Title: Das Weihnachtslied: Eine Erzählung für junge Mädchen
Author: Lina Walther
Release date: December 11, 2022 [eBook #69525]
Most recently updated: October 19, 2024
Language: German
Original publication: Germany: F. A. Perthes
Credits: Jens Sadowski, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1887 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.
Der Ausdruck ‚et cetera‘ wird im ursprünglichen Text mit Hilfe der Tironischen Note ‚Et‘ dargestellt. Da diese Note in vielen Zeichensätzen nicht enthalten ist, wird in der vorliegenden Fassung die im Deutschen gebräuchliche Abkürzung ‚etc.‘ verwendet.
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Das Weihnachtslied.
Eine Erzählung für junge Mädchen
von
Lina Walther.
Gotha.
Friedrich Andreas Perthes.
1887.
Ihren drei Nichten
Elisabeth Moeller
Hanna Pfeifer
und
Anna Moeller
gewidmet
von der
Verfasserin.
Seite
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1.
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Einleitung
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2.
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Jugendsonnenschein
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3.
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Sturm
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4.
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Not und Sorgen
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5.
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Suschen von drüben
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6.
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Die Urgroßmutter
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7.
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Muß man denn immer im Streit sein auf Erden
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8.
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Schwerer Abschied
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9.
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Bei Werners
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10.
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Noch eine neue Schule
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11.
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Auf eigenen Füßen
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Schluß
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[S. 1]
Die Adventszeit hatte begonnen. Am Morgen war der erste Schnee gefallen; jetzt erglänzte der Abendhimmel klar und rein; die mit den feinen Krystallen des Rauhreifs geschmückten Zweige hoben sich scharf ab von seinem leuchtenden Hintergrunde; vom nahen Rain herüber hörte man die Stimmen jubelnder Kinder, die zum erstenmal in diesem Jahre auf ihren Handschlitten die rasche, immer aufs neue beginnende Reise machten, vom Hügel zur darunter liegenden Wiese. Am Ende einer Lindenallee, die mit ihren feinen Zweigen ein besonders strahlendes Bild in der lichten Landschaft abgab, wenige Minuten nur von der kleinen Stadt entfernt, öffnete sich jetzt die Thüre eines großen, grauen Hauses, und mit leisem, fröhlichem Geplauder erschienen auf der Schwelle etwa 20 bis 25 jugendliche Gestalten, einige schon jungfräulich erscheinend, andere noch in der[S. 2] Kindheit stehend. Sobald sie die breite Freitreppe verließen, war es, als sei ein Trupp gefangener Vögel in Freiheit gesetzt worden: die älteren wanderten paarweis oder zu dreien plaudernd dahin; die jüngeren versuchten zu schlittern, und hie und da griff eine mit etwas scheuem Seitenblick nach den Fenstern des Hauses wohl auch nach einem Schneeball, eine fröhliche Kanonade zu beginnen. Da hörte man etwas lauter als gewöhnlich eine schlanke Blondine sagen: „Kinder (Kinder ist eine sehr oft gebrauchte Anrede zwischen Backfischen), sie ist reizend!“ Als ob das Signal zum Sammeln geblasen wäre, so flogen jetzt die Köpfe aller größeren Mädchen nach der Seite der Sprecherin; sie stand sofort von einem dichten Kreis umgeben, aus welchem immer wieder die Ausdrücke: „Entzückend! einzig! süß! zu lieb!“ zu hören waren.
„Ja“, rief eine kleine runde Braune, „es giebt nur eine Fräulein Feldwart. O, wie ist sie liebevoll! und so anmutig! Stundenlang kann man ihr mit Spannung zuhören; bei der alten Fräulein Klug wurde ich immer in der ersten Viertelstunde müde!“
„Was weiß sie alles“, rief eine andere, „wie erzählt sie, wie schön singt sie!“
Der Gegenstand dieser Begeisterung war die neue Lehrerin, Martha Feldwart, welche seit Ostern in die Schule[S. 3] der Frau W., für die alte, gebrechlich gewordene Fräulein Klug, eingetreten war.
Jetzt öffnete sich die Hausthüre noch einmal, und die schwärmerisch Verehrte erschien auf der Schwelle, in der Hand den Regenschirm und die Mappe mit den Zeichnungen, Noten und Büchern. Es war eine leichte, schlanke Gestalt, mit einem feinen, ein wenig blassen Gesichte, dessen dunkle Augen in lieblicher Freundlichkeit leuchteten, als die jungen Mädchen sie umdrängten, und von allen Seiten die Bitte ertönte: „Ach, lassen Sie mich Ihren Regenschirm tragen! Ihre Mappe, Fräulein Feldwart!“
„Laßt es mir nur“, sagte sie mit angenehmer, herzlicher Stimme, „ich kann es ja doch nicht allen zugleich geben.“
„Aber jeder ein kleines Stück, bitte, bitte!“ fing der Chor noch einmal an, und die Kühnsten hatten sich schnell in Besitz der fraglichen Gegenstände gesetzt.
„Trugt ihr Fräulein Klug auch immer die Mappe nachhaus?“ fragte Fräulein Feldwart.
Die Kinder blickten sich an mit wunderlichen Gesichtern; endlich sagte eine: „Ach, das hätten wir gar nicht gewagt; sie sah immer so böse aus, Fräulein Feldwart!“
„O“, erwiederte diese ernst, „sie ist gewiß immer recht müde und matt gewesen, die Arme! Wie schwer mag ihr[S. 4] der Unterricht bei ihren Schmerzen in letzter Zeit geworden sein. Nun hört! bis an die Ecke der Schustergasse dürft ihr mir die Sachen tragen, — wenn ihr es durchaus wollt; dann gebt ihr sie mir ohne Widerrede und laßt mich alleine nachhause gehn.“
Wenn Fräulein Feldwart so bestimmt sprach, war ihr nichts abzuhandeln, gar nichts! das wußten die Kinder. Die Schustergasse war schnell erreicht, und mit herzlichem Gruße trennten sich Lehrerin und Schülerinnen.
„Warum wir nicht weiter mitkommen sollen?“ fragte die kleine braune Helene.
„Ich glaube, ich weiß es“, rief die blonde Eva, „es ist von wegen der Klug, die wohnt mit ihr in einem Hause!“
„Hört!“ fing jetzt Agnes mit leuchtenden Augen an, „mir fällt eben etwas zu Schönes ein; sie ist noch so fremd hier; wir müssen ihr zu Weihnachten ein Bäumchen putzen, und jede von uns hängt eine kleine Arbeit daran.“
Begeisterung und Zustimmung von allen Seiten! Welch neuer Stoff zur Unterhaltung! An jeder Straßenecke gab es vor der Trennung noch eine lange Konferenz, und den Müttern wurde zuhause kaum Zeit gelassen, sich nach der ungewöhnlichen Verzögerung des Heimwegs zu erkundigen. Bevor noch das sonst so ersehnte Vesperbrot angerührt[S. 5] wurde, waren sie überschüttet mit den schönen Weihnachtsplänen, und die meisten von ihnen, froh über den beglückenden Einfluß der jungen Lehrerin, boten gerne die Hand zu ihrer Ausführung.
Indessen hatte Martha Feldwart das bescheidene Haus erreicht und die beiden Treppen erstiegen, welche zu ihrer einfachen Wohnung führten. Angenehm überrascht blieb sie einen Augenblick auf der Schwelle stehen; das Feuer im Ofen brannte schon und verbreitete eine behagliche Wärme; der Kaffeetisch war gedeckt, und die kleine Kanne stand in der Ofenröhre. „Die gute Fräulein Klug!“ rief die Eintretende gerührt, „da hat sie ’mal wieder alles für mich gethan, trotz ihrer steifen Glieder!“ Kaum hatte sie Hut und Mantel abgelegt, da eilte sie den Korridor entlang zum Stübchen der alten Kollegin, ihr Gruß und Dank für ihre Mühe und Sorgfalt zu bringen.
Es war eine krumme, gebeugte Gestalt mit einem Angesichte voller Runzeln und Falten, die dort im Lehnstuhl ruhte, und da sie viel an Gliederschmerzen litt, trugen ihre Züge einen leidensvollen, grämlichen Ausdruck; aber aus den Augen leuchtete es doch freundlich, als sie ihrer jungen Nachfolgerin die welke Hand entgegenstreckte: „Ich bin ja froh, Fräulein Marthchen, wenn ich noch ’mal was thun darf“, erwiderte sie auf Marthas warmen Dank.
[S. 6]
„Sie sollten herüber kommen und den Kaffee mit trinken!“ bat diese.
„Lassen Sie mich, liebes Kind! ich habe eben eine Lage gefunden, in welcher ich es ohne Schmerzen aushalten kann, und Sie müssen ja doch dann Hefte korrigieren; da können Sie keine Gesellschaft gebrauchen.“
„Ich sehe aber nachher noch einmal herein und helfe Ihnen ins Bett; das darf ich doch?“
„Gewiß“, lächelte die Alte, und die Jüngere kehrte in ihr ungemein sauberes, gemütliches Zimmer zurück.
„Ich will mir doch morgen Wolle mitbringen zu einem Tuch für sie“, sagte sie leise.
Schöne Adventszeit! Das Christkind ist nicht weit; seine Liebe dringt durch Paläste und Hütten, seine dienstbaren Geisterchen gehen von Haus zu Haus, von Herz zu Herz, erwecken Liebesgedanken, entzünden zu Liebesthaten: groß und klein, und alt und jung. Gar so schnell eilten Tage und Stunden dahin für alle die emsig schaffenden Hände; der Christabend erschien, bevor man sich dessen versah. Es war kein freundlicher Tag mit strahlendem Sonnenschein über der weißgekleideten Erde. Vom Morgen an tanzte der Schnee durch die Luft in so dichten Flocken, daß man kaum wenige Schritte weit sehen konnte; der Wirbelwind jagte ihn, schlug ihn an die Fensterscheiben,[S. 7] und trieb ihn den mühsam dahinschreitenden, vermummten Gestalten ins Gesicht, welche ihre letzten Weihnachtsbesorgungen machen wollten; er warf an den Straßenecken Schneeberge auf, als wollte er allen Verkehr hindern und hemmen; er entführte die leinenen Wände der Buden auf dem Weihnachtsmarkte, und dort an der Ecke, wo sie seiner Gewalt am meisten ausgesetzt waren, stürzten mit großem Krachen zwei Honigkuchenbuden um; der Besitzer schimpfte und rieb sich die Glieder, die etwas getroffen worden waren. Mit großem Hallo! und Heisa! eilte die Straßenjugend herbei, wühlte im Schnee und suchte verunglückte Honigkuchenmänner, Pfeffernüsse und Bonbons darunter hervorzuziehen. Der Mann wehrte, seine Frau drohte, aber es war ja Weihnachten! Ein sehr schlimmes Gericht erging nicht über die Eindringlinge, und manches arme Kind hielt in den kalten dunkelroten Händchen mit strahlendem Angesichte ein süßes Beutestück. Auch Martha hatte sich gegen Abend wohl vermummt noch einmal hinausgewagt mit einem Korb am Arme. Ihre Waschfrau war krank gewesen und erst seit wenigen Tagen wieder außer Bett; ihr trug sie etwas Lebensmittel und selbstgestrickte Müffchen und Strümpfe für die Kinder hin; viel konnte sie nicht erübrigen von ihrem kleinen Gehalt, aber es war ja Weihnachten! da mußte sie auch die Freude des Schenkens haben. Sie fand[S. 8] die Familie um ein Tannenbäumchen versammelt, an dem wenige Äpfel und Nüsse hingen und ein paar kleine Lichter brannten. Mit Jubel wurden ihre Gaben empfangen, und die Danksagungen aller folgten ihr, als sie von da den weiteren Weg zum Vespergottesdienst antrat. Es war ein rechtes Kämpfen gegen Sturm und Wetter; aber es war ja Weihnachten! Von rechts und links, aus kleinen Gassen und breiten Straßen eilten mit fliegenden Mänteln und Kleidern alte und junge Gestalten herbei, und als die kleine Kirche mit den lichtübersäeten, liliengeschmückten Weihnachtsbäumen die Wanderer in ihren Friedenshafen aufnahm, als ihnen entgegenklang: „Dies ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit; das Kind, dem alle Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit, und dieses Welt- und Himmelslicht weicht hunderttausend Sonnen nicht“; — da verstärkte der Gegensatz von drinnen und draußen das selige Gefühl, beim Christkind geborgen zu sein vor allem Weh und allem Leid des Lebens. Auch in Marthas empfängliches Herz drang der Strahl der Weihnachtssonne, auch sie empfand tief das: „Siehe, ich verkündige Euch große Freude!“ und erhoben und erquickt trat sie den Rückweg an. Er war weit leichter als der Hinweg; denn, als hätte auch der Sturm die Nähe dessen gefühlt, dem Wind und Meer gehorsam sind: es war ganz stille geworden[S. 9] draußen. Der Mond war durch die Schneewolken hindurchgebrochen; in seinem milden Lichte glänzten festlich die weißen Straßen und Dächer; hin und wieder ward jetzt ein Fenster hell und die Lichter des Christbaumes warfen ihren Schein hinaus auf die Straße. „Es ist doch schade, daß ich mir kein Weihnachtsbäumchen geschmückt habe“, dachte Martha als sie die enge, wohlbekannte Treppe hinaufstieg. Sie zündete ihre Lampe an und wollte eben das vollendete Tuch für die alte Nachbarin aus der Kommode nehmen, da hörte sie Flüstern und Schritte auf der Treppe; sie öffnete die Thüre, um zu leuchten, aber der Schein einer Laterne glänzte ihr entgegen, eine kleine weiße Hand schloß energisch die Thüre und eine liebliche junge Stimme sprach: „Ruhig drin geblieben, sonst bläst Ihnen das Christkind die Augen aus!“ Dann erklang, von wohlbekannten Stimmen gesungen, ihr Lieblingsvers:
Dann öffnete sich die Thüre, und welcher Anblick war schöner? Der grüne zierliche Baum mit brennenden Lichtern,[S. 10] goldenen Sternen und lieblichen Rosen, oder die hellen Augen, die von der Kälte geröteten Wangen und strahlenden Gesichter ihrer heißgeliebten Kinder? Die Thränen stiegen der Überraschten in die Augen; sie wußte selbst nicht, was ihr Herz jetzt am meisten bewegte; die himmlische oder die irdische Weihnachtsfreude, und sie konnte anfangs gar nichts weiter sagen, als: „Meine Kinder! meine lieben Kinder!“ und eine der zarten Mädchengestalten nach der andern in ihre Arme und an ihr Herz ziehen. Aber diese wünschten jetzt noch etwas anderes. Martha sollte auch die Arbeiten ihrer fleißigen Hände bewundern und sich über jedes der kleinen Geschenke einzeln freuen. Sie that es so gerne, aber mitten in dem fröhlichen Betrachten durchzuckte sie der Gedanke: „Ach, meine Klug! meine arme Klug!“ und die Kinder wußten nicht, warum sie auf einmal so still und nachdenklich zwischen ihnen stand und ein so wehmütiger Schatten über das Angesicht flog, dessen wechselnden Ausdruck ihre kindliche Liebe sonst so wohl verstand.
„Liebe Kinder“, sagte Martha endlich: „Wollt ihr mich nun ganz, ganz glücklich machen?“ Aller Augen hingen voll Spannung an ihren Lippen. „Seht, neben mir wohnt Fräulein Klug. Die hat nicht nur euch, sondern schon vor euch, euere Mütter unterrichtet und hat viel, viel mehr Anspruch auf euere Dankbarkeit als ich.[S. 11] Nichtwahr, wir tragen ihr das Weihnachtsbäumchen hinüber? Was gar nicht für sie paßt, das nehme ich mir herunter; aber die warmen Müffchen und den Ohrenwärmer und einiges andere, das lassen wir hängen; ist’s euch so recht?“ Ach nein! es war ihnen gar nicht recht; sie sahen recht niedergeschlagen und traurig aus. „Sie sorgt für mich, wie eine Mutter, und (hier wurde Marthas Stimme unsicher) ich werde auch ’mal alt und kränklich sein.“
Da wurde es unruhig in den jungen Herzen und Gewissen, und als die blonde Eva schüchtern sagte: „Ja, wenn es Ihnen so die meiste Freude macht, Fräulein Feldwart“, da stimmten die andern getröstet ein.
Die Jugend ist elastisch; die Kinder halfen nun selbst auswählen, was hier bleiben und was hinüber gebracht werden sollte, und gingen gern auf Marthas Wunsch ein, daß vor Fräulein Klugs Thüre nicht nur der erste Vers des schönen Weihnachtsliedes, sondern auch der siebente und der neunte gesungen werden sollte. Das wurde denn auch sehr schön ausgeführt; denn Marthas klare, sichere Stimme leitete den Gesang. „Faßt ihn wohl, er wird euch führen an den Ort, da hinfort euch kein Kreuz wird rühren.“ Das war der Schluß. Drinnen war es ganz still geblieben. Leise klopfte Martha und öffnete vorsichtig; da stand Fräulein Klug mitten im Zimmer, hielt sich an die Lehne ihres[S. 12] Stuhles; gewaltiger Kampf war in ihren Zügen, aber mit finster abweisendem Blicke sah sie auf die Kinder und den geschmückten Baum. Es fühlten in diesem Augenblick alle, Martha am tiefsten, daß sie der Einsamen ein zweifelhaftes Glück bereiteten, und keines konnte sogleich eine passende Anrede finden.
Fräulein Klug zeigte mit ihren dünnen Fingern auf Martha: „Sie hat es euch gesagt, und der Baum ist für sie, und in euere Gedanken ist das nicht gekommen!“
Die arme Martha wurde blaß und rot und kämpfte mit den Thränen; konnte denn, was der heiße Wunsch ihres Herzens ihr schneller eingegeben hatte, als sie sonst Entschlüsse zu fassen pflegte, wirklich so schlimm sein in seiner Wirkung? Wie schwer ist es, in solchen Lagen das befreiende Wort zu finden! Mitunter lehrt es die Liebe.
Evas Auge hatte fest an dem Gesicht der geliebten Lehrerin gehangen; jetzt zog tiefes Rot über ihre Wangen, sie trat zu Fräulein Klug, und sagte mit inniger Stimme: „Es war freilich sehr schlimm, liebes Fräulein, daß es uns erst gesagt werden mußte, wir wissen aber jetzt, daß wir sehr undankbar gewesen sind! Bitte, vergeben Sie es uns am heiligen Weihnachtsabend und nehmen Sie unser Bäumchen freundlich an, von uns oder von Fräulein Feldwart, von wem Sie es lieber wollen.“
[S. 13]
Da ging eine große Bewegung über das alte Gesicht: „Nein, Kinder! das Bäumchen, das habt ihr für Martha geputzt; das soll ihr Stübchen schmücken in den Feiertagen; ich komme schon hinüber und sehe es mir an; aber singt mir dann das schöne Lied noch einmal; das wird mir wohlthun.“
Der milde Ton ermutigte die Kinder, sie wurden jetzt ganz eifrig im Zureden: „Aber die Honigkuchen müssen Sie nehmen; meine Mutter hat sie selbst gebacken, und Fräulein Feldwart hat die andere Hälfte!“
„Und die Müffchen!“
„Und die warmen Handschuhe!“
Das alte Herz war erweicht; dies und jenes nützliche Stück blieb in ihren Händen; teils konnte sie den bittenden Kinderaugen nicht widerstehen, teils nahm sie es ihrer jungen Gefährtin zuliebe. Nun ward das schöne Lied noch einmal gesungen, das alte Fräulein gab ernst aber freundlich jedem Kinde die Hand; der Tannenbaum wurde wieder in Marthas Zimmer getragen; dann eilte das junge Voll nachhause, dem eigenen Weihnachtsbaum und der Bescherung der Eltern entgegen.
Martha aber ging mit ihrem Tuche noch einmal zu ihrer alten Freundin hinein. Als sie es ihr um die Schultern legte, fiel aus dem jungen Auge eine Thräne[S. 14] auf die alte runzelige Hand. Sie sprachen beide nicht; Martha setzte sich auf einen Schemel der Alten zu Füßen; diese legte ihre Hand auf den reichen braunen Scheitel und erst nach einer Weile sagte sie: „Ich war recht schlecht; es war ja so natürlich, und Sie meinten es so gut, Marthchen! Aber es ist auch schwer, wenn man einmal jung war und tüchtig und geliebt, und nach und nach fühlt man, daß die Kräfte schwinden, und daß man seinen Platz nicht mehr ausfüllen kann! Wenn man dann beiseite geschoben wird und vergessen, da giebt es einen harten Kampf um Demut und Geduld und um Liebe! Gott schenke Ihnen ein leichteres Los, mein liebes Kind!“
Marthas Herz war zu voll zum reden; der Mond schien ins Zimmer; sie saßen beide eine Viertelstunde still in seinem milden Lichte; da hörte Martha die alte Freundin leise sagen: „Faßt ihn wohl, er wird euch führen an den Ort, da hinfort euch kein Kreuz wird rühren.“ Sie merkte, daß ihre Seele dahingegangen war, wo man des Menschentrostes gern entbehrt und am liebsten allein ist; so ging sie hinüber in ihr Stübchen.
Die Lichter am Tannenbaum brannten noch; sie waren aber sehr kurz geworden; mitunter entzündeten sich einzelne Tannennadeln und sandten ihren einzigen, lieben Weihnachtsduft durch das Zimmer. Wem bringt dieser Duft nicht[S. 15] die süßesten Bilder aus seiner Jugendzeit mit? Martha saß mit gefalteten Händen, ihr Herz war bewegt. Süße und schmerzliche Gedanken zogen durch ihre Seele; die Erinnerungen ihres ganzen Lebens gingen an ihrem inneren Auge vorüber. Die Gedanken haben schnellere Flügel als Wolken und Winde; eine kurze halbe Stunde genügte für die Reise durch ihr Leben. Wir, meine liebe junge Leserin, gebrauchen längere Zeit, wenn wir sie auf derselben begleiten wollen, und ich bitte dich dazu um deine freundliche Aufmerksamkeit und um ein wenig Geduld.
[S. 16]
Im Herzen einer deutschen Residenzstadt lag das stattliche Haus des Kommerzienrat Feldwart. Es erschien nicht als Palast, sondern als geräumiges Wohnhaus; es war von außen nicht überladen mit Schmuck, aber geschmackvoll und harmonisch in seinen Formen. Hinter den hohen hellen Spiegelscheiben fielen reiche Gardinen herab, dazwischen erblickte man prächtige, ausländische Gewächse mit ihrem mannigfachen Grün, und wer den Hausflur betrat, dem sagte die feine Mosaikarbeit des Fußbodens, die köstlichen bronzenen Flurlampen, von Statuetten gehalten, der weiche Teppich, der die Stufen der Treppe bedeckte, das stilvolle Geländer aus Schmiedeeisen und die schweren, eichenen, polierten Thüren an beiden Seiten, daß er sich im Hause des Reichtums befand. Dies schöne Haus ward bewohnt von dem wohlwollend aber ernst aussehenden Hausherrn,[S. 17] seiner etwas starken aber elegant und vornehm erscheinenden Frau, und Martha, der einzigen Tochter beider, dem schönen, fröhlichen und klugen Mädchen, das noch nicht lange aus den Kinderschuhen herausgetreten war, und, wie man es zu nennen pflegt, diesen Winter in die Welt eingeführt werden sollte. Ja, wollte denn Martha wirklich in die Welt? War sie ein Weltkind, das nur am Irdischen Freude fand? O nein! Marthas Seele war jedem höheren geistigen Interesse offen; die Eltern hatten sich bemüht, ihr die besten Lehrer zu geben, die wertvollsten Bücher in ihre Hände zu legen; wo es etwas Nützliches und Gutes zu hören gab, da mußte Martha dabei sein, und als die Zeit ihrer Einsegnung gekommen war, war sie einem treuen Seelsorger anvertraut worden; dem war es, da sein eigenes Herz in aufrichtiger Liebe zu Gott und dem Heilande brannte, leicht geworden, in dem empfänglichen Kinderherzen die gleiche Flamme anzufachen. Martha ging, auch nachdem sie den Unterricht verlassen hatte, gern und freudig zur Kirche; sie las andächtig in Gottes Wort und ihren schönen Erbauungsbüchern, sie sang mit Begeisterung fromme, geistliche Lieder und hob mit kindlichem Sinne morgens und abends ihre Hände betend auf. Aber Martha ging auch eben so gern ins Konzert und Theater, Martha zog sich auch gern hübsch an und hatte Geschmack darin, schnell[S. 18] auszuwählen, was für sie paßte; denn stundenlanges Beschäftigen mit Toilettengegenständen war ihre Sache eben nicht; Martha tanzte auch gerne. Es war so sehr der natürliche Ausdruck der Jugendkraft und Jugendlust, wenn sie nach dem Rhythmus der Musik durch den glattgebohnten Saal flog, und es brauchte zu ihrem Vergnügen gar kein Ball zu sein; wenn die Mutter einen Walzer spielte, nahm sie ihr kleines, weißes Seidenhündchen auf den Arm und tanzte fast mit noch größerer Lust durch das Zimmer, wie in der größten Gesellschaft.
Sie mußte auch in ihrer Art fleißig sein, denn ihre Zeit war sehr besetzt; es gab noch französische und englische Stunde; einen italienischen Abend, Klavier- und Singunterricht, Gesangverein, Vorlesungen, Lesekränzchen, Proben und Konzerte — jeden Tag etwas anderes. Dazu kam eine angenehme Geselligkeit. Langeweile kannte sie nicht; es war ihr nur zuweilen, als ob dies vielerlei sie abhielte, das einzelne so gründlich zu treiben, wie sie es gerne gethan hätte; aber Gott hatte ihr einen klaren Kopf, gute Anlagen und frische Kräfte gegeben, und so schwamm sie doch eigentlich in den Wellen dieser verschiedenen Eindrücke wie ein Fischlein im Wasser oder ein Vogel in der Luft, mit glücklichem Herzen und fröhlichem Angesichte; brauchten ihr doch all die Arbeiten und Mühen des alltäglichen[S. 19] Lebens, die man zusammen Wirtschaft nennt, keine Sorge zu machen; die ruhten sicher in den Händen einer wohlgeschulten Dienerschaft und waren in den behaglichen Wohnzimmern, in denen sich Martha bewegte, nur wenig zu merken. Der einzige Wunsch, der ihrem jungen Herzen unerfüllt geblieben, war der: o, hätte ich doch Geschwister! Sie hatte Bekannte, viele Bekannte; sie nannte sie Freundinnen; aber sie hatte ein Gefühl davon, die wahre Freundschaft müßte noch anders, noch tiefer und reicher sein. O, dachte sie oft: eine Schwester, ein Bruder wäre mehr als sie alle!
Der Vater Feldwart war oft sehr versunken in seine Geschäfte, die Mutter eine stille, bequeme Dame; da war ihr der Wunsch nach jugendlicher Gesellschaft nicht zu verdenken und siehe, seit einigen Jahren war auch diese ins Haus gekommen und hatte ihr einen großen Zuwachs an Lebensfreude mitgebracht. Der Vater hatte einen einzigen Jugendfreund gehabt, einen Doktor Kraus; der war Arzt in einem Provinzialstädtchen und lebte dort, seit Gott ihm seine Frau genommen, ganz der Erziehung seines einzigen Sohnes Siegfried. So lange er rüstig war, hatte er sich jedes Jahr einige Wochen frei gemacht und sich an irgendeinem schönen Ort im Gebirge, bald im Harz, bald im Thüringer Wald, bald im Schwarzwald, mit der Feldwartschen[S. 20] Familie zur Sommerfrische vereinigt, und dies war für beide Freunde, sowie für ihre wilden fröhlichen Kinder stets eine ersehnte und genußreiche Zeit; der schlank aufgeschossene Siegfried war dann der Ritter der kleinen Martha, und da er um 6 Jahre älter war als sie, galt er als ihr Beschützer auf allen Wegen. Aber schon seit Jahren hatte Herr Kraus nicht mehr reisen können; ein schweres inneres Leiden fesselte ihn zuerst ans Haus, dann an sein Lager, und niemand wußte besser als er, daß es ihn seinem Ende entgegen führte. Sein Freund Feldwart hatte ihn auf seinem Schmerzenslager noch einmal besucht und ihm das Versprechen gegeben, sich nach seinem Tode des verwaisten Sohnes anzunehmen. Als nun das erwartete Ende eintrat, erhielt Herr Feldwart mit der Todesnachricht zugleich ein Schreiben des Entschlafenen, welches die Pläne und Wünsche desselben für die fernere Laufbahn seines Siegfried enthielt. Ein Bruder des Doktor war als junger Mann nach Amerika gegangen und hatte dort in Missouri verschiedene landwirtschaftliche Etablissements und Fabriken angelegt. Er war ein sehr begüterter Mann, und da er unverheiratet geblieben war, wünschte er dringend, daß Siegfried zu ihm kommen, ihm in seiner Thätigkeit beistehen und schließlich sein Erbe werden möge. Für den jugendlichen Siegfried, so ungern er sich von seinem Vater trennte, hatte die Aussicht[S. 21] auf dies fremde Land und die unbekannten Verhältnisse etwas Verlockendes; Herr Kraus fühlte, daß seine Lebenszeit bald verflossen sein würde, er konnte Siegfried nur ein kleines Erbe hinterlassen; so machte er nur die Bedingung, daß dieser erst seine Ausbildung in Deutschland vollenden, einen praktischen Kursus in der Landwirtschaft durchmachen, seiner Militärpflicht genügen und einige Jahre in der Hauptstadt Kollegien über Physik, Chemie und andere dahin einschlagende Wissenschaften hören sollte. Die praktische Landwirtschaft hatte er noch beim Leben seines Vaters erlernt; seit dem Tode desselben war er in B., und wenn er auch nicht bei Feldwarts wohnte, brachte er doch fast alle seine freie Zeit daselbst zu; und wie er sich mit Martha als Kind gejagt hatte und mit ihr über den Graben gesprungen war, so teilte er nun gern ihre ernsteren Beschäftigungen, las mit ihr gute englische und deutsche Bücher, begleitete ihre liebliche Singstimme auf dem Klavier, oder mit seinem kräftigen, gut geschulten Baß. Die Eltern wurden es kaum gewahr, daß aus den Kindern Leute geworden waren, und sie selbst hatten bis dahin einen so geschwisterlichen Ton, wenn sie zu einander sprachen, daß sowohl die Dienerschaft des Hauses, als auch die Freunde desselben den unbefangenen Verkehr durchaus natürlich fanden.
[S. 22]
Seit dem Frühjahr hatte Siegfried seine Studien vollendet, machte sein Militärjahr durch und kam nach dem Manöver als braungebrannter, wohlbestallter Unteroffizier bei Feldwarts an. Martha empfing ihn höchst fröhlich. Wenn ihm auch das Dienstjahr weniger freie Zeit ließ, — einige Mußestunden gab es immer, und sie hatte ihm soviel mitzuteilen — soviel neue Bücher, soviel schöne Lieder, die sie nun mit ihm zusammen einstudieren wollte. Auch Frau Feldwart war ganz die Alte; aber nicht ohne Grund hingen ihre Augen zuweilen mit Besorgnis an den welken, eingefallenen Zügen und matten Augen ihres Mannes. Er klagte nicht viel; er mochte nicht einmal leiden, daß man über seinen Zustand sprach. Der Arzt sagte: „Er hat angegriffene Nerven, er muß ins Seebad!“
Der Kranke lächelte grämlich: „Ich werde alt, das ist alles!“
Martha hatte noch nichts Schweres erlebt; sie tröstete sich: Es wird schon wieder anders werden! Für jetzt kam die schöne Adventszeit, brachte Arbeit für ihre Hände und freundliche Beschäftigung für ihre Gedanken; wenn Siegfried Kraus kam, hatte sie ihm immer allerlei neue Pläne mitzuteilen oder kleine Aufträge zu geben.
„Sehen Sie nur, Siegfried!“ sagte sie eines Abends, „Mama hat mir nun wirklich die schöne Rokoko-Kommode[S. 23] von der Urgroßmutter geschenkt, die ich so lange schon gern haben wollte; ich habe all meine kleinen Überraschungen eingeräumt. Dabei habe ich noch eine Menge Briefe, Papiere und Stammbuchblätter gefunden; auch auf ganz gelbem Papier ein Weihnachtslied; das können wir gleich zusammen einüben!“
Wann hätte jemals Siegfried „Nein!“ gesagt, wenn sie um etwas bat? Das Lied wurde zweistimmig gesungen und klang gar rein, frisch und andächtig von den jungen Stimmen. Am heiligen Abend kam Siegfried zeitig; Frau Feldwart hatte noch in der Bescherstube zu thun, der Kommerzienrat im Geschäft.
„Wie werde ich übers Jahr Weihnachten feiern“, fragte Siegfried ernst.
Marthas Herz wurde ganz schwer, und in ihren Augen standen Thränen. Sie hatte die Trennung nur immer in weiter Ferne gesehn, hatte vielleicht auch heimlich gehofft, es sollte noch etwas dazwischen kommen; nun war sie so nah! Es kam ihr vor, als wären auf einmal alle Blumen in ihrem Garten verhagelt; sie konnte sich gar kein Leben mehr denken ohne Siegfried. Aber am heiligen Weihnachtsabend durfte man doch nicht weinen. „Kommen Sie, Siegfried!“ sagte sie, „ehe die Eltern fertig sind zur Christvesper, können wir noch einmal Urgroßmutterchens Lied singen!“
[S. 24]
Sie sangen:
Die Eltern standen schon in der Thüre, als der letzte Ton verklang; die Mutter war zum Ausgehen angekleidet, Herr Feldwart hatte Thränen in den Augen: „Ich will lieber hier bleiben“, sagte er, „ich habe etwas Kopfweh!“
Martha war schnell in ihren hübschen Winteranzug gehüllt. Siegfried ging mit den Damen zur Kirche. Aus der nächsten Hausthüre trat Frau Geh.-Rat D., und schloß sich ihnen an. Man hatte erst eine Droschke nehmen wollen, aber die Sterne glänzten so freundlich, die Winterluft wehte frisch, und es war noch zeitig; da ließen sich die älteren Damen gern bereden, den Weg zu Fuße zurückzulegen. Sie gingen voraus, Siegfried und Martha hinter ihnen; der Weg führte eine ganze Strecke weit am Rande des Parkes hin; hier war es verhältnismäßig still und einsam.
„Martha“, sagte Siegfried, „wir haben’s nun so oft gesungen; ‚Nun will ich gern gering und klein, Herr, dir zu Lieb und Ehren sein‘, und: ‚Nun gilt mir arm und reich sein gleich‘; ich möchte wissen, ob das so ganz und gar Ihr Ernst ist!“
[S. 26]
„Natürlich“, sagte sie, und schlug die Augen zuversichtlich zu ihm auf.
Das war ja gewiß; sie hatte in ehrlicher Begeisterung das Lied mit ihm gesungen, aber: was dachte sie sich wohl unter: arm sein? Was man gar nicht kennt, das fürchtet man nicht. Statt Sammet und Seide Wolle tragen, statt Kaviarsemmeln nur Butterbrot essen; in einer recht reizenden rosenumrankten Hütte wohnen — warum denn nicht? Es fragte sich nur, mit wem?
„Sehen Sie, Martha“, fuhr er fort (sie begegneten jetzt einer Schar lärmender junger Leute, und er legte ihren Arm in den seinigen): „Sehen Sie, den ganzen Tag ist mir so weh gewesen bei dem Gedanken, daß ich so weit von Ihnen fort soll, als könnte ich das gar nicht ertragen. Wenn Sie wirklich möchten klein und arm sein, vielleicht brauchten wir uns nicht zu trennen; vielleicht könnte ich die liebe kleine Hand in meiner behalten ein ganzes Leben lang.“
Wie glückselig blitzten Marthas Augen auf; aber es war nur ein rascher Blitz, ein tiefer Schreck verscheuchte den leuchtenden Ausdruck: „Aber Siegfried! meine Eltern, und Amerika!“
„Darüber sein Sie ruhig, Martha, ich denke, es soll gehen ohne den Oheim in Missouri.“
[S. 27]
Martha dachte nach: „Sie meinen, der Vater könnte uns hier ein Gut kaufen?“
„Nein, Martha, das nicht! Das wäre sehr unbescheiden gedacht und ganz gegen meine Ehre. Wissen Sie, ich denke es mir so: Ein kleines Vermögen besitze ich selbst; jetzt ist die Pacht vom Rosenhof frei; ich besah das Gut neulich, als unser Regiment in der Nähe rastete; die Verhältnisse sind sehr günstig; wenn mir Ihr Vater mit einem mäßigen Vorschuß und seinem Kredit helfen wollte, daß ich es übernehmen könnte, und wir fingen dann recht klein und fleißig an, und wenn wir leidlich gute Jahre hätten, zahlten wir es nach und nach ab; das sollte doch wohl gehen!“
„Rosenhof!“ herrlicher Name! „Gutsfrau sein, und seine Gutsfrau!“ entzückender Gedanke! Sie sah sich schon im rosa Satinmorgenrock mit frisurenbesetzter Schleppe, feinem Morgenhäubchen, weißer gestickter Batistschürze, den blanken Fülllöffel in der Hand zwischen lauter weißen, rahmbedeckten Milchsatten stehen, und als er fragte: „Nun Marthchen, wie ist es, willst du es mit mir wagen?“ da sah sie ihn glückselig an und drückte leise seine Hand; sie konnte auch weiter nichts sagen, denn die Kirche war erreicht, und der volle Orgelton klang ihnen entgegen.
Ob die beiden heute Abend sehr, sehr andächtig waren?[S. 28] Glücklich und hoffnungsvoll waren sie und trugen auch dem lieben Gott immer wieder ihren Herzensdank und ihre stillen Wünsche vor; aber die echte rechte Weihnachtsfreude war heute nicht in ihren Herzen. Auf dem Heimwege gesellten sich Bekannte zu ihnen, da konnten sie wenig reden. Nur bat Martha: „Sage heute Abend dem Vater noch nichts; er kann niemals schlafen, wenn er sich abends aufregt; komme lieber morgen nach der Kirche“.
Sie kamen nachhause; der Weihnachtsbaum beleuchtete reiche, köstliche Gaben, vier strahlende Augen und zwei glückselige Herzen. Morgen, morgen sollte es offenbar werden, was heute geknüpft war! Kein Zweifel trübte ihre Freude; wußten sie sich doch beide gleich geliebt von dem Elternpaar. So schön, so schön war es bisher gewesen, nun sollte es noch viel, viel schöner sein. Kam denn in dieser Nacht kein dunkler Traum, um die beiden, die bisher im Maiensonnenschein gewandelt waren, vorzubereiten auf das erste schwere Gewitter?
[S. 29]
Der Kommerzienrat Feldwart saß in seinem Lehnstuhl, als Siegfried gegen Mittag bei ihm eintrat; zum erstenmal fiel diesem die bleiche, tonlose Farbe und die Schlaffheit der Züge seines väterlichen Freundes auf. Müde öffnete derselbe die halb geschlossenen Augen, aber als er Siegfried erkannte, flog ein freundliches Lächeln über das welke Gesicht: „Tritt näher, lieber Siegfried, du störst mich nicht!“
Siegfried trat näher, er nahm auch auf einen Augenblick den ihm gebotenen Stuhl; aber als er von seiner Liebe zu Martha anfing zu sprechen, da stand er vor dem Vater, eine schöne, kräftige jugendliche Gestalt, die wohl geeignet schien, ein zartes Mädchen zu stützen.
Herr Feldwart mochte Ähnliches denken; er sah ihn mit wehmütigem Wohlgefallen an, als sein warmes Herz die Worte rasch und fließend über die Lippen trieb, aber er[S. 30] unterbrach ihn bald mit demselben Schreckensruf, wie gestern die Tochter: „Aber Siegfried: Amerika!“
„Herr Feldwart“, sagte dieser, „ich denke, wenn Sie mir nur ein wenig mit Rat und That beistehen wollen, so wird es ohne den Oheim in Missouri gehen!“
„Kindskopf!“ rief der alte Herr ungeduldig, schob seinen Stuhl zurück, ging einigemal mit großen Schritten heftig durchs Zimmer und blieb dann vor Siegfried stehen, „Kindskopf! willst du deine ganze Zukunft einem Mädchen opfern, das noch ein Kind ist und noch gar nicht weiß, was es thun oder lassen soll? Da wird nichts daraus, mein Lieber!“
„Ich denke, Martha weiß, daß sie mich lieb hat, das ist mir genug. O bitte, hören Sie mich an, Herr Feldwart; der Oheim in Missouri schrieb seit meines Vaters Tode nicht wieder; er wollte mich damals bestimmen, sogleich zu ihm zu kommen; ich schlug ihm das ab, vielleicht mit etwas kurzen Worten. Er wird sich indessen andere Hilfe gesucht haben, und es widersteht mir, hinüber zu gehen und mich ihm anzubieten, gewissermaßen in der Absicht, ihn zu beerben; ich kann dies erwarten und möchte mir weit lieber hier durch meine eigene Thätigkeit eine Existenz gründen.“
„Sehr großartig“, sagte der Kommerzienrat ein wenig ironisch, „und wie, wenn ich fragen darf?“
[S. 31]
Da kam denn wieder Rosenhof zutage.
„Verstehen Sie mich nicht falsch; ich möchte keinerlei Ansprüche an Ihre Hilfe machen; aber Martha und ich lieben uns sehr. Wenn Sie mir mit einem kleinen Vorschuß und Ihrem Kredit helfen wollten, könnte ich das Gut übernehmen. Martha und ich würden sehr fleißig und sparsam sein und es nach und nach abtragen; Sie wissen, ich bin kein schlechter, leichtsinniger Wirt, und ich habe das Meinige gelernt, und Martha will mir gerne dabei helfen.“
„Ist auch ganz dafür erzogen, versteht recht viel von der Wirtschaft“, fuhr der Vater auf.
Er hatte während Siegfrieds Worten das Zimmer ruhelos durchmessen; dennoch war dem Jüngling der Wechsel der Farbe auf seinem Gesichte, der Ausdruck von Kampf und Qual in seinen Zügen nicht entgangen. Jetzt standen sie sich gegenüber.
Herr Feldwart war totenbleich aber ernst und gefaßt: „Ich kann Ihnen nicht helfen, Siegfried! und ich werde es nicht thun, auch nicht mit einem einzigen Pfennig; das Beste ist, ihr seht euch gar nicht wieder!“
„Das ist nicht Ihr Ernst, das können Sie nicht wollen?“
„Siegfried, du weißt, was ich deinem Vater versprochen habe; du weißt, wie ich dich lieb gehabt habe diese ganze[S. 32] Zeit; Gott weiß, daß es mir schwer wird! ich kann es dir auch nicht erklären, später wirst du es einmal verstehen: Siegfried, dies ist mein letztes Wort! Ich werde niemals, niemals meine Erlaubnis zu deiner Verheiratung mit Martha geben; ich werde dir keinen Heller vorstrecken zur Übernahme von Rosenhof; wenn du mich nicht töten oder um meinen Verstand bringen willst (der Arme sah aus, als sei dies sehr leicht möglich), so verlasse jetzt das Haus, sieh Martha nicht wieder, lege das Weltmeer zwischen dich und sie, da wirst du ruhiger werden.“
„Und Martha?“ fragte Siegfried tonlos.
„Martha“, sprach der Kommerzienrat, und es klang wie Schluchzen in seiner Stimme, „Martha ist jung, es geht nicht anders, Siegfried!“
Siegfried liebte, aber Siegfried war auch stolz; er wandte sich und ging zur Thüre, und der Vater, hingesunken in den Lehnstuhl, bleich und zitternd, hörte ihn die Treppe hinunterstürmen und das Haus verlassen.
Martha saß indessen mit heißen Wangen neben der Mutter, der sie ihr süßes Geheimnis anvertraut hatte; sie lauschten beide auf des Vaters Ruf; auch die Mutter zweifelte nicht an der glücklichsten Lösung; jetzt kamen eilige Schritte über den Korridor; Martha flog auf, wie sie glaubte dem Geliebten entgegen. Er stürmte vorüber. Sie[S. 33] hörten die Hausthüre sich öffnen und schließen, sie sahen ihn fortstürmen, ohne sich umzusehn: „Ach Mutter, liebe Mutter, was ist das?“
Frau Feldwart war eben so bestürzt als Martha. Als eine halbe Stunde lang in des Vaters Zimmer kein Ton zu hören war, ging sie leise zu ihm hinein. Martha saß mit angehaltenem Atem; es schien ihr eine Ewigkeit vergangen zu sein, bevor die Mutter zurückkam. Sie sah blaß und verweint aus, setzte sich neben Martha, nahm ihre Hände und sagte: „Mein gutes, armes Kind, du mußt dich darein finden; dein Vater hat dem Siegfried nein gesagt. Ich verstehe es nicht, ich verstehe es gar nicht; aber er muß sehr ernsthafte Gründe haben; er ist selbst so erschüttert, ich fürchte, es wird ihm schaden.“
Martha starrte die Mutter an und schüttelte ganz langsam den Kopf: „Es kann ja nicht sein, es kann ja gar nicht sein!“
Sie saßen eine Weile starr und stumm.
„Martha“, sagte die Mutter nach einiger Zeit, „versprich mir eins: sei jetzt ruhig und quäle den Vater nicht; ich fürchte, es steht nicht zum besten um seine Gesundheit; ihr seid beide noch jung, Siegfried hat dich sehr lieb. Wenn die Hindernisse, welche zwischen euch liegen, überwunden werden können, so überwindet er sie mit der Zeit; es ist[S. 34] irgendetwas dabei, was ich nicht begreife. — Hörst du, Martha? füge dich und quäle den armen Vater in diesen Tagen nicht!“
Martha versprach es unter heißen Thränen. Der Gedanke, Siegfried werde alles versuchen, ihre Hand zu erlangen, war ihr tröstlich. Das Wiedersehn mit dem Vater erschütterte beide sehr; er drückte sie immer wieder ans Herz: „Mein armes Kind, es geht ja nicht anders! Martha, sei ruhig! mach mir das Herz nicht noch schwerer!“ Er sah so unsäglich elend aus, daß Martha wirklich den Versuch machte, sich äußerlich zu bezwingen. Langsam und trübe schlich die Festwoche dahin; die geplanten Vergnügungen wurden abgesagt mit dem Bemerken, daß Herr Feldwart unwohl sei. Die Freunde, welche ins Haus kamen, fanden Frau Feldwart nur etwas ernster als sonst, und Martha ließ sich nicht sehen.
Mit den Neujahrskarten kam ein Brief von Siegfried:
„Meine liebe Martha!
„Da mich Dein Vater abgewiesen hat, ohne mir auch nur die geringste Hoffnung zu lassen, so eile ich nun dahin, wo ich sicher glaube, mir so viel zu erwerben, daß ich, so Gott will, später mit größerem Rechte vor ihn hintreten und meinen Wünschen Geltung verschaffen kann. Bis dahin behüte Dich Gott: ich will kein Versprechen und gebe Dir[S. 35] keins, aber, daß ich Dich fort und fort lieben werde wie heute — das weiß ich! Der Vater meines Freundes und Kameraden, General W., war mir behilflich, meine hiesigen Verpflichtungen schnell zu lösen, und wenn Du diese Zeilen liesest, bin ich bereits auf dem Wege nach Bremen, wo ich mich einschiffen will nach meiner neuen Heimat. Sei tapfer und hoffe, meine liebe Martha, wie Dein betrübter, treuer Siegfried Kraus.“
Einen Augenblick war sie glücklich; es war ja ein Lebenszeichen von ihm; im andern wurde es ihr klar: er war ja fort, weit fort! Wie lange würde sie ihn nun nicht sehen, vielleicht nicht einmal von ihm hören; es war ihr, als wäre ihr ganzes Jugendglück, aller Sonnenschein und jede Hoffnung ihres Lebens mit ihm eingeschifft und zöge von ihr fort in unabsehbare Ferne. Sie weinte — weinte, als sollte ihr das Herz brechen. Dann bezwang sie sich, so lange sie bei den Eltern war; aber abends in ihrem sonst so trauten Stübchen, da brach der Schmerz aufs neue aus. Sie wollte sich Trost suchen, sie holte ihre Bibel, aber die Worte verschwammen vor ihren umflorten Augen; sie dachte des Weihnachtsliedes: „Ich bin zum Leid nun auch bereit, da du es durch dein Leid geweiht!“ Aber dies Leid war ja zu schwer, an solche Trübsal hatte sie dabei nicht gedacht. Sie suchte ihr Lager; vor acht Tagen war sie so glückselig[S. 36] eingeschlafen; konnte man denn in einer Woche so unglücklich werden? Das Kopfkissen war naß von ihren Thränen, und Mitternacht war lange, lange vorüber, da erst trat mit leichtem, leisen Schritte der Schlummerengel ins Zimmer und deckte sie und ihren heißen Schmerz mit seinem kühlen, weichen Flügel zu.
Als Martha am andern Morgen erwachte, drang schon das Morgenlicht durch die halbgeöffneten Jalousieen. Wie schwer ist das Erwachen, wenn über Nacht das ganze Leben eine andere Gestalt angenommen hat. Langsam und mechanisch kleidete sie sich an zu einem Leben ohne ihn und ohne Freude. Daß es unten im Hofe unruhiger war als sonst, hörte sie anfangs nicht, und als sie es wahrnahm, schob sie es auf die vorgerückte Tageszeit. Ihr Zimmerchen lag nach dem Hofe heraus; an der gegenüber liegenden Seite desselben zogen sich die Comptoirräume hin. Als sie die Fenster öffnete, fiel ihr eine hohe, kräftige Männergestalt in die Augen, welche mit eiligem Schritt ins Geschäftslokal trat: „Onkel Konsul, so früh am Morgen?“ Der erste Buchhalter lief mit Briefen hin und her; einige der jungen Kaufleute, die sonst um diese Zeit fest im Comptoir saßen, standen im eifrigsten Gespräche mitten im Hof; das Bild war ganz anders, als sie es sonst zu sehen gewohnt war, eine unbestimmte Sorge stieg in ihrem Herzen auf, und sie[S. 37] eilte ins Frühstückszimmer. Hier war keine Veränderung zu bemerken, als daß die Mutter sie mißmutiger als gewöhnlich begrüßte.
„Es ist heute ein ungemütliches Frühstücken“, sagte sie. „Der Vater ist schon seit einer Stunde fort; er hat nicht einmal seine Tasse Kaffee ausgetrunken, und nun kommst du so spät! Ich dachte schon, du kämest gar nicht mehr.“
„Ich schlief so spät ein“, sagte Martha betrübt, „und beim Papa ist schon Onkel Konsul zum Besuch.“
„Onkel Konsul? Was muß der wollen? Der kommt ja sonst doch nicht so früh!“
Konsul M. war ein Vetter der Frau Feldwart und der nächste Freund ihres Mannes. Sie sollten nicht lange auf die Erklärung warten, schon nach einer halben Stunde erschien der Erwähnte mit ganz ungewöhnlich ernstem, feierlichem Gesichte, schnitt die Begrüßung seiner Cousine kurz ab, setzte sich zu den Damen und sagte: „Ich habe euch leider eine sehr ernste Mitteilung zu machen, ihr Lieben.“
„Ist Papa krank?“ rief Martha und eilte zur Thür.
„Nein, Martha, bleib! Er ist sehr angegriffen, aber krank ist er bis jetzt nicht. Ihr versteht nichts von Geschäften, aber das wißt ihr, daß in London zwei große Handelshäuser gefallen sind. Es waren Häuser, mit denen Feldwart in fortwährender Verbindung stand, und es trafen[S. 38] ihn infolge davon Verluste auf Verluste. Doch hatte er bis gestern immer noch einige Hoffnung, daß er sie ausgleichen und seine Handlung retten könne. Ein Brief am heutigen Morgen zeigt ihm den Fall einer Firma in Hamburg an, mit welcher er noch viel enger verbunden war. Es ist nun keine Hoffnung mehr, daß er sich halten kann, und er schickte zu mir, daß ich ihm helfen soll, alle die schlimmen Schritte zu thun, welche nötig sind bei der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit.“
Frau Feldwart saß auf ihrem Stuhle und starrte den Sprecher an, als könnte sie nicht fassen, was er sagte.
Martha sprang auf: „Mein Vater! mein lieber Vater! ich muß zu ihm!“
In diesem Augenblick trat er herein, von seinem alten Kutscher geführt — ein Bild des Jammers! Der alte Johann setzte ihn in seinen Lehnstuhl und einen Augenblick verließ ihn das Bewußtsein; eine tiefe Ohnmacht umschleierte seine Sinne; unter Marthas Bemühungen kam er wieder zu sich. Sie kniete neben ihm und stützte seinen Kopf, als er allmählich sich seiner Umgebung bewußt wurde. Er sah sie schmerzlich an: „Mein Kind, mein armes Kind! verstehst du es nun? ich durfte ihn ja nicht mit hineinziehen; ich versprach seinem Vater, für ihn zu sorgen.“
Ja, sie verstand alles; aber ihr ganzes Herz bebte jetzt[S. 39] nur im Mitgefühl mit dem Vater, der in wenigen Stunden ein Greis geworden war. Er fing jetzt an zu weinen, zu weinen wie ein Kind. Martha hatte ihn noch nie weinen sehen. Sie netzte seine Schläfen mit wohlriechendem Wasser, sie holte Wein vom Frühstückstische und nötigte ihn zu trinken. Arme Martha! Ein wenig Beruhigung für sein Herz wäre die beste Medizin gewesen. Die Mutter konnte ihm diese nicht geben, sie saß noch immer stumm und rang die Hände; aber sein Freund trat zu ihm und sagte: „Feldwart, willst du die ganze Sache in meine Hände legen? Willst du mir Vollmacht geben, mit deinen Gläubigern zu unterhandeln und Verträge abzuschließen?“
„Ja, M., ich danke dir tausendmal!“
Die gerichtliche Vollmacht wurde noch an demselben Morgen ausgestellt, und es zeigte sich bald, daß dies gut war, denn es stellte sich beim Kommerzienrat ein schlummerartiger, fieberhafter Zustand ein; er mußte zu Bett gebracht werden und fing an zu phantasieren. Martha verlebte acht schwere und sorgenvolle Tage und Nächte an seinem Lager, nur unterstützt von dem treuen, alten Johann. Frau Feldwart ging ab und zu, ordnete auch wohl dieses und jenes an; aber es schien, als sei in dem furchtbaren Augenblicke, da die Stütze des Reichtums in ihrer Hand zerbrach, alle Ruhe und Haltung von ihr gewichen. Sie[S. 40] ging von Zimmer zu Zimmer, stand hier einmal am Fenster und dort einmal und starrte ins Leere; sie sah keinen Zielpunkt für ihre Augen, keinen Stab, an dem sie sich halten und aufrichten konnte. „Arm, arm, ganz arm!“ hörte man sie immer wieder sagen.
Es war der Vermittelung und Fürsorge des Konsuls zu danken, daß für jetzt noch die Wirtschaft im alten Gange blieb.
Am neunten Tage saß Martha des Morgens an ihres Vaters Bett, als er die Augen matt aufschlug: „Wo ist die Mutter?“
Sie trat im selben Augenblick herein.
Einen Augenblick sah der Kranke beide freundlich an, dann ging eine Erschütterung über sein Gesicht: noch ein leiser Seufzer, ein Zittern, und er war aller Angst und Not entrückt. Aber für die Seinen begann sie in doppelter Weise. Bis zum Begräbnis gelang es dem Konsul, die Ruhe um die beiden Trauernden zu erhalten; sie waren sehr verschieden, diese beiden! Bei der Mutter mischte sich die Angst vor der drückenden Lage, welcher sie entgegenging, so sehr mit der Trauer über den Verlust ihres Gatten, daß all’ ihre Klagen mit Bitterkeit gemischt waren und sie zu einer reinen, wohlthuenden Empfindung ihres Schmerzes gar nicht kommen konnte, noch viel weniger zu dem Entschluß,[S. 41] irgendeinen Plan für ihre Zukunft zu entwerfen. Martha fühlte, wenn sie an ihren zärtlich geliebten Vater dachte, eine solche Beruhigung, ihn aller Not entrückt zu wissen, daß ihre Thränen oft recht sanft und lind flossen; sie fühlte auch Mut für die Zukunft, sie hatte den ernstlichen Willen, ihrer verzagten Mutter das Leben nicht schwer, sondern leicht zu machen, zu tragen, zu arbeiten, so viel sie konnte, aber freilich: über das Wie? war sie ganz im unklaren; hier hoffte sie ganz auf den Beistand des Onkel Konsul, und dieser wurde ihnen ja auch nach Möglichkeit zuteil. Kaum war das Begräbnis seines Freundes vorüber, als er bei den betrübten Frauen eintrat, um ihnen ihre Verhältnisse klar darzulegen und über ihre nächste Zukunft zu beraten. Das Vermögen der Frau Feldwart war ganz mit im Geschäft gewesen und nicht zu retten. Aber der Verstorbene hatte in sehr hoher Achtung bei seinen Berufsgenossen gestanden; so kam den Bemühungen seines Freundes von allen Seiten viel guter Wille entgegen, und es wurde dadurch möglich, nach dem Vergleich mit den Gläubigern eine kleine Summe zu erübrigen, von welcher die Witwe, mit einer Leibrente, welche sie besaß, notdürftig leben konnte; auch wurde ihr auf demselben Wege so viel an Hausrat und Wäsche zugestanden, als sie zur ersten Einrichtung notwendig brauchte.
Das war ja klar, daß die Verwaisten sich einen kleineren[S. 42] und billigeren Wohnort suchen mußten. Frau Feldwart war auf einem großen Gute erzogen in der Nähe der nicht ganz unbedeutenden Kreisstadt H., die freundlich zwischen Feldern, Wiesen und baumreichen Gärten lag. Konsul M. kannte dort einen älteren Beamten, dem er den Auftrag gab, eine bescheidene Wohnung zu mieten, auch dort am Orte ein Mädchen zu besorgen, da bei der ganzen bisherigen Lebensweise der Frauen nicht zu hoffen war, daß sie sich ohne ein solches behelfen könnten. Es kam denn auch bald die Nachricht, daß beides geschehen sei. So wurde mit des alten, betrübten Johanns Hilfe und unter Leitung des Onkels Konsul der Möbelwagen gepackt, und die Frauen durften abreisen, bevor das schöne Haus mit seiner trauten, prächtigen Einrichtung unter den Hammer kam.
Konsul M. brachte seine Verwandten zur Bahn; Frau Feldwart sah starr, bleich und unglücklich aus, sie hatte in den letzten Tagen kaum ein Wort gesprochen; Martha hing weinend an des Vetters Halse. Nun saßen sie im Coupé, langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Die Mutter schloß die Augen, während Marthas umflorte Blicke jeden lieben, bekannten Gegenstand gleichsam noch einmal mit Liebe umfaßten, bevor sie sich von ihm losrissen. Dort entschwanden die Straßen, in denen sie so fröhlich gewandelt war; da in der Ferne die Linden, unter deren Schatten[S. 43] der Vater schlummerte; hier die Bäume, unter denen Er, ach, vor so kurzen Wochen, ihr gesagt, daß er sie liebe; er wußte nicht, daß sie ins Elend zog; ihn trugen jetzt die Meereswellen hinaus, weit hinaus, einer glänzenden Zukunft entgegen! Wenn er es gewußt hätte, wie es um ihren Vater stand — er wäre nicht gegangen! Er durfte es niemals, niemals erfahren; er mußte dort im fernen Westen glücklich werden. Und sie? ach, sie kam sich vor wie ein losgerissenes Blatt, ratlos, kraftlos, willenlos vom Sturm der Zukunft entgegengetrieben. Hilfesuchend falteten sich ihre Hände und unwillkürlich kamen ihr die Worte auf die Lippen, die sie zuletzt mit ihm gesungen:
[S. 44]
Johann war abgereist, nachdem unter Marthas Leitung und mit seiner treuen Hilfe die kleine Wohnung in möglichst behaglichen Stand gebracht war. Er hatte noch Holz und Kohlen herbeigeschafft, hatte dem Mädchen sämtliche Wirtschaftsgeräte, Eimer, Besen und Bürsten mit den eindringlichsten Ermahnungen übergeben, und dann mit tausend Segenswünschen und heißen Thränen von seiner Herrschaft Abschied genommen. Mutter und Tochter saßen in der freundlichen, behaglich durchwärmten Wohnstube und überblickten ihr neues Reich; Martha nicht ohne das befriedigende Gefühl, durch ihren Geschmack ein so nettes Ganze geschaffen zu haben; die Mutter immer noch traurig und still. Die Wohnung lag in einem Hinterhause; aber nur die Fenster von Küche und Speisekammer öffneten sich nach dem nicht ganz kleinen und völlig sauberen Hof; die beiden Wohnstuben[S. 45] boten die freundlichste Aussicht auf einen reich mit Bäumen bepflanzten, jetzt freilich unter weißer Schneedecke ruhenden Grasgarten, und dicht hinter demselben floß ein klarer Bach durch Ellerngebüsch, welches das dahinter liegende Feld zum Teil verdeckte.
„Ist es nicht ganz nett, liebe Mama?“ fragte Martha sanft.
„Es ist ja gut so“, sagte diese in einem so gleichgültigen, traurigen Tone, daß es Martha schwer wurde, die Thränen niederzukämpfen.
Freilich: Vergleiche durfte man ja nicht anstellen mit den Räumen, die noch vor so kurzer Zeit sie umfangen hatten. Die Zimmer waren niedrig, die Fensterscheiben klein; es fehlte die Fülle herrlicher Blumen und Blattpflanzen, es fehlten die weichen, dicken Teppiche am Fußboden, die schweren, sammetnen Übergardinen, die reichen Tischdecken, reizenden Statuetten und Kronleuchter; außer einigen Familienphotographieen war die Wand nur von einem einzigen Bilde geschmückt, einem guten Kupferstich der Sixtinischen Madonna, welchen Herr Feldwart seiner Frau zu ihrem letzten Geburtstage geschenkt und Onkel Konsul für sie aus dem Zusammensturz gerettet hatte; aber es war durch Johanns Aufmerksamkeit doch auch noch einiges Freundliche mit hergekommen, das wohl imstande war, die Umgebung heimisch[S. 46] zu machen. In seinem gewöhnlichen Messingbauer hing über Marthas Nähtisch ihr kleiner, lieber Kanarienvogel; um die Bilder ihrer Eltern schlang sich, neu aufgebunden, der selbstgezogene Epheu, und unter dem Tische lag auf seinem alten Polster Ajax, das weiße Seidenhündchen. Er schlug jetzt an, man hörte die Küchenthür gehen.
„Mama“, sagte Martha, „Thekla wird jetzt hereinkommen; möchtest du ihr nicht Bescheid sagen?“
„Ich kann nicht, thue du das, Martha!“
Thekla erschien. Es war ein hübsches, gutgewachsenes Mädchen mit lebhaften Augen und gewandten Bewegungen, und jedenfalls älter als Martha. Diese stand ihr schüchtern gegenüber. Ach, sie war sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit nur zu sehr bewußt; ihre Fragen nach den Leistungen der Gemieteten kamen nur zögernd über ihre Lippen; die Antwort desto frischer und dreister aus Theklas Munde: „Ja, ich kann alles, reinmachen, kochen und waschen.“
Dies klang tröstlich; zuerst sollte sie einholen, was nötig war.
„Bringen Sie Brot, Butter, Suppenfleisch und irgendeinen hübschen Braten; bekommen Sie kein Geflügel, so nehmen Sie Filet!“
„Wie viel denn, Fräulein?“
„Ach, Sie werden ja sehen, ein Stück, das für uns paßt.“
[S. 47]
Thekla erinnerte noch an einige dringende Bedürfnisse; es wurde eine lange, lange Liste, und als das Mädchen fort war, fühlte Martha erschrocken, wie leer ihr Beutelchen geworden war.
„Mama“, begann sie nach einer Weile schüchtern, „müßten wir nicht doch einmal berechnen, wie viel wir eigentlich jede Woche ausgeben dürfen?“
Frau Feldwart hielt sich den Kopf: „Ich kann gar nichts; rechne du!“
Sie hatte ihrem großen Haushalte in ihrer Weise pünktlich und ordentlich vorgestanden, aber sie hatte stets über sehr große Summen zu verfügen gehabt; sie konnte es sich gar nicht denken, wie es möglich zu machen sei, mit so wenigem auszukommen; dazu war das Unglück so unerwartet über sie hereingebrochen; ihre Leibes- und Seelenkräfte waren wie gelähmt.
„Hier im Buche steht alles“, sagte sie.
Martha nahm das Buch und rechnete, rechnete, bis ihr der Kopf heiß war, aber ach, sie kam zu keinem Resultat. Wenn sie nur hätte teilen dürfen in 12 Monate oder 52 Wochen; aber da war so vieles, das kam nur einmal im Jahre.
Die Miete, ja, das stand hier: 300 Mark; Kohlen hatte Johann gekauft: 20 Ctr. Kohlen 17 Mark, 1 Meter[S. 48] Holz 7 Mk. 50 Pf.; aber was konnte ihr das helfen? Hatte sie denn eine Ahnung, wie lange diese Portion reichen würde? Dies arme Kind fühlte tief ihre Unzulänglichkeit. Ach, es war gewiß noch vieles auszugeben, an das sie jetzt gar nicht dachte; also mit dem Einteilen ging es heute noch nicht! Sie versuchte es auf eine andere Weise; sie überlegte: „Wie kann ich sparen? Natürlich, Gesellschaften geben wir jetzt nicht; Schmuck, Bilder, Noten, Bücher dürfen wir nicht anschaffen; aber sonst haben wir zuhause doch einfach gelebt: es gab nach der Suppe nur zwei Gerichte und ein Dessert. Ein Gericht werden wir wohl streichen müssen, vielleicht auch das Dessert; aber ihren Tischwein muß Mama natürlich behalten; wenn ich nur eine Ahnung hätte, was die einzelnen Sachen kosten! Wenn mir doch nur Mama etwas helfen wollte; ach, es ist so schwer, so schwer! Mein Siegfried, mein armer, lieber Papa, ich habe nicht einmal so viel Ruhe, an euch zu denken!“
Sie hatte ja den besten und treuesten Willen, ihre Schuldigkeit zu thun und trotz ihrer doppelten Trauer einen reichen Springquell jugendlicher Frische und Thatkraft in ihrem Herzen. Aber wie sehr wurde derselbe auch in Anspruch genommen! Thekla zeigte wohl am ersten Morgen, daß ihr die Hausarbeit nicht völlig fremd war, auch brannte nach langen, vergeblichen Bemühungen endlich das[S. 49] Feuer in Stube und Küche. Aber nun sollte gekocht werden! Ach, da wurde es klar, daß weder Fräulein noch Mädchen auch nur den entferntesten Begriff von dieser Kunst hatten.
„Aber Thekla, Sie sagten doch, Sie könnten kochen, sieden und braten!“
„Nun ja, Fräulein, für uns zuhause; da kommt alles zusammen in einen Topf, der wird morgens in die heiße Asche gesetzt, da kocht sich’s ganz alleine. Aber hier, da ist noch nicht einmal ein Aschenloch, nur ein Ofen, da verstehe ich nichts von!“
Da war guter Rat teuer. Wenn nur Martha irgendjemanden hätte fragen können! Halt! eine Freundin ihrer Mutter hatte ihr einmal das Kochbuch von Henriette Davidis geschenkt; das fand sie endlich nach langem Suchen und studierte darin Bouillonsuppe und Lendenbraten. Aber es ist mit der Kochkunst eine eigene Sache; wo alle Erfahrung und Anschauung fehlt, gerät es auch nach dem besten Buche nur mangelhaft, und wer all’ die kleinen, nötigen Handgriffe nicht übte, dem geht die Arbeit sehr langsam von statten. Das Feuer meldete sich verdrießlich, weil eine Hand darüber kam, die es noch niemals geschürt hatte; der Ofen rauchte, weil eine Klappe geschlossen war, die geöffnet sein wollte; und als nach langen, schweren Mühen nichts weniger[S. 50] als pünktlich das Mittagsbrot auf den Tisch kam, schmeckte es jedenfalls ganz anders als in B., und Frau Feldwart, die ohnehin wenig Appetit hatte, legte verdrießlich ihren Löffel hin und schaute mit entsetzten Blicken auf die große Menge Suppe und den noch größeren Braten, welche eine sehr unliebsame Wiederholung auf morgen versprachen.
„Wir haben heute wirklich zu viel gekocht“, dachte Martha. Sie wollte ja gern den Kopf oben behalten und sah es als ihre Aufgabe an, der Mutter eine Stütze zu sein; hätte ihr ein erfahrenes und treues Mädchen zur Seite gestanden, so würde sie vielleicht die Schwierigkeiten überwunden haben. Aber ach! von ihrer Hauswirtin aufmerksam gemacht, mußte sie bald entdecken, daß Thekla kein redliches Mädchen war, und als einmal in der Nacht Frau Feldwart nach Kaffee verlangte und Thekla geweckt werden sollte, um Feuer zu machen, zeigte es sich, daß sie zum Tanze gegangen war und das Haus offen gelassen hatte. Hiervon mußte Frau Feldwart erfahren.
„Sie darf nicht bei uns bleiben“, sagte sie, „schon um des Hauswirts willen dürfen wir sie nicht behalten.“
Martha sah dies ein; sie fühlte, daß sie nicht die Erfahrung besaß, welche dazu gehört hätte, das Mädchen auf besseren Weg zu bringen, und so ging am anderen Morgen Thekla, und Martha sah ihr halb mitleidig, halb schmerzlich[S. 51] bewegt nach mit dem demütigenden Gedanken: „Ich konnte ihr gar nichts sein; ach, ich taste ja auch noch im Dunkeln umher, und Gott mag geben, daß ich meinen Weg finde. Es ist eigentlich gut, wir können ohne sie sparsamer sein!“
Es zeigte sich bald, wie nötig das war; Martha hatte gar nicht gedacht, daß zum Leben so viel Bedürfnisse gehörten; das Geld verschwand unter ihren Händen. Sie wollte sich bei der Mutter Rat und Anweisung holen, aber die war innerlich wie gebrochen und schüttelte nur den Kopf: „Thu, was du willst!“ Ach, da kamen für die Tochter auch recht mutlose, dunkle Stunden. Nein, arm und reich sein galt ihr gar nicht gleich! In der Phantasie war das recht schön, in der Wirklichkeit um so bitterer.
[S. 52]
Sie mußte sich nun ermannen und die Arbeit allein angreifen. Herr Reinhold, ihr Wirt, hatte ihr versprochen, Erkundigungen nach einem Mädchen oder einer Aufwärterin einzuziehen, aber sie auch darauf vorbereitet, daß es einige Tage dauern könne, bevor sich Hilfe fände.
„Es schadet auch nichts, Fräulein! Der Laufbursche holt Ihnen Kohlen und Wasser und kann auch in der Stadt was mit besorgen.“
Das war nun recht dankenswert, aber dennoch blieb eine große Sorgenlast auf Marthas Herzen, und sie stand recht traurig in der Küche und musterte die Reste vom vergangenen Tage, ob sich vielleicht ein Mittagsbrot daraus zusammensetzen ließe; da klopfte es an die Küchenthür, und als Martha dieselbe öffnete, erschien in ihrem Rahmen ein Frauenkopf, braun gebrannt von der Sonne, mit hundert[S. 53] kleinen Fältchen gezeichnet; das weiße Haar schimmerte nur wenig hervor unter einem neuen, karrierten Kopftuche, das, am Hinterkopfe regelrecht gebunden, in zwei gleichen, glatten Zipfeln nach beiden Seiten abstand, und mitten aus den freundlichen Zügen leuchtete ein ungemein helles, strahlendes Augenpaar die verwunderte Martha an: „Ach, ist’s denn möglich? nein, gar nicht verändert, noch ganz und gar wie sonst, mein liebes, liebes Fräulein!“
Marthas Verwunderung stieg: „Wen suchen Sie denn eigentlich, liebe Frau?“
„Aber, mein Fräulein Riekchen, oder meine liebe Frau Feldwart, kennen Sie mich denn nicht? Es sind ja nun wohl schon ein- oder zweiundzwanzig Jahre, daß wir nicht zusammengekommen sind; aber Ihre alte Trude, die sollten Sie denn doch wohl nicht vergessen haben.“ Martha fing an zu begreifen. Trude! den Namen hatte sie von ihrer Mutter oft nennen hören; sie lächelte: „Ja, was vor zweiundzwanzig Jahren war, kann ich freilich nicht wissen; ich werde im Sommer erst achtzehn. Sehe ich vielleicht aus wie meine Mutter damals aussah?“
Nun war das Lachen an der Alten.
„Ach freilich, freilich, Kind, accurat so! Wo dachte ich auch hin? Und die Sprache, wie Sie sich ’rumdrehen und alles! Sehen Sie, gleich wie ich aus der Schule kam,[S. 54] wurde ich bei ihr Kindermädchen; ich habe sie auf meinen Armen groß getragen, dann nachher war ich Zimmermädchen auf dem Gute. Als sie zum erstenmal zu Gottes Tische ging, da habe ich ihr das schwarze Kleid angezogen und an ihrem Hochzeitstage Kranz und Schleier gesteckt; ach, was war sie eine schöne Braut! All’ die Jahre daher habe ich mich gesehnt, sie einmal wiederzusehen. Nun sagte mir neulich der alte Herr, der die Wohnung hier gemietet hat, daß der Herr Vater tot ist und daß sie hierhergezogen ist, weil es ihr schlecht geht. Na, dachte ich, da mußt du hin, Trude, da mußt du hin! Ach, nicht wahr, Fräulein, ich darf mit meiner alten Herrschaft sprechen?“
Es wurde der Martha feucht in den Augen und weich um das Herz; sie war sich eben noch so grenzenlos verlassen vorgekommen, setzt sah sie wieder ein wenig Licht und Hilfe. Sie ging hinein zur Mutter: „Mama, deine alte Trude ist da; nicht wahr, du läßt sie hereinkommen? sie würde sonst zu traurig sein.“
Frau Feldwart sah erst sehr erschrocken aus; aber all’ ihre Jugenderinnerungen wurden lebendig; Trudens Güte und Treue spielte darin eine große Rolle. Nein, die konnte sie nicht abweisen — sie nickte still und traurig mit dem Kopfe.
Trude setzte ihre Kiepe in der Küche nieder, breitete[S. 55] sorgsam ihren dunkelblauen Mantel darüber und trat ins Zimmer. Frau Feldwart wollte ihr entgegengehen.
„Ne, bleiben Se sitzen, bleiben Se ruhig sitzen, mein liebes Fräulein Riekchen, und nehmen Sie es nicht für ungut, daß ich komme. Ich hörte, daß der liebe Gott Sie so geprüft hat, und da mußte ich doch ’mal nach Ihnen sehen. Wenn Sie als kleine Krabbe zu mir geweint kamen, da konnte ich Sie wohl leichte trösten, und jetzt mag das ja schwer sein; aber unsereiner kann doch sagen, daß man Anteil nimmt, und solche alte Bekannte, wie wir sind, die sprechen sich doch gern ’mal aus.“
Frau Feldwart reichte der Alten die Hand und winkte ihr, sich zu setzen: „Ja, Trude, wir sind sehr unglücklich geworden.“
„Nu, meine liebe Frau Feldwarten: welche der Herr lieb hat, die züchtiget er; ich habe es auch erfahren. Ich habe einen Mann und zwei Söhne begraben, und habe mich durchschlagen müssen mit drei schwachen, kleinen Mädchen; da weiß ich wohl, wie Ihnen das zu Sinne ist.“
„Ach, Trude, es ist zu schwer: mein Mann tot und alles mit ihm zusammengebrochen; nun in Armut sitzen und nicht wissen, wovon man am andern Tage leben soll, und das arme Kind, die Martha, ach Gott, ach Gott!“
Es waren die ersten Worte der Klage, die über Frau[S. 56] Feldwarts Lippen kamen, so lange sie hier war; es waren die ersten Thränen, die jetzt über ihre Wangen stürzten seit ihres Mannes Tode; sie kamen nun wie ein unaufhaltsamer, nicht endenwollender Strom. Trude stand leise auf, nahm den Kopf ihrer ehemaligen Herrin in ihren Arm, wie sie es gethan hatte, als dieselbe noch ein Kind war, und strich mit ihrer welken Hand sanft über das ergrauende Haar.
„Ja, weinen Se nur, weinen Se nur, Frau Feldwarten — immer zu! Die Thränen hat uns der liebe Gott gegeben; die fließen ab aus dem Herzen, wenn es zu voll wird, daß es nicht bricht, und glauben Sie nur, der liebe Gott hilft schon durch. Der Reichtum hat seine Freuden und seine Lasten, und die Armut hat ihre Freuden und ihre Lasten; die Hauptsache ist, daß der liebe Gott mit seiner barmherzigen Hand immer dazwischen ist; hat doch der Heiland auch nicht im Schlosse gewohnt, sondern im Stalle; ich meine, da ist’s noch lange nicht so fein gewesen wie hier in der Stube.“
Martha war hereingekommen, das Wort traf sie tief! Die Alte sah, daß die Thränen ihres Pflegekindes sanfter flossen — sie stand auf.
„Darf ich denn ’mal wieder kommen, Frau Feldwart?“
„Ach, Trude, komme ja, so oft du kannst; aber wo wohnst du denn eigentlich und was treibst du?“
[S. 57]
„Ach, mir geht’s jetzt ganz gut; zwei von meinen Töchtern sind verheiratet, die älteste ist in recht guten Verhältnissen, die jüngste dient auf dem Amte, und mir hat der Herr Amtmann das Häuschen beim Thore gegeben, wo sonst der alte Boten-Ferdinand wohnte; ich thue die Botengänge nach L. und nach hier; ich bin glücklich auf meine alten Tage.“
Frau Feldwart sah hinaus; der Februarsturm peitschte den Regen gegen die Scheiben.
„Aber bei solchem Wetter gehst du auch? Wirst du da nicht krank?“
Die Alte lachte: „Ach, das wird man alles gewohnt. Sehen Sie, beim Schmied wird die Hand hart, daß er keine Hitze mehr fühlt, und beim Tischler wird die Hand hart, daß ihm der Hobel nicht mehr weh thut, und bei mir da ist nachgerade das ganze alte Fell hart geworden, daß mir Wind und Wetter nichts mehr anhaben kann; man glaubt nicht, was sich alles lernt im Leben.“
Sie ging; Martha begleitete sie, um ihr den Korb mit aufheben zu helfen; sie erzählte ihr das Unglück mit dem Mädchen, und die Alte versprach ebenfalls, ihre Augen und Ohren danach aufzuthun.
„Jetzt aber, Fräulein, jetzt müssen Sie mir noch die Liebe thun und die zwei Paar jungen Tauben annehmen;[S. 58] bei meiner Kathrine sitzen sie über dem Kuhstall, da brüten sie bald.“
Martha dankte herzlich, aber sie faßte die Thierchen mit einem ängstlichen Blick auf Trude.
Diese lachte: „Ach so! das Fräulein hat gewiß noch keine geschlachtet; da will ich die Köpfe nur gleich noch abreißen — so! Nun behüte Sie der liebe Gott, und halten Sie Ihren jungen, hübschen Kopf oben, daß die Mutter keine betrübten Gesichter sieht, es geht alles in der Welt mit der Gotteshilfe.“
Martha war ganz mit ihr einverstanden im tiefsten Innern, besonders was die großen Sorgen des Lebens betraf; wie es jetzt aber weiter gehen sollte mit ihrer Wirtschaft und speziell mit diesen zwei Paar Tauben, das war ihr sehr unklar. Für das Große, meinte sie, da könnte man doch den lieben Gott recht anrufen, aber für solche Lappalien, die man noch dazu durch seine Dummheit verschuldet hat, da erschien es ihr fast, als dürfte sie es nicht. Zunächst, das schien ihr gewiß zu sein, mußten die Tauben gerupft werden; sie setzte sich auf den Rand des Küchentisches dicht ans Fenster und begann die ungewohnte Arbeit. Es ging sehr langsam; sowie sie sich bemühte, etwas schneller vorwärts zu kommen, riß die feine Haut ein; dazu war ihr das Herz so schwer. Was sie schon längst bedrückt hatte, das war[S. 59] ihr heute vor dem leeren Kohlenstalle zur Gewißheit geworden; sie hatte schlecht gewirtschaftet, und ihre Gelder mußten zu Ende sein, bevor dieser Monat zu Ende war; vor dem ersten April war nichts Neues zu erwarten, und sie quälte sich mit dem Gedanken, wie es bis dahin werden sollte; sie hatte sich zusammengenommen diese ganze Zeit; jetzt tropfte langsam eine Thräne nach der anderen herab aus ihren Augen, und sie mußte immer wieder die Arbeit sinken lassen, um diese zu trocknen. Ohne es zu wissen, hatte sie dabei zwei teilnehmende Zuschauerinnen. Der Feldwartschen Küche gegenüber lag die Küche der großen Wohnung im Vorderhause; dort hatte Martha bis gestern neben dem Dienstmädchen nur eine schlanke Dame wirtschaften sehen, und zuweilen bemerkt, daß die Blicke derselben freundlich und teilnehmend auf ihr ruhten. Heute zeigte sich neben der Dame ein junges, behendes Mädchen, ohngefähr in Marthas Alter. Als Martha von ihrer Arbeit aufblickte, sah sie die junge Gestalt am Fenster stehen, und als sie nach einiger Zeit zum zweitenmale hinsah, grüßte dieselbe freundlich, und Martha dankte ihr. Jetzt bemerkte sie, wie Mutter und Tochter — das waren sie sicher — eifrig miteinander sprachen: die Mutter lachte, die Tochter verschwand, und einige Minuten später klingelte es an Feldwarts Korridorthür.
[S. 60]
Als Martha öffnete, stand das junge Mädchen mit hocherrötendem, verlegenen Gesichte ihr gegenüber: „Ach, verzeihen Sie, ich bin ja nur das Suschen von drüben.“
Martha wollte ihr die Zimmerthür öffnen.
„Ach bitte, nein! ich kann ja nicht ins Zimmer, so wie ich bin!“ sagte Suschen und lachte, indem sie auf ihren Morgenrock und ihre blaugedruckte Küchenschürze zeigte. Martha dachte, daß die zierliche Gestalt mit dem glatten, blonden Köpfchen, den klaren, blauen Augen und Grübchen in den Wangen an jedem Platze hübsch aussehen müßte, aber Visitenkostüm trug sie freilich nicht.
„Ich wollte, ach, wenn es nicht unbescheiden ist, ich wollte Ihnen Tauben rupfen helfen.“
Martha streckte ihr beide Hände entgegen: „Wie freundlich, wie sehr freundlich ist das! Wenn Sie mir zeigen wollen, wie es am besten anzufangen ist, so werde ich Ihnen sehr, sehr dankbar sein; ich bin noch so gar dumm in solchen Sachen.“
„Und ich“, lachte das Suschen, „bin vorigen Sommer schrecklich klug darin geworden, denn ich war bis vorgestern bei der Tante Pastor in S., die hatte einen großen Taubenschlag; da gab es zu manchen Zeiten mehr Tauben, als uns lieb war: einen Tag Frikassee und den andern Tag Suppe und den dritten Braten. Alt und jung und Kind und Kegel[S. 61] mußte dann rupfen, und als ich vorhin sah, wie Sie sich damit quälten, da konnte ich’s nicht aushalten und lief herüber.“
Während dieser Erklärung waren sie in der Küche angelangt; Suschen sah sich einen Augenblick darin um: „Jetzt müssen wir uns auf zwei Stühle nebeneinander setzen, damit meine Küchenschürze für uns beide ausreicht; Ihr dünnes, weißes Schürzchen taugt dazu nichts, Fräulein Feldwart.“
„Ich heiße Martha“, sagte diese lächelnd.
„Nun also, Martha, kommen Sie und machen Sie mir alles nach.“
Martha sah einige Zeit mit Verwunderung zu, wie die Federn unter Suschens runden Fingern verschwanden, dann ließ sie sich erklären, worauf es ankam, und da sie von Natur nicht ungeschickt war, eiferte sie bald der jungen Gefährtin nach. Als sie nun auch mit schnelleren Bewegungen an die gefährliche Stelle unter dem Flügel kam, gab es freilich noch einmal einen großen Riß, der wurde diesmal aber nicht beweint, sondern herzlich belacht.
„Ich bin so froh, daß ich endlich glücklich hier bin“, sagte Suschen. „Sehen Sie, mein Vater ist Direktor an dem Gymnasium hier, seine Kollegen haben alle nur ganz kleine Kinder, da fürchtete ich mich ordentlich, nachhause zu[S. 62] kommen, denn bei der Tante waren viel junge Mädchen. Mama schrieb mir vor vierzehn Tagen schon, daß Sie hier eingezogen wären, und ich habe die ganze Zeit Pläne geschmiedet, wie ich zu Ihnen gelangen wollte; nun sind die lieben Tauben so gefällig und vermitteln es.“
„Können Sie auch Tauben ausnehmen und zurecht machen?“ fragte Martha zaghaft.
„Freilich“, versicherte Suschen, „soll gleich geschehen: Wann sollen sie denn gegessen werden? Heute doch nicht mehr, sie sind ja noch warm!“
Martha wurde verlegen: „Ich war aber so froh, daß ich etwas zu Mittag hatte!“
„Na“, tröstete Suschen, „es geht am Ende auch. Wenn Sie nur ein wenig Spiritus im Hause haben, brennen wir sie damit ab; die Tante sagt, das thäten sie immer in Karlsbad, wenn die Hähnchen eine Stunde vor dem Essen noch umherliefen. Dann nehmen Sie heute wenigstens nur zwei und kochen sie zur Suppe, und morgen braten Sie die anderen; für zwei Personen reicht das ganz gut.“
Jetzt wollte Martha Feuer unter der großen Platte anbrennen.
„Haben Sie denn keinen Petroleumkocher?“ fragte Suschen. „So ein großes Feuer für zwei Tauben ist doch schade!“
[S. 63]
Martha hatte keinen.
„Ich hole so lange unseren herüber, damit Sie nur erst ’mal sehen, wie hübsch das ist, und dann, wenn Sie es erlauben, werde ich die Mama fragen, ob ich nicht hier erst einmal mit fertig kochen darf.“
Martha sprach ihre Freude über diesen Gedanken aus: „Ich will ja alles so gern lernen“, sagte sie, „aber ein wenig Anleitung muß man doch haben.“
Wie gemütlich war es ihr, dieselbe von einer so lieblichen Altersgenossin zu empfangen! Als Suschen weggegangen war, erschien Frau Feldwart in der Küche.
„Wer war bei dir?“
„Das Suschen von drüben.“
„Wer ist das?“
„Ach Mama, hier unser vis à vis; sie hatte gesehen, daß ich nicht Tauben rupfen konnte, da kam sie und zeigte es mir; sie will mir auch kochen helfen.“
Frau Feldwart schüttelte den Kopf. Die schnelle Freundschaft war ihr sehr verwunderlich; aber sie hatte Martha zum erstenmale wieder lachen hören, und ihr Mutterherz lebte noch, wenn es auch jetzt im Banne der Traurigkeit lag.
„Woher hast du die Tauben?“
„Trude hat sie gebracht von ihrer Tochter, die hat einen Taubenschlag.“
[S. 64]
Suschen kam jetzt wieder und Frau Feldwart zog sich zurück.
„Ich habe mir etwas ganz Reizendes ausgedacht“, sagte die kleine Nachbarin, „und meine Mama hat nichts dagegen: ich will Ihnen, wenn Sie es erlauben, früh jetzt immer ein wenig helfen; da kommen sie nach und nach in Übung und ich nicht heraus; darf ich das?“
Sie sah Martha so lieblich bittend an, daß diese sie gerührt umarmte.
„Ach, ich kann darüber ja nur ganz glücklich sein, und ich weiß ja ohnehin nicht, wann ich wieder ein Mädchen haben werde.“
„Ach“, sagte Suschen, „ich nähme mir gar keins wieder. Es ist doch zu erwarten, daß wir beide in der ersten Zeit noch allerlei Dummheiten machen; da ist es viel besser, wenn uns niemand dabei zusieht, und dann brauchen wir ja auch viel weniger zu kochen und können es feiner einrichten. Sie werden schon eine Frau finden, die morgens ein paar Stunden kommt und nach Tische noch ’mal; das ist viel billiger als ein Mädchen.“
„Ja, das wäre sehr gut“, sagte Martha, „ich muß mich so erst einwirtschaften. Meine Thränen heute Morgen galten viel weniger den Tauben, als der Angst und dem Kummer, daß ich viel mehr verbraucht habe, als ich eigentlich durfte.“
[S. 65]
„Ach, da kann Ihnen gewiß meine Mutter raten; wir sind acht Kinder, da muß sie auch recht sparen, wo sie immer kann.“
Es erhob sich nun noch eine kleine Schwierigkeit. Martha meinte: nur Tauben in der Suppe — das würde ihrer Mutter doch nicht recht sein.
„Gut“, sagte Suschen, „so schneiden wir die Tauben in Viertel, machen eine Frikasseesauce darüber, und braten die Kartoffeln, da haben wir gleich noch einen besonderen Gang für unser Diner.“
Martha staunte Suschens Erfahrungen an. Es war schließlich alles wohlgeraten, und als sich die beiden Köchinnen trennten, geschah es mit einer fröhlichen Umarmung, und beide brachen zugleich in die Worte aus: „Wollen wir uns nicht lieber ‚du‘ nennen?“ Dies wurde mit einem herzlichen Kusse besiegelt, und die Freundschaft war geschlossen. Frau Feldwart war zum erstenmale befriedigt von ihrem Mittagsbrot, von dem sie heute nach des Mädchens Abgang nur wenig erwartet hatte.
Als sie ihre Mittagsruhe hielt, saß Martha still an ihrem Fenster und staunte darüber, daß sie jetzt so fröhlich und getrost war. Sie hatte den lieben Gott heute nicht um seine Hilfe gebeten, weil ihre Anliegen ihr zu klein dazu erschienen; waren ihre unausgesprochenen Seufzer doch vor[S. 66] seinen Thron gekommen? Ach ja! was unsere Herzen unruhig macht, das ist ihm nie zu groß oder zu klein, und wenn er seine Kinder auf sehr rauhe Pfade und durch sehr dunkle Stunden führt, thut er wie eine gute Mutter, die dem Kleinsten Süßigkeiten oder Spielwerk vorhält zu dem ersten schweren Schritte; er läßt mitten durch die dunklen Wolken einen Sonnenstrahl fallen, eine Gebetserhörung ein freundliches Erlebnis, um der Seele zu sagen: „Ich verlasse dich nicht; ich bin dennoch bei dir und halte dich an meiner Hand, wenn du mich auch nicht immer gleich finden kannst.“ An solchen Erfahrungen stärkt sich dann der Mut und das Gottvertrauen, und der Fuß lernt wieder getroste und gewisse Schritte thun. Martha hatte sich von jeher eine echte, rechte Freundin gewünscht; Suschen sah so sehr lieb und treu aus: vielleicht hatte sie in ihr gefunden, was sie suchte.
Es schien heute der Tag aller Besuche zu sein. Gegen Abend kam die Frau Direktorin selbst und bat Martha, sie bei ihrer Mutter zu melden. Frau Feldwart hatte außer Trude noch niemanden empfangen; aber sie fühlte wohl, daß sie sich nicht ablehnend oder unfreundlich gegen die Mutter verhalten durfte, nachdem die freundliche Hilfe der Tochter dankend angenommen war. Die geselligen Gewohnheiten ihres Lebens machten ihr die Sache leichter, und sie kam der[S. 67] Frau Werner, deren ernstes, teilnehmendes Gesicht sehr vertrauenerweckend aussah, rücksichtsvoll und artig entgegen.
„Verzeihen Sie“, sagte diese mit sanfter Stimme, „daß ich zu Ihnen komme, ohne zu wissen, ob es Ihnen jetzt schon angenehm ist, Besuche zu empfangen; ich wollte nur das Eindringen meines ungeduldigen Kindes entschuldigen und mich überzeugen, ob Ihnen die Pläne der beiden jungen Mädchen nicht lästig oder störend sind. Ich kann mir so sehr denken, wie Ruhe und Stille Ihnen jetzt vor allem wohlthun.“
„O ja“, sagte Frau Feldwart, „für mich haben Sie ja wohl recht, aber für Martha sehe ich es doch sehr gern, wenn sie junge Gesellschaft und etwas Erheiterung hat, und Ihr liebes Töchterchen kam heute in Marthas Ratlosigkeit hinein wie eine gute Fee. Ich kann Ihnen nur von Herzen dankbar sein, wenn Sie erlauben wollen, daß sie meinem armen Kinde ferner mit Rat und That beisteht; Martha ist noch so ganz unbewandert im Häuslichen, und ich“ — Frau Feldwarts Thränen waren heute einmal in Bewegung gebracht, sie flossen jetzt aufs neue — „und ich bin ja ebenso unwissend als sie.“
„Ich glaube es“, sagte Frau Werner sanft, „es ist jetzt ein sehr schwerer Übergang mit all’ dem Kummer im[S. 68] Herzen. Aber diese Dinge sind wirklich nicht so schwierig zu erlernen, als es scheint. Sie sollen sehen: wenn unsere beiden Kinder die Sache zusammen angreifen, haben sie schließlich noch die größte Freude davon. Würden Sie denn Ihrer Martha erlauben, manchmal ein Stündchen zu uns zu kommen? Es ist viel Leben bei uns: acht Kinder, von denen Suschen das älteste ist.“
Frau Feldwart sah etwas bedenklich aus; ihr freundlicher Besuch fuhr fort: „Ich hatte nicht daran gedacht, Ihnen die Gesellschaft Ihres Töchterchens zu entziehen; ich denke mir aber, Sie bedürfen so gut als mein Mann und ich der Mittagsruhe. Während dieser Zeit ist meine unruhige Schar im Sommer auf dem Hof oder im Grasgarten, im Winter in dem großen Hinterzimmer; sie versichern, es sei dies die fröhlichste Stunde des Tages. Da könnte Martha mit vergnügt sein.“
Die Einladung ward angenommen; Frau Werner erbot sich zu allem guten Beistande, falls derselbe gewünscht werde, und Frau Feldwart dankte ihr herzlich, bat aber, ihr noch einige Zeit den Gegenbesuch zu erlassen.
Kaum hatte Martha die gütige Nachbarin hinausbegleitet, als es abermals klingelte. Es war jetzt schon dämmerig, und Martha erschrak fast vor der großen, kraftvollen Frauengestalt, welche den Rahmen der Flurthür fast ausfüllte. Sie[S. 69] zündete schnell die Lampe an, und als ihr Licht das breite, von Güte und Freundlichkeit strahlende Gesicht der Eingetretenen beleuchtete, da konnte von Furcht oder Beklemmung keine Rede mehr sein.
„Ich bin die Warburgerin“, sagte die Riesin. „Die Trude schickt mich, und ich möchte hier Aufwartefrau werden. Sehen Sie, ich habe fünfe; mein Mann geht auf Arbeit in die Fabrik, und ich kann nicht mitgehen, sonst verlottert die Wirtschaft und die armen Würmer verkommen; aber so ein paar Stunden früh und nachmittags, da nimmt sich schon meine alte Nachbarin der Kinder an. Alles kann einer für sieben doch nicht schaffen.“
Die verschiedenen Eindrücke des Tages hatten Frau Feldwart doch so weit aus ihrer Müdigkeit und Niedergeschlagenheit aufgerüttelt, daß sie die Verhandlungen mit der Warburgerin selbst übernahm; man wurde bald handelseinig, und kaum war dies geschehen, so hing mit unfaßbarer Geschwindigkeit der Mantel der eben Gemieteten am Nagel; sie ergriff die Brunneneimer, fragte mit einem Blick auf den Kohlenkasten nach dem Kohlen- und Holzstall, und es war noch keine halbe Stunde vergangen, da war alles Nötige für den andern Morgen vorbereitet. Frau Warburger fragte, ob noch etwas in der Stadt zu bestellen sei, und ging dann, um Mutter und Tochter in einem so befriedigten[S. 70] Zustande zurückzulassen, wie es beide an diesem Morgen noch nicht für möglich gehalten hatten.
Martha sehnte sich zum erstenmale wieder nach einer stillen Beschäftigung; am liebsten hätte sie ein ernstes Lied gesungen, sie wußte aber, daß dies die Mutter jetzt noch nicht ertrug. Sie griff zu einer leichten, angefangenen Häkelei, aber ihre Hände sanken immer wieder nieder, weil ihre Gedanken so weit umherwanderten. Zum erstenmale dachte sie, daß doch wohl Gott in seiner Weisheit sie davor bewahrt habe, jetzt schon zu heiraten und ernstere und reichere Pflichten auf sich zu nehmen, und zwar wehmütig, aber gar nicht unlieblich erschien ihr die Aufgabe, während Siegfried im fernen Lande bemüht war, die Mittel zur Gründung eines häuslichen Herdes zu erwerben, sich hier allmählich ausbilden zu können zu einer tüchtigen und brauchbaren Lebensgefährtin für ihn. Süße Bilder der Zukunft umschwebten sie, aber das Bewußtsein, wie ungewiß, ja wie unwahrscheinlich ihre Verwirklichung sei, wollte ihr Herz wieder in Traurigkeit versenken.
Aber nein! sie hatte ja heute so viel zu danken, sie mußte den Kopf oben behalten. „Ich werde mir jetzt eine Arbeit suchen, die meine Gedanken voll in Anspruch nimmt“, dachte sie, „ich will Suschen zum Andenken an den heutigen Tag etwas malen.“
[S. 71]
Als sie sich der Mutter gegenüber mit ihren Zeichengerätschaften eingerichtet hatte, holte sich diese ein Buch zum Lesen, und es war das erste Mal, daß beide gemütlich zusammensaßen in den neuen Räumen. Konnte man doch nun auch dem anderen Morgen mit größerer Ruhe entgegensehen. Die Warburgerin fand sich zum verwundern schnell zurecht. Als die notwendige Arbeit gethan war, scheuerte sie freiwillig noch die Hintertreppe, die von Thekla sehr vernachlässigt worden war. Als sie dann ihre Hände gewaschen und ihren Mantel umgethan hatte, stellte sie sich mit untergeschlagenen Armen noch einmal auf die oberste Stufe, blickte mit einer Art verklärter Zärtlichkeit auf das eben vollendete Werk und sagte: „Ne, was schöneres giebt es doch auf der Welt nicht, wie so ’ne schloh-blütenweiße Treppe!“
Martha hatte sie mit ihren Augen auf Schritt und Tritt begleitet; sie sah, daß sie eine geübte Arbeiterin vor sich hatte, und wollte von ihr lernen. „Welche verschiedenen Lose haben doch die Menschen!“ dachte sie; „es ist eigentlich hart, immer nur zu scheuern, zu fegen und zu putzen!“ Bei Frau Warburgers entzückter Anbetung der gescheuerten Treppe tröstete sie sich: „Es ist am Ende einerlei, was man thut, wenn es nur mit solcher Befriedigung lohnt!“
Zum Kochen kam wieder das Suschen und brachte eine Schüssel Spinat mit: „damit wir auch Gemüse zum Braten[S. 72] haben.“ Als nach Tische die Mutter in der Sofaecke saß, ging Martha zu Direktors, um ihr Versprechen zu halten. Sie wunderte sich, daß nicht ihre Freundin, sondern das Mädchen ihr die Thür öffnete, und sie durch den Korridor zu dem Hinterzimmer brachte. Hier stand sie staunend einem feierlichen, lebenden Bilde gegenüber. Suschens Geschwister waren in einem Halbkreis aufgestellt, der sechszehnjährige Bruder in der Mitte; von da ging es nach beiden Seiten abwärts; an einer Seite saß das Kleinste an der Erde. Jedes Kind hielt ein Schneeglöckchen in der Hand, Suschen stand vor ihnen mit dem Rücken nach der Thür, hielt einen Weidenzweig mit Kätzchen als Taktstock, kommandierte, eins, zwei, drei — und nun ging der Lärm los. Sie sangen:
Hierauf marschierten sie an Martha vorüber, und jedes Kind reichte ihr sein Schneeglöckchen, auch das zweijährige Mariechen wackelte den anderen nach. Martha wußte nicht,[S. 73] ob sie lachen oder weinen sollte, es war für ihre jetzige Gemütsverfassung etwas viel; aber das Ganze sah so reizend aus, die Kindergesichter strahlten fröhlich, und es war mit so viel Liebe erdacht, daß sie sich doch von Herzen freuen mußte und die kleine Marie und ihr Suschen abwechselnd umarmen. Die anderen wollten aber auch berücksichtigt sein. Da war zuerst der sechszehnjährige Sekundaner Wilhelm, die vierzehnjährige Luise, die zwölfjährigen Zwillinge Arthur und Hans, die achtjährige, schmächtige Anna, der vierjährige Gottfried und die zweijährige Marie. Alle umdrängten sie Martha, eins überschrie das andere, sie waren offenbar aufgeregt durch die Empfangsfeierlichkeit: „Hast du dieses Jahr schon Schneeglöckchen gesehen? Sie sind ganz hinten aus dem Garten, Hans hat sie unterm Schnee hervorgesucht.“ „Kannst du auch singen?“ „Kannst du Post- und Reisespiel?“ „Kannst du Zwickmühle?“ „Sieh ’mal, das ist meine Puppenstube!“ „Haben Sie ‚Die Ahnen‘ schon gelesen, Fräulein Feldwart?“
Sie wußte in der That nicht, wem sie zuerst antworten sollte, ja, zuweilen kamen Momente, wo sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, denn solch ein Trubel war ihr gänzlich ungewohnt. Aber sie fand sich schnell darin zurecht.
„Kommt“, sagte Suschen, „jetzt schlachten wir zuerst[S. 74] Martha zu Ehren die beiden Apfelsinen, die der Vater mitgebracht hat; jeder bekommt ein Viertel und Mariechen ein kleines Biskuit. Dann spielen wir; Luischen soll sagen, was?“
„Ach, ich kann gar nicht spielen“, sagte Luischen, „ich muß mein englisches Gedicht noch ’mal überlernen; das ist heute so schwer.“
„Wir müssen auch arbeiten“, erklärten Hans und Arthur; „die Probe auf unser Exempel paßt nie.“
„Ach“, sagte Martha fröhlich, „da kann ich mich vielleicht dankbar erweisen für den schönen Empfang, und euch ein wenig helfen.“
Es zeigte sich, daß Luischen erst um drei Uhr in die Schule mußte; Martha vertiefte sich also zuerst mit den Zwillingen in die Exempel. Es gelang ihr bald, den wunden Punkt zu finden, und von da aus war die Sache bald berichtigt.
Darauf setzte sie sich zu Luischen: „Nun lies mir ’mal zuerst dein Gedicht. Nein, liebes Luischen, so geht es wirklich nicht, du sprichst noch sehr falsch aus, und mir scheint, daß du an einigen Stellen auch den Sinn nicht recht verstehst, ich will dir jetzt immer Strophe für Strophe vorsagen, du sprichst mir langsam nach, und am Ende jedes Verses übersetzest du, was du gesagt hast.“
[S. 75]
Es geschah, und Martha gelang es bald, der etwas flüchtigen Schülerin ihre Aufgabe klar zu machen: sie hatte nun selbst ihre große Freude daran, als dieselbe nach und nach alle Schwierigkeiten überwand.
„Bitte“, sagte Luischen, „nun lies du es noch ’mal ganz; das klingt so hübsch.“
Martha that es. Während ihres Lesens hatte sich leise hinter ihr die Thür geöffnet und Direktor Werners kluger Kopf war in derselben erschienen. Er sah recht wohlgefällig auf die Leserin.
„Das ist ja eine sehr gute Aussprache“, sagte er, als Martha fertig war.
Sie stand errötend auf.
„Seien Sie mir, willkommen, Fräulein Feldwart; ich wollte nur hier meine junge Gesellschaft an die Schulzeit erinnern; ich denke, wir sprechen uns bald länger.“
Er hatte schon die Hefte unterm Arm, den Hut in der Hand und empfahl sich schnell.
Martha eilte zu ihrer Mutter; sie fing nun an, Licht und Luft um sich zu sehen; sie fühlte, daß sie sich bald einarbeiten werde mit der Freundin zusammen. Die Mutter war nicht mehr so teilnahmlos wie früher, und die fröhliche Kindergesellschaft drüben versprach so viel Erheiterung und Zuwachs an Interesse, wie Martha eben jetzt bedurfte und[S. 76] gebrauchen konnte. Nur ein großer Sorgenstein lag noch auf ihrer Seele und bedrückte dieselbe täglich mehr. Es war am 1. März, als das letzte Fünfmarkstück aus ihrem Beutelchen herauswanderte, und vor dem 1. April war an keine neue Einnahme zu denken. Sie überlegte lange: sie glaubte wohl, daß Fleischer, Bäcker und Kaufmann, die von ihr bis jetzt pünktlich bezahlt worden waren, einige Wochen gern leihen würden; aber wenn sie in diesem Vierteljahre vom nächsten schon zehrte, wie in aller Welt sollte sie da künftig auskommen? Dazu hatte sich so viel Wäsche gesammelt; es würde auch teuer sein, sie waschen zu lassen.
Die Mutter war eben erst wieder ein wenig teilnehmender geworden; sie beschloß, Frau Werner um Rat zu fragen.
Diese hörte mit der wärmsten Teilnahme Marthas Klagen an und dachte lange darüber nach: „Du mußt das doch deiner Mutter sagen, liebes Kind! Es giebt eine wahre und eine falsche Schonung. Wie willst du es anfangen, dich noch mehr einzuschränken, wenn deine Mutter keine Ahnung von euerer Lage hat? Über die Wäsche sei ruhig, das wird sich mit Hilfe der Warburgerin billig einrichten lassen; die feinen Sachen wäscht Suschen mit dir allein und lehrt dich das Stärken und Plätten! Gehe nur[S. 77] jetzt und sprich mit deiner Mutter ordentlich und ehrlich über euere Lage.“
Es wurde Martha recht schwer, und Frau Feldwart war sehr erschrocken; aber nach einigem Nachdenken fand sie einen Ausweg. Sie hatte einen Brillantschmuck, der ihr freies Eigentum war, für Notfälle mitgenommen; der wurde mit Hilfe der Frau Werner bei einem soliden Goldschmied verkauft und ergab immerhin so viel Einnahme, daß der nächsten, dringendsten Not damit gewehrt war. Aber Werners hatten bei dieser Gelegenheit einen tieferen Einblick in die Lage ihrer Nachbarn bekommen und dachten von dem Augenblicke ernstlich darüber nach, womöglich einige Erwerbsquellen für Martha zu finden.
Die Karte, welche dieselbe für Suschen gemalt hatte, war vollendet. Aus jeder Ecke schwebte eine Taube; alle vier hielten im Schnabel ein blaues Band, an welchem sie zwei Herzen, als kleine Personen dargestellt, eines mit einer Distel — das andere mit einem Rosenkranze, einander entgegenzogen. Dazwischen stand geschrieben:
[S. 78]
Das ganze Bildchen war mit Vergißmeinnicht durchschlungen und sah allerliebst aus. Suschen war entzückt darüber. Ihr Vater betrachtete es lange; dann sagte er: „Suschen, die Karte mußt du mir ein wenig borgen, Du sollst sie richtig wieder haben; ich habe eine Absicht damit.“
Frau Feldwart fand den Umgang mit Werners so entschieden erfrischend und erheiternd für Martha, daß sie bald nichts mehr dagegen hatte, wenn diese auch einmal zu einer anderen Zeit eine Viertelstunde zu Suschen ging, und sie fing auch an, sich an dem fröhlichen Geplauder der Mädchen zu erfreuen, wenn diese herüber kam. Eines Sonnabends erschien sie mit der Bitte, Martha möge doch am Nachmittag einige Stunden mit ihnen spazieren gehen, die Eltern gingen auch mit; es sollten im Stadthölzchen Schneeglöckchen, Leberblumen und Anemonen gesucht werden. Es war einer jener wunderlieblichen Märztage, da die Sonne mit ihren warmen Strahlen die letzten Schneestreifen wegküßt und durch die Milde der Luft die Täuschung hervorgebracht wird, als sei man schon viel weiter in der Jahreszeit vorgerückt.
Man zog sehr fröhlich hinaus; die Mädchen trugen im Strickkörbchen, die Knaben in der Botanisiertrommel ihr Vesperbrot. Mariechen wurde vom Kindermädchen im Wagen vorausgeschoben, Gottfried ging meistens an der Hand der Mutter, die wie eine richtige Gluckhenne ihre Augen überall[S. 79] hatte, damit keines der Kleinen zu Schaden kommen sollte; die anderen schwärmten umher, lachend, singend und springend. Der Vater examinierte scherzhaft bald dieses, bald jenes Kind, bald deutsch, bald lateinisch.
Suschen ging an Marthas Arme, in höchst vertrauliche Mitteilungen vertieft, als plötzlich der Direktor rief: „Fräulein Martha, sehen Sie wohl dort den Turm?“
Sie sah ihn.
„Dort ist das Dorf und Gut, wo Ihre liebe Mutter geboren und erzogen ist und die alte Trude jetzt noch ihre Heimat hat; auch Ihre Urgroßeltern liegen dort begraben.“
„Ach, da möchte ich hin“, sagte Martha. „Aber freilich, es würde der Mutter zu schwer sein“, fügte sie traurig hinzu.
Martha stand jetzt neben Direktor Werner, und er fing sogleich ein Gespräch mit ihr an, das sie neben ihm festhielt. Er fragte nach ihrer Ausbildung, ihren Lehrern, nach dem Gange ihres Unterrichtes, und fuhr dann fort: „Ich stelle dies Examen absichtlich mit Ihnen an, Fräulein Martha. Meine Frau und ich möchten so gern ein Mittel finden, um Ihre Lage zu erleichtern. Ich weiß wohl, daß Sie bei dem jetzigen Zustande Ihrer lieben Mutter nicht daran denken können, Ihr Examen zu machen und eine Stelle als Lehrerin anzunehmen; aber es ist eine ganze Anzahl junger[S. 80] Mädchen hier, die eine englische Konversationsstunde dringend wünschen; mein Suschen und die Töchter dort vom Amt sind auch dazwischen; ebenso suchen wir für Luise und ihren Bekanntenkreis Unterweisung im Zeichnen und Malen; würden Sie bereit sein, beides zu übernehmen? Ein Honorar wollte ich Ihnen schon ausmachen; es würde immerhin eine Hilfe für Ihre Kasse werden.“
Martha sah ihn fröhlich an: „Wenn es meine Mutter erlaubt, thue ich das sehr gern; besonders wenn Sie mir behilflich sind, passende Lektüre zu finden.“
Er versprach es, und Martha war glücklich. Sie hatte noch nie daran gedacht, daß sie imstande sein könne, etwas zu verdienen; der Gedanke war zu schön; sie schwärmte sich mit Suschen beinahe wie die berühmte Milchfrau in sehr schöne Zukunftsträume hinein, so daß beide, im Wäldchen angelangt, erst aus ihrem Phantasiehimmel heruntergeholt werden mußten, bevor sie die lieblichen Frühlingskinder erblickten, die wie eine reiche Stickerei aus dem dunklen Moosteppich hervorglänzten.
Frau Feldwart war am Abend nicht so leicht für die neuen Pläne zu begeistern; sie war zuerst entsetzt über die Idee, daß Martha etwas verdienen sollte, und klagte hart ihr Schicksal an; aber sie kannte den Ernst ihrer Lage, und die große Freudigkeit ihres Kindes besiegte sie zuletzt.
[S. 81]
Nach einigen Tagen kam Suschen strahlend; der Direktor hatte die Taubenkarte nach M. geschickt; sie hatte dort Beifall gefunden, und Martha erhielt den Auftrag, mehr solcher Karten zu malen, unter Bedingungen, die immerhin einigen Vorteil versprachen — lauter tröstliche Aussichten!
[S. 82]
In den ersten Wochen ihres Aufenthaltes in H. hatte das Befinden der Mutter Marthas Sorge so in Anspruch genommen, daß der Gedanke, sie auch nur auf Stunden zu verlassen, gar nicht aufkam.
Suschen hatte schon öfter von den schönen Gottesdiensten in der nahen Pfarrkirche und ihrem lieben Pastor erzählt. Jetzt klangen die Glocken so feierlich herüber und luden zur Fastenkirche.
„Mama, möchten wir nicht auch einmal hingehen?“
„Gehe du, Martha, ich kann noch nicht unter Menschen!“
Martha rief Werners und Suschen ab und ging mit ihnen. Der Kirchgang am heiligen Weihnachtsabend war ihr letzter gewesen. Damals hatte sie vor Glückseligkeit nicht ordentlich gehört, was gesungen und gesagt wurde; heute verlangte ihre gebeugte Seele Trost und Kraft von oben[S. 83] und öffnete wie eine durstige Blüte den Kelch, um den Himmelstau aufzunehmen. Die schönen, wohlbekannten Fastenlieder bewegten ihr Herz und hoben es empor. Der Prediger war ein Greis mit weißen Haaren, sein Angesicht bestrahlt vom Morgenrot einer besseren Welt. Sein Thema war heute: „Wie man dem Herrn sein Kreuz nachtragen soll.“
„Das paßt sehr für mich“, dachte Martha, „ich muß ja auch mein Kreuz tragen.“ Sie erfuhr aber bald, daß noch etwas Besonderes dabei war, woran sie noch nicht gedacht hatte.
„Denkt nicht“, sagte der alte Pfarrer, „wenn euch Gott Leiden schickt und ihr müßt sie ertragen, weil ihr sie nicht los werden könnt, daß dies schon heißt: dem Herrn sein Kreuz nachtragen; o nein! das müssen auch die Heiden und die Ungläubigen thun. Dem Herrn sein Kreuz nachtragen, d. h. die Last, die er uns darreicht, willig auf unsere Schultern nehmen mit dem Gebete: ‚Herr, du hast dein Kreuz getragen für mich und meine Sünden, und hast die Nägel, die in meinem Kreuze waren, dadurch herausgezogen; nun hilf, daß ich mein Kreuz dir nachtrage ohne Murren, in dankbarer Liebe, in stillem, geduldigem Gehorsam, so wie du es von mir willst und mir es vorgetragen hast, als dein Kind und zu deiner Ehre! Dann glaubt[S. 84] mir, grünt das Kreuzholz auf euerer Schulter, blüht und trägt Früchte, davon ihr noch genießen könnt in der seligen Ewigkeit.“
Martha fühlte sich tief ins Herz getroffen. Nein, in dieser Weise hatte sie ihr Kreuz noch nicht getragen, davon war sie noch weit entfernt; aber sie folgte mit zagendem Herzen dem Schlußgebet, daß Gott die Seelen bereiten möge zu solchem Kreuzestrost und solcher Kraft zum Tragen, und sie konnte nicht anders, als nach der Heimkehr der Mutter von dem Eindruck sprechen.
„Mutter, ich möchte dich um etwas bitten. Darf ich nun manchmal wieder ein Lied singen?“
Die Mutter erlaubte es; zuerst flossen ihre Thränen heftiger dabei, dann verlangte sie danach, sie erinnerte auch Martha am nächsten Sonntage selbst daran, in die Kirche zu gehen; die ging so gerne, und als wieder die Glocken zur Abendkirche riefen, holte Frau Feldwart selbst ihren Mantel und begleitete ihr Kind.
Trude war fast jede Woche gekommen; gegen Ende März brachte sie Grüße vom Herrn Amtsrat Rösner, und ob er nicht einmal dürfe seinen Wagen schicken, Frau Feldwart und das Fräulein darin holen zu lassen, damit sie die alte Heimat wieder begrüßten.
Frau Feldwart konnte sich nicht entschließen: „Ja, wenn[S. 85] ich früher einmal hätte dort sein können! Aber in diesem Zustande? nein!“
Am andern Tage fuhren des Amtsrats Töchter, frische, blühende Mädchen, vor, und baten kindlich, doch zu erlauben, daß Martha sie für die Nachmittags- und Abendstunden mit Suschen nach dem Gute begleite; es wären all’ die jungen Mädchen dort versammelt, die an den englischen Stunden teilnehmen wollten; sie wünschten Martha kennen zu lernen.
Dagegen ließ sich nichts sagen. Martha fuhr hinaus in den freundlichen Frühlingstag in Gesellschaft der munteren Mädchen; sie freute sich, all’ die Stätten zu sehen, wo Urgroßeltern und Großeltern gelebt hatten, und ihre Mutter aufgewachsen war. Der joviale Gutsherr und seine freundliche Frau empfingen sie sehr freundlich; der Kreis von jungen Mädchen, die zum Teil noch bedeutend jünger waren als Martha, versetzte sie in ihr früheres, glückliches Leben zurück; sie bewegte sich ungezwungen und anmutig zwischen ihnen und gewann schnell das allgemeine Zutrauen. Es ward Zeit und Ort der englischen Stunde verabredet, Direktors wollten ihr großes Hinterzimmer dazu hergeben, und nur an besonders schönen Nachmittagen wollte der Amtsrat die Gesellschaft herausholen lassen.
Nach dem Kaffee eilte alles in den großen Garten, dessen[S. 86] feiner Rasen im ersten Grün schimmerte, um am Rain und im Gebüsch nach Veilchen zu suchen.
Hier wartete Trude: „Nun, Fräulein Martha, nun kommen Sie ’mal mit, nun will ich Ihnen zeigen, wo die Mutter groß geworden ist; die Frau Amtsrätin wollte es selbst thun, aber ich habe so lange gebeten, bis sie es mir erlaubte; ich weiß das ja doch natürlich noch viel besser! So? Fräulein Werner will auch mit? Na, meinetwegen.“
Das Haus, wo Amtsrat Rösner wohnte, war ein Anbau, den er sich selbst erst eingerichtet, da ihm das alte Wohnhaus zu kühl und düster erschienen war; in dieses führte jetzt Trude die beiden Mädchen.
„Sehen Sie, hier, was jetzt die große Wirtschaftsstube ist, das war der Saal; da ist die Hochzeitstafel gewesen, als der Herr Vater mit der Frau Mutter getraut worden waren, und hier, wo jetzt die Stube vom Inspektor ist, da war die beste Wohnstube; Sie können hineinsehen, er ist draußen beim Bestellen. Da über dem Flur drüben das war dem Großvater seine Arbeitsstube, die hat jetzt Mamsell Hannchen. Und nun kommen Sie ’mal mit die Treppe hinauf.“
Im oberen Stockwerk waren zwei Stübchen, die Marthas Interesse vorzugsweise in Anspruch nahmen: das ehemalige Zimmerchen ihrer Mutter, was jetzt sehr niedlich[S. 87] als Logierstube eingerichtet war, und das Gastzimmer daneben.
„Sehen Sie, hier hat nun die Frau Urgroßmutter gewohnt. Da hier in der Ecke stand ihre große, bunte Kommode und da am Fenster steht noch ihr Lehnstuhl und ihr eiserner, kleiner Tisch. Das war ’mal eine gewaltige Frau! Die Leute im Dorfe wissen noch viel Geschichten von ihr, und ich kann mich noch ganz gut auf sie besinnen. Sie ist die Mutter gewesen von allen Kranken und Armen, und in den Kriegsjahren hat sie immer den Kopf oben gehabt und mehr als einmal durch ihre Ruhe und ihr Auftreten den Hof vor Plünderung und Schaden bewahrt. Der Urgroßvater war kränklich und litt viel am Magen und an der Leber, da hat sie jung schon die Zügel mit halten müssen. Hier oben aber da hat sie gesessen eine halbe Stunde vor Tag und eine halbe Stunde des Abends, und hat gelesen und so gewaltig gebetet, daß sie es manchmal draußen verstanden haben, und in ihrem Testamente hat sie es bestimmt: der Stuhl, der Tisch und darauf die Bibel und das Starkenbuch das soll hier am Fenster bleiben und nicht verrückt werden, zum Zeugnis, daß der Segen von oben kommt.“
Martha war zumute, als hörte sie die Stimme, die aus dem feurigen Busche zu Mose sprach: „Ziehe deine[S. 88] Schuhe aus; der Ort, da deine Füße stehen, das ist ein heilig Land.“ Mit scheuer Ehrfurcht schlug sie die alte Bilderbibel auf, deren vergilbte Blätter mit Randbemerkungen bedeckt waren; sie hatte aufgeschlagen und las: „Ebr. 12, 1: Darum auch wir, dieweil wir solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasset uns ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, und lasset uns laufen durch Geduld in dem Kampfe, der uns verordnet ist.“ Es war, als hörte sie die Urgroßmutter selbst diese Worte sagen, als empfinge sie von ihr in dieser Minute gewissermaßen innerlich den Ritterschlag; jetzt hätte sie lieber selbst Truden und Suschen nicht neben sich gehabt; sie konnte sich lange, lange nicht trennen. Draußen vor dem Fenster spielte der Wind in den eben erst knospenden Zweigen der alten Linden, die hatten auch schon herübergerauscht in der Jugend der Urgroßmutter, und dahinter erglänzte der kleine, klare Landsee, in dem die Mittagssonne sich spiegelte; das war alles ebenso wie sonst.
„Jetzt möchte ich ihr Grab sehen“, sagte sie endlich. Sie wanderte mit Suschen Arm in Arm durchs Dorf, Trude voran. Auf einem grünen Hügel, von Kastanien umgeben, lag die freundliche, saubere Kirche, rings um sie her unter ihren weißen Steinen und Kreuzen die schlafenden Gemeindeglieder. Ganz nahe dem Eingange ins Gotteshaus schliefen Urgroßvater und Urgroßmutter dicht nebeneinander. Die[S. 89] Leichensteine stellten, wie es damals Sitte war, abgebrochene Säulen dar; auf der des Urgroßvaters stand: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen; ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten“; auf dem seiner Gattin: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt!“
„Das hat sie selbst so bestimmt“, sagte Trude, „sonst hätte doch wohl was von allen ihren Gutthaten drauf stehen müssen.“
Die Gräber waren sehr gut gehalten, die dürren Blätter sauber abgeharkt; ein Kranz von Schneeglöckchen faßte die obere Fläche ein, sie läuteten mit all ihren feinen Glocken; schon zeigten sich auch die blauen Blüten der Amaryllis und die dunklen Köpfchen kleiner Tulpen fingen an, sich zu färben. Vom Turme klang jetzt feierlich das Feierabendgeläute, die Sonne wollte soeben zur Ruhe gehen, ihre roten Strahlen gossen flüssiges Gold auf die Grabsteine und das Gras, und eine sanfte Abendluft spielte geheimnisvoll in den welken Blättern, die an der Kirchhofsmauer noch aufgeschichtet lagen.
Die beiden jungen Mädchen hatten sich fest an der Hand gefaßt, Trude stand mit gefalteten Händen. Vom Abendläuten war der letzte Ton verklungen, da hörte man Schritte im Kieswege; die Mädchen wandten sich und standen einem jungen Manne in geistlicher Kleidung gegenüber, der offenbar[S. 90] den schmalen Pfad benutzen wollte, um zum nahen Pfarrhause zu gelangen. Martha und Suschen traten einen Schritt zurück; er grüßte Suschen, wie man eine alte Bekannte grüßt, und wollte dann schnell vorüber; aber Trude gab sich so noch nicht zufrieden.
„Herr Pastor! sehen Sie doch nur, das ist ja die Urenkelin hier von der seligen Frau.“
Der Pastor blieb stehen und Suschen übernahm die Vorstellung: „Herr Pastor Frank, Fräulein Feldwart!“
„Und Sie waren noch niemals hier?“ fragte der Pastor.
„Niemals!“ erwiderte Martha.
„Dann müssen Sie aber auch all’ unsere schönen Altargedecke und heiligen Geräte sehen; die rühren meistens von der Frau Urgroßmutter her.“
O ja, das wollte Martha gern. Der Pastor sprang nach seinem Hause, um die Schlüssel zu holen, und nahm dann die Erfreuten mit sich in die Kirche und in die Sakristei.
Dort schloß er eine schwere, eichene Truhe auf: „Die stammt auch von der Urgroßmutter!“ Dann enthüllte er die schönen, schweren Altargedecke: „Sehen Sie, bei jedem Stücke liegt in dem kleinen Kästchen an der Seite das Dokument der Schenkung.“
[S. 91]
Martha beugte sich über die alten Papiere: sie waren offenbar von derselben Hand geschrieben wie ihr Weihnachtslied. Zuerst kam die Schenkung der Truhe: „Anno 1801 bei der Geburt ihres ältesten Sohnes schenkte Frau Anna Martha Waldheim aus Dankbarkeit für Gottes unverdiente Gnade und zum Gedächtnis seiner Wunder diese Truhe zur Aufbewahrung der Kanzel- und Altarbekleidungen.“ Dann kam 1806 bei der Geburt eines zweiten Sohnes das erste Gedeck. „Das blaue Laken mit dem Lamme stickte ich mit meiner eigenen Hand.“ Dieser Hans Waldheim, der hier erwähnt war, war Marthas Großvater. „1812 bei der Geburt einer Tochter Margarete schenkte ich eine Bekleidung für den Taufstein aus schwarzem Sammet und Golde: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott! zu unsern Zeiten!“
„Nun sollen Sie auch die Geräte sehen“, sagte der Pastor und öffnete ein Doppelschloß in der Mauer. 1824 war ein schöner, goldener Kelch geschenkt: „Zum Angedenken an die sel. Heimfahrt meines ältesten Sohnes, der sich im Sterben hat mit dem Sakrament erquicket“; 1828 „eine güldene Weinkanne, da mir mein Herr den bitteren Trank des Witwenleides hat eingeschenket. Dein teures Blut, dein Lebenssaft giebt mir stets neue Lebenskraft!“ „Anno 1830 bei der Taufe meiner lieben Enkelin Anna Marie ein neu[S. 92] Taufbecken: Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig!“
Anna Marie! das war ja ihre liebe Mutter! Martha war es sonderbar ums Herz; so wohl, als sei sie in dem kleinen Gotteshause zuhause; so weh, daß von der Familie, die hier so feste Wurzeln geschlagen hatte, jetzt hier kein einziges Reislein mehr grünte. Im Amtsstuhl war noch der kleine, geschnitzte Gesangbuchsschrank der Urgroßeltern mit ihrem Namen und dem Datum ihres Einzuges. Martha fand es sehr schwer, sich von all diesen Erinnerungen loszureißen, aber die Tageszeit nötigte dazu.
Als sie ins Freie traten, war die Sonne hinunter und ein feiner, weißer Nebel zog durchs Thal. Sie dankten dem Pastor freundlich, er erkundigte sich noch nach Suschens Eltern, und dann stiegen die drei verschiedenen weiblichen Gestalten still den Hügel hinab. Pastor Frank stand an der Kirchhofsmauer und sah ihnen nach, bis das braune Kopftuch, das schwarze und das helle Kleid im Schatten der Häuser verschwanden.
„Kanntest du den Pastor Frank schon länger?“ fragte Martha.
„Ja wohl“, erwiderte Suschen; „er gab als Kandidat den deutschen Unterricht an unserer Schule; wir schwärmten damals alle für ihn.“
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Daß Martha dann bei Tische und auf der Rückfahrt stiller war, wunderte Suschen eben nicht. Frau Feldwart hatte schon sehr ungeduldig nach ihrem Kinde ausgesehen.
„Mama“, sagte die Tochter, nachdem sie nur eben ihre Sachen abgelegt hatte, „kannst du dich noch ganz ordentlich auf die Urgroßmutter besinnen?“
„Freilich“, sagte Frau Feldwart; „ich war ja schon ganz erwachsen, als sie starb! An meinem Einsegnungsmorgen da hat sie an ihrem eisernen Tischchen noch mit mir gelesen und gebetet und hat mir die Bilderbibel mit dem silbernen Schloß geschenkt, die ich jetzt noch habe.“
„Mama, das Tischchen steht noch und der Lehnstuhl, und Urgroßmutters Bibel und das Starkenbuch sind auch noch da.“
„Wie mich das freut!“ rief Frau Feldwart; „sie hatte es ja im Testamente so bestimmt, und so lange meine Eltern dort waren, blieb natürlich alles so. Als wir Schwestern dann aber heirateten und die Eltern das Gut verkauften, um uns nachzuziehen nach B., da mußten wir es dem neuen Besitzer überlassen, ob er diesen Wunsch noch ferner erfüllen wollte.“
„Mama, all’ die Altardecken und heiligen Geräte sind auch noch da, auch das Taufbecken, woraus du zuerst getauft bist; du mußt mir noch viel von der Urgroßmutter erzählen.“
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„Das thue ich schon gern; du kannst auch vielleicht in ihren alten Papieren manches finden.“
Der Martha war zumute, als habe sie die Urgroßmutter heute erst geschenkt bekommen; ein Pastellbildchen aus der Jugendzeit derselben hing über dem Nähtisch ihrer Mutter; das mußte sie immer ansehen; die klaren Augen und festen, bestimmten Züge waren ihr nun erst verständlich, und ihr eigener Name: Anna Martha, den sie bis dahin ganz alltäglich gefunden hatte, wurde ihr jetzt lieb als Erbstück von der Urgroßmutter.
Von Ostern ab begann nun für sie eine sehr fleißige Zeit. Unter Suschens Leitung nahm sie mit eigener Hand die Änderungen an ihrer Garderobe und der ihrer Mutter vor, welche die wärmere Jahreszeit nötig machte; die Besorgung der kleinen Wirtschaft fing an ihr Freude zu machen, auch das Einteilen und Sparen, als sie es nach Frau Werners Anleitung mit Erfolg that, gewann seinen Reiz für sie. Daneben begannen die englischen Übungsstunden, auf die sie sich ordentlich vorbereiten mußte; die Zeichenstunden mit den jüngeren Mädchen nahmen ihren Anfang; jede Mußestunde wurde zur Vollendung niedlicher Karten und Lesezeichen verwendet; da hieß es die Minuten benutzen und die Zeit aufs äußerste auskaufen. Frau Feldwart sah anfangs mit Befriedigung Marthas erhöhte Thätigkeit und[S. 95] wiederkehrende Energie, aber mit der Zeit ward es ihr lästig, die Tochter, welche bisher nur für sie allein gelebt, so in Anspruch genommen zu sehen. Seitdem sie sich in die ungewöhnlich milde Frühlingsluft einmal hinausgewagt hatte, regte sich das Bedürfnis zum Spazierengehen öfter bei ihr; wenn dann Martha sagte: „Nein, Mama, heute kann ich nicht ausgehen, heute muß das Kleid fertig werden“, oder: „Ach, ich bin eben mitten im Malen mit meinem Lesezeichen, jetzt kann ich’s unmöglich liegen lassen!“ da wurde die Mutter verdrießlich und es gab zwischen beiden darüber so manchen kleinen Zwist. Es wurden allmählich auch die Abendstunden zur Arbeit mit herangezogen, in denen Martha der Mutter früher vorgelesen hatte; Frau Feldwart, deren Augen schwach waren, nickte dann ein beim Stricken und machte bittere Bemerkungen. Dann legte Martha wohl Bücher und Zeichengeräte fort und las vor, bis die Mutter zu Bette ging, um dann bis 1 Uhr nachts zu arbeiten und müde und überwacht am anderen Morgen aufzustehen.
„Ich weiß nicht, Martha“, sagte Suschen, „Du bist jetzt viel unruhiger wie zu Anfang.“
„Ich finde es selbst“, erwiderte diese nachdenklich, „ich war noch nie so aufgeregt und zerstreut wie jetzt; ich weiß nicht, woran es eigentlich liegt.“
Es fiel ihr ein, daß Trude gesagt hatte, die Urgroßmutter[S. 96] hätte zweimal so viel als andere fertig gebracht. Sie nahm sich vor, am nächsten Sonntag ’mal in ihren Briefen zu studieren. Sie fand verschiedene Briefe, die von Krankheiten, Arbeiten, Kriegsunruhen handelten; endlich öffnete sie einen Brief, den Frau Anna Martha ihrer Schwiegertochter, Marthas Großmutter, geschrieben:
„Meine herzliebe Frau Tochter! Dein Brief hat mir recht viel Nachdenken und auch Sorgen gemacht, weil er klingt, als wüßtest Du vor Not und Arbeit von früh bis spät nicht aus noch ein! Ich kann mir wohl denken, wie die Obst- und Kartoffelernte, die Krankheit der beiden Kinder, das Schlachten und der viele Besuch zu der Hasenjagd alle deine Kräfte verbraucht haben, und ich will auch, so schnell ich kann, heimkommen, um Dir zu helfen; aber ich habe oft ebenso viel und noch mehr, sogar mit Feinden durchgemacht, und bin doch ruhig verblieben. Versäumt denn meine liebe Frau Schwiegertochter auch die Hauptsachen nicht? Ich las neulich in einem Buche, daß ein gelehrter Mann, ein Sterngucker, gesagt hat: ‚Gebt mir einen Standpunkt außerhalb der Welt, und ich will sie aus den Angeln heben.‘ Das hat mir ganz gewaltig gefallen. All’ unsere Arbeiten, alle Mühen, Sorgen und Erdenlasten, die unsere Herzen drücken, die können wir nur regieren und bewegen von einem Standpunkt außerhalb der Welt, und gottlob! geht es darin uns[S. 97] Christenleuten besser als dem armen Kerl in meinem Buche; wir haben den Standpunkt wahrhaftig; wir brauchen nur zu unserem Vater in dem Himmel zu gehen. Er hat’s erlaubt; wenn wir es nicht thun, ist es unsere Schuld. Frau Schwiegertochter! Wenn ich in meinem Leben etwas erreicht und fertig gebracht habe, so ist es nur dadurch geschehen, daß ich jeden Tag zweimal eine halbe Stunde vor Gottes Thron gegangen bin. Wenn doch alle Menschen wüßten, wie viel das Mühe, Not und Zeit erspart! Mit schwerem Herzen, matten Gliedern, unruhigem Gemüte geht man hin; mit freier Seele, gestärkten Füßen, wackeren Händen, geordnetem Willen und verständigen Gedanken kommt man wieder. Frau Schwiegertochter! Des Sonntags im Gottesdienst und des Alltags in der Betkammer da kriegt man das meiste fertig, denn da wird man selbst fertig gemacht, daß man nicht umherfährt wie eine Brummfliege, sondern fein gerade auf sein Ziel lossteuert wie ein Schiff mit reinen, vollen Segeln, in welche der richtige Wind bläst. Frau Schwiegertochter! Unter das Rezept kann man gewißlich setzen, was meistens unter denen Kuchen- und Seifen-Rezepten in den Kochbüchern stehet: probatum est! Und damit Gott befohlen!“
Martha hielt lange den Brief in der Hand. Das war es!
[S. 98]
Wenn ein junges, begabtes Wesen zuerst seine Leistungsfähigkeit entdeckt, empfindet es natürlich Freude darüber und das Verlangen, seine Thätigkeit fort und fort reicher zu entfalten und zu steigern.
Dieser Trieb ist gewiß an und für sich nicht zu tadeln, aber es geschieht dann leicht, daß man sich fest auf die eigenen Füße stellt, der Quelle vergißt, aus der man seine Kraft empfing und erst durch die Lahmheit seiner Flügel und die Unruhe des ganzen Getriebes vom lieben Gott die Erinnerung bekommen muß: „Ohne mich könnet ihr nichts thun!“ So war es Martha ergangen.
„Was liest du da, Martha, worin du so ganz versunken bist?“ fragte die Mutter.
Martha reichte ihr den Brief hinüber.
„Ach“, sagte Frau Feldwart, nachdem sie ihn gelesen, „das ist ganz und gar meine Großmutter! Rezepte schrieb sie gar zu gern. Als ich aus meiner Freiheit auf dem Gute in die Stadt in Pension kam, hatte ich ’mal einen großen Klagebrief nachhause geschrieben, weil ich nun alles zugleich lernen sollte und niemals fertig wurde; da hat sie mir auch ’mal so ein Rezept geschickt, es war kurz vor ihrem Tode. Warte, ich will es dir gleich holen.“
Sie nahm es aus ihrem Schreibtische und Martha las:
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Rezept für unser Mariechen in der Stadt.
1) stehe die Jungfer früh auf; sie ist kerngesund und schläfet in der Nacht; da wird es ihr nichts schaden, wenn sie sich frühzeitig aus den Federn hebet. Frisch heraus, kalt gewaschen, rasch und ordentlich angezogen, ein Kapitel aus der Bibel gelesen, gebetet und an die Arbeit! Das lange Herumdrehen in den Federn mit wachen Augen ist schädlich; da gewöhnt man sich an das Träumen bei Tage, und es wird schwer sein, sich über diese verdämmerten Stunden zu entschuldigen, wenn man sich darüber einmal beim lieben Gott verantworten soll, wie man seine Zeit angewendet hat. Jeden Tag eine Stunde, giebt im Jahr 365 Stunden, also 15 Tage und 5 Stunden; sollte Dich der liebe Gott 70 Jahre leben lassen, werden 2 Jahre und 334 Tage daraus, ohne die Schalttage, also beinahe 3 Jahre; das bedenke man ordentlich, damit man die Minuten zurate hält!
2) fasse man seinen Verstand zusammen und frage sich, was zu jeder Stunde das Nötigste ist. Eine Viertelstunde dieses betrieben, die andere Viertelstunde jenes — das schafft nicht. Was man treibt, treibe man ganz, lasse alle anderen Gedanken fahren und richte seinen ganzen Fleiß darauf, nicht, so schnell wie möglich fertig zu werden, sondern so gründlich und schön als möglich seine Arbeit zu vollenden; dabei wächst die Zufriedenheit und die Tüchtigkeit;
[S. 100]
3) bedenke man all’ seine Sachen zur rechten Zeit und Stunde, und zwar, so viel es möglich ist, immer auf einige Tage voraus; man kann sich dann mit seinen Aufgaben viel besser einrichten. Wenn Du z. B. bei Deinen weiten Wegen in B. ausgehest und vergissest die Hälfte von dem, was Du nächstens gebrauchst, mitzubringen, und mußt dann noch einmal unnützlich rennen, so sind einige Stunden weg, die weder Dir noch anderen Vorteil bringen;
4) gewöhne man sich, das nur Erwünschte und Angenehme von dem Nützlichen und Nötigen zu unterscheiden und beides nach seinem Werte zu behandeln. Zum Beispiel, Du darfst Sorgfalt und guten Geschmack auf Deinen Anzug verwenden, darfst Dir ansehen, welche Haarfrisur und Kleidung für Dich passend ist; der liebe Gott will nicht, daß wir uns vernachlässigen oder verunstalten sollen; seine Werke sind alle schön und wohlgeordnet und lieget der Zauber der Anmut darüber. Aber Du sollst nicht stundenlang vor dem Spiegel stehen, die Locken nach rechts und links drehen, die Schleifchen hierhin und dorthin wenden, und die edlen Stunden, die Deinem inwendigen Menschen und dem Wohle des Nächsten zugute kommen sollen, verthun mit „Firlefanz.“ Ja, liebes Kind, so nannte unsere Mutter all’ die Modethorheiten, die man sich jeden Tag neu ausdenket, die viel Zeit und Geld kosten und keinen Menschen glücklich und zufrieden[S. 101] machen; Du glaubst nicht, wie viel man davon entbehren kann und wie glücklich man ist, wenn man so wenig als immer möglich davon gebraucht;
5) darf man sehr wohl ein gutes Buch zur Unterhaltung lesen; nur daß man sich in Deinem Alter von erwachsenen, verständigen Personen muß raten lassen, welches ein gut und nützlich Buch sei. Aber, mein Kind, lies vernünftig. Sich den Kopf heiß lesen, um nur schnell vorwärts zu kommen und zu erfahren, ob der Liebste die Liebste auch kriegt, — blättern, bald hinten, bald vorne; überschlagen, was auf den ersten Augenblick nicht so ansprechend erscheinet; sich verlesen, wenn andere Pflichten rufen: das ist schlimmer, als hätte man nie ein Buch in der Hand gehabt, und macht den ganzen Charakter zucht- und haltlos. Langsam lesen, ordentlich in sich aufnehmen, bedenken, was der Verfasser von Dir will; zuweilen ein bißchen stille halten, wenn Dich was ins Herz trifft, das fördert und bringet unversehens weiter.
6) Du darfst auch mit einer Freundin umgehen, ja wohl, es ist sehr schön, wenn Du eine hast; ich gönne sie Dir von Herzen. Aber wenn Du sie willst auf eine Stunde oder mehr besuchen, dann nimm Dein Strickzeug oder Nähzeug mit, oder spielet, springet, leset und singet meinetwegen zusammen; willst Du ihr aber nur auf einige Minuten[S. 102] etwas bestellen, so laß dies wirklich nur Minuten sein; das Stehen und Schwätzen beim Gehen und Kommen, so zwischen Thür und Angel, daß keiner weiß, ob es jemals enden wird, das bringet die Töchter um ihre Zeit und die Mütter um ihre Geduld — das merke Dir!
Martha war sehr hingenommen von den Lehren der Urgroßmutter. Sie waren natürlich nicht alle gerade für ihr eigentümliches Wesen zutreffend, aber vieles stimmte auffallend. Sie erinnerte sich sehr deutlich, daß Frau Direktor Werner gestern dreimal „Suschen!“ gerufen hatte, als sie an der Hinterthür voneinander Abschied nahmen, und wie oft, ach, wie oft! hatte sie weite Wege machen müssen, weil sie am Morgen vergaß, der Warburgerin das Nötige aufzutragen. Das Frühaufstehen war auch ein wunder Punkt, ein recht wunder! der sollte morgen früh zuerst geändert werden.
Als Martha der Dienerin um sechs Uhr die Thür geöffnet hatte, legte sie sich nicht nach ihrer Gewohnheit noch einmal nieder, sondern sie kleidete sich ganz nach dem Rezept der Urgroßmutter leise und rasch an, und die Wohnstube war kaum fertig, so erschien sie in derselben, setzte sich ans Fenster und schlug ihre Bibel auf. Es war sehr feierlich[S. 103] um sie her. Drüben im Grasgarten schlugen die Finken; sie hatte die Fenster geöffnet, um die köstliche Maienluft zu atmen, und auf ihren Flügeln strömte der Duft von Flieder und Jasmin zu ihr herein; die blütenbedeckten Apfelbäume waren von der Morgensonne rötlich angeleuchtet; im Grase glänzte der Tau in tausend Perlen.
„Wie schön solch ein Morgen ist!“ dachte Martha. Das Lied fiel ihr ein, das sie stets so gern gesungen: „Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschöpften Lichte, Schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen zu Gesichte etc.“ Singen durfte sie es jetzt nicht, um die Mutter nicht zu wecken. Sie schlug ihre Bibel auf. Ach, die ganze Natur war heute nur ein Loblied; sie mußte sich auch hier in Gottes Wort eins suchen; sie las den 103. Psalm: „Lobe den Herrn, meine Seele! und was in mir ist seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat etc.“ Dieser köstlichste aller Lobgesänge trug ihr Herz hoch empor, und ob sie es auch in der letzten Zeit oftmals versäumt hatte, mit ihrem Vater im Himmel zu reden, die Stimme des Psalmisten weckte verwandte Stimmen in ihrer Seele; sie konnte danken, sie konnte bitten, sie konnte ihr Leben und Streben im Lichte des Wortes Gottes stille betrachten. Wie verschwindet so vieles in diesem Lichte, was uns wichtig erschien; wie verklärt[S. 104] erscheint manches, was wir für klein und unwichtig gehalten hatten; wie viel klarer wird die Richtschnur für unser Thun und Lassen, wenn Gottes helle Sonne darauf scheint.
Martha hatte bis jetzt ihr rastloses Arbeiten für nichts als Tugend und ihre Mutter für sehr ungerecht gehalten, wenn sie diese Thätigkeit hemmen und ihr Kind für sich in Anspruch nehmen wollte; jetzt auf einmal wurde es ihr klar, daß die Erfüllung des vierten Gebotes ihre nächste Aufgabe sei, und ihrer Mutter das Leben leicht zu machen das höchste Ziel, das sie sich stecken mußte.
So lange wir hier auf Erden leben, werden wir immer mehr oder weniger beunruhigt werden durch den scheinbaren Widerstreit unserer verschiedenen Pflichten, und das Bestreben, sie in Harmonie zu bringen, geht durch alle unsere Tage. Dies hat aber seinen Grund zumeist darin, daß wir unsere Lieblingsneigungen und Lieblingsbeschäftigungen selbstsüchtig festhalten und nicht unterordnen wollen; je mehr uns dies mit Gottes Hilfe gelingt, desto stiller und geordneter fließt unser Leben dahin.
Martha fing jetzt wirklich ernstlich an, zu kämpfen und zu ringen, um dieses Ziel zu erreichen, und die Morgenstunden, welche ihr dazu verhelfen sollten, waren ihr bald so lieb und unentbehrlich wie einst der Urgroßmutter. Sie[S. 105] war darin nicht immer in so gehobener Stimmung; ach nein! solche Stunden sind, so lange wir hier unten weilen, selten. Recht oft klagte sie, statt zu danken, wenn all’ die Sorgen ums tägliche Brot auf sie einstürmten, wenn die sehr wechselnde Stimmung der Mutter ihr Not machte, wenn die Sehnsucht nach Siegfried, von dem sie kein Wort wieder gehört hatte, allzu schmerzlich in ihr emporstieg. Martha hatte nicht versäumt, ihre neue Adresse in Berlin zu melden, damit ein Brief sie erreichen könne; sie hatte kein Lebenszeichen erhalten, wußte nicht, wo sie ihn mit ihren Gedanken aufsuchen sollte; auch in dieser Not war ihre einzige Beruhigung: „Er ist in Gottes Hand, wie ich es bin; wenn es zu unserem Frieden dient, bringt er uns wieder zusammen!“ Oft bat sie den Herrn mit Thränen darum, oft suchte sie nach Ergebung, wenn es anders beschlossen sei; aber so wenig sie jemals ganz mit ihrem alten Menschen fertig wurde, so kam doch nach und nach immer größere Ruhe und Sammlung in ihr Herz, und dies konnte man an ihrem Thun und Treiben gar wohl bemerken. Ohne daß sie eine der angefangenen Arbeiten vernachlässigte, gewann sie nun Zeit, sich mit der Mutter im Freien zu ergehen, ihr am Abend vorzulesen, sie in die erbaulichen Gottesdienste der nahen Pfarrkirche zu begleiten.
Als Pastor Wohlgemuth die beiden Frauengestalten so[S. 106] regelmäßig unter seinen Zuhörern erblickte, fing er an, ihnen mitunter einen Besuch zu machen, wie er es bei Direktor Werners schon seit langer Zeit that. Seine herzliche, ernste und doch getroste Weise, mit der er die trüben Dinge des Lebens ins heitere Himmelslicht zu setzen wußte, thaten der Mutter und Tochter wohl. Martha und Suschen verehrten ihn beide; seine Erscheinung im Hause war ein Fest für sie, ein beneidenswertes Ereignis, wenn er bei einer Begegnung freundliche Worte zu ihnen sprach, und alle Blumen, welche sie in Wald und Flur pflückten, mußte Luischen dem alten Herrn in die Konfirmandenstunde mitnehmen.
Zu Pfingsten entschloß sich Frau Feldwart zum erstenmale, einer Einladung der Frau Amtmann Rösner zu folgen und einige Tage in Weißfeld zuzubringen. Es ging dies nicht ohne große Herzensbewegung ab, aber dieselbe war überwiegend freudiger Art. Ihr eigenes früheres Stübchen war für sie und Martha zum Schlafzimmer, das der Urgroßmutter zur Wohnstube eingerichtet. Sie sah die alte Heimat im lieblichsten Lichte: alle Häuser, auch das Gutshaus, mit Maien geschmückt, Narzissen und Tulpen, Flieder und Goldregen in voller Blüte, die Linden im schönsten, lichtgrünen Schmuck. Trude war überglücklich, ihre alte Herrin zu empfangen; von Amtmanns wurde sie mit der zartesten Liebe aufgenommen und gepflegt, und gleich am[S. 107] Morgen nach der Ankunft hielten Mutter und Tochter zum erstenmal gemeinsam ihre Andacht am Plätzchen der Urgroßmutter. Die Mutter saß im Lehnstuhl; Martha, die Bilderbibel auf den Knieen, auf einem niedrigen Schemel davor; sie las auf Wunsch der Mutter den Lieblingspsalm der Frau, die hier so oft gebetet hatte, den 90. Psalm: „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für etc.“, den Psalm, der Ewigkeit und Vergänglichkeit ergreifend nebeneinander stellt, mit seiner kindlichen Bitte am Schlusse: „Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden; zeige deinen Knechten deine Werke, und deine Ehre ihren Kindern; und der Herr unser Gott sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns; ja, das Werk unsrer Hände wolle er fördern!“
Sie saßen noch lange mit gefalteten Händen, als Martha gelesen hatte, und der Pfingstgeist, der Geist des Friedens und des Trostes, zog in ihre Herzen ein. Sie wanderten dann mit den geschmückten Landbewohnern zusammen dem Kirchlein zu.
Frau Feldwart saß an derselben Stelle, wo sie mit ihren Eltern sonntäglich gesessen hatte. Ach, um sie her saß eine fremde Gemeinde! Trude und der gebückt einhergehende alte Kirchendiener waren die einzigen Gestalten, deren sie[S. 108] sich erinnerte. Pastor Frank predigte in einer schönen Sprache, gar nicht ungläubig, aber noch recht jugendlich. Martha meinte, ihr alter Pastor Wohlgemuth gäbe ihr mehr, und geriet darüber mit Suschen, die am Morgen erst gekommen war, beinahe in Streit.
„Ich weiß gar nicht, was du willst, Martha; noch schöner wie der Pastor Frank kann doch gar kein Mensch predigen!“
„Er predigt mir eben zu schön“, sagte diese.
„Aber wie kannst du nur solchen Unsinn sagen!“ rief Suschen ganz gereizt und ärgerlich.
Gegen Abend kam Pastor Frank und blieb zum Abendbrot da. Es wurde musiziert; die beiden Töchter des Amtmanns spielten vierhändig, Pastor Frank sang mit seiner schönen Tenorstimme: „Tröstet, tröstet mein Volk“ aus Händels „Messias“, er begleitete Martha das schöne Lied: „Du bist die Ruh, der Friede mild, die Sehnsucht du und was sie stillt etc.“, und das war wirklich recht erquicklich. Dann, nach Tisch, wanderten alle in der lieblichen Dämmerung des duftenden Gartens; Pastor Frank schloß sich an Martha und Suschen an; er erzählte, daß am dritten Festtage großes Kinderfest sein werde, auch eine Stiftung der Urgroßmutter. Er berichtete von mancherlei Einrichtungen zum Wohl der Arbeitsleute aus alter und aus neuer Zeit.[S. 109] Martha interessierte sich lebhaft dafür und forderte ihn durch Fragen zu weiteren Mitteilungen auf. Er freute sich der eifrigen Zuhörerin, sie kamen in ein sehr lebhaftes Gespräch; Martha war aus der reichen Geselligkeit der Residenz gewohnt, sich leicht und fließend auszudrücken; Suschen hatte Respektspersonen und Fremden gegenüber noch ganz ihre kindliche Schüchternheit; sie hing an Marthas Arme und sagte gar nichts.
Als sie sich am Abend trennten, fiel es Martha auf, daß ihre Freundin nicht so heiter war als sonst.
„Was hast du, Suschen? Du warst heute Abend so still!“
„Ich weiß nicht, ich war wohl müde von dem Morgenweg in der Sonne.“
„Das ist ja möglich“, dachte Martha, „auch der Duft von Flieder und Goldlack macht müde; ich bin es ja auch.“
Am zweiten Festtage kamen gegen Abend einige Familien aus der Nachbarschaft; Frau Feldwart zog sich auf ihr Zimmer zurück; Martha wurde von den jungen weiblichen Gliedern der Gesellschaft, die meistens schon ihre Schülerinnen waren, schnell umringt, und war, ohne daß sie es wollte, eigentlich der Mittelpunkt aller.
Pastor Frank erschien auf eine Stunde, um zu verabreden, wie es morgen beim Brezelfest werden sollte; die[S. 110] Brezeln wurden vor dem Schulhause aus zwei Körben verteilt, und er wünschte, daß die Urenkelin der Stifterin mit ihrer Freundin zusammen dies Amt übernehmen möge.
Sie sagte gern zu: „Wenn es sich paßt in meinem schwarzen Anzug?“
„Gewiß“, sagte Pastor Frank; „auf dem Lande ist Schwarz immer ein Festkleid, und wenn Fräulein Suschen vielleicht wie heute in Weiß erscheint, so stellen Sie daneben zusammen die preußischen Farben dar, und das paßt ganz gut zu den Vaterlandsliedern der Knaben.“
Am dritten Feiertag nachmittags zog alles nach dem Schulhause. Trude zupfte Martha am Kleide, als sie vom Hofe gehen wollte, und stellte einen etwa achtjährigen Jungen und ein sechsjähriges dralles Mädchen vor sie hin, die in Festfreude und Festschmuck strahlten.
„Das sind meiner Kathrine ihre, Fräulein: Hans und Mariechen! So, gebt auch hübsch ein Händchen, so ist’s recht!“
Martha sah mit Wohlgefallen auf die frischen, zutraulichen Kinder, die nun dem Versammlungsplatze zueilten, und ging selbst, um mit Suschen an den weißgedeckten Tischen Platz zu nehmen, die vor dem Schulhause aufgestellt waren zu beiden Seiten der Eingangsthür.
Schön geschmückt, jedes Kind einen großen Strauß vor[S. 111] der Brust und eine Maie in der Hand, kam die Schuljugend gezogen, erst die Knaben paarweis, dann die Mädchen; niedliche Fahnen in den deutschen Farben trugen die ältesten Knaben vor; ihnen folgten einige Musikanten mit Blasinstrumenten und einer Trommel. Sie zogen auf den lindenbeschatteten Platz vor dem Schulhause unter dem Gesang, den ebenfalls die Urgroßmutter bestimmt hatte: „O heiliger Geist, o heiliger Gott etc.“
Der Pastor sprach ein kurzes Gebet und sagte den Kindern in einfachen Worten, der Pfingstgeist sei ein Geist der Freude und der Liebe, deshalb habe ihnen die Liebe dieses Fest bereitet; sie möchten nun in Gottes Namen fröhlich sein und mit Dankbarkeit an die alte Frau gedenken, die dieses Fest gestiftet habe, als ihr ältestes Söhnlein, sechs Jahre alt, zur Schule gekommen sei. „Und seht, dort steht ihre Urenkelin, die will euch die Brezeln heute selbst geben!“
So waren denn natürlich aller Augen auf Martha gerichtet; weil es aber strahlende Kinderaugen waren, fühlte sie sich nicht dadurch belästigt.
Der kleine Hans zupfte sie am Kleide: „Du, was ist denn eine Urenkelin?“
„Weißt du denn, was eine Enkelin ist?“
„Ne!“
„Aber, was eine Großmutter ist, das weißt du!“
[S. 112]
„Ja“, sagte der Junge lustig, „ich habe zweie!“
„Na, siehst du! wenn deiner Großmutter ihre Mutter noch lebte, das wäre deine Urgroßmutter, und du wärst ihr Urenkel.“
Der Junge sah noch nicht ganz befriedigt aus: „Da müßte sie mir doch noch erst eine Uhr schenken.“
Martha lachte: „Junge, ein Urenkel kann man auch ohne Uhr sein; ich habe auch keine.“
Aus dem Schulhause wurden nun gewaltig große Chokoladenkannen herausgebracht; jedes Kind nestelte den kleinen Becher los, den es am Gürtel trug, und nun ward gefüllt und getrunken nach Herzenslust. Dann ging es ans Spielen.
Für die Knaben waren Kletterstangen da; ein Sackhüpfen wurde angestellt, und es gab allerlei kleine Preise: Tücher, Messer, Kreisel etc. Die Mädchen liefen nach einem Ziele, mußten mit einem an einer Schnur schwebenden Ringe nach einem Haken werfen und wurden dann ebenfalls mit Scheren, Fingerhüten, Bändern und dergleichen belohnt. Suschen zeigte sich im Anordnen solcher Spiele sehr behilflich und gewandt; sie kannte dieselben von ihren Geschwistern. Dazwischen sangen die Knaben: „Die Wacht am Rhein“ und andere Vaterlandslieder; die Mädchen: „Alle Vögel sind schon da“, „Wer hat die Blumen nur erdacht“ u. s. w.
[S. 113]
Martha merkte jetzt, daß verschiedene Kinder müde waren vom Laufen; sie setzte sich auf eine der Bänke unter der Linde, ein Kind nach dem anderen kam zu ihr heran, und sie fing an, sich mit ihnen zu unterhalten.
„Riech einmal“, sagte Hänschen und hielt ihr einen Strauß von Pfingstrosen (eine gelbe Wiesenblume, gestaltet wie eine recht volle Rose, in Farbe und Blatt der Butterblume gleich) und Sternblumen unter die Nase.
„Danke“, sagte Martha, „das riecht schön.“
„Ja, sie sind auch viel schöner als Butterblumen und Gänseblümchen.“
„Weißt du denn, Hänschen, wie sie so schön geworden sind?“
„Ne“, sagte Hänschen, legte beide Arme auf ihre Kniee und sah sie mit offenem Munde an.
„Soll ich’s dir erzählen?“
„Ja, woher weißt du es denn?“
„Ei, so etwas erzählt mir der Morgenwind, wenn er mich früh am offenen Fenster besucht.“
„Na, nu erzähle!“ sagte Hänschen.
Sie hatte nur wenige Kinder um sich gehabt; jetzt kamen immer mehr an sie heran, bis sich ein dichter Kreis gebildet hatte; über den Kinderköpfen schauten auch einige alte mit Wohlgefallen auf sie, als sie begann:
[S. 114]
„Als es zum erstenmale Pfingsten wurde im deutschen Lande, da jubelte die ganze Erde. Im Walde bewegten die Birken ihre grünen Fähnchen, mit feinen, langen Kätzchen behangen; die Buche schmückte ihren weißen Stamm mit hellgrünen Kränzen, und die zierlichen Maiblumen läuteten, daß es eine helle Lust war!
„Aus den Büschen klang die Stimme des Buchfinken und der Nachtigall; der Pfingstvogel im gelb und schwarzen Röcklein ließ seinen Lockruf ertönen; der Kuckuck rief Tag aus und Tag ein, und die Lerche stieg aus der Furche gerade zum Himmel hinauf: ‚Tirrerillerie! Tirrerillera! Pfingsten, das schöne Pfingsten ist da!‘
„Im Garten zogen die Blumen ihre allerschönsten Kleider an; die Tulpen schmückten sich mit allen Farben; glänzend weiß standen die Narzissen; der Flieder hing seine großen, blauen Trauben aus, der Goldregen seine gelben; ja, sogar eine Rose öffnete schon ihre Knospe: es ist ja Pfingsten, da möchte ich dabei sein! Am Bache standen die Vergißmeinnicht und wuschen sich, um ganz schön himmelblau zu sein zu Pfingsten. Auf der Wiese standen ein Gänseblümchen und eine Butterblume nebeneinander, als am Pfingstsonnabend die Sonne unterging. ‚Weißt du es schon‘, sagte die Butterblume, ‚morgen ist Pfingsten.‘ ‚Ich weiß!‘ sagte das Gänseblümchen, ‚die Menschen sagen, es[S. 115] sei das schönste Fest, denn da sei der Geist des Trostes und des Friedens auf die Erde gekommen. Sieh nur, wie die Blumen im Garten sich putzen!‘ ‚Ich möchte mich auch schmücken‘, sagte die Butterblume, ‚aber ich weiß gar nicht, wie ich es anfangen soll.‘ ‚Ich habe mich schon im Abendtau gebadet, aber klein bin ich und klein bleibe ich‘, seufzte die Gänseblume.
„Die Sterne zogen auf; Butterblume und Gänseblümchen hatten sonst längst um diese Zeit ihre Blättchen oben zusammengeschlossen und schliefen; — heute wollte ihnen der Schlaf nicht kommen. Sie sahen zu den leuchtenden Sternen auf und sprachen: ‚Ihr schönen, goldenen Sterne! wir wollten gern schön werden, dem Pfingstfest zu Ehren; könnt ihr uns nicht dazu helfen?‘
„Die Sterne sahen freundlich herunter und die Blümchen sahen sehnend hinauf, und erst als die Sterne blaß wurden und ein kleines Streifchen Morgenrot am Himmel erschien, da schliefen die Blümchen ein, und als am anderen Morgen die Sonne sie weckte, da sahen sie sich an und sahen sich wieder an, denn aus der Butterblume war eine runde, volle, süß duftende Pfingstrose geworden, und aus dem Gänseblümchen eine prächtige Sternblume. Da weinten und lachten sie vor Freude, daß die Sterne ihnen auch ein so schönes Pfingstkleid beschert hatten. Seitdem kommen und[S. 116] blühen sie immer zu Pfingsten. Gänseblümchen und Butterblumen kommen früher, sobald der Lenz auf die Erde tritt: aber wenn es zu Pfingsten läutet, erwachen die Sternblumen und Pfingstrosen auf den Wiesen, denn die beiden haben viele, viele Kinder bekommen, die feiern alle mit, und Hänschens Strauß gehört auch dazu!“
„Hänschens Strauß gehört auch dazu! Hänschens Strauß gehört auch dazu!“ riefen die Kinder. „Erzähle noch was, erzähle noch was!“
„Ach ich kann nicht immer erzählen; jetzt könnt ihr ein Rätsel raten:
„Da, da!“ riefen die Kinder und zeigten auf die durchsichtigen Lämmerwolken, die in der blauen Luft über ihren Häuptern schwammen. Die Mädchen stimmten an: „Wer hat die schönsten Schäfchen? Die hat der goldne Mond etc.“
[S. 117]
Aber nun läutete die Feierabendglocke; alles stand mit gefalteten Händen, bis das Anschlagen verklungen war; dann sprach Pastor Frank noch ein kurzes Dankgebet, die Großen und Kleinen sangen zusammen: „Nun danket alle Gott!“ und dann eilten sie erfreut und ermüdet nachhause.
Pastor Frank war einige Augenblicke verschwunden; in der Nähe des Pfarrhauses holte er unsere Freundinnen ein und überreichte Martha ein zierliches Sträußchen.
„Die Blumen aus meinem Garten sind auch Pfingstblumen,“ sagte er.
Martha dankte etwas überrascht; sie hätte sich noch mehr gefreut, wenn Suschen auch Blumen erhalten hätte; aber sie dachte, es bezöge sich auf ihre Geschichte, und beruhigte sich dabei.
Im Gutshofe stand Trude, und Martha ging zu ihr.
„Ach, Fräulein, die schönen Blumen, die sind aus dem Pfarrgarten; so dunklen Flieder hat nur unser Herr Pastor. Ach, sehen Sie! wenn ich das erleben sollte, daß Sie ’mal wieder hier einzögen, wenn es auch nicht auf dem Amte wäre!“
Martha sah sie erstaunt an; sie verstand anfangs durchaus nicht, was sie meinte, dann erschrak sie.
„Was redest du, Trude? Das fällt ja keinem Menschen ein!“
[S. 118]
Aber sie war innerlich betrübt; die Unbefangenheit war weg. Als sie ging, ihre Sachen abzulegen, sah sie Suschen am Fenster ihres offenen Stübchens stehen. Sie ging zu ihr und legte den Arm um ihren Hals; es schien fast, als habe die sonst so Fröhliche geweint, obgleich sie es nicht merken lassen wollte.
„Suschen“, sagte Martha, „komme nach Tische noch ein wenig in den Garten, ich muß dir etwas erzählen.“
Suschen schrak zusammen.
„Alte Geschichten“, sagte Martha, „aber traurige.“
Und als sie zwischen den duftenden Beeten im letzten Abendschein wandelten, erzählte Martha von Siegfried alles, alles! Sie hatte es längst gern gewollt, es war ihr immer zu schwer gewesen.
Sie konnte sich nicht über Mangel an Teilnahme von Suschens Seite beklagen; aber zuletzt sagte diese: „Martha, es ist doch schlimm, daß das keiner weiß; es könnte sich mancher Hoffnungen machen.“
„Ich glaube nicht, daß dies einer thut“, sagte Martha, „aber ich will an die Möglichkeit mehr als bisher denken, und morgen stecke ich mir Urgroßmutters Trauring an.“
Am anderen Morgen kehrten Feldwarts und Suschen nach H. zurück, und Martha war völlig beruhigt, als sie ihren Vorsatz wegen des Ringes ausgeführt hatte.
[S. 119]
„Ich glaube“, sagte sie bei sich selbst, „Trude hat in ihren überschwenglichen Wünschen für mein Wohl Gespenster gesehen; jedenfalls kann in diesen paar Tagen höchstens ein flüchtiges Interesse entstanden sein. Suschen paßt viel besser dahin als ich, und wie würde ich mich freuen, sie dort zu sehen!“
[S. 120]
Aber Trude hatte nicht nur Gespenster gesehen! Marthas frisches, lebendiges Wesen hatte um so mehr Eindruck auf Pastor Frank gemacht, als seine Gedanken, seitdem er in Weißfeld lebte, so vielfach auf die Urgroßmutter hingelenkt worden waren, und er nun in Marthas warmem Interesse, in ihrer Gewandtheit, ihrem Verkehr mit den Dorfbewohnern, in der Energie, mit der sie sich in schwierigen Verhältnissen zurechtfand, gleichsam das Bild verkörpert vor sich zu sehen meinte, das seine Phantasie sich von der längst entschlafenen Wohlthäterin geschaffen. Schon in der nächsten Woche machte er, angeblich, um sich nach dem Befinden der Mutter zu erkundigen, den Damen einen Besuch. Martha begegnete ihm ruhig und ernst und verschwand in der Küche, so lange dies möglich war; aber da[S. 121] er offenbar nicht fortging, um ihre Rückkehr zu erwarten, blieb ihr schließlich doch nichts übrig, als wieder ins Zimmer zu gehen. Sie spielte vor seinen Augen mit Urgroßmutters Trauring; er schien es nicht zu bemerken und Frau Feldwart ebenso wenig.
So oft in den schönen Sommertagen der Amtsrat die Mitglieder der englischen Stunde nach Weißfeld holen ließ, war Pastor Frank gewiß am Abend da, hatte auch stets einen besonderen Grund, sich mit Martha angelegentlich zu unterhalten. Auch Suschen redete er gern an; aber es war sehr deutlich zu bemerken, daß er sie immer noch halb als sein Schulkind betrachtete.
Martha merkte ganz gut, daß diese darüber verstimmt war, und fürchtete, es könne sich dadurch eine Scheidewand zwischen ihr und der Freundin aufbauen, zumal da dieser zarte Punkt von ihnen nicht besprochen werden konnte. Manchmal glaubte sie entschieden, sich geirrt zu haben, da sie noch niemals ein ungleiches oder aufgeregtes Wesen an Pastor Frank bemerkt hatte; aber viele zarte Aufmerksamkeiten, welche er ihr und der Mutter erwies, machten sie doch wieder ängstlich und besorgt. Es war schlimm, daß Trude damals voreilig gesprochen hatte; sie hätte sonst sicherlich unbesorgt und unbefangen alles hingenommen.
Suschen war eine Zeit lang sichtlich bedrückt; aber von[S. 122] Jugend auf gewöhnt, sich in den gegebenen Schranken zu halten, und so in unausgesetzter Thätigkeit lebend, daß ihr keine Zeit zum Träumen blieb, suchte sie die ungewohnte Fessel ihrer Seele abzuschütteln, indem sie sich immer neue Gegenstände der Liebe und Fürsorge für ihr teilnehmendes Herz und ihre fleißigen Hände suchte.
In dem kleinen H. war, seit Pastor Wohlgemuth da wirkte, ein warmes christliches Leben erwacht; allerlei Werke der inneren Mission waren in Angriff genommen worden, und Suschens Herz schlug bald für diese Thätigkeit, als sie aus der Fremde in die Heimat zurückgekehrt war. Da ihre Mutter sich einer großen Arbeitskraft und guten Gesundheit erfreute, erlaubte sie der Tochter gern, bei der Kinderschule zu helfen und Arme und Kranke unter dem Rat und der Leitung ihres lieben, verehrten Seelsorgers zu besuchen. Es kam Suschen zuweilen vor, als sei sie dazu besser imstande, seitdem sie selbst eine kaum verstandene Last auf der Seele trug; sie war ernster, weicher und mitleidiger geworden.
Eines Sonntags nach der Nachmittagskirche forderte Pastor Wohlgemuth die jungen Mädchen auf, noch etwas zu bleiben, und teilte ihnen dann mit, daß er den Plan habe, eine Sonntagsschule einzurichten; seine jungen Freundinnen sollten ihm dabei helfen, sie sollten die Lehrerinnen der kleinen Mädchen werden, und er versprach, sie in jeder[S. 123] Woche zu unterrichten und vorzubereiten auf solche Arbeit. Dieser Plan zündete ganz gleich bei Suschen und bei Martha; es war ja Marthas besondere Gabe, das Unterrichten! Und wie schön würden die Stunden sein beim lieben Pastor Wohlgemuth!
Beide Mädchen versprachen schnell und unbedenklich ihre Teilnahme und waren auf dem Heimwege voller Vorfreude und Begeisterung für die Sache. Suschen wußte, daß ihr die Eltern ihre Zustimmung gern geben würden; Martha zweifelte nicht daran, daß ihre Mutter damit zufrieden sei. Aber darin hatte sie sich geirrt.
Frau Feldwart war seit den heißen Julitagen überhaupt wieder sehr aufgeregt, schlief schlecht, verlor den Appetit, wurde bei dem kleinsten Ausgange leicht atemlos, und obwohl sie eigentlich über keinen Schmerz klagte, war doch ihre Stimmung gedrückter und reizbarer als sonst. Martha trug ihr die schönen Pläne am anderen Morgen mit jugendlicher Begeisterung vor; sie seufzte tief auf.
„Ach, Kind, noch was! Ich meine, du hast übergenug für deine Kräfte!“
„Aber Mutterchen, ich bin ja ganz frisch und gesund, und die Stunden bei Pastor Wohlgemuth werden mich so erquicken!“
„Ach, Martha, und dann sitze ich des Sonntags allein,[S. 124] gerade nach der Vormittagskirche, wo doch gekocht werden muß!“
„Ei, Mama, dann wärmen wir!“
„Und dann willst du jede Woche noch eine Stunde fort zu Pastor Wohlgemuth, und du weißt nicht, wie mir die Stunden lang werden, die du ohnehin geben mußt! Nein, Kind, wenn du auch nur noch etwas auf deine Mutter hältst, dann gehst du nicht hin.“
„Aber Mama, ich habe es dem Herrn Pastor schon versprochen; was soll er denken, wenn ich es jetzt absage?“
„Nun, so vernünftig ist er, daß er weiß, daß ein Kind seiner Mutter gehorchen muß!“
Ja, das glaubte freilich Martha auch, aber sie sagte es nicht. Sie eilte vorläufig noch nicht zu ihm, um abzusagen, sondern ging den ganzen Tag wie eine graue Wolke im Hause umher, war stumm und einsilbig und verbesserte dadurch die Stimmung der Mutter durchaus nicht.
Zu allem Unglück erschien am Nachmittag auch noch Pastor Frank, brachte einen reizenden Strauß aus Rosen, Nelken, Astern und Pelargonien, und überreichte denselben diesmal nicht, wie er es sonst gethan hatte, der Mutter, sondern der Tochter.
Frau Feldwart lächelte ganz wohlgefällig dazu. Martha war innerlich ärgerlich. Konnte sie ihm denn gar nicht[S. 125] begreiflich machen, daß sie kein Gegenstand für so zarte Aufmerksamkeiten sei?
Während Pastor Frank die Mutter begrüßte, rang sie ratlos die Hände, und da die Unruhe der Seele auf die Bewegungen einzuwirken pflegt, und wohl auch die Urgroßmutter stärker war als die Enkelin, flog der bewußte Ring ihr vom Finger und rollte durchs Zimmer, sehr in Gefahr, in einer der tiefen Ritzen zwischen den alten Dielen zu verschwinden. Ihr angstvoller Ruf: „Mein Ring, mein lieber Ring!“ veranlaßte den Gast, das Kleinod zu erhaschen. Als er es ihr zurückgab, sah er sie ernst und fragend an und sein Gesicht war bleich geworden.
Martha war jetzt nicht mehr in Zweifel über seine Gefühle und nahm sich vor, ihm womöglich bald noch einen deutlicheren Wink zu geben. Als sie ihn bis zur Korridorthür begleitete, stand er still, ohne sich zu verabschieden.
„Fräulein Martha, der Ring war Ihnen sehr lieb, nicht wahr? Es ist sehr unbescheiden, daß ich danach frage, aber wenn Sie wüßten —“
Martha ließ ihn nicht ausreden: „Ich will Ihnen gern sagen, was der Ring für mich bedeutet. Es ist zwar nur der Trauring meiner Urgroßmutter, und als solcher mir schon sehr lieb; aber ich trage ihn zum Zeichen, daß ich seit beinahe einem Jahre verlobt bin; und wenn über unserem[S. 126] Geschick auch jetzt noch dunkle Wolken stehen: Gott kann sie hinwegnehmen, und mein Herz ist fest, ganz fest gebunden fürs Leben.“
Sie hatte es mit zitternder Stimme gesagt, aber ihn ernst und fest dabei angesehen. Er verneigte sich.
„Ich danke für Ihre Offenheit, Fräulein Martha! Gott behüte Sie!“
Sehr erleichtert und doch wehmütig kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.
„Nun sag ’mal, Martha, was das für ein Ring ist, um den du so viel Umstände machst“, rief ihr die Mutter entgegen; „Pastor Frank konnte doch wirklich denken, daß es ein Verlobungsring sei.“
„Das ist er ja auch, Mütterchen, wenn auch nur der von der Urgroßmutter; da mir aber Siegfried keinen geben konnte, trage ich ihn jetzt als Verlobungsring.“
„Siegfried?“ rief die Mutter wie enttäuscht; „Du denkst noch an Siegfried?“
„Aber liebe Mama! natürlich denke ich an Siegfried; er ist des Morgens mein erster und am Abend mein letzter Gedanke!“
Die Mutter sah sie eine Weile sehr erschrocken an: „Also darum warst du so abweisend gegen den Pastor Frank?“
[S. 127]
„Ich weiß nicht, ob ich abweisend war, Mama, aber es schien mir fast Schuldigkeit zu sein, ihn nicht im unklaren darüber zu lassen, daß mein Herz und meine Hand nicht mehr zu haben sind. Es ist ja sehr möglich, daß er ohnehin niemals danach verlangt hätte.“
„Martha, Martha!“ rief die Mutter schmerzvoll, „wie kannst du so festhalten an einem Traumbilde, das sich niemals, niemals verwirklichen wird. Du weißt, daß dein Vater Siegfried abgewiesen hat; er selbst hat dir geschrieben, er fordere kein Versprechen und gäbe dir keins; wer weiß, wo er jetzt ist und ob er überhaupt noch an dich denkt. Ach, wie war ich so glücklich in der letzten Zeit; wie hoffte ich, all’ unsere Not und Sorge sei am Ende, und ich könnte mein Kind wohlbeschützt zurücklassen, wenn Gott mich abriefe! Es ist doch eine Fügung Gottes, daß er dir gerade in Weißfeld begegnen mußte; du konntest da sein und da wirken, wo deine Urgroßmutter geschaltet und gewaltet hat. Martha, laß diesen kindischen Gedanken fahren; ihr waret ja beide noch viel zu jung.“
„Ja, Mama, wir sind beide noch jung, aber alt genug, um zu wissen, was wir aneinander haben, und uns in Treue festzuhalten auch übers Meer hinweg. Sieh, ich bin in diesem einen Jahre um vier Jahre älter geworden, aber wenn ich es schon vor der Trennung wußte: jetzt weiß[S. 128] ich es noch viel gewisser, daß ich keinen so lieben kann wie meinen Siegfried!“
„Ach, Martha, das ist Jugendüberschwenglichkeit; denke doch an deine arme Mutter! Was soll werden, wenn ich noch elender werde, und du deine Stunden aufgeben mußt, um mich zu pflegen? Ich weiß es: Frank nähme mich gern unter sein Dach; ich würde es gut bei ihm haben. Wenn du ihn auch nicht so feurig lieb hast, du achtest ihn doch und wirst ihn mit jedem Tage lieber gewinnen. Es giebt ja so viele Ehen, wo die Leute sich ruhig gegenüberstehen und dennoch glücklich und zufrieden sind!“
Martha hatte bleich und lautlos zugehört, aber in ihrem Innern brauste ein gewaltiger Sturm; ihr ganzes Herz, all ihr Wille bäumte sich auf, als so an ihre innersten Gefühle gerührt wurde. Sie bedachte nicht, daß die Mutter krank, schwach und unglücklich war, und es brach nun auch wie ein wettergeschwollener Waldbach die Rede von ihren Lippen — leidenschaftlich, rücksichtslos, verletzend: „Alles habe ich stille getragen, gearbeitet, geduldet, meinen Schmerz überwunden, so viel ich konnte, und dafür willst du mir nun mein einziges Kleinod nehmen? Ich soll dem einen untreu werden und den andern betrügen, wenn ich ihm meine Hand ohne mein Herz gebe! O, Mutter! Mutter! wie kannst du so grausam und ungerecht sein!“
[S. 129]
Frau Feldwart war ganz entsetzt — Martha war noch nie so heftig und unkindlich gewesen —; sie rang die Hände und brach in Thränen aus. Martha, obwohl innerlich gewiß, daß sie diesen Wunsch der Mutter nicht erfüllen dürfe, war doch tief erschrocken darüber, daß sie sich so weit hatte fortreißen lassen, und weinte ebenfalls; es war ein recht unglücklicher Nachmittag. Sie hätte sich so gern ausgeklagt und ausgeweint; aber ihr liebes Suschen durfte ja von diesem Leid nichts erfahren. Wenn sie sich hätte überwinden können, der Mutter ihre Heftigkeit abzubitten, wäre beiden geholfen gewesen; aber dazu kamen ihr die Regungen ihrer eigenen Seele jetzt noch zu hoch und erhaben, die Wünsche der Mutter viel zu unnatürlich und grausam vor. Dennoch hatte sie das Verlangen, die Mutter wieder zufriedener zu wissen, ihr irgendetwas zuliebe zu thun, und als die Sonne schon am Sinken war, sagte sie kleinlaut: „Mama, ich möchte dem Pastor Wohlgemuth noch sagen, daß ich nicht mit unterrichten soll.“
Frau Feldwart nickte stumm, und Martha ging. Es war sonderbar: sie hatte nicht nur Pastor Wohlgemuth, sondern auch seine freundliche Frau herzlich lieb, und war sonst immer wie auf Flügeln hingeeilt; heute schien es ihr, als könne sie dem Ehepaar nicht so frei entgegentreten wie früher. Schüchtern fragte sie das Mädchen nach ihrem alten[S. 130] Freunde; er war im Garten, seine Frau zu ihrer Schwiegertochter gegangen. Martha kannte den freundlichen Hausgarten und suchte dort den Pfarrherrn auf. Im Mittelwege wandelte er langsam auf und nieder; ein bequemer Hausrock umschloß seine hohe, schlanke Gestalt; das würdige Haupt mit den feinen Zügen und dem spärlichen Silberhaar deckte ein Sammetmützchen; die leichten, vom Abendlicht goldig gefärbten Dampfwölkchen aus seiner langen Pfeife umschwebten es. Er schien in freundliche Gedanken versunken zu sein, wenn er sich bald rechts, bald links zu seinen Blumen niederbeugte, hier ein Pflänzchen aufrichtend und befestigend, dort den Duft einer Blüte mit Wohlgefallen einatmend. Jetzt wandte er sich und erblickte Martha.
„Ei, willkommen! Das ist ja herrlich; je später der Abend, je schöner die Gäste!“ rief er heiter. „Nun kommen Sie ’mal gleich hierher; die feurige Bandnelke ist gerade so schön angeleuchtet, und sehen Sie nur diese weiß und braune an, die hat mir mein Nachbar dort drüben im Frühling geschenkt.“
Martha beugte sich zu den Blumen; sie war aber zum Sprechen und Bewundern nicht aufgelegt, und da das bei ihrer lebendigen Teilnahme für die kleinen Liebhabereien des Pastors ganz ungewöhnlich war, wurde dieser schnell aufmerksam.
[S. 131]
„Aber verzeihen Sie, liebe Martha, Sie sehen traurig aus; ich fragte noch gar nicht, ob ich Ihnen irgendwie dienen oder beistehen kann! Kommen Sie hier in die Laube, da sitzt es sich sehr friedlich, und sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben!“
„Ach, Herr Pastor, ich hatte mich so sehr gefreut, bei den Kindergottesdiensten zu helfen, und nun will es mir die Mutter nicht erlauben.“
Martha hatte das Herz sehr voll Weh; sie brach in Thränen aus.
„Nun, nun, liebes Kind, das ist denn doch noch keine Veranlassung zu so bitteren Thränen. Ich kenne die Gründe der Mutter nicht, aber da heißt es: ‚Gehorsam ist besser denn Opfer.‘“
Martha erzählte, warum es der Mutter so schwer erschien; aber sie sprach anders, mit weit weniger Respekt und Schonung und viel erregter als sonst; und der erfahrene Seelsorger merkte bald, daß noch andere Beunruhigungen im Grunde ihrer Seele lagen.
„Mein liebes Kind“, sagte er, „es kann nicht dies allein sein, was Sie so aufregt. Können Sie mir sagen, was Ihnen sonst noch Not macht, daß ich versuchen kann, Ihnen zu helfen?“
Ach, Martha sehnte sich, sich auszusprechen und innerlich[S. 132] womöglich wieder klar und fest zu werden; hier, wußte sie, war alles wohl aufgehoben, und so erzählte sie: ihre Verlobung, Siegfrieds Abschied, die kleinen Aufmerksamkeiten des Pastor Frank und die schlimmen Worte der Mutter; ach, als sie derselben erwähnte, wurde sie wieder ebenso bitter und heftig wie am Nachmittage. Pastor Wohlgemuth saß stille neben ihr, schickte manchmal einen Ring aus seiner Pfeife in die klare Luft, und ließ sie völlig sich aussprechen und ausklagen. Dann setzte er die Pfeife fort, ging einige Male im Garten auf und nieder und stellte sich endlich Martha gegenüber.
„Mein liebes Kind“, sagte er, „bevor wir die Außendinge betrachten, müssen wir wohl erst inwendig Ordnung machen. Wenn Sie sich zum Kindergottesdienst bei mir gemeldet hätten, würde ich zuerst die zehn Gebote mit Ihnen durchgenommen haben, und wir wären dann sehr bald an das Gebot gekommen, das Verheißung hat; Sie wissen doch, liebe Martha, welches ich meine? Fragen Sie sich einmal selbst, ob Sie dieses Gebot heute gehalten haben.“
„Herr Pastor, Sie können nicht wollen, daß ich Siegfried untreu werden soll!“
„Das steht auf einem ganz anderen Blatte; darüber steht meine Ansicht noch gar nicht fest. Aber das werden Sie sich selbst wohl gestehen, daß Sie heute recht unkindliche[S. 133] Gedanken und Gefühle genährt und gehegt haben; dafür müssen Sie zuerst den lieben Gott und dann Ihre Mutter um Verzeihung bitten, eher kommt der Friede nicht wieder hinein in ihre Seele.“
Martha sah ihn traurig an: „Wenn ich thun wollte, was die Mutter will, und meinem Verlobten entsagen, würde ich dies aber als ein so schweres Unrecht empfinden, daß von Frieden gar keine Rede sein könnte.“
„Das ist möglich!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber denken Sie jetzt einmal nicht so viel an das, was Sie empfinden oder empfinden würden, sondern machen Sie sich einmal klar, was Ihre liebe Mutter dabei gedacht und empfunden hat, die Mutter, der Sie Ehrerbietung und Liebe schuldig sind, selbst wenn es Ihnen nicht möglich sein sollte, den Weg einzuschlagen, den sie wünscht. Als ich neulich allein bei ihr war, klagte sie mir, sie fühle, wie ihre Gesundheit durch alle die Schicksalsschläge gelitten habe, und daß beim Gedanken an ihren Tod die schwere Sorge ihr Herz bedrücke, wie sich Ihre Zukunft gestalten werde, wenn dann die Leibrente wegfiele und Sie genötigt sein würden, unter Fremden Ihr Brot zu suchen, ohne die genügende Vorbereitung dazu erhalten zu haben. Das Verhältnis, in welchem Sie zum jungen Kraus gestanden haben, sieht Ihre Mutter, wie es scheint, nicht mehr als bindend[S. 134] an, und wenn man die Sache äußerlich ansieht, hat sie ja darin recht. Nun sieht sie einen jungen, tüchtigen Mann kommen, der sich mit aufrichtigem Herzen um Sie bewirbt, der Ihnen ein bescheidenes aber sicheres Los bietet, und durch dessen Treue und Pietät sie selbst einen friedlichen Lebensabend zu erlangen hofft. Ich selbst gestehe, daß ich ähnliche Wünsche und Vermutungen schon gehegt habe und vielleicht Ihrer Mutter gegenüber unvorsichtig in meinen Äußerungen gewesen bin. Sind, so betrachtet, die Wünsche der Mutter nicht zu entschuldigen, sind sie nicht sogar gut und verständig? Meine liebe Martha, wenn man innerlich so aufgebracht und entrüstet ist, thut man immer wohl, sich im Geiste auf den Standpunkt des Gegners zu stellen und von dort aus die Sache einmal anzusehen; man wird dann jedenfalls die Andersdenkenden begreifen, selbst wenn man nicht für ihre Ansicht gewonnen wird.“
Martha seufzte: „Wenn Gott die Erfüllung des vierten Gebotes verlangt, warum läßt er dann so schwere Konflikte kommen?“
„Liebes Kind, mit dem ‚Warum‘ kommen wir unserem Herrgott gegenüber nicht weit; da heißt es immer: ‚hernachmals — hernachmals wirst du es erfahren.‘ Gerade diesem Gebote gegenüber giebt es viele und schwere Versuchungen. Die Kinder wachsen heran, gestalten sich zu selbständigen[S. 135] Persönlichkeiten, die dem Herrn im Himmel und der Welt gegenüber ihre eigene Verantwortlichkeit tragen müssen. Da ist denn oft der Gehorsam eine recht schwere Sache; er ist aber auch eine schöne, liebe Martha! die den Lohn in sich trägt. Die Jugend stürmt oft in dunklem Thatendrange vorwärts; das Alter steht dem entgegen mit seinen vielfachen Erfahrungen und seiner Ruhebedürftigkeit; Gott hat sie beide nebeneinander gestellt, damit eines das andere ausgleiche. Wenn die Jugend aufmerkt und annimmt, und das Alter in Milde und Gottesfurcht etwas nachgiebt, kommt die rechte harmonische Mitte heraus. Weil unser Herrgott weiß, daß dies schwer ist, hat er dem Gebot die Verheißung zugegeben, und er hält sie, er hält sie, Martha! das bestätigt die Erfahrung allezeit.“
Ein leidendes, erregtes Herz bezieht alles auf seinen besonderen Fall: „Aber Herr Pastor, ich kann keinen anderen als Siegfried nehmen!“
„Das ist möglich, liebe Martha! darüber kann in der That kein anderer als Sie selbst entscheiden. Wenn Sie aber Ihrem Verlobten die Treue halten wollen, müssen Sie sich zuvor ganz klar machen, welche Opfer diese Treue von Ihnen fordern kann. Gott kann Ihnen die Mutter nehmen, da müssen Sie vielleicht unter Fremden ein kümmerliches Brot suchen; ganz andere, viel schwerere Konflikte können[S. 136] über Sie kommen, als dies jetzt der Fall ist. Sie müssen es sich gefallen lassen, sehr niedrig und klein zu sein, und das wird gerade Ihrer Natur schwer werden. Sie müssen sich auch darauf gefaßt machen, nichts wieder von Ihrem Verlobten zu hören, ja, Sie können eines Tages die Nachricht bekommen, daß er glücklich verheiratet ist, und dürfen dann nicht sagen: ‚O, hätte ich anders gehandelt, so wäre ich nun statt eines verlassenen Mädchens eine glückliche Frau!‘“
„Ich habe mir das alles schon gesagt, Herr Pastor! das heißt, nicht alles, denn daß er mit einer anderen vermählt ist, werde ich nie hören, und ich bin darin ganz ruhig und fest, daß ich ihm treu bleibe, so lange ich atme!“
„Nun, so sei Gott mit Ihnen!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber nur vergessen Sie nicht, daß jetzt Ehrerbietung, Liebe, zarte Schonung gegen Ihre Mutter zur doppelten Pflicht wird. Bitten Sie gleich, sowie Sie nachhause kommen, der Mutter Ihre Heftigkeit ab; wenn Sie genötigt werden, für Ihre Überzeugung einzutreten, so thun Sie das mit kindlichen, sanften, bittenden Worten, und bitten Sie den lieben Gott dazu um seinen Segen; der weiß für aufrichtige Herzen alle Konflikte zum rechten Ende zu bringen. Mein armer,[S. 137] junger Amtsbruder! Ich hatte es besser mit ihm im Sinn!“
„Herr Pastor“, sagte Martha und sah ihn mit einem Blicke an, der in seiner fröhlichen Schalkhaftigkeit an frühere glückliche Zeiten erinnerte, „glauben Sie mir, er ist nur in meine Urgroßmutter verliebt! Nun gute Nacht und besten Dank! Sie sind mir doch der Stunden wegen nicht böse?“
„Wie könnte ich? Hier hat auch wohl Ihre liebe Mutter recht: Sie sind reichlich in Anspruch genommen mit Ihrer Zeit und Kraft! Gott hat nicht jedem alles befohlen, und Ihnen befiehlt er durch den Mund Ihrer Mutter, diesem Werke zu entsagen, — also bescheiden wir uns!“
Es dämmerte, als Martha ging; sie fand die Mutter am Fenster sitzend und ihrer wartend.
Martha konnte jetzt mit demütigem Herzen der Mutter nahen.
„Ach, liebe Mutter, ich bitte dich, verzeihe! Ich war sehr heftig und unartig; aber diese Sache ist mir ja so schwer!“
Die Mutter strich über ihr Haar.
[S. 138]
„Meine arme Martha, so wirst du tragen müssen, was danach kommt!“
Der Friede war hergestellt, und er wurde am besten dadurch erhalten, daß Pastor Frank sich vorläufig im Städtchen nicht sehen ließ.
[S. 139]
Ein Wort des treuen Pastors war tief in Marthas Herz gedrungen: die Mutter sorgte, was aus ihrem Kinde werden sollte, wenn sie stürbe. Martha hatte an diese Möglichkeit noch niemals gedacht; jetzt fielen ihr zum erstenmale die eingefallenen Wangen, die blauen Ringe unter den Augen der Mutter auf; jetzt erregte es ihre Besorgnis, wenn diese beim Ersteigen der Treppe nach Atem rang. Ach nein, das durfte, das konnte Gott nicht thun! Es ist diese Zuversicht, mit der fast jedes ungeschulte Herz einem schweren, drohenden Schicksalsschlag entgegentritt, mit der es immer wieder seine Hoffnung stärkt und stählt, bis endlich die Überzeugung Raum gewinnen muß: dein Hoffen ist vergeblich, du sollst nach Gottes Willen diesen schweren Weg gehen! Dann giebt es noch einen harten, sehr harten Kampf mit dem eigenen Willen, bis sich das Herz zur Ergebung[S. 140] und Stille durchringt, und erst, wenn dieses geschehen ist, kommt die Zeit, wo man auch an Sterbebetten schöne, ja glückliche Stunden verleben kann, wo die Pflege zu einem sehr süßen Geschäft wird, wo man, ohne den geliebten Kranken mit falschen Hoffnungen zu täuschen, ihn doch recht wohl erheitern und erfrischen kann, um ihn zuletzt gleichsam hinüberzubegleiten in die Wohnungen des ewigen Friedens. Dieser schwere, schöne Weg lag vor Martha.
Der Herbst brachte manchen Wechsel im Befinden; ein frischer, klarer Tag belebte die Hoffnungen von Mutter und Tochter, daß das Unwohlsein wohl vorübergehen könne; aber als die Tage kurz wurden und die Herbststürme ums Haus brausten, da sanken sichtlich die Kräfte, die Beängstigungen nahmen zu und kamen häufiger. Der Arzt schüttelte den Kopf: „Es ist ein Herzleiden, das sich schon sehr weit ausgebildet hat.“
Bis in den Advent hinein hatte Martha ihre Stunden und Konversationsnachmittage festhalten können; dann aber fand sie die Mutter nach jeder Abwesenheit so unglücklich und aufgeregt, daß sie sich überzeugen mußte: so geht es nicht mehr weiter. Suschen hatte versucht, ihre Stelle zu vertreten und war gern angenommen worden; aber Frau Feldwart, beängstigt durch ihr Leiden, war reizbar und eigensinnig, und verlangte sofort sehnsüchtig wieder nach Martha.
[S. 141]
„Es hilft nichts“, sagte diese, „ich muß die Stunden jetzt aufgeben; Gott wird ja helfen, daß es geht!“
Ja, er verlangt nichts Unmögliches; es ging wirklich! Alle die Eltern, deren Töchter Martha unterrichtet hatte, fühlten herzliche Teilnahme; Stärkungsmittel, guter Wein, feine Speisen kamen von allen Seiten herbei; ab und zu sahen die hellen, freundlichen Gesichter der jungen Mädchen selbst herein.
Pastor Wohlgemuth war sehr treu in seinen Besuchen; er verstand die Kranke und sie verstand ihn; er hielt keine langen Reden: ein Schriftwort, das auf ihren Zustand paßte, ein Vers aus einem unserer schönen Trost- und Glaubenslieder, ein kurzes, warmes, herzliches Gebet — das waren die Erquickungen, welche er ihr zurückließ, und sein heiteres Gesicht, sein klares Auge, seine getroste Stimme wirkten allezeit wie eine belebende Arzenei nicht nur auf die Mutter, nein! auch auf den gesunkenen Mut ihres Kindes.
So kam Weihnachten recht ernst heran. Die Mutter litt mehr als je. Werners Kinder hätten so gern der Martha ein Bäumchen geputzt, aber sie hätten es ihr doch nicht bringen dürfen; der armen Kranken mußte auch die leiseste Unruhe erspart werden.
Als die Glocken zur Kirche läuteten, saß Martha an[S. 142] ihrem Bette und las die Weihnachtsgeschichte. Ach! Das „Siehe, ich verkündige euch große Freude“, es war heute schwer zu fassen; ihre Stimme stockte beim Lesen.
Die Mutter hielt die Hand vor die Augen; nach einer Weile sagte sie: „Heute vor einem Jahre hatten wir unseren letzten glücklichen Abend, Martha! Dann ging das Elend an. Wenn uns damals einer gesagt hätte, wie Schreckliches wir erleben sollten!“ Sie seufzte tief.
Martha nahm sich zusammen, so viel sie konnte: „Ja, Mutter, wir haben viel durchgemacht, aber Gott hat uns auch recht dabei geholfen; wenn uns jemand vorher gesagt hätte, wie gut wir das Schwere ertragen würden, das hätten wir auch nicht geglaubt.“
„Es kommt noch schwerer, liebe Martha!“ fuhr die Mutter mit Anstrengung fort, „viel schwerer!“
Martha zitterte innerlich, aber sie kämpfte tapfer ihre Aufregung nieder.
„So wird er uns auch durch das Schwerste helfen“, sagte sie leise.
„Weißt du denn auch wohl, was ich meine, mein armes Kind?“
„Ja, liebe Mama, ich glaube, ich weiß es. Ach, ich sehe manchmal nichts vor mir als Dunkelheit; aber das Christkind ist ja da; seine Hand kann ich auch im Dunkel[S. 143] fassen, und es wird mich schon durchbringen, und dich auch, Mama.“
„Ich glaube, sie singen drüben bei Werners; möchtest du nicht dort sein?“
„Nein, Mama, heute bleiben wir zusammen.“
Leise Schritte näherten sich bald darauf. Martha sah hinaus; es waren Suschen und Luischen: „Dürfen wir nur einen Augenblick kommen und bescheren?“
Frau Feldwart hatte die freundliche Frage gehört: „Ja, kommt nur!“
„Ja, aber da müssen Sie und Martha die Augen schließen, bis wir sagen: ‚Nanu!‘“
Es ward bewilligt. Ein leises Flüstern und ein süßer Duft ging durchs Zimmer. Als die Augen sich öffnen durften, sahen sie auf einen wunderbar schönen, blühenden Rosenstock; darunter lagen neben allerlei zierlichen Näschereien Gerocks erbauliche Lieder und ein von Suschen feingestricktes Kopftuch für Martha.
Gerührt wurden die schönen Gaben bewundert; Frau Feldwart war sehr freundlich: „Nun singt mir aber: ‚Es ist ein Ros’ entsprungen‘, das gehört zu dem schönen Rosenstrauch.“
Sie thaten das sehr gern und Martha sang mit. Als Suschen bat, hier bleiben zu dürfen, damit Martha etwas[S. 144] hinüberginge unter den Weihnachtsbaum, schlug es diese dankbar und freundlich ab; sie fühlte, daß es so besser sei! Aber es wurde ein friedlicher Abend, weihnachtlich im höchsten und schönsten Sinne.
„Vielleicht feiere ich übers Jahr droben mit deinem Vater!“ sagte Frau Feldwart und sah sehr fröhlich dabei aus.
Marthas Gedanken wanderten, wohin sie oft gingen — zu Siegfried! Sie wußte nicht mehr, was sie denken und wo sie ihn suchen sollte; aber sie bat, daß Gott ihm einen schönen, gesegneten Weihnachtsabend schenken möge, und die Gewißheit kam als ein süßer Trost über sie, daß ihr Vater droben im Himmel, ihre Mutter auf dem Krankenlager, Siegfried in der weiten Ferne und sie selbst mit ihrem betrübten, zagenden Herzen, alle in einer Vaterhand ruhten, sich alle des einen heiligen Christ getrösten und hoffen durften, nach dieser Zeit Leiden in eine selige Heimat einzuziehen, wo keine Trennung und kein Schmerz mehr sein wird. Beide, Mutter und Tochter, fühlten es als eine große Wohlthat, daß nun das Wort ausgesprochen war, vor dem sie sich immer gefürchtet hatten, daß sie nun offen und gemeinsam dem entgegensahen, was kommen sollte, und sich auch gemeinsam dazu stärken konnten. Es kamen ernste, sehr schwere, aber friedliche Tage, während in der Nacht[S. 145] mehr und mehr ein Angstanfall den anderen ablöste, so daß sich Martha nach Beistand umsehen mußte. Wenn es sich mit ihren Botengängen vereinigen ließ, blieb Trude manchmal eine Nacht; dann durfte Martha ruhig schlafen, denn die Kranke fühlte sich bei ihr geborgen wie ein Kind im Mutterarm; aber dies konnte doch nur selten geschehen. Da bot sich die Warburgerin zur Hilfe an, und je kränker Frau Feldwart wurde, desto mehr war ihre gleichmäßige Ruhe und große Körperkraft am Platze, mit der sie die Kranke hob und zurechtlegte, während ihre Heiterkeit und Frische die Krankenstube zu erhellen schien.
Man denkt oft, Tage, die so einförmig unter Sorge und Not hinfließen, müssen langsam vorübergehen; o nein! das Gegenteil ist der Fall. In diesem steten, stillen Aufmerken und Sorgen für den nächsten Augenblick vergeht die Zeit unmerkbar wie im Fluge.
Martha wunderte sich, als die Tage anfingen, länger zu werden, und die Sonnenstrahlen früher durchs Fenster blickten. Frau Feldwart freute sich daran, — Martha sah es mit Bangen; sie wußte, daß der März das letzte welke Laub von den Bäumen schüttelt. Wenn sie die Angst der Mutter sah, sehnte sie sich mit ihr nach Erlösung; aber was dann aus ihr selbst werden sollte — in diesen Gedanken durfte sie sich gar nicht hineinwagen.
[S. 146]
Stellte sie sich einmal ganz ihre verlassene und hilflose Lage vor, so kam wohl der Gedanke an Pastor Frank, an das friedliche und geschätzte Leben unter seinem Dache wie eine Versuchung über sie. Aber nein! Sie konnte nicht bereuen, was sie gethan hatte; immer wieder trat vor ihr inneres Auge das Bild ihres Siegfried; daneben hatte kein anderes Platz!
Es war ein ganz wunderlieblicher 1. März; die Sonne schien so erwärmend und freundlich auf die schwellenden braunen Knospen, als könne sie es kaum erwarten, dieselben zu sprengen. Frau Feldwart war durch eine schwere Angstnacht gegangen; jetzt, gegen Mittag, ließ sie die Fenster öffnen und atmete mit sichtlicher Erleichterung und Freude die linde Frühlingsluft ein.
„Vielleicht könnte ich jetzt ein wenig schlafen“, sagte sie, „versuche du es auch, Martha! du wachtest die ganze Nacht.“
Martha richtete der Mutter die Kissen zurecht; diese zog ihren Kopf zu sich hernieder und sagte freundlich: „Gott segne dich, mein liebes, liebes Kind! Gute Nacht!“
Es war nicht Nacht, es war heller, strahlender Tag; Martha zog sorglich hinter den offenen Fenstern die Gardinen zu, setzte sich in den Lehnstuhl und beobachtete noch eine Weile den Schlummer der Mutter, der sehr süß und[S. 147] fest zu sein schien; und wie sie auf das friedlich ruhende Angesicht blickte, verschleierten sich allmählich auch ihre Gedanken, allerlei Traumbilder umgaukelten sie; nach kurzer Zeit schlief sie so fest, wie die Mutter ihr gegenüber. Doch nein! so fest schlief sie nicht, denn als sie nach einer Stunde erwachte und auf den Zehen näher schlich, um nach der lieben Kranken zu sehen, da lag diese noch ebenso friedlich und freundlich da, aber das Antlitz war marmorweiß, kein Atemzug hob mehr die sonst so gequälte Brust, und die Hände, die auf der Decke lagen, waren erkaltet. Es währte lange, bis es der armen Martha ganz zum Bewußtsein kam, daß die Mutter dahin gegangen, wo kein Leid, kein Geschrei und keine Qual mehr ist.
Als es ihr endlich zur Gewißheit wurde, schrie sie nicht auf, sie klingelte nicht um Hilfe; sie kniete am Bette, schickte ihre Seufzer zu Gott hinauf und weinte heiße, recht heiße Thränen. Sie wußte ihre Eltern am Throne Gottes vereint, aber sie war allein gelassen auf Erden und fühlte das mit tiefem, tiefem Schmerz.
Suschen, die einzige, die stets einen Drücker zur Korridorthür hatte und unbemerkt kommen und gehen konnte, fand sie so. O, wie herzlich weinte sie mit ihr! Dann rief sie ihre Eltern, und als Frau Werner Martha in die Arme schloß und ihr Gemahl so warme, teilnehmende Worte[S. 148] sprach, fühlte das verwaiste Kind, daß es doch nicht ganz verlassen sei.
Der Direktor besorgte mit großer Aufopferung all’ die schweren Außendinge, die ein solcher Todesfall mit sich führt; seine Frau sagte: „Du kommst jetzt mit uns, liebe Martha. Sobald die Frau kommt, die dazu beauftragt ist, helfe ich dir mit Suschen zusammen, deiner lieben Mutter die letzten Dienste zu erweisen; denke du jetzt an nichts weiter, als daß deine Mutter im Himmel und unser Herrgott ein Vater der Waisen ist; alles andere findet sich zu seiner Zeit; jetzt wohnst du bis auf weiteres mit in Suschens Stübchen.“
Das Begräbnis war vorüber; Martha hatte sich bis dahin wunderbar aufrecht gehalten, aber es war noch kein Schlaf wieder in ihre Augen gekommen. Sie hatte sich sehr getröstet gefühlt durch Pastor Wohlgemuths glaubensvolle Grabrede über den Text: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt.“ Aber als sie nun an Suschens Arme langsam nachhause ging, kam eine solche Abspannung und Müdigkeit über sie, daß Frau Werner sie sogleich nach dem freundlichen Schlafstübchen führte; schon während des Auskleidens fielen die nassen Augen zu, und als die mütterliche Freundin noch ein Weilchen mit gefalteten Händen am Bette ihres Pfleglings stand, hörte sie schon die sanften Atemzüge, welche den Schlummer der Kindheit und Jugend zu begleiten pflegen.
[S. 149]
Suschen benutzte diese Ruhestunden, um mit Frau Warburger frische Luft in die verödete Wohnung zu lassen und die Spuren von Staub und Unordnung zu beseitigen, welche ein jedes Begräbnis hinterläßt. Sie stand in ihrem langen, schwarzen Kleide mitten im Sterbezimmer, und während sie mit ruhiger Stimme die Arbeiten der Dienerin leitete, begoß sie die Blumen, die sich in Frau Feldwarts Krankheit durch die Freundlichkeit der Bekannten in Fülle zusammengefunden hatten, lockte das Hündchen an sich, das winselnd unter dem Tische lag und nur schwer zu bewegen war, Milch und Brot aus ihren Händen zu nehmen, und gab hier und da einem verschobenen Gegenstande seine richtige Stellung und Lage wieder.
Pastor Frank, der die Entschlafene zur letzten Ruhestätte begleitet hatte, überraschte sie bei diesem Geschäfte; er kam, um der verwaisten Tochter ein paar freundliche Worte zu sagen. Er hatte die Thür offen gefunden, weil Frau Warburger viel hin und wieder gegangen war, und stand jetzt Suschen gegenüber.
„Es thut mir leid, Herr Pastor!“ sagte diese, „ich kann jetzt Martha nicht rufen; nach vielen durchwachten Nächten schläft sie soeben zum erstenmal sanft; aber sie wird sich gewiß freuen, wenn Sie ein andermal vorsprechen wollen; nur müssen Sie dann zu meinen Eltern kommen,[S. 150] denn meine Freundin wird in der nächsten Zeit bei uns wohnen!“
Der Pastor empfahl sich und Suschen setzte ihre stille Arbeit fort. In der Korridorthür sah sich der Davoneilende noch einmal um: „Sonderbar! das Suschen sah heute recht erwachsen aus mit dem schwarzen Kleide und mit dem ernsten Gesicht; sie ist doch wohl eigentlich kein Kind mehr!“
Direktor Werner hätte der Martha gern noch einige Tage stiller Erinnerung und friedlichen Ausruhens gewährt, aber er bemerkte bald, daß sie sehr unruhig war beim Gedanken an ihre Zukunft, und so fragte er sie, als sie an einem der nächsten Morgen ihm und seiner Frau nach dem Frühstück allein gegenüber saß: „Nun, liebes Kind, nun lassen Sie uns erfahren, was Sie für Ihre Zukunft denken und wünschen.“
Martha sah ihn traurig an: „Was soll ich denken? Meine Nahrungsquelle versiegt jetzt, denn die Leibrente der Mutter ist mit ihrem Tode verfallen; mir bleibt nichts übrig, als mir so schnell als möglich eine Stelle zu suchen als Jungfer oder Stütze der Hausfrau, oder“ — setzte sie etwas zögernd hinzu — „vielleicht könnte ich in ein Diakonissenhaus gehen!“
„Das ist ein schöner Beruf“, sagte der Direktor ernst;[S. 151] „aber haben Sie früher wohl jemals daran gedacht, denselben zu ergreifen?“
„Nein“, erwiderte Martha aufrichtig.
„Nur um eine Versorgung zu haben, geht man nicht in ein Diakonissenhaus, da gehört ein tieferer Beruf dazu. Ich meine, liebes Kind, man muß bei solcher Überlegung die Fingerzeige Gottes beobachten. Meinem Suschen habe ich gestern noch ganz ernstlich abgeredet, Lehrerin zu werden; ihre Befähigung weist auf andere Gebiete hin; ich könnte sie mir eher als Diakonisse, ja als Stütze der Hausfrau denken; Ihnen aber möchte ich dringend raten: Werden Sie Lehrerin! Sie haben vom lieben Gott genau die Gaben erhalten, die zu einer solchen Wirksamkeit gehören, während man Ihnen als Stütze der Hausfrau wenigstens in der ersten Zeit noch anmerken würde, daß Sie bei dergleichen Beschäftigungen nicht aufgewachsen sind.“
Martha seufzte: „Wie gern würde ich Ihrem Rate folgen! Aber ich müßte doch erst ein Examen machen; das kostet Geld — woher soll ich das nehmen?“
„Da läßt sich wohl Rat schaffen“, sagte der Hausherr freundlich; „ich habe mit meiner Frau gesprochen und will Ihnen sagen, wie wir denken. Unser Wirt hat eine sehr gut ausgebaute Bodenkammer, die wird er Ihnen für einen sehr geringen Preis geben, und Sie räumen Ihre Möbel[S. 152] und Sachen da hinein; wir sehen dann zu, daß wir Ihre Wohnung zum April noch weiter vermieten können. Sie ziehen zu uns, teilen Suschens Stübchen und sind unser lieber Gast. Gold und Silber haben wir leider selbst nicht, aber was wir haben, das geben wir gern, nämlich Obdach, Heimat, Verpflegung, so lange Sie es gebrauchen. Doktor W., mein Freund, bildet eine ganze Schar junger Mädchen fürs Lehrerinnenexamen aus. Sie sind so sehr viel besser vorbereitet durch Ihren trefflichen Jugendunterricht, als die meisten seiner Schülerinnen, daß ich überzeugt bin, Sie können das Ziel in ein und einem halben Jahre erreichen, besonders wenn ernster Wille und redliche Anstrengung dazu kommen. Nun, haben Sie wohl Mut, diesen Weg zu gehen? Es ist wohl möglich, daß etwas von Ihrem kleinen Notpfennig dabei noch aufgezehrt werden muß; aber ich denke, er trägt so die besten Zinsen.“
Martha konnte nur danken, mit tiefgerührtem Herzen danken für so viel Güte.
„Ist nicht nötig, ist gar nicht nötig“, sagte der Direktor, „es wird ein ganz angenehmer Zuwachs für unsere Familie sein. So, nun schlagen Sie ein! Und nun werde ich dich, liebe Martha, ganz als meine älteste Tochter betrachten, so lange du bei uns bist. Sage du von heute an: Onkel und Tante Werner! da wird es uns allen behaglich sein!“
[S. 153]
Martha mußte durch ihre Thränen lächeln, und Suschen, die eben hereingeschlüpft war, umarmte sie so stürmisch, daß sie fast erdrückt wurde. In den Kreis ihrer Geschwister kam bei der Nachricht, daß Martha jetzt hier bleiben würde, eine so freudige Aufregung, daß Suschen und Frau Werner Mühe hatten, sie so ruhig zu erhalten, wie es bei der traurigen Gemütsstimmung ihres Gastes nötig war.
[S. 154]
Da in H. Wohnungsmangel war, wurde die Wohnung, welche Frau Feldwart innegehabt hatte, noch im Laufe des Monats weiter vermietet. Es kamen für Martha die schweren Tage des Ausräumens, und Suschen half ihr mit Arbeit und Teilnahme, so viel sie immer konnte. Die Kommode der Urgroßmutter, der Nähtisch, Ajax und das Vögelchen wanderten mit zu Werners, um es der Verwaisten dort heimisch zu machen; alle Familienglieder trugen ihr Mitgefühl und Liebe entgegen und suchten ihr dieselbe auf alle mögliche Weise zu zeigen. Dennoch vergingen Wochen, bevor sie sich in den neuen Verhältnissen zurecht fand. Die Stunden kamen nicht selten, wo der Anblick des reichen Familienkreises ihr die eigene Verlassenheit noch deutlicher und schwerer zum Bewußtsein brachte und die Sehnsucht nach ihren Lieben so mächtig erregte, daß sie kaum darüber[S. 155] Herr werden konnte. Die neue, ernste Thätigkeit, in welche sie sofort eingetreten war, half ihr wohl dabei, kostete ihr aber, so gern sie von Jugend auf gelernt hatte, doch oft Überwindung. Ihr Wissen war auf vielen Gebieten reicher, als es für das bevorstehende Examen verlangt wurde, und Doktor W. hatte seine große Freude daran, aber in manchen Dingen war es mangelhaft. Sie hatte, besonders seitdem sie der Schule entwachsen war, volle Freiheit gehabt, zu lernen und zu treiben, was sie innerlich zumeist anzog; jetzt mußte es nun systematisch vorwärts gehen, gleichmäßig in allen Fächern, in ganz bestimmten, ziemlich engen Schranken; das kostete ihrer lebendigen Natur manchen Kampf und manchen Seufzer.
„Wenn ich später Kinder zu erziehen habe, lasse ich ihnen gewiß mehr Freiheit!“ dachte sie. Dennoch konnte sie nicht umhin, anzuerkennen, daß solche ins System gebrachte, fest geregelte Thätigkeit auf den inwendigen Menschen beruhigend wirkt. Auch das Arbeiten in Gemeinschaft mußte sie erst lernen; da sie das einzige Kind war, hatte sie für solche Beschäftigungen ihr Zimmer und vollständige Stille um sich her gehabt. Dies ging bei Werners nicht an, wenigstens jetzt nicht. Der April und der Anfang des Mai brachten rauhe, kalte Luft; man mußte heizen. Im großen Speisezimmer arbeitete der Sekundaner mit Luise[S. 156] und den Zwillingen; der Martha ward an derselben langen Tafel ihr Platz angewiesen. Da zuckte sie manchmal zusammen, wenn sie im Denken und Lernen durch ein unerwartetes Tischbeben oder eine sehr unnütze Bemerkung unterbrochen wurde. Seitdem aber Wilhelm lachend gefragt: „Sind Sie nervös, Martha?“ nahm sie sich sehr zusammen; als nervös mochte sie durchaus nicht gelten; sie fand auch in der That, daß die Gewohnheit sie nach und nach gegen solche Eindrücke weniger empfindlich machte.
„Du arme Martha!“ sagte Frau Werner mitleidig, „im Sommer wird es besser, da kannst du auf deinem Stübchen allein sein.“
„Ach, ich glaube, bis dahin bin ich ganz daran gewöhnt“, sagte Martha freundlich.
„Dann ist es desto besser“, erwiderte die Mama sehr zufrieden; „wir Frauen erlangen ungestörte Muße für unsere Arbeiten nur in den seltensten Fällen, in den glücklichsten Verhältnissen am wenigsten; da ist es ein großes Glück, wenn man lernt, in der äußeren Unruhe die innere Ruhe festzuhalten; stilles Ertragen kleiner Störungen kräftigt mehr als man denkt, und trägt viel dazu bei, den Lebensweg zu ebnen.“
Auch das Verhältnis zu den verschiedenen Familiengliedern brachte manche Schwierigkeit. Jede neue Lebenslage[S. 157] bietet solche dar; schwache und selbstsüchtige Naturen steigern sie für sich und andere oft bis zur Unerträglichkeit; kräftige und treue überwinden sie mit Gottes Hilfe und finden darin die beste Schule und den größten Reichtum fürs Leben.
Der Sekundaner hatte eben angefangen, ein wenig über die Zeit hinauszukommen, wo es heißt: „Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe.“ In solcher Zeit pflegen zwischen großen Brüdern und erwachsenen Schwestern intime Freundschaften zu entstehen. Er war gewohnt gewesen, all’ seine Erlebnisse Suschen mitzuteilen, wie sie seine Heimkehr aus der Schule kaum erwarten konnte, um all’ die Dinge mit ihm zu besprechen, die für ein achtzehnjähriges Herz Bedeutung und Wichtigkeit haben. Nun kam Martha und nahm Suschens Neigung und in jeder freien Stunde auch Suschens Zeit so in Beschlag, wie er es nicht für möglich gehalten hatte. Der junge, sehr hübsche Gast war ihm keineswegs gleichgültig; er versuchte sehr ernstlich, auf Spaziergängen oder abends im Garten der dritte im Bunde zu sein; da man ihn aber nicht gerade huldvoll aufnahm, ward er verstimmt und kam in Versuchung, zu den eben überwundenen Gewohnheiten der Flegeljahre zurückzukehren. Er entwickelte eine merkwürdige Geschicklichkeit darin, auf den Zehen näherzuschleichen, Bruchstücke aus der Unterhaltung[S. 158] der Mädchen zu erlauschen und dieselben in der verdrehtesten Gestalt wieder zutage zu bringen, gerade, wenn es die beiden Freundinnen am meisten in Verlegenheit brachte. Er band auch wohl heimlich Suschens langen Zopf an Marthas Taillenband fest, wodurch sehr unangenehme, ja manchmal auch schmerzhafte Verwickelungen entstanden, und die ärgerlichen Ermahnungen der Frau Direktorin halfen immer nur auf kurze Zeit. Eine treue Bundesgenossin hatte er, nicht in seinen Ungezogenheiten, aber in der Eifersucht auf Marthas Freundschaft mit Suschen, an seiner Schwester Luise, die es gar nicht begreifen konnte, warum sie in letzter Zeit so ganz in den Hintergrund gedrängt wurde, und die beiden redeten sich recht geflissentlich gegenseitig in den Ärger hinein.
Frau Werner sprach anfangs nur zum Frieden: „Bedenkt doch, wie die arme Martha noch so fremd hier ist; sie hat jetzt eine Freundin nötig; wenn sie ihre Traurigkeit erst etwas überwunden hat, wird das ganz von selbst besser.“
Der Direktor sah die Sache mit heimlicher Belustigung; die kleinen Konflikte machten ihm Spaß, weil er eine glückliche Lösung voraussah; aber er konnte es nicht lassen, zuweilen etwas ironisch zu werden. Auf Spaziergängen, wenn alle sich an einer schönen Baumgruppe oder freundlichen Aussicht[S. 159] erfreuten, störte er das eifrige Zwiegespräch der Mädchen: „Nun, ihr Geistesabwesenden, thut nur auch einmal euere Augen auf, damit ihr etwas von Gottes Schöpfung gewahr werdet!“ Oder er läutete hinter ihren vereinigten Köpfen mit der großen Tischglocke: „Versunkenheit, Versunkenheit weiche! Das Abendbrot soll in den Garten gebracht werden.“
Gerade, weil Martha fühlte, daß die freundliche Rüge von ihr verdient war, traf sie dieselbe oft recht empfindlich; sie war als einziges Kind an große Schonung gewöhnt.
Die Sache erreichte ihren Höhepunkt, als eine Cousine von Suschen, Josephine, in schöner Abkürzung nur „Phine“ genannt, auf Besuch kam. Sie war eine sehr wenig anmutige Erscheinung, eckig im Benehmen, wortkarg, wenig angeregt zu geistigen Interessen, mit einem Worte: den beiden Unzertrennlichen sehr unsympathisch. Dies ließen sie auf eine sehr unliebenswürdige Weise dem Gaste merken; sie wußten mit wunderbarer Geschicklichkeit denselben von ihren Zwiegesprächen auszuschließen, und Phine ging auf gemeinsamen Wanderungen, wenn nicht etwa der Direktor oder die Hausmutter sich ihrer annahm, mit gefurchter Stirne ihren Weg allein. Die Eltern beide sahen dies mit wirklichem Schmerz; des Direktors humoristische Bemerkungen wurden bitter und beißend; seine Frau nahm eines Morgens,[S. 160] als Phine noch schlief, die beiden Freundinnen beiseite, und sagte ihnen ganz gründlich die Wahrheit: „Alles, was recht ist, lobt Gott! ihr Kinder. Ich habe euerer Freundschaft viele Rechte eingeräumt, aber wenn ihr mir die Gastfreundschaft verletzt, bin ich sehr böse. Ja, ja! seht mich nur erstaunt an; jede Freundschaft, jedes Verhältnis, welches so ausschließlich wird, daß man gar nicht mehr daran denkt, was man seinem Nächsten schuldig ist, wird Leidenschaft und Egoismus, und das muß bekämpft werden. Ich bitte mir von heute an aus, daß ihr euch ordentlich betragt, sonst trenne ich euch und schicke Suschen wieder auf Reisen!“
Martha empfand es sehr tief, daß sie hier Ursache zur Unzufriedenheit gegeben hatte; Suschen gab sich noch nicht gleich: „Aber Mama! was sollen wir denn mit ihr anfangen?“
„Das wird sich schon finden, wenn ihr ernstlich wollt; wie es in den Wald schallt, so schallt es wieder heraus; ich glaube, ihr habt noch nicht einmal ernstlich mit dem Hammer der Liebe bei ihr angeklopft; wer weiß, welche Goldstufen ihr findet, wenn ihr es thut!“
Martha war sehr erschüttert von dieser Strafpredigt; sie hatte selten Scheltworte bekommen im Leben, und obgleich sie der Frau Werner in ihrem Herzen beipflichten mußte, fühlte sie sich doch sehr unglücklich und verlassen und griff[S. 161] zum Trost nach Urgroßmutters Briefen. Sonderbar! das erste, was ihr in die Hand fiel, war ein kleines Gedicht:
Nun es die Urgroßmutter sagte, mußte es wohl wahr sein! Martha prüfte sich ernstlich und kam auf manchen Punkt, der sie verklagte. Wo waren denn die lustigen Mittagsstunden geblieben, seitdem Suschen und sie im entferntesten Gartenweg wanderten und sich um die anderen[S. 162] nicht bekümmerten? Als sie abends allein auf ihrem Stübchen waren, gab Martha Suschen das Gedichtchen zu lesen; ausführliche Besprechungen und gute Vorsätze schlossen sich daran, die mit aufrichtigem Herzen gefaßt wurden.
„Wenn ich nur erst wüßte, wie man Phinen näher kommen könnte!“ sagte Suschen.
„Wir müssen es versuchen!“ sagte Martha seufzend.
Nun ist nichts schwerer, als den richtigen Anfang einer Unterhaltung zu finden, wenn man mit der feierlichen Absicht, eine solche zu beginnen, an jemanden herantritt.
Phine, teils beleidigt durch die erfahrene Zurücksetzung, teils bequem, war einsilbig und schien die Annäherung ihrer Altersgenossinnen fast nur mit gnädiger Herablassung zu dulden; Suschen kehrte ihr bald den Rücken und verschwand. Martha versuchte jedes mögliche Thema.
„Haben Sie Geschwister?“
„Ja.“
„Brüder oder Schwestern?“
„Von beiden.“
„Ist T. ein angenehmer Ort?“
„Es geht!“
„Kommen Sie viel in Gesellschaft?“
„Manchmal!“
„Wird dort auch musiziert?“
[S. 163]
„Himmel, wie kommen Sie nur darauf, mich in einem fort zu fragen! Lassen Sie mich doch zufrieden; es interessiert Sie ja alles nicht!“
Es war eigentlich wahr, Martha gestand sich’s zu ihrer Beschämung; aber wie in aller Welt sollte sie da eine Annäherung beginnen?
Gegen Abend wanderten alle in den Garten; der Gärtner hatte verschiedene Beete neu bepflanzt, eins derselben recht geschmacklos mit lauter gleich großen Pflanzen, von denen keine zur Geltung kam und jede der anderen Luft und Sonne wegnahm. Josephine ging einigemal um das Beet herum und schien in seine Betrachtung völlig versunken zu sein.
„Ich dächte, das Beet wäre nicht eben schön“, sagte Martha.
Das erste freundliche, verständnisvolle Lächeln erschien auf Phinens Gesicht: „Nein, das ist es wirklich nicht; wenn da in der Mitte nur ein einziges Heracleum oder eine Staude Zuckerrohr und ein paar Maispflanzen ständen; dann etwa diese Gladiolus, ringsum vielleicht noch Astern und am Rande weiße Vergißmeinnicht — das wäre ein hübsches Beet. Ja, das verstand mein Großvater so schön! Ich wollte, Onkel Werner erlaubte mir, es einmal so einzurichten!“
[S. 164]
„Das würde er vielleicht thun; aber wäre es nicht schade um die hübschen Wicken und Winden?“
„Ei, die könnten wir dort an der Laube anbringen; da fehlt etwas.“
„Fragen Sie doch!“ riet Martha.
„Ach, das wage ich nicht!“
Beim Abendbrot redete Martha den Hausherrn an: „Onkel Werner, Phine und ich haben einen sehr großen Wunsch!“
„Nun, und welchen?“ fragte er freundlich.
Martha trug die Sache vor; der Onkel lachte: „Wenn ich da nur nicht aus dem Regen in die Traufe komme!“
„Sie könnten es doch versuchen!“ bat Martha weiter. „Phine versteht sich darauf und wir könnten ihr helfen.“
„Ja, wir alle! wir alle!“ riefen die Zwillinge.
„Meinetwegen, versucht die Sache!“ entschied der Direktor. „Das Heracleum giebt euch Freund Friedhelm umsonst.“
Wilhelm holte es, brachte auch noch einige Maispflanzen und ein Körbchen voll Vergißmeinnicht mit; Phine hob sorglich die überflüssigen Pflanzen aus; sie kamen unter die Aufsicht von Luise; Arthur und Hans durften an der Laube unter Suschens Aufsicht Löcher ausarbeiten, und Martha setzte die Pflänzchen mit geschickter Hand ein. Phine arrangierte indessen[S. 165] das Mittelbeet und Anna trug ihr in der kleinen Gießkanne immer wieder frisches Wasser zu. Die kräftige Mittelpflanze, obgleich sie ihre Höhe noch nicht erreicht hatte und jetzt die Blätter hing, hob das Beet sehr.
„Ihr sollt ’mal sehen, wenn alles ordentlich anwächst, wie reizend es wird“, rief die Obergärtnerin; sie war ganz aufgelebt und nicht wiederzuerkennen.
Die Garderobe war nun zwar nicht ganz ohne Schaden weggekommen, aber die Freude über das gemeinsam Geschaffene strahlte allen aus den Augen.
Dies war der Anfang vieler Vergnügungen; abends mußte man gießen; hier und da wurden noch Verbesserungen für nötig befunden; die ganze junge Familie entwickelte ein nie gekanntes Interesse an der Gärtnerei, und Josephine gab eine sehr geschickte Lehrmeisterin ab. Auch verstand es niemand so gut wie sie, die Ranken des wilden Weines und des Geisblattes zierlich aufzubinden oder aus wenigen Blumen einen anmutigen Strauß zu schaffen.
„Woher kannst du das alles, Phine?“
„Von meinem Großvater“, erwiderte sie; „sein Garten war sein Liebstes, und ich war, bis er starb, sein Gehilfe darin; ich liebe die Pflanzen gar zu sehr! Es fehlt mir hier nur eine sehr zierliche, feine Blattpflanze, die wir zuhause in Fülle hatten.“
[S. 166]
„Weißt du den Namen nicht?“
„Nein, aber ich habe oben einige gepreßte Exemplare.“
Sie holte dieselben, um sie den Kindern zu zeigen, und alle waren erstaunt, wie schön sie gepreßt waren, wie unverletzt die Farben.
„Können wir das auch lernen?“ fragte Luischen.
„Freilich, das kann jeder lernen; ich werde heute Nachmittag recht viel Löschpapier holen und euch das Verfahren zeigen.“
Es ging nun mit Eifer ans Einlegen und Pressen; auch Martha trieb es, um die Ränder ihrer Zeichnungen mit dem getrockneten Gras und Moos zu schmücken; die Kinder suchten das nachzuahmen, und alle fühlten, wie schön es sei, wenn eins vom anderen nimmt und einer dem anderen giebt, viel schöner, als seinen Gedanken nachzuhängen und unbekümmert um die anderen seine einsame Straße zu ziehen. Ja, Martha und Suschen merkten zu ihrem Erstaunen, daß ihre einsamen Plauderstunden am Abend und Morgen nicht an Reiz verloren und viel an Reichtum gewannen, seitdem sie sich mehr den Interessen der anderen Hausgenossen anschlossen. Als Martha einmal teilnehmend Josephinen nach dem Großvater fragte, da kam die Goldstufe in dem Herzen der Enkelin wirklich zutage; hier verstand sie Martha nur zu gut; und als endlich der Gast[S. 167] wieder seiner Heimat zufuhr, schied er mit Thränen und wurde mit Thränen entlassen.
„Die Urgroßmutter hat doch wieder recht behalten“, sagte Martha.
Ja, die Urgroßmutter! ihre Papiere und Briefe lieferten reichen Stoff zu den Unterhaltungen der beiden Mädchen; denn Suschen durfte jetzt mit darin studieren. Sie interessierte sich besonders für die praktische Armenpflege, die oft darin erwähnt wurde, und wenn sie, ihr Körbchen am Arm auf Pastor Wohlgemuths Geheiß zu seinen Kranken ging, that sie dies fast nie ohne eine stille Erinnerung an die ehrwürdige Frau, und ohne die Freude, auf ihren Wegen zu gehen. Ihre Lieblingspatientin war eine junge Frau, aus Weißfeld stammend, welche bald nach ihrer Verheiratung eine Brustentzündung bekommen hatte und infolge davon schwindsüchtig geworden war. Sie sah Suschens Besuchen stets mit großer Sehnsucht entgegen; diese fühlte sich ihr gegenüber besonders frei, da die Leidende nur um wenige Jahre älter war als sie.
Eines Abends, nachdem Suschen die Kranke besorgt, umgebettet und erquickt hatte, klagte diese noch: „Ach, Fräulein! Mein armer Mann! heute hat er müssen eine Stunde vor Tage auf die Fabrik gehen, hat keine Zeit behalten, den Topf in die Grube zu setzen; Mittag ist er gar nicht nachhause[S. 168] gekommen, und nun findet er abends auch nichts Warmes! Er ist auch zu schlimm dran!“
„Könnte ich denn etwas für ihn kochen?“ fragte Suschen.
„Ach, das ist doch zu viel verlangt; aber Bier ist im Hause, gleich auf der obersten Kellerstufe, und Brot und Milch und ein Ei und Kümmel auch; ach, Fräulein, wenn Sie es thun wollten!“
Suschen bereitete die Suppe und setzte sie auf dem Ofen warm.
Pastor Frank, der sein früheres Gemeindeglied besuchen wollte, hatte ihrem liebevollen, anmutigen Thun eine Weile unbemerkt zugesehen. Als sie in den Hausflur trat, begrüßte er die junge Schülerin freundlich: „Wie freut es mich, daß Sie der Käthe so beistehen! Haben Sie ihr auch wohl etwas vorgelesen oder ernst mit ihr geredet?“
Suschen errötete ein wenig: „O nein! lesen kann die Käthe für sich, wenn ich nicht da bin, und sprechen von so ernsten Dingen — Herr Pastor, das wird mir schwer: ich kann viel besser mit meinen Händen helfen!“
Er sah ihr in die hellen Augen und schwieg; er hatte sie erst ermahnen wollen, zu lernen, was sie nicht konnte; aber wie sie so vor ihm stand mit den klaren Augen und der demütigen Haltung, vermochte er’s nicht; er dachte:[S. 169] „Die Gaben sind verschieden; ihre bloße Erscheinung ist eine Erquickung; und das ist gewiß: ein Kind ist sie jetzt nicht mehr!“
In mancher Beziehung war sie aber doch noch ein Kind.
In Urgroßmutters Kommode fanden sich viele Flachs- und Webe-Rechnungen; das stimmte so ganz mit dem Lobe der Spinnekunst in manchem neuen Journal, und als der Herbst kam und der Weihnachtswünsche gedacht wurde, kannte Suschen keinen größeren als: „Ach, ein Spinnrad! und einen großen Haufen Flachs!“
Frau Werner lachte darüber: „Von mir bekommst du das sicher nicht, mein Suschen!“
„Aber Mama, warum nicht?“
„Weil es für eine Spielerei zu teuer ist, und mehr als Spielerei in unserer unruhigen Zeit doch niemals wird!“
„Aber Mama!“
„Ja, liebes Kind, es ist ganz wie ich sage: An unsere Großmutter und Mütter wurden lange nicht so viel Anforderungen gestellt wie an uns; der Verkehr war ein viel langsamerer; es gab nicht so viel Stunden, Vereine und Vorlesungen; wenn sie ihr Spinnrad vor sich hatten, saßen sie tagelang hintereinander und zogen Faden auf Faden; da wurde was fertig fürs Haus. Sie konnten wohl recht hübsch dabei denken und sinnen; aber einem Kinde des 19. Jahrhunderts[S. 170] könnte es doch wohl etwas langweilig sein. Es würde auch ein teueres Leinen werden, mein Töchterchen; die Hände kommen eben den Maschinen doch nicht nach.“
„Wie schade!“ seufzte Suschen.
„Ja, liebes Kind, das läßt sich nun nicht ändern; wir können doch nicht Erfindungen und Industrie zurückdrehen, bis wir wieder ins adamitische Zeitalter kommen. Den Sinn des Fleißes, der Häuslichkeit, der Treue, der die Mütter bei ihrer Arbeit leitete — den sollen wir pflegen, aber ihn mit Vernunft in Einklang bringen mit den Anforderungen der neuen Zeit; es gefällt euch ja doch gar nicht übel, daß ihr jetzt mehr Anteil habt am geistigen Leben; das möchtet ihr doch gewiß nicht beseitigen!“
„Aber Rösners haben auch ihre Rädchen!“
„Ja, die treiben es eben als eine hübsche Erinnerung an die großmütterliche Thätigkeit und eine nette Spielerei. Da es bei ihnen gerade nicht viel darauf ankommt, was sie vornehmen, so ist das nicht zu tadeln, und hätte ich ein altes Rad, so solltest du es meinetwegen zu gleichem Zwecke haben. Aber es darf niemand meinen, daß damit in unserer Zeit ein wirklicher Nutzen für den Haushalt geschafft wird, und besonders in unserem giebt es der nützlichen und nötigen Arbeiten so viel, daß man sich der überflüssigen lieber enthält.“
[S. 171]
Es war und blieb aber Suschen sehr niederschlagend. Als die beiden Mädchen in den Herbstferien bei Rösners waren, hatte Martha auf Trudens Boden das Spinnrad der Urgroßmutter gesehen, das auf die Dienerin vererbt war.
„Ich spinne nicht darauf“, hatte diese gesagt, „wenn mir die Frau Amtsrätin auch im Winter noch Flachs giebt. Weil ich eben nichts anderes mehr thun kann, so verspinne ich den auf meinem zweispuligen, das trägt mehr ein!“
Es war nicht schwer, Truden zu bewegen, das Rad an die Urenkelin abzutreten; in Weißfeld wohnte noch ein alter, geschickter Drechsler, dem ward es zur Reparatur übergeben, und wenn für Martha der Blick auf die äußere Weihnachtsfeier von irgendeinem freundlichen Strahl erhellt wurde, so war es die Aussicht, Suschen mit diesem Rade zu beglücken. Frau Amtsrätin hatte den Flachs dazu zu liefern versprochen und hielt ihr Wort.
Die Überraschung gelang aufs beste. Als die Bescherung bei Werners am heiligen Abend vorüber war, kam Hans als Knecht Ruprecht und brachte im Namen der Urgroßmutter das feingeschmückte Rädchen; der Flachs war durch Trudens geübte Hand kunstgerecht aufgelegt; ein schönes, buntes Wockenband umgab ihn. Suschen wurde[S. 172] ganz rot vor Freude. Sie hatte ja alle Vernunftgründe in der Rede der Mutter eingesehen; aber Vernunft treibt Herzenswünsche selten aus, und als sie nun vollends vernahm, daß es das Rad der Frau Anna Martha Waldheim war, deren Name, allen sichtbar, am Querbrett prangte, kannte der Jubel gar keine Grenzen, und es wurde ihr schwer, dem Knecht Ruprecht zu gehorchen, der ihr gesagt:
Die Eltern und Geschwister freuten sich mit ihr, und auch Martha, der die Erinnerung an die beiden letzten Weihnachtsfeste natürlich schwer auf der Seele lag, war dennoch glücklich über die gelungene Überraschung und konnte sich dem Glanz der Weihnachtssonne, der so besonders lieblich hineinstrahlt in einen großen Familienkreis, nicht entziehen.
Als endlich die Zeit gekommen war und Trude der gelehrigen Schülerin Handgriff und Tritt beigebracht hatte, saß Suschen stolz auf ihrem Schemel, zog Faden auf Faden, und erschien sich, als sei sie nun ganz auf den Pfaden der[S. 173] Urgroßmutter. Sie fing auch gleich an zu überlegen, wie viel sie weben lassen wollte, erkundigte sich, wie viel oder vielmehr wie wenig der Weber gebrauche, um ein Dutzend Handtücher fertigzustellen; als sie dann aber ihre Thaten mit seiner Forderung verglich, gestand sie sich heimlich, nur ganz heimlich, daß es ziemlich lange dauern würde, bevor das Gewünschte zusammen sei, und mußte es als ein großes Glück ansehen, daß die Familie mit dem Trocknen ihrer Hände nicht darauf zu warten brauchte. Das mußte man ja sagen: lieblich sah das Suschen aus, wenn sie hinter dem blanken Spinnrad saß; recht wie ein deutsches Mädchen mit ihrem klaren Gesichtchen und blonden Zopf. Pastor Frank, der jetzt wieder häufiger und ruhiger kam und sie eines Tages bei der neuen Arbeit überraschte, konnte sich auf dem Heimwege gar nicht losmachen von dem Bilde der Spinnerin, obgleich er halb und halb ärgerlich darüber war.
„Sie macht wirklich einen sehr lieblichen Eindruck“, dachte er; „es ist schade, daß sie so wenig aus sich herausgeht; aber vielleicht schadet es nicht so viel; wenn der Pastor spricht und die Pastorfrau praktisch hilft, sollte es wohl auch gehen!“
Der Winter ging friedlich und fleißig dahin, und nun in voller Harmonie. Die Scene während Josephinens Dasein hatte auf die beiden Freundinnen den besten Einfluß[S. 174] gehabt; sie bemühten sich jetzt mit aufrichtigem Herzen, gegen alle Familienglieder liebenswürdig zu sein. Daß Wilhelm nun wirklich als dritter in den Freundschaftsbund aufgenommen war, führte demselben einen großen Zuwachs an Ideen zu. Sein Herz war sehr warm für das allgemeine Wohl, sein Interesses groß für alles, was eben die Zeit bewegte: Stöckers Arbeitervereine, Bismarcks große Ideen waren Gegenstände seiner Schwärmerei; der Primaner konnte lange Reden halten, von Suschen und Martha höchlich angestaunt, obgleich sie oft noch recht jugendlich unreife Gedanken enthielten. Natürlich kam dergleichen auch am Mittags- oder Abendtische zutage, und machte die liebe Hausfrau ungeduldig.
„Jetzt krähen die Hähnchen, wenn sie eben aus dem Ei gekrochen sind“, pflegte sie zu klagen; „ich kann es manchmal gar nicht anhören, wenn sie so unreifes Zeug vorbringen; und auch die Mädchen! Wir mußten uns ganz still verhalten, wenn von solchen Dingen die Rede war!“
Der Direktor dachte anders darüber: „Natürlich müssen sie reifer werden; aber nur, was überhaupt existiert, kann wachsen und gedeihen; ich möchte keinen Sohn haben, der nicht seine Ideale in dieser Beziehung hätte, und eine Ansicht über diese Dinge müssen sich schließlich doch auch die Frauen bilden. Sie sind ja doch bescheiden erzogen, unter[S. 175] Fremden hören sie und schweigen. Laß du sie ja im Familienkreise sich aussprechen. Du glaubst auch nicht, wie es mich interessiert; ich bekomme dadurch ein genaues Bild von dem, was mehr oder weniger in all meinen Schülern lebt; es sind die Keime der Gedanken und Thaten einer kommenden Generation, die müssen wir Alten wohl beachten, mit unseren Erfahrungen stützen und schützen und mit unserer Liebe pflegen.“
Frau Werner staunte oft, wie es ihr Mann verstand, sich auf den Standpunkt der Jugend zu versetzen und von da aus leise Irrtümer zu berichtigen und auf unreife Ansichten einzuwirken.
„Auf manchen Gebieten“, dachte sie, „sind Männer geduldiger als Frauen, das macht, weil sie die Dinge mehr im großen und nach ihrem Zusammenhange fassen; es ist schön, das wir das von ihnen lernen können!“
Auch die Kleinen wurden jetzt von Martha zärtlich beachtet; sie bemühte sich, ihre Eigentümlichkeiten kennen zu lernen, sie zu verstehen und ihnen etwas zu sein. Sie fand dies sehr lohnend. Jedes Kind war anders geartet, eines durch Freundlichkeit, das andere durch Ernst zu gewinnen; eines nahm die Dinge zu leicht, das andere zu schwer. „So werden meine Schülerinnen später auch sein“, dachte sie und machte ein völliges Studium daraus, ein jedes nach[S. 176] seinem innersten Wesen zu lieben und zu behandeln. Dies gelang ihr vortrefflich und Eltern und Kinder waren innig dankbar dafür. Alle fürchteten sich vor der Zeit, wo Martha ihnen entrissen werden sollte, und doch rückte sie unaufhaltsam näher.
Im Sommer vor ihrem Examen fing ihre sonst so große Frische an zu schwinden unter den vermehrten Anstrengungen. Eine ernste Betrübnis kam dazu. Onkel Konsul, der ihr immer mitunter einmal geschrieben hatte und auf dessen treue Teilnahme sie sich allezeit verlassen konnte, war plötzlich gestorben. Seine Hinterlassenschaft kam in die Hände eines entfernt wohnenden Neffen, zu welchem Martha gar keine Beziehungen hatte, und so war das letzte Band gelöst, das sie noch an B. knüpfte, und das sie so gern festgehalten hätte, schon um Siegfrieds willen: „Wo soll er mich nun suchen, wenn er wirklich wiederkommt?“
Rösners, die Martha herzlich liebten, baten sie sich in den Sommerferien aus; sie sollte in Weißfeld frische Milch trinken, fleißig spazieren gehen und auf alle Weise gepflegt werden. Es schlug auch leidlich an; sie bewohnte Urgroßmutters Stübchen und fühlte sich ungemein wohl und geborgen darin.
Pastor Frank kam jetzt unbefangen und schien wieder heiter zu sein, versank aber manchmal in tiefe Gedanken:[S. 177] war ihm vielleicht auch jetzt klar, daß er sich in das Phantasiebild der Urgroßmutter verliebt hatte? O, es war ihm noch etwas anderes klar geworden, und dies versetzte Martha und Rösners in die größte Freude. Werners hatten versprochen, am nächsten Sonntag herauszukommen, und man rüstete freudig zu ihrem Empfange. Freitag war Pastor Frank zur Stadt gegangen und erst spät am Abend heimgekehrt. Sonnabend früh schickte er Martha einen Brief ihrer Freundin; sie öffnete ihn mit Spannung, fürchtete fast schon eine Absage, aber Suschen schrieb:
„O Martha! liebe Martha! Du sollst es ja zuerst und bis morgen ganz allein erfahren, was sich heute begeben hat und was ich ganz und gar noch nicht begreifen kann. Denke Dir, ich bin seit einer Stunde Braut, seine Braut! ach, und eine so glückliche! Ich wollte es ja erst gar nicht glauben, als Frank mir sagte, er habe mich lieb; aber zuletzt merkte ich es doch, und ich glaube es ja zu gern. Morgen früh nach der Vormittagskirche wird das Geheimnis enthüllt; bis dahin schweige wie ein Stummer! Ich kann es eigentlich gar nicht erwarten, bis Ihr Euch alle mit mir freut. Lobe den Herrn, meine Seele!
Deine glückselige Suse.“
Leicht wurde es der Martha nicht, zu schweigen wie ein Stummer, und obgleich sie mit keinem Worte sich verriet,[S. 178] wurde es doch Rösners an ihrem erregten, oft gedankenvollen, dann wieder freudigen Wesen klar, daß etwas Außergewöhnliches in der Luft sei, und besonders die jungen Mädchen kamen in ihren Vermutungen der Wirklichkeit ziemlich nahe. Die Erwarteten erschienen zeitig am Sonntagmorgen, Suschen im blendendsten Weiß. Vor dem Gottesdienste, den alle gemeinsam besuchten, blieb alles im gewöhnlichen Geleis. Pastor Frank predigte über den Spruch: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“ Man merkte ihm an, daß der Dank sehr warm aus seinem Herzen kam, und als die Eltern nach der Kirche ihn und Suschen als Brautpaar vorstellten, wußten es alle, wofür er zu danken hatte, und der Jubel wollte gar kein Ende nehmen.
Jetzt konnte der Bräutigam nicht lange verweilen, da er den Nachmittagsgottesdienst noch vor sich hatte; aber beim Abendbrot da ging es an ein Feiern und Gesundheittrinken! Besonders Suschens Geschwister wurden es gar nicht müde, „Hoch!“ zu rufen, und der Bräutigam sah durchaus nicht aus, als hätte er schmerzliche Erfahrungen begraben müssen, um zur Freude dieser Stunde zu kommen; die liebliche Braut aber strahlte.
Als man nach Tische im duftenden Garten wanderte, sagte Suschen zu Martha: „Ich lasse es mir nicht ausreden[S. 179] — das Spinnrad der Urgroßmutter hat mir Segen gebracht!“
„Das ist möglich!“ bestätigte Frank vergnügt. „Gefallen hattest du mir sonst schon; aber daß du meine liebe Frau Pastorin werden möchtest, wünschte ich zum erstenmale, als ich dich hatte spinnen sehen.“
„Siehst du, Mama“, rief Suschen, „das Spinnen ist doch gut!“
„Das sollst du mir auch tüchtig weiter treiben, mein Suschen!“ versicherte der Bräutigam.
Diese sah ihn etwas zweifelhaft an: „Ob das möglich ist, wenn ich nun richtig was zu thun bekomme?“
„Ja, ist denn das Spinnen nicht etwas Ordentliches? Warum spinnst du denn?“
„Ei, aus Vergnügen und zum Andenken an die Urgroßmutter.“
Die Mutter und Frau Rösner machten dem Pastor die Sache klar.
„Also auch nur eine Phantasie!“ sagte er nachdenklich. „Nun gottlob! unsere Verlobung ist doch keine, und in Ehren halten können wir das alte Spinnrad immer, wenn du auch nicht viel darauf fertig bringst!“
Als Werners abgereist waren, faßte Frau Rösner auf den Rat ihres Hausarztes den schnellen Entschluß, mit ihrer[S. 180] jüngsten, etwas bleichsüchtigen Tochter Agnes noch einige Wochen nach einem kleinen Stahlbade zu gehen, und nahm Martha dahin mit.
Lieblich gelegen zwischen waldigen Bergen sprudelten die stärkenden Quellen, köstlicher Tannenduft durchwehte den frischen Grund; das Wetter war herrlich, und die beiden Mädchen erblühten wie die Rosen und waren sehr vergnügt. Das männliche Geschlecht war in dem kleinen Bade nur spärlich vertreten; meistens sah man nur Mütter und Töchter hier wandern, und die schlank aufgeschossenen, jugendlichen Gestalten mit blassen Lippen waren weitaus in der Überzahl. Unser Kleeblatt hatte kein Verlangen nach weiterem Anschluß; es fühlte sich im Genusse der Natur und gegenseitiger Gesellschaft befriedigt. Die beiden Mädchen hatten die größte Freude daran, auf den kleinen Felspartieen umherzuklettern, Spireen und lilienartige Blüten zu sammeln, die dort in reicher Fülle wuchsen, um ihr Stübchen mit den zierlichen Waldkindern zu schmücken. Dann brachte ein leichter, zuweilen etwas gewagter Sprung sie wieder auf den Weg, und Frau Rösner sah ihren anmutigen, geschickten Bewegungen mit Wohlgefallen zu, bis eines Abends, da es etwas geregnet hatte, Martha an einer glatten Steinkante abglitt und sich den Fuß so verstauchte, daß der Arzt ihr für die erste Nacht Arnika-Umschläge und für einige Tage[S. 181] völlige Ruhe verordnete. So kam es, daß sie am nächsten Nachmittage, als fast alle Gäste des Hauses ausgeflogen waren, einsam mit ihrer Arbeit unter der Veranda saß, während ihr kranker Fuß wohl umwickelt auf einem weichen Schemel ruhte.
Nicht weit von ihr hatten sich zwei kleine Mädchen auf der Schwelle der Veranda niedergelassen, eifrig lesend über ein Buch gebeugt, und noch etwas entfernter lag ein leichenblasses Kind von etwa zehn Jahren in einem Fahrstuhl, neben einem Tischchen, auf dem Bilder, Bücher, Spielzeug aufgehäuft waren.
Die Kleine schien sich nicht darum zu kümmern; mit einem unendlich verdrießlichen Ausdrucke auf dem elenden Gesichte blickte sie nach einer älteren Person, die wie eine Bonne oder Wärterin aussah und sich nicht weit von ihr in ein abgegriffenes Bibliothekbuch vertieft hatte.
„Sie sollen jetzt herkommen, Katharine, und mit mir spielen!“
„Ach, ich habe es heute satt; ich habe zwei Stunden mit Ihnen gespielt, und Sie wollen doch alle Viertelstunden etwas anderes.“
Das kleine Ding sah sie wütend an: „Ich sage es Mama, wenn Sie mich nicht unterhalten!“
„Das können Sie immerhin thun; ich habe ihr schon[S. 182] gesagt, daß ich nur bis Michaelis bleibe, weil ich das Gequäle nicht aushalten kann.“
Auf der Schwelle ging es auch eben nicht sehr friedlich zu: „Elli, du reißest mir ja das Buch fort!“
„Ja, es gehört mir, Sophiechen, und ich will’s haben; ich kann sonst nichts sehen!“
Bevor es sich Martha versah, entspann sich ein Streit, der an Heftigkeit zunahm und den begehrten Gegenstand aufs äußerste bedrohte.
„Lest euch doch vor!“ riet Martha.
„Das sollen wir nicht, weil wir öfter Halsschmerzen haben!“
„Wenn ich euch aber nun vorlese?“
Der Vorschlag fand Beifall.
Martha öffnete das Buch von Johanna Spyri: ‚Was aus Gritlis Kindern geworden ist.‘ Sie begann, fühlte sich angezogen und las mit wachsendem Vergnügen.
„Ach, Fräulein, Fräulein!“ rief die kleine Elende, „kommen Sie doch hierher!“
„Das kann ich nicht, meines Fußes wegen; aber vielleicht ist deine Wärterin so freundlich, deinen Fahrstuhl zu uns zu bringen.“
Es geschah. Die Kinder lauschten gespannt; nur zuweilen entspann sich eine ergötzliche Unterhaltung über die[S. 183] Abenteuer der Doktorskinder, und nicht nur die Zuhörer bedauerten es, sondern auch Martha, als die Erscheinung einer sehr vornehm aussehenden Dame die Unterhaltung unterbrach.
„Wie kommst du hierher, Fanny?“
„Ach, Mama, es wurde hier so schön vorgelesen!“
Die Dame sah Martha sehr scharf beobachtend an: „Darf ich vielleicht fragen, mit wem ich die Ehre habe?“
Martha nannte ihren Namen und sagte, daß sie als Gast von Frau Amtsrätin Rösner und zu ihrer Erholung hier sei.
Zwei Fräulein, wie Martha schon bei Tisch bemerkt, die Töchter der Dame, traten jetzt herzu; die eine in sehr gerader, vornehmer Haltung, die andere anmutig grüßend und dann liebevoll über ihr krankes Schwesterchen gebeugt, mit demselben plaudernd und kosend.
Frau v. Märzfeld, der Name war Martha aus der Badeliste bekannt, ließ sich das Buch reichen; da sie sich zu überzeugen schien, daß es keinen gefahrdrohenden Inhalt hatte, gab sie es huldvoll zurück und verschwand mit einem Wink an die Töchter, sie zu begleiten.
Am anderen Nachmittage waren Elli und Sophiechen mit ihren Eltern ausgefahren und Martha mit Fanny und ihrer Wärterin allein. Erstere konnte sich schon ein wenig[S. 184] mehr bewegen und nahm absichtlich ihren Platz ganz dicht beim Fahrstuhl der Kleinen.
„Wie schlecht“, sagte Fanny, „das Buch mitzunehmen!“
„Aber Fanny, das ist doch nicht schlecht, das Buch gehört den Kindern!“
„Sie können aber im Walde ohne Buch vergnügt sein, und ich langweile mich hier.“
„Hast du denn schon all’ diese Bücher und Bilder besehen?“
„Ach, die mag ich nicht!“
„Vielleicht interessieren sie dich mehr, wenn du sie mir zeigst.“
Es lag ein ganzes Heft mit Bildern aus B. obenauf. Martha kannte jedes Gebäude, wußte von jedem einzelnen etwas zu erzählen, was ihrer kleinen Zuhörerin Freude machte, bis diese ihr Leid vergaß und der unliebenswürdige Zug in ihrem Gesichtchen dem Ausdruck von Spannung, Interesse und Fröhlichkeit wich.
Frau v. Märzfeld trat mit Frau Amtsrätin Rösner zugleich später in die Veranda; es erfolgte die gegenseitige Vorstellung und dann begann ein Gespräch, aus dem Frau v. Märzfeld Marthas Lebenslage und ihre Pläne erfuhr.
Am anderen Morgen nach dem Bade bat sie Martha um eine Unterredung und schlug ihr vor, im Herbst als[S. 185] Lehrerin bei Fanny einzutreten: „Der Arzt sagt mir heute, daß ich das Kind nach dem Süden bringen muß; ich denke mit ihr im Winter nach der Schweiz zu gehen und möchte eine Deutsche mitnehmen, die sie unterrichtet und sich ihrer Pflege widmet; und da Fanny Vertrauen zu Ihnen zu haben scheint, wäre es mir lieb, wenn Sie die Stelle annähmen. Sie müßten dann natürlich die leibliche Pflege des Kindes ganz mit übernehmen, denn zwei Personen kann ich nicht für sie halten!“
Wie umfangreich die Pflichten sein würden, die sie hierdurch übernahm, konnte Martha natürlich jetzt noch nicht übersehen, aber es erschien ihr natürlich als eine Erleichterung, die unangenehme Wärterin los zu werden. Der Gedanke, die Schweiz zu besuchen, vielleicht den Genfer See mit seinen großartigen Umgebungen zu sehen, hatte für ihre jugendliche Phantasie viel Verlockendes; Fanny selbst schien große Freude an der Aussicht zu haben, und so versprach Martha, gleich nach der Heimkehr mit Werners zu reden und mit ihnen zu überlegen, ob es geraten sei, den Vorschlag anzunehmen.
Suschen war betrübt: „Ich hoffte, du solltest bei uns bleiben bis zu meiner Hochzeit!“ Aber ihre Eltern, so gern sie Martha noch behalten hätten, fanden es doch verständig, auf die Sache einzugehen, die so ungesucht sich bot,[S. 186] natürlich unter der Bedingung, daß erst das Examen gut vollendet sei.
Dies geschah; es wurde trefflich bestanden. Vierzehn Tage hatte Martha danach noch in dem gastlichen Wernerschen Hause verlebt; morgen sollte sie nach M. reisen, um die neue Stelle anzutreten. Sie saß noch einmal mit allen Wernerschen Geschwistern nach Tische in der Hinterstube in wehmütigen Abschiedsgesprächen.
„Den Ajax lasse ich Ihnen, Wilhelm! Sie haben ihn immer gern gehabt; du, Suschen, bekommst meine Vögel.“ Für die anderen hatte sie Blumenstöcke, Bücher, Bildchen. Die Nußbaumkommode kam in die Dachkammer zu den anderen Möbeln, um dort geborgen zu werden, bis ihre Besitzerin sie wieder gebrauchen konnte.
Gegen Abend wanderte Martha an Suschens Arme hinaus zum Grabe der Mutter und weinte dort heiß und lange; beim Abschied von Berlin hatte sie die Mutter noch zur Seite gehabt; beim Abschied von dieser hatten Werners sie in ihre Arme genommen; zum erstenmale zog sie jetzt allein hinaus in eine unbekannte Fremde; das war sehr schwer, und es währte lange, bis durch die dunklen Wolken ihrer Trübsal das Verheißungswort wie ein klarer Stern schimmerte: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
[S. 187]
Die Kinder hielten indessen zuhause große Beratung: „Wir müssen doch heute Abend eine Abschiedsfeier halten. Es ist schade, daß Suse ganz bei Martha ist, die wüßte schon was!“
„Wenn wir was sängen?“ sagte Luischen.
„Ja, aber was?“
Arthur stimmte an: „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein.“
„Das geht nicht“, sagte Wilhelm, „wir werden schwerlich welchen bekommen heute Abend.“
„So leb’ denn wohl, du altes Haus!“ riet Anna.
„Na, dies noch“, rief Hans, „da könnte sie ja denken, sie wäre mit dem alten Hause gemeint.“
„Morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen.“
„Nein, das ist zu traurig. Hört“, sagte Wilhelm wichtig, „wir machen ein Lied! Ich fange jetzt an und jeder liefert eine Strophe:
„Nein, Wilhelm, das geht nicht! Das ist viel zu traurig; da weinen wir.“ Arthur begann:
„Will? Still?“
[S. 188]
„Na, dir scheint der Verstand still zu stehen“, sagte Wilhelm brüderlich galant.
„Nein“, rief Annchen:
„Ach, da ist zweimal ‚will‘, und du willst es ja auch nicht allein, wir wollen’s ja alle; das geht nicht!“
„Nein, jetzt hab’ ich’s!“ rief Luischen; gleich ganz viel auf einmal.“
Arthur fuhr fort:
„Na, Arthur, sie wird doch ’mal wiederkommen?“
Dieser zählte an den Fingern: „nie! sieh! Poesie! flieh! zieh! sie! hie! Das geht:
„Schön ist’s eigentlich nicht“, sagte Hans; „wir wollen’s aber stehen lassen, wir sind sonst nicht fertig, bis sie kommen.“
„Nun muß aber noch was von Blumen hinein“,[S. 189] sagte Luischen; „wir müssen sie zum Schlusse doch bekränzen.“
„Blumen? Blüten? Es will wieder nicht!“
„Ach was, das ist langweilig; jetzt so!“ rief Hans.
„Na, was reimt sich denn nun? Glanz — ganz — Schwanz?“
„Nein, behüte! Schwanz!! Es geht ganz gut mit ganz.“
Sie waren sehr stolz auf ihr Machwerk, nur der Primaner schüttelte seinen Kopf; aber Arthur entschied: „Mitunter ist eine Silbe zu lang oder zu kurz, aber im ganzen ist es sehr schön. Das müssen wir singen! Wonach geht es denn?“
„Ein bißchen nach ‚Ich hatt’ einen Kameraden‘, aber nicht ganz.“
[S. 190]
Wilhelm überlegte: „Wir singen es nach der zweiten Hälfte von ‚Ich hatt’ einen Kameraden‘ und wiederholen das immerzu; da paßt es vorzüglich.“
Als die Freundinnen nachhause kamen, war der Kranz gewunden, die Musikanten aufgestellt und die Musik begann; aber so wenig die Scene auf Rührung angelegt war, sie erinnerte Martha an die Empfangsmusik vor zwei und einem halben Jahre; sie konnte dem nicht wehren, daß ihre Augen feucht wurden, und dies steckte an.
Der Direktor trat herein.
„Na, Kinder, macht euch das Herz nicht schwer; mir thut es auch leid, daß meine Pflegetochter fortgeht; aber hoffentlich denkt sie daran, daß sie hier stets ein Elternhaus und Elternherzen finden kann, so lange wir leben, und da giebt es ja doch wohl manches Wiedersehen. Heute Abend gebe ich eine Flasche Wein zum besten, da trinken wir Marthas Gesundheit!“
Großer Jubel!
„Dann können wir wirklich singen: ‚Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein!‘“
„Ja, das könnt ihr!“ versicherte der Vater.
Martha fühlte in dem allen die Liebe, die ihr hier eine Heimat bereitet, und das machte ihr das Scheiden so schwer.
[S. 191]
Als sie mit Suschen abends allein in dem trauten Stübchen war, das so viele Herzensergüsse belauscht hatte, da flossen freilich reichliche Thränen; aber Martha konnte nicht anders als danken, immer wieder danken für allen Segen, der ihr unter diesem Dache widerfahren war.
[S. 192]
Als der nächste Abend dämmerte, bemerkte Martha, die still und einsam in der Ecke eines Damencoupés saß, in der Ferne die Türme von M. So sehr sie des Fahrens durch die einförmige Gegend unter dem grauen Herbsthimmel müde war, fing doch ihr Herz jetzt an, sehr ängstlich zu klopfen, und sie hätte gern den Flug der Lokomotive aufgehalten. Wußte sie denn, was dort unter den Türmen ihr begegnen würde? Wußte sie, in welches Verhältnis sie treten sollte zu den ihr so wenig bekannten Menschen? Eine Ängstlichkeit, die ihr bis dahin fremd war, kam über sie; jetzt wurde gehemmt, die Lokomotive gab das Signal, der Zug hielt. Zögernd und zitternd stieg sie aus; dichtes Menschengewühl umwogte sie — und kein bekanntes Angesicht darunter!
Frau v. Märzfeld hatte ihr geschrieben, in welchen Hotelwagen sie einsteigen sollte. Als sie sich demselben näherte,[S. 193] trat ihr ein feiner Diener entgegen, fragte nach ihrem Namen und besorgte ihr Gepäck.
In einer breiten, aber wenig lebhaften Straße hielt der Wagen vor einem großen, eleganten Hause. Der Bediente führte sie hinein und die erleuchtete Treppe hinauf in ein sehr sauber und nett eingerichtetes Stübchen.
„Gnädige Frau lassen bitten, daß Sie es sich hier bequem machen.“
Eine Dienerin kam und brachte Kaffee und feines Weißbrot. Martha war erquickungsbedürftig und nahm etwas weniges; aber es wurde ihr schwer, das wenige zu verzehren; sie fühlte sich gar so einsam und elend.
Nach einer halben Stunde erschien der Diener aufs neue: „Gnädige Frau befehlen jetzt!“
Martha folgte ihm. Sie hatte, nachdem Frau v. Märzfeld ihr den Antrag gemacht, Fannys Lehrerin zu werden, noch einige Tage mit den Damen zusammen in dem kleinen Badeorte verlebt; aber es erschien ihr in der Erinnerung, als sei sie dadurch denselben nicht näher, sondern ferner gekommen. Zwar die zweite Tochter Lucie hatte zuweilen recht freundliche Blicke und Worte mit ihr gewechselt, und manchmal war es Martha vorgekommen, als hielte irgendein unbekanntes Etwas dieselbe zurück, sich noch näher an sie anzuschließen; die ältere Tochter aber war vom Anfang[S. 194] an sehr zurückhaltend gewesen, und Frau v. Märzfeld eigentlich unnahbar. So hatte es denn durchaus nicht den Anschein eines Wiedersehens zwischen Bekannten, als Martha jetzt mit beklommenem Herzen ins Empfangszimmer trat.
Die gnädige Frau saß steif und gerade in der Ecke ihres Sofas und musterte die Eintretende durch ihr Augenglas; zu beiden Seiten hatten auf Plüschsesseln Judith und Lucie Platz genommen, feine Stickereien in der Hand.
Lucie erhob sich unwillkürlich, um der Eintretenden entgegenzugehen; Frau v. Märzfeld legte ihre Hand auf den Arm ihrer Tochter: „Nicht so, mein Kind! Fräulein Feldwart wird sich zu uns setzen.“ Damit zeigte sie auf einen Sessel, und Martha fühlte sich genötigt, nach einer ebenfalls steifen Verbeugung darin Platz zu nehmen.
Nach einigen Redensarten, Marthas Reise betreffend, schien die Mama einen großen Anlauf zum Reden zu nehmen. Lucie wollte entfliehen; ein Blick ihrer Mutter zwang sie, sich wieder zu setzen, und diese begann jetzt nach einem kleinen Anfall von Verlegenheitshusten: „Fräulein Feldwart, wir haben uns in der Freiheit des Badelebens kennen gelernt; wir waren dort vollständig gleichberechtigte Personen. Sie stehen wahrscheinlich auch in der Bildung meinen Töchtern ziemlich gleich; dies hat seine wohlthuenden, aber auch seine schwierigen Seiten, und ich sehe es bei Ihrem Eintritt[S. 195] als meine erste Pflicht an, unsere gegenseitige Stellung ganz klarzulegen. Hätten wir unverweilt nach dem Süden gehen können, so hätte sich manches von selbst eingerichtet, oder wir hätten es nicht so genau zu nehmen brauchen. Unser Hausarzt wünscht aber, daß Fanny zuerst noch eine elektrische Kur gebrauchen soll, und ich habe hier so viel Geschäfte vorgefunden, daß wir vor dem Frühjahr schwerlich reisen können. Nun wollte ich Ihnen Folgendes sagen; nicht weil es mir Vergnügen macht, sondern weil ich es für nötig halte: Erwarten Sie als Fannys Lehrerin nicht, daß ich Sie meinen Töchtern gleichstellen und Sie zu unseren Zirkeln und unserer Geselligkeit heranziehen soll; dies paßt sich nicht. Sie werden stets die Stellung einer Untergebenen haben, und ich sage Ihnen das gleich, um Sie vor Täuschung zu bewahren. An unseren Mittags- und Abendmahlzeiten würde ich Sie gern teilnehmen lassen, wenn nicht Fanny durch ihre Schwäche genötigt wäre, im Kinderzimmer zu speisen; ich wünsche, daß Sie dies mit ihr gemeinsam thun und überhaupt das Kind so wenig als immer möglich verlassen. Was ihren Unterricht betrifft, so müssen Sie sehen, wo Sie anknüpfen und wie Sie durchkommen können; es versteht sich, daß das kranke Kind nicht angestrengt werden darf; aber so unwissend, wie sie jetzt ist, darf sie nicht bleiben.“
[S. 196]
Martha hörte still zu; die Farbe auf ihrem Gesichte wechselte einigemal; sie bezwang sich aber, und die Ruhe und Bestimmtheit der Prinzipalin gab ihr den Mut, ebenso ruhig zu bitten, daß man ihr gestatten möge, vorausgesetzt, daß Fanny nicht kränker sei, sonntäglich einmal zur Kirche und täglich eine Stunde spazieren zu gehen, was der Arzt ihr zur Pflicht gemacht habe.
Es wurde ihr bedingungsweise gewährt: „Wenn es gutes Wetter ist, wird Fanny jeden Tag ausgefahren; dann wünsche ich, daß Sie in ihrer Begleitung gehen. Jetzt wird Lucie Sie hinauf zu Fanny bringen; ich habe diese Unterredung in Gegenwart meiner Töchter geführt, damit sie meinen Willen wissen; meine zweite Tochter hat große Neigung, sich über die nötigen Formen hinwegzusetzen.“
Martha verbeugte sich und folgte ihrer Führerin die Treppe hinauf in einem sonderbaren Zustande: nicht aufgebracht, nicht entrüstet, aber wie mit Wasser begossen und kühl bis ans Herz hinan.
Vor Fannys Thür wandte sich Lucie um: „Wir können uns doch lieb haben, Fräulein Martha, ganz gewiß!“ sagte sie, und Martha glaubte Thränen in ihren Augen zu sehen. Sie war etwas verwundert über dies schnelle Entgegenkommen, es machte sie beinahe verlegen.
„Ja, Fräulein Lucie, aber wir müssen durchaus die[S. 197] Grenzen dabei festhalten, die Ihre Frau Mutter uns gesteckt hat; ich würde sonst ihr gegenüber in eine schiefe und unhaltbare Stellung kommen.“
„Ach, und lieben Sie Fanny ein wenig; sie ist so unglücklich durch ihre Kränklichkeit!“
„Gewiß will ich das!“ sagte Martha warm und trat über die Schwelle einer einfachen aber freundlichen Stube, hinter deren breitem Fenster, dessen Gardinen jetzt zugezogen waren, Fanny, von einer Hängelampe beleuchtet, in ihrem Rollstuhle lag.
„Nun, guten Tag, liebe Fanny! Siehst du, hier bin ich; nun sage mir, wie es dir ergangen ist, seitdem wir uns zuletzt gesehen haben!“
„Schlecht“, sagte sie, aber sie reichte Martha die Hand.
„Wie so, schlecht? Hattest du vermehrte Schmerzen?“
„Manchmal auch; aber das Elektrisieren ist so schrecklich, und Katharine war die ganze Zeit so schlimm zu mir, und das Hausmädchen thut mir immer so weh, wenn sie mich ankleidet!“
„Vielleicht kann ich das lernen!“ sagte Martha freundlich.
Es klingelte jetzt, und Lucie wußte, daß dies für sie das Signal sei, das Schwesterchen zu verlassen. Sie umarmte Fanny etwas stürmisch zum Abschied; das blasse Gesichtchen verzog sich schmerzlich.
[S. 198]
„Lucie ist gut zu mir“, sagte sie, sobald dieselbe das Zimmer verlassen hatte, „aber sie denkt nicht daran, wo es mir weh thut. Sie kann auch wenig bei mir sein; sie muß sich noch so viel üben im Singen und Zeichnen und muß auch viel in Gesellschaft gehen; Mama sagt, das sei für ein Fräulein nötig.“
„Was thatest du denn heute Nachmittag?“
„Was sollte ich thun? Ich sah in die Wolken; die bekommen immer andere Gestalten; man kann sich Riesen, Ritter und Drachen darunter vorstellen, die führen Krieg, laufen hintereinander her und fressen sich auf; das ist so unterhaltend!“
„Kannst du nicht etwas lesen?“
„O, lesen kann ich gut; als ich gesund war, hatte ich Stunde. Aber es ist in den Büchern immer so vieles, das ich nicht verstehe, und es ist niemand da, der mir ordentlich antwortet, wenn ich frage, als höchstens manchmal Judith; aber sie hat sehr wenig Zeit.“
„Wie lange bist du denn so krank?“
„Ich glaube, seit zwei Jahren; da war ich einmal, heiß vom Spielen, ins Wasser gefallen. Der Gärtner holte mich wieder heraus, aber ich wurde nie mehr gesund; ist das nicht schändlich?“
„Schmerzlich, Fanny, oder betrübt! Siehst du, was[S. 199] uns der liebe Vater im Himmel schickt, das kann wohl schwer und bitter für uns sein, aber schändlich gewiß nicht!“
„Das verstehe ich nicht, du sprichst ganz wie Margaretchen!“
„Wer ist Margaretchen?“
„Ach, die alte Näherin, die manchmal kommt; sie sitzt dann dort in der Nebenstube und speist mit mir! Die sagt auch, Gott habe mich lieb! Aber warum läßt er mich denn krank werden?“
„Das wirst du auch noch einmal erfahren, Fanny! Jetzt können wir das noch nicht wissen!“
Das Mädchen kam jetzt, deckte den Tisch und setzte Thee und kalte Speisen auf.
„Werden Sie hier essen?“ fragte Fanny gespannt.
Martha nickte.
„Das ist schön! Katharine ging dann immer hinüber in die Gesindestube und kam nicht eher wieder, bis der Thee ganz kalt war.“
Martha betrachtete sich die Sache: „Ich werde deinen Rollstuhl dicht an den Tisch heranbringen, das ist gemütlicher für uns beide. Du sagst mir jetzt, wie du die Butterbrötchen am liebsten hast, so richte ich sie dir ein. Meinst du nicht, daß so ein weiches Ei und etwas roher Schinken dir wohlthun würde? Siehst du, ich bin hungrig von der[S. 200] Reise, mir wird es auch schmecken. Aber erst wollen wir beten.“
„Beten?“ fragte das Kind verwundert.
„Ei, wir müssen uns doch beim lieben Gott bedanken für alle die guten Gaben, und müssen ihn bitten, daß er uns ferner nicht verläßt!“
Fanny nickte ernsthaft.
Martha sprach einfach: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich!“ Dann begann das Souper.
Die Kleine hatte keinen frischen Appetit; Martha mußte ihr zureden, ein wenig zu nehmen; aber das half zuweilen.
Man hörte jetzt Räder rollen und verschiedene Kutschen vor dem Hause anfahren; es wurde unruhig unter ihnen.
„Mama hat heute Gesellschaft; ich schlafe auch nicht eher, bis Lucie mir Eis und Konfekt heraufgebracht hat; das thut sie jedesmal!“
Martha zweifelte, ob es weise sei, dem kränklichen Kinde, das kein Verlangen nach einfacher, nützlicher Nahrung hatte, Dinge zu bringen, die ihr den Magen noch mehr verderben mußten; aber für heute mußte sie sich ja noch aller Eingriffe enthalten. Sie bat nur: „Lege dich immer einstweilen nieder, Fanny. Du ruhst besser, und ich bleibe hier neben deinem Bette!“
[S. 201]
Das Hausmädchen kam jetzt und Martha ließ sich das Nachtzeug des Kindes bringen.
„Ich will sie heute einmal selbst auskleiden!“ sagte sie. Ihre leichte, geschickte Hand bewährte sich auch hier; Fanny jammerte wenig und erklärte sich zufrieden mit ihrem Beistande.
„Bleiben Sie auch die Nacht über hier?“
„Ich weiß noch nicht Bescheid im Hause; aber ich glaube, mein hübsches Zimmerchen muß ganz in der Nähe sein!“
„Vielleicht ist es nebenan, Fräulein Feldwart? O bitte, öffnen Sie einmal die Thür und sehen Sie zu, ob es so ist!“
Es war so! zu Fannys großem Jubel!
„O nicht wahr, Sie lassen die Thür ein klein, klein wenig offen? Katharine schläft zwar hier in der kleinen Kammer und giebt mir, was ich gebrauche; aber es wäre zu schön, Sie so nahe zu haben!“
Martha versprach dies gerne. Nichts hätte sie am heutigen Abend so sehr trösten können, als die Überzeugung, daß sie der kleinen Kranken lieb und nötig sei, und sie bat Gott innig, er möge ihr Kraft geben, dem Kinde in der rechten Weise beizustehen.
Jetzt rauschte es auf der Treppe, und in einem schweren,[S. 202] dunkelblauen Seidenkleide, äußerst passend und geschmackvoll angethan, erschien Frau v. Märzfeld, um ihrer Kleinsten „gute Nacht“ zu sagen. Sie war wirklich eine auffallend stattliche Erscheinung, besonders fand Martha dies, als sie sich mit zärtlichem Mitleid über das kranke Kind beugte. Sie sah freundlich auf Martha, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war, um der Mutter Platz zu machen.
„Nun, haben Sie sich schon ein wenig zusammen befreundet?“
„Ich denke, gnädige Frau, und ich hoffe, wir werden es mit jedem Tage mehr thun.“
„Das würde mir ganz außerordentlich lieb sein; dies kleine Wesen kann Licht und Hitze und Geräusch nur wenig ertragen, und doch ist es meine Pflicht, um ihrer Schwestern willen in der Gesellschaft zu leben. Es wäre mir eine große Beruhigung, sie nicht verlassen zu wissen. Aber plaudern sie nicht zu lange mit ihr, nach zehn Uhr muß sie schlafen.“
„O Mama, heut’ ein wenig nach zehn; Lucie bringt mir erst noch Eis!“
„Meinetwegen!“ sagte die Mutter freundlich, indem sie die Kleine zum Abschied küßte. „Fräulein Feldwart, Sie stehen mir dafür, daß es nicht zu lange wird!“
Martha versprach es.
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„Bitte, erzählen Sie mir etwas“, bat Fanny, als sie allein waren.
„Hat dir jemand schon aus der biblischen Geschichte erzählt?“
„Jetzt lange nicht, früher wohl; ich glaube, Katharine wußte nichts davon.“
„Weißt du, wer Jakob war?“
„Ein wenig; ich glaube, er vertrug sich nicht mit seinem Bruder Esau.“
Martha erzählte von Jakob; seinen Ausgang aus dem Vaterhause; seine Angst vor seinem Bruder, den er um sein Erstgeburtsrecht gebracht; wie er sich am Abend niederlegte auf einen Stein mit seinem Kopf, und ihm dann im Traume die Himmelsleiter erschien, an der die Engel hinauf- und herabstiegen.
„O, das muß schön gewesen sein!“ sagte Fanny. „Giebt’s jetzt auch noch Engel?“
„Freilich! Christus sagt von den Kindern: ‚Ihre Engel sehen allezeit das Angesicht meines himmlischen Vaters.‘“
„Hab’ ich auch einen?“
„Gewiß, Fanny, hast du deinen Engel, der an deinem Bette wacht, wenn du schläfst, und dich behütet, wenn du in deinem Rollstuhl liegst.“
„Kann er mich auch gesund machen?“
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„Er wohl nicht; aber der Vater im Himmel, der den Engel sendet, und wenn es dir gut ist, thut er es gewiß; wir dürfen ihn alle Tage darum bitten.“
„Ach, das wollen wir thun!“
Das Gespräch wurde jetzt unterbrochen; von unten herauf drang nicht mehr das Gemurmel sprechender Stimmen, sondern silberklare Töne eines sehr schönen Flügels; es ertönte eine Sonate von Beethoven, dies konnte man deutlich unterscheiden, obgleich von den feineren Tönen natürlich viel verschwand.
„Sie hören gern Musik?“ fragte Fanny.
„Sehr gern!“
„Ich sah es Ihnen an; Sie verstehen auch, was die Töne miteinander sprechen.“
„Verstehst du das auch, Fanny?“
„Natürlich; es ist eine andere Sprache als die, in der wir uns unterhalten; aber man fühlt ganz deutlich im Herzen, wie es gemeint ist.“
Jetzt wurde präludiert; eine sehr frische, jugendliche Stimme sang reizende Lieder von Franz und Schumann; beide Zuhörerinnen lauschten.
„O, das ist schön!“ rief Martha.
„Geben Sie acht, wenn Judith singt, ist es noch schöner; das war Lucie!“
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Ja! Jetzt ertönte es unten: „Leise, leise, fromme Weise, Schwing dich auf zum Sternenkreise etc.“ Welche edlen, vollen, weichen Töne, welche vollendete Auffassung! Sie hätte kaum der stolz erscheinenden Judith solchen Gesang zugetraut; das kam aus dem Innersten — daran war nicht zu zweifeln! Es war eine solche Wärme im Vortrag, daß Martha mit Entzücken zuhörte. Es war ihr sonderbar zumute; sie war zu lange und zu gern in der großen Geselligkeit zuhause gewesen, um nicht das Gefühl zu haben, daß sie dort unten ganz an ihrem Platze sein würde und ihre frische Singstimme wohl auch zur allgemeinen Freude erschallen lassen könne.
„Wären Sie gern unten?“ fragte Fanny.
Martha fuhr aus ihrem Traume empor, dem sie einige Minuten nachgehangen hatte: „Ich bin auch gern hier bei dir, Fanny!“
„Ja, und Sie sind auch noch viel besser dran als ich; Sie haben doch Beine und könnten hinuntergehen, und würde Ihnen auch nicht gleich schlecht von all dem Lärm.“
Man hörte jetzt unten vermehrte Bewegung.
„Jetzt geht es zu Tische“, sagte die Kleine; „nun dauert es nicht mehr sehr lange, bis Lucie kommt mit dem Eis.“
Nach einer kleinen Stunde erschien diese auch wirklich[S. 206] mit einem ganzen Präsentierteller voll der süßen Herrlichkeiten.
„Ihr müßt jetzt beide schmausen; das sind ganz unschädliche Sachen, und ich bleibe so lange hier und sehe euch zu.“
Martha sah mit großer Sorge die großen, süßen Vorräte: „Wird es auch Fanny nicht schaden, wenn Sie dies alles heute Abend verzehrt?“
„O, was soll ihr das schaden?“ rief Lucie; „sie ist ja doch nur von Erkältung krank!“
„Aber wir könnten ein wenig aufheben auf morgen“, begann Martha aufs neue.
Lucie lachte: „Sie wissen nicht, was dies für ein kleiner Naschvogel ist!“
Martha wurde überstimmt; erst, als alles aufgezehrt und Lucie zu ihrer Gesellschaft zurückgekehrt war, machte Fanny Anstalt, einzuschlafen.
Martha sprach über sie mit gefalteten Händen den Vers:
[S. 207]
Fanny sah sie anfangs verwundert an, dann legte es sich wie Frieden über ihre unruhigen Züge.
„Ja“, sagte sie beim Schluß, „jetzt will ich schlafen; ich sehe sie hinauf- und heruntersteigen, und sie singen schon.“
Martha ging nun in ihr Stübchen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Es war ihr noch nicht klar, wie es hier weiter gehen würde; sie sah manches Schwierigkeit, manche Demütigung für ihre stolze Natur auf ihrem Wege liegen; aber sie empfand es als ein großes Glück, daß Fanny sichtlich ihr vertraute; und des Kindes Herz mehr und mehr zu gewinnen, ihr hartes Los zu erleichtern, ihr eine Freundin zu werden, das war eine Aufgabe, die wohl geeignet war, sie mit ihrer Lage auszusöhnen, und als sie endlich ermüdet ihr Lager suchte, war ihre Zuversicht so stark, daß Gottes Schutz und Obhut über ihrem Haupte sei, daß sie mit dem Kinde hätte sagen mögen: „Ich höre es, die Engel singen schon!“
Am anderen Morgen brachte denn nun freilich das neue Tagewerk Schwierigkeiten genug. Zuerst wurde sie von ihrer Morgenandacht aufgeschreckt durch Fannys Jammergeschrei, die sich vom Mädchen ankleiden lassen sollte. Sie schien große Schmerzen dabei zu haben, und Martha eilte hinüber, um zu sehen, ob sie ihr nicht eine Erleichterung gewähren[S. 208] könne. Sie versuchte dem Mädchen Anleitung zu geben, die schmerzenden Glieder nach Möglichkeit zu schonen; diese gab sich auch die erdenklichste Mühe, aber vergebens; Fanny schrie weiter. Sobald Martha Hand anlegte, beruhigte sie sich sofort, und obwohl es unschwer zu durchschauen war, daß neben den Schmerzen ein nicht geringes Maß von Eigensinn der Grund des Jammers sei, blieb doch für Martha keine Wahl: sie schickte das Mädchen fort und suchte allein fertig zu werden. „Heute muß ich den Eigensinn ignorieren“, dachte sie; „bleibt es so, dann muß er natürlich bekämpft werden; aber wie?“
Sie war jetzt erst 21 Jahre alt. So wechselvoll und zum Teil so schwer ihr Leben bis dahin gewesen war, so hatte sie doch bis gestern stets unter der liebevollsten Obhut gestanden; jetzt sollte sie auf eigenen Füßen stehen unter recht schwierigen Verhältnissen. Hätte Frau v. Märzfeld sie an sich herangezogen, hätte sie ihr mit Rat und That beigestanden, so wäre ihre Aufgabe leichter zu lösen gewesen; wie die Sachen jetzt lagen, konnte sie sich nur auf Gottes Hilfe verlassen.
Gleich nach dem Frühstück kam Judith in sehr sauberem, elegantem Morgenanzuge, um zu fragen, wie ihr Schwesterlein geschlafen habe, und brachte einen sehr fein gebundenen Blumenstrauß mit. Fanny klagte, sie habe viel geträumt,[S. 209] Martha mußte bestätigen, daß sie recht unruhig gelegen und oft im Traume geseufzt habe.
„Das haben Sie durch die Thür hören können, Fräulein Feldwart?“
„O nein“, antwortete Martha, „ich ließ dieselbe ein wenig zwischen uns offen.“
„Hast du das gewünscht, Fanny?“
Fanny nickte.
Judith dachte ein wenig nach: „Das geht durchaus nicht; wenn Fräulein Feldwart den ganzen Tag über bei dir sein soll, muß sie in der Nacht völlige Ruhe haben; hörst du, Fanny?“
Martha bat: „Ich bin jung und gesund und würde doch nach Fanny hinhören, wenn auch die Thür zwischen uns geschlossen wäre! Vielleicht schläft auch mein armer, kleiner Zögling ruhiger, wenn sie diesen Abend nicht so viel Zuckerwerk und Eis bekömmt.“
„Also doch wieder!“ sagte Judith nachdenklich und ging nach einer kleinen Weile.
Fanny war verdrießlich: „Sie sind gerade so streng wie Judith, die will mir auch immer kein Zuckerwerk geben!“
„Ja, Fanny, weil wir beide wünschen, du mögest bald gesund werden; da möchten wir dir nichts geben, was dir schaden kann.“
[S. 210]
Zunächst kam es nun für Martha darauf an, zu ergründen, wie weit Fanny auf den verschiedenen Gebieten des Wissens gekommen war; sie machte natürlich sehr unbefriedigende Entdeckungen. Lesen konnte sie, schreiben wegen ihrer schmerzenden Glieder nur sehr mangelhaft. Das Rechnen schien ihr ganz fremd und obendrein sehr zuwider zu sein; auch vor der Geographie mit ihren vielen Namen und Zahlen empfand sie große Scheu, und sowohl aus der weltlichen als biblischen Geschichte hatte sie nur einzelne Episoden behalten, welche das Gefühl und die Phantasie in besonderer Weise in Anspruch nahmen. Diese faßte sie, wie neulich die Geschichte von der Jakobsleiter, mit großer Lebendigkeit und Innigkeit auf; aber alles, was sich nur an den Verstand wendete und eigentliche Arbeit und Anstrengung erforderte, wies sie beharrlich zurück. Wäre ihr Leiden von der Art gewesen, daß man ein frühes Ende hätte befürchten müssen, so würde Martha gedacht haben: „Fliege du, fliege du bis in den Himmel hinein!“ denn Martha flog selbst gern. Aber abgesehen davon, daß ihr eigenes Herz nur schwer den Gedanken hätte fassen können, die junge Blüte unrettbar dahinwelken zu sehen, sprach auch der Arzt die sichere Hoffnung aus, sie werde das Leiden in einigen Jahren überwinden. „Dann“, sagte Martha, „darf sie nicht nur fliegen, dann muß sie auch gehen lernen“, und sie versuchte[S. 211] auf jede mögliche Weise, sie nach und nach an eine geregelte Thätigkeit zu gewöhnen. Methodisch, wie sie es gelernt und wie es in vollen Schulklassen meist so trefflich fördert, durfte sie hier nicht vorgehen. Hatte sie Fanny mit unsagbarer Mühe dahin gebracht, aufmerksam zuzuhören und vier bis sechs Fragen zu beantworten, so erklärte dieselbe dann aufs bestimmteste: „Ich kann nicht mehr, mein Kopf thut mir weh“, und war weder mit Güte noch mit Ernst auch nur einen Schritt weiterzubringen.
Martha mußte förmlich auf neue Wege studieren. Sie fing an, Fanny im Gespräch für einen Gegenstand zu interessieren und suchte auf diese Weise die Begierde in ihr zu wecken, mehr von demselben zu erfahren. Sie benutzte ihre Ausgänge, um in den Buchhandlungen nach Reise- oder Lebensbeschreibungen zu suchen, welche für das kindliche Alter geeignet waren, aber auch hier ermüdete die schwache und verwöhnte Schülerin schnell. Martha fand bald, daß es besser ging, wenn sie sich über ein Land, ein Volk, eine Episode aus der Geschichte so viel als möglich Kenntnisse aneignete oder vergegenwärtigte und dieselben ihrer Schülerin dann frei und in möglichst angenehmer Form vortrug. Es war nicht zu leugnen, daß die junge Lehrerin auf diese Weise eine höhere Stufe erstieg; es kostete aber viel Zeit und Kraft, und inbezug auf Fannys eigene Anstrengungen[S. 212] war wenig gewonnen. Oft dachte Martha: „Wenn man doch nur die Grenze genau sehen könnte, wo das ‚Ich kann nicht!‘ in das ‚Ich will nicht!‘ übergeht!“ Der treue Hausarzt selbst war in dieser Beziehung unsicher; es ist schon bei erwachsenen Nervenkranken nicht leicht, die Grenze zu finden, wo man ihnen nachgeben und wo man ihnen widerstehen oder sie zu kräftigen und zu stärken suchen muß. Martha kam darin zu keiner rechten Klarheit; daß sie selbst jung, gesund und lebhaft war, riß die Kleine mitunter zu Anstrengungen fort, die ihr wohl bekamen, aber eine gründlichere Hilfe kam zuletzt auf eine andere Weise.
Fanny hatte für religiöse Eindrücke, wie schon gesagt, ein empfängliches Gemüt; aber als ihre Lehrerin in der Religionsstunde den gewöhnlichen Weg einschlagen wollte, zuerst die zehn Gebote mit allen Erklärungen durchzunehmen, stieß sie wieder auf entschiedenen Widerstand: „Das kann ich nicht! das ist zu schwer!“ Die nahe Adventszeit richtete von selbst den Blick auf das Kommen des Heilandes; Martha nahm in den Frühstunden alle Verheißungen auf Christi Erscheinung, seine Geburt, sein Leben, seine Wunder, sein Leiden, Sterben und Auferstehen durch; und hier war nichts, was Fanny nicht mit ganzem Herzen erfaßt hätte; von hier aus war es leicht, Licht auf alle bis dahin dunklen Gebiete fallen zu lassen; eine neue Welt ging für Fanny auf, eine[S. 213] Welt der Liebe und des Friedens, die ihr bisher verborgen geblieben war, die ihr liebliches Licht hineinsandte in ihr Leiden und in ihr Herz und alle Bitterkeit daraus vertrieb. Mit ihrer Liebe zu dem Quell aller Liebe wuchs auch ihre Liebe für Martha, die ihr das neue Leben erschlossen hatte, und an die Stelle des bisherigen Widerstrebens trat das Verlangen, in allen Stücken zu thun, was diese wünschte, und obgleich leibliche Schwäche und große Verwöhnung ihr dies schwer machten, war es doch deutlich zu sehen, daß sie allmählich etwas vorwärts kam. Martha freute sich innig, daß ihre Thätigkeit sichtlich mit Erfolg gekrönt wurde; aber dieselbe forderte ein Aufbieten all ihrer Kräfte, und sie sehnte sich oft nach einer Ausspannung und Erquickung für ihr eigenes Herz.
Die beiden älteren Töchter des Hauses fingen je mehr und mehr an, ihr Interesse zu erregen. Lucie war stets anmutig und freundlich, wenn sie ins Krankenzimmer kam; ja sie hatte anfangs ganz herzliche Anwandlungen! aber wenn ihr Martha mit sanfter Bitte entgegentrat, so oft sie das Schwesterchen mit Leckereien überschütten wollte, wurde sie verstimmt und verstimmte Fanny mit. Erst als einmal der Hausarzt sich ganz streng gegen solche Diät ausgesprochen hatte, unterblieben die Versuche dazu, und Martha wußte, daß sein Verbot durch Judith veranlaßt war, die ihre Sorge[S. 214] teilte. Judith behielt ihr ernstes, zurückhaltendes Wesen, sowohl dem Schwesterchen als Martha gegenüber, lange Zeit unverändert bei; aber wenn Martha es wagte, ihr Vorschläge zu machen, wie Fannys Lage in Wahrheit zu erleichtern sei, war dies nie vergebens; Judith dachte darüber nach und suchte zustande zu bringen, was Martha wünschte.
Der Gärtner hatte bis jetzt jede Woche andere blühende Gewächse gebracht und die abgeblühten mit zurückgenommen, und Martha hatte mit Betrübnis gesehen, daß Fanny von ihrem reizenden Blumenfenster nur sehr wenig Freude hatte. Judith war eine große Blumenliebhaberin und betrübte sich über Fannys Gleichgültigleit ebenfalls. Als sie dies eines Morgens aussprach, sagte Martha: „Ich glaube, Fräulein Judith, Fanny würde viel größere Freude haben, wenn sie die Pflanzen pflegen und gedeihen sehen könnte und wenn sie selbst etwas zur Blüte brächte!“ Gleich am anderen Morgen erschien Judith in Gesellschaft eines Gärtnerburschen und brachte die verschiedensten jungen Pflänzchen mit; sie hatte sich beim Gärtner sehr sorgsam erkundigt, wie jedes zu behandeln sei, und weihte das Schwesterchen in das Geheimnis ein, indem sie ihr anschaulich schilderte, wie die Blüte und die weitere Entwickelung sein werde. Nun gab es jeden Morgen eine halbe Stunde der Thätigkeit und gespannten Aufmerksamkeit; die Pflänzchen wuchsen natürlich[S. 215] dem ungeduldigen Kinde lange nicht schnell genug; aber jedes neu hervorsprießende Blatt, jede Knospe und aufbrechende Blüte erregte Jubel.
Martha sah Lucie fast nur in Gegenwart ihrer Mutter, und wenn sie heruntergeholt wurde, den Gesang der Schwestern zu begleiten; Frau v. Märzfeld wußte sie dann aber unter irgendeinem Vorwande sofort wieder zu entfernen. Auf Fannys Bitte hatte Martha dieser das Mozartsche „Veilchen“ und einige von den reizenden Taubertschen Kinderliedern vorgesungen, als Frau v. Märzfeld in das Zimmer trat.
„Ich wußte nicht, daß Sie singen!“ sagte sie.
„Ich sprach nicht davon, weil ich nur ein einziges Jahr Stunden hatte und abbrechen mußte, bevor der Unterricht irgendwie beendet war.“
„Ich höre wenigstens, daß Sie sicher sind, und Sie sollen uns heute Abend aus einer großen Verlegenheit helfen. Judith ist leider heiser geworden; wir hatten für sie auf ein Duett und die erste Stimme eines Quartetts gerechnet; ich bitte, daß Sie ihre Stelle vertreten.“
„Das thue ich gern“, sagte Martha; „nur möchte ich beides noch einmal durchsingen, und dann“ — setzte sie fast verlegen hinzu — „habe ich kaum ein Kleid, in solcher Gesellschaft zu erscheinen.“
[S. 216]
„Das wird niemand von Ihnen verlangen, indem Sie ja nicht als Glied der Gesellschaft kommen, sondern als die Lehrerin meines Kindes, die uns eine Gefälligkeit erweist.“
Martha fühlte wieder den Sturz kalten Wassers, aber sie beherrschte sich. Sie hatte mit Lucie das Lied zu singen: „O, säh’ ich auf der Heide dort im Sturme dich etc.“ Beide durften es bei Fanny probieren und diese war entzückt davon: „Ich möchte sehen, wie sich alle über euch freuen.“
Erst als sie gerufen wurde, und zwar sehr sauber, aber sehr einfach gekleidet, trat Martha in die Gesellschaft ein. Frau v. Märzfeld stellte sie vor: „Die Gouvernante meiner Fanny!“ Ihr wurde niemand vorgestellt. Ein junger Mann saß am Flügel, bereit, sie zu begleiten. Die ersten Töne, welche Martha sang, zitterten ein wenig; aber dann riß die Musik sie mit sich fort, und ihre weiche, biegsame Stimme entfaltete all’ ihre Fülle und Macht. Beifall erklang von allen Seiten, und als auch das Quartett zur höchsten Zufriedenheit beendet war, trat ein vornehm aussehender junger Herr zu Martha und fragte: „Wo hatten Sie Singstunde, mein Fräulein?“
„In B., aber nur kurze Zeit.“
„Man merkt das nicht; Sie singen allerdings mit mehr Freiheit, als eine junge Dame, die sich noch mitten im[S. 217] Lernen befindet, aber durchaus nicht, als wären Sie mit der Schule nicht fertig geworden.“
Der Herr schien einiges von der Musik zu verstehen; sie kamen auf ihre Lieblingskomponisten, und da er ernst und gehaltvoll sprach, antwortete ihm Martha gern und freute sich der lebhaften Unterhaltung.
Frau v. Märzfeld rauschte heran: „Graf T., vielleicht helfen Sie mir etwas, die Plätze zu arrangieren. Fräulein Feldwart, Ihre Schülerin wird nach Ihnen verlangen.“
Martha verneigte sich und ging; es wurde ihr aber heute Abend schwer, sich mit Fanny zu unterhalten; immer wieder trat der wenig angenehme Auftritt vor ihr inneres Auge; sie schämte sich so sehr, daß sie nach dem Gesange auch nur eine Minute unten geblieben war. Sie ertappte sich einigemal dabei, daß eine Thräne auf ihre Arbeit fiel, und doch mußte sie sich eingestehen, daß ihr eigentlich nichts Schlimmes widerfahren sei — sie war ja die Gouvernante; Frau v. Märzfeld hatte das Recht, zu wünschen, daß sie bei ihrem Kinde bleibe. Sie hatte sich auch vollkommen davon überzeugt, daß dieser nichts ferner lag, als sie kränken zu wollen, denn sie war zu anderen Zeiten aufrichtig dankbar für Marthas Bemühungen um das Wohl ihres Kindes. Sie hielt es offenbar für ihre heilige gesellschaftliche Pflicht, die Lehrerin auf der Stufe zu erhalten, die sie für angemessen[S. 218] hielt; aber fast nichts war dieser so schwer geworden, als dies ruhige, geflissentliche Hinausgetrieben-werden aus der Stellung, welche sie bisher im Leben eingenommen hatte. Sie mußte hart kämpfen, dies zu überwinden; es wurde ihr nicht erleichtert durch Luciens Entrüstung darüber und sie dachte lebhaft an Pastor Wohlgemuths Worte: „Sie werden klein und niedrig sein müssen, und das wird gerade für Ihre Natur sehr schwer sein!“ „Darum schickt es mir der liebe Gott“, dachte sie; „ich will es aus seiner Hand nehmen und desto mehr für Fanny sein, die es mir sichtlich dankt.“
Frau v. Märzfeld liebte ihr kleines Mädchen wirklich und sorgte für dasselbe, so viel es möglich war, ohne in dem gestört zu werden, was sie als ihre Lebensaufgabe ansah, nämlich ihrer geselligen Stellung zu genügen und für ihre erwachsenen Töchter gute Partieen zustande zu bringen. Keine Ausgabe war ihr zu groß, wenn Martha Vorschläge machte, Fannys Lage zu verbessern und ihr Dasein auszuschmücken. Sie erkannte auch Marthas Thätigkeit und ihre Erfolge völlig an und sprach dies sogar zuweilen recht freundlich aus; nur die Kluft zu überbrücken, die nach ihrer Meinung zwischen ihrer Familie und Martha bestand, das fiel ihr niemals ein.
Eines Tages, als Margaretchen im Nebenzimmer nähte,[S. 219] kam diese auf eine arme Familie zu sprechen, die den Vater plötzlich verloren hatte und nun in der größten Not war. Fannys weiches Herz war gerührt; sie hätte gern ihre reich ausgestattete Sparbüchse bis zum letzten Heller den Armen gegeben. Martha machte ihr begreiflich, daß es nicht richtig und schön sei, unüberlegt zu verfahren; sie versprach, sich morgen früh selbst nach den dringendsten Bedürfnissen der Leute zu erkundigen. „Und dann“, sagte sie, „müssen wir rechnen, ordentlich rechnen; denn wir müssen etwas behalten für die Geburtstage von Mutter und Schwestern, für die Missionskasse, für das Rettungshaus u. s. w.“ Und Fanny rechnete; sie rechnete hier, wo sie einen Zweck vor Augen hatte, mit Vergnügen, und Martha schöpfte Hoffnung, sie auch in dieser ihr bisher sehr widerwärtigen Kunst nach und nach weiter zu bringen. Da ihre kranken Fingerchen nicht imstande waren, Strümpfe für die verwaisten Kinder zu stricken, lernte sie wenigstens das leichtere Häkeln, um die Knaben mit Shawls zu versorgen.
So verging der Winter unter vielerlei Anstrengungen, aber nicht fruchtlos und nicht freudenlos. Die angefangene Kur hatte die kleine Patientin so gekräftigt, daß sie nicht mehr gehoben und getragen werden mußte, sondern sich einige Schritte weit selbständig fortbewegen konnte. Die Tage wurden, sonnig, die Wege trocken; Fanny ward vom Diener[S. 220] jeden Tag ausgefahren, und Martha ging dann neben ihr, um sie aufmerksam zu machen auf Blumen, Bäume, Menschen, schöne Gegenstände in den Schaufenstern, und all’ die tausend Fragen zu beantworten, welche das Kind, angeregt durch so viel neue Eindrücke, an sie stellte. Sie that dies sehr gern, aber sie fühlte doch, daß ihr auf diese Weise die einzige Zeit zum Ausruhen, zur stillen Sammlung und zum Nachdenken über ihren nicht leichten Beruf genommen wurde. Der März befreite sie von diesen Wegen, aber nicht zu ihrer Freude. Fanny bekam den Husten, und dieser wollte keiner Arzenei oder sonstigen Verordnung des Arztes weichen; sie war wiederum aufs Zimmer angewiesen und war jetzt, an mehr Abwechselung gewöhnt, ein eigensinniger Patient. Am ersten April ging das Hausmädchen ab, um sich zu verheiraten, und Fanny war so unglücklich bei dem Gedanken, sich einer anderen Hand anzuvertrauen, daß Martha versprach, sie fortan allein zu pflegen. Das Glück des Kindes war ein großer Lohn; aber die Nerven, selbst Marthas kräftige Nerven ließen sich solche Überanstrengung nicht gutwillig gefallen; sie war zum erstenmal im Leben matt und reizbar, mußte gegen trübe Gedanken kämpfen und sehnte sich herzlich nach der versprochenen Übersiedelung nach dem Süden. Sie gehörte nicht zu denen, die viel über ihr leibliches Befinden zu grübeln pflegen und sich selbst große[S. 221] Wichtigkeit beilegen; aber sie empfand es mehr, als sie es sich eingestand, wie schwer es war, daß keiner mehr mit zarter, liebevoller Fürsorge sie beobachtete und ihr zu helfen suchte, wenn sich in ihren Gesichtszügen Abspannung, Müdigkeit, Kränklichkeit abmalte. Es wird den Eheleuten am Altar gesagt, daß ihr Stand „nicht ohne Kreuz“ ist; ach, ebenso gewiß und fast gewisser kann man vom Stand einer jungen Lehrerin sagen, daß er „Dornen in die Menge und manches Kreuz trägt“. Ist der innere Beruf und die volle Fähigkeit dafür vorhanden, dann werden solche Leidensstunden und Schwierigkeiten überwunden; hat nur Verlangen nach Freiheit und Selbständigkeit auf diese Bahn gedrängt, so entstehen daraus schwere Kämpfe, denen oftmals Leib und Seele unterliegen.
Gegen Ostern kam der Hausarzt, um die Sommerkur mit Frau v. Märzfeld zu besprechen; seine Entscheidung lautete: „O, Sie brauchen gar nicht so sehr weit fortzugehen; gehen Sie Mitte Mai mit dem Kinde zur Molkenkur nach Heyden an den Bodensee, und ist dann etwa nach sechs Wochen der Husten ganz fort, so bringen Sie Fanny nach Ragatz oder noch lieber nach Pfäffers in der Taminaschlucht; da wird sie wahrscheinlich bald erstarken und beweglich werden.“
Martha schwärmte für schöne Natur; sie wäre gern noch[S. 222] tiefer hineingekommen in die Wunderwelt der Schweiz; dennoch sah sie der Reise mit Spannung und großen Erwartungen entgegen. Sobald der Mai erschienen war, brach man auf. Frau v. Märzfeld hatte ein ganzes Coupé genommen, um es Fanny bequem zu machen. Am ersten Tage fuhr man bis Frankfurt am Main bei rieselndem Regen; die Leidende klagte viel über Schmerzen; Martha bemühte sich, ihre Gedanken davon abzuziehen, indem sie ihr von den Orten, an welchen sie vorüberfuhren, mancherlei erzählte. Aber so leise dies geschah, störte es doch Lucie in ihrer Reiselektüre, und sie äußerte dies sehr vernehmlich durch verwunderte Blicke und ungeduldige Bewegungen; Judith versuchte anfangs Martha beizustehen, aber das eintönige Grau rings umher, das Anschlagen der Tropfen an die Fenster ermüdete sie, und sie schlief bald fest in der einen Ecke, während in der anderen die Mutter ihre Stirn unaufhörlich mit wohlriechendem Wasser wusch. In Frankfurt hatte man versäumt, sich Wohnung zu bestellen, Westendhall war besetzt; man mußte noch am späten Abend von einem Gasthaus zum anderen fahren, bis man endlich gegen Mitternacht ein wenig befriedigendes Unterkommen fand.
Am anderen Morgen ward es heller. Judith und Lucie baten die Mutter, sich einige Stunden in Heidelberg aufzuhalten und dann in Ulm Nachtquartier zu nehmen; aber[S. 223] Frau v. Märzfeld wollte lieber Friedrichshafen erreichen. Alle jungen Köpfe bemühten sich, möglichst viel aus dem Fenster zu sehen, als der Zug in Heidelberg hielt. Scharen von Studenten mit ihren großen Hunden konnte man bewundern, wenn man wollte; aber von der schönen Lage und Umgebung des berühmten Ortes war vom Coupé aus wenig zu bemerken. Der Tag wurde schwül, die Glieder schmerzten von der langen Fahrt; die ganze Gesellschaft hatte nur noch wenig Kraft, die Umgebungen zu betrachten: Fanny weinte, Lucie stieß ungeduldige Ausrufe aus, Judith seufzte und Frau v. Märzfeld lag abgespannt in ihrer Ecke. Wie eine Himmelsbotschaft klang endlich spät am Abend die Stimme des Schaffners: „Friedrichshafen, aussteigen!“ Sie waren bald in dem geräumigen, sauberen Gasthofe untergebracht, und Fanny streckte sich recht mit Wohlbehagen in ihrem Bette aus, als Martha ihr sagte: „Morgen fahren wir nur noch mit dem Dampfschiff über den See, da sehen wir den Säntis und die Appenzeller Berge alle vor uns, dann geht es eine kleine Stunde mit der Zahnradbahn den Berg hinauf nach Heyden.“ Martha wachte noch lange und seufzte: „Ach; wenn nur morgen, nur morgen schönes Wetter ist!“
Sie lauschte; lauschte: es klang wie ein leises Rauschen; war das der See? Mit dem ersten Tageslichte erhob sie[S. 224] sich und zog leise die Gardine vom Fenster. Grauer Nebel wogte draußen, die Fenster gingen nach einem Rasenplatze, vom See war nichts zu sehen. „Es muß noch sehr früh sein“, dachte sie, legte sich wieder nieder und schlief ermüdet ein. Als das Hausmädchen, wie es versprochen, um 6 Uhr anklopfte, war das Wetter noch ebenso. Martha war sehr betrübt darüber: sie hätte so gern den Säntis gesehen. Fanny freute sich auf das Dampfschiff; sie war ruhiger.
Als man nach einer Stunde aufs Schiff kam, hatte der Regen, der sich die ganze Nacht über ergossen, nachgelassen, und der See wurde nach und nach nebelfrei; seine Wellen kräuselten sich im frischen Morgenwinde. An der östlichen Ecke des weiten Wasserbeckens tauchte Bregenz auf, aber die Vorarlberge, an deren Fuße es liegt, waren noch verhüllt, und vom Schweizer Ufer konnte man nur dämmernde Umrisse erkennen. Erst als man sich Rorschach näherte, zerriß die Wolkenhülle, aber nun war man den Bergen zu nahe, um mehr als die Vorhügel zu überblicken. Das weite, jetzt blaue Wasserbecken übte dennoch einen großen Reiz aus, und besonders Fanny war glücklich, mitten auf dem Verdeck in ihrem Rollstuhl ruhend, so sanft hinüberzugleiten ans andere Ufer. Der Weg nach Heyden hinauf war lieblich und kurz. Wie blau erschien der See bei dem Dorfe Wynachten! In Heyden war ihnen durch den dortigen[S. 225] Arzt Wohnung bestellt, eine der älteren Pensionen nahm unsere Reisenden auf. Martha teilte ihr Zimmer mit Fanny; es hatte die lieblichste Aussicht von der Welt. Dicht unter dem Fenster begannen die grünen Matten, die in der schönsten Frühlingsüppigkeit standen, hin und wieder von bewaldeten Hügeln, Gesträuch und Obstbäumen unterbrochen, aus deren Mitte die hellen Wände niedlicher Häuser hervorglänzten; tief unten und doch so nahe erscheinend, als könne man ihn mit wenigen Schritten erreichen, lag wie ein aufgeschlagenes, schimmerndes, blaues Auge der See, an seinem gegenüberliegenden Ufer Lindau und Friedrichshafen, so deutlich, daß man jedes Fenster unterscheiden konnte; rechts die Vorarlberge und Bregenz, links schweifte der Blick übers Württemberger Land. Die beiden Mädchen konnten sich nicht satt sehen; sie öffneten das Fenster und sogen die unbeschreiblich milde Luft mit Wohlbehagen ein. Sie sollten heute noch auf ihrem Zimmer speisen; zum Vesperbrot wollte dann Fanny versuchen, die wenigen Schritte bis zum Speisesaal zu gehen.
Ein freundliches, älteres Mädchen in einfacher Kleidung brachte gute Suppe, Rindfleisch mit einem Gemüse von getrockneten Äpfeln und gerösteter Semmel, und Braten, den sie im ersten Augenblicke seiner hohen Fettkruste wegen für Schweinebraten hielten, der sich aber dann als der Rücken[S. 226] eines gut gemästeten Kalbes auswies. Es schmeckte den beiden Gereisten trefflich, und selbst die Zusammenstellung von Rindfleisch und Äpfeln, die ihnen neu war, fanden sie ganz schmackhaft, als sie davon gekostet.
Während Frau v. Märzfeld schlief, erschienen Judith und Lucie.
„Nun, das muß man sagen“, rief die erstere entrüstet, „in eine feine Pension hat uns der Doktor K. gebracht! Nicht ’mal ein Kellner! Der Wirt wartet selbst auf; ein Mädchen mit einer dicken, rotgestreiften Schürze bringt die Speisen herein, — und dieser Küchenzettel! Nein, — und Lucie, sieh hier dieses Möbel!“
Lucie mußte auch lachen, als sie sich im Zimmer umsah; es war weißgestrichen mit einer grauen Kante und kleinen, grünen Blumen. In der Ecke desselben stand ein mächtig großer, zweithüriger Schrank, himmelblau angestrichen, an der Seite mit den schönsten Blumen- und Fruchtstücken in den leuchtendsten Farben verziert, vorn die Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall deutlich abgebildet. Ein Sofa hatte das Zimmer nicht, aber zwei Betten mit guten Matratzen und einen alten, bequemen Lehnstuhl, mit buntem Kattun überzogen, in dem Fanny behaglich saß.
„Ich weiß nicht, Judith, mir gefällt alles sehr; es ist einmal anders wie sonst, und es schmeckt mir viel besser,[S. 227] als jemals zuhause!“ Martha hatte Ähnliches gedacht; die Aufwärterin mit ihrem guten, teilnehmenden Gesichte erschien ihr viel gemütlicher als ein befrackter Kellner, und ein Blick aus dem Fenster ließ die Dekorationen im Inneren des Zimmers nur wenig vermissen.
Am Nachmittag ging Fanny mit in den Speisesaal; sie waren heute noch allein darin, weil die anderen Gäste ausgeflogen waren. Frau v. Märzfeld betrachtete mit sehr unzufriedenen Blicken die Tischdecke aus braungeblümtem Kattun, aber was darauf stand: Kaffee, Milch, Weißbrot, Butter und Honig, das war unübertrefflich. Noch bevor es ans Auspacken ging, erschien der Arzt.
„Mein bester Doktor“, sagte Frau v. Märzfeld, nachdem man sich ins gemeinsame Wohnzimmer zurückgezogen hatte, „in was für eine Pension haben Sie uns gebracht! Sollte es in dem großen Heyden keine elegantere und anständigere geben?“
„Gewiß haben wir elegantere, gnädige Frau; für anständig halte ich aber diese sehr, und ich weiß keine, die ihre Patienten gewissenhafter und besser versorgt; überdem ist hier gerade die Luft und die Aussicht besonders schön; ich dachte, es würde unserer jungen Patientin hier wohl sein. Wie steht es damit, Fräulein?“ fragte er, zu Fanny gewendet.
[S. 228]
„O, mir gefällt’s ganz gut!“ sagte diese; „ich möchte gar nicht fort von hier!“
„Glauben Sie, daß ich meine Tochter mit ihrer Erzieherin bei diesen Leuten allein zurücklassen kann?“
„Gewiß, es sind ganz zuverlässige Wirte, und das Dienstmädchen, die Anna aus Oberösterreich, die ist ein wahrer Schatz; je kränker einer ist, desto lieber hat sie ihn.“
„Dann werde ich mich nur wenige Tage hier aufhalten; ich bin in der That ganz andere Umgebungen gewohnt!“
Es blieb dabei! Am zweiten Morgen nahm die Mama mit den beiden ältesten Töchtern Abschied, um eine größere Reise anzutreten nach den schönsten Punkten der Schweiz. Fanny winkte ihnen mit ihrem Taschentuche Grüße zu, die sie freundlich erwiderten; Martha sah ihnen nach mit sonderbaren Gedanken und Gefühlen: sie war noch in den Jahren, wo man sich gern Illusionen macht! Nach der Schweiz, nach der Schweiz hatte ihr Sinn gestanden, so lange sie lebte; und nun war sie hier, festgebunden an diesen zwar lieblichen, aber wenig großartigen Fleck. Da Fanny jetzt kein Mädchen hatte, wagte sie auch nicht auf Stunden dieselbe zu verlassen. Sie war gefesselt an den Rollstuhl ihrer Schülerin, den ein dazu gemieteter Diener jeden Morgen zum Trinkplatz, jeden Nachmittag zu dem kleinen Gehölze hinausschob, in welchem man zur Bequemlichkeit der Sommergäste[S. 229] Wege und Bänke angelegt hatte. Es war dies fast der einzige Ort, wo man im Schatten wandeln konnte! Es ist schwerer als man denkt, mit voller Gesundheit und rüstiger Kraft mitten hinein gesetzt zu sein in eine so schöne Natur, zu wissen: dürftest du jetzt eine Stunde oder zwei steigen, so hättest du alle Herrlichkeit der Alpenwelt vor Augen, nach der du dich lebenslang gesehnt; und dann all dies Verlangen zügeln zu müssen, ja, es verbergen vor den Augen eines geliebten Kranken!
Martha strebte hiernach mit dem besten Willen; aber ungerufen tauchten wieder und wieder Gedanken in ihr auf, deren sie sich schämte.
„Warum muß ich nur hier sitzen bei der kleinen Kranken? würde ich nicht mehr Genuß haben an den Bergen, Gletschern und Seen als Frau v. Märzfeld und Lucie, die schließlich doch nur nach den Außendingen fragen?“
Es sitzt in jedem natürlichen Menschen, wenn auch noch so verborgen, ein kleiner Sozialdemokrat. Man mag nur auf sich achten! Man ist darum noch nicht zufrieden und genügsam, wenn man prächtige Kleider, feine Speisen, eine bequeme Lebensweise gern entbehrt; dies ist für manche Naturen gar nicht schwer; aber fast für jeden giebt es einen Punkt, nach welchem seine Wünsche besonders lebhaft gehen, nach dem seine innerste Neigung gerichtet ist; gewöhnlich[S. 230] faßt der liebe Gott in der Lebensschule seine Kinder bei diesem Punkte an, und nur wenn es gelingt, sich zu unterwerfen und den innern Rebellen zu besiegen, giebt es vollen Frieden in der Brust. Martha hatte an Fanny ein gutes Vorbild. Seitdem ihre Sehnsucht nach genügender Teilnahme, Unterhaltung und Beschäftigung gestillt war, konnte man nicht zufriedener sein als sie. Heyden brachte ihr überdies eine Menge neuer Eindrücke, die sie fortwährend anregten und erheiterten.
Am Morgen zwischen sechs und sieben Uhr kam der „Schottenfranzerl“ — Schotten nennt man dort die Molken — mit seiner heißen Butte von der Ebenalp herunter, doppelte wollene Decken zwischen der Butte und dem Rücken, damit er sich nicht verbrenne. Zwischen zwei und drei Uhr morgens ging er vom Säntis weg, um sechs Uhr erschien er in Heyden — welch eine beschwerliche Tour! nur die stärksten Männer konnten dazu verwendet werden. Der Franz sah gar schön aus, wenn er mit seiner Last so leicht auftrat, als ginge es zum Tanze; den spitzigen Hut mit der Auerhahnfeder auf dem Kopfe, unter der roten Weste den breiten Ledergurt, auf dem das liebe Hornvieh sich im blanksten Messing getrieben präsentierte, ein Abzeichen seines Standes. Die Molke war beim Ausschenken noch zu heiß, um sie sogleich zu trinken, und Fanny, die so viel Sinn[S. 231] für Humor hatte, belustigte sich im stillen über die verschiedenen Auffassungen und Anstrengungen der Gäste bei ihrem Genusse. Einige schluckten verdrießlich und widerwillig, andere, als besorgten sie die wichtigste Arbeit ihres Lebens; noch andere scherzten und lachten dabei; und je besser Luft und Kur ihr bekamen, je größer die Strecken wurden, welche sie jetzt an Marthas Arme zurücklegen konnte, desto mehr Lust bekam sie, sich dem heiteren Teile der Gesellschaft zuzugesellen. Das Frühstücksnäpfchen mit der braunen Mehlsuppe darin hatten beide Mädchen zuerst sehr bedenklich angesehen, doch redete die Anna aus Oberösterreich zu: „Esse Sie nur, ’s ischt gut, ’s ischt sehr gut!“ Sie aßen und es bekam ihnen wohl.
Bei ihren kleinen Reisen durch den Ort zogen die Gardinenweberinnen, die man durch die niedrigen Fenster arbeiten sehen konnte, meist noch junge Mädchen, ihre Aufmerksamkeit auf sich; auch die alten, ungemein sauber gekleideten Weiblein, die Gardinen stickten, und die geschickten Stickerinnen, welche die superfeinen Taschentücher und Kragen lieferten, die „beim Sturzenegger“ auslagen. Manche Regenstunde wurde dort in dem anziehenden Geschäfte zugebracht, manches Geldstück wanderte aus Fannys Sparbüchse, indem sie sich hier mit Geburtstagsgeschenken für Mutter und Schwestern versorgte.
[S. 232]
Eine neue Freude war ihr der Sonntag; sie hatte in M. nicht mit zur Kirche gehen können; hier in Heyden kam der Wirt am Sonntagmorgen, brachte jedem seiner Gäste ein Gesangbuch und teilte mit, um neun Uhr werde man zur Kirche gehen. Nun wurde ihm von manchem Gaste das Gesangbuch dankend zurückgegeben; das nahm er freundlich und ruhig hin; er hatte nun seine Schuldigkeit gethan.
Martha und Fanny, letztere in ihrem Rollstuhle, schlossen sich gern dem Zug der Kirchgänger an, den der Wirt anführte. Obgleich die ziemlich neue Kirche nur Stahlglocken hatte, erschien es doch beiden Mädchen, als hätten sie nie so etwas Schönes gehört als dies Geläute, wie es in der frischen Morgenluft über den blauen See hinüber klang; so recht volle Sonntagsfreude zog in ihre Herzen ein, und sie lernten bald sich zurechtfinden in dem vollen vierstimmigen Gemeindegesang. Auch der Pastor verstand es wohl, die Herzen auf das Eine hinzuweisen, was notthut, und so meinte Fanny, der Sonntag könne wohl in der ganzen Welt nicht so schön sein, wie hier oben in Heyden.
Des Abends, wenn die anderen Hausgenossen teils noch promenierten, teils nach dem Kurhause gegangen waren, um in größerer Gesellschaft zu sein, saßen unsere beiden Mädchen mit dem Wirt, der Wirtin und der Anna aus Oberösterreich vor der Thür oder im Zimmer; der Wirt hatte[S. 233] dann eine blaue Schürze um und rüstete mit seiner Frau zusammen das Gemüse oder Obst für den anderen Tag, wobei Martha gern half; eine Köchin gab’s in der Pension nicht. Dann erzählte der Wirt aus seinem bewegten Leben. Er stammte aus Vorarlberg, war schon als Knabe hinausgezogen ins Land mit Quirlen und Löffeln, hatte Menschen, Gegenden und Verhältnisse kennen gelernt, und seitdem er die Margaret in St. Gallen zuerst gesehen, da war er sehr sparsam geworden und hatte es zuletzt so weit gebracht, sich in Heyden ein Häuschen zu kaufen, in das er diese Margaret geführt; aus dem Häuschen war ein Haus geworden und eine bekannte und angesehene Pension. Beide Mädchen hörten ihm gern zu; Martha machte die Bemerkung, daß man mit offenen Augen und gesundem Sinne auch ohne Bücher recht viel lernen kann.
Die Pension hatte sich indessen mehr und mehr mit Fremden gefüllt; mittags erschienen außerdem noch Gäste aus dem Ort, und da sie aus aller Herren Ländern zusammenkamen, wurde die Unterhaltung abwechselnd französisch, englisch und deutsch geführt.
Marthas Nachbar war ein Amerikaner, der sich englisch mit ihr unterhielt. Fanny hatte zwar einige englische Stunden gehabt, es aber nicht so weit gebracht, den Fremden zu verstehen, und da er sehr interessant zu erzählen[S. 234] pflegte, so übersetzte es Martha gewöhnlich ihrem Zögling.
Eines Mittags bemerkte es der Fremde: „O, ich kann es der kleinen Dame gleich deutsch erzählen.“
„Sie sprechen nicht wie ein Ausländer“, sagte Martha.
„O, ich stamme aus Deutschland, bin freilich schon in der Jugend nach den Vereinigten Staaten gegangen, und hätte gewiß meine Muttersprache verlernt, wenn ich mich nicht mit meinen Nachbarn Eichhorn und Kraus in St. Joseph grundsätzlich nur deutsch unterhielte.“
Kraus! St. Joseph! Ach, das mußte Siegfrieds Onkel sein!
„Stammt Ihr Nachbar Kraus aus Sachsen?“
„Ja wohl, aus der Nähe von Leipzig.“
Marthas Herz klopfte, sie konnte kaum sprechen.
„Ich kenne einige Glieder seiner Familie; geht es ihm wohl?“
„Sehr wohl“, sagte der Nachbar. „Er hat vor etwa fünf Jahren in seinem Alter noch geheiratet und hat jetzt zwei prächtige Buben.“
Es wurde Martha schwer, weiter zu fragen; aber die Qual der Ungewißheit war zu groß.
„Ich hörte, er habe sich seinen Neffen nachkommen lassen!“
[S. 235]
„Dies muß ein Irrtum sein; ich habe ihn vor meiner Abreise noch besucht; er hatte niemand bei sich als seine Frau und Kinder, hat auch nie von einem Neffen gesprochen. Doch — warten Sie! Ja, vor langer Zeit, ehe er heiratete, sagte er mir, er habe einen Neffen gebeten, zu ihm zu kommen, aber der Schlingel wollte nicht.“
Arme Martha! Für das, was man nun noch sprach, war sie taub und gab dem Nachbar einige recht verkehrte Antworten. Was war das? War Siegfried unterwegs verunglückt? Hatte er von der Verheiratung des Onkels gehört und sich wo anders hingewendet? Bis jetzt hatte sie wenigstens für ihre Gedanken einen Zielpunkt gehabt, die Gegend, in welcher sein Onkel sich niedergelassen; nun war auch dies vorüber. Ach, so oft hatte sie versucht, sich innerlich gefaßt zu machen auf ein Leben ohne ihn; jetzt merkte sie, wie die Hoffnung im Hintergrunde ihres Herzens immer noch gewohnt und ihre Zauberfäden gesponnen hatte. Sie sehnte sich ganz unaussprechlich nach einem Wesen, dem sie sich mitteilen, bei dem sie sich ausweinen könnte. Sie ergriff die Feder, um Suschen alles zu erzählen; da kam der Briefträger und brachte ihr einen Brief der Freundin. Sie zeigte den Tag ihrer Hochzeit an und bat, daß Martha ihrer fürbittend gedenken möge, da sie doch leider, leider nicht dabei sein könne. Auf diesen Brief konnte sie keine[S. 236] klagende Antwort schicken; er war so glücklich, so strahlend glücklich bei allem Ernst.
Fanny ruhte auf ihrem Lager, wie gewöhnlich nach Tische, Martha schlich sich ins grüne Hausgärtchen; nicht weit vom Bienenstand war eine Laube, da konnte sie sich ausweinen.
Ach, ihre Thränen flossen unaufhaltsam! All’ die zurückgedrängte Sehnsucht der letzten Jahre wollte zu ihrem Rechte kommen. Sie schluchzte wie ein Kind und erschrak sehr, als der Eingang der Laube durch einen Schatten verdunkelt wurde. Es war nur die Anna.
„Haben das Fräulein Kummer?“
„Ja, Anna, den hab’ ich!“
„Ist Euch was Liebes tot, oder sollt Ihr Euer Schatzerl nit haben? Sagt’s den lieben Heiligen, die hab’n schon oft geholfen. Jetzt hab’ i halt kai Zeit zum Bete; aber wenn i na Haus komm’, will ich’s wohl der heiligen Anna sagen; die ist sehr gut und hilft schon!“
Martha hätte sagen können, daß sie lieber Gott anrufen solle; aber Anna hatte eine so kindliche Zuversicht auf die heilige Schutzpatronin, daß sie es nicht übers Herz brachte, sie darin irre zu machen; sie dachte: wenn sie so warm und gläubig zur heiligen Anna spricht, sieht es vielleicht der himmlische Vater an, als sei es ihm gesagt, und so sagte sie: „Ich danke Ihnen, Anna, thun Sie das!“
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Als aber Anna fort war, kam es doch wie eine stille Freude über sie, daß sie ja keine heilige Fürsprecherin brauchte, daß sie konnte und durfte gerade zu ihrem Vater gehen und ihr Herz vor ihm ausschütten; sie that es, und das hilft jedesmal. Wenn auch ihr Herz nicht leicht danach wurde, es wurde doch stille und ergeben, und sie konnte mit dem warmen, aufrichtigen Vorsatze zu ihrer Pflegebefohlenen zurückkehren, die Wolken und das Weh für sich zu behalten und so viel Sonnenschein als möglich auf Fannys Lebensweg auszugießen. Wenn sich der Sturm im Innern gelegt hat, tritt auch die Besinnung und verständige Überlegung wieder in ihr Recht und entkleidet das Erlebte von allen Übertreibungen der Phantasie. Was hatte sie denn so Schlimmes vernommen? Nur, daß Siegfried nicht bei seinem Onkel war; konnte er nicht an irgendeinem anderen Orte sich eine Existenz gegründet haben? War es denn unmöglich, daß er dennoch zu ihr zurückkehrte?
Um vieles beruhigt holte Martha ihre Schülerin ab zum Kaffee in dem kleinen Saal. Sie fanden neue Ankömmlinge: eine sehr durchsichtig und zart aussehende Mutter und ein rosiges Töchterchen von etwa dreizehn Jahren; Frau Präsidentin v. B. und ihre Tochter Friedericke.
Die beiden Kinder betrachteten sich schüchtern, aber mit sehr vergnügten Gesichtern. Frau v. B. sah mit mütterlicher[S. 238] Teilnahme auf das zarte, hilfsbedürftige Mädchen, und nachdem es Martha ihrem Zöglinge so bequem als möglich gemacht, veranlaßte sie die gegenseitige Vorstellung.
„Siehst du, Friedericke, da ist ja ein junges Mädchen, wie du es dir gewünscht hast.“
Friedericke nickte.
„Ich kann freilich noch nicht mit herumspringen“, sagte Fanny, „aber ich lerne es bald; ich kann jetzt schon vom Freihof bis zur Kegelbahn laufen.“ Dabei sah sie sehr stolz und glücklich aus.
Frau v. B. erkundigte sich sehr teilnehmend nach dem Leiden der Kleinen und erfuhr, daß sie von hier nach Ragatz oder Pfäffers gebracht werden sollte.
„Ach, wenn es doch Pfäffers wäre“, rief Friedericke; „dort badet Mama einige Wochen, und dort ist es so — ach so — ich weiß gar nicht, wie ich sagen soll — so geheimnisvoll und schauerlich und doch so schön! Man wohnt eigentlich bei den Erdgeisterchen selber. Ach, Fanny, bitte immer zu, daß ihr nach Pfäffers kommt; es wird so sehr hübsch sein, dort Gesellschaft zu haben.“
Friederickens lebhafte Schilderungen waren ganz dazu gemacht, Fannys Verlangen nach dieser Wunderwelt zu steigern, und sie hoffte ihre Mutter zu überreden, auf ihre Wünsche einzugehen.
[S. 239]
Es war sehr ergötzlich, zu sehen, wie die beiden Kinder sich mit jedem Tage näher kamen. Friedericke kannte bald keine größere Lust, als ihrer schwachen Gefährtin all’ die kleinen Dienste zu leisten, deren sie bedurfte, sie an ihrem Arm auf ihr Zimmer zu führen oder aus demselben abzuholen. Fanny ließ sich das sehr gern gefallen, aber der Wunsch erwachte in ihr, es vergelten zu können, und als die Präsidentin eines Tages sehnend nach ihrer Handarbeit ausschaute, welche auf einem fernen Tische lag, stand sie leise und unbemerkt auf und fühlte mit innerlichem Frohlocken, daß es nicht mehr zu schwer für sie war, dieselbe zu holen und der Eigentümerin zu bringen. Diese sah sie überrascht und sehr erfreut an, aber das Kind erglühte förmlich in Wonne; es war das erste Mal, daß sie jemandem einen Dienst hatte leisten können.
Die Unterrichtsstunden mußten natürlich hier in freierer Gestalt gegeben werden wie zuhause, aber Martha hatte sie nie ganz fallen lassen. Jetzt fragte Frau v. B., ob Friedericke nicht daran teilnehmen dürfe; sie war natürlich viel weiter, aber immerhin ließen sich Gegenstände auffinden, die beide Kinder gleichmäßig interessierten, und Martha fand, daß die Gemeinschaft ein herrlicher Sporn für Fanny war.
Frau v. Märzfeld und ihre Töchter hatten häufig Nachricht gegeben; sie hatten den Züricher See besucht, den Vierwaldstädter[S. 240] See mit seinen herrlichen Umgebungen, auf dem Rigi mehrere Tage zugebracht, und waren jetzt seit einigen Wochen in Montreux am Genfer See.
„Aber nun“, schrieb Lucie, „kommen wir auf dem nächsten Wege. Wir sehnen uns nach dem Kinde und etwas mehr Ruhe, und werden im Laufe der nächsten Woche eintreffen, um mit Euch nach Ragatz oder Pfäffers überzusiedeln.“
Fanny jubelte, und auch Martha, obgleich sie sich sagen mußte, daß ihr Leben ferner nicht in so angenehmer Ruhe verlaufen werde, wie es jetzt der Fall war, freute sich doch mit aufrichtigem Herzen darauf, der Mutter und den Schwestern die Fortschritte zu zeigen, welche des Kindes Genesung inzwischen gemacht hatte.
Ein wunderbar schöner Tag stieg nach mehreren recht unfreundlichen über Heyden auf; die sämtlichen beweglichen Pensionsgäste beschlossen eine Tour auf den Kaien zu machen, unter Führung ihres Wirtes; da oben sollte eine herrliche Aussicht auf das Gebirge sein. Marthas Herz schlug in großem Verlangen. Eine Stunde vor Tische ließ Frau v. B. sie rufen.
„Mein liebes Fräulein Martha“, sagte sie, „ich habe eine große Bitte. Mein Kind ist nun schon wochenlang hier und hat noch keinen Blick aufs Gebirge gehabt. Ich möchte[S. 241] ihr so gern den Spaziergang heute gönnen, aber sie nicht allein mit den fremden Gästen gehen lassen. Ihr kleiner Zögling brennt ebenfalls vor Verlangen, Ihnen den Genuß der Bergfahrt zu verschaffen; und so haben wir uns zusammen ausgedacht, wir wollten diesen Nachmittag tauschen: Sie nehmen meine Wilde unter Ihren Schutz bei der Bergbesteigung, und Fanny kommt als meine Tochter zu mir, bis Sie wieder da sind.“
Dies war verlockend. Es stiegen wohl Bedenken in Martha auf: „Wenn ich nur hätte Frau v. Märzfeld fragen können!“ Aber das ging ja nicht. Fanny und Friedericke baten und drängten; sie selbst war überzeugt, daß Frau v. B.s Aufsicht die ihrige überreich ersetzte. Ach, und sie war so glücklich in Erwartung der Gebirgsaussicht — sie gab nach und ging mit. Der Wirt führte so an der Berglehne hinauf, daß man unterwegs keine andere Fernsicht hatte als den Rückblick auf Heyden; der Pfad war meistens sehr steil und oft schattenlos; die Sonne brannte, aber die Aussicht winkte und die Gesellschaft überstand die Strapazen mit fröhlichem Mute. Jetzt noch durch dies Buschwerk, jetzt diesen Rand hinauf! und Martha stand oben und legte die Hände zusammen und ihre Augen füllten sich mit Thränen, denn sie umfaßten in ihrem engen Rahmen ein Bild, wie es die Phantasie nicht schöner hätte malen können.
[S. 242]
Da lagen sie ihr gegenüber, die Schneefelder des Säntis; da ragten die riesigen Nachbarn desselben, der Kamor, Hohekasten, Altemann, Tödi in die blaue Luft; weiter östlich die Vorarlberger und Lichtensteiner Gebirge; in der Ferne die weiße Kette des Rhätikon mit der Sasaplana. Auf der anderen Seite dehnte sich am weiten, blauen See der Thurgau aus mit Trogen, Vöggeliseck, Speicher; darüber weit in der Ferne der Pilatus und der Rigi.
„O, hätt’ ich Flügel, hätt’ ich Flügel!“
Friedericke neben ihr sprang hoch in die Luft und stieß einen Juchzer aus, als habe sie denselben vom Senn erlernt; Martha konnte nicht sprechen. O, dieses eine Bild, war’s nicht genug, um lebenslang manche einsame Stunde mit seinem Lichte zu erhellen? Sie sah und sah; sie hätte nichts davon verlieren mögen, auch nicht das Kleinste.
„Komme Sie doch hier hinter den Stein und nehme Sie a Schöppeli Markgräfler!“ rief der Wirt wieder und wieder.
Der Rat war gut, aber es dauerte lange, ehe unsere jungen Gefährtinnen den Entschluß faßten, sich von der herrlichen Aussicht loszureißen und Ruhe und Erquickung zu suchen. Dann war es behaglich, nach der Anstrengung im Schatten zu sitzen, sich an den mitgebrachten Erfrischungen zu laben und mit den Reisegenossen heitere Gespräche zu[S. 243] führen. Die Gesellschaft wurde sehr vergnügt und niemand merkte, daß sich der Himmel umzogen hatte, bis die Stimme aus den Wolken vernehmlich zu reden anfing. Da sprang denn freilich alles auf die Füße; noch einmal ward die Rundschau genossen, aber nur sehr flüchtig. Das Wetter zog vom Rheinthal herauf, und der Wirt meinte, es könne „a rechts“ Wetter werden; von da könnt’ es oft nicht über den See: „Wir müssen auf die Sennhütten zu halten!“
Dies geschah ohne Besinnen; sie lagen nicht allzu weit unterhalb der Berghöhe, und mit den ersten schweren Tropfen wurde man eingelassen in den zwar nicht mit Bequemlichkeiten ausgestatteten, aber immerhin trockenen und geschützten Raum. Es war sehr gut, ein Dach über sich zu haben; der Regen fiel in Strömen nieder und prasselte auf das Schindeldach und gegen die kleinen Fenster; der Sturm brüllte, als wollte er das Häuschen mit sich entführen; ein leuchtender, greller Blitz jagte den anderen und der Donner rollte majestätisch durch den Aufruhr hin, seine Stimme pausierte höchstens minutenlang, wie um Atem zu schöpfen. Die Gesellschaft lauschte still der großartigen Musik; selbst Friedericke, die so gern lachte, schmiegte sich ernsthaft an Martha an. Diese, äußerlich gefaßt und ruhig, wurde innerlich sehr gequält durch die Sorge um Fannys Angst und infolge davon um ihre Gesundheit. Sie sah mit Sehnsucht[S. 244] nach dem kleinen Streifchen Himmel, welches zu sehen war, ob es noch nicht heller werden wollte, — vergebens! Wenn der Sturm eine Minute geschwiegen, brüllte er in der nächsten mit vermehrter Gewalt; wenn die Stimme des Donners ferner zu klingen schien, grollte sie gleich danach aus einer anderen Ecke um so näher. Stunde auf Stunde verrann: zur Finsternis des Himmels gesellte sich bald das Dunkel des hereinbrechenden Abends und endlich die Finsternis der Nacht.
Da endlich wurde es stiller; der Donner rollte ferner und ferner, blasser und blasser leuchteten die Blitze, einzeln nur noch fielen die Tropfen aufs Dach, dann hörte man keinen mehr.
Man öffnete die Thür der Hütte; durch die zerrissenen Wolken blickten einzelne Sterne, die Luft war unbeschreiblich schön und frisch, aber der ganze Berg nur ein einziger großer Wasserfall. Der Wirt und die Sennerin erklärten es für völlig unmöglich, hinabzugehen, bevor man Tageslicht habe. Letztere holte frische Milch herbei, erbot sich auch, Schmarren zu backen, wenn man es wollte. Es wurde dankend angenommen und fröhlich verzehrt, nur Martha lag es wie ein Alb auf der Brust und sie stieß mehrmals hervor: „Ach, wie sie sich zuhause ängstigen werden!“
„Ich glaube nicht so sehr“, sagte Friedericke. „Mama[S. 245] weiß, daß wir in Gottes Schutz sind und bei verständigen Menschen; Anna wird ihr gewiß von den Sennhütten erzählen, und sie werden es sich denken, daß wir hier sind. Geben Sie acht, sie tröstet auch Fanny und läßt sie nicht von sich.“
Das klang alles ganz wahrscheinlich, aber es war ihr Gewissen, das ihr die Zuversicht raubte; das ganze Erlebnis kam ihr vor wie eine Strafe ihrer Untreue und sie konnte sich die Folgen desselben nicht schwarz genug ausmalen. Die Vorbereitungen zur Nachtruhe waren etwas schwierig; die Gesellschaft bestand aus etwa zehn Personen. Die Herren mußten sich mit ihren Plaids in der Nähe des Herdes einrichten, die Frauen wurden oben im Heu untergebracht; dort war es sehr warm, und eine dicke, nicht mehr junge Dame, der noch dazu die Sennerin ihr eigenes Lager abgetreten hatte, stöhnte unaufhörlich, während zwei junge Französinnen durchaus nicht aus dem Lachen kommen konnten. Friedericke war bald eingeschlafen; Martha saß, sorgte, bat den lieben Gott um Vergebung und rief ihn um Hilfe für ihren Zögling an, und erst, als der Morgenschein durch die Ritzen des Daches drang, fielen ihr mitten in dem Gedanken: „Jetzt können wir bald hinunter!“ die müden Augen zu, und sie erwachte erst, als sie das muntere Gespräch ihrer Reisegefährten vernahm, die an der offenen Thür der Hütte den Heimweg[S. 246] berieten. Es war ein frischer, schöner Morgen. Zerrissene Wolkenschichten flogen, vom Winde getrieben, am Himmel dahin; in den Thälern zog hier und da noch ein Nebelschleier hin und her; die Berghäupter, so viel man deren hier sehen konnte, waren frei, und das Stücklein See, das sich zeigte, strahlte im frischesten Blau. Aus allen Klüften rieselte und rauschte es, auf allen Halmen perlte und glänzte es; die Kühe, die eben gemolken wurden, brüllten der Freiheit entgegen: es war ein lachendes Morgenbild; nur der Pfad, welcher hinabführte, sah noch sehr schlüpfrig und wenig einladend aus.
Martha und Friedericke trugen tüchtige Bergschuhe, aber einige der älteren Herrschaften seufzten schwer und blickten mit Grauen die abschüssige Bahn hinunter. Nachdem man sich mit frischer Milch erquickt hatte, ging es hinab unter manchem „Ach“ und „Weh“, unter manchem Fallen und Wiederaufstehen; nur unsere jungen Freundinnen blieben fest auf den Füßen und konnten zuweilen noch verzagten Seelen die Hand reichen, um ihnen über bedenkliche Stellen fortzuhelfen. Der Senn war soeben mit seinem Mundschenkenamte fertig, da bogen die Wanderer in die Straßen von Heyden ein.
Die Wirtin kam ihnen in der Thür entgegen; sie schien das Ausbleiben des Mannes und der Gäste mit großem[S. 247] Gleichmut ertragen zu haben; es mochte wohl schon öfter vorgekommen sein.
Martha flog an ihr vorüber die Treppe hinauf und öffnete leise ihr Zimmer.
Mit lautem, glücklichem Aufschrei streckte ihr Fanny die Arme entgegen, während die Präsidentin vom Lehnstuhl am Bett sich erhob und unbeschreiblich überwacht und elend aussah.
„Siehst du, mein liebes Kind“, sagte sie, „Gott hat die Unserigen behütet.“
Friedericke, welche ihre Mutter auf ihrem Zimmer nicht gefunden hatte, war auch hereingekommen und hing jetzt an ihrem Halse.
„Sie haben gewiß eine recht schlimme Nacht gehabt“, rief Martha beim Anblick der Frau v. B. „O, wie viel Vorwürfe habe ich mir gemacht, daß wir gegangen sind.“
„Ja, meine kleine Pflegebefohlene war gar nicht zur Ruhe zu bringen“, erwiderte diese, „da mußte ich mich schon entschließen, an ihrem Bette zu bleiben; aber daß wir uns Vorwürfe machen, finde ich überflüssig; die Sache war ja ganz verständig überlegt; wir konnten nicht wissen, daß das Gewitter kam. Komm, kleiner Wildfang ziehe deine feuchten Sachen aus, dann versuchen wir beide noch ein wenig nachzuschlafen. Thun Sie das auch, Fräulein Feldwart!“
[S. 248]
Martha hätte diesen Rat nur zu gern befolgt, aber Fanny war noch zu aufgeregt: „Sie müssen mir erst alles, alles erzählen!“
Martha that es und versuchte dabei ein Mittel, das ihr in der Pflege des reizbaren Kindes schon manchmal geholfen hatte: indem sie Fannys Hand in der ihrigen festhielt, erzählte sie mit ganz eintöniger Stimme immer breiter, immer langsamer und leiser; das wirkte wie Schlafmusik, stimmte die überreizten Nerven des Kindes herab, und nach einer halben Stunde schlief es so fest, daß nun auch Martha die ersehnte Ruhe fand.
Einige Stunden ruhigen Schlafes hatten sie völlig erfrischt; sie erhob sich leise, um das Kind nicht zu stören, sah aber mit großer Sorge, daß Fannys Gesicht geröteter war als sonst und die Brust sich hob in ungewöhnlich raschen Atemzügen. Es fand sich in der That, als sie erwachte, daß sie nicht fieberfrei war; der herbeigerufene Arzt riet, sie heute im Bette zu lassen und vollständige Ruhe um sie her zu erhalten. Mit Bangen empfing Martha gegen Mittag das Telegramm, welches die Ankunft der Frau v. Märzfeld für diesen Nachmittag meldete. Fanny wollte durchaus aufstehen zu ihrem Empfange, fühlte aber freilich gleich, daß es eine Unmöglichkeit sei. Martha war sehr betrübt darüber. Wie sollte sie der Mutter gegenübertreten, wenn Fanny[S. 249] kränker wurde, wie sich jemals wieder beruhigen? Ihr Herz schlug heftig, als die Erwarteten eintraten. Es erschien ihr als die einzige Sühne, der Mutter sofort den Hergang zu erzählen. Sie that es, aber sie that es nicht völlig; sie verschwieg, wie sie von der Präsidentin und Fanny dazu überredet worden war.
Frau v. Märzfeld sah sie sehr befremdet von oben herab an: „Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut, Fräulein Feldwart! Sie sehen, was von Ihrem Leichtsinn kommt; möglicherweise steht Fannys ganze Genesung auf dem Spiel.“
Martha weinte: „Ja, gnädige Frau, es soll mir eine sehr bittere Lehre sein; ich werde niemals, niemals mehr von Fanny fortgehen!“
„Das will ich sehr hoffen; ich könnte Sie auch sonst niemals mehr mit dem Kinde allein lassen.“
Wahrscheinlich wäre aus diesem Auftritte bei Frau v. Märzfeld dauernde Erkältung erwachsen, wenn sich nicht gegen Abend die Präsidentin ihr hätte vorstellen lassen, um ihr den richtigen Verlauf der Sache zu erklären. Sie nahm alle Schuld bereitwillig auf ihre Schultern und unterließ es nicht, sich offen darüber auszusprechen, daß es wohl eigentlich Schuldigkeit sei, einem so aufopfernden Wesen wie Martha mitunter ein Aufatmen und eine Erholung zu gönnen. Die Präsidentin verkehrte in den höchsten Kreisen; sie[S. 250] war eine sehr angesehene, auch äußerlich vornehm erscheinende Persönlichkeit; deshalb verfehlten ihre Worte nicht, den beabsichtigten Eindruck zu machen, um so mehr, als Fanny am anderen Morgen nach einer ruhigen Nacht so ziemlich wieder die Alte war.
Mit Erstaunen sahen ihre Mutter und Schwestern ihre Beweglichkeit, mit noch größerem ihre Heiterkeit, ihren Humor, die Lebhaftigkeit, mit der sie sich für jedes Gesprächsthema interessierte, und dies mußte wohl ein freundliches Licht auf Marthas Pflege und Erziehung werfen.
„Und nun“, sagte Frau von Märzfeld, „will ich euch auch eine große Neuigkeit mitteilen: Wir haben eine Braut hier im Zimmer; ratet: wer?“
Fannys Augen hatten schon mit Staunen den Goldreif an Luciens Hand gesehen; sie rief: „Lucie, Lucie! aber mit wem?“
Sie war mit Graf T. verlobt; er war mit ihnen am Genfer See zusammengetroffen, hatte dort nach einigen Tagen um Lucie angehalten, und diese freudig und überrascht aus warmem Herzen „Ja“ gesagt.
Martha war auch überrascht; sie hatte Graf T. oft in der Familie gesehen. Er hatte ihr stets einen ernsten und Vertrauen erweckenden Eindruck gemacht, er teilte aber seine Aufmerksamkeiten stets gleichmäßig zwischen beiden Schwestern,[S. 251] und man glaubte in M. allgemein, er werde sich mit Judith verloben, welche die ältere und bedeutendere von beiden war. Martha begriff es, daß er sich dies warme und anmutige Wesen gewählt hatte, das jetzt eine strahlend glückliche Braut zu sein schien.
Judith sah sehr ernst aus und war fast unnahbarer als sonst. Die Mama erzählte, der Bräutigam sei jetzt nach Ragatz gereist, um eine Wohnung dort zu besorgen.
„Aber Mama!“ rief Fanny sehr unglücklich, „ich will ja nach Pfäffers!“
Friedericke stand dabei: „Ach ja, bitte, nach Pfäffers, da gehen wir auch hin, und da wohnen wir ganz und gar bei den Erdgeisterchen, die machen dann Fanny wieder gesund!“
Frau v. Märzfeld lachte: „Fragen wir den Arzt!“
Der meinte, Ragatz thäte vielleicht dieselbe Wirkung; aber es gäbe viele Kranke, welche die Bäder so nahe an der Quelle für heilkräftiger hielten. Die Einrichtungen wären in Pfäffers sehr gut, und er riete der Frau v. Märzfeld, ihre kleine Patientin dort anfangen zu lassen; sollte es sich zeigen, daß Luft und Sonne ihr zu sehr fehlten, könne sie ja jeden Tag nach Ragatz übersiedeln.
Als für Martha und Fanny Wohnung in Pfäffers bestellt werden sollte, erklärte zu aller, am meisten zu Marthas[S. 252] Erstaunen Judith, sie möchte mit nach Pfäffers gehen, sie habe sich dies lange gewünscht, und fügte sehr entschieden hinzu: „Wir können uns dann ablösen in Fannys Pflege und jede von uns kann mitunter spazieren gehen.“
Wäre ein Stückchen Himmel eingefallen, so hätte Martha nicht verwunderter aussehen können. Von Judiths Gerechtigkeitssinne hatte sie schon mehrmals Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, auch von ihrer Fürsorge für Fanny; aber Freundlichkeit und Rücksicht für sie — dies war Martha ganz neu. Sie kam wohl der Wahrheit ziemlich nahe, wenn sie vermutete, daß es für Judith vielleicht jetzt nicht leicht sei, in der unmittelbaren Nähe des Brautpaares zu leben. Aber die Sache hatte noch einen anderen Grund. Judith liebte Graf T. nicht; ihr Herz war nicht getroffen durch seine Verlobung, ihr Stolz um so härter; sie fühlte sich zurückgesetzt und gedemütigt und fing an, ein wenig mit anderen zu fühlen, denen dasselbe begegnete. Marthas Einwirkung auf Fanny und besonders ihre Heiterkeit und Geduld in der Pflege derselben erfüllte sie mit Achtung; Frau v. B.s offene Herzensergießung hatte ihr vollends die Augen geöffnet; sie kam entschieden zu der Einsicht, daß sie Martha nicht behandelt hatte wie es billig und freundlich war, und ihre Ehre schien es zu fordern, dies so viel als möglich wieder gut zu machen.
[S. 253]
Martha und Fanny wären lieber mit der Präsidentin und ihrer Tochter allein gewesen; aber Fanny erkannte die freundliche Absicht, und Martha wußte, daß Gott uns die Menschen zuweist, mit denen wir leben sollen, und daß wir es vor ihm zu verantworten haben, wenn wir sie mit Kälte und Gleichgültigleit von uns stoßen; so kamen sie beide Judiths Wünschen freundlich entgegen.
Die Reise durch das schöne Rheinthal machte allen, besonders den beiden, die noch nicht gereist waren, die größte Freude. Da sieht man die Bergriesen auf beiden Seiten ragen: Säntis, Kamor, Hohekasten, Altemann grüßen herunter; an der anderen Seite des Thales erheben sich, steil ansteigend, die österreichischen Berge, während die grünen Matten des Thals das Auge erfreuen und im Hintergrunde die Kalande die Aussicht abschließt.
Fanny blieb in einem Jauchzen, bis der Zug in Ragatz hielt und der neue Schwager sie liebevoll aus dem Wagen hob, um sie als sein Schwesterchen zu begrüßen. Als man sich ein wenig erquickt hatte, sollten die Gäste für Pfäffers erst an Ort und Stelle gebracht werden. Es wurden zwei Wagen genommen; in dem einen saß die Mama mit dem Brautpaar, im anderen Judith, Martha und Fanny.
Welch wunderbarer Weg, stellenweise fast schauerlich! Die Straße ist dem Felsen abgewonnen; sie führt dicht am[S. 254] Ufer der Tamina hin. Dies brausende, weißschäumende Gebirgswasser strömt daher über schwarzbraunes Felsgestein; an einigen Stellen so tief unter der schmalen Fahrstraße, daß es den darauf Fahrenden wohl ein wenig schwindelig werden kann. Zu beiden Seiten steigen hohe, fast senkrechte Felswände empor, so coulissenartig in- und voreinander geschoben, daß man stets glaubt, in einen engen Kessel eingeschlossen zu sein. Staubbäche, in Millionen kleine, feine, leuchtende Tröpfchen geteilt, ergießen sich von ihrer Höhe in die Tamina, mit so graziösem, kühnem Schwunge, daß sie über der Fahrstraße einen glänzenden Bogen bilden, unter welchem dieselbe völlig trocken bleibt. Oben an den Felsen glühte und zitterte noch das Sonnenlicht und tauchte die wallenden Wasserschleier in Regenbogenfarben, während über der Tamina die bläulichen Schatten des späteren Nachmittags lagen, denn nur von zehn bis vier Uhr vermag in den längsten Tagen die Sonne die Thalsohle zu erreichen.
Fanny schmiegte sich an Martha mit glühenden Wangen; es war ihr ein wenig bange zwischen dem schäumenden Abgrund und dem starren Fels.
„O, wie groß und schön!“ sagte Martha.
„Ja, groß ist dies wirtlich“, erwiderte Judith, „schauerlich groß! Ich graule mich ein wenig hier; Sie auch, Martha?“
[S. 255]
„Nein!“ rief diese ernst und zuversichtlich. „Ich weiß, der diese Erde gründete und diese Felsschlucht auseinanderriß, der diesem Wasser rief und es herniederbrausen läßt, der ist mein Vater, hält mich in seiner liebevollen, starken Hand und hat die Haare auf meinem Haupte alle gezählet. Das ist so tröstlich zu denken, man wird so still dabei und möchte doch Psalmen singen tief aus dem Herzen heraus.“
Judith sah sie ernst und wehmütig an: „Mir ist anders, ich habe das Gefühl: dieselbe Gewalt, die vor Jahrtausenden diese Spalten entstehen ließ, kann jederzeit wieder daran rütteln; mir ist, als könnten Himmel und Erde in Stücke gehen, und ich fühle gleichsam schon ihr Beben.“
„Das werden sie ja auch einmal“, sagte Martha freundlich, „aber dann kommt der neue Himmel und die neue Erde, wo alles nur Friede und Freude ist.“
Sie sprachen nun nicht mehr, aber Fanny hatte sich fest in Marthas Arm geschmiegt; sie schaute und schaute, auf ihren Wangen blühte zartes Rot auf und ihre Augen leuchteten. Auch Judiths Augen wurden immer größer und ernster und zuweilen senkten sich die Lider darüber, um aufsteigende Thränen zu verhüllen. Es war allen befremdlich, wenn einmal der vorausfahrende Wagen in einen solchen Winkel zu dem ihrigen kam, daß man heiteres Gespräch und fröhliches Lachen daraus vernahm; und doch ging dies natürlich[S. 256] zu: das bräutliche Glück überstrahlte selbst diese großartige Scenerie. Es kommt ja bei der Wirkung äußerer Eindrücke alles darauf an, wie es in dem kleinen Herzensspiegel aussieht, in dem sie sich abbilden.
Als man vor den Gebäuden von Bad Pfäffers ausstieg, die, eingeklemmt zwischen die Felswände und jetzt vom letzten Sonnenstrahl in ihrer oberen Hälfte eben noch erreicht, auf den ersten Anblick einen mehr düsteren als angenehmen Eindruck machten, sahen sich die Insassen beider Wagen fragend an; das Ganze glich sehr einem natürlichen Gefängnis. Aber sie wurden freundlich hereingeführt, zunächst in die für die neuen Badegäste bestimmten Zimmer. In der Mitte lag eine größere gemeinsame Wohnstube, rechts ein Schlafzimmer für Judith, links eins für Martha und Fanny. Die Zimmer waren bequem und sauber eingerichtet und die künftigen Bewohnerinnen erklärten sich damit zufrieden.
Die Badeeinrichtungen fand man ganz besonders blank und nett, und als man in eines der Versammlungszimmer trat, um den Kaffee da zu genießen, erhob sich am oberen Ende des Tisches ein vornehm aussehender Herr mit weißen Haaren und stellte sich als General E. aus Württemberg vor, zugleich als Bruder der lieben Präsidentin, die jährlich mit ihm hier zusammentreffe und die er morgen gegen Mittag[S. 257] mit ihrer Tochter Friedericke erwartete. Da war die Bekanntschaft schnell gemacht, und als Frau v. Märzfeld mit ihrem Brautpaar abfuhr, saßen die drei Zurückbleibenden zutraulich neben ihrem neuen Beschützer, erzählend und hörend, als wären sie schon längst miteinander bekannt. Selbst Judith gab der süddeutschen Treuherzigkeit gegenüber ihr steifes Wesen auf. Der Gang in die Schlucht, in welcher die Heilquellen entspringen, wurde bis morgen verschoben, da man ihn nicht ohne Fanny, die von der Reise angegriffen war, ja, womöglich auch nicht ohne Friedericke thun wollte, welche sich schon in Heyden darauf gefreut hatte, ihrer Freundin diese Wunder zu zeigen.
Als die Dunkelheit völlig hereinbrach, erschienen sehr verschiedenartige Gestalten im Gesellschaftszimmer; nur die wenigsten schienen den höheren Ständen anzugehören; der vermögende Teil der bäuerlichen Bevölkerung aus der Schweiz und Oberösterreich war reichlich vertreten, und Judith sah sich mit nicht eben sehr wohlgefälligen Blicken um unter dieser Umgebung. Ihr Staunen stieg, als sie den ungenierten, vertrauten, heiteren Ton gewahrte, in welchem sich der General mit den Leuten unterhielt und auf all’ ihre Interessen einging.
„Hier“, dachte sie, „wird es schwer sein, seine Stellung zu wahren“, und als ein behäbiger, freundlicher Österreicher[S. 258] sie fragte: „Wird es den schönen jungen Damen nicht zu einödig hier sein?“ erhielt er eine so kurze, ablehnende Antwort, daß Martha froh war, als Fannys Müdigkeit sie sämtlich nötigte, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen.
Als Fanny ruhte, saßen Judith und Martha noch eine halbe Stunde im Wohnzimmer beisammen.
„Ist das nicht schrecklich hier?“ rief Judith; „nimmt sich so ein Mensch heraus, mich anzureden, ohne daß ich es ihm erlaubt habe! Und dieser General! Gehört zu den ersten Kreisen in Württemberg und spricht mit diesen Menschen, als wären sie seinesgleichen!“
„Ich glaube, Fräulein Judith, das Badeleben bringt auf ganz natürliche Weise den freieren Ton mit; alle sind hier um ihrer Leiden und Gebrechen willen, alle suchen Hilfe aus derselben Vaterhand und an derselben Quelle, alle sind eingeschränkt auf kleinen, engen Raum. Aber wenn Sie eingehend beobachten wollen, werden Sie finden, daß sich niemand gegen den Herrn General etwas Zudringliches oder Ungeschicktes erlaubt; er ist bei all’ seiner Leutseligkeit eine so wahrhaft vornehme Erscheinung, daß dies keiner ihm gegenüber vergessen oder verkennen kann!“
Judith seufzte; sie hatte doch auch gedacht, eine vornehme Erscheinung zu sein und war sehr unbefriedigt von dem ersten Abend.
[S. 259]
Martha fand ihren Pflegling noch mit großen, offenen Augen.
„Hören Sie nur, wie die Tamina rauscht!“ flüsterte Fanny. „Ach, bitte, lesen Sie noch einen Psalm oder ein Lied zur ‚Gute Nacht!‘“
Martha griff nach der Bibel und las den 121. Psalm: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt; meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“ — bis zum Schluß: „Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele; der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Dann betete sie den Vers:
Martha ging noch einmal ins Wohnzimmer zurück, ihre Arbeit zu holen, und fand da Judith noch, die mitten im Zimmer stand und sich gedankenvoll auf den großen Eichentisch stützte. Jetzt blickte sie auf und sagte fast weich: „Wenn Sie mit Fanny lesen, schließen Sie die Thür nicht, oder lassen Sie mich dabei sein!“
[S. 260]
„O, wie sehr gern!“ rief Martha aus vollem Herzen; sie wollte Judith die Hand geben, diese war aber schon in ihrem Schlafzimmer verschwunden.
Ja, Judith fühlte, daß ihrem Dasein die rechte Erquickung mangelte; sie hatte auch in der letzten Zeit durch die Beobachtung ihres kranken Schwesterchens eine Ahnung bekommen, wo dieselbe zu finden sei, und sie war keine oberflächliche Natur; was sie einmal erfaßte, pflegte sie mit Ernst zu ergreifen.
Am anderen Morgen nahm Fanny das erste Bad, und sowohl Martha als Judith freuten sich über die schönen, weißen Fließen, in welche die Bäder gefaßt waren, über die ganze wohlthuende und elegante Einrichtung in dieser scheinbaren Weltabgeschiedenheit, und da Fanny die angenehme Einwirkung des Wassers dankbar empfand, beschlossen ihre beiden Hüterinnen, sich diese Erquickung und Auffrischung der Nerven, so viel es thunlich sei, ebenfalls zu verschaffen.
Gegen Mittag erschienen die Präsidentin und Friedericke, herzlich empfangen von dem lieben, alten Bruder und Onkel, jubelnd von Fanny. Gleich nach Tische kamen, wie sie es versprochen, Frau v. Märzfeld und ihr Brautpaar, und man beschloß, noch vor dem Kaffee den Weg in die Schlucht zu unternehmen, der so glatt, sicher und nahe ist, daß selbst Fanny, abwechselnd auf Friedericke und Martha gestützt,[S. 261] ohne Bedenken daran teilnehmen konnte. Diese Schlucht, in welcher die heißen Quellen entspringen, gewährt in der That einen ebenso großartigen als schauerlichen Anblick. Die Felsen treten hier so nahe zusammen, daß unten nur die schäumende, brausende Tamina zwischen ihnen Platz hat, und über ihr ein auf sicheren Stützen ruhender Weg, oder vielmehr eine lange Brücke, welche bis zu den heißen Quellen hinführt, die sich schon von ferne durch ihren weißen Dampf ankündigen, der in dem wunderbaren Unterweltslichte die sonderbarsten Gestalten anzunehmen scheint. Die Felsen schließen sich nämlich an ihrem oberen Ende so nahe zusammen, daß nur ein kleiner Spalt offen bleibt, um das Himmelslicht einzulassen, ja an einer Stelle führt sogar der Weg nach Dorf Pfäffers über diesen Spalt hin. Wenn man die Einschnitte, Ecken und Kanten an beiden Seiten aufmerksam miteinander vergleicht, ist leicht wahrzunehmen, daß sie genau ineinander passen, und es macht ganz den Eindruck, als habe ein gewaltiger Finger diese Wände ein wenig auseinander gerückt, um dem brausenden Bergwasser Platz zu schaffen. Friedericke und Fanny hielten sich fest umfaßt, als der Führer sie darauf aufmerksam machte.
„Muß das gekracht haben“, sagte Friedericke, „da hätte ich nicht dabei sein mögen!“
Als man bei der heißen Quelle ankam, zeigte sich die[S. 262] Thür zu einem Stollen, der in den Felsen getrieben ist, um mehr Wasser zu gewinnen. Da es aber darin natürlich heiß und dunkel war, verzichtete man darauf, ihn zu besuchen. Im Felsen an beiden Seiten bemerkte man Vertiefungen, wie zu einer Balkenlage.
„Hier“, sagte der Führer, „hat früher ein kleines Haus schwebend über der Quelle gestanden, bevor noch ein Weg in die Schlucht hereinführte; die Kranken sind von oben, versehen mit Lebensmitteln, an Stricken heruntergelassen worden, und erst wieder heraufgezogen, wenn die Kur beendet war.“
„Die sind dann ganz bei den Erdgeisterchen gewesen“, sagte Friedericke.
„Und ich fürchte, sie hatten nicht so schönen Honig und keine Traubenrosinen zum Dessert, wie wir heute Mittag“, setzte Fanny hinzu.
Beides, Honig und Rosinen, ist nicht nur kurgemäß in Pfäffers, sondern wird von den Ärzten aufs wärmste empfohlen und ist deshalb stets in Fülle und ungewöhnlicher Güte vorhanden, was Fannys vollen Beifall hatte. Sie war jetzt, wo Friedericke bei ihr war, ganz befriedigt; sie spielten, lasen und lernten zusammen, so viel oder vielmehr so wenig es Martha bei der Kur ratsam fand; Fanny machte an Friederickens Arm die kleinen Spaziergänge, welche[S. 263] sie ausführen konnte und welche der Arzt zu ihrer Stärkung dringend wünschte. Sie bauten sich eine ganze Märchenwelt in ihrer Phantasie auf, jeder Felsvorsprung, jede Vertiefung hatte für sie ihre Bedeutung.
„Dort oben, wo niemand hinkommen kann, bei den vorgeschobenen Spitzen und Kanten, da ist das Zwergenschloß, da sehen sie heraus und sonnen sich. Dort, wo das tiefe Loch in den Felsen hineingeht, wohnt die Erdgeistermutter; die ist verdrießlich, man hört sie brummen, wenn der Wind weht. Im weißen Dampf über der Quelle tanzen die Tamina-Elfen; sie sind so fein, daß man nur ihre Schleier wehen sieht.“
Oder sie dachten sich ganze Geschichten aus von solchen Kranken, die an Stricken heruntergelassen waren, wie sie sich fürchteten und graulten, und wie die lieben Zwerge aus dem Felsen kamen, sie zu trösten.
Martha sorgte, ob solche Phantasieen nicht Fannys Nerven aufregen würden; aber sie schlief sanft und fest; sie brauchte zum Essen nicht mehr genötigt zu werden und ihre Spaziergänge konnte sie mit jedem Tage weiter ausdehnen. Der Annahme entgegen, daß eine Rose nur in der Sonne ihre schöne Farbe erhalten kann, kam auf die bleichen Kinderwangen mehr und mehr ein rosiger Schimmer, in die matten Augen ein Strahl von Jugendfreude und Mutwillen, der[S. 264] Martha entzückte. Sie selbst fühlte sich ebenfalls gekräftigt und vollkommen in Frieden. Seit den trüben Erfahrungen in Heyden hatte sie alle ungestümen Wünsche nach großartigen Ausflügen aufgegeben und war für die kleinen Spaziergänge, die ihr durch Judiths Freundlichkeit möglich wurden, dankbar.
Das Verhältnis mit Judith erregte in hohem Grade ihr Interesse; sie kamen sich sehr langsam ein wenig näher, und nach dem, was sich da offenbarte, schien es gewiß, daß in dieser Seele noch viele verborgene Schätze schlummerten, die nur der richtigen Wünschelrute bedurften, um ans Tageslicht zu kommen.
Eine nach der Eigentümlichkeit der Gäste größere oder kleinere Prüfung brachte ein Regentag; gottlob! gab es in diesem Sommer nicht viele. Wenn die Wolken wie dunkelgraue Gardinen zwischen den Felsen niederhingen, die Lampen in Korridor und Gesellschaftszimmer den ganzen Tag nicht ausgehen durften, die Badegäste entweder auf ihr Zimmer angewiesen oder in den Gesellschaftssaal gebannt waren, da gab es große Versuchungen zum Grillenfangen. Solch ein Tag kam in der zweiten Woche.
Judith war eben mit ihrer Garderobe beschäftigt gewesen, jetzt folgte sie Martha und Fanny, die ihre Stunden beendet hatten, nach dem Versammlungszimmer. Dort saß[S. 265] beim Lampenlicht der General und spielte mit der Präsidentin eine Partie Schach; dort hatten sich Frauen aus allen Ständen und Ländern mit ihren weiblichen Handarbeiten um einen langen Tisch gruppiert; dort saß ein Kreis bäuerlicher Besitzer und unterhielt sich über Verkehrsverhältnisse, Fruchtpreise und Politik. Die jungen Damen nahmen am Frauentische Platz, da Fanny und Friedericke ein kleines, besonderes Tischchen für sich in Anspruch nahmen, um mit ihren Modepuppen die wunderlichsten Geschichten aufzuführen. Martha kam bald mit ihren Nachbarn in eine lebhafte Unterhaltung.
Das Thema nach der ersten Bekanntschaft in Badeorten ist stets das gleiche: die Gebrechen und Krankheiten, für welche jeder hier Hilfe und Heilung sucht, und dieses Thema wird zwar von verschiedenen Persönlichkeiten in ebenso verschiedenen Variationen vorgetragen, aber es berührt doch die gleichen Grundaccorde in den Herzen und führt zu Mitleid, Mitfreude und leichter Verständigung.
Martha fand neben den verschiedensten Leiden und einzelner Bitterkeit und Verzagtheit auch viel Demut, Geduld und Gottvertrauen, und hörte gern und hoffnungsvoll erzählen von manchen Erfolgen, die mit Gottes Hilfe durch den Gebrauch dieser Quellen erreicht worden waren.
Als das Schachspiel beendet war, kam auch Frau v. B.[S. 266] in den Frauenkreis, und Martha staunte, wie sie es verstand, mit den einfachsten Frauen zu reden, ihr Vertrauen zu gewinnen, sie zu trösten und zu beraten. Der General war zu den Männern gegangen; hier entspann sich eine höchst lebhafte Unterhaltung über Wiesen- und Forstkultur, Ackerbestellung u. dergl.; je nachdem die Redenden aus verschiedenen Gegenden und Verhältnissen kamen, waren auch die Ansichten verschieden, und die Gefahr lag oft nahe, daß aus der Unterhaltung ein Streit werden könne. Dann hörte man stets des Generals ruhige, sichere Stimme, welche erklärte, vermittelte, und der sie alle sich unterzuordnen schienen.
Judith langweilte sich aufs äußerste. Das Licht fiel schlecht auf ihre feine Arbeit; sie hatte dieselbe sinken lassen, lehnte sich nachlässig zurück, gähnte mehrmals, ohne es zu merken, und Verdruß und Müdigkeit spiegelten sich dergestalt auf ihrem sonst so schönen Gesichte, daß ein alter Oberbayer, der sie eine ganze Weile unbemerkt beobachtet hatte, zu ihr trat: „Sind Sie bös, Fräule, daß unser Herrgott schütten läßt? Hilft Ihnen doch nichts; er laßt’s deshalb nit; ’s macht ihm nichts, wenn ein jung Mädel die Stirn kraus zieht!“
Judith sah ihn groß an und sehr von oben herab; sie antwortete nicht, verließ aber gleich danach die Halle, und[S. 267] als ihr Martha und Fanny später folgten, fanden sie sie in der schlimmsten Laune oben noch im Finsteren.
Fanny war jetzt immer sehr müde und schlief bald ein; als Martha leise in das Wohnzimmer trat, ging Judith dort mit großen Schritten auf und ab. Martha setzte sich mit ihrer Arbeit ruhig an den Tisch zur Lampe und wartete das Weitere ab.
Endlich blieb Judith vor ihr stehen: „Jetzt sagen Sie mir, Martha, wie es zugeht, daß sich die Leute solche Dinge gegen mich herausnehmen?“
„Aber, liebes Fräulein, wie kann ich das wissen?“
„Warum passiert dem General und der Präsidentin nie etwas Ähnliches? Sie sagten neulich, er habe so etwas Vornehmes; ich finde das gar nicht; er spricht mit allen Bauern wie mit seinesgleichen. Wenn Sie es wissen, wo seine Vornehmheit steckt, so sagen Sie es mir!“
Martha dachte ein wenig nach: „Darf ich mich ganz offen aussprechen, Fräulein Judith?“
„Ja, ich bitte sehr; und sagen Sie nur nicht immer ‚Fräulein‘; von Ihnen ist mir das sehr langweilig, wissen Sie!“
„Es ist eine schwierige Frage; lassen Sie mich ein wenig nachdenken. Einesteils ist es wohl wirklich das Übergewicht der Erfahrung, des Wissens, der Bildung, was die Leute[S. 268] empfinden, ohne es sich klar zu machen; aber ich glaube, der Grund der allgemeinen Achtung ist vor allem der, daß die beiden alten Herrschaften sich selbst vollständig in der Gewalt haben; daß sie sehr weit vorgeschritten sind in der Selbstbeherrschung und Selbstlosigkeit; ich denke mir, dies muß stets vorausgehen, ehe man anderen imponieren oder sie beherrschen will. Sie geben sich keine Blöße den Leuten gegenüber und, liebe Fräulein Judith, sie geben sich niemals das Ansehen, Respekt erzwingen zu wollen; das reizt in solchen Lagen, wie die unserige hier in dem kleinen Bade ist, gar so leicht zum Widerspruche!“
„Ach Gott“, seufzte Judith, „wenn nur nicht das Leben mit diesen Menschen gar so langweilig wäre, und nicht nur mit ihnen, auch mit meinen Bekannten in M.; ich beneide jeden Menschen, der sich amüsieren kann, aber ich begreife es nicht!“
„Ich wollte“, sagte Martha warm, „Sie begriffen es; gerade Sie, liebe Judith, würden so glücklich sein und andere so glücklich machen können, wenn Sie einmal anfingen, sich mit warmem Herzen für Ihre Mitmenschen, ihre Leiden und Freuden, ihre Ideen und Gedanken zu interessieren. Sie lesen so gern Schilderungen fremder Völker und Länder, und doch sind diese oft wunderbar gefärbt durch die eigentümliche Brille des Verfassers. Ich lese noch viel lieber in[S. 269] einem so lebendigen Buche, wie wir es jetzt vor uns haben; daraus kann man viel, sehr viel lernen! Versuchen Sie es nur; ich hoffe, die Befriedigung findet sich!“
Judith stand eine Weile in tiefem Nachdenken, dann sagte sie freundlich: „Gute Nacht, lieber Herr Professor! ich werde über die Vorlesung nachdenken“, und verschwand in ihrem Zimmer.
Am anderen Morgen ward ein ähnliches Thema durchgesprochen zwischen dem General und der Präsidentin.
„Ich verkehre gern mit allerlei Volk“, sagte der erstere, „man lernt eine Menge Dinge kennen, mit denen man sonst nicht in Berührung kommt. Ich verstehe es aber noch lange nicht so gut wie mein Georg, den Leuten nahe zu kommen; wenn der Junge kommt, sollst du dein Wunder sehen!“
„Wenn mein Georg kommt!“ Dieses Wort hatten die Mädchen aus seinem Munde nachgerade so oft gehört, daß sie sich mit leichtem Lächeln ansahen, wenn es wiederkam. Es war dadurch allmählich „mein Georg“ eine Person geworden, der man mit einiger Spannung entgegen sah.
Eines Abends, da es besonders schön und warm war, wanderten sie im Taminathal, die Kinder voran, Judith[S. 270] und Martha, wie es in der letzten Zeit öfter der Fall war, Arm in Arm.
Da bog ein junger Wanderer um die Felsenecke; eine große, kräftige und doch bewegliche Gestalt, den leichten Sommerrock aufgeknöpft, das Halstuch gelockert, den Strohhut in den Nacken geschoben, daß eine Fülle lichtbrauner Locken frei wurde und ein heiteres, lebensvolles Gesicht mit blitzenden, braunen Augen, gesunder, etwas gebräunter Farbe, fröhlich lachendem Munde und einem Grübchen in jeder Wange, einrahmte; ein noch nicht eben sehr voller Bart umgab das gerundete Kinn.
Judith sah ihn staunend an und ärgerte sich über sich selbst, daß ihr unwillkürlich ein Wort in den Sinn kam, das sie aus dem Munde ihrer Bekannten immer sehr albern gefunden hatte: „Ein junger Gott!“
Der „junge Gott“ ließ ihr Zeit, ihn zu betrachten, denn er war mehrere Schritte vor ihnen bei Fanny und Friedericke stehen geblieben, hatte letztere ohne Umstände emporgehoben und geküßt, was mit dem Jubelruf: „Vetter Georg! lieber Vetter Georg!“ erwidert wurde.
Dann beugte er sich zu Fanny: „Und hier ist ein kleines Fräulein, das geht ein wenig lahm. Sind Sie ein bißchen zu weit gegangen, Waldnymphchen!“
„Ich glaube“, sagte Fanny mit weinerlicher Stimme.
[S. 271]
„Darf ich Sie tragen?“
Fanny sah ihn zweifelnd an; aber er hob sie leicht auf seinen Arm, als sei sie eine Feder, und ging stolz mit ihr den beiden Damen entgegen.
„Jetzt bin ich Ihr Ritter und Sie sind meine Dame!“
„Ein Ritter! ein Ritter!“ jauchzte Friedericke. „Erdgeister haben wir, Zwerge, Elfen; nun haben wir auch einen Ritter — und einen Ritter Georg; es ist nur schade, daß kein Drache da ist!“
Friedericke stellte ihn den beiden jungen Damen vor; er hatte für jede ein heiteres, freundliches Wort, und da sie schon um der Kinder willen mit umwenden mußten, zogen sie wie im Triumphe mit dem Erwarteten im Bade Pfäffers ein.
Natürlich wurde er von Vater und Tante sehr herzlich begrüßt, aber er war noch keine Stunde da, so war es, als sei ein frischer Wind in die ganze Gesellschaft gefahren; er plauderte mit den Alten, lachte mit den Kindern, verabredete gleich für den anderen Morgen einen Spaziergang nach der Kalandaschau und Dorf Pfäffers, für übermorgen eine Tour nach Ragatz und Chur; die erste sollte nach Judiths Bestimmung Martha mitmachen, der zweiten wollte sie selbst sich anschließen, und man hoffte, daß auch Frau v. Märzfeld mit dem Brautpaar von Ragatz aus daran teilnehmen werde.
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Es wurde nun alles Leben und Bewegung. „Mein Georg“ war Besitzer und Verwalter des Familiengutes, das in Süddeutschland lag; seine Gespräche mit den Landleuten waren viel eingehender als die seines Vaters; den Frauen machte er sich angenehm durch freundliche Besorgungen, kleine Erfindungen, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitrugen; mit Martha und Judith unterhielt er sich gern über Bücher, Bilder, über das Leben in der Residenz u. s. w.
Die letztere erschien ihm wohl zuweilen etwas unergründlich, aber es reizte ihn sichtlich, ihr Wesen zu erforschen und dies schöne, stolze Gesicht aus seiner Ruhe und Feierlichkeit herauszusetzen. Dies gelang um so öfter, da Judith wirklich anfing, sich ihres Hochmuts zu schämen und mit Teilnahme auf die Gesellschaft zu blicken, die sie umgab. Wie sehr sie dadurch an Lieblichkeit und Anmut gewann, das merkte sie selbst nicht, andere desto mehr.
Als der nächste Regentag die Gesellschaft ans Haus fesselte, kam „mein Georg“ mit einem jungen Oberbayer, der seine Mutter besuchte, aufs „Schuhplatteln“ zu sprechen; es fand sich, daß beide diesen oberbayerischen Nationaltanz kannten und konnten, und als der Abend herankam, wurden Judith und Martha bestürmt, denselben mit ihnen auszuführen. Ein älterer Badegast erbot sich, auf dem Flügel zu begleiten. Die Mädchen wollten nicht; sie hatten es ja noch nie gesehen.
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„Ach, Sie haben gar nichts dabei zu thun, als sich so graziös wie möglich immer im Kreise herumzudrehen, während wir schuhplatteln; dazwischen drehen wir Sie schon um, wie es sich gehört.“
„Ja, aber bescheiden!“ bestimmte Judith.
Es wurde versprochen und machte anfangs allen großes Vergnügen. Die beiden Tänzer waren gewandt, geübt und kräftig; es wurde ihnen gar nicht schwer, beim Sprung nach oben die Fußsohlen mit der flachen Hand zu schlagen und all’ die wunderlichen Bewegungen auszuführen, die der Tanz erfordert. Einen gehörigen Lärm giebt es dabei; einige nervenschwache Damen entflohen, alle anderen Gäste aber bildeten einen Kreis und sahen vergnügt und mit Spannung den Kautschukmännern zu. Der Bayer tanzte mit Martha, „mein Georg“ mit Judith. Sie hielten sich anfangs in ganz bescheidenen Grenzen und drehten ihre Damen sanft im Kreise herum, aber als der Georg ins Feuer kam, hatte er da vergessen, wen er vor sich hatte? daß Judith kein oberbayerisch Landmädel war? Mit raschem Griffe faßte er seine Dame fest um die Mitte, schwang sie mit einem lauten Juchzer hoch in die Luft und war vor Verwunderung und Entsetzen starr, als sie, wieder auf dem Erdboden angekommen, sich nicht weiter drehte, sondern mit heftigen, stolzen Schritten den Saal verließ und die Thür hinter sich schloß.
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Da stand er nun, wühlte in seinen Haaren und sah ganz verdonnert und unglücklich aus. Die Präsidentin war böse, der General klopfte ihm auf die Schulter: „Ist dir schon recht, das kommt vom Ungestüm!“ und Martha lief eilends der Judith nach. Sie zürnten zweistimmig, in bester Harmonie.
„Nein, das ist nicht zu dulden! Das ist über alle Beschreibung unschicklich! So viel muß doch ein Edelmann sich in der Gewalt haben, daß er nicht vergißt, mit wem er zu thun hat! Dafür muß Strafe sein, das ist sicher!“
Judiths erster Gedanke war, ganz und gar nach Ragatz zu entfliehen. Aber nein! daraus würde er sich am Ende nichts machen, oder er merkte es kaum, oder er könnte sich wunder was drauf einbilden, sie vertrieben zu haben! Nein, sie wollten ganz kalt und ganz fremd zu ihm sein, damit er es merkte, was er für ein schrecklicher Mensch war. Heute Abend wollten sie nicht mehr hinuntergehen, aber morgen früh, beim Frühstück, da sollte er es erleben!
Martha war nur darüber verwundert, daß Judith plötzlich in Thränen schwamm; dies war bei ihr ganz ungewöhnlich.
„Aber, Fräulein Judith“, tröstete sie, „so was entsetzlich Schlimmes ist es doch am Ende nicht; jeder sah ja, daß Sie nicht dafür konnten!“
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„Ja aber, daß Er! gerade Er!“
„Das ist nun eigentlich so verwunderlich nicht“, sagte Martha ruhig; „so eine kleine Unbesonnenheit ist ihm schon zuzutrauen; kränken wollte er Sie sicher nicht.“
Aber Judith war nicht zu trösten; sogar das Gotteswort und das liebliche Abendlied: „Der Tag ist nun vergangen“, das ihr in der letzten Zeit stets lieb und wert gewesen war, wollte heute nicht fassen.
Am anderen Morgen ging sie mit sehr hocherhobenem Haupte zum Kaffeetische.
„Mein Georg“ war schon da; er grüßte ein wenig verlegen, aber ehrfurchtsvoll und freundlich, und erhielt zum Dank eine stolze, steife Verbeugung. Er sprach heiter vom aufgehellten Himmel — und erhielt keine Antwort! Er schlug einen Morgenspaziergang vor — Judith und Martha versicherten, sie hätten Briefe zu schreiben. Er trat nach dem Kaffee näher, als wollte er um Verzeihung bitten — sowie es Judith bemerkte, ging sie hinaus und Martha folgte ihr.
„Das ist ja heute unausstehlich!“ sagte der alte General; „siehst du, Georg, das kommt von deinen Dummheiten! Ach, Agnes, sieh, ob du es wieder ins gleiche bringen kannst.“
Die Präsidentin als freundliche Tante ging wirklich und[S. 276] klopfte am Märzfeldschen Wohnzimmer an, während Fanny und Friedericke, fröhlich plaudernd, am Kaffeetische blieben.
Martha und Judith saßen sich sehr ernsthaft gegenüber; jede hatte einen großen Briefbogen vor sich und die eingetauchte Feder in der Hand, aber keine war aufgelegt zum Schreiben; der blaue Himmel sah so lockend herein; das Bedauern, durchaus Zorn halten zu müssen, wurde immer größer und die Frau v. B. wurde mit großer Zärtlichkeit und Ehrfurcht von ihnen empfangen, indem sie neben ihrer sonst schon geliebten Person die Hoffnung einer Veränderung dieses unerquicklichen Zustandes mit sich brachte.
„Lieben Kinder!“ sagte sie, „ich komme nicht, um meinen unartigen Neffen zu verteidigen, sondern um Sie zu bitten, liebe Judith: nehmen Sie es hier in der Freiheit der Bergwildnis nicht so sehr schwer und verderben Sie uns allen nicht die paar freundlichen Tage des Zusammenseins! Ein todeswürdiges Verbrechen war’s doch am Ende nicht, und ich glaube, er ist schon recht gestraft; ich habe seine guten Augen heute noch gar nicht lachen sehen; gönnen Sie ihm wenigstens, daß er Ihnen selbst ein Wort der Abbitte sagt. Kommen Sie nun mit herunter und begleiten Sie uns auf dem Spaziergange. Sehen Sie, wie freundlich die Sonne lacht; da dürfen wir nicht Grillen fangen!“
Ja, die Sonne lockte sehr; sie vergoldete die Ränder[S. 277] der Felsen gegenüber, und Frau v. B.s Stimme galt viel in der kleinen Gesellschaft. Da nun Judith vom Fenster aus den Verbrecher das Thal hinab wandern sah, glaubte sie, er wünschte ebenso wenig ihre Gesellschaft, als sie die seine, und setzte schweigend ihren Hut auf. Sie gingen langsam im eifrigen Gespräch der Gesellschaft nach, bis Martha bemerkte, daß Fanny und Friedericke sich dicht am Rande der Tamina vergnügten, und voll Sorge zu ihnen eilte. Nun schloß sich Judith der Präsidentin an, sah aber mit Schrecken, daß Georg und der Bayer an der nächsten Felsenecke ihrer warteten, und blieb zurück, scheinbar, um einen kleinen Strauß zu binden aus den feinen Halmen, Moosen und Kräutern, welche in den Felsenspalten wuchsen.
Wie es dann gekommen, daß auf einmal Frau v. B. mit dem Bayer zehn Schritte vorausging und sie allein und verlassen dem gefürchteten Georg gegenüberstand, das ist ihr niemals klar geworden.
Er sah sie weniger verlegen als ernst und traurig an: „Fräulein Judith, wollen Sie mir denn nicht erlauben, Sie für gestern Abend um Verzeihung zu bitten? Es thut mir so sehr leid, daß ich mich so vergessen und Sie so gekränkt habe, aber —“
„Herr v. E., hier giebt es kein Aber! Ein Edelmann muß sich so viel in der Gewalt haben, daß er sich bewußt[S. 278] bleibt, mit wem er es zu thun hat; ich hätte Ihnen nicht zugetraut, daß Sie das vergessen könnten!“
„Ach, Fräulein, das habe ich keine Minute vergessen; das war’s ja eben!“
„Wie? Sie wußten, mit wem Sie tanzten, und wagten es, mich so zu beleidigen?“ rief Judith, indem sie die Farbe wechselte.
„Immer mehr Mißverständnisse!“ rief er; „jetzt, Fräulein, muß ich es Ihnen ordentlich erklären. Bitte, bleiben Sie und hören Sie mich geduldig an!“
Sie hatte eben Miene gemacht, zu entfliehen. Ein Umblick überzeugte sie, daß dies nicht wohl möglich war; vor ihr gingen die Freunde, in einiger Entfernung hinter ihr der fremdere Teil der Gesellschaft. Sie trug also mit Anstand, was sich nicht ändern ließ, und ging mit gesenktem Kopfe neben ihm, mit der Spitze ihres Sonnenschirmes Figuren in den feuchten Sand zeichnend.
„Sehen Sie, Fräulein Judith,“ begann er, und auf der sonst so frischen Stimme lag es wie ein Schleier, „seitdem ich hier bin, habe ich das wärmste Interesse für Sie gehabt; ich betrübte mich, wenn Sie so steif dasaßen, und freute mich, wenn Sie lachten, und dachte schon am ersten Abend: ‚Was müßte das eine Freude sein, Sie so vergnügt zu machen, wie andere junge Mädchen sind. Sie glauben[S. 279] es nicht, wie ich glücklich war, als Sie nach und nach freier, frischer und unbefangener wurden; es reizte mich, immer mehr dazu zu helfen. Als ich Sie gestern Abend zu dem Tanz überredet hatte, glaubte ich über jede Schwierigkeit hinweg zu sein; ich dachte mir, ich wollte Sie durchs Leben führen und lauter Sonnenschein um Sie verbreiten, und ich sah Sie schon vor meinen Augen, Sie, die ich liebe wie niemand sonst, so schön, so fröhlich, so glücklich und beglückend, wie es Gott ursprünglich in Ihre Natur gelegt hat; o Judith, ich dachte, wir wären schon so weit! Da faßte mich ein innerer Sturm vor Freude; ich mußte jauchzen; ich mußte Sie in die Luft schwingen. O Judith, liebe Judith, können Sie mir jetzt verzeihen?“
Sie ging neben ihm, der große Mousselinhut beschattete ihr Gesicht, doch sah Georg, daß sie sich mit dem Tuche einen Tropfen von den Wimpern wischte; aber er wußte nicht, was ihm derselbe bedeutete, nicht, daß es die Worte waren: „Sie, die ich liebe wie niemand sonst“, welche ihr das Herz so bewegten.
„Judith, sagen Sie mir nur ein Wort, nur, daß Sie nicht mehr böse sind, nur, daß ich ein klein wenig hoffen darf! Sehen Sie“, fuhr er auf einmal, mehr in seinem alten, heiteren Tone fort, „ich hab’ so nötig jemanden, der mich zieht, denn ich bin ein Wildfang, Sie aber sind so[S. 280] verständig! Reizt Sie die Aufgabe nicht, liebe Judith, mich zu bessern?“
Sie schwieg noch immer; er fuhr fort: „Ich weiß, ich müßte diese Dinge ernster sagen, aber Gott allein weiß, wie ernst sie mir sind; er weiß auch, daß ich mich auf seinen Beistand verlasse, wenn ich Ihnen verspreche: Ich will Ihnen ein treuer Gefährte sein! Jetzt, Judith, wenn Sie nicht sprechen wollen, geben Sie mir Ihren kleinen Blumenstrauß!“
Zagend reichte sie ihm denselben; sie schlug die Augen auf dabei; es waren Thränen darin, aber ein Strahl von Glück verklärte sie.
Sie sahen jetzt die anderen sich entgegenkommen. Georg umarmte seine Tante: „Sie ist wieder gut; ach, Tante!“
„Na, Junge, erdrück’ mich nicht; ich bin zu alt, um durch die Luft geschwungen zu werden!“
Es ging nun alles seinen natürlichen Gang. Während Judith und Martha eine sehr bewegte Unterhaltung hatten, schüttete Georg seinem Vater sein Herz aus und erstaunte sehr, daß dieser über seine Mitteilungen so wenig überrascht war; dann eilte er nach Ragatz zu Frau v. Märzfeld, und als diese am Nachmittag mit ihrem Brautpaar herüberkam, wurden die neuen Verlobten der erstaunten Badegesellschaft vorgestellt, zugleich aber auch bestimmt, daß Judith, Martha[S. 281] und Fanny anderen Morgens mit nach Ragatz übersiedeln sollten, was der Mutter mit Recht nun angemessen zu sein schien.
„Ich dacht’ halt schon gestern“, sagte der Bayer, „’s ist schad’, daß sie nit seine Braut ist; wir meinen, es bringt Glück, wenn einer die Seinige recht hoch schwingt.“
Der Abschied von Pfäffers wurde allen schwer, aber doch sehr erleichtert durch die Aussicht, daß der General mit seinem Sohne, die Präsidentin mit ihrer Friedericke in den nächsten Tagen ihnen nachfolgen wollten.
Martha freute sich von ganzem Herzen über Judiths wie über Luciens Glück, wenn auch Stunden kamen, wo sie sehr die Sehnsuchtsgedanken nach Siegfried bekämpfen mußte. Glücklicherweise blieb ihr nicht viel Zeit dazu; denn da jetzt Fannys Leitung und Beaufsichtigung wieder allein in ihrer Hand lag und Frau v. Märzfeld für die vielen Überlegungen und Besorgungen, welche diese Doppelverlobung mit sich brachte, nur an ihr eine Stütze fand, waren ihre Kraft und Zeit reichlich in Anspruch genommen. Ihre Stellung in der Familie war eine ganz andere geworden; die Liebe ihrer Töchter zu der jungen Erzieherin, die freieren und billigen Ansichten der Schwiegersöhne über die Stellung derselben, das Beispiel des Generals und der Präsidentin wirkten mildernd auf Frau v. Märzfelds Benehmen, und obwohl Martha[S. 282] mit richtigem Takte die äußere respektvolle Form festhielt, war doch ihre Stellung zur ganzen Familie mehr die einer lieben, nahen Verwandten, als einer Untergebenen. In den wenigen Wochen, welche für den Aufenthalt in der Schweiz noch bestimmt waren, wurden nun noch fleißig hübsche Ausflüge gemacht, teils zu Wagen, teils per Bahn; da jetzt Fanny nicht mehr zu schwach dazu war, nahmen alle daran Teil, und so bekam Martha nach und nach ein schönes Stückchen Schweiz zu sehen; ja, auf der Heimreise rastete man auch in Heidelberg einige Tage, welches von Kind auf das Ziel ihrer Sehnsucht gewesen war.
Nach der Heimkehr oder vielmehr schon auf der Heimreise gab es ernstliche Beratungen darüber, was mit Fanny, die jetzt fast als genesen anzusehen war, weiter werden sollte. Graf T. und der General, die sie am unbefangensten beobachtet hatten, rieten sehr dazu, sie bald in eine Erziehungsanstalt zu bringen mit anderen Kindern zusammen; sie müsse das Glück gemeinsamer Arbeit und gemeinsamer Erholung kennen lernen und dürfe nicht mehr, wie bisher, der Mittelpunkt des Hauses sein.
Die Frau Präsidentin schlug vor, sie in dieselbe Pension[S. 283] in der Nähe von Dresden zu bringen, in welcher Friedericke schon einige Jahre war. Dies schien allen vernünftig und gut zu sein und man beschloß, Martha solle sie den Winter über durch gründlicheren Unterricht auf den Eintritt in dieselbe vorbereiten.
Frau v. Märzfeld bot dieser an, dann als Gesellschafterin bei ihr zu bleiben, aber Martha schlug das freundlich dankend ab. Sie hatte schon jetzt immer gefürchtet, sich ihrem speziellen Berufe durch die freiere Behandlung Fannys zu entfremden; verließ sie diese, so war es ihr klar, daß sie sich umsehen mußte nach einer Schulstelle.
Während sie mit Fanny fleißig arbeitete und an den kleineren Geselligkeiten des Hauses jetzt gern Anteil nahm, wurden allerlei Briefe und Zeitungsannoncen ausgesandt, und schon vor dem neuen Jahre wurde ihr die Stelle, auf der wir sie im Anfange unserer Erzählung fanden, zugesagt.
Sie konnte nur mit warmer Dankbarkeit aus dem Hause der Frau v. Märzfeld scheiden. Wie schwer war es zuerst, wie leicht wurde es dann! Wie schien erst alles so kalt, und nun fühlte sie sich so warm von Freundschaft und Liebe umgeben!
Ihre Thränen flossen, auch die Thränen der anderen, als sie Abschied nahm; aber sie traute fest darauf in ihrem[S. 284] Herzen, daß Gott sie auch in der neuen Lebenslage an seiner Hand führen werde, und sagte leise und getrost, als sie einsam dahinfuhr und die lieben Gesichter, die sie zum Bahnhof begleitet, ihren Augen entschwanden: „In Gottes Namen!“
[S. 285]
Ja, was hätte das arme, junge Mädchen wohl anfangen sollen, wenn sie nicht ihre Zuversicht auf ihren Vater im Himmel gesetzt hätte? Sie machte sich jetzt keine Illusionen mehr, sie wußte, daß die neue Lage große Schwierigkeiten mit sich brachte. Zum erstenmale trat sie nicht in eine fremde Häuslichkeit als Mitglied ein, zum erstenmale sollte sie des unmittelbaren Schutzes entbehren!
Das Leben im Märzfeldschen Hause war in den Außendingen dem sehr ähnlich gewesen, das sie im elterlichen Hause geführt hatte; da war nie ein Mangel an Speise und Trank; da war sie so gestellt, daß sie sich ohne Sorgen anständige Kleidung und nebenbei manch gutes Buch anschaffen konnte; die ganze Umgebung war fein und nett; ja, sie war jetzt wieder verwöhnt, recht sehr verwöhnt! Würde sie es lernen, mit ihrem kleinen Gehalte anständig auszukommen?
[S. 286]
Ihr erster Weg war zum Direktor der Schule; er empfing sie ernst und würdevoll, aber teilnehmend. Als sie ihn um seinen Rat wegen ihrer künftigen Wohnung bat, hatte er sie an Fräulein Klug gewiesen, und obgleich dieselbe ihr zuerst mehr schroff als herzlich entgegengekommen war, hatte doch das Bedürfnis nach irgendeinem Anschlusse gesiegt: sie war mit der alten Kollegin in eine Etage gezogen, und wir haben schon gesehen, wie sehr dies zum Besten der beiden Beteiligten war.
Auch in der Schule gab es anfangs große Schwierigkeiten. Sie hatte sich gewöhnt, auf die Eigentümlichkeit ihrer Schülerin die größte Rücksicht zu nehmen, und hätte dies gern fortgesetzt; wenn aber so viele verschieden angelegte Kinder ein Klassenziel erreichen sollten, war dies nur in beschränktem Maße möglich; der Direktor mußte sich einmischen und sie auf geordnetere Bahnen weisen, und der Martha erschien es, wenn sie ihm folgen mußte, als gäbe sie ihr Allerbestes auf! Sie machte auch gern im Unterrichte Exkursionen, zog das Interessante und Anregende dem unbedingt Nötigen vor und kam dann ins Gedränge mit ihrem Lehrstoff. Da gab es manche Reibung, manches innere und äußere Unglück, bis ein unausgesprochenes Übereinkommen zustande kam, indem Martha einsah, daß in einem so großen, gut organisierten Ganzen der einzelne sich unterordnen muß,[S. 287] wenn es auch mit manchem Opfer geschieht, und der Direktor dagegen, als er Marthas beglückenden, erziehenden Einfluß auf ihre jungen Schülerinnen sah, ihr so viel Freiheit gewährte, als es sich mit seiner Schulordnung irgendwie vertrug.
All’ diese Erfahrungen ihres jungen und doch so wechselvollen Lebens gingen an ihrem Geistesauge vorüber, als sie am Weihnachtsabend dem Verglimmen der Lichte am Tannenbaume zusah. Wie viel hatte sie erlebt, seitdem sie mit Siegfried im Hause der Eltern das Weihnachtslied der Urgroßmutter gesungen! Oft, oft hatte sie dies Lied seitdem gelesen, gesungen hatte sie es nie mehr; es war ihr immer gewesen, als ginge das nicht ohne ihn. Ja, sie hatte hindurch gemußt durch Armut, durch Leid, durch Niedrigkeit; sie hatte an des Todes Pforten gestanden, als ihre Lieben hindurchgegangen waren; aber überall hatte Gottes Hand sie gehalten und zärtlich wie eine Mutter sie durch die schwersten Stunden geführt. Aus jeder schweren Lebenslage war ihr ein Gewinn geblieben, viel Liebe und Freundschaft, das hatte sie in diesen Tagen erfahren.
Dort lagen unterm Spiegel die Briefe ihrer Lieben; dort im Wandschranke waren die Schätze aufgespeichert, die Judith ihr aus ihrer Wirtschaft geschickt; dort in dem kleinen Kasten lagen Fannys und Luciens feine Arbeiten; dort sah[S. 288] sie auch auf Suschens letzten glücklichen Brief nach der Geburt ihres ersten Kindchens; und so reich und schön dies alles war, der innere Gewinn war doch noch größer. Die Sehnsucht kam wohl nach ihrem Siegfried, die Sorge: „Werde ich durchkommen? Wie wird es mir gehen, wenn ich alt und gebrechlich werde wie Fräulein Klug?“ Aber nein! sie wollte nicht zittern und zagen, sie wollte sich und Siegfried fest in die Vaterhand legen, die den eingebornen Sohn aus Liebe uns geschenkt. Ja, heute, heute konnte sie, heute wollte sie das Lied der Urgroßmutter wieder singen; sie öffnete das Instrument und sang mit voller, klarer Stimme:
[S. 289]
Einige Stunden früher schleppte sich der Kurierzug nach B. durch die verschneite Landschaft. Er machte seinem Namen heute wenig Ehre; zu gewaltig fielen die Schneemassen, zu heftig jagte sie der Wind in die Hohlwege, welche der Zug passieren mußte. So lange man durchs offene Land fuhr, konnten Kolonnen von Arbeitern die Schienen leidlich vom Schnee befreien, und wenn es auch viel langsamer ging als sonst und die Stationszeiten nirgends eingehalten werden konnten — es ging doch vorwärts!
In einem Coupé zweiter Klasse saß ein Herr mit noch jungem aber ernstem und gebräuntem Angesichte, das fast traurig in den Schneesturm hinausblickte, der seine kleinen, feinen Krystallsternchen so gegen das Fenster warf, daß man nur in einzelnen, seltenen Pausen einen Ausblick auf die Umgebung bekam; er zeigte auch nichts weiter, als ein großes weiß-graues Tuch, welches Häuser, Bäume, Felder und[S. 290] jede Ungleichheit des Terrains verhüllte und verdeckte. Die Wagen waren geheizt, aber man merkte nichts davon; der eisige Sturm drang durch alle Ritzen, und zwei Jünglinge, dem Pelzumhüllten gegenüber, schlugen mit den Armen übereinander, um sich zu erwärmen.
„Ob wir heute noch nachhause kommen, Alfred?“
„Wollen’s hoffen“, entgegnete der Gefragte; „es wäre ungemütlich, den Abend im Schnee zu verbringen statt unter dem Weihnachtsbaum.“
Der Ältere sah nach seiner Uhr: „Es ist schon fast zwei Stunden über die Zeit, auf dem Bahnhofe kann wohl niemand mehr sein.“
Da ertönte ein schriller Pfiff — Stationslichter — der Schaffner öffnet die Thür: „N., Aussteigen!“
Mit einem Satz, die bunten Studentenmützen fröhlich lüftend, waren die beiden Jünglinge draußen; man sah zwei vermummte Mädchengestalten und einen etwa zehnjährigen Knaben.
„Fritz, Elisabeth, Julchen, ihr alle hier? Na, kommt nur schnell nachhause! Da ist auch Heinrich mit dem Schlitten!“ Die Thür flog zu, der Zug dampfte weiter.
Der Reisende in der Ecke seufzte schwer: „Nachhause! Die Glücklichen gehen nachhause! O, wo ist mein Zuhause auf der ganzen weiten Welt?“
[S. 291]
Heute vor fünf Jahren da hatte er zum letztenmal ein Zuhause gehabt; nicht bei Vater und Mutter, die lagen schon lange unterm Rasen, aber bei ihr; sie hatten zusammen unter dem brennenden Baum gestanden, sie hatten geträumt von einer süßen, gemeinsamen Heimat — und schon am anderen Morgen war alles zusammengebrochen! Als sich seine heißen Wünsche nicht gleich erfüllt hatten, da war er fortgestürmt in die Ferne ohne Abschied, Zorn und Stolz im Herzen und hochfliegende Hoffnungen und Erwartungen auf Glück und Reichtum. Übers Weltmeer war er gezogen, dort in Missouri wußte er eine Thür, daran durfte er nur klopfen, damit Fortuna ihr Füllhorn über ihn ausgoß; dort lebte der einsame Oheim, der sich nach seiner Hilfe und Gesellschaft sehnte und den er beerben sollte.
Nach mancherlei Fährlichkeiten zu Wasser und zu Lande stand er vor dem stattlichen Hause; der Oheim war ausgegangen; ein frisches, junges Weib, mit einem lustigen, kleinen Buben auf dem Arm, empfing ihn. Sie war nicht herzlos, nicht unfreundlich, auch der Oheim, als er heimkehrte, war es nicht; aber daß sich seine Aussichten hier völlig verändert hatten, das brauchte ihm ja niemand zu sagen.
Der Onkel hatte ihm unter die Arme greifen, ihm die Wege ebnen wollen zum Vorwärtskommen; er hatte alles[S. 292] in seinem Hochmut abgelehnt und sich auf seine eigene Kraft verlassen. Er wurde bald inne, daß er etwas Schweres unternommen hatte; er suchte eine Stelle als Landwirt — man bot ihm Knechtsarbeit; er wollte als Kaufmann auf einem Comptoir arbeiten — und fand keine Stelle.
Da kam die Not. Sein kleines väterliches Vermögen war ihm im Vaterlande sichergestellt, daran konnte und wollte er nicht rühren; an seinen väterlichen Freund zu schreiben, konnte er sich nicht entschließen; da ging es tief hinunter mit seinen hohen Gedanken.
Monatelang hatte er als Arbeitsmann sein Brot verdient, dann war er Sprachlehrer gewesen; er hatte sein Leben kärglich gefristet; aber erworben, irgendetwas erworben, das er ihr bieten konnte, das hatte er nicht.
Darum schrieb er ihr nicht; was sollte er ihr schreiben? In einer elenden Nacht, da sein ganzes Geschick sehr dunkel vor ihm lag, und ihres auch, da wurde es ihm klar: „Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbst eig’ner Pein läßt Gott ihm gar nichts nehmen, es muß erbeten sein!“
Und er lernte wieder beten; das verirrte Kind klopfte an des rechten Vaters Thür und der Vater that ihm auf und tröstete ihn.
Er war mit einem Deutschen zusammengekommen, der hatte ein herrliches Grundstück für ein industrielles Unternehmen[S. 293] und ein großes Kapital zum Anfang; aber ihm fehlte, was Siegfried besaß: Intelligenz, Kenntnisse, Thatkraft. Er bot eine namhafte Summe, wenn dieser ihm sein Geschäft in Gang bringen wolle, und fortdauernden Anteil am Gewinn.
Das Unternehmen gelang; sowie dies sich zeigte, hatte Siegfried an sie geschrieben, an seine Martha; er erhielt keine Antwort.
„Sie wollen ihr den Brief nicht zeigen“, dachte er, und als nach einem Vierteljahre keine Antwort kam, schrieb er noch einmal, diesmal an den Vater; wieder lange, lange keine Antwort. Endlich kam der Brief zurück: „Adressat seit Jahren tot, Angehörige verzogen.“
O Gott, wie wurde nun sein Herz so schwer! Sobald sich’s thun ließ, ging er nach Newyork, um dort womöglich Landsleute zu treffen; es gelang ihm; sie brachten die Schreckenskunde vom Konkurs und dem gleich darauf erfolgten Tode des Kommerzienrats; aber niemand, niemand wußte, wo die Seinigen geblieben waren.
Welche Qual! Er schrieb an den Onkel Konsul und erfuhr auch dessen Tod. Wie lang, wie endlos lang wurde ihm das Jahr, das er durchaus noch in Amerika verleben mußte, wenn das Unternehmen in sicheren Gang kommen sollte!
[S. 294]
Nun war er in der Heimat, bei ungünstiger Jahreszeit in Sturm und Wetter herübergefahren, und schon wochenlang irrte er umher und suchte sie, ohne eine Spur von ihr entdeckt zu haben. Auf der Post wußte man nichts mehr von ihrer Adresse; die Angehörigen des Onkel Konsul waren nach dem Süden gezogen; entferntere Bekannte erinnerten sich, in irgendeiner Zeitung die Todesnachricht der Frau Feldwart gelesen zu haben; sie wußten nicht mehr, wann und woher, und die Zeitung fand sich nicht. Das war ihm gewiß: er mußte in der Heimat bleiben, mußte seine Nachforschungen fortsetzen; es mußte ja möglich sein, sie zu finden; wenn es gar nicht anders ging, durchs Einrücken in die Blätter.
Ach, wenn er doch damals in seinem Hochmut nicht fortgegangen wäre! Wie viel hätte er der Verlassenen sein können! Es konnte aber länger dauern, bis er sie fand, und er wollte sich einen Wirkungskreis schaffen, um nicht müßig zu sein, und hatte sich hier und da ein Besitztum angesehen, das seinen Mitteln und Ansprüchen entsprach.
So verlassen, so betrübt, so voll Sehnsucht hatte er sich noch nie gefühlt wie heute; zum erstenmale kam ihm der Gedanke, sie könne gestorben sein oder — was war schlimmer? verheiratet. Er dachte daran: „Es ist ja Weihnachten!“ Es fiel ihm der Engelgruß ein: „Siehe, ich verkündige[S. 295] euch große Freude!“ Ach, in seinem Herzen da war nur Leid; er bat den lieben Gott um einen Brosamen von der Freudenfülle, die sich heute über die ganze Welt ergoß, und sein Herz wurde stiller und ergebener, wenn es auch eben noch nicht fröhlich wurde.
Der Bahnzug fuhr jetzt langsam an einer kleinen Station vorüber; hier hielten die Kurierzüge nicht an, es ging weiter in die Nacht hinein. Da auf einmal ging es langsam, immer, immer langsamer; man sah an den Seiten schwarze, vermummte Gestalten mit Laternen und Schaufeln arbeiten; man hörte durch den Sturm hindurch die Unterhaltung der Schaffner mit den Leuten. Aber alle Anstrengungen waren vergeblich; immer höher baute sich die Mauer im Hohlwege, die der Zug nicht durchbrechen konnte; sollte er nicht ganz darunter begraben werden, mußte man zurückkehren zu der kleinen Station; es geschah.
Frierend stieg der Reisende aus und wollte eben in die Restauration treten, da klang es durch den Sturm wie Glockengeläute und durch das Schneetreiben schimmerte es auf einem nahen Hügel wie erleuchtete Fenster.
„Ist hier Christvesper?“ fragte er.
„Ja wohl, unsere Kinder wollen eben hin.“
Der Reisende fror, er hätte sich gern erst gewärmt, aber eine deutsche Christvesper — die heimelte ihn gar zu sehr an.[S. 296] Ach ja, es ward ihm auch innerlich warm und wohl, als er mitsingen durfte: „Dies ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit!“ Er schmeckte den süßen Trost für alles Weh, der in der himmlischen Freudenbotschaft lag; aber er betete, betete aus vollem Herzen, Gott wolle ihm die wiederschenken, die vor fünf Jahren die letzte Christvesper neben ihm gefeiert.
Siegfried, siehst du sie nicht, die schlanke Gestalt, die gar nicht weit von dir neben dem Pfeiler sich über ihr Gesangbuch beugt? Nein, er sah sie nicht; sie kehrte ihm den Rücken, und ihre weiße Capote verhüllte den jugendlichen Kopf.
Als die Christvesper zu Ende war, trat er in ein Gasthaus, um sich zu erwärmen und etwas Speise zu sich zu nehmen; wenige Reisende fand er hier — sie waren heute alle zuhause!
Eine Stunde verging in gleichgültiger Unterhaltung; Siegfried trat ans Fenster: es hatte sich schon während des Gottesdienstes aufgehellt, jetzt war es völlig still. Er wollte nach dem Bahnhofe und sich erkundigen nach der Weiterreise. Ein schriller Pfiff der Lokomotive machte es ihm wahrscheinlich, daß es die höchste Zeit sei.
„Ist hier der nächste Weg nach dem Bahnhofe?“ fragte er eine vorübereilende Frau.
[S. 297]
„Nein, gehen Sie hier durch die Schustergasse, das ist näher!“
Er ging weiter, aber er ging wie im Traum; er war mit seinen Gedanken bei dem Weihnachtsabend vor fünf Jahren; er dachte an Urgroßmutters Weihnachtslied: „Du wurdest arm, daß ich würd’ reich; nun gilt mir arm und reich sein gleich.“ Das wußte er noch, denn daran hatte er damals seinen Antrag geknüpft. O, wie wünschte er, das ganze Lied noch zu können, jetzt könnte er’s mit anderem Sinne singen!
Was war das? War es eine Geisterstimme? Hoch über ihm klang’s herab, und ach, mit welcher Stimme: „Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht, die uns das höchste Gut gebracht; dich Gottessohn, dich Königskind, das man im Stall und Kripplein find’t.“
Einen Augenblick stand er wie in einen Traum versunken, dann kam Bewußtsein und Bewegung.
„Wer singt da?“ fragte er einen Schusterjungen, der eilends vorüberlief, um noch Schuhe wegzutragen, die beschert werden sollten.
„Es wird die neue Lehrerin, die Fräulein Feldwart, sein!“
Ach, da war im Nu der Fremde im Hause verschwunden; unten im Flur brannte ein trübes Lämpchen, das ihm[S. 298] die Treppe zeigte. Er wollte sehr leise hinaufgehen, aber oben war kein Licht; er trat fehl und die Stufen knarrten. Martha brach mitten im zweiten Vers ab und öffnete die Thür.
Fast erschrocken stand sie dem Manne im Reisepelz gegenüber; vorsichtig und schüchtern trat er näher.
„Erschrecken Sie nicht, Martha, es ist ein alter, treuer Freund!“
Ach, jetzt wußte sie, wer es war, jetzt hielt er sie umschlungen und mußte sie halten, damit sie nicht umsank, und dann hörte man lange, lange nichts anderes als leises Schluchzen; ja, dies Weihnachtsgeschenk war so groß, daß es das schwache Herz nicht gleich fassen konnte.
Aber dann tauschten sie ihre Erlebnisse aus, erst abgerissen und dann zusammenhängender, und sahen sich dabei an und fanden, daß wohl etwas von der Rundung und dem Schmelz der ersten Jugend aus den Zügen fort war, aber dafür etwas darin, was viel, viel schöner war; und die alte Liebe und Treue, die war geblieben, und daran hatten sie beide niemals gezweifelt.
„Und wo kommst du heute her, Siegfried?“
„Aus einem kleinen Orte, den du wohl kaum kennst, aus Weißfeld. Der Amtmann dort hat sich in Schlesien ein größeres Gut gekauft und will Weißfeld verkaufen; ich[S. 299] habe Lust, den Kauf abzuschließen; es gefiel mir dort gar manches.“
„Was gefiel dir, Siegfried?“ fragte Martha mit strahlenden Augen.
„Ach, es führte mich eine alte, krumme Frau herum; das war ein prächtiges altes Geschöpf; ich dachte mir’s so schön, die bis zum Tode zu pflegen. Und dann, Martha — ach, es ist fast ein bißchen sonderbar — aber du wirst es verstehen; es war da ein kleiner eiserner Tisch und eine Bibel darauf, und die Alte sagte, es rühre von einer früheren Besitzerin her, die habe gewünscht, daß es so bleiben möchte, das brächte dem Gute Segen. Das gefiel mir auch!“
Er wunderte sich, als er ihr Gesicht von Thränen überströmt sah.
„O Urgroßmutter! Urgroßmutter!“ rief sie aus.
Da war denn Siegfried voll Erstaunen, als er den Zusammenhang erfuhr.
„Ja“, sagte Martha, „‚denen, die mich lieben und meine Gebote halten, thue ich wohl bis ins tausendste Glied!‘ Das ist gewißlich wahr! O Siegfried! Siegfried! Es ist ein Zusammenhang da zwischen dem Betschemel der Urgroßmutter und dem Glück ihrer Urenkelin!“
Siegfried war auch bewegt.
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„Das ist ein schöner Gedanke, aber auch ein ernster und verantwortungsvoller“, sagte er, „wenn man sich als ein Glied in einer so großen Kette betrachtet, beeinflußt von der Vergangenheit und weiter wirkend in die Zukunft hinein.“
Martha wunderte sich, daß er in Weißfeld nichts von ihr gehört habe; aber sein Aufenthalt war nur kurz gewesen — „und“, sagte Martha, „die Urgroßmutter hat uns gewiß selbst wieder zusammenführen wollen durch ihr Weihnachtslied.“
„Wie wird sich Suschen, mein liebes Suschen freuen, wenn ich dort einziehe! Aber eine Bitte habe ich noch, Siegfried, eine recht große. Nicht wahr, wir haben ein Stübchen übrig für meine alte, liebe Freundin Klug?“
Und als der glückliche Bräutigam vernommen, was diese seiner Braut gewesen war, da stimmte er mit Freuden zu; sie sollte sogleich zum Abendbrot gerufen werden und ihr Glück vernehmen.
„Aber erst will ich alles festlich herrichten!“ sagte Martha.
Sie steckte neue Lichter an das Weihnachtsbäumchen, sie deckte den Tisch mit einem reinen, weißen Tuch und besetzte ihn mit Judiths guten Gaben, denen „mein Georg“ einige Flaschen Rotwein beigefügt. Dann stand das Brautpaar[S. 301] vor der alten Freundin, die sehr überrascht und bewegt, aber voll Liebe und treuer Wünsche war.
„Und nun müssen Sie mit uns essen“, drängte Martha, „ich muß ja doch eine Brautmutter haben!“
Und an der fröhlichen Abendtafel da trug man ihr die schönen Zukunftspläne vor. Es war ihr zuerst zu neu und wunderbar, dann faltete sie ihre Hände wie zu einem stillen Gebete: „Ja, Kinder, wenn mir nicht der liebe Gott ein anderes Altenstübchen anweist, so gehe ich mit; ich will euch, so er hilft, nicht zur Last sein!“
„Was werden meine Kinder, meine lieben Kinder sagen?“ ging wehmütig durch Marthas Seele; aber sie tröstete sich: „Bis Ostern bin ich noch bei ihnen, und Agnes, Helene und Eva müssen jedenfalls meine Brautjungfern sein!“
Das Abendbrot war verzehrt, die Uhr zeigte auf zehn.
„Und nun, Martha“, sagte Siegfried, „bevor ich gehe —“
Sie fiel ihm ins Wort: „Nun, Siegfried, singen wir noch einmal zusammen Urgroßmutters Weihnachtslied!“
„Ja, Martha, und mit mehr Verständnis als vor fünf Jahren.“
Die Lichter am Baume strahlten, die Augen glänzten noch heller und die Herzen schlugen in heiliger Weihnachtsfreude, als sie sangen:
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Ja, jetzt war ihr Bitten ernstlich; sie wußten, der Herr mußte noch viel an ihnen thun und viel mit seiner Liebe zudecken, wenn sie ihm gefallen sollten; sie wußten auch, daß er sie zu diesem Ende noch auf manchen sauern Weg und manche rauhe Bahn führen werde; aber sie waren getrost. Sie verließen sich nicht mehr auf sich selbst oder andere menschliche Stützen, sondern auf den, der sie mit seinen Augen geleitet durch alle die schweren Jahre, und:
Herr Gott Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verläßt!
Druck von Friedr. Andr. Perthes in Gotha.