätsel! Und wenn es vorkam, daß ich mich in die tiefste, allertiefste Schmach der Ausschweifung warf (das aber kam so häufig vor, daß es eigentlich ununterbrochen geschah), so sagte ich immer dieses Gedicht von der Ceres vor mich hin. Ob es mich besser machte? Niemals! Denn ich bin ein Karamasoff. Und wenn ich schon einmal in den Abgrund fliege, so fliege ich mit dem Kopf voran und den Fersen nach oben, und ich bin sogar zufrieden damit, daß ich in einer so erniedrigenden Stellung falle, und finde das schön für mich. Und siehe: Gerade in dieser Schmach und Schande stimme ich dann plötzlich die Hymne an. Mag ich verflucht sein, mag ich niedrig und gemein sein, doch laßt auch mich den Saum jenes Gewandes küssen, in das sich mein Gott hüllt; mag ich auch zur selben Zeit dem Teufel folgen, so bin ich doch dein Sohn, Herr, und liebe dich und fühle eine Freude, ohne die die Welt nicht stehen und nicht sein könnte. Freude trinken alle Wesen An den Brüsten der Natur; Alle Guten, alle Bösen Folgen ihrer Rosenspur. Küsse gab sie uns und Reben, Einen Freund, geprüft im Tod; Wollust ward dem Wurm gegeben Und der Cherub steht vor Gott. Doch nun Schluß mit den Gedichten! Ich vergoß vorhin Tränen, aber du, laß mich ruhig weinen. Mag das auch eine Dummheit sein, über die alle lachen würden, nur du lache nicht. Wie deine Augen brennen, Ljoscha! Doch nun, wie gesagt, Schluß mit den Gedichten. Ich will dir jetzt von dem Wurme erzählen, von diesem selben, den die Erde mit Wollust beschenkt hat ... Weißt du, mein Freund, dieser Wurm, das bin ja ich, ich selbst, und das ist ganz speziell nur von mir gesagt. Und wir alle, wir Karamasoffs, sind alle so, und auch in dir, du keuscher Knabe, lebt dieser Wurm und gebiert schon Stürme in deinem Blut. Das – sind Stürme, denn die Wollust ist – Sturm, mehr als Sturm! Die Schönheit ist ein furchtbares und schreckliches Ding! Furchtbar, weil sie unbestimmbar ist, und bestimmen kann man sie nicht, weil Gott nur Rätsel gegeben hat. Hier nähern sich die Ufer; hier leben alle Widersprüche beisammen. Weißt du, Freund, ich bin sehr ungebildet, aber ich habe viel darüber nachgedacht. Es gibt so furchtbar viel Geheimnisse! Zu viele Rätsel bedrücken den Menschen auf Erden. Da heißt es, sie lösen, so gut man’s kann, und trocken aus dem Wasser kommen. Die Schönheit! Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand – meistens sind es sogar Männer mit edlem Herzen und hohem Verstand – mit dem Ideal der Madonna beginnt und bei dem Weibe Sodoms endet. Noch furchtbarer aber ist, wer mit dem Ideale Sodoms in der Seele doch das Ideal der Madonna nicht verneint, nach der sein Herz lechzt und glüht; wahrlich, wahrlich, es glüht und sehnt sich nach ihr, wie in der Jugend, in den noch lasterlosen Jahren. Nein, weit ist der Mensch, sogar allzuweit, ich würde ihn enger machen. Weiß der Teufel, was er eigentlich ist! Was dem Verstande Schmach scheint, erscheint dem Herzen gewöhnlich als Schönheit. Ist denn in Sodom Schönheit? Glaube mir, für die übergroße Mehrzahl der Menschen sitzt sie gerade in Sodom, – wußtest du schon um dieses Geheimnis oder nicht? Schrecklich ist das eine, daß die Schönheit nicht nur etwas Furchtbares, sondern auch etwas Geheimnisvolles ist. Hier ringen Gott und Teufel, und der Kampfplatz – ist des Menschen Herz ... Übrigens, das ist ja immer so: Was einem weh tut, davon redet man. Höre, jetzt komme ich zur Sache. IV. Die Beichte eines heißen Herzens. In Prosa „Ich führte dort ein wüstes Leben. Papa sagte vorhin beim Staretz, ich hätte mehrere Tausende für die Verführung ehrsamer Mädchen verschwendet. Das ist eine schweinische Verleumdung, niemals habe ich das getan. Was aber auch geschah, so bedurfte es ‚dazu‘ – eigentlich nie Geld. Geld, das ist bei mir – _accessoire_, ich weiß nicht was, es muß nur vorhanden sein. Heute ist eine vornehme Dame meine Liebe, morgen an ihrer Stelle ein kleines Straßenmädel. Ich liebe diese wie jene, werfe das Geld mit vollen Händen hinaus, bestelle Musik, Zigeuner. Wenn sie welches braucht, gebe ich natürlich auch ihr, denn sie nehmen es, und wie noch, das muß man allerdings zugeben, und zufrieden sind sie und dankbar. Viele Damen haben mich geliebt, nicht alle, aber doch viele, viele; ich aber liebte immer Winkelgassen, einsame, dunkle Sackgassen, – dort, dort gibt es Abenteuer, dort findet man Unerwartetes, dort wachsen berauschende Blumen im Schmutz. Ich meine das allegorisch, Freund. In unserem Städtchen gab es solche Winkelgassen nicht in Wirklichkeit, dafür aber gab es sie in anderer Beziehung. Wenn du wärest, was ich bin, so würdest du begreifen, was diese letzteren bedeuten. Ich liebte die Ausschweifung, liebte auch den Schmutz der Ausschweifung. Ich liebte die Grausamkeit; bin ich denn kein blutsaugendes Tier, kein bösartiger Wurm? Wie gesagt – bin Karamasoff! Einmal im Winter arrangierte die ganze Gesellschaft ein Picknick; wir fuhren in Troiken hinaus; in der Dunkelheit, im Schlitten begann ich das kleine Händchen des jungen Mädchens, das bei mir saß, zu drücken, und zwang sie zu Küssen. Sie war die Tochter eines Beamten, ein armes, liebes, sanftes Ding war’s. Sie erlaubte es, vieles erlaubte sie in der Dunkelheit. Die arme Kleine glaubte wohl, daß ich am nächsten Tage zu ihnen kommen würde, um einen Heiratsantrag zu machen, denn vor allen Dingen schätzte man mich doch als Heiratskandidaten. Ich aber sprach darauf fünf Monate kein Wort mehr mit ihr, keine Silbe. Wohl sah ich, wie an Tanzabenden – wir taten doch überhaupt nichts anderes als tanzen – aus der Saalecke mich ihre Augen verfolgten, o, ich sah, wie sie brannten – im Feuer heiligen Unwillens. Doch dieses Spiel ergötzte meine Wollust, ergötzte den Wurm, den ich in mir nährte. Nach fünf Monaten heiratete sie einen Beamten und fuhr fort ... in Haß und – vielleicht immer noch in Liebe zu mir. Jetzt leben sie glücklich. Hatte ich doch niemandem etwas davon gesagt, das behalte, ich hatte sie nicht in üblen Ruf gebracht; denn wenn ich auch niedrige Wünsche habe und das Niedrige liebe, so bin ich doch nicht ehrlos. Du errötest, und deine Augen blitzen wieder. Nun, es ist auch genug für dich – genug von diesem Schmutz. Und das ist doch alles noch so: pauldekocksche Blümchen, obgleich der grausame Wurm schon wuchs, schon in der Seele wucherte. Hier gibt es ein ganzes Album Erinnerungen, Freund. Mag Gott ihnen, den lieben Kleinen, Gesundheit schicken! Ich liebte es, beim Abschied ohne Groll auseinanderzugehen. Und niemals erzählte ich etwas, keine einzige brachte ich in schlechten Ruf. Doch genug. Glaubst du wirklich, daß ich dich nur wegen dieser Dummheiten hergerufen habe? Nein, ich werde dir eine interessantere Geschichte erzählen; doch wundere dich nicht, daß ich mich nicht vor dir schäme und scheinbar noch froh bin.“ „Das sagst du jetzt, weil ich erröte,“ bemerkte Aljoscha plötzlich. „Nicht wegen deiner Worte erröte ich und nicht wegen deiner Taten, sondern weil ich dasselbe bin, was du bist.“ „Wer, – du? Nun, da hast du etwas weit vorbeigetroffen.“ „Nein, durchaus nicht so weit,“ sagte eifrig Aljoscha. (Augenscheinlich hatte er diesen Gedanken schon lange gehabt.) „Es sind ein und dieselben Stufen; ich bin noch auf der niedrigsten, du aber bist schon oben, sagen wir, auf der dreißigsten. So sehe ich die Sache an, jawohl, es ist ein und dasselbe, vollkommen gleich. Wer die unterste Stufe betritt, der wird unbedingt auch einmal auf die oberste treten.“ „So ist es wohl am besten, sie überhaupt nicht zu betreten?“ „Wer es kann, ja – der sollte sie überhaupt nicht betreten.“ „Du aber – kannst du das?“ „Ich glaube, nicht.“ „Schweig, Aljoscha, schweig, Liebling, ich möchte deine Hand küssen, so, aus Rührung. Dieser Racker Gruschenka ist wirklich ein Menschenkenner – sie sagte mir vor nicht langer Zeit, sie werde dich irgendeinmal fressen! Doch ich schweige schon, schweige schon! Gehen wir jetzt von dem Häßlichen, diesem Fliegenschmutz, zu meiner Tragödie über, die gleichfalls von Fliegen beschmutzt ist, ich meine, von Gemeinheiten aller Art. Die Sache ist nämlich die: Wenn der Alte auch beim Staretz das von der Verführung ehrsamer Mädchen gelogen hat, so war es doch im Grunde in meiner Tragödie genau so – nur war es das einzige Mal, und auch da kam es nicht dazu. Der Alte aber weiß von dieser Geschichte nichts: Ich habe sie niemandem erzählt; du bist der erste, der sie hört, natürlich abgesehen von unserem Bruder Iwan, Iwan weiß alles. Er weiß es schon längst; aber Iwan ist ein – Grab.“ „Iwan ein – Grab?“ „Ja.“ Aljoscha hörte mit größter Spannung zu. „In jenem Bataillon, im Linienregiment, in dem ich nach dem Duell stand, war ich doch gewissermaßen unter Aufsicht, selbst als Fähnrich wurde ich wie etwa ein Verschickter behandelt. Das Städtchen aber nahm mich mit offenen Armen auf. Geld verschwendete ich sehr viel; man glaubte, daß ich reich sei, und ich glaubte es ja auch selbst. Aber, weißt du, ich gefiel ihnen, wie es schien, noch durch etwas anderes. Wenn sie auch die Köpfe schüttelten, so liebten sie mich doch wirklich aufrichtig. Plötzlich aber hatte mein Oberstleutnant etwas gegen mich. Er suchte mir immer etwas anzuhängen, ich aber war vollkommen im Recht, und die ganze Stadt stand für mich, so konnte er mich nicht allzusehr schikanieren. Natürlich lag die Schuld an mir; ich erwies ihm absichtlich nicht die schuldige Ehrerbietung; war stolz. Dieser alte Starrkopf, der übrigens durchaus kein übler Mensch, sondern ein gutmütiger, gastfreier, älterer Herr war, hatte zweimal geheiratet, doch beide Frauen waren schon gestorben. Die erste war einfacher Herkunft gewesen und hatte ihm nur eine Tochter hinterlassen, die gleichfalls ziemlich einfach aussah; sie war damals schon ein vierundzwanzigjähriges Mädchen und lebte mit ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter, beim Vater. Die Tante war eine schweigsame Person, ihre Nichte jedoch, also die älteste Tochter meines Oberstleutnants, war das temperamentvolle Gegenteil. Weißt du, Liebling, ich sage gern ein gutes Wort, wenn ich an jemanden zurückdenke: Niemals habe ich einen Frauencharakter gesehen, der prächtiger gewesen wäre als der Charakter dieses Mädchens, Agafja hieß sie, Agafja Iwanowna. Ja, und an sich sah sie gar nicht übel aus, für russischen Geschmack – hochgewachsen, stark, fest gebaut, prachtvolle Augen, das Gesicht allerdings etwas einfach. Sie heiratete nicht, obgleich zwei bei ihr ansprachen, sie lehnte vielmehr ab, verlor aber nicht ihr heiteres Gemüt. Wir traten uns beide näher – doch nicht in diesem Sinne, nein, es war rein, einfach freundschaftlich. Bin ich doch häufig Frauen ganz sündenlos nähergetreten, eben wie ein Freund. Schwatzte mit ihr so aufrichtig, Herrgott! – sie aber lachte nur. Viele Frauen lieben solche Aufrichtigkeit, behalte das, sie aber war doch noch ein junges Mädchen, was mich ungemein amüsierte. Und dann noch eines: Man konnte sie unmöglich gnädiges Fräulein nennen. Sie und ihre Tante lebten beim Vater, doch wie soll ich sagen, sie erniedrigten sich selbst freiwillig, stellten sich jedenfalls mit der ganzen übrigen Gesellschaft nicht auf gleichen Fuß. Alle hatten sie gern und hatten sie nötig, denn was die Schneiderkunst anbetrifft, war sie eine Autorität: hatte wirklich Talent; Geld nahm sie natürlich nicht für ihre Hilfe, machte man ihr aber Geschenke, so nahm sie diese an und freute sich. Der Oberstleutnant aber, o – der! Der war die erste Persönlichkeit der Stadt, lebte auf großem Fuß, gab Diners und Bälle. Als ich hinkam, sprach man gerade in der ganzen Stadt davon, daß bald auch seine zweite Tochter, die schönste aller Schönheiten, aus der Hauptstadt zum Besuch nach Hause kommen werde, da sie dort soeben ihr aristokratisches Institut verlassen hätte. Diese zweite Tochter nun – das war Katerina Iwanowna, sein einziges Kind von der zweiten Frau. Diese seine zweite Frau war aus vornehmem Hause gewesen, Tochter eines angesehenen Generals, glaube ich; doch hatte sie, wie ich genau weiß, kein Geld in die Ehe gebracht. Also mußte sie dafür eine gute Verwandtschaft gehabt haben und vielleicht noch irgendwelche Hoffnungen auf Erbschaften, aber bar jedenfalls nichts. Damals war sie, wie gesagt, schon tot, und er war Witwer. Als aber dann die Tochter ankam, nur zum Besuch, nicht auf immer, belebte sich sofort die ganze Stadt, sogar unsere vornehmsten Damen – zwei Exzellenzen, die Frau des Obersten und alle, die nach ihnen kamen, rissen sich geradezu um sie. Sie war die Königin der Bälle; man arrangierte für sie Ausfahrten, Schlittenpartien, lebende Bilder zum Besten armer Gouvernanten usw. Ich schwieg, ich führte mein Leben unverändert so fort, und gerade damals schoß ich so ein besonderes Stückchen los, daß die ganze Stadt auf dem Kopf stand. Ich sehe, sie mißt mich einmal so mit dem Blick, auf dem Balle beim Batteriekommandeur war’s; ich aber ließ mich noch immer nicht vorstellen: Nun, verschmähte es, ihre Bekanntschaft zu machen. Erst nach einiger Zeit ließ ich mich vorstellen, begann ein Gespräch; sie antwortete kaum, verzog nur spöttisch verächtlich die Lippen. Warte, denke ich, dafür werde ich mich rächen! Vor allen Dingen fühlte ich, daß Katjenka nicht etwa ein unschuldiges Pensionsdämchen war, sondern eine Persönlichkeit mit Charakter, ein stolzes, doch wirklich edles Weib, und zwar ein kluges und gebildetes – ich aber war weder klug noch edel. Du glaubst, ich beabsichtigte damals ihr einen Heiratsantrag zu machen? Fiel mir nicht ein! Ich wollte mich ganz einfach dafür rächen, daß sie mich, der ich doch solch ein famoser Bursche war, absichtlich nicht beachtete. Inzwischen ging mein Leben unverändert weiter, lebte _in dulci jubilo_. Schließlich gab mir mein Oberstleutnant drei Tage Stubenarrest, und gerade in dieser Zeit schickte mir der Alte von hier aus sechstausend Rubel, nachdem ich den formellen Verzicht auf alles und jedes geleistet hatte, ich meine, daß wir quitt seien und daß ich nichts mehr verlangen werde. Ich begriff damals keinen Deut von der ganzen Geldgeschichte mit dem Vater. Offen gestanden, bis ich herkam, begriff ich noch immer nichts, vielleicht bis zu diesen letzten Tagen, vielleicht aber begreife ich auch heute noch nichts davon. Doch zum Teufel damit, davon später. Damals aber, als ich diese Sechstausend erhalten hatte, erfuhr ich plötzlich durch einen Freund – er schrieb mir einen Brief – eine für mich ungemein interessante Sache, nämlich, daß man mit unserem Oberstleutnant nicht ganz zufrieden war, daß man ihn sogar im Verdacht hätte, das Regimentsgeld zu anderen Zwecken zu verwenden, kurz – seine Feinde bereiteten ihm eine Überraschung vor, und wirklich, alsbald kam der Divisionsgeneral und wusch ihm ganz unglaublich den Kopf. Ziemlich kurze Zeit darauf, bekam er den Befehl, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Ich will mich hier nicht weiter bei den Einzelheiten aufhalten, wie alles herauskam, und so weiter und so weiter, er hatte wirklich viele Feinde. Man bemerkte sofort, daß alle ungemein kühl gegen ihn und seine ganze Familie wurden und sich dann plötzlich von ihm zurückzogen. Nun, und so kam es denn zu meinem ersten ‚Scherz‘: Zufällig treffe ich Agafja Iwanowna, mit der ich immer gut Freund war, und plötzlich sage ich zu ihr: ‚Wissen Sie, Ihrem Vater fehlen viertausendfünfhundert Rubel Krongelder.‘ – ‚Was sagen Sie? Wie kommen Sie darauf? Vor kurzem war noch der General hier, und es fehlte doch nichts ...‘ – ‚Damals nicht, doch jetzt fehlen sie in der Kasse.‘ Sie erschrak natürlich furchtbar: ‚Ängstigen Sie mich, bitte, nicht; wer hat es Ihnen gesagt?‘ – ‚Beunruhigen Sie sich nicht,‘ sage ich, ‚ich werde es niemandem sagen, Sie wissen doch selbst, daß ich in der Beziehung ein Grab bin, doch hören Sie, was ich Ihnen in dieser Angelegenheit noch sagen will, nur so „auf alle Fälle“: Wenn man von Ihrem Vater die viertausendfünfhundert Rubel verlangt, er sie aber nicht hat, so schicken Sie lieber, anstatt ihn auf seine alten Tage noch vors Gericht und dann als Soldat nach Sibirien zu bringen, schicken Sie dann lieber Ihre Schwester Katerina Iwanowna heimlich zu mir; man hat mir gestern mein Geld gesandt, ich würde ihr dann gerne die viertausendfünfhundert geben und das Geheimnis hoch und heilig bewahren.‘ – ‚Ach,‘ sagte sie, ‚wie gemein Sie sind,‘ – sie sagte es gerade so – ‚wie niederträchtig gemein! Wie wagen Sie es, so etwas zu sagen!‘ Sie ging maßlos empört fort; ich aber rief ihr noch einmal nach, daß ich das Geheimnis heilig halten werde. Diese beiden Weiber, die Agafja und ihre Tante – das schicke ich voraus –, erwiesen sich in dieser ganzen Geschichte als die reinen Engel; die Schwester aber, die stolze Katjä, wurde von ihnen geradezu vergöttert, sie erniedrigten sich freiwillig vor ihr, waren fast ihre Kammerzofen. Selbstverständlich hatte ihr damals Agafja diese Geschichte – ich meine, unser Gespräch – sofort wiedererzählt. Das erfuhr ich später ganz genau. Sie verheimlichte es also nicht vor ihr! Nun wohl, das aber war’s ja gerade, worauf ich rechnete. „Da kommt nun mit einemmal der neue Major an, um das Bataillon zu übernehmen. Übernimmt es; doch siehe, der alte Oberstleutnant wird plötzlich krank, kann sich nicht bewegen, sitzt zweimal vierundzwanzig Stunden zu Haus und – übergibt nicht die Kasse. Unser Doktor Krawtschenko versicherte später, er sei wirklich krank gewesen; nur hatte ich schon längst unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit etwas anderes erfahren: daß die Summe jedesmal nach der Revision auf einige Zeit verschwand, und zwar schon seit vier Jahren. Der Oberstleutnant lieh sie nämlich dem ehrlichsten Menschen der Welt, unserem Kaufmann Trifonoff, einem alten Witwer mit langem Bart und goldener Brille. Jener fuhr dann auf die Jahrmärkte, setzte dort das Geld in Umsatz und händigte hernach dem Oberstleutnant die ganze Summe ungeschmälert wieder ein, brachte ihm Geschenke und Delikatessen mit, und mit den Delikatessen auch die Prozente. Diesmal aber – ich erfuhr es ganz zufällig von einem dummen Bengel, dem Söhnchen Trifonoffs, ja, seinem Söhnchen und Erben, dem verderbtesten Jungen, den die Welt je hervorgebracht –, diesmal aber war Trifonoff zurückgekehrt und hatte nichts wiedergegeben. Der Oberstleutnant stürzte natürlich zu ihm: ‚Wie, ich habe nichts von Ihnen erhalten,‘ war dessen Antwort, ‚und wie hätte ich überhaupt etwas von Ihnen erhalten können?‘ Nun, und da saß denn unser Oberstleutnant zu Haus, den Kopf mit einem Handtuch umwickelt; alle drei bemühten sie sich um ihn, legten ihm Eis an die Schläfen. Da kommt plötzlich eine Ordonnanz mit dem Buch und dem Befehl: ‚Sofort die Kasse übergeben, binnen zwei Stunden.‘ Er unterzeichnete – ich habe diese Unterschrift später selbst gesehen –, erhob sich, sagte, er wolle seine Uniform anziehen, ging in sein Schlafzimmer, nahm seine zweiläufige Jagdflinte, lud sie, nahm eine gute Soldatenkugel, zog den rechten Stiefel aus, stützte sich mit der Brust auf die Flinte und begann mit dem Fuß den Hahn zu suchen. Agafja aber, der meine Worte nicht aus dem Sinn gekommen waren, hatte schon so etwas Ähnliches erwartet und war zur rechten Zeit herangeschlichen. – Sie stürzte natürlich hinein, ergriff ihn hinterrücks: die Kugel flog in die Decke und verwundete niemanden. Nun, und dann kamen auch die anderen hinzugelaufen, ergriffen ihn, nahmen ihm die Flinte fort, hielten ihn fest ... Das erfuhr ich alles erst später ausführlich. Ich saß gerade zu Hause; es dämmerte bereits. Ich wollte ausgehen, hatte mich angezogen, frisiert, mein Taschentuch parfümiert, nahm schon meine Mütze, als plötzlich die Tür aufgeht, und – vor mir steht in meiner Wohnung Katerina Iwanowna ... „Es gibt sonderbare Zufälle: Niemand hatte es damals in der Dämmerung auf der Straße bemerkt, daß sie zu mir gekommen war. Ich aber wohnte bei zwei uralten Beamtenwitwen; zwei ehrerbietige, alte Weiber waren’s, gehorchten mir in allem und schwiegen später über diesen Besuch auf meinen Befehl wie zugenäht ... Natürlich begriff ich sofort alles. Sie trat herein und sah mich unbeweglich an. Ihre dunklen Augen blickten entschlossen, fast sogar herausfordernd, doch auf den Lippen und um den Mund herum, das sah ich, lag Unentschlossenheit. „‚Meine Schwester hat mir gesagt, Sie würden viertausendfünfhundert Rubel dafür geben – wenn ich selbst sie abholen käme ... ich selbst zu Ihnen. Ich bin gekommen ... geben Sie! ...‘ Sie konnte nicht mehr, der Atem blieb ihr stehen; sie erschrak, die Stimme versagte ihr, und die Mundwinkel und die Linien um die Lippen erzitterten. Aljoschka, hörst du – oder schläfst du?“ „Mitjä, ich weiß, daß du die ganze Wahrheit sagen wirst,“ stieß Aljoscha erregt hervor. „Ja, die werde ich sagen ... Wenn ich die ganze Wahrheit sagen soll, so war es so, ich werde mich selbst nicht schonen. Der erste Gedanke war – ein Karamasoffscher. Weißt du, einmal hatte mich eine giftige Spinne gebissen, zwei Wochen lag ich darauf im Fieber; nun, so fühlte ich auch jetzt, wie eine giftige Spinne in mein Herz biß. Das heimtückische Insekt, begreifst du? Ich maß sie mit dem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. Hast du sie gesehen? Schön ist sie! Doch nicht das machte damals ihre Schönheit aus. Schön war sie in jener Stunde dadurch, daß sie edel, ich aber ein Schuft war, daß sie stolz in ihrem hochherzigen Opfer für den Vater vor mir stand, ich aber ein scheußliches Insekt vor ihr war. Und von mir, dem Schuft und niedrigen Insekt, hängt sie _ganz_ ab, ganz, ganz und gar, mit Seele und Leib. Ganz, wie sie dort vor mir steht. Ich sage dir, Freund: Dieser Gedanke, dieser Gedanke der giftigen Spinne packte mein Herz dermaßen, daß es vor Qual vergehen wollte ... Man sollte meinen, einen Kampf hätte es überhaupt nicht mehr geben können: einfach wie eine boshafte Tarantel verfahren, ohne jedes Mitgefühl ... Ich glaubte zu ersticken. Hör, ich wäre doch sofort, am nächsten Tage schon, zu ihnen gefahren und hätte um ihre Hand gebeten, um das alles sozusagen in der anständigsten Weise zu decken, und somit hätte niemand etwas Schlechtes sagen können. Denn wenn ich auch ein Mensch mit niedrigen Begierden bin, so bin ich doch ehrenhaft, so habe ich doch meine Ehre. Und plötzlich, in derselben Sekunde, flüsterte mir etwas ins Ohr: ‚Aber morgen wird doch solch eine, wenn du mit dem Heiratsantrag kommst, dich überhaupt nicht empfangen, wird dich durch den Kutscher vom Hof treiben lassen‘: ‚Erzähl es doch der ganzen Stadt, wenn du willst, ich fürchte dich nicht!‘ – Ich blickte sie an: Meine Stimme hatte nicht gelogen: so würde es sein, selbstverständlich, genau so. Daß man mich morgen hinauswerfen werde, konnte ich schon jetzt an ihrem Gesichte sehen. Die Wut kochte in mir auf; mich überkam die Lust, das Gemeinste, Schweinischste zu begehen, wie es etwa die elende Krämerseele eines Ladenkaufmanns fertig gebracht hätte: sie spöttisch anzublicken und gleich hier noch, so lange, wie sie vor mir stand, ein paar Worte zu sagen, so mit einer gewissen Intonation, wie es nur ein Kaufmann zu sagen versteht: „‚Was – viertausend! Das fehlte noch! Ich habe doch nur gescherzt! Sie sind wirklich gar zu leichtgläubig, meine Gnädigste; zweihundert Rubelchen würde ich, nun, meinetwegen, noch mit Vergnügen und sehr gerne geben, aber viertausend, Fräuleinchen, sind doch kein Geld, das man für so leichtsinnige Sachen zum Fenster hinauswirft. Haben sich unnütz zu bemühen geruht.‘ „Sieh, ich hätte dann natürlich alles verloren; sie wäre fortgelaufen, doch dafür wäre es teuflische Rache gewesen und hätte für alles andere entschädigt. Ich hätte freilich mein ganzes Leben lang vor Reue geweint. Aber nur jetzt ihr dieses Stückchen spielen! Glaubst du mir, kein einziges Mal war es mit mir geschehen, noch mit keinem einzigen Weibe, daß ich sie in solch einer Minute gehaßt hätte – doch glaube mir, sieh, ich bekreuze mich: auf diese aber blickte ich drei oder fünf Sekunden lang so haßerfüllt, mit solch einem Haß – mit demselben wütenden Haß, von dem es bis zur Liebe, zur sinnlosesten, wahnsinnigsten Liebe – nur ein Haarbreit ist! Ich trat ans Fenster, preßte die Stirn an das befrorene Glas, und ich weiß noch, das Eis brannte wie Feuer auf meiner Stirn. Ich hielt sie nicht lange auf, hab keine Angst, Bruder. Ich wandte mich wieder um, ging zum Tisch, schloß das Schubfach auf und nahm die fünftausendrublige Banknote _au porteur_ (sie lag in meinem französischen Lexikon). Ich zeigte sie ihr schweigend, schob sie in ein Kuvert, überreichte es ihr, öffnete ihr selbst die Tür zum Vorzimmer, trat darauf einen Schritt zurück und verneigte mich tief vor ihr in der ehrerbietigsten, aufrichtigsten Weise, glaub es mir! Sie fuhr zusammen, blickte mich starr eine Sekunde lang an, wurde dann furchtbar bleich, wie ein Handtuch, und plötzlich – gleichfalls ohne ein Wort zu sagen, doch nicht mit einem Ruck, sondern so weich kniete sie gerade vor mir nieder, verbeugte sich leise tief, tief – und – berührte mit der Stirn den Boden! Nicht etwa schulmädchenhaft, nein – russisch! Sie erhob sich und lief hinaus. Als sie hinausgelaufen war – weißt du, ich hatte den Säbel schon umgeschnallt –, riß ich meinen Säbel aus der Scheide und wollte mich erstechen. Warum? – Das weiß ich nicht, und es wäre natürlich eine furchtbare Dummheit gewesen, aber wahrscheinlich vor Begeisterung. Begreifst du auch, daß man sich vor Begeisterung, einer gewissen Art von Begeisterung, töten kann? Doch ich erstach mich nicht, ich küßte nur die Klinge und schob sie wieder in die Scheide – was ich übrigens jetzt auch nicht zu erwähnen brauchte. Ich glaube sogar, daß ich soeben in der Erzählung aller dieser Kämpfe etwas weitschweifig gewesen bin, um mich herauszustreichen. Aber ... nun schön, meinetwegen, mag’s auch so gewesen sein, der Teufel hole alle Spione des Menschenherzens! Das ist also meine ganze ‚Geschichte‘ mit Katerina Iwanowna. Jetzt wissen davon Iwan und du – und sonst niemand.“ Dmitrij Fedorowitsch erhob sich, tat erregt ein paar Schritte hin und her, zog sein Taschentuch heraus, trocknete sich die Stirn, setzte sich darauf wieder hin, doch nicht auf den früheren Platz, sondern an der anderen Tischseite, so daß Aljoscha sich seitlich zu ihm wenden mußte. V. Die Beichte des heißen Herzens. „Kopfüber hinab“ „Jetzt kenne ich die erste Hälfte dieser Geschichte,“ sagte Aljoscha. „Die erste Hälfte verstehst du: Das ist ein Drama und spielte sich dort ab. Die zweite Hälfte jedoch ist eine Tragödie und wird sich hier abspielen.“ „Von der zweiten Hälfte verstehe ich vorläufig noch nichts,“ sagte Aljoscha. „Und ich etwa? Glaubst du, daß ich etwas davon verstehe?“ „Wart, Dmitrij, hier ist vor allem eines von Wichtigkeit: Sag mir, du bist doch verlobt, auch jetzt noch verlobt mit ihr?“ „Ich verlobte mich mit ihr nicht gleich darauf, sondern ungefähr erst nach drei Monaten. Am nächsten Tage, nachdem sie bei mir gewesen war, sagte ich mir, daß die Geschichte erledigt und abgetan sei, daß es eine Fortsetzung nicht mehr geben werde. Jetzt noch mit einem Heiratsantrag zu kommen, schien mir taktlos, niedrig. Ihrerseits ließ sie in den ganzen sechs Wochen, die sie noch in der Stadt verlebte, kein Wort von sich hören. Das heißt, abgesehen von dem einen Mal: am nächsten Tage kam nämlich ihre Stubenmagd heimlich zu mir und übergab mir, ohne ein Wort zu sagen, einen kleinen Packen. Draufgeschrieben war nur die Adresse: Dem und dem. Ich machte es auf: der Rest von den Fünftausend. Sie hatte ja im ganzen nur viertausendfünfhundert nötig gehabt, und beim Verkauf der Banknote war es ungefähr auf einen Verlust von zweihundert und einiges herausgekommen. Sie schickte mir im ganzen, ich glaube, zweihundertsechzig Rubel zurück, ich weiß es nicht mehr genau, und sonst nichts, nur das Geld – keinen Brief, kein Wörtchen, keine Erklärung. Ich durchsuchte das ganze Papier nach irgendeinem Bleistiftzeichen – n–nichts! Nun, ich lebte inzwischen für mein übriges Geld flott drauflos, so daß auch der neue Major gezwungen war, mir einen Verweis zu geben. Der Oberstleutnant aber übergab glücklich die Kasse zur nicht geringen Verwunderung seiner Kameraden, denn niemand hatte von ihm den Besitz der ganzen Summe erwartet. Er übergab sie, erkrankte aber gleich darauf, lag drei Wochen, dann kam plötzlich Gehirnerweichung hinzu, und nach fünf Tagen war er tot. Man beerdigte ihn mit allen militärischen Ehren, denn er hatte noch nicht den Abschied bekommen. Katerina Iwanowna, ihre Schwester und Tante fuhren nach Moskau, schon am zehnten Tage nach der Beerdigung. Und da erst, vor der Abfahrt, am selben Tage, an dem sie fortfuhren (ich hatte sie nicht gesehen und nicht begleitet), erhalte ich einen kleinen Brief, blau, teures Papier, und auf dem ganzen Bogen steht nur eine einzige Zeile, mit der Bleifeder geschrieben: ‚Ich werde Ihnen schreiben, warten Sie. K.‘ Und das war alles. „Das übrige laß mich dir kurz in zwei Worten erklären. In Moskau veränderten sich ihre Verhältnisse mit Blitzesschnelle und ebenso unerwartet, wie es in arabischen Märchen zu geschehen pflegt. Eine alte Generalin, ihre reichste Verwandte, verlor plötzlich ihre beiden nächsten Nichten, beide starben in ein und derselben Woche an den Pocken. Die erschütterte Alte freute sich über Katjä, als hätte sie in ihr eine leibliche Tochter gefunden und veränderte das Testament sofort zu ihren Gunsten. Doch das war für die Zukunft, vorläufig aber werden ihr achtzigtausend Rubel sofort blank und bar ausgezahlt – das wäre deine Aussteuer, mach damit, was du willst. Hysterisches Frauenzimmer, habe sie später in Moskau beobachtet. Nun und: plötzlich erhalte ich per Post viertausendfünfhundert Rubel – bin natürlich wie vom Schlage gerührt. Nach drei Tagen kommt der versprochene Brief. Ich habe ihn auch jetzt bei mir, ich habe ihn immer bei mir; ich werde auch mit ihm sterben – willst du, daß ich ihn dir zeige? Du mußt ihn unbedingt lesen: Sie bietet sich als Braut an, bietet sich selbst an, sagt: ‚Ich liebe Sie sinnlos, wenn Sie mich auch nicht lieben, einerlei, seien Sie nur mein Mann. Fürchten Sie nichts – ich werde Ihre Freiheit in nichts beeinträchtigen, werde nur eines Ihrer Möbel sein, der Teppich, auf dem Sie gehen ... Ich will Sie ewig lieben, ich will Sie vor sich selbst retten ...‘ Aljoscha, ich bin es nicht wert, diese Zeilen auch nur wiederzugeben, mit meinen gemeinen Worten und in einem gemeinen Ton, meinem immer gemeinen Ton, von dem ich mich niemals habe losmachen können! Dieser Brief durchdrang mich bis in alle Ewigkeit – und tut er es nicht heute noch? Ist mir denn heute leicht zumut? Damals schrieb ich ihr sofort die Antwort. Ich konnte unmöglich selbst nach Moskau fahren. Schrieb sie mit Tränen; nur einer Sache schäme ich mich maßlos: Ich erwähnte, daß sie jetzt reich sei – ich, der ich doch nur ein bettelarmer Soldat war – erwähnte das Geld! Ich hätte das stillschweigend ertragen müssen, aber die Feder schrieb es von selbst. Gleich darauf, am selben Tage noch, schrieb ich nach Moskau auch an Iwan und erklärte ihm alles, so gut es brieflich ging, in sechs Bogen, und bat ihn, zu ihr zu gehen, schickte ihn zu ihr. Warum blickst du mich so an? Nun ja, Iwan verliebte sich in sie, ist auch jetzt noch in sie verliebt, ich weiß es genau. Eurer Meinung nach beging ich eine Dummheit, und so urteilt auch die ganze Welt, vielleicht aber wird gerade diese Dummheit uns alle retten! Ach! Siehst du denn nicht, wie sie ihn verehrt, wie hoch sie ihn achtet? Kann sie denn überhaupt, wenn sie uns beide vergleicht, solch einen wie mich lieben, und das noch nach allem, was hier vorgefallen ist?“ „Ich bin überzeugt, daß sie gerade so einen wie dich liebt und nicht so einen wie ihn.“ „Sie liebt ihre eigene Hochherzigkeit, aber nicht mich,“ kam es plötzlich fast ingrimmig über Dmitrij Fedorowitschs Lippen. Er lachte kurz auf, doch schon nach einer Sekunde blitzten seine Augen, und er schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch. „Ich schwöre es dir, Aljoscha,“ rief er, in einer furchtbaren Wut auf sich selbst, „glaub es mir oder glaub es mir nicht, doch so wahr, wie Gott heilig und Christus unser Herr ist, schwöre ich dir, daß ich, wenn ich auch soeben über ihre Gefühle lachte, doch weiß, daß diese ihre Gefühle ebenso rein sind wie die Gefühle eines himmlischen Engels! Das ist ja die Tragödie, daß ich das genau weiß! Was will es besagen, daß der Mensch ein wenig deklamiert? Deklamiere ich denn etwa nicht? Und doch bin ich aufrichtig, ehrlich aufrichtig. Was aber Iwan anbetrifft, so begreife ich doch, mit welch einem Fluch er jetzt auf die Fügung der Natur blicken muß, und das noch bei seinem Verstande! Wem – bedenke doch nur – wem der Vorzug gegeben wird! Dem Scheusal, diesem Wüstling, der selbst als Verlobter, und obwohl ihn alle beobachten, von seinem wüsten Leben nicht lassen kann – und das vor den Augen seiner Braut, seiner Braut! Und nun wird solch einer, wie ich, vorgezogen, und Er wird verschmäht! Und warum nur? Weil das Mädchen aus Dankbarkeit ihr Leben und ihr Schicksal vergewaltigen will! O Sinnlosigkeit! Ich habe Iwan in diesem Sinne niemals etwas gesagt, und Iwan hat natürlich auch zu mir mit keiner Silbe davon gesprochen, nie, nie etwas erwähnt. Doch das Schicksal wird entscheiden, und der Würdige wird an die Stelle des Unwürdigen treten, und der Unwürdige wird auf ewig in der Winkelgasse verschwinden – in seiner schmutzigen Winkelgasse, und dort wird er im Schmutz und Gestank freiwillig und mit Entzücken zugrunde gehen. Ach, wieder rede ich fades Zeug, meine Worte sind alle so abgenutzt, stelle sie immer irgendwie aufs Geratewohl. Doch so, wie ich es bestimmt habe, so wird es sein. Ich in die Winkelgasse, und sie muß Iwan heiraten.“ „Erlaube, Mitjä,“ unterbrach ihn Aljoscha ungewöhnlich erregt. „Du hast mir bis jetzt noch immer nicht das eine erklärt: Du bist doch mit ihr verlobt, bist doch ihr Verlobter? Wie willst du dann die Verlobung aufheben, wenn sie, deine Braut, es nicht will?“ „Ja, ich bin ihr Verlobter, die Verlobung wurde in Moskau gleich nach meiner Ankunft gefeiert, wie es sich gehört, in großer Gala, mit Heiligenbildern und so: _comme il faut_. Die Generalin segnete mich, und – was glaubst du wohl – beglückwünschte sogar Katjä: Du hast eine gute Wahl getroffen, ich kenne ihn ganz. Und denk doch, Iwan liebte sie nicht, und sie wünschte ihm auch kein Glück. In Moskau besprach ich noch vieles mit Katjä; ich sagte ihr, wer ich bin, beschönigte nichts, sprach aufrichtig und edel. Sie hörte bis zum Schluß zu, nun, und: ‚Süße Verwirrung gab es, Und manch zärtliches Wort ...‘ „Nun, es gab auch stolze Worte. Sie rang mir damals das große, heilige Versprechen ab, mich zu bessern. Ich gab das Versprechen. Und nun ...“ „Was?“ „Und nun habe ich dich hergerufen und über den Zaun gelockt, heute, heutigen Datums – behalt das! – um dich heute noch zu Katerina Iwanowna zu schicken, und ...“ „Und?“ „Und ihr durch dich sagen zu lassen, daß ich niemals mehr zu ihr kommen werde – und ihr meinen Abschiedsgruß sende.“ „Wie ist das nur möglich?“ „Aber darum schicke ich doch dich, anstatt daß ich selbst hingehe, weil das unmöglich ist, denn wie sollte ich ihr selbst das sagen?“ „Aber wohin willst du denn?“ „In die Winkelgasse.“ „Zu Gruschenka?“ rief Aljoscha und sah ihn erschrocken und traurig an. „So hat Rakitin vielleicht doch die Wahrheit gesagt? Ich glaubte, daß du nur so zu ihr gingest, und das wäre alles.“ „Und das als – Verlobter? Meinst du das im Ernst? Wie ist denn das möglich, wenn man solch eine Braut hat, und ... und so öffentlich? Nein, meine Ehre habe ich noch, sei unbesorgt. Sowie ich zu Gruschenka zu gehen begann, hörte ich sofort auf, Katjäs Verlobter und ein Ehrenmann zu sein, das begreife ich doch selbst. Warum siehst du mich so an? Ja, siehst du, ich ging ganz zuerst hin, um sie zu prügeln. Ich erfuhr es aus sicherer Quelle, daß dieser Gruschenka von Papachens Anwalt, jenem rotbärtigen Hauptmann, mein Wechsel übergeben worden war, damit sie ihn einklage, um mich still zu machen. Und so begab ich mich denn zu Gruschenka, um sie zu verprügeln. Ich hatte sie auch früher schon flüchtig gesehen. Sie frappiert nicht sonderlich. Von dem alten Kaufmann wußte ich, der jetzt zum Überfluß noch krank, halb gelähmt ist, ihr aber doch ein bedeutendes Sümmchen hinterlassen wird. Auch wußte ich, daß sie Geld zu verdienen liebt, sogar viel verdient, ihr Geld zu hohen Prozenten verleiht, daß sie schlau und erbarmungslos ist. Ich ging, um sie zu schlagen und – blieb bei ihr. Das Gewitter zog auf, der Blitz schlug ein, die Seuche steckte mich an, und ich bin ihr anheimgefallen. Weiß ich doch, daß jetzt alles aus ist, daß es jetzt nie mehr etwas anderes geben wird. Der Ring der Zeiten ist vollendet; das ist alles. Damals aber befanden sich gerade, wie vom Verhängnis geschickt – in meiner Tasche, in meiner, obgleich ich doch nichts mehr besaß, dreitausend Rubel. Wir fuhren dann sofort nach Mokroje, das ist fünfundzwanzig Werst von hier. Ich bestellte Zigeuner und Zigeunerinnen hin, Champagner, ließ dort allen Bauern, Weibern, Mädeln Champagner geben, bis sie betrunken waren, warf die Tausende hinaus. Nach drei Tagen war alles durchgebracht. Du glaubst, ich hätte etwas erreicht? Nicht einmal an sich herankommen ließ sie! Ich sage dir: Gruschenka, der Racker, hat solch eine Linie, die sich selbst an ihrem Füßchen wiederholt, sogar im kleinen Zehchen des linken Fußes. Hab selbst gesehen und geküßt, aber das ist auch alles – ich schwöre es dir! Sie sagt: ‚Wenn du willst, werde ich dich heiraten, denn du hast ja nichts. Versprich mir, daß du mich nicht schlagen und mir alles zu tun erlauben wirst, was ich will, dann werde ich dich vielleicht heiraten,‘ und lacht. Auch jetzt lacht sie!“ Dmitrij Fedorowitsch erhob sich plötzlich, fast jähzornig und war wie trunken. Seine Augen wurden rot von andringendem Blut. „Und du willst sie wirklich heiraten?“ „Sobald sie will, ... sofort – will sie nicht! So bleibt es denn, wie es ist; werde Hofknecht bei ihr werden. Du ... du, Aljoscha ...“ rief er, blieb vor ihm stehen, ergriff ihn an den Schultern und schüttelte ihn plötzlich aus aller Kraft, „– weißt du auch, du unschuldiger Knabe, daß das Fieberwahn ist, sinnloser Fieberwahn? Jawohl, hier ist Tragödie! So höre denn, Alexei, ich kann wohl ein niedriger Mensch sein, mit niedrigen, verderblichen Leidenschaften, doch ein Dieb, ein Taschendieb, ein kleiner, schmutziger Taschendieb kann Dmitrij Karamasoff nie und nimmer sein! Nun, und so wisse denn jetzt, daß ich ein Dieb bin, ein gemeiner Taschendieb! Gerade kurz vordem, als ich zu Gruschenka ging, um sie durchzuprügeln, ruft mich am selben Morgen Katerina Iwanowna zu sich und bittet mich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, damit es vorläufig niemand erfahre (warum es niemand erfahren darf, weiß ich nicht, augenscheinlich aber war’s wohl so nötig), und bittet mich, in die Gouvernementsstadt zu fahren, und von dort aus durch die Post dreitausend Rubel nach Moskau an Agafja Iwanowna zu schicken, und zwar darum aus der Gouvernementsstadt, damit man es hier nicht erführe. Mit diesen Dreitausend ging ich zu Gruschenka, und mit eben diesem Gelde fuhren wir nach Mokroje. Später tat ich so, als ob ich tatsächlich in die Gouvernementsstadt gefahren wäre, schickte ihr aber keine Postquittung zu, ließ sagen, ich hätte das Geld abgeschickt und würde bald selbst mit der Quittung kommen, habe sie aber bis heute noch nicht hingebracht – ‚hab’s vergessen!‘ Nun aber – nun gehst du heute hin und sagst ihr: ‚Er hat mich beauftragt, Ihnen seinen Abschiedsgruß zu überbringen.‘ Sie wird dich wohl fragen: ‚Und das Geld?‘ Da könntest du ihr denn sagen: ‚Er ist ein niedriger Wollüstling, ein Mensch mit unbezähmbaren Leidenschaften. Er hat damals Ihr Geld nicht abgeschickt, sondern durchgebracht, denn er konnte sich als niedriges Tier nicht zügeln.‘ Und du könntest noch hinzufügen: ‚Doch ist er deswegen kein Dieb, hier sind Ihre Dreitausend, er schickt Ihnen das Geld zurück, übersenden Sie es selbst Agafja Iwanowna, mich aber beauftragte er Ihnen seinen Abschiedsgruß zu überbringen.‘ ‚Ja, aber,‘ wird sie dich fragen: ‚Und wo ist das Geld?‘“ „Mitjä, du bist unglücklich, das ist wahr! Aber doch nicht so sehr, wie du denkst, töte dich nicht durch Verzweiflung, töte dich nicht!“ „Ach, du glaubst, ich würde mich erschießen, wenn ich nicht irgendwoher die Dreitausend bekomme, um sie ihr zurückzugeben? Das ist es ja, daß ich mich nicht erschießen werde! Ich habe jetzt nicht die Kraft dazu, später vielleicht einmal, jetzt aber werde ich zu Gruschenka gehen ... Bin sowieso verloren!“ „Und was willst du bei ihr?“ „Werde ihr Gemahl sein, wenn sie mich dessen für würdig hält – wenn aber ihre Liebhaber kommen, werde ich ins andere Zimmer gehen. Werde die schmutzigen Galoschen ihrer Freunde reinigen, den Ssamowar anblasen, ihr Laufbursche sein ...“ „Katerina Iwanowna wird alles verstehen,“ sagte Aljoscha plötzlich sehr ernst, „sie wird die ganze Tiefe dieser Qual verstehen und alles verzeihen. Sie hat einen klaren Verstand und ein großes Herz, sie wird begreifen, daß man unglücklicher als du nicht sein kann.“ „Nein, sie wird nicht verzeihen,“ meinte Mitjä lächelnd. „Hier, Freund, handelt es sich um etwas, das kein Weib verzeihen kann. Weißt du aber, was jetzt das Beste wäre?“ „Was?“ „Ihr die Dreitausend zurückzugeben.“ „Aber woher sie nehmen? Hör, Mitjä, ich habe zweitausend, Iwan wird auch noch tausend geben, da hast du die drei, nimm sie und gib sie ihr.“ „Haha, wann werden denn diese Dreitausend hier ankommen? Du bist ja noch nicht einmal mündig, und doch mußt du unbedingt, un–be–dingt heute noch zu ihr gehen und meinen Gruß bestellen, einerlei, ob mit oder ohne Geld, denn länger kann ich das nicht so hinziehen – wie die Dinge jetzt liegen, ist es ganz unmöglich. Morgen wär’s schon zu spät, viel zu spät. Alexei, geh zum Vater!“ „Zum Vater?“ „Ja, bevor du zu ihr gehst, geh noch zum Vater. Er hat Dreitausend bereit liegen, erbitt sie von ihm.“ „Aber er wird sie doch nicht geben, Mitjä.“ „Fehlte noch, daß er sie gibt, ich weiß, daß er nichts geben wird. Weißt du, Alexei, was Verzweiflung ist?“ „Ich weiß es.“ „Hör: Juridisch schuldet er mir nichts mehr. Ich habe schon alles von ihm bekommen, alles, ich weiß es. Aber moralisch schuldet er mir noch, das ist doch wahr, nicht? Denn nur dank der Achtundzwanzigtausend meiner Mutter hat er die Hunderttausend verdienen können. Mag er mir jetzt nur Dreitausend von den ganzen Achtundzwanzigtausend geben, nur drei, und er würde meine Seele aus der Hölle erlösen, es wird ihm für viele Sünden angerechnet werden! Ich aber würde, wenn er noch diese Dreitausend geben wollte, nie mehr etwas von ihm erbitten, ich gebe dir mein Wort darauf, – er würde nichts mehr von mir hören. Ich gebe ihm zum letztenmal Gelegenheit, sich als Vater zu erweisen. Sage ihm, daß ihm Gott selbst noch diese letzte Gelegenheit schickt.“ „Aber er wird doch ganz bestimmt nichts geben, Mitjä.“ „Ich weiß es, daß er nichts geben wird, weiß es selbst ganz genau. Und jetzt erst recht nicht. Ich weiß sogar noch viel mehr: Erst jetzt, erst in diesen Tagen, vielleicht erst gestern, hat er es _im Ernst_ erfahren (unterstreich das im Ernst), daß Gruschenka vielleicht wirklich nicht scherzt und mich vielleicht wirklich heiraten will. Er kennt diesen Charakter, kennt diese Katze. Nun, sage doch selbst, soll er mir jetzt zum Überfluß auch noch Geld geben, er, der doch selbst ihretwegen schon den Verstand verloren hat? Aber auch das ist noch nicht alles, ich weiß noch mehr: Ich weiß, daß bei ihm seit fünf Tagen dreitausend Rubel bereit liegen, in Hundertrubelscheine ausgewechselt, und in einem großen Kuvert unter fünf Siegeln, das noch mit einem roten Bändchen kreuzweis umbunden ist. Siehst du, wie genau ich alles weiß! Und auf dem Kuvert steht geschrieben: ‚Meinem Engel Gruschenka, wenn sie zu mir kommen will,‘ das hat er selbst draufgekratzt heimlich in der Stille, und niemand weiß, daß bei ihm dieses Geld bereit liegt, außer dem Diener Ssmerdjäkoff, an dessen Ehrlichkeit der Alte mindestens ebenso fest glaubt wie an seine eigene Existenz. Und jetzt erwartet er Gruschenka schon seit drei oder vier Tagen, hofft, daß sie nach den Dreitausend kommen wird, hat er ihr es doch sagen lassen, und sie hat darauf geantwortet: ‚Vielleicht, ja vielleicht werde ich kommen.‘ Aber wenn sie jetzt zum Alten kommt, wie kann ich sie dann heiraten? Begreifst du jetzt, warum ich hier heimlich sitze, und wem ich auflauere?“ „Doch nicht Gruschenka?“ „Ja, Gruschenka. Hier in diesem Hause hat sich Foma eine Kammer gemietet, bei diesen liederlichen Weibsbildern. Foma ist unser gewesener Soldat, stand in meiner Kompagnie. Er dient ihnen jetzt gewissermaßen, wacht in der Nacht, und am Tage geht er Birkhühner schießen, und davon lebt er. Ich habe jetzt hier bei ihm Anker geworfen. Doch weder er noch die beiden Weiber wissen es, daß ich hier auf der Lauer sitze.“ „Nur Ssmerdjäkoff weiß es?“ „Nur er allein. Er wird es mir denn auch sagen, wenn sie zum Alten kommt.“ „Und er hat dir auch das vom Kuvert gesagt?“ „Ja, er. Aber das ist das größte Geheimnis. Selbst Iwan weiß weder von dem Gelde noch sonst etwas. Der Alte aber will Iwan unbedingt auf zwei oder drei Tage nach Tschermaschnjä schicken: Es hat sich ein Käufer für den Wald gefunden, will ihn für Achttausend fällen, und so bittet denn der Alte himmelhoch Iwan: ‚Hilf mir, fahr selbst hin,‘ – damit wäre er ihn auf zwei-drei Tage los. Er will nämlich, daß Gruschenka in seiner Abwesenheit kommt.“ „Dann erwartet er sie also auch heute?“ „Nein, heute wird sie nicht kommen, aller Voraussicht nach. Sie wird bestimmt nicht kommen!“ rief Mitjä plötzlich erregt. „Auch Ssmerdjäkoff glaubt, daß sie nicht kommen wird. Der Alte trinkt jetzt wieder, sitzt mit Iwan bei Tisch. Geh, Alexei, bitte ihn um diese Dreitausend ...“ „Mitjä, Lieber, was ist mit dir!“ rief Aljoscha aufspringend und blickte erregt in das entstellte Gesicht Dmitrij Fedorowitschs. Einen Moment glaubte er schon, daß jener irrsinnig geworden sei. „Was hast du? Ich bin nicht wahnsinnig,“ sagte Dmitrij Fedorowitsch, und sein Auge blickte aufmerksam und fast triumphierend den Bruder an. „Ja, ich schicke dich zum Vater und weiß, was ich tue: Ich glaube an ein Wunder.“ „An ein Wunder?“ „An ein Wunder der Vorsehung Gottes. Gott kennt mein Herz. Er sieht meine ganze Verzweiflung. Er sieht alles. Sollte Er wirklich das Grauenvolle zulassen? Aljoscha, ich glaube an ein Wunder, geh!“ „Ich werde gehen. Wirst du hier warten?“ „Ja. Ich weiß, daß du nicht so bald zurückkommen wirst, das kann man doch nicht gleich, nach dem ersten Wort! Er ist jetzt betrunken. Ich werde hier sitzen und warten, drei Stunden, vier Stunden, fünf, sechs, sieben Stunden ... Nur mußt du wissen, daß du heute, und wenn auch um Mitternacht, zu Katerina Iwanowna gehen wirst, _mit oder ohne Geld_, um ihr zu sagen: ‚Er schickt Ihnen seinen Abschiedsgruß.‘ Ich will, daß du es ihr gerade mit diesen Worten sagst: ‚Abschiedsgruß‘.“ „Mitjä! Plötzlich aber kommt Gruschenka heute ... oder wenn nicht heute, dann morgen ... oder übermorgen?“ „Gruschenka? Werde sehen, werde hineinstürzen und verhindern ...“ „Wenn aber ...“ „Und wenn aber, dann schlage ich tot. So überlebe ich es nicht.“ „Wen willst du erschlagen?“ „Den Alten. Sie werde ich nicht erschlagen.“ „Dmitrij, was redest du!“ „Ich weiß es doch nicht, weiß es selbst nicht ... Vielleicht werde ich ihn auch nicht erschlagen, vielleicht aber doch. Ich fürchte, er wird mir in dem Augenblick zu widerlich werden mit seinem Gesicht. Ich hasse sein Doppelkinn, seine Nase, seine Augen, sein schamloses Gelächter. Ich fühle schon den Ekel. Das ist es, was ich fürchte. Und so werde ich mich denn nicht bezwingen können ...“ „Ich gehe, Mitjä. Ich glaube, daß Gott es lenken wird, nach seinem besseren Wissen, damit das Entsetzliche nicht geschehe.“ „Ich aber werde hier sitzen und auf das Wunder warten. Doch wenn das Wunder nicht geschieht, so ...“ Nachdenklich ging Aljoscha zu seinem Vater. VI. Ssmerdjäkoff Er traf seinen Vater noch beim Mittagessen an. Der Tisch war wie gewöhnlich im Saal gedeckt, obgleich es im Hause auch ein großes Speisezimmer gab. Dieser Saal war jedoch der größte Raum im ganzen Hause und mit einem etwas unmodischen Prunk ausgestattet. Die Möbel waren sehr alt, in Weiß und Gold, mit rotem, altem, halbseidenem Bezug. An den Pfeilern zwischen den Fenstern waren Spiegel eingesetzt in alten, geschnitzten, verschnörkelten und gleichfalls weiß-goldenen Rahmen. Die Wände, deren weiß-goldene Papiertapeten schon an vielen Stellen Risse hatten, schmückten zwei große Porträts: das eine das Bildnis irgendeines Fürsten, der vor etwa dreißig Jahren unser General-Gouverneur gewesen war, und das andere – irgendeines Erzbischofs, der gleichfalls nicht mehr lebte. In der vorderen Ecke hingen einige Heiligenbilder, vor denen zur Nacht das Lämpchen angezündet wurde ... weniger aus Frömmigkeit, vielmehr um zu verhüten, daß es in der Nacht im Zimmer ganz dunkel wurde. Fedor Pawlowitsch ging sehr spät zu Bett, erst um drei oder vier Uhr morgens, bis dahin aber ging er entweder im Zimmer herum, oder er saß im Lehnstuhl und sann. Das war ihm so zur Gewohnheit geworden. Nicht selten schlief er ganz allein im großen Hause, da er zur Nacht alle Dienstboten in das Nebengebäude schickte, doch blieb jetzt in letzter Zeit der Diener Ssmerdjäkoff bei ihm und schlief dann im Vorzimmer auf der Truhe. Als Aljoscha eintrat, war das Mittagessen schon beendet, es wurden bereits eingemachte Früchte und Kaffee gereicht. Fedor Pawlowitsch liebte nach dem Essen Süßigkeiten und Kognak als Abschluß. Iwan Fedorowitsch saß auch noch bei Tisch und trank seinen Kaffee. Die beiden Diener, Grigorij und Ssmerdjäkoff, waren gleichfalls zugegen. Die Herrschaft wie die Dienerschaft war ersichtlich ungewöhnlich heiter gestimmt. Fedor Pawlowitsch lachte laut; Aljoscha hörte schon im Vorzimmer ein schreiendes, ihm von früher so gut bekanntes Gelächter und sagte sich sofort, daß sein Vater, nach der Art dieses Gelächters zu urteilen, noch längst nicht betrunken, sondern vorläufig nur aufgeräumt war. „Ah, da kommt auch er, da ist er ja!“ rief Fedor Pawlowitsch ungeheuer erfreut über Aljoschas Kommen. „Gesell dich zu uns, setz dich, hier, so, willst du ein Täßchen Kaffee, – das ist doch Fastengetränk, ganz heiß, vorzüglich, sieh! Kognak biete ich dir gar nicht an, zu profan für dich, oder willst du, willst du doch? Wart, ich werde dir lieber ein Likörchen geben, pikfein! sage ich dir. – Ssmerdjäkoff, geh mal schnell, sieh im Schränkchen, auf dem zweiten Brett rechts, – fix!“ Aljoscha wollte auch für den Likör danken, doch sein Vater ließ ihn kaum zu Wort kommen. „Einerlei, er wird sofort gebracht, sofort, sofort, wenn nicht für dich, dann für uns,“ unterbrach er ihn strahlend. „Doch halt, hast du überhaupt zu Mittag gegessen?“ „Ja, ich habe schon gegessen,“ sagte Aljoscha, der in Wirklichkeit nur ein Stück Brot in der Küche des Priors genossen und Kwas dazu getrunken hatte. „Aber heißen Kaffee würde ich ganz gern trinken.“ „Das ist brav von dir! Er wird Kaffee trinken! Soll man ihn nicht noch schnell heiß machen? Nein, nein, nicht nötig, er kocht ja noch jetzt. Es is’ ’n tadelloser Mokka, Ssmerdjäkoffscher! In Pasteten und Piroggen ist Ssmerdjäkoff ein wahrer Künstler, sag ich dir, richtig: und auch noch in Fischsuppe, das ist wahr. Du mußt einmal unbedingt zu Fischsuppe kommen, melde dich aber vorher an ... Ach! ganz verschwitzt, da fällt mir soeben ein, ich befahl dir doch vorhin, heute noch samt Kissen und Federbetten zu mir überzusiedeln? He–he, hast die Federbetten mitgeschleppt, wie? He–he–he! ...“ „Nein, ich habe sie nicht mitgebracht,“ sagte Aljoscha gleichfalls lächelnd. „Ah – nun, aber ’nen Schreck hast du doch vorhin bekommen, gesteh’s nur, wie, nicht? Ach du, mein Herzensjunge, wie könnte ich dich nur beleidigen! Weißt du, Iwan, ich kann’s nicht ansehen, wenn er einem so in die Augen blickt und dabei lacht, kann’s wahrhaftig nicht! Mein ganzes Zwerchfell beginnt gleich über ihn zu lachen, ich liebe ihn doch! Aljoschka, laß mich dir meinen väterlichen Segen geben.“ Aljoscha erhob sich, doch Fedor Pawlowitsch hatte sich schon besonnen. „Nein, nein, nicht jetzt, jetzt werde ich dich nur einmal bekreuzen, so, setz dich. Jetzt gibt’s aber ’nen Heidenspaß, gerade auf dein Thema, wirst dich krank lachen! Bei uns hat endlich einmal Bileams Esel das Maul aufgetan, und wie noch, und wie noch, ach Gott!“ Als Bileams Esel erwies sich der Diener Ssmerdjäkoff. Es war das ein noch ziemlich junger Mann von etwas über vierundzwanzig Jahren. Er war sehr menschenscheu und schweigsam. Doch nicht etwa scheu im gewöhnlichen Sinne oder verschämt, nein, dem Charakter nach war er sogar hochmütig und anmaßend, ja, er schien sogar alle zu verachten. Ich sehe mich veranlaßt, gerade bei dieser Gelegenheit schon einiges über ihn zu sagen. Erzogen hatten ihn Marfa Ignatjewna und Grigorij Wassiljewitsch, doch der Knabe wuchs „ohne jede Dankbarkeit“ auf, wie sich Grigorij über ihn äußerte, als scheues, mißtrauisches Kind. In seiner Kindheit liebte er es sehr, Katzen zu erhängen und sie dann mit großen Zeremonien zu beerdigen. Zu diesem Zweck nahm er sich ein Bettuch um, das wohl das Meßgewand ersetzen sollte, und sang und schwenkte irgend etwas über der toten Katze wie ein Weihrauchfaß. Alles das tat er heimlich, so daß es niemand sehen konnte. Einmal überraschte ihn doch Grigorij bei dieser feierlichen Handlung und bestrafte ihn schmerzhaft. Der Junge schlich sich in die Ecke und schielte von dort eine ganze Weile lang nur mißtrauisch auf seine Erzieher. „Er liebt uns nicht, diese Mißgeburt,“ sagte Grigorij zu Marfa Ignatjewna, „scheint gar niemanden zu lieben. Bist du überhaupt ein Mensch,“ wandte er sich plötzlich an den Jungen, „nein, du, du bist kein Mensch, du bist aus Badstubennässe entsprossen, jetzt weißt du, wer du bist!“ Wie sich später herausstellte, konnte ihm Ssmerdjäkoff diese Worte nie verzeihen. Grigorij brachte ihm das Schreiben und Lesen bei, und als der Knabe zwölf Jahre alt wurde, begann er ihn in biblischer Geschichte zu unterrichten. Doch das gute Vorhaben sollte ein schnelles Ende nehmen. In der zweiten oder dritten Stunde erlaubte sich der Knabe plötzlich zu lächeln. „Was fehlt dir?“ fragte Grigorij sofort und blickte ihn streng über die große, runde Brille an. „N–nichts ... Gott der Herr schuf die Welt am ersten Tage, die Sonne aber, den Mond und die Sterne erst am vierten. Wie konnte es dann am ersten Tage Tag sein, wenn es dunkel war?“ Grigorij erstarrte. Der Junge blickte spöttisch seinen Lehrer an. In seinem Blick lag sogar etwas hochmütig Herausforderndes. Das war zu viel für Grigorij. „Wie es sein konnte? So konnte es sein!“ schrie er seinen Schüler an und gab ihm zur Erklärung eine schallende Ohrfeige. Der Junge ertrug die Ohrfeige, ohne ein Wort zu sagen, zog sich aber wieder auf einige Tage in seinen Winkel zurück. Da aber geschah es, daß er, gerade als eine Woche nach dieser Ohrfeige vergangen war, zum erstenmal einen Anfall der Fallsucht bekam, von der er nicht mehr geheilt werden sollte. Als Fedor Pawlowitsch das erfuhr, veränderte er plötzlich sein Verhalten zu dem Knaben. Früher schien er ganz gleichgültig auf ihn zu blicken, obgleich er ihn nie schimpfte und ihm, wenn er ihn auf dem Hofe traf, gewöhnlich ein paar Kopeken gab. Zuweilen schickte er gut gelaunt vom Tisch etwas Süßes für den Jungen, aber das war auch alles. Doch als er von der Krankheit erfuhr, begann er sofort für ihn zu sorgen, ließ den Arzt rufen, ließ ihn behandeln. Nur zeigte sich leider, daß nichts dabei zu machen war. Im Durchschnitt hatte er ungefähr einen Anfall monatlich, und zwar zu verschiedenen Zeiten. Die Anfälle waren verschieden stark, zuweilen leicht, zuweilen sehr heftig. Fedor Pawlowitsch verbot Grigorij strengstens, den Jungen körperlich zu bestrafen und erlaubte von da ab, daß der Knabe auch zu ihm ins Herrenhaus kam. Ihn irgend etwas lernen zu lassen, verbot er vorläufig gleichfalls. Einmal aber, als der Knabe schon fünfzehn Jahre alt war, bemerkte Fedor Pawlowitsch, daß er sich am Bücherschrank herumtrieb und sich bemühte, durch das Glas die Titel zu entziffern. Fedor Pawlowitsch hatte im Hause eine ziemliche Menge alter Bücher, doch hatte ihn noch niemand mit einem Buch in der Hand gesehen. Er übergab sofort den Bücherschrankschlüssel dem kleinen Ssmerdjäkoff. „Da, nimm, lies soviel du willst, kannst mein Bibliothekar sein; das ist immerhin besser, als daß du dich auf dem Hof herumtreibst. Sieh mal, dieses Buch kannst du lesen,“ – und Fedor Pawlowitsch gab ihm Gogols „Abende auf dem Meierhof bei Dikanka“. Der Junge las das Buch, blieb aber unbefriedigt von dem Werk, lachte kein einziges Mal, im Gegenteil, beendete es eher mürrisch und verstimmt. „Nun? Gefällt es dir denn nicht?“ erkundigte sich Fedor Pawlowitsch. Ssmerdjäkoff schwieg. „Sprich, Esel.“ „Alles das ist unwahr geschrieben,“ brummte schließlich Ssmerdjäkoff mit einem halben Lächeln. „Noch was Neues! Äh, zum Teufel mit dir, bist doch ’ne Dienerseele. Wart, hier hast du Ssmaragdoffs ‚Allgemeine Geschichte‘, darin ist nichts gelogen, lies mal das.“ Doch Ssmerdjäkoff las von Ssmaragdoffs „Allgemeiner Geschichte“ kaum die ersten zehn Seiten, als ihm auch dieses Buch langweilig erschien. Und so schloß sich denn der Bücherschrank wieder für ihn. Bald darauf meldeten aber Marfa und Grigorij ihrem Herrn, daß Ssmerdjäkoff seit einiger Zeit ein furchtbarer Mäkler geworden sei: Sitzt bei Tisch, nimmt den Löffel und beginnt plötzlich in der Suppe zu suchen und zu suchen, rückt den Teller hin, rückt ihn her, nimmt einen Löffel voll, hebt ihn auf, hält ihn gegen das Licht, läßt die Suppe langsam vom Löffel auf den Teller zurückfließen. „Was? Ist eine Schabe drin?“ fragt Grigorij. „Eine Fliege vielleicht,“ bemerkt Marfa. Doch der Sauberkeit liebende Jüngling antwortete nie, und mit dem Brot, dem Fleisch und allen Speisen geschah dasselbe: Auf einmal hebt er an der Gabel ein Stück Fleisch empor, betrachtet es wie unterm Mikroskop, scheint lange unschlüssig zu sein, bis er sich endlich doch entschließt, das Stück in den Mund zu befördern. „Sieh doch, was das für ein Herr wird,“ brummte zuweilen Grigorij bei seinem Anblick. Als Fedor Pawlowitsch von dieser neuen Eigenschaft Ssmerdjäkoffs hörte, beschloß er sofort, ihn Koch werden zu lassen und zur Erlernung dieser Kunst nach Moskau zu schicken. Ssmerdjäkoff blieb etliche Jahre in Moskau und kehrte dann stark verändert wieder zurück. Er war auffallend gealtert, ganz unverhältnismäßig zu seinen Jahren, sein Gesicht war runzelig und gelb geworden, er glich beinahe einem Sektierer. Innerlich war er jedoch derselbe, der er vor der Fahrt nach Moskau gewesen war: War ebenso ungesellig und empfand auch nicht das geringste Bedürfnis nach Umgang mit anderen Menschen. Wie wir später erfuhren, soll er auch in Moskau stets geschwiegen haben; die Stadt selbst hatte ihn sehr wenig angezogen, und so hatte er denn auch nur sehr wenig von ihr gesehen, das meiste gar nicht beachtet. Einmal soll er auch im Theater gewesen sein, doch hieß es, daß er verstimmt und unzufrieden mit dem Gesehenen heimgekehrt sei. Dafür aber kam er bei uns gut gekleidet wieder an, in einem reinen, schwarzen Überrock und mit guter Wäsche. Er bürstete seine Kleider sorgfältigst zweimal täglich, und seine kalbledernen Stiefel putzte er mit einer ganz besonderen, englischen Wichse so lange, bis sie wie Spiegel glänzten. Er erwies sich als vorzüglicher Koch. Fedor Pawlowitsch setzte ihm denn auch ein festes Monatsgehalt aus, das Ssmerdjäkoff aber restlos für Kleider, Pomaden, Parfüm usw. verbrauchte. Was das weibliche Geschlecht anbetraf, so schien er es nicht weniger zu verachten als das männliche, war im Umgang mit ihm sehr zurückhaltend, wenn nicht gar unnahbar. Fedor Pawlowitsch begann aber bald noch mit anderen Augen seinen Ssmerdjäkoff zu betrachten. Die Sache war nämlich die, daß die Anfälle seiner Krankheit häufiger und stärker auftraten als früher und an diesen Tagen das Essen von Marfa Ignatjewna zubereitet werden mußte, was Fedor Pawlowitsch durchaus nicht mehr paßte. „Warum hast du denn jetzt die Anfälle so oft?“ fragte er seinen neuen Koch mit einem aufmerksamen Seitenblick auf ihn. „Wenn du vielleicht irgendeine heiraten würdest; willst du, ich werde dich verheiraten!“ Auf solche Reden antwortete Ssmerdjäkoff kein Wort, er erbleichte nur vor Unwillen. Fedor Pawlowitsch gab ihn schließlich auf. Vor allen Dingen hatte er sich ein für allemal überzeugt, daß Ssmerdjäkoff ehrlich war und nie etwas stehlen werde. Er hatte nämlich einmal in etwas stark angeheitertem Zustande auf seinem eigenen Hof drei Hundertrubelscheine verloren, die er kurz vorher erhalten hatte, doch vermißte er sie erst am nächsten Tage; als er sie aber in allen Taschen zu suchen begann, bemerkte er plötzlich, daß sie alle drei auf seinem Schreibtisch lagen. Wie waren sie dorthin gekommen? Ssmerdjäkoff hatte sie gefunden und hingelegt. „Nun, mein Lieber, solch einen wie du habe ich denn doch noch nicht gesehen,“ meinte Fedor Pawlowitsch und schenkte ihm zehn Rubel. Ich muß hinzufügen, daß er nicht nur von seiner Ehrlichkeit überzeugt war, sondern ihn auch noch aus einem unbekannten Grunde liebte, obgleich jener ihn ebenso scheel ansah wie alle anderen, und ihm gegenüber ebenso wortkarg war. Nur selten begann er von selbst zu sprechen. Wenn damals jemand bei seinem Anblick gefragt hätte: Wofür interessiert sich eigentlich dieser Mensch, was hat er am häufigsten im Sinn, so hätte man es wirklich nicht sagen können. Währenddessen aber kam es vor, daß er im Hause oder auf dem Hof oder auch auf der Straße plötzlich tief nachdenklich stehen blieb und so zuweilen ganze zehn Minuten lang dastand. Ein Physiognomiker hätte gesagt, daß es weder Nachdenklichkeit noch Grübelei war, sondern so eine gewisse Kontemplation. Von dem Maler Kramski gibt es unter anderem ein sehr bemerkenswertes Bild: es heißt „Der Beschauliche“. Mitten auf dem verschneiten Waldwege steht in einem alten Mäntelchen und in alten Bastschuhen ein Bäuerlein, steht ganz allein, und als ob er ganz in Gedanken versunken wäre, doch er denkt nichts, er ist nur „beschaulich“. Würde man ihn stoßen, so würde er zusammenfahren und einen, wie aus dem Schlaf erwachend, ansehen, ohne jedoch etwas zu verstehen. Zwar würde er sofort zu sich kommen, doch wollte man ihn fragen, woran er gedacht, als er stand, so würde er es bestimmt nicht sagen können – dafür aber wird er zweifellos die Empfindung, die er während der Zeit seiner „Beschaulichkeit“ gehabt, auf ewig in seinem Innern behalten. Diese Empfindungen sind ihm teuer, und sicher sammelt er sie in sich auf, ohne es auch nur zu wissen – warum und wozu weiß er bestimmt gleichfalls nicht: Vielleicht macht er sich dann plötzlich auf und pilgert nach Jerusalem zum Heiligen Grabe, vielleicht aber ergreift ihn auch die Sehnsucht nach dem Heimatdorf, oder vielleicht geschieht das eine wie das andere. Solcher Menschen gibt es viele im Volk. Und einer von denen war nun zweifellos Ssmerdjäkoff, und bestimmt sammelte er gleichfalls gierig seine Eindrücke, fast ohne selbst zu wissen, warum. VII. Die Kontroverse Aber siehe da, plötzlich tat Bileams Esel das Maul auf. Das Thema war ein ganz sonderbares, zufälliges: Grigorij hatte am Morgen, als er beim Kolonialwarenhändler Lukjanoff einkaufte, durch diesen von einem russischen Soldaten gehört, der irgendwo fern an der Grenze bei den Asiaten, in deren Gefangenschaft er geraten war, den Märtyrertod für seinen Glauben erduldet hatte. Seine Peiniger hatten von ihm unter Androhung der größten Foltern verlangt, vom Christentum zum Islam überzutreten, er aber hatte sich die Haut abziehen lassen und war, den Namen Christi preisend, gestorben. Die Nachricht von dieser Heldentat hatte gerade in den Morgenblättern gestanden. Grigorij nun erlaubte sich, bei Tisch das Gehörte zu erzählen. Fedor Pawlowitsch sah es auch früher schon nicht ungern, wenn Grigorij, nachdem er alles serviert hatte, noch bei Tisch stehen blieb, denn er liebte es, beim Dessert zu sprechen oder zu scherzen, und wenn er allein speiste, so tat er es eben mit Grigorij. Diesmal war er besonders gut gelaunt. Als er nun beim Kognak die erwähnte Geschichte von dem gemarterten Soldaten hörte, meinte er, man müsse diesen Märtyrer sofort heilig sprechen und seine abgezogene heilige Haut in irgendein Kloster bringen, und schloß mit dem Ausruf: „Wie das Volk und Geld anziehen würde!“ Grigorij runzelte die Stirn, da er sah, daß Fedor Pawlowitsch sich nicht im geringsten rühren ließ, sondern wie gewöhnlich mit seiner Religionsspötterei begann – als plötzlich Ssmerdjäkoff, der an der Tür stand, spöttisch lächelte. Ssmerdjäkoff hatte auch früher häufig zum Schluß der Mahlzeit mit Grigorij im Zimmer gestanden, seit der Ankunft Iwan Fedorowitschs jedoch war er ausnahmslos jedesmal erschienen. „Was hast du?“ fragte Fedor Pawlowitsch, der das Lächeln bemerkt und sofort erraten hatte, daß es sich auf Grigorij bezog. „Ich erlaube mir nur zu meinen,“ sagte Ssmerdjäkoff plötzlich mit ganz unerwartet lauter Stimme, „daß, wenn die Tat des lobenswerten Soldaten auch sehr gewaltig ist, wie ich meine, es doch hinwiederum keine Sünde gewesen wäre, wenn er sich in besagter Bedrängnis beispielsweise von Christi Namen und von seiner eigenen Taufe losgesagt hätte, um auf selbige Weise sein Leben für gute Taten zu erhalten, mit welchen er im Laufe der Jahre seine Kleinmütigkeit auskaufen könnte.“ „Wie soll denn das keine Sünde sein? Du faselst, mein Lieber, dafür kommst du direkt in die Hölle, wo man dich noch wie Hammelbraten rösten wird,“ widersprach ihm Fedor Pawlowitsch. In dem Augenblick trat Aljoscha ein, und Fedor Pawlowitsch freute sich ungemein über sein Kommen. „Ein Thema für dich, für dich!“ rief er fröhlich kichernd Aljoscha zu. „Geröstetwerden wie Hammelbraten? Das ist nicht so, und es wird mir dort nichts dafür geschehen, und nach aller Gerechtigkeit muß dort auch nichts Derartiges sein,“ bemerkte Ssmerdjäkoff solide überzeugt. „Wie das, nach aller Gerechtigkeit?“ fragte Fedor Pawlowitsch noch lustiger und versetzte Aljoscha mit dem Knie unter dem Tisch heimlich einen Stoß. „Ein gemeiner Mensch ist er, und das ist alles!“ platzte plötzlich Grigorij heraus und blickte dabei Ssmerdjäkoff offen in die Augen. „In betreff des gemeinen Menschen gedulden Sie sich etwas, Grigorij Wassiljewitsch,“ entgegnete ruhig und zurückhaltend Ssmerdjäkoff, „und bedenken Sie lieber selbst, daß ich, wenn ich einmal in die Gefangenschaft der Henker der Christenheit gefallen bin und sie von mir verlangen, den Namen Gottes zu verfluchen und mich von meiner heiligen Taufe loszusagen, ich also durch meine eigene Vernunft zu selbiger Tat ermächtigt bin, denn hierbei kann von Sünde gar keine Rede sein.“ „Das hast du ja schon gesagt, schwatz nicht so viel, sondern beweise!“ rief Fedor Pawlowitsch. „Suppendreher!“ stieß Grigorij verächtlich zwischen den Zähnen hervor. „In betreff des Suppendrehers gedulden Sie sich gleichfalls, und bedenken Sie es lieber, ohne zu schimpfen, selbst, Grigorij Wassiljewitsch. Denn kaum, daß ich zu meinen Peinigern sage: ‚Nein, ich bin kein Christ, und ich verfluche meinen wahrhaftigen Gott,‘ so bin ich auch schon in selbigem Augenblick von Gottes höchstem Gericht verurteilt und ganz speziell verdammt und von der heiligen Kirche ausgeschlossen, ganz wie eine Heide, und das sogar in demselben Moment, nicht nur Augenblick, wie ich dieses – nicht nur ausspreche, sondern nur bloß denke auszusprechen, so daß hierbei noch keine Viertelsekunde verstreicht, bevor ich schon ausgeschlossen bin. Ist es so, oder ist es nicht so, Grigorij Wassiljewitsch?“ Er wandte sich mit sichtlicher Genugtuung immer an Grigorij, obgleich er nur auf die Frage Fedor Pawlowitschs antwortete, und das auch sehr gut begriff, doch tat er absichtlich so, als ob ihm Grigorij diese Fragen stellte. „Iwan!“ rief plötzlich Fedor Pawlowitsch, „beug dich ganz nah zu mir. Das macht er alles nur deinetwegen, will, daß du ihn lobst. Und du lob ihn auch.“ Iwan Fedorowitsch hörte vollkommen ernst die begeisterte Mitteilung seines Vaters an. „Wart, Ssmerdjäkoff, halt noch einen Augenblick das Maul,“ rief wieder Fedor Pawlowitsch. „Iwan, beug dich wieder zu mir.“ Iwan Fedorowitsch beugte sich wieder mit dem ernstesten Gesicht zu ihm. „Ich liebe dich ganz ebenso wie Aljoschka. Glaub nicht, daß ich dich vielleicht nicht liebe. – Kognak?“ „Meinetwegen.“ „Nun, bist ja schon gehörig angetrunken,“ dachte Iwan Fedorowitsch, der seinen Vater scharf anblickte, bei sich. Den Diener Ssmerdjäkoff aber beobachtete er sehr interessiert. „Du bist auch jetzt verflucht!“ platzte wieder Grigorij heraus. „Wie wagst du überhaupt ...“ „Schimpf nicht, Grigorij, schimpf nicht!“ unterbrach ihn Fedor Pawlowitsch. „Gedulden Sie sich nur noch kurze Zeit, Grigorij Wassiljewitsch, und hören Sie weiter, da ich noch nicht geendet habe. Denn also, wenn mich Gott verflucht, bin ich doch schon in demselben Moment gleich einem Heiden und meiner Taufe ledig, als ob ich nie getauft gewesen wäre. Ist nun wenigstens das so oder nicht?“ „Komm zum Schluß, zum Schluß, mein Lieber,“ rief Fedor Pawlowitsch, der mit Genuß aus seinem Gläschen nippte. „Wenn ich aber zu selbiger Zeit schon nicht mehr Christ war, so habe ich alsomit auf die Frage: ‚Bin ich Christ oder nicht?‘ nicht gelogen, denn ich bin dann doch schon von Gott selber meines Christentums entbunden, von wegen meines bloßen Gedankens, noch bevor ich ein Wort zu meinen Peinigern gesprochen habe. Wenn ich aber alsomit auf diese Weise des Christentums entbunden bin, mit welcher Gerechtigkeit wird man dann noch in jener Welt von mir Verantwortung dafür verlangen, daß ich Christum verleugnet habe, während ich doch schon vor meiner Verleugnung, schon für den bloßen Gedanken, der doch ganz von selber kommt, meiner Taufe entbunden war? Wenn ich aber nicht mehr Christ bin, kann ich mich doch alsomit auch nicht von Christus lossagen, denn was man nicht hat, das kann man auch nicht fortwerfen. Denn sagen Sie doch selbst, Grigorij Wassiljewitsch, wer wird denn von einem heidnischen Tataren, meinetwegen selbst im Himmelreich, dafür Rechenschaft fordern, daß er nicht als Christenkind geboren ist, und wer wird ihn dort dafür strafen, wenn man noch bedenkt, daß man von einem Ochsen nicht zwei Felle abziehen kann. Wird doch der allmächtige Gott, selbst wenn er ihn nach seinem Tode danach fragt, ihn nur ganz wenig bestrafen, denke ich – da es doch nicht gut geht, daß er gar nicht strafen wird –, ich meine, wenn Gott der Herr es sich selbst überlegt, daß der Sohn doch nichts dafür kann, daß er von heidnischen Eltern auf die Welt gekommen und Heide geworden ist. Gott der Herr kann doch nicht den Tataren vergewaltigen, ihn nehmen und schlankweg sagen, daß auch er Christ gewesen sei? Das hieße dann doch, daß der Allerhalter die reinste Unwahrheit sagt. Kann denn aber der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erde auch nur ein einziges erlogenes Wort sagen?“ Grigorij war sprachlos und starrte nur mit weit aufgerissenen Augen auf den Redner. Wenn er auch nicht recht verstand, was er sagte, so begriff er plötzlich von diesem ganzen Gerede doch so viel, daß er mit dem Ausdruck eines Menschen dastand, der plötzlich mit der Stirn an eine Wand gestoßen ist. Fedor Pawlowitsch trank sein Gläschen aus und lachte ein helles, halbtrunkenes Lachen, als Ssmerdjäkoff geendet hatte. „Aljoschka, Aljoschka, wie findest du das! Sieh doch einer, als was für ein Kasuist der sich entpuppt! Iwan, er muß irgendwo bei Jesuiten in der Schule gewesen sein. Sag mir doch, du mein stinkender Jesuit, du Jesuitssmerdjätschij – na, ’s kommt doch auf eins heraus –, wo hast du das gelernt? Nur laß dir gesagt sein, daß du lügst, mein lieber Kasuist, du lügst wie gedruckt, wie gedruckt! Weine nicht, Grigorij, wir werden ihn sofort aufs Haupt schlagen. Hör jetzt, Esel, und antworte dann: Schön, du bist vor deinen Peinigern im Recht, aber innerlich hast du dich doch von deinem Glauben damit losgesagt, und du sagst ja selbst, daß du noch in selbiger Stunde verflucht wirst, wenn du aber schon einmal verflucht bist, so, was glaubst du wohl, wird man dir dann noch in der Hölle dafür wie einem braven Jungen das Köpfchen streicheln? Was meinst du dazu, du mein lieber Jesuit?“ „Das ist so, wie es ist; es ist doch klar, daß ich mich dann in mir selber gleichfalls von der Kirche losgesagt habe, aber trotzdem kann hierbei keine spezielle Sünde sein, oder wenn, dann doch nur eine kleine und äußerst alltäglich gewöhnliche.“ „Wie das, äußerst alltäglich gewöhnliche?“ „Du lügst, Verfluchter!“ stieß Grigorij ingrimmig hervor. „Urteilen Sie doch selbst, Grigorij Wassiljewitsch!“ Ruhig und gemessen, mit dem vollen Bewußtsein des Sieges und doch mit einer gewissen Großmut dem geschlagenen Gegner gegenüber, fuhr Ssmerdjäkoff in seiner Auseinandersetzung fort. „Urteilen Sie doch selbst: es steht doch in der Bibel geschrieben: Wenn Sie einen Glauben auch nur von der Größe eines Senfkörnchens haben und dabei diesem Berge sagen, daß er ins Meer rutschen soll, selbiger Berg es unverzüglich tun werde, dieweil Sie es so befehlen. Wenn ich alsomit ein Ungläubiger bin, Sie aber, Grigorij Wassiljewitsch, ein so gewaltiger Gläubiger sind, daß Sie mich wegen meiner besagten Ungläubigkeit sogar mannigfach beschimpfen, so versuchen Sie es doch, sagen Sie diesem Berge, daß er nicht bis ins Meer – nun, bis zum Meer ist es sehr weit von hier –, sondern meinetwegen auch nur in unser stinkendes Flüßchen, das hier hinterm Garten fließt, rutschen soll, dann werden Sie selber sehen, noch im selben sogenannten Moment, daß nichts von der Stelle rutscht und alles so bleibt, wie es war und ist, wieviel Sie auch schreien wollten. Das aber bedeutet, daß auch Sie nicht in der vorgeschriebenen Weise glauben und nur andere dafür alleweil mannigfach beschimpfen. Und wenn man hinwiederum nimmt, daß heutzutage niemand, nicht nur Sie allein nicht, sondern überhaupt niemand, angefangen sogar von den Allerhöchsten bis zum letzten Bauernkerl, einen Berg ins Meer rücken kann, außer vielleicht irgendeinem einzigen Menschen auf der ganzen Welt – zwei wären schon viel –, und auch die suchen vielleicht dort irgendwo in der ägyptischen Wüstenei als Einsiedler ihr Heil, so daß man sie vielleicht überhaupt nicht finden kann ... also wenn es so ist, wenn alle anderen sich als Ungläubige erweisen, also wird dann all diesen anderen gegenüber, außer diesen beiden Einsiedlern, Gott der Herr in seiner großen Barmherzigkeit, die doch so bekannt ist, wohl Gnade vor Recht walten lassen? Alsomit hoffe auch ich, daß Gott der Herr mir verzeihen wird, wenn ich einmal gezweifelt habe und darüber Tränen der Reue vergieße.“ „Halt!“ schrie plötzlich Fedor Pawlowitsch in der größten Begeisterung dazwischen, „also daß es zwei solche gibt, die den Berg von der Stelle rücken können, nimmst du schließlich doch an? Iwan, behalte das, schreib’s auf: Hierin hat sich das ganze russische Volk geäußert!“ „Ja, das haben Sie richtig bemerkt, daß das ein russischer Zug im Volksglauben ist,“ stimmte Iwan Fedorowitsch mit beifälligem Lächeln zu. „Ah, du gibst es zu! Also ist es so, wenn sogar du es zugibst! Aljoschka, das ist doch wahr? Genau so ist doch der russische Glaube?“ „Nein, Ssmerdjäkoff hat durchaus keinen russischen Glauben,“ sagte Aljoscha ernst und überzeugt. „Ich rede nicht von seinem Glauben, sondern nur von diesem einen Zug, von diesen zwei Einsiedlern, nur von diesem einen kleinen Zug: Das ist doch russisch, aber echt russisch!“ „Ja, dieser Zug ist allerdings ganz russisch,“ meinte Aljoscha lächelnd. „Hör, Bileams Esel, dein Wort ist ’nen Rubel wert, werde ihn dir noch heute geben, doch im übrigen lügst du trotzdem, das sage ich dir, lügst wie gedruckt! Laß es dir jetzt gesagt sein, Dummkopf, daß wir alle hier im Leben bloß aus Leichtsinn nicht glauben, wir haben keine Zeit dazu: erstens wächst uns die Arbeit schon über den Kopf, und zweitens hat uns Gott nur wenig Zeit gegeben, hat im ganzen für den Tag nur vierundzwanzig Stunden bestimmt, so daß man ja nicht einmal Zeit zum Ausschlafen hat, von Bereuen schon gar keine Rede. Du aber hast dort vor den Quälgeistern deinen Glauben in einem Augenblick verleugnet, da du an nichts anderes mehr als nur an deinen Glauben zu denken hattest, als es gerade hieß, deinen Glauben zeigen! Das ist doch so, mein Lieber, denke ich?“ „So ist es schon, aber urteilen Sie selbst, Grigorij Wassiljewitsch, daß es doch um so mehr erleichtert, je mehr es so ist. Denn wenn ich im selbigen Moment so wahrhaftig glaube, wie es geboten ist zu glauben, dann wäre es wirklich Sünde, wenn ich für meinen Glauben keine Qualen auf mich nehmen wollte, und zu den verfluchten Mohammedanern übertreten würde. Aber dann würde es doch überhaupt nicht bis zum Foltern kommen, denn dann brauchte ich doch nur im selbigen Moment zu dem Berge zu sagen: erdrücke den Henker, und der Berg würde ihn sofort wie eine Wanze plattdrücken, und ich würde fortspazieren, als ob nichts gewesen wäre, lobsingend und den Namen Gottes preisend. Wenn ich es aber in diesem selbigen Moment versuchte und absichtlich dem Berg zuschrie: ‚erdrücke meine Henker‘, der Berg sie aber nicht erdrückt, wie soll ich dann, sagen Sie doch selbst, wie soll ich dann nicht zweifeln, und dazu noch in einer so furchtbaren Stunde der gewaltigen Todesangst? Und überdies weiß ich dann noch, daß ich des Himmelreichs sowieso nicht in der Vollkommenheit teilhaftig werde – sintemal sich doch der Berg auf mein Wort hin nicht gerührt hat, alsomit heißt es, daß man meinem Glauben droben doch nicht gerade sonderlich glaubt, und mich alsomit nicht gar so große Belohnungen daselbst erwarten – warum soll ich mir dann überdies, und schon ohne jeden Vorteil für mich, noch meine Haut abziehen lassen? Denn selbst wenn sie mir meine Haut schon bis zur Hälfte abgerissen haben, so wird doch der Berg auf mein Wort oder Geschrei nicht von der Stelle rücken. Aber in solch einem Moment können einen doch nicht nur Zweifel befallen, sondern kann man sogar vor Angst selbst den Verstand verlieren, so daß ein Überlegen und jegliches Denken ganz und gar unmöglich wird. Wodurch bin ich dann so besonders sündig, wenn ich, dieweil ich weder hier noch dort dafür Belohnung sehe, wenigstens mir meine Haut bewahre? Darum aber nähre ich im Vertrauen auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes die Hoffnung, daß mir alsomit ganz verziehen werden wird ...“ VIII. Beim Gläschen Der Streit war beendet, doch sonderbar: der so gut aufgelegte Fedor Pawlowitsch wurde plötzlich verdrießlich. Er ärgerte sich und goß sich wieder einen Kognak hinter die Binde – es war schon ein ganz überflüssiges Gläschen. „Ach, packt euch, ihr Jesuiten allesamt, hinaus!“ schrie er mit einem Male die Dienstboten an. „Scher dich, Ssmerdjäkoff. Werde dir heute den versprochenen Rubel geben, jetzt aber marsch. Sei nicht traurig, Grigorij, schieb ab zu Marfa, sie wird dich trösten, schlafen legen ... Die Kanaillen lassen einen wirklich nicht in Ruhe ein Stündchen nach dem Essen sitzen,“ schimpfte er verstimmt, als sich die Dienstboten auf seinen Befehl sofort zurückgezogen hatten. „Ssmerdjäkoff kriecht jetzt jeden Tag nach dem Essen her. Du bist es, der ihn so interessiert. Womit hast du es ihm denn angetan?“ fragte er Iwan Fedorowitsch. „Eigentlich mit nichts,“ entgegnete der, „es ist ihm eingefallen, mich zu verehren; er ist eine Lakaienseele, ein echter Ham. Übrigens fortschrittlicher Humus, wenn die Zeit kommt.“ „Fortschrittlicher?“ „Es wird andere und bessere geben, aber auch solche wird es geben. Zuerst werden es solche sein, nach ihnen aber bessere.“ „Und wann wird denn die Zeit kommen?“ „Anbrennen wird die Rakete, aber vielleicht doch nicht aufsteigen. Vorläufig liebt das Volk noch nicht sonderlich diesen ‚Suppendrehern‘ zuzuhören.“ „Das ist’s ja, solch ein Bileams Esel denkt und denkt, und – der Teufel mag wissen, was sich der Kerl schließlich zusammendenkt.“ „Speichert Gedanken auf,“ meinte Iwan lächelnd. „Sieh, ich weiß zum Beispiel, daß er auch mich nicht leiden kann, ganz wie alle anderen, dich ganz genau so wenig, obgleich dir scheint, es sei ihm eingefallen, dich ‚zu verehren‘. Aljoschka natürlich schon längst nicht, den verachtet er einfach. Aber er stiehlt nicht, er klatscht nicht, hält das Maul wie festgenäht, trägt nichts auf den Markt zum Durchhecheln, macht seine Pasteten einfach großartig, und zudem – ach, zum Teufel mit ihm, nein, wirklich, lohnt es sich denn überhaupt, über ihn zu sprechen!?“ „Natürlich lohnt es sich nicht.“ „Und was da seine Gedanken anbetrifft, die er sich im stillen macht, so im allgemeinen gesagt, muß man den russischen Bauer einfach versohlen, merk dir das. Das hab ich immer behauptet: Unser Bauer ist ein Spitzbube, es lohnt sich nicht, ihn zu bedauern; gut, daß er auch jetzt noch zuweilen versohlt wird. Unser Vaterland ist stark geworden durch die Birkenrute. Wenn sie die Wälder abholzen, wird auch Rußlands ganze Kraft flöten gehen. Ich, weißt du, bin immer für die klugen Leute. Jetzt hat man aufgehört, die Bauern zu prügeln, hält sich für zu klug dazu, und so prügeln sich jetzt die Kerls selbst untereinander. Oh, sie täten gut, wenn sie das Prügeln aufrechterhielten. Mit welch einem Maß du missest, wird dir wieder gemessen werden, oder wie es da ... Kurz und gut, es wird wieder gemessen, das ist ja die Hauptsache. Rußland aber ist nichts als eine Schweinewirtschaft. Mein Lieber, wenn du wüßtest, wie ich Rußland hasse ... das heißt, nicht Rußland, aber alle diese Laster ... meinetwegen auch ganz Rußland. _Tout cela c’est de la cochonnerie._ Weißt du, was ich liebe? Ich liebe Witz und Scharfsinn!“ „Sie haben schon wieder ein Glas ausgetrunken. Das sollten Sie lieber nicht mehr tun.“ „Wart, ich werde gleich noch eins trinken, und dann noch eins, und dann meinetwegen Schluß. Nein, wart, du hast mich unterbrochen. In Mokroje fragte ich einmal auf der Durchfahrt einen Alten, er aber sagt mir: ‚Am meisten lieben wir es,‘ sagt er, ‚Mädels zu Prügelstrafe zu verurteilen, und dreschen lassen wir sie dann immer von den Burschen. Am nächsten Tage aber nehmen sich die Burschen dann immer die zur Braut, die sie am Tag vorher gedroschen haben, und so haben denn schließlich die Mädels auch nichts dagegen.‘ He, wie findest du diesen Marquis de Sade, Wanjä? Aber sag, was du willst, es steckt doch Scharfsinn darin. Sollen wir nicht mal hinfahren, es uns anzusehen? Was? Aljoschka, warum wirst du so rot? Schäm dich nicht, Kindchen. Schade, daß ich vorhin beim Prior nicht zu Tisch blieb, hätte den Mönchen von diesen Dorfmädels erzählen müssen. Aljoschka, sei nicht bös, daß ich deinen Prior kränkte. Weißt du, mein Lieber, mich packt zuweilen die Wut. Denn wenn Gott ist, wenn er wirklich existiert, – nun ja, natürlich, dann bin ich schuldig und werde es verantworten müssen, aber wenn es Ihn überhaupt nicht gibt, wozu braucht man sie dann noch, diese deine Patres? Dann ist’s doch viel zu wenig, sie zu köpfen, halten sie doch die ganze Entwicklung auf! Wirst du’s mir glauben, Iwan, das peinigt meine besten Gefühle. Nein, du glaubst es mir nicht, ich sehe es an deinen Augen. Du glaubst den Leuten, wenn sie sagen, daß ich im ganzen nur ein Hansnarr sei. Aljoscha, glaubst du mir, daß ich im ganzen nicht nur ein Narr bin?“ „Ich glaube es, daß Sie nicht nur das sind.“ „Und ich glaube dir, daß du es glaubst, und daß du aufrichtig sprichst. Du blickst mich aufrichtig an und sprichst auch aufrichtig. Iwan aber nicht. Iwan ist hochmütig ... Aber trotzdem würde ich mit deinem Kloster ein Ende machen. Diese ganze Mystik einfach beseitigen und auseinanderjagen, um alle diese Esel zur Vernunft zu bringen. Und wieviel Silber, wieviel Gold dabei in den Münzhof kommen würde!“ „Wozu denn beseitigen?“ fragte Iwan. „Damit die Wahrheit schneller durch die Wolken bricht und überall erstrahlt, siehst du jetzt, warum!“ „Aber wenn diese Wahrheit erstrahlt, so wird man doch Sie als ersten berauben und dann ... beseitigen.“ „Wieso? Ach, natürlich, weiß der Teufel, du hast recht! Ich Esel!“ fuhr Fedor Pawlowitsch sofort auf, und schlug sich leicht mit der Hand vor die Stirn. „Nun, dann mag also dein liebes Kloster stehen bleiben so lang es will, Aljoschka, wenn’s so ist. Weißt du auch, Iwan, daß das von Gott dann wahrscheinlich unbedingt absichtlich so eingerichtet worden ist? Iwan, sag: gibt es Gott oder gibt es ihn nicht? Wart: sage deine Überzeugung, sag es im Ernst! Warum lachst du wieder?“ „Ich lache nur, weil Sie selbst vorhin eine scharfsinnige Bemerkung machten über Ssmerdjäkoffs Glauben an die zwei Einsiedler, die einen Berg versetzen könnten.“ „Ja, bin ich denn jetzt ihm ähnlich?“ „Sogar sehr.“ „Nun, schön, also bin auch ich ein Russe, so habe auch ich einen russischen Zug, aber auch dich, mein Philosoph, kann man auf solch einem Zuge ertappen. Willst du, soll ich? Wetten wir, daß ich dich morgen noch auf solch einem ertappe! Aber trotzdem sag, gibt es Gott oder gibt es Ihn nicht? Nur im Ernst! Ich will es jetzt im Ernst wissen.“ „Nein, es gibt keinen Gott.“ „Aljoschka, gibt es einen Gott?“ „Es gibt einen Gott.“ „Iwan, aber gibt es Unsterblichkeit, nun, dort, irgendeine, nun, meinetwegen eine ganz kleine, klitzekleine?“ „Nein, auch Unsterblichkeit gibt es nicht.“ „Überhaupt keine?“ „Überhaupt keine.“ „Das heißt, eine absolute Null oder doch etwas? Vielleicht ist doch noch etwas? Das ist doch immer noch nicht Nichts!“ „Eine absolute Null.“ „Aljoscha, gibt es Unsterblichkeit?“ „Ja, es gibt eine Unsterblichkeit.“ „Gott und Unsterblichkeit?“ „Ja, Gott und Unsterblichkeit.“ „Hm! Wahrscheinlicher ist, daß Iwan recht hat. Herrgott, wenn man bloß bedenkt, wieviel der Mensch Glauben hingegeben hat, wieviel Kräfte aller Art er ganz umsonst für diese Idee vergeudet hat, und das schon so viele Jahrtausende! Wer macht sich denn so lustig über den Menschen, Iwan? Zum letztenmal noch einmal, aber jetzt positiv: gibt es einen oder nicht? Ich frage zum letztenmal!“ „Und zum letztenmal – nein.“ „Wer macht sich denn so lustig über uns Menschen, Iwan?“ „Der Teufel vielleicht,“ meinte Iwan Fedorowitsch lächelnd. „Ja, gibt es denn einen Teufel?“ „Nein, auch einen Teufel gibt es nicht.“ „Schade. Weiß der Teufel noch eins, was ich mit demjenigen machen würde, der zum erstenmal Gott ausgedacht hat! Ihn einfach zu erhängen wäre ja viel zu wenig!“ „Dann würde es überhaupt keine Kultur geben, wenn man sich nicht Gott ausgedacht hätte.“ „Nicht geben? Ohne Gott, meinst du?“ „Ja. Und auch Ihren Kognak gäbe es dann nicht. Aber jetzt werde ich doch die Flasche fortstellen müssen.“ „Wart, wart, wart, mein Lieber, noch ein einziges kleines Gläschen. Ich habe Aljoschka gekränkt. Du ärgerst dich doch nicht, Alexei? Du mein lieber Alexeitschik, bist doch mein einziger Alexeitschik!“ „Nein, ich ärgere mich nicht. Ich kenne Ihre Gedanken. Ihr Herz ist besser, als Ihr Kopf.“ „Was, _mein_ Herz soll besser sein als mein Kopf? Großer Gott, und wie er das noch sagt!? Iwan, liebst du Aljoschka?“ „Ich liebe ihn.“ „Ist recht so, sollst ihn auch lieben.“ (Fedor Pawlowitsch war bereits stark berauscht.) „Hör, Aljoscha, ich sagte deinem Staretz vorhin eine Grobheit. Nun, ich war erregt. Aber in diesem Staretz steckt doch Scharfsinn, er kann wirklich geistreich sein, was meinst du, Iwan?“ „Warum nicht.“ „Doch, doch, _il y a du Piron là dedans_. Das ist ein Jesuit, ein russischer, versteht sich. Als edles Wesen, das er ist, kocht in ihm dieser gewisse verborgene Unwille darüber, daß er sich verstellen muß ... den Heiligen spielen.“ „Aber er glaubt doch an Gott.“ „Nicht für ’ne halbe Kopeke! Und du wußtest das nicht? Er sagt es doch allen selbst, das heißt, nicht allen, sondern nur allen klugen Leuten, die zu ihm kommen. Dem Gouverneur Schulz hat er ganz offen gesagt: ‚_credo_, weiß aber selbst nicht, woran.‘“ „Unmöglich!“ „Genau so, sag ich dir. Aber ich achte ihn sehr. Es ist etwas Mephistophelisches in ihm, oder richtiger, etwas aus Lermontoffs ‚Helden unserer Zeit‘ ... Arbenin oder wie der Kerl da heißt ... das heißt, sieh mal, er ist ein Lüstling; er ist dermaßen Lüstling, daß ich auch jetzt noch für meine Tochter zittern würde, oder für meine Frau, wenn sie zu ihm beichten ginge. Weißt du, wenn er davon erzählt ... Einmal, vor drei Jahren, lud er uns zu sich zum Tee ein, Tee mit einem pikfeinen Likörchen (die Damen schicken ihm alles zu), wie er aber dann von den alten Zeiten zu erzählen begann, da haben wir uns nur den Leib gehalten vor Lachen ... Besonders wie er eine Halbgelähmte geheilt hätte. ‚Wenn’s nur meine Füße erlaubten,‘ sagte er, ‚würde ich Ihnen ein gewisses Tänzchen vortanzen‘ ... Nun, wie? Wie findet ihr ihn? ‚Hab in meinem Leben den Leuten nicht wenig blauen Dunst vorgemacht,‘ sagt er. Vom Kaufmann Demidoff hat er sich runde Sechzigtausend eingezogen.“ „Wie, gestohlen?“ „Der brachte sie zu ihm wie zu einem heiligen Menschen: ‚Verwahr sie, morgen ist bei mir Haussuchung.‘ Nun, der verwahrte sie denn auch. ‚Du hast doch,‘ sagt er darauf, ‚die Sechzigtausend für die Kirche gespendet.‘ Sagte ihm: ‚Ein Schuft bist du.‘ ‚Nein,‘ sagt er, ‚bin kein Schuft, bin nur eine weit angelegte Natur‘ ... Übrigens, das war nicht er ... Das war ein anderer. Ich hab sie nur verwechselt ... ohne es selbst zu bemerken. Nun, jetzt noch ein Gläschen und dann Schluß, nimm die Flasche fort, Iwan. Ich habe gelogen, warum hast du mich nicht unterbrochen, Iwan ... und gesagt, daß ich lüge?“ „Ich wußte, daß Sie es selbst sagen würden.“ „Du lügst, das hast du aus Bosheit nicht getan, nur aus Bosheit. Du verachtest mich. Du bist hergekommen zu mir und verachtest mich jetzt in meinem eigenen Hause.“ „Ich werde sehr bald fortfahren; der Kognak ist Ihnen nicht gerade zuträglich.“ „Ich hab dich himmelhoch gebeten, nach Tschermaschnjä zu fahren ... auf ein, zwei Tage, du aber fährst nicht.“ „Morgen, wenn es Ihnen so sehr darum zu tun ist.“ „Wirst ja doch nicht fahren. Du willst hier auf mich aufpassen, mich bespionieren, siehst du, was du willst, eine böse Seele bist du, und darum wirst du auch nicht fahren.“ Der Alte hörte nicht auf. Er hatte jene Phase der Trunkenheit erreicht, in der viele bis dahin friedliche Trinker sich plötzlich ärgern wollen. „Was siehst du mich an? Was hast du für Augen? Deine Augen sehen mich an und sagen mir: ‚Betrunkene Fratze.‘ Mißtrauisch sind deine Augen, mit Verachtung blicken deine Augen ... Du bist hergekommen, weil du was ganz Besonderes im Sinne hast. Sieh, Aljoscha blickt einen an, und seine Augen strahlen dabei; der hat keine Hintergedanken. Aljoscha verachtet mich nicht. Aljoscha, du sollst Iwan nicht lieben!“ „Ärgern Sie sich nicht über meinen Bruder! Hören Sie endlich auf, ihn zu beleidigen!“ sagte plötzlich Aljoscha heftig. „Was, wieso – ich, nun, meinetwegen. Ach, mein Kopf schmerzt. Nimm den Kognak fort, Iwan, zum drittenmal sag ich es dir schon.“ Er verstummte, wurde nachdenklich, und allmählich verzog sich sein Gesicht zu einem schlauen, breiten Lächeln. „Sei nicht bös, Iwan, ärgere dich nicht über den alten Taugenichts. Ich weiß, daß du mich nicht liebst, aber trotzdem ärgere dich nicht. Wofür sollte man mich auch lieben. Wenn du nach Tschermaschnjä fährst, werde ich dich besuchen, Delikatessen mitbringen. Ich werde dir dort ein Mädel zeigen, ich habe sie mir schon längst gemerkt. Vorläufig ist sie noch ein Barfüßchen. Aber laß dich dadurch nicht abschrecken, verachte sie nicht, die Barfüßchen – Perlen, sag ich dir!“ Und er drückte schmatzend einen Kuß auf seine Handfläche. „Für mich,“ begann er plötzlich ganz belebt, als sei er im Augenblick nüchtern geworden, sobald er nur auf sein Lieblingsthema kam, „für mich ... Ach ihr! Kinderchen! Kleine Ferkelchen seid ihr! Für mich ... hat es sogar in meinem ganzen Leben kein einziges verächtliches Weib gegeben, das ist die Regel, an die ich mich halte! Könnt ihr das begreifen? Ach, wie sollt ihr denn das begreifen können: bei euch fließt ja noch Kindermilch anstatt Blut in den Adern, seid ja doch noch nicht mal aus dem Ei gekrochen! Nach meiner Überzeugung kann man in jedem Weibe ungewöhnlich viel, hol’s der Teufel, Interessantes finden, etwas, das man bei keiner einzigen anderen wiederfinden kann, – nur muß man es zu finden verstehen, das ist der Haken! Dazu gehört eben ein Talent! Unmögliche hat’s für mich überhaupt nicht gegeben: schon allein das, daß sie Weib ist, schon allein das – ist die Hälfte des Ganzen ... aber wie sollt ihr das begreifen! Selbst in den alten Jungfern findest du zuweilen noch so etwas, daß du dich über die übrigen Esel nur wundern kannst, wie sie sie nur haben alt werden lassen, ohne es überhaupt zu bemerken! Die Barfüßigen und Ausrangierten muß man ganz zuerst in Erstaunen setzen, – siehst du, so muß man sie anfassen. Und du wußtest das noch nicht? In Erstaunen muß man sie setzen, in eine Verwunderung, die zum Entzücken wird, die sie schließlich wie Begeisterung durchdringt, daß sich solch ein vornehmer Herr in solch einen Schmutzfink, wie sie, hat verlieben können. ’s ist wahrhaftig schön, daß es immer Hamiten und Herren auf der Welt geben wird, dann wird es auch immer solch eine kleine Scheuermagd geben, und immer auch einen Herrn für sie, das aber ist doch alles, was zum Lebensglück nötig ist! Wart ... hör mal, Aljoschka, mit deiner verstorbenen Mutter machte ich es ebenso, ich setzte sie gleichfalls in Erstaunen, nur kam es dabei anders heraus. Bin lange Zeit nicht zärtlich zu ihr, dann aber, wenn die Minute kommt – falle ich plötzlich vor ihr nieder, krieche auf den Knien vor ihr herum, küß ihr die Füßchen und bringe sie jedesmal, jedesmal – erinnere mich dessen noch wie heute – zu solch einem kleinen Lachen, solch einem trockenen, hellen, nicht lauten, nervösen ganz besonderen Lachen. Nur sie allein hatte solch ein Lachen. Ich weiß, daß damit bei ihr immer die Krankheit anfängt, daß sie morgen als Klikuscha rufen wird, und daß dieses kleine, trockene Lachen nichts weniger als Begeisterung bedeutet ... nun, einerlei, wenn auch Betrug, aber immerhin doch Begeisterung. Seht ihr, was das heißt, in allem so etwas zu finden verstehen! Einmal, weiß ich noch, war Beljäwski – ein hübscher, steinreicher Junge, hatte sich in sie verliebt und kam daher häufig zu uns ... Na ja, was ich sagen wollte, dieser Beljäwski also gab mir plötzlich in meinem eigenen Hause eine Ohrfeige, und zwar in ihrer Gegenwart. Als sie das sah, solch ein Lamm, – ich dachte, sie schlägt mich tot! ‚Jetzt bist du beschimpft,‘ schreit sie, ‚beschimpft, du hast von ihm eine Ohrfeige bekommen! Du hast mich,‘ sagt sie, ‚an ihn verkauft ... Wie hat er es wagen können, dich in meiner Gegenwart zu schlagen! Wage es nicht mehr, zu mir zu kommen, nie mehr, nie mehr! Geh sofort, fordere ihn auf Pistolen‘ ... So daß ich sie damals zur Beruhigung ins Kloster schleppen mußte, die heiligen Väter stellten sie durch Gebete wieder her. Aber, bei Gott, das hatte ich doch nicht von meiner kleinen Klikuscha erwartet! Nur einmal, höchstens einmal, es war noch im ersten Jahr: sie betete damals schon gar zu viel, besonders an den Feiertagen der Muttergottes, dann jagte sie sogar mich fort, in mein Kabinett – schlafen. Ich dachte, wart, werde diese ganze Mystik aus ihr heraustreiben! ‚Siehst du,‘ sage ich, ‚siehst du, das ist dein Heiligenbild, sieh, hier ist es, sieh, ich hab es abgenommen: und jetzt sieh, du hältst es für wundertätig, ich aber werde es jetzt gleich hier vor deinen Augen anspucken, und nichts wird dafür mit mir geschehen!‘ ... Wie sie das sah, Herrgott, denke ich: jetzt wird sie mich totschlagen! Sie aber sprang nur auf, krampfte die Hände zusammen, dann bedeckte sie mit ihnen das Gesicht, erzitterte am ganzen Körper und fiel zu Boden ... einfach so ... Aljoscha, Aljoscha! Was hast du, was fehlt dir?“ Der Alte sprang erschrocken auf. Aljoschas Gesicht hatte sich seit dem Augenblick, da der Vater von seiner Mutter zu sprechen begann, allmählich verändert. Er wurde rot, seine Augen flackerten auf, und die Lippen erzitterten ... Der trunkene Alte schwatzte weiter, daß ihm der Speichel von den Lippen spritzte, und bemerkte nichts davon – bis zu dem Augenblick, da mit Aljoscha plötzlich etwas sehr Sonderbares geschah, und zwar wiederholte sich bei ihm genau dasselbe, was der Alte gerade von seiner „Klikuscha“ erzählte. Aljoscha sprang plötzlich auf, krampfte die Hände zusammen, bedeckte dann mit ihnen das Gesicht und fiel wie vom Blitz getroffen zurück auf den Stuhl; er erbebte plötzlich von einem hysterischen Anfall erschütternder Tränen und schluchzte lautlos. Die ungewöhnliche Ähnlichkeit mit der Mutter frappierte den Alten ganz besonders. „Iwan, Iwan! Gib schnell Wasser,“ rief er erregt. „Das ist ganz wie sie, ganz genau so wie sie, wie damals seine Mutter! Bespritz ihn ein bißchen mit dem Wasser, so machte auch ich es mit ihr. Er weint wegen seiner Mutter ... wegen seiner Mutter ...“ „Ich glaube, seine Mutter war auch _meine_ Mutter, was meinen Sie wohl?“ stieß plötzlich in unbezwingbarer, zorniger Verachtung Iwan Fedorowitsch hervor. Der Alte fuhr zusammen vor seinem lodernden Blick. Doch da geschah etwas sehr Sonderbares, allerdings nur auf eine Minute: der Alte schien wirklich vergessen zu haben, daß die Mutter Aljoschas auch die Mutter Iwans war ... „Wie das – deine Mutter?“ murmelte er verständnislos. „Wie meinst du das? Von welch einer Mutter sprichst du? ... ja, war sie denn auch ... Ach, richtig! Teufel! Sie ist ja auch deine! Ach, Teufel! Nun, das, mein Lieber, das war mir ganz entfallen, verzeih, ich aber glaubte, Iwan ... He–he–he!“ Ein trunkenes, halb sinnloses Lächeln zog wieder sein Gesicht in die Breite. Da hörten sie plötzlich vom Vorzimmer her Geräusch und Gepolter und lautes Geschrei: die Saaltür flog auf, und herein stürzte Dmitrij Fedorowitsch. Der Alte warf sich entsetzt zu Iwan: „Er schlägt mich tot, er schlägt mich tot! Beschütz mich, beschütz mich!“ rief er heiser und klammerte sich angstvoll an den Rock seines Sohnes Iwan Fedorowitsch. IX. Die Wollüstlinge Gleich nach Dmitrij Fedorowitsch stürzten auch Grigorij und Ssmerdjäkoff in den Saal. Sie waren es gewesen, die sich ihm im Vorzimmer entgegengestellt hatten, um ihn nicht hereinzulassen (infolge der ausdrücklichen Anweisung Fedor Pawlowitschs, die dieser schon vor etlichen Tagen gegeben hatte). Grigorij benutzte es, daß Dmitrij Fedorowitsch unschlüssig stehen blieb, um sich im Saale umzublicken, und lief zu der Tür, die dem Eingange gegenüber lag, und die zu den anderen Zimmern, dem Kabinett und dem Schlafzimmer Fedor Pawlowitschs führte: er schloß beide Türflügel und stellte sich dann mit ausgebreiteten Armen davor, als ob er bereit gewesen wäre, diesen Eingang bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Als Dmitrij Fedorowitsch das bemerkte, stieß er einen heiseren, kurzen Schrei aus und stürzte sich auf Grigorij. „Also dort ist sie! Dort hat man sie versteckt! Fort, Schuft!“ Er wollte Grigorij fortreißen, doch der stieß ihn zurück. Außer sich vor Jähzorn, holte Dmitrij Fedorowitsch weit aus und schlug den alten Diener mit aller Kraft aufs Haupt. Grigorij brach zusammen und fiel zu Boden, Dmitrij Fedorowitsch aber, der über ihn hinwegsprang, stieß die Tür auf und stürzte in die anderen Zimmer. Ssmerdjäkoff blieb im Saal zurück, war bleich und zitterte, und hielt sich ganz fern in einer Ecke. „Sie ist hier!“ schrie Dmitrij Fedorowitsch. „Ich habe selbst gesehen, wie sie um die Hausecke bog, nur konnte ich sie nicht einholen. Wo ist sie? Wo ist sie?“ Dieser Schrei: „Sie ist hier!“ machte einen unglaublichen Eindruck auf Fedor Pawlowitsch. Die ganze Angst und der höllische Schrecken verließen ihn mit einemmal. „Halt ihn, halt ihn!“ gröhlte er und jagte Dmitrij Fedorowitsch nach. Grigorij hatte sich inzwischen erhoben, doch schien er noch nicht recht zu sich zu kommen. Iwan Fedorowitsch und Aljoscha liefen eilig ihrem Vater nach. Da hörte man im dritten Zimmer etwas fallen und klirrend zerschlagen: es war eine große Vase (keine von den teueren), die auf einem hohen Marmorsockel stand, und die Dmitrij Fedorowitsch beim Vorüberlaufen umgeworfen hatte. „Pack ihn!“ schrie der Alte heiser. „Zu Hilfe! Polizei!“ Doch Iwan Fedorowitsch und Aljoscha holten schon den Alten ein und brachten ihn mit Gewalt in den Saal zurück. „Wozu laufen Sie ihm nach! Damit er Sie unfehlbar erschlägt!“ rief Iwan Fedorowitsch zornig seinem Vater zu. „Wanjetschka, Ljoschetschka, sie soll hier sein, hier, Gruschenka! Er sagt, er habe sie selbst gesehen, habe gesehen, wie sie hergelaufen ist ...“ Er verschluckte sich. Er hatte diesmal Gruschenka gar nicht erwartet, und nun machte ihn die plötzliche Nachricht, daß sie gekommen sei, ganz verrückt. Er zitterte am ganzen Körper und schien völlig von Sinnen zu sein. „Sie haben es doch selbst gesehen, daß sie nicht gekommen ist!“ rief Iwan Fedorowitsch ärgerlich. „Aber vielleicht doch durch jenen Eingang?“ „Aber jener Eingang ist doch verschlossen, und der Schlüssel steckt, soviel ich weiß, in Ihrer eigenen Tasche ...“ Da erschien Dmitrij Fedorowitsch wieder im Saale. Er hatte natürlich jenen Eingang verschlossen gefunden, und der Schlüssel befand sich tatsächlich in Fedor Pawlowitschs Tasche. Die Fenster aller Zimmer waren gleichfalls geschlossen: folglich konnte Gruschenka unmöglich hinausgegangen sein. „Halt ihn!“ schrie sofort Fedor Pawlowitsch kreischend auf, als er Dmitrij wieder erblickte. „Er hat dort bei mir im Schlafzimmer Geld gestohlen!“ Und im Augenblick hatte er sich von Iwan losgerissen, um sich wieder auf Dmitrij Fedorowitsch zu stürzen. Der erhob aber seine Hände und packte plötzlich den Alten an den beiden letzten Haarbüscheln, die ihm noch an den Schläfen geblieben waren, riß ihn kräftig zur Seite und schleuderte ihn dann aus aller Kraft zu Boden, worauf er dann dem Liegenden noch zwei-, dreimal mit dem Stiefelabsatz ins Gesicht schlug. Der Alte stöhnte ächzend. Doch schon bändigte Iwan Fedorowitsch seinen älteren Bruder, obgleich er längst nicht so stark war wie dieser und riß ihn fort vom Vater. Aljoscha half ihm dabei noch mit seiner kleinen Kraft, indem er den Bruder von vorne umklammerte. „Mitjä, Wahnsinniger, du hast ihn ja totgeschlagen!“ rief Iwan. „Das hat er auch verdient!“ schrie atemlos Dmitrij. „Wenn ich ihn aber noch nicht totgeschlagen habe, so werde ich ihn noch totschlagen. Werdet ihn nicht davor bewahren können!“ „Dmitrij, geh sofort hinaus!“ rief Aljoscha gebieterisch. „Alexei! Sag du mir, dir allein werde ich glauben: War sie hier, oder war sie nicht hier? Ich habe selbst gesehen, wie sie am Zaun aus der Querstraße hierher einbog. Ich rief sie an, und da lief sie fort ...“ „Ich schwör es dir, daß sie nicht hier war, es hat sie hier überhaupt niemand erwartet!“ „Aber ich hab sie doch selbst gesehen ... Dann muß sie wohl ... Ich werde sofort erfahren, wo sie ist ... Leb wohl, Alexei! Dem Äsop jetzt von Geld kein Wort, zu Katerina Iwanowna aber unverzüglich, und sage unbedingt: ‚Er schickt seinen Abschiedsgruß! Gerade Abschiedsgruß, und seinen ergebensten Diener!‘ Beschreibe ihr die Szene!“ Inzwischen hatten Iwan und Grigorij den Alten aufgehoben und in einen Lehnstuhl gesetzt. Sein Gesicht war blutig, doch war er noch bei Besinnung und fing gierig die Schreie Dmitrijs auf. Er glaubte immer noch, daß Gruschenka sich irgendwo im Hause versteckt habe. Dmitrij Fedorowitsch warf noch einmal beim Fortgehen einen haßerfüllten Blick auf ihn. „Ich bereue dein Blut nicht!“ rief er ihm zu, „hüte dich, Alter, und vergiß das nicht, denn auch ich werde etwas nicht vergessen! Verfluche dich, und sage mich von dir auf ewig los ...“ Damit verließ er das Zimmer. „Sie ist hier, sie ist bestimmt hier! Ssmerdjäkoff, Ssmerdjäkoff,“ krächzte kaum hörbar der Alte und winkte mit dem Zeigefinger Ssmerdjäkoff zu sich heran. „Sie ist nicht hier, begreifen Sie es doch, Sie verrückter Alter,“ schrie ihn plötzlich wutbebend Iwan Fedorowitsch an. „So, jetzt wird er auch noch ohnmächtig! Wasser, ein Handtuch! Schlaf nicht, Ssmerdjäkoff!“ Erschrocken lief Ssmerdjäkoff nach dem Wasser. Fedor Pawlowitsch wurde schließlich ins Schlafzimmer gebracht, ausgekleidet und ins Bett gelegt; dann bekam er noch eine kalte Kompresse auf den Kopf, der mit einem Handtuch umbunden wurde. Ganz schwach vom Kognak, von der starken Erregung und schließlich von den Schlägen, schloß er, sowie er das Kissen berührte, die Augen und schlief wahrscheinlich sofort ein. Iwan Fedorowitsch und Aljoscha kehrten wieder in den Saal zurück. Ssmerdjäkoff trug die Scherben der zerschlagenen Vase hinaus, Grigorij aber stand in finsterem Schweigen am Tisch. „Solltest nicht auch du dich lieber ins Bett legen und ein nasses Handtuch um den Kopf wickeln?“ wandte sich Aljoscha an Grigorij. „Tu’s nur, wir werden hier bei ihm bleiben; Dmitrij hat dich so unvorsichtig geschlagen ... gerade auf den Kopf.“ „Er hat mich geschlagen!“ sagte Grigorij finster und deutlich vor sich hin. „Er hat auch den Vater geschlagen, nicht nur dich!“ bemerkte mit etwas spöttisch verzogenen Lippen Iwan Fedorowitsch. „Ich habe ihn eigenhändig gebadet ... Er aber hat mich geschlagen!“ wiederholte Grigorij. „Weiß der Teufel, wenn ich ihn nicht fortgezogen hätte, würde er ihn ja womöglich noch totgeschlagen haben. Wieviel brauchte es denn, um ihn totzuschlagen?“ raunte Iwan Fedorowitsch Aljoscha zu. „Gott behüte davor!“ sagte Aljoscha. „Warum soll er denn davor behüten,“ fuhr Iwan mit boshaft verzogenem Gesicht in demselben Geflüster fort. „Das eine Geschmeiß wird das andere Geschmeiß verschlingen, und damit geschieht ihnen beiden recht!“ Aljoscha fuhr zusammen. „Ich werde selbstverständlich einen Totschlag nicht zulassen, wie ich ihn auch heute verhindert habe. Bleib du hier, Aljoscha, ich werde hinausgehen, mein Kopf schmerzt.“ Aljoscha ging ins Schlafzimmer zum Vater und saß an seinem Bett hinter dem Schirm ungefähr eine ganze Stunde. Plötzlich öffnete der Alte die Augen und blickte lange schweigend Aljoscha an; er schien sich des Vorgefallenen zu erinnern und nachzudenken. Mit einemmal aber drückte sich eine ganz ungewöhnliche Erregung in seinem Gesichte aus. „Aljoscha,“ flüsterte er ängstlich, „wo ist Iwan?“ „Auf dem Hof, er klagte über Kopfschmerzen. Er bewacht uns.“ „Gib mir den kleinen Spiegel, sieh, dort steht er!“ Aljoscha gab ihm einen kleinen, dreiteiligen Spiegel, der auf der Kommode stand. Der Alte warf einen neugierigen Blick hinein und betrachtete sich dann aufmerksam: Die Nase war ziemlich stark geschwollen, und auf der Stirn war über der linken Augenbraue ein großer, blutunterlaufener Fleck. „Was sagt Iwan? Aljoscha, mein Lieber, du mein einziger Sohn, weißt du, ich fürchte mich vor Iwan, ich fürchte Iwan mehr als Dmitrij. Nur dich allein fürchte ich nicht!“ „Sie brauchen sich auch vor Iwan nicht zu fürchten, Iwan ärgert sich nur, aber er wird Sie verteidigen und beschützen.“ „Aljoscha, aber er? Wollte zu Gruschenka laufen! Mein Engel, sag mir die Wahrheit; war Gruschenka vorhin hier, oder war sie nicht hier?“ „Niemand hat sie hier gesehen. Das war nur ein Selbstbetrug von ihm; sie ist überhaupt nicht hier gewesen!“ „Aber Mitjä will sie doch heiraten, denk nur, heiraten!“ „Sie wird ihn nicht nehmen.“ „Wird nicht, wird nicht, wird nicht, wird bestimmt nicht, um keinen Preis! ...“ rief der Alte freudig belebt immer wieder, als ob man ihm nichts Angenehmeres hätte sagen können. In der Begeisterung ergriff er Aljoschas Hand und preßte sie krampfhaft an sein Herz. In seinen Augen erglänzten sogar Tränen. „Das Heiligenbild, weißt du, dieses von der Mutter Gottes, von dem ich vorhin erzählte, nimm du lieber an dich, nimm es mit, wohin du willst. Und ich erlaube dir auch, wieder ins Kloster zurückzugehen ... ich scherzte ja nur, sei nicht bös. Mein Kopf schmerzt, Aljoscha ... Ljoscha, beruhige du mein Herz, sei ein Engel, sag die Wahrheit!“ „Sie fragen noch immer, ob sie hier war oder nicht?“ fragte Aljoscha traurig. „Nein, nein, nein, ich glaube dir, nur höre: Geh selbst zu Gruschenka, oder versuch sie sonst irgendwie zu sehen; frag sie schnell, so schnell als möglich, errat es selbst mit deinen Augen: Zu wem will sie, zu mir oder zu ihm? Wie? Was? Kannst du’s, oder kannst du’s nicht?“ „Wenn ich sie sehen sollte, werde ich sie fragen,“ sagte Aljoscha halblaut und ein wenig verwirrt. „Nein, sie wird es dir nicht sagen,“ unterbrach ihn der Alte, „sie ist zu schlau dazu. Sie wird schließlich noch dich zu küssen anfangen und sagen, daß sie dich will. Sie ist eine Betrügerin, sie ist schamlos, nein, du darfst nicht zu ihr gehen, darfst nicht, hörst du!“ „Und es wäre auch wirklich nicht gut, Papa, wirklich nicht.“ „Wohin schickte er dich vorhin, rief dir noch zu: ‚Geh hin!‘ als er hinauslief?“ „Er schickte mich zu Katerina Iwanowna.“ „Nach Geld? Er will Geld haben?“ „Nein, nicht nach Geld.“ „Er hat kein Geld, keine Kopeke. Weißt du, Alexei, ich werde mich noch in dieser Nacht bedenken, du aber geh jetzt. Vielleicht triffst du auch sie ... Nur komme du morgen unbedingt wieder her, morgen früh, unbedingt. Ich werde dir morgen ein Wörtchen sagen; wirst du kommen?“ „Gut, ich werde kommen.“ „Wenn du aber kommst, dann mach so, als ob du von selbst kämest, um mich zu besuchen. Sag niemandem, daß ich dich gerufen habe, und Iwan sag kein Wort davon!“ „Gut.“ „Aber jetzt geh, mein Engel, vorhin tratst du für mich ein, werd es dir mein Lebtag nicht vergessen. Morgen aber werde ich dir etwas sagen ... nur muß ich noch etwas nachdenken.“ „Wie fühlen Sie sich denn jetzt?“ „Morgen, morgen steh ich auf, werde ganz gesund sein, ganz gesund, ganz gesund! ...“ Als Aljoscha über den Hof ging, fand er seinen Bruder Iwan auf der Bank an der Hoftür. Er saß und schrieb mit der Bleifeder etwas in sein Notizbuch. Aljoscha teilte ihm mit, daß der Vater aufgewacht und bei voller Besinnung sei und ihm erlaubt habe, zur Nacht wieder ins Kloster zurückzukehren. „Aljoscha, es würde mir sehr lieb sein, dich morgen früh zu treffen,“ sagte, sich erhebend, Iwan ungemein freundlich – mit einer Liebenswürdigkeit, die Aljoscha ganz unerwartet kam. „Ich werde morgen bei Chochlakoffs sein,“ sagte Aljoscha, „und vielleicht werde ich dann auch zu Katerina Iwanowna gehen, wenn ich sie jetzt nicht antreffen sollte ...“ „Und jetzt gehst du also zu Katerina Iwanowna? Um den ‚Abschiedsgruß‘ zu überbringen?“ fragte Iwan plötzlich lächelnd. Aljoscha wurde verlegen. „Ich habe, glaube ich, alles aus seinen Worten, die er dir noch zurief, erraten – und noch aus einigen früheren Äußerungen ... Dmitrij hat dich bestimmt gebeten, zu ihr zu gehen und zu sagen, daß er ... nun ... nun ... mit einem Wort, seine ‚Reverenz‘ macht?“ „Wanjä! Womit wird diese ganze furchtbare Geschichte mit dem Vater und Dmitrij noch enden?“ fragte Aljoscha angstvoll seinen Bruder. „Das läßt sich nicht voraussagen. Mit nichts vielleicht; die Geschichte wird verjähren. Dieses Frauenzimmer ist ein – Tier. Jedenfalls muß man den Alten im Hause bewachen und Dmitrij nicht ins Haus lassen.“ „Iwan, erlaube mir, noch etwas zu fragen: Hat denn wirklich jeder Mensch das Recht, wenn er auf die übrigen Menschen blickt, zu entscheiden, wer von ihnen es wert ist zu leben, und wer es nicht mehr wert ist?“ „Wozu hier die Frage nach der Würdigkeit hineinmischen? Diese Frage wird in den Herzen der Menschen meistens durchaus nicht auf Grund der Würdigkeit entschieden, sondern auf Grund ganz anderer, viel natürlicherer Dinge. Was aber das Recht betrifft – wer hat denn nicht das Recht, zu wünschen?“ „Doch nicht den Tod des anderen?“ „Und warum schließlich nicht auch den Tod? Und warum sich denn selbst belügen, wenn alle Menschen so leben und am Ende auch anders überhaupt nicht leben können. Fragst du das wegen meiner Worte: ‚Das eine Geschmeiß wird das andere verschlingen!‘ Erlaube dann, in solch einem Falle auch dich zu fragen: Hältst du auch mich wie Dmitrij für fähig, das Blut des Äsop zu vergießen, nun, sagen wir, ihn zu erschlagen, wie?“ „Was fällt dir ein, Iwan! Nicht mit einem einzigen Gedanken habe ich daran gedacht! Und auch Dmitrij halte ich nicht für fähig ...“ „Nun, auch dafür hab Dank,“ sagte Iwan lächelnd. „Wisse, daß ich ihn immer beschützen werde, doch meinen Wünschen lasse ich im gegebenen Falle die vollste Freiheit. Also auf Wiedersehen bis morgen. Verurteile und betrachte mich nicht als einen Verbrecher,“ fügte er mit einem Lächeln hinzu. Sie drückten sich so fest die Hand, wie sie es vorher noch nie getan hatten. Aljoscha fühlte, daß sein Bruder sich als erster ihm einen Schritt näherte, und daß er das unbedingt mit einer bestimmten Absicht tat. X. Beide zusammen Als Aljoscha das Haus seines Vaters verließ, fühlte er sich noch niedergeschlagener und bedrückter, als er vorhin bei seinem Eintritt gewesen war. Sein Verstand schien ihm gleichsam ganz zerstückt und zerstreut zu sein, und zu gleicher Zeit fühlte er, daß er sich fürchtete, das Verstreute zu vereinigen und sich über die allgemeine Ursache und Bedeutung aller quälenden Widersprüche, die er an diesem Tage empfunden hatte, klar Rechenschaft abzulegen. Es war ein bedrückendes, unerklärliches Gefühl, das fast an Verzweiflung grenzte, und das Aljoscha noch nie in seinem Herzen empfunden hatte. Über allen anderen quälenden Zweifeln und Rätseln stand wie ein Berg die eine verhängnisvolle, unlösbare Frage: Womit wird es zwischen dem Vater und dem Bruder dieses furchtbaren Weibes wegen enden? Jetzt war er selbst Augenzeuge gewesen und hatte sie beide in ihrer Eifersucht gesehen. Doch unglücklich, wirklich und furchtbar unglücklich konnte nur Dmitrij sein: ihn erwartete zweifellos großes Leid. Nun aber erwies sich auch, daß es noch andere Menschen gab, die all dieses gleichfalls anging und vielleicht noch viel mehr anging, als Aljoscha sich früher gedacht hatte. Es stellte sich plötzlich sogar etwas Rätselhaftes heraus. Sein Bruder Iwan war ihm einen Schritt näher getreten, was er solange schon gewünscht hatte, und siehe, jetzt fühlte er plötzlich, daß ihn diese Annäherung erschreckte. Und jene Frauen? Wie sonderbar: vorhin war er so unruhig und befangen gewesen, als er sich zu Katerina Iwanowna aufgemacht hatte, nun aber beeilte er sich selbst, schneller zu ihr hinzukommen, ganz als ob er erwartete, bei ihr Rat zu finden. Und doch war es jetzt schwerer, den Auftrag auszurichten als vorhin: die Geldangelegenheit war endgültig entschieden, und Dmitrij, so sagte sich Aljoscha, würde sich jetzt für ehrlos und hoffnungslos verloren halten und darum sich auch in nichts mehr zügeln, sondern sich geradeaus, kopfüber in den Abgrund stürzen. Und zudem hatte er noch befohlen, Katerina Iwanowna auch die letzte Szene zu erzählen. Es war schon sieben Uhr und es dunkelte bereits, als Aljoscha bei Katerina Iwanowna eintrat. Sie hatte ein sehr geräumiges und bequemes Haus an der Großen Straße gemietet. Aljoscha wußte, daß sie zusammen mit zwei Tanten wohnte; doch war die eine nur die Tante ihrer Stiefschwester Agafja Iwanowna. Das war jene schweigsame Person, die im Hause ihres Vaters, des Oberstleutnants, damals, als sie aus dem Institut nach Hause zum Besuch gekommen war, sie wie eine Magd bedient hatte. Die andere Tante dagegen war eine vornehme, doch gleichfalls arme Dame, eine Moskowiterin. Es hieß, daß sie beide in allen Dingen Katerina Iwanowna gehorchten und bei ihr nur als „Anstandsdamen“ wohnten. Katerina Iwanowna jedoch gehorchte nur ihrer Gönnerin, der alten Generalin, die krankheitshalber in Moskau geblieben war, und der sie wöchentlich zwei Briefe mit ausführlichen Nachrichten über sich schreiben mußte. Als Aljoscha in das Vorzimmer trat und die Zofe, die ihm die Tür geöffnet hatte, ihn anzumelden bat, schien man im Saal von seiner Ankunft schon zu wissen (vielleicht hatte man ihn vom Fenster aus gesehen), nur hörte Aljoscha noch ein Geräusch wie von hastig forteilenden Frauenschritten und Kleiderrauschen: vielleicht liefen zwei oder drei Frauen aus dem Zimmer. Es schien ihm sonderbar, daß er durch seinen Besuch solch eine Aufregung hervorrief; er wurde aber sofort gebeten, in den Saal einzutreten. Es war das ein großes, elegant, durchaus nicht nach provinziellem Geschmack reich möbliertes Zimmer: kleine Sofas, Couchetten, Chaiselongues, kleine und große Tische waren geschmackvoll gruppiert; an den Wänden hingen Gemälde, Vasen und Lampen standen auf den Tischen und auf besonderen Ständern viele Blumen. Da die Dämmerstunde schon vorrückte, war es etwas dunkel im Saal; Aljoscha bemerkte aber doch auf dem Sofa, auf dem man augenscheinlich noch vor kurzem gesessen hatte, einen seidenen Überwurf und auf dem Tisch davor zwei unausgetrunkene Tassen Schokolade, Biskuit, eine Kristallschale mit blauen Weintrauben und eine andere mit Konfitüren. Es mußte jemand zu Gast gewesen sein. Aljoscha erriet, daß er einen Besuch gestört hatte und runzelte die Stirn; da aber wurde auch schon eine Portiere zurückgeschlagen, und Katerina Iwanowna trat mit schnellen Schritten auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen. Im selben Augenblick brachte das Mädchen zwei brennende Lichte und stellte sie auf den Tisch. „Gott sei Dank, daß auch Sie endlich gekommen sind! Den ganzen Tag habe ich Gott gebeten, er möge Sie doch endlich zu mir schicken! Setzen Sie sich, bitte.“ Die Schönheit Katerina Iwanownas hatte Aljoscha schon früher frappiert, als ihn sein Bruder Dmitrij auf ihren ausdrücklichen Wunsch ihr vorgestellt hatte. Zu einem Gespräch war es damals zwischen ihnen nicht gekommen. Katerina Iwanowna hatte geglaubt, er sei verlegen geworden, und hatte daher, gleichsam um ihn zu schonen, die ganze Zeit nur mit Dmitrij Fedorowitsch gesprochen. Aljoscha hatte geschwiegen, beobachtet und vieles sehr gut erkannt. Ihn hatten das sichere Auftreten, die stolze Liebenswürdigkeit, das Selbstbewußtsein des hochmütigen Mädchens in Erstaunen gesetzt, und Aljoscha fühlte, daß es wirklich so war, daß Dmitrij nichts vergrößerte oder übertrieb. Er fand ihre großen, dunkelbraunen, feurigen Augen wundervoll und fand, daß sie besonders gut zu ihrem länglichen, blaß-gelblichen Gesicht standen. Doch war in diesen Augen, wie in den Linien der wundervoll geschnittenen Lippen etwas, in das sich sein Bruder wohl verliebt haben konnte, doch das er vielleicht nicht lange lieben werde. Diese Beobachtung teilte er dann auch seinem Bruder mit, als der nach dem Besuch in ihn drang und ihn bat, nicht zu verheimlichen, welch einen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte. „Du wirst mit ihr glücklich sein; aber vielleicht ... wird es kein ruhiges Glück werden.“ „Das ist’s ja; solche Menschen bleiben wie sie sind, die geben sich nicht mit ihrem Schicksal zufrieden. Also du glaubst, daß ich sie nicht ewig lieben werde?“ „Nein, vielleicht wirst du sie ewig lieben; aber vielleicht wirst du mit ihr nicht immer glücklich sein.“ Als Aljoscha damals seine Meinung geäußert hatte, war er vor Ärger über sich, daß er den Bitten seines Bruders Gehör gegeben und so „dumme“ Gedanken ausgesprochen hatte, heftig errötet, denn sofort, nachdem er es getan, war ihm seine Äußerung furchtbar dumm erschienen, und es war ihm sehr peinlich gewesen, daß er so vorwitzig über eine Frau geurteilt hatte. Um wieviel größer war nun seine Verwunderung, als er jetzt schon beim ersten Blick auf die ihm entgegentretende Katerina Iwanowna fühlte, daß er sich damals vielleicht sehr versehen hatte. Ihr Gesicht strahlte diesmal von unverfälschter, offenherziger Güte, von gerader, lebhafter Herzlichkeit. Von dem ganzen früheren „Stolz und Hochmut“, die Aljoscha das erstemal so betroffen gemacht hatten, war jetzt nur noch eine kühne, edle Energie und ein gewisser klarer, mächtiger Glaube an sich selbst zu bemerken. Schon nach dem ersten Blick auf sie, schon nach den ersten Worten begriff Aljoscha, daß ihr die ganze Tragik ihres Verhältnisses zu dem von ihr so geliebten Menschen durchaus kein Geheimnis war, daß sie vielleicht schon alles wußte, alles. Und doch lag soviel Licht auf ihrem Antlitz, soviel Glaube an die Zukunft. Aljoscha fühlte sich plötzlich im Ernst vor ihr schuldig, und es war ihm fast, als ob er es mit Absicht geworden wäre. Sie hatte ihn sofort besiegt und angezogen. Außerdem fiel ihm auch schon nach ihren ersten Worten auf, daß sie sehr erregt war, was bei ihr nur selten vorkam; es war eine Erregung, die beinahe sogar einer Art Begeisterung glich. „Ich habe Sie darum so sehnsüchtig erwartet, weil ich jetzt nur von Ihnen allein die ganze Wahrheit erfahren kann, nur von Ihnen allein!“ „Ich bin gekommen ...“ begann Aljoscha verwirrt, „ich ... er hat mich geschickt –“ „Ah, er hat Sie also geschickt; nun, das ahnte ich ja. Jetzt weiß ich alles, alles!“ rief Katerina Iwanowna mit aufblitzenden Augen aus. „Warten Sie, Alexei Fedorowitsch, ich werde Ihnen zuerst sagen, warum ich Sie so erwartete. Sehen Sie, ich weiß vielleicht viel mehr als Sie selbst; ich brauche nicht Nachrichten von Ihnen, sondern etwas anderes: ich will Ihre eigene, persönliche Meinung, ich will den Eindruck wissen, den er zuletzt auf Sie gemacht hat; ich will, daß Sie mir ganz aufrichtig sagen, ohne jede Ausschmückung, ganz brutal sogar (o, so brutal, wie Sie nur wollen!), wie Sie ihn jetzt, nach Ihrem heutigen Wiedersehen, selbst beurteilen. Das wird vielleicht noch besser sein, als wenn ich, zu der er nicht mehr kommt, mich persönlich mit ihm aussprechen würde. Verstehen Sie, was ich von Ihnen will? Jetzt sagen Sie mir, womit er Sie zu mir geschickt hat (ich wußte ja, daß er Sie zu mir schicken werde!); sprechen Sie ganz einfach, sagen Sie alles, bis aufs letzte Wort! ...“ „Er sagte mir, ich soll Ihnen ... seinen Abschiedsgruß überbringen und sagen, daß er nicht mehr kommen werde ... und grüßen läßt.“ „Seinen Abschiedsgruß? Hat er das so gesagt, so sich ausgedrückt?“ „Ja!“ „Vielleicht flüchtig, nebensächlich, ohne so genau ans Wort zu denken?“ „Nein, er befahl gerade, ich solle dieses Wort überbringen: ‚seinen Abschiedsgruß‘. Er bat mich dreimal darum, damit ich es nicht vergesse.“ Katerina Iwanowna schoß das Blut ins Gesicht. „Helfen Sie mir jetzt, Alexei Fedorowitsch; jetzt bedarf ich Ihrer Hilfe: Ich werde Ihnen zuerst sagen, was ich denke, und Sie sollen mir dann nur sagen, ob Sie es für richtig halten oder nicht. Also hören Sie: Wenn er Ihnen ganz flüchtig gesagt hätte, mir seinen Abschiedsgruß zu überbringen, ohne auf dem Wort zu bestehen, ohne es zu unterstreichen, so wäre alles aus ... Das wäre das Ende! ... Wenn er aber so besonders auf diesem Wort bestand, wenn er Sie so besonders beauftragt hat, mir gerade den _Abschiedsgruß_ zu überbringen – so muß er sehr erregt, vielleicht außer sich gewesen sein. Er entschloß sich vielleicht erst und erschrak vor seinem Entschluß! Er ist nicht festen Schrittes von mir fortgegangen, sondern hat sich hinab in den Abgrund gestürzt. Die ausdrückliche Betonung dieses Wortes kann ja nur Prahlerei gewesen sein.“ „Ja, ja!“ bestätigte Aljoscha lebhaft, „jetzt scheint es mir auch so.“ „Wenn das aber so ist, dann ist er noch nicht verloren! Er ist nur sehr verzweifelt; aber ich kann ihn noch retten. Warten Sie: Hat er zu Ihnen nicht noch etwas von Geld gesprochen, von dreitausend Rubeln?“ „Er hat nicht nur davon gesprochen, sondern das war es gerade, was ihn am meisten bedrückte. Er sagte, er sei jetzt ehrlos geworden, und jetzt wäre schon alles einerlei,“ antwortete Aljoscha erregt, da er fühlte, wie sich von neuem Hoffnung in seinem Herzen erhob, und daß es möglicherweise wirklich noch eine Rettung für seinen Bruder gab. „Aber wie ... wissen Sie denn etwas von diesem Geld?“ fragte er erschrocken und verstummte plötzlich. „Schon lange und ganz genau. Ich telegraphierte nach Moskau und erfuhr sofort, daß man das Geld nicht erhalten hatte. Er hatte also damals das Geld nicht abgeschickt! Aber ich schwieg. In der vorigen Woche erfuhr ich dann, wie sehr er gerade damals das Geld nötig gehabt hatte, und wie sehr er es noch jetzt nötig hat ... Ich verfolge ja doch nur ein einziges Ziel: Er soll wissen, zu wem er immer zurückkehren kann, und wer sein treuester Freund ist. Er aber will nicht glauben, daß ich das bin; er will mich nicht einmal näher kennen lernen; er sieht auf mich nur wie auf ein – Weib. Diese ganze Woche hat mich nur die eine furchtbare Sorge gequält: Was soll ich tun, damit er sich nicht der Verausgabung dieser Dreitausend vor mir schämt? Oder mag er sich auch schämen, vor allen, vor sich selbst; aber vor mir soll er sich nicht schämen. Gott gesteht er doch alles, ohne sich zu schämen. Warum weiß er noch immer nicht, wieviel ich für ihn ertragen kann? Warum, warum kennt er mich nicht; wie wagt er es, mich noch immer nicht zu kennen, nach allem, was schon geschehen ist? Ich will ihn auf ewig retten; mag er mich meinetwegen als seine Braut vergessen! Und nun fürchtet er sich vor mir – wegen seiner Ehre? Ihnen alles zu sagen, hat er sich doch nicht gefürchtet; warum habe _ich_ denn bis jetzt noch nicht dasselbe Vertrauen verdient?“ Die letzten Worte sprach sie mit Tränen in den Augen; Tränen rollten ihr über die Wangen. „Ich muß Ihnen noch mitteilen,“ sagte Aljoscha mit zitternder Stimme, „was, kurz bevor ich herkam, geschehen ist.“ Und er erzählte ihr die ganze Szene; erzählte, daß ihn Dmitrij zum Vater mit der Bitte um Geld geschickt hatte, wie er aber dann selbst hereingestürzt war, den Vater verprügelt und ihm, Aljoscha, dann noch einmal und eindringlich befohlen hatte, den „Abschiedsgruß“ zu überbringen ... – „Und darauf ging er zu jener ...“ fügte Aljoscha leise hinzu. „Und Sie glauben, daß ich das nicht überwinden kann? Er glaubt, daß ich’s nicht kann? Aber er wird sie ja nicht heiraten!“ Sie lachte nervös auf. „Kann denn ein Karamasoff ewig in dieser Leidenschaft bleiben? Das ist Leidenschaft, aber nicht Liebe. Er wird sie nicht heiraten, denn sie wird ihn nicht heiraten ...“ sagte sie wieder mit sonderbarem Lachen. „Er wird sie vielleicht doch heiraten,“ sagte Aljoscha traurig, den Blick zu Boden gesenkt. „Ich sage Ihnen, er wird sie nicht heiraten! Dieses Mädchen – ist ein Engel, wissen Sie das auch? Wissen Sie das?“ rief plötzlich in ganz auffallender Begeisterung Katerina Iwanowna. „Das ist das phantastischste aller phantastischen Geschöpfe! Ich weiß, wie bezaubernd sie ist, aber ich weiß auch, wie gut sie ist, wie charakterfest, wie edel. Warum sehen Sie mich so an, Alexei Fedorowitsch? Wundern Sie meine Worte, oder glauben Sie mir vielleicht nicht? Agrafena Alexandrowna, mein Engel!“ rief sie plötzlich jemandem zu, zur Tür des Nebenzimmers gewandt, „kommen Sie her zu uns, hier ist ein lieber Mensch, Aljoscha Karamasoff, er weiß alles, zeigen Sie sich ihm!“ „Ich wartete die ganze Zeit hinter der Portiere nur darauf, daß Sie mich rufen,“ antwortete darauf eine weiche, etwas süßliche Frauenstimme. Die Portiere wurde zurückgeschlagen und ... Gruschenka trat lachend ins Zimmer. Sie näherte sich dem Tisch. Aljoscha fühlte, daß ihn etwas durchzuckte. Er umklammerte sie geradezu mit seinem ganzen Blick und konnte die Augen nicht mehr von ihr abwenden. Das also war sie, sie, dieses furchtbare Weib, – das „Tier“, wie sich vor einer halben Stunde Iwan über sie geäußert hatte. Und nun stand vor ihm, wie es auf den ersten Blick schien – das gewöhnlichste und einfachste Geschöpf, ein gutes, liebes Wesen, zwar ein hübsches Weib, aber eines, das so ähnlich allen anderen hübschen, doch „gewöhnlichen“ Frauen war. Allerdings war sie schön, sogar sehr schön, – eine russische Schönheit, wie sie von vielen so leidenschaftlich geliebt wird. Sie war ziemlich groß, doch etwas kleiner als Katerina Iwanowna (da diese schon von sehr hohem Wuchs war), in der Gestalt recht voll, mit weichen, gleichsam „lautlosen“ Körperbewegungen, als ob dieselben, wie ihre Stimme, gleichfalls so sonderbar, fast süßlich ausgearbeitet wären. Sie kam nicht wie Katerina Iwanowna ins Zimmer, – mit munteren, festen Schritten; nein, unhörbar näherte sie sich ihnen. Keinen Schritt hörte man auf dem Fußboden. Weich ließ sie sich auf den Lehnstuhl nieder, weich rauschte ihr prächtiges schwarzes Seidenkleid, und verzärtelt hüllte sie ihren vollen, wie Schaum weißen Hals und ihre breiten Schultern in einen teuren schwarzen Schal. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, und ihr Gesicht drückte auch genau dieses Alter aus. Ihr Teint war sehr weiß, und nur ihre Wangen hatten einen blaßrosa Schimmer. Das Gesicht war vielleicht etwas zu breit, und der untere Kiefer trat ein wenig vor. Die Oberlippe war schmal und fein, doch die Unterlippe war voller und fast wie geschwollen. Aber ihr prachtvolles, reiches, dunkelblondes Haar, die dunklen, feingezeichneten Augenbrauen und ihre wundervollen graublauen Augen mit den langen Wimpern hätten selbst den gleichgültigsten und zerstreutesten Menschen, einerlei wo, in der Volksmenge, beim Spaziergang, im Gedränge auf der Straße gezwungen, plötzlich vor diesem Gesicht stehenzubleiben und es auf lange in der Erinnerung zu behalten. Am meisten machte Aljoscha der naive, gutmütige Ausdruck dieses Gesichts betroffen. Sie blickte ihn an wie ein Kind, freute sich über irgend etwas wie ein Kind, und sie „freute“ sich gerade, als sie sich ihnen näherte, wie wenn sie mit kindlich ungeduldiger, zutraulicher Neugier etwas Besonderes erwarte. Ihr Anblick machte das Herz froh, – das fühlte Aljoscha. Es war noch etwas in ihr, worüber er sich nicht hätte Rechenschaft geben können, vielleicht weil er es nicht verstand, etwas, das aber auch ihm sich unbewußt mitteilte, nämlich wiederum diese Weichheit, Zärtlichkeit der Körperbewegungen, diese katzenhafte Unhörbarkeit ihrer Schritte. Und doch war es eine starke, volle Gestalt. Unter dem weichen Schal zeichneten sich breite, volle Schultern ab, eine hohe, noch ganz jugendliche Brust. Dieser Körper hatte vielleicht die Formen der Venus von Milo, obgleich er auch jetzt schon in den Verhältnissen etwas übertrieben sein mußte, – das konnte man ahnen. Kenner russischer Frauenschönheit hätten vielleicht bei Gruschenkas Anblick gesagt, daß solche frische, noch jugendliche Schönheiten schon mit dreißig Jahren die Harmonie verlieren, daß auch das Gesicht dann schon verschwommen aussieht, daß um die Augen herum und auf der Stirn ungewöhnlich schnell kleine Fältchen entstehen und die Gesichtsfarbe ihre Zartheit verliert und rot wird. Mit einem Wort, daß es eine flüchtige Schönheit war, eine Augenblicksschönheit, die man so häufig gerade bei der russischen Frau findet. Doch daran dachte Aljoscha natürlich nicht in diesem Augenblick. Nur – wie bezaubert er auch war, so fragte er sich doch mit einer gewissen unangenehmen Empfindung: Warum zieht sie die Worte so in die Länge, warum kann sie nicht natürlich sprechen? Sie tat es augenscheinlich, weil sie diese gezogene und verstärkt-süßliche Aussprache schön fand. Das war natürlich nur eine dumme Angewohnheit schlechten Tones, die von ihrer geringen Bildung und von Kindheit an falschen Auffassung des Vornehmen zeugte. Und doch erschien Aljoscha diese singende Aussprache der Worte fast wie ein unmöglicher Widerspruch zu diesem kindlich-offenherzigen und gutmütig-freudigen Gesichtsausdruck, zu diesem stillen, glücklichen Leuchten ihrer Kinderaugen! Katerina Iwanowna zog sie sofort auf den Lehnstuhl neben sich und küßte sie entzückt mehrmals auf ihre lachenden Lippen. Sie schien in sie geradezu verliebt zu sein. „Wir sehen uns heute zum ersten Male, Alexei Fedorowitsch,“ sagte sie ganz berauscht; „ich wollte sie kennen lernen, sie sehen, ich wollte selbst zu ihr gehen, sie aber kam schon auf meine erste Bitte zu mir. Ich wußte es ja, daß wir beide alles sofort gutmachen würden, alles! Mein Herz fühlte es voraus ... Man bat mich himmelhoch, diesen Schritt zu unterlassen, aber ich ahnte ja, daß hier die Rettung war, und täuschte mich nicht. Gruschenka hat mir jetzt alles erzählt und erklärt, alle ihre Absichten; sie ist wie ein guter Engel zu mir gekommen und hat mir Ruhe und Freude gebracht ...“ „Sie haben mich nicht verachtet, liebes, wertes Fräulein,“ sagte Gruschenka in ihrem gezogenen, singenden Tone und immer noch mit demselben freudigen Lächeln. „Sagen Sie mir nie mehr, nie mehr so etwas, Sie schlimme Zauberin! Sie und verachten! Sehen Sie, ich werde gleich noch einmal ihre Lippen abküssen. Sie sind bei Ihnen ganz wie geschwollen, also damit sie noch mehr anschwellen, küsse ich sie, und werde sie wieder küssen, und wieder ... Sehen Sie, wie sie lacht, Alexei Fedorowitsch, wirklich, das Herz lacht einem, wenn man diesen Engel ansieht ...“ Aljoscha war rot im Gesicht und zitterte. Es war ein bebendes, unmerkliches Zittern. „Sie hätscheln mich, liebes Fräulein, ich aber bin Ihrer Liebkosung vielleicht gar nicht wert.“ „Nicht wert! Sie soll ihrer nicht wert sein!“ rief wieder mit derselben Begeisterung Katerina Iwanowna. „Wissen Sie auch, Alexei Fedorowitsch, daß wir ein phantastisches Köpfchen haben, ein eigenwilliges, aber stolzes, überstolzes Herzchen haben! Wir sind edel, Alexei Fedorowitsch, wir sind großmütig, wissen Sie das auch? Wir waren nur unglücklich. Wir waren nur zu schnell bereit, einem unwürdigen oder vielleicht auch nur leichtsinnigen Menschen jedes Opfer zu bringen. Es war einmal einer, gleichfalls ein Offizier, wir gewannen ihn lieb und gaben ihm alles; das war schon vor langer Zeit, vor fünf Jahren war’s, er aber vergaß uns, er heiratete eine andere. Jetzt ist er verwitwet, jetzt hat er geschrieben und kommt schon her – und wissen Sie auch, daß wir ihn allein, nur ihn allein die ganze Zeit über geliebt haben, bis auf den heutigen Tag! Er wird herkommen, und Gruschenka wird wieder glücklich sein, doch all diese fünf Jahre lang war sie unglücklich. Und wer kann ihr denn etwas vorwerfen, wer kann sich ihrer Zuneigung rühmen? Nur dieser eine gelähmte Greis, dieser Kaufmann, – aber er war eher unser Vater, unser Freund und Beschützer. Er fand uns damals in der Verzweiflung, in Qualen, verlassen von dem, den wir über alles liebten ... sie wollte sich ja damals ertränken, der Alte hat sie doch gerettet, gerettet!“ „Sie verteidigen mich schon gar zu sehr, mein liebes Fräulein, Sie übertreiben,“ sang wieder Gruschenka. „Ich verteidige? Wie soll ich darauf kommen, und darf hier überhaupt jemand etwas zu verteidigen wagen? Gruschenka, mein Engel, geben Sie mir Ihr Händchen, ach, sehen Sie doch, Alexei Fedorowitsch, dieses kleine, weiche, reizende Händchen! – Es hat mir Glück gebracht und mich wieder aufgerichtet und dafür werde ich es gleich küssen, so, so und so!“ Und sie küßte dreimal ganz verzückt Gruschenkas wirklich reizendes, vielleicht nur etwas zu volles Händchen. Gruschenka ließ es unter nervösem, doch hellem, reizendem Lachen geschehen: es war ihr augenscheinlich sehr angenehm, daß das „liebe Fräulein“ ihre Hand küßte. „Vielleicht ist das doch etwas zu viel der Begeisterung,“ fuhr es flüchtig Aljoscha durch den Sinn. Er errötete. Sein Herz war die ganze Zeit so sonderbar unruhig. „Beschämen Sie mich doch nicht, indem Sie mir so in Alexei Fedorowitschs Gegenwart die Hand küssen.“ „Ja, wollte ich Sie denn damit beschämen?“ fragte Katerina Iwanowna etwas verwundert, „ach, meine Liebe, wie falsch Sie mich verstehen!“ „Und Sie verstehen mich vielleicht auch gar nicht so, liebes Fräulein, ich bin vielleicht viel schlechter, als ich hier vor Ihnen scheine. Im Herzen bin ich schlecht; bin eigensinnig. Den armen Dmitrij Fedorowitsch habe ich damals aus reiner Spottlust gefesselt.“ „Aber jetzt retten Sie ihn doch selbst! Sie haben es mir doch versprochen. Sie werden ihm vernünftig zureden, werden ihm sagen, daß Sie einen anderen lieben, schon lange, und daß er Sie heiraten will ...“ „Ach nein, das habe ich Ihnen nicht versprochen. Sie haben es nur selbst gesagt, ich aber – ich habe Ihnen so etwas gar nicht versprochen.“ „Dann habe ich Sie wohl nicht recht verstanden,“ sagte Katerina Iwanowna etwas leiser und schien ein wenig zu erbleichen, „Sie versprachen ...“ „Ach nein, Sie Engel, davon habe ich nichts versprochen,“ unterbrach Gruschenka sie leise und ruhig, immer mit demselben heiteren, unschuldigen Ausdruck. „Und da sehen Sie jetzt gleich, wertes Fräulein, wie schlecht und eigensinnig ich bin. Wenn ich etwas will, so tue ich es auch. Vorhin habe ich Ihnen vielleicht etwas versprochen, jetzt aber denke ich: Plötzlich gefällt er mir wieder, Mitjä, meine ich, – gefiel er mir doch schon einmal sehr; fast eine ganze Stunde lang gefiel er mir. Und jetzt werde ich vielleicht gehen und ihm sofort sagen, daß er fortan bei mir bleiben soll ... Sehen Sie, wie unbeständig ich bin ...“ „Vorhin sprachen Sie ... ganz anders ...“ murmelte Katerina Iwanowna kaum hörbar. „Ach, vorhin! Aber mein Herz ist doch zärtlich und dumm. Und wenn man nur bedenkt, was er meinetwegen ertragen hat! Und plötzlich komme ich nach Hause, und es tut mir leid um ihn, – was dann?“ „Ich hatte nicht erwartet ...“ „Ach, Fräulein, wie gut und edel Sie jetzt im Vergleich zu mir erscheinen. Sehen Sie, jetzt werden Sie mich dummes Geschöpf nicht mehr lieben, weil ich solch einen Charakter habe. Geben Sie mir Ihr liebes Händchen, Sie Engel,“ bat sie zärtlich und nahm fast andächtig die Hand Katerina Iwanownas. „Nun, liebes Fräulein, werde auch ich Ihr Händchen nehmen und ebenso küssen, wie Sie meine Hand küßten. Sie küßten dreimal, ich aber müßte sie Ihnen dreihundertmal dafür küssen, um es quittzumachen. Und so mag es denn auch sein; dann aber, wie Gott will, vielleicht werde ich ganz Ihre Sklavin werden und Ihnen alles sklavisch zu Gefallen tun. Wie Gott will, so mag es sein, ohne alle Besprechungen und Versprechungen untereinander. Ihr Händchen, Ihr liebes Händchen, Fräulein, Ihr Händchen! Mein liebes Fräulein, Sie – Sie unglaubliche Schönheit!“ Sie zog wirklich die Hand an ihre Lippen, allerdings mit einer sonderbaren Absicht: um die Küsse zu „quittieren“! Katerina Iwanowna zog ihre Hand nicht fort. Mit scheuer Hoffnung vernahm sie die letzten Worte und das so sonderbar geäußerte Versprechen Gruschenkas, ihr vielleicht alles „sklavisch“ zu Gefallen tun zu wollen. Sie blickte ihr angestrengt in die Augen. Sie sah in diesen Augen immer denselben offenherzigen, zutraulichen Ausdruck, immer dieselbe klare Munterkeit ... „Sie ist vielleicht nur sehr naiv,“ dachte Katerina Iwanowna einen Augenblick mit neuer Hoffnung im Herzen. Gruschenka zog inzwischen langsam die Hand immer höher an ihre Lippen. Doch kurz vor ihren Lippen zögerte sie plötzlich und hielt inne, als ob sie über etwas nachdachte. „Aber wissen Sie was, Sie Engel,“ sagte sie plötzlich mit der zärtlichsten, süßesten Stimme, „wissen Sie was: Ich werde Ihr Händchen jetzt einfach _nicht_ küssen.“ Und sie lachte ein kleines, heiteres Lachen. „Wie Sie wollen ... Was sagen Sie?“ fuhr Katerina Iwanowna jäh auf. „So behalten Sie denn das zur Erinnerung, daß Sie meine Hand geküßt haben, ich aber die Ihre nicht.“ Es blitzte etwas in Gruschenkas Augen. Sie blickte aufmerksam Katerina Iwanowna an. „Unverschämte!“ stieß plötzlich Katerina Iwanowna hervor, als ob sie mit einemmal etwas begriffen hätte; sie wurde feuerrot und sprang auf. Ohne sich zu beeilen, erhob sich auch Gruschenka. „So werde ich es denn auch gleich Mitjä erzählen, wie Sie mir dreimal die Hand geküßt haben, ich aber die Ihre überhaupt nicht. Und wie er darüber lachen wird!“ „Hinaus, Sie gemeines Geschöpf, hinaus!“ „Ach, schämen Sie sich, Fräulein, ach, schämen Sie sich, das steht Ihnen wohl gar nicht zu, liebes Fräulein.“ „Hinaus, feile Dirne!“ schrie Katerina Iwanowna. Jeder Nerv zitterte in ihrem verzerrten Gesicht. „Also schon feil. Sind Sie doch selbst als junges Mädchen in der Dämmerung zu Herren nach Geld gegangen, um Ihre Schönheit zu verkaufen, das weiß ich doch, weiß ich doch!“ Katerina Iwanowna stieß einen kurzen Schrei aus und wollte sich auf sie stürzen, aber Aljoscha gelang es noch, sie mit aller Gewalt zurückzuhalten: „Kein Wort mehr, keinen Schritt! Sagen Sie nichts, antworten Sie nicht, sie geht ja schon fort, sie wird sogleich fortgehen!“ In dem Augenblick stürzten auf ihren Schrei hin die beiden Tanten in den Saal und nach ihnen das Stubenmädchen. Alle liefen sie zu ihr und umringten sie. „Ja, ich gehe,“ sagte Gruschenka, die vom Sofa ihren Umwurf nahm. „Aljoscha, mein Lieber, begleite mich!“ „Gehen Sie, gehen Sie doch schneller fort!“ bat Aljoscha flehend. „Lieber Aljoschenka, begleite mich! Ich werde dir unterwegs ein schönes, schönes Wörtchen sagen! Ich habe ja nur für dich, Aljoschenka, diese Szene gespielt. Begleite mich, Liebling, wirst später damit zufrieden sein.“ Aljoscha wandte sich von ihr ab. Gruschenka lief hell lachend aus dem Hause. Katerina Iwanowna hatte einen Nervenanfall. Sie schluchzte, konnte nicht atmen, glaubte zu ersticken. Alle bemühten sich um sie. „Ich habe Sie gewarnt,“ sagte ihr die ältere Tante, „ich habe Sie immer wieder von diesem Schritt abzuhalten versucht ... Sie sind viel zu heißblütig, wie kann man nur als Dame so etwas tun! Sie kennen diese Geschöpfe nicht; von dieser aber sagt man, sie soll die Schlimmste von allen sein ... Nein, Sie sind viel zu eigenwillig!“ „Das ist ja ein Tiger!“ schrie Katerina Iwanowna außer sich. „Warum hielten Sie mich zurück, Alexei Fedorowitsch, ich hätte sie durchgeprügelt, durchgeprügelt!“ Sie hatte nicht die Kraft, sich vor Aljoscha zusammenzunehmen, vielleicht wollte sie es auch nicht einmal. „Peitschen muß man sie, auf dem Schafott, durch den Henker, öffentlich! ...“ Aljoscha zog sich erschrocken zur Tür zurück. „Aber, o Gott!“ rief plötzlich Katerina Iwanowna, die Hände ringend. „Er! er hat so unmenschlich sein können, so unmenschlich! Er hat dieser Dirne erzählt, was dort war, damals, an jenem schrecklichen, entsetzlichen, verfluchten, ewig verfluchten Tage! ‚Sind doch Ihre Schönheit verkaufen gegangen, liebes Fräulein!‘ Und sie weiß das! Ihr Bruder ist ein Schuft, Alexei Fedorowitsch!“ Aljoscha wollte etwas sagen, aber er fand kein einziges Wort. Sein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz. „Gehen Sie fort, Alexei Fedorowitsch! Ich schäme mich, mir ist so furchtbar zumut! Morgen ... ich flehe Sie an, kommen Sie morgen! Verurteilen Sie mich nicht, verzeihen Sie, ich weiß noch nicht, was ich mit mir machen werde.“ Aljoscha trat auf die Straße. Er wankte beinahe. Er wollte gleichfalls weinen wie sie. Da kam ihm das Stubenmädchen nachgelaufen. „Das gnädige Fräulein hat vergessen, Ihnen diesen Brief von Fräulein Chochlakowa zu übergeben; er lag bei ihr seit dem Mittag.“ Aljoscha nahm ganz mechanisch das kleine rosa Kuvert und steckte es, ohne es selbst zu gewahren, in die Tasche. XI. Noch ein verlorener Ruf Das Kloster war nur etwas über eine Werst von der Stadt entfernt. Aljoscha schritt eilig aus auf der zu dieser Stunde ganz einsamen Straße. Die Nacht brach schon an: auf dreißig Schritt konnte man die Gegenstände nur schwer unterscheiden. Ungefähr auf der Hälfte des Weges kam ein Kreuzweg. Dort am Kreuzweg stand an einem einsamen Silberweidenbaum eine Menschengestalt. Kaum hatte Aljoscha den Kreuzweg betreten, als die Gestalt sich vom Baume loslöste, ihm entgegenstürzte und mit grimmig wilder Stimme rief: „Den Beutel oder das Leben!“ „Ach, das bist du, Mitjä!“ sagte höchst erstaunt Aljoscha, der zuerst doch etwas zusammengefahren war. „Ha–ha–ha! Das hattest du wohl nicht erwartet? Ich fragte mich: Wo soll ich dich erwarten? Bei ihrem Hause? Von dort aber führen drei Wege hierher, und ich könnte dich verfehlen. Endlich kam ich darauf, hier zu warten, denn hier muß er unbedingt vorübergehen, dachte ich, einen anderen Weg gibt’s nicht zum Kloster. Nun, sag die Wahrheit, schone mich nicht ... Was ist mit dir?“ „Nichts, Mitjä ... ich, nur so, vom Schreck. Ach, Dmitrij! Vorhin – dieses Blut unseres Vaters ...“ Aljoscha schluchzte auf; er hatte schon lange in Tränen ausbrechen wollen, jetzt aber war ihm, als ob etwas in seiner Seele plötzlich zerrisse. „Du hättest ihn beinahe erschlagen ... Du verfluchtest ihn ... und jetzt ... hier ... jetzt scherzest du noch ... Beutel oder Leben!“ „Ach ja, nun – was? Unpassend, nicht? Paßt nicht zu meiner Lage?“ „Ach nein, nicht das ... ich war nur so ...“ „Wart, bleib stehn. Sieh die Nacht, sieh, wie dunkel die Nacht ist, die Wolken, sieh, wie dunkel, und welch ein Wind sich erhoben hat! Ich hatte mich hier unter der Weide versteckt, erwartete dich, und plötzlich ein Gedanke (bei Gott!): Wozu sich denn noch weiter plagen, worauf noch warten? Hier ist eine Weide, ein Taschentuch hast du, ein Hemd hast du, eine Schlinge läßt sich im Augenblick zusammendrehen, kannst sie noch obendrein anfeuchten und – nicht mehr die Erde belasten, sie nicht mehr durch dein niedriges Leben entehren! Da höre ich, ein Mensch kommt – du! Herrgott, es war ganz, als ob plötzlich etwas zu mir niederfliege: also gibt es doch noch einen Menschen, den auch ich liebe, da kommt, da ist er, dieser Mensch, mein liebstes, kleines Brüderchen, das ich am meisten auf der Welt liebe, das einzige, was ich wirklich so, so lieb habe! Ja: so lieb warst du mir plötzlich, ich liebte dich so in diesem Augenblick, daß ich dachte: Werfe mich sofort an seinen Hals und küsse ihn! Da kam aber dieser dumme Gedanke: Werde einen Scherz machen, ihn erschrecken. Und da schrie ich denn wie ein alter Esel: ‚Den Beutel oder das Leben‘! Verzeih die Narrheit – das ist doch nur Unsinn, in der Seele ist es auch bei mir – ... anständig ... Nun aber, zum Teufel damit, sag, wie es dort war? Was sagte sie? Schlag mich nieder, zermalme mich, brauchst mich nicht zu schonen! Sie geriet wohl außer sich?“ „Nein, nicht das ... Es war dort ganz anders, Mitjä. Dort ... Ich traf sie beide zusammen an.“ „Wen denn, was für beide?“ „Gruschenka war bei Katerina Iwanowna.“ Dmitrij Fedorowitsch erstarrte. „Unmöglich!“ stieß er hervor, „du phantasierst! Gruschenka bei ihr?“ Aljoscha erzählte ihm alles, was er von dem Augenblick an, da er bei Katerina Iwanowna eingetreten war, gesehen und gehört hatte. Er erzählte zehn Minuten lang, allerdings nicht gleichmäßig und zusammenhängend, aber er verstand es, alles klar darzustellen; er hob die bedeutungsvollen Worte hervor, die wichtigsten Bewegungen, und gab häufig nur durch eine kurze Bemerkung deutlich seine eigenen Gefühle wieder. Dmitrij hörte schweigend zu, blickte starr mit einer sonderbaren Unbeweglichkeit vor sich hin, doch Aljoscha sah, daß er schon alles begriffen hatte und den ganzen Zusammenhang verstand. Sein Gesicht wurde, je mehr die Erzählung verrückte, nicht etwa nur finster, nein, drohend. Er hatte die Stirn gerunzelt, preßte die Zähne zusammen; sein unbeweglicher Blick wurde gleichsam noch unbeweglicher, starrer, furchtbarer ... Um so unerwarteter war es, als sich plötzlich mit unglaublicher Hastigkeit sein ganzes Gesicht, das bis dahin zornig und wild gewesen war, veränderte; die zusammengepreßten Lippen öffneten sich, und Dmitrij Fedorowitsch lachte das allerunbezwingbarste, natürlichste Lachen. Er schüttelte sich buchstäblich vor Lachen; lange Zeit konnte er überhaupt nicht sprechen vor Lachen. „Und hat die Hand auch richtig nicht geküßt! Nicht geküßt, und ist so fortgelaufen!“ rief er in geradezu krankhaftem Entzücken, – in schamlosem Entzücken könnte man vielleicht sagen, wenn dieses Entzücken nicht so ungekünstelt gewesen wäre. „Also sie schrie, sie sei ein Tiger! Das ist sie ja auch, ein Tiger! Also aufs Schafott soll man sie bringen? Ja, ja, das müßte man, das muß man, das ist auch meine Meinung, daß man es tun muß, schon lange müßte man’s! Siehst du, Bruder, meinetwegen aufs Schafott, aber vorher muß man noch geheilt werden. O, ich erkenne die Königin der Unverschämtheit, hierin ist sie ganz enthalten, ganz, in diesem Händchen hat sie sich ganz ausgesprochen, hierin liegt das ganze infernale Weib. Das ist die Königin aller infernalen Weiber, die man sich in der Welt nur denken kann! In seiner Art kann’s einen wirklich entzücken! Also sie lief nach Haus? Ich wollte schon ... Ach, dann werde ich ... schnell zu ihr eilen! Aljoschka, sei mir nicht böse, ich gebe ja vollkommen zu, daß es zu wenig wäre, sie zu erdrosseln ...“ „Aber Katerina Iwanowna?“ fragte Aljoschka traurig. „Auch die durchschaue ich, ganz und gar durchschaue ich sie jetzt, wie noch nie zuvor! Das ist eine wahre Entdeckung aller vier Erdteile, aller fünf! Solch ein Schritt! Das ist gerade diese selbe Katjenka, das Pensionsmädel, das mit dem hochherzigen Entschluß, den Vater zu retten, sich nicht fürchtete, zu einem dummen rohen Offizier in der Dämmerung zu laufen, wobei sie riskierte, so unsagbar beleidigt zu werden! Doch unser Stolz! das Bedürfnis zu wagen! das Schicksal herauszufordern! diese Herausforderung ins Unermeßliche! Du sagst, die Tante hat sie aufgehalten? Diese Tante, weißt du, ist selbst eine eigenmächtige Person, ist doch die leibliche Schwester jener moskauschen Generalin; sie hat früher die Nase noch höher getragen als Katjä, aber da wurde ihr Mann wegen Bestehlung der Kronkasse verurteilt, verlor alles, verlor sein ganzes Hab und Gut – und seine stolze Frau Gemahlin senkte darauf etwas den Ton, hat ihn auch seit der Zeit nicht wieder erhoben. Also sie hat Katjä zurückgehalten, und die hat natürlich nicht auf sie gehört. ‚Kann alles besiegen,‘ denkt sie, ‚alles ist mir untertan; wenn ich will, bezaubere ich auch Gruschenka,‘ und – hat sich natürlich selbst geglaubt, hat sich selbst aufgestachelt, wer ist denn jetzt daran schuld? Du glaubst, sie hat mit Absicht als erste das Händchen der anderen geküßt, Gruschenkas Hand, aus schlauer Berechnung? Nein, sie hatte sich wirklich, wirklich in Gruschenka verliebt, das heißt, nicht in Gruschenka, sondern in ihre eigene Idee, in ihre Phantasie, darum, siehst du, weil das, sozusagen, _ihre_ Idee war, ihre eigene Phantasie. Liebling, Aljoscha, wie bist du nur von ihnen losgekommen, wie hast du dich gerettet? Bist wohl einfach fortgelaufen, mit aufgenommenen Rockschößen? Ha–ha–ha!“ „Dmitrij, es ist dir, glaub ich, nicht einmal aufgefallen, wie beleidigend das für Katerina Iwanowna ist, daß du Gruschenka von jenem Tage erzählt hast? so daß die ihr jetzt ins Gesicht hat schleudern können: ‚Sie sind doch selbst zu Herren Ihre Schönheit verkaufen gegangen!‘ Bruder, gibt es denn überhaupt noch eine größere Beleidigung als diese?“ Am meisten quälte Aljoscha der Gedanke, daß sein Bruder sich gleichsam über Katerina Iwanownas Erniedrigung zu freuen schien, obgleich das natürlich ganz ausgeschlossen war. „Ach, Teufel!“ Dmitrij Fedorowitschs Gesicht verfinsterte sich plötzlich unheimlich, und er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Erst jetzt verfiel er darauf, obgleich Aljoscha alles erzählt, nichts verschwiegen hatte, auch Katerina Iwanownas Schrei nicht: „Ihr Bruder ist ein Schuft!“ – „Ja, wirklich, es kann sein, daß ich Gruschenka von jenem ‚verhängnisvollen Tage‘, wie Katjä sagt, erzählt habe. Ja, richtig, ich hab’s ihr erzählt, ich weiß, ich weiß! Das war damals in Mokroje, ich war betrunken, die Zigeunerinnen sangen ... Aber ich schluchzte doch, ich schluchzte doch selbst, ich lag auf den Knien, ich betete zu Katjä, und Gruschenka begriff das doch. Sie begriff damals alles, ich weiß noch, sie weinte selbst ... Äh, Teufel! und konnte es denn jetzt anders sein? Damals weinte sie, jetzt aber ... Jetzt ‚den Dolch ins Herz‘! So sind die Weiber!“ Er verstummte und dachte nach. „Ja, ich bin ein Schuft! Das steht nun fest!“ sprach er plötzlich mit düsterer Stimme vor sich hin. „Einerlei, geweint oder nicht geweint! Kannst dort melden, daß ich die Bezeichnung annehme, – wenn das zu trösten vermag. Und nun genug, leb wohl, wozu so viel schwatzen!! Heiteres gibt es nicht. Du gehst deinen Weg, ich den meinen. Und ich will dich auch nicht mehr sehn, bis zu irgendeiner letzten Minute. Leb wohl, Alexei!“ Er drückte Aljoscha fest die Hand und ging, immer noch mit gesenktem Kopf, als ob er sich losgerissen hätte, mit schnellen Schritten in die Stadt zurück. Aljoscha blickte ihm nach; er glaubte noch nicht, daß er wirklich fortging. „Wart, Alexei, noch ein Bekenntnis! Dir allein werde ich es sagen!“ rief plötzlich Dmitrij Fedorowitsch und kehrte zurück: „Sieh mich an, sieh mich aufmerksam an, sieh hier, hier – bereitet sich eine furchtbare Ehrlosigkeit vor.“ (Als er dieses „sieh hier“ sagte, schlug er sich in einer so sonderbaren Weise mit der Faust auf die Brust, als ob diese Unehre gerade auf seiner Brust läge oder dort sich verberge, auf einem bestimmten Fleck, in einer Tasche vielleicht, oder in etwas eingenäht am Halse hinge.) „Du kennst mich nun schon: Ich bin ein Schuft, ein erklärter Schuft! Doch wisse, was ich auch getan habe, früher, jetzt, oder noch später tun werde, – nichts, nichts kann sich in der Gemeinheit mit dieser Ehrlosigkeit vergleichen, die ich gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick hier, hier auf meiner Brust trage, gerade hier, sieh hier, – die schon geschieht und sich vollzieht, und die aufzuhalten vollkommen in meiner Macht liegt, merk dir das, ich kann sie aufhalten oder ausführen! Nun, so wisse denn, daß ich sie ausführen und nicht aufhalten werde. Heute in der Laube erzählte ich dir alles: nur das eine erzählte ich dir nicht, denn selbst ich hatte keine genügend eherne Stirn dazu! Ich kann noch stehen bleiben; wenn ich stehen bleibe, kann ich noch morgen die ganze Hälfte der verlorenen Ehre wiedergewinnen, aber ich werde nicht stehen bleiben, ich werde das gemeine Vorhaben ausführen, und so sei du hinfort Zeuge, daß ich im voraus und wissentlich sage: Verderben und Finsternis! Zu erklären ist nichts, wirst es schon zur rechten Zeit erfahren. Stinkende Winkelgasse und ein infernales Weib! Leb wohl. Bete nicht für mich, bin’s nicht wert, und es ist auch gar nicht nötig, nicht nötig ... bedarf dessen überhaupt nicht! Fort! ...“ Und er entfernte sich plötzlich, diesmal aber kehrte er nicht mehr zurück. Aljoscha ging zum Kloster. „Wie, wie werde ich ihn denn nie mehr wiedersehen? was sagte er?“ fragte er sich, und es schien ihm undenkbar, daß er ihn nicht mehr wiedersehen werde. „Morgen noch muß ich ihn unbedingt zu sehen versuchen, ich werde ihn schon finden, werde ihn unbedingt aufsuchen! Was wollte er nur damit sagen? Was meinte er? ...“ * * * * * Er ging von außen um das Kloster herum und dann durch den Kiefernwald geradeswegs zur Einsiedelei. Ihm wurde bald aufgemacht, obgleich man dort sonst zu so später Stunde niemanden mehr einzulassen pflegte. Sein Herz zitterte, als er in die Zelle des Staretz trat: – Warum, warum nur war er fortgegangen, warum hatte ihn jener ‚in die Welt‘ geschickt? Hier war Ruhe, hier war das Heil, dort aber – war Unruhe, dort war Finsternis, in der man sich sofort verirrte und verlor ... – In der Zelle befanden sich der Novize Porfirij und der Priestermönch Paissij, der den ganzen Tag in jeder Stunde einmal kam, um sich nach dem Befinden des Staretz zu erkundigen, mit dem es, wie Aljoscha mit Schrecken hörte, immer schlechter wurde. Sogar die übliche allabendliche Unterweisung der Brüderschaft hatte diesmal nicht stattfinden können. Gewöhnlich versammelte sich des Abends nach dem Gottesdienst die Brüderschaft des Klosters noch vor dem Schlafengehen in der Zelle des Staretz, und ein jeder beichtete ihm dann laut seine Vergehen, seine sündigen Gedanken und Träume, die er am Tage gehabt, Versuchungen und sogar Streitigkeiten mit den anderen, falls solche vorgekommen waren. Viele beichteten kniend. Der Staretz erließ die Sünden, versöhnte, unterwies und belehrte, legte Bußen auf, segnete und entließ. Gegen diese „Beichte“ der Brüderschaft erhoben sich aber die Gegner der Startzen; sie sagten, das sei eine Profanation der Beichte als Sakrament, obgleich es in diesem Falle doch etwas ganz anderes war. Man machte die geistliche Obrigkeit sogar darauf aufmerksam, daß solch ein Beichten nicht nur zu nichts führe, sondern tatsächlich und mit Fleiß in Sünde und Versuchung bringe und Anstoß gäbe. Man sagte, vielen Brüdern sei dieses Beichten lästig, doch wollten sie sich nicht absondern und kämen nur zu dem Staretz, damit man sie nicht böser Gedanken verdächtige und für stolz hielte. Man erzählte sich sogar, daß einzelne aus der Brüderschaft auf dem Wege zum Staretz unter sich abmachten: „Ich werde sagen, daß ich mich heute morgen über dich geärgert habe, und du bestätige es,“ – damit man etwas zu beichten hätte und auf diese Weise loskäme. Aljoscha wußte, daß das wirklich zuweilen vorkam. Auch wußte er, daß es unter der Brüderschaft einige Mönche gab, die darüber sehr ungehalten waren, daß sogar die Briefe, die die Einsiedler von ihren Verwandten erhielten, zuerst zum Staretz gebracht wurden, der sie dann erbrach und noch vor dem betreffenden Adressaten las. Es wurde natürlich vorausgesetzt, daß alles freiwillig und aufrichtig geschah, von Herzen kam, aus freier Ergebung und um der Erlösung willen – doch in Wirklichkeit geschah es gar manches Mal sehr wenig von Herzen, im Gegenteil, sogar mit Falschheit und erheuchelter Demut. Doch die Älteren und Erfahreneren der Brüderschaft bestanden darauf, da sie der Meinung waren: „Wer aufrichtig in diese Mauern eingetreten ist, um hier seine Erlösung zu finden, für den wird das alles nur Heil bringen und von großem Nutzen sein; wem aber das lästig ist, und wer darüber murrt, der ist überhaupt kein Mönch und ganz umsonst ins Kloster gekommen – der gehört in die Welt. Vor der Sünde und dem Teufel kann man sich nicht nur in der Welt, sondern selbst im Gotteshause nicht schützen – folglich braucht man mit der Sünde nicht Nachsicht zu haben.“ „Er ist sehr erschöpft, jetzt ist er eingeschlafen,“ flüsterte Pater Paissij Aljoscha zu, nachdem er ihn gesegnet hatte. „Man kann ihn nur schwer aufwecken; aber man braucht ihn ja auch nicht zu wecken. Vor fünf Minuten erwachte er von selbst, bat, der Brüderschaft seinen Segen zu überbringen, und ließ sie bitten, für ihn Nachtgebete zu sprechen. Am Morgen will er noch einmal das heilige Abendmahl nehmen. Er gedachte deiner, Alexei, fragte, ob du fortgegangen seiest, und man sagte ihm, daß du in der Stadt wärest. ‚Dazu habe ich ihm meinen Segen gegeben: dort ist sein Platz vorläufig, nicht hier,‘ – also sprach er von dir. Liebend gedachte er deiner, mit sichtlicher Sorge; erkennst du auch, wessen du gewürdigt worden bist? Warum hat er dir das nur bestimmt, eine Zeitlang draußen in der Welt zu bleiben? Er sieht wohl etwas voraus in deinem Schicksal! Behalte aber, Alexei, wenn du nun auch in die Welt zurückkehrst, daß es doch nur eine von deinem Staretz dir auferlegte Buße ist, und daß du es nicht zu eitlem Leichtsinn und zu weltlicher Freude tun sollst ...“ Pater Paissij ging hinaus. Aljoscha wußte jetzt, daß die Todesstunde des Staretz nicht mehr fern war, wenn er auch noch einen oder zwei Tage leben konnte. Und so beschloß er sofort, am nächsten Tage, trotz der Versprechen, die er seinem Vater, Chochlakoffs, seinem Bruder Iwan und Katerina Iwanowna gegeben hatte, überhaupt nicht aus dem Kloster zu gehen, um bei seinem Staretz bis zu dessen Tode bleiben zu können. Sein Herz erglühte in Liebe zu ihm, und er machte sich bittere Vorwürfe, daß er in der Stadt einen Augenblick ganz hatte vergessen können, wer hier im Kloster auf dem Sterbebett lag – der Mensch, den er vor allen am meisten verehrte und am höchsten achtete. Er ging leise in die kleine Schlafzelle des Staretz, kniete dort nieder und verneigte sich vor dem Schlafenden bis zur Erde. Der schlief still und ruhig; gleichmäßig und fast unmerklich atmete er; sein Antlitz war gleichfalls ruhig. Aljoscha kehrte in das vordere Zimmer zurück – in dasselbe, in dem der Staretz am Morgen den Besuch empfangen hatte –, zog seine Stiefel aus und legte sich fast ganz angekleidet auf das kleine, schmale Ledersofa, auf dem er schon seit langer Zeit in jeder Nacht schlief, nur legte er sich noch sein Kopfkissen unter. Das Federbett aber, das sein Vater ihm befohlen hatte, nach Haus mitzunehmen, brauchte er schon seit langer Zeit nicht mehr. Er nahm nur seine Kutte ab und bedeckte sich mit ihr an Stelle einer Bettdecke. Doch vorher kniete er jedesmal nieder und betete lange. In seinem heißen Gebet bat er Gott nicht etwa, ihm seine Verwirrung zu erklären, nein, er sehnte sich nur nach der freudigen Rührung, der früheren Rührung, die immer seine Seele so erfreut hatte, nach der Preisung Gottes, aus der gewöhnlich sein ganzes Abendgebet bestand. Diese Freude, die ihn dann überkam, brachte ihm einen leichten und ruhigen Schlaf. Als er jetzt wieder betete, berührte er plötzlich ganz aus Versehen den kleinen, harten Brief in seiner Tasche, den ihm Katerina Iwanownas Stubenmädchen auf der Straße übergeben hatte. Es verwirrte ihn zwar ein wenig, doch betete er ruhig zu Ende; darauf – nach einigem Schwanken – erbrach er das Kuvert: in ihm lag ein Brief an ihn, unterschrieben „Lise“. Es war dieselbe junge Tochter der Frau Chochlakoff, die am Morgen beim Staretz so sehr über Aljoscha gelacht hatte. „Alexei Fedorowitsch,“ schrieb sie, „ich schreibe Ihnen ganz heimlich, niemand weiß es, auch Mama nicht, und ich weiß selbst, daß es nicht gut ist. Aber ich kann nicht mehr leben, wenn ich Ihnen nicht das sage, was in meinem Herzen aufgestiegen ist, das aber darf niemand außer uns beiden bis zur rechten Zeit erfahren. Doch wie soll ich Ihnen nur das sagen, was ich Ihnen so gern sagen will? Das Papier, sagt man, nicht, und ich weiß selbst, daß es nicht richtig ist. Aber und daß es ganz ebenso errötet, wie ich jetzt über und über erröte. Lieber Aljoscha, ich liebe Sie, liebe Sie schon von Kindheit an, schon seit Moskau, als Sie noch gar nicht so waren wie jetzt, und ich liebe Sie fürs ganze Leben. Natürlich mit der Bedingung, daß Sie das Kloster verlassen. Was unser Alter anbetrifft, so werden wir so lange warten, wie es das Gesetz verlangt; bis dahin werde ich bestimmt, unbedingt gesund sein, werde gehen und tanzen können. Darüber lohnt sich kein Wort zu verlieren. Sehen Sie, wie ich alles bedacht habe; nur eines kann ich mir nicht vorstellen: was Sie von mir denken werden, wenn Sie das lesen? Ich lache immer und bin unartig, und heute noch habe ich Sie geärgert; aber ich versichere Ihnen, ich habe, bevor ich zu schreiben begann, vor der Mutter Gottes gebetet, und auch jetzt bete ich und weine beinahe. Mein Geheimnis ist jetzt in Ihren Händen; ich weiß nicht, wie ich Sie morgen, wenn Sie zu uns kommen, ansehen soll. Ach, Alexei Fedorowitsch, was dann, wenn ich mich wieder nicht beherrschen kann und wie ein albernes Geschöpf bei Ihrem Anblick abermals zu lachen anfange? Sie werden mich dann doch für eine schändliche Spötterin halten und meinem Brief gar keinen Glauben schenken, und darum flehe ich Sie an, Lieber, falls Sie nur etwas Mitleid mit mir haben: wenn Sie morgen eintreten, so sehen Sie mir nicht gar zu offen in die Augen, weil ich, wenn ich Sie sehe, vielleicht unbedingt plötzlich zu lachen anfangen werde. Zudem werden Sie noch immer in diesem langen Kittel stecken ... Sogar jetzt läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich daran denke; darum aber sehen Sie mich, wenn Sie hereinkommen, einige Zeit überhaupt nicht an; sehen Sie auf Mama oder zum Fenster hinaus ... Da habe ich Ihnen jetzt einen Liebesbrief geschrieben; mein Gott, was habe ich getan! Aljoscha, verachten Sie mich nicht, und wenn es etwas sehr Schlechtes ist und ich Sie betrübt habe, so verzeihen Sie mir. Jetzt ist das Geheimnis meines vielleicht auf ewig verlorenen guten Rufes in Ihren Händen. „Ich werde heute unbedingt weinen. Auf Wiedersehen! Bis zu diesem _schrecklichen_ Wiedersehen! Lise. P. S. Aljoscha, nur kommen Sie unbedingt, unbedingt, unbedingt! Lise.“ Aljoscha las in großer Verwunderung, las zweimal, dachte dann nach, und plötzlich lachte er leise und herzlich auf. Doch schon fuhr er zusammen, selbst dieses Lachen schien ihm sündhaft. Aber nach einem Augenblick lachte er von neuem vor sich hin, ebenso still und ebenso glücklich. Langsam schob er den Brief wieder in das kleine, rosa Kuvert, bekreuzte sich dann und legte sich schlafen. Die Unruhe seiner Seele war vergangen. „Herrgott, erbarme dich ihrer aller, beschütze die Unglücklichen, die im Sturm kämpfen, und lenke Du sie. Die Wege sind in deiner Hand; wäge Du und lenke ihre Wege zum Besten, und errette sie. Du bist die Liebe, Du wirst allen auch Freude senden!“ flüsterte Aljoscha sich bekreuzend und sank in sanften Schlaf. Viertes Buch. Ausbrüche I. Pater Ferapont Frühmorgens, noch vor Sonnenaufgang, wurde Aljoscha geweckt. Der Staretz war aufgewacht und fühlte sich sehr schwach, wollte trotzdem aufstehen und sich in seinen Lehnstuhl setzen. Er war bei voller Besinnung; sein Gesicht jedoch war, wenn auch sehr ermüdet, hell und klar, fast könnte man sagen – freudig, und der Blick ruhig, heiter und willkommenheißend. „Möglich, daß ich den begonnenen Tag nicht überleben werde,“ sagte er zu Aljoscha; darauf wollte er unverzüglich beichten und das Abendmahl nehmen. Sein Beichtvater war von jeher Pater Paissij; nach dem Empfang der beiden Sakramente begann die letzte Ölung. Die Priestermönche versammelten sich, und die Zelle füllte sich allmählich mit den Bewohnern der Einsiedelei. Inzwischen wurde es Tag. Da kam man auch aus dem Kloster zu ihm. Nach dem Frühgottesdienst wollte der Staretz sich von allen verabschieden, und er küßte einen jeden. Da die Zelle so klein war, gingen die früher Gekommenen hinaus, um den neu Ankommenden Platz zu machen. Aljoscha stand neben dem Staretz, der sich wieder in den Lehnstuhl gesetzt hatte. Er sprach und lehrte so viel er konnte; seine Stimme war allerdings schwach, aber doch noch ziemlich fest. „Ich habe euch so viel Jahre gelehrt und daher so viel gesprochen, daß mir das Sprechen gewiß zur Gewohnheit geworden ist, doch euch durch Sprechen zu unterweisen – das ist so stark in mir eingewurzelt, daß mir Schweigen vielleicht sogar schwerer fallen würde als das Reden, meine Lieben – selbst jetzt, bei meiner Schwäche,“ scherzte er mit gerührtem Blick auf die sich zu ihm Drängenden. Aljoscha erinnerte sich noch später dessen, was der Staretz damals gesagt hatte. Wohl sprach er noch deutlich und sogar mit ziemlich fester Stimme, doch seine Rede war schon etwas zusammenhanglos. Er sprach über vieles; wie es schien, wollte er alles aussprechen, vor dem Tode alles noch einmal sagen, alles im Leben Unausgesprochene, und nicht nur allein um der Predigt willen, sondern gleichsam aus dem Verlangen heraus, seine Freude und seine Begeisterung mit allen und allem zu teilen, noch einmal im Leben sein Herz auszuschütten ... „Liebet einander,“ lehrte der Staretz (wie sich Aljoscha dessen später erinnerte). „Liebet Gottes Volk. Sind wir doch, weil wir uns hier in diesen Mauern eingeschlossen haben, nicht heiliger als die Weltlichen; im Gegenteil, ein jeder Hergekommene hat sich allein schon dadurch, daß er hergekommen ist, im Herzen eingestanden, daß er schlechter ist als die Weltlichen und alles und jedes auf Erden. Und je länger der Einsiedler in diesen Mauern lebt, um so aufrichtiger und tiefer muß er dies erkennen; denn tut er es nicht, so hat er wahrlich keine Ursach gehabt, herzukommen. Wenn er aber zu dieser Erkenntnis gekommen ist, daß er nicht nur schlechter als alle Weltlichen, wohl aber noch vor allen Menschen für alle und alles schuldig ist, an allen Sünden der Menschen im allgemeinen wie im einzelnen, dann erst wird der Zweck unserer Absonderung erreicht sein. Denn wisset, meine Lieben, daß ein jeder von uns schuldig ist für alle und alles auf der Welt, das ist unanfechtbar – und nicht nur durch die allgemeine Weltschuld, sondern ein jeder einzeln für alle Menschen und für jeden Menschen auf dieser Erde. Diese Erkenntnis ist die Krone des Lebens sowohl jedes Einsiedlers wie jedes Menschen in dieser Welt – sind doch die Mönche keine anderen Menschen als die Weltlichen, wohl aber sind sie solche, die den Menschen auf Erden als Beispiel dienen sollten. Dann erst, wenn alle das verstanden haben, wird sich unser Herz in dieser unendlichen, allumfassenden Liebe weiten, die keine Sättigung, also auch keinen Tod kennt. Dann wird ein jeder von euch die Kraft haben, die ganze Welt durch seine Liebe zu erkaufen und mit seinen Tränen die Sünden der Welt abzuwaschen ... Ein jeder gehe seinem Herzen nach, ein jeder beichte sich selbst unermüdlich. Vor eurer Sünde fürchtet euch nicht, selbst wenn ihr sie erkannt habt; tragt nur Sorge, daß die Reue nicht vergehe, doch sollt ihr mit Gott nie Handel treiben. Und wiederum sage ich euch: Seid nicht stolz, weder vor den Geringen noch vor den Mächtigen. Haßt auch nicht, die euch verleugnen, euch schmähen und verleumden; haßt nicht die Atheisten, nicht die Lehrer des Bösen, nicht die Materialisten, sogar die Schlechten von ihnen nicht, nicht nur die Guten nicht, denn auch unter den Schlechten sind viele Gute, besonders in unserer Zeit. Gedenkt ihrer im Gebet also, wie ich euch sage: Vater unser, errette und behüte alle, die niemand haben, der für sie betet; erlöse auch die, welche nicht zu dir beten wollen. Und fügte noch hinzu: Nicht aus Stolz oder Hochmut bitte ich dich, Vater, also, denn ich selbst bin der Schlechten Schlechtester ... Liebet Gottes Volk, lasset nicht die Herde von Fremdlingen forttreiben, denn wahrlich, ich sage euch, wenn ihr in Faulheit und eurem geringschätzenden Hochmut einschlaft oder gar in verderblichem Eigennutz, so werden sie von allen Seiten kommen und euch eure Herde abspenstig machen. Verkündet unermüdlich dem Volke das heilige Evangelium ... Treibt nicht Wucher ... Hängt euer Herz nicht an Gold und Silber, trachtet nicht danach, sucht nicht, es zu erraffen ... Glaubt und haltet das Banner hoch, und erhebt es hoch, hoch ...“ Der Staretz sprach übrigens abgerissener, als es hier wiedergegeben ist und wie es Aljoscha später niedergeschrieben hat. Zuweilen hörte er ganz auf zu sprechen, als ob er wieder Kräfte sammelte, doch war er ersichtlich in innerer Ekstase. Man hörte ihm mit tiefer Rührung andächtig zu, obgleich sich viele über seine Worte wunderten und sie unklar fanden. Später erinnerte man sich wieder dieser Worte. Als Aljoscha auf einen Augenblick die Zelle verließ, war er erstaunt über die allgemeine Erregung und Erwartung der sich in und vor der Zelle drängenden Brüderschaft. Diese Erwartung äußerte sich bei vielen in ungewöhnlicher Spannung, bei anderen wiederum in feierlicher Stimmung. Alle erwarteten sie, daß etwas Großes sofort nach dem Verscheiden des Staretz geschehen werde. Diese Erwartung war sogar von einem gewissen Standpunkt aus unernst, doch selbst die Strengsten der Brüderschaft konnten sich nicht enthalten, sie zu teilen. Am strengsten war das Gesicht Pater Paissijs. Aljoscha verließ die Zelle, da ihn der aus der Stadt gekommene Rakitin geheimnisvoll durch einen Klosterbruder hatte herausrufen lassen. Rakitin übergab ihm einen sonderbaren Brief von Frau Chochlakoff. Sie teilte Aljoscha eine wichtige und sehr zur rechten Zeit gekommene Nachricht mit. Am Tage vorher war nämlich mit vielen anderen Weibern aus dem Volke auch ein altes Mütterchen aus der Stadt, die Unteroffizierswitwe Prochorowna, zum Staretz gekommen. Sie hatte den Staretz gefragt, ob sie für ihren Sohn Wassenjka, der fern nach Sibirien, nach Irkutsk, gefahren war, und von dem sie schon seit einem Jahr keine Nachricht erhalten hatte, eine Seelenmesse solle lesen lassen; worauf ihr der Staretz so etwas streng verboten und gesagt hatte, daß eine Seelenmesse für einen Lebenden ebensogut wie Zauberei wäre. Darauf hatte er ihr wegen ihrer Unwissenheit verziehen und zum Schluß noch hinzugefügt, „als ob er im Buche der Zukunft gelesen“ (schrieb Frau Chochlakoff in ihrem Brief), „daß ihr Sohn Wassjä am Leben sei und alsbald entweder selbst zu ihr kommen oder einen Brief schicken werde und sie nach Haus gehen und alles erwarten solle. Und was glauben Sie wohl!“ schrieb Frau Chochlakoff in ihrer Begeisterung: „– Die Prophezeiung ist buchstäblich in Erfüllung gegangen, und sogar noch mehr als das!“ Kaum war sie nach Haus zurückgekehrt, als man ihr einen aus Sibirien angekommenen Brief übergeben hatte. Und das wäre noch nicht alles: In diesem Brief, der auf der Reise in Jekaterinenburg geschrieben war, teilte der Sohn Wassjä seiner Mutter mit, daß er mit einem anderen Beamten nach Rußland zurückkehre und vielleicht schon nach drei Wochen „seine Mutter zu umarmen“ hoffe. Frau Chochlakoff bat Aljoscha eindringlich, dieses neue „Wunder der Prophezeiung“ dem Prior sowie der ganzen Brüderschaft mitzuteilen. „Alle sollen das erfahren, alle, alle!“ – Damit schloß sie ihren Brief. Dieser Brief war sehr schnell geschrieben; die Eile und Erregung der Schreiberin sprachen aus jeder Zeile. Aber Aljoscha brauchte der Brüderschaft nichts mehr mitzuteilen; alle wußten es schon. Rakitin hatte dem Klosterbruder nach der Bitte, Aljoscha herauszurufen, noch den Auftrag gegeben, untertänigst Seiner Hochehrwürden dem Pater Paissij zu melden, er, Rakitin, habe ihm eine Sache von solcher Wichtigkeit mitzuteilen, daß er nicht um eine Minute die Mitteilung hinausschieben dürfe, für seine Dreistigkeit aber kniend um Verzeihung bäte. Da nun der Klosterbruder zuerst zu Pater Paissij mit Rakitins Bitte gegangen war, so blieb Aljoscha nichts mehr übrig, als sofort dem Pater den Brief als bestätigendes Dokument zu übergeben. Und siehe, selbst dieser strenge, mißtrauische Mensch konnte nicht ganz sein Gefühl verbergen, nachdem er die Nachricht von dem „Wunder“ mit finsterem Gesicht gelesen hatte. Seine Augen blitzten auf, und die Lippen lächelten stolz und überzeugt. „Wer weiß, was wir noch erleben werden?“ entfuhr es ihm plötzlich gleichsam gegen seinen Willen. „Ja, was werden wir noch erleben, was werden wir noch erleben?“ wiederholten in der Runde die Mönche. Doch Pater Paissij, dessen Gesicht sich von neuem verfinstert hatte, bat alle, wenigstens „bis dahin“ niemandem laut davon Mitteilung zu machen: „bis es sich bestätigt – denn viel ist doch auch Leichtgläubigkeit in den Menschen, und vielleicht ist alles ganz natürlich geschehen,“ fügte er vorsichtig hinzu, als ob er damit sein Gewissen beruhigen wollte; doch bemerkten alle sehr wohl, daß er selbst an seine Einwendung nicht glaubte. Selbstverständlich wurde das „Wunder“ noch in derselben Stunde im ganzen Kloster bekannt, und auch viele Weltliche, die zur Liturgie in die Klosterkirche gekommen waren, erfuhren es. Am meisten aber war der kleine Mönch „vom heiligen Silvester“ aus Obdorsk über das Wunder erstaunt. Er hatte am Tage vorher zusammen mit Frau Chochlakoff auf den Staretz gewartet, und als sie von ihrer „geheilten“ Tochter gesprochen, den Staretz ungewöhnlich ernst gefragt, wie er solches tun könne. Jetzt aber war er wie vor den Kopf gestoßen und wußte kaum noch, woran er eigentlich glauben sollte. Er hatte nämlich am Abend vorher, nach dem Gespräch mit dem Staretz Sossima auf der Galerie, den Klosterpater Ferapont in seiner abgesonderten Zelle hinter dem Bienengarten besucht und von ihm einen ungewöhnlichen und beängstigenden Eindruck davongetragen. Dieser Pater Ferapont war derselbe alte Einsiedler, der große Schweiger und Faster, dessen ich schon einmal erwähnt habe: als Gegner des Staretz Sossima und des Startzentums überhaupt, das er für eine schädliche und leichtsinnige Neuerung hielt. Diesen aber als Gegner zu haben, war sehr gefährlich, obgleich er, als Schweiger, fast überhaupt nicht sprach. Gefährlich war er vor allem dadurch, daß ihm viele aus der Brüderschaft seine Gegnerschaft lebhaft nachempfanden und viele von den weltlichen Besuchern ihn für einen großen Gerechten und Glaubenseiferer hielten, obschon sie in ihm einen unzweifelhaft Geistesschwachen nicht verkennen konnten. Aber diese heilige Geistesschwäche nahm sie gerade am meisten für ihn ein. Dieser Pater Ferapont ging z. B. nie zum Staretz Sossima. Zwar lebte auch er in der Einsiedelei, doch wurde er mit den dort üblichen Regeln nicht weiter belästigt, da er sich ja doch wie ein Geistesschwacher benahm. Er war etwa fünfundsiebzig Jahre alt, wenn nicht mehr, und lebte bei der Zaunecke hinter dem Bienengarten der Einsiedelei in einer alten, morschen Holzzelle, die dort schon vor langer Zeit, noch im vorigen Jahrhundert, für einen gleichfalls großen Faster und Trappisten, den Pater Jonas, erbaut worden war. Dieser Pater Jonas war hundertfünf Jahre alt geworden, und noch jetzt erzählte man sich im Kloster wie in der Umgegend merkwürdige Geschichten von ihm. Pater Ferapont hatte endlich durchgesetzt, daß man ihm erlaubte, sich in diese einsame Zelle zurückzuziehen, und so lebte er denn schon sieben Jahre in dieser kleinen Hütte, die aber von innen auffallend einem kleinen Bethaus glich, da alle Wände mit vielen, vielen geschenkten Heiligenbildern behangen waren und vor ihnen Tag und Nacht viele, viele geschenkte Lämpchen brannten, die mit Öl zu füllen, anzuzünden, sie zu besorgen und nach ihnen zu sehen, Pater Feraponts einzige Arbeit war. Er aß, wie man erzählte (und es war auch wahr), nur zwei Pfund Brot in drei Tagen, nie mehr; das wurde ihm alle drei Tage von dem daselbst im Bienengarten wohnenden Bienenwärter gebracht; doch auch mit diesem wechselte Pater Ferapont nur höchst selten ein paar Worte. Diese vier Pfund Brot und Sonntags das Abendmahlbrötchen, das ihm der Prior jedesmal pünktlich nach dem Hochamt schickte, waren die ganze Nahrung, die er in einer Woche zu sich nahm. Das Wasser dazu wurde ihm täglich im Kruge gebracht. Zur Liturgie oder zum Gottesdienst kam er nur selten. Fromme Pilger, die ihn besuchten, sahen, daß er zuweilen den ganzen Tag im Gebet auf den Knien lag und kein einziges Mal aufblickte. Ließ er sich einmal mit jemandem in ein Gespräch ein, so war er immer sehr lakonisch, jedenfalls sehr sonderbar und gewöhnlich sehr grob. Es kam wohl zuweilen vor – allerdings nur äußerst selten –, daß er selbst mit den Pilgern zu sprechen begann; doch sprach er dann meistenteils nur ein paar sonderbare Worte zu ihnen, die den armen Leuten viel zu denken gaben, da sie stets rätselhaft blieben, denn Pater Ferapont ließ sich durch keine Bitten mehr bewegen, eine Erklärung zu seinem Ausspruch zu geben. Die Priesterwürde besaß er nicht; er war nur ein gewöhnlicher Mönch. Unter den einfachen Leuten hatte sich das Gerücht verbreitet, daß Pater Ferapont mit den himmlischen Geistern in Verbindung stehe und mit ihnen rede, darum aber im Verkehr mit den Menschen schweige; doch glaubten daran nur die Allerungebildetsten. Der kleine Mönch aus Obdorsk nun hatte sich gegen Abend in den Bienengarten gewagt und war dann nach der Angabe des Bienenwärters, eines gleichfalls sehr schweigsamen und mürrischen Mönches, in der Richtung zur Zaunecke auf die Suche nach der Hütte Pater Feraponts gegangen. „Kann sein, daß er dir was sagt, kann aber auch sein, daß du nichts von ihm zu hören bekommst,“ sagte ihm der Bienenwärter. Das Mönchlein näherte sich nach seinen eigenen Worten in großer Angst und Ehrfurcht. Es war schon eine ziemlich späte Stunde. Pater Ferapont saß diesmal an der Tür der Zelle auf einer niedrigen, kleinen Bank. Über ihm rauschte sacht im Abendwind der Wipfel einer mächtigen, alten, uralten Ulme. Abendkühle schlich sich heran. Der kleine Obdorsksche Mönch fiel vor dem Gebenedeiten nieder, verneigte sich vor ihm bis zur Erde und bat ihn um seinen Segen. „Willst du nicht, daß auch ich vor dir niederfalle, Mönch?“ fragte Pater Ferapont. „Erhebe dich!“ Das Mönchlein erhob sich gehorsam. „Segne mich und sei gesegnet. Setz dich neben mich. Von woher hat’s dich hergeführt?“ Was am meisten das arme Mönchlein in Erstaunen setzte, war, daß Pater Ferapont trotz seines so strengen Fastens und seines hohen Alters, ein dem Ansehen nach wirklich noch starker Mann war, daß er sich jedenfalls ganz gerade hielt, doch von Wuchs, nicht im geringsten gebeugt war und ein, wenn auch mageres, so doch gesundes, frisches Gesicht hatte. Zweifellos besaß er auch noch eine bedeutende körperliche Kraft. Gebaut war er geradezu athletisch, und trotz seines hohen Alters war er noch nicht einmal ganz ergraut; er hatte sogar sehr dichtes Haupt- und Barthaar, das früher ganz schwarz gewesen sein mußte; hatte große, leuchtende, graue Augen – doch sperrte er die Augenlider so weit auf, daß es einem sofort auffiel. Das O sprach er stets stark betont und als deutliches O aus.[14] Gekleidet war er in eine lange, sackartige Kutte aus grobem „Sträflingstuch“, wie man diesen Stoff früher nannte, und mit einer dicken Schnur umgürtet. Der Hals und die Brust waren bloß. Ein beinahe schwarzes Hemd von gröbster Leinwand, das monatelang nicht von seinem Körper kam, blickte unter dem Kittel hervor. Es hieß, daß er unter diesem Kittel dreißigpfündige Ketten trug. Seine nackten Füße staken in alten, fast gänzlich auseinanderfallenden Schuhen. „Ich komme aus der kleinen Obdorskschen Mönchsherberge des heiligen Silvester,“ antwortete demütig der kleine Mönch, doch blickten seine flinken Äuglein wohl etwas ängstlich, aber immerhin recht neugierig den Einsiedler an. „Kenn ihn; hab bei ihm gewohnt. Was macht er jetzt, ist er gesund?“ Diese sonderbare Frage machte das Mönchlein nicht wenig betreten; es begann etwas zu stottern ... „Einfältige Menschenkinder seid ihr! Wie haltet ihr das Fasten ein?“ „Unsere Speiseregel ist nach alter Einsiedlersatzung folgende: Während der großen Fastenzeit vor Ostern gibt es am Montag, Mittwoch und Freitag nichts, am Dienstag und Donnerstag für die Brüderschaft weiße Brote, Gerstentrank mit Honig, Schellbeeren oder gesalzenen Kohl und Hafermehlbrei. Am Sonnabend Weißkohl, Erbsen, Grütze mit Hanfsaft, alles in Öl. In der Woche zum Kohl noch getrockneten Fisch und Grütze. In der Karwoche aber vom Montag bis zum Sonnabend, also sechs Tage, nichts als Brot und Wasser und rohes Kraut, und auch das nur mit Enthaltsamkeit. Dann kann man wieder so essen wie in der ersten Fastenwoche; aber am heiligen Karfreitag wird nichts gegessen, und also auch am heiligen Sonnabend fasten wir bis zur dritten Morgenstunde, und dann dürfen wir etwas Brot mit Wasser und jeder je ein Gläschen Wein trinken. Am heiligen Gründonnerstag aber essen wir Gekochtes ohne Öl, trinken Wein mit etwas Trockenkost dazu; denn also ist auch auf dem heiligen Konzil zu Laodicäa gesagt worden: ‚Wenn ihr die ganze heilige Fastenzeit einhaltet, dann aber einen der letzten vier Tage freigebt, so habt ihr die ganze heilige Fastenzeit geschändet.‘ So ist es bei uns. Was aber ist das im Vergleich zu Euch, großer Vater,“ fügte das Mönchlein, dreister geworden, hinzu, „denn Ihr genießet doch das liebe runde Jahr und auch zu den heiligen Osterfeiertagen, wenn doch alle essen, nur Brot und Wasser, und was an Brot bei uns nur auf zwei Tage reicht, das genügt Euch für alle sieben Herrgottstage der Woche. Wahrlich, sie ist wunderbar, Eure so große Enthaltsamkeit.“ „Und die Pfefferschwämme?“ fragte plötzlich Pater Ferapont. „Pfefferschwämme?“ fragte das Mönchlein erstaunt. „Nun ja; ich werde auch noch von ihrem Brot fortgehen, brauch’s überhaupt nicht, gehe in den Wald, werde dort von Pfefferschwämmen oder Beeren leben; sie aber gehen hier nirgends fort von ihrem Sauerteig, sind also dem Teufel untertan, daß sie an ihn gebunden bleiben. Heutzutage reden die Unflätigen, es sei unnütz, so viel zu fasten. Das kommt alles nur von ihrer Unersättlichkeit und ihrem stinkenden Hochmut.“ „Ach ja, das ist wohl wahr!“ meinte das Mönchlein seufzend. „Hast du aber bei ihnen auch die Teufel gesehen?“ fragte Pater Ferapont. „Bei welchen ‚ihnen‘?“ erkundigte sich vorsichtig und schüchtern das Mönchlein. „Im vergangenen Jahr ging ich am Karfreitag hinauf zum Prior, das war denn auch das letztemal, seitdem bin ich nie mehr dort gewesen. Sah, bei dem einen sitzt er auf der Brust, versteckt sich unter der Kutte, nur die Hörner gucken noch raus; beim anderen sitzt er in der Tasche, lauert nur noch vorsichtig mit flinken, kleinen Augen, hat Angst vor mir; beim dritten hat er sich im Bauch niedergelassen, an der unflätigsten Stelle seines Leibes; dem vierten hat er sich einfach an den Hals gehängt, und der trägt ihn wie nichts, bemerkt ihn überhaupt nicht.“ „Ihr ... Ihr seht so etwas?“ erkundigte sich das Mönchlein wieder. „Sag ich dir doch, daß ich sie sehe, durch und durch sogar. Als ich dann langsam vom Prior fortging, da, sieh – sitzt einer hinter der Tür, will sich dort vor mir verstecken, solch ein fester Junge, eine oder anderthalb Arschin groß oder noch größer, mit einem dicken, dunkelbraunen, langen Schwanz, das Ende aber vom Schwanz war zwischen die Türspalte geraten – da war ich nicht dumm und knallte die Tür zu und klemmte seinen Schwanz ein. Wie er quiekte, wie er um sich schlug! Ich aber machte das Zeichen des Kreuzes dreimal nacheinander und kreuzte ihn einfach tot. Er krepierte denn auch auf der Stelle, wie eine plattgedrückte Spinne. Jetzt muß dort das Aas in der Ecke wohl schon verwest sein und stinken, sie aber sehen es weder, noch riechen sie es. Ein Jahr lang bin ich nicht mehr dort gewesen; nur dir hab ich’s gesagt, weil du doch ein Fremdling bist.“ „Furchtbar sind Eure Worte! Aber wie, großer, gebenedeiter Vater,“ – das Mönchlein wurde etwas mutiger – „ist es wahr, was man sich in fernen Gauen Rußlands von Euch erzählt, daß Ihr, wie es heißt, sogar mit dem Heiligen Geiste in fortwährendem Verkehre stehet?“ „Wenn er kommt, kommt’s vor.“ „Wie kommt er denn?“ „Geflogen kommt er.“ „In welcher Gestalt denn?“ „Als Vogel.“ „Also der Heilige Geist in Gestalt einer Taube?“ „Manchmal der Heilige Geist, manchmal der Heilgeist. Der Heilgeist ist was anderes, der kann auch als ein anderer Vogel herniederfahren: als Schwälbchen, als Stieglitz, als Meise.“ „Aber wie unterscheidet Ihr ihn denn von einer gewöhnlichen Meise?“ „Er spricht.“ „Aber wie spricht er denn? In welcher Sprache?“ „In menschlicher.“ „Aber was sagt er denn zu Euch?“ „Heute sagte er, daß ein Esel mich besuchen und dumme Fragen stellen werde. Willst wahrlich nicht wenig wissen.“ „Furchtbar sind Eure Worte, gebenedeiter, heiligster Vater,“ sagte das Mönchlein kopfschüttelnd; doch in seinen erschrockenen Äuglein lag ein bißchen Mißtrauen. „Siehst du hier diesen Baum?“ fragte nach einigem Schweigen Pater Ferapont. „Jawohl, heiliger Vater.“ „Deiner Meinung nach ist’s eine Ulme, meiner Meinung nach aber ist’s ein ganz anderes Ding.“ „Was ist es denn?“ Das Mönchlein schwieg in vergeblicher Erwartung. „Meistens in der Nacht,“ sagte plötzlich nach längerem Schweigen Pater Ferapont. „Siehst du diese zwei großen Äste? In der Nacht streckt Christus von dort seine Arme mir entgegen und sucht mich mit diesen Armen, das sehe ich deutlich, und ich zittere. Furchtbar, o furchtbar!“ „Was ist denn dabei furchtbar, wenn es Christus selbst ist?“ „Er kann mich doch erfassen und emportragen.“ „Lebendig?“ „Hast du denn von Elias nichts gehört? Er umfaßt einen und trägt einen fort ...“ Obschon der kleine Obdorsksche Mönch nach diesem Gespräch nicht wenig nachdenklich in die ihm angewiesene Zelle eines der Klosterbrüder kam, so fühlte er sein Herz doch mehr zum Pater Ferapont als zum Staretz Sossima hingezogen. Das arme Mönchlein war vor allen Dingen fürs Fasten, und da sollte es, seiner Meinung nach, niemanden weiter wundernehmen, wenn solch ein Faster, wie Pater Ferapont, auch „Wunderbares erschaute“. Seine Worte waren allerdings etwas absonderlich gewesen, aber wer konnte denn außer Gott wissen, was sich in ihnen verbarg, in diesen Worten, und doch konnte man allen anderen um Christi willen Einfältigen kein einziges solcher Worte und keine einzige solcher Taten nachrühmen. An den eingeklemmten Teufelsschwanz war er nicht etwa im bildlichen, sondern im buchstäblichen Sinn des Wortes mit ganzer Seele und mit wahrem Vergnügen zu glauben bereit. Außerdem war er immer sehr voreingenommen gegen das Startzentum gewesen, das er bis jetzt nur vom Hörensagen kannte und wie viele andere gleichfalls für eine schädliche Neuerung hielt. Noch war er keinen ganzen Tag im Kloster gewesen, als er schon das geheime Murren einiger freimütiger Klosterbrüder wider das Startzentum vernommen hatte. Zudem war er schon von Natur ungewöhnlich neugierig und für alles interessiert, weshalb er denn auch immer umherschnüffelte und überall spionierte. Das war nun der Grund, warum ihn die Nachricht von dem neuen „Wunder“, das der Staretz Sossima vollbracht haben sollte, so erregte. Aljoscha erinnerte sich später, daß er in der Menge, die sich vor der Zelle des Staretz drängte, mehrmals die kleine Gestalt des herumschnüffelnden Gastes vom heiligen Silvester bemerkt hatte, wie der Kleine von Gruppe zu Gruppe ging, überall horchte und fragte. Doch damals beachtete er ihn nicht weiter; erst später fiel es ihm wieder ein ... Und war ihm doch auch an jenem Tage nicht darum zu tun: dem Staretz Sossima, der sich wieder sehr müde gefühlt und sich hingelegt hatte, war plötzlich, schon im Einschlafen, Aljoscha eingefallen, und so hatte er ihn sofort zu sich rufen lassen. Aljoscha eilte zu ihm. Beim Staretz befanden sich gerade nur Pater Paissij, der Priestermönch Pater Jossiff und der Novize Porfirij. Der Staretz schlug seine müden Augen auf, blickte Aljoscha aufmerksam an und fragte ihn plötzlich: „Erwarten dich nicht die Deinen, mein Sohn?“ Aljoscha erschrak und stotterte etwas. „Bedürfen sie nicht deiner? Hast du gestern nicht jemandem versprochen, heute hinzukommen?“ „Ja ... meinem Vater ... den Brüdern ... auch anderen ...“ „Siehst du, geh unbedingt hin, sei nicht traurig. Wisse, daß ich nicht sterben werde, ohne in deiner Gegenwart mein letztes Wort hier auf Erden gesagt zu haben. Dir werde ich dieses Wort sagen, dir vermache ich es, dir, mein geliebter Sohn, denn ich weiß, daß du mich liebst. Jetzt aber geh zu denen, welchen du versprochen hast zu kommen.“ Wie schwer es Aljoscha auch war, jetzt fortzugehen, so gehorchte er doch widerspruchslos. Aber die Verheißung, das letzte Wort des Staretz hier auf Erden zu hören, und zwar als ein Vermächtnis an ihn, Aljoscha, erschütterte und begeisterte seine Seele. Er beeilte sich, schneller in die Stadt zu gehen, um schneller wieder zurückkehren zu können. Da sprach noch Pater Paissij, als Aljoscha mit ihm die Zelle des Staretz verließ, einige Worte zu ihm, die einen tiefen und unerwarteten Eindruck auf ihn machten. „Denke daran, Jüngling,“ sagte der Pater, „daß die weltliche Wissenschaft, die zu einer großen Macht geworden ist, namentlich im letzten Jahrhundert alles niedergerissen hat, was uns Himmlisches in den Büchern der Heiligen vermacht worden. Nach einer grausamen Analyse scheint bei den Gelehrten dieser Welt vom ganzen früheren Heiligtum überhaupt nichts übriggeblieben zu sein. Sie haben es aber stückweise analysiert, doch der Geist des Ganzen ist ihnen entgangen. Man kann sich wirklich nur wundern, wie blind sie in der Beziehung sind. So steht denn das Ganze auch jetzt noch unerschüttert vor ihnen, und die Geister der Hölle können ihm nichts anhaben. Hat es denn nicht neunzehn Jahrhunderte gelebt, lebt es denn nicht auch jetzt noch in Regungen der Seelen einzelner wie in den Bewegungen ganzer Volksmassen? Sogar in den Regungen dieser selben, die alles zerstört haben, in den Seelen der Atheisten, lebt es wie früher unzerstört und unerschütterlich fort. Denn auch die, die sich vom Christentum losgesagt haben und gegen dasselbe eifern, haben in ihrem Innersten doch das Wesen dieses selben Christus behalten, denn bis jetzt ist weder ihre Weisheit, noch die Glut ihres Herzens fähig gewesen, ein anderes, höheres Ideal des Menschen und seiner Menschenwürde hervorzubringen, als das von Christus gegebene. Was sie aber an Versuchen hervorgebracht haben, ist nichts als Mißgestalt. Behalte das besonders, Knabe, denn dein scheidender Staretz hat dich für die Welt bestimmt. Vielleicht wirst du, wenn du dieses großen Tages gedenkst, auch meiner Worte gedenken, die ich dir von Herzen als Geleit gebe, denn jung bist du, die Welt aber ist voll schwerer Versuchungen, und ihnen sind deine Kräfte nicht gewachsen. Jetzt geh, mein verwaister Junge.“ Mit diesen Worten segnete ihn Pater Paissij. Als Aljoscha das Kloster verließ und noch all diese unerwarteten Worte überdachte, begriff er plötzlich, daß er in diesem sonst so strengen Mönche einen neuen herzlichen Freund und ihn heiß liebenden neuen Führer gefunden hatte – ganz, als ob sein Staretz ihm Pater Paissij als Vermächtnis hinterlassen wollte. „Vielleicht ist auch wirklich so etwas zwischen ihnen verabredet worden,“ dachte Aljoscha. Die unerwarteten und lehrreichen Worte Pater Paissijs, die er soeben vernommen hatte, zeugten jedenfalls von dem Anteil desselben: Er beeilte sich offenbar, den jungen Geist zum Kampf mit den Versuchungen zu wappnen und die ihm anvertraute junge Seele unter seinen Schutz zu nehmen. II. Beim Vater Ganz zuerst ging Aljoscha zu seinem Vater. Als er sich dem Hause näherte, fiel ihm ein, daß ihn der Vater gebeten hatte, möglichst vorsichtig einzutreten, damit sein Bruder Iwan es nicht höre oder sonstwie bemerke. „Warum wohl?“ fragte sich Aljoscha. „Wenn er mir allein etwas heimlich zu sagen hat, warum soll ich denn deswegen heimlich eintreten? Vielleicht hatte er es gestern in der Erregung anders gemeint, sich aber nur nicht richtig ausgedrückt,“ dachte er schließlich. Trotzdem war er froh, als ihm Marfa Ignatjewna, die ihm die Hofpforte aufschloß (Grigorij war, wie sich zeigte, unwohl und lag zu Bett), auf seine Frage mitteilte, daß Iwan Fedorowitsch schon vor zwei Stunden fortgegangen sei. „Und der Vater?“ „Sind aufgestanden, trinken Kaffee,“ antwortete Marfa Ignatjewna etwas trocken. Aljoscha trat ein. Der Alte saß in Hausschuhen und in einem alten Mantel allein am Tisch und sah zum Zeitvertreib, übrigens ohne große Aufmerksamkeit, irgendwelche Rechnungen durch. Er war ganz allein im Hause; Ssmerdjäkoff war einkaufen gegangen. Doch die Rechnungen schienen ihn nicht sonderlich zu beschäftigen. Er war allerdings früh aufgestanden und versuchte, munter zu sein, denn er wollte auf keinen Fall krank scheinen, doch sah er noch müde und angegriffen aus. Seine Stirn, auf der sich über Nacht die blutunterlaufenen Flecke noch verdunkelt hatten, war mit einem roten Tuch umwunden. Die Nase war gleichfalls über Nacht gehörig angeschwollen, und auch auf ihr zeichneten sich einige weniger bedeutende blutunterlaufene Flecke ab, die dem Gesicht entschieden ein ganz besonders gereiztes und böses Aussehen verliehen. Der Alte wußte das auch selbst und blickte daher dem eintretenden Aljoscha nichts weniger als freundlich entgegen. „Der Kaffee ist kalt,“ sagte er kurz, „biete ihn dir auch nicht an. Ich sitze heute selbst auf dem Trockenen, das heißt, werde nichts als Fastenfischsuppe genießen, fordere daher auch niemanden zum Essen auf. Wozu hast du dich herbemüht?“ „Um mich nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen,“ sagte Aljoscha. „So, und außerdem hab ich dir gestern befohlen, herzukommen. Solch ’n Blödsinn. Hast aber umsonst geruht, dich zu bemühen. Übrigens wußt ich’s ja, daß du dich sofort ranschleppen wirst ...“ Alles, was er sprach, sagte er im feindseligsten Tone. Er erhob sich vom Stuhl und blickte besorgt in den Spiegel (vielleicht zum vierzigstenmal an diesem Morgen), um wieder seine Nase zu betrachten. Auch versuchte er, das rote Tuch auf der Stirn zurechtzuzupfen, damit es etwas hübscher aussähe. „Ein rotes ist doch immerhin etwas besser, im weißen sieht man ja sofort wie ein wandelndes Lazarett aus,“ bemerkte er bissig. „Nun, wie ist’s denn dort bei dir? Was macht dein Alter?“ „Es geht ihm sehr schlecht; er wird vielleicht heute noch sterben,“ antwortete Aljoscha; doch der Vater hörte ihm schon nicht mehr zu und hatte auch seine Frage sofort wieder vergessen. „Iwan ist fortgegangen,“ sagte er plötzlich. „Er macht jetzt Mitjka mit aller Gewalt die Braut abspenstig – einzig darum lebt er hier,“ fügte er mit boshaft verzogenen Lippen hinzu und blickte Aljoscha an. „Hat er das wirklich Ihnen selbst gesagt?“ fragte Aljoscha. „Jawohl und schon vor langer Zeit. Was glaubst du wohl: vor nicht weniger als drei Wochen hat er’s selbst ausgesprochen. Ist doch nicht hergekommen, um mich heimlich aufzuspießen! Zu irgendeinem Zweck muß er doch gekommen sein?“ „Warum, weshalb reden Sie so?“ fragte Aljoscha erschrocken und verwirrt. „Um Geld bittet er mich nicht, das ist wahr; aber er wird ja auch von mir keinen Heller zu riechen bekommen. Ich, mein liebster Alexei Fedorowitsch, ich beabsichtige nämlich, möglichst lange hier in dieser Welt zu leben, das lassen Sie sich ein für allemal gesagt sein, damit Sie’s nur wissen; darum aber brauche ich jede Kopeke, und je länger ich lebe, um so nötiger habe ich sie,“ fuhr er fort, im Zimmer auf und ab schreitend, die Hände in den Taschen seines breiten, gelben, befleckten Sommermantels. „Jetzt bin ich immerhin noch ein Mann, hab’ erst fünfundfünfzig auf dem Buckel; und will mich noch mindestens zwanzig Jahre zu den Männern zählen. Wenn ich dann alt werde und widerlich – dann werden sie doch nicht mehr gutwillig zu mir kommen; nun, und dann wird man’s eben mit den Gelderchen machen müssen. Also baue ich jetzt vor und sammle, sammle – für mich allein, mein verehrter Herr Sohn, damit Sie’s nur beizeiten wissen; denn ich beabsichtige in meiner Liederlichkeit bis zu meinem Ende zu leben, das lassen Sie sich gesagt sein. Liederlich zu leben, ist doch am schönsten; alle schimpfen darüber, und doch leben sie alle ebenso, bloß tun sie es alle heimlich, ich aber tue es öffentlich. Wegen dieser meiner Offenherzigkeit schimpfen ja jetzt sämtliche Schweine über mich. Für dein Paradies aber danke ich untertänigst, das kann mir gestohlen werden, damit du’s nur weißt, mein lieber Alexei Fedorowitsch; und ’s wäre ja auch für einen anständigen Menschen unanständig, dorthin zu kommen, selbst wenn es so etwas geben würde. Meiner Meinung nach schläft man einfach ein und wacht nicht mehr auf, und weiter gibt es nichts. Wollt ihr meiner noch gedenken, Seelenmessen für mich lesen lassen, na, meinetwegen, wenn’s euch Spaß macht; wollt ihr nicht, na, dann hol euch allesamt der Teufel. Das ist meine ganze Philosophie. Gestern bei Tisch redete Iwan nicht schlecht, wenn wir auch alle betrunken waren. Iwan ist ein Prahlhans, und von so ’ner großen Gelehrsamkeit oder Bildung merk ich nichts bei ihm ... er lächelt bloß und macht sich innerlich lustig über dich, versteht aber zu schweigen – das ist alles, was er kann.“ Aljoscha hörte zu und schwieg. „Warum spricht er nicht mit mir? Spricht er aber mal mit mir, so verstellt er sich ... ’n Schuft ist dein Iwan! Gruschenka aber werde ich heiraten, sobald ich nur will. Denn mit Geld in der Tasche braucht man nur zu wollen, mein verehrter Alexei Fedorowitsch, und alles geschieht, was man will. Das aber ist es ja, was Iwan fürchtet, und darum bewacht er mich hier, damit ich nicht heirate, und darum hetzt er auch Dmitrij, daß _er_ Gruschenka nehme. Auf diese Weise will er mich von Gruschenka fernhalten – als ob ich ihm Geld hinterließe, wenn ich sie nicht heirate! – und andererseits, wenn Mitjka die Gruschenka heiratet, so fällt ihm noch dessen reiche Braut zu; siehst du jetzt, was für Berechnungen er hat! ’n Schuft ist dein ganzer Iwan!“ „Sie sind heute noch von dem gestern Erlebten gereizt; Sie müßten sich etwas erholen, zu Bett gehen,“ sagte Aljoscha. „Sieh, wenn du mir das sagst,“ bemerkte plötzlich der Alte, als ob es ihm zum erstenmal aufgefallen wäre, „dann ärgere ich mich nicht über dich; auf Iwan aber, wenn er mir dasselbe gesagt hätte, würde ich sofort spinnwütend geworden sein. Nur mit dir allein bin ich ein paar Augenblicke lang gut gewesen, denn sonst bin ich ja doch ein böser Mensch.“ „Nein, Sie sind kein böser Mensch, Sie sind nur ein verdorbener Mensch,“ sagte Aljoscha lächelnd. „Hör, ich wollte schon diesen Räuber Mitjka heute einsperren lassen, und eigentlich weiß ich auch jetzt noch nicht genau, was ich tun werde. Heutzutage ist es ja wohl höchst modern, Väter und Mütter für ein Vorurteil zu halten; aber nach dem Gesetz, glaube ich wenigstens, ist es selbst in unserer aufgeklärten Zeit noch nicht schwarz auf weiß erlaubt, seine Väter an den Haaren zu reißen, auf dem Fußboden herumzuschleifen und mit den Absätzen ins Gesicht zu treten, dazu in deren eigenem Hause! Und dann sich noch zu brüsten, später wiederzukommen, um einen ganz totzuschlagen, dazu alles in Gegenwart von Zeugen! Ich könnte ihn, wenn ich wollte, für das Gestrige sofort einsperren lassen.“ „Aber Sie werden es doch nicht tun?“ „Iwan riet mir ab. Ich pfeife natürlich auf Iwan; aber mir ist dabei etwas anderes eingefallen ...“ Er näherte sich Aljoscha, beugte sich zu ihm nieder und fuhr in geheimnisvollem Geflüster fort: „Lasse ich den Schuft festsetzen, so erfährt sie es und läuft sofort zu ihm; hört sie dagegen, daß er mich, den schwachen Greis, halb totgeschlagen hat, so ist es möglich, daß sie ihm den Rücken kehrt und mich besuchen kommt ... Wir kennen doch die Weiber – immer das Entgegengesetzte! Itsch, dann erst recht! Ich kenne sie wie meine fünf Finger! Aber willst du nicht ’nen kleinen Kognak? Trink mal ’n bissel Kaffee; er ist zwar nur lauwarm, aber er kann dir nicht schaden; werde dir ein Viertelgläschen hineingießen, das gibt dem Zeug ’nen andern Geschmack.“ „Nein, danke, nicht nötig. Dieses Brötchen werde ich mir in die Tasche stecken, wenn Sie erlauben,“ sagte Aljoscha und steckte sich ein Dreikopeken-Franzbrot in die Tasche seiner Kutte. „Und auch Sie sollten heute lieber keinen Kognak trinken,“ meinte er mit einem etwas besorgten Blick auf das Gesicht des Vaters. „Du hast recht, er reizt nur und gibt keine Ruh. Aber ein einziges Gläschen ... Ich nehm ihn aus dem Schränkchen ...“ Er zog seine Schlüssel aus der Tasche und schloß das Schränkchen auf, goß sich ein Gläschen ein und schloß dann das Schränkchen wieder zu. „So, Schluß damit. Von einem Kognak werde ich doch nicht krepieren.“ „Sie sind davon immerhin schon freundlicher geworden,“ meinte Aljoscha lächelnd. „Hm! Dich liebe ich auch ohne Kognak; mit Schuften aber bin auch ich ’n Schuft. Wanjka will nicht nach Tschermaschnjä fahren – warum nicht? Mich bespionieren will er: ob ich Gruschenka viel gebe, wenn sie kommt. Alle sind Schufte! Und diesen Iwan erkenne ich überhaupt nicht an, will nichts von ihm wissen, kenne ihn überhaupt nicht! Von wo mag solch einer nur hergekommen sein? Gar nicht wie unsereiner; weiß der Teufel, was der Kerl für eine Seele hat. Und als ob ich ihm etwas hinterlassen werde! Nicht mal ’n Testament werde ich hinterlassen, damit ihr’s nur wißt, meine Verehrtesten! Mitjka aber, den schlag ich platt wie eine Schabe. Wenn diese schwarzen Biester nachts in mein Zimmer kommen, so knacke ich sie immer mit dem Pantoffel: es knallt, daß es eine wahre Freude ist, wenn man drauftritt und sie platzen. So wird auch dein Mitjka platzen, wenn ich ihn plattdrücke. Sage ‚dein Mitjka‘, weil du ihn ja so ins Herz geschlossen hast. Sieh, du liebst ihn; ich aber fürchte mich deshalb nicht, weil du ihn liebst. Wenn ihn aber Iwan liebte, so würde ich für mich, weil der ihn liebt, Angst bekommen. Aber Iwan liebt niemanden, Iwan ist kein Mensch wie wir; solche Menschen, wie Iwan, das, weißt du, sind nicht Menschen, das ist aufgewirbelter Staub ... kommt ein Wind, so wird der Staub verweht ... Gestern kam mir eine Dummheit in den Kopf, als ich dir befahl, heute herzukommen; wollte durch dich etwas von Mitjka erfahren ... wenn man ihm Eintausend, nun, sagen wir Zweitausend, hinschmisse, er hat doch nichts – ob er sich dann wohl dazu verstehen würde, sich von hier zu packen, aber ganz und gar, auf fünf Jahre oder besser auf fünfunddreißig, und ohne Gruschenka, versteht sich, sich vielmehr ganz von ihr loszusagen, was meinst du?“ „Ich ... ich werde ihn fragen ...“ stotterte Aljoscha leise. „Wenn Sie alle Dreitausend geben würden, so wäre es vielleicht möglich, daß er ...“ „Du lügst! Und jetzt ist es überhaupt nicht nötig zu fragen! Hab mich anders bedacht. Das war nur so’n dummer Gedanke, der mir gestern in die Dachstube kletterte. Nichts gebe ich, nicht einmal zu riechen kriegt er was, meine Gelderchen brauche ich für mich allein!“ Der Alte wurde wütend und fuchtelte mit den Armen. „Werde ihn auch ohnedem wie ’ne Schabe plattdrücken. Sag du ihm nichts, sonst faßt er womöglich noch Hoffnung. Und auch du hast hier nichts bei mir zu suchen, schieb mal ab! Und diese seine Braut, die Katerina Iwanowna, die er so sorgfältig die ganze Zeit vor mir verbirgt, wird die ihn nun nehmen oder nicht? Du gingst doch gestern zu ihr, wie?“ „Sie will ihn um keinen Preis verlassen.“ „Ja, gerade solche werden ja von den zärtlichen Damen geliebt, solche Durchgänger und Schufte! Taugen nichts, das sag ich dir, diese blassen Fräulein; da ist doch ganz was andres so’n ... Na, du solltest mal sehn, wenn ich seine Jahre hätte und mein damaliges Gesicht – denn mit achtundzwanzig Jahren war ich hübscher als er –, so würde ich ganz genau so wie er siegen und Triumphe feiern. Solch eine Kanaille! Aber Gruschenka kriegt er doch nicht, kriegt er doch nicht! ... Werde ihn vernichten, zu Dreck machen!“ Bei den letzten Worten wurde er wieder wild. „Aber jetzt kannst auch du dich packen, hast nichts hier bei mir zu suchen,“ sagte er barsch. Aljoscha trat zu ihm, um sich zu verabschieden, und küßte ihn auf die Schulter. „Was soll das?“ fragte der Alte etwas verwundert. „Werden uns doch noch sehen. Oder glaubst du, daß wir uns nicht mehr sehen werden?“ „Durchaus nicht, ich tat es nur so, ganz zufällig.“ „Nun ja, auch ich sagte es nur so ...“ Der Alte blickte ihn an. „Hör mal, hör,“ rief er ihm plötzlich noch nach; „komm einmal zur Fischsuppe her, werde eine kochen lassen, eine besondere, pikfeine, nicht so wie heute, komm bestimmt! Komm morgen, hörst du, unbedingt morgen!“ Kaum war Aljoscha hinausgegangen, als der Alte wieder zu seinem Schränkchen trat und sich noch ein halbes Gläschen hinter die Binde goß. „Jetzt aber Schluß!“ murmelte er, räusperte sich krächzend, schloß das Schränkchen wieder zu und steckte den Schlüssel in die Tasche; darauf ging er ins Schlafzimmer, legte sich erschöpft aufs Bett und schlief im Augenblick fest ein. III. Die kleinen Schuljungen „Gott sei Dank, daß er mich nicht nach Gruschenka gefragt hat,“ dachte seinerseits Aljoscha, als er das Haus des Vaters verließ und sich zu Frau Chochlakoff auf den Weg machte, „sonst hätte ich ja schließlich von der gestrigen Begegnung mit Gruschenka erzählen müssen.“ Aljoscha fühlte es schmerzlich, daß die Widersacher sich über Nacht mit neuen Kräften von neuem erhoben und ihre Herzen sich mit dem anbrechenden Tage von neuem verhärtet hatten. „Der Vater ist gereizt und wütend, er hat sich jetzt etwas ausgedacht und scheint dabei bleiben zu wollen. Und Dmitrij? Der wird über Nacht gleichfalls einen Entschluß gefaßt haben und wird wahrscheinlich ebenso gereizt und wütend sein ... und wer weiß, was er sich noch ausgedacht hat ... O, unbedingt muß ich mir heute noch die Zeit nehmen, ihn, einerlei wo, aufzusuchen. Ja, das muß ich unbedingt tun ...“ Doch Aljoscha hatte nicht lange Zeit zum Nachdenken: unterwegs stieß ihm etwas zu, das anscheinend nicht so wichtig war, ihn aber doch ungewöhnlich erschütterte. Kaum war er über den großen Platz gegangen und in eine Nebenstraße eingebogen, um in die Michailoff-Straße zu gelangen – die von der Großen Straße nur durch einen kanalartigen Graben getrennt war (unsere ganze Stadt ist von derartigen Kanälen oder breiten Gräben durchzogen), als er unten am Graben, nicht weit von einer Brücke, eine Gruppe kleiner Schüler, Jungen von etwa neun bis zwölf Jahren bemerkte. Sie waren auf dem Heimweg aus der Schule und trugen ihre Ränzchen auf dem Rücken oder hatten lederne Büchersäcke an Riemen über die Schulter gehängt; einige waren nur in Jäckchen, andere in Mäntelchen, und ein paar von ihnen hatten hohe Stulpenstiefelchen an, mit Falten in den Stiefelschaften, auf die kleine Knaben stets sehr stolz sind, doch die eigentlich nur wohlhabende Eltern, die ihre Kinder verwöhnen, kaufen können. Die ganze kleine Gesellschaft sprach äußerst lebhaft: man schien sich zu beraten. Aljoscha konnte niemals teilnahmslos an kleinen Kindern vorübergehen (in Moskau war er immer stehen geblieben, um sie zu beobachten), und obwohl er am meisten die Dreijährigen liebte, so gefielen ihm doch auch kleine Schuljungen von zehn Jahren sehr. Darum aber verspürte er jetzt große Lust, so sehr er auch in Sorge war, zu ihnen zu gehen und mit diesen Jungen etwas zu sprechen. Er näherte sich ihnen und betrachtete ihre rosigen, lebhaften Gesichtchen; plötzlich fiel ihm auf, daß ein jeder von ihnen einen Stein in der Hand hielt, einige sogar zwei. Zugleich bemerkte er, daß auf der anderen Seite des Kanals, ungefähr dreißig Schritt von der erregten Gruppe, am Zaun noch ein Knabe stand, gleichfalls ein kleiner Schüler, der auch solch ein Büchertäschchen trug, etwa zehn Jahre alt war oder etwas jünger, ein bleicher kränklicher Kleiner mit dunklen, blitzenden Augen. Er stand und beobachtete aufmerksam die Gruppe der sechs anderen kleinen Schüler, die offenbar seine Schulkameraden waren, doch mit denen er in Fehde zu liegen schien. Aljoscha trat zu ihnen heran und sagte, an einen blonden rotbackigen Knaben in schwarzem Jäckchen sich wendend, indem er ihn betrachtete: „Als ich solch eine kleine Büchertasche trug, wie du sie hast, trug man sie auf der linken Seite, um bequem mit der rechten Hand hineinlangen zu können; du aber trägst die Tasche auf der rechten Seite, so kannst du sie doch nicht so leicht erreichen.“ Aljoscha hatte ganz unbeabsichtigt mit dieser sachlichen Bemerkung begonnen, ohne zu wissen, daß ein Erwachsener, wenn er das Zutrauen eines Kindes oder gar einer ganzen Gruppe Kinder gewinnen will, gerade so ernst und sachlich beginnen und sie unbedingt als vollkommen gleichstehend behandeln muß; Aljoscha hatte aus dem Instinkt heraus das Richtige getroffen. „Aber er ist doch ein Linkpfot,“ antwortete sofort ein anderer Knabe, ein gesunder, mutiger Junge von etwa elf Jahren. Die Augen der übrigen fünf richteten sich forschend auf den Jüngling in der Mönchskutte. „Er – er wirft auch die Steine mit der linken Hand,“ bemerkte ein dritter. In dem Augenblick flog auf die Gruppe ein Stein, streifte nur leicht den „Linkpfot“, war aber geschickt und kräftig geschleudert worden. Er kam von dem kleinen Knaben, der auf der anderen Seite des Grabens stand. „Gib ihm eins, ziel aber gut, Ssmuroff!“ riefen sofort alle erregt dem „Linkpfot“ zu. Doch Ssmuroff (der „Linkpfot“) ließ nicht lange warten und zahlte sofort heim; er zielte und schleuderte seinen Stein auf den Knaben jenseits des Grabens, traf ihn aber nicht: der Stein schlug an den Zaun. Der Knabe jenseits des Grabens schleuderte sofort noch einen Stein auf die feindliche Gruppe und traf diesmal – Aljoscha ziemlich schmerzhaft an der Schulter: er hatte auch ersichtlich gerade auf ihn gezielt. Seine Taschen waren voll von Steinen, das konnte man auf dreißig Schritt an seinen abstehenden Paletotseiten erkennen. „Er hat auf Sie gezielt, absichtlich gerade auf Sie! Sie sind doch ein Karamasoff, nicht wahr, ein Karamasoff?“ schrien unter erregtem Lachen die Knaben. „Jetzt aber alle auf einmal! Eins, zwei, drei!“ Und sechs Steine flogen auf Kommando aus der Gruppe über den Graben. Ein Stein traf den Jungen am Kopf und er fiel hin, doch sprang er im Augenblick wieder auf und fing an, wie rasend geworden, seine Steine auf die Feinde zu schleudern. Es begann ein lebhaftes Bombardement; es zeigte sich, daß auch einige von den Sechsen Steine vorrätig in den Taschen hatten. „Was fällt euch ein! Schämt ihr euch nicht! Sechs gegen einen, ihr könnt ihn ja totschlagen!“ rief Aljoscha erschrocken aus. Er sprang schnell vor, den fliegenden Steinen entgegen, um so mit seinem Körper den Kleinen jenseits des Grabens zu schützen. Drei oder vier von den Jungen hielten eine Minute lang inne. „Er hat selbst angefangen!“ rief ein Kleiner in einer roten Bluse mit hoher Kinderstimme, „er ist ein Schuft, er hat neulich Krassotkin mit dem Federmesser gestochen, so daß Blut floß. Krassotkin wollte nur nicht klagen gehn, ihn aber muß man durchprügeln ...“ „Warum das? Ihr neckt ihn wahrscheinlich?“ „Ha! jetzt hat er Sie wieder mit einem Stein in den Rücken getroffen! Er kennt Sie!“ schrien die Kinder. „Jetzt zielt er nur auf Sie, nicht auf uns! Nun aber alle Mann hoch, schieß gut, Ssmuroff!“ Und wieder begann das Bombardement, diesmal aber recht erbittert. Da schlug ein Stein den kleinen Knaben vor die Brust: er schrie auf und lief weinend den Berg hinauf zur Michailoff-Straße. In der Gruppe erhob sich sofort ein Triumphgeschrei: „Acha hat Angst bekommen, läuft fort, Bastwisch!“ „Sie wissen nicht, Karamasoff, was das für ein gemeiner Junge ist, ihn totschlagen wäre noch viel zu wenig,“ sagte der Knabe in der Jacke, anscheinend der älteste von den Sechsen. „Wieso?“ fragte Aljoscha, „petzt er etwa?“ Die Knaben tauschten gleichsam spöttische Blicke untereinander aus. „Gehen Sie auch in die Michailoffstraße?“ fragte derselbe Knabe. „So holen Sie ihn doch ein ... Sehen Sie, er ist wieder stehen geblieben, er wartet und sieht gerade auf Sie.“ „Ja, er sieht gerade auf Karamasoff, auf Karamasoff!“ riefen sofort auch die anderen. „Fragen Sie ihn, ob er solch einen Badequast, solch einen rötlich-gelben Lindenbastwisch, mit dem man scheuert oder sich wäscht, ob er solch einen Bastwisch liebt? Hören Sie, fragen Sie ihn gerade so!“ Alle lachten. Aljoscha blickte sie an, und sie blickten wiederum ihn an. „Gehn Sie nicht, er wird Sie hauen,“ sagte ihn warnend der kleine Ssmuroff. „Nach dem Bastwisch werde ich ihn nicht fragen, denn wahrscheinlich neckt ihr ihn aus irgendeinem Grunde gerade damit, aber ich werde ihn fragen, warum ihr ihn so haßt ...“ „Fragen Sie nur, fragen Sie nur!“ war die lachende Antwort. Aljoscha ging über die Brücke und dann den Berg hinauf, längs dem Zaun, gerade auf den von seinen Kameraden geächteten Knaben zu. „Seien Sie vorsichtig!“ schrien ihm noch die anderen warnend nach, „er hat keine Angst vor Ihnen, er wird Sie plötzlich stechen, hinterrücks ... wie er Krassotkin gestochen hat.“ Der Knabe erwartete ihn, ohne sich zu rühren. Als Aljoscha sich ihm näherte, sah er vor sich einen Knaben von höchstens neun Jahren, eines von den schwächlichen und kleinen Kindern, mit einem bleichen und mageren, länglichen Gesichtchen, mit großen, dunklen und böse ihm entgegenblickenden Augen. Sein Mäntelchen war schon ziemlich alt und vertragen und viel zu eng und zu knapp: er war aus ihm bereits ganz herausgewachsen. Die bloßen Hände hingen aus kurzgewordenen Ärmelchen heraus. Auf dem rechten Knie hatten die Höschen einen großen Flecken, und der rechte Stiefel hatte vorn bei der großen Zehe ein großes Loch, das stark mit Tinte eingeschmiert war. Beide Taschen seines Mäntelchens waren voll von Steinen. Aljoscha blieb zwei Schritt vor ihm stehen und blickte ihn fragend an. Der Kleine, der an Aljoschas Augen erriet, daß dieser ihn nicht schlagen werde, schien sich ein wenig zu schämen, und er begann sogar ungefragt zu sprechen: „Ich bin allein, und sie sind sechs ... Ich werde sie alle ganz allein verprügeln,“ sagte er mit blitzenden Augen. „Der eine Stein muß dich sehr schmerzhaft getroffen haben,“ bemerkte Aljoscha. „Ich aber habe Ssmuroff an den Kopf getroffen!“ rief der Knabe triumphierend. „Sie sagten mir, daß du mich kennst und aus einem besonderen Grunde absichtlich auf mich mit den Steinen geworfen hättest?“ fragte Aljoscha. Der Knabe blickte ihn finster an. „Ich kenne dich nicht. Kennst du mich denn?“ fuhr Aljoscha in seinen Fragen fort. „Gehn Sie fort!“ schrie ihn plötzlich der Knabe gereizt an, ohne aber sich selbst vom Platz zu rühren, als ob er noch etwas erwartete, und wieder blitzten seine dunklen Augen böse auf. „Gut, ich werde fortgehen,“ sagte Aljoscha, „nur kenne ich dich nicht, und du sollst nicht glauben, daß ich dich etwa necken will. Deine Kameraden sagten mir, wie du geneckt wirst, ich aber will dich wirklich nicht necken, nun, leb wohl!“ „Kuttenmönch, hosenloser Kuttenmönch!“ höhnte der Knabe geflissentlich und verfolgte ihn immer noch mit demselben boshaften, herausfordernden Blick; er stellte sich auch schon in Positur, da er offenbar glaubte, Aljoscha werde sich unbedingt auf ihn stürzen – doch Aljoscha blickte sich nur einmal nach ihm um und ging. Er hatte aber noch nicht drei Schritte gemacht, als ihn ein ziemlich großer Stein, der größte, den der Knabe gehabt hatte, schmerzhaft in den Rücken traf. „Also hinterrücks? Dann ist es also wahr, was sie von dir gesagt haben, daß du hinterrücks überfällst?“ fragte Aljoscha, der stehen geblieben war und sich zurückwandte, doch diesmal schleuderte der Knabe mit wahrer Wut wieder einen Stein auf Aljoscha und würde ihn gerade ins Gesicht getroffen haben, wenn Aljoscha nicht den Arm zum Schutz erhoben hätte: so schlug der Stein an seinen Ellenbogen. „Schämst du dich nicht! Was habe ich dir getan?“ rief Aljoscha. Der Knabe wartete schweigend und herausfordernd, wie es schien, nur darauf, daß Aljoscha sich jetzt auf ihn stürzen werde; als er aber sah, daß dieser es selbst jetzt nicht tat, geriet er wie ein kleines Tier außer sich vor Wut. Er stürzte sich auf Aljoscha und packte, noch bevor dieser sich rühren konnte, mit beiden Händen dessen linke Hand und biß krampfhaft in den Mittelfinger. Wie Klammern hielten die kleinen Zähne den Finger (etwa zehn Sekunden lang) fest. Aljoscha schrie auf vor Schmerz und versuchte mit aller Gewalt seinen Finger herauszuziehen. Endlich ließ ihn der Knabe los und sprang geschwind auf die frühere Entfernung zurück. Das Fleisch des Fingers war durchgebissen, gerade beim Nagel, tief, bis auf den Knochen, und blutete stark. Aljoscha zog sein Taschentuch hervor und umwickelte fest seine verwundete Hand. Eine gute Minute lang war er damit beschäftigt. Während dieser ganzen Zeit erwartete der Knabe stillschweigend, was nun kommen werde. Da erhob endlich Aljoscha seinen stillen Blick und richtete ihn auf den Knaben. „Nun gut,“ sagte er, „du hast mich schmerzhaft gebissen, nun ist es genug. Jetzt sage mir aber, was ich dir getan habe?“ Der Knabe blickte ihn verwundert an. „Ich kenne dich nicht, ich sehe dich zum erstenmal,“ fuhr Aljoscha ebenso ruhig fort, „aber es kann doch nicht sein, daß ich dir nichts Böses getan habe, denn umsonst würdest du mir doch nie solch einen Schmerz zugefügt haben. So sag doch, was ich dir getan und womit ich das von dir verdient habe?“ Statt zu antworten, fing der Knabe laut zu weinen an, und plötzlich lief er fort. Aljoscha ging ihm langsam nach in die Michailoffstraße, und lange noch sah er, wie weit vor ihm der Knabe lief, ohne sich umzusehen und ohne im Laufen innezuhalten, und wie er wahrscheinlich immer noch laut weinte. Er nahm sich fest vor, sobald er die Zeit hätte, den Kleinen aufzusuchen und die Erklärung seines sonderbaren Hasses zu fordern. IV. Bei Chochlakoffs Er erreichte indessen bald das Chochlakoffsche Haus. Es war ein zweistöckiges, hübsches, herrschaftliches Steingebäude, eines der schönsten Häuser in unserem Städtchen. Obgleich Frau Chochlakoff größtenteils im Nachbargouvernement lebte, wo sie ein Gut hatte, oder in Moskau, wo sie ein Haus besaß, so behielt sie doch auch in unserem Städtchen dieses von ihrem Vater oder Großvater geerbte Haus und wollte es weder vermieten noch verkaufen. Und wenn das Gut, das sie in unserem Gouvernementskreise besaß, auch das größte von ihren drei Gütern war, so lebte sie doch nur sehr selten in unserem Städtchen. Sie kam Aljoscha schon im Vorzimmer entgegen. „Sagen Sie doch, haben Sie meinen Brief mit der Nachricht von dem Wunder erhalten?“ begann sie erregt in ihrer nervösen Weise. „Ja, ich habe ihn erhalten.“ „Sagen Sie doch, haben Sie ihn auch allen gezeigt, allen davon erzählt? Er hat der Mutter den Sohn wiedergegeben!“ „Er wird heute sterben,“ sagte Aljoscha. „Ich weiß, ich habe es schon gehört, o, wieviel ich mit Ihnen zu sprechen habe! Über alles, alles das, mit Ihnen oder einerlei mit wem. Nein, nein, nur mit Ihnen, nur mit Ihnen allein! Und wie schade, daß ich ihn auf keine Weise mehr sehen kann! Die ganze Stadt ist erregt, alle sind in großer Erwartung. Aber jetzt: Wissen Sie auch, daß Katerina Iwanowna augenblicklich bei uns ist?“ „Ach, das trifft sich gut!“ sagte Aljoscha erfreut. „Dann kann ich sie ja hier bei ihnen sprechen, sie bat mich gestern, heute zu ihr zu kommen.“ „Ich weiß alles, ich weiß alles! Ich habe alles ganz genau erfahren, was gestern bei ihr geschehen ist ... und alle diese entsetzlichen Geschichten mit diesem ... Geschöpf! _C’est donc tragique_, ich würde an ihrer Stelle, – ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle getan hätte! Aber Ihr Bruder, ich meine Dmitrij Fedorowitsch, was sagen Sie zu dem? – O Gott, Alexei Fedorowitsch, ich, ich komme ganz aus dem Konzept. Stellen Sie sich vor: jetzt sitzt hier bei uns Ihr Bruder, nicht jener, nein, der andere, Iwan Fedorowitsch, er sitzt dort und spricht mit ihr: o, es ist ein feierliches Gespräch ... Und wenn Sie sich nur denken könnten, was jetzt zwischen ihnen geschieht, – Katerina Iwanowna vergewaltigt sich, das ist ganz schrecklich, das ist, ich werde Ihnen sagen, was das ist: Das ist ein grausames Märchen, an das man unmöglich glauben kann! Beide stürzen sie sich ins Unglück, beide wissen das ganz genau, und beide finden sie Vergnügen daran, sich unglücklich zu machen, es scheint ihnen Genuß zu bereiten! Ach, wie ich Sie erwartet habe, wie ich Sie ersehnt habe! Ich, wissen Sie, ich kann das nicht mehr ertragen! Ich werde Ihnen gleich alles erzählen, aber jetzt noch was anderes, und das ist die Hauptsache, – ach Gott, ich hatte es beinahe ganz vergessen, daß das die Hauptsache ist. Sagen Sie doch, warum bekam Lise jetzt wieder ihre hysterischen Anfälle? Als sie nur hörte, daß Sie zu uns kämen, begann sofort der Anfall.“ „Mama, das ist jetzt vielleicht mit Ihnen der Fall, aber nicht mit mir,“ ertönte plötzlich irgendwoher Lisas hohes Stimmchen: Die Tür zum Nebenzimmer zeigte eine kleine, kleine Spalte, und die Stimme klang genau so, wie wenn jemand furchtbar gern lachen will, doch mit aller Gewalt das Lachen unterdrückt. Aljoscha hatte diese Spalte schon früher bemerkt und war überzeugt, daß Lise ihn von ihrem Stuhl aus durch ebendiese Spalte beobachtete, obgleich er sie nicht sehen konnte. „Schäme dich, Lise, schäme dich ... es ist schon möglich, daß ich von deinen eigensinnigen Launen noch krank werde, aber, wissen Sie, Alexei Fedorowitsch, sie ist so krank, die ganze Nacht war sie krank, fieberte und stöhnte! Nur mit genauer Not habe ich noch den Morgen und Doktor Herzenstube erwarten können. Er sagte, er könne es nicht begreifen, und man müsse abwarten. Dieser Herzenstube sagt jedesmal, wenn er kommt, er könne es nicht begreifen. Wie Sie sich aber dem Hause näherten, schrie sie auf, bekam ihren Anfall und befahl der Magd, sie hierher in ihr früheres Zimmer zu schieben ...“ „Aber Mama, ich wußte ja gar nicht, daß er sich dem Hause näherte, ich wollte durchaus nicht deswegen in dieses Zimmer geschoben werden.“ „Du solltest nicht lügen, Lise, ich habe selbst gesehen, wie Julija mit der Nachricht zu dir gelaufen kam, daß Alexei Fedorowitsch zu uns käme; sie hatte ja die ganze Zeit auf deinen Befehl Wache gestanden.“ „Liebstes Mamachen, das ist wirklich furchtbar wenig scharfsinnig von Ihnen. Wenn Sie mir aber einen großen Gefallen erweisen wollen, so sagen Sie, bitte, liebste Mama, dem sehr geehrten Herrn Alexei Fedorowitsch, daß er schon allein dadurch, daß er heute zu uns kommt, nach allem, was gestern geschehen ist, und obgleich man sich hier über ihn lustig macht, nur beweist, wie wenig gewitzigt er ist.“ „Lise, du erlaubst dir wirklich unerhört viel! Ich versichere dir, daß ich endlich zu strengen Maßregeln greifen werde. Wer soll denn über ihn lachen? ich freue mich so sehr darüber, daß er gekommen ist – ich habe ihn so nötig, er ist mir ganz unentbehrlich! Ach, Alexei Fedorowitsch, wenn Sie wüßten, wie unglücklich ich bin!“ „Aber was fehlt Ihnen denn, liebste Mama?“ „Ach, immer deine Kapricen, Lise, deine Unbeständigkeit, deine Krankheit, diese furchtbare Nacht, dein Fieber, dieser fürchterliche, ewige Herzenstube; ach, das Schreckliche ist ja, daß er ewig, ewig und ewig hier sitzt! Und überhaupt alles, alles ... Und dann kommt noch dieses Wunder hinzu! O, Sie wissen nicht, Alexei Fedorowitsch, wie mich dieses Wunder erschüttert hat! Und jetzt noch hier in meinem Salon diese ganze Tragödie; nein, nein, das kann ich nicht ertragen, das kann ich nicht, ich sage es Ihnen im voraus, daß ich es nicht kann! Oder vielleicht ist es auch nur eine Komödie und keine Tragödie ... Sagen Sie, wird der Staretz Sossima noch bis morgen leben? Ach Gott! Was ist heute mit mir! Ich schließe beständig die Augen und sehe ja selbst ein, daß ich Unsinn rede, leeren Unsinn.“ „Ich würde Sie sehr bitten,“ unterbrach Aljoscha sie plötzlich, „mir ein kleines Stück Leinwand zu geben, um meinen Finger zu verbinden. Ich habe ihn stark verletzt, und jetzt tut er mir unerträglich weh.“ Aljoscha wickelte das Taschentuch ein wenig los: Große Blutflecke waren durch das ganze Tuch gedrungen. Frau Chochlakoff schrie auf, schloß krampfhaft die Augen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Gott, wieviel Blut! Wie furchtbar!“ Doch sowie Lise durch die Spalte Aljoschas blutiges Taschentuch sah, riß sie sofort die Tür auf, daß die mit der Klinke krachend an die Wand schlug. „Kommen Sie her, kommen Sie her zu mir,“ rief sie gebieterisch und eigensinnig, „jetzt aber ohne Dummheiten! Gott! Warum standen Sie nur so lange, warum sagten Sie kein Wort? Mama, er hätte verbluten können! Wo haben Sie das gemacht, wie nur? Ganz zuerst Wasser, Wasser! Man muß die Wunde waschen; den Finger einfach in kaltes Wasser stecken, damit der Schmerz betäubt wird, und dann einfach drinhalten ... Ach, schneller, schneller Wasser, Mama, in die kleine Schale. Aber schneller doch!“ rief sie nervös. Sie war maßlos erregt; Aljoschas Wunde hatte sie heftig erschreckt. „Soll man nicht nach Herzenstube schicken?“ fragte Frau Chochlakoff ängstlich. „Mama, Sie werden mich noch töten! Ihr Herzenstube wird kommen und wieder nur sagen, daß er es nicht begreifen kann! Wasser, Wasser! Mama, gehen Sie um Gottes willen selbst und machen Sie Julija Eile, die bleibt immer irgendwo stecken; jetzt wird sie vielleicht ertrunken sein samt ihrem Wasser! Aber schneller doch, Mama, ich sterbe sonst ...“ „Aber das ist doch nicht so gefährlich!“ rief Aljoscha aus, den wiederum der Schreck der Damen erschreckte. Da kam auch schon die Zofe mit dem Wasser. Aljoscha tauchte den Finger hinein. „Mama, bringen Sie um Gottes willen Scharpie und diese trübe Flüssigkeit – ach, wie heißt sie doch, mit der man kühlt, wenn man sich geschnitten hat? Wir haben sie, ich weiß es genau; Mama, Sie wissen es doch auch, wo diese Flasche ist, in Ihrem Schlafzimmer, rechts im kleinen Medizinschränkchen, dort ist eine große Flasche und Scharpie ...“ „Ich werde alles sofort bringen, Lise, nur schrei nicht so und rege dich nicht auf. Sieh, wie mutig Alexei Fedorowitsch sein Unglück trägt. Aber wo haben Sie sich nur so entsetzlich verletzt?“ Frau Chochlakoff ging eilig hinaus, um die Sachen zu bringen. Darauf hatte Lisa nur gewartet. „Vor allem antworten Sie mir auf eine Frage,“ sagte sie hastig zu Aljoscha, „wo haben Sie sich so verletzt? Ich habe dann noch von ganz anderem mit Ihnen zu sprechen. Nun?“ Aljoscha begann sofort, da er fühlte, daß ihr die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter kostbar war, von der Begegnung mit den Schuljungen zu erzählen, natürlich nur in großen Zügen, ohne alles Nebensächliche. Als Lise zu Ende gehört hatte, schlug sie die Hände zusammen. „Aber wie konnten Sie nur, wie konnten Sie sich nur, und dazu noch in der Kutte, mit Schulbuben einlassen!“ rief sie zornig aus, ganz, als ob sie ein Recht auf ihn besäße. „Nach alledem sind Sie ja selbst ein kleiner Junge, der allerkleinste, den es überhaupt nur geben kann! Aber Sie müssen mir unbedingt diesen scheußlichen Frechling aufsuchen, denn hier steckt sicherlich ein Geheimnis dahinter ... Jetzt das zweite, doch vorher noch eine Frage. Können Sie, trotz des Schmerzes, von ganz dummen Sachen reden, aber vernünftig reden?“ „Das kann ich sehr gut, und ich fühle ja auch gar keinen so großen Schmerz mehr im Finger.“ „Das kommt daher, daß Ihr Finger im Wasser ist. Aber man muß jetzt neues Wasser nehmen, denn es wird ja sofort warm. Julija, bring sofort ein Stück Eis aus dem Keller und eine neue Schale mit Wasser. So, jetzt sind wir sie los, nun schnell zur Sache: Bitte, lieber Alexei Fedorowitsch, geben Sie mir geschwind den Brief zurück, den ich Ihnen gestern übergeben ließ, schnell, denn Mama kann ja sofort zurückkommen, schneller doch! – ich will nicht ...“ „Ich ... ich habe ihn nicht bei mir.“ „Das ist nicht wahr, Sie haben ihn schon bei sich. Ich wußte es ja, daß Sie so antworten würden. Sie haben ihn in der Tasche. Ich habe diesen dummen Scherz die ganze Nacht so furchtbar bereut. Geben Sie ihn mir sofort zurück!! Sofort!“ „Ich ... ich habe ihn im Kloster gelassen.“ „Aber Sie müssen mich ja unbedingt für ein kleines Mädchen halten, für ein ganz kleines Baby, nach einem so dummen Brief! Ich bitte Sie sehr um Verzeihung für den dummen Scherz; aber den Brief müssen Sie mir unbedingt zurückbringen, wenn Sie ihn wirklich nicht bei sich haben – heute noch bringen Sie ihn mir, hören Sie, unbedingt, unbedingt!“ „Heute kann ich unmöglich kommen; ich kehre ins Kloster zurück und werde zwei, drei, vielleicht auch vier Tage nicht herkommen können, denn der Staretz Sossima ...“ „Vier Tage, das fehlte noch! Hören Sie, sagen Sie – Sie haben wohl furchtbar über mich gelacht?“ „Nicht ein bißchen habe ich gelacht.“ „Warum denn nicht?“ „Weil ich an alles sofort geglaubt habe.“ „Sie beleidigen mich!“ „Wieso? Nicht im geringsten. Ich glaubte sofort, als ich ihn durchlas, daß alles auch so geschehen werde, denn ich muß nach dem Tode des Staretz Sossima sofort das Kloster verlassen. Darauf werde ich noch ein Jahr das Gymnasium besuchen und dann mein Abiturium machen, und wenn Sie das gesetzliche Alter erreicht haben, heiraten wir uns einfach. Ich werde Sie lieben. Ich habe zwar noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken; aber ich denke doch, daß ich eine bessere Frau als Sie nicht finden kann, und der Staretz hat mir befohlen, zu heiraten ...“ „Aber ich bin doch eine garstige Mißgeburt; man schiebt mich ja seit sechs Monaten im Rollstuhl!“ sagte Lisa mit verlegenem Lachen, und ihr Gesichtchen wurde rot. „Ich selbst werde Sie im Rollstuhl schieben; übrigens bin ich überzeugt, daß Sie bis dahin schon gesund sein werden.“ „Aber Sie sind ja verrückt!“ fuhr Lisa nervös fort. „Aus einem kleinen Scherz solch einen Unsinn zu machen! ... Ach, da ist ja auch Mamachen ... vielleicht sehr zur rechten Zeit gekommen. Mama, wie Sie sich immer verspäten, wie kann man nur alles so langsam machen! Julija kommt schon aus dem Keller mit dem Eis zurück!“ „Ach, Lise, wenn du doch nicht immer so schreien wolltest, das ist wirklich das Furchtbarste. Von diesem Schreien werde ich ... was kann ich denn dafür, wenn du die Scharpie an einen anderen Ort getan hast ... Ich suchte und suchte ... Ich vermute stark, daß du sie absichtlich vorher versteckt hast ...“ „Aber wie konnte ich’s denn wissen, daß er mit einem gebissenen Finger ankommen würde, sonst, allerdings – hätte ich es vielleicht wirklich mit Absicht getan. Meine liebe Engelsmama, Sie fangen wirklich an, außerordentlich scharfsinnige Sachen zu sagen.“ „Ach, meinetwegen; aber denk doch nur, Lise, welche Erschütterung das für die Nerven ist, dieser gebissene Finger und alles andere noch dazu! Lieber Alexei Fedorowitsch, mich töten nicht die Einzelheiten, nicht irgend so ein Herzenstube, sondern alles zusammen, das Ganze, das ist es, was mich umbringt!“ „Ach, Mama, lassen Sie doch den armen Herzenstube in Ruh,“ sagte Lisa lachend, „geben Sie mir nur schneller die Scharpie und das Wasser. Das ist einfach Bleiwasser, Alexei Fedorowitsch, mir ist jetzt der Name wieder eingefallen; es ist ganz großartig zu Kompressen. Mama, stellen Sie sich nur vor, er hat sich unterwegs auf der Straße mit kleinen Schuljungen geprügelt, und einer von ihnen hat ihn gebissen; nun, sagen Sie doch selbst, ist er nicht nach alledem selbst ein kleiner Knabe, ein ganz – ganz kleiner, und kann man ihm daraufhin wohl erlauben zu heiraten, denn, denken Sie sich doch nur, Mama, er will schon heiraten! Stellen Sie sich ihn nur als Ehemann vor, ist das nicht zum Lachen, ist das nicht ganz entsetzlich!“ Und Lise lachte wieder ihr nervöses, leises Lachen und blickte schelmisch zu Aljoscha auf. „Wie denn das, Lise, wen soll er denn jetzt heiraten? Solche Scherze sind sehr unpassend für dich ... Und denk doch nur, wenn dieser Junge vielleicht die Tollwut gehabt hat!“ „Ach, Mama! Gibt es denn überhaupt tollwütige Kinder?“ „Warum nicht, du tust wirklich, als ob ich eine Dummheit gesagt hätte. Den Jungen hat vielleicht ein toller Hund gebissen, und nun beißt wiederum der Junge. Sehen Sie doch, wie gut sie Ihren Finger verbunden hat, ich hätte das nie so gut gemacht. Schmerzt er noch sehr?“ „O, nur noch ein wenig.“ „Fürchten Sie vielleicht das Bleiwasser?“ erkundigte sich Lise. „Nun, genug, Lise, ich habe es vielleicht doch etwas übereilt gesagt: das vom tollwütigen Knaben – du mußt natürlich gleich spotten. – Ach, fast hätte ich’s vergessen: Katerina Iwanowna bat mich sofort, als sie nur hörte, daß Sie gekommen seien, flehentlich, flehentlich, Sie zu ihr zu bringen; sie erwartet Sie sehr!“ „Ach, Mama! Gehen Sie doch allein zu ihr; er kann wirklich nicht sofort hingehen, er leidet viel zu sehr.“ „Aber gar nicht; ich kann sehr gut zu ihr gehen ...,“ sagte Aljoscha. „Wie! Sie gehen? Also so sind Sie, so sind Sie?“ „Wieso? Ich werde doch, sobald ich dort fertig bin, sogleich wieder herkommen, und dann können wir weitersprechen, so viel Sie wollen. Ich möchte Katerina Iwanowna sobald wie möglich sprechen, da ich frühzeitig ins Kloster zurückkehren will.“ „Mama, nehmen Sie ihn nur und bringen Sie ihn fort. Bemühen Sie sich nicht, Alexei Fedorowitsch, nachher noch zu mir zu kommen, gehen Sie nur sofort ins Kloster, dorthin gehören Sie ja! Ich aber will jetzt schlafen, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.“ „Ach, Lise, das ist ja nur Scherz von dir; aber wirklich, wie wäre es, wenn du jetzt etwas schlafen würdest?“ meinte Frau Chochlakoff. „Ich weiß nicht, wodurch ich ... Ich werde gern noch drei Minuten hierbleiben, wenn Sie wollen, sogar fünf,“ stotterte Aljoscha. „Sogar fünf! So bringen Sie ihn doch schneller fort, Mama, das ist ja ein Monstrum!“ „Lise, du bist wohl nicht recht gescheit! Gehen wir, Alexei Fedorowitsch, sie ist heute gar zu kapriziös, ich fürchte mich, sie zu reizen. O, welch ein Jammer, mit einem nervösen Kinde zusammenzuleben! Aber sie ist vielleicht wirklich während des Gesprächs mit Ihnen schläfrig geworden. Wie haben Sie sie nur so schnell eingeschläfert, und wie glücklich sich das trifft!“ „Ach, Mama, das haben Sie ganz reizend gesagt, dafür gebe ich Ihnen einen Kuß!“ „Und ich dir gleichfalls, Lise. Hören Sie, Alexei Fedorowitsch,“ sagte darauf Frau Chochlakoff in erregtem, geheimnisvollem Flüsterton, als sie mit Aljoscha zum Salon ging, „ich will Ihnen nichts, nichts sagen, Sie werden es gleich selbst sehen, was dort vor sich geht – das ist ja ganz entsetzlich, entsetzlich, die phantastischste Komödie tragischer Art: sie liebt Ihren Bruder Iwan Fedorowitsch, redet sich aber selbst aus allen Kräften ein, daß sie Ihren Bruder Dmitrij Fedorowitsch liebe. Das ist doch furchtbar! Ich werde zusammen mit Ihnen hineingehen, und wenn man mich nicht fortschickt, bis zum Schluß dort bleiben.“ V. Im Empfangssalon Doch im Salon schien die Unterredung schon beendet zu sein; Katerina Iwanowna war sehr erregt, sah aber entschlossen aus. Als Aljoscha und Frau Chochlakoff eintraten, hatte sich Iwan Fedorowitsch gerade zum Aufbruch erhoben. Sein Gesicht war ein wenig bleich, und Aljoscha blickte ihn unruhig an. Er fühlte es, daß jetzt wenigstens eines der beängstigenden Rätsel, die ihn schon seit längerer Zeit ununterbrochen gequält hatten, seine Lösung finden mußte. Schon seit einem Monat hatte er von vielen Seiten und zu mehreren Malen gehört, daß sein Bruder Iwan Katerina Iwanowna liebe und vor allen Dingen sie seinem älteren Bruder abspenstig zu machen trachte. Bis zu diesem Tage war das Aljoscha unglaublich und unmöglich erschienen, doch hatte er nicht den Gedanken abschütteln können und hatte darunter nicht wenig gelitten. Er liebte beide Brüder und fürchtete daher um so mehr solch eine Nebenbuhlerschaft. Und nun hatte ihm Dmitrij selbst gesagt, daß er sich über diese Nebenbuhlerschaft Iwans geradezu freue, und daß sie ihm, Dmitrij, in vielem sogar sehr zustatten käme. Was hatte er damit sagen wollen? Doch nicht, daß es ihm auf diese Weise leichter würde, Gruschenka zu heiraten? Das schien Aljoscha der letzte und verzweifelteste Schritt zu sein, den sein Bruder tun könnte. Außerdem war Aljoscha noch bis zum letzten Augenblick in der Szene, die Gruschenka bei Katerina Iwanowna, wie sie sagte „seinetwegen“, d. h. Aljoschas wegen gespielt hatte, immer noch überzeugt gewesen, daß Katerina Iwanowna seinen Bruder Dmitrij leidenschaftlich und unwandelbar liebte. Doch nach jenem Auftritt und dem Gespräch mit Dmitrij am Kreuzweg, glaubte er es nicht mehr. Außerdem hatte ihm noch immer aus irgendeinem, ihm selbst unerklärlichen Grunde geschienen, daß sie solch einen Menschen wie Iwan überhaupt nicht lieben könnte, daß sie vielmehr gerade seinen Bruder Dmitrij lieben müsse, gerade diesen, und zwar mit allen seinen Fehlern, gerade so, wie er war, trotz der ganzen Ungeheuerlichkeit solch einer Liebe. Doch nach der Szene mit Gruschenka hatte es ihm plötzlich anders geschienen. Die Bemerkung Frau Chochlakoffs: „sie vergewaltigt sich“, hatte ihn fast zusammenzucken gemacht, denn genau dasselbe hatte auch er sich in der Nacht, als er aufgewacht war – wahrscheinlich auf einen unbewußten Traum hin – gesagt: „Sie vergewaltigt sich, sie vergewaltigt sich ja!“ Geträumt aber hatte ihm die ganze Nacht hindurch von jener Szene bei Katerina Iwanowna. Und die offen und bestimmt ausgesprochene Behauptung Frau Chochlakoffs, Katerina Iwanowna liebe seinen Bruder Iwan, „vergewaltige“ sich aber absichtlich aus Laune oder aus sonst einem unerklärlichen Grunde und betrüge und quäle sich selbst mit ihrer Liebe zu Dmitrij, die sie aus Dankbarkeit für ihn empfinden wolle – diese plötzliche Behauptung hatte Aljoscha stutzig gemacht. „Vielleicht liegt in diesen Worten wirklich die ganze Wahrheit,“ dachte er. Aber in welch einer Lage befand sich dann sein Bruder Iwan? Aljoscha fühlte gewissermaßen instinktiv, daß ein Charakter wie Katerina Iwanowna herrschen wollte, herrschen aber konnte sie nur über einen Menschen wie Dmitrij, niemals aber über einen Menschen wie Iwan. Denn nur Dmitrij konnte sich ihr ergeben (wenn auch erst nach langer Zeit), was Aljoscha ihm sogar „zu seinem eigenen Glücke“ wünschte; bei Iwan dagegen war das ganz ausgeschlossen: der konnte sich nicht ergeben, und dem würde solch eine Unterwerfung auch kein Glück bringen. Diese Auffassung von Iwan hatte sich ganz unfreiwillig in Aljoscha entwickelt. Und nun, als er in den Salon eintrat, flogen ihm in einem Augenblick wieder alle diese Zweifel und Bedenken und Gedanken durch den Sinn. Es tauchte in ihm auch noch ein anderer Gedanke auf: „Wie aber, wenn sie keinen von beiden liebt, weder den einen noch den anderen?“ Doch Aljoscha schämte sich seiner Gedanken und hatte sich ihretwegen jedesmal Vorwürfe gemacht, wenn sie ihm im letzten Monat wieder und wieder gekommen waren. „Was verstehe ich denn von Liebe und von Frauen, und wie kann ich nur solche Schlüsse ziehen,“ sagte er sich vorwurfsvoll, wenn er wieder Ähnliches gedacht hatte. Und doch war es unmöglich, nicht daran zu denken. So erriet er denn gleichfalls instinktiv, daß diese Nebenbuhlerschaft im Schicksal seiner beiden Brüder eine der wichtigsten Fragen war, von der vieles abhing. „Das eine Geschmeiß wird das andere Geschmeiß verschlingen,“ hatte Iwan am Tage vorher in der Gereiztheit vom Vater und vom Bruder Dmitrij gesagt. Also war Dmitrij in seinen Augen ein Geschmeiß, und das vielleicht schon lange? Oder sollte er es nicht erst seit dem Augenblick geworden sein, da Iwan Katerina Iwanowna kennen gelernt hatte? Diese Worte waren ihm natürlich halb aus Versehen entschlüpft, doch um so bedeutungsvoller waren sie dann, wenn er sie vielleicht gegen seinen Willen laut ausgesprochen hatte. Wenn das aber wirklich so war, wie konnte man dann auf eine friedliche Lösung hoffen? Gab es dann nicht noch neue Ursachen zu Haß und Feindschaft in ihrer Familie? Und vor allen Dingen, wen sollte er, Aljoscha, dann bedauern, und was einem jeden von ihnen wünschen? Er hatte sie beide lieb; doch was sollte er ihnen inmitten so furchtbarer Widersprüche raten? In diesem Labyrinth konnte man sich ja noch ganz und gar verlieren! Aljoschas Herz aber konnte die Ungewißheit nicht ertragen, denn seine Liebe wollte immer gleich aktiv eingreifen. Passiv zu lieben, verstand er nicht: hatte er etwas liebgewonnen, so wollte er auch sofort helfen. Um aber hier zu helfen, mußte er zuerst die Wahrheit wissen, mußte er ein festes Ziel vor sich sehen; doch statt dessen sah er nur Unklarheit und Irrwege. „Vergewaltigungen der eigenen Person und ein Vergewaltigenwollen des Schicksals“ – das war es! Doch was konnte er davon verstehen? Verstand er doch nicht einmal das erste Wort in diesem ganzen Durcheinander! Als Katerina Iwanowna Aljoscha erblickte, sagte sie hastig und freudig zu Iwan Fedorowitsch, der sich schon erhoben hatte, um fortzugehen: „Ach, noch einen Augenblick! Bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick. Ich will vorher noch die Meinung desjenigen hören, zu dem ich von ganzem Herzen das größte Zutrauen habe. Und Katerina Ossipowna, auch Sie möchte ich bitten, nicht fortzugehen,“ sagte sie zu Frau Chochlakoff. Sie hieß Aljoscha neben sich Platz nehmen. Frau Chochlakoff setzte sich ihr gegenüber neben Iwan Fedorowitsch. „Jetzt habe ich alle meine Freunde hier, alle, die ich nur besitze,“ begann sie mit warmer Stimme, in der Tränen zu zittern schienen, und Aljoscha fühlte, wie sich sein Herz sofort wieder ihr zuwandte. „Sie, Alexei Fedorowitsch, Sie waren gestern Zeuge dieser ... furchtbaren Stunde. Sie sahen, wie ich war. Sie haben es nicht gesehen, Iwan Fedorowitsch, er aber hat es mit eigenen Augen gesehen. Was er gestern von mir gedacht hat, das weiß ich nicht; ich weiß nur, daß ich, wenn sich heute dasselbe wiederholen sollte, auch heute dieselben Gefühle, dieselben Worte und dieselben Absichten äußern würde. Sie erinnern sich wohl noch meiner Absichten, Alexei Fedorowitsch, Sie selbst hielten mich ja noch von der Ausführung einer derselben zurück ...“ (Als sie das sagte, errötete sie und ihre Augen blitzten auf.) „Ich sage es Ihnen ganz offen, Alexei Fedorowitsch, daß ich mich mit nichts von dem, was geschehen ist, aussöhnen kann. Hören Sie, Alexei Fedorowitsch, ich weiß nicht einmal, ob ich _ihn_ jetzt liebe. Er tut mir jetzt _leid_; das aber ist ein schlechtes Zeichen für Liebe. Wenn ich ihn noch liebte, wenn ich noch fortführe, ihn zu lieben, so würde er mir jetzt vielleicht nicht leid tun, sondern ich würde ihn wahrscheinlich hassen ...“ Ihre Stimme bebte, und Tränen blitzten an ihren Wimpern. Aljoscha fuhr innerlich zusammen: „Dieses Mädchen ist offenherzig und kann nicht lügen,“ sagte er sich, „und ... und sie liebt Dmitrij nicht mehr!“ „Das ist richtig, das haben Sie vollkommen richtig bemerkt, Katerina Iwanowna,“ sagte Frau Chochlakoff eifrig. „Warten Sie noch ein wenig, liebe Katerina Ossipowna, das Wichtigste habe ich noch nicht gesagt; ich habe noch nicht alles ausgesprochen, was ich in dieser Nacht beschlossen habe. Ich fühle es, daß mein Entschluß vielleicht furchtbar ist – furchtbar für mich; aber ich fühle auch schon im voraus, daß ich ihn um keinen Preis, um nichts in der Welt verändern werde, in meinem ganzen Leben nicht! So wird es sein! Mein lieber Freund Iwan Fedorowitsch, mein einziger, hochherziger Ratgeber, den ich in der Welt habe, stimmt mir in allem bei, und auch er hat als tiefer Herzenskenner meinen Entschluß gebilligt ... Er kennt ihn.“ „Ja, ich billige ihn,“ sagte mit leiser, doch fester Stimme Iwan Fedorowitsch. „Aber ich will, daß auch Aljoscha – ach, verzeihen Sie, Alexei Fedorowitsch, daß ich Sie einfach Aljoscha genannt habe – ich will, daß auch Alexei Fedorowitsch mir jetzt sagt, hier gleich, in Gegenwart meiner beiden Freunde, ob ich recht habe oder nicht. Ich habe das instinktive Vorgefühl, daß Sie, Aljoscha, mein lieber Bruder Sie – denn Sie sind ja doch mein lieber Bruder,“ fuhr sie wieder begeistert fort und erfaßte seine kalte Rechte mit ihrer heißen Hand, „ich fühle es im voraus, daß Ihr Urteilsspruch, Ihre Billigung mir, trotz meiner Qualen, Ruhe geben wird, denn nach Ihrem Urteilsspruch werde ich verstummen und mich ergeben – das fühle ich im voraus!“ „Ich weiß nicht, wonach Sie mich fragen,“ sagte Aljoscha errötend, „ich weiß nur, daß ich Sie liebhabe und Ihnen in diesem Augenblick mehr Glück wünsche als mir selbst ... Aber ich verstehe doch nichts von diesen Dingen ...“ beeilte er sich aus irgendeinem Grunde hinzuzufügen. „In diesen Dingen, Alexei Fedorowitsch, in diesen Dingen ist jetzt die Hauptsache – Ehre und Pflicht, und ich weiß nicht, was noch; ja es ist etwas Höheres, etwas, das vielleicht sogar höher ist als selbst die Pflicht. Das Herz sagt mir von diesem unbezwingbaren Gefühl, das mich übermächtig mit sich fortzieht. Es läßt sich übrigens alles in zwei Worten ausdrücken; ich habe mich schon entschlossen: Selbst wenn er jenes ... Geschöpf heiraten sollte,“ fuhr sie feierlich fort, „dem ich niemals, niemals verzeihen kann, so werde _ich ihn doch nicht verlassen_! Von nun an werde ich ihn niemals, niemals mehr verlassen!“ sagte sie gleichsam mit einer gesprungenen Note in gezwungener, fast müder Begeisterung. „Ich will damit nicht sagen, daß ich mich ihm überallhin nachschleppen, mich beständig in seinen Weg, vor seine Augen drängen, ihn quälen werde – o nein, ich werde in eine andere Stadt ziehen, einerlei wohin, aber ich werde ihn mein ganzes Leben, mein ganzes Leben lang nicht aus dem Auge lassen. Wenn er aber mit jener unglücklich wird, und das wird ja bestimmt sofort geschehen, so kann er zu mir kommen und in mir einen Freund und eine Schwester finden ... natürlich nur eine Schwester ... Und das dann auf ewig, und er wird sich endlich überzeugen, daß diese Schwester in der Tat seine Schwester ist, die ihn wirklich liebt und ihm ihr ganzes Leben geopfert hat. Ich werde es erreichen, werde es durchsetzen, daß er mich endlich kennen lernt und mir alles, ohne sich zu schämen, gesteht!“ stieß sie erregt, fast außer sich hervor. „Ich werde sein Gott sein, zu dem er betet – wenigstens das ist er mir für seinen Verrat und für alles, was ich gestern durch ihn erlitten habe, schuldig. Und so mag er denn sein Lebelang sehen, daß ich ihm mein ganzes Leben lang treu bleibe und mein Wort, das ich ihm einmal gegeben habe, halte, halte, obgleich er mir untreu ist und mich verraten hat. Ich werde ... ich werde mich in ein Mittel zu seinem Glück verwandeln, und das fürs ganze Leben ... oder – wie soll ich das sagen – in ein Instrument, in eine Maschine, die sein Glück schafft, fürs ganze Leben, für mein ganzes Leben, und damit er es hinfort sein ganzes Leben lang erfährt! Das ist mein Entschluß! Iwan Fedorowitsch billigt ihn und stimmt mir in allem vollkommen bei.“ Atemlos endete sie. Vielleicht hatte sie ihren Gedanken viel würdiger, geschickter und natürlicher ausdrücken wollen, nun aber hatte sie ihn gar zu eilig, gar zu nackt ausgedrückt. Viel war dabei jugendliche Ungeduld, vieles verriet auch noch die ertragene Kränkung und das Bedürfnis, sich stolz zu zeigen; das alles fühlte sie selbst: ihr Gesicht verfinsterte sich, und der Ausdruck ihrer Augen ward nicht gut. Aljoscha bemerkte es sofort, – Mitleid erhob sich in seinem Herzen. Und da tat gerade noch Iwan Fedorowitsch das seinige hinzu. „Ich habe vorhin nur meine Meinung geäußert,“ sagte er. „Bei jeder anderen wäre das alles verstellt, gezwungen, bei Ihnen aber ist es das nicht. Eine andere wäre dabei unaufrichtig, Sie aber sind aufrichtig, und somit haben Sie recht. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll; ich sehe nur, daß Sie aufrichtig sind, im höchsten Grade aufrichtig, und darum sind Sie auch im Recht ...“ „Aber doch nur in diesem Augenblick! – Und dieser Augenblick ist ja doch nichts anderes als die Folge der gestrigen Beleidigung!“ unterbrach plötzlich Frau Chochlakoff, deren Absicht augenscheinlich gewesen war, sich nicht einzumischen, die es aber nun doch nicht mehr ausgehalten und sich mit einer sehr richtigen Bemerkung in das Gespräch hineinmischte. „Ganz recht,“ sagte Iwan in einem fast verwegenen Tone und doch, als ob er sich plötzlich darüber geärgert hätte, daß er unterbrochen worden war, „Sie haben vollkommen recht, gnädige Frau: bei einer anderen wäre das nur der Einfluß der gestrigen Erregung und würde nur eine Minute andauern, bei Katerina Iwanowna aber wird dieser Augenblick eben ihr ganzes Leben lang andauern. Was für andere nur Versprechen ist, das ist für sie lebenslängliche, vielleicht schwere, doch unermüdliche Erfüllung ihrer Pflicht. Und das Gefühl dieser Pflichterfüllung wird ihr genügen. Ihr Leben, Katerina Iwanowna, wird von nun an in marternder Beobachtung und Zergliederung der eigenen Gefühle, der eigenen Heldentat und des eigenen Leides bestehen, doch späterhin wird sich dieses Leid mildern, und Ihr Leben wird sich dann in ein angenehmes Betrachten verwandeln, in ein unaufhörliches Betrachten des ein für allemal gefaßten und erfüllten stolzen Vorsatzes, der in seiner Art tatsächlich stolz, jedenfalls aber verzweifelt ist, doch den Sie auf sich genommen haben. Und dieses Denken daran wird Sie schließlich vollkommen befriedigen und Sie mit allem übrigen aussöhnen ...“ Er sprach dies mit einer gewissen Bosheit, sagte es mit Absicht gerade so, und vielleicht wollte er seine Absicht auch nicht einmal verbergen, d. h., daß er dies so absichtlich spöttisch sagte. „O Gott, das ist ja wieder nicht das!“ seufzte Frau Chochlakoff. „Alexei Fedorowitsch, aber so sagen Sie doch! Es quält mich, ich will wissen, was Sie dazu sagen!“ rief Katerina Iwanowna erregt und brach plötzlich in Tränen aus. Aljoscha erhob sich von seinem Platz. „Das ist nichts, nichts!“ fuhr sie weinend fort, „das kommt nur von der Erregung, von der schlaflosen Nacht; aber bei zwei so treuen Freunden, wie Sie und Ihr Bruder, fühle ich mich noch stark ... denn ich weiß ... Sie beide werden mich nie verlassen.“ „Leider muß ich vielleicht morgen schon nach Moskau fahren und Sie auf lange verlassen ... Und leider läßt sich das nicht mehr ändern ...“ sagte plötzlich Iwan Fedorowitsch. „Morgen, nach Moskau!“ Das ganze Gesicht Katerina Iwanownas verzerrte sich plötzlich. „Aber ... ach Gott, wie glücklich sich das trifft!“ rief sie auch schon im selben Augenblick mit vollkommen veränderter Stimme, und im selben Augenblick hatte sie auch schon ihre Tränen verscheucht, so daß von ihnen nicht einmal eine Spur blieb ... In einem einzigen Augenblick ging mit ihr diese erstaunliche Veränderung vor sich, eine Veränderung, die Aljoscha nicht wenig in Verwunderung setzte: an Stelle des armen, beleidigten Mädchens erschien plötzlich ein Weib vor ihm, das vollkommen seiner mächtig war und mit irgend etwas sogar ungemein zufrieden schien – ganz, als ob sie sich über irgend etwas plötzlich sehr gefreut hätte. „O, ich meine natürlich nicht, daß Sie uns verlassen, natürlich meinte ich das nicht so,“ versuchte sie gleichsam ihren unbedachten Ausruf mit freundlichem Gesellschaftslächeln zu verbessern, – „ein Freund, wie Sie, kann das ja auch gar nicht mißverstehen. Im Gegenteil, ich bin nur zu unglücklich darüber, daß ich Sie entbehren muß!“ Sie wandte sich plötzlich zu Iwan Fedorowitsch, ergriff ungestüm seine beiden Hände und drückte sie warm. „Ich freue mich nur deswegen darüber, weil Sie jetzt persönlich in Moskau meiner Tante und Agascha meine ganze Lage, dieses ganze Entsetzen, in dem ich mich befinde, werden schildern können, Agascha gegenüber natürlich ganz aufrichtig, Tantchen aber schonender – so, wie nur Sie allein es verstehen. Sie können sich ja nicht vorstellen, wie unglücklich ich gestern und heute morgen war: ich weiß es wirklich nicht, wie ich diesen furchtbaren Brief schreiben soll ... denn in einem Brief das wiederzugeben, das ist ja ganz unmöglich ... Jetzt aber fällt es mir viel leichter, alles zu schreiben, denn Sie werden dort bei ihnen sein und alles erklären. O, wie mich das freut! Und nur deswegen freue ich mich darüber, das glauben Sie mir doch. Selbst sind Sie mir natürlich unersetzlich ... Ich werde sofort den Brief schreiben,“ sagte sie plötzlich, und sie erhob sich schon, um ins andere Zimmer zu gehen. „Aber Aljoscha! Aber die Meinung Alexei Fedorowitschs, die Sie so gern erfahren wollten?“ rief Frau Chochlakoff, sie aufhaltend. Etwas Böses und Feindseliges klang durch ihre Worte. „Das habe ich auch nicht vergessen,“ – Katerina Iwanowna blieb sofort stehen – „aber warum sind Sie heute so feindselig zu mir, Katerina Ossipowna?“ fragte sie mit bitterem, heißem Vorwurf. „Was ich gesagt habe, das tue ich auch. Ich brauche unbedingt seine Meinung, ja, ich bedarf sogar seines Urteils! So wie er sagt, wird es auch sein – sehen Sie, wie sehr mich im Gegenteil nach Ihren Worten verlangt, Alexei Fedorowitsch ... Aber, was haben Sie?“ „Das hätte ich nie gedacht, nie für möglich gehalten!“ sagte Aljoscha traurig, doch sehr erregt. „Was, was nicht gedacht?“ „Er fährt nach Moskau, Sie aber sagen, das freue Sie – das haben Sie absichtlich ausgerufen! Darauf aber begannen Sie sofort zu erklären, daß Sie sich nicht darüber freuten, sondern es bedauerten, daß ... Sie einen Freund verlieren, – aber auch das haben Sie absichtlich so vorgespielt ... wie im Theater, in der Komödie vorgespielt! ...“ „Was? ... Im Theater? ... Was sagen Sie?“ fragte Katerina Iwanowna maßlos verwundert; sie erglühte plötzlich und zog die Brauen zusammen. „Aber wie sehr Sie ihm auch versichern, daß Sie den Freund in ihm vermissen werden, Sie behaupten ihm doch offen ins Gesicht, daß das Glück darin bestehe, daß er fortfährt ...“ sagte ganz atemlos Aljoscha. „Wovon reden Sie, ich weiß nicht ...“ „Ich weiß es selbst auch nicht ... Es ist plötzlich wie eine Erleuchtung über mich gekommen ... Ich weiß, daß ich das nicht gut ausdrücke, aber ich werde trotzdem alles sagen,“ fuhr Aljoscha mit zitternder und halb versagender Stimme fort. „Meine Erleuchtung besteht darin: Ich sehe, daß Sie meinen Bruder Dmitrij vielleicht überhaupt nicht lieben ... von Anfang an nicht ... und auch Dmitrij Sie vielleicht überhaupt nicht liebt ... von Anfang an überhaupt nicht ... und Sie nur sehr achtet ... Ich, wirklich, ich weiß nicht, wie ich wage, das alles zu sagen, aber irgend jemand muß doch die Wahrheit sagen ... denn hier will es ja niemand tun.“ „Was für eine Wahrheit?“ rief Katerina Iwanowna, und Zorn klang durch ihre Stimme. „Diese Wahrheit,“ stotterte Aljoscha atemlos, „lassen Sie sofort Dmitrij herrufen – ich werde ihn schon finden –, und mag er dann herkommen, Sie an der Hand nehmen, darauf Iwans Hand erfassen und ihre beiden Hände vereinigen. Denn Sie quälen Iwan nur darum, weil Sie ihn lieben ... und quälen ihn, weil Sie Dmitrij zu lieben glauben ... ihn aber nicht wirklich lieben ... Sie haben es sich nur so eingeredet ...“ Aljoscha stockte und verstummte. „Sie ... Sie ... Sie kleiner Schwachsinniger!“ stieß Katerina Iwanowna bleich und mit zuckenden Lippen hervor. Iwan Fedorowitsch lachte plötzlich laut auf und erhob sich. Seinen Hut hatte er schon in der Hand. „Du täuschst dich, mein guter Aljoscha,“ sagte er mit einem Gesichtsausdruck, den Aljoscha noch nie an ihm gesehen hatte, – mit dem Ausdruck einer echt jugendlichen Herzlichkeit und eines starken, unbezwingbar aufrichtigen Gefühls, „niemals hat Katerina Iwanowna mich geliebt! Die ganze Zeit über hat sie gewußt, daß ich sie liebe, obgleich ich ihr kein einziges Mal ein Wort von meiner Liebe gesagt habe – sie hat es gewußt, hat aber nie mich geliebt. Ihr Freund bin ich gleichfalls nie gewesen, nicht einen einzigen Tag lang: das stolze Weib bedurfte meiner Freundschaft nicht. Sie wollte mich bei sich haben, um sich ununterbrochen rächen zu können. Sie rächte sich an mir für alle Beleidigungen, die sie ununterbrochen, an jedem Tage dieser ganzen Zeit durch Dmitrij erfuhr, Beleidigungen von ihrer ersten Begegnung an; denn auch ihre erste Begegnung mit ihm ist in ihrem Herzen als Beleidigung zurückgeblieben. Ja, so ist ihr Herz. Diese ganze Zeit habe ich nur ihr zugehört, wie sie von ihrer Liebe zu ihm gesprochen hat. Jetzt fahre ich fort, doch lassen Sie es sich gesagt sein, gnädiges Fräulein, daß Sie wirklich nur ihn allein lieben. Und je mehr er Sie kränken wird, desto mehr werden Sie ihn lieben. Das ist Ihre ganze Selbstvergewaltigung. Sie lieben ihn geradeso, wie er ist, als Ihren Beleidiger lieben Sie ihn. Wenn er sich bessern würde, so würden Sie ihn verlassen, und Sie würden sofort aufhören, ihn zu lieben. Jetzt aber bedürfen Sie seiner, um ununterbrochen an Ihre große Treue denken zu können und ihm seine Untreue vorzuwerfen. Alles das kommt nur von Ihrem Stolz. O, hierbei ist natürlich auch viel Unterwürfigkeit und Selbsterniedrigung, doch tun Sie es trotzdem nur aus Stolz ... Ich bin noch zu jung und habe Sie gar zu leidenschaftlich geliebt. Ich weiß, daß ich Ihnen das nicht zu sagen brauchte, es wäre meinerseits stolzer und würdiger, Sie einfach so zu verlassen; und es wäre auch nicht so kränkend für Sie. Aber ich fahre ja weit fort und werde niemals mehr wiederkehren. Ich gehe doch auf ewig ... Ich will nicht neben einer sich selbst Vergewaltigenden leben ... Übrigens verstehe auch ich mich nicht mehr auszudrücken ... Leben Sie wohl, Katerina Iwanowna, Sie haben kein Recht, sich über mich zu ärgern, denn ich bin hundertmal mehr bestraft als Sie: bestraft schon allein dadurch, daß ich Sie nie mehr sehen werde. Deshalb nochmals: leben Sie wohl. Ich bedarf Ihres Händedrucks nicht. Sie haben mich viel zu bewußt gequält, als daß ich Ihnen jetzt verzeihen könnte. Später werde ich verzeihen, doch jetzt brauchen Sie mir Ihre Hand nicht zu geben ... Den Dank, Dame, begehr ich nicht,“ fügte er plötzlich mit einem erzwungenen Lächeln hinzu und zeigte somit ganz unerwarteterweise, daß auch er Schiller so gelesen hatte, daß er ihn auswendig behalten, was Aljoscha früher nie geglaubt hätte. Iwan verließ das Zimmer, ohne sich selbst von Frau Chochlakoff, der Hausfrau, zu verabschieden. Aljoscha wollte ihm nachstürzen. „Iwan!“ rief er ganz verloren seinem Bruder nach, „Iwan, komm zurück! Ach, jetzt wird er ja um keinen Preis mehr zurückkehren!“ rief er in verzweiflungsvoller Erkenntnis. „Aber das ist meine Schuld, ich habe es dazu gebracht! Iwan sprach boshaft, er sprach erregt, ungerecht und böse ... Er muß wieder herkommen, er muß zurückkommen, er muß! ...“ versicherte Aljoscha immer noch wie ein Halbwahnsinniger. Katerina Iwanowna ging plötzlich ins Nebenzimmer. „Das war großartig von Ihnen, Sie haben wie ein Engel gehandelt!“ flüsterte ihm in erregter Begeisterung Frau Chochlakoff zu. „Ich werde alles in Bewegung setzen, damit Iwan Fedorowitsch nicht fortfährt ...“ Ihr Gesicht strahlte vor Freude, was Aljoscha nicht geringen Kummer verursachte. In dem Augenblick kehrte Katerina Iwanowna aus dem Nebenzimmer zurück. Sie hatte zwei Hundertrubelscheine in der Hand. „Ich habe eine große Bitte an Sie, Alexei Fedorowitsch,“ begann sie, sich direkt an Aljoscha wendend, mit anscheinend ruhiger, gleichmäßiger Stimme, als wäre wirklich nichts geschehen. „Vor einer Woche, – ja, ich glaube vor einer Woche – hat Dmitrij Fedorowitsch eine unüberlegte und ungerechte Tat begangen, eine schändliche Tat. Es gibt hier ein Lokal, ein Gasthaus oder so etwas ähnliches. Dort hat er einen verabschiedeten Offizier getroffen, einen Hauptmann, den Ihr Vater mit irgendwelchen Dingen beschäftigt. Dmitrij Fedorowitsch hatte sich nun aus irgendeinem Grunde über diesen Hauptmann geärgert, ihn am Bart gepackt und in Gegenwart aller Gäste in dieser erniedrigenden Weise hinaus auf die Straße gezogen, und man sagt, der Sohn dieses Hauptmanns, ein kleiner Junge, der das hiesige Gymnasium besucht, habe es gesehen und sei die ganze Zeit neben ihnen hergelaufen und habe laut geweint und für den Vater gebeten, und sei zu allen auf der Straße gelaufen, um sie zu bitten, seinen Vater doch zu verteidigen, doch die Leute hätten nur gelacht ... Verzeihen Sie, Alexei Fedorowitsch, ich kann nicht ohne heftigen Unwillen dieser schmachvollen Handlung, die _er_ begangen hat, gedenken ... das ist wieder eine dieser Handlungen, zu denen sich nur Dmitrij Fedorowitsch in seinem Zorn hinreißen lassen kann ... und in seinen Leidenschaften! Ich kann nicht einmal alles so wiedergeben, ich kann es nicht ... Ich finde nicht die richtigen Worte. Ich habe mich jetzt nach dem Beleidigten erkundigt und erfahren, daß er ein sehr armer Mensch ist. Sein Familienname ist Ssnegireff. Er hat sich im Dienst irgendwie vergangen und daraufhin den Abschied bekommen ... Ich verstehe das nicht zu erzählen ... und jetzt ist er mit seiner ganzen Familie hier, mit kranken Kindern und einer, ich glaube, irrsinnigen Frau und lebt in furchtbarer Armut. Er war schon früher in dieser Stadt, er soll hier Schreiber gewesen sein. Plötzlich aber ist er unbeschäftigt! Ich habe jetzt meinen Blick auf Sie geworfen, das heißt, ich dachte – ach, ich weiß nicht, ich verwirre mich die ganze Zeit –, sehen Sie, ich wollte Sie bitten, mein bester Alexei Fedorowitsch, zu ihm zu gehen, unter einem Vorwande natürlich, zu diesem Hauptmann, – o Gott! ich komme immer aus dem Konzept, – und zart, vorsichtig, – geradeso, wie nur Sie allein es zu sagen verstehen“ (Aljoscha errötete plötzlich), „ihm diese Unterstützung zu übergeben, hier, diese zweihundert Rubel ... Oder nein, wie soll ich mich ausdrücken? Sehen Sie, das soll nicht eine Zahlung sein, um ihn zu beschwichtigen, damit er keine Klage einreicht – ich glaube, er soll dies beabsichtigt haben –, sondern einfach Mitleid, aus dem Wunsch zu helfen ... von mir, von mir, der Braut Dmitrij Fedorowitsch, nicht von ihm ... O, Sie werden es schon verstehen ... Ich würde selbst zu ihm fahren, aber Sie werden es viel besser machen als ich. Er wohnt in einer kleinen Straße, in der Seestraße, im Hause der Kleinbürgerin Kalmykowa ... Ich bitte Sie, Alexei Fedorowitsch, tun Sie das für mich, ich ... ich bin jetzt etwas ... müde. Auf Wiedersehen ...“ Sie wandte sich so hastig um und verschwand so schnell hinter der Portiere, daß Aljoscha nichts mehr sagen konnte, – und er wollte ihr doch noch so vieles sagen. Er wollte sie um Verzeihung bitten, wollte sich beschuldigen – kurz, etwas sagen wollte er, denn sein Herz war voll von dem, und er wollte sie unter keiner Bedingung so verlassen. Aber schon ergriff ihn Frau Chochlakoff an der Hand und zog ihn hinaus. Im Vorzimmer hielt sie ihn wieder wie vorhin auf. „Sie ist stolz, sie quält sich selbst, aber sie ist gut, großmütig, hochherzig!“ flüsterte sie ihm zu. „O, wenn Sie wüßten, wie ich sie liebe, besonders zuweilen, und wie ich mich jetzt wieder über alles, alles freue! Lieber Alexei Fedorowitsch, Sie wissen ja noch gar nicht alles! So hören Sie denn, daß wir alle, alle, – ich, ihre beiden Tanten, – kurz, alle, sogar Lise, schon einen ganzen Monat lang nur dieses eine wünschen und durchsetzen wollen, daß sie sich von Ihrem geliebten Dmitrij Fedorowitsch, der nichts von ihr wissen will und sie überhaupt nicht liebt, lossagt und Iwan Fedorowitsch heiratet, den gebildetsten und prächtigsten jungen Mann, der sie mehr als alles auf der Welt liebt. Wir haben doch hier eine ganze Verschwörung gebildet, und ich fahre vielleicht nur deswegen noch nicht fort ...“ „Aber sie weinte doch, sie ist doch wieder beleidigt!“ unterbrach sie Aljoscha. „Glauben Sie nicht den Tränen einer Frau, Alexei Fedorowitsch, in solchen Fällen bin ich immer gegen die Frauen und für die Männer.“ „Mama, Sie verderben ihn,“ ertönte Lisas Stimmchen durch die Türspalte. „Nein, ich bin die Ursache dieses Unglücks, ich trage die Schuld an allem!“ wiederholte der untröstliche Aljoscha, schämte sich wegen seines Ausfalls und bedeckte seine Augen mit der Hand. „Im Gegenteil, Sie haben wie ein Engel gehandelt, wie ein Engel, ich bin bereit, Ihnen das hunderttausendmal zu wiederholen!“ „Mama, wieso hat er wie ein Engel gehandelt?“ ertönte wieder Lisas Stimme. „Es schien mir plötzlich, als ich sie beide so sah,“ fuhr Aljoscha fort, wie wenn er Lisa überhaupt nicht gehört hätte, „daß sie Iwan liebt, und so sagte ich denn auch diese Dummheit ... Aber was wird jetzt daraus werden!“ „Was, woraus, woraus soll etwas werden?“ rief Lisa wieder ungeduldig durch die Tür. „Mamachen, Sie wollen mich sicherlich umbringen! Ich frage schon zum hundertstenmal, Sie aber antworten mir überhaupt nicht!“ In dem Augenblick kam die Zofe hereingelaufen ... „Gnädige Frau, das Fräulein fühlt sich sehr schlecht ... sie weint ... und schlägt um sich ...“ „Was, was ist da los?!“ klang Lisas erregte Stimme durch die Tür. „Mama, _ich_ werde sofort einen Anfall bekommen, aber nicht Katjä!“ „Lise, um Gottes willen, schrei nicht so, töte mich nicht! Du bist noch zu jung, du darfst noch nicht alles erfahren, wovon Erwachsene sprechen, ich werde dir später alles erzählen, was ich dir davon erzählen kann. O Gott! ich komme schon, ich komme schon ... Ein hysterischer Anfall? Das ist vorzüglich, daß sie diesen Anfall hat! Gerade das war ja nötig! In solchen Fällen bin ich immer gegen die Frauen, gegen alle diese hysterischen Anfälle und Frauentränen. Julija, lauf sofort zurück und sage, daß ich schon zu ihr eile! Und daß Iwan Fedorowitsch so fortgegangen ist, das ist ihre eigene Schuld! Aber er wird ja nicht fortfahren. Lise, um Gottes willen schrei nicht so! Ach, du schreist ja gar nicht, nur ich rege mich so auf, verzeih deiner Mama, aber ich bin ganz entzückt, ganz entzückt davon, entzückt sage ich Ihnen! Sie haben auch bemerkt, Alexei Fedorowitsch, als was für ein junger, leidenschaftlicher junger Mann sich Iwan Fedorowitsch vorhin plötzlich erwies! Ich glaubte immer, er sei ein so gelehrter Akademiker, und plötzlich ist er so glühend-temperamentvoll, so offenherzig und jung, geradeso – so unerfahren und jung, das war wirklich so reizend an ihm, ganz als ob Sie es gewesen wären ... Und wie er noch diese deutschen Worte zitierte – aber _ganz_ wie Sie! Ach, ich laufe, ich eile schon! Gehen Sie, beeilen Sie sich, diesen Auftrag auszuführen und kommen Sie schnell zurück! Lise, brauchst du nicht etwas? Halt ihn nur keine Minute auf, er wird gleich zu dir zurückkehren.“ Frau Chochlakoff eilte schließlich wirklich fort. Aljoscha wollte, bevor er fortging, noch einmal die Tür zu Lisas Zimmer öffnen. „Auf keinen Fall!“ rief ihm Lise empört zu, „jetzt unter keiner Bedingung mehr! Sprechen Sie so, durch die Tür. Für was für eine Heldentat werden Sie zum Engel erhoben? Nur das allein will ich wissen.“ „Für eine furchtbare Dummheit, Lise! Auf Wiedersehen!“ „Unterstehen Sie sich nicht, so fortzugehen!“ rief Lisa empört. „Lise, ich habe großes Herzeleid! Ich werde sofort zurückkommen, aber ich habe großen, großen Kummer!“ Und er verließ schnell das Zimmer und das Haus. VI. In der Stube Er hatte wirklich ein ernstes Herzeleid, eines, wie er es bis dahin nur selten empfunden. Er hatte sich so dumm in fremde Angelegenheiten hineingemischt und noch dazu in Liebesangelegenheiten! „Aber was verstehe ich denn von solchen Sachen, wie kann ich mich nur in solche Angelegenheiten hineinmischen?“ wiederholte er vorwurfsvoll und immer wieder errötend wohl schon zum hundertstenmal. „Ach, die Schande wäre ja noch nichts, die Schande ist nur wohlverdiente Strafe; das Furchtbare ist nur, daß ich die Ursache neuen Unglücks bin ... Und der Staretz hat mich doch geschickt, um zu versöhnen und zu vereinigen. Vereinigt man denn etwa so?“ Bei diesem Gedanken fiel ihm plötzlich wieder ein, wie er „die Hände vereinigt“ hatte, und heiße Scham stieg in ihm auf. „Wenn ich auch alles aufrichtig getan habe, so muß ich künftig doch klüger sein,“ schloß er plötzlich – und lächelte nicht einmal über diese Folgerung. Der Auftrag Katerina Iwanownas führte ihn in die Seestraße, da aber Dmitrij Fedorowitschs Wohnung gerade auf dem Wege dorthin lag, beschloß Aljoscha, zuerst noch zum Bruder zu gehen, obgleich er ahnte, daß er ihn nicht zu Hause antreffen werde. Er vermutete sogar, daß Dmitrij sich jetzt vielleicht absichtlich vor ihm versteckte, trotzdem wollte er ihn unbedingt aufsuchen, einerlei wo. Die Zeit aber drängte. Der Gedanke an den sterbenden Staretz hatte ihn seit der Stunde, da er aus dem Kloster gegangen war, keinen Augenblick verlassen. Es fiel ihm wieder ein, was Katerina Iwanowna von dem Hauptmann erzählt hatte, und wieder fragte sich Aljoscha, ob nicht jener kleine Knabe, der die Schule besuchte und laut weinend neben dem Vater einhergelaufen war, als Dmitrij ihn am Barte gezogen hatte – ob das nicht derselbe kleine Junge sein konnte, der ihn in den Finger gebissen hatte? Wäre das doch die Antwort gewesen auf seine Frage, wodurch er ihn beleidigt hätte. Schließlich war Aljoscha fast überzeugt davon, ohne eigentlich selbst zu wissen warum, daß jener Knabe der Sohn des beleidigten armen Hauptmanns sei. Mit solchen nebensächlichen Gedanken zerstreute er sich und brauchte nicht mehr an das von ihm angestiftete „Unglück“ zu denken und sich mit Vorwürfen zu quälen, sondern konnte etwas Gutes tun. Und bei diesem Gedanken beruhigte er sich schließlich. Als er dann beim Einbiegen in die Querstraße zu Dmitrij plötzlich Hunger verspürte, nahm er aus seiner Kuttentasche das Franzbrot, das er beim Vater eingesteckt hatte, und aß es unterwegs auf. Das stärkte wieder ein wenig seine Lebensgeister. Der Bruder war natürlich nicht zu Hause. Die Hauswirte – ein alter Tischlermeister, dessen Sohn und die alte Frau – blickten Aljoscha etwas mißtrauisch an. „Er nächtigt schon den dritten Tag nicht hier, es ist möglich, daß er ausgefahren ist,“ antwortete der Alte auf Aljoschas wiederholte Frage. Da sah Aljoscha ein, daß jener offenbar auf einen gegebenen Befehl nicht antworten wollte. Auf seine Frage: „Ist er vielleicht bei Gruschenka, oder versteckt er sich bei Foma?“ (Aljoscha fragte absichtlich so indiskret), blickten ihn alle drei nur höchst erschrocken an. „Müssen ihn wohl gern haben, wenn sie so zu ihm halten,“ dachte Aljoscha, „das ist gut.“ Endlich fand er auch in der Seestraße das Haus der Kleinbürgerin Kalmykowa, ein altes schiefes Häuschen, das nur drei Fenster zur Straße hatte. Der Eingang führte durch den schmutzigen Hof. Als Aljoscha durch die Pforte trat, sah er gerade in der Mitte des Hofes einsam eine unangebundene Kuh stehen. Links vom Flur wohnte die alte Hausbesitzerin mit ihrer gleichfalls alten Tochter; beide waren taub, wie es schien. Auf seine mehrmals wiederholte Frage nach dem Hauptmann wies schließlich die eine von ihnen, die erraten hatte, daß man zu ihren Mietern wollte, auf die gegenüberliegende Tür. Die Wohnung des verabschiedeten Hauptmanns war also tatsächlich in diesem Hause. Aljoscha wollte schon die eiserne Klinke ergreifen und die Tür aufmachen, als ihm plötzlich die ungewöhnliche Stille, die hinter der Tür herrschte, auffiel. Katerina Iwanowna hatte ihm doch gesagt, daß der Hauptmann verheiratet sei und eine ganze Familie habe. „Entweder schlafen sie alle, oder vielleicht haben sie gehört, daß ein Fremder eingetreten ist, und warten jetzt, daß ich eintrete; ich werde doch lieber zuerst klopfen,“ dachte er und klopfte an die Tür. Die Antwort kam aber erst nach einiger Zeit, vielleicht erst nach einer halben Minute. „Wer da?“ schrie jemand mit lauter und absichtlich wütender Stimme. Aljoscha machte die Tür auf und trat über die Schwelle. Er befand sich in einer zwar sehr großen Bauernstube, die aber doch von Menschen und verschiedenem Hausgerät ganz eingenommen war. Links stand ein großer russischer Ofen. Von diesem Ofen war zum linken Fenster durch das ganze Zimmer eine Schnur gezogen, auf der verschiedene Lappen hingen. An beiden Wänden rechts und links stand je ein Bett, mit gehäkelter Decke überdeckt. Auf dem Bette links war aus vier Kopfkissen ein ganzer Berg errichtet; von diesen vier, die alle in Kattunbezügen staken, war eines immer kleiner als das andere. Dagegen lag auf dem Bett an der rechten Wand nur ein einziges ganz kleines Kissen. In der vorderen Ecke war ein kleiner Raum durch einen Vorhang abgeteilt, oder richtiger, durch ein Bettuch, das gleichfalls über einer quer vor die Ecke gezogenen Schnur hing. Hinter diesem Vorhang blickte ein drittes, auf einer Truhe und einem vorgeschobenen Stuhl aufgeschlagenes Bett hervor. Ein einfacher viereckiger Bauerntisch war von der vorderen Ecke zum mittleren Fenster geschoben. Alle drei Fenster, von denen jedes nur vier kleine, grüne, von Staub und Regen trübe Fensterscheiben hatte, ließen nicht gerade viel Licht herein und waren zudem so dicht geschlossen, daß man die Zimmerluft als recht drückend empfand. Auf dem Tisch stand eine Bratpfanne mit dem Rest von einem unsauberen Rührei, ein angebissenes Stück Brot und außerdem eine Halbliterflasche, in der nur noch ein wenig von dem übriggeblieben war, was viele Menschen über ihr Leid hinwegbringt. Auf einem Stuhl neben dem Bett links saß eine Frau in einem einfachen Kattunkleide; doch sah sie wie eine Dame aus. Sie war sehr mager und etwas gelblich im Gesicht; ihre stark eingefallenen Wangen verrieten sofort, daß sie krank sein mußte. Am meisten aber fiel Aljoscha der Blick dieser armen Dame auf: er war ungemein forschend und zu gleicher Zeit äußerst hochmütig. Während der ganzen Zeit, in der Aljoscha mit dem Hauptmann sprach, gingen ihre großen braunen Augen unveränderlich stolz und fragend von einem der Sprechenden zum anderen. Neben dieser Dame stand am linken Fenster ein junges Mädchen mit einem nicht gerade schönen Gesicht und dünnem, rötlichem Haar; es war ärmlich, doch sehr sauber gekleidet. Feindselig betrachtete sie den eingetretenen Aljoscha. Rechts, gleichfalls zwischen Bett und Fenster, saß noch ein drittes weibliches Wesen. Das schien ein armes Geschöpf zu sein, gleichfalls ein junges Mädchen, von zwanzig Jahren, doch war es verwachsen und lahm, d. h. ihre Füße waren verdorrt, wie Aljoscha später erfuhr. Ihre Krücken standen neben ihr in der Ecke zwischen der Wand und dem Bett. Die auffallend schönen und guten Augen des armen Mädchens blickten Aljoscha ruhig und sanftmütig an. Am Tisch saß, das Rührei verzehrend, ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren, mittlerer Größe, augenscheinlich ein schwächlicher Mensch mit rötlichem Haar und einem rötlichen, spärlichen Bärtchen, das auffallend einem zerfaserten Lindenbastwisch glich (dieser Vergleich und besonders das Wort „Bastwisch“ zuckten Aljoscha aus irgendeinem Grunde schon beim ersten Blick auf diesen Bart durch den Sinn, dessen erinnerte er sich noch später). Offenbar hatte dieser selbe Herr auch das „Wer da?“ gerufen, da außer ihm nur Frauen im Zimmer waren. Als aber Aljoscha etwas vortrat, sprang der Herr von der Bank, auf der er am Tisch gesessen hatte, auf und flog, sich mit einer durchlöcherten Serviette den Mund wischend, Aljoscha entgegen. „Ein Mönch, der für ein Kloster bittet – der ist zu den Richtigen gekommen!“ sagte laut das am linken Fenster stehende Mädchen. Doch der Herr, der Aljoscha entgegengestürzt war, drehte sich im Augenblick auf dem Hacken um und antwortete mit erregter, vor Aufregung fast stockender Stimme: „Nein, verehrteste Warwara Nikolajewna, diesmal täuschen Sie sich, Verehrteste, haben es nicht erraten! Gestatten Sie“ – damit wandte er sich geschwind wieder zu Aljoscha – „mich nach der Ursache Ihres Besuches meines ... ‚Inneren‘ zu erkundigen?“ Aljoscha betrachtete ihn aufmerksam, da er ihn zum erstenmal sah. Es war etwas Eckiges, Hastendes, Gereiztes an ihm. Er hatte wohl Schnaps getrunken, doch war er nicht betrunken. Sein Gesicht drückte eine gewisse äußerste Frechheit aus, und zu gleicher Zeit – das war wirklich sonderbar – offenbare Feigheit. Er glich einem Menschen, der sich lange Zeit unterworfen und vieles erlitten hat, plötzlich aber vorspringt und auftrumpfen will. Oder richtiger: einem Menschen, der einen maßlos gern schlagen will, und der doch sehr fürchtet, daß man ihn schlagen könnte. In seinen Reden und dem Klang seiner ziemlich schrillen Stimme lag ein gewisser mißratener Humor, der bald boshaft, bald ängstlich war, nie im Ton blieb und immer wieder abbrach. Die Frage nach dem Besuch des „Inneren“ stellte er gleichsam am ganzen Körper zitternd und so nah auf Aljoscha zutretend, daß der unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Gekleidet war der Herr in einen dunklen, nankingartigen Überzieher, der sehr schlecht zusammengenadelt und überall geflickt war. Die Beinkleider dagegen waren auffallend hell, wie sie niemand mehr trug, und aus sehr dünnem, karriertem Stoff; unten waren sie stark verknüllt, außerdem sehr kurz, ganz als wäre er aus ihnen wie ein kleiner Junge herausgewachsen. „Ich bin ... Alexei Karamasoff ...“ antwortete Aljoscha. „Das begreifen wir vortrefflich,“ unterbrach ihn sofort der Herr, womit er zu verstehen gab, daß er ihn schon kannte. „Ich dagegen bin Hauptmann Ssnegireff; trotzdem wäre es wünschenswert, die Ursache Ihres Besuches ...“ „Ich ... bin nur so hergekommen ... Ich wollte eigentlich von mir aus Ihnen ein paar Worte sagen ... Wenn Sie es nur gestatten ...“ „In diesem Falle – bitte, hier ist ein Stuhl, geruhen Sie, Platz zu nehmen, wie man in den alten Komödien sagt ...“ und der Hauptmann ergriff mit hastiger Bewegung einen gewöhnlichen Bauernstuhl und stellte ihn fast in die Mitte des Zimmers; darauf zog er noch für sich irgendeinen Stuhl herbei und setzte sich Aljoscha gegenüber, und wieder rückte er so nah heran, daß ihre Knie sich fast berührten. Er blickte ihm unbeweglich ins Gesicht. „Ich bin Nikolai Iljitsch Ssnegireff, gewesener Hauptmann der russischen Infanterie, und wenn ich auch durch meine Laster in Schimpf und Schande geraten bin, so bleibe ich doch gewesener Hauptmann. Eigentlich sollte ich jetzt eher sagen: Hauptmann Sslowojerrssoff[15] und nicht mehr Ssnegireff, denn in der zweiten Hälfte meines Lebens habe ich begonnen, das ‚S‘ anzuhängen.[16] Ja, das lernt man in der Erniedrigung.“ „Das ist schon so,“ meinte Aljoscha lächelnd, „nur fragt es sich, ob man es unwillkürlich oder absichtlich lernt?“ „Bei Gott, unwillkürlich. Zeitlebens habe ich nicht so gesprochen, plötzlich aber fiel ich, und als ich aufstand, sprach ich das ‚S‘ zu Ende der Worte. Das geschieht durch eine höhere Macht ... Ich sehe, daß Sie sich für zeitgenössische Fragen interessieren. Wodurch nun habe ich solch ein Interesse erregt, denn ich lebe, wie Sie sehen, so, daß ich Gäste im allgemeinen nicht empfangen kann.“ „Ich bin ... in derselben Angelegenheit gekommen ...“ „In derselben Angelegenheit?“ unterbrach ihn der Hauptmann ungeduldig. „Wegen jener Angelegenheit mit meinem Bruder Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte Aljoscha ungeschickt. „Welch eine Angelegenheit meinen Sie? Doch nicht wegen jener selben? Also wegen des Lindenbastwischs, des Badebastwischs?“ Er rückte plötzlich noch näher, so daß er diesmal Aljoscha tatsächlich mit den Knien berührte. Seine Lippen preßten sich ganz absonderlich zusammen; sie wurden so schmal wie ein Bindfaden. „Was für ein Badebastwisch?“ stotterte Aljoscha. „Nein, Papa, er ist gekommen, um sich über mich zu beklagen!“ rief plötzlich das Aljoscha schon bekannte Stimmchen seines kleinen Feindes aus der Ecke hinter dem Vorhange. „Ich habe ihn vorhin in den Finger gebissen.“ Der Vorhang wurde zur Seite gezogen, und Aljoscha erblickte seinen kleinen Feind aus der Michailoffstraße auf einem Bettchen, das man dort in der Ecke unter den Heiligenbildern auf der Truhe und dem Stuhl aufgeschlagen hatte. Der Knabe war mit seinem Mäntelchen und einem alten, wattierten Deckchen zugedeckt. Er schien nicht ganz wohl zu sein und, nach den brennenden Augen zu urteilen, Fieber zu haben. Doch jetzt blickte er furchtlos Aljoscha an. „Zu Hause kriegst du mich nicht!“ sagte sein Blick. „Was hat er gebissen? Wie, einen Finger?“ fragte der Hauptmann erschrocken und wollte schon aufspringen. „Hat er Ihren Finger gebissen?“ „Ja, meinen. Vorhin bewarfen er und seine Mitschüler sich auf der Straße mit Steinen; er war allein, sie aber waren ganze sechs. Als ich darauf zu ihm trat, warf er einen Stein auf mich und dann noch einen. Ich fragte ihn, was ich ihm denn getan hätte; er aber stürzte sich auf mich und biß mich schmerzhaft in den Finger, warum, weiß ich nicht.“ „Werde ihn sofort durchhauen! Sofort, im Augenblick!“ Der Hauptmann sprang erregt von seinem Stuhl auf. „Aber ich beklage mich doch nicht, ich erzählte es doch nur ... Ich will durchaus nicht, daß Sie ihn dafür durchhauen! Und er ist ja, glaube ich, krank ...“ „Und Sie dachten, daß ich ihn wirklich bestrafen werde? daß ich Iljuschetschka nehmen und ihn sofort vor Ihren Augen schlagen werde, zu Ihrer Genugtuung? sofort? hier auf der Stelle?“ Der Hauptmann wandte sich mit einer Gebärde zu Aljoscha, als wolle er sich auf ihn stürzen. „Es tut mir leid, mein Herr, um Ihren Finger; aber wollen Sie nicht, daß ich, eher als daß ich Iljuschetschka schlage, sofort alle meine vier Finger, hier auf der Stelle, vor Ihren Augen abhacke, sehen Sie, mit diesem Messer, um Ihnen Genugtuung zu gewähren? Vier Finger, denke ich, werden zur Stillung Ihres Rachedurstes genügen, oder wollen Sie auch noch den fünften dazu? ...“ Er verstummte, als ob ihm plötzlich die Stimme versagt hätte. Jeder Nerv seines Gesichtes ging und zuckte, doch blickte er Aljoscha herausfordernd an. Er schien seiner selbst nicht mehr mächtig zu sein. „Ich glaube jetzt alles zu verstehen,“ sagte Aljoscha, der sitzen blieb, leise und traurig. „Ihr Junge ist also ein guter Knabe, der seinen Vater liebt und mich als Bruder Ihres Beleidigers gebissen hat ... Das sehe ich jetzt wohl ein,“ sagte er nachdenklich. „Mein Bruder Dmitrij Fedorowitsch bereut seine Handlung, das weiß ich, und wenn er nur zu Ihnen kommen könnte, oder besser, wenn er Sie dort in demselben Lokal wieder treffen könnte, so würde er Sie in Gegenwart aller um Verzeihung bitten ... Wenn Sie es wünschen.“ „Also: ‚er hat das Bärtchen ausgerissen und darauf um Verzeihung gebeten‘ – was will man mehr; er hat alles wieder gut gemacht, nicht wahr?“ „O nein, im Gegenteil, er wird alles tun, was Sie wollen, und wie Sie es wollen!“ „Das heißt also, wenn ich Seine Erlaucht bitten würde, in demselben Lokal – ‚Zur Hauptstadt‘ heißt es – oder auf dem Großen Platz gefälligst vor mir niederzuknien, so würde er es tun?“ „Ja, er würde niederknien.“ „Sie entwaffnen mich, Sie rühren und entwaffnen mich! Bin nur gar zu geneigt, die Großmut Ihres Herrn Bruders zu empfinden. Gestatten Sie mir, Ihnen meine Familie vorzustellen: meine beiden Töchter und mein Sohn – mein ganzes Nest. Wenn ich nun sterbe, wer wird sie dann noch lieben? Solange ich aber noch lebe – wer kann mich garstiges Kerlchen außer ihnen lieben? Etwas Großes hat Gott damit für einen jeden kleinen Menschen von meiner Art geschaffen, Verehrtester. Denn, nicht wahr, auch ein Mensch wie ich, muß jemanden zum Lieben haben ...“ „Da sagen Sie ein wahres Wort!“ meinte Aljoscha herzlich. „Ach, hören Sie doch endlich auf, den Hampelmann zu spielen, Papa! Es braucht nur irgendein Dummkopf herzukommen, so erniedrigen Sie sich sofort!“ rief ganz unerwartet das Mädchen am Fenster ihrem Vater mit gereizter Stimme und verächtlicher Miene zu. „Gedulden Sie sich noch einen Augenblick, Warwara Nikolajewna, und lassen Sie mich im Stil bleiben,“ rief ihr der Vater, wenn auch in befehlendem Tone, so doch mit billigendem Blicke zu. „Das ist nun einmal so ihr Charakter,“ fügte er darauf, zu Aljoscha gewandt, hinzu. „‚Kein einziges Ding in dieser Welt fand seine Billigung!‘ wie der Dichter sagt; nur müßte er sich in diesem Falle im Femininum ausdrücken: ‚fand ihre Billigung‘. Jetzt aber gestatten Sie mir, Sie auch meiner Frau vorzustellen: hier, Arina Petrowna, zwar nur eine lahme Dame – von dreiundvierzig Jahren –, die Füße tragen sie nur wenig, gehört zu den Einfachen, Verehrtester. Arina Petrowna, glätten Sie Ihre Züge: – Alexei Fedorowitsch Karamasoff, erheben Sie sich, Verehrtester.“ Damit ergriff er Aljoschas Hand und zog ihn mit einer Kraft, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, in die Höhe, noch bevor der sich besinnen konnte. „Sie werden einer Dame vorgestellt, da müssen Sie sich erheben. Das ist nicht jener Karamasoff, Mamachen, der ... hm, und so weiter, sondern sein Bruder, der sich durch demütige Tugenden auszeichnet. Gestatten Sie, Arina Petrowna, gestatten Sie, Mütterchen, Ihnen vorläufig die Hand zu küssen.“ Und er küßte ehrerbietig, sogar zärtlich die Hand seiner Frau. Das Mädchen am Fenster wandte der Szene unwillig den Rücken zu. Der hochmütig-fragende Gesichtsausdruck der Frau dagegen verwandelte sich plötzlich in einen ungewöhnlich freundlichen. „Guten Tag; setzen Sie sich, Herr Tschernomasoff,“ sagte sie. „Karamasoff, Mütterchen, Karamasoff – wir sind einfache Leute,“ flüsterte er wieder Aljoscha zu. „Nun, Karamasoff oder wie sonst, ich sage immer Tschernomasoff ... Setzen Sie sich doch! warum hat er Sie nur belästigt? Eine lahme Dame, sagte er, das ist wohl wahr, denn wenn ich auch meine Füße noch habe, so sind sie doch wie die Eimer geschwollen, ich selbst bin gänzlich verdorrt. Früher war ich so dick, jetzt aber bin ich, als ob ich eine Nadel verschluckt hätte ...“ „Wir sind einfache Leute, einfache Leute,“ sagte noch einmal der Hauptmann. „Papa, ach Papa!“ sagte plötzlich das bucklige Mädchen, das bis dahin geschwiegen hatte, und bedeckte das Gesicht mit dem Taschentuch. „Spielt wieder den Bajazzo!“ stieß die andere am Fenster hervor. „Sehen Sie, was es für Neuigkeiten bei uns gibt,“ sagte die Mama, auf die Töchter weisend, „ganz wie vorüberziehende Wolken; sind die Wolken vorübergezogen, so beginnt von neuem unsere Musik. Früher, als mein Mann noch Militär war, kamen viele Gäste zu uns. Ich will das ja nicht mit dem vergleichen, was jetzt ist. Wenn einmal einer jemanden liebt, so soll er ihn auch lieben. Da kam denn auch die Frau des Diakons zu mir und sagte: Alexander Alexandrowitsch ist in der Seele der beste Mensch, Nastassja Petrowna aber, sagt sie, ist die wahre Höllenbrut. – Nun, antwortete ich, das kommt darauf an, wer wen vergöttert, du aber bist wohl nur ein kleines Häufchen, stinkst jedoch gehörig. – Dich aber, sagte sie, muß man unterm Daumen halten. – Ach du, sage ich, du schwarzer Schleppsäbel, wen bist du hier belehren gekommen? – Ich, sagte sie, ich lasse reine Luft herein, du aber bist unreine Luft. – Frage doch, sage ich ihr, frage doch alle Herren Offiziere, ob in mir schlechte Luft ist, oder was sonst für eine? Und das sitzt mir seit der Zeit so sehr auf dem Herzen, daß ich noch vor einigen Tagen – ich saß ganz so wie jetzt – diesen General hier eintreten sah, denselben, der auch zu Ostern schon hier war: Was, frage ich ihn, Exzellenz, kann man wohl einer vornehmen Dame reine Luft zulassen? – Ja, antwortete er, man müßte hier wirklich ein Klappfenster oder die Tür ein wenig aufmachen, denn auch mir scheint es, daß die Luft hier bei Ihnen nicht sehr frisch ist. Nun, und so sind sie alle. Und was haben sie nur an meiner Luft auszusetzen? Tote riechen doch noch viel schlechter. Ich sagte darauf: Werde eure Luft nicht mehr verderben, werde mir Schuhe bestellen und fortgehen. Meine Lieben, meine Täubchen, macht doch eurer leiblichen Mutter keine Vorwürfe! Nikolai Iljitsch, mein Väterchen, oder mache ich es dir denn nicht recht? Alles, was ich habe, ist doch, daß Iljuschetschka aus der Schule heimkehrt und mich liebt. Gestern hat er mir noch einen Apfel mitgebracht. Verzeiht, verzeiht, meine Lieben, eurer leiblichen Mutter, verzeiht mir Einsamen, aber wodurch ist euch nur meine Luft so zuwider geworden?“ Und die arme Irrsinnige brach in Tränen aus, in Strömen flossen ihre Tränen herab. Der Hauptmann sprang sofort eilig zu ihr hin. „Mütterchen, Mütterchen, Täubchen, laß gut sein, laß gut sein! Bist doch nicht einsam. Alle lieben dich, alle vergöttern dich!“ Und wieder küßte er ihre Hände und streichelte ihr Gesicht; und plötzlich nahm er die Serviette und begann ihre Tränen abzuwischen. Aljoscha schien es, daß auch seine Augen feucht erglänzten. „Nun, Verehrtester, haben Sie gesehen, gehört?“ fragte er plötzlich, fast jähzornig Aljoscha und wies dabei auf die arme Schwachsinnige. „Ich sehe und höre,“ sagte Aljoscha leise. „Papa, Papa! Wie kannst du nur mit ihm ... Laß ihn doch, Papa!“ rief plötzlich der Knabe, der sich auf seinem Lager erhoben hatte und den Vater mit heißem Blick ansah. „Wann werden Sie endlich aufhören, Ihre dummen Possen zu spielen, die doch nie zu etwas Gescheitem führen! ...“ rief ihm aus derselben Ecke bereits ganz aufgebracht Warwara Nikolajewna zu und stampfte mit dem Fuße auf. „Diesmal sind Sie vollkommen im Recht, wenn Sie außer sich geraten, Warwara Nikolajewna, und ich werde Sie gern zufriedenstellen. Nun, nehmen Sie mal Ihre Mütze, Alexei Fedorowitsch, und auch ich werde meinen Hut nehmen, und gehen wir, Verehrtester. Ich muß noch ein ernstes Wörtchen mit Ihnen reden, nur außerhalb dieser Wände. Sehen Sie dieses sitzende Mädchen – das ist meine Tochter Nina Nikolajewna, ich vergaß es, Sie ihr vorzustellen: ein leibhaftiger Engel Gottes ... der zu uns Sterblichen herniedergeflogen ist ... wenn Sie das nur begreifen können ...“ „Er zittert ja am ganzen Körper, als ob er Krämpfe hätte,“ stieß Warwara Nikolajewna wieder unwillig hervor. „Und diese dort, die jetzt vor Unwillen über mich mit den Füßchen stampft und mich vor kurzem Bajazzo betitelte – das ist gleichfalls ein leibhaftiger Engel Gottes, und sie hat mich auch ganz richtig benannt. Doch gehen wir jetzt, Verehrtester, dem muß man ein Ende machen ...“ Sie gingen hinaus auf die Straße. VII. Und in frischer Luft „Hier ist die Luft frisch und rein: in meinem Hause aber ist es wirklich nicht frisch – sogar in keiner Beziehung. Gehen wir langsam, Verehrtester. Gern würde ich Sie für mich interessieren.“ „Und auch ich habe Wichtiges mit Ihnen zu sprechen ...“ bemerkte Aljoscha, „nur weiß ich nicht, wie ich anfangen soll.“ „Wie sollten Sie denn nichts zu besprechen haben! Wären Sie doch sonst nie zu mir gekommen. Oder sind Sie vielleicht nur gekommen, um sich über den Jungen zu beklagen? Das ist doch unwahrscheinlich. Ach, bei der Gelegenheit: ich konnte Ihnen dort nicht alles so erklären, aber hier werde ich Ihnen alles sagen. Sehen Sie, der Bastwisch war noch vor einer Woche viel dichter – ich rede von meinem Bärtchen; dieses Bärtchen heißt ja der Bastwisch, so haben es die Schuljungen doch benannt. Nun, sehen Sie, wie mich da Ihr Bruder Dmitrij Fedorowitsch Karamasoff am Barte zog, wegen nichts und wieder nichts, er suchte einfach Händel, und ich kam ihm in die Quere – da zog er mich hinaus auf den Großen Platz, und da kamen gerade die Schuljungen aus der Schule und unter ihnen auch Iljuscha. Wie der mich so am Bart gezogen erblickte, stürzte er zu mir: ‚Papa!‘ schreit er, ‚Papa!‘ hält mich, umarmt, umklammert mich, will mich befreien, losreißen, schreit meinem Beleidiger zu: ‚Verzeihen Sie, verzeihen Sie, das ist doch mein Papa, mein Papa, verzeihen Sie ihm!‘ – fleht, wie ich sage ‚Verzeihen Sie!‘ – umklammert ihn mit seinen kleinen Ärmchen und küßt, küßt seine Hand ... Ich weiß, ich weiß noch, was für ein Gesichtchen er in diesem Augenblick hatte, habe es nicht vergessen und werde es auch nie vergessen! ...“ „Ich schwöre Ihnen,“ sagte Aljoscha sofort, „mein Bruder wird Ihnen in der aufrichtigsten Weise sein tiefes Bedauern, seine Reue beweisen, meinetwegen kniend auf demselben Platz; ich werde ihn dazu zwingen, oder er wird nicht mehr mein Bruder sein!“ „Ach so, dann war das also nur ein Projekt. Dann ging das nicht von ihm aus, sondern wurde nur von Ihnen in einer heißen Regung Ihres guten Herzens gesagt. Ja, dann hätten Sie es aber auch so darstellen sollen. Nein, Verehrtester, da lassen Sie mich zuerst einmal alles sagen, zumal ich die ritterliche Offiziershaltung Ihres Bruders nicht verheimlichen will, o nein, denn die hat er damals tatsächlich bewiesen. Als er nämlich endlich meinen Bart losließ und mich freigab, sagte er: ‚Wir sind beide Offiziere, wenn du einen Sekundanten finden kannst, einen anständigen Menschen, so schick ihn zu mir – werde dir Satisfaktion geben, wenn du auch ein Schurke bist!‘ Sehen Sie, das sagte er! Das war wahrhaft ritterlicher Geist! Wir entfernten uns damals, Iljuscha und ich, doch dieses Bild ist auf ewig in Iljuschenkas Seele geblieben. Wie soll ich mich denn mit ihm duellieren! Sagen Sie sich doch selbst, Sie sind doch soeben in meiner Wohnung gewesen – was haben Sie gesehen? Drei Damen sitzen dort, von denen ist die eine ohne Füße und schwachsinnig, die andere ohne Füße und verwachsen, die dritte aber hat Füße und ist beinahe gar zu klug, ist Studentin und will unbedingt wieder nach Petersburg, um dort an den Ufern der Newa die Rechte der russischen Frau zu suchen. Von Iljuscha rede ich schon gar nicht, der ist erst neun Jahre alt, mutterseelenallein. Wenn ich aber nun sterbe – was soll dann mit meinem ganzen Nest werden, nur das allein frage ich Sie? Wenn ich ihn nun fordere und er mich erschießt, was dann? Was soll dann aus ihnen werden? Oder, was noch schlimmer wäre, wenn er mich zum Krüppel schießt? Arbeiten und verdienen ist dann ausgeschlossen, der Mund aber bleibt, und wer wird ihn dann füttern, diesen Mund, und wer wird sie dann alle ernähren? Oder sollte ich Iljuscha anstatt in die Schule täglich betteln schicken? Da sehen Sie, was das für mich bedeuten würde: ihn zum Duell herauszufordern. Ein dummes Wort ist das und weiter nichts.“ „Er wird Sie um Verzeihung bitten, er wird sich dort mitten auf dem Platz vor Ihnen bis zur Erde verneigen!“ rief Aljoscha mit aufflammendem Blick aus. „Ich wollte die Sache vor Gericht bringen,“ fuhr der Hauptmann fort, „aber blättern Sie doch den Kodex durch und fragen Sie sich dann, wieviel ‚Schadenersatz‘ ich für persönliche Beleidigung von dem Beleidiger bekommen würde? Und da läßt mich noch plötzlich Agrafena Alexandrowna zu sich rufen und sagt: ‚Wage nicht, daran auch nur zu denken! Wenn du ihn vors Gericht bringst, so werde ich dafür sorgen, daß es alle Welt erfährt, warum er dich am Bart gezogen hat: wegen deiner Schurkereien, und dann wird man _dich_ verklagen.‘ Sieht doch nur Gott allein, durch wen besagte Schurkerei entstanden ist, auf wessen Befehl ich damals wie ein kleiner Kaufmann gehandelt habe, ob nicht etwa auf ihre eigene und Fedor Pawlowitschs Anordnung? ‚Und zudem,‘ sagte sie, ‚werde ich dich fortjagen und dir hinfort nichts mehr von mir zu verdienen geben. Meinem Kaufmann werde ich es gleichfalls sagen‘ – so nennt sie ihn, den Alten –, ‚dann wird auch er dich nicht mehr beschäftigen.‘ Und so denke ich denn, wenn auch der Kaufmann mich fortjagt, was soll dann aus mir werden, wo kann ich dann noch verdienen? Sind mir doch jetzt nur noch diese beiden geblieben, da Ihr Vater Fedor Pawlowitsch Karamasoff mir nicht nur sein Vertrauen entzogen hat, sondern mich aus einem nebensächlichen Grunde, nachdem er sich meine Quittungen gesichert hat, obendrein noch verklagen will. Infolgedessen bin ich denn still geworden, und mein ‚Inneres‘ – haben Sie gesehen. Doch jetzt erlauben Sie zu fragen: Hat er Ihnen wirklich schmerzhaft in den Finger gebissen, Iljuscha meine ich? In seiner Gegenwart konnte ich mich nicht entschließen, auf dieses Gespräch einzugehen.“ „Ja, sehr schmerzhaft, er war aber sehr gereizt. Er hat sich für Sie an mir, als an einem Karamasoff, gerächt, das ist mir jetzt vollkommen klar. Aber wenn Sie gesehen hätten, wie er seine Schulkameraden mit Steinen bewarf, und wie die ihm darauf antworteten! So etwas ist sehr gefährlich; sie können ihn totschlagen, es sind doch dumme Kinder; der Stein fliegt und kann den Kopf treffen.“ „Und hat auch schon getroffen, nur nicht den Kopf, wohl aber die Brust: etwas über dem Herzen hat er einen blauen Fleck. Er kam weinend nach Haus, stöhnte, und jetzt ist er davon krank geworden.“ „Aber er greift sie ja zuerst an, fällt als erster über sie her! Er will sich für Sie rächen. Die Jungen sagten, er habe einen Mitschüler, Krassotkin, mit dem Federmesser in die Seite gestochen ...“ „Ich weiß, die Sache kann gefährlich werden. Krassotkin ist der Sohn eines hiesigen Beamten, da kann man noch Unannehmlichkeiten haben ...“ „Ich würde Ihnen raten,“ fuhr Aljoscha fort, „ihn eine Zeitlang überhaupt nicht in die Schule zu schicken, bis er sich beruhigt ... dieser Zorn wird ja vergehen ...“ „Zorn!“ griff der Hauptmann sofort das Wort auf, „Sie haben es richtig benannt. Er ist ein kleines Wesen, aber sein Zorn ist um so größer. Sie kennen noch nicht alles; erlauben Sie, daß ich Ihnen die ganze Geschichte erzähle. Die Sache ist nämlich die, daß ihn seit der Zeit alle Jungen in der Schule ‚Bastwisch‘ zu necken begonnen haben. Kinder sind in der Schule ein unbarmherziges Volk; einzeln sind sie die reinen Engel Gottes, zusammen aber sind sie erbarmungslos. So haben sie ihn denn geneckt, in ihm aber ist der edle Sinn erwacht. Ein gewöhnlicher Knabe ist ein gleichgültiger Sohn – der hätte sich in diesem Falle geduckt, würde sich seines Vaters geschämt haben. Iljuscha dagegen hat sich gegen alle für den Vater erhoben; für den Vater und für die Wahrheit, für die Gerechtigkeit. Denn was er damals, als er Ihrem Bruder die Hand küßte und ihn anflehte: ‚Verzeihen Sie meinem Papa!‘ – was er damals empfunden hat, das weiß nur Gott allein ... und ich. So lernen unsere Kinderchen – das heißt, nicht Ihre, sondern unsere, die Kinder der Verachteten, der anständigen Bettler, ja, so lernen unsere Kinderchen die Wahrheit auf Erden schon mit neun Jahren kennen. Wie sollten das die Reichen! Die kommen zeitlebens nicht bis zu dieser Tiefe! Mein Iljuscha aber hat in demselben Augenblick, als er dort auf dem Platz die Hand küßte, in demselben Augenblick hat er die ganze Wahrheit durchlebt. Diese Wahrheit durchdrang ihn und erfüllte ihn auf ewig!“ sagte erregt und leidenschaftlich der Hauptmann und schlug sich dabei mit der rechten Faust in die linke Hand, als ob er damit zeigen wollte, wie die „Wahrheit“ seinen Iljuscha durchdrungen und erfüllt hatte. „... An jenem Tage hatte er Fieber und phantasierte die ganze Nacht. Er sprach nur wenig mit mir, schwieg endlich ganz, nur bemerkte ich – wie er aus der Ecke auf mich sieht, sieht und sich immer mehr zum Fenster neigt und tut, als lernte er seine Aufgaben, aber ich sehe ja doch, daß er nicht Aufgaben im Sinn hat. Am nächsten Tage trank ich mich an vor Leid, weiß nicht mehr viel von diesem Tage, bin ein sündiger Mensch. Mütterchen hatte auch angefangen zu weinen – Mütterchen habe ich sehr lieb – nun, und so hatte ich mich denn berauscht. Sie, Verehrtester, verachten Sie mich nicht: In Rußland sind die Trinker die besten Menschen. Die allerbesten Menschen sind bei uns die allerbetrunkensten. Ich lag also am zweiten Tage und weiß nicht mehr viel von Iljuscha; gerade an diesem Tage aber hatten die Schüler ihn zu necken begonnen: ‚Bastwisch‘, haben sie ihm zugeschrien, ‚dein Vater ist am Bastwisch auf den Großen Platz hinausgezogen worden, du aber bist nebenhergelaufen und hast um Verzeihung gebeten.‘ Am dritten Tage kam er wieder aus der Schule, nur sehe ich – er ist gar nicht mehr zu erkennen, ganz bleich. Was fehlt dir? frage ich. Er schweigt. Nun, im Zimmer kann man nicht gut reden, da mischen sich gleich Mütterchen und die Mädchen hinein – zudem hatten die Mädchen alles gleich am ersten Tage erfahren. Warwara Nikolajewna begann schon zu brummen: ‚Bajazzo, kann er denn je etwas Vernünftiges tun?‘ – ‚Ganz recht,‘ antwortete ich ihr, ‚können wir denn je etwas Vernünftiges tun?‘ Damit machte ich mich los. In der Dämmerstunde ging ich dann mit dem Jungen spazieren. Sie müssen nämlich wissen, daß wir an jedem Abend so spazieren zu gehen pflegten, denselben Weg, den wir jetzt gehen, von unserer Hoftür bis zu jenem großen, einsamen Stein, der dort so verwaist am Zaune liegt, dort, wo die Stadtweide beginnt: es ist ein einsamer und schöner Platz zum Sitzen. Wir gehen also, Iljuscha und ich, sein Händchen ist in meiner Hand, wie gewöhnlich; solch ein winzig kleines Händchen hat er, so dünne, kalte Fingerchen – hat doch ein so schwaches, kränkliches Brüstchen. ‚Papa,‘ sagt er, ‚Papa!‘ – Was? frage ich, sehe schon, seine Äuglein blitzen. – ‚Papa, wie hat er dich nur ... Papa!‘ – Was ist dabei zu machen, Iljuscha? sage ich. – ‚Versöhne dich nicht mit ihm, Papa, söhne dich nicht mit ihm aus. Die Schüler sagen, er habe dir dafür zehn Rubel gegeben.‘ – Nein, Iljuscha, sage ich, ich werde unter keiner Bedingung von ihm Geld nehmen. Wissen Sie, sein ganzes Körperchen erzitterte; er ergriff mit beiden Händchen meine Hand und küßte sie immer wieder. – ‚Papa,‘ sagte er, ‚Papa, fordere ihn zum Duell; in der Schule sagen sie, du seiest ein Feigling und würdest ihn nicht fordern, vielmehr zehn Rubel von ihm nehmen.‘ – Zum Duell, Iljuscha, kann ich ihn nicht fordern, antwortete ich und erklärte ihm kurz, wie ich es auch Ihnen soeben erklärt habe, warum ich es nicht kann. Er hörte mir aufmerksam zu: ‚Papa,‘ sagte er, ‚Papa, aber trotzdem söhne dich nicht mit ihm aus, ich werde groß werden, ihn dann fordern und totschlagen!‘ Seine Äuglein glänzen und brennen. Nun, ich bin doch sein Vater, muß ihm doch ein Wort der Wahrheit sagen: Es ist Sünde, sage ich, zu töten, und wäre es im Zweikampf. – ‚Papa,‘ sagt er, ‚Papa, ich werde ihn niederwerfen, wenn ich groß bin, ich werde ihm seinen Säbel mit meinem Säbel aus der Hand schlagen, werde mich auf ihn stürzen, ihn niederwerfen, werde meinen Säbel über ihm schwingen und ihm sagen: Könnte dich sofort erschlagen, aber ich verzeihe dir, da hast du’s!‘ – Sehen Sie, sehen Sie, Karamasoff, was in seinem Köpfchen inzwischen vorgegangen war, in diesen zwei Tagen! An diese Rache hat er ja Tag und Nacht gedacht, hat wahrscheinlich auch nur davon phantasiert. Nun kam er verprügelt aus der Schule heim; das erfuhr ich aber erst vor drei Tagen, und Sie haben recht: ich werde ihn nicht mehr in diese Schule schicken. Ich weiß, daß er allein gegen die ganze Klasse kämpft und noch selbst alle herausfordert. Er ist in Zorn geraten, sein Herzchen hat sich entflammt – mir wurde bange um ihn. Darauf gehen wir wieder spazieren. – ‚Papa,‘ sagt er plötzlich, ‚Papa, die Reichen sind doch die Stärksten in der Welt?‘ – Ja, Iljuscha, sage ich, es gibt in der Welt keinen Stärkeren als einen Reichen. – ‚Papa, dann werde ich reich werden, werde Offizier werden und alle niederschlagen; der Zar wird mich belohnen, ich werde dann wiederkommen, und dann wird niemand mehr wagen ...‘ Darauf schwieg er ein wenig, seine Lippen aber zuckten immer noch. – ‚Papa,‘ sagt er plötzlich, ‚wie schlecht doch unsere Stadt ist, Papa!‘ – Ja, sage ich, Iljuschetschka, unsere Stadt ist nicht sehr gut. – ‚Papa, wollen wir in eine andere Stadt fahren, in eine gute,‘ sagt er, ‚wo man uns gar nicht kennt.‘ – Ja, das wollen wir, Iljuscha, laß mich nur erst ein wenig Geld zusammensparen. Ich freute mich über die Gelegenheit, ihn von seinen traurigen Gedanken ablenken zu können, und so begannen wir denn beide, uns auszumalen, wie wir in eine andere Stadt übersiedeln würden, wie wir uns ein Pferdchen und einen Wagen kaufen wollten. Mütterchen und die Schwestern setzen wir hinein und decken sie gut zu, selbst aber gehen wir nebenher: hin und wieder setze ich auch dich hinein, ich aber gehe nebenher, denn man muß doch das eigene Pferdchen schonen, alle können sich doch nicht hineinsetzen, und so ziehen wir dann in eine andere Stadt. Das entzückte ihn förmlich, und besonders, daß es unser eigenes Pferdchen sein würde, mit dem wir fortzogen. Sie wissen doch, daß ein russischer Junge bereits zusammen mit einem Pferdchen geboren wird. Lange schwatzten wir; Gott sei Dank, dachte ich, jetzt habe ich ihn etwas zerstreut und beruhigt. Das war vorgestern abend. Gestern abend aber zeigte sich etwas ganz anderes. Am Morgen war er wieder in die Schule gegangen und so finster zurückgekehrt, gar zu finster. Am Abend nahm ich ihn bei der Hand und brachte ihn hinaus, spazieren: er schweigt, spricht kein Wort. Ein Wind hatte sich erhoben, und die Sonne hatte sich versteckt; ein Herbsttag war’s bereits, und es dunkelte auch schon. Wir gingen, und beiden war uns traurig zumut. – Nun, mein Junge, frage ich, wie werden wir uns denn auf den Weg machen? – wollte ihn auf das Gespräch von unserer Reise in die andere Stadt bringen. Er schweigt. Nur seine Fingerchen waren in meiner Hand zusammengezuckt. Schlimmes Zeichen, denke ich. Und so kamen wir, wie jetzt, zu diesem Stein, ich setze mich auf ihn; am Himmel aber sahen wir Drachen steigen, etwa dreißig an der Zahl, sie summen, und ihre Schwänze klatschen. Jetzt ist doch die Drachenzeit. Sieh mal, Iljuscha, sage ich, es ist auch für uns Zeit, unseren vorjährigen Drachen steigen zu lassen. Ich werde ihn wieder instand setzen; wo hast du ihn nur gelassen? – Mein Junge schweigt, blickt zur Seite, steht schräg von mir abgewandt. Da kam mit einemmal ein Windstoß und wirbelte den Sand auf ... Und plötzlich warf er sich an mich, umklammerte mit seinen Ärmchen meinen Hals und preßte mich an sich. Wissen Sie, wenn kleine Kinder schweigsam und stolz sind und lange ihre Tränen zurückhalten, so sind es ja, wenn das Leid zu groß wird und sie dann einmal in Tränen ausbrechen, so sind es ja nicht mehr Tränen, die sie weinen, nein, wie Bäche strömt es aus ihren Augen. Und so flossen denn seine warmen Tränenströme über mein Gesicht. Er schluchzte wie im Krampf, sein ganzes Körperchen bebte; er preßte mich an sich, ich saß auf dem Stein. ‚Papachen,‘ rief er, ‚Papachen, liebes Papachen, wie hat er dich nur so erniedrigt!‘ Da schluchzte auch ich auf; und wir saßen und schluchzten zusammen. – ‚Papachen,‘ sagt er, ‚Papachen!‘ – Iljuscha, sage ich ihm, mein Iljuschetschka! Niemand hat uns gesehen, nur Gott allein sah uns, vielleicht wird er es in mein Schuldbuch eintragen. Überbringen Sie Ihrem Bruder meinen Dank. Nein, Verehrtester, meinen Jungen werde ich nicht zu Ihrer Genugtuung bestrafen!“ Er schloß wieder in seinem boshaft mokanten Ton. Aljoscha aber fühlte doch, daß der Hauptmann schon Zutrauen zu ihm gefaßt hatte, daß dieser Mensch nicht so geredet hätte, falls er mit einem anderen zusammen gewesen wäre. Das gab Aljoscha, dessen Seele vor heimlichen Tränen bebte, wieder Hoffnung und Mut. „Ach, ich würde mich so gern mit Ihrem Jungen anfreunden!“ sagte er warm. „Wenn Sie es so machen könnten ...“ Der Hauptmann murmelte etwas vor sich hin. „Aber jetzt handelt es sich nicht darum, nicht darum, hören Sie mich an,“ fuhr Aljoscha erregt fort, „hören Sie! Ich habe einen Auftrag an Sie: Mein Bruder Dmitrij Fedorowitsch, derselbe, der Sie beleidigt hat, hat auch seine Braut, von der Sie wohl schon gehört haben, beleidigt. Ich habe das Recht, zu Ihnen von dieser Beleidigung zu sprechen; ich muß es sogar tun, denn sie selbst hat mir, nachdem sie von Ihrer Beleidigung und Ihren unglücklichen Verhältnissen erfahren, sie selbst hat mir soeben – vorhin vielmehr – den Auftrag gegeben, Ihnen diese Unterstützung von ihr zu überbringen ... nur von ihr allein, nicht von Dmitrij Fedorowitsch, der sie verlassen hat, nein, nein, und auch nicht von mir, seinem Bruder, oder von sonst jemandem, sondern von ihr, von ihr allein! Sie läßt Sie aufrichtig bitten, von ihr diese Hilfe anzunehmen ... Sie sind beide von ein und demselben Menschen beleidigt ... Sie hat sich auch erst dann Ihrer erinnert, als sie von ihm eine ebenso große Beleidigung erfahren hatte –, von demselben, der auch Sie beleidigt hat ... Sie kommt mit ihrer Hilfe wie eine Schwester zum Bruder ... Sie hat mich beauftragt, Sie zu überreden, von ihr diese zweihundert Rubel anzunehmen ... wie von einer Schwester, die Ihre Not kennt. Niemand wird etwas davon erfahren, Sie brauchen also keine häßlichen Klatschgeschichten zu fürchten ... hier sind die zweihundert Rubel, und ich schwöre es Ihnen, Sie müssen sie annehmen, oder ... oder alle Menschen müssen fortan untereinander Feinde sein! Aber es gibt doch in der Welt auch Brüder ... Sie haben ein edles Herz ... Sie müssen das annehmen, Sie müssen es tun!“ Und Aljoscha hielt ihm die beiden neuen Hundertrubelscheine hin. Sie waren an dem großen, einsamen Stein am Zaun stehen geblieben, ringsum war kein Mensch zu sehen. Die regenbogenfarbenen Scheine machten auf den Hauptmann, wie es schien, einen erschütternden Eindruck: er fuhr zusammen, doch drückte sich auf seinem Gesicht zuerst nur maßloses Erstaunen aus; solch einen Ausgang des Gesprächs hatte er nicht erwartet. Daß ihm von irgend jemand eine Unterstützung, und noch dazu eine so bedeutende, zuteil werden konnte – das hätte er nie für möglich gehalten. Er nahm die beiden Scheine, konnte aber noch nicht antworten; etwas ganz Neues drückte sich in seinem Gesichte aus. „Das mir? mir? so viel Geld? Zweihundert Rubel! Väterchen! Ich habe doch schon seit vier Jahren nicht mehr soviel Geld gesehen – Herrgott! Und er sagt, als Schwester ... ist das denn wirklich wahr, ist denn das wahr?“ „Ich schwöre Ihnen, daß alles, was ich Ihnen gesagt habe, wahr ist!“ Der Hauptmann errötete. „Hören Sie mich, mein Liebling, hören Sie, wenn ich das nun annehme, so werde ich doch deswegen kein Schuft sein? In Ihren Augen, Alexei Fedorowitsch, werde ich es doch nicht sein? Nein, Alexei Fedorowitsch, hören Sie mich an,“ stotterte er, sich übereilend, und berührte Aljoscha immer wieder mit beiden Händen. „Sie sagen, sie schickt mir das als ‚Schwester‘, um mich zu überreden; aber bei sich – werden Sie mich nicht verachten, wenn ich es annehme, wie?“ „Aber nein doch, warum sollte ich dies tun? Ich schwöre Ihnen bei meinem Seelenheil, daß ich’s nicht tun werde. Und niemand wird etwas davon erfahren: außer Ihnen nur ich, sie und noch eine Dame, ihre beste Freundin ...“ „Ach was, Dame! Hören Sie, Alexei Fedorowitsch, hören Sie mich zu Ende; jetzt müssen Sie mich aber anhören, denn Sie können sich ja gar nicht denken, was diese zweihundert Rubel für mich bedeuten,“ fuhr der Arme, bebend vor Erregung, fort. Er schien mehr und mehr in eine geradezu wilde Begeisterung zu geraten. Er sprach halb besinnungslos, beeilte sich aber sehr, als ob er gefürchtet hätte, man würde ihn vielleicht nicht alles sagen lassen. „Abgesehen davon, daß es von der so verehrten und heiligen ‚Schwester‘ ehrlich erworben ist, kann ich jetzt, wissen Sie das auch, unser Mütterchen und Ninotschka, meinen verwachsenen Engel, meine Tochter, meine ich, gesund machen! Doktor Herzenstube kam einmal aus reiner Güte zu mir, untersuchte sie beide eine ganze Stunde lang: ‚Davon‘, sagte er, ‚begreife ich nichts‘, aber ein gewisses Mineralwasser, das auch hier in der Apotheke zu haben ist – er hat den Namen aufgeschrieben – würde ihr doch zweifellos Erleichterung bringen, und auch Fußbäder hat er angeordnet. Das Mineralwasser aber kostet dreißig Kopeken, und trinken soll sie ungefähr vierzig Flaschen. So nahm ich denn das Rezept und legte es auf das Regal unter die Heiligenbilder, dort liegt es heute noch. Und Ninotschka, sagte er, sollte man noch in einer gewissen Lösung baden, heiße Bäder und zweimal täglich, morgens und abends. Aber wie sollten wir denn solche Bäder machen, bei uns, in unserem Zimmer, ohne Dienstboten, ohne Hilfe, ohne Geschirr und ohne Wasser? Ninotschka aber ist ganz rheumatisch, das habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt; in der Nacht schmerzt ihr die ganze rechte Seite; oh, wie sie sich quält; aber was glauben Sie wohl, sie ist ganz still, unser Engelchen, nimmt alle Kraft zusammen, um nicht zu stöhnen, uns nicht aufzuwecken oder auch nur Sorgen zu machen. Wir essen, was wir gerade haben, was man so zusammenbekommt; sie aber nimmt immer das letzte Stückchen, was man eigentlich nur noch Hunden vorwerfen könnte. Und der Blick, mit dem sie’s tut, sagt noch förmlich: ‚Bin dieses Stückchen nicht wert, ich nehme es euch fort, lebe nur euch zur Last.‘ Sehen Sie, das ist es, was ihr Engelsblick sagen will. Wenn wir sie bedienen, quält es sie: ‚Bin es doch nicht wert, ich bin doch ein unnützer Krüppel, bin doch ganz überflüssig und nur allen im Wege auf der Welt!‘ Sie soll es nicht wert sein, sie, die uns doch durch ihre Engelsgüte von Gott Verzeihung erbittet ... wäre doch ohne sie, ohne ihr sanftes Wort, die Hölle bei uns ... sogar Warjä ist durch sie sanfter geworden. Aber Warwara Nikolajewna verurteilen Sie auch nicht, die ist gleichfalls ein Engel, hat gleichfalls viel erduldet. Sie kam im Sommer her und hatte sich noch sechzehn Rubel erspart, mit Stunden verdient, um damit im September, also jetzt, nach Petersburg zurückfahren zu können. Wir aber haben ihr Geld verlebt, und nun hat sie nichts, womit sie zurückfahren könnte. Und auch abgesehen davon, kann sie nicht fahren, da sie doch wie ein Sträfling für uns arbeiten muß ... haben wir sie doch wie ein Pferd gesattelt, um auf ihr zu reiten: sie wartet allen auf, flickt, wäscht, fegt das Zimmer aus, bringt das Mütterchen zu Bett – Mütterchen aber ist irrsinnig, Verehrtester, Mütterchen weint beständig, Mütterchen ist krank! ... Aber für diese zweihundert Rubel kann ich doch eine Dienstmagd annehmen, begreifen Sie das auch, Alexei Fedorowitsch, kann ich meine Lieben gesund machen, kann ich meine Studentin nach Petersburg schicken, kann ich Rindfleisch kaufen, eine neue Diät einführen ... Herrgott, das ist doch! ...“ Aljoscha war selig, daß er soviel Glück hatte bringen können, und daß der Arme einwilligte, das Geld zu nehmen. „Halt, Alexei Fedorowitsch, halt!“ Jenem schien plötzlich ein neuer Gedanke zu kommen, und wieder begann er in seiner sich überhastenden, besinnungslosen Weise weiterzusprechen. „Wissen Sie auch, daß wir jetzt, Iljuscha und ich, wirklich unseren Plan ausführen können? Wir werden uns einen verdeckten Wagen und ein Pferdchen kaufen, einen kleinen Rappen, er wollte unbedingt einen Rappen haben, und so ziehen wir denn ab, wie wir vor drei Tagen beschlossen. Ich habe im K-schen Gouvernement einen bekannten Advokaten, einen Jugendfreund, der, hat man mir gesagt, würde mir, wenn ich hinkäme, eine Stelle als Schreiber geben; wer kann’s denn wissen, vielleicht wird er auch wirklich was geben ... Nun, dann setzen wir Mütterchen und Ninotschka hinein, Iljuschetschka laß ich kutschieren, selbst aber gehe ich zu Fuß nebenher, und so würden wir fortziehen ... Herrgott, und wenn man nur noch eine einzige verlorene Schuld hier ausgezahlt bekäme, so würde es vielleicht wirklich dazu reichen!“ „Es wird reichen, es wird reichen!“ versicherte Aljoscha freudig. „Katerina Iwanowna wird Ihnen noch mehr geben, soviel Sie wollen, und auch ich habe Geld, nehmen Sie, soviel Sie brauchen, wie von einem Bruder, einem Freunde; später können Sie es ja wiedergeben ... Sie werden doch reich werden, bestimmt sogar! Und wissen Sie, das ist das Beste, was Sie sich ausgedacht haben, in ein anderes Gouvernement zu fahren! Das ist wirklich eine Rettung für Sie und besonders für Ihren Jungen! Nur sobald als möglich, vor der Kälte noch, vor dem Winter. Dann werden Sie uns von dort schreiben, und wir werden Brüder bleiben ... Nein, das ist kein Traum!“ Aljoscha wollte ihn fast umarmen, dermaßen glücklich war er. Doch da blickte er ihn an und blieb erschrocken stehen: Der Hauptmann stand mit vorgestrecktem Hals, vorgeschobenen Lippen, mit bleichem Gesicht, das plötzlich einen ganz wahnsinnigen Ausdruck hatte, und bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen, es war aber kein Laut zu hören. Er bewegte nur immer noch die Lippen – es war so sonderbar. „Was haben Sie!“ fragte Aljoscha zusammenfahrend. „Alexei Fedorowitsch ... ich ... Sie ...“ murmelte stockend der Hauptmann und blickte ihn so seltsam und wild und doch stier an, als ob er sich entschlösse, sich in einen Abgrund zu stürzen, und doch schienen seine Lippen gleichsam zu lächeln. „Ich ... Sie ... Soll ich Ihnen nicht ein kleines Kunststück zeigen!“ stieß er plötzlich in schnellem, entschlossenem Geflüster hervor; seine Worte stockten nicht mehr. „Was für ein Kunststück?“ „Ein kleines Kunststück, so ein kleines Stückchen,“ fuhr der Hauptmann immer noch flüsternd fort; sein Mund verzog sich auf die linke Seite, das linke Auge kniff sich zusammen, und unverwandt blickte er Aljoscha an, als ob er sich mit seinem Blick in ihn einhaken wolle. „Was fehlt Ihnen, was haben Sie, was für ein Stückchen?“ fragte Aljoscha aufs äußerste erschrocken. „Solch eines, sehen Sie!“ stieß plötzlich der Hauptmann heiser hervor. Und er nahm beide Scheine, die er die ganze Zeit, während des ganzen Gesprächs, an einem Eckchen zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gehalten hatte, zeigte sie ihm – und plötzlich packte er sie wie in rasender Wut und knitterte und preßte sie in der rechten Faust zusammen. „Sehen Sie, sehen Sie!“ schrie er Aljoscha bleich und rasend zu, erhob die Faust und schleuderte die beiden zerknitterten Scheine in den Sand. – „Sehen Sie!“ schrie er wieder auf sie hinweisend, „nun, dann sehen Sie! ...“ Und plötzlich begann er in wilder Wut mit dem Stiefelabsatz auf das Geld zu stampfen, und bei jedem neuen Stoß schrie und stöhnte er auf: „Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld!“ Und mit einem Ruck sprang er zurück und stellte sich in Positur vor Aljoscha: Sein ganzer Mensch drückte unbeschreiblichen Stolz aus. „Sagen Sie denen, die Sie gesandt haben, daß der Bastwisch seine Ehre nicht verkauft!“ schrie er, mit ausgestrecktem Arm. Er wandte sich schnell um und lief zurück; doch schon nach ein paar Schritten drehte er sich um und winkte mit der Hand einen Gruß zu. Und wieder lief er keine fünf Schritt, als er sich nochmals umwandte: diesmal aber war sein Gesicht nicht vom Lachen verzerrt, sondern zuckend von Tränen überströmt, und mit weinender, schluchzender Stimme schrie er ihm noch zu: „Was sollte ich meinem Jungen sagen, wenn ich von Ihnen das Geld für unsere Schande angenommen hätte?“ Und nachdem er das geschrien hatte, lief er immer weiter, diesmal ohne sich wieder umzuwenden. Mit unerträglichem Weh blickte ihm Aljoscha nach. O, er begriff es, daß jener bis zum letzten Augenblick selbst nicht gewußt hatte, daß er das Geld ihm vor die Füße werfen werde. Der Fortlaufende wandte sich kein einziges Mal mehr um, und Aljoscha wußte es auch, daß er sich nicht mehr umwenden würde. Ihm folgen oder ihn rufen, wollte er nicht. Als aber jener seinen Blicken entschwunden war, hob er die beiden Scheine auf. Sie waren nur sehr zerknittert, plattgedrückt und in den Sand hineingetreten, sonst aber ganz heil. Sie knisterten, als Aljoscha sie auseinanderfaltete und glättete. Darauf faltete er sie wieder zusammen, steckte sie in die Tasche und begab sich zu Katerina Iwanowna, um von dem Geschehenen zu berichten. Fünftes Buch. Pro und Contra I. Das Verlöbnis Frau Chochlakoff hatte Aljoscha ungeduldig erwartet und kam ihm daher wieder im Vorzimmer entgegen. Sie hatte es furchtbar eilig, denn es war etwas sehr Wichtiges geschehen: Der hysterische Anfall Katerina Iwanownas hatte mit einer Ohnmacht geendet, darauf war „eine beängstigende, eine unglaubliche Schwäche“ über sie gekommen, sie hatte sich hingelegt, die Augen geschlossen und zu phantasieren begonnen. „Jetzt hat sie Fieber,“ fuhr Frau Chochlakoff eilig fort, „ich habe nach den Tanten und nach Herzenstube geschickt. Die Tanten sind schon hier, aber Herzenstube noch nicht. Sie sitzen alle in ihrem Zimmer und warten. Was daraus noch werden mag! Sie ist besinnungslos! Denken Sie, wenn das nun Nervenfieber wird!“ Frau Chochlakoff sah tatsächlich erschrocken aus. „Das ist aber jetzt ernst, wirklich ernst!“ fügte sie immer wieder hinzu, als ob alles, was mit Katerina Iwanowna früher geschehen war, nicht ernst gewesen wäre. Aljoscha hörte ihr sorgenvoll zu. Er wollte auch von seinem Erlebnis erzählen, doch sie unterbrach ihn bereits nach den ersten zwei Worten: sie habe keine Zeit – und bat ihn daher, zu Lise zu gehen und sie bei ihr zu erwarten. „Ach, liebster Alexei Fedorowitsch,“ flüsterte sie ihm plötzlich ins Ohr, „Lise hat mich soeben maßlos in Erstaunen gesetzt, aber sie hat mich auch gerührt, und darum verzeiht ihr mein Herz alles. Denken Sie sich nur: Kaum waren Sie fortgegangen, da bereute sie auch schon aufrichtig, sich über Sie gestern und heute, wie sie sagt, lustig gemacht zu haben. Dabei hat sie es ja gar nicht getan, sie hat doch nur gescherzt. Aber sie bereute es so aufrichtig, wirklich, bis zu Tränen, daß ich ganz erstaunt war. Niemals hat sie früher, wenn sie mir gegenüber ungezogen gewesen war, etwas ernstlich bereut; sie hat es immer nur so scherzend getan. Und Sie wissen doch, sie lacht ja fortwährend über mich. Aber nun ist sie plötzlich ernst geworden, ganz, ganz ernst. Sie schätzt Ihre Meinung so hoch, Alexei Fedorowitsch, und wenn Sie können, so seien Sie nicht gekränkt, erheben Sie keine Ansprüche. Ich tue ja auch nichts anderes, als daß ich sie schone, denn sie ist doch solch ein kluges Geschöpfchen, – werden Sie’s mir glauben? Sie sagte soeben, Sie wären von Kindheit an ihr Freund gewesen, – ‚der einzige Freund meiner Kindheit‘, – stellen Sie sich doch so etwas vor, der ‚einzige‘, – und ich? Was bin ich ihr denn gewesen? Sie hat in der Beziehung ganz außerordentlich feine Empfindungen und Erinnerungen, und zuweilen drückt sie sich in einer Weise aus, wie man es nie für möglich halten würde. So sagte sie mir zum Beispiel noch vor kurzem: Bei uns im Garten stand eine große Tanne, – das heißt, vielleicht steht sie auch jetzt noch dort, also ist kein Grund vorhanden, sich in der vergangenen Zeitform auszudrücken. Nun, Tannen sind doch keine Menschen, sie verändern sich nicht so schnell. Und was glauben Sie, Alexei Fedorowitsch, da sagt sie mir plötzlich: ‚Mama, ich habe diese Tanne immer nur als Traum gesehen‘, oder so ungefähr, sie drückte sich anders aus, – die Tanne ist doch nur ein Baum, sie aber drückte sich so aus, daß etwas ganz Besonderes dabei herauskam, und schwatzte mir darüber so befremdlichen Unsinn vor, daß ich lieber gar nicht versuchen will, alles wiederzugeben. Ich habe es auch schon vergessen. Nun, auf Wiedersehen, ich bin einfach erschüttert, ich werde wohl noch bestimmt den Verstand verlieren. Ach, Alexei Fedorowitsch, ich habe ja schon zweimal im Leben den Verstand verloren, und man hat mich dann wieder hergestellt. Gehen Sie zu Lise. Ermuntern Sie sie, wie Sie das immer so vorzüglich verstehen. Lise,“ rief sie, zu Lisas Zimmertür tretend, „ich habe dir Alexei Fedorowitsch, den du so beleidigt hast, wiedergebracht, und ich versichere dir, er ärgert sich nicht im geringsten, im Gegenteil, er wundert sich noch, wie du so etwas von ihm hast denken können!“ „_Merci_, Mama, treten Sie ein, Alexei Fedorowitsch.“ Aljoscha trat ein. Lise blickte etwas verlegen drein und errötete plötzlich über und über. Sie schien sich irgendeiner Sache zu schämen, und so begann sie denn, wie es in solchen Fällen gewöhnlich geschieht, schnell von etwas ganz Nebensächlichem zu sprechen, als ob sie sich im Augenblick wirklich nur für dieses Nebensächliche interessierte. „Alexei Fedorowitsch, Mama hat mir inzwischen die ganze Geschichte mit den zweihundert Rubeln und Ihrem Auftrag ... an diesen armen Offizier erzählt, und auch diese schmachvolle Geschichte, wie er beleidigt worden ist: und wissen Sie, wenn Mama auch entsetzlich zerstreut erzählt – sie springt immer von einem aufs andere über – ich habe doch zugehört und geweint. Sagen Sie, wie haben Sie ihm das Geld übergeben, wie hat er es angenommen, und was macht er jetzt, der Arme? ...“ „Das ist es ja, daß er es nicht angenommen hat, hier handelt es sich um eine ganze Tragödie ...“ antwortete Aljoscha, der auch seinerseits tat, als dächte er nur an das Erlebte, nur daran, daß der Hauptmann das Geld nicht angenommen hatte; Lise aber bemerkte nur zu gut, daß auch er zur Seite blickte und sich absichtlich bemühte, von Nebensächlichem zu sprechen. Aljoscha setzte sich also an den Tisch und begann zu erzählen. Da aber verließ ihn seine Verlegenheit, schon nach den ersten Worten, und es gelang ihm, auch Lise mit sich fortzureißen. Er sprach unter dem Einfluß eines echten Gefühls und der erlebten starken Eindrücke, und er erzählte gut und anschaulich. Auch früher, schon in Moskau, war er zu Lise gekommen und hatte ihr, der Kleinen, gern von dem erzählt, was mit ihm geschehen war, oder was er gelesen hatte, oder sie hatten beide von ihren Kindererlebnissen gesprochen. Zuweilen hatten sie sich auch zusammen ganze Geschichten ausgedacht, doch waren das gewöhnlich nur lustige Geschichten gewesen, über die sie dann beide herzlich lachen konnten. So fühlten sie sich denn jetzt gleichsam in jene Zeit zurückversetzt. Lise war sehr ergriffen von seiner Erzählung. Aljoscha hatte es verstanden, mit warmen Worten die Gestalt des kleinen ‚Iljuschetschka‘ zu schildern. Als er alles ausführlich beschrieben hatte, auch das letzte, wie der Unglückliche das Geld mit den Füßen in die Erde gestampft hatte, schlug Lisa die Hände zusammen und unterbrach ihn erregt: „So hat er das Geld nicht bekommen, so haben Sie ihn einfach fortlaufen lassen! Mein Gott, warum liefen Sie ihm nicht nach, warum holten Sie ihn nicht ein ...“ „Nein, Lise, es ist besser, daß ich ihm nicht nachgelaufen bin,“ sagte Aljoscha, erhob sich und schritt im Zimmer besorgt auf und ab. „Wieso besser, warum denn besser? Jetzt haben sie nichts zu essen und werden umkommen!“ „Sie werden nicht umkommen, denn diese zweihundert Rubel werden ihnen doch nicht entgehen. Morgen wird er sie nehmen. Morgen wird er sie bestimmt nehmen,“ sagte Aljoscha nachdenklich. „Wissen Sie, Lise,“ sagte er, vor ihr stehen bleibend, „ich habe hierbei einen großen Fehler begangen, doch selbst dieser Fehler ist, wie ich sehe, gut und nützlich gewesen.“ „Was für einen Fehler? Und weshalb soll er gut und nützlich sein?“ „Das werde ich Ihnen sofort erklären. Dieser Hauptmann ist ein ängstlicher Mensch mit einem schwachen Charakter. Er hat ein gequältes, doch nur allzu weiches Herz. Jetzt denke ich so: Was hat ihn denn plötzlich so beleidigt, daß er sogar das Geld zerstampfte, denn ich versichere Sie, er wußte selbst bis zum letzten Augenblick nicht, daß er es zerstampfen werde. Jetzt sehe ich ein, daß ihn vieles kränken konnte – es hätte ja in seiner Lage auch anders gar nicht sein können ... Vor allen Dingen mußte ihn schon das allein kränken, daß er sich in meiner Gegenwart so sehr über das Geld gefreut hatte. Hätte er sich nicht so sehr darüber gefreut, hätte er seine Freude nicht so offen gezeigt, hätte er sich verstellt, sich geziert, so wie andere es tun, nun dann hätte er es vielleicht noch ertragen und das Geld angenommen. So aber hatte er sich nun einmal gar zu unverhohlen gefreut, und das war es, was ihn kränkte. Ach, Lise, er ist ein aufrichtiger und guter Mensch, das ist ja das ganze Unglück in solchen Fällen! Während der ganzen Zeit, da er sprach, war seine Stimme so schwach, so haltlos, und er sprach so schnell, so schnell, er schien gleichsam zu kichern, oder vielleicht weinte er auch schon ... ja, er weinte, dermaßen groß war sein Glück ... Und auch von seinen Töchtern erzählte er ... und auch von der Anstellung, die man ihm in einer anderen Stadt versprochen haben soll ... Und kaum hatte er sein ganzes Herz ausgeschüttet, als er sich plötzlich dessen schämte – daß er mir so seine ganze Seele gezeigt hatte. Und da mag er mich denn geradezu gehaßt haben. Er gehört zu den übermäßig verschämten Armen. Am meisten aber kränkte ihn, daß er mich so schnell zu seinem Freunde gemacht, sich mir so schnell ergeben hatte. Zuerst hatte er mich stolz angefahren, wie aber dann das Geld kam, war er mir fast um den Hals gefallen. Ja, das war es, was ihn kränkte, geradeso mußte er seine Erniedrigung empfinden, und da mußte ich dann auch noch meinen Fehler begehen. Ich sagte ihm plötzlich, er werde noch mehr Geld bekommen, wenn das zur Reise nicht reichen sollte, und auch ich würde ihm von meinem Gelde so viel geben, wie er wolle. Das aber machte ihn sofort stutzig: Warum, fragte er sich wohl, warum kommt denn nun auch er noch mit seinem Gelde? Wissen Sie, Lise, es ist überaus kränkend für einen erniedrigten Menschen, wenn sich plötzlich alle als seine Wohltäter aufspielen ... habe ich sagen gehört. Der Staretz hat es einmal bemerkt. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, aber auch mir ist es schon aufgefallen. Ich selbst fühle ja gleichfalls so. Sehen Sie, wenn er auch bis zum letzten Augenblick nicht wußte, daß er die Scheine zurückweisen werde, so ahnte er es doch schon die ganze Zeit über, davon bin ich überzeugt. Darum war ja sein Entzücken auch so groß, weil er das alles ahnte ... Und wenn das alles auch sehr traurig ist, so ist es doch gut so. Ich glaube sogar, daß es besser überhaupt nicht hätte kommen können ...“ „Warum hätte es denn besser überhaupt nicht kommen können?“ fragte Lise, die Aljoscha äußerst verwundert anblickte. „Darum, Lise, weil er sonst, wenn er das Geld genommen und nicht zurückgeschleudert hätte, zu Hause vielleicht bereits nach einer Stunde über seine Erniedrigung in Tränen ausgebrochen wäre. Das würde er sogar bestimmt getan haben. Er würde geweint haben und wäre am nächsten Tage, womöglich schon vor Sonnenaufgang, eilends zu mir gekommen, um das Geld wie vorhin zurückzuschleudern. Jetzt aber ist er stolz und triumphierend fortgegangen, wenn er auch weiß, daß er sich ‚ins Verderben gestürzt hat‘. Gerade deshalb ist aber jetzt nichts leichter, als ihn, wenn möglich morgen schon, zu überreden, dieselben zweihundert Rubel anzunehmen, denn nun hat er doch seine Ehre bewiesen, hat das Geld uns Reichen vor die Füße geworfen! Er konnte doch nicht wissen, als er die Scheine in die Erde stampfte, daß ich sie ihm morgen wiederbringen werde. Und doch hatte er dieses Geld so maßlos nötig. Wenn er jetzt auch stolz ist, so wird ihm doch heute noch bewußt werden, welch eine Hilfe er zurückgewiesen hat. In der Nacht wird er noch mehr daran denken, ihm wird davon träumen, und am nächsten Morgen wird er womöglich am liebsten mich um Verzeihung bitten wollen. Da aber komme ich wieder zu ihm ... Ich kann ihm sagen: Sie sind ein stolzer Mensch, Sie haben es bewiesen, aber jetzt nehmen Sie das Geld und verzeihen Sie uns. Und dann wird er freudig annehmen!“ Aljoscha schloß ganz begeistert, und Lise klatschte vor Freude in die Hände. „Ach, das ist wahr, jetzt begreife ich es! Ach, Aljoscha, woher wissen Sie nur das alles? So jung sind Sie, und doch wissen Sie schon, was in der Seele vorgeht ... Ich hätte das alles nie so ausgedacht ...“ „Vor allen Dingen muß man ihn jetzt überzeugen, daß er mit uns allen auf gleichem Fuße steht, wenn er auch von uns Geld annimmt,“ fuhr Aljoscha in seiner Begeisterung fort, „und nicht nur auf gleichem Fuß mit uns, sondern sogar auf höherem Fuß ...“ „‚Auf höherem Fuß‘! – Sie drücken sich prachtvoll aus, Alexei Fedorowitsch, aber fahren Sie fort, reden Sie nur ruhig weiter.“ „Ich ... ich habe es vielleicht nicht ganz richtig gesagt, ich meinte, auf ... auf gleicher Stufe ... aber das hat nichts zu sagen, denn ...“ „Ach, natürlich nicht! Gar nichts hat das zu sagen! Verzeihen Sie, Aljoscha, Sie Lieber ... Wissen Sie, bis jetzt habe ich Sie fast gar nicht geachtet ... das heißt, natürlich habe ich Sie geachtet, aber nur so – ‚auf gleichem Fuß‘, wie Sie sagen, von nun an aber werde ich Sie als hoch über mir stehend achten ... Lieber Aljoscha, seien Sie nicht böse, daß ich so rede,“ unterbrach sie sich sofort mit heißem Gefühl. „Ich bin nur ein lächerliches kleines Ding, aber Sie, Sie! ... Hören Sie, Alexei Fedorowitsch, liegt nicht in unseren ganzen Erwägungen, das heißt in Ihren ... nein, lieber doch in unseren, – liegt hierin nicht Verachtung für ihn, für diesen Unglücklichen ... darin, daß wir jetzt seine Seele so zerpflücken, ganz wie von oben herab, nicht? Ich meine, wenn wir so überzeugt sind, daß er das Geld morgen nehmen wird, wie?“ „Nein, Lise, hierin liegt keine Verachtung,“ entgegnete Aljoscha überzeugt, und als ob er auf diese Frage vorbereitet gewesen wäre, „auch ich habe mich auf dem Wege hierher dasselbe gefragt. Wo soll denn da Verachtung sein, wenn wir ebenso sind wie er, wenn alle so sind wie er? Denn auch wir sind nicht besser. Oder wenn wir auch besser sein sollten, so wären wir an seiner Stelle doch ebenso ... Ich weiß nicht, wie Sie sind, Lise, ich aber denke von mir, daß ich in vielen Dingen ein kleinliches Herz habe. Er aber hat kein kleinliches, sondern ein sehr zartfühlendes Herz ... Nein, Lise, hierin kann keine Verachtung für ihn liegen! Wissen Sie, Lise, mein Staretz sagte einmal: Man muß die Menschen ausnahmslos wie kleine Kinder warten, manche von ihnen aber wie Kranke in den Hospitälern ...“ „Ach, Alexei Fedorowitsch, Liebster, wollen wir beide die Menschen wie Kranke warten?“ „Wollen wir das, Lise, ich bin bereit, nur bin ich selbst noch nicht ganz reif dazu; zuweilen bin ich so ungeduldig, und zuweilen bin ich wieder wie mit Blindheit geschlagen. Mit Ihnen ist es eine andere Sache.“ „Ach, das glaube ich nicht! Alexei Fedorowitsch, Sie wissen nicht, wie glücklich ich bin!“ „Wie gut es ist, daß Sie das sagen, Lise.“ „Alexei Fedorowitsch, Sie sind bewundernswert gut, aber zuweilen scheinen Sie gerade ein Pedant zu sein ... und doch sind Sie gar kein Pedant, wenn man Sie genauer betrachtet. – Gehen Sie, öffnen Sie vorsichtig die Tür und sehen Sie nach, ob Mamachen nicht horcht,“ flüsterte ihm Lise plötzlich nervös und eilig zu. Aljoscha ging zur Tür, öffnete sie und meldete, daß niemand horche. „Kommen Sie her, Alexei Fedorowitsch,“ sagte Lise mehr und mehr errötend, „geben Sie mir Ihre Hand, – so. Hören Sie, ich muß Ihnen ein großes Geständnis machen: Den gestrigen Brief habe ich Ihnen nicht im Scherz geschrieben, sondern im Ernst ...“ Und sie bedeckte ihre Augen mit der Hand. Man sah es ihr an, daß sie sich fürchterlich schämte, dieses Geständnis gemacht zu haben. Plötzlich erhob sie seine Hand und küßte sie ungestüm dreimal. „Ach, Lise, das ist doch herrlich,“ rief Aljoscha freudig aus. „Ich war ja auch vollkommen überzeugt, daß Sie ihn im Ernst geschrieben haben.“ „Überzeugt! – das ist doch wirklich!! ...“ Und sie schob plötzlich seine Hand zurück, übrigens ohne sie dabei loszulassen; sie errötete und lachte ein kleines, glückliches Lachen. „Ich küsse ihm die Hand, und er sagt dazu: ‚Das ist doch herrlich‘!“ Doch ihr Vorwurf war etwas ungerecht, denn Aljoscha war nicht weniger verwirrt und erregt als sie. „Ich würde Ihnen gern immer gefallen, Lise, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll,“ stotterte er so gut es ging, und errötete gleichfalls. „Aljoscha, Liebling, Sie sind kalt und beleidigend. Man denke doch nur: Er geruht, mich zu seiner Gattin zu erwählen, und dabei beruhigt er sich auch! Er ist bereits überzeugt, daß ich ihm im Ernst geschrieben habe, – wie finden Sie das! Aber das ist doch eine erklärte Frechheit – sehen Sie denn das nicht ein?“ „Aber ist denn das schlecht, daß ich davon überzeugt war?“ fragte Aljoscha wieder lachend. „Ach, Aljoscha, im Gegenteil, ganz furchtbar gut ist das,“ sagte Lise, die zärtlich und glücklich zu ihm aufblickte. Aljoscha stand immer noch vor ihr, seine Hand in ihrer Hand. Plötzlich beugte er sich nieder und drückte einen Kuß gerade auf ihre Lippen. „Was ... Was fällt Ihnen ein?“ rief Lise erschrocken. Aljoscha verlor seine letzte Fassung. „Verzeihen Sie, wenn es nicht so ... Ich ... ich war vielleicht furchtbar dumm ... Sie sagten, ich sei kalt, und ... und da faßte ich mir ein Herz und küßte ... Nur sehe ich jetzt, daß es dumm herausgekommen ist ...“ Lise lachte auf und verbarg das Gesicht in den Händen. „Und in dieser Kutte!“ kam es unter Lachen aus ihr heraus. Doch plötzlich hörte sie auf zu lachen und wurde ganz ernst, fast streng. „Nein, Aljoscha, mit dem Küssen wollen wir noch warten, denn wir verstehen es beide noch nicht – warten aber müssen wir noch sehr lange,“ schloß sie plötzlich. „Sagen Sie lieber, warum Sie mich, solch ein dummes Ding, solch ein krankes dummes Ding, nehmen, Sie, der Sie so klug sind, der so viel denkt, alles bemerkt und sogleich begreift? Ach, Aljoscha, ich bin furchtbar glücklich, weil ich Ihrer gar nicht wert bin!“ „Hören Sie, Lise: In den nächsten Tagen werde ich das Kloster ganz verlassen. Wenn man aber in der Welt lebt, so muß man heiraten, das weiß ich doch auch. Und so hat auch Er es mir befohlen. Wen sollte ich sonst nehmen, wenn nicht Sie ... und wer würde mich denn außer Ihnen nehmen? Wer wäre denn besser als Sie? Das habe ich schon bedacht. Erstens kennen Sie mich von Kindheit an, und zweitens besitzen Sie viele Fähigkeiten, die ich überhaupt nicht habe. Ihre Seele ist heiterer als die meine, und Sie sind unschuldiger als ich, ich aber habe schon vieles berührt ... Sie ... Sie wissen es nicht, aber auch ich bin doch ein Karamasoff! Was liegt daran, daß Sie lachen und scherzen und auch über mich lachen und sich lustig machen? Ich freue mich so darüber ... Aber Sie lachen nur als kleines Mädchen, doch im Herzen denken Sie wie eine Märtyrerin ...“ „Wie eine Märtyrerin? Wieso das?“ „Ja, Lise. Zum Beispiel Ihre Frage vorhin: ‚Liegt darin nicht Verachtung für jenen Unglücklichen, wenn wir seine Seele so zerpflücken?‘ – Das kann nur jemand fragen, der sich selbst martert ... Sehen Sie, es ist mir unmöglich, das auszudrücken. Wem aber solche Fragen in den Sinn kommen, der ist fähig, zu leiden ... In diesem Rollstuhl müssen Sie schon vieles durchdacht haben ...“ „Aljoscha, geben Sie mir Ihre Hand, warum haben Sie sie fortgezogen?“ sagte Lise leise mit einer ganz sonderbaren, von Glück gleichsam geschwächten, matten Stimme. „Hören Sie, Aljoscha, wie werden Sie sich kleiden, wenn Sie das Kloster verlassen haben, was für einen Anzug werden Sie tragen? Lachen Sie nicht und seien Sie mir nicht böse, das ist sehr, sehr wichtig für mich.“ „An den Anzug habe ich noch nicht gedacht, Lise, aber ich werde tragen, was Sie wollen.“ „Ich will, daß Sie ein dunkelblaues Sammetjackett tragen, eine weiße Weste und einen weichen grauen Filzhut ... Aber sagen Sie, glaubten Sie mir vorhin wirklich, als ich sagte, ich liebte Sie nicht, und mich von meinem gestrigen Brief lossagte?“ „Nein, ich glaubte Ihnen nicht.“ „O, Sie unerträglicher, Sie unverbesserlicher Mensch!“ „Ich ... ich wußte, daß Sie mich ... ich glaube, lieben, aber ich tat, als ob ich nicht glaubte, daß Sie mich lieben, damit es Ihnen ... bequemer sei ...“ „Das ist ja noch schlimmer! Ach, schlimmer, und doch am aller, allerbesten! Aljoscha, ich liebe Sie ganz furchtbar! Vorhin, als ich Sie erwartete, dachte ich so: Ich werde von ihm meinen gestrigen Brief zurückverlangen, und wenn er ihn ruhig hervorzieht und ihn mir wiedergibt – wie man das doch immerhin von ihm erwarten kann – so bedeutet es, daß er mich überhaupt nicht liebt, nichts fühlt, einfach nur ein dummer, unwürdiger Knabe ist ... und ich verloren bin. Sie aber hatten den Brief in der Zelle gelassen, und das gab mir wieder Mut. Nicht wahr, Sie haben ihn doch deswegen in der Zelle gelassen, weil Sie vorausfühlten, daß ich ihn zurückverlangen werde, also um ihn nicht herausgeben zu müssen? Nicht wahr? Darum doch? Das war doch so?“ „Ach, Lise, gar nicht so, ich habe ihn doch bei mir, und auch vorhin hatte ich ihn, hier in dieser Tasche, hier ist er.“ Und Aljoscha zog lachend den Brief aus der Tasche und zeigte ihn ihr, – doch nur von weitem. „Nur gebe ich ihn nicht heraus, sehen Sie ihn so von ferne.“ „Wie? Dann haben Sie also vorhin gelogen, Sie, ein Mönch, und Sie haben gelogen?“ „Möglich, daß ich gelogen habe,“ sagte Aljoscha lachend, „ich habe gelogen, um ihn nicht zurückgeben zu müssen. Er ist mir sehr teuer,“ fügte er plötzlich leise hinzu und errötete wieder, „Jetzt wird ihn niemand mehr von mir bekommen: Jetzt gehört er mir für mein ganzes Leben!“ Lise blickte ihn verzückt an. „Aljoscha,“ stammelte sie glückselig, „sehen Sie an der Tür nach, ob Mamachen nicht horcht.“ „Gut, Lise, ich werde nachsehen, aber wäre es nicht doch besser, nicht nachzusehen? Warum Ihre Mutter so einer Niedrigkeit verdächtigen?“ „Wieso Niedrigkeit? Welch einer Niedrigkeit? Es ist doch ihr volles Recht, ihre Tochter zu belauschen – aber keine Niedrigkeit!“ Lise wurde feuerrot. „Seien Sie überzeugt, Alexei Fedorowitsch, daß ich, wenn ich Mutter wäre und eine Tochter wie mich hätte, unbedingt an den Türen lauschen würde.“ „Wirklich, Lise? Das ist nicht recht.“ „Ach, mein Gott, was ist denn dabei Schlechtes? Wenn sie ein Gespräch zweier Fremden belauschen würde, so wäre das eine Niedrigkeit, aber hier hat sich ihre leibliche Tochter mit einem jungen Manne eingeschlossen ... Hören Sie, Aljoscha, damit Sie es wissen, ich werde auch Sie belauschen, sobald wir nur getraut sind. Ich werde sogar alle Ihre Briefe aufmachen und alles lesen ... Das sei Ihnen im voraus gesagt ...“ „Ja ... natürlich, wenn das so ist ...“ stotterte Aljoscha, „nur ist das nicht gut ...“ „Ach, welch eine Anmaßung! Aber Aljoscha, wollen wir uns nicht gleich am ersten Tage zanken, – ich werde Ihnen lieber die ganze Wahrheit sagen: Es ist natürlich sehr häßlich, andere zu belauschen, und natürlich habe nicht ich recht, sondern Sie, doch trotz alledem werde ich horchen.“ „Tun Sie, was Sie wollen. Aber Sie werden ja bei mir doch nichts auszuhorchen haben,“ sagte Aljoscha lächelnd. „Aljoscha, werden Sie sich mir auch unterwerfen? Das muß man gleichfalls im voraus besprechen.“ „Sehr gern, Lise, und sogar unbedingt, aber nur nicht im Wichtigsten. Wenn Sie einmal in der Hauptsache mit mir nicht einverstanden sein sollten, werde ich trotzdem tun, was mir die Pflicht gebietet.“ „So muß es auch sein! So hören Sie denn, daß auch ich, im Gegenteil, nicht nur im Hauptsächlichsten mich zu unterwerfen bereit bin, sondern mich Ihnen in allem unterwerfen werde und Ihnen das jetzt schwöre, – in allem und mein ganzes Leben lang!“ rief Lise leidenschaftlich aus, „und ich werde glücklich sein, das zu tun, glückselig! Und das ist noch nicht alles! Ich schwöre Ihnen noch, daß ich Sie niemals belauschen werde, kein einziges Mal, niemals, daß ich keinen einzigen Ihrer Briefe aufbrechen werde, denn _Sie_ haben recht und nicht ich. Und wenn ich auch noch so sehr horchen wollte – ich weiß, daß ich es furchtbar wollen werde –, so werde ich es doch nicht tun, werde es nicht tun, weil Sie das unedel finden! Sie sind jetzt gleichsam meine Vorsehung ... Hören Sie, Alexei Fedorowitsch, warum waren Sie in diesen Tagen so traurig, und auch gestern und heute? Ich weiß, daß Sie Sorgen und Kummer haben, aber ich sehe auch, daß Sie außerdem noch ein ganz besonderes Leid haben, – ein geheimes vielleicht, nicht?“ „Ja, Lise, ich habe auch geheimes Leid,“ sagte Aljoscha traurig. „Ich sehe, daß Sie mich lieben, hätten Sie das doch sonst nicht erraten.“ „Was ist denn das für ein Leid? Können Sie es nicht sagen?“ fragte Lise in schüchterner Bitte. „Ich werde es sagen, Lise ... später ...“ sagte Aljoscha verwirrt. „Jetzt würde es ganz unverständlich sein ... Und ich würde es auch gar nicht zu sagen verstehen.“ „Ich weiß, daß Sie außerdem noch der Gedanke an Ihre Brüder quält, an Ihren Vater?“ „Ja, auch an meine Brüder ...“ sagte Aljoscha wie in Gedanken versunken. „Ich liebe Ihren Bruder Iwan Fedorowitsch nicht,“ bemerkte plötzlich Lise. Aljoscha vernahm diese Bemerkung mit einiger Verwunderung, doch fragte er sie nicht weiter nach der Ursache. „Meine Brüder stürzen sich ins Unglück,“ fuhr er niedergeschlagen fort, „und mein Vater tut dasselbe. Und zusammen mit sich bringen sie auch noch andere ins Unglück. Das ist die ‚Karamasoffsche Erdkraft‘, wie sich Pater Paissij vor kurzem ausdrückte, das ist die grimmige, entfesselte, rohe, rasende Erdkraft ... Und ich weiß nicht einmal, ob Gottes Geist über dieser Kraft schwebt – selbst das weiß ich nicht! Ich weiß nur, daß auch ich ein Karamasoff bin ... Ein Mönch soll ich sein? Bin ich ein Mönch, Lise? Sie sagten doch noch vor einem Augenblick so etwas Ähnliches, wie ... ich sei ein Mönch?“ „Ja, ich sagte es.“ „Aber ich ... ich glaube ja vielleicht gar nicht an Gott.“ „Sie – glauben nicht? – was ist mit Ihnen?“ fragte leise und vorsichtig Lise. Doch Aljoscha antwortete nicht auf ihre Frage. Es war hier in diesen so unerwartet hervorgestoßenen Worten etwas gar zu Geheimnisvolles und gar zu Persönliches, vielleicht sogar Aljoscha selbst Unklares, etwas, das ihn zweifellos quälte. „Und jetzt, jetzt verläßt mich auch noch mein Freund, mein Staretz liegt im Sterben. Wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten, Lise, wie meine Seele mit diesem Menschen zusammenhängt! Und nun bleibe ich allein ... Ich werde zu Ihnen kommen, Lise ... Hinfort wollen wir zusammen ...“ „Ja, zusammen, zusammen! Von nun an sind wir fürs ganze Leben zusammen! ... Ljoscha, küssen Sie mich noch einmal, ich erlaube es ...“ Und Aljoscha beugte sich zu ihr nieder und küßte sie. „... Jetzt gehen Sie, Christus ist mit Ihnen!“ Und Lise bekreuzte ihn. „Gehen Sie zu _ihm_, so lange er noch lebt. Ich habe Sie grausam lange aufgehalten. Ich werde heute für ihn und für Sie beten. Aljoscha, wir werden glücklich sein! Werden wir glücklich sein, werden wir?“ „Ich glaube, wir werden es sein, Lise.“ Als Aljoscha Lise verließ, wollte er, ohne sich von Frau Chochlakoff zu verabschieden, das Haus verlassen. Doch kaum war er ins Vorzimmer getreten, als vor ihm auch schon Frau Chochlakoff stand. Bereits nach dem ersten Wort erriet Aljoscha, daß sie ihn hier absichtlich erwartet hatte. „Alexei Fedorowitsch, das ist doch entsetzlich!“ rief sie erregt. „Das sind kindische Dummheiten und nichts als Kapricen. Ich hoffe, daß Sie es nicht etwa ernst nehmen ... Dummheiten, nichts als Dummheiten!“ „Nur sagen Sie das nicht ihr,“ sagte Aljoscha, „es würde sie nur aufregen, das ist ihr jetzt schädlich.“ „Das ist ein vernünftiges Wort von einem vernünftigen jungen Mann! Ich verstehe Sie doch recht, wenn ich annehme, daß Sie nur aus Mitleid mit ihrem krankhaften Zustande, um sie nicht durch Widerspruch zu reizen, darauf eingegangen sind?“ „O nein, durchaus nicht. Ich habe es vollkommen ernst gemeint,“ sagte Aljoscha fest. „Aber das ist doch unmöglich, undenkbar! Ich werde Sie überhaupt nicht mehr empfangen, und Lise bringe ich sofort ins Ausland, das sage ich Ihnen!“ „Aber warum das?“ fragte Aljoscha, „das ist doch noch so fern, wir werden vielleicht noch ganze anderthalb Jahre warten müssen.“ „Ach, Alexei Fedorowitsch, das ist natürlich wahr, und in anderthalb Jahren werden Sie sich mit ihr natürlich tausendmal zanken und schließlich doch auseinandergehen. Aber ich bin so unglücklich, so unglücklich! Wenn es auch nur Dummheiten sind, so vernichtet es mich doch geradezu! Ich bin ja absichtlich hierher ins Vorzimmer gekommen, um Sie zu treffen. Ich habe alles gehört, ich habe kaum an mich halten können! Also das ist die Erklärung aller Schrecken dieser Nacht und aller Anfälle gestern und heute! Der Tochter Liebe ist wahrlich der Mutter Tod. Ich kann mich jetzt begraben lassen. Doch nun zur Hauptsache: Was ist das für ein Brief, den sie Ihnen geschrieben hat? Zeigen Sie ihn mir sofort, sofort!“ „Nein, das ist nicht nötig. Sagen Sie bitte, wie geht es Katerina Iwanowna, ich muß es unbedingt wissen.“ „Sie liegt noch in Fieberphantasien, sie ist noch nicht zu sich gekommen; ihre Tanten sind hier und seufzen bloß; Herzenstube kam her, erschrak aber dermaßen, daß ich nicht wußte, was ich mit ihm anfangen sollte, – ich wollte schon zu einem anderen Doktor schicken. Ich habe ihn in meiner Equipage nach Hause bringen lassen. Und plötzlich, zur Vollendung des Ganzen, noch Sie mit diesem Brief! Es ist ja wahr, daß noch anderthalb Jahre bis dahin sind. Ich beschwöre Sie, im Namen alles Heiligen und Großen, im Namen Ihres sterbenden Staretz – zeigen Sie mir diesen Brief, Alexei Fedorowitsch, mir, der Mutter! Wenn Sie wollen, halten Sie ihn mit Ihren eigenen Fingern fest, und ich werde ihn nur so in Ihren Händen lesen.“ „Nein, gnädige Frau, ich werde ihn nicht zeigen, auch wenn Lise es erlaubte, würde ich ihn nicht zeigen. Ich werde morgen wiederkommen, und wenn Sie wollen, können wir dann vieles besprechen, jetzt aber – leben Sie wohl!“ Und damit eilte Aljoscha die Treppe hinab auf die Straße. II. Ssmerdjäkoff mit der Gitarre Er hatte auch wirklich keine Zeit, noch länger da zu bleiben. Schon als er Lisa verließ, hatte ihn der Gedanke beschäftigt, wie und wo er seinen Bruder Dmitrij, der sich ersichtlich vor ihm verbarg, finden oder wenigstens ihm auflauern könnte. Es war nicht mehr früh; es war schon drei Uhr nachmittags. Er sehnte sich gar sehr nach dem Kloster und nach dem „großen“ Sterbenden, doch das Bedürfnis, seinen Bruder Dmitrij zu sprechen, überwog alles. Mit jeder Stunde wuchs in ihm die Überzeugung, daß sich eine unheimliche Katastrophe unaufhaltsam näherte, ja schon auszubrechen drohte. Was das für eine Katastrophe sein sollte, und was er seinem Bruder eigentlich sagen wollte, wußte er vielleicht selbst nicht einmal. „So mag denn meinetwegen mein Staretz in meiner Abwesenheit sterben, wenigstens werde ich mir dann nicht zeitlebens den Vorwurf machen müssen, daß ich nicht gerettet habe, wo ich hätte retten können, daß ich vorübergegangen bin, um schneller nach Haus zu kommen. Suche ich ihn aber auf, dann erfülle ich auch so sein großes Gebot.“ Aljoschas Plan bestand darin, daß er seinen Bruder mit List fangen wollte – denn wo sollte er sich wohl nach ihm erkundigen, wo ihn suchen, wenn er sich vor ihm versteckte? Zu diesem Zweck schien ihm das schlauste zu sein, über jenen Zaun der Nachbarin zu klettern und den Bruder dort in der Laube, wo er am vorhergehenden Tage mit ihm gesessen hatte, zu erwarten oder zu überraschen. „Falls er nicht dort sein sollte,“ dachte Aljoscha, „werde ich ganz still, damit mich niemand bemerkt, und meinetwegen bis zum Abend da sitzen und ihn erwarten. Denn wenn er auch heute Gruschenka auflauern will, wie gestern, so ist es sehr leicht möglich, daß er wieder in die Laube kommt ...“ Übrigens dachte Aljoscha nicht allzuviel über die Einzelheiten des Planes nach, er beschloß nur, ihn auszuführen, und wenn er auch bis Mitternacht warten müßte ... Es gelang ihm alles sehr glücklich: Er kletterte fast auf derselben Stelle über den Zaun, wo er das vorige Mal, mit Mitjäs Hilfe, hinübergesprungen war, und kam unbemerkt in die Laube. Er wollte nicht gesehen werden, weder von Foma noch von der Hausbesitzerin oder deren Tochter, da sie alle seinen Bruder auf dessen Befehl vorzeitig benachrichtigen konnten, daß er ihn suchte und erwartete. In der Laube war kein Mensch. Aljoscha setzte sich auf denselben Platz nieder, auf dem er am Tage vorher gesessen hatte, und begann zu warten. Er betrachtete die Laube, und sie erschien ihm aus irgendeinem Grunde „viel älter und zerfallener als gestern“. Der Tag war übrigens ebenso klar. „Sieh, wieviel Sonne!“ hatte Dmitrij gesagt. Auf dem grünen Tisch zeichnete sich von dem Glase ein klebrig-glänzender Kreis ab: Dmitrij mußte wohl den Kognak ein wenig verschüttet haben. Leere und gar nicht zur Sache passende Gedanken schlichen ihm durch den Sinn, wie das ja gewöhnlich in der Zeit langweiligen Wartens zu geschehen pflegt, z. B. die Fragen: warum hatte er sich genau auf denselben Platz gesetzt, auf dem er gestern gesessen hatte? warum nicht auf einen anderen Platz? Und plötzlich wurde ihm unsäglich schwer zumute: das Herz tat ihm weh von der aufregenden Ungewißheit. Doch hatte er kaum eine Viertelstunde gesessen, als plötzlich, ganz in der Nähe, ein Gitarrenakkord erklang. Irgendwo im Gebüsch, vielleicht nur zwanzig Schritte von der Laube entfernt, bestimmt nicht weiter, mußte jemand sitzen oder sich soeben hingesetzt haben. In Aljoscha tauchte flüchtig die Erinnerung an eine Bank auf, die er gestern, als er den Bruder verlassen hatte, links von der Laube gesehen hatte: eine kleine, niedrige, grüne alte Gartenbank im Gebüsch am Zaun. Auf ihr schien sich nun jemand niedergelassen zu haben. Oder waren es sogar zwei? Wer konnte das sein? Da begann plötzlich eine Männerstimme in süßlichem Falsett zu den Gitarrenakkorden ein Couplet zu singen: „Wenn sie mich nicht li–iebte, Frag ich, was mir nütz–te Zarenkron und Mütze? Großer Gott beschütze Sie und mich, Sie und mich, Sie und mich.“ Die Stimme brach ab. Es war ein Lakaientenor, und der ganze Vortrag des Couplets war dienstbotenhaft. Die andere Stimme, eine Frauenstimme, sagte plötzlich zärtlich und gleichsam schüchtern, aber mit übertriebener Geziertheit: „Warum sind Sie denn so lange nicht zu uns gekommen, Pawel Fedorowitsch, warum verachten Sie uns denn so?“ „Das ist nicht gesagt,“ antwortete die Männerstimme, wenn auch höflich, so doch vor allem mit selbstbewußter und nachdrücklicher Würde. Ersichtlich hatte der Mann das Übergewicht, während das Frauenzimmer zu schäkern schien. „Der Mann – das scheint ja Ssmerdjäkoff zu sein,“ dachte Aljoscha, „wenigstens nach der Stimme zu urteilen; die Frauensperson aber ist wohl die Tochter dieser Hausbesitzerin, dieselbe, die in Moskau gedient hat, Kleider mit langen Schleppen trägt und sich von Marfa Ignatjewna Suppe holt ...“ „Ach, ich liebe über alles schöne Gedichte, und besonders, wenn sie am Ende klappen,“ sagte wieder die Frauenstimme. „Warum fahren Sie denn nicht fort?“ Da begann wieder die Männerstimme: „Meine stärkste Stütze In dieser Sündenpfütze Ist die Geliebte mein. Großer Gott beschütze Sie und mich, Sie und mich, Sie und mich.“ „Das vorige Mal kam das noch besser heraus,“ meinte die Frauenstimme. „Sie sangen ‚ist das Liebchen mein‘. So klang es noch viel hübscher. Sie haben es wohl vergessen?“ „Gedichte sind Unsinn,“ schnitt Ssmerdjäkoff den begeisterten Erguß kurz ab. „Ach, nein, ich liebe sie so sehr!“ „Alles, was in Reimen ist, ist abgeklärter Unsinn. Bedenken Sie doch selbst: Wer in der Welt spricht denn alleweil in Reimen? Und wenn wir alle anfangen wollten, in Reimen zu sprechen, und wenn auch meinetwegen gar auf Befehl der Obrigkeit, wieviel Gescheites würden wir dann wohl alsomit sagen können? Nein, Marja Kondratjewna, Gedichte sind nichts Vernünftiges.“ „Ach wie Sie klug sind in allem, wie Sie alles wirklich zu erklären wissen!“ sagte die Frauenstimme noch zärtlicher schmeichelnd. „Nicht nur das würde ich können und nicht nur das würde ich wissen, sondern ganz gewaltig viel mehr, wenn ich nicht selbiges Los von Kindesbeinen an hätte. Ich würde jeden im Duell mit einer Pistole sogar totschießen, der mir zu sagen wagte, daß ich kein edler Mensch sei, weil ich sozusagen ohne Vater von der, die man die ‚Stinkende‘ nannte, entstanden bin. Man hat mir das auch in Moskau alleweil unter die Nase gerieben, da es sich auch dorthin von hier selbentlich, dank Grigorij Wassiljewitsch, hinverbreitet hatte. Grigorij Wassiljewitsch aber wirft mir vor, daß ich für meine Geburt nicht alleweil demütig Gott danke; ‚du hast ihr‘, sagt er, ‚den ganzen Mutterleib aufgerissen‘. Meinetwegen Mutterleib, aber ich hätte mit Handkuß erlaubt, mich im Mutterleib zu töten, unter der Bedingung, daß ich dann gar nicht auf diese Welt geboren worden wäre. Auch auf dem Markt wird von selbigem gesprochen, und auch Ihre Mutter hat in ihrer Unvornehmheit angefangen mir zu erzählen, daß sie den Weichselzopf auf dem Kopf gehabt hätte und im ganzen nur zwei Arschin und _eine Kleinigkeit_ groß gewesen sei. Warum denn ‚und eine Kleinigkeit‘, wenn man doch ‚und etwas drüber‘ sagen kann, wie es alle Leute tun? Sie wollen es wohl mitleidig ausdrücken, aber das ist doch sozusagen nur bäuerische Weinerlichkeit, bäuerisches Gefühl und sonstig nichts. Kann denn ein russischer Bauer für einen gebildeten Menschen überhaupt Gefühle haben? Wegen seiner Unbildung kann er überhaupt nichts fühlen. Und von Kindesbeinen an ist es mir, wenn ich dies ‚und eine Kleinigkeit‘ höre, als müßt ich auf die Wände rennen. Ich hasse ganz Rußland, Marja Kondratjewna.“ „Ach, sagen Sie so was nicht! Wenn Sie ein Junkerchen oder ein Husarchen wären, würden Sie das nicht sagen, sondern den Säbel herausziehen und ganz Rußland verteidigen.“ „Ich will nicht nur kein Junker sein, ich will sogar, daß alle Soldaten abgeschafft werden.“ „Und wenn der Feind kommt, wer wird uns dann verteidigen?“ „Das ist auch gar nicht nötig. Im Jahre zwölf dieses selbigen Jahrhunderts gab es einen großen Heereszug nach Rußland von dem Kaiser Napoleon, dem französischen, dem Ersten, dem Vater des jetzigen, und es wäre mannigfach gut gewesen, wenn uns diese selben Franzosen damals besiegt und uns sich unterworfen hätten: Eine kluge Nation hätte dann eine äußerst dumme unterworfen und sich einverleibt. Dann würden hier jetzt ganz andere Gesetze und Ordnungen sein.“ „Als ob dort bei ihnen alles so viel besser wäre, als bei uns! Ich würde gar manchen von unseren Stutzerchen nicht einmal gegen drei junge Engländer eintauschen,“ sagte schäkernd Marja Kondratjewna, die diese Worte wahrscheinlich mit den süßesten Blicken begleitete. „Das kommt drauf an, wie es wem gefällt.“ „Und Sie sind doch selbst wie ein echter Ausländer, da seh’ Sie doch einer nur an, aber ein ganzer Ausländer, das sage ich Ihnen ohne Beschönigung!“ „Wenn Sie was wissen wollen, so lassen Sie sich gesagt sein, daß in der Verderbnis die Ausländer wie die Inländer alle durch die Bank gleich sind. Alle sind sie dieselbigen, nur daß der dortige in Lackstiefeln geht, unser hiesiger aber in seiner Armut stinkt und darin nicht einmal was Schlechtes sieht. Das russische Volk muß man versohlen, wie neulich Fedor Pawlowitsch sehr richtig gesagt hat, wenn auch er mit all seinen Kindern ein verrückter Mensch ist und bleibt.“ „Aber Sie haben doch selbst gesagt, daß Sie den Iwan Fedorowitsch so achten?“ „Er aber hat von mir geäußert, daß ich ein stinkender Lakai sei. Er denkt von mir, daß ich ein Revolutionär werden könnte; da irrt er sich aber bloß gewaltig. Hätte ich so eine gewisse Summe in meiner Tasche, so wäre ich schon längst nicht mehr hier. Dmitrij Fedorowitsch ist schlechter als jeder Lakai durch sein Betragen wie auch durch seinen Verstandesrang und seine Bettelarmut, und nichts versteht er zu machen, und doch wird er obendrein noch von allen geachtet. Ich bin meinetwegen nur ein Suppendreher, aber wenn’s gut geht, kann ich in Moskau auf der Petrowka ein Café-Restaurant eröffnen. Denn ich mache alles, wie man sagt: speziell. Von ihnen aber versteht in ganz Moskau keiner, außer den Ausländern, etwas speziell zu machen. Dmitrij Fedorowitsch ist ein lumpiger Bummler, wenn er aber den höchsten Grafensohn fordert, so wird sich der mit ihm schlagen – wodurch ist er denn alsomit besser als ich? Wohl weil er beispielsohne dümmer ist als ich. Allein wieviel Geld hat er durchgebracht, ohne daß er etwas dafür bekommen hätte!“ „Ach, ein Duell muß wohl furchtbar schön sein, denke ich,“ sagte plötzlich Marja Kondratjewna. „Was soll denn dabei schön sein?“ „Ach, es ist doch so schrecklich und tapfer, besonders wenn junge Offizierchen mit Pistolen in den Händen der eine auf den anderen wegen irgendeiner schießen. Das ist doch einfach ein Bild! Ach, wenn man doch uns Mädchen zusehen lassen würde, ich würde so schrecklich gern zusehen!“ „Gut, wenn man noch dem anderen was aufbrennt, aber wenn man selbst was gerade in die Schnute kriegt, so ist es dann ein dummes Gefühl. Sie, Marja Kondratjewna, würden natürlich fortlaufen.“ „Was, Sie würden fortlaufen?“ Doch Ssmerdjäkoff geruhte nicht zu antworten. Nach minutenlangem Schweigen wurde wieder auf der Gitarre ein Akkord gegriffen, und die Falsettstimme sang ein anderes Couplet: „Wozu soll ich mich denn mühen, Es wird doch nie genügen ... Ich will mein Leben le–e–eben Und mich zum Herrn erhe–e–ben, Und habe ich erst Kronen, In Residenzen wohnen; Werde mich niemals grämen, Mir nichts zu Herzen nehmen ...“ Hier ereignete sich aber etwas Unerwartetes: Aljoscha nieste plötzlich. Auf der Bank wurde es im Augenblick still. Aljoscha erhob sich und ging zu ihnen. Es war tatsächlich Ssmerdjäkoff, der sich in Gala geworfen, pomadisiert, parfümiert und frisiert hatte – viel fehlte nicht, daß er sich auch Locken eingelegt – und dessen Stiefel wieder spiegelblank geputzt waren. Die Gitarre lag neben ihm auf der Bank. Das Frauenzimmer war Marja Kondratjewna, die Tochter der Hausbesitzerin; sie hatte ein hellblaues Kleid mit einer zwei Ellen langen Schleppe an; es war ein noch junges Mädchen; sie wäre eigentlich ganz nett gewesen, nur hatte sie ein gar zu rundes Gesicht und gar zu viel Sommersprossen. „Wird mein Bruder Dmitrij Fedorowitsch bald zurückkehren?“ fragte Aljoscha möglichst ruhig. Ssmerdjäkoff erhob sich langsam von der Bank, und Marja Kondratjewna folgte seinem Beispiel. „Woher soll denn ich alleweil wissen, wann Dmitrij Fedorowitsch kommen? Ich will nicht sagen, wenn ich Dmitrij Fedorowitschs Wächter wäre,“ antwortete Ssmerdjäkoff leise, gemessen und ungeheuer nachlässig. „Ich habe nur so gefragt, wissen Sie es nicht vielleicht ganz zufällig?“ erklärte Aljoscha. „Von ihrem Verbleiben weiß ich nichts, dieweil ich davon auch nichts wissen will.“ „Aber mein Bruder hat mir gesagt, daß gerade Sie ihn von allem unterrichteten, was im Hause geschieht, und ihm auch versprochen hätten, ihn zu benachrichtigen, wenn Agrafena Alexandrowna käme.“ Ssmerdjäkoff erhob langsam mit unerschütterlicher Ruhe seinen Blick und sah Aljoscha an. „Wie aber habt Ihr geruht hierherzugelangen, da doch selbige Gartenpforte schon seit einer Stunde mit der Fallklinke verschlossen ist?“ fragte er mit aufmerksamem Blick auf Aljoscha. „Ich bin aus der Quergasse über den Zaun gekommen und direkt in die Laube gegangen. Sie werden mich, hoffe ich, entschuldigen,“ sagte er zu Marja Kondratjewna gewandt, „ich wollte meinen Bruder so schnell als möglich treffen.“ „Ach, was haben wir Ihnen zu entschuldigen,“ sagte Marja Kondratjewna sofort in süßlich singendem Ton, da Aljoschas höfliche Entschuldigung sie nicht wenig schmeichelte, „und geht doch auch Herr Dmitrij Fedorowitsch auf diese Manier in die Laube, wir wissen es zuweilen gar nicht, er aber sitzt schon dort.“ „Ich wollte ihn hier erwarten, da ich ihn unbedingt sprechen muß – können Sie mir nicht sagen, wo er heute ist? Glauben Sie mir, daß ich ihn in einer sehr wichtigen Angelegenheit suche.“ „Das pflegt er uns nicht zu sagen, wo er ist,“ sagte Marja Kondratjewna eilfertig. „Obwohl ich nur aus Bekanntschaft hierher komme,“ begann wieder Ssmerdjäkoff, „so haben Dmitrij Fedorowitsch mich doch auch hier alleweil unmenschlich bedrängt mit ihren immerwährenden Fragen nach dem Herrn: Was und wie ist es mit ihm, wer kommt hin, und wer geht fort, und ob ich nicht noch was anderes zu sagen habe. Zweimal haben sie mir sogar mit dem Tode gedroht.“ „Wie das, mit dem Tode?“ fragte Aljoscha erstaunt. „Was macht denn ihnen das aus bei ihrem Charakter, den Ihr gestern selbst zu beobachten geruhtet. ‚Wenn du Agrafena Alexandrowna hinein läßt‘, sagen sie, ‚und sie hier übernachtet, – so bist du der erste, der das mit dem Leben bezahlt‘. Ich habe so große Angst vor ihnen, daß ich sie, wenn ich nicht so große Angst vor ihnen hätte, schon der Polizei angezeigt haben würde. Kann doch kaum Gott wissen, was sie noch alles mit einem machen werden.“ „Vor kurzem hat er ihm noch gesagt: ‚Im Mörser werde ich dich zerstampfen‘,“ fügte Marja Kondratjewna eifrig hinzu. „Nun, wenn er ‚im Mörser‘ gesagt hat, so sind das doch nur Worte ...“ meinte Aljoscha. „Wenn ich ihn jetzt bloß treffen könnte, so würde ich ihm auch darüber etwas sagen können ...“ „Ich kann Euch nur eines mitteilen,“ sagte plötzlich Ssmerdjäkoff, als ob er sich inzwischen anders bedacht hätte. „Ich bin hier nur von wegen meiner langen Nachbarbekanntschaft, und warum sollte ich denn nicht herkommen? Andererseits haben Iwan Fedorowitsch mich heute schon in aller Herrgottsfrühe in ihre Wohnung in die Seestraße geschickt, ohne Brief, damit, daß Dmitrij Fedorowitsch aufs Wort hin unbedingt in dieses hiesige Gasthaus am Großen Platz kommen sollen, um mit ihnen zusammen zu speisen. Ich ging alsomit, doch Dmitrij Fedorowitsch waren nicht zu Hause, es war aber schon acht Uhr. ‚Er war hier, ist aber ganz ausgegangen‘, – mit genau den selbigen Worten antworteten mir die Hausleute. Es war wie eine Verschwörung von beiden Seiten. Jetzt sitzen sie vielleicht in selbiger Minute in dem Gasthaus mit Iwan Fedorowitsch, da auch der junge Herr nicht nach Haus speisen gekommen sind, und der Herr allein vor einer Stunde gespeist haben und jetzt schlafen. Aber ich bitte doch nachdrücklichst, ihnen von mir und von selbigem, was ich gesagt habe, anderweitig keinerlei Mitteilung zu machen, dieweil sie für nichts und wieder nichts mich totschlagen können.“ „Wie, Iwan hat Dmitrij ins Gasthaus bestellt?“ fragte Aljoscha hastig, als hätte er nicht recht verstanden. „Wie gesagt.“ „In das Gasthaus ‚Zur Hauptstadt‘ am Großen Platz?“ „Jawohl, in selbiges.“ „Das ist sehr gut möglich!“ sagte Aljoscha erregt. „Danke, Ssmerdjäkoff, diese Mitteilung ist sehr wichtig für mich, ich werde sofort hingehen.“ „Aber ich bitte, nichts von mir zu sagen,“ bat Ssmerdjäkoff noch einmal. „Nein, nein, ich werde tun, als ob ich zufällig hinkäme, beunruhigen Sie sich nicht.“ „Aber wohin gehen Sie, ich werde Ihnen die Gartenpforte aufmachen,“ rief ihm Marja Kondratjewna nach. „Nein, von hier ist es näher, ich springe wieder über den Zaun.“ Diese Nachricht hatte Aljoscha geradezu erschüttert. Er eilte hin. Da es aber nicht anging, daß er in der Mönchskutte eintrat, so beschloß er, sich an der Tür nach ihnen zu erkundigen und sie herausrufen zu lassen. Doch siehe, kaum näherte er sich dem Gasthaus, als plötzlich ein Fenster aufgestoßen wurde und sein Bruder Iwan ihn heranrief: „Aljoscha, kannst du nicht zu mir hereinkommen, oder geht es nicht? Du würdest mir einen großen Gefallen erweisen.“ „Natürlich kann ich, nur weiß ich nicht, ob es in meiner Kutte angeht ...“ „Das hat nichts zu sagen, ich habe hier ein ganzes Zimmer für mich, komm herein, ich gehe dir entgegen ...“ Nach einer Minute saß Aljoscha seinem Bruder gegenüber. Iwan war allein und speiste zu Mittag. III. Die beiden Brüder Es war übrigens doch kein einzelnes Zimmer, das Iwan für sich eingenommen hatte. Es war nur eine mit Schirmen abgeteilte Ecke am Fenster des ersten Zimmers, an dessen Seitenwand sich das Büfett befand. Nur konnten die vorübergehenden Gäste die am Fenster Sitzenden nicht sehen. Wohl aber sah man von dort aus die Kellner am Büfett vorüberhuschen. Von Gästen saß in diesem Zimmer in einer entfernteren Ecke vor seinem Teeglase nur ein alter Herr, ein gewesener Offizier. Dafür herrschte in allen anderen Räumen der gewöhnliche Gasthauslärm, die Rufe nach den Kellnern, das Aufkorken der Bierflaschen, das Kicksen der Billardbälle und das Geklimper einer Spieluhr. Aljoscha wußte, daß Iwan sonst nie in dieses Lokal ging und für Gasthäuser überhaupt nichts übrig hatte. „Also ist er jetzt nur deswegen hier, um Dmitrij zu treffen,“ dachte Aljoscha. Aber Dmitrij war nicht zu sehen. „Soll ich dir eine Fischsuppe bestellen oder was sonst, du kannst doch nicht von Tee allein leben,“ fragte Iwan heiter, der sich ersichtlich sehr darüber freute, daß er Aljoscha hereingelockt hatte. Er hatte schon gespeist und trank nur noch Tee. „Bestell mal beides, Fischsuppe und Tee, ich habe nämlich gehörigen Hunger,“ sagte Aljoscha erfreut. „Und nachher Kirschenmus? Das kannst du hier haben. Weißt du noch, wie du als kleiner Junge bei Polenoffs auf Kirschenmus geschliffen warst?“ „Dessen erinnerst du dich noch? Gut, bestelle also auch Kirschenmus, ich mag es auch jetzt noch.“ Iwan klingelte nach dem Kellner und bestellte Fischsuppe, Tee und die eingemachten Kirschen. „Ich erinnere mich unserer ganzen Kindheit, Aljoscha, ich erinnere mich deiner bis zum elften Jahre, ich war damals vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Fünfzehn und elf, das ist ein so großer Unterschied, daß selbst Brüder in diesen Jahren fast nie Kameraden sind. Ich weiß nicht einmal, ob ich dich liebte: In Moskau habe ich an dich in den ersten Jahren überhaupt nicht gedacht. Und dann später, als auch du nach Moskau kamst, haben wir uns, glaube ich, wohl nur ein einziges Mal irgendwo getroffen. Nun lebe ich hier schon seit mehr als drei Monaten, und noch haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Morgen werde ich fortfahren, und so dachte ich denn, als ich vorhin allein hier am Fenster saß: Wo könnte ich ihn wohl treffen, um mich von ihm zu verabschieden? – und da gingst du gerade vorüber.“ „Wolltest du mich wirklich so gerne sehen?“ „Ja, Aljoscha, sehr, ich wollte dich einmal kennen lernen und dich auch mit mir bekannt machen. Und mich dann von dir verabschieden. Meiner Meinung nach ist es am besten, sich vor der Trennung kennen zu lernen. Ich habe gesehen, wie du mich in diesen ganzen drei Monaten beobachtet hast. Lag doch in deinen Augen eine immerwährende Erwartung, das aber ist es, was ich nicht ertragen kann, und darum näherte ich mich dir nicht. Dann aber lernte ich dich achten: Fest steht das Menschlein! Ja, ja. Und merk dir, Aljoscha: Ich lache jetzt zwar, aber ich rede deswegen nicht minder ernst. – Du stehst doch fest, nicht? Ich liebe Menschen, die fest stehen, einerlei worauf sie stehen, und wenn sie auch so kleine Knaben sind wie du. Dein erwartungsvoller Blick wurde mir mit der Zeit durchaus nicht zuwider; im Gegenteil, ich gewann ihn schließlich lieb, deinen erwartenden Blick. Ich glaube, du liebst mich, Aljoscha?“ „Ja, ich liebe dich, Iwan. Dmitrij sagt von dir: Iwan ist – ein Grab! Ich aber sage von dir: Iwan ist ein Rätsel. Du bist auch jetzt noch ein Rätsel für mich, trotzdem habe ich schon einiges an dir begriffen, und zwar seit heute morgen!“ „Und das wäre?“ fragte Iwan lachend. „Wirst du dich nicht ärgern?“ fragte Aljoscha gleichfalls lachend. „Nun?“ „Einfach, daß du ganz genau so ein junger Junge bist wie alle anderen dreiundzwanzigjährigen Jungen, ein ebenso junger, jugendlicher, frischer und prächtiger Junge, ein ... ein ... nun, ein milchbärtiger kleiner Knabe! Was, hab ich dich jetzt sehr gekränkt?“ „Im Gegenteil, du hast mich durch die Richtigkeit deiner Bemerkung sogar frappiert!“ sagte sofort heiter und offenherzig Iwan. „Wirst du mir glauben, daß ich heute, seitdem ich sie verlassen habe – nach dem Gespräch bei ihr – die ganze Zeit nur an diese meine dreiundzwanzigjährige ‚Milchbärtigkeit‘, wie du sagst, gedacht habe! Und nun beginnst du gerade damit, als ob du’s erraten hättest. Ich saß hier ganz allein am Fenster, und weißt du, was ich mir sagte? Nehmen wir an, ich hörte auf, an das Leben zu glauben, an den Menschen, den ich liebgewonnen habe, an die Ordnung der Dinge, nehmen wir an, ich überzeugte mich sogar, daß alles ein gesetzloses, verfluchtes und vielleicht vom Teufel beherrschtes Chaos ist, und daß mich alle Schrecken der menschlichen Verzweiflung überfallen, – so würde ich doch leben wollen, leben! Und da meine Lippen einmal diesen Becher berührt haben, so – das weiß ich! – werde ich mich nicht früher von ihm losreißen, als bis ich ihn ganz, bis auf die Neige geleert habe! Übrigens, wenn mein dreißigstes Jahr kommt, werde ich den Becher bestimmt von mir werfen, selbst wenn ich ihn nicht bis auf die Neige geleert haben sollte, und fortgehen ... ich weiß nicht wohin. Doch bis zu meinem dreißigsten Jahre, das weiß ich unerschütterlich, wird meine Jugend alles besiegen, – jede Enttäuschung, jede Verzweiflung, jeden Widerwillen vor dem Leben. Ich habe mich oftmals gefragt: Gibt es wohl in der Welt eine Verzweiflung, die diesen rasenden, wütenden und vielleicht unanständigen Lebensdurst in mir besiegen könnte? – und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß es wahrscheinlich keine solche Verzweiflung gibt, das heißt wiederum nur bis zu meinem dreißigsten Jahre, dann werde ich selbst nicht mehr wollen ... so scheint es mir wenigstens. Dieser Lebensdurst, dieses Lechzen nach Leben wird von vielen schwindsüchtigen, hungrigen Moralisten und besonders von holden Dichtern niedrig genannt. Er ist allerdings ein echt Karamasoffscher Zug, das ist wahr, und auch in dir steckt dieser Lebensdurst, aber warum soll er denn gemein sein? Es steckt noch so ungeheuer viel Zentripetalkraft in unserem Planeten. Leben will man, Aljoscha, und ich lebe, wenn auch wider die Logik. Mag ich auch an die Ordnung der Dinge nicht glauben, so sind sie mir doch teuer, die klebrigen hellen Blättchen, die sich im Frühling an feuchten Ästen lösen, teuer ist mir der hohe blaue Himmel, teuer gar mancher Mensch, den man gar manches Mal, wirst du’s mir glauben, ohne zu wissen, warum, liebhat. Teuer ist mir manch eine Menschentat, an die zu glauben man vielleicht schon längst aufgehört hat, die aber das Herz in alter Erinnerung immer noch hoch und heilig hält ... Da kommt deine Fischsuppe. Nun, laß sie dir gut schmecken, sie wird hier vorzüglich zubereitet ... Ich will nach Europa fahren, Aljoscha, ich werde von hier aus geradenwegs hinfahren. Ich weiß es ja, daß ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch! Teure Tote liegen dort begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde – wenn auch mit der vollen Überzeugung im Herzen, daß das alles schon längst ein Friedhof ist, und in keinem Fall mehr als das. Und nicht aus Verzweiflung werde ich weinen, sondern einfach aus dem einen Grunde, weil mir meine Tränen Glück sein werden. Ich werde mich an der eigenen Empfindung berauschen. Die kleinen, klebrigen Frühlingsblätter, den hohen blauen Himmel liebe ich! Hier handelt es sich nicht um Verstand, nicht um Logik, hier liebt man mit dem ganzen Innern, mit dem ganzen Eingeweide, mit dem ganzen Leibe, seine ersten jungen Kräfte liebt man! ... Aljoschka, begreifst du etwas von meinem Gerede, oder ist dir alles unverständlich?“ fragte Iwan plötzlich auflachend. „O, ich verstehe nur zu gut: Mit dem Innersten, mit dem ganzen Eingeweide will man lieben, – das hast du wundervoll gesagt, und es freut mich furchtbar, daß du so leben willst,“ sagte Aljoscha freudig. „Ich glaube, alle müssen in der Welt zuerst das Leben lieben lernen.“ „Und das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens?“ „Unbedingt. _Vor_ der Logik muß man das Leben lieb gewinnen, wie du sagst, unbedingt muß es _vor_ der Logik geschehen, nur dann werde ich auch den Sinn des Lebens begreifen. Das habe ich schon lange geahnt. Die Hälfte deiner Arbeit ist bereits getan, und die eine Hälfte deines Lebens ist erworben, Iwan: Du liebst das Leben. Jetzt mußt du dich um deine zweite Hälfte bemühen, und du bist gerettet.“ „Du bist schon beim Retten, aber ich gehe ja vielleicht überhaupt nicht unter! Und worin besteht sie denn – diese zweite Hälfte?“ „Darin, daß du deine Toten auferweckst, die – vielleicht niemals gestorben sind. Reich mir bitte den Tee. Oh, es freut mich so, Iwan, daß wir miteinander reden.“ „Aber Aljoscha, du bist ja, wie ich sehe, geradezu begeistert. Nun ich liebe ganz außerordentlich solche _professions de foi_, wie die unsrigen, gerade von solchen ... Novizen. Ein fester Mensch bist du, Alexei. Ist es wahr, daß du das Kloster verlassen willst?“ „Ja, es ist wahr. Mein Staretz schickt mich in die Welt.“ „Dann werden wir uns wohl noch sehen in dieser Welt, vor jenem dreißigsten Jahr, wenn ich beginnen werde, mich von meinem Becher loszureißen. Der Vater will sich von seinem Becher nicht vor dem siebzigsten Jahre losreißen, träumt womöglich von achtzig Jahren, hat es mir sogar selbst ganz offen gesagt, und zwar im Ernst, obgleich er doch ein ... Narr ist. Fußt auf seiner Wollust und steht auf ihr, als ob sie ein Stein wäre ... allerdings gibt es ja nach dem dreißigsten Jahre schwerlich etwas anderes, worauf man sich stellen könnte ... Aber bis zum siebzigsten Jahre ist es gemein, bis zum dreißigsten Jahre geht es noch: Man kann wenigstens einen ‚Schimmer von Adel‘ bewahren, wenn auch durch Selbstbetrug. Hast du heute nicht Dmitrij gesehen?“ „Nein, ihn nicht, aber ich habe Ssmerdjäkoff gesehen und gesprochen.“ Und Aljoscha erzählte eilig und ausführlich sein Gespräch mit Ssmerdjäkoff. Iwans Gesicht wurde allmählich immer finsterer beim Zuhören, und er ließ sich vieles wiederholen. „Nur bat er mich, nicht Dmitrij zu sagen, daß er es mir mitgeteilt hat,“ fügte Aljoscha hinzu. Iwan zog die Brauen zusammen und verfiel in Nachdenken. „Runzelst du wegen Ssmerdjäkoff die Stirn?“ fragte Aljoscha. „Ja, seinetwegen. Doch zum Teufel mit ihm, aber Dmitrij wollte ich tatsächlich sehen, nur ist es jetzt nicht mehr nötig ...“ brummte Iwan unwillig. „Wirst du denn wirklich so bald verreisen?“ „Ja.“ „Aber sag doch, – Dmitrij und der Vater? Womit wird das enden?“ fragte Aljoscha erregt, doch nur halblaut. „Du fängst schon wieder davon an! Was geht das mich an? Bin ich denn etwa der Wächter meines Bruders?“ stieß Iwan kurz und gereizt hervor. Doch plötzlich lächelte er bitter. „Die Antwort Kains auf Gottes Frage nach dem erschlagenen Bruders, wie? Das denkst du wohl jetzt, nicht? Ach, hol’s der Teufel, ich kann doch wahrhaftig nicht als ihr Wächter hier bleiben! Ich habe hier beendet, was ich zu tun hatte, und fahre. Oder glaubst du vielleicht gar, daß ich auf Dmitrij eifersüchtig bin, weil es mir in diesen ganzen drei Monaten nicht gelungen ist, ihm seine schöne Katerina Iwanowna abspenstig zu machen? Ach ... Äh, zum Teufel, ich habe meine Gründe gehabt, hier zu bleiben. Nun habe ich hier alles beendet, und so fahre ich auch unverzüglich. Was ich beendet habe, das weißt du, du warst ja Augenzeuge.“ „Du meinst – vorhin mit Katerina Iwanowna?“ „Ja, mit ihr; ich machte mich einfach los. Und was ist denn dabei? Was geht mich Dmitrij an? Dmitrij hat nichts damit zu tun! Ich hatte ganz Persönliches mit Katerina Iwanowna zu erledigen. Du weißt doch selbst, daß Dmitrij sich so aufgeführt hat, als ob er sich mit mir verabredet hätte. Ich habe ihn doch um nichts gebeten, er aber hat sie mir freiwillig und feierlich ‚übergeben‘ und hat mir noch seinen Segen geschenkt. Das klingt ja wirklich fast lachhaft. Nein, Aljoscha, nein, wenn du wüßtest, wie leicht ich mich jetzt fühle! Ich saß hier und speiste, und, wirst du’s mir glauben, wollte mir schon Champagner bestellen, um die erste Stunde meiner Freiheit zu feiern. Pfui Teufel, fast ein halbes Jahr lang, – und mit einem Schlage hat man sich von allem befreit! Nein, hätte ich gestern auch nur ahnen können, daß man nur zu wollen braucht, und daß es einen nichts kostet, zu beenden!“ „Sprichst du von deiner Liebe, Iwan?“ „Von meiner Liebe ... wenn du willst, ja. Ich hatte mich in ein junges, stolzes Pensionsfräulein verliebt. Ich quälte mich mit ihr und sie quälte mich. Hatte mich da hinein verbissen ... und plötzlich bin ich von allem befreit. Vorhin bei Chochlakoffs sprach ich erregt, als ich aber hinaustrat, da lachte ich auf – und du kannst mir glauben, daß ich fröhlich lachte. Nein, wirklich!“ „Du sprichst auch jetzt so heiter,“ bemerkte Aljoscha, der sich aufmerksam in das Gesicht des Bruders hineinsah. „Woher sollte ich auch wissen, daß ich sie überhaupt nicht liebte! Ha–ha–ha! Und da hat es sich nun erwiesen! Aber wie sie mir doch gefallen hat! Wie sie mir sogar heute gefiel, vorhin, als ich die Predigt hielt! Und weißt du, auch jetzt gefällt sie mir maßlos, – und doch fällt es mir so leicht, sie zu verlassen. Du glaubst wohl, ich wolle renommieren?“ „Nein. Nur war das vielleicht keine Liebe.“ „Aljoschka,“ sagte Iwan lachend, „laß dich nicht auf Erörterungen über Liebe ein! Für dich schickt sich das nicht. Vorhin – ja, vorhin, da gingst du durch, Brüderchen, o jeh! Übrigens habe ich vergessen, dich dafür abzuküssen ... Wie sie mich aber gequält hat! Ach, habe wahrlich neben einer gesessen, die sich vergewaltigte. Sie wußte doch, daß ich sie liebte! Und auch sie liebte mich, aber nicht Dmitrij,“ behauptete Iwan lachend. „Ihre Liebe zu Dmitrij hat sie sich nur eingebildet. Alles, was ich ihr vorhin sagte, ist lautere Wahrheit. Nur besteht jetzt die Hauptsache darin, daß sie vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre brauchen wird, um zu erraten, daß sie Dmitrij überhaupt nie geliebt hat, sondern nur mich liebt, mich, den sie foltert. Ja, wer kann es wissen, vielleicht wird sie’s auch niemals erraten, trotz der heutigen Lehre nicht. Nun, um so besser, daß ich aufgestanden und fortgegangen bin. Übrigens, was macht sie jetzt? Was ging dort vor, als ich fortgegangen war?“ Aljoscha erzählte ihm von dem hysterischen Anfall und was ihm Frau Chochlakoff gesagt hatte: daß sie bewußtlos sei, Fieber habe und phantasiere. „Ist das aber auch wahr, was die Chochlakoff sagt?“ „Es scheint, ja.“ „Man muß sich erkundigen. An hysterischen Anfällen ist übrigens noch niemals jemand gestorben. Und mag sie sie doch haben, Gott hat dem Weibe liebend die Hysterie geschickt. Ich werde nie mehr hingehen. Wozu sich wieder aufdrängen!“ „Aber du sagtest ihr doch, daß sie dich nie geliebt hätte?“ „Das habe ich absichtlich gesagt. Aljoschka, weißt du, ich werde Champagner bestellen, trinken wir auf meine Freiheit. Nein, wenn du wüßtest, wie froh ich bin!“ „Nein, Iwan, trinken wir lieber nicht,“ sagte Aljoscha, „und zudem bin ich doch etwas traurig gestimmt.“ „Ja, du bist bereits seit langer Zeit traurig gestimmt, das sehe ich schon längst.“ „Und du wirst also bestimmt morgen früh fortfahren?“ „Morgen früh? Ich habe nicht gesagt, daß ich in der Früh fahren werde ... Doch übrigens, vielleicht auch in der Früh. – Wirst du’s mir glauben, daß ich nur deswegen hier gespeist habe, um nicht mit dem Alten zusammen zu speisen, dermaßen zuwider ist er mir geworden. Allein seinetwegen wäre ich schon längst fortgefahren. Warum beunruhigt es dich übrigens so, daß ich verreise? Wir haben jedenfalls bis zu meiner Abfahrt noch Gott weiß wieviel Zeit. Eine ganze Ewigkeit Zeit, die ganze Unsterblichkeit.“ „Aber, wenn du morgen fortfährst, wo ist dann die Ewigkeit?“ „Was geht das uns beide an!?“ fragte Iwan lachend. „Haben wir doch noch Zeit, auszusprechen, was wir uns zu sagen haben, und weswegen wir hier zusammengekommen sind! Warum siehst du mich so erstaunt an? Antworte mir: Zu welch einem Zweck sind wir hier zusammengekommen? Um von der Liebe zu Katerina Iwanowna zu sprechen, oder von dem Alten und Dmitrij? Oder vom Auslande? Von der verhängnisvollen Lage Rußlands? Vom Empereur Napoléon? Nun, deswegen etwa?“ „Nein, nicht deswegen.“ „Also begreifst du es selbst, weswegen. Den anderen mag so etwas gleichgültig sein, uns aber, uns ‚Milchbärten‘, ist es nicht einerlei, wovon wir reden. Wir müssen vor allen anderen Dingen, die aus der Ewigkeit in die Ewigkeit reichenden Probleme lösen, das ist unsere Sorge. Ganz Jung-Rußland tut doch heutzutage nichts anderes, als über die ewigen Fragen philosophieren. Gerade heutzutage, gerade jetzt, wo alle Alten sich plötzlich an die praktischen Fragen gemacht haben. Warum hast du mich in diesen drei Monaten so erwartungsvoll angesehen? Um mich zu befragen: ‚Woran glaubst du, oder glaubst du überhaupt nicht‘, – das war es doch, was Ihre Blicke fragten, Alexei Fedorowitsch, oder war es das mit nichten?“ „Nun ja, meinetwegen war es das,“ sagte Aljoscha lächelnd. „Du machst dich doch nicht lustig über mich, Bruder?“ „Ich mich lustig machen? Ich werde doch mein kleines Brüderchen, das mich drei Monate lang so erwartungsvoll angeblickt hat, nicht betrüben wollen. Aljoscha, sieh mich einmal ganz offen an: Sieh, ich bin doch genau solch ein kleiner Knabe wie du, nur mit dem einen Unterschiede, daß ich kein Novize bin. Wie pflegen denn unsere russischen Knaben bis jetzt zu handeln? Die meisten, meine ich. Nun, hier haben wir zum Beispiel das nach Speisedüften riechende Lokal, und da kommen sie denn zusammen und setzen sich in eine Ecke. Haben sich bis dahin zeitlebens nicht gekannt, und wenn sie das Gasthaus verlassen, werden sie sich wieder vierzig Jahre lang nicht kennen. Wovon werden sie nun sprechen, wenn sie diesen einen Augenblick in der Gasthausecke erhascht haben? Selbstverständlich von den Weltfragen: Gibt es einen Gott? gibt es Unsterblichkeit? Diejenigen aber von ihnen, welche an Gott nicht glauben, nun, die sprechen über Sozialismus und Anarchismus, über die Umgestaltung der ganzen Menschheit durch einen neuen Staat, so daß es schließlich auf den reinen Teufel hinauskommt, – das sind doch alles dieselben Fragen, nur vom anderen Ende. Und welch eine unglaubliche Menge der originellsten russischen Jungen tut heutzutage nichts anderes, als über diese ewigen Fragen reden! Habe ich nicht recht?“ „Ja, für die echten Russen sind die Fragen, ob es einen Gott und ob es Unsterblichkeit gibt oder, wie du soeben sagtest, die Fragen vom anderen Ende, natürlich die wichtigsten Fragen, die allem anderen vorangehen, – so muß es auch sein,“ sagte Aljoscha, der seinen Bruder immer noch mit demselben stillen, forschenden Lächeln betrachtete. „Sieh, Aljoscha, ein russischer Mensch zu sein, ist zuweilen gar nicht klug, doch etwas Dümmeres als das, womit sich jetzt die russischen Knaben beschäftigen, kann man sich nicht einmal vorstellen. Nur _einen_ russischen Knaben, den Aljoscha, den liebe ich trotzdem über alles.“ „Wie nett du das eingefädelt hast,“ sagte Aljoscha auflachend. „Nun, sag also, womit wir beginnen sollen? Es soll geschehen, wie du befiehlst. – Mit Gott? – Ob Gott existiert, nicht?“ „Womit du willst, damit beginne, meinetwegen auch ‚vom anderen Ende‘. Du erklärtest doch gestern beim Vater, daß es Gott nicht gäbe,“ sagte Aljoscha mit plötzlich forschendem Blick in die Augen des Bruders. „Gestern bei Tisch neckte ich dich absichtlich damit – um den Alten war es mir nicht zu tun – und ich sah es wohl, wie deine Augen aufblitzten. Doch jetzt bin ich gar nicht abgeneigt, nochmals mit dir auf dieses Thema einzugehen. Ich meine das vollkommen im Ernst. Ich möchte gern, daß wir uns nähertreten, Aljoscha, denn ich habe keinen Freund. Ich will es einmal versuchen. Nun, stelle es dir mal vor, vielleicht erkenne auch ich Gott an,“ sagte Iwan lachend. „Das hattest du wohl nicht erwartet, was?“ „Ja, natürlich, wenn du nur auch jetzt nicht scherzest!“ „Scherze? Das fragst du, weil man gestern beim Staretz sagte, daß ich scherze. Sieh, mein Liebling, im siebzehnten Jahrhundert lebte ein großer Sünder, und der hat von Gott gesagt: _S’il n’existait pas, il faudrait l’inventer._ Und tatsächlich hat sich der Mensch Gott ausgedacht. Doch nicht das ist sonderbar, nicht das wäre wunderbar, daß Gott tatsächlich existiert, wohl aber ist wunderbar, daß solch ein Gedanke – der Gedanke von der Unentbehrlichkeit Gottes – in den Kopf eines so wilden und bösartigen Tieres, wie es der Mensch ist, hat kommen können: dermaßen heilig, dermaßen rührend, dermaßen weise ist er, und dermaßen große Ehre macht er dem Menschen. Was nun mich dabei anbetrifft, so habe ich schon vor langer Zeit beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, ob der Mensch Gott oder Gott den Menschen geschaffen hat. Auch werde ich, versteht sich, nicht etwa anfangen, alle zeitgenössischen Axiome der russischen Knaben durchzunehmen – Axiome, die alle ohne Ausnahme aus europäischen Hypothesen entstanden sind; denn was dort Hypothese ist, das ist bei unseren russischen Knaben sofort Axiom, und nicht nur bei den Knaben, sondern auch bei deren Professoren, denn auch die russischen Professoren sind jetzt sehr häufig selbst nichts anderes als solche kleinen russischen Knaben. Darum übergehe ich alle Hypothesen. Worin besteht aber nun unsere Aufgabe? Nun, versteht sich, darin, daß ich dir so schnell wie möglich mein ganzes Wesen erkläre, das heißt, was ich für ein Mensch bin, woran ich glaube, worauf ich hoffe! Nicht wahr, das ist es doch? Nun, und darum erkläre ich denn auch, daß ich Gott einfach und einwandlos akzeptiere. Einstweilen aber gilt es noch eines zu vermerken: Wenn Gott ist, und wenn er tatsächlich die Erde geschaffen hat, so hat er sie, wie wir genau wissen, nach der Geometrie des Euklid geschaffen, den menschlichen Verstand nur mit dem Vermögen begabt, bloß die drei Ausdehnungen des Raumes zu begreifen. Währenddessen aber hat es Mathematiker und Philosophen gegeben, und es gibt ihrer auch heutzutage noch welche, und es sind das sogar die Besten, die leider bezweifeln, daß das Weltall – oder sagen wir noch größer, – daß alles Sein nur nach Euklids Geometrie erschaffen sei, ja, sie erdreisten sich sogar, zu denken, daß zwei parallele Linien, die doch nach Euklid nie und nimmer und unter keiner Bedingung auf Erden zusammenlaufen können, vielleicht doch irgendwo in der Unendlichkeit zusammenlaufen. Weißt du, Liebling, ich sage mir nun, wenn ich selbst das nicht begreifen kann, wie soll ich dann noch etwas von Gott begreifen können, das ist doch dann viel zu hoch für mich. Bescheiden bekenne ich, daß ich nicht die geringsten Fähigkeiten zur Lösung solcher Probleme besitze; ich habe nur einen euklidischen, einen irdischen Verstand, und wie soll man daher über etwas urteilen, was nicht von dieser Welt ist? Und auch dir, mein Freund, rate ich, nie darüber nachzudenken, vor allem nicht über Gott: Ob es ihn gibt oder nicht gibt? Das sind Fragen, an die unser Verstand überhaupt nicht heranreicht, da sein Begriffsvermögen nur für das Erfassen der drei Ausdehnungen geschaffen ist. Und so akzeptiere ich denn gern nicht nur Gott allein, sondern ich akzeptiere auch seine Allwissenheit und sein Ziel, – das uns vollkommen unbekannt ist – und glaube an das Gesetz und den Sinn des Lebens, glaube auch an die ewige Harmonie, in der wir, wie es heißt, alle aufgehen werden, glaube an das Wort, zu dem das Weltall strebt, und das selbst bei Gott war und selbst Gott ist, nun, und so weiter, und so weiter bis ins Unendliche. Hat man sich doch in der Beziehung wahrlich nicht wenig Worte ausgedacht. Aber es scheint ja, daß auch ich bereits auf einem guten Wege bin – nicht? Nun, so laß dir denn kurz gesagt sein, daß ich im Endresultate diese Gotteswelt – _nicht_ akzeptiere, und wenn ich auch weiß, daß sie existiert, so gebe ich doch nicht zu, daß sie existiert. Nicht Gott akzeptiere ich nicht, verstehe mich recht, sondern die von ihm geschaffene Welt akzeptiere ich nicht, und kann ich nicht akzeptieren. Ich werde mich deutlicher ausdrücken: Ich bin meinetwegen überzeugt, daß das Leid vernarben und sich glätten wird, daß die ganze beleidigende Komik der menschlichen Widersprüche wie ein armseliges Trugbild verschwinden wird, wie eine garstige Erfindung eines schwächlichen, nur atomgroßen euklidischen Menschenverstandes, und daß schließlich im Weltfinale, im Moment der ewigen Harmonie etwas dermaßen Kostbares geschehen und erscheinen wird, daß es für alle Herzen ausreicht, zur Stillung allen Unwillens, zur Sühne aller von Menschen begangenen Greuel, zur Sühne alles durch sie vergossenen Blutes, daß es ausreichen wird zur Möglichkeit nicht nur der Vergebung, sondern auch der Rechtfertigung alles dessen, was mit den Menschen geschehen ist, – schön, schön, mag das alles erscheinen und sein, ich aber akzeptiere das nicht und will es auch nicht akzeptieren! Mögen sich sogar die Parallellinien treffen, und mag ich das auch selbst sehen, sehen und sagen, daß sie sich getroffen haben, so werde ich es doch trotzdem nicht annehmen. Sieh, das ist mein Wesen, Aljoscha, das ist meine These. Ich habe absichtlich unser Gespräch so begonnen, wie man es dümmer nicht gut hätte beginnen können, aber ich habe es mit meiner Beichte geendet, denn nur sie allein wolltest du doch hören. Nicht von Gott wolltest du etwas erfahren, sondern hören wolltest du, wovon dein Bruder, den du doch liebhast, geistig lebt. Und so habe ich es dir denn gesagt.“ Iwan schloß seine lange Predigt plötzlich mit einem ganz unerwarteten und ganz eigentümlichen Gefühl. „Warum hast du so begonnen, ‚wie man es dümmer nicht gut hätte beginnen können‘?“ fragte Aljoscha, der, in Gedanken verloren, seinen Bruder betrachtete. „Ja, so, erstens um des Russizismus’ willen: Die russischen Gespräche über diese Themata werden doch alle so geführt, wie es dümmer nicht gut denkbar wäre. Und zweitens, weil man um so näher zur Sache kommt, je dümmer man tut. Je dümmer, um so klarer. Dummheit ist kurz und gut und einfach, Klugheit aber macht Finten und versteckt sich. Klugheit, das heißt, der Verstand, ist ein Schuft. Die Dummheit dagegen ist offenherzig und ehrlich. So habe ich dir meine Verzweiflung gezeigt, und je dümmer die Darstellung war, um so vorteilhafter für mich.“ „Wirst du mir erklären, weswegen du die Welt ‚nicht akzeptierst‘?“ fragte Aljoscha. „Versteht sich, es ist ja kein Geheimnis, und dahin führt doch unser Gespräch. Du, mein lieb Brüderlein, ich will dich doch nicht etwa verführen oder von deinem festen Stand wegrücken – ich wollte mich vielleicht nur selbst durch dich heilen ...“ Und Iwan lächelte so sonderbar, ganz wie ein kleiner, frommer Knabe. Niemals noch hatte Aljoscha an ihm solch ein Lächeln gesehen. IV. „Empörung“ „Ich muß dir ein Geständnis machen,“ begann Iwan: „Ich habe nie begreifen können, wie man seine Nächsten lieben kann. Gerade die Nächsten kann man, meiner Meinung nach, unmöglich lieben; lieben kann man höchstens noch die Fernen. Ich habe einmal irgendwo von ‚Iwan dem Barmherzigen‘, einem Heiligen, gelesen, daß er, als einmal ein hungriger und durchfrorener Mann des Weges kam und ihn bat, sich bei ihm erwärmen zu dürfen – daß er sich da zusammen mit ihm auf das Lager gelegt habe, um ihn in der Umarmung zu erwärmen und ihm in seinen von einer scheußlichen Krankheit faulenden und übelriechenden Mund zu hauchen. Ich bin überzeugt, daß er es aus Selbstvergewaltigung getan hat, aus sich selbst vergewaltigender Lüge, aus pflichtschuldiger Liebe, aus sich selbst auferlegter Buße. Um einen Menschen lieben zu können, muß er sich verborgen halten, denn kaum zeigt er sein Gesicht – so ist die Liebe auch schon verschwunden.“ „Darüber hat Staretz Sossima mehr als einmal gesprochen,“ bemerkte Aljoscha, „auch er sagte, daß das Gesicht eines Menschen nicht selten diejenigen, welche im Lieben noch unerfahren sind, zu lieben hindere. Aber es gibt trotzdem viel Liebe in der Menschheit, und sogar fast Christi Liebe ähnliche. Das weiß ich, Iwan ...“ „Nun, ich aber weiß das vorläufig noch nicht und kann es daher auch nicht begreifen, und mit mir kann es eine unzählige Menge Menschen gleichfalls nicht begreifen. Die Frage besteht nur darin, ob das von den schlechten Eigenschaften der Menschen herrührt? oder ob es nur einfach daher kommt, daß die Natur des Menschen so geschaffen ist? Meiner Meinung nach ist Christi Liebe zu den Menschen in ihrer Art ein auf Erden unmögliches Wunder. Nun, er war ein Gott. Wir aber sind keine Götter. Nehmen wir zum Beispiel an, ich kann tief leiden, aber ein anderer kann nie erfahren, bis zu welch einem Grade ich leide, denn er ist eben ein anderer und nicht ich, und außerdem läßt sich der Mensch nur selten herbei, einen anderen als Leidenden anzuerkennen – ganz als ob es sich dabei um einen Rang handelte. Warum nun tut er es nur nicht, was meinst du wohl? Nun, weil ich vielleicht schlecht rieche, weil ich ein dummes Gesicht habe, oder weil ich ihm einmal auf den Fuß getreten bin. Und zudem ist zwischen Leiden und Leiden ein Unterschied: Gewöhnliches Leiden, das mich erniedrigt, Hunger zum Beispiel, das wird mein Wohltäter noch gelten lassen, doch ein etwas höheres Leiden, zum Beispiel für eine Idee, wird er nur in äußerst seltenen Fällen zugestehen, denn er wird bei meinem Anblick wahrscheinlich sofort finden, daß mein Gesicht durchaus nicht demjenigen gleicht, welches er sich in der Phantasie von einem Menschen, der für diese oder jene Idee leidet, gemacht hat. Und so entzieht er mir denn unverzüglich alle seine Wohltaten, tut das aber nicht etwa, weil er ein böses Herz hat. Bettler, namentlich ‚edle‘ Bettler, sollten sich eigentlich nie zeigen und lieber durch die Zeitungen Almosen bitten. Abstrakt kann man noch den Nächsten lieben und zuweilen sogar aus der Ferne, in der Nähe aber fast nie. Wenn alles wie auf der Bühne sich abspielen würde, wie im Ballett, wo die Bettler in seidenen Lumpen und zerrissenen Spitzen graziös tanzend um Almosen bitten, nun, dann kann man noch an ihnen Gefallen finden. An ihnen Gefallen finden, immerhin, aber nicht sie lieben. – Doch genug davon. Ich wollte dir nur meinen Standpunkt erklären ... Ich wollte mit dir von den Leiden der ganzen Menschheit sprechen, doch es ist besser, wir begnügen uns mit den Leiden der Kinder allein. Das wird den Umfang meiner Beweisführung ungefähr um das Zehnfache verringern. Es ist schon besser, nur von den Kindern zu reden. Für mich ist das natürlich unvorteilhafter. Aber, erstens, Kinder kann man auch in der Nähe lieben, sogar schmutzige, sogar häßliche ... Übrigens finde ich, daß kleine Kinder nie häßlich sind. Und zweitens werde ich schon allein deswegen nicht über die Großen reden, weil es sich bei ihnen, abgesehen davon, daß sie abstoßend und der Liebe unwürdig sind, um Vergeltung handelt: Sie haben den Apfel gegessen und Gut und Böse erkannt und sind ‚wie Gott‘ geworden. Und auch jetzt noch fahren sie fort, ihn zu essen. Die Kleinen aber haben noch nichts gegessen und sind vorläufig noch ganz schuldlos. Liebst du kleine Kinder, Aljoscha? Ich weiß, daß du sie liebst, und du wirst verstehen, warum ich jetzt nur von ihnen sprechen will. Wenn auch sie auf Erden unglaublich leiden, so geschieht das natürlich wegen ihrer Väter; sie werden für ihre Väter, die den Apfel vom Baume der Erkenntnis gegessen haben, bestraft. Aber das ist doch eine Erklärung aus einer anderen Welt, denn hier auf Erden ist sie dem Menschenherzen unbegreiflich! Ein Unschuldiger kann doch nicht für einen Schuldigen leiden, und dazu noch solche Unschuldige! Wundere dich über mich, Aljoscha, auch ich liebe kleine Kinder unsäglich. Überhaupt kannst du dir merken, daß grausame, leidenschaftliche, sinnliche, kurz – karamasoffsche Naturen gerade Kinder mitunter ungeheuer lieben können. Kinder unterscheiden sich, solang sie Kinder sind, also ungefähr bis zum siebenten Jahr, ganz unglaublich von erwachsenen Menschen, ganz als ob sie andere Wesen wären, eine ganz andere Natur hätten. Ich kannte einen Mörder im Gefängnis: Er hatte in seinem Leben ganze Familien in den Häusern geschlachtet, in die er nachts eingebrochen war, um zu stehlen, und da hatte er natürlich auch Kinder nicht verschont. Als er aber im Gefängnis saß, liebte er sie dermaßen, daß diese Liebe allen geradezu wunderlich schien. Immer stand er am Fenster seiner Zelle und blickte auf die kleinen Kinder, die im Gefängnishof spielten. Einen kleinen Knaben hatte er einmal an sein Fenster gelockt und schließlich hatten sich die beiden rührend angefreundet ... Weißt du noch nicht, wozu ich das alles sage, Aljoscha? Der Kopf tut mir weh, und ich bin, ich weiß nicht warum, traurig.“ „Du siehst auch so sonderbar aus und redest so wunderlich,“ bemerkte Aljoscha, „als ob du geistesabwesend wärst.“ „Bei der Gelegenheit fällt mir ein, was mir vor kurzem ein Bulgare in Moskau erzählte,“ fuhr Iwan Fedorowitsch fort, als hätte er die Bemerkung des Bruders gar nicht gehört. „Er schilderte, wie die Türken und Tscherkessen dort allerorten hausen, da sie einen allgemeinen Aufstand der Slawen befürchten, – das heißt, wie sie brandschatzen, morden, Frauen und kleine Mädchen vergewaltigen, wie sie die Gefangenen mit den Ohren an die Zäune nageln, damit sie sie bis zum nächsten Morgen, an dem sie gehängt werden sollen, nicht zu bewachen brauchen, und so weiter, – alles kann man kaum erzählen. Man spricht zuweilen von der ‚tierischen‘ Grausamkeit des Menschen, doch ist das höchst ungerecht und für die Tiere wirklich beleidigend: Ein Tier kann niemals so grausam sein wie der Mensch, so ausgesucht, so künstlerisch grausam. Ein Tiger zerreißt und frißt bloß, und das ist schließlich alles, was er versteht. Es würde ihm niemals einfallen, die Ohren seiner Opfer anzunageln und diese eine Nacht lang so angenagelt stehen zu lassen, oder sich eine gleich große Folter, die er mit seinen Mitteln ausführen könnte, zu ersinnen. Diese Türken haben übrigens mit besonderer Wollust Kinder gequält, haben sie mit Dolchen aus dem Mutterleibe herausgeschnitten, haben Säuglinge in Gegenwart der Mütter in die Luft geworfen und mit den Bajonetten aufgefangen. Daß es vor den Augen der Mütter geschah, war ja das Hauptvergnügen. Ein kleines Bild hat auf mich am meisten Eindruck gemacht. Stell dir vor: Ein Säugling auf den Armen seiner zitternden Mutter, um sie herum die eingedrungenen Türken. Sie haben sich ein lustiges Späßchen ausgedacht: Sie liebkosen das Kleine, lachen, um es zu erheitern, was ihnen auch gelingt: der Säugling lacht mit. Da hält ein Türke seine Pistole vor das Köpfchen des Kleinen. Der Knabe lacht fröhlich, streckt die Ärmchen dem blanken Ding entgegen, um es zu erfassen, und plötzlich drückt der Künstler den Hahn ab, ihm gerade ins Gesicht, und zerschmettert ihm das Köpfchen ... Raffiniert, nicht wahr? Übrigens sagt man, die Türken liebten Süßigkeiten sehr.“ „Bruder, was soll das, warum redest du davon?“ fragte Aljoscha. „Ich meine, wenn der Teufel nicht existiert und ihn folglich der Mensch erdacht hat, so hat er ihn nach seinem Bilde geschaffen.“ „In dem Falle also ebensogut wie Gott.“ „Es ist bewundernswert, wie du die Worte zu verdrehen verstehst, wie Polonius im _Hamlet_ sagt,“ bemerkte Iwan lachend. „Du hast mich beim Wort gefangen; meinetwegen, es freut mich. Dann muß ja der Gott auch danach sein, wenn ihn der Mensch sich zum Bilde, zum Bilde des Menschen geschaffen hat! Du fragst mich, was das soll? Sieh mal, ich bin ein Liebhaber und Sammler gewisser Tatsachen und, glaub mir, ich hebe aus Zeitungen, Büchern, Broschüren oder einerlei woraus eine gewisse Art von Geschichten auf. Ich habe schon eine ganze Sammlung von solchen Blättern. Die Türken sind natürlich auch aufgehoben. Doch das sind immerhin Ausländer, aber ich habe auch heimatliche Geschichten, die sogar noch besser sind als die türkischen. Weißt du, bei uns gibt es viel Prügel, viel Ruten- und Peitschenhiebe, und das ist national. Bei uns sind angenagelte Ohren undenkbar, wir sind doch immerhin Europäer, aber Ruten und Peitschen sind etwas, das zu uns gehört und uns nicht genommen werden kann. Im Auslande, scheint es, schlägt man jetzt überhaupt nicht mehr. Haben sich nun die Sitten dort dermaßen geläutert, oder haben sich die Gesetze dort so ausgearbeitet, daß der Mensch den Menschen, wie es scheint, nicht mehr prügeln darf, ich weiß es nicht. Doch dafür haben sie sich mit etwas anderem entschädigt, etwas gleichfalls rein Nationalem, das bei uns, sollte man meinen, unmöglich wäre, obgleich es übrigens auch hier schon Wurzel schlägt, besonders seit der Zeit, da die religiöse Bewegung in unserer höheren Gesellschaft begonnen hat. Ich habe eine prächtige kleine Broschüre, eine Übersetzung aus dem Französischen. Es ist eine Art Bericht darüber, wie in Genf vor nicht langer Zeit, vor etwa fünf Jahren, ein Räuber und Mörder, namens Richard, ein, glaube ich, dreiundzwanzigjähriger Bursche, der sich kurz vor dem Tode zum Christentum bekehrt hatte, hingerichtet wurde. Dieser Richard war als uneheliches Kind schon mit sechs Jahren von den Eltern irgendwelchen Schweizer Hirten geschenkt worden, und die hatten ihn erzogen, um ihn dann später zur Arbeit zu gebrauchen. Er wuchs auf wie ein wildes kleines Tier, die Hirten ließen ihn nichts lernen, schickten ihn schon mit sieben Jahren, um die Herde zu hüten, hinaus in die Feuchtigkeit und Kälte, fast ohne Kleider und ohne Nahrung. Und natürlich sah niemand von den Hirten etwas Schlechtes darin, oder dachte jemand darüber nach, oder bereute man etwas, im Gegenteil, alle hielten sie sich für vollkommen berechtigt, ihn so zu behandeln, denn Richard war ihnen wie ein Gegenstand geschenkt worden, und sie fanden es nicht einmal für nötig, ihn zu ernähren. Richard hat selbst ausgesagt, daß er in jenen Jahren, wie der verlorene Sohn in der biblischen Geschichte, gern von den Trebern gegessen hätte, die die Schweine fraßen, doch man gab ihm nicht einmal die zu essen und schlug ihn, wenn er sich etwas davon stahl. Und so verbrachte er seine Kindheit und Jugend, bis er groß wurde und stehlen ging. Dieser Wilde begann in Genf als Tagelöhner Geld zu verdienen, vertrank natürlich alles, lebte wie ein Ungeheuer und erschlug und beraubte schließlich irgendeinen alten Mann. Er wurde ergriffen, gerichtet und zum Tode verurteilt. Dort ist man ja nicht sentimental. Doch siehe, im Gefängnis umringten ihn alsbald Pastoren und alle Anhänger christlicher Brüderschaften, wohltätige Damen usw. usw. Ihm wird im Gefängnis das Beten und Schreiben beigebracht, ihm wird das Evangelium erklärt, ihm wird ins Gewissen geredet, er wird überzeugt, bedrängt, gepreßt, gedrückt und geknetet, bis er schließlich selbst sein Verbrechen feierlich eingesteht. Er ist bekehrt, er schreibt an die Richter, daß er ein Auswurf des Menschengeschlechts sei, und daß der Herr ihn endlich erleuchtet und gesegnet habe. Ganz Genf gerät in Wallung, das ganze wohltätige, hochehrsame Genf regt sich auf! Alles, was sich zu den Höheren und Wohlerzogenen zählt, stürzt hin ins Gefängnis zu Richard. Er wird geküßt und umarmt: ‚Du bist unser Bruder,‘ heißt es, ‚siehe, der Herr hat dich erleuchtet, die Gnade des Herrn ruht auf dir!‘ Richard aber weint nur vor Rührung. ‚Ja, ja, die Gnade des Herrn ruht auf mir! Früher in meiner Kindheit und Jugend freute ich mich nur auf Schweinefraß, jetzt aber hat mich der Herr erleuchtet, und ich sterbe im Herrn!‘ – ‚Ja, ja, Richard, stirb im Herrn, du hast Blut vergossen und mußt dafür im Herrn sterben. Wenn du auch nicht die Schuld daran trägst, daß du den Herrn früher überhaupt nicht kanntest, damals, als du die Schweine um das Futter beneidetest, und als man dich dafür schlug, daß du es von den Schweinen stahlst – was sehr unrecht von dir war, denn stehlen ist verboten –, aber du hast Blut vergossen und mußt dafür sterben.‘ Und siehe, der letzte Tag bricht an. Der schwach gewordene Richard ist in Tränen aufgelöst und wiederholt nur ununterbrochen: ‚Das ist mein schönster Tag, ich gehe heut ein zum Herrn!‘ – ‚Ja,‘ singen sofort die Pastoren, Richter und die wohltätigen Damen, ‚ja, das ist dein glücklichster Tag, denn du gehst ein zum Herrn!‘ Und alles zieht hin zum Schafott, zu Fuß und in Equipagen, als Geleit des Schinderkarrens, in dem Richard zum Schafott gefahren wird. Schließlich kommt man an. ‚Stirb, Bruder,‘ schreit man ihm von allen Seiten zu, ‚gehe hin in Frieden, stirb im Herrn, denn Sein Segen ruht auf dir!‘ Und siehe, der von Bruderküssen bedeckte Bruder Richard wird auf das Schafott geschleppt, sein Kopf wird auf die Guillotine gelegt und hübsch brüderlich abgekappt – dafür, daß sich der Segen Gottes über ihn ergossen hatte. Nun, das ist charakteristisch! Diese Broschüre ist ins Russische von irgendwelchen Aufklärungsbeflissenen aus der höheren Gesellschaft übersetzt und zur Bildung und Unterweisung des russischen Volkes mit Tageszeitungen und anderen Blättern und Monatsheften unentgeltlich versandt worden. Was diese Geschichte von Richard so bemerkenswert macht, ist das Nationale. Bei uns ginge es nicht gut an, den Kopf des Bruders bloß deswegen zu fällen, weil er erst jetzt unser Bruder geworden ist, und weil der Segen Gottes sich über ihn ergossen hat. Doch dafür haben wir etwas anderes, das jenem kaum nachsteht. Bei uns gibt es die historische, unmittelbarste und einfachste Strafe durch Hiebe. In der Tat, das Peitschen scheint vielen von uns ein Vergnügen zu sein. Nekrassoff erzählt in einem seiner Gedichte, wie ein Bauer sein Pferd mit der Peitsche auf die Augen schlägt, ‚auf die frommen Augen‘. Nun, wer hat das nicht gesehen, das ist doch echt russisch. Er beschreibt, wie das schwache Tier, dessen überladene Fuhre im grundlosen Wege stecken geblieben ist, anzieht und anzieht und doch nicht weiter kann. Der Bauer peitscht es, peitscht es, ohne zu wissen, was er tut. Unbarmherzig, trunken vom Prügeln, peitscht er immer weiter: ‚Und wenn du auch krepierst, aber zieh, zieh’s heraus!‘ Das Pferd zieht und zieht, und da fängt er an, das arme schutzlose Tier auf die weinenden, die ‚frommen Augen‘ zu schlagen. Außer sich zog das Tier und zog die Fuhre heraus, zitternd, ohne zu atmen, irgendwie seitwärts und fast springend, ganz unnatürlich und schimpflich, – Nekrassoff hat es geradezu grausam geschildert. Und das ist doch schließlich nur ein Pferd, und Pferde hat Gott zum Prügeln gegeben. So wenigstens haben es uns die Tataren erklärt, und zum Andenken haben sie uns dann die Knute geschenkt. Aber man kann doch auch Menschen peitschen. Und da prügelt nun ein intelligenter gebildeter Herr mit dem Einverständnis seiner Madame sein eigenes Töchterchen, ein Kind von sieben Jahren, prügelt es mit Ruten, – ich habe mir alles ausführlich notiert: Der liebe Papa freut sich, daß die Ruten spitze Enden haben: ‚Werden schärfer ziehen,‘ sagt er, und so beginnt er denn, sein Töchterchen zu prügeln. Ich weiß, es gibt viele Leute, die beim Prügeln mit jedem Schlage immer mehr in Eifer geraten, denen das Schlagen schließlich zum Genuß, zur Wollust wird. Sie schlagen eine Minute lang, schlagen fünf Minuten, zehn Minuten lang, je länger desto stärker, desto wütender, desto schmerzhafter. Das Kind schreit, bis es nicht mehr schreien kann, es keucht nur noch: ‚Papa, Papa!‘ Und diese Geschichte war nun durch irgendeinen teuflisch unanständigen Zufall vor Gericht gekommen. Es wird ein Verteidiger angenommen. Unser Volk hat nicht umsonst den Advokaten ein ‚gemietetes Gewissen‘ benannt. Der Verteidiger schreit zur Rechtfertigung seines Klienten: ‚Herrgott, was ist das doch für eine gewöhnliche, in jeder Familie täglich vorkommende Geschichte: Der Vater hat seine Tochter bestraft! Und so etwas bringt man heutzutage, zur Schmach unserer Zeit, vors Gericht!‘ Die Geschworenen ziehen sich zurück und beschließen die Freisprechung des Angeklagten. Das Publikum gröhlt vor Freude darüber, daß man einen Peiniger freigesprochen hat. – Ach, schade, daß ich nicht zugegen war, ich hätte sofort vorgeschlagen, zu Ehren dieses Vaters ein Stipendium auf seinen Namen zu stiften! ... Ja, diese kleinen Bilder sind ganz vorzüglich. Doch von Kindern habe ich noch bessere Geschichten, habe sehr viel solcher Geschichten von kleinen Märtyrern, Aljoscha. Zum Beispiel: Ein kleines fünfjähriges Mädchen wird seinen Eltern plötzlich verhaßt. Es sind ‚ehrenwerte, gebildete und wohlerzogene Leute vom Beamtenstande‘. Sieh, ich behaupte nochmals positiv, daß sie eine besondere Eigenschaft vieler Menschen ist, diese Vorliebe für das Foltern kleiner Kinder: gerade daß es Kinder sind, ist für sie die Hauptsache. Zu allen anderen Subjekten der Menschheit verhalten sie sich wohlwollend und freundlich, wie alle gebildeten und humanen Europäer, doch Kinder zu quälen lieben sie ganz ungemein, und aus diesem Grunde lieben sie auch die Kinder. Hier ist es wohl gerade die Schutzlosigkeit dieser kleinen Geschöpfe, die sie fasziniert, diese engelgleiche Zutraulichkeit des Kindes, das nicht fortlaufen kann und niemanden hat, an den es sich klammern könnte, – das ist es gerade, was das böse Blut des Peinigers erhitzt. Versteht sich, in jedem Menschen verbirgt sich das Tier, – im Zorn, in der wollüstigen Erregung durch die Schreie des gefolterten Opfers, in der sinnlosen Wut, in der Reizbarkeit der durch eigene Verderbnis zugezogenen Krankheiten, wie Podagra, Leberleiden und so weiter. Diesem armen fünfjährigen Mädchen wurden von seinen ‚gebildeten‘ Eltern die verschiedensten Foltern zugedacht. Die Kleine wurde geschlagen, geprügelt, mit den Füßen gestoßen, – kurz, ohne selbst zu wissen weswegen, bedeckten diese Eltern den Körper ihres Kindes mit blauen Flecken. Zuletzt gelangten sie noch zu einer höheren Art von Folter: Sie schlossen das arme kleine Ding für die ganze Nacht in den kalten Abtritt ein, weil, wie sie sagten, die Kleine in der Nacht nicht gebeten habe, sie aufs Töpfchen zu setzen – als ob ein fünfjähriges kleines Wesen in seinem festen Kinderschlaf davon erwachen könnte! Und dafür haben sie ihm das Gesicht mit Kot beschmiert und es gezwungen, diesen Kot zu essen, ja, dazu hat die Mutter, versteh mich recht, die Mutter ihr Kind gezwungen! Und diese Mutter hat schlafen können, während ihr Kindchen an dem kalten, gemeinen Ort war und weinte! Verstehst du das, Aljoscha, wenn das kleine Wesen, das noch nicht begreifen kann, was mit ihm geschieht, dort im Örtchen in Dunkelheit und Kälte hockt und sich mit seinem kleinen, kleinen Fäustchen an seine schluchzende, magere kleine Kinderbrust schlägt und mit unschuldigen, frommen Tränen zu seinem ‚lieben Gottchen‘ betet, damit er es beschütze, – verstehst du das, Aljoscha, du mein Freund und Bruder und demütiger Gottesdiener, der du bist – begreifst du, wozu diese Sinnlosigkeit nötig und geschaffen ist? Ohne sie, sagt man, könnte der Mensch auf der Welt nicht leben, denn ohne sie würde er nie Gut und Böse erkannt haben. Aber wozu dieses Teufels Gut und Böse erkennen, wenn das so viel kostet? Ist doch dann die ganze Erkenntniswelt nicht diese Kindertränen zum ‚lieben Gottchen‘ wert. Ich rede nicht von den Leiden der Großen. Die haben den Apfel vom Baume der Erkenntnis gegessen und – zum Teufel mit ihnen, aber die Kinder, die Kinder! Quäle ich dich, Aljoschka? Du bist ja ganz geistesabwesend, wie es scheint. Ich werde aufhören, wenn du willst.“ „Tut nichts, ich will mich gleichfalls quälen,“ murmelte Aljoscha. „Nur eines noch, nur noch ein einziges Bild! Es ist gar zu charakteristisch, und ich habe es erst vor ganz kurzer Zeit gelesen in einer der beiden großen Sammlungen, im ‚Archiv‘ oder im ‚Altertum‘ glaube ich, ich weiß es nicht mehr genau, – ich muß nachschlagen, habe vergessen, wo es war. Es datiert aus der Zeit der strengsten Leibeigenschaft, noch zu Anfang des Jahrhunderts. Ach, Heil unserem Zar-Befreier! – Es lebte damals zu Anfang des Jahrhunderts ein General, ein General mit guten Verbindungen, ein steinreicher Gutsbesitzer, doch einer von jenen Leuten – die allerdings auch damals bereits selten geworden waren –, die, wenn sie sich aus dem Dienst zurückzogen, fast überzeugt waren, sich das Recht über Leben und Tod ihrer Leibeigenen verdient zu haben. Solche gab es damals. Also dieser General lebt auf seinem Gute mit etwa zweitausend leibeigenen Seelen, lebt natürlich pompös, trätiert seine ärmeren Gutsnachbarn wie seine Freischlucker und Hofnarren. Seine Meute besteht aus Hunderten von Hunden, und die Zahl der Rüdenknechte ist nicht viel geringer als hundert, alle sind sie uniformiert und beritten. Und siehe, eines Tages verletzt ein kleiner, kaum achtjähriger Junge beim Spielen den Fuß des Lieblingsjagdhundes seiner Exzellenz. ‚Warum lahmt denn plötzlich mein Lieblingshund?‘ erkundigt sich der General. Es wird ihm berichtet, daß, nun, so und so, dieser Knabe den Hund mit einem Stein am Fuß getroffen habe. ‚Ah, also der ist es,‘ sagt der General mit einem entsprechenden Blick auf den Knaben. ‚Nehmt ihn.‘ Man nahm ihn, nahm ihn von der Mutter fort und steckte ihn in die Arrestkammer. Am nächsten Morgen ritt der General mit allem Drum und Dran zur Jagd, alle Gäste um ihn herum, Rüdenwärter und Piköre, Jägermeister, alle beritten und in Livree, und die Hunde gekoppelt. Das ganze Hofgesinde war versammelt, und vorn vor allen anderen steht die Mutter des schuldigen Knaben. Da wird der Knabe aus der Arrestkammer gebracht. Es ist ein trüber, kalter, nebliger Herbsttag, wie geschaffen zur Jagd. Der General befiehlt, den Knaben zu entkleiden; der Kleine wird bis auf die Haut entkleidet, er zittert, ist fast ganz bewußtlos vor Angst, wagt kaum zu atmen ... ‚Hetzt ihn!‘ kommandiert plötzlich der General, und ‚lauf, lauf!‘ schreien dem Kleinen die Piköre zu, – der Knabe läuft ... ‚Packt ihn!‘ brüllt der General und hetzt auf den kleinen laufenden Knaben seine ganze wilde Hundeschar. Vor den Augen der Mutter hetzte er das Kind zu Tode, und die Hunde zerrissen es in Stücke! ... Der General wurde, glaub ich, unter Kuratel gestellt ... Nun, was hätte man wohl anders mit ihm tun sollen? Erschießen? Zur Befriedigung des sittlichen Gefühls erschießen? Sag doch, Aljoschka!“ „Ja, erschießen!“ sagte Aljoscha leise, mit einem blassen, gleichsam verzerrten Lächeln, den Blick zum Blick des Bruders erhebend. „Bravo!“ rief Iwan triumphierend, als ob ihn die Antwort geradezu entzückt hätte, „wenn schon du es sagst, dann muß es auch so richtig sein! ... Ach, du Asket! Da sieh doch einer, was für ein kleiner Teufel in deinem Herzen sitzt, Aljoscha Karamasoff!“ „Ich habe eine Dummheit gesagt, aber ...“ „Das ist es ja, daß darauf ein ‚aber‘ folgt!“ fiel ihm Iwan lebhaft ins Wort. „Weißt du auch, du kleiner Knabe, daß die Dummheiten auf Erden nur allzu nötig sind? Auf Unsinn beruht die Welt, und ohne ihn würde auf ihr vielleicht überhaupt nichts geschehen. Ich weiß, was ich weiß!“ „Was weißt du?“ „Ich begreife nichts,“ fuhr Iwan wie im Fieber fort, – es war, als ob er irre redete – „und ich will jetzt auch nichts begreifen. Ich will bei der Tatsache bleiben. Ich habe schon längst beschlossen, _nicht_ begreifen zu wollen. Sobald ich etwas begreifen will, entstelle ich sofort die Tatsachen, jetzt aber will ich bei der Tatsache bleiben.“ „Warum quälst du mich so?“ stieß Aljoscha plötzlich klagend hervor, – „wirst du es mir denn nicht endlich sagen?“ „Natürlich werde ich es dir sagen; deswegen habe ich doch alles das erzählt, um es dir sagen zu können. Teuer bist du mir, Alexei, ich gönne dich niemandem, ich kämpfe um dich, ich trete dich nicht deinem Sossima ab!“ Iwan schwieg eine Zeitlang, und sein Gesicht ward über die Maßen traurig. „Höre mich an: Ich habe nur die kleinen Kinder genommen, damit es augenscheinlicher sei. Von den übrigen Tränen der Menschen, mit denen die Erde von ihrer Kruste bis zum Mittelpunkt der Achse durchtränkt ist, will ich weiter kein Wort reden, ich habe das Thema absichtlich beschränkt. Ich bin, sagen wir, eine Wanze und gestehe mit meiner ganzen Erniedrigung ein, daß ich nicht begreifen kann, wozu alles so eingerichtet ist. Die Menschen tragen, wie sich erweist, selbst an allem die Schuld: Ihnen ward das Paradies gegeben, sie aber wollten Freiheit und raubten das Feuer vom Himmel, obgleich sie wußten, daß sie dadurch unglücklich würden. Also ist kein Grund vorhanden, sie zu bemitleiden. O, nach meinem armseligen, irdischen, euklidischen Verstande weiß ich nur das eine, daß es Leiden gibt, Schuldige aber nicht, daß sich bei allem eines aus dem anderen gerade und einfach ergibt, daß alles fließt und sich aufwägt, – aber das ist nur eine euklidische Ente, das weiß ich doch, und ich kann doch nicht einwilligen, danach zu leben! Was habe ich davon, daß keine Schuldigen vorhanden sind, und daß sich alles gerade und einfach eines aus dem anderen ergibt, und daß ich das weiß! Ich brauche Vergeltung oder ich vernichte mich!! Und die Vergeltung nicht irgendwo und irgendwann in der Unendlichkeit, sondern noch hier auf Erden, so daß ich sie selbst sehen kann. Ich habe geglaubt, also will ich auch mit eigenen Augen sehen, und wenn ich zu der Stunde schon tot bin, so soll man mich auferstehen lassen – denn es wäre doch, wenn alles ohne mich geschehen sollte, gar zu kränkend für mich. Will ich doch nicht dazu gelitten haben, um mit meinen Verbrechen und meinen Leiden für irgendeinen Anderen die zukünftige Harmonie zu düngen. Ich will mit meinen Augen sehen, wie das Reh arglos neben dem Löwen ruht, und wie der Ermordete aufsteht und seinen Mörder umarmt. Ich will dabei sein, wenn alle plötzlich erfahren, warum und wozu alles so gewesen ist. Auf diesem Wunsch beruhen alle Religionen der Erde. Ich aber glaube. Doch da sind nun die kleinen Kinder, was soll ich mit ihnen anfangen? Das ist eine Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. Zum hundertstenmal sage ich dir: Solcher Fragen gibt es in Unmenge, doch ich habe nur die Kinder allein genommen, denn hierbei ist das, was ich zu sagen habe, unwiderlegbar klar. Höre mich: Wenn alle leiden müssen, um damit die ewige Harmonie zu erkaufen, so sag mir doch bitte, was das mit den kleinen Kindern zu tun hat? Es bleibt unbegreiflich, warum auch sie leiden müssen, und warum auch sie durch Leiden die Harmonie erkaufen sollen. Warum sind auch sie zu Material gemacht, um für irgend jemanden die zukünftige Harmonie zu düngen? Die Solidarität der Menschen in der Sünde begreife ich sehr wohl, ich begreife auch die Solidarität in der Vergeltung – aber doch nicht mit kleinen Kindern Solidarität in der Sünde! Und wenn die Wahrheit wirklich darin besteht, daß sie mit ihren Vätern in allen Verbrechen derselben solidarisch sind, so ist diese Wahrheit, versteht sich, nicht von dieser Welt und ist für mich unbegreiflich. Manch ein Spaßvogel wird wohl sagen, daß es schließlich auf dasselbe hinauskäme: das Kind werde groß und hätte dann selbst übergenug Zeit zum Sündigen. Aber dieser kleine Knabe wurde doch schon im achten Lebensjahre von Hunden zerrissen ... O, Aljoscha, ich will nicht lästern! Ich begreife doch, wie groß die Erschütterung des Weltalls sein wird, wenn alles im Himmel, auf der Erde und unter der Erde in einen einzigen Lobgesang zusammenfließt, wenn alles, was lebt, und was gelebt hat, ausruft: ‚Gerecht bist du, o Herr, denn offenbar sind jetzt deine Wege!‘ Wenn selbst die Mutter den Peiniger, der ihren Sohn von Hunden hat zerreißen lassen, umarmt und alle drei mit Tränen singen: ‚Gerecht bist du, o Herr,‘ – dann, ja dann ist die Krone alles Wissens und Erkennens erworben, dann wird alles seine Erklärung finden. Hier aber ist nun für mich der Haken, denn gerade das ist es, was ich nicht annehmen kann. Und daher beeile ich mich, solange ich noch auf Erden bin, meine Maßregeln zu ergreifen. Denn sieh, Aljoscha, es ist doch möglich, daß ich, wenn ich diesen Augenblick noch erlebe oder von den Toten auferweckt werde, um das alles zu sehen, – daß auch ich dann beim Anblick der Mutter, die den Peiniger ihres Sohnes umarmt, mit allen anderen zusammen ausrufe: ‚Gerecht bist du, o Herr!‘ Ich aber will das nicht ausrufen. Und darum beeile ich mich, solange es noch Zeit ist, Maßregeln zu ergreifen, und darum danke ich von vornherein für jede höhere Harmonie. Ist sie doch keine einzige Träne jenes gequälten kleinen Kindes wert, das sich mit der kleinen Faust an die kleine Brust geschlagen und zu seinem ‚lieben Gottchen‘ gebetet hat. Sie ist es nicht wert, denn diese Kindertränen sind unausgelöscht geblieben. Sie aber müssen ausgelöscht werden, oder sonst gibt es keine Harmonie. Aber womit, womit kannst du sie auslöschen? Ist das überhaupt möglich? Was tut es schließlich, daß sie gerächt werden? Was tue ich mit der Rache, wozu nützen mir die Höllenqualen der Peiniger, was kann die Hölle hierbei wieder gutmachen, wenn das Kind schon zu Tode gequält ist? Und wo bleibt dann die Harmonie, wenn es noch eine Hölle gibt? Ich will verzeihen und umarmen und will nicht, daß noch gelitten wird. Und wenn die Leiden der Kinder zur Ergänzung jener Summe von Leid, die zum Kauf der Wahrheit erforderlich ist, hinzugerechnet werden müssen, so behaupte ich im voraus, daß die Wahrheit diesen Preis nicht wert ist. Ich will nicht, daß die Mutter den Peiniger ihres Sohnes umarmt! Wie darf sie es wagen, ihm zu vergeben? Wenn sie will, kann sie für sich vergeben – mag sie ihm ihr unermeßliches Mutterleid und alle ihre Schmerzen verzeihen: doch die Leiden ihres von Hunden zerrissenen Kindes darf sie nicht verzeihen, dazu hat sie kein Recht, und wenn auch ihr Kind selbst dem Peiniger vergibt! Wenn das aber so ist, wenn man nicht verzeihen darf, wo ist dann die Harmonie? Gibt es in der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte, das das Recht hätte, zu verzeihen? Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich keine. Lieber bleibe ich bei ungerächten Leiden. Lieber bleibe ich bei meinem ungerächten Leiden und in meinem heiligen unstillbaren Zorn, _selbst wenn ich nicht im Recht wäre_. Ist doch diese Harmonie gar zu teuer eingeschätzt! Wenigstens erlaubt es mein Beutel nicht, so viel für den – Eintritt zu zahlen. Darum aber beeile ich mich, mein Eintrittsbillett zurückzustellen. Und wenn ich ein Mann von Ehre bin, so ist es meine Pflicht, dies sobald als möglich zu tun. So tue ich es denn auch. Nicht Gott ist es, den ich ablehne, Aljoscha, ich schicke ihm nur die Eintrittskarte ergebenst zurück.“ „Das ist Empörung,“ sagte Aljoscha leise mit gesenktem Blick. „Empörung? Dieses Wort wünschte ich nicht von dir zu hören,“ sagte Iwan empfindsam mit tiefem Blick auf den Bruder. „Kann man denn in der Empörung leben? Ich aber will leben. Sage mir offen, ich rufe dich an, antworte: Nehmen wir an, du selbst solltest das Gebäude des Menschenschicksals errichten mit dem Ziel, zum Schluß alle Menschen zu beglücken, ihnen endlich Ruhe und Frieden zu geben, doch zu dem Zweck stünde dir unvermeidlich bevor, und wär’s auch nur ein einziges kleines Wesen zu Tode zu quälen, sagen wir, dasselbe kleine Kind, das sich mit der kleinen Faust an die kleine Brust schlug – auf dessen ungerächten Tränen solltest du dieses Gebäude errichten, – würdest du es übernehmen, unter dieser Bedingung der Baumeister des großen Gebäudes zu sein? Sage es mir und lüge nicht!“ „Nein, ich würde es nicht übernehmen,“ sagte Aljoscha leise. „Und kannst du glauben, daß die Menschen, für die du baust, einwilligen werden, ihr Glück auf Grund des ungerecht vergossenen Blutes jenes zu Tode gehetzten Knaben zu empfangen? und daß sie dann ewig glücklich sein können?“ „Nein, das kann ich nicht glauben ... Ach, Iwan,“ sagte Aljoscha plötzlich mit aufleuchtenden Augen, „du fragtest vorhin: Gibt es in der ganzen großen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte, das das Recht hätte, zu verzeihen? Aber dieses Wesen gibt es, und es kann alles vergeben, allen und _für alles_, denn es selbst hat sein unschuldiges Blut für alle und alles hingegeben. Du hast ihn vergessen, auf ihm aber wird sich das Gebäude errichten und ihm wird man zurufen: ‚Gerecht bist du, o Herr, denn deine Wege sind jetzt offenbar.‘“ „Ach, das ist es ja, der ‚Einzige Sündenlose‘ und ‚Sein Blut‘! Nein, ich habe ihn nicht vergessen, im Gegenteil, ich wunderte mich die ganze Zeit, warum du ihn noch nicht vorführtest, denn gewöhnlich ist Er das erste, was deinesgleichen in allen derartigen Diskussionen nennen ... Weißt du, Aljoscha, – du brauchst nicht zu lachen, die Sache ist ernst –: Ich habe einmal, so etwa vor einem Jahr, ein Poem verfaßt. Wenn du noch zehn Minuten mit mir verlieren wolltest, so könnte ich es dir vielleicht erzählen.“ „Wie, du hast ein Gedicht geschrieben?“ „O nein, ist mir nicht eingefallen,“ antwortete Iwan lachend. „Ich habe in meinem ganzen Leben bestimmt nicht einmal zwei Verse zusammengebracht. Dieses ‚Poem‘ habe ich mir ganz einfach ausgedacht, und, ohne es niederzuschreiben, behalten. Oh, ich habe es mir mit Begeisterung ausgedacht! Du wirst also mein erster Leser sein oder sagen wir Zuhörer. Nein, wirklich, warum soll sich der Autor einen Zuhörer entgehen lassen, und wenn es nun noch gar der einzige in Frage kommende ist,“ meinte Iwan lächelnd. „Soll ich also erzählen oder nicht?“ „Ich bin sehr gespannt,“ sagte Aljoscha. „Nun, mein Poem heißt; ‚Der Großinquisitor‘, – ein unsinniges Ding, aber ich will es dir nun einmal erzählen.“ V. „Der Großinquisitor“ „Natürlich geht es auch hier nicht ohne Vorrede ab, ich meine, ohne ein literarisches Vorwort, – hol’s der Kuckuck!“ begann Iwan lachend, „und schließlich, was bin ich denn für ein Dichter! ... Also – die Handlung spielt bei mir im sechzehnten Jahrhundert, damals aber – dir muß das übrigens schon aus der Schule bekannt sein –, damals war es allgemein gebräuchlich, die himmlischen Mächte in poetischen Darstellungen auf die Erde zu bringen. Von Dante will ich nicht weiter reden. In Frankreich waren es die Schreiber der Gerichtshöfe, die Passionsbrüderschaften und in den Klöstern die Mönche, die ganze Vorstellungen gaben, in denen auf der Szene die Madonna, Engel, Heilige, Christus und selbst Gott dargestellt wurden. Damals war das alles naiv gemeint. In Victor Hugos _Notre Dame de Paris_ wird unter Ludwig XI., zur Feier der Geburt des Dauphins, in Paris, im Saale des Hotel de Ville, unentgeltlich dem Volke eine erbauliche Vorstellung gegeben, unter dem Titel: ‚_Le bon jugement de la très sainte et gracieuse Vierge Marie_‘, in der sie persönlich erscheint und ihr _bon jugement_ verkündet. Auch bei uns in Moskau wurden früher, vor Peter, eben solche dramatische Aufführungen veranstaltet, vornehmlich nach Stoffen aus dem Alten Testament. Und so gab es denn auch damals, als diese dramatischen Aufführungen so beliebt waren, überall solche Geschichten, sogenannte ‚Poeme‘ und ‚Gedichte‘, in denen je nach Bedarf Heilige, Engel und womöglich alle himmlischen Mächte mitwirkten. In unseren Klöstern wurden diese Werke vielfach übersetzt und abgeschrieben, oder man verfaßte ganz neue – und weißt du auch, wann bereits? Zur Zeit des Tatarenjochs![17] Es gibt zum Beispiel ein Klosterpoem – natürlich aus dem Griechischen: ‚Der Gang der Mutter Gottes durch die Hölle‘, von einer Kühnheit der Phantasie, die der danteschen wirklich nicht nachsteht. Die Mutter Gottes steigt hinab in die Hölle, und der Erzengel Michael führt sie ‚durch die Qualen‘. Sie sieht jeden Sünder in seiner Pein. Unter anderem gibt es dort auch eine äußerst bemerkenswerte Kategorie von Sündern in einem brennenden See: diejenigen, welche in diesem See bereits so weit versunken sind, daß sie nicht mehr herausschwimmen können, von denen heißt es, daß ‚Gott sie bereits vergäße‘ – es ist ein Ausdruck von ungewöhnlicher Tiefe und Kraft. Und siehe, die erschütterte Mutter Gottes fällt weinend vor dem Throne des Höchsten nieder und bittet ihn um Vergebung für alle, die sie dort in der Hölle gesehen hat, für alle ohne Ausnahme. Ihr Gespräch mit Gott ist ungemein interessant. Sie fleht; sie hört nicht auf zu flehen; und wie Gott auf die durchbohrten Hände und Füße ihres Sohnes weist und sie fragt: ‚Wie soll ich seinen Peinigern vergeben?‘ – da befiehlt sie allen Heiligen, allen Märtyrern, allen Engeln und Erzengeln mit ihr zusammen niederzuknien und um die Begnadigung aller ohne Ausnahme zu flehen. Es endet damit, daß sie von Gott die Einstellung der Qualen in jedem Jahr vom Karfreitag bis zum Pfingstsonntag erbittet, und da ertönt aus der Hölle der Dank und der Lobgesang der Sünder, die laut zu ihm rufen: ‚Gerecht bist du, o Herr, da du also gerichtet hast.‘ Von der Art wäre nun auch mein Poem gewesen, wenn ich es in jener Zeit verfaßt hätte. Bei mir erscheint auf der Szene Er. Allerdings spricht Er kein Wort, Er erscheint nur und geht vorüber. Fünfzehn Jahrhunderte sind seit Seinem ersten Erscheinen vergangen, seit der Zeit, da Er den Menschen versprach, wiederzukommen und sein Reich auf Erden zu errichten, fünfzehn Jahrhunderte seit der Zeit, da Er, wie sein Jünger uns berichtet, zu uns sagte, als Er noch unter ihnen wandelte: ‚Wahrlich, ich komme bald. Von jenem Tage aber und der Stunde weiß nicht einmal der Sohn, nur mein himmlischer Vater weiß es.‘ Doch die Menschheit erwartet Ihn in demselben Glauben und mit derselben Sehnsucht wie früher. Was sage ich! – in noch größerem Glauben erwartet sie Ihn, denn fünfzehn Jahrhunderte sind schon seit der Zeit vergangen, da der Himmel dem Menschen ein Unterpfand gab ... ‚Was das Herz dir saget, daran glaube: Der Himmel gibt kein Unterpfand den Menschen.‘ Es ist wahr, es gab damals viele Wunder. Es gab Heilige, die wunderbare Heilungen vollbrachten, und zu manchen frommen Einsiedlern stieg die Himmelskönigin herab, wie wir aus vielen Lebensgeschichten wissen. Doch auch der Teufel schlief nicht: und siehe, in der Menschheit erhoben sich Zweifel an der Wahrheit dieser Wunder. Und da verbreitete sich im Norden, in Deutschland, eine furchtbare neue Ketzerei. Ein großer Stern, ‚ähnlich einer Leuchte – das heißt also, der Kirche – fiel in die Quellen der Wasser, und siehe, das Wasser ward bitter‘. Die Sekten begannen gotteslästerlich die Wunder zu leugnen. Aber um so glühender glauben die Treugebliebenen. Die Tränen der Menschen steigen nach wie vor zu Ihm empor, man erwartet Ihn, man liebt Ihn, man hofft auf Ihn, wie früher ... Und siehe, so viele Jahrhunderte haben die Menschen in feurigem Glauben zu Ihm gebetet und Ihn angerufen: ‚Unser Herr und Gott, erscheine uns!‘ daß Er in Seinem unermeßlichen Mitleid zu den Flehenden herabsteigen will. War Er doch auch schon vordem herabgestiegen und zu gar manchen Gerechten, Märtyrern und heiligen Einsiedlern gegangen, wie wir es aus deren Lebensgeschichte wissen. Tjutscheff hat, vollkommen überzeugt, daß es so war, folgenden Vers geschrieben: ‚Unter der Last des dreiendigen Kreuzes, Inmitten der beiden verdammten Schächer, Ging Christ der König, wie ein Verbrecher, Der die Erde segnete.‘ Was natürlich auch so war, das sage ich dir von mir aus. Und siehe, Er will in seiner Barmherzigkeit wenigstens auf einen Augenblick zum Volke hinabsteigen, zu dem sich quälenden, dem leidenden, schmutzig-sündigen, doch kindlich Ihn liebenden Volke. Die Handlung spielt bei mir in Spanien, in Sevilla, zur Zeit der schrecklichsten Inquisition, als zum Ruhme Gottes täglich Scheiterhaufen auf zum Himmel flammten, und endlos, bei flackerndem Fackelschein, ‚In mächtigen, grausigen Zügen Die Ketzer zogen zum Autodafé.‘ Er kam natürlich nicht so zu den Menschen, wie Er nach Seiner Verheißung zu Ende der Zeiten in Seiner himmlischen Herrlichkeit erscheinen wird: plötzlich, wie ein Blitz von Morgenrot zu Abendrot. Nein, Er will nur auf einen Augenblick Seine Kinder wiedersehen, und zwar gerade dort, wo die Scheiterhaufen der Ketzer prasseln, wo Flammenzungen Menschenblut lecken. In Seiner unermeßlichen Barmherzigkeit wandelt Er noch einmal in derselben Menschengestalt, in der Er vor fünfzehn Jahrhunderten dreiunddreißig Jahre lang unter den Menschen erschienen war. Er erscheint auf den ‚heißen Plätzen‘ der südlichen Stadt, in der noch am Vorabend in Gegenwart des Königs, des ganzen Hofes, aller Granden, Kardinäle und der schönsten Hofdamen, in Gegenwart der zahlreichen Bevölkerung Sevillas, durch den greisen Kardinal, den Großinquisitor, auf einmal fast ein ganzes Hundert Ketzer _ad majorem gloriam Dei_ verbrannt worden war. Unmerklich ist Er plötzlich erschienen, und siehe, – sonderbar – alle erkennen Ihn. Das könnte eine der besten Stellen des Poems sein, ich meine, warum Ihn alle erkennen. Eine unbezwingbare Macht zieht das Volk zu Ihm hin; es umringt Ihn und wächst mehr und mehr um Ihn an und folgt Ihm, wohin Er geht. Er aber wandelt stumm unter ihnen mit einem stillen Lächeln unermeßlichen Mitleids. Eine Sonne der Liebe brennt in Seinem Herzen. Strahlen der Erleuchtung und der Kraft fließen aus Seinen Augen, und jeden, über den sie sich ergießen, machen sie vor Gegenliebe erbeben. Er streckt ihnen Seine Hände entgegen, Er segnet sie, und von der Berührung Seiner Hände, ja auch nur von der Berührung Seines Gewandes geht heilende Kraft aus. Da ruft aus der Menge ein Greis, der von Geburt an blind ist, Ihn, der vorübergeht, laut an: ‚Herr, heile mich, auf daß auch ich dich schaue.‘ Und siehe, es fällt wie Schuppen von seinen Augen, und der Blinde sieht Ihn. Das Volk weint und küßt die Erde, auf der Er gestanden hat. Kinder streuen vor Ihm Blumen; sie singen und rufen: ‚Hosianna!‘ ‚Das ist Er, Er selbst!‘ raunt sich das Volk immer lauter und lauter zu, ‚das muß Er sein, das kann kein anderer sein als Er!‘ – Da bleibt Er vor dem Portal der Kathedrale von Sevilla stehen. Man trägt gerade unter Weinen und Wehklagen einen weißen offenen Kindersarg in den Dom: in ihm liegt das tote siebenjährige Töchterchen eines vornehmen Bürgers, sein einziges Kind. Es liegt in weißen Blumen gebettet. ‚Er wird dein Kind erwecken‘, ruft man aus der Menge der weinenden Mutter zu. Aus der Kathedrale tritt dem Sarge ein Pater entgegen: er bleibt verwundert stehen und runzelt die Brauen. Da aber wirft sich die Mutter des toten Kindes klagend Ihm zu Füßen und sagt: ‚Bist du es, so erwecke mein Kind!‘ und flehend hebt sie ihre Hände zu Ihm empor. Die Prozession bleibt stehen, der kleine Sarg wird vor dem Portal der Kathedrale Ihm zu Füßen gelegt. Voll Mitleid blickt er auf das tote Kind, und seine Lippen murmeln leise: ‚__Talitha kumi__‘ – ‚stehe auf, Mädchen‘. Und das Mädchen erhebt sich im Sarge, setzt sich und blickt lächelnd mit weit offenen verwunderten Augen um sich. Ihre Hände pressen die weißen Rosen, mit denen sie im Sarge gelegen hat, an die Brust. Im Volke Bestürzung, Schreien, Schluchzen und – siehe da, da geht ... im selben Augenblick geht an der Kathedrale der greise Kardinal, der grausame Großinquisitor vorüber. Es ist ein fast neunzigjähriger Greis, hoch und aufrecht noch schreitet er, sein Gesicht ist vertrocknet und runzlig, die Augen sind eingefallen, sie liegen tief, doch noch glimmt in ihnen ein unheimliches Feuer, das unerwartete Funken sprühen kann. Nicht in seinen prächtigen Kardinalsgewändern geht er vorüber, in den leuchtenden Farben, in denen er gestern vor dem Volke erschienen war, als er die Feinde des römischen Glaubens den Flammen übergab. – Nein, in diesem Augenblick trägt er nur seine alte, grobe Mönchskutte. Ihm folgen in angemessener Entfernung seine dunklen Gehilfen und Sklaven und die ‚heilige‘ Wache. Nun bleibt er stehen vor dem Volk und beobachtet aus der Ferne. Er sieht alles, er sieht, wie der Sarg vor Seine Füße gestellt wird, er sieht, wie das Mädchen aufersteht, und sein Gesicht verfinstert sich. Er runzelt die grauen, buschigen Brauen, und sein Blick erglüht unheilverkündend. Er streckt seine Hand aus und befiehlt den Wachen, Ihn zu ergreifen. Und siehe, so groß ist seine Macht, und dermaßen unterwürfig und zitternd gehorsam ist ihm das Volk, daß es vor den Wachen wortlos zurückweicht und diese, inmitten der Grabesstille, Hand an Ihn legen und Ihn fortführen läßt. Und jäh beugt sich die ganze Menge, wie ein Mann, bis zur Erde vor dem greisen Großinquisitor. Der aber segnet schweigend das kniende Volk und geht stumm vorüber. Die Wache jedoch führt den Gefangenen in ein enges, dunkles, gewölbtes Verlies im alten Palaste des Heiligen Tribunals und schließt ihn dort ein. Der Tag vergeht, es wird Nacht: ‚dunkle, dumpfe, atemanhaltende, lautlose, sevillanische Nacht‘. Die Luft ist schwül von Lorbeer- und Orangenduft. Und da, inmitten der tiefen, lautlosen Nacht öffnet sich die eiserne Tür des Verlieses, und er, der Greis, der Großinquisitor tritt langsam mit der Leuchte in der Hand über die Schwelle. Er ist allein, hinter ihm schließt sich die Tür. Er steht und blickt lange schweigend in Sein Gesicht. Endlich tritt er unhörbar näher, stellt die Leuchte auf den Tisch und fragt Ihn: „‚Bist Du es? Du?‘ Und da er keine Antwort erhält, fügte er schnell hinzu: ‚Antworte nicht, schweige. Was könntest du auch sagen? Ich weiß nur zu gut, was Du sagen würdest. Aber Du hast nicht einmal das Recht, zu dem noch etwas hinzuzufügen, was von Dir schon früher gesagt worden ist. Warum also bist Du gekommen, uns zu stören? Denn du bist gekommen, uns zu stören! Das weißt Du selbst. Aber weißt Du auch, was morgen sein wird? Ich weiß nicht, wer Du bist und will es auch nicht wissen: Bist Du Er, oder bist Du nur Sein Ebenbild? Doch morgen noch werde ich Dich richten und Dich als den ärgsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und dasselbe Volk, das heute noch Deine Füße geküßt hat, wird morgen auf einen einzigen Wink meiner Hand zu Deinem Scheiterhaufen hinstürzen, um gierig die glühenden Kohlen zu schüren, – weißt Du das? Ja, vielleicht weißt Du es,‘ fügt er in Nachdenken versunken hinzu, ohne aber auch nur auf eine Sekunde den durchdringenden Blick von seinem Gefangenen abzuwenden.“ „Ich verstehe nicht ganz, Iwan, – was soll das?“ fragte lächelnd Aljoscha, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte. „Ist das einfach uferlose Phantasie, oder ist es irgendein Irrtum des Alten, ein unmögliches _qui pro quo_?“ „Nimm meinetwegen das letztere an,“ sagte Iwan lachend, „wenn dich unser zeitgenössischer Realismus bereits dermaßen verwöhnt hat, daß du nichts Phantastisches mehr ertragen kannst. Wenn du willst, also _qui pro quo_, mag es meinetwegen so sein. Es ist ja wahr,“ sagte er, sichtlich erheitert, „der Alte ist doch ein neunzigjähriger Greis und hat vielleicht schon längst über seinen Ideen den Verstand verloren. Der Gefangene aber hat ihn wohl durch sein Aussehen betroffen gemacht, wie? Oder schließlich konnte es ja auch einfach Fieberwahn sein, die Halluzination eines neunzigjährigen Greises kurz vor dem Tode – oder auch nur eine Nachwirkung der Erregung vom vergangenen Tage. Aber kann es denn uns beiden nicht ganz gleich sein, ob es _qui pro quo_ oder uferlose Phantasie ist? Hier handelt es sich doch nur darum, daß der Alte sich endlich aussprechen muß! Er muß doch wenigstens einmal das laut aussprechen, worüber er runde neunzig Jahre geschwiegen hat.“ „Und der Gefangene schweigt gleichfalls? Sieht ihn an und sagt kein Wort?“ „Kein einziges Wort, und so muß es sogar unbedingt sein,“ sagte Iwan wieder lachend. „Der Alte sagt Ihm doch selbst, daß er nicht einmal das Recht habe, etwas zu dem hinzuzufügen, was er schon früher gesagt hat. Wenn du willst, so liegt gerade darin der Grundzug des römischen Katholizismus. Wenigstens fasse ich ihn so auf. Mit anderen Worten: ‚Du hast alles dem Papst übergeben, und folglich liegt jetzt alles beim Papst, Du aber komme überhaupt nicht wieder, störe uns wenigstens nicht mehr!‘ In diesem Sinne reden sie ja nicht nur, sondern schreiben sie sogar, wenigstens die Jesuiten. Ich habe es selbst in den Schriften ihres Gottesgelahrten gelesen. ‚Hast Du das Recht, uns auch nur eines der Geheimnisse jener Welt, aus der Du gekommen bist, aufzudecken?‘ fragt Ihn mein Greis, und er gibt Ihm statt Seiner die Antwort auf die eigene Frage: ‚Nein, dieses Recht hast Du nicht, denn das hieße Neues zu dem, was Du schon früher gesagt hast, hinzufügen, und den Menschen die Freiheit nehmen, für die Du so eingestanden bist, als Du noch auf Erden warst. Alles, was Du Neues verkünden könntest, würde ein Eingriff in die Glaubensfreiheit der Menschen sein, denn es würde als Wunder erscheinen, und die Freiheit ihres Glaubens war Dir damals vor anderthalb Jahrtausenden das Teuerste. Warst Du es nicht, der damals so oft sagte: „Ich will euch frei machen“? Jetzt hast Du sie gesehen, diese freien Menschen!‘ fügt der Greis plötzlich mit nachdenklichem, spöttischem Lächeln hinzu ... ‚Ja, dies zu erreichen, war schwer, es hat uns viel gekostet,‘ fährt er dann fort, ohne seinen strengen Blick von Ihm abzuwenden, ‚doch wir haben es schließlich vollendet, in Deinem Namen. Anderthalb Jahrtausende haben wir uns mit dieser Freiheit gequält, doch jetzt ist das überwunden und gut überwunden. Du glaubst nicht, daß es gut überwunden ist? Du blickst mich milde und sanftmütig an und würdigst mich nicht einmal Deines Unwillens? So höre denn, daß gerade jetzt diese Menschen mehr denn je überzeugt sind, vollkommen frei zu sein. Sie haben uns eigenhändig ihre Freiheit gebracht und sie gehorsam und unterwürfig uns zu Füßen gelegt. Doch das ist unser Werk. Oder war es das, was auch Du wolltest, war es diese Freiheit? ...‘“ „Ich verstehe wieder nicht,“ unterbrach ihn Aljoscha, „ist das von ihm ironisch gesagt, will er sich über Ihn lustig machen?“ „Fällt ihm nicht ein. Er rechnet es sich und den Seinen vollkommen im Ernst zum Verdienst an, daß sie – endlich einmal! – die Freiheit besiegt haben, und daß sie dies nur zu dem einen Zweck getan hatten, um die Menschen glücklich zu machen. ‚Denn erst jetzt‘ – er meint natürlich die Inquisition – ‚ist es zum erstenmal möglich, auch an das Glück der Menschen zu denken. Der Mensch war als Empörer geschaffen; können aber Empörer glücklich sein? Du wurdest gewarnt,‘ sagt der Greis zu Ihm, ‚Du littest nicht Mangel an Warnungen und Fingerzeigen, doch Du achtetest der Warnungen nicht, und Du verschmähtest den einzigen Weg, auf dem man die Menschen hätte glücklich machen können, Du verwarfst ihn. Doch zum Glück gingst Du fort und übergabst die Arbeit uns. Du verhießest, Du bestätigtest es durch Dein Wort, Du gabst uns das Recht, zu binden und zu lösen, und kannst es Dir selbstverständlich nicht einfallen lassen, dieses Recht uns jetzt wieder abzunehmen. Warum also bist Du gekommen, uns zu stören?‘“ „Was bedeutet das: ‚Du littest nicht Mangel an Warnungen und Fingerzeigen‘?“ fragte Aljoscha. „Dieser Punkt ist der wichtigste, über den mußt Du den Alten sich aussprechen lassen,“ sagte Iwan. „Und der Alte fuhr fort zu Ihm: „‚Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins, der große Geist sprach zu Dir in der Wüste. Und wie die Schriften uns überliefern, hat er Dich _versucht_. War das so? Und wäre es möglich, etwas Wahreres zu sagen als das, was er Dir in seinen drei Fragen vorlegte, und was Du verwarfst, und was in den Schriften „Versuchungen“ genannt wird? Doch ich sage Dir, wenn jemals auf Erden ein wirkliches, ein nie wieder dagewesenes, wahrlich gewittermäßiges Wunder sich begeben hat, so war es dasjenige an jenem Tage, am Tage dieser drei Versuchungen! Gerade in der Erscheinung dieser drei Fragen bestand das Wunder. Wenn es möglich wäre, sich vorzustellen, nur zur Probe und zum Beispiel, daß diese drei Fragen des furchtbaren Geistes aus den Büchern spurlos verschwänden, und daß man sie also von neuem erdenken und formen müßte, um sie wieder in die Schriften einzutragen, und zu dem Zweck alle Weisen der Erde, Herrscher, Priester, Gelehrte, Philosophen, Dichter versammelte und zu ihnen sagte: Löst die Aufgabe, erdenkt und formt drei Fragen, doch solche, die nicht nur der Größe dieses Ereignisses gleichkommen, sondern die noch außerdem in drei Worten, nur in drei menschlichen Sätzen die ganze zukünftige Geschichte der Welt und der Menschheit ausdrücken – was meinst Du wohl, könnte die ganze Weisheit der Erde zusammengenommen und vereint etwas ersinnen, das an Kraft, Macht und Tiefe jenen drei Fragen, die Dir der mächtige und kluge Geist in der Wüste tatsächlich vorgelegt hat, auch nur annähernd ähnlich wäre? Schon allein an diesen Fragen, an dem Wunder ihrer sichtbaren Gestaltung, begreift der Mensch, daß er es nicht mit einem menschlichen fließenden Verstande zu tun hat, sondern mit einem ewigen und absoluten Geist. Denn wahrlich, in diesen drei Fragen ist die ganze weitere Menschengeschichte gleichsam in ein einziges Ganzes zusammengefaßt und vorhergesagt, und sind kundgetan drei Dinge, in denen alle unlösbaren historischen Widersprüche der menschlichen Natur zusammentreffen. Damals konnte man das noch nicht wissen, denn das Zukünftige war unbekannt. Jetzt aber, da anderthalb Jahrtausende vergangen sind, sehen wir, daß in diesen drei Fragen alles dermaßen richtig erraten und vorausgesagt ist, daß sich nichts weder zu ihnen hinzufügen noch von ihnen abstreichen läßt.‘ „‚Entscheide selbst, wer damals recht hatte: Du oder jener, der Dich damals befragte? Erinnere Dich der ersten Frage. Ihr Sinn, wenn auch nicht ihr Wortlaut war folgender: „Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit irgendeiner Freiheitsverheißung, die sie in ihrer Einfalt und angeborenen Stumpfheit nicht einmal begreifen können, vor der sie sich fürchten, und die sie schreckt, – denn für den Menschen und die menschliche Gemeinschaft hat es niemals und nirgends etwas Unerträglicheres gegeben als die Freiheit! Siehst Du dort jene Steine in dieser nackten, verdorrten Wüste? Verwandle sie in Brote, und die Menschheit wird Dir wie eine Herde nachlaufen, wie eine edelmütige und gehorsame Herde, wenn sie auch ewig zittern wird vor Furcht, Du könntest Deine Hand zurückziehen, und Deine Brote hätten dann ein Ende.“ Du aber wolltest den Menschen nicht der Freiheit berauben, und Du verschmähtest den Vorschlag, denn was ist das für eine Freiheit, dachtest Du, wenn der Gehorsam mit Broten erkauft wird? Und Deine Antwort war: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein ...“ Aber weißt Du auch, daß im Namen dieses Erdenbrotes der Erdgeist sich gegen Dich erheben, mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird, und alle ihm folgen und ausrufen werden: „Wer gleicht ihm wohl? er gab uns das Feuer vom Himmel!“ Weißt Du auch, daß, wenn Jahre, Jahrhunderte vergangen sind, die Menschheit durch den Mund ihrer Weisheit und Wissenschaft verkünden wird, daß es Verbrechen überhaupt nicht gibt, und folglich auch keine Sünde, dafür aber Hungrige. „Sättige sie zuerst, dann kannst Du von ihnen Tugenden verlangen!“ werden sie auf ihre Fahne schreiben, die sie gegen Dich erheben, und durch die Dein Tempel stürzen wird. An der Stelle Deines Tempels wird sich ein neues Gebäude erheben, wird der furchtbare babylonische Turm gebaut werden, und obgleich auch der, ganz wie der frühere, nicht vollendet werden wird, so hättest Du doch diesen neuen Turm vermeiden und die Leiden der Menschen um tausend Jahre abkürzen können, – denn zu wem sonst, wenn nicht zu uns, sollen sie kommen, nachdem sie sich tausend Jahre lang mit ihrem Turme abgequält haben! Sie werden uns dann wieder unter der Erde hervorsuchen, uns, die in den Katakomben sich Verbergenden – denn man wird uns wieder verfolgen und martern –, sie werden uns finden und uns anflehen: „Sättigt uns, denn die, so uns das Feuer des Himmels versprachen, haben es uns nicht gegeben.“ Und dann werden wir ihren Turm auch vollenden, denn vollenden wird derjenige, der den Hunger stillt, den Hunger aber stillen werden nur wir, in Deinem Namen, und wir werden lügen, daß es in Deinem Namen geschehe. Oh, niemals, niemals werden sie aus eigener Kraft ihren Hunger stillen können! Keine Wissenschaft wird ihnen Brot geben, solange sie frei bleiben, und so wird es denn damit enden, daß sie ihre Freiheit uns zu Füßen legen und sagen werden; „Knechtet uns, aber macht uns satt.“ Sie werden schließlich begreifen, daß Freiheit zusammen mit genügend Brot nicht für jeden erreichbar ist, denn niemals, niemals werden sie verstehen, untereinander zu teilen! Desgleichen werden sie sich überzeugen, daß sie auch niemals werden frei sein können, denn sie sind kraftlos, lasterhaft, niedrig, und sind Empörer! Du versprachst ihnen himmlisches Brot, ich aber frage Dich nochmals: Kann sich dieses Brot in den Augen des schwachen, ewig verderbten und ewig undankbaren Menschengeschlechts mit irdischem Brote messen? Und wenn Dir um des himmlischen Brotes willen Tausende und Zehntausende nachfolgen, was soll dann mit den Millionen und Milliarden von Wesen geschehen, die nicht die Kraft haben, das Erdenbrot um des Himmelsbrotes willen zu verachten? Oder sind dir nur die Zehntausende der Großen und Starken teuer, die übrigen Millionen aber, die unzählig sind wie der Sand am Meer, die Schwachen, doch Dich Liebenden, sollen die dann nur zum Material für die Großen und Starken dienen? Nein, uns sind auch die Schwachen teuer. Sie sind lasterhaft und sind Empörer, aber zum Schluß werden sie gehorsam werden. Sie werden sich über uns wundern und uns für Götter halten, weil wir, die wir uns an ihre Spitze stellen, eingewilligt haben, die Freiheit zu ertragen, diese Freiheit, die ihnen solche Furcht einflößt, und weil wir einwilligen, über sie zu herrschen, – ja so furchtbar wird es ihnen zum Schluß werden, frei zu sein! Wir aber werden sagen, wir gehorchten _Dir_ und herrschten nur in _Deinem_ Namen. Wir werden sie wieder betrügen, denn Dich werden wir nicht mehr zu uns einlassen. Und in diesem Betruge wird unser Leiden bestehen, denn wir werden lügen müssen. Das war es, was diese erste Frage der Wüste bedeutete, und was Du im Namen der Freiheit, die Du über alles stelltest, verschmähtest. Währenddessen aber lag in der Frage das große Geheimnis dieser Welt. Hättest Du die „Brote“ angenommen, so hättest Du die Menschen von ihrer ewigen Seelenangst erlöst, denn du hättest diese eine Frage, die wichtigste jedes einzelnen Menschen wie der ganzen Menschheit, die so sehnsüchtig nach Antwort verlangt, beantwortet, – die Frage: „was sollen wir anbeten?“ Es gibt keine unaufhörlichere und quälendere Sorge für den Menschen, als, wenn er frei bleibt, etwas zu finden, vor dem er sich beugen kann. Doch sucht der Mensch sich nur vor so etwas zu beugen, das bereits keinem Zweifel an seine Anbetungswürdigkeit unterworfen ist, auf daß alle Menschen sofort gleichfalls bereit seien, dasselbe gemeinsam anzubeten. Denn die Sorge dieser kläglichen Geschöpfe besteht nicht nur darin, etwas zu finden, was dieser oder jener anbeten kann, sondern unbedingt so etwas, das alle sofort gleichfalls anbeten wollen, unbedingt _alle zusammen_! Gerade dieses Bedürfnis der _gemeinsamen_ Anbetung ist seit Anfang der Zeiten die größte Qual des Menschen gewesen, ob wir ihn als einzelnes Wesen oder als ganze Rasse nehmen. Um der gemeinsamen Anbetung willen haben sich die Menschen gegenseitig in grausamen Kämpfen zerfleischt. Sie schufen Götter und riefen einander zu: „Verlaßt eure Götter und kommt, um die unsrigen anzubeten, oder Tod und Verderben euch und euren Göttern!“ Und also wird es sein bis zum Ende der Welt, selbst dann, wenn aus der Welt die Götter verschwinden: gleichviel, dann wird man sich vor Götzen niederwerfen. Du kanntest dieses Geheimnis der menschlichen Natur, Du konntest es unmöglich nicht kennen, doch Du verschmähtest das einzige Positive, das Dir vorgeschlagen wurde, um alle zu zwingen, sich widerspruchslos vor Dir zu beugen: das irdische Brot, und Du verschmähtest es um der Freiheit und des himmlischen Brotes willen. So siehe doch, was Du weiter getan hast. Und wieder alles im Namen der Freiheit! Ich sage Dir, der Mensch kennt keine quälendere Sorge als die, einen zu finden, dem er möglichst schnell jenes Geschenk der Freiheit, mit dem er als unglückliches Geschöpf geboren wird, übergeben kann. Doch die Freiheit der Menschen erobert nur der, der ihr Gewissen beruhigt. Mit dem Brote wurde Dir eine unbestreitbare Macht angeboten: gibst Du Brot, so wird sich der Mensch vor Dir beugen, denn es gibt nichts Positiveres als Brot; wenn aber zu gleicher Zeit irgendein anderer hinter Deinem Rücken sein Gewissen erobert – oh, dann wird er selbst Dein Brot verlassen und jenem folgen, der sein Gewissen umstrickt. Darin hattest Du recht. Denn das Geheimnis des menschlichen Seins liegt nicht in dem bloßen Leben, sondern im Zweck des Lebens. Ohne eine feste Vorstellung zu haben, wozu er leben soll, wird der Mensch nie einwilligen, zu leben, und er wird sich eher vernichten, als daß er auf Erden leben bliebe – selbst dann, wenn auch um ihn herum Brote in Fülle wären. Das ist nun einmal so. Aber was ergab sich aus Deiner Weigerung? Anstatt die Freiheit der Menschen unter Deine Herrschaft zu beugen, hast Du sie ihnen noch vergrößert! Oder hattest Du vergessen, daß Ruhe und selbst der Tod dem Menschen lieber sind als freie Wahl in der Erkenntnis von Gut und Böse? Es gibt nichts Verführerisches für den Menschen als die Freiheit seines Gewissens, doch gibt es auch nichts Quälenderes für ihn. Und siehe, anstatt fester Grundlagen zur Beruhigung des menschlichen Gewissens, ein für allemal – wähltest Du alles, was es Ungewöhnliches, Rätselhaftes und Unbestimmtes gibt, nahmst Du alles, was über die Kräfte der Menschen ging und handeltest daher, als ob Du sie überhaupt nicht geliebt hättest. Wer aber war es, der das tat? Der, der gekommen war, Sein Leben für sie hinzugeben! Anstatt Dir die menschliche Freiheit zu unterwerfen, hast Du sie noch vergrößert, hast Du sie vervielfacht und hast mit ihren Qualen das Seelenreich des Menschen auf ewig belastet. Dich gelüstete nach freier Liebe des Menschen, auf daß er Dir frei folge, bezaubert und gebannt durch Dich. Statt nach dem festen alten Gesetz, sollte der Mensch hinfort mit freiem Herzen selbst entscheiden, was Gut und was Böse ist, wobei er nur Dein Vorbild als einzige Richtschnur vor sich hatte. Aber hast Du wirklich nicht daran gedacht, daß er schließlich doch auch Dein Vorbild und Deine Wahrheit verwerfen und sie bestreiten wird, wenn man ihn mit einer so furchtbaren Last, wie der Freiheit der Wahl, bedrückt? Die Menschen werden ausrufen, daß die Wahrheit nicht in Dir sei, denn es war unmöglich, sie in größerer Verwirrung und Qual zurückzulassen, als Du es getan hast, da Du ihnen soviel Sorgen und unlösbare Aufgaben hinterließest. Auf diese Weise hast Du selbst den Grund zum Sturze Deiner Herrschaft gelegt, und so beschuldige denn auch niemanden außer Dir. Was aber wurde Dir angeboten? Es gibt drei Mächte, es sind die einzigen drei Mächte auf Erden, die das Gewissen dieser kraftlosen Empörer zu ihrem Glück auf ewig besiegen und bannen können, – das sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität. Du verwarfst das eine, wie das andere und auch das dritte, und zeigtest dies deutlich im Beispiel. Als der furchtbare und wissende Geist Dich auf die Zinne des Tempels führte und zu Dir sprach: „Wenn Du wissen willst, ob Du Gottes Sohn bist, so stürze Dich hinab, denn es ist gesagt von Ihm, daß Engel Ihn auffangen und tragen würden, damit Er seinen Fuß an keinen Stein stoße: Du wirst dann erfahren, ob Du Gottes Sohn bist, und wirst dann beweisen, wie groß Dein Glaube an Deinen Vater ist“. Du aber wiesest die Versuchung von Dir, Du unterlagst ihr nicht und stürztest Dich nicht hinab. Oh, natürlich, Du handeltest stolz und mächtig wie ein Gott, aber sind denn die Menschen, sind denn diese schwachen Geschöpfe mit den Empörerinstinkten, – sind denn das Götter? Oh, Du wußtest gar wohl, daß Du, wenn Du nur einen Schritt getan hättest, nur eine Bewegung, um Dich hinabzustürzen, Du sofort Gott versucht und Deinen ganzen Glauben an ihn verloren hättest und an der Erde zerschellt wärest, an derselben Erde, die zu retten Du gekommen warst, und der kluge Geist, der Dich versuchte, hätte seine Freude daran gehabt. Ich aber frage Dich nochmals: Gibt es denn viele solcher wie Du? Und hast Du wirklich nur einen Augenblick glauben können, daß auch die Menschen einer ähnlichen Versuchung widerstehen würden? Ist denn die Natur des Menschen so geschaffen, daß er das Wunder zurückweisen und selbst in so furchtbaren Lebensaugenblicken, in den Augenblicken seiner fundamentalen, schrecklichsten und quälendsten Seelenfragen, mit der freien Entscheidung seines Herzens auskommen könnte? Oh, Du wußtest, daß Deine Tat in den Schriften aufbewahrt werden würde, und daß sie die letzte Tiefe der Zeiten und die letzten Grenzen der Erde erreichen wird, und Du hofftest, daß der Mensch, wenn er Dir folgt, mit Gott bleiben und des Wunders nicht bedürfen werde. Doch Du wußtest nicht, daß der Mensch, sobald er das Wunder verwirft, sofort auch Gott verwirft, denn der Mensch sucht nicht so sehr Gott, als er Wunder sucht. Und da der Mensch nicht die Kraft hat, ohne Wunder auszukommen, so wird er sich neue Wunder schaffen, bereits selbst ausgedachte Wunder, und wird das Wunder der Zauberer, die Hexerei alter Weiber anbeten, wenn er auch hundertmal Empörer, Ketzer und ein Gottloser ist. Du stiegst nicht herab vom Kreuze, als man Dir mit Spott und Hohn zurief: „Steige herab vom Kreuze, und wir werden glauben, daß Du Gottes Sohn bist“. Du aber stiegst nicht herab, weil Du wiederum den Menschen nicht durch ein Wunder zum Sklaven machen wolltest, weil Dich nach freier und nicht nach durch Wunder erzwungener Liebe verlangte. Dich dürstete nach freier Liebe, nicht nach knechtischem Entzücken vor der Macht, die ihm ein für allemal Furcht eingeflößt hat. Aber auch hierin hast Du die Menschen gar zu hoch eingeschätzt, denn Sklaven sind sie, das sage ich Dir, wenn sie auch als Empörer geschaffen sind. Blicke um Dich und urteile selbst: Da sind nun anderthalb Jahrtausende vergangen, gehe hin und sieh sie Dir an: Wen hast Du bis zu Dir emporgehoben? Ich schwöre Dir, der Mensch ist schwächer und niedriger geschaffen, als Du von ihm geglaubt hast. Wie soll er denn dasselbe erfüllen, was Du erfüllt hast? kann er das überhaupt? Da Du ihn so hoch einschätztest, handeltest Du, als ob Du kein Mitleid mehr mit ihm gehabt hättest, denn Du verlangtest gar zu viel von ihm, – und wer war es, der das tat? Derselbe, der ihn mehr als sich selbst liebte! Hättest Du ihn weniger geachtet, so hättest Du auch weniger von ihm verlangt, das aber wäre der Liebe näher gekommen, denn seine Bürde wäre leichter gewesen. Er ist schwach und gemein. Was will es besagen, daß er sich jetzt allerorten gegen unsere Macht empört und auf seine Empörung stolz ist? Das ist der Stolz eines Kindes, eines unreifen Schulknaben. Das sind kleine Kinder, die sich in der Klasse empört und den Lehrer hinausgejagt haben. Aber auch der Triumph der Schulkinder wird ein Ende haben, und er wird ihnen teuer zu stehen kommen. Sie werden die Tempel einäschern und die Erde mit Blut überschwemmen. Und die dummen Kinder werden schließlich ahnen, daß sie doch nur kraftlose Empörer sind, die ihre eigene Empörung nicht ertragen können. Sie werden sich unter dummen Tränen gestehen, daß derjenige, welcher sie als Empörer geschaffen hat, zweifellos sich über sie hat lustig machen wollen. Sie werden sich das in Verzweiflung sagen, und ihre Worte werden eine Gotteslästerung sein, die sie noch unglücklicher machen wird, denn die menschliche Natur erträgt keine Gotteslästerung, und zu guter Letzt straft sie sich selbst dafür. Also ist nichts als Unruhe, Verwirrung und Unglück den Menschen zuteil geworden, nachdem Du soviel für ihre Freiheit gelitten hast! Dein großer Prophet sagt in der Allegorie seiner Vision, er hätte alle gesehen, die in der ersten Auferstehung auferstehen würden, und es seien je zwölftausend aus jedem Stamm gewesen. Doch wenn es ihrer nur so wenige waren, so waren auch sie gewissermaßen nicht Menschen, sondern Heilige, sondern Götter. Sie haben Dein Kreuz erduldet, sie haben jahrzehntelang hungrige, nackte Wüste ertragen, sich nur von Heuschrecken und Wurzeln genährt, – und, versteht sich, Du kannst nun stolz auf diese Kinder der Freiheit, der Freiheit in der Liebe und der Freiheit im großen Opfer um Deines Namens willen, hinweisen. Vergiß aber nicht, daß ihrer im ganzen nur wenige Tausende waren, und noch dazu – Götter! Wo aber sind die übrigen? Worin besteht die Schuld der übrigen schwachen Menschen, daß sie nicht dasselbe haben ertragen können, was die Starken ertragen haben? Worin liegt die Schuld der schwachen Seele, daß es über ihre Kräfte geht, so furchtbare Geschenke anzunehmen? Kamst Du denn wirklich nur zu den Auserwählten und für die Auserwählten? Wenn das wahr ist, so ist es ein Geheimnis, das nicht wir durchschauen können. Wenn es aber ein Geheimnis ist, so waren auch wir im Recht, das Geheimnis zu verkünden und sie zu lehren, daß nicht die freie Entscheidung ihrer Herzen und nicht die Liebe wichtig ist, sondern eben das Geheimnis, dem sie blind gehorchen müssen, und sei es auch gegen ihr Gewissen. Und so haben wir getan. Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf dem _Wunder_, dem _Geheimnis_ und der _Autorität_ aufgebaut. Und die Menschen freuten sich, daß sie wieder wie eine Herde geführt wurden, und daß von ihren Herzen endlich das ihnen so furchtbare Geschenk, das ihnen soviel Qual gebracht hatte, genommen wurde. Waren wir im Recht, als wir so lehrten und handelten? Sprich! Haben wir denn nicht die Menschheit geliebt, da wir so bescheiden ihre Kraftlosigkeit erkannten, liebevoll die Bürde des Menschen erleichterten und seiner schwachen Natur sogar die Sünden erließen? Warum nun bist Du gekommen, uns zu stören? Und warum blickst Du mich so stumm und tief mit Deinen stillen Augen an? Sei zornig. Ich will Deine Liebe nicht, denn ich selbst liebe Dich nicht. Und was sollte ich wohl vor Dir verbergen? Oder weiß ich nicht, mit wem ich rede? Was ich Dir zu sagen habe, ist Dir schon bekannt, das lese ich in Deinen Augen. Und sollte ich etwa unser Geheimnis vor Dir verbergen? Vielleicht willst Du es gerade von meinen Lippen vernehmen? So höre denn: Wir sind nicht mit Dir, sondern mit _ihm_, das ist unser Geheimnis! Schon lange sind wir nicht mit Dir, sondern mit _ihm_, schon seit acht Jahrhunderten. Es sind nun acht Jahrhunderte her, da wir von _ihm_ das nahmen, was Du unwillig von Dir wiesest, jene letzte Gabe, die er Dir anbot, als er Dir alle Erdenreiche zeigte: Wir nahmen von ihm Rom und das Schwert der Cäsaren, und wir erklärten, daß nur wir allein die Herren dieser Welt seien, die einzigen Herrscher der Erde, wenn wir auch unser Werk bis jetzt noch nicht vollendet haben. Doch wessen Schuld ist das? Oh, unser Werk ist bis jetzt nur im Anfangsstadium, immerhin ist es schon begonnen worden. Lange noch wird man auf die Vollendung des Werkes warten müssen, und viel wird die Erde inzwischen leiden, doch wir werden unser Ziel erreichen und werden Cäsaren sein, und dann werden wir an das universale Glück der Menschen denken. Und doch hättest Du auch damals schon das Schwert der Cäsaren nehmen können. Warum verwarfst Du diese letzte Gabe? Hättest Du diesen dritten Ratschlag des mächtigen Geistes angenommen, so hättest Du alles geschaffen, was der Mensch auf Erden sucht: hättest ihm gegeben, vor wem er sich beugen, wem er sein Gewissen einhändigen kann, und auf welche Weise sich endlich alle Menschen zu einem einzigen, einstimmigen Ameisenhaufen vereinigen könnten. Denn das Bedürfnis nach der universalen Vereinigung ist die dritte und letzte Qual der Menschen. In der Gesamtheit hat die Menschheit immer danach gestrebt, sich unbedingt welteinheitlich einzurichten. Viel große Völker mit großer Geschichte hat es gegeben, doch je höher diese Völker standen, um so unglücklicher waren sie, denn um so stärker erkannten oder empfanden sie die Notwendigkeit der allweltlichen Vereinigung der Menschen. Große Eroberer, die Timur und die Dschingis-Chan, zogen wie Wetterwolken mit Wirbelsturm über die Erde, in dem Bestreben, die Welt zu erobern, und auch sie drückten, wenn auch unbewußt, dasselbe mächtige Bedürfnis der Menschheit nach der allgemeinen und weltumfassenden Vereinigung aus. Hättest Du das Schwert und den Purpur des Herrschers genommen, so hättest Du die Weltherrschaft begründet und der Welt den Frieden gegeben. Denn wahrlich, wer sollte wohl sonst über die Menschen herrschen, wenn nicht diejenigen, in deren Händen ihr Gewissen und ihre Brote sind? Und so nahmen wir das Schwert der Cäsaren, da wir es aber nahmen, verwarfen wir natürlich Dich und folgten _ihm_. Oh, es werden noch Jahrhunderte des Unfugs ihres freien Verstandes, ihrer Wissenschaft und der Menschenfresserei vergehen – denn wenn sie ihren babylonischen Turm ohne uns beginnen, werden sie mit der Menschenfresserei enden. Dann aber wird das Tier zu uns herankriechen, und es wird uns die Füße lecken, und sie mit den blutigen Tränen seiner Augen netzen. Und wir werden uns auf das Tier setzen und den Kelch erheben, und auf ihm wird geschrieben stehen: „Geheimnis!“ Doch dann erst, dann erst wird für die Menschen die Herrschaft der Ruhe und des Glücks beginnen. Du bist stolz auf Deine Auserwählten, doch Du hast eben nur Auserwählte, wir aber werden Allen Ruhe geben. Und das ist noch nicht alles, o nein: wie viele von diesen Auserwählten, von den Starken, die Auserwählte hätten werden können, ermüdeten schließlich in der Erwartung Deiner, und brachten und bringen die Kraft ihres Geistes und die Glut ihres Herzens auf ein anderes Ackerfeld und endigen damit, daß sie gegen Dich, gerade gegen Dich ihre _freie_ Fahne erheben. Doch Du selbst hast diese Fahne erhoben. Bei uns jedoch werden Alle glücklich sein, und sie werden sich weder empören noch sich gegenseitig vernichten, wie sie es in Deiner Freiheit allerorten tun. Oh, wir werden sie überzeugen, daß sie bloß dann frei sein werden, wenn sie sich von ihrer Freiheit zu unseren Gunsten lossagen und sich uns unterwerfen. Nun sage: Werden wir recht haben, oder wird das gelogen sein? Nein, sie werden sich selbst überzeugen, daß wir recht haben, denn sie werden sich erinnern, bis zu welchem Entsetzen in Sklaverei und Verwirrung sie Deine Freiheit gebracht hat. Die Freiheit, der freie Geist und die Wissenschaft werden sie in so dunkle Klüfte und Abgründe führen und vor solche Wunder und undurchdringliche Geheimnisse stellen, daß die einen von ihnen, die Ununterwürfigen doch Wilden, sich selbst vernichten werden, die Ununterwürfigen doch Schwachen dagegen sich gegenseitig vernichten, und die übrigen, die Dritten, die Kraftlosen und Unglücklichen zu uns herankriechen und zu unseren Füßen aufstöhnen werden: „Ja, ihr hattet recht, ihr allein besaßt Sein Geheimnis, und wir kehren zu euch zurück ... rettet uns vor uns selbst“. Wenn sie von uns Brote erhalten, werden sie natürlich erkennen, daß wir nur ihre Brote, die von ihren eigenen Händen geschaffenen Brote von ihnen nehmen, um sie wiederum unter ihnen zu verteilen, also ihnen ohne jedes Wunder Brot geben. Sie werden sehen, daß wir nicht Steine zu Broten machen – doch wahrlich, mehr noch als über das Brot werden sie sich darüber freuen, daß sie es aus unseren Händen erhalten! Denn nur zu gut werden sie sich erinnern, daß früher, ohne uns, sich selbst die Brote, die sie schufen, in ihren Händen bloß in Steine verwandelten, daß aber, als sie zu uns zurückkehrten, selbst die Steine in ihren Händen zu Broten wurden. Nur zu gut, nur zu gut werden sie zu schätzen wissen, was es heißt, sich ein für allemal zu unterwerfen! Solange die Menschen das nicht begreifen, werden sie unglücklich sein. Wer hat am meisten zu diesem Unverständnis beigetragen? Sprich! Wer hat die Herde zerstückt und sie auf unbekannten Wegen versprengt? Doch die Herde wird sich wieder zusammenfinden und sich von neuem unterwerfen, und dann für immer, für immer. Dann werden wir ihnen ein stilles, bescheidenes Glück geben, das Glück kraftarmer Kreaturen, als die sie geschaffen sind. Oh, wir werden sie schließlich überzeugen, daß sie gar kein Recht haben, stolz zu sein. Du hast sie emporgehoben und damit gelehrt, stolz zu sein. Wir aber werden ihnen beweisen, daß sie kraftarm, daß sie nur armselige Kinder sind, doch daß das Kinderglück süßer als jedes andere ist. Sie werden schüchtern werden und werden zu uns aufblicken und sich in Angst an uns schmiegen wie die Küken an die Bruthenne. Sie werden uns entsetzt anstaunen und werden stolz darauf sein, daß wir so mächtig und so klug sind, und daß wir eine so wilde, tausendmillionenköpfige Herde beruhigt haben. Entkräftigt werden sie vor unserem Zorne zittern, ihr Geist wird kleinmütig, ihre Augen werden tränenreich werden wie die Augen der Kinder und Weiber, doch ebenso leicht wie zu Tränen, werden sie auf unseren Wink zu Frohsinn und Heiterkeit, zu heller Lustigkeit und glücklichen Kinderliedern übergehen. Ja, wir werden sie zwingen zu arbeiten, doch in den arbeitsfreien Stunden werden wir ihnen das Leben wie ein Spiel gestalten, mit Gesängen, Chören und unschuldigen Tänzen. Oh, wir werden ihnen sogar die Sünden vergeben – sie sind doch schwach und kraftlos – und sie werden uns wie Kinder dafür lieben, daß wir ihnen zu sündigen erlauben. Wir werden ihnen sagen, daß jede Sünde ausgekauft werden kann, wenn sie nur mit unserer Erlaubnis begangen worden ist; die Erlaubnis aber zum Sündigen geben wir ihnen nur darum, weil wir sie lieben, und die Strafe für diese Sünden nehmen wir meinetwegen auf uns. Wir werden sie auch in der Tat auf uns nehmen, sie aber werden uns dafür vergöttern wie ihre Wohltäter, die vor Gott ihre Sünden tragen. Und sie werden vor uns keinerlei Geheimnisse haben. Wir werden ihnen erlauben oder verbieten mit ihren Frauen und Geliebten zu leben, Kinder zu haben oder nicht zu haben – immer je nach ihrem Gehorsam –, und sie werden sich uns freudig und fröhlich unterwerfen. Selbst die quälendsten Geheimnisse ihres Gewissens, – alles, alles werden sie zu uns tragen, und wir werden ihnen verzeihen, und sie werden mit Freuden unserer Entscheidung glauben, denn sie wird sie von der großen Sorge und den furchtbaren gegenwärtigen Qualen einer persönlichen und freien Entscheidung erlösen. Und alle werden glücklich sein, alle Millionen Wesen, außer den Hunderttausend, die über sie herrschen. Denn nur wir, wir, die wir das Geheimnis hüten, nur wir werden unglücklich sein. Es wird Tausende von Millionen glücklicher Kinder geben und nur hunderttausend Märtyrer, die den Fluch der Erkenntnis von Gut und Böse auf sich genommen haben. Still werden sie sterben, still werden sie verlöschen in Deinem Namen und hinter dem Grabe nur den Tod finden. Doch wir werden das Geheimnis bewahren und werden die Menschen zu ihrem Glück durch himmlische und ewige Belohnung anlocken. Denn selbst wenn es dort, in jener Welt, ein Etwas geben sollte, so wird es doch, versteht sich, nicht für solche wie sie sein. Man redet und prophezeit, daß Du kommen und von neuem siegen werdest, daß Du mit Deinen Auserwählten, Deinen Stolzen und Mächtigen kommen wirst. Wir aber werden dann sagen, daß sie nur sich selbst, wir aber alle gerettet haben. Man sagt, daß die Buhlerin, die auf dem Tiere sitzt und in ihren Händen das _Geheimnis_ hält, beschimpft werden wird, daß die Kraftarmen sich wieder empören, den Purpur der großen Buhlerin zerreißen und ihren „scheußlichen“ Leib entblößen werden. Dann aber werde ich mich erheben und, zu Dir gewandt, auf die Tausende von Millionen glücklicher Kinder, die die Sünde nicht gekannt haben, hinweisen. Und wir, die ihre Sünden auf uns genommen haben, um sie glücklich zu machen, wir werden dann vor Dich hintreten und Dir sagen: „Verurteile uns, wenn Du es kannst und wagst“. Wisse, daß ich keine Furcht vor Dir habe. Wisse, daß auch ich in der Wüste war, daß auch ich mich einst von Heuschrecken und Wurzeln nährte, daß auch ich die Freiheit, mit der Du die Menschen gesegnet hattest, segnete, und auch ich mich vorbereitete, zur Zahl Deiner Auserwählten zu gehören, zur Zahl der Mächtigen und Starken, mit dem lechzenden Wunsch, „die Zahl zu ergänzen“. Doch ich erwachte und wollte nicht mehr dem Wahnsinn dienen. Ich kehrte zurück und gesellte mich zur Schar derer, die _Deine Tat verbessern_. Ich ging fort von den Stolzen und kehrte zurück zu den Demütigen, zum Glücke derselben. Was ich Dir sage, wird also geschehen, es wird alles in Erfüllung gehen, und unser Reich wird erstehen. Und ich sage Dir nochmals: Morgen noch wirst Du diese gehorsame Herde sehen, die auf meinen ersten Wink zu Deinem Scheiterhaufen stürzen wird, um das Feuer zu schüren. Denn auf den Scheiterhaufen bringe ich Dich dafür, daß Du gekommen bist, uns zu stören. Und wahrlich, wenn es einen gegeben hat oder gibt, der am meisten den Scheiterhaufen verdient hat, so bist Du es, Du! Morgen noch werde ich Dich verbrennen. _Dixi_‘!“ Iwan hielt inne. Seine Worte hatten ihn mit sich fortgerissen, und er war fast in Begeisterung geraten. Als er aber geendet hatte, lächelte er plötzlich wieder. Aljoscha hatte ihm schweigend zugehört, doch zum Schluß hin, offenbar nicht wenig erregt, mehrmals den Bruder unterbrechen wollen, sich aber jedesmal bezwungen. Als nun Iwan plötzlich verstummte, fiel er sofort ein, – heftig und hastig, wie ein Mensch, der sich lange hat zurückhalten müssen: „Aber ... das ist doch absurd!“ stieß er hervor, und errötete. „Dein Poem ist ein Lob Jesu, aber keine Schmähung ... wie du es gewollt hast. Und wer wird dir das von der Freiheit glauben? Muß man sie denn _so, so_ auffassen? Ist denn das die Auffassung der Rechtgläubigkeit? ... Das ist Rom, und nicht einmal ganz Rom, das ist nicht wahr, – das sind die Schlechtesten des Katholizismus, das sind Inquisitoren, Jesuiten! ... Und solch einen phantastischen Menschen, wie es dein Inquisitor ist, gibt es überhaupt nicht. Was sind das für Sünden der Menschen, die sie auf sich nehmen? Was sind das für Träger des Geheimnisses, die da irgendeinen Fluch zum Glücke der Menschen auf sich genommen haben? Wer hat jemals so etwas gesehen? Wir kennen die Jesuiten, wir wissen, was dahintersteckt ... Aber sind sie denn das, als was du sie schilderst? – Nicht die Spur! – Sie sind einfach die römische Armee für das zukünftige, allesvereinende Weltreich mit dem Imperator, dem römischen Kirchenoberhaupt an der Spitze ... das ist ihr Ideal, aber ohne alle Geheimnisse und erhabenes Leid ... Der allergewöhnlichste Wunsch nach Macht, nach schmutzigen Erdengütern, Knechtung ... in der Art eines zukünftigen Leibeigenschaftsrechtes, damit sie sozusagen Gutsbesitzer werden können. Das ist alles, was sie wollen. Sie glauben vielleicht überhaupt nicht an Gott. Dein leidender Inquisitor ist nichts als Phantasie ...“ „Aber wart, wart doch,“ sagte Iwan lachend, „sieh mal, wie du dich ereiferst! Phantasie, sagst du, schön! Natürlich ist’s Phantasie. Einstweilen aber erlaube: Glaubst du wirklich, daß diese ganze katholische Bewegung der letzten Jahrhunderte – Mittelalter und so weiter – tatsächlich nichts anderes gewesen ist als das Verlangen nach Macht, nur um der schmutzigen Erdengüter willen? Hat dich das nicht vielleicht Pater Paissij gelehrt?“ „O nein, nein, im Gegenteil, Pater Paissij sprach einmal sogar ein wenig in deinem Sinne ... übrigens es war doch nicht dasselbe, selbstverständlich nicht ganz dasselbe,“ verbesserte sich Aljoscha. „Das ist immerhin eine kostbare Nachricht, trotz deines ‚selbstverständlich nicht ganz dasselbe‘. Ich frage dich ausdrücklich, warum du annimmst, daß Jesuiten und Inquisitoren sich nur zum Erwerb niedriger materieller Güter verbündet haben. Warum glaubst du, daß es unter ihnen keinen einzigen Gequälten gibt, der von großem Leid und von der Liebe zur Menschheit gepeinigt wird? Sieh: nimm an, daß sich unter allen diesen, die lediglich materielle, schmutzige Güter wollen, nur ein Einziger fände, nur ein Einziger wie mein greiser Inquisitor, der in der Wüste von Gewürm und Wurzeln gelebt hat, gegen sich gewütet hat und vor Verzweiflung außer sich geraten ist, im Kampf gegen sein Fleisch, um frei zu werden und vollkommen zu sein, der aber sein ganzes Leben die Menschheit geliebt hat, und der plötzlich erkennt und sich überzeugt, daß es keine große sittliche Glückseligkeit sein kann, die Vollkommenheit des Willens zu erreichen und zu gleicher Zeit einsehen zu müssen, daß die Millionen der übrigen Gottesgeschöpfe bloß zum Spott Geschaffene bleiben, daß sie niemals die Kraft haben werden, sich mit ihrer Freiheit zurechtzufinden, daß aus den armseligen Empörern niemals Riesen zur Vollendung des Turmes hervorgehen werden, daß nicht für solche Gänse der große Idealist von seiner Harmonie geträumt hat. Da er aber alles das begriffen hatte, kehrte er zurück und schloß sich den ... klugen Leuten an. Glaubst du wirklich, daß das niemals hat geschehen können?“ „Wem schloß er sich an, welchen klugen Leuten?“ griff Aljoscha sofort heftig, fast zornig das Wort auf. „Kein einziger von ihnen besitzt da so eine besondere Klugheit und überhaupt nichts von heiligen Geheimnissen ... Es sei denn höchstens ihre Gottlosigkeit, die wäre noch allenfalls ihr ganzes Geheimnis. Dein Inquisitor glaubt nicht an Gott, sieh, das ist sein ganzes Geheimnis!“ „Nun ja! Endlich hast du es erraten. Es ist allerdings so; sein ganzes Geheimnis liegt tatsächlich nur darin. Aber ist denn das keine Qual, sagen wir, für einen Menschen wie er, der sein ganzes Leben daran gesetzt hatte, durch die Wüste ein Auserwählter zu werden, und der sich von seiner Liebe zur Menschheit doch nicht heilen konnte? An seinem Lebensabend überzeugt er sich, daß nur die Ratschläge des großen furchtbaren Geistes das Leben der kraftarmen Empörer, dieser unvollkommenen, zum Spott geschaffenen Probewesen wenigstens einigermaßen erträglich machen könnten. Und siehe, nachdem er sich davon überzeugt hat, sieht er ein, daß man nach der Weisung dieses klugen Geistes, des furchtbaren Geistes der Zerstörung und des Todes vorgehen muß – daß man Lüge und Betrug annehmen und die Menschen bereits wissentlich in Tod und Verderben treiben muß, wobei es aber heißt, sie auf dem ganzen Wege betrügen, damit diese armseligen Blinden nicht merken, wohin sie geführt werden, und sich wenigstens auf dem Wege für glücklich halten. Und vergiß nicht, daß der Betrug im Namen desjenigen geschieht, an dessen Idealgestalt der Greis sein Leben lang so leidenschaftlich geglaubt hat! Meinst du, daß das kein Unglück sei? Und wenn es auch nur einen einzigen solchen gäbe, an der Spitze dieses ganzen Heeres, ‚das nur um des Besitzes schmutziger Güter willen nach Macht verlangt‘, – genügte dann wirklich nicht ein einziger solcher zur ... Tragödie? Oh, ich sage dir, es genügte, daß ein einziger solcher an der Spitze stände, auf daß die Idee, die Rom mit allen seinen Herren und Jesuiten solange leitet, die höhere Idee Roms, endlich zum Ausdruck käme. Ich sage dir ganz offen: Ich bin fest überzeugt, daß das der einzige Mensch wäre, der unter denen, die an der Spitze der Bewegung stehen, nie ermüden würde. Wer weiß, vielleicht hat es unter den römischen Kirchenoberhäuptern auch solche gegeben. Und wer weiß, vielleicht lebt dieser verfluchte Greis, der so starrsinnig und eigenartig die Menschheit liebt, auch jetzt in einer ganzen Schar vieler ebensolcher einzelner Greise – lebt durchaus nicht zufällig, sondern aus Übereinstimmung, in einem geheimen Bunde, der schon vor langer Zeit zur Wahrung des Geheimnisses, zu seiner Beschützung vor den unglücklichen und kraftarmen Menschen zu dem Zweck gegründet ist, diese Menschen glücklich zu machen. Das gibt es unbedingt. Es muß so sein. Wenn ich mich nicht täusche, haben auch die Freimaurer etwas von der Art dieses Geheimnisses in ihrer Grundidee, und ich glaube sogar, daß sie nur deswegen von den Katholiken so gehaßt werden, weil diese in ihnen Konkurrenten sehen: die Teilung der Einheit ihrer katholischen Idee wittern – während es doch eine einzige Herde unter einem einzigen Hirten werden soll ... Übrigens habe ich, wenn ich meinen Gedanken verteidige, den Anschein eines Autors, der deine Kritik nicht ertragen kann. Genug davon.“ „Du bist wahrscheinlich selbst Freimaurer!“ stieß plötzlich Aljoscha hervor. „Du glaubst nicht an Gott,“ fügte er darauf traurig und bedrückt hinzu. Zugleich schien ihm, daß der Bruder ihn etwas spöttisch betrachtete. „Aber womit endigt denn deine Tragödie?“ fragte er, den Blick zu Boden gesenkt. „Oder ist sie schon aus?“ „Den Schluß hatte ich mir eigentlich so gedacht: Nachdem der Inquisitor verstummt ist, wartet er noch eine Zeitlang auf das, was der Gefangene ihm antworten wird. Sein Schweigen lastet schwer auf ihm. Er hatte gesehen, wie der Gefangene ihn anhörte, und wie tief und still Er ihm in die Augen blickte, offenbar ohne etwas entgegnen zu wollen. Der Greis aber will, daß Er ihm etwas sage, und wäre es auch etwas Bitteres, Furchtbares. Doch siehe, Er nähert sich schweigend dem Greise und küßt ihn leise auf seine blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist Seine ganze Antwort, die Antwort, die den Alten zusammenfahren macht. Und siehe, da zuckt etwas an den Mundwinkeln des großen, greisen Inquisitors: er geht zur Tür des gewölbten Verlieses, öffnet sie und sagt zu Ihm: ‚Geh und komme nie wieder ... komme überhaupt nicht mehr ... niemals, niemals!‘ Und er läßt Ihn hinaus auf die ‚dunklen, schweigenden Plätze der Stadt‘. Und der Gefangene geht hinaus.“ „Und der Alte?“ „Der Kuß brennt in seinem Herzen, doch er bleibt bei seiner früheren Idee.“ „Und auch du mit ihm, auch du?“ Iwan lachte auf. „Aber das ist doch Unsinn, Aljoscha, das ist doch nur das sinnlose Poem eines einfältigen Studenten, der nie in seinem Leben auch nur zwei Verse hat schreiben können. Warum bist du denn so traurig? Oder glaubst du vielleicht gar, daß ich etwa gleich zu ihnen fahren will, zu den Jesuiten, um mich der Schar anzuschließen, die Sein Werk verbessert? O Gott! – was geht das mich an? Ich habe dir doch gesagt: Nur bis zum dreißigsten Jahre, und dann – den Becher fortgeschleudert!“ „Und die krausen, klebrigen Frühlingsblätter, und die teuren Gräber, und der hohe, blaue Himmel, und die Geliebte? Wie willst du denn leben, womit wirst du sie denn lieben?“ fragte Aljoscha traurig. „Ist denn das möglich, mit solch einer Hölle in der Brust und in den Gedanken, – ist denn das möglich? Nein, du fährst gerade hin, um dich ihnen anzuschließen ... wenn aber nicht, so wirst du dich selbst töten, denn du wirst es nicht länger aushalten!“ „Es gibt eine Kraft, die alles aushält!“ sagte Iwan halblaut mit kaltem Lächeln. „Was ist das für eine Kraft?“ „Die Karamasoffsche ... die Kraft der Karamasoffschen Gemeinheit.“ „Heißt das – in Ausschweifung untergehen, die Seele in Sittenverderbnis erwürgen, ja? heißt es das?“ „Meinetwegen auch das ... aber nur bis zum dreißigsten Jahre werde ich es ... vielleicht noch ... vermeiden, dann aber ...“ „Wie das vermeiden? Auf welche Weise vermeiden? Wodurch willst du dem entgehen? Mit deinen Anschauungen ist das unmöglich.“ „Wiederum auf Karamasoffsche Weise.“ „Ah! – ‚alles ist erlaubt‘? Nicht? Das ist’s doch – alles ist erlaubt?“ Iwans Gesicht verfinsterte sich, und er wurde plötzlich seltsam bleich. „Du hast es also richtig nicht vergessen – das gestern gefallene Wort, das Miussoff so kränkte ... und das Dmitrij so naiv und auffallend wiederholte?“ fragte er mit einem verzogenen Lächeln. „Ja, meinetwegen: ‚alles ist erlaubt‘ – wenn das Wort einmal gesagt ist. Ich nehme es nicht zurück. Mitjäs Redaktion war übrigens gar nicht so übel.“ Aljoscha blickte ihn schweigend an. „Aljoscha, ich glaubte, wenn ich fortfahre, auf der ganzen Welt wenigstens dich zu haben,“ sagte Iwan plötzlich mit ganz unerwartetem, tiefem Gefühl, „aber jetzt sehe ich, daß auch in deinem Herzen kein Platz für mich ist, mein lieber Mönch du! Von der Formel: ‚alles ist erlaubt‘ sage ich mich nicht los, nun, und deswegen sagst du dich von mir los, ist es nicht so, ja?“ Aljoscha stand auf, trat zu ihm und küßte ihn stumm und leise auf den Mund. „Das ist literarischer Diebstahl!“ rief nach dem Kuß Iwan, der plötzlich ganz begeistert zu sein schien. „Das hast du aus meinem Poem gestohlen! Aber ... habe Dank. – Komm, gehen wir, Aljoscha, es ist Zeit für mich wie für dich.“ Sie gingen hinaus, doch unten an der Treppe blieben sie stehen. „Hör, Aljoscha,“ sagte Iwan mit fester Stimme, „ich werde die klebrigen Frühlingsblätter nur in der Erinnerung an dich lieben. Es genügt mir, daß du hier irgendwo bist, und daß ich das Leben noch leben will. Genügt dir das? Wenn du willst, kannst du das für eine Liebeserklärung nehmen. Jetzt aber – geh du nach rechts und ich nach links. Es ist genug geredet, hörst du? Das heißt, ich meine, falls ich morgen nicht abreisen sollte – ich werde aber wahrscheinlich bestimmt fahren – und wir uns noch irgendwie treffen sollten, so bitte ich, mit mir über alle diese Themata kein Wort mehr zu reden. Ich bitte dich ausdrücklich darum. Und auch über Dmitrij, darum bitte ich dich besonders, rede kein Wort mehr, sprich mir nie mehr von ihm,“ fügte er plötzlich gereizt hinzu. „Ich denke, wir haben uns darüber nichts mehr zu sagen, nicht wahr? Und jetzt werde ich dir auch meinerseits ein Versprechen dafür geben: Wenn ich um das dreißigste Jahr herum den ‚Becher fortschleudern‘ will, so werde ich kommen und dich, wo du auch sein solltest, doch noch einmal aufsuchen, um noch einmal mit dir zu reden ... und wär’s auch aus Amerika, das wisse. Ich werde mit bestimmter Absicht kommen. Es wird auch sehr unterhaltsam sein, dich dann wiederzusehen, wie du sein wirst. Das Versprechen ist doch genügend feierlich? Wir nehmen vielleicht wirklich auf sieben oder auf zehn Jahre Abschied voneinander. Nun, geh jetzt zu deinem Pater Seraphicus, er liegt ja im Sterben. Stirbt er in deiner Abwesenheit, so wirst du dich womöglich noch über mich ärgern, daß ich dich solange aufgehalten habe. Also auf Wiedersehen. Weißt du, küsse mich noch einmal. So. Und nun geh ...“ Iwan wandte sich brüsk um und ging seinen Weg, ohne sich noch nach dem Bruder umzukehren. „So ging auch Dmitrij gestern abend von mir fort,“ dachte Aljoscha, „nur geschah es doch in einer ganz anderen Weise ...“ Diese sonderbare kleine Beobachtung schoß wie ein Pfeil durch Aljoschas traurigen Sinn und verlor sich in einem sorgenvollen, die Gedanken lähmenden Gefühl. Er wartete noch ein wenig und blickte dem Bruder nach. Da fiel ihm plötzlich auf, daß sein Bruder Iwan gleichsam schaukelnd, schwankend ging, und daß seine rechte Schulter, von hinten gesehen, scheinbar niedriger als die linke war. Das hatte Aljoscha sonst nie bemerkt. Doch plötzlich drehte auch er sich um und eilte fast laufend zum Kloster. Es dämmerte bereits stark, und Aljoscha fühlte, wie sich mit der wachsenden Dunkelheit Angst in seinem Herzen erhob. Es war etwas Neues in ihm, das wuchs und wuchs, doch er hätte nicht sagen können, was es war. Es hatte sich wieder ein Wind erhoben, und in den Kronen der uralten Kiefern rauschte es schaurig, als er durch den Wald zur Einsiedelei schritt. „‚Pater Seraphicus‘ – diesen Namen hat er von irgendwo hergenommen, woher aber?“ dachte Aljoscha flüchtig. „Iwan, armer Iwan! Und wann werde ich dich jetzt wiedersehen? ... Da ist die Einsiedelei, Herrgott! Ja, ja, er, Pater Seraphicus wird mich retten ... vor ihm! ... wird mich auf ewig erlösen!“ In seinem späteren Leben erinnerte er sich noch oft dieses Abends, und jedesmal fragte er sich verwundert, wie er nach seiner Trennung von Iwan so vollständig Dmitrij hatte vergessen können, obgleich er ihn doch am Vormittag, nur wenige Stunden vorher, unbedingt aufzusuchen beschlossen hatte, selbst wenn er dann nicht mehr zur Nacht ins Kloster zurückgekommen wäre. VI. Ein vorläufig noch sehr unklares Gespräch Iwan Fedorowitsch ging, als er sich von Aljoscha getrennt hatte, nach Hause zu Fedor Pawlowitsch. Aber sonderbar – ihn überfiel plötzlich eine qualvolle Seelenangst, die mit jedem Schritt, mit dem er sich dem Vaterhause näherte, wuchs und wuchs und immer unerträglicher wurde. Doch nicht die Seelenangst an sich war sonderbar, sondern das, daß Iwan Fedorowitsch sich auf keine Weise zu erklären vermochte, was die eigentliche Ursache derselben sein konnte. Es war auch früher nicht selten vorgekommen, daß ihn solche Stimmungen plötzlich überfallen hatten, und so wäre es weiter nicht auffallend gewesen, daß diese – ich möchte sagen – Schwermut in einem Augenblick wiederkam, als er gerade mit allem, was ihm hier teuer war, gebrochen hatte und als er sich anschickte, kurz zur Seite abzubiegen und einen neuen, ihm ganz unbekannten Weg zu betreten und wieder allein ins Leben zu gehen – ein einsamer suchender Wanderer mit großen Hoffnungen, doch ohne zu wissen, auf was er hoffte, der viel, gar zu viel vom Leben erwartete, doch der selbst nicht bestimmen konnte, worin seine großen Hoffnungen und seine zehrenden Wünsche bestanden. Und doch quälte ihn in diesem Augenblick, obwohl die Angst des Neuen und Unbewußten auf seiner Seele lag, etwas ganz anderes. „Oder sollte es nicht wieder der Ekel vor dem Vaterhause sein?“ dachte Iwan! „Das wäre möglich, das könnte es sein. Wenn ich auch heute zum letztenmal über diese verhaßte Schwelle trete, so ist es doch deswegen nicht weniger ... Aber nein, auch das ist es nicht. Oder sollte es vielleicht der Abschied von Aljoscha sein, und das Gespräch mit ihm?“ Das konnte es allerdings sein, ein Gefühl wie: „So viele Jahre habe ich geschwiegen, mit keinem Menschen zu sprechen geruht, und nun plötzlich habe ich so viel dummes Zeug geschwatzt.“ Es konnte jugendlicher Unwille, jugendliche Unerfahrenheit und jugendlicher Ehrgeiz sein, Ärger darüber, daß er nicht verstanden hatte, sich auszudrücken, dazu in einem Augenblick, da Aljoscha ihm zuhörte, Aljoscha, auf den sein Herz zweifellos große Hoffnungen setzte. Gewiß war es teilweise auch das, was ihn bedrückte, dieses Gefühl mußte sogar unbedingt in ihm nagen, aber auch das war noch nicht alles, auch das nicht. „Eine Schwermut bis zur Übelkeit,“ sagte er sich, „bin aber unfähig, mir zu erklären, was ich will. Das einzige wäre – nicht mehr zu denken!“ Doch trotz des Versuches, „nicht zu denken“, verließ ihn die Angst nicht. Das Ärgerlichste an ihr war, daß sie ganz zufällig, völlig äußerlich zu sein schien. Das fühlte er qualvoll. Ein Wesen oder ein Gegenstand oder so etwas Unerklärliches stand irgendwo in seiner Nähe oder lebte hier irgendwo: wie zuweilen etwas vor dem Auge flimmert und man sich lange, sei es bei der Arbeit oder während eines hitzigen Gespräches, dessen nicht bewußt wird, obgleich es einen unbewußt die ganze Zeit ärgert, reizt und sogar quält, bis man sich schließlich besinnt und den Gegenstand beseitigt, zuweilen irgendein leeres, dummes Ding, ein Tuch, das auf dem Fußboden liegt, oder ein Buch, das nicht in den Schrank gestellt ist, oder etwas Ähnliches. So, in der schlechtesten und gereiztesten Stimmung näherte sich Iwan Fedorowitsch dem Vaterhause, als er plötzlich, etwa fünfzehn Schritt von der Hofpforte, aufblickend, erriet, was ihn so gequält und erregt hatte. Auf der Bank am Hoftor saß, um sich an der kühlen Abendluft zu erfrischen, der Diener Ssmerdjäkoff, und Iwan Fedorowitsch begriff in derselben Sekunde, als er ihn erblickte, daß dieser Diener Ssmerdjäkoff in seiner Seele gesessen hatte, und daß gerade diesen Menschen seine Seele nicht ertragen konnte. Schon vorhin, bei der Erzählung Aljoschas von seiner Begegnung mit Ssmerdjäkoff im Nachbargarten, hatte etwas Finsteres und Widerwärtiges sich ihm ins Herz gebohrt und sofort seine Wut entfacht. Während des folgenden Gespräches hatte er dann Ssmerdjäkoff auf eine Weile vergessen. Trotzdem war der Gedanke an diesen Diener in seiner Seele geblieben, und kaum hatte er sich von Aljoscha getrennt und den Weg zum Vaterhause eingeschlagen, da war auch die vergessene Empfindung wieder über ihn gekommen. „Kann mich denn dieser elende Kerl wirklich dermaßen beunruhigen!“ dachte er und heiß überströmte ihm die Wut. Doch diese Wut hatte noch einen besonderen Grund. Ihm war dieser Mensch in der letzten Zeit tatsächlich verhaßt geworden, besonders in den letzten Tagen. Es war ihm sogar aufgefallen, wie sich sein Haß auf diesen Diener immer noch vergrößert hatte. Vielleicht vergrößerte sich dieser Haß gerade deswegen so überwältigend, weil er zu Anfang sich ganz anders zu ihm verhalten hatte. Damals, d. h. kurz nachdem er bei uns angekommen war, hatte Iwan Fedorowitsch sich plötzlich ganz besonders für diesen Ssmerdjäkoff interessiert und ihn sogar sehr originell gefunden. Er hatte ihn selbst daran gewöhnt, mit ihm zuweilen ein Gespräch anzuknüpfen, sich aber stets über seine gewisse Einfalt, oder vielleicht nicht so sehr Einfalt als innere Unruhe gewundert, ohne dabei zu begreifen, was „diesen Weltbeschauer“ so unaufhörlich und unablässig beunruhigen konnte. Sie sprachen über Philosophisches, sprachen über alles Mögliche – unter anderem auch darüber, wie es am ersten Tage hatte Tag sein können, da die Sonne, der Mond und die Sterne doch erst am vierten Tage geschaffen worden waren, kurz, wie man das alles zu verstehen hätte. Aber Iwan Fedorowitsch überzeugte sich gar bald, daß es Ssmerdjäkoff dabei gar nicht um Sonne, Mond und Sterne zu tun war, daß Sonne, Mond und Sterne, wenn sie auch einen relativ interessanten Gesprächsstoff abgaben, für Ssmerdjäkoff vielmehr nebensächliche Dinge waren, und daß er mit diesen Gesprächen etwas ganz anderes bezwecken wollte. Wie dem aber nun auch sein mochte, jedenfalls begann sich allmählich bei jeder Gelegenheit eine grenzenlose Eigenliebe in Ssmerdjäkoffs Worten zu äußern. Obendrein war dies eine Eigenliebe, die sich gekränkt und erniedrigt glaubte. Das mißfiel Iwan Fedorowitsch sehr. Und damit hatte dann sein Haß angefangen. Späterhin waren die Familienszenen dazwischen gekommen, die ganze Geschichte mit Gruschenka und die Zänkereien zwischen Dmitrij und dem Vater. Sie hatten auch darüber gesprochen, doch obwohl Ssmerdjäkoff über diese Angelegenheiten stets sehr erregt sprach, war es doch unmöglich, festzustellen, was er dabei eigentlich selbst wünschte oder zu wem er hielt. Ja, über die Unlogik und den Widerspruch mancher seiner Wünsche, die er zuweilen ganz wie aus Versehen aussprach, und die alle gleich unklar waren, mußte man sich geradezu wundern. Ssmerdjäkoff stellte seine Fragen immer halbwegs und indirekt, dachte sie sich augenscheinlich schon früher aus, wozu er das aber tat, – das erklärte er nicht. Gewöhnlich verstummte er mitten in seinem interessiertesten Gespräch, oder er ging plötzlich auf ein ganz anderes Thema über. Doch vor allem anderen, was Iwan Fedorowitsch ärgerte und in ihm schließlich einen so großen Widerwillen hervorrief, war es eine gewisse widerliche und besondere Familiarität, die sich der Diener ihm gegenüber, je länger desto unverschämter, herausnahm. Oh, versteht sich, nicht daß er sich erlaubt hätte, unhöflich zu sein! Im Gegenteil, er war immer ungewöhnlich ehrerbietig, aber es hatte sich mit der Zeit so gemacht, daß Ssmerdjäkoff, Gott weiß warum, sich für solidarisch mit Iwan Fedorowitsch zu halten begann, in einem Tone redete, als ob zwischen ihnen beiden etwas Verabredetes wäre, etwas Geheimes, das irgend einmal von beiden angedeutet, wenn auch nicht ausgesprochen worden wäre, das aber nur ihnen allein bekannt war, von den anderen um sie herumkriechenden Sterblichen dagegen überhaupt nicht begriffen werden konnte. Doch wurde sich Iwan Fedorowitsch noch lange nicht klar über den wahren Grund seines wachsenden Widerwillens, und erst in der letzten Zeit erriet er endlich, um was es sich dabei handelte. Mit einer ekelhaften Empfindung wollte er jetzt stumm und ohne Ssmerdjäkoff anzublicken an ihm vorüber durch die Fußpforte eintreten, als sich Ssmerdjäkoff plötzlich langsam von der Bank erhob, – und schon allein an dieser Bewegung erriet Iwan Fedorowitsch sofort, daß jener ein besonderes Gespräch mit ihm wünschte. Iwan blickte ihn an und blieb stehen, und eben das, daß er so plötzlich stehen geblieben und nicht vorübergegangen war, wie er noch vor einer Sekunde beabsichtigt hatte, machte ihn erzittern vor Wut. Zornig und angeekelt blickte er in Ssmerdjäkoffs blutarmes Gesicht, das der Physiognomie eines verschnittenen Sektierers nicht unähnlich war, trotz der kunstvoll mit dem Kamm bearbeiteten Haare und des kleinen aufgedrehten Lockenbüschels. Sein linkes, etwas zugekniffenes kleines Auge zwinkerte und lächelte, ganz als ob es sagen wollte: „Warum willst du vorübergehn? Du wirst ja doch nicht vorübergehn, du siehst doch selbst ein, daß wir beide, wir zwei Klugen, etwas zu besprechen haben.“ Iwan Fedorowitsch erzitterte. „Fort, Hund, was habe ich mit dir zu schaffen, Rüpel!“ schwebte es Iwan auf den Lippen, doch zu seiner größten Verwunderung sprach er etwas ganz anderes aus: „Schläft der Vater noch, oder ist er schon aufgestanden?“ fragte er mit leiser und fast freundlicher Stimme, und ebenso unerwartet für sich selbst, setzte er sich plötzlich auf die Bank. Auf einen Augenblick überkam ihn geradezu Angst, und dieser plötzlichen Angst erinnerte er sich noch später. Ssmerdjäkoff stand vor ihm, die Hände auf dem Rücken, und blickte ihn voll Selbstvertrauen fast streng an. „Geruhen noch zu schlafen,“ antwortete er langsam, ohne sich im geringsten zu beeilen, und mit dieser Langsamkeit schien er gleichsam ausdrücken zu wollen: „Hast selbst angefangen zu sprechen, nicht ich.“ – „Nur wundere ich mich alleweil über Euch, Herr,“ fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, schlug geradezu geziert die Augen nieder, setzte den rechten Fuß vor und spielte mit der Spitze des spiegelblank geputzten Stiefels. „So, und warum wunderst du dich denn über mich?“ stieß Iwan Fedorowitsch schroff und rauh hervor, obgleich er sich aus allen Kräften bezwang, denn er hatte plötzlich mit Ekel begriffen, daß er die größte Neugier für das, was der Diener sagen werde, empfand und auf keinen Fall fortgehen werde, ohne sie befriedigt zu haben. „Warum fahrt Ihr, Herr, nicht nach Tschermaschnjä?“ fragte Ssmerdjäkoff, der plötzlich wieder aufsah und familiär lächelte. – Sein linkes, etwas zugekniffenes Auge aber schien zu sagen: „Und worüber ich lächle, mußt du selbst begreifen, wenn du ein kluger Mensch bist.“ „Warum soll ich denn nach Tschermaschnjä fahren?“ fragte Iwan Fedorowitsch verwundert. Ssmerdjäkoff schwieg eine Weile. „Sogar der Herr Fedor Pawlowitsch haben Euch so drum gebeten,“ sagte er schließlich langsam und als ob er selbst seine gegebene Antwort nicht schätzte, – also ungefähr: „Mache es mit einem nebensächlichen Grunde ab, nur um etwas zu sagen“ –. „Äh, Teufel, sprich deutlicher, was willst du?“ schrie ihn Iwan Fedorowitsch zornig an, von der Sanftmut zur Grobheit übergehend. Ssmerdjäkoff setzte den rechten Fuß neben den linken, richtete sich etwas strammer auf, fuhr aber fort, ihn mit derselben Ruhe und mit demselben Lächeln anzublicken. „Wesentliches habe ich nichts zu sagen ... ich meinte nur so beiläufig ...“ Wieder trat Schweigen ein. Sie schwiegen etwa eine Minute lang. Iwan Fedorowitsch wußte, daß er sofort geärgert aufstehen und fortgehen müßte, Ssmerdjäkoff aber stand vor ihm, als ob er wartete und dachte: „Ich will jetzt nur sehen, ob du dich ärgerst oder nicht.“ Wenigstens schien es Iwan Fedorowitsch so. Er machte eine Bewegung, um aufzustehen. Darauf hatte aber Ssmerdjäkoff nur gelauert. „Ganz schrecklich ist meine Lage, Herr, ich weiß gar nicht, wie ich mir helfen soll,“ sagte er sofort, doch sprach er bereits fest und deutlich, und beim letzten Worte seufzte er auf. Iwan Fedorowitsch blieb sitzen. „Beide sind sie ganz kindisch geworden, ganz wie die allerkleinsten Kinder,“ fuhr Ssmerdjäkoff fort. „Ich rede von dem alten Herrn und Dmitrij Fedorowitsch. Der alte Herr werden jetzt aufstehen, und von selbigem Augenblick an geht dann das Fragen los: ‚Ist sie noch nicht gekommen? Warum ist sie nicht gekommen?‘ – Und das geht dann so weiter bis Mitternacht und noch weiter. Und wenn Agrafena Alexandrowna[18] nicht gekommen sind, sintemal sie wohl wahrscheinlich überhaupt niemals zu kommen gedenken, so werden der Herr morgen früh wieder anfangen: ‚Warum ist sie nicht gekommen? Weshalb ist sie nicht gekommen? Wann wird sie kommen?‘ – Ganz als ob das meine Schuld ist, sozusagen. Und hinwiederum andererseits kommen, sobald es dunkler wird, oder auch schon früher, Dmitrij Fedorowitsch mit der Flinte in die Nachbarschaft: ‚Paß auf, Kanaille,‘ sagen sie, ‚wenn du sie durchläßt und mich nicht benachrichtigst, falls sie gekommen ist, so bist du der erste, den ich totschieße‘. Und ist die Nacht vergangen, so fangen auch Dmitrij Fedorowitsch, ganz wie der alte Herr, mich qualvoll zu quälen an: ‚Warum ist sie nicht gekommen, wird sie sich bald sehen lassen‘? – Ganz als ob es hinwiederum auch vor ihnen meine Schuld wäre, daß ihre Dame nicht gekommen ist. Und derartig ärgern sie sich alleweil, und mit jeder Stunde, und mit jedem Tage wird ihre Wut immer noch gewaltiger, so daß ich mitunter schon daran denke, mir vor lauter Angst das Leben zu nehmen. Ich, Herr, ich kann mich nicht auf solche Menschen verlassen.“ „Warum hast du dich darauf eingelassen? Warum hast du Dmitrij Fedorowitsch alles hinterbracht?“ fragte Iwan Fedorowitsch gereizt. „Aber wie sollte ich denn nicht? Und ich hab mich auch gar nicht hineingemischt, wenn ich die volle Wahrheit sagen soll. Ich habe vom ersten Anfang an alleweil geschwiegen, dieweil ich nicht wagte, zu antworten, Dmitrij Fedorowitsch aber haben mich ungefragt gezwungen, ihr Diener zu sein, und jetzt kennen sie für mich nur ein Wort: ‚Schlage dich platt, Kanaille, mausetot, wenn du sie hineinläßt!‘ Ich bin sicher, Herr, daß ich morgen einen langen Anfall haben werde.“ „Was für einen langen Anfall?“ „So einen langen Anfall, einen ungewöhnlich langen. Mehrere Stunden oder einen ganzen Tag und noch einen anderen Tag womöglich. Einmal hatte ich ihn drei Tage lang, dieweil ich damals vom Wäscheboden gefallen war. Es hört auf – fängt aber wieder an. Ich konnte an all diesen drei Tagen nicht zu klarer Besinnung kommen. Fedor Pawlowitsch schickten nach Herzenstube, dem hiesigen Arzt, der legte mir Eis auf die Schläfen und gebrauchte noch ein anderes dummes Mittel ... Ich hätte davon sterben können.“ „Soviel ich weiß, kann man bei dieser Krankheit nicht voraussagen, daß man dann und dann einen Anfall bekommen wird. Wie kannst du also sagen, daß du morgen einen haben wirst?“ erkundigte sich mit ganz besonderer und gereizter Neugier Iwan Fedorowitsch. „Das stimmt genau, daß man es nicht vorauswissen kann.“ „Und zudem hattest du ihn damals nur darum, weil du vom Boden gefallen warst.“ „Auf den Boden gehe ich jeden Tag, ich kann alsomit auch morgen von der Bodentreppe herabfallen. Oder wenn nicht von dort, dann kann ich ja auch in den Keller hinabfallen, dieweil ich auch in den Keller täglich von wegen der Wirtschaft gehen muß.“ Iwan Fedorowitsch blickte ihn lange scharf an. „Du faselst, wie ich sehe, und ich verstehe dich wohl nicht recht,“ sagte er halblaut, doch drohend, „willst du dich morgen etwa verstellen und drei Tage lang einen Anfall vorspielen? Wie?“ Ssmerdjäkoff, der zu Boden sah und wieder mit der Stiefelspitze des rechten Fußes spielte, stellte sich nun auf den rechten Fuß und schob statt seiner den linken Fuß vor, erhob den Kopf und sagte lächelnd: „Selbst wenn ich dieses Stückchen machen könnte, also mich verstellen, dieweil es für einen geübten Menschen gar nicht schwer ist, so bin ich doch vollauf berechtigt, selbiges Mittel zur Rettung meines Lebens vom Tode zu gebrauchen, dieweil wenn ich krank bin und Agrafena Alexandrowna zum alten Herrn kommen, Dmitrij Fedorowitsch dann doch nicht von einem kranken Menschen fragen können: ‚Warum hast du es mir nicht gesagt?‘ Sie werden sich von selbst schämen, dann noch einen kranken Menschen das zu fragen.“ „Äh, Teufel!“ schrie ihn plötzlich Iwan Fedorowitsch mit wutentstelltem Gesicht an. „Was zitterst du immer um dein Leben! Du weißt doch, daß diese Drohungen Dmitrij Fedorowitschs nichts zu bedeuten haben, nur leere Worte sind! Dich wird er nicht totschlagen, da sei du unbesorgt! Totschlagen wird er, aber nicht dich!“ „Wie eine Fliege, und zwar mich vor allen anderen. Aber mehr als das fürchte ich noch das Weitere: daß man mich dann sozusagen für ihren Helfershelfer hält, wenn sie was ganz Verrücktes mit ihrem Vater getan haben.“ „Warum soll man denn dich für seinen Helfershelfer halten?“ „Dieweil ich ihnen selbige Zeichen als großes Geheimnis mitgeteilt habe.“ „Was für Zeichen? Wem mitgeteilt? Zum Teufel, so sprich deutlicher!“ „Ich muß wirklich gestehen, daß ich hier ein Geheimnis habe mit dem alten Herrn,“ sagte Ssmerdjäkoff langsam in pedantischer Ruhe. „Wie Ihr selbst zu wissen geruht – wenn Ihr nur geruht, es zu wissen – hat sich der Herr seit einigen Tagen zur Gewohnheit gemacht, zur Nacht oder sogar schon am Abend von innewendig die Türen alleweil zuzuschließen. Ihr geruhtet, Euch in letzter Zeit immer früh nach oben zurückzuziehen, und gestern geruhtet Ihr, überhaupt nicht auszugehen, und alsomit könnt Ihr auch wohlmöglich überhaupt nicht wissen, wie akkurat und besorgt der alte Herr sich jetzt zur Nacht einschließen. Und selbst wenn Grigorij Wassiljewitsch kommt, so machen sie nur höchstens dann noch auf, wenn sie ihn vorher gut an der Stimme erkannt haben. Aber Grigorij Wassiljewitsch kommt nicht, denn ich bediene sie jetzt ganz allein in ihren Zimmern, – so haben sie es selbst bestimmt seit dem Momente, da sie diesen Einfall mit Agrafena Alexandrowna haben, zur Nacht aber entferne auch ich mich aus dem großen Hause, dieweil selbiges ihre eigne Anordnung ist, und dann muß ich bis Mitternacht aufpassen, herumgehn auf dem Hof und warten, ob sie kommen, dieweil der Herr sie schon seit mehreren Tagen wie wahnsinnig erwarten. Denken aber tun sie dabei so: ‚Sie,‘ sagt der Herr, ‚fürchtet ihn‘, – also den Dmitrij Fedorowitsch, den sie immer Mitjka nennen, ‚und darum wird sie etwas später durch die Hinterstraßen zu mir kommen; du aber‘, sagen sie zu mir, ‚mußt sie bis Mitternacht und noch drüber hinaus erwarten. Und wenn sie kommt, so komm schnell zur Gartentür gelaufen und klopf an die Tür oder an das Fenster vom Garten aus, die ersten zwei Male etwas leiser, sieh so: Eins-zwei, und dann gleich darauf dreimal etwas schneller: Tuck-tuck-tuck. Dann‘, sagen sie, ‚werde ich sofort wissen, daß sie gekommen ist, und dir leise die Tür aufmachen.‘ Und dann haben sie mir noch ein anderes Zeichen für den Fall mitgeteilt, wenn etwas Besonderes geschehen sollte, zuerst zweimal schnell: Tuck-tuck, und dann, nach einer kleinen Weile, noch einmal viel stärker: _Tuck_. Dann, sagen sie, würden sie sofort begreifen, daß etwas Besonderes geschehen ist, und daß ich sie sprechen muß, und werden mir gleichfalls aufmachen. Und ich werde dann eintreten und melden. Das alles für den Fall, daß Agrafena Alexandrowna nicht selbst kommen können und irgendeine Nachricht schicken. Und dann können auch Dmitrij Fedorowitsch kommen, also muß ich auch dann benachrichtigen, daß sie in der Nähe sind. Der alte Herr fürchten sich gewaltig vor Dmitrij Fedorowitsch, so daß ich selbst dann, wenn Agrafena Alexandrowna gekommen sind und sie sich mit ihr eingeschlossen haben, Dmitrij Fedorowitsch aber mittlerweile irgendwo in der Nähe auftauchen, daß ich auch dann sofort melden muß, nach selbigem zweiten Zeichen, also dreimal geklopft. So bedeutet denn das erste Zeichen, fünfmal geklopft: ‚Sie ist gekommen‘, und das zweite Zeichen, dreimal geklopft – ‚dringend nötig‘. So haben sie selber es mir mannigfach vorgemacht und angezeigt und buchstäblich so erklärt. Und da nun in der ganzen Welt nur ich und sie von diesen Zeichen wissen, so werden sie ohne jede Bedenklichkeit und ohne zu fragen oder anzurufen, aufmachen, denn auch laut zu rufen haben sie gewaltige Angst. Und selbige Zeichen sind nun auch dem jungen Herrn Dmitrij Fedorowitsch bekannt geworden.“ „Wieso, wodurch bekannt geworden? Hast du sie ihm mitgeteilt? Wie konntest du es wagen!“ „Nur von wegen meiner gewaltigen Angst. Und wie hätte ich denn hinwiederum wagen können, ihnen selbiges zu verheimlichen? Dmitrij Fedorowitsch drohen mir jeden lieben Tag: ‚Du betrügst mich‘, sagen sie, ‚du verheimlichst etwas! Ich werde dich zu Brei schlagen, werde dir beide Beine ausreißen!‘ Und da machte ich ihnen denn Mitteilung von selbigen geheimen Zeichen, damit sie wenigstens meine treue Ergebenheit sehen und sich alsomit vergewissern, daß ich sie nicht betrüge und alles gehorsamst vermelde.“ „Wenn du glaubst, daß er die Kenntnis dieser Zeichen benutzen will, um hineinzukommen, so mußt du doppelt acht geben, hörst du, und ihn auf keinen Fall hereinlassen!“ „Wenn ich aber selber einen Anfall habe, wie soll ich sie dann nicht hereinlassen, selbst wenn ich mich erdreisten könnte, sie nicht hereinzulassen, da ich doch weiß, wie verzweifelt sie sind?“ „Zum Teufel, warum bist du so überzeugt, daß du einen Anfall bekommen wirst? Machst du dich etwa über mich lustig?“ „Wie sollte ich wohl wagen, über Euch zu lachen, und ist denn einem nach Lachen zumut, wenn man solche Angst hat? Ich fühle es voraus, daß ich einen Anfall bekommen werde, habe solch ein Vorgefühl, von bloßer Angst werde ich ihn bekommen.“ „Äh, Teufel! Wenn du krank bist, wird Grigorij wachen. Bereite ihn darauf vor, der wird dich schon gut ersetzen.“ „Von den Zeichen darf ich Grigorij Wassiljewitsch ohne ausdrücklichen Befehl des Herrn unter keinen Umständen etwas sagen. Und was Ihr sagt: von mich ersetzen, so hat er sich akkurat heute erkältet, und Marfa Ignatjewna will ihn alsomit morgen gewaltig kurieren. Sie haben es vorhin beide besprochen. Und dieses Kurieren ist sehr knifflich: Marfa Ignatjewna hat solch einen Salzbranntweinaufguß mit Kräutern, deren sämtliche Wirkungen sie kennt, und mit dieser Geschichte wird Grigorij Wassiljewitsch dreimal im Jahr kuriert, wenn er nämlich kreuzlahm wird. Dann nehmen sie ein grobes Handtuch, tunken es in diesen Kräuteraufguß, und dann reibt Marfa Ignatjewna eine halbe Stunde lang Grigorijs Rücken, so daß selbiger ganz rot wird und anschwillt. Und darauf gibt sie ihm den Rest mit einem gewissen Gebet zu trinken, aber nicht alles, etwas behält sie noch für sich zurück, das sie dann selber austrinkt. Und alsomit legen sich beide schlafen und schlafen lange und gewaltig fest. Und am nächsten Morgen ist Grigorij Wassiljewitsch immer gesund, Marfa Ignatjewna aber hat immer nachher Kopfschmerzen. Alsomit wird Grigorij Wassiljewitsch morgen, wenn Marfa Ignatjewna ihr Vorhaben ausführt, nichts hören, und so kann denn auch von einem Dmitrij Fedorowitsch nicht Einlassen gar keine Rede sein. Schlafen wird er.“ „Welch ein Blödsinn!“ schrie ihn Iwan Fedorowitsch zornig an. „Das trifft ja alles wie absichtlich zusammen: Du bewußtlos nach dem epileptischen Anfall und Grigorij und Marfa in festem Schlaf! – Oder steckst du vielleicht dahinter, daß sich alles so vorzüglich trifft?“, stieß er plötzlich kurz hervor und zog drohend die Brauen zusammen. „Wie soll ich dahinter stecken ... und wozu sollte ich das zu tun versuchen, wenn doch hier alles nur von Dmitrij Fedorowitsch abhängt und von ihren Absichten ... Wollen sie was anstiften, so wird es alsomit auch geschehen, wenn hinwiederum nicht, so werde doch ich nicht absichtlich sie herrufen, um sie zu ihrem Erzeuger hineinzuschicken.“ „Aber warum soll er denn zum Vater kommen, und dazu noch heimlich, wenn Agrafena Alexandrowna, wie du selbst sagst, überhaupt nicht kommen wird?“ fuhr Iwan Fedorowitsch, bleich vor Wut, fort. „Du sagst doch selbst, daß sie nicht zu ihm kommen will, und auch ich war die ganze Zeit über, die ich hier verbracht habe, überzeugt, daß der Alte nur phantasiert, und daß dieses Geschöpf nie zu ihm kommen wird. Warum nun soll sich Dmitrij mittels dieser Zeichen zum Alten hineinschleichen wollen? Sprich! Ich will deine Gedanken wissen!“ „Ihr geruht doch selber zu wissen, warum sie kommen werden, wozu hier meine Gedanken? Können sie doch schon aus Wut allein kommen oder auch aus Argwohn, beispielsweise, wenn ich krank bin. Dann wissen sie, daß ich nicht aufpassen kann, und werden vielleicht wie gestern in die Zimmer laufen, um sich alsomit zu vergewissern, ob ihre Dame nicht irgendwie von ihnen unbemerkt gekommen ist. Auch wissen sie ganz genau, daß der Herr ein großes Kuvert bereit liegen haben, und daß da drin dreitausend Rubel sind, und daß der Herr das Kuvert mit drei großen Siegeln verlackt und mit einem Bändchen kreuzweise umbunden und eigenhändig draufgeschrieben haben: ‚Meinem Engel Gruschenka, wenn sie zu mir kommen will‘, und daß sie darauf nach drei Tagen noch hinzugefügt haben ‚und Küchelchen‘. Das aber ist es nun, was gefährlich werden kann.“ „Blödsinn!“ stieß Iwan Fedorowitsch wutbebend hervor. „Dmitrij wird nicht Geld rauben gehn und dabei noch den Vater erschlagen. Er hätte ihn vielleicht gestern ihretwegen aus besinnungsloser Eifersucht erschlagen können, aber Geld stehlen – das tut ein Dmitrij Fedorowitsch nicht!“ „Sie brauchen aber jetzt Geld, brauchen es ganz gewaltig! Ihr wißt ja nicht einmal, wie nötig sie es haben,“ erklärte ungewöhnlich ruhig und auffallend deutlich Ssmerdjäkoff. „Und selbige Dreitausend halten sie noch dazu für ihr Geld, und so haben sie selber mir sogar mannigfach erklärt; ‚Diese Dreitausend ist er mir so gut wie schuldig‘, haben sie zu mir gesagt. Und zu alledem bedenkt doch selbst, Herr, daß Agrafena Alexandrowna, wenn sie nur wollen, den Herrn zwingen werden, sie zu heiraten, den alten Herrn Fedor Pawlowitsch, das ist doch so wie es ist, muß man sagen, die reinste abgekochte Wahrheit, wenn sie nur selber wollen, und es kann doch sein, daß sie wirklich wollen werden. Ich sag doch nur so selbentlich, daß sie nicht kommen werden, sie aber wollen vielleicht noch viel mehr als Dreitausend, sie wollen vielleicht geradeswegs Gnädige werden. Ich selber weiß, daß der Kaufmann Ssamssonoff ihr in aller Aufrichtigkeit gesagt hat, das wäre sogar äußerst wenig dumm, und daß sie darauf gelacht haben. Und sie sind gleichfalls eine Dame, die äußerst wenig dumm sind. Einen Habenichts, wie es doch Dmitrij Fedorowitsch sind, kann ihr nicht passen zu heiraten. Wenn man alsomit jetzt bedenkt, Herr, daß dann weder für Dmitrij Fedorowitsch, noch selbst für Euch, Herr, mitsamt Euerm Brüderchen Alexei Fedorowitsch so gut wie nichts nach dem Tode des Vaters verbleiben wird, kein einziger runder Rubel, dieweil Agrafena Alexandrowna sie nur deswegen heiraten werden, um alles für sich verschreiben zu lassen, alles, was es nur an Kapitalien gibt, so bedenkt doch selbst, wie es ist. Stirbt aber der alte Herr jetzt, da doch noch nichts davon geschehen ist, so kriegt jeder von Ihnen sofort blank und bar, wie man sagt, mindestens seine Vierzigtausend sicher, sogar Dmitrij Fedorowitsch, der ihnen jetzt so gewaltig verhaßt ist, da sie ein Testament noch nicht gemacht haben ... Und das alles weiß Dmitrij Fedorowitsch wie dreimal drei.“ Es war, als ob sich in Iwan Fedorowitschs Gesicht etwas verzerrte. Er zitterte am ganzen Körper. Und plötzlich stieg ihm dunkelrot das Blut ins Gesicht. „Warum also rätst du mir daraufhin, nach Tschermaschnjä zu fahren?“ unterbrach er Ssmerdjäkoff. „Was wolltest du damit sagen? Du siehst doch, was geschehen wird, wenn ich fahre!“ Iwan Fedorowitsch atmete schwer. „Das ist vollkommen richtig,“ sagte wohlüberlegt, leise und überzeugungsvoll Ssmerdjäkoff, der nicht aufhörte, Iwan Fedorowitsch aufmerksam und unverwandt zu beobachten. „Wieso vollkommen richtig?“ fragte, nur mit Mühe sich bezwingend, Iwan Fedorowitsch, und seine Augen blickten drohend. „Ich meinte selbiges nur, weil ich Mitleid hatte mit Euch, Herr. An Eurer Stelle würde ich das alles hier liegen lassen, wie es ist, und fortgehen ... das ist doch besser, als bei solch einer Geschichte dabei sitzen ...“ antwortete Ssmerdjäkoff, indem er scheinbar mit der größten Offenheit in die unheimlich drohenden Augen Iwan Fedorowitschs blickte. Beide schwiegen eine Weile. „Du bist, glaube ich, ein riesengroßer Idiot und außerdem, versteht sich, der gemeinste Schurke!“ sagte Iwan Fedorowitsch langsam und erhob sich von der Bank. Er wollte darauf durch das Fußpförtchen auf den Hof gehen, doch plötzlich blieb er stehen und wandte sich um zu Ssmerdjäkoff. Es geschah etwas Sonderbares: Plötzlich, wie im Krampf, hatte Iwan Fedorowitsch die Zähne zusammengepreßt und die Fäuste geballt und – noch einen Augenblick, und er hätte sich auf Ssmerdjäkoff gestürzt. Der aber, der es sofort bemerkt hatte, fuhr zusammen und bog erschrocken den Oberkörper zurück. Doch der Augenblick verging glücklich für Ssmerdjäkoff, und Iwan Fedorowitsch wandte sich schweigend, als ob er plötzlich in Zweifeln befangen wäre, zur Pforte. „Ich werde morgen nach Moskau fahren, wenn es dich interessiert, – morgen in der Früh, – das ist alles!“ sagte er plötzlich boshaft, laut und langsam, und als er es gesagt hatte, fragte er sich verwundert, was ihn veranlaßt haben mochte, Ssmerdjäkoff das zu sagen, und auch später noch stellte er sich oftmals diese Frage. „Das ist auch das allerbeste,“ griff Ssmerdjäkoff sofort auf, ganz, als hätte er nur darauf gewartet, „und wäre es nur, daß man Euch in Moskau mit dem Telegraphen beunruhigen und zurückrufen könnte, in irgend so einem besonderen Fall.“ Iwan Fedorowitsch blieb wieder stehen und wandte sich von neuem brüsk zu Ssmerdjäkoff zurück. Doch mit dem schien etwas Sonderbares geschehen zu sein: seine ganze Familiarität und Nachlässigkeit waren mit einemmal verschwunden; sein ganzes Gesicht drückte ungewöhnliche Aufmerksamkeit und Erwartung aus – doch war es diesmal zaghafte, furchtsame, knechtische Erwartung. „Wirst du nicht noch etwas sagen, nicht noch etwas hinzufügen?“ fragte förmlich sein unverwandter, sich an Iwan Fedorowitsch gleichsam festsaugender Blick. „Und aus Tschermaschnjä würde man mich etwa nicht zurückrufen ... in irgend so einem besonderen Fall?“ schrie ihn plötzlich Iwan Fedorowitsch an, ohne selbst zu wissen, warum er so die Stimme erhob. „Auch aus Tschermaschnjä würde man ... beunruhigen ...“ murmelte Ssmerdjäkoff fast flüsternd, und als hätte er sich ganz verloren, doch fuhr er dabei unverwandt fort, aufmerksam, ungeheuer aufmerksam Iwan Fedorowitsch gerade in die Augen zu blicken. „Nur ist Moskau weiter und Tschermaschnjä näher, so tut es dir wohl um das verfahrene Geld leid, nicht? wenn du mir nach Tschermaschnjä zu fahren zuredest, oder tue ich dir etwa leid, weil ich dann einen so großen Umweg mache?“ „Genau so ...“ murmelte Ssmerdjäkoff, widerlich lächelnd, mit fast tonloser Stimme – und wieder war er angespannt bereit, sofort rechtzeitig zurückzuspringen. Doch zu Ssmerdjäkoffs höchster Verwunderung ging Iwan Fedorowitsch auflachend zur Pforte und trat, immer noch lachend, durch sie ein. Wer aber sein Gesicht gesehen hätte, der würde sich bestimmt gesagt haben, daß er nicht etwa lachte, weil ihm froh zumut war. Und auch ihm selbst wäre es unmöglich gewesen, zu erklären, was damals, in jener Minute mit ihm geschehen war. Bewegte er sich und ging er doch, als ob sich seine Glieder krampften. VII. „Mit einem klugen Menschen ist auch das Reden ein Vergnügen“ Und wie er ging, so sprach er auch. Als er in den Saal trat und dort den Vater erblickte, rief er ihm sofort, heftig mit der Hand abwinkend, zu: „Ich gehe zu mir nach oben, komme nicht zu Ihnen, auf Wiedersehen!“ Und damit ging er vorüber, bemüht, den Vater nicht anzusehen. Möglich, daß der Alte ihm in diesem Augenblick gar zu widerlich war. Doch diese zeremonielose Kundgebung des feindlichen Gefühls verblüffte selbst Fedor Pawlowitsch. Der Alte schien ihm tatsächlich etwas sagen zu wollen und ihm zu diesem Zweck in den Saal entgegengekommen zu sein. Als er jedoch diesen unliebenswürdigen Gruß hörte, blieb er schweigend stehen und blickte nur spöttisch dem Sohne so lange nach, bis der auf der Treppe zum oberen Stock verschwunden war. „Was fehlt ihm?“ fragte er hastig den gleich nach Iwan Fedorowitsch eingetretenen Ssmerdjäkoff. „Scheinen sich über was zu ärgern, wer kann aus ihnen klug werden?“ brummte der ausweichend. „Na, dann zum Teufel mit ihm! Mag er sich doch ärgern, wenn es ihm Vergnügen macht. Gib den Tee her und mach dann, daß du fortkommst, fix. Was gibt es Neues?“ Und es begannen dieselben Fragen, über die sich Ssmerdjäkoff soeben bei Iwan Fedorowitsch beklagt hatte, d. h. Fragen, die sich alle auf den erwarteten Besuch bezogen. Nach einer halben Stunde wurde das Haus sorgfältig verschlossen, und der verrückte Alte spazierte allein durch die Zimmer, – in zitternder Erwartung, daß sofort, im Augenblick, die fünf verabredeten Schläge ertönen würden. Von Zeit zu Zeit blickte er durch die Fenster hinaus, doch sah er dort nichts außer der Nacht. Es war schon sehr spät, aber Iwan Fedorowitsch schlief noch immer nicht. Die Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Spät erst legte er sich in dieser Nacht zu Bett, erst nach zwei Uhr morgens. Doch will ich nicht unternehmen, den ganzen Gang seiner Gedanken wiederzugeben, es ist auch noch nicht an der Zeit, in diese Seele einzudringen. Und selbst wenn ich jetzt versuchen wollte, seinen Zustand zu schildern, so fiele es mir doch sehr schwer, da es nicht Gedanken waren, die ihn quälten, es war vielmehr etwas Unbestimmbares und vor allen Dingen etwas ihn maßlos Erregendes, was ihn peinigte. Es war ihm, als hätte er jeden Halt verloren. Auch quälten ihn verschiedene sonderbare und ganz unerwartete Wünsche, z. B.: kurz nach Mitternacht wandelte ihn plötzlich unwiderstehlich die Lust an, in das Nebengebäude auf den Hof zu gehen und Ssmerdjäkoff durchzuprügeln. Doch hätte man ihn gefragt, warum er das wollte, so wäre er bestimmt nicht imstande gewesen, auch nur einen einzigen Grund genau anzugeben, außer vielleicht den einen, daß dieser Diener ihm so verhaßt geworden war wie der größte Beleidiger, den man sich in der Welt denken könnte. Und andererseits wurde seine Seele in dieser Nacht nicht nur einmal von einer ganz unerklärlichen und erniedrigenden Zaghaftigkeit ergriffen, die ihn immer wieder ganz plötzlich überfiel, und von der er – das fühlte er – geradezu auch alle körperliche Kraft verlor. Sein Kopf tat ihm weh, und vor seinen Augen flimmerte es. Etwas Verhaßtes lag beklemmend auf seiner Seele, ganz als hätte er sich vorgenommen, sich an jemandem zu rächen. Er begann sogar, Aljoscha zu hassen, wenn er an sein Gespräch mit ihm dachte, und er haßte in manchen Minuten qualvoll auch sich selbst. An Katerina Iwanowna vergaß er beinahe zu denken, worüber er sich nicht wenig wunderte, um so mehr, als er am Morgen, wie er sich noch sehr gut erinnerte – da er so stolz bei Chochlakoffs gesagt hatte, daß er am nächsten Tage auf immer verreisen werde – sich selbst im geheimsten Innern gesagt hatte: „Das ist ja Unsinn, du wirst ja doch nicht fahren, und es wird dir durchaus nicht so leicht sein, dich von allem hier loszureißen, wie du jetzt prahlend sagst.“ Wenn Iwan Fedorowitsch später an diese Nacht zurückdachte, so war für ihn die unangenehmste Erinnerung, daß er sich plötzlich vom Diwan erhoben und leise, als hätte er furchtbare Angst, daß man ihn hören könnte, die Tür zur Treppe geöffnet hatte, um hinunterzulauschen, wie dort unten in den großen Räumen Fedor Pawlowitsch umherging. Lange hatte er so gestanden und gehorcht, ganze fünf Minuten lang, in einer sonderbaren Erwartung mit zurückgehaltenem Atem und klopfendem Herzen, doch warum er das tat, warum er horchen ging, – das wußte er in dem Augenblick selbst nicht. Diese seine Handlung nannte er später „abscheulich“, und in der verborgensten Tiefe seines Herzens hielt er sie für die niedrigste Tat seines Lebens. Gegen den Vater empfand er aber in diesen Minuten nicht den geringsten Haß, nur interessierte es ihn aus einem unbekannten Grunde über die Maßen, wie der Alte dort unten umherging, und was er wohl denken und tun möchte. Er stellte sich vor, wie der Vater in die dunklen Fenster blickte und plötzlich mitten im Zimmer stehen blieb und wartete, wartete, – ob nicht jemand klopfte. Zweimal ging Iwan Fedorowitsch zu diesem Zweck zur Treppe. Als aber alles still wurde, und Fedor Pawlowitsch sich hingelegt hatte, ungefähr um zwei Uhr morgens, da kleidete auch Iwan Fedorowitsch sich aus, um zu Bett zu gehen – mit dem Wunsch, bald einzuschlafen, da er sich nach allen Qualen unerträglich müde fühlte. Und so war es auch. Er schlief ganz plötzlich fest ein, schlief die ganze Nacht traumlos und erwachte früh am Morgen, ungefähr um sieben Uhr, als es schon hell war. Als er die Augen aufschlug, fühlte er zu seiner Verwunderung einen ganz ungewöhnlichen Zustrom von Energie. Er erhob sich schnell, kleidete sich an, zog darauf seinen Koffer hervor und begann, ohne Zeit zu vertrödeln, selbst seine Sachen zu packen. Die Wäsche war gerade am Tage zuvor von der Wäscherin gebracht worden, und Iwan Fedorowitsch lächelte sogar bei dem Gedanken, wie alles sich traf und nichts seine plötzliche Abreise aufhielt. Plötzlich konnte man die Abreise sehr wohl nennen, denn wenn er auch Katerina Iwanowna, Aljoscha und später Ssmerdjäkoff gesagt hatte, daß er am nächsten Tage fortfahren werde, so hatte er doch am Abend – dessen erinnerte er sich genau – beim Schlafengehen kein einziges Mal an die Abreise gedacht, und noch viel weniger, daß er am Morgen, ohne sich zu bedenken, als erstes eigenhändig seinen Koffer packen werde. Endlich war alles fertig, sowohl der Koffer, wie die Reisetasche. Es war schon neun Uhr, als Marfa Ignatjewna wie gewöhnlich kam, um zu fragen, wo der junge Herr den Tee trinken würde, bei sich oben oder unten im Saal. Iwan Fedorowitsch ging diesmal nach unten; er sah geradezu heiter aus, wenn auch an ihm, in seinen Worten und Bewegungen, etwas Nervöses, eine gewisse Hast auffiel. Er begrüßte freundlich den Vater, erkundigte sich sogar nach dessen Befinden, und plötzlich, ohne die ganze Antwort des Vaters abzuwarten, teilte er mit, daß er in einer Stunde nach Moskau abfahren werde – und zwar auf immer – und daher bäte, die Pferde anspannen zu lassen. Der Alte vernahm diese unerwartete Mitteilung ohne das geringste Zeichen von Verwunderung, vergaß sogar höchst unhöflicherweise die Abfahrt des Sohnes zu bedauern – statt dessen belebte er sich gleich darauf ungemein, da ihm im Zusammenhang damit eine dringende eigene Angelegenheit eingefallen war. „Ach du! Sieh mal einer an, wie du bist! Hast gestern kein Wort davon gesagt ... nun, einerlei, aber weißt du was, mein Liebster, tu mir den Gefallen, Wanjä, und fahr noch vorher nach Tschermaschnjä! Du brauchst doch von der Station, von Wolowje, nur nach links abzubiegen, im ganzen lumpige zwölf Werst, und du bist da!“ „Unmöglich, das kann ich nicht: Bis zur Eisenbahn sind achtzig Werst, und der Zug nach Moskau verläßt die Station um Punkt sieben abends – komme also knapp hin.“ „Nun, dann kommst du morgen oder übermorgen hin, ’s ist doch wahrhaftig egal! Heute aber fahr nach Tschermaschnjä! Ist es denn viel, um was ich dich bitte, und du beruhigst deinen Vater! Wenn ich hier nicht gebunden wäre, würde ich schon längst hingerutscht sein, denn die Sache drängt, sag ich dir, und ist wirklich nicht so ohne, ich aber habe jetzt hier ... mit einem Wort, die Zeit erlaubt es nicht ... Sieh, ich habe dort meinen Wald in zwei Distrikten, in Begitschewo und in Djätschkinoje. Maßloffs, Vater und Sohn, Kaufleute, bieten mir für das Abholzen nur achttausend Rubel; im vorigen Jahr aber bot ein Aufkäufer zwölftausend, es war aber kein Hiesiger, das ist der Haken! Denn die Hiesigen haben keine Abnahme, und die beiden Maßloffs wuchern mit Hunderttausenden! Was sie anbieten, das muß man auch nehmen, denn von den Hiesigen wagt niemand, sie zu überbieten und ihnen was vor der Nase wegzufangen. Nun aber erhielt ich am vorigen Donnerstag von dem Popen Iljinskij einen Brief, in dem er mir mitteilte, daß Gorstkin hingekommen sei, – das ist gleichfalls ein Aufkäufer, ich kenne ihn, nur ist das Wertvolle an der Sache das, daß er kein Hiesiger ist, sondern aus Pogreboje, das heißt also so viel, daß er die Maßloffs, Vater und Sohn, alle beide nicht fürchtet, da er, wie gesagt, kein Hiesiger ist. Elftausend hat er gesagt, würde er für das Abholzen geben, begreifst du jetzt? Hier aber wird er, wie der Pope schrieb, nur eine Woche bleiben. Wenn du nun hinfahren würdest, könntest du mit ihm die ganze Angelegenheit abmachen ...“ „Schreiben Sie doch dem Popen, der kann es ja gleichfalls abmachen.“ „Aber der versteht doch so etwas nicht, das ist es ja! Dieser Gottesknecht hat ja keine Augen! Sonst ist er ein goldener Mensch, würde ihm ohne zu zögern sofort Zwanzigtauseud ohne Quittung zum Aufbewahren einhändigen, aber zu sehen versteht er nicht, wirklich als ob er gar kein Mensch wäre! Jede lahme Krähe macht ihm ein X für ein U vor. Dabei ist er ein gelehrter Mensch! Dieser Gorstkin aber ist dem Ansehen nach ein Bauer, geht in blauem Wams herum, nur ist er dem Charakter nach ein vollendeter Schuft, das ist ja unser gemeinsamer Jammer! Der Kerl lügt, das ist das Verflixte! Mitunter lügt er dir Dinge vor, daß du dich nur wundern kannst, warum er es tut. Vor drei Jahren log er mir vor, daß seine Frau gestorben sei und er schon eine andere geheiratet habe, und dabei war davon keine Silbe wahr, denk dir nur! Seine Frau lebte damals unverändert weiter, lebt auch heutigen Tages noch und prügelt ihn alle drei Tage einmal. So handelt es sich denn jetzt darum, zu erfahren, ob er wirklich die Wahrheit sagt, daß er kaufen und Elftausend geben will.“ „So werde auch ich nichts ausrichten können, ich habe auch keine Augen.“ „Halt, mein Sohn, wart, du wirst schon dazu taugen, ich werde dir alle Zeichen sagen, von Gorstkin, denn, weißt Du, ich habe schon lange mit ihm zu tun. Sieh: Man muß bei ihm immer auf den Bart sehn. Er hat so’n kleines, gerupftes, rotblondes Bärtchen. Wenn nun dieses Bärtchen zittert, er sich aber beim Sprechen ärgert – dann ist’s gut, dann redet er die Wahrheit, will ein Geschäft machen. Streichelt er aber das Bärtchen mit der linken Hand und lächelt er dabei, – nun, dann will er begaunern, dann macht er Finten. In die Augen sieh ihm niemals, aus denen wird kein Teufel klug, dunkel ist das Wasser, wie gesagt, ein Erzspitzbube, – sieh nur auf den Bart. Er nennt sich Gorstkin, heißt aber gar nicht Gorstkin, sondern Ljägawyj,[19] aber rede ihn nicht so an, sonst fühlt er sich sofort beleidigt. Wenn du also mit ihm gesprochen hast und siehst, daß er es ernst meint, so schreibe mir sofort. Schreibe nur: ‚Der Kerl lügt nicht‘. Das genügt. Nur mußt du auf elftausend bestehen, wenn es aber nicht anders geht, so kannst du noch ein Tausend ablassen, mehr aber unter keiner Bedingung. Denk nur: Acht und elf – das ist ein Unterschied von dreitausend. Diese Dreitausend habe ich so gut wie gefunden, denn so bald läuft einem kein neuer Käufer in die Finger, Geld aber habe ich grad bis zum Halsabschneiden nötig. Wenn du mir dann schreibst, daß die Sache ernst ist, so werde ich von hier schnell hinfahren, hier irgendwie die Zeit noch dazu herausquetschen. Was aber hat es für einen Zweck, überhaupt hinzufahren, wenn sich schließlich alles nur als Hirngespinst des Popen erweisen kann? Nun, fährst du?“ „Ich habe wirklich keine Zeit, ersparen Sie es mir ...“ „Ach du, aber so tu mir doch den Gefallen, werde es dir nicht vergessen! Herzlos seid ihr alle samt und sonders, das ist das Ganze, was dahintersteckt! Was macht es dir denn aus, ob du einen oder zwei Tage früher ankommst? Wohin fährst du denn jetzt? – nach Venedig? Nun, in diesen zwei Tagen wird dein Venedig nicht versinken. Ich würde sonst Aljoscha schicken, aber was versteht denn Aljoschka von solchen Dingen? Ich bitte einzig und allein dich darum, weil ich weiß, daß du ein kluger Mensch bist. Das sehe ich doch, wie soll ich denn das nicht sehen? Zwar handelst du nicht mit Wald, aber du hast ein gutes Auge. Hier heißt es ja bloß sehen; meint es der Kerl ernst oder faselt er wieder mal? Ich sage dir, sieh auf den Bart: Zittert das Bärtchen, so ist’s gut, dann meint er’s ernst.“ „Sie wollen also _à tout prix_, daß ich dahin, in dieses verfluchte Nest fahre, nach Tschermaschnjä?“ fragte Iwan Fedorowitsch zornig und lächelte boshaft. Fedor Pawlowitsch bemerkte die Bosheit nicht oder wollte sie nicht bemerken, beachtete aber sofort das Lächeln. „Du fährst also, wirst hinfahren? Wart, dann schreib ich schnell noch ’n paar Zeilen, die du mitnehmen kannst.“ „Ich weiß nicht, ob ich hinfahren werde, ich weiß es noch nicht; werde mich unterwegs entscheiden.“ „Ach was, unterwegs, entscheide dich jetzt! Nun, mein Täubchen, entscheide dich, du fährst doch? Wenn du mit ihm gesprochen hast, so schreibe mir nur zwei Zeilen und gib den Zettel dem Popen ab, er wird ihn mir sofort rüberschicken. Und dann fahr wohin du willst, schieb meinetwegen ab nach Venezien. Zurück zur Station kann dich der Pope mit seinen Pferden fahren ...“ Der Alte war entzückt; im Augenblick hatte er das Zettelchen bekritzelt, dann bestellte er die Pferde, bestellte auch einen Imbiß, Kognak. Wenn der Alte sich über irgend etwas freute, so wurde er sofort sehr gesprächig und mitteilsam, diesmal aber schien er sich zu bezwingen. Dmitrij Fedorowitsch zum Beispiel erwähnte er mit keinem Wort. Die bevorstehende Trennung selbst, vom zweiten Sohn, rührte ihn nicht im geringsten. Er schien sogar nicht einmal recht zu wissen, wovon er sprechen sollte, was Iwan Fedorowitsch sehr wohl bemerkte. „Muß ihm doch genügend lästig geworden sein,“ dachte er bei sich. Erst als der Alte den Sohn auf die Treppe hinausbegleitete, wurde er etwas rührselig und bekundete sogar die Absicht, ihn zu küssen. Doch Iwan Fedorowitsch streckte ihm schnell die Hand zum Abschied entgegen, sichtlich bemüht, etwaige Liebesergüsse zu vermeiden, was der Alte denn auch sofort begriff, und weshalb er den Kuß unterließ. „Nun, fahr mit Gott, mit Gott!“ rief er ihm von der Treppe zu. „Wirst doch noch einmal im Leben wieder herkommen, nicht? Na, komm nur, werde mich freuen. Nun, Gott mit dir!“ Iwan Fedorowitsch stieg in den Wagen. „Nun, leb wohl, Iwan, schimpf nicht zu sehr über mich!“ rief ihm der Vater noch zum letztenmal nach. Die Dienerschaft hatte sich zum Abschied gleichfalls eingefunden: Ssmerdjäkoff, Marfa und Grigorij. Iwan Fedorowitsch schenkte jedem von ihnen zehn Rubel. Als er sich schon in den Wagen gesetzt hatte, trat noch Ssmerdjäkoff an den Schlag, um den Fußteppich zu ordnen. „Siehst du ... ich fahre nach Tschermaschnjä ...“ kam es plötzlich ganz von selbst über Iwan Fedorowitschs Lippen, für ihn jedenfalls ebenso unerwartet, wie am Tage vorher bei der Hofpforte die Mitteilung, daß er nach Moskau fahren werde – doch diesmal stieß er es mit einem sonderbar nervösen Lachen hervor. Dieses Lachens und dieser Worte erinnerte er sich später noch oft. „Alsomit haben denn die Leute recht, wenn sie sagen, mit klugen Menschen sei auch das Reden ein Vergnügen,“ antwortete Ssmerdjäkoff mit fester Stimme, und sein Blick schien Iwan Fedorowitsch durchdringen zu wollen. Die Pferde zogen an, und der Wagen rollte davon. Die Seele Iwan Fedorowitschs war traurig, doch gierig blickte er ins Land, auf die Felder und Hügel und Bäume, und auf einen Zug wilder Gänse, die hoch, hoch über ihm am klaren Himmel nach Süden zogen. Und plötzlich wurde ihm so wohl zumut. Er versuchte, mit dem Kutscher ein Gespräch zu beginnen, und wartete schon neugierig, was der antworten werde, doch nach einer Minute wurde er sich bewußt, daß die ganze Antwort ihm entgangen war – daß er dem Kutscher überhaupt nicht zugehört hatte. Er verstummte, und auch so war es schön: die Luft war so rein und klar und frisch, der Himmel so hoch und hell. Er sah vor sich die Gestalten Aljoschas und Katerina Iwanownas, aber er lächelte still, winkte ihnen leise ab, und die Schemen verschwanden. „Auch ihre Zeit wird kommen,“ dachte er. Die erste Station erreichten sie ziemlich bald, wechselten dort die Pferde und fuhren dann weiter nach Wolowje. „Warum ist es ein Vergnügen, mit einem klugen Menschen zu reden, was hat er damit sagen wollen?“ fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf, und der Atem blieb ihm stehen. „Und warum sagte ich ihm, daß ich nach Tschermaschnjä fahre?“ Nach einiger Zeit kamen sie in Wolowje an. Iwan Fedorowitsch stieg aus, und alsbald umringten ihn die Fuhrleute. Er befahl Postpferde anzuspannen und vereinbarte dann auch sofort den Preis für die zwölf Werst bis nach Tschermaschnjä. Er ging ins Stationsgebäude, drehte sich dort einmal um, warf auch einen Blick auf die Stationshalterin, und plötzlich ging er wieder zurück zur Vorfahrt. „Nicht nötig nach Tschermaschnjä! Ich fahre nicht hin. Werde ich aber nicht zu spät zur Eisenbahn kommen? Der Zug geht um sieben ab.“ „Wird noch grade gehn. Befehlen der Herr anzuspannen?“ „Ja, sofort. Wird nicht jemand von euch morgen in die Stadt fahren?“ „Wie denn nicht? Mitrij wird bestimmt hinkommen.“ „Kannst du mir nicht einen Dienst erweisen, Mitrij? Geh’ zu meinem Vater, zu Fedor Pawlowitsch Karamasoff, und sage ihm, daß ich nicht nach Tschermaschnjä gefahren bin. Kannst du das tun?“ „Warum denn nicht? Kenne den Herrn Fedor Pawlowitsch schon lange.“ „Hier hast du ein Trinkgeld, denn er könnte dir vielleicht keines geben,“ sagte Iwan Fedorowitsch gut gelaunt und lachte. „Das ist schon wahr, er würde wohl nichts geben,“ sagte Mitrij gleichfalls lachend. „Danke, Herr, werde gehen, werde bestimmt hingehen ...“ Um sieben Uhr abends stieg Iwan Fedorowitsch in den Zug ein, der ihn nach Moskau brachte. „Fort mit allem Gewesenen, Strich drunter, jetzt ist es abgeschlossen, das frühere Leben und die frühere Welt, in der ich gelebt habe, und daß kein Ruf, kein Echo mehr aus ihr zu mir herüberklinge! Hinein in die neue Welt, in das neue Leben und ohne jemals zurückzuschauen!“ Doch an Stelle des frohen Jubels erhob sich in seinem Herzen so großes Weh, wie er es in seinem Leben noch nie empfunden hatte. Die ganze Nacht konnte er nicht schlafen: Gedanken jagten Gedanken; der Waggon flog ratternd dahin, und erst beim Morgengrauen, kurz vor der Einfahrt in Moskau, war es ihm, als ob er plötzlich erwachte. „Ich bin ein Schuft!“ murmelte er vor sich hin. Fedor Pawlowitsch dagegen blieb sehr zufrieden zurück, als das Söhnchen abgefahren war. Ganze zwei Stunden lang fühlte er sich beinahe glücklich und kippte von Zeit zu Zeit einen Kognak. Doch plötzlich geschah etwas sehr Ärgerliches und für alle Hausbewohner Unangenehmes, was Fedor Pawlowitsch sofort in große Unruhe versetzte: Ssmerdjäkoff war nämlich aus irgendeinem Grunde in den Keller gegangen und von der Treppe hinuntergefallen. Es war noch ein Glück, daß Marfa Ignatjewna sich gerade auf dem Hof befand und es rechtzeitig hörte. Den Fall hatte sie zwar nicht gesehen, dafür aber hatte sie den Schrei gehört, den Schrei eines Epileptikers, der im Anfall hinstürzt. Ob ihn nun der Anfall beim Hinabsteigen getroffen hatte und er dann bewußtlos die Treppe hinuntergestürzt war, oder ob der Anfall durch den Sturz und die Erschütterung verursacht worden war, – das ließ sich natürlich nicht feststellen, doch fand man ihn schon auf dem Boden des Kellers in Krämpfen liegen, Schaum vor dem Munde. Man glaubte zuerst, er müsse sich wenigstens ein Glied, einen Arm oder ein Bein gebrochen oder beschädigt haben, doch siehe: „Gott hatte ihn beschützt,“ wie Marfa Ignatjewna sagte; er hatte sich nicht den geringsten Schaden zugefügt, nur war es schwer, ihn aus dem Keller in Gottes freie Natur hinaufzuschaffen. Man bat aber die Nachbarn um Hilfe und brachte ihn dann, so gut es ging, nach oben. Fedor Pawlowitsch wohnte persönlich dieser ganzen umständlichen Prozedur bei und half sogar eigenhändig; jedenfalls war er nicht wenig erschrocken und sehr besorgt. Der Kranke kam nicht sobald zur Besinnung. Die Anfälle hörten wohl zeitweilig auf, doch kamen sie immer wieder, und so meinten schließlich alle, daß der Anfall ebenso lange andauern werde wie im vorigen Jahre, als er vom Hausboden herabgefallen war. Man erinnerte sich, daß er damals Eisumschläge auf die Stirn und den Scheitel bekommen hatte, und beschloß daher, jetzt dasselbe Mittel anzuwenden. Eis fand sich noch im Keller, und Marfa Ignatjewna machte ihm die Umschläge. Fedor Pawlowitsch aber schickte zu Herzenstube, der auch sofort kam. Nachdem er den Kranken sorgfältig untersucht hatte (er war der sorgfältigste und aufmerksamste Arzt im ganzen Gouvernement), erklärte er, daß der Anfall ein „außerordentlicher“ sei und „Gefahr drohen könne“, daß er, Herzenstube, vorläufig noch nicht alles begreife, daß er aber morgen früh, falls diese Mittel nicht helfen sollten, sich entschließen werde, andere anzuwenden. Der Kranke wurde in sein Zimmer gebracht und zu Bett gelegt. Grigorijs und Marfas Schlafstube war nur durch eine dünne Wand von Ssmerdjäkoffs Zimmer getrennt, so daß Marfa Ignatjewna sofort hören konnte, wenn es dem Kranken vielleicht schlecht gehen sollte. Der arme Fedor Pawlowitsch aber hatte an diesem Tage ein Unglück nach dem anderen zu ertragen: das Essen hatte Marfa Ignatjewna zubereitet, und so fand Fedor Pawlowitsch, daß die Suppe im Vergleich zu Ssmerdjäkoffs Meisterwerken „das reine Spülwasser“ sei, und das Huhn erwies sich als dermaßen vertrocknet, daß für ihn ganz ausgeschlossen war, es durchzukauen. Marfa Ignatjewna aber entgegnete auf die bitteren, wenn auch gerechten Vorwürfe des Herrn, daß das Huhn sowieso sehr alt gewesen sei und sie das Kochen nicht bei Professoren gelernt habe. Und am Abend kam dann noch ein neues Unglück hinzu: Fedor Pawlowitsch wurde gemeldet, daß Grigorij, der sich vor zwei Tagen erkältet hätte, völlig kreuzlahm zu Bett liege. Fedor Pawlowitsch trank daher seinen Abendtee möglichst früh und schloß sich dann allein im Hause ein. Er war durch die fieberhafte Erwartung ungewöhnlich erregt. Er war nämlich überzeugt, daß Gruschenka an diesem Abend ganz bestimmt kommen werde, da ihm Ssmerdjäkoff schon am Morgen gesagt hatte, sie hätte versprochen, „unfehlbar heute zu kommen“. Das Herz des unruhigen Alten schlug erwartungsvoll; er ging erregt in seinen großen einsamen Räumen umher und blieb immer wieder lauschend und aufhorchend mit klopfendem Herzen stehen. Er mußte auf der Hut sein; konnte doch Dmitrij Fedorowitsch irgendwo in der Nähe ihr auflauern, und so hieß es, wenn sie ans Fenster klopfte (Ssmerdjäkoff hatte ihm schon vor drei Tagen versichert, daß er ihr ausführlich gesagt hätte, wo und wie sie klopfen sollte), so hieß es dann sofort, die Tür öffnen und sie keine Sekunde lang warten lassen, damit sie nur um Gotteswillen nicht vor irgend etwas Angst bekäme und fortliefe. Besorgt und unruhig wartete Fedor Pawlowitsch. Noch nie hatte sein Herz in so süßer Hoffnung geschwelgt: es war doch so gut wie sicher und bestimmt, daß sie diesmal kommen werde! ... Sechstes Buch. Ein russischer Mönch I. Der Staretz Sossima und seine Gäste Als Aljoscha mit Schmerz und Aufregung im Herzen die Zelle des Staretz betrat, blieb er im ersten Augenblick vor Verwunderung stehen: statt einen sterbenden Kranken vorzufinden, der vielleicht schon besinnungslos war (wie er die ganze Zeit gefürchtet hatte), erblickte er ihn plötzlich im Lehnstuhl sitzend, wenn auch anscheinend etwas erschöpft und schwach, so doch jedenfalls mit frohem Antlitz, und umgeben von Gästen, mit denen er eine ruhig heitere Unterhaltung führte. Übrigens war er erst eine viertel Stunde vor Aljoschas Ankunft aufgestanden. Die Gäste hatten sich schon früher in der Zelle versammelt und auf sein Erwachen gewartet, denn Pater Paissij hatte ihnen gesagt, daß der Lehrer sich gewiß noch erheben werde, um sich noch einmal mit allen, die seinem Herzen teuer waren, auszusprechen, wie er dies selbst am Morgen gewünscht und versprochen hatte. An dieses Versprechen, wie überhaupt an jedes Wort des sterbenden Staretz glaubte Pater Paissij unerschütterlich, so daß er sogar dann, wenn er ihn schon bewußtlos und sterbend gesehen und gleichwohl sein Versprechen, noch einmal aufzustehen, gehabt hätte, ja daß er dem Tode selbst nicht geglaubt, sondern immer noch erwartet haben würde, der Sterbende werde sich erheben und sein Versprechen halten. Am Morgen aber hatte ihm der Staretz vor dem Einschlafen gesagt: „Ich werde nicht früher sterben, als bis ich noch einmal vorher, ihr Geliebten meines Herzens, eure lieben Gesichter geschaut und vor euch meine Seele ausgeschüttet habe.“ Die vier Mönche, die sich zu dieser letzten Unterhaltung beim Staretz eingefunden hatten, waren seine Freunde, die innig an ihm hingen: die beiden Priestermönche Pater Jossiff und Pater Paissij und der Priestermönch Pater Michail. Es war das der _Vorsteher_ der Einsiedelei, eigentlich noch kein alter Mann, auch war er nicht gerade sehr gelehrt, dafür aber ein fester Charakter mit schlichtem, unerschütterlichem Glauben und von strengem Äußeren; sein Herz war von tiefster Güte durchdrungen, die er jedoch äußerlich fast wie aus einem gewissen Schamgefühl heraus zu verbergen suchte. Der vierte Gast war ein kleines, altes, einfaches Mönchlein aus niedrigstem Bauernstande, Bruder Anfim, der kaum lesen und schreiben konnte, still und schweigsam war, selten mit jemandem sprach, der Demütigste aller Demütigen. Er hatte das Aussehen eines Menschen, der durch etwas Großes und Schreckliches, für seinen Geist Unfaßliches auf ewig erschreckt worden ist. Diesen gleichsam vor Furcht bebenden Menschen liebte der Staretz Sossima sehr und behandelte ihn stets mit außergewöhnlicher Hochachtung. Trotzdem hatte Pater Anfim vielleicht in seinem ganzen Leben mit niemandem weniger geredet als mit dem Staretz, obgleich er viele Jahre mit ihm allein als Pilger durch das heilige Rußland gewandert war. Das aber war schon vor langer Zeit gewesen, ungefähr vor vierzig Jahren, als der Staretz Sossima erst seine Laufbahn als Mönch in einem armen, fast ganz unbekannten Kostromaschen Kloster begonnen hatte. Bald darauf begleitete ihn Pater Anfim auf seinen Wanderungen zum Sammeln von Opfergaben für ihr armes Klosters. Sie alle, der Staretz wie seine Gäste, hatten sich im zweiten Zimmer der Zelle versammelt, in dem auch das Bett stand. Dieses Zimmer war, wie ich schon einmal erwähnte, sehr klein, so daß alle vier (außer dem Novizen Porfirij, der die ganze Zeit über stand) um den Lehnstuhl des Staretz auf den Stühlen, die aus dem ersten Zimmer herbeigebracht waren, kaum Platz fanden. Draußen dunkelte es bereits, und das Zimmer wurde nur durch die Lämpchen und Wachslichte vor den Heiligenbildern erleuchtet. Als der Staretz Aljoscha erblickte, der beim Eintreten an der Tür stehen geblieben war, lächelte er freudig und streckte ihm die Hand entgegen. „Sei gegrüßt, mein Stiller, sei gegrüßt, mein Lieber, da bist ja auch du! Ich wußte doch, daß du kommen würdest.“ Aljoscha trat auf ihn zu, verbeugte sich vor ihm bis zur Erde und brach in Tränen aus. Sein Herz wollte zerspringen; seine Seele erbebte, und am liebsten hätte er laut aufgeschluchzt. „Was tust du? warte noch mit dem Weinen,“ sagte der Staretz lächelnd und legte ihm die rechte Hand auf den Scheitel, „siehe, ich sitze und plaudere hier, vielleicht werde ich noch zwanzig Jahre leben, wie es mir gestern die Gute, Liebe aus Wyschegorje, mit dem Töchterchen Lisaweta auf dem Arme, gewünscht hat. Herr, segne sie und ihr Töchterchen Lisaweta!“ (er bekreuzte sich). „Porfirij, hast du die Gabe dorthin gebracht, wie ich es dir befahl?“ Ihm waren die sechzig Kopeken eingefallen, die ihm seine opferfreudige Verehrerin mit der Bitte übergeben hatte, sie „einer, die ärmer ist als ich“, zu spenden. Solche Spenden, die man sich freiwillig auferlegt, müssen durchaus durch eigene Arbeit erworben werden, um ein Bußopfer zu sein. Der Staretz hatte Porfirij damit noch am selben Abend zu einer armen Bürgersfrau geschickt, einer Witwe mit Kindern, die durch einen Brand alles verloren hatte. Porfirij meldete sofort, daß er die Sache besorgt und das Geld, wie er beauftragt war, „von einer unbekannten Wohltäterin“ überbracht habe. „Steh auf, mein Lieber,“ wandte sich der Staretz wieder zu Aljoscha, „laß mich dich ansehen. Warst du bei den Deinen und sahst du deinen Bruder?“ Aljoscha schien es sonderbar, daß er so bestimmt nur nach einem von seinen Brüdern fragte – aber nach welchem? Folglich hatte er ihn gestern wie auch heute nur um dieses Bruders willen fortgeschickt. „Den einen der Brüder habe ich gesehen,“ antwortete Aljoscha. „Ich meine den von gestern, den älteren, vor dem ich niederfiel.“ „Den habe ich gestern gesehen, heute aber konnte ich ihn nicht finden,“ sagte Aljoscha. „Suche ihn eiligst auf, morgen gehe wieder hin, beeile dich, laß alles andere bleiben und beeile dich. Vielleicht gelingt es dir noch, etwas Schrecklichem vorzubeugen. Denn wisse: ich bin gestern wegen des großen Leidens, das ihn in Zukunft erwartet, vor ihm niedergefallen.“ Er verstummte plötzlich und versank in Gedanken. Sonderbar waren seine Worte. Der Pater Jossiff, der Zeuge des gestrigen Kniefalls gewesen war, und der Pater Paissij tauschten einen Blick aus. Aljoscha aber konnte nicht an sich halten: „Mein Vater und mein Lehrer,“ stieß er in ungewöhnlicher Aufregung hervor, „unklar sind mir Eure Worte ... Welch ein Leiden erwartet ihn?“ „Frage nicht. Mir schien gestern etwas Schreckliches ... In seinem Blick konnte man sein ganzes Schicksal lesen. Nur ein Blick war es, und in diesem Augenblick erschrak ich in meinem Herzen über das, was dieser Mensch sich selbst bereitet. Ein- oder zweimal in meinem Leben habe ich diesen Gesichtsausdruck gesehen ... einen Gesichtsausdruck, der das ganze Schicksal dieser Menschen kennzeichnete, und wehe! das sie auch ereilte. Ich habe dich zu ihm geschickt, Alexei, denn ich dachte, daß das Bruderantlitz ihn retten könnte. Doch alles kommt vom Herrn, auch alle unsere Geschicke. ‚Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.‘ Denke daran, mein Sohn. Dich aber, Alexei, habe ich oft in Gedanken um deines Blickes willen gesegnet, damit du es weißt,“ sagte der Staretz, und ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen. „Oft denke ich von dir: Du wirst wie ein Einsiedler aus diesen Mauern hinausgehen in die Welt. Viele Gegner wirst du haben, aber selbst deine Feinde werden dich lieben. Viel Leid wird dir das Leben bringen, doch nur durch Leid wirst du glücklich sein, und nur um des Leidens willen wirst du das Leben segnen, und du wirst auch andere zwingen, es zu segnen – was das wichtigste ist. Siehe, das bist du. Meine Väter und Lehrer,“ wandte er sich gerührt lächelnd an seine Freunde – „bis zu dieser Stunde habe ich niemandem gesagt, auch ihm selbst nicht, warum der Anblick dieses Jünglings mir so lieb war. Jetzt werde ich es sagen: Sein Antlitz war mir eine Erinnerung und eine Prophezeiung. In der Morgenröte meiner Tage, als ich noch ein ganz kleines Kind war, hatte ich einen älteren Bruder; es war ein Jüngling, der mit siebzehn Jahren starb. Später, als ich mein Leben begann, überzeugte ich mich immer mehr, daß dieser Bruder in meinem Schicksal gleichsam ein Hinweis zu etwas Höherem gewesen war, denn wäre er in meinem Leben nicht gewesen, so wäre ich vielleicht nie auf den Gedanken gekommen, die Mönchskutte zu wählen und diesen Weg zu betreten, der mir jetzt so teuer ist. Diese Erscheinung kreuzte in meiner Kindheit meinen Weg, und siehe, am Ende meiner Tage tritt sie wie wiedererstanden aufs neue mir entgegen. Wunderbar ist es, meine Väter und Lehrer, daß Alexei, auch wenn er dem Antlitze nach ihm weniger ähnlich wäre, geistig ihm doch so gleicht, daß ich ihn oft für jenen Jüngling, für meinen Bruder gehalten habe, der am Ende meiner Tage mir geheimnisvoll erschienen ist, zur Erinnerung und zur Erleuchtung. Ich habe mich selbst oft über diesen meinen Gedanken gewundert. Merke es dir, Porfirij,“ wandte er sich an den bedienenden Novizen. „Oft sah ich auf deinem Gesicht Unmut darüber, daß ich Alexei mehr liebte als dich. Jetzt weißt du, warum das geschah, doch liebe ich auch dich. Wisse, ich war oft betrübt, daß du darüber grolltest. Euch aber, liebe Gäste, will ich von diesem Jüngling, meinem Bruder erzählen, denn seine Erscheinung war in meinem Leben die teuerste, die prophetischste und die ergreifendste. Mein Herz ist von Rührung ergriffen, und mir ist, als durchlebte ich in dieser Minute nochmals mein ganzes Leben ...“ * * * * * Hier muß ich bemerken, daß dieses Gespräch des Staretz mit seinen Gästen, am letzten Tage seines Lebens, später von seinen Anhängern aufgeschrieben und aufbewahrt worden ist. Alexei Fedorowitsch Karamasoff schrieb es einige Tage nach dem Tode des Staretz aus dem Gedächtnis nieder. Ob er nun bloß das letzte Gespräch von damals aufgeschrieben oder einiges aus den früheren Erzählungen seines Lehrers noch hinzugefügt hat, das kann ich nicht feststellen. In der Niederschrift zieht sich das Gespräch des Staretz ununterbrochen hin, als ob er sein Leben den Freunden in der Form einer Erzählung wiedergegeben hätte, während es sich doch in Wirklichkeit ohne Zweifel anders verhalten hat. Die Unterhaltung an diesem Abend war eine allgemeine gewesen; denn wenn auch die Gäste ihren Meister nur wenig unterbrachen, so mischten sie sich doch zuweilen in das Gespräch ein, teilten auch ihre Meinungen und Erlebnisse mit, abgesehen davon, daß der Staretz ununterbrochen seine Erzählung gar nicht hätte zu Ende führen können, da er viel zu erschöpft war, die Stimme ihm versagte und er sich von Zeit zu Zeit aufs Bett legen mußte, um sich zu erholen, während die Gäste ihren Platz nicht verließen. Ein- oder zweimal wurde die Unterhaltung durch Lesen des Evangeliums unterbrochen. Pater Paissij las vor. Bemerkenswert ist auch noch, daß niemand von ihnen ahnte, wie nahe sein Ende war – daß er noch in dieser Nacht sterben werde. Er hatte an diesem letzten Abend seines Lebens nach einem tiefen Nachmittagsschlaf neue Kräfte geschöpft, die ihn während des langen Gespräches mit seinen Freunden aufrecht erhielten. Doch waren es, wie sich erwies, seine letzten Kräfte gewesen ... Aber davon später. Jetzt will ich nur mitteilen, daß ich mich hier bei der Erzählung des Staretz auf die Niederschrift Alexei Fedorowitsch Karamasoffs beschränke, ohne auf alle Einzelheiten der Unterhaltung mit seinen Gästen einzugehen. So ist sie übersichtlicher und nicht so ermüdend, obgleich, ich wiederhole es, Aljoscha sie nicht wörtlich wiedergegeben hat. II. Aufzeichnungen aus dem Leben des in Gott verschiedenen Priestereinsiedlermönches, des Staretz Sossima, zusammengestellt nach dessen eigenen Worten von Alexei Fedorowitsch Karamasoff. Biographische Aufzeichnungen a) Vom jungen Bruder des Staretz Sossima Inniggeliebte Väter und Lehrer. Ich wurde hoch im Norden, in einem entfernten Gouvernement, geboren, in der Stadt W. Mein Vater war Edelmann, doch weder von hohem Adel, noch von hohem Rang. Er starb, als ich zwei Jahre alt war, und ich erinnere mich seiner nicht. Er hinterließ meiner Mutter ein nicht sehr großes Wohnhaus und ein Kapital, das für sie und ihre Kinder zum Leben ausreichte. Sie hatte nur uns beide: mich, Sinowij, und meinen älteren Bruder Markell. Er war acht Jahre älter als ich, war reizbar und heftig, doch nichtsdestoweniger gut und zartfühlend, verschlossen, besonders zu Hause, sowohl gegen mich, gegen meine Mutter und gegen die Dienstboten. Im Gymnasium war er ein guter Schüler, aber mit seinen Mitschülern verstand er sich nicht, obgleich er mit ihnen auch nicht gerade in Feindschaft lebte, wie die Mutter behauptete. Ein halbes Jahr vor seinem Tode, als er schon siebzehn Jahre alt war, ging er häufig zu einem einsamen Menschen, der, aus Moskau als politischer Verbrecher verbannt, in unserer Stadt lebte. Dieser Verbannte war kein geringer Gelehrter und ein berühmter Philosoph der Universität. Warum er Markell liebte und ihn bei sich empfing, weiß ich nicht. Jedenfalls verbrachte Markell bei ihm alle Abende. Den ganzen Winter hindurch besuchte er ihn, bis man schließlich den Verbannten auf dessen Bitte an die Petersburger Universität berief, denn er hatte gute Protektion. Die großen Fasten begannen, aber Markell weigerte sich, zu fasten, und er machte sich über das Fasten nur lustig: „Das ist doch nichts als Unsinn, denn es gibt ja gar keinen Gott,“ sagte er. Meine Mutter und die Dienstboten waren darüber entsetzt, und auch ich war es; wenn ich auch erst neun Jahre alt war, so erschrak ich doch sehr, als ich diese Worte hörte. Unsere vier Dienstboten waren als Leibeigene und alle auf den Namen eines uns bekannten Gutsbesitzers gekauft.[20] Ich erinnere mich noch, wie Mütterchen eine von diesen vier, die Köchin Afimja, ein hinkendes, ältliches Weib, für sechzig Rubel verkaufte und an ihrer Stelle eine Freie annahm. In der sechsten Woche der Fasten wurde mein Bruder krank. Er war schon immer kränklich gewesen, hatte eine schwache Brust, war zart gebaut und neigte zur Schwindsucht; klein von Wuchs war er gerade nicht, aber schmal und schwächlich; sein Gesicht dagegen war wohlgebildet. Wahrscheinlich hatte er sich erkältet. Der Doktor kam und flüsterte bald darauf meinem Mütterchen zu, daß es die Schwindsucht sei und er den Frühling wohl nicht überleben werde. Die Mutter weinte, bat aber schüchtern den Bruder – um ihn nicht zu erschrecken –, er möge durch Fasten und Kirchenbesuch sich zum Abendmahl vorbereiten, denn damals konnte er noch ausgehen. Als er das hörte, wurde er zornig und lästerte das Gotteshaus, indessen dachte er doch nach: Er erriet sofort, daß er gefährlich krank war, und daß die Mutter ihn nur darum bat, zum Abendmahl zu gehen, weil er noch bei Kräften war. Übrigens wußte er selbst schon lange, daß er krank war, schon ein Jahr vorher hatte er einmal bei Tisch mir und der Mutter kaltblütig gesagt: „Ich bin unter euch gar nicht wie ein Bewohner dieser Erde, vielleicht werde ich schon im nächsten Jahre nicht mehr leben,“ ganz als ob er seinen Tod prophezeit hätte. Es vergingen zwei, drei Tage, und die Passionswoche begann. Und siehe, der Bruder ging vom Dienstagmorgen an zur Beichte. „Ich tue es nur deinetwegen, Mütterchen, nur um dich zu erfreuen und zu beruhigen,“ sagte er zu ihr. Die Mutter weinte vor Freude und vor Leid: „Nah muß sein Ende sein, wenn sich in ihm eine solche Umwandlung vollzogen hat,“ sagte sie. Aber nicht lange mehr konnte er in die Kirche gehen, so daß die Beichte und das Abendmahl im Hause vollzogen werden mußten. Es kamen heitere und klare Tage, voll Licht und Duft; es waren späte Ostern. In den Nächten schlief er schlecht und hustete – ich erinnere mich dessen noch –, am Morgen aber kleidete er sich immer an und setzte sich in einen weichen Lehnstuhl. So sehe ich ihn noch jetzt vor mir: still sitzt er da und lächelt, zwar ist er krank, aber sein Blick ist strahlend. Seelisch hatte er sich ganz verändert – eine wunderbare Veränderung hatte sich in ihm vollzogen! Seine alte Kinderfrau trat einmal zu ihm ins Zimmer und sagte: „Erlaube, mein Täubchen, daß ich auch bei dir das Lämpchen vor dem Heiligenbilde anzünde.“ Früher erlaubte er es nicht und hatte das Lämpchen sogar ausgelöscht. „Zünde an, meine Liebe, zünde es an. Ein Ungeheuer war ich, als ich es dir verbot. Du zündest das Lämpchen an und betest zu Gott, und ich freue mich über dich und bete gleichfalls. Folglich beten wir beide zu einem Gott.“ Sonderbar schienen uns diese Worte; die Mutter ging in ihr Zimmer und weinte immerfort, nur wenn sie zu ihm kam, wischte sie sich die Augen ab und machte ein frohes Gesicht. „Mütterchen, weine nicht, mein Liebes,“ sagte er gar manches Mal, „ich lebe ja noch lange mit euch, kann mich noch mit euch freuen, sieh, welch eine Freude ist doch das Leben!“ – „Ach, mein Lieber, was ist denn das für eine Freude für dich, wenn du die ganze Nacht im Fieber liegst und hustest, daß dir die Brust zerspringt.“ – „Mama,“ antwortete er ihr, „weine nicht, das Leben ist ein Paradies, und alle sind wir im Paradiese, wir wollen es nur nicht erkennen; wenn wir es aber erkennen könnten, so würden wir morgen im Paradiese sein.“ Und alle wunderten sich über seine Worte, so sonderbar und bestimmt sprach er sie aus; und sie weinten alle vor Rührung. Auch Bekannte kamen zu uns. „Meine Lieben,“ sagte er zu ihnen, „meine Teuren, wodurch habe ich verdient, daß Sie mich lieben, warum lieben Sie mich denn, und warum habe ich das früher nicht gewußt und geschätzt?“ Den Dienstboten sagte er, wenn sie zu ihm kamen: „Meine Lieben, meine Guten, warum bedient ihr mich, bin ich es denn wert, daß man mich bedient? Wenn Gott sich meiner erbarmte und mich leben ließe, so würde ich selbst euch dienen, denn ein jeder soll dem anderen dienen.“ Als Mütterchen dies hörte, schüttelte sie den Kopf und sagte: „Das kommt von deiner Krankheit, daß du so sprichst!“ – „Mama, du meine Freude, gewiß muß es Diener und Herren geben, möge ich aber auch einmal der Diener meiner Diener sein und ihnen dienen, wie sie mir. Ja, und ich sage dir, Mütterchen, jeder von uns ist in allem vor allen schuldig, und ich bin es mehr als alle anderen.“ Die Mutter lächelte darüber, weinte und lächelte: „Nun, weshalb solltest du denn von allen am meisten schuldig sein? Da gibt es Mörder und Räuber, worin kannst du denn so gesündigt haben, daß du dich mehr als alle anderen beschuldigst?“ – „Mütterchen, du mein leibliches Mütterchen, mein eigenes Herzblut (liebe, ganz ungewohnte Worte sagte er damals), meine Liebe, meine Freudige, ich sage dir, in Wahrheit ist ein jeder in allem und vor allen schuldig. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, aber ich fühle es, fühle es bis zur Qual. Wie haben wir nur so leben und uns kränken können und es nicht gewußt?“ So erhob er sich jeden Morgen immer freudiger und immer mehr von Liebe überwältigt und verklärt. Wenn der Doktor kam, Doktor Eisenschmidt, ein Deutscher, scherzte er mit ihm: „Nun, Doktor, werde ich noch einen Tag auf der Welt erleben?“ – „Nicht nur einen Tag, noch viele Tage werden Sie leben,“ antwortete ihm manches Mal der Doktor, „und Monate und Jahre werden Sie noch leben.“ – „Wozu denn noch Monate und Jahre!“ rief er aus. „Wozu da die Tage zählen. Dem Menschen genügt ja ein einziger Tag, um das ganze Glück zu erfahren. Meine Lieben, warum streiten wir uns, warum tun wir wichtig voreinander, warum vergeben wir nicht einander? – Gehen wir lieber gradeswegs in den Garten, lustwandeln wir und freuen wir uns, lieben wir einander und lobpreisen wir unser Leben! ...“ „Ihr Sohn ist nicht von dieser Welt,“ sagte der Doktor zur Mutter, wenn die ihn zur Tür begleitete, „durch die Krankheit verfällt er in Phantasien.“ Die Fenster seines Zimmers gingen auf den Garten hinaus; der Garten war schattig, voll alter Bäume, und an den Bäumen sproßten Frühlingsknospen, und die ersten Vögel zwitscherten und sangen vor seinem Fenster. Er freute sich über sie, und plötzlich begann er auch, sie um Verzeihung zu bitten: „Gottes Vöglein, selige Vöglein, vergebt auch ihr, daß ich auch euch gegenüber gesündigt habe.“ Das nun konnte niemand mehr von uns verstehen; er aber weinte vor Freude: „Ja,“ sagte er, „so groß war der Ruhm Gottes um mich her: Vögel, Bäume, Wiesen und Himmel, nur ich allein lebte in Sünde und schändete alles, weil ich die Schönheit der Welt und den Ruhm des Herrn nicht beachtete.“ „Zu viel Sünden nimmst du auf dich,“ sagte oft weinend die Mutter. „Mütterchen, meine Freude,“ sagte er ihr darauf, „ich weine ja nicht vor Kummer; vor Freude weine ich. Ich selbst will vor ihnen schuldig sein. Alles das kann ich dir nicht erklären, denn ich weiß nicht, wie ich sie lieben soll. Möge ich doch schuldig sein vor allen, dafür aber wird man mir vergeben, siehe, und das ist ein Paradies. Bin ich denn jetzt nicht im Paradiese?“ Und was gäbe es nicht noch alles zu berichten von ihm! und auszulegen! Ich erinnere mich noch, daß ich einmal ganz allein bei ihm war. Es war zur Abendstunde, die Sonne beleuchtete mit letzten schrägen Strahlen das ganze Zimmer. Als er mich erblickte, winkte er mich zu sich heran. Und ich ging zu ihm; er aber faßte mich mit beiden Händen an den Schultern, sah mir mit rührender Liebe ins Gesicht, sagte nichts, sah mich nur minutenlang an: „Nun,“ sagte er dann, „gehe jetzt, spiele und lebe für mich!“ Ich ging damals hinaus, um zu spielen, aber im späteren Leben dachte ich oft mit Tränen daran, wie er mir befohlen hatte, für ihn zu leben. Viele solcher wunderbaren und schönen Worte, die uns damals unverständlich blieben, hat er noch gesprochen. Er starb in der dritten Woche nach Ostern bei voller Besinnung, obgleich er schon aufgehört hatte, zu sprechen, doch bis zum letzten Augenblick veränderte er sich nicht: freudig strahlten seine Augen, mit seinen Blicken suchte er uns, lachte er uns zu, und rief er uns. In der Stadt sprach man viel über seinen Tod. Das alles erschütterte mich damals nicht allzu tief, obgleich ich sehr weinte, als man ihn beerdigte. Ich war ja jung, ein Kind war ich noch, aber in meinem Herzen blieb die Erinnerung daran zurück. Es mußte erst die Zeit kommen, da sie auferstehen und Antwort geben sollte. Und so geschah es denn auch. b) Von der Heiligen Schrift im Leben des Staretz Sossima So waren wir denn allein, meine Mutter und ich. Bald kamen gute Bekannte mit ihrem Rat zu uns: „Ihnen ist nur ein Sohn verblieben,“ sagten sie zu meiner Mutter, „arm sind Sie nicht, Sie haben ein gewisses Vermögen, warum sollten Sie nicht Ihren Sohn nach Petersburg schicken, damit er, da er aus guter Familie ist, dort seine Karriere mache?“ Und sie beredeten meine Mutter, mich nach Petersburg in die Kadettenschule zu bringen, damit ich später in die Kaiserliche Garde eintreten könnte. Meine Mutter konnte sich zuerst nicht recht dazu entschließen: wie sollte sie sich von dem letzten und einzigen Sohne trennen? Indessen entschloß sie sich endlich doch dazu, wenn auch unter vielen Tränen, aber sie glaubte dadurch mein Glück zu fördern. Sie brachte mich nach Petersburg, und ich wurde in die Kadettenschule aufgenommen. Ich sollte meine Mutter nicht mehr wiedersehen, denn nach drei Jahren starb sie; die ganzen drei Jahre hat sie nur um ihre beiden Söhne getrauert. Aus meinem Elternhaus habe ich die allerteuersten Erinnerungen, denn keine Erinnerung ist dem Menschen so teuer, als die der ersten Kindheit in seinem Elternhause, und das ist fast immer so, wenn in der Familie nur etwas Liebe und Einigkeit herrscht. Ja, selbst aus der schrecklichsten Familie kann man die teuersten Erinnerungen bewahren, wenn nur die Seele selbst fähig ist, das Wertvolle zu finden. Zu den Erinnerungen aus meinem Vaterhause gehören auch die Erinnerungen an die biblischen Geschichten, die ich, obwohl ich noch ein kleines Kind war, sehr zu hören liebte. Ich besaß damals eine Biblische Geschichte mit schönen Bildern und mit dem Titel: „Hundertundvier biblische Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament“. Und aus diesem Buch lernte ich das Lesen. Und noch jetzt steht sie hier auf meinem Bücherbrett, und ich bewahre sie als teures Andenken auf. Aber noch bevor ich das Lesen erlernt hatte, noch vor meinem achten Jahre, hatte ich ein geistiges Erlebnis. Meine Mutter brachte mich allein (ich weiß nicht, wo mein Bruder damals war) am Montag der Karwoche zum Abendmahl in die Kirche. Der Tag war hell, und ich erinnere mich noch jetzt, als ob ich es vor mir sähe, wie der Weihrauch aus dem Räucherfaß leise aufstieg, von oben aber aus den schmalen Fenstern der Kuppel über uns das Licht Gottes sich ergoß, und wie der emporsteigende Weihrauch sich mit den Sonnenstrahlen vermischte. Eine heilige Empfindung durchschauerte mich, und zum erstenmal nahm ich bewußt das Wort Gottes in mich auf. Ein Knabe mit einem großen Buche trat in die Mitte der Kirche vor, so groß war das Buch, daß er es, wie mir schien, nur mit Mühe tragen konnte. Er legte es aufs Pult nieder, schlug es auf und fing zu lesen an, und plötzlich begriff ich etwas davon, und ich begriff zum erstenmal in meinem Leben, daß in der Kirche gelesen wurde. „Es war ein Mann im Lande Uz, der war sehr gottesfürchtig, und er besaß großen Reichtum, viele Kamele und Schafe, und seine Kinder lebten in Freuden, und er liebte sie sehr und betete zu Gott für sie, auf daß sie nicht sündigten in ihrem Frohsinn. Da trat eines Tages zusammen mit den Engeln auch der Böse vor den Thron des Herrn, und er sagte zum Herrn, er habe alles Land durchzogen, über und unter der Erde. Und Gott der Herr fragte ihn: Hast du auch meinen Knecht Hiob gesehen? Und Gott rühmte sich vor dem Satanas seines großen treuen Dieners. Da lachte der Böse über die Worte Gottes und sprach: „Übergib ihn mir, und du wirst sehen, daß dein treuer Knecht murren und deinen Namen verfluchen wird.“ Und da übergab Gott seinen Gerechten, seinen geliebten treuen Diener dem Teufel, und der Teufel ging hin und vernichtete seine Kinder, seine Herden und seinen ganzen Reichtum, wie mit einem Donnerschlag Gottes. Da zerriß Hiob seine Kleider und warf sich hin zur Erde und rief: „Nackt bin ich hervorgegangen aus meiner Mutter Leibe, nackt fahre ich wieder dahin, der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobt von nun an bis in alle Ewigkeit!“ Meine Väter und Lehrer, verzeiht mir meine Tränen, denn meine ganze Kindheit steht wieder auf in mir, und ich atme wieder, wie ich damals mit meiner kleinen Kinderbrust atmete, und ich fühle wie damals Erstaunen, Rührung und Freude. Und die Kamele beschäftigten meine Phantasie, und der Satan, der so zu Gott sprach, und Gott, der seinen Knecht dem Unglück überlieferte, und der Knecht, der da ausrief: „Nackt hast Du mich geschaffen, nackt sterbe ich, Dein Name, o Herr, sei gelobt!“ und darauf der leise und süße Kirchengesang: „Erhöre mein Gebet,“ und der aufsteigende Thymianrauch aus dem Weihrauchfasse des Priesters, und dann das Gebet auf den Knien. Seit der Zeit – und noch gestern las ich sie – kann ich diese heilige Erzählung nicht ohne Tränen lesen. Wieviel Großes, Geheimnisvolles und Unbegreifliches liegt darin! Später hörte ich stolze Worte von Spöttern und Lästerern darüber: „Wie konnte Gott seinen Lieblingsknecht dem Teufel ausliefern, ihm seine Kinder nehmen, ihn mit Krankheit und Wunden schlagen, so daß er mit Scherben den Eiter aus seinen Wunden und Beulen herausbringen mußte, und warum und wozu? Um sich etwa vor dem Satan rühmen zu können: „Sieh, was er um meinetwillen leiden kann!“ Aber das Große in ihm bleibt uns ein Geheimnis, das vergängliche Irdische und die ewige Wahrheit kreuzen sich hier. Die ewige Gerechtigkeit steht über dem irdischen Recht. Hier ist es der Schöpfer, der in den ersten Tagen seiner Schöpfung nach jedem Tagewerk sagt: „Es ist gut, was ich geschaffen habe“ der Schöpfer, der Hiob sieht, und dieses sein Geschöpf lobt. Und Hiob, Gott lobend, dient nicht nur ihm, sondern er dient auch der ganzen Schöpfung Gottes, von Geschlecht zu Geschlecht, von Jahrhundert zu Jahrhundert, denn das war doch seine Bestimmung. Mein Gott, was für ein Buch das ist, und welche Weisheit es enthält! Welche Wunder enthält die Heilige Schrift, und welche Kraft ist in ihr den Menschen gegeben! Welche Auslegung der Welt und des Menschen und der menschlichen Charaktere, und alles ist gezeigt und erwiesen bis in die Ewigkeit aller Zeiten. Und welch gelöste und offenbarte Geheimnisse: und Gott richtet Hiob wieder auf, schenkte ihm wieder Reichtum, und es vergehen viele Jahre, und er hat wieder neue Kinder, andere Kinder, die er liebt. Mein Gott: „Wie konnte er,“ sollte man meinen, „diese neuen lieben und die anderen, die ersten, vergessen? Wie konnte er, wenn er an sie dachte, vollkommen glücklich sein mit den neuen, wie lieb er diese auch haben mochte?“ Und doch ist es möglich, ist es möglich: der alte Kummer – das große Geheimnis des Menschenlebens – verwandelt sich allmählich in eine stille, freudige Rührung; an Stelle des jungen, kochenden Blutes tritt die Ruhe demütigen klaren Alters. Ich preise den täglichen Aufgang der Sonne, und mein Herz jubelt ihm wie früher zu, und doch liebe ich jetzt mehr ihren Untergang, ihre langen schrägen Strahlen mit ihren stillen, versöhnenden, rührenden Erinnerungen, mit den lieben Bildern aus meinem ganzen langen und gesegneten Leben – und über alledem schwebt die friedenspendende, allvergebende Gerechtigkeit Gottes! Mein Leben geht zu Ende, ich weiß und fühle es, doch fühle ich auch mit jedem sich neigenden Tage, wie mein Leben dieser Erde mit einem neuen, unendlichen, unbekannten, aber schon neu heraufkommenden Leben zusammenfließt, dessen Vorgefühl meine zitternde, bebende Seele mit Entzücken erfüllt. Mein Geist leuchtet, und mein Herz weint vor Freude ... Meine Freunde und Lehrer, hörte ich nicht des öfteren und jetzt in der letzten Zeit mehr denn früher, wie bei uns die Priester des Herrn, und besonders die vom Lande, sich überall mit Tränen über ihren geringen Unterhalt und ihre geringe Stellung beklagen; gerade heraus sagen sie (ich habe es selbst gelesen), daß sie nicht mehr imstande wären, dem Volke die Schrift auszulegen, denn ihr Unterhalt wäre so gering, und wenn die Lutheraner oder andere Ketzer ihnen die Herde abtrünnig machten, so möchten sie es nur tun, sie hätten keine Kraft mehr, sie aufzuhalten. „Herr!“ denke ich, „möge Gott ihnen doch ein besseres Gehalt geben“ (denn gerecht sind ihre Klagen), aber in Wahrheit sage ich: Wenn jemand daran schuld ist, so sind zur Hälfte wir es selbst! Denn möge er recht haben, daß er dazu keine Zeit mehr finden kann, da er arbeiten muß und ihn Notdurft peinigt – doch nicht die ganze Zeit braucht er zu arbeiten, eine Stunde in der Woche wird er Zeit finden, um an Gott zu denken. Und doch nicht das ganze runde Jahr über hat er zu arbeiten! Möge er einmal in der Woche bei sich die Kinder zur Abendstunde versammeln – und wenn das die Eltern hören, so kommen auch die Eltern mit. Auch keine besonderen Gebäude hat man dazu nötig, nein, einfach in deine Stube nimm sie; fürchte dich nicht, sie werden deine Stube nicht verunreinigen, nur auf eine Stunde versammeln sie sich ja in ihr. Schlage die Heilige Schrift auf und lies sie ihnen vor, ohne hohe Worte und ohne Hochmut und Überhebung, bescheiden und von Herzen kommend, und freue dich, daß du liest und sie dich hören und verstehen, weil du selbst die Worte lieb hast. Unterbrich dich nur selten, nur um dem einfachen Volk ein Wort, das ihm unverständlich ist, zu erklären; beunruhige dich nicht, sie werden alles verstehen, alles versteht das rechtgläubige Herz! Lies ihnen von Abraham und Sarah, von Isaak und Rebekka; davon, wie Jakob zu Laban ging und im Traume Gott sah und mit ihm kämpfte. Das wird auf den einfachen, gottesfürchtigen Mann einen tiefen Eindruck machen. Lies ihnen vor, und besonders den Kindern, wie die Brüder ihren leiblichen Bruder, den lieben Knaben Joseph, den späteren großen Seher und Propheten, in die Sklaverei verkauften, dem Vater aber sagten sie, daß die Tiere seinen Sohn zerrissen hätten, und zeigten ihm seine mit Blut befleckte Kleidung. Lies ihnen vor, wie darauf die Brüder nach Ägypten fuhren, um Brot einzukaufen, und Joseph, der große Schatzmeister, von ihnen nicht erkannt, sie quälte, beschuldigte und den Bruder Benjamin als Pfand zurückbehielt: „Ich liebe euch, und liebend quäle ich euch.“ Denn sein ganzes Leben hatte er ununterbrochen daran gedacht, wie sie ihn dort in der heißen Wüste beim Brunnen den Händlern verkauft hatten, wie er die Hände gerungen, geweint und die Brüder gebeten hatte, ihn doch nicht als Sklaven in ein fremdes Land zu verkaufen. Und siehe da, wie er sie nach so vielen Jahren wiedersieht, liebt er sie von neuem grenzenlos, und er quält sie in seiner Liebe. Wie er schließlich die Qualen seines Herzens nicht mehr ertragen kann, hinausgeht, sich auf sein Lager wirft und in Tränen ausbricht; nachdem er aber sein Gesicht gekühlt hat, tritt er strahlend und reich gekleidet wieder zu ihnen und ruft ihnen zu: „Brüder, ich bin Joseph, euer Bruder!“ Und lies weiter, wie der greise Jakob sich freute, als er erfuhr, daß sein lieber Knabe noch lebe und in Ägypten sei, wie er sogar sein Vaterland verließ und auf fremder Erde starb und bei seinem Tode das große Wort aussprach, das während seines ganzen Lebens in seinem Herzen geruht hatte: daß aus seinem Stamme, aus dem Stamme Juda, der Erlöser und der Friedensfürst der Welt kommen werde! Meine Väter und Lehrer, verzeiht mir und ärgert euch nicht, daß ich darüber wie ein Kind rede, was ihr schon lange wißt, und was ihr selbst hundertmal vollkommener zu lehren wüßtet. Nur aus Begeisterung rede ich dieses, und vergebt mir meine Tränen, denn ich liebe dieses Buch! So möge auch er, der Priester des Herrn, weinen, und er wird sehen, wie die Herzen der Zuhörer ihm darauf antworten werden. Es genügt ein winziges Samenkorn, das er in die Seele des einfachen Mannes legt, und es wird nicht sterben, sondern in seiner Seele durch das ganze Leben hindurch fortwirken; es wird wie ein heller Punkt, wie eine große Erinnerung inmitten der Finsternis und des Abschaumes seiner Sünden stehen bleiben. Und es ist nicht nötig, nicht nötig, alles zu erläutern und zu erklären; je einfacher ihr es sagt, desto besser versteht er es. Oder glaubt ihr, daß der einfache Mann etwa nichts davon verstehen könne? Versucht es doch, lest ihm die rührende und ergreifende Geschichte von der schönen Esther oder die wunderbare Erzählung vom Propheten Jonas im Bauche des Walfisches vor. Vergeßt auch nicht die Gleichnisse des Herrn, vorzugsweise nach dem Evangelium Lucas (so habe ich es gemacht) und dann aus der Apostelgeschichte die Bekehrung Sauls (gerade das, durchaus das). Und schließlich aus den heiligen Legenden, wenn auch nur die Lebensgeschichte Alexeis des Gottesknechtes und der Ägyptischen Mutter Maria, die groß ist unter den Großen, die freudige große Dulderin, Gottseherin und Kreuzesträgerin – und ihr werdet sein Herz mit diesen einfachen Erzählungen durchdringen. Nur auf eine Stunde in der Woche, trotz des geringen Gehaltes, nur auf eine kleine Stunde ruft sie zu euch. Und jeder, der so tut, wird selbst erfahren, daß unser Volk gut und dankbar ist und ihm hundertfältig danken wird; der Sorgfalt und der gütigen Worte des Priesters wird es gedenken und aus Dankbarkeit wird es ihm freiwillig auf seinem Acker Hilfe leisten, und auch im Hause wird es ihm helfen und wird ihm mehr Achtung zollen als früher – und siehe, da wäre ihm denn auch schon sein Gehalt erhöht. Die Sache ist so schlicht und einfach, daß man sich manchmal geradezu scheut, sie auszusprechen, denn die Leute lachen darüber, und dennoch ist sie so wahr! Wer an Gott nicht glaubt, glaubt auch nicht an ein Gottesvolk. Wer aber an ein Gottesvolk glaubt, der wird auch sein Allerheiligstes erschauen, auch wenn er bis dahin nicht daran geglaubt hat. Nur das Volk und seine aufsteigende geistige Kraft kann die Atheisten, die sich von der heimatlichen Erde losgelöst haben, wieder zu ihr zurückführen. Und was ist das Wort Christi ohne Beispiel? Ohne Gottes Wort geht das Volk unter, denn seine Seele dürstet nach dem Wort und nach der Empfängnis alles Schönen. In meiner Jugend, es ist schon lange her, vor vierzig Jahren, durchwanderte ich mit dem Pater Anfim ganz Rußland, um fürs Kloster Almosen zu sammeln, und wir nächtigten mit Fischern zusammen am Ufer eines großen schiffbaren Flusses. Zu uns setzte sich ein wohlgestalteter Jüngling, dem Aussehen nach ein Bauer von achtzehn Jahren; er hatte sich beeilt, an Ort und Stelle zu sein, um am nächsten Morgen die Kaufmannsbarke stromhin an der Leine zu schleppen. Ich sah, daß er mit guten, klaren Augen in die Welt schaute. Die Nacht war hell, ruhig und warm, eine Julinacht; vom breiten Strome erhob sich der Nebel und erfrischte uns; von Zeit zu Zeit plätscherte ein Fisch, die Vögel waren verstummt, alles war ruhig und erhaben, als betete die Natur zu Gott. Nur wir beide, dieser Jüngling und ich, schliefen nicht, sondern sprachen von der Schönheit und dem großen Geheimnis dieser Gotteswelt. Jedes Hälmchen, jeder Käfer, die Ameise und die goldene Biene, alle kennen sie zum Verwundern ihren Weg, ohne Vernunft zu besitzen, und zeugen von dem Geheimnis Gottes, indem sie es ununterbrochen selbst erfüllen. Auch das Herz des lieben Jünglings war entzündet. Er vertraute mir an, daß er den Wald liebe und die Vögel des Waldes. Er war Vogelfänger, kannte ihren Ruf und verstand es selbst, sie anzulocken. „Besseres als den Wald kenne ich nicht,“ sagte er, „ja, und alles ist gut.“ – „Wahrlich,“ antwortete ich ihm, „alles ist gut und vollkommen, denn alles ist Wahrheit. Siehe, sage ich zu ihm, das Pferd, dieses große Tier, das dem Menschen am nächsten steht, oder den Stier, der ihn ernährt und für ihn arbeitet, wie er ernst und nachdenklich aussieht! Betrachte seine Augen: welche Demut, welche Anhänglichkeit an den Menschen, der ihn oft unbarmherzig schlägt, welch eine Gutmütigkeit, welch eine Zutraulichkeit und welche Schönheit liegt in diesem Blick des Tieres! Rührend ist es zu wissen, daß sie keine Sünde begehen, denn alles ist vollkommen, und alles außer den Menschen ist sündlos, und Christus ist mit ihnen eher als mit uns.“ „Ja, haben sie denn auch Christus?“ fragte der Jüngling. – „Wie könnte es anders sein,“ sagte ich zu ihm, „denn für alle ist das Wort, die ganze Schöpfung und jegliches Geschöpf. Jedes Blättchen strebt zum Wort, preist Gott und weint zu Christo, sich selbst unbewußt, allein schon durch das Geheimnis seines sündenlosen Daseins. Siehe,“ sagte ich zu ihm, „im Walde haust der schreckliche Bär, der grausam und wild und doch ganz schuldlos ist.“ Und ich erzählte ihm, wie einmal ein Bär zu einem großen Heiligen kam, der im Walde in einer kleinen Zelle sein Leben fristete, und der große Heilige ging furchtlos zu ihm hinaus und gab ihm ein Stück Brot: „Gehe hin, Christus sei mit dir,“ sagte er zu ihm, und das grimme Tier war sanft und gehorsam und tat ihm nichts zuleide. Es rührte den Jüngling, daß er ihm nichts zuleide getan hatte, und daß auch Christus mit ihm wäre. „Ach, wie ist das schön, und wie ist doch alles Göttliche gut und wunderbar!“ Er saß da und dachte tief und glücklich nach. Ich sah, daß er es begriffen hatte. Er schlief neben mir ein; leicht und sündlos war sein Schlaf. Herr, segne die Jugend! Und ich betete daselbst für ihn, bevor ich einschlief. Herr, sende Frieden und Licht deinen Menschen. c) Erinnerungen des Staretz Sossima aus den Knaben- und Jugendjahren seines weltlichen Lebens. Das Duell. In der Kadettenanstalt zu Petersburg blieb ich fast acht Jahre, und in der neuen Umgebung traten viele meiner Kindheitseindrücke zurück, doch habe ich sie selbst dort nie ganz vergessen. Zum Ersatz dafür nahm ich so viel neue Angewohnheiten und sogar Anschauungen in mich auf, daß ich mich alsbald in ein wildes, grausames und albernes Wesen verwandelt hatte. Die Formen der Höflichkeit und des weltlichen Umgangs eignete ich mir zusammen mit der französischen Sprache an, die Soldaten aber, die uns in der Anstalt bedienten, wurden von meinen Kameraden nicht höher als das Vieh geachtet, und auch von mir nicht. Ich mißachtete sie vielleicht sogar am meisten von allen anderen Kameraden, denn ich war der Empfänglichste von ihnen. Als wir als Offiziere die Anstalt verließen, waren wir bereit, für die sogenannte Ehre unseres Regiments unser Blut zu vergießen; die wahre Ehre aber kannte niemand von uns, und wenn sie uns jemand erklärt hätte, so würden wir sie verlacht haben. Man prahlte mit Liederlichkeit, Trunkenheit und Wildheit. Ich kann nicht sagen, daß alle diese jungen Leute schlecht gewesen wären, nein, sie waren gut, aber sie führten sich nur schlecht auf, und von ihnen allen führte ich mich am schlechtesten auf. Die Hauptsache war, daß ich Geld hatte, und so lebte ich denn nur fürs Vergnügen, stürmte mit vollen Segeln ins Leben hinein, ohne meine jugendlichen Begierden zu zügeln. Aber eines ist wunderbar: ich las damals mit vielem Vergnügen Bücher, nur die Bibel habe ich nie aufgeschlagen, doch trennte ich mich niemals von ihr, ich führte sie überall mit mir: wahrlich, ich bewahrte dieses Buch auf, ohne zu wissen für welchen Tag, für welche Stunde, welchen Monat oder welches Jahr. So war ich schon seit vier Jahren Leutnant, als ich in der Stadt K. ankam, wohin unser Regiment verlegt worden war. Die Gesellschaft dieser Stadt war sehr lustig, gastfrei und reich. Man empfing mich überall äußerst liebenswürdig, denn ich war sehr lebhaft, und man hielt mich obendrein für reich, was in dieser Welt nicht wenig zu bedeuten hat. Da ereignete sich aber etwas, was den Anfang zu allem übrigen bildete. Ich verliebte mich in ein junges und schönes Mädchen, die Tochter geachteter Eltern; sie war klug und hatte einen edlen Charakter. Es war eine angesehene Familie, die Vermögen hatte und nicht geringen Einfluß besaß; ich wurde freundlich und zuvorkommend in ihrem Hause aufgenommen. Auch schien mir, daß das junge Mädchen mir wohlgeneigt war – und mein Herz flammte auf. Später kam ich zu der Überzeugung, daß ich sie gar nicht so sehr geliebt hatte, sondern nur ihren hohen Verstand und ihren Charakter verehrte, wie es auch nicht anders sein konnte. Meine Eigenliebe verhinderte aber, daß ich damals um ihre Hand anhielt; ich konnte mich nur schwer von meinem liederlichen und freien Junggesellenleben in so jungen Jahren trennen, besonders da ich zum Überfluß selbst Geld besaß. Indessen machte ich ihr aber Andeutungen. Auf jeden Fall schob ich einen entscheidenden Schritt noch hinaus. Da erhielt ich eine Abkommandierung auf zwei Monate in einen anderen Kreis. Als ich wieder zurückkehrte, erfuhr ich, daß das junge Mädchen sich mit einem reichen Gutsherrn aus der Nachbarschaft verheiratet hatte, einem jungen, wenn auch mir an Jahren überlegenen Mann, der obendrein zu reichen Familien in Petersburg Verbindungen hatte, was mir fehlte, und dazu ein sehr liebenswürdiger und gebildeter Mann war, während ich fast gar keine Bildung besaß. Ich war so betroffen von dieser unerwarteten Tatsache, daß ich fast meine Sinne verlor. Die Hauptsache bestand aber darin, daß, wie ich erfuhr, der junge Gutsbesitzer schon lange mit ihr verlobt gewesen war – ich selbst war ihm mehrere Male in ihrem Hause begegnet. So blind war ich also von meinen Vorzügen überzeugt gewesen, daß ich nichts von alledem bemerkt hatte! Das war es, was mich jetzt vor allem beleidigte. Wie, alle hatten es gewußt, nur ich allein hatte nichts davon gewußt? Eine schreckliche Wut packte mich. Ich errötete vor Scham, wenn ich daran dachte, wie oft es meinerseits fast zu einem Liebesgeständnis gekommen war, und da sie mich weder unterbrochen, noch gewarnt hatte, so hatte sie sich also, dachte ich bei mir, nur über mich lustig gemacht. Später freilich gestand ich mir ein, als ich mir alles klar ins Gedächtnis zurückgerufen, daß sie keineswegs über mich gelacht hatte, sondern stets bemüht gewesen war, solche Gespräche scherzend abzubrechen und auf anderes überzugehen. Doch damals hatte ich nicht die nötige Ruhe, um mir das einzugestehen: alles brannte in mir vor Rachedurst. Mit Verwunderung denke ich noch jetzt daran zurück. Diese Rachsucht und mein Zorn waren für mich selbst bis zum äußersten schwer zu ertragen, weil ich, als ein lebhafter und leichter Charakter, niemals lange auf irgend jemanden böse sein konnte. Damals aber nährte ich sie künstlich und stachelte sie in mir auf, bis ich schließlich widerlich und albern wurde. Ich wartete nun darauf, und es gelang mir auch, meinen „Gegner“ einmal in einer zahlreichen Gesellschaft, bei einem ganz nebensächlichen Anlasse, zu beleidigen. Ich verlachte eine seiner Meinungsäußerungen über eine damals wichtige Begebenheit, und wie viele behaupteten, soll es mir tatsächlich gelungen sein, ihn gewandt und geistreich zu verspotten. Ich zwang ihn zu einer Erklärung, und dabei verhielt ich mich so grob zu ihm, daß er meine Herausforderung sofort annahm, ungeachtet des großen Abstandes zwischen mir und ihm, da ich jünger und viel niedriger im Range war als er. Hernach erfuhr ich denn, daß er aus Eifersucht auf mich meine Herausforderung zum Duell sofort angenommen hatte. Er war auch früher schon, als er noch verlobt war, auf mich eifersüchtig gewesen, und so dachte er: „Wenn sie erfährt, daß ich eine Beleidigung von ihm ertragen habe, ohne ihn zum Duell herauszufordern, so wird sie mich verachten und ihre Liebe zu mir wird erkalten.“ Einen Sekundanten hatte ich bald zur Stelle, einen Kameraden, einen Leutnant unseres Regiments. Obgleich damals Duelle streng bestraft wurden, so waren sie doch bei dem Militär geradezu Mode, – bis zu solch einem Wahnsinn können sich manchmal Vorurteile festsetzen. Es war Ende Juni, unser Rendezvous war auf den nächsten Tag um sieben Uhr morgens außerhalb des Städtchens festgesetzt worden. Da ereignete sich in Wahrheit etwas Verhängnisvolles mit mir. Am Abend, als ich angetrunken und wütend nach Hause zurückkehrte, ärgerte ich mich über meinen Burschen Afanassij und schlug ihm mit ganzer Kraft zweimal ins Gesicht, so daß er blutete. Er diente schon lange bei mir, und es war auch schon früher vorgekommen, daß ich ihn geschlagen hatte, aber niemals noch hatte ich es mit einer so tierischen Roheit getan. Und glaubt es mir, meine Lieben, vierzig Jahre sind seitdem vergangen, aber noch jetzt denke ich mit Qual und Scham daran zurück. Ich legte mich schlafen und schlief drei Stunden. Als ich aufwachte, fing es gerade an zu tagen. Ich erhob mich sofort, denn ich wollte nicht mehr schlafen, ging ans Fenster, öffnete es – und lehnte mich zum Garten hinaus. Die Sonne ging gerade auf, es war warm und wundervoll, die Vögel zwitscherten. Warum, dachte ich, empfinde ich in meiner Seele etwas Schmutziges und Niedriges? Etwa deshalb, weil ich im Begriff war, Blut zu vergießen? Nein, denke ich, das ist es nicht. Vielleicht, weil ich den Tod fürchte und fürchte erschossen zu werden? Nein, das ist es auch nicht, das ist es erst recht nicht ... Und plötzlich wußte ich, um was es sich handelte: ich hatte gestern abend Afanassij geschlagen! Plötzlich sehe ich alles vor mir, als ob die Szene sich von neuem wiederholte: er steht vor mir, und ich schlage ihn mit voller Kraft ins Gesicht, er aber hält seine Hände an den Hosennähten, den Kopf gerade, die Augen, wie in der Front, geradeaus gerichtet. Bei jedem Schlage fährt er zusammen, und doch wagt er nicht, zum Schutze seine Hände zu erheben – und ich lasse mich so gehen und schlage einen anderen Menschen. Wie mit spitzen Nadeln stach es in mein Herz. Mir schwindelte. Die Sonne aber leuchtete so hell, die Blättchen blitzten feucht vom Tau, und die Vögel, die Vögel lobten Gott ... Ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen, warf mich aufs Bett und schluchzte laut auf. Da erinnerte ich mich denn der Worte meines Bruders Markell, die er vor seinem Tode zu den Dienstboten gesagt hatte: „Ihr, meine Lieben, Teuren, warum dient ihr mir, und warum liebt ihr mich? Bin ich dessen wert, daß ihr mir dient?“ „Ja, bin ich denn dessen wert?“ ging es mir durch den Kopf. In der Tat, wodurch bin ich wert, daß ein anderer Mensch, so einer, wie ich es bin, das Ebenbild Gottes – daß er mir dient? Und zum erstenmal in meinem Leben ging mir diese Frage durch den Sinn ... „Mütterchen, mein eigenes liebes Herzblut, in Wahrheit ist jeder vor allen schuldig, nur wissen es die Menschen nicht, wenn sie es aber wüßten, so würde sofort das Paradies auf Erden sein.“ „Herrgott, wie sollte das nicht wahr sein,“ denke ich und weine, „wahrlich, ich bin von allen Menschen auf der Welt der Schuldigste und Schlechteste!“ Und vor mir tauchte die ganze Wahrheit auf mit ihrem ganzen Licht. Was war ich im Begriff zu tun? Einen guten, klugen, edlen Menschen zu töten, der mir gegenüber keine Schuld hatte, und seine Frau auf ewig ihres Glückes zu berauben und sie zu quälen und gleichfalls zu vernichten! So lag ich auf dem Bett, das Gesicht in die Kissen gepreßt, und ich gewahrte nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich tritt mein Kamerad, der Leutnant, der mein Sekundant sein sollte, mit dem Pistolenkasten unterm Arm, bei mir ein: „Gut,“ sagte er, „daß du schon angekleidet bist, es ist Zeit zum Aufbruch.“ Ich fuhr auf und konnte mich gar nicht fassen. Wir traten hinaus, um in den Wagen einzusteigen. „Warte hier einen Augenblick,“ sagte ich zu ihm, „ich laufe nur auf einen Moment hinein, habe mein Portemonnaie vergessen.“ Und ich lief in die Wohnung zurück, geradeswegs in die Kammer Afanassijs: „Afanassij,“ sage ich, „ich habe dich gestern zweimal ins Gesicht geschlagen, verzeihe es mir.“ Er fuhr zusammen, als hätte ich ihn erschreckt, er sieht mich erstaunt an – und ich sah, daß das zu wenig war, und plötzlich fiel ich, so wie ich war, in Uniform und Epauletten, vor ihm hin und mit der Stirn berührte ich die Erde: „Vergib mir!“ sagte ich. Da erstarrte er einfach: „Euer Wohlgeboren, Väterchen, Herr, was tun Sie ... bin ich es denn wert!“ und er brach in Tränen aus; gerade wie ich es getan hatte, bedeckte nun auch er mit beiden Händen sein Gesicht, wandte sich ab zum Fenster, und sein Körper wurde vom Weinen erschüttert. Ich lief hinaus zu meinem Kameraden, stieg in den Wagen und schrie dem Kutscher zu: „Fort!“ „Ich habe einen Sieger gesehen,“ rief ich meinem Kameraden zu „siehst du, hier steht er vor dir.“ Ein solches Entzücken hatte mich gepackt, ich lachte während der ganzen Fahrt und sprach und sprach, ich weiß nicht mehr, was ich sprach. Er sieht mich an: „Nun, Bruder,“ sagte er zu mir, „du bist ein ganzer Kerl, wirst der Uniform Ehre machen.“ So kamen wir am Orte an. Die anderen waren schon dort und erwarteten uns. Man stellte uns auf zwölf Schritt Distanz. Er hatte den ersten Schuß. Ich stand vor ihm, fröhlich, gerade mit dem Gesicht zu ihm, unbeweglich, Auge in Auge, sah ihn liebevoll an, und ich wußte, was ich tat. Er schoß ab, die Kugel schrammte ein wenig meine Wange und streifte mein Ohr. „Gott sei Dank,“ rief ich, „Sie haben keinen Menschen getötet!“ erhob meine Pistole, kehrte mich zurück und warf sie mit einem Bogen in den Wald: „Dahin,“ rief ich – „gehörst du!“ Darauf wandte ich mich an meinen Gegner: „Geehrter Herr,“ sagte ich, „verzeihen Sie mir dummen, jungen Menschen, daß ich Sie absichtlich beleidigt habe, und Sie durch mich jetzt gezwungen waren, auf mich zu schießen. Ich bin zehnmal schlechter als Sie und vielleicht sogar noch mehr. Berichten Sie das, bitte, der Dame, die Sie vor allen anderen Menschen auf der Welt am meisten achten.“ Kaum hatte ich das gesagt – so schrien sie alle drei. „Aber ich bitte Sie,“ sagte mein Gegner sehr geärgert, „wenn Sie nicht schießen wollen, wozu haben Sie uns denn hierher bemüht?“ – „Gestern war ich noch dumm, heute aber bin ich schon klüger,“ antwortete ich ihm lächelnd. „Was Sie von gestern sagen, glaube ich Ihnen, was Sie aber von heute sagen, so weiß ich noch nicht, ob ich Ihrer Meinung beistimmen kann.“ – „Bravo,“ rief ich aus und klatschte in die Hände, „auch darin bin ich mit Ihnen einverstanden, habe es verdient!“ – „Werden Sie schießen, mein Herr, oder nicht?“ – „Ich werde nicht schießen,“ antwortete ich, „aber wenn Sie wollen, so schießen Sie noch einmal, nur besser wäre es für Sie, nicht zu schießen.“ Die Sekundanten riefen, besonders der meinige: „Wie können Sie das Regiment so beschimpfen, daß Sie vor dem Schuß stehend um Verzeihung bitten? Wenn ich das gewußt hätte!“ Da stand ich nun vor ihnen; ich lachte aber nicht mehr: „Meine Herren,“ sagte ich, „ist es denn wirklich so erstaunlich in unserer Zeit, einen Menschen zu treffen, der seine Dummheit bereut und öffentlich seine Schuld eingesteht?“ – „Aber doch nicht vor dem Schuß!“ schrie wieder mein Sekundant. – „Das ist es ja,“ antwortete ich ihm, „das ist ja freilich sehr wunderlich, ich hätte gleich meine Entschuldigung machen sollen, als wir hierherkamen, noch vor Ihrem Schuß, und Sie nicht zu einer so großen und todbringenden Sünde zwingen sollen, aber wir haben uns in der Welt so sinnlos eingerichtet, daß mir anders zu handeln unmöglich war, ich mußte erst Ihren Schuß auf zwölf Schritt Distanz aushalten, um Ihnen allen meine Meinung darüber sagen zu können. Hätte ich es aber vor dem Schuß, als wir hier zusammentrafen, gesagt, so hätten Sie einfach geurteilt: Dieser Feigling, die Pistole hat ihm Angst gemacht! Meine Herren,“ rief ich plötzlich von ganzem Herzen aus, „sehen Sie um sich, auf diese Götterwelt: Der Himmel ist klar und die Luft ist rein, wie zart ist das Gras, wie schön und sündlos ist die Natur, nur wir, nur wir allein sind gottlos und dumm und verstehen nicht, daß das Leben ein Paradies ist – wenn wir es nur verstehen wollten, so würde die Erde in ihrer ganzen Schönheit zum Paradiese, und wir würden einander umarmen und vor Freude weinen ...“ Ich wollte noch weiter fortfahren, konnte aber nicht, der Atem ging mir aus, so selig, so jugendlich war mir zumute, das Herz voller Glück, wie ich es in meinem ganzen Leben nicht empfunden hatte. „Alles das ist sehr vernünftig und ehrenwert,“ sagte mein Gegner „und jedenfalls sind Sie ein origineller Mensch ...“ „Lachen Sie nur, später werden auch Sie mich loben,“ rief ich ihm lachend zu. – „Ich bin bereit, Sie schon jetzt zu loben, erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Hand reiche, denn es scheint, daß Sie wirklich ein aufrichtiger Mensch sind.“ – „Nein,“ sagte ich, „jetzt ist das nicht nötig, später, wenn ich besser sein und Ihre Achtung verdient haben werde, dann reichen Sie mir Ihre Hand.“ Wir kehrten nach Haus zurück; mein Sekundant schimpfte mich während der ganzen Fahrt tüchtig aus, ich aber – küßte ihn. Sofort erfuhren es alle meine Kameraden und versammelten sich noch am selben Tage, um über mich Gericht zu halten: „Er hat das Regiment beschimpft, er soll seinen Abschied einreichen!“ Einige verteidigten mich und meinten: „Den Schuß hat er doch abgewartet.“ – „Ja, aber die anderen Schüsse hat er eben gefürchtet und daher um Verzeihung gebeten.“ – „Aber, wenn er die Schüsse gefürchtet hätte,“ erwiderten die Verteidiger, „so hätte er erst aus seiner Pistole geschossen und dann um Verzeihung gebeten, er aber warf sie geladen in den Wald! Nein, dem liegt etwas anderes zugrunde, etwas Originelleres.“ Ich hörte ihnen zu; mir war so heiter zumut, wenn ich sie so anschaute: „Meine lieben Freunde und Kameraden, sorgen Sie sich nicht um meinen Abschied; ich habe ihn schon eingereicht, heute morgen, und sobald ich ihn erhalte, gehe ich sofort ins Kloster – darum habe ich es getan.“ Als ich das kaum ausgesprochen hatte, lachten alle bis auf den Letzten laut auf: „Ja, wenn du uns das nur gleich mitgeteilt hättest, so wäre uns ja alles klar geworden, einen Mönch kann man doch nicht verurteilen!“ Sie lachten und hörten gar nicht auf damit, aber nicht spöttisch, sondern freundlich und heiter lachten sie. Und alle liebten sie mich plötzlich, sogar meine heftigsten Ankläger, und den ganzen Monat, solange ich meinen Abschied noch nicht erhalten hatte, trugen sie mich fast auf den Händen: „Ach, du Mönch,“ sagten sie. Und jeder hatte für mich ein freundliches Wort. Sie beredeten mich und bedauerten mich sogar: „Was machst du aus dir?“ – „Nein,“ sagten sie, „er ist tapfer, er hat den Schuß nicht gefürchtet und auch selbst hätte er geschossen, ihm hatte aber die Nacht vorher geträumt, daß er Mönch werden sollte, und daher ist alles gekommen.“ Dasselbe geschah mit mir auch in der Gesellschaft. Früher hatte man mich nicht sonderlich beachtet, obgleich man mich überall freundlich empfangen hatte, jetzt aber kannten mich alle und luden mich täglich zu sich ein: sie lachten dabei über mich, aber sie liebten mich. Ich muß noch bemerken, daß, obwohl allgemein in der Gesellschaft und öffentlich über das Duell gesprochen wurde, die Obrigkeit die Sache geflissentlich übersah; da mein Gegner ein naher Verwandter unseres Generals war, und da die Sache so günstig und ohne alles Blutvergießen verlaufen war, ganz wie ein Scherz, und da ich zudem meinen Abschied eingereicht hatte, so faßte man denn auch wirklich die ganze Sache nur als Scherz auf. Ich sprach daher ganz offen über die Sache, ungeachtet ihres Gelächters, denn ich wußte, ihr Lachen war nicht böse, sondern gut gemeint. Dieses Gespräch war an den Abenden besonders beliebt; in der Damengesellschaft hörte man mir gerne zu, und die Damen forderten auch ihre Männer auf, mir zuzuhören. „Wie ist denn das möglich, daß ich allen gegenüber schuldig bin?“ fragte mich ein jeder und lachte mir ins Gesicht, „wie soll ich denn zum Beispiel Ihnen gegenüber schuldig sein?“ – „Ja, wie sollten Sie das wohl wissen,“ antwortete ich ihnen, „da die ganze Welt schon seit langem einen anderen Weg eingeschlagen hat, und die Lüge als Wahrheit anerkannt ist, und daher auch ein jeder vom anderen solche Lüge verlangt. Einmal im Leben habe ich aufrichtig gehandelt, und da erscheine ich nun Ihnen allen als Geistesschwacher: obgleich Sie lieb zu mir sind, so lachen Sie doch alle über mich.“ – „Wie sollte man Sie, so wie Sie sind, nicht lieben?“ sagte laut die Hausfrau und lächelte mir zu. Es war bei ihr eine zahlreiche Gesellschaft versammelt. Und plötzlich sehe ich, löst sich aus der Gesellschaft eine Dame und tritt auf mich zu. Es war dieselbe junge Dame, um derentwillen es zum Duell gekommen war, und die ich mir noch vor kurzer Zeit als Braut zugedacht hatte. Ich hatte es nicht bemerkt, daß auch sie sich im Salon befand. Sie kam auf mich zu und reichte mir die Hand: „Erlauben Sie, bitte, Ihnen zu sagen, daß ich nicht über Sie lache, im Gegenteil, mit Tränen in den Augen danke ich Ihnen, und ich drücke Ihnen meine Hochachtung aus, die ich für Sie wegen Ihrer Tat empfinde.“ Da kam auch ihr Mann auf mich zu, reichte mir die Hand, und die ganze Gesellschaft umringte mich und drückte mir somit ihr Mitgefühl aus. Es fehlte nicht viel, so hätten sie mich alle umarmt. Mir war sehr froh zumute. Damals fiel mir aber besonders ein Herr auf, ein älterer Herr, der auch zu mir herangetreten war, den ich wohl dem Namen nach kannte, doch mit dem ich noch nie ein Wort gewechselt hatte. d) Der geheimnisvolle Gast Schon seit langer Zeit nahm er in unserer Stadt eine angesehene Stellung ein; er wurde von allen geachtet, war reich und als wohltätig bekannt. Er hatte ein ansehnliches Kapital dem Krankenhause wie dem Waisenhause übergeben und tat im geheimen viel Gutes, was erst später, nach seinem Tode, bekannt wurde. Er zählte ungefähr fünfzig Jahre, hatte ein strenges Aussehen und war sehr wortkarg; mit seiner jungen Frau, von der er drei unmündige Kinder hatte, war er seit zehn Jahren verheiratet. Am Abend darauf saß ich bei mir zu Hause, als plötzlich meine Tür sich öffnete und dieser Herr bei mir eintrat. Ich muß hierbei bemerken, daß ich nicht mehr in meiner früheren Wohnung lebte; als ich den Abschied eingereicht hatte, nahm ich mir eine Wohnung mit Bedienung bei einer alten Dame, einer Beamtenwitwe. Der Umzug in diese Wohnung war nur darum geschehen, weil ich Afanassij noch am selben Tage, gleich nach dem Duell, in die Kompagnie zurückschickte, denn ich schämte mich nach dem Vorgefallenen, ihm in die Augen zu sehen, – so sehr ist ein weltlich erzogener Mensch verbildet, daß er sich sogar einer gerechten Tat schämen kann. „Ich habe Ihnen schon einigemal und in verschiedenen Häusern mit großem Anteil zugehört,“ sprach der bei mir eintretende Herr, „so daß ich wünschte, endlich mit Ihnen persönlich bekannt zu werden, um mich noch eingehender mit Ihnen zu unterhalten. Können Sie mir diesen großen Gefallen erweisen?“ – „Mit dem größten Vergnügen, und ich rechne es mir zu einer ganz besonderen Ehre an,“ antwortete ich ihm darauf, selbst aber erschrak ich, solch einen Eindruck hatte das auf mich gemacht. Denn wie gern man mich auch angehört und wie sehr man mir allgemeine Anteilnahme gezeigt hatte, so war doch noch niemand mit solchem Ernst und aus innerer Überzeugung an mich herangetreten. Dieser aber kam sogar zu mir in die Wohnung. Er setzte sich. „Ich erkenne eine große Charakterstärke in Ihnen,“ fuhr er fort, „denn Sie haben sich nicht gefürchtet, der Wahrheit zu dienen, und das noch in einer Sache, in der Sie riskierten, die Verachtung aller auf sich zu ziehen.“ – „Ihr Lob scheint mir etwas zu groß,“ sagte ich zu ihm. – „Nein, durchaus nicht,“ antwortete er mir, „glauben Sie, solch eine Handlung zu begehen, ist viel schwerer, als Sie denken. Damit haben Sie mich in Erstaunen gesetzt, und darum bin ich zu Ihnen gekommen. Beschreiben Sie mir, bitte, wenn meine Neugier Sie nicht verletzt, was Sie in diesem Moment empfanden, als Sie sich entschlossen, bei dem Duell um Entschuldigung zu bitten, wenn Sie sich dessen noch erinnern können. Halten Sie meine Frage nicht für leichtfertig, denn wenn ich Ihnen solch eine Frage stelle, so habe ich dabei einen geheimen Zweck, den ich in der Folge Ihnen mitteilen werde, wenn es Gott gefallen sollte, uns einander noch näher zu führen.“ Die ganze Zeit, während der er sprach, sah ich ihm gerade in die Augen, und plötzlich fühlte ich zu ihm ein unbegrenztes Vertrauen, und gleichfalls empfand ich auch meinerseits eine ganz ungewöhnliche Neugier, denn ich fühlte, daß er in seiner Seele ein ungewöhnliches Geheimnis barg. „Sie fragen mich, was ich in jener Minute empfand, als ich meinen Gegner um Verzeihung bat? Ich werde Ihnen besser alles das von Anfang an erzählen, was ich einem anderen nicht erzählen würde.“ Und ich erzählte ihm, was sich mit mir und Afanassij zugetragen, und wie ich mich vor ihm zur Erde niedergeworfen hatte. „Aus alledem können Sie ersehen,“ schloß ich meine Erzählung, „daß es mir schon während des Duells leichter zumute war, da ich ja meinen Weg bereits betreten hatte: jawohl, deshalb war auch alles Weitere gar nicht mehr schwer, sondern leicht und freudvoll für mich.“ Er hatte mich angehört und sah mich freundlich an: „Das alles,“ sagte er, „interessiert mich außerordentlich, und ich werde noch öfter zu Ihnen kommen.“ Seit der Zeit kam er denn auch jeden Abend zu mir, und wir hätten uns gewiß sehr befreundet, wenn er mir nur von sich etwas erzählt hätte. Er erzählte aber von sich kein Wort, sondern fragte immer nur mich aus. Ungeachtet dessen hatte ich ihn sehr lieb gewonnen; ich schilderte ihm alle meine Empfindungen und dachte bei mir: Was gehen mich schließlich seine Geheimnisse an, ich sehe ja ohnedem, daß er ein rechtschaffener Mensch ist. Dazu ist er ein so ernster Mensch, viel älter als ich, und doch kommt er zu mir, einem Jüngling, ohne sich an meinem Alter zu stoßen. Und viel Nützliches lernte ich aus den Gesprächen mit ihm, denn er war ein sehr intelligenter Mensch. „Daß das Leben ein Paradies ist,“ sagte er einmal zu mir, „darüber habe ich schon lange nachgedacht,“ und plötzlich fügte er hinzu: „Das ist es ja, woran ich eigentlich immer denke.“ Darauf sah er mich an und lächelte: „Ich bin mehr als Sie davon überzeugt,“ sagte er, „Sie werden später erfahren, warum.“ Als ich das hörte, dachte ich bei mir: Sicher will er mir was anvertrauen. „Das Paradies ist in jedem von uns verborgen, auch in mir verbirgt es sich jetzt und wenn ich will, wird es morgen in Wirklichkeit in mir erstehen und dann für mein ganzes Leben andauern.“ Ich betrachtete ihn: gerührt und geheimnisvoll sah er mich an, als ob er eine Antwort von mir erwartete. „Was das anbelangt,“ fuhr er fort, „daß jeder Mensch vor allen und in allem schuldig ist, abgesehen von seinen eigenen Sünden, so haben Sie darüber ganz richtig geurteilt, und es ist zu verwundern, wie Sie diesen Gedanken in seinem ganzen Umfange erfaßt haben. Wahrlich, es ist so: daß, sobald nur die Menschen diesen Gedanken begriffen haben werden, das Himmelreich nicht nur in der Vorstellung, sondern in Wirklichkeit beginnen wird.“ – „Aber wann,“ rief ich voll Leid aus, „wann wird das geschehen und wird das überhaupt je geschehen können? Wird das nicht immer nur ein Traum bleiben?“ – „Sehen Sie, da haben Sie schon keinen Glauben daran, Sie prophezeien es nur, aber selbst glauben Sie nicht daran. Ich sage Ihnen, daß dieser Traum, wie Sie es nennen, in Erfüllung gehen wird, glauben Sie es mir. Aber es wird noch nicht so bald geschehen, denn jeder Vorgang vollzieht sich nach seinem Gesetz. Dieser Vorgang ist ein seelischer, ein psychologischer. Um die Welt zu etwas Neuem umzugestalten, ist erforderlich, daß auch die Menschen sich umgestalten und einen anderen Weg betreten. Keine Brüderschaft kann früher sein, als bis tatsächlich ein jeder dem anderen ein Bruder geworden ist. Durch keine Wissenschaft und durch keine äußeren Hilfsmittel werden die Menschen lernen, ihre Rechte und ihre Güter zu verteilen, ohne sich gegenseitig zu kränken. Immer wird Alles für Jeden zu wenig sein, immer werden sie murren, sich gegenseitig beneiden und zu vertilgen suchen. Sie fragen, wann das andere sein wird? Es _wird_ sein, aber zuerst muß die Periode der menschlichen Absonderung und Isolierung überwunden werden.“ – „Welcher Isolierung?“ fragte ich ihn. – „Derselben, die jetzt überall herrscht, besonders in unserem Jahrhundert. Noch ist nicht alles dazu reif, noch ist die Zeit nicht gekommen. Jeder strebt jetzt danach, seine Person abzusondern, ein jeder möchte in sich selbst die Fülle des Lebens erfahren, indessen ergibt sich aus all seinen Anstrengungen nicht die Fülle des Lebens, sondern vollständiger Selbstmord, statt Selbstbestimmung eben: vollständige Isolierung. Alle sondern sich in unserem Jahrhundert zu Einzelexistenzen ab; jeder isoliert sich in seiner Höhle, jeder entfernt sich vom anderen, verbirgt sich und verbirgt, was er hat, und es endet damit, daß er die Menschen abstößt und die Menschen ihn abstoßen. Er scharrt sich ein Kapital zusammen und denkt: „Wie stark bin ich jetzt, jetzt bin ich gesichert,“ und der Unsinnige weiß nicht einmal, daß er, je mehr er ansammelt, desto mehr in eine selbstmörderische Ohnmacht verfällt. Denn er hat sich daran gewöhnt, nur auf sich selbst zu hoffen, und er hat sich als Isolierter vom Ganzen abgetrennt, er hat seine Seele gelehrt, nicht an die Hilfe der Menschen zu glauben, weder an die der Menschen, noch an die der Menschheit, und er zittert nur davor, daß er sein Geld und die durch dasselbe erworbenen Rechte verlieren könnte. Der Menschengeist will allgemein heutzutage nicht einsehen, daß die wahre Sicherheit des Individuums nicht in seiner persönlichen isolierten Kraft besteht, sondern im Zusammenhang mit der Gesamtheit der Menschen. Aber gewiß wird es so sein, und die Stunde wird kommen, wo diese furchtbare Isolierung aufhören wird, und man wird plötzlich begreifen, wie unnatürlich es gewesen ist, sich voneinander abzusondern. Und der Geist der Zeit wird ein anderer sein, und man wird an ihm erkennen, wie lange man in der Finsternis gelebt hat, ohne das Licht zu erblicken. Dann wird auch das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen ... Bis zu der Zeit aber muß dieses Zeichen behütet werden, und wenn es auch nicht anders geht, so muß doch von Zeit zu Zeit wenigstens ein Mensch durch sein Beispiel die Seele aus dieser Isolierung befreien und ihr den Weg zur allgemeinen Bruderliebe zeigen, und wenn er auch damit sich dem aussetzt, daß er als Geistesschwacher verschrien wird – wenn nur der große Gedanke nicht stirbt!“ In solchen begeisterten und flammenden Gesprächen verbrachten wir unsere Abende miteinander. Ich vernachlässigte sogar die Gesellschaft und erschien nur mehr selten in ihr, zumal es auch aufhörte, Mode zu sein, sich mit mir zu beschäftigen. Ich sage das nicht, um damit die Gesellschaft zu verurteilen, denn man fuhr fort, mich zu lieben und gegen mich freundlich zu sein, doch muß man nicht vergessen, wie sehr die Mode die Gesellschaft beherrscht. An meinem geheimnisvollen Gast aber hing ich schließlich mit Begeisterung, denn abgesehen von den Genüssen, die mir die Unterhaltung mit ihm bereitete, fühlte ich, daß er sich mit irgendeinem Gedanken trug und sich vielleicht zu irgendeiner großen Tat vorbereitete – vielleicht gefiel es ihm, daß ich äußerlich für sein Geheimnis keine Neugier bekundete, weder direkt noch indirekt ihn danach fragte. Aber es schien mir, daß ihn selbst immer mehr und mehr der Wunsch quälte, mir etwas anzuvertrauen. Es war schon ein ganzer Monat vergangen, seitdem er mich besuchte: „Wissen Sie auch,“ fragte er mich da, „daß man viel über uns in der Stadt spricht und sich darüber wundert, daß ich Sie so oft besuche? Aber mögen sie, bald wird sich doch alles offenbaren.“ Zuweilen überfiel ihn plötzlich eine außerordentliche Aufregung, und dann stand er jedesmal auf und ging fort. Zuweilen wiederum sah er mich lange und durchdringend an, und ich dachte schon: „Jetzt wird er gleich etwas sagen –“ und plötzlich ging er dann auf etwas ganz Gleichgültiges und Alltägliches über. Oft beklagte er sich auch über Kopfschmerzen. Und einmal, ganz unerwartet kam es: als er lange begeistert über etwas gesprochen hatte, erbleichte er plötzlich, sein Gesicht verzerrte sich, und er starrte mich an. „Was haben Sie,“ fragte ich erschrocken, „ist Ihnen schlecht?“ Er hatte sich kurz vorher wieder über Kopfweh beklagt. „Ich ... wissen Sie ... ich ... habe einen Menschen ermordet.“ Er sprach es aus und lächelte, selbst aber war er weiß wie Kreide. Warum lächelt er? fuhr es mir durchs Herz, ohne das Gehörte noch ganz begriffen zu haben. Und ich fühlte, wie auch ich erbleichte. „Was sagen Sie da?“ rief ich ihm zu. „Sehen Sie,“ antwortete er mir mit einem schwachen Lächeln, „wie schwer mir wurde, das erste Wort zu sagen. Jetzt habe ich es getan und damit den Weg betreten. Und nun möge es kommen!“ Lange wollte ich ihm nicht glauben, und nicht mit einem Male konnte ich ihm alles glauben. Erst als er drei Tage nacheinander bei mir gewesen war und mir alle Einzelheiten mitgeteilt hatte, glaubte ich es. Ich hielt ihn für wahnsinnig, aber schließlich mußte ich mich doch von der Tat überzeugen lassen, wenn auch mit großer Verwunderung und großem Schmerz. Er hatte vor vierzehn Jahren ein furchtbares Verbrechen begangen an einer jungen und schönen Frau, der Witwe eines Gutsbesitzers, die in unserer Stadt ein eigenes Haus besaß, in das sie gelegentlich einkehrte. Er fühlte zu ihr eine große unbezwingliche Liebe, gestand ihr diese Liebe und wollte sie bereden, ihn zu heiraten. Aber ihr Herz gehörte schon einem anderen, einem hohen und angesehenen Offizier, der damals im Felde stand, und dessen baldige Ankunft sie erwartete. Sie schlug daher seinen Antrag ab und bat ihn, sie nicht mehr zu besuchen. Da war er, der alle Zimmer ihres Hauses gut kannte, in der Nacht vom Garten aus und über das Dach, mit unerhörter Kaltblütigkeit und alles aufs Spiel setzend, zu ihr eingedrungen. Ein so außergewöhnliches Unternehmen, mit der größten Kaltblütigkeit ausgeführt, gelingt ja fast immer. Durch das Dachfenster war er auf den Boden des Hauses gelangt und über eine kleine Bodentreppe zu ihr in die Wohnzimmer gedrungen: er hatte einmal bemerkt, daß die Tür dieser kleinen Treppe durch die Nachlässigkeit der Dienstboten unverschlossen geblieben war. Er hoffte auf diesen Zufall, und siehe da, es war so. Er schlich sich durch die Wohnzimmer bis in ihr Schlafgemach, wo das Lämpchen vor dem Heiligenbilde brannte. Und als ob es beabsichtigt gewesen wäre, waren beide Stubenmädchen ohne Erlaubnis zu einem Namensfeste in der Nachbarschaft fortgeschlichen. Die übrige Dienerschaft schlief in der Gesindestube und in der Küche, die sich in der unteren Etage befand. Beim Anblick der Schlafenden entbrannte in ihm die Leidenschaft, und zu gleicher Zeit wurde sein Herz von einer rachsüchtigen und eifersüchtigen Wut ergriffen, und wie ein Besinnungsloser und Trunkener stürzte er sich auf sie und bohrte ihr das Messer mitten ins Herz, so daß sie nicht einmal aufschreien konnte. Darauf richtete er es mit der teuflischsten und verbrecherischsten Berechnung so ein, daß der Verdacht auf die Dienerschaft fallen mußte. Es widerte ihn nicht an, ihren Geldbeutel zu nehmen, ihre Kommode mit den Schlüsseln, die er unter ihrem Kopfkissen fand, aufzuschließen und ihr nur diejenigen Sachen zu entnehmen, die auch ein dummer Diener genommen hätte, das heißt, die Wertpapiere ließ er liegen und nahm nur das bare Geld, nahm einige schwer goldene Sachen, die anderen aber, die zehnmal wertvolleren doch kleineren Schmuckgegenstände nahm er nicht. Darauf nahm er sich noch etwas zum Andenken, aber davon später. Nachdem das geschehen war, hatte er das Haus auf demselben Wege verlassen. Weder am folgenden Tage, als sich die Nachricht vom Morde verbreitete, noch jemals später, war es jemandem in den Sinn gekommen, den wirklichen Mörder zu verdächtigen! Auch von seiner Liebe zu ihr wußte niemand, denn er war immer verschlossen und wortkarg gewesen, und einen Freund, dem er die Tat hätte mitteilen können, besaß er nicht. Man zählte ihn einfach zu den Bekannten und nicht einmal zu den nahen Vertrauten der Ermordeten, denn er hatte sie in den letzten Wochen gar nicht besucht. Man verdächtigte vielmehr sofort ihren leibeigenen Diener Pjotr, und alle Umstände schienen diesen Verdacht zu bestätigen. Der Diener hatte gewußt, und die Verstorbene hatte es ihm nicht verheimlicht, daß sie auch ihn unter der Anzahl Rekruten, die sie von ihren Leibeigenen zu stellen hatte, in den Militärdienst zu schicken beabsichtigte. Zudem war er unverheiratet und ein schlechter Charakter. Man hatte gehört, wie er aus Wut und angetrunken in einer Kneipe gedroht hatte, sie zu erschlagen. Zwei Tage vor ihrem Tode war er entlaufen und hatte sich in der Stadt herumgetrieben. Am anderen Tage nach dem Morde fand man ihn auf der Landstraße vor der Stadt steif betrunken liegen, mit dem Messer in der Tasche, und dazu war noch seine rechte Handfläche mit Blut befleckt. Er versicherte, daß er Nasenbluten gehabt hätte, aber man glaubte es ihm nicht. Die Mägde gestanden ihre Schuld ein, daß sie auf dem Feste gewesen wären, und daß die Treppentür bis zu ihrer Rückkehr unverschlossen geblieben sei. Und eine Menge ähnlicher Anzeichen ergaben sich noch, so daß man daraufhin den unschuldigen Diener hinter Schloß und Riegel brachte. Doch siehe, schon nach einer Woche erkrankte er an einem Nervenfieber und starb besinnungslos im Krankenhause. Und damit endete die Sache. Man ergab sich dem Willen Gottes, und alle, das Gericht wie die Obrigkeit, waren fest überzeugt, daß den Mord niemand anders als der verstorbene Diener vollführt hätte – der aber war dem Gericht Gottes überliefert worden! Der geheimnisvolle Gast, der damals schon mein Freund geworden war, sagte mir, daß er zu Anfang gar keine Gewissensbisse empfunden hätte. Wohl litt er sehr, aber nur, weil er das geliebte Weib ermordet hatte, weil sie jetzt nicht mehr lebte, weil er, indem er sie getötet, auch seine Liebe getötet hatte, während die Leidenschaft in seinem Blut noch fortbrannte. An das unschuldig vergossene Blut, an den Mord habe er damals gar nicht gedacht. Der Gedanke, daß sein Opfer die Gattin eines anderen hätte werden können, schien ihm so unmöglich, und daher war er vor seinem Gewissen vollständig überzeugt, daß er anders gar nicht hätte handeln können. Am Anfang quälte ihn ein wenig die Gefangennahme des Dieners, aber dessen Krankheit und Tod beruhigten ihn wieder. Glaubte er doch, daß dieser Tod nicht etwa durch den Schreck oder die Angst erfolgt war, sondern infolge einer Erkältung, die er sich an den Tagen, als er betrunken die ganze Nacht über auf feuchter Erde gelegen, zugezogen hatte. Die gestohlenen Sachen und das Geld beunruhigten ihn gleichfalls nicht, denn den Diebstahl hatte er ja nur zur Ablenkung des Verdachts vollführt. Die gestohlene Summe war unbedeutend, und bald darauf gab er diese Summe und noch viel mehr zur Errichtung einer Wohltätigkeitsanstalt in unserer Stadt. Das hatte er alles nur getan, um sein Gewissen über den Diebstahl zu beruhigen – und bemerkenswert ist, daß dies tatsächlich ihn auf lange Zeit beruhigte: wenigstens beteuerte er es mir. Er selbst stürzte sich damals in eine große geschäftliche Tätigkeit, übernahm schwierige und mühevolle Aufträge, die ihn zwei Jahre lang ganz in Anspruch nahmen, und da er einen starken Charakter hatte, so vergaß er das Vorgefallene ganz; wenn es ihm aber einfiel, so bemühte er sich einfach, nicht daran zu denken. Er tat viel für die Armen, und für unsere Stadt. Auch in den Residenzen, Moskau und Petersburg, zeichnete er sich durch seine Wohltätigkeit aus und wurde daher zum Vorstand von Wohltätigkeitsvereinen gewählt. Aber schließlich erlag er doch den vielen Qualen, die fast über seine Kräfte gingen. Da gefiel ihm ein reizendes und kluges Mädchen, und er heiratete sie bald darauf in der Hoffnung, daß das Eheleben ihn seine Qual vergessen machen werde, und daß auf diesem neuen Wege, in eifriger Pflichterfüllung gegen seine Frau und seine Kinder, seine alten Erinnerungen verblassen würden. Aber gerade das Gegenteil seiner Erwartungen traf ein. Schon im ersten Monat seiner Ehe quälte ihn ununterbrochen der Gedanke: „Meine Frau liebt mich – wenn sie es aber wüßte!“ – Als sie sich zum erstenmal guter Hoffnung fühlte und es ihm mitteilte, da wurde alles in ihm aufgewühlt: „Einem Kinde habe ich das Leben gegeben, und einem anderen Menschen habe ich es genommen.“ Es kamen die Kinder: „Wie wage ich es, sie zu lieben, sie zu erziehen und sie zu belehren, wie kann ich ihnen von Tugend reden: ich, der ich doch Blut vergossen habe.“ Die Kinder wuchsen prächtig heran, er wollte sie liebkosen, aber – „ich konnte nicht in ihre hellen unschuldigen Augen sehen, ich war dessen nicht würdig.“ So quälte ihn grausam und bitter das Blut des unschuldig erschlagenen Opfers, das vernichtete, junge Leben. Ihr Blut schrie nach Rache. Schreckliche Träume verfolgten ihn. Aber sein starkes Herz ertrug standhaft die Qualen. „Ich sühne vielleicht meine Schuld durch meine geheimen Qualen.“ Aber auch diese Hoffnung war vergebens: je länger, desto qualvoller wurden seine Leiden. In der Gesellschaft wurde er wegen seines wohltätigen Wirkens hoch geehrt, obgleich ihn alle wegen seines strengen und düsteren Charakters fürchteten. Je mehr sie ihn jedoch achteten, desto unerträglicher wurde es ihm. Er gestand mir, daß er sich habe töten wollen. Doch gleichzeitig tauchte in ihm eine Idee auf, eine Idee, die er zuerst für unmöglich und wahnsinnig hielt, die sich aber zuletzt so in seinem Herzen festsetzte, daß er sich von ihr nicht mehr losreißen konnte. Er gedachte plötzlich hinauszugehen und vor allem Volk zu erklären, daß er einen Menschen ermordet habe. Drei Jahre lang trug er sich mit dieser Idee, in den verschiedensten Arten tauchte sie in ihm auf. Schließlich wurde es bei ihm zur festen Überzeugung, daß seine Seele erst dann, wenn er sein Verbrechen eingestanden haben würde, Heilung und auf immer Ruhe finden werde. Trotz dieser Überzeugung aber empfand er in seiner Seele einen Schrecken bei der Frage, wie das Geständnis auszuführen sei? Da ereignete sich zufällig meine Duellgeschichte. „Dank Ihrem Beispiel,“ sagte er, „habe ich mich jetzt dazu entschlossen.“ Ich blickte ihn an. „Ist es möglich?“ sagte ich fast erschrocken und schlug die Hände zusammen, „dieser geringe Vorfall hätte Sie zu solch einem Entschluß gebracht?“ „Meinen Entschluß trage ich bereits seit drei Jahren mit mir herum,“ antwortete er mir. „Ihre Tat hat ihm den letzten Anstoß gegeben. Angesichts Ihres Beispiels habe ich mir schon bittere Vorwürfe gemacht, ich habe Sie beneidet,“ sagte er zu mir, und seine Stimme klang hart. „Man wird Ihnen nicht glauben,“ bemerkte ich, „vierzehn Jahre sind seitdem vergangen.“ „Ich habe Beweise, schlagende Beweise. Ich werde sie vorweisen.“ Ich brach in Tränen aus und küßte ihn. „Über eines entscheiden Sie nur, über eines!“ rief er (ganz als ob jetzt alles nur von mir abhing): „Meine Frau, meine Kinder! Meine Frau stirbt vielleicht vor Kummer, und die Kinder, wenn sie auch den Adel und das Vermögen nicht verlieren, so bleiben sie doch auf ewig die Kinder eines gestempelten Sträflings. Und das Andenken, welch ein Andenken hinterlasse ich in ihren Herzen?“ Ich schwieg. „Und sich von ihnen trennen, sie auf immer verlassen? Auf immer, auf immer!“ Ich saß da und wußte keine Antwort. Ich murmelte nur ein Gebet vor mich hin. „Was sagen Sie?“ Er sah mich fragend an. „Gehen Sie,“ antwortete ich, „und sagen Sie es den Leuten. Alles vergeht, nur die Wahrheit allein bleibt bestehen. Ihre Kinder werden heranwachsen und begreifen, wieviel Hochherzigkeit in Ihrem großen Entschlusse gelegen hat.“ Er verließ mich damals, scheinbar ganz entschlossen. Aber länger als zwei Wochen kam er dann wieder jeden Abend zu mir, und immer noch konnte er sich nicht dazu entschließen. Das ermüdete mein Herz. Eines Abends aber kam er und sagte: „Ich weiß –, daß für mich sofort das Paradies anbrechen wird, sobald ich es gestanden habe. Vierzehn Jahre habe ich in der Hölle gelebt. Ich will das enden. Ich will das Leiden jetzt freiwillig auf mich nehmen und anfangen zu leben. Mit der Unwahrheit kommt man wohl bis ans Ende der Welt, eine Rückkehr gibt es aber nicht mehr. Jetzt wage ich weder meinen Nächsten, noch selbst meine Kinder zu lieben. Mein Gott, vielleicht werden die Kinder einmal begreifen, was mich dieses Leid gekostet hat, und mich nicht verurteilen! Gott ist nicht in der Macht, sondern in der Wahrheit.“ „Alle werden Ihre Tat begreifen,“ sagte ich zu ihm, „wenn nicht sofort, so doch später, denn Sie haben dann der Wahrheit gedient, der höheren Wahrheit, nicht der irdischen ...“ Und wieder ging er fort, als ob er sich darüber beruhigt hätte, und doch kam er am nächsten Tage bleich und erbittert wieder und sagte spöttisch: „Jedesmal, wenn ich zu Ihnen komme, sehen Sie mich fragend an: ‚Also wieder nicht?‘ Warten Sie, verachten Sie mich nicht zu sehr. Nicht so leicht ist es, wie es Ihnen scheint. Ich werde es vielleicht überhaupt nicht tun. Sie werden mich doch nicht anzeigen, wie?“ Ich aber, oh, nicht, daß ich gewagt hätte, ihn fragend anzusehen, – ich wagte überhaupt nicht, ihn anzusehen! Ich war bis zur Erschöpfung gequält, und meine Seele war voller Tränen. Die Nächte verbrachte ich schlaflos. „Ich komme soeben,“ fuhr er fort, „von meiner Frau. Begreifen Sie das, was einem eine Frau ist? Als ich fortging, riefen die Kinder mir nach: ‚Adieu, Papa, komme bald wieder, wir wollen dann zusammen unsere Kinderbücher lesen.‘ Nein, das verstehen Sie nicht! Fremdes Leid macht nicht gescheit.“ Seine Augen blitzten, seine Lippen zitterten. Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß alle Sachen darauf klirrten, – diese Heftigkeit sah ich an ihm zum erstenmal. „Ja, ist es denn nötig?“ schrie er auf, „ist es denn nötig? Niemand ist doch meinetwegen verurteilt worden, niemand meinetwegen in die Zwangsarbeit verschickt worden! Der Diener starb an einer Krankheit. Für das vergossene Blut aber bin ich durch meine eigenen Marter und Qualen übergenug gestraft worden. Und man wird es mir ja überhaupt nicht glauben, trotz aller Beweise! Ist es denn nötig, daß ich es tue, ist es denn nötig? Für das vergossene Blut bin ich bereit, mich mein ganzes Leben lang zu quälen, wenn ich nur meine Frau und meine Kinder nicht vernichte. Ist es denn gerecht, sie zu zerschmettern? Irren wir uns da nicht? Wo ist denn da die Wahrheit? Und werden die Menschen diese Wahrheit verstehen und anerkennen, sie schätzen und ehren?“ „Großer Gott!“ dachte ich bei mir, „an die Achtung der Menschen denkt er in solch einer Minute!“ So leid tat er mir damals, daß ich wohl sein Los hätte teilen mögen, um es ihm zu erleichtern. Ich sah, daß er wie rasend war, und ich erschrak, als ich nicht nur mit dem Verstande allein begriff, sondern auch mit ganzer Seele fühlte, was solch ein Entschluß kostet. „Entscheiden Sie über mein Geschick!“ sagte er plötzlich zu mir. „Gehen Sie hin und gestehen Sie,“ flüsterte ich ihm zu. Meine Stimme versagte mir fast, doch flüsterte ich es ihm mit Bestimmtheit zu. Ich nahm vom Tisch das Evangelium in russischer Übersetzung und zeigte ihm Johannes, Kapitel XII, Vers 24: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein, stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“ Diesen Vers hatte ich kurz vor seinem Eintritt gelesen. Er las ihn: „Das ist wahr,“ sagte er, aber er lächelte bitter. „Ja,“ sagte er, nachdem er lange geschwiegen hatte, „es ist unheimlich, was man in diesem Buche findet. Es ist aber leicht, diese Sprüche anderen vorzulesen. Und wer hat das geschrieben, doch nicht etwa Menschen?“ „Der Heilige Geist,“ sagte ich. „Sie haben gut reden,“ sagte er und lächelte haßerfüllt. Ich nahm wieder das Buch, schlug es an einer anderen Stelle auf und zeigte ihm Ebräer, Kapitel X, Vers 31. Er las: „Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ Er las es und schleuderte das Buch von sich. Er zitterte am ganzen Körper. „Ein schrecklicher Vers,“ sagte er. „Wahrlich, Sie haben ihn gut ausgesucht!“ Er erhob sich vom Stuhl: „Nun,“ sagte er, „leben Sie wohl, vielleicht werde ich nicht mehr zu Ihnen kommen – im Paradiese werden wir uns wiedersehen. Schon vierzehn Jahre sind es also, daß ich in die Hände des lebendigen Gottes gefallen bin, das kann ich wahrlich von diesen vierzehn Jahren sagen! Morgen werde ich diese Hände bitten, daß sie mich freigeben.“ Ich wollte ihn umarmen und küssen, aber ich wagte es nicht, so verzerrt war sein Gesicht; es wurde mir schwer, ihn anzusehen. Er ging hinaus. „Mein Gott,“ dachte ich, „wohin geht dieser Mensch!“ Ich warf mich auf die Knie hin vor das Muttergottesbild und betete. Es verging wohl eine halbe Stunde, als ich mich endlich mit Tränen in den Augen vom Gebet erhob; es war schon spät abends, gegen Mitternacht. Plötzlich sah ich, wie die Tür sich wieder öffnete und er eintrat. Ich war erstaunt. „Wo sind Sie gewesen?“ fragte ich ihn. „Ich,“ sagte er, „... ich habe, glaube ich, etwas vergessen ... mein Taschentuch, glaube ich. Nun, und wenn ich auch nichts vergessen habe, erlauben Sie mir, mich zu setzen ...“ Er setzte sich. Ich stand vor ihm. „Setzen Sie sich gleichfalls.“ Ich setzte mich. So saßen wir etwa drei Minuten, er sah mich starr fixierend an, und plötzlich lächelte er, stand auf, umarmte mich und küßte mich. „Behalte es im Gedächtnis,“ sagte er, „wie ich zum zweitenmal zu dir gekommen bin. Hörst du, behalte es!“ Zum erstenmal nannte er mich du. Er ging fort. „Morgen,“ dachte ich. Und so war es auch. Ich aber wußte an jenem Abend nicht, daß er den Tag darauf seinen Geburtstag feierte. In der letzten Zeit war ich gar nicht ausgegangen und hatte es von niemandem erfahren können. An diesem Tage pflegte sich die ganze Stadt bei ihm zu versammeln. Auch dieses Mal gab es eine große Gesellschaft. Und siehe, nach dem großen Festessen, stellte er sich in die Mitte des Zimmers, in den Händen hält er ein Papier – die formelle Anzeige an die Obrigkeit. Da aber alle hohen Gerichtspersonen bei ihm versammelt waren, so las er den Bericht den Anwesenden laut vor, – die ganze Beschreibung seines Verbrechens bis in alle Einzelheiten! „Als einen Auswurf des Menschengeschlechts scheide ich mich selbst aus der Mitte der Menschen, Gott hat mich heimgesucht,“ – damit schloß er seine Anschuldigung. – „Ich will dafür leiden.“ Darauf breitete er die gestohlenen Gegenstände auf dem Tisch aus, die Beweise seines Verbrechens, die er vierzehn Jahre lang bei sich aufbewahrt hatte. Die Goldsachen der Erschlagenen, mit denen er den Verdacht von sich abgelenkt hatte, das Medaillon und das Kreuz, die er ihr vom Halse genommen – im Medaillon das Bild ihres Verlobten; ferner ihr Notizbuch und zwei Briefe: der Brief ihres Verlobten an sie, mit der Nachricht seiner baldigen Rückkehr, und ein Brief von ihr, den sie angefangen, aber nicht beendigt hatte, und der auf dem Schreibtisch liegen geblieben war, um am nächsten Tage abgesandt zu werden. Beide Briefe hatte er an sich genommen – weshalb? Und weshalb hatte er sie vierzehn Jahre lang aufbewahrt, statt sie als Beweisstücke zu vernichten? Und was geschah darauf? Alle gerieten in Verwunderung und in Schrecken, und niemand wollte es glauben, obgleich sie ihm alle mit großer Aufmerksamkeit und Neugier zugehört hatten, wenn auch mehr wie einem Kranken. Nach einigen Tagen wurde denn auch von allen behauptet, daß der unglückliche Mensch seinen Verstand verloren habe. Die Obrigkeit und das Gericht mußten die Sache, ob sie wollten oder nicht, aufnehmen, aber auch sie zögerten: denn obwohl die vorgewiesenen Sachen und die Briefe zu denken gaben, kam man doch zu dem Schluß, daß, wenn die Dokumente sich auch als richtig erweisen sollten, man ihn schließlich nicht nur auf Grund dieser Dokumente verurteilen konnte. Denn die Sachen hätte er ebensogut als ihr Bekannter und Vertrauensmann von ihr erhalten können. Übrigens hörte ich später, daß die Sachen von vielen Bekannten und Verwandten der Ermordeten erkannt worden wären. Aber wieder war es auch dieses Mal der Sache nicht bestimmt, zu einem Abschluß zu kommen. – Fünf Tage nachher erfuhren wir alle, daß er erkrankt war, und man meinte allgemein, es sei ein Herzleiden; auch wurde bekannt, daß seine Frau alle Doktoren zusammenberufen hatte, damit sie ihn auf seinen Geisteszustand hin untersuchten. Deren Urteil aber lautete – Geistesstörung. Ich sagte niemandem etwas von dem, was ich wußte, obgleich man mich über ihn ausfragen wollte; als ich ihn aber zu besuchen wünschte, da überhäufte man mich mit Vorwürfen, besonders seine Gemahlin tat es: „Sie sind es, der ihn so erschüttert hat, wenn er auch schon früher immer finster war, so ist doch allen seine ungewöhnliche Erregung, sein sonderbares Benehmen in jüngster Zeit aufgefallen. Sie haben ihn ins Verderben gestürzt, haben ihn beeinflußt, er hat den ganzen Monat nur bei Ihnen gesessen.“ Und nicht nur seine Frau, nein, alle in der Stadt stürzten sich auf mich und beschuldigten mich. „Das alles haben Sie getan.“ Ich schwieg, und in meinem Herzen freute ich mich; ich erkannte die Gnade Gottes gegen ihn, der sich aus eigener Kraft aufgerichtet hatte. An eine Geistesstörung glaubte ich selbstverständlich nicht. Schließlich ließ man mich zu ihm: er hatte darauf bestanden – um sich von mir zu verabschieden. Ich trat zu ihm ins Zimmer und bemerkte sofort, daß nicht nur seine Tage, sondern seine Stunden gezählt waren. Er war schwach, gelb, und seine Hände zitterten; er atmete schwer, doch sein Blick war freudig und gerührt. „Es ist vollbracht! lange schon habe ich mich danach gesehnt mit dir zu sprechen, warum kamst du nicht?“ Ich sagte ihm nicht, daß man mich nicht vorgelassen hatte. „Gott erbarmt sich meiner und ruft mich zu sich. Ich weiß, daß ich sterbe, aber Freude und Friede fühle ich jetzt nach so viel Jahren zum erstenmal in meinem Herzen. Sofort erschloß sich in meiner Seele das Paradies, sobald ich’s nur ausgeführt hatte! Jetzt wage ich wieder, meine Kinder zu lieben und zu liebkosen. Man glaubt mir nicht, weder meine Frau noch meine Richter. Meine Kinder werden mir niemals glauben. Darin sehe ich Gottes Gnade zu meinen Kindern. Ich sterbe und mein Name bleibt für sie unbefleckt. Und ich fühle schon im voraus den ewigen Gott, und mein Herz freut sich wie im Paradiese ... Ich habe meine Schuldigkeit getan ...“ Er konnte nicht weiter sprechen, er atmete schwer, heiß drückte er mir die Hand, und mit glänzenden Augen sah er mich an. Doch lange konnten wir nicht zusammen bleiben; seine Frau kam immer wieder ins Zimmer, um nach uns zu sehen. Doch konnte er mir noch zuflüstern: „Erinnerst du dich, wie ich das letztemal zu dir kam, um Mitternacht? Ich befahl dir, das zu behalten. Weißt du, warum ich wieder bei dir eintrat? Ich wollte dich erschlagen!“ Ich schrak zusammen. „Ich kam – damals – von dir. In der Dunkelheit wanderte ich durch die Straßen und kämpfte mit mir. Und plötzlich haßte ich dich so sehr, daß mein Herz es kaum ertragen konnte. ‚Jetzt,‘ dachte ich, ‚ist er der einzige, der es weiß und mein Richter ist, und jetzt kann ich gar nicht mehr meiner Strafe entgehen.‘ Nicht, daß ich fürchtete, du würdest mich verraten, daran habe ich mit keinem Gedanken gedacht, aber ich sagte mir: ‚Wie werde ich ihm noch in die Augen sehen können, wenn ich es nicht morgen tue?‘ Und wenn du auch am Ende der Welt wärest, es wäre mir einerlei, so lebtest du doch, und der Gedanke, daß du lebst und alles weißt und mich verurteilst, dieser Gedanke wäre mir unerträglich gewesen. Ich haßte dich, als wärest du der Grund zu allem, und als wärest du an allem schuld. Ich kehrte damals zu dir zurück, denn ich wußte, auf deinem Tisch lag dein Dolch. Ich setzte mich und bat dich, dich gleichfalls zu setzen, und ich überlegte es mir noch eine Minute lang. Wenn ich dich aber getötet hätte, so wäre ich dieses Mordes wegen zugrunde gegangen, selbst wenn ich von meinem früheren Verbrechen nichts gesagt hätte. Doch daran dachte ich nicht und wollte ich auch in dieser Minute nicht denken. Ich haßte dich und wollte mich für alles an dir rächen. Aber Gott besiegte den Teufel in meinem Herzen. Wisse aber, daß du dem Tode nie näher gewesen bist.“ Nach einer Woche starb er. Seinem Sarge folgte die ganze Stadt. Der Oberpriester hielt eine gefühlvolle Rede. Nach seinem Tode aber wandte sich die ganze Stadt gegen mich, man trieb es sogar so weit, daß man mich nicht mehr empfing. Einige wiederum, und zuerst waren es eben nur einige, später aber wurden es mehr und mehr, fingen an, seinen Aussagen zu glauben; sie kamen zu mir und fragten mich mit großer Neugier und Freude: der Mensch freut sich doch so über den Fall des Gerechten und dessen Schande. Ich aber schwieg und verließ bald darauf die Stadt. Nach fünf Monaten fand mich Gott für würdig, den einzigen festen und wunderbaren Weg zu betreten, und ich segnete den Fingerzeig, der mich auf diesen Weg gewiesen hatte. Doch seiner gedenke ich fortwährend, und ich schließe ihn bis auf den heutigen Tag in meine Gebete ein. III. Aus den Gesprächen und Predigten des Staretz Sossima e) Einiges über den russischen Mönch und seine Bedeutung Meine Väter und Lehrer, was ist ein Mönch? In unseren Tagen wird das Wort in der aufgeklärten Welt von einigen mit Spott, von anderen sogar als Schimpfwort gebraucht. Und leider, es ist nur zu wahr, es gibt unter den Mönchen viele Müßiggänger, Tagediebe, Wollüstlinge und gewöhnliche Landstreicher. Auf diese weisen die gebildeten weltlichen Leute hin: „Ihr seid Faulenzer und unnütze Glieder der Gesellschaft,“ sagen sie, „ihr lebt von fremder Arbeit und seid schamlose Bettler!“ Indessen gibt es doch so viele unter den Mönchen, die fromm und demütig sind, die die Einsamkeit suchen, und die nach Stille und Gebet verlangt. Auf diese weist man nicht hin, sondern übergeht sie mit Schweigen. Wie sehr aber werden sie sich wundern, wenn ich sage, daß von den Gebeten dieser Demütigen und nach Einsamkeit und Stille sich Sehnenden die Rettung Rußlands ausgehen wird. Denn in Wahrheit werden sie sich in der Stille vorbereitet haben „auf den Tag und die Stunde, auf den Monat und auf das Jahr“. Das Vorbild Christi bewahren sie herrlich und unverfälscht in seiner göttlichen Reinheit und Wahrheit dort in ihrer Einsamkeit auf, so wie es uns von unseren alten Kirchenvätern, Aposteln und Märtyrern überliefert worden ist, und wenn es nötig werden wird, so werden sie es der weltlichen, zusammenstürzenden Wahrheit entgegenstellen. Das ist ein großer Gedanke. Im Osten wird dieses Licht aufgehen. So denke ich über den Mönch, und sollte das wirklich falsch, sollte das wirklich anmaßend sein? Seht auf die Weltlichen und auf alle, die sich über das Gottesvolk erheben, ist in ihnen nicht die Wahrheit Gottes verloren gegangen? Sie haben die Wissenschaft und in der Wissenschaft nur das, was den Sinnen unterworfen ist. Die geistige Welt, die höhere erhabenere Hälfte des menschlichen Wesens, wird vollständig geleugnet und wird mit einer gewissen Genugtuung und sogar mit Haß ganz und gar abgeschafft. Besonders in letzterer Zeit hat die Welt die Freiheit proklamiert, aber was sehen wir in ihrer Freiheit? Nichts als Sklaverei und Selbstmord! Denn die Welt sagt: „Hast du Bedürfnisse, so befriedige sie, denn du hast dieselben Rechte wie die Reichen und Vornehmen. Fürchte dich nicht, sie zu befriedigen, sondern vermehre und steigere sie noch.“ Das ist die gegenwärtige Lehre der Welt. Darin sieht man jetzt die Freiheit. Und was ergibt sich aus diesem Recht auf die Vergrößerung der Bedürfnisse? Bei den Reichen die Isolierung und der geistige und seelische Selbstmord. Bei den Armen dagegen – Haß und Totschlag, denn die Ansprüche wurden ihnen allerdings gegeben, doch die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse wurden ihnen nicht angewiesen. Man versichert, daß die Welt sich immer mehr vereinheitlichen und zu einer brüderlichen Gemeinschaft ausbilden werde dadurch, daß die Entfernung jetzt abgekürzt ist und der Gedanke durch die Luft vermittelt wird. Oh, glaubt nicht an diese Einheit der Menschen! Wenn man die Freiheit als Unbeschränktheit und schnelle Befriedigung seiner Wünsche auffaßt, so verdirbt man seine Natur, denn man ruft in sich eine Menge sinnloser und dummer Wünsche und Gewohnheiten hervor, und die alleralbernsten Einfälle. Man lebt nur, um sich gegenseitig zu beneiden, zur Befriedigung der Wollust und des Hochmuts. Diners, Ausfahrten, Equipagen, Auszeichnungen, Sklaven, Diener, Untergebene zu haben, wird zu einem so unumgänglichen Bedürfnis, daß man sogar sein Leben, seine Ehre, seine Menschenliebe opfert, nur um dieses Bedürfnis zu befriedigen, und man nimmt sich womöglich das Leben, wenn man das nicht mehr tun kann. Auch bei denjenigen, die nicht reich sind, sieht man dasselbe. Die Armen aber betäuben ihre unbefriedigten Wünsche und ihren Neid mit Branntwein. Es wird aber noch dahin kommen, daß diese sich, statt an Branntwein, an Blut betrinken werden. Jetzt frage ich euch: Ist denn solch ein Mensch frei? Ich kannte einen „Kämpfer für die Idee“, der mir selbst erzählte, daß er, als man ihm im Gefängnis den Tabak entzog, dermaßen durch diese Entbehrung gequält worden sei, daß er, wenn er gekonnt hätte, hingegangen wäre, um seine Idee „für Tabak“ zu verkaufen. Solch einer also „geht für die Menschheit kämpfen“. Wie weit geht er damit, und wozu ist er fähig? Vielleicht noch zu einer raschen Tat, denn Ausdauer wird er nie haben. Und ist das nicht merkwürdig, wie sie, statt in Freiheit zu kommen, in Sklaverei verfallen, und statt der Bruderliebe und der Einigung der Menschheit zu dienen, geraten sie im Gegenteil nur, wie in meiner Jugend mein geheimnisvoller Gast dies schon behauptete, in Vereinsamung und Isolierung. Daher stirbt in der Welt das Bewußtsein, daß man im Dienste der Menschheit steht, vollständig aus. Der Vorstellung von Brüderlichkeit und innerer Zusammengehörigkeit der Menschen begegnet man in Wahrheit nur mit Spott, denn wie sollen sie von ihren Gewohnheiten lassen? Wohin will so ein Unfreier mit all seinen unzähligen Bedürfnissen, die er sich selbst ausgedacht hat? Nur in die Isolierung führt es ihn! Und was hat er mit dem Ganzen zu schaffen? Erreicht haben sie damit nichts anderes, als daß sie an Besitz wohl reicher, an Freude aber ärmer geworden sind. Etwas anderes ist es mit der Laufbahn des Mönches. Über den Gehorsam, über Fasten und Gebet lacht man, während gerade in ihnen der Weg zur wirklichen und wahrhaften Freiheit zu finden ist. Ich vernichte in mir die überflüssigen und unnötigen Bedürfnisse, meinen selbstherrlichen und stolzen Willen geißle ich und bezwinge ich durch Gehorsam, und erreiche mit Gottes Hilfe die Freiheit des Geistes und mit ihr die Geistesfreudigkeit! Wer von ihnen wird fähiger sein, einer großen Idee zu dienen – der isolierte Reiche oder der von jeglicher Tyrannei seiner Gewohnheiten und seines Besitzes Befreite? Dem Mönche macht man seine Vereinsamung zum Vorwurf: „Du rettest dich in das Kloster, vergißt aber dabei, brüderlich deinem Mitmenschen zu dienen.“ Sehen wir doch zu, wer mehr Bruderliebe betätigt. Die Isolierung ist nicht bei uns, sondern bei ihnen, nur sehen sie das nicht ein. Von uns aber sind (und das schon von alters her) diejenigen gekommen, die für das Volk gewirkt haben, warum sollte es auch jetzt nicht solche unter uns geben? Unsere demütigen Faster und großen Schweiger werden sich erheben und große Taten vollführen. Vom Volke wird Rußlands Rettung kommen. Das russische Kloster war von jeher mit dem Volke. Wenn das Volk abgesondert lebt, so leben auch wir in der Absonderung. Das Volk glaubt auf unsere Weise, und eine ungläubige Kraft, sei sie noch so aufrichtigen Herzens und genialen Geistes, kann bei uns in Rußland nichts erreichen. Behaltet das. Das Volk, wenn es dem Atheisten begegnet, wird ihn bewältigen und wird sich als einiges rechtgläubiges Rußland gegen ihn aufrichten. Bewahrt das Volk und bewahrt sein Herz, in der Stille erzieht es. Das wäre die Aufgabe unseres Mönches, denn sein Volk ist das Gottträger-Volk. f) Einiges über Herren und Diener: Kann es zwischen Herr und Diener eine geistige Bruderschaft geben? Mein Gott, wer kann sagen, daß es im Volke keine Sünde gäbe! Die Flamme der Vernichtung und des Verderbens vergrößert sich sichtbar und stündlich. Auch ins Volk dringt die Isolierung: Wucherer und Freischlucker treten auf, der Händler und Kaufmann will immer mehr geehrt sein, bemüht sich, den Gebildeten zu spielen, ohne Bildung zu besitzen, und vernachlässigt darum mit Absicht die alten Volksbräuche und schämt sich des Glaubens seiner Väter. Er fährt zu Fürsten zum Besuch und ist dabei doch nichts anderes als ein verdorbener Bauer. Das Volk hat sich der Trunksucht ergeben: es ist durch sie wie angefault und kann sich nicht mehr davon losreißen. Wieviel Grausamkeit sehen wir oftmals im Verhalten des Mannes zu seiner Familie, seiner Frau und sogar den Kindern gegenüber: alles das kommt von der Trunksucht. In den Fabriken habe ich neunjährige Kinder gesehen, schwächlich, abgezehrt, gekrümmt und schon verdorben. Stickige Räume, das Getöse der Maschinen und den ganzen Gottestag über Arbeit, häßliche, unanständige Reden und Branntwein, Branntwein! Ist es denn das, was die Seele eines so kleinen Kindes bedarf? Es hat Sonne nötig und Spiele und in allem ein gutes Beispiel und Liebe, wenn auch nur ein Tröpfchen Liebe zu ihm. Auf daß es geschehe, Mönche, auf daß die Quälerei der Kinder aufhöre, erhebt euch schneller und predigt dagegen. Gott wird Rußland retten, denn wenn das Volk auch verdorben ist und sich von der Schande und Sünde nicht losmachen kann, so weiß der Einfache doch, daß Gott seine Sünde verflucht, und daß er schlecht handelt, wenn er sündigt. So daß unser Volk trotz allem unerschütterlich an die Wahrheit glaubt, Gott anbetet und über seine Sünden weint. Nicht so aber ist es bei den Höheren. Die wollen sich nach der Wissenschaft und nach ihrem eigenen Verstande, doch vor allem ohne Christus, hier auf Erden einrichten und behaupten daher, es gäbe kein Verbrechen, es gäbe keine Sünde. Und in ihrer Art haben sie auch recht: wenn es keinen Gott gibt, wie kann es dann ein Verbrechen geben? In Europa erhebt sich schon das Volk gegen die Reichen, und ihre Rädelsführer predigen die Gewalt und das Blutvergießen und behaupten, daß ihr Zorn ein gerechter sei. Doch verflucht sei ihr Zorn, denn er ist grausam, d. h. ohne Barmherzigkeit. Rußland aber wird Gott der Herr erretten, wie er es schon oft errettet hat. Aus dem Volk wird die Rettung kommen, aus seinem Glauben und seiner Demut. Meine Väter und Lehrer, bewahret den Glauben des Volkes, denn er ist kein leerer Traum: mein ganzes Leben lang bin ich von seiner Größe, von seiner herrlichen und aufrichtigen Würde ergriffen gewesen. Ich habe es selbst gesehen und habe gestaunt, ich kann es bezeugen trotz der Finsternis und des ärmlichen und unansehnlichen Aussehens unseres Volkes. Es ist nicht kriechend trotz seiner zwei Jahrhunderte langen Sklaverei, die es unter den Tataren durchgemacht hat. Frei ist sein Äußeres und sein Betragen, frei ist es, ohne einen dabei zu beleidigen. Und nie ist unser Volk rachsüchtig und nie neidisch. „Du bist bedeutend, bist reich, bist klug und talentvoll – möge Gott dich segnen. Ich achte dich, doch wisse, daß auch ich ein Mensch bin. Darin, daß ich dich neidlos achte, darin besteht meine eigene Menschenwürde vor dir.“ In Wahrheit ist es so, denn wenn sie sich auch nicht so auszudrücken verstehen, so handeln sie doch danach, ich selbst habe es gesehen, ich selbst habe es erfahren, und glaubet mir: je ärmer und niedriger unser russischer Mann ist, um so eher ist in ihm diese herrliche Wahrhaftigkeit zu finden. Die Reichen von ihnen, die Wucherer und Schmarotzer, sind auch schon verdorben, und vieles, vieles ist von unserer Unachtsamkeit und Nachlässigkeit gekommen. Aber Gott wird seine Kinder erretten, denn groß ist Rußland in seiner Demut. Ich träume von unserer Zukunft, und schon sehe ich sie emporsteigen. Und es wird so sein, daß unser verderbtester Reicher sich seines Reichtums vor dem Armen schämen wird, und der Arme wird seine Demut verstehen und wird ihm mit Freuden den Vorrang lassen, der ihm zukommt, und seine edle Scham mit Wohlwollen vergelten. Glaubet mir, so wird es enden; darauf geht es hinaus. Die Gleichheit besteht in der menschlichen, geistigen Würde, und das wird man nur bei uns verstehen. Wenn es Brüder gibt, dann wird es auch eine Brüderschaft geben, früher aber werden sie nie miteinander teilen. Das Vorbild Christi bewahren wir, und es wird wieder wie ein kostbares Juwel der ganzen Welt leuchten ... Und also geschehe es! Meine Väter und Lehrer, ich erlebte einmal etwas sehr Rührendes. Auf meiner Wanderschaft traf ich in der Gouvernementsstadt K. meinen früheren Burschen Afanassij, den ich seit der Zeit, ungefähr seit acht Jahren, als wir auseinander gegangen waren, nicht wieder gesehen hatte. Er sah mich zufällig in einem Kaufhause, erkannte mich und stürzte auf mich zu. Mein Gott, wie lief er herbei, und wie freute er sich: „Väterchen, Herr sind Sie denn das wirklich? Täuschen mich nicht meine Augen?“ Er führte mich zu sich. Er hatte schon den Dienst verlassen, war verheiratet und hatte zwei Kinderchen. Er lebte mit seiner Frau von einem kleinen Kramladen, den sie im Kaufhause besaßen. Das Zimmerchen, in das er mich führte, war ärmlich, aber sauber und hell. Er nötigte mich, Platz zu nehmen, stellte den Ssamowar auf, schickte nach seiner Frau, ganz als ob es für ihn ein Feiertag wäre, daß ich zu ihm gekommen war. Er führte mir seine Kinder zu: „Segne sie, Väterchen,“ bat er. – „Kommt es mir einfachem demütigem Menschen denn zu, andere zu segnen,“ antwortete ich ihm, „ich werde zu Gott für sie beten. Auch für dich, Afanassij Pawlowitsch, bete ich; seit jenem Tage bete ich täglich für dich zu Gott, denn durch dich ist alles so gekommen, wie es jetzt ist.“ Und ich erklärte ihm das, so gut ich konnte. Wie war dem Menschen wohl zumute: er konnte immer noch nicht fassen, daß ich, der ich jetzt vor ihm in solch einer Gestalt und Kleidung stand, sein früherer Herr und sein junger Leutnant war. – Er fing sogar zu weinen an. „Warum weinst du,“ fragte ich ihn, „du unvergeßlicher Mensch, freuen sollte sich deine Seele über mich, mein Lieber, denn freudig und hell ist mein Weg.“ Viel sprach er nicht, aber er seufzte und schüttelte wehmütig den Kopf. „Wo ist denn Ihr Reichtum geblieben?“ Ich antwortete ihm: „Habe ihn dem Kloster gegeben, wir leben dort alle in Gemeinschaft.“ Nach dem Tee verabschiedete ich mich von ihnen, und plötzlich brachte er mir fünfzig Kopeken fürs Kloster, und was sehe ich, andere fünfzig Kopeken steckte er mir noch heimlich in die Hand und beeilte sich dabei zu sagen: „Das ist für Sie, den sonderbaren Wanderer, es kommt Ihnen vielleicht zustatten, Väterchen.“ Ich nahm das Geld, verbeugte mich vor ihm und vor seiner Frau und ging erfreut davon. Auf dem Wege dachte ich noch: „Jetzt werden wir beide, er bei sich und ich unterwegs, seufzen und lächeln, in der Freude des Herzens den Kopf wiegen, daran denkend, wie Gott uns zusammengeführt hat.“ Seit der Zeit habe ich ihn nicht wieder gesehen. Ich war sein Herr, er war mein Diener gewesen, nun aber, nachdem wir uns fromm und in Liebe geküßt hatten, hatte sich in uns die große Menschenvereinigung vollzogen. Ich habe viel darüber nachgedacht und jetzt frage ich mich: Ist es denn wirklich so undenkbar, daß diese große Einigung voll Herzenseinfalt sich einmal überall in unserem Rußland vollziehen könnte? Ich glaube daran, daß sie sich vollziehen wird, und daß die Zeit schon vor der Tür steht. Über die Diener füge ich aber noch folgendes hinzu: Früher in meiner Jugend ärgerte ich mich viel über sie: die Köchin hatte zu heiß angerichtet oder der Bursche die Kleider nicht genügend rein gebürstet. Aber plötzlich leuchtete der Gedanke meines lieben Bruders in mir auf, den ich in meiner Kindheit oftmals von ihm aussprechen gehört hatte: „Bin ich wert, daß ein anderer mich bedient, und habe ich das Recht, ihn wegen seiner Armut und Unwissenheit schlecht zu behandeln?“ Ich war erstaunt damals, wie die allereinfachsten und klarsten Gedanken uns so spät in den Sinn kommen. Ohne Diener kann die Welt nicht auskommen, aber du sollst so handeln, daß dein Diener freier im Geiste ist, als er wäre, wenn er nicht dein Diener sein würde. Und warum soll ich nicht meinem Diener ein Diener sein, und zwar so, daß er fühlt, daß ich es ohne jeglichen Stolz oder Hochmut meinerseits bin – und ohne in ihm Mißtrauen zu erwecken? Warum soll ich zu meinem Diener nicht sein wie zu einem Verwandten, und warum soll ich ihn nicht ganz in meine Familie aufnehmen und mich dessen freuen? Das ist auch jetzt schon ausführbar und würde zur Grundlage der großen zukünftigen Einigung der Menschen dienen, in der der Mensch sich keine Diener suchen und nicht mehr wünschen wird, seinesgleichen sich dienstbar zu machen, wie er jetzt tut, sondern im Gegenteil, aus allen Kräften wünschen wird, allen ein Diener nach dem Evangelium zu werden. Und ist das wirklich nur ein Traum, daß der Mensch schließlich seine Freude in Fortschritten der Erleuchtung und Mildtätigkeit finden wird und nicht an den grausamen Freuden der Üppigkeit, Unzucht, Hoffart, Prahlerei und in der Überhebung des einen über den anderen? Ich glaube fest daran, daß diese Zeit nicht mehr fern ist. Man wird wohl lachend fragen: wann wird denn diese Zeit kommen, und wird sie dann auch diesem Traume ähnlich sein? Ich aber denke, daß wir mit dem Vorbild Christi diese große Tat vollführen werden. Wieviel Ideen gibt es doch auf der Erde und in der Geschichte der Menschheit, die noch vor zehn Jahren undenkbar waren, und die doch plötzlich auftauchten, als für sie die geheimnisvolle Stunde geschlagen hatte, und die sich dann über die ganze Erde verbreiteten. So wird es auch bei uns sein, unser Volk wird die Welt erleuchten, und die ganze Welt wird sagen: „Der Stein, den die Baumeister verwarfen, ist zum Eckstein geworden.“ Und die Spötter sollte man fragen: Wenn das bei uns nur Träume sein sollen, wie werdet ihr dann euer Gebäude nur mit eurem Verstande und ohne Christus aufbauen? An ihre Versicherung, daß auch sie auf ihrem Wege schließlich zur Einigung der Menschheit gelangen werden, glauben in Wahrheit nur die Einfältigsten unter ihnen, und über diese Einfältigkeit kann man sich wirklich nur wundern, denn wahrlich ihre phantastischen Träume bauen sich auf keiner einzigen Tatsache auf. Sie denken alles ohne Christum gerecht aufzubauen, aber sie werden damit enden, daß sie die Welt mit Blut überschwemmen, denn Blut schreit nach Blut, und das Schwert wird nur durch das Schwert vergehen. Und wenn die Verheißung Christi nicht wäre, so würden sie sich auf Erden gegenseitig bis auf die zwei letzten Menschen vertilgen. Auch diese letzten Zwei würden nicht verstehen, sich in ihrem Stolze zu bändigen, so daß der Letzte den Vorletzten vernichten würde und zuletzt sich selbst. So würde es geschehen, wenn die Welt nicht durch die Verheißung Christi um der Frommen und Demütigen willen erhalten bliebe. Damals nach dem Duell, sprach ich, noch in der Offiziersuniform, in der Gesellschaft einmal über diese Frage, und ich erinnere mich, alle waren sie erstaunt über mich: „Was, sollen wir unsere Dienstboten auf das Sofa setzen und ihnen den Tee reichen?“ Ich gab ihnen aber zur Antwort: „Warum denn nicht, und wenn es auch nur ein einziges Mal geschieht?“ Sie lachten darüber. Ihre Frage war leichtsinnig, und meine Antwort war unklar, aber ich denke, etwas Wahres war doch in ihr enthalten. g) Vom Gebet, von der Liebe und von der Berührung mit anderen Welten Jüngling, vergiß nicht das Gebet. Jedesmal, wenn dein Gebet aufrichtig ist, taucht eine neue Empfindung in dir auf und mit ihr ein neuer Gedanke, den du früher nicht gekannt hast; er wird dich von neuem stärken, und du wirst begreifen, daß Gebet Erziehung ist. Vergiß auch nicht, jeden Tag und so oft du nur kannst, also zu beten: „Herr, erbarme dich aller, die vor dich hintreten.“ Denn in jeder Stunde und in jedem Augenblick verlassen Tausende von Menschen ihr Leben auf dieser Erde, und ihre Seelen treten vor Gott – und viele von ihnen scheiden einsam von dieser Erde, von niemand gekannt, in Kummer und Trauer, daß sich niemand um sie bekümmert, ja, nicht einmal gewußt hat, ob sie gelebt haben oder nicht. Und siehe, vom anderen Ende der Welt erhebt sich dein Gebet zu dem Herrn und bittet um die Seelenruhe des Verlassenen, obgleich du ihn nicht kanntest und er nicht dich. Wie wird es aber seiner Seele sein, wenn er in dem Augenblick, da er in Furcht vor Gott steht, fühlt, daß auch für ihn jemand betet, und daß auf der Erde ein menschliches Wesen lebt, das auch ihn lieb hat? Ja, und auch Gott wird milde auf euch beide schauen, denn hast selbst du mit ihm Mitleid, um wieviel mehr wird er Mitleid haben, der so unendlich viel mildtätiger und mitleidiger ist als du? Und er wird ihm vielleicht um deinetwillen vergeben. Brüder, vor der Sünde der Menschen schreckt nicht zurück, liebet den Menschen auch in seiner Sünde, denn das ist das Ebenbild der göttlichen Liebe und das Höchste der Liebe. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, das ganze All, wie jedes Sandkörnchen. Jedes Blättchen, jeden Strahl Gottes liebet. Liebet die Tiere, liebet jegliches Gewächs und jegliches Ding. Wenn du jedes Ding lieben wirst, so wird sich dir das Geheimnis Gottes in den Dingen offenbaren. Ist dir dies offenbar geworden, so wirst du jeden Tag immer mehr und mehr die Wahrheit erkennen. Und schließlich wirst du die ganze Welt mit allumfassender Liebe umspannen. Liebet die Tiere, denn Gott hat ihnen den Urgrund des Denkens und harmlose Freudigkeit verliehen. Stört sie nicht, quält sie nicht, nehmet ihnen nicht die Freude, handelt dem Gedanken Gottes nicht zuwider. Der Mensch überhebe sich nicht den Tieren gegenüber, sie sind sündlos, du aber, Mensch, mit deiner Größe, du versetzest mit deinem Erscheinen die Erde in Fäulnis und läßt Spuren der Verwesung hinter dir, und leider tut das fast jeder von uns! Besonders liebet aber die Kinder, denn sie sind sündlos wie Engel. Sie leben zu unserer Freude, zur Reinigung unserer Herzen als Hinweis und Beispiel für uns. Wehe dem, der ein Kind kränkt. Mich lehrte der Pater Anfim die Kinder lieben; er ist gut und schweigsam. Auf unserer Wanderschaft kaufte er ihnen für die wenigen Kopeken, die man ihm schenkte, Pfefferkuchen und Zuckerwerk; er konnte an ihnen nicht vorübergehen, ohne daß sein Herz erbebte. So ist der Mensch. Vor gar manchem Gedanken bleibt man im Zweifel befangen stehen, besonders wenn man die Sünden der Menschen sieht, und man fragt sich: „Soll man es mit Gewalt anfassen oder mit demütiger Liebe?“ Entscheide dich immer für „demütige Liebe.“ Wenn du dich ein für allemal dazu entschlossen hast, so wirst du die ganze Welt bezwingen. Die „demütige Liebe“ ist eine furchtbare Kraft; sie ist die allergrößte Kraft, und ihresgleichen gibt es nicht. Jeden Tag, jede Stunde und jede Minute gib acht auf dich, damit dein Antlitz rein sei. Wenn du böse mit einem schlechten Wort und haßerfüllter Seele an einem Kinde vorbeigehst, das du vielleicht nicht einmal beachtet hast, und es sieht dein häßliches und verzerrtes Antlitz – siehe, so prägt es sich in sein schutzloses Herzchen ein. Du weißt es nicht einmal und hast doch Schlechtes in sein Herz gesät, und der schlechte Same wird aufgehen, und das alles nur, weil du in der Gegenwart des Kindes nicht auf dich acht gegeben hast, und weil du keine umsichtige und tatkräftige Liebe in deinem Herzen hegtest. Brüder, die Liebe ist eine große Lehrerin, man muß verstehen, sie zu erwerben; das aber ist sehr schwer – man muß sie teuer erkaufen durch lange andauernde Arbeit, denn nicht zufällig und auf einen Augenblick muß man lieben, sondern fortwährend und ewig. Zufällig kann jeder lieben, sogar der Bösewicht kann zufällig lieben. Mein Bruder bat die Vöglein um Verzeihung. Das scheint einem sinnlos, und doch tat er recht, denn alles ist wie ein Ozean, alles fließt und berührt sich. An einem Ende der Welt verursachst du eine Bewegung, und am anderen Ende der Welt hallt sie wider. Mag es sinnlos sein, die Vöglein um Verzeihung zu bitten, doch den Vögeln, den Kindern, ja, allen Tieren wäre es leichter in deiner Nähe, wenn du selbst besser und begeisterter wärest, und wenn auch nur um ein wenig mehr als sonst. Alles ist wie ein Ozean, sage ich euch. Wärest du besser, so würdest du auch zu den Vöglein beten, in Begeisterung und Verzückung, gequält von deiner allumfassenden Liebe, und du würdest bitten, daß sie dir deine Sünde verzeihen. Halte fest deine Begeisterung, wie sinnlos sie den Menschen auch scheine. Meine Freunde, bittet Gott um Fröhlichkeit, seid fröhlich wie die Kinder, wie die Vögel des Himmels. Und die Sünde der Menschen soll euch nicht bekümmern in eurer Tätigkeit, und fürchtet euch nicht, daß sie euch an der Vollendung eurer Tat hindern könnte, saget nicht: „Stark ist die Sünde, stark ist die Ehrlosigkeit, stark ist die schlechte Umgebung, wir stehen allein und sind machtlos, die schlechten Einflüsse werden uns verderben und uns an der Vollendung unseres guten Werkes hindern.“ Laßt solch eine Verzagtheit fern von euch sein, meine Kinder! Dafür gibt es nur eine Rettung. Mache dich selbst für die Sünden der Menschen verantwortlich. Ja, mein Freund, es ist in Wahrheit so, wenn du dich nur aufrichtig für alle und alles verantwortlich machst, so wirst du auch einsehen, daß es in der Tat so ist, daß du allen gegenüber für alle schuldig bist. Wenn du aber deine Faulheit und deine Ohnmacht den Menschen zur Last legst, so wirst du in satanischen Hochmut verf