The Project Gutenberg eBook of Kapellendorf This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Kapellendorf Roman Author: Sophie Hoechstetter Release date: March 15, 2023 [eBook #70296] Language: German Original publication: Germany: Georg Müller Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.) *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KAPELLENDORF *** Sophie Hoechstetter Kapellendorf [Illustration] Kapellendorf Roman von Sophie Hoechstetter München u. Leipzig bei Georg Müller 1908 I. Erste Jugend. Dort, wo immer der Wind weht, ein zärtlicher Sommerwind, der den Thymian berührt und heiße Luftwellen über das reifende Korn streifen läßt, dort, wo Herbst- und Frühlingsstürme die Melodie von Fernweh und Heimweh singen und die einzigen Töne des Lebens zu bringen scheinen -- in der weiten Flurhochebene alten weimarischen Landes liegt die Wasserburg Kapellendorf. Ein früher Barockbau von fürstlicher Größe steht geborgen hinter dem Wassergraben. Noch über dem hohen Hause erhebt sich in gerader Einfachheit die Kemenate. Auf der andern Seite schaut der Normannenturm ins Dorf. Vor dem Tor beschatten Pappeln den Weg. Im Burghof schmiegen sich Linden an die Schloßmauern. In dem kleinen verfallenen Mauergärtlein vor der Kemenate saßen an einem Vorfrühlingsabend zwei Kinder. Man ließ der Fünfzehnjährigen und dem Burschen Klemens dies glückliche Vorrecht gern. Niemand war daran gelegen, ihre Entwicklung zu beschleunigen. Ihnen beiden schien in ihren innersten Gedanken das Erwachsensein für sie selbst wie eine Art von Erniedrigung. Sie hatten es im Instinkt, daß junge Unmittelbarkeit besser ist als die Weisheit derer, die sie verloren. Klemens rauchte. Nicht, weil es männlich war, sondern weil es ihm so gut schmeckte wie Äpfel und Birnen. Die gab es noch nicht. Er bot Leonore eine Zigarette an -- das Dutzend kostete einen Groschen und die Frühlingsluft verwehte ihre Bitterkeit bald. „So vor der Konfirmation, es ist ja dumm, das weiß ich. Aber die Großeltern fänden es gewiß ungut.“ „Du bist doch kein Fräulein, Leonore, und der Pastor pafft den ganzen Tag. Als ob es was anderes wäre, Zigaretten zu rauchen als Kaffee zu trinken. Borniert einfach.“ Leonore nahm eine Zigarette. Erstens liebte sie sie ebenso wie Äpfel und Birnen, zweitens konnte sie nicht wohl ihrem Freunde sagen, daß sie nicht immer der Konfirmation und der Religion so überlegen war wie in den Gesprächen mit ihm. „Dankmar ist wirklich nett, daß er mit dem Vetter nach Weimar ging. Er langweilt sich doch zum Sterben dabei.“ „Ach, Dankmar. Den haben wir doch gern. Der ist viel ritterlicher als du, Klemens. Da geht er mit diesem unsäglichen Menschen, mit diesem Frauenzimmer von einem Gymnasiasten. Es hätte doch viel besser gepaßt, wenn der statt meiner ein Mädchen geworden wäre.“ „Ja, Leonore, es ist schade, daß du ein Mädchen bist. Mußt einmal heiraten und so -- das ist wirklich schade um dich.“ „Zum Heiraten werden doch nur die Prinzessinnen gezwungen, Klemens.“ „Aber weißt du, wenn die Mädchen ein gewisses Alter haben, dann ist es nicht hübsch, sie bleiben ohne Mann. Weil man ihnen doch die Beweggründe dafür nicht ansieht. Viele mögen das mit den kleinen Kindern nicht, das ist begreiflich, völlig begreiflich. Ich möchte es auch nicht.“ „Meinst du vielleicht, alte Junggesellen sind netter als alte Jungfern?“ „Darüber habe ich mich noch nicht besonnen; wenn ich einmal alt bin, möchte ich wohl Söhne haben.“ „Wenn nur die Konfirmation vorbei wäre; weißt du, der hiesige Pastor, der sagt immer in seiner Rede: ‚Und ihr, meine Teuern, denen sich nun die Pforten der Jugend geschlossen haben, meine lieben Jungfrauen, denkt nicht, der Reichtum und die Ehe seien das wahre Glück.‘ Das muß man sich so stillschweigend sagen lassen. Als ob man das vom Leben wollte -- Geld -- Geld -- einen Mann -- na.“ „Er sagt es zu den Landmädchen. Vielleicht ist es da nötig, obwohl sie doch tun, was sie mögen. Aber ich finde es gänzlich inopportun, daß man dich von so einem Pfarrer konfirmieren läßt.“ Der junge Landwirt war noch nicht lange vom Gymnasium fort und liebte Worte der Bildung. „Ja, weißt du, wir müssen Rücksichten auf die andern Leute nehmen. Doch sag mal, Klemens, wenn du schon heiraten müßtest, würdest du da mich heiraten? Ich meine, sehe ich aus wie eine, die mal geheiratet sein will?“ „Aber behüte, nein. Kein bißchen. Und das ist doch sehr einfach: Wir würden einander doch nie heiraten. Ich denke es mir entsetzlich zwangvoll, jemand zu heiraten. Dann schon eine ganz Fremde vor der man sich sowieso geniert. Da geht es dann in einem. Nun stell dir bloß vor, ich gehe weg, wenn du konfirmiert wirst; nein das halt ich nicht aus, wenn du zur Beichte gehen sollst und so. Denk bloß, all das Feierliche. Nein, das könnten wir doch unmöglich miteinander haben. Wir könnten nie mehr einander gern haben, wenn wir so eine Komödie aufgeführt hätten.“ „Du bist auch verpflichtet, jemand zu heiraten, der es gern will.“ „Wieso?“ „Nun, als Kavalier verpflichtet. Das gehört sich. Wenn ich ein Mann wäre, ich würde allen den Hof machen, allen, die beiseite stehen. Weißt du, die Frauen sind so, die wünschen sich das. Sie sind meist so arm. Ich kann mir doch noch eine Zigarette nehmen -- ja, die Frauen müssen das haben, sonst kommen sie sich häßlich und armselig vor. Das tut einem doch leid. Das verstehst du noch gar nicht. Du müßtest viel mehr Kavalier gegen Charlottchen sein.“ „Gegen die Tante?“ „Die Tante -- die Tante. Sag doch lieber gleich die Muhme, die Ahne. Sobald ich konfirmiert bin, nenne ich sie Cousine.“ „Und die Großmutter nennst du dann wohl dein Enkelein?“ „Du tust so unwissend. ‚Großmama‘ klingt sehr schön. Das ist wie -- nun ja, unsere Wasserburg würden wir auch nicht eine Villa heißen. Eine Großmutter ist eine Königin. Aber eine Tante? Das scheint mir gerade, als nennte ich sie eine Kammerjungfer. Es ist würdelos. Frauen müssen Jugend oder Würde haben ...“ Klemens fragte ein wenig ängstlich: „Leonore, müssen wir nun hinein zu dem Onkel?“ „Ach, der fragt glücklicherweise nicht viel nach uns, und bald reist er wieder. Sag mal, Klemens, wie kommen denn wir zu solchen Verwandten? Der Onkel, der färbt seinen Bart und sein Haar. Das sieht man, so pechschwarze Haare gibt es gar nicht.“ „Er ist Ire, da gibt es das vielleicht.“ „Nein, er färbt sie. Mir graut es vor dem, ich mag gar nicht essen, wenn er mit am Tisch sitzt. Die Großeltern, die sehen nicht so, wie das ist. Wie den nur eine Tante von uns heiraten mochte?“ „Ja -- und besonders, da sie zuerst einen andern lieb gehabt hat.“ „Woher weißt du denn das?“ „Von Papa. Der andere war ein Findelkind, das haben die Großeltern erzogen. Als der Findling Student war, hat er die Tante lieb gehabt. Sie kam aber in eine englische Pension, und da hat sie, glaube ich, auf dem Schiff den Onkel Warren kennen gelernt, den sie dann heiratete. Da war der Student sehr böse und hat sich recht undankbar gegen die Großeltern benommen, und dann ist er fort.“ „Hat dir das dein Papa so ohne weiteres erzählt?“ „Bewahre. Einmal, da sang Papa ein paar Verse.“ „Dein Vater singt?“ fragte Leonore erschrocken. „Du meinst wohl Choräle und Psalmen? Mein Vater singt schöne, leise Lieder und spielt auf der Gitarre dazu. Nun, da war einmal ein fremdes Lied -- ich habe es wieder vergessen, obwohl es mir so gefiel. Ich fragte, von wem das Lied sei, und da sagte Papa, ein Pflegebruder von ihm hätte es gemacht. Es war ein ganzes Buch voll Verse da, als er fort in die Welt ging. Sie haben nie mehr von ihm gehört; aber das Buch müsse wohl noch hier irgendwo liegen, meinte Papa.“ „Dann werden wir es auch finden. Ich suche morgen. Vielleicht haben wir der unbekannten und verstorbenen Tante ihren schlechten Geschmack zu entschuldigen. -- Was sagen wir nun, wenn dieser Enterich von einem Vetter uns fragt, wo wir gewesen sind. Er dachte doch, ich hätte Stunden.“ „Wir mußten uns von dem geistreichen Umgang erholen,“ sprach der Ökonomiepraktikant. „Weißt du, womit mich heute der Vetter George unterhalten hat? Von den Schönheiten der griechischen Sprache. Er ist witzig, auf Ehre. Denn die Schönheiten der griechischen Sprache haben mich von dem Gymnasium erlöst. Hätte ich sie begriffen, so müßte ich heute noch Pennäler sein ...“ „Kinder, wo findet man euch denn?“ „Hier, Dankmar.“ -- Ein junger Mensch kam raschen Schritts. Er hatte den Kopf voll brauner Locken wie ein Lützowjäger. -- „Wie war es denn, Dankmar?“ Dankmar Kurtzen setzte sich auf einen Mauerstein. „Euer Vetter hat mich gefragt, ob ich ein wirklicher Graf sei. Ob ich im ~Almanach de Gotha~ stünde. Sonst haben wir nichts geredet. Meint ihr vielleicht, ich gebe mein schüchternes Verhältnis zur englischen Sprache preis? Und noch eine Neuigkeit, Kinder -- nächstens kommt eure Cousine Clemence. Für mehrere Monate. Nun müssen wir alle repräsentieren lernen.“ Sie wurden eifrig. O, die englische Cousine kam -- und alle sollten wohl nun tun, als seien sie erwachsen! Was sollte man da machen, wie? Doch Leonore wurde abgerufen. Die Trägerinnen der beliebtesten Thüringer Namen: Linda und Lydia Wolgezogen, die Töchter des Kohlenhändlers Wolgezogen, Hildegard Fernkäse, die Tochter des Kaufmanns Fernkäse, und Alieze Schulze, die Tochter des Herrn Lehrers, waren zwecks Erledigung einiger Äußerlichkeiten um eine abendliche Unterredung eingekommen. Diese Freundinnen ihrer Jugend hatten sich unter den Linden im Schloßhof eingefunden; um diesen Beratungsplatz baten sie ausdrücklich, da es ihnen unter den Augen der Frau Oberförster und Großmutter nicht wohl war. Sie fühlten sich Leonore etwas entfremdet; seit diese nicht mehr in die Schule ging, sondern beim Pfarrer und bei ihrer Tante Unterricht hatte, war das Band innigen Verstehens zwar nicht gerissen, aber doch gelockert. Linda, Lydia, Hildegard und Alieze unterbreiteten das Anliegen: ob man künstliche oder natürliche Kränze zur Konfirmation tragen sollte, ob die Zopfschleifen schwarz oder weiß zu sein hätten, und ob Leonore etwa einen Umhang anziehen würde, weil der Palmsonntag doch so früh fiele. Leonore gähnte. Sie sagte, ihre Tante mache ihr das alles, sie nähe ihr auch das Kleid -- nein, es sei noch nicht fertig, sie hätten ja diese Woche Besuch gehabt, ach, aber das wäre doch so einerlei mit den Zopfschleifen und so, sie nähme eine rote. Linda, Lydia, Hildegard und Alieze lächelten ungläubig. „Im Ernst“ möchte Leonore sprechen. „Nun ja, im Ernst, es ist doch keine Trauerfeier, wenn wir konfirmiert werden, ich nehme eine rote Schleife.“ Hildegard, Lydia, Linda und Alieze lächelten wieder. Aber diesmal glitzerte das Lächeln nur in ihren Augen, geheimnisvoll wie ein Freimaurerzeichen. Und wie es mit den Kränzen sei. „Ich setze keinen Kranz auf.“ „Was?“ rief Lydia. „Keinen Kranz? Du willst keinen Kranz aufsetzen? Nee, so grad wie e Hund willst du gehn?“ Die Genossinnen erschraken. Drei Augensignale lichterten über Lydia hin. „Ein Hund ist ein schönes Tier,“ sprach Leonore, „aber ich setze keinen Kranz auf, weil der Pfarrer schon sowieso immer von Brautkränzen redet. Eigentlich könnte mir eine von euch einen Gefallen tun.“ „Gern sind wir dazu bereit.“ „Nun also: Ihr wißt doch, wenn ein Waisenkind dabei ist, so sagt der Pfarrer jedesmal, daß es zu beklagen sei und denen, die sich seiner erbarmt, zu Dank verpflichtet. Ich mag das nicht hören -- und selbst darum bitten mag ich auch nicht. Wer tut’s?“ Die Freundinnen blickten einander fassungslos an. Dann erhielt Linda, welche die Klügste war, einen Puff von ihrer Nachbarin. Linda faßte sich: „Die Pfarrer müss’ spreche was in ihren Büchern steht. Da kann ma nichts ändern. Das sind so Bräuche --“ „Gott, doch nicht jedes Wort ist ein Brauch. Das an das Waisenkind soll doch eine Freundlichkeit sein. Ich mag sie aber nicht, denn dann heulen alle, als ob ich ein Verdammtes wäre. Seht ihr denn nicht ein, daß ich das nicht mag?“ Nein, weder Linda noch Lydia noch Alieze, von Hildegard gänzlich zu schweigen, sahen es ein. „Da kann ma sich nicht einmischen.“ „Na, dann tut es mein Vetter.“ Die Freundinnen gaben sich das Freimaurerzeichen. „Ooch -- dein Vetter? Der ist wohl dei Bräutgam?“ sagte Alieze, „steckst ja immer mit ihm zusammen.“ „Mein Vetter ist er,“ sagte Leonore hochmütig und kalt. Dieser Ton veränderte den Ton der Freundinnen. Lydia sagte: „Dein Onkel aus England das ist ein feiner Herr, sprech’ch. Und so freindlich.“ „Woher kennst du denn meinen Onkel?“ „Gelle Linda, er hat unserer Milda eine Brosche geschenkt. Fein, sprech’ch.“ „Der Milda? Mein Onkel?“ „Ich höre schon, du hast’s nich neet’g so zu schreien; zu meiner Milda hat dein Onkel gesprochen, sie därf nach England kumme, wenn sie will. Das Reisegeld, das schickt er ihr. Weil die Milda so anstell’g is, so ein feines Mädchen. Joe, in seinem Hause, da gäbe es wohl eine Stelle fir meine Milda.“ Linda unterbrach die Schwester. „Dein Onkel hat gesprochen, was die deitschen Mädchen sin, das sin die besten.“ Leonore wurde das Lob des Onkels langweilig. „Na, wißt ihr sonst nichts?“ „Ob du weiße oder schwarze Handschuhe anziehst, möchten wir wissen.“ „Nun ja, an die Rechte einen schwarzen und an die Linke einen weißen, denn sie weiß nicht, was die Rechte tut.“ Hatte die rote Zopfmasche Lydia und Hildegard abgestoßen, der mangelnde Kranz Linda entfremdet, so raubte diese Blasphemie von dem schwarzen und weißen Handschuh Aliezens letztes sympathisches Verstehen. Vier Augenpaare gaben sich das Freimaurerzeichen. -- -- * * * * * Gott sei Dank, sie sollte in kein Pensionat kommen. Der Großvater wollte es nicht. Sie könne ja beim Pastor Stunden nehmen und bei der erwarteten Cousine besser Englisch lernen. Und auch, nun müsse sie sich nicht gleich mit Wirtschaften abgeben. Das hätte noch Zeit. O, was war der Großvater für ein Mann. Drei Tage voll Entsetzen lagen hinter Leonore. Charlottchen hatte sie wieder Tante genannt, die Großmutter alles weniger als verehrt. Denn diesen beiden war es eingefallen, sie in eine Pension tun zu wollen. O was war der Großvater für ein Mann. Und was war Dankmar Kurtzen für ein Freund. Er hatte der Tante und der Großmutter gesagt: Meine Damen, ich könnte Ihnen nie wieder die Hand küssen, wenn Sie Leonore fortschickten. Da mußte die Großmama sehr lachen. Leonore ging mit gehobenen Empfindungen. Wie erbärmlich fielen doch die Aliezen, Lindas und Hildegards aus dem Dorf ab neben Dankmar. Auch neben Klemens. Der hatte erklärt, er würde in jedes Pensionat einen Warnbrief vor Leonore schreiben, so daß man sie einfach nicht nehme. Ja, Leonore hatte Ursache, mit gehobenen Gefühlen zu gehen, und sie wanderte hinaus vors Dorf, zu einem kleinen Hause, das ein gebrochenes Dach hatte und das noch einen Freund umschloß: den alten Einwaldt. Er war früher Lehrer gewesen, und Leonore schätzte seine Bildung sehr hoch. Jetzt beschäftigte er sich mit der Bienenzucht und las freigesinnte Zeitschriften, woran er Leonore teilnehmen ließ. Er hatte einen Sohn, doch der war zu Leonores Freude nicht da, sondern gehörte in Berlin einer Gemeinschaft an, die neue Moralen erfand und verfaßte, wie der Lehrer sagte. Diesem alten Einwaldt mußte die Gefahr, der Leonore entronnen war, mitgeteilt werden. Er war in seinem Garten und trippelte um das Bienenhaus. „Ach Sie sind’s, Lenorchen, ma hat Sie ja garnich mehr gesehen.“ Leonore erzählte die Gründe. Eifrig, ja geradezu dramatisch trug sie die Gefahr vor, der sie entronnen war. Der Alte nahm teil. „Was hätte mich das geschmerzt, wenn Sie fortgemacht wären, Lenorchen.“ „In so dummen Mädchenschulen, was lernt man denn da? Ein Aff’ wird man. Erzählen Sie mir doch weiter, Herr Einwaldt, von neulich, wissen Sie. Wir sind gerade bei dem Archäopteryx stehen geblieben. Ich weiß noch alles. Kommen wir jetzt nicht bald zu den Menschenaffen?“ „Ach du liebe Zeit, Sie haben zu große Eile. Mit den Vögeln hört doch eine Entwicklung auf. Itze müssen wir schon langsam wieder zurückgehn und mit einer andern Familiche anfangen.“ „Sie haben gut reden von Eile. Sie wissen alles, und ich weiß so wenig. Wie heißt das Äfflein, das Tonleitern singen kann und auf zwei Beinen laufen und das aussieht wie ein mageres Seiltänzerkind?“ „Das ist der Gibbon.“ „Nun ja, also, von dem will ich hören, und von den Schimpansen. Die sind fein, die haben so treuherzige Gesichter. Mancher Mensch könnte froh sein, wenn er so aussähe.“ Indessen, der alte Einwaldt war heute nicht auf Schimpansen gestimmt. Die Tageszeitung, die er hielt, hatte ihm einen großen Ärger durch eine okkulte Geschichte gemacht, die in gläubigem Ton erzählt war. Er schob sein Käppchen hin und her, spuckte verächtlich aus und sagte: „Die Menschen wollen oder sollen mit Gewalt wieder dumm werden. Nun fängt man gar von neuem an, an Gespenster und Halluzinationen zu glauben. Ich bin froh, daß ich nicht mehr lang mittun muß.“ „Aber, Herr Einwaldt, es ist doch etwas sehr Interessantes, daß ein Mensch solche Erscheinungen haben kann.“ „Noch keiner hat aber damit etwas anderes gesehen, als was sowieso zu sehen möglich ist. Du liebe Zeit, Goethe hat ja einmal ein hibsches Frauenzimmerchen vor seinem Gartenhause den Weg kehren sehen. Ja, mein liebes Lenorchen, das wird wohl öfter passiert sein, daß ein hibsches Frauenzimmerchen sein Wesen da draußen trieb und seine Bossen mit ihm hatte.“ Das Gespräch ging noch eine Weile. Dann sagte Leonore: „Wissen Sie, Herr Einwaldt, wir machen uns jetzt eine Sternwarte. Graf Kurtzen hat es uns gesagt, wir können im Normannenturm so etwas einrichten, wie der alte Weigel einmal in Jena, so daß man am Tage die Sterne sieht. Das wird fein.“ „Zerbrecht Euch nur nicht Arm und Bein dabei.“ „Wir können alle klettern. Aber nun muß ich heim. Ja. Guten Abend --“ Nach Tisch traf Leonore die Freunde auf dem Mauergärtlein. Klemens war sehr aufgeregt -- er hatte das Buch des Studenten gefunden. In der Bibliothek war es in einem Schrank gewesen. Klemens brannte darauf, die Sachen den Freunden mitzuteilen. Sie sahen das alte Schreibheft an, als wäre es ein Mysterienbuch. In Kapellendorf, hier an dieser Stelle hatte jemand die aufregendsten Dinge erlebt. Eine geheimnisvolle Geburt -- eine unglückliche Liebe. Und nun wußte niemand mehr, wohin der Träger dieser Geschehnisse gegangen war. Nur dieses schwarze Heft zeugte noch von seiner Existenz. Sie blätterten darin: Zigaretten 1,80 Mark, eine Krawatte 2,50 Mark, Bücher 0,50 Mark. -- O -- es war ein Ausgabebuch? Ja, wirklich, außer solchen Notizen fand sich nur ein schwulstiges Gedicht. Und einige Briefmarken. Eine Thurn und Taxis von gelber Farbe, eine grüne Bayern zu zwölf Kreuzern und ein Wertstück des Kirchenstaates, zweifarbig und so neu, daß es niemand über seine Unechtheit zu täuschen vermochte. „Ich nehme den Kirchenstaat, wenn wir teilen,“ erbot sich Graf Kurtzen großmütig. Denn er hatte Freude an dem Gedicht. Er nahm das Buch, lehnte sich an die Mauer und sagte: „Meine Herrschaften, ich gestatte mir, Ihnen etwas zu deklamieren.“ Und mit grollender Knabenstimme begann er zu lesen: Wie rot diese Mitternacht ist. Dein Schloß erglüht wie der heilige Gral, Mein Wille fliegt über brennende Täler, Mein Herz ist ein einziges Wundenmal, Der Weltenbrand unser Vermähler. Wie rot ist die Mitternacht, Die letzte Mitternacht, Jolanthe. Siehst du das Flammenmeer sich dehnen, Ein Brautbett so rubinenrot und warm Zur Hochzeit, die wir lang ersehnen, Halt ich dich, Liebste, bald im Arm. Warum kommst du nicht, ich warte so sehr, Hast du mich nicht vom Tode errettet? Hast du mich nicht so liebesschwer In deinem Schoße gebettet? Willst du den Weg nicht wagen? Du weißt, ich darf nicht in das Schloß vom heil’gen Gral, Ich kann die Not nicht mehr ertragen, Erlöse mich doch aus des Wartens Qual. Komm doch zu mir, Jolanthe, Es ist die letzte, rote Mitternacht. Meinen Hilferuf verlöscht die Glut, Die Glut verbrennt meinen sehnenden Mund. Gib mir dein Blut, trink du mein Blut, Dann werden wir beide gesund. Die Arme streck’ ich über den Weltenbrand Die Arme, die sehnenden Arme, Über Not und Tod gib mir die Hand, Du Liebeswarme. Wie rot die Mitternacht ist, Die letzte Mitternacht, Jolanthe. Die Götter sind tot, Nur unsere Not, Unsere Liebesnot glüht über Berg und Tal Als unerlöstes Wundenmal. Kommst du noch nicht, Jolanthe? Es ist die letzte, rote Mitternacht. Mein Herz verbrennt, Mein Herz zerbricht, Hörst du mich immer nicht, Die meine Seele kennt? Vom roten Himmel fällt das rote Blut Mein rotes Blut, Mein letztes Gut. Wie rot ist die Mitternacht, wie rot -- -- -- -- die Mitternacht. Die beiden Jungen konnten sich gar nicht fassen vor Lachen: „Er war schon wieder getröstet, der Kaspar Mühlfund -- er hat alle Weltenbrände überlebt. Herrgott, hat der Mensch einen Dusel gehabt.“ Doch Leonore wurde nachdenklich. Wie war das alles wunderlich und seltsam. Was hatte dieser Mensch gewußt, das ihn schreien ließ vor Qual und Glück? Denn, so widerspruchsvoll es ihr schien, sie dachte, dieser Student muß glücklich gewesen sein -- er muß etwas gewußt und gekannt haben, das verbrannte ihn, und er lächelte dabei und rotes Blut fiel vom Himmel. „Leonore, willst du die Bayern oder die Thurn und Taxis?“ Das rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie hatte beide alte Marken nicht -- und die Wahl mußte überlegt werden. * * * * * Die Cousine Clemence war gekommen. Leonores staunende Augen hingen an ihrem Gesicht. -- Leonores staunendes Herz dachte: ich begreife, warum der Student schrie vor Glück und Verlangen, wenn ihre Mutter dieser Tochter einst glich. Es war nicht die Wahrnehmung, daß die Cousine Clemence die Kleider einer Königstochter trug; daß aus den Koffern der Cousine Clemence Seide und Juchten die Fülle kam; daß die Cousine bläulich schwarzes Haar hatte, eine silberne ~Louis quinze~-Toilettegarnitur, und viele andere bewunderungswürdige Dinge; auch nicht, daß sie jeden Morgen und Abend kalt baden mußte und daß der Parfüm von Schirasrosen sie umgab. Das war es nicht -- obwohl es immerhin etwas war. Obwohl es immerhin etwas war, daß die Woche sieben Hemden von Spinnwebdünne von Clemences Zimmer in den Waschhof getragen wurden. Das war es nicht. Aber die Cousine Clemence hatte einen Mund und Augen, die sahen aus, als läge in und auf ihnen das Herzeleid der Welt. Die Cousine Clemence ging, als wandelte sie zwischen Zypressen und steinernen Malen über ein heiliges Feld. Die Cousine Clemence sprach nicht viel. Wenn sie etwas sagte, so klang es wohl im Augenblick fremdartig und seltsam, wiederholte man es sich aber, so blieben es sehr einfache Worte. Leonore wußte: die Cousine Clemence +wollte+ nicht sprechen. Sie +wollte+ nicht so sprechen, wie sie gekonnt hätte. Die Cousine Clemence saß bei Großmama und Charlottchen. Sie sprach nicht viel, sie stickte an einer Pointlace-Arbeit. Sie lächelte nie und sie redete nicht viel mit Leonore. Die wußte auch nichts zu antworten -- sie spielte nicht Tennis, nicht Golf, sie war noch nicht im Ausland gewesen und hielt keinen Kindergottesdienst. Alles, was Clemence fragte, mußte mit nein beantwortet werden. Die Cousine Clemence ging früh am Abend in ihr Zimmer. Von der Kemenate aus konnte man dann wohl ein Licht bei ihr brennen sehen. Im Mauergärtlein wurde dann von der Cousine gesprochen. Jeden Abend. Leonore liebte die schweigsame schöne Cousine. Leonore wußte, sie trug ein großes Herzeleid. Was für ein Herzeleid? O Gott, nein, niemand konnte es geben, der sie nicht liebte. Auch war sie fromm, was die einsam aus langen Tagen ragende Frage nach dem Kindergottesdienst bewies. Nein, sie konnte nicht um einen verlorenen Gott trauern. Aber was hat man sonst für Herzeleid? „Dort, wo die grauen Nebelberge ragen, Fängt meines Heimatlandes Grenze an -- Und jene Wolken, die nach Mittag jagen, Sie grüßen Frankreichs fernen Ozean. Eilende Wolken -- Segler der Lüfte, Wer mit euch wanderte, wer mit euch schiffte, Grüßet mir freundlich mein Jugendland.“ Rührend und schrecklich schön umgab das Lied die Cousine, die in Seidenkleidern von seltsam verblaßten Farben durch die Gärten und den Schloßhof von Kapellendorf ging, als wandelte sie zwischen Zypressen und steinernen Malen über ein heiliges Feld -- Da stand der Normannenturm. Leonore hatte sich unterrichtet. Die Kelten, dieses Volk, dessen Heidenaltäre noch heute aus der Erde ragen, dieses Volk, dem die Mistel heilig war und das seltsame Formeln für eine große Trauer hatte, war von der Normandie und der Bretagne aus herüber nach England gekommen, hatte die dänische Herrschaft zerbrochen und seine Wahrzeichen aufgerichtet: die Normannentürme. Leonore war glücklich, so fühlte sich die Cousine doch nicht ganz einsam hier. Leonore wagte kaum ein Wort an die Cousine. Ein Lindenblatt, das sie einmal hatte fallen lassen, lag in Leonores Tabernakel, nebst einem Bleistift von grüner Farbe, den ihr die Cousine erst geliehen, sodann geschenkt hatte. „Warum ist denn Eure Cousine so still und traurig?“ fragte Dankmar Kurtzen. Klemens antwortete, sie sei wohl zu stolz, um mit Unerwachsenen zu reden. O, machte Leonore, und das drückte aus: Ihr könnt sie nie verstehen -- ich allein weiß -- -- „Heimweh kann es nicht sein,“ meinte Kurtzen, „sie war ja ein Jahr in Leipzig mit dem Herrn Warren. Da hat sie sich sehr gut amüsiert.“ Wie -- die Cousine -- die Cousine, durch deren Herz die Melancholie einer sozusagen historischen Trauer zog, hatte sich in Leipzig a--a--müsiert? -- „Wer sagt denn das, Dankmar?“ „Sie selbst.“ Wohl, sie hatte sich amüsiert. Sie wußte nicht, was das Wort hieß -- sie wollte sagen, Leipzig ist eine ganz nette Stadt, sie wollte niemand kränken. -- „Du, Dankmar, du könntest ihr doch ein wenig den Hof machen. So -- so wie ein Page, das ist doch -- das muß doch eigentlich sein.“ Kurtzen lachte laut. „Herrgott, was hast du doch für ein Stilgefühl, Leonore. Du hast übrigens recht, das gehört sich. Ich will’s mal tun.“ „Ja,“ sagte Leonore langsam, „sie kommt aus einem Land, in dem auf den Burgen --“ Leonore konnte nicht ausdrücken, wie sie sich das Leben der Clemence vorstellte -- denn das nie Erlebte geschah, die Cousine kam in das Mauergärtlein um die Kemenate. Leonore errötete, als die Cousine erschien. Kurtzen sprang auf. Nur Klemens behielt einen schönen Gleichmut. „O mein gnädigstes Fräulein, welche Freude --“ „Ich wußte nicht, daß Sie hier Ihren geheimen Platz haben!“ sagte Clemence und lächelte ein wenig. Das Lächeln entflammte Leonore. Sie sagte: „Hier sieht man weit über das Land, und dort steht der Normannenturm. Wir sind oft des Abends da --“ „Ja, man sieht weit,“ fand Clemence, und sie setzte sich auf einen Mauerrand. „Man sagt immer, in Deutschland wird so viel gesungen. Hier höre ich nie jemand singen, warum tun Sie es nicht?“ „Weil wir darauf warten, daß Sie es tun möchten, gnädiges Fräulein.“ Was Dankmar sich traute. Leonore hätte es nie über die Lippen gebracht, und er sagte es in aller Ruhe. „O, ich habe nur eine kleine Stimme. Verstehen Sie ein englisches Lied?“ „Nein, gnädiges Fräulein. Aber hören, mitempfinden kann ich es wohl.“ „Dann will ich lieber ein deutsches Lied singen, das ich von meiner Mutter weiß. Sie kennen es wohl, denn es ist von hier.“ Nein, niemand kannte, was Clemence sang: Mein Land liegt still, und hinter den Eichen, Die unsere Liebe sah’n, versinkt im Schweigen Mein letzter Tag. Führe mich du, Führe mich du, die ich einst gekannt Mit sanfter Hand Zur letzten Ruh. Führe mich du Durch Nacht und Traum In unserer Jugend Land zurück. Gib mir den letzten, letzten Blick, Gib mir die Hände, Wir wissen’s kaum, Was einst uns trennte. Führe mich du, Führe mich du, die ich einst geliebt, Zu jener Ruhe, die kein Schmerz mehr trübt. Führe mich du, Führe mich du. Es war eine leise, klagende Melodie, die sich hinzog wie ein Volkslied, das weit und schwermütig sich dehnt wie die weiten Wiesen im Abendscheine -- eine kunstlose Melodie, die sich bei dem letzten „Führe mich du“ erhob und in Sehnsucht stehen zu bleiben schien, und die Wiederholung wie ein vertieftes, verklingendes Echo gab. Nie hätte Leonore vor halbfremden Menschen so gesungen. Nie hätte Leonore ihre Stimme vor Menschen weinen lassen. Aber sie liebte die Cousine. Sie dachte sich nichts dabei, daß die Cousine den Grafen Kurtzen aufforderte, mit ihr ins Zimmer zu gehen und sie auf dem Klavier zu begleiten. Für Leonore und Klemens war keine Aufforderung erlassen. Leonore saß still und dachte an ferne Dinge. Klemens aber plauderte: „Das Lied ist natürlich von dem Studenten. Wenn ich doch seinen Namen wüßte. Er war ein Findelkind -- sie nannten ihn Mühlfund, weil man ihn droben neben der alten Windmühle ausgesetzt fand. Der Vater meinte, er wird seinen Namen später geändert haben.“ Was kümmerte das Leonore. Sie dachte nur: die Cousine ist unglücklich -- sie hat etwas Schweres erlebt -- ein Schicksal. Und sie ist so schön. * * * * * Leonore hatte gerade mit dem alten Einwaldt eine wichtige Unterredung über Tod und Unsterblichkeit gehabt und kam angeregt und ein wenig eilig über die Gemüsegärten nach dem Schlosse zu. Man brauchte nicht zu wissen, wo sie gewesen war -- es könnte die Großeltern kränken, denn sie hielten den alten Einwaldt für einen Spötter. Diese Meinung wollte Leonore gewiß bald berichtigen, aber vorerst ging sie doch zu dem alten Einwaldt wie Nikodemus zum Herrn. Sie kam an der Gartenfrau vorüber, die raufte das Unkraut auf den Gemüsebeeten aus. Dabei seufzte sie so vernehmlich, daß Leonore stehen blieb und sagte: „Ja, Frau Zeine, was haben Sie denn?“ Frau Zeine war eine echte Thüringerin, darum hatte sie das Bedürfnis, es mit Gesten und Seufzen kundzutun, daß sie ein Kummer drücke. Das kannte Leonore an den Leuten. Aber Frau Zeine war sonst eine freundliche Frau, die den Kopf oben behielt, und so fragte Leonore noch einmal. Frau Zeine rang sichtlich mit Entschlüssen. Sie warf die Unkrautstauden leidenschaftlich heftig nach dem Haufen, zog ihr Kopftuch zurecht, richtete sich auf und sah Leonore an. „Nun, was ist es denn?“ Frau Zeine sprach: „Ich muß mei Herze erleichtern. Wenn ich so die Arde hacke, sprach ich for mich, die Leite habens in Mitteln, die kenn was tun. Sprach ich for mich, was die alten Leite sin, die derfen das nicht erfahren. Hat doch ihr Herze an den seligen Freilein, was nune gestor’m is, gehang. Das fremde Freilein verstaht unsereens nich, wo die zu Hause is, da kenn sie nich ordentlich sprache. Und was der Herr Klemens is, so is er e Spaßvogel, immer voll Bossen. Mit denn kann’ch nichts Arnsthaftes sprache. Das Freilein Leonore hat e Herze für unsereens, zu der kunnt’ch sprache, aber sie is so jung, joe -- ich waß nich --“ Frau Zeine hielt inne und sah ratlos auf Leonore. Leonore aber sah ratlos auf Frau Zeine. „Ich verstehe nicht recht, Frau Zeine, was wollen Sie mir denn sagen?“ „Ich waß nicht, ich ferchte, Sie sin zu jung da derfier.“ Leonore machte eine Geste. Diese Bewegung drückte aus: ich kenne das Leben. Ich weiß alles. Ich bin jung, ja -- ich bin deshalb dazu vorhanden, die Großeltern und die Cousine zu schützen. „Nun reden Sie ordentlich, Frau Zeine. Was haben Sie?“ „Ich ho nichts. Aber ich bin doch der Milda seine leibliche Tante. -- Ach, was sich das Mächen härmt, das is nicht zu sprachen.“ „O die Milda? Was fehlt denn der Milda?“ „A Hamführer fehlt der Milda,“ sagte Frau Zeine mit Entschluß. Leonore setzte sich auf den Rain. Sie lachte. „Auf einen Heimführer kann sie mit ihren siebzehn Jahren schon noch warten.“ Die Zeine richtete sich gerade auf. „Der Milda hat ma ein Malöhr angetan, der Milda hat ma ihr Kränzche genumme, die Milda kummt in Schimpf und Schande.“ Leonore mißfiel diese Offenbarung sehr. „Davon will ich nichts wissen, davon schweigen Sie nur.“ „Hätt’ch schune. Aber wo es der Herr Onkel aus den Auslande is -- da därf ich sprache.“ „Mein Onkel?“ „Ich schweere. So wahr ein Gott im Himmel lebt, joe!“ „Ist das wahr?“ „Ich schweere.“ „Warten Sie, Frau Zeine, ich schicke Ihnen meinen Vetter. Das sind Männerangelegenheiten.“ „Ja, leider Gott’s,“ sprach Frau Zeine und begann wieder die Erde zu hacken. Leonore durchquerte den Gemüsegarten, die Straße, den Ökonomiehof. Klemens war gerade beim Heuabladen. Sie rief ihn an: „Klemens, geh in den Garten zu der Zeine. Und dann komm zu mir ins Mauergärtlein. Geh rasch, ~c’est une affaire bien terrible~.“ „Mit der Zeine?“ „Ja, mit der Zeine.“ Klemens sah in Leonores verstörtes Gesicht. „Ja, ich komme dann gleich zu dir in den Garten --“ Dort wartete Leonore. Das sind Männerangelegenheiten, hatte sie zu der Zeine gesagt -- sie wußte nicht, woher ihr das Wort eingefallen war. Sie dachte flüchtig: über so etwas redet man doch nicht mit einem Jungen. Doch nein -- die Großeltern, die durften das nicht erfahren. Klemens kam. „Du weißt wohl, was es ist?“ „Ja, die Zeine schwört, es sei wahr.“ Klemens sagte: „Ich werde an den Onkel schreiben. Die Zeine bringt morgen einen Brief von der Milda, denn die weiß nicht, wo sich der Mann aufhält. Ich will es einmal niederschreiben, was ihm zu sagen ist.“ Klemens Steingruben kritzelte in seinem Taschenbuch; Leonore wartete in Geduld. „Ich übersende hiermit ein Schreiben, das mir anvertraut wurde. Ich hoffe trotz allem, was vorgefallen ist, daß jemand, der mit meiner Familie verwandt ist (wenn auch nicht wirklich), sich als Gentleman benehmen wird. Ich erwarte das, um wieder mit Achtung sein zu können Ihr Verwandter Klemens Steingruben. ~P. S.~ Ich sorge dafür, daß weder die Großeltern noch die verehrte Cousine von dieser undiskutierbaren Affäre erfahren.“ Diese Zuschrift bekam Leonore zu lesen. „Sehr gewandt hast du dich ausgedrückt, Klemens.“ „Ja, nun müssen wir eben abwarten.“ Was sie von dem Onkel erwarteten, ahnten sie nicht recht. Jedenfalls aber eine Tat. Über seine erste verloren sie kein Wort. Nur war es ausgemacht, bis die Erwiderung des Onkels eintraf, mußte man dafür sorgen, daß kein Gerücht ins Haus kam. Frau Zeine schwor, die einzige Mitwisserin „seiner Milda“ zu sein -- und „seine Milda farchte den Vater wie das Feier“. Leonore wich und wankte nicht aus dem Zimmer. Sie hatte eine alte Nähdecke hervorgezogen. Gut, da saß Leonore und nähte. Die Großmutter, Charlottchen, die Cousine, sie durfte man als geborgen vor gräßlichen Mitteilungen erachten. Der Großvater ging wohl einmal in den Wald; aber da war keine Sorge. Dem Oberförster nahte sich keine Zeine, keine Milda, kein Ungefragter. Klemens besorgte den Außendienst, den er sehr wichtig nahm, obwohl man nicht recht klar wußte, worin er bestand. Wenn um fünf Uhr nachmittags Leonore zur Posthilfsstelle ging, die Sachen abzuholen, fand er sich ein und wich und wankte nicht. Es war ja schlimm, aber Opfer mußten gebracht werden. Leonore und Klemens konnten nicht mehr des Abends in das Mauergärtlein und von herrlichen Zukünften reden. Dafür ging jetzt Dankmar zur Zeit der Dämmerung mit der Cousine Clemence ins Freie. Wunderlich blieb es, daß er seine Freunde nie fragte, warum sie nicht mitkämen. Tage voll der äußersten Spannung vergingen. Leonore befand sich zu jeder Poststunde im Posthause bei dem ehemaligen „Freund“ Arno Heyne und wartete der Dinge, die dem Postsack entsteigen sollten. Indessen kam nie ein Brief, der den Verwandten die Achtung vor dem Onkel wiedergab, sondern eines Sommertages ging Milda Wolgezogen, umgeben von Linda und Lydia, geführt von Herrn Wolgezogen über die Flur hin nach Kötschau -- nach Groß-Schwabhausen. „Sie macht nach Leipzig in eine feine Stelle. Der Herr Onkel hat sie ihr verschafft. Achtzig Dahler -- joe, da muß ma zugreifen, sprech’ ich,“ sagte Herr Wolgezogen. Milda schwieg und sah an Leonore vorüber. Eine solche Lösung war in jedem Sinne unbefriedigend. Leonore dachte an ein zweites Schreiben. Doch fand Klemens, bei aller Humanität könne man Milda nicht gänzlich freisprechen. Immerhin, sozusagen, wäre es Milda möglich gewesen, dieser Sache zu entgehen. Selbstverständlich -- den Onkel würde man nur mehr Sie nennen und Herr Warren, und überhaupt aus seiner Mißachtung kein Hehl machen. Hoffentlich aber sah man ihn in diesem Erdendasein nicht wieder. Wenn die Tragödie der Milda Wolgezogen einen in jedem Sinn unbefriedigenden Ausgang genommen hatte, so traten jetzt in Kapellendorf Zustände ein, welche die Lust an Tragödien gänzlich zu befriedigen imstande waren. Es erschien eines Tages ein Mann namens Demetrius Schrutz, ein man konnte sagen in jeder Beziehung wohlgebildeter Mann, der das Kätchen von Heilbronn für die moderne Bühne bearbeitet hatte und auf vielen Bänden als Verfasser stand. Wenn Leonore und ihre Freunde vielleicht geglaubt hatten, daß Verfasser von so viel Büchern herrlich und in Freuden lebten, so entriß sie Demetrius Schrutz diesem Wahne. Denn Demetrius Schrutz hatte eine Gefolgschaft von sehr ärmlichen Personen und gedachte mit diesen in Kapellendorf ohne Rücksicht auf den nahen Wettbewerb der Weimarer Hofbühne ein Sommertheater zu errichten. Demetrius besaß auch eine schöne Frau und ein kleines Kind. Diese waren, wie er selbst, mit Geschmack, ja mit Genie gekleidet, und wenn Demetrius nur Stücke für zwei Personen aufgeführt hätte, würde Herrliches zu erwarten gewesen sein. Indessen -- auch die ärmliche Gefolgschaft tat mit. Sie bestand aus einer sentimentalischen Liebhaberin für verzweifelte Fälle, welche taub war und die rührenden Augen der Tauben hatte. Ein verwitterter junger Liebhaber war bereit, Marquis, Grafen, Hausbesitzer, Lebemänner und Intriganten darzustellen, ein jugendlicher Held übte sich einstweilen im Ausfahren des Demetriusschen Kindes. Der Komiker der Truppe hatte sechzig Jahre hindurch Zeit gehabt, den Humor des Lebens auszukosten, und litt an der Gicht. Es gab noch ein Wesen mit einem bleichen Kartoffelgesicht, das man stets häkelnd sah, und endlich fehlte nicht die „Anstandsdame und das Fach der Mütter,“ Frau Margarete Wachenhusen, geborene Freiin von Blumauer, Enkelin eines Grafen aus altfranzösischem Geschlecht, ja aus dem königlichen Blut der Valois oder Bourbonen, genau wußte sie es nicht mehr. Sie war es, die der Stimme ihrer Herkunft folgend, in Kapellendorf das +Schloß+ aufgesucht hatte. Das heißt, Waldhüters im Erdgeschoß vermieteten einen melancholischen Raum an diese darstellende Künstlerin, die mit wenig Gepäck und großer Beredsamkeit eingezogen war. Die geborene Freiin von Blumauer, durch Mesalliance zu einer Frau Wachenhusen geworden, hatte zwischen Treppe und Türangel der Frau Oberförster Wolfferstorff einen Antrittsbesuch abgestattet, ihre Lebensgeschichte erzählt und um ein wenig altes Leinen gebeten, zur Vervollkommnung ihres Kostüms als Grillparzers Ahnfrau. Zugleich bot sie drei Sperrsitze an, und ehe Frau Wolfferstorff noch Einsprüche erheben konnte oder nur eine Ansicht äußern, war die geborene von Blumauer nebst der Leinwand unter Zurücklassung von drei fettigen Pappstückchen verschwunden. Im Wohnzimmer wurde beredet. War nicht die Ahnfrau ein klassisches Stück? War nicht ihre Darstellerin eine geborene Freiin von Blumauer? Sah man etwa täglich den Adel für die Öffentlichkeit Theater spielen? Nein, wenn Charlottchen schon Schaubühnen dieser Art nicht liebte, Leonore und Klemens konnten ja dies eine Mal hin. Der lieben Enkelin Clemence dürfte man natürlich die dritte Pappkarte nicht anbieten? Aber Fräulein Clemence wollte nichts außer acht lassen, was sie in der deutschen Sprache vervollkommnen konnte. Damit die Großeltern aber doch auch etwas von dem Genuß hätten, lief Leonore in die Bibliothek und holte den Band Grillparzer mit der Ahnfrau, um sie vorzulesen. Dann ging man endlich ins Theater. In der zur Zeit noch leeren Scheuer des obern Gasthauses hatten unter der Direktion von Demetrius der Komiker, welcher seit sechzig Jahren den Humor des Lebens studierte, der zu allem brauchbare Jüngling, der verwitterte Liebhaber und ein Zimmermann aus dem Ort die Bühne errichtet. Mehrere Petroleumlampen verbreiteten einen gar übeln Geruch, so daß es vorläufig draußen an der Kasse, die unter einem blühenden Lindenbaum stand, ein angenehmerer Aufenthalt war. Der Graf Kurtzen bot der schönen Clemence den Arm. Er sagte einen Satz, den er sicher irgendwo gelesen hatte: „Zwar ist diese Anhöhe mit dem Lindenbaum und der Scheuer nicht der heilige Hügel von Baireuth, aber Ihre Anwesenheit, mein allergnädigstes Fräulein, erhebt ihn über alle Gralsburgen.“ Dies sagte der achtzehnjährige, pausbackige Graf Dankmar ungefähr so, wie Kinder reden, wenn sie Erwachsene spielen. Die Cousine Clemence aber errötete, und als nun das Zeichen zum Anfang gegeben wurde, schritt sie voll Würde an Kurtzens Arm in den Saal. Da stand eine Reihe von Holzstühlen, dicht vor den Petroleumlampen der Rampe, das waren die Sperrsitze, und wer sich darauf befand, brauchte nur zwei Schritte zu machen, dann war er mitten unter den Schauspielern. Leonore und Klemens unterhielten sich zunächst damit, daß sie sich umwandten und auf die Ränge hinter sich sahen. Da waren die Frau Lehrer, die Frau Gutsverwalter usw., und im Dämmer des Saales verschwindend die Freundinnen und Freunde Leonores aus der Schule; auch einige Burschen und Männer. Nun setzte die Ouvertüre ein. Das heißt, der Jüngling, der zu allem brauchbar war, saß zur Seite der Bühne auf einer großen Theaterkiste und blies auf einer Okarina grell und schwermütig das Lied an den Abendstern. Niemand von den Zuhörern wußte das recht zu würdigen. Wenn man auf der in ~A-dur~ gestimmten Okarina ein Stück in einer andern Tonart spielen muß, so gehört dazu ein Raffinement. Es ist eine Leistung, die nur wenige schätzen können. Als das Lied an den Abendstern aus war, erfolgte eine lange Pause. Es galt nun, zu warten, ob nicht noch jemand käme. Und wirklich, das Warten wurde belohnt. Der Tierarzt aus Weimar, dem es nicht darauf ankam, durch eine Nacht heimwärts zu wandeln, wollte sich nach einer an einer Kuh vollzogenen Operation noch dem Erhabenen hingeben und nahm einen Sperrsitz ein, den Platz neben Leonore. Sogleich ertönte eine neue Ouvertüre. Da ein Herr gekommen war, der lustig aussah, spielte der junge Mann munter und vergnügt Lützows wilde, verwegene Jagd. Der Tierarzt bezog die Ovation sogleich auf sich. Und beim zweiten Vers sang er herzhaft in einem wohlgeschulten Männergesangsbariton den Text mit. Leonore mußte wider Willen lachen, und der wohlbekannte Tierarzt meinte, eigentlich müßten die Leute draußen um den Baum spielen, die Preziosa zum Beispiel und dazu Okarina blasen. Ob Fräulein Leonore das gefiele? Ja, dann konnte man es sich mal leisten. Wie? Ja gewiß, wenn Fräulein Leonore nur wolle. Leonore erschrak vor den Anträgen des Tierarztes. Was würden die Damen zu Hause sagen, wenn sie den Tierarzt zu solchen Exzessen veranlaßte? Demetrius fürchtete unterdessen, der Herr auf dem Sperrsitz möchte der Kunst Thaliens noch weiter Konkurrenz durch die Kunst des Gesanges machen, und da es nun schon eine halbe Stunde über der festgesetzten Zeit war, ging der Vorhang auf. Leonore fand nicht sogleich Zusammenhänge zwischen dem gelesenen und dem dargestellten Stück. Doch war im weitern Verlauf des Abends noch einige Ähnlichkeit zu finden. Es schien dann alles sehr rührend, obzwar die Taube mit den schmerzlichen Augen einen Räuber vorstellen mußte und das Auftreten der geborenen von Blumauer sehr kurz war. In den Pausen ging man um den Lindenbaum, der Tierarzt folgte Kurtzens Beispiel und bot Leonore den Arm. Sie dachte: muß ich schon ein Frauenzimmer vorstellen, so will ich es auch richtig machen; und der Tierarzt staunte über die verwegene Konversation, die Fräulein Wolfferstorff hervorbrachte. Sie erzählte ihm von der gebotenen Freiin von Blumauer, daß diese ein Bastard von Orleans sei, wie sie sagte, daß Demetrius Schrutz ein Genie wäre, das nur zum Vergnügen mit einer so elenden Truppe zöge. Der erschrockene Tierarzt kaute noch an dem Bastard von Orleans. Er wußte nicht, daß Leonore darunter das Ergebnis einer Mesalliance verstand. Doch nach und nach begann er zu ahnen, daß Leonore ihn nicht in unaussprechbare Dinge hatte einweihen wollen. Als die Vorstellung aus war, bat er den Direktor heraus. Jaromir-Demetrius sah freundlich auf den wohlgekleideten Gönner. „Mein Herr,“ sagte der Tierarzt, „Ihr Spiel entzückt uns. Daß Graf Kurtzen getreu der Tradition seines hohen Hauses ein eifriger Beschützer der freien Künste ist, dürfte Ihnen bekannt sein. (Demetrius verbeugte sich vor dem errötenden Dankmar). Miß Warren, der vorgestellt zu werden Sie hiermit die Ehre haben, wünscht ein Stück deutscher Romantik zu sehen. Fräulein Wolfferstorff fände es sehr hübsch, wenn das im Freien dargestellt würde. Die Preziosa verstehen Sie. Also, wenn es Ihnen gefällig ist, kommen Sie in die Schenke zu einer Flasche Wein nachher -- ich begleite nur erst die Damen heim, dann besprechen wir das Geschäftliche.“ Wohl, Demetrius würde in die Schenke kommen. Das weimarsche Land hielt seine Tradition, es war den Künsten ein Gönner. Leonore besann sich ängstlich, wie sie den Doktor Zorn, den Tierarzt, von diesem Aufsehen erregenden Plan abbringen konnte. Aber die Cousine Clemence kam ihr zuvor: „Es ist ein charmanter Plan, Herr Doktor,“ sagte sie eifrig. „Ich freue mich sehr, sehr.“ Leonore wunderte sich; sie hatte gar nicht gewußt, daß die beiden einander kannten. Der Tierarzt bot Clemence den Arm, nun hatte Leonore ihre beiden Freunde wieder. Kurtzen fragte: „Du, Leonore, hast du auch dem Tierarzt gesagt, daß er deiner Cousine den Hof machen soll?“ „Aber Dankmar -- einem Fremden! Ich bitte dich. Du gehörst doch zu uns, und wir kennen einander. Der Tierarzt ist aber erwachsen, der tut es von selbst.“ „Es ist nicht schicklich, ohne weiteres einer Dame den Arm zu bieten. Der Bursche nimmt sich Frechheiten heraus,“ sagte Graf Kurtzen. „Aber du hast es doch auch getan, Dankmar?“ „Das ist etwas ganz anderes -- ich bin mit euch allen befreundet.“ -- Am andern Tag erschien der Tierarzt im Schloß. In ~full dress~ erschien der Tierarzt, im schönsten ~five o’clook tea~-Rock -- man mußte unwillkürlich in Modeworten denken, wenn man ihn so ansah. Der Tierarzt erfüllte das Zimmer mit Lustigkeit und Lachen. Auch roch er nach Chypre. Und Clemence wurde angesteckt von der Heiterkeit des Tierarztes. Sie roch nach ~White rose~. Dieser Zusammenklang von Düften erweckte in Leonore ein unbestimmtes Mißtrauen. „Ich hoffe, das gnädige Fräulein unterstützt meine Bitte,“ sagte der Tierarzt und machte zu Leonores Ergötzen im Sitzen nach vier Seiten hin kleine Verbeugungen. „Es ist, wir wollen durch die hiesigen Schauspieler die Preziosa von Pius Alexander Wolff mit der Musik von Karl Maria von Weber aufführen lassen. Ich habe schon alles geordnet. Nun wäre meine Bitte: Kein geeigneterer Platz dürfte sich finden, als unten der Schloßhof. Die Bäume, die alten Mauern, alles ist vortrefflich geeignet. Wir würden wegen der Feuersgefahr von Pechfackeln absehen. Wir würden --“ Die Anwesenden hörten noch vieles. Alles war schon fertig bedacht. Der Oberförster hatte noch kein Wort sagen können, da stand schon die bisher so stille und scheue Clemence neben ihm und legte ihre Lilienhand auf seinen Rockärmel. „Bitte, bitte, nicht nein sagen, Großpapachen?“ Leonore mißfiel diese Schelmerei aus Modejournalen. Doch der Großvater war von solchen Tönen, welche die schöne Enkelin noch nie angeschlagen hatte, ganz verblüfft. „Macht dir denn das so viel Spaß, Kind?“ Hierauf erwiderte Clemence: „Du hast es erlaubt, Großpapachen. Du bist der netteste Großpapa von der Welt.“ Gut -- also die Preziosa würde im Schloßhof aufgeführt werden. Auch das würde ja mit der Zeit und Gottes Hülfe einmal überstanden sein, sagte der Großvater, der kein Freund von in Flitter gekleideter Armut war. -- Leonore mußte annehmen, die Cousine verstand wirklich die deutsche Sprache nicht so genau oder ihre Kunstbegeisterung war so groß: denn die bisher so gemessene Clemence redete jetzt unablässig davon, daß der Tierarzt ein reizender Mensch sei. Jeden Abend kam so sicher wie der Tageswechsel der reizende Mensch, rannte in ~full dress~ mit Clemence im Schloßhof umher, roch nach Chypre, lachte, zog Drähte von Baum zu Baum, schleppte Steine in die Mitte und plauderte unablässig mit Clemence. Leonore hatte ein unklares Mißfallen an der Art der beiden. Zugleich aber war es doch eine große Lockung, auch bei den Vorbereitungen zu helfen. Nur Dankmar Kurtzen beteiligte sich nicht. An ihn kamen jetzt immer geheimnisvolle Sendungen, mit denen er sich ganze Abende lang einschloß. Mittags benutzte Margarete Wachenhusen, geborene von Blumauer, die Drähte zu einem schrecklichen Zweck: sie trocknete an ihnen die gelblichen Leinwandfetzen, mit denen sie ihr krankes Bein verband. Nun endlich -- die Preziosa kam in den Schloßhof, die Großeltern bewunderten die Kostüme, die Frau Wachenhusen aus bei ihnen gesammelten Kleidern entworfen hatte, die Großeltern bewunderten die Lichter und das Geschrei und die einsame Okarina. Die geladenen Honoratioren waren bemüht, das Gratisvergnügen schön zu finden, und Leonore beschloß, der sentimentalischen Tauben, die, weil Frau Demetrius die Preziosa spielte, einen Zigeuner darstellen mußte, demnächst ein anonymes Geschenk zu machen. Der Tierarzt wich keinen Augenblick von Clemences Seite. Graf Kurtzen schien über alles, was um ihn vorging, erbittert zu sein. Als die Schauspieler fort waren, trank man unten noch ein Glas Waldmeisterwein. Leonore fühlte sich sehr angeregt und wähnte, mit Rittern und Edelfrauen in alten, unnennbaren Tagen auf einem Schloß der Normandie des Lebens Feste zu feiern. Man trennte sich nur schwer, als endlich der letzte Lampion erlosch. Dieser Tag würde allen noch lange in Erinnerung bleiben, sagte der Pfarrer zu Oberförsters, denn er war ein wohlerzogener Mann und wußte, was sich schickt. Doch die Preziosa kam um ihre Erinnerung. Denn am Tage nach der Aufführung starb der alte Einwaldt, Leonores pantheistischer Freund. Sie war von Herzen traurig darüber und ging in den Wald, holte Immergrün, flocht einen Kranz daraus und dachte an die Vergänglichkeit des Lebens. Dann kam der Sohn aus Berlin und brachte einen Freund mit, der am Grabe des alten Mannes von der Sterblichkeit des Einzelnen und der Ewigkeit des Gesamten redete. Das war eine große Sensation in Kapellendorf, niemand hatte ja geahnt, daß der alte Einwaldt so schauderhaft schändlich von dem Menschen dachte: sie wären wie Blätter am Baume, die herunter fielen und dann hin seien. Leonore war in ihrem Konfirmationskleid auf den Kirchhof gegangen, an der Seite des Großvaters. Die Totenrede gefiel ihr nicht -- sie war so klar wie ein Rechenexempel, so trostlos wie eine Rechenaufgabe. Was hat es denn Sinn, jemand zu sagen, daß zweimal zwei vier ist? Was nutzt es, zu hören, daß ein alter Einwaldt nimmermehr unsterblich sein sollte? Auch den Sohn schien das nicht zu erbauen, er stand ganz müde und armselig im blendenden Sonnenlicht. Freilich, man hat auch noch nie gesehen, daß pfarrerliche Grabreden jemand glücklich stimmten. Leonore ging mit dem Großvater wieder hinaus. Da trat ein Schuster, den Neugier und Teilnahme hergelockt hatten, auf den Oberförster zu. Er sagte: „Der war ein Addeist. Was hat er nun dadervon?“ Der Großvater fühlte sich nicht verantwortlich. Er erwiderte ruhig: „Gott schenke seiner Seele Frieden,“ und ging an dem Schuster vorbei. Am weitern Nachmittag wußte Leonore nichts Rechtes anzufangen. Klemens war still, er ehrte ihre Freundschaft für den Toten. Er kam am Abend nicht auf das Mauergärtlein. Dort saß Leonore allein: sie dachte, niemand hat um den alten Einwaldt geweint, und dabei kamen ihr unversehens die Tränen. Und wie sie so weinte, sah sie plötzlich drüben auf der Mauer um den Normannenturm Dankmar Kurtzen hin- und hergehen. Er machte wunderliche Gesten, und man hörte unverständliche Worte von ihm kommen. Dankmar würde doch nicht ein Schauspieler werden wollen? -- -- * * * * * O nein -- es konnte nicht wahr sein. Clemence, die Herrliche, Zarte, sie, die um den Normannenturm gewandelt war und sich nach Altengland sehnte -- sie, die Beatrice, Laura, Julia war, Unerreichbares in einem Wort: Nein -- nein -- aber Leonore hatte es gesehen, gedruckt, unwiderleglich: „Meine Verlobung mit Miß Clemence Warren, Tochter des Großhändlers Mr. Humphrey Warren in London und seiner verstorbenen Gemahlin Klementine geb. Wolfferstorff aus Kapellendorf, beehre ich mich anzuzeigen. ~Dr.~ Robert Zorn, Großherzogl. sächs. Gestütsdirektor in Allstedt.“ Der Tierarzt küßte die herbe Clemence. Sie küßte den Tierarzt. Ja, kam man unversehens ins Zimmer, so saß sie auf seinem Schoß. Und nächste Woche würde sie nach London reisen und bald sollte dort die Hochzeit sein. Klemens sagte: „Du meintest wohl, ein Prinz sollte kommen? Er ist Doktor der Philosophie. Er ist ein Gentleman. Er ist Gestütsdirektor in Allstedt. Wie furchtbar hübsch, wir kommen hin, um die Remonten zuzureiten. Fein, sage ich dir.“ Leonore schwieg. Den ganzen Tag redete sie nicht. Und dann, am nächsten Morgen, stand Dankmar Kurtzen vor ihr. Und die Tränen liefen über Dankmars runde Wangen. „Adieu, liebe Leonore, ich werde dich nie vergessen,“ sagte er. „Aber Dankmar, du solltest doch bis zum Herbst bleiben. Was ist denn nur?“ „Ich gehe nach Hohenheim -- ich habe eine plötzliche Nachricht“ -- „Aber weshalb denn? Dankmar, so sprich doch -- du darfst doch nicht weg von uns.“ Dankmar stand schon an dem Tor, das zu den Pappeln hinausführte und zu der Landstraße. Er beugte sich zu Leonore herunter. „Niemand soll es wissen als du -- mir ist es gegangen wie jenem Kaspar Mühlfund -- sie hat mich geküßt, und nun heiratet sie den Tierarzt. Adieu, liebe Leonore, ich werde dich nie vergessen.“ Und da war er fort, der gute Kamerad. Fort war er und trug sein achtzehnjähriges Herzeleid in die Welt. Von Dankmar Graf Kurtzen war nichts mehr da als die Erinnerung und acht Flaschen Bartwuchsmittel. Die hob Klemens pietätvoll auf, obwohl sie nicht geholfen hatten, den Tierarzt mit seinem Kaiserbart auszustechen. Es flog ein Lindenblatt in die Lüfte. Ein Bleistift von grüner Farbe wurde zerbrochen. Von der, die den Dankmar betrogen hatte, trug man kein Memento mehr im Tabernakel. Ja, ein Lindenblatt flog in die Lüfte. Ein Bleistift von grüner Farbe wurde zerbrochen ... * * * * * War nicht alles wie einst? Die Kinder saßen wieder auf dem Mauergärtlein, wie ehe Dankmar, ehe Clemence kam, ehe Demetrius Tragödien aufgeführt hatte. Nur der alte Einwaldt war tot. Aber muß man eigentlich mit fünfzehn Jahren schon so viel an Tod und Unsterblichkeit denken? Es gab doch Zukünfte in blauen Fernen. Lachende, lockende Geschehnisse gab es da. Aber als Klemens und Leonore die alten Zeiten wieder lebendig machen wollten und von Erobererzügen durch grüne Täler redeten, fanden sie, es ging nicht mehr recht, sie waren schon zu alt und weise geworden. Da erzählte Klemens, wenn seine landwirtschaftliche Ausbildung sich in Hohenheim vollendet habe, wolle er nach Posen gehen und dort neues Land bebauen. Ja, in zwanzig Jahren konnte er ein großer Gutsbesitzer sein. Auch Leonore wußte etwas, wahrer als grüne Jägergeschichten. Sie wollte als Schwester vom Roten Kreuz nach Afrika und dort Matrosen und Schwarze pflegen. Und dann -- einst -- auch in zwanzig Jahren, wollte sie Klemens besuchen, und sie würden in seiner Jagdstube sitzen und draußen ging der Novembersturm. Und denn erzählte Leonore, wie sie in heißen Nächten dort unten am Äquator gesessen habe, in einer Baracke voll kranker Männer, fern von der Heimat, fern -- fern -- Und hinter der Stille der Nacht hörte man die Meeresbrandung, hörte man das Heulen der Schakale. Sie waren beide sehr gerührt von diesem Wiedersehen nach zwanzig Jahren. Klemens mußte jetzt den ganzen Tag draußen bei der Ernte sein; den Grafen Kurtzen vermißte man doch jetzt sehr bei der Aufsicht. Leonore war viel allein. Nun ging sie oft zu dem Heidenhügel hinter dem Dorf. Ein hoher Erdwall war es, mit alten Buchen bestanden. Und sie dachte manchmal an den Kaspar Mühlfund, der hier draußen Glück und Unglück gehabt hatte. O, sie begriff nun so viel. Die schönen Frauen aus diesem Hause, Mutter und Tochter, hatten ihre junge Liebe betrogen. Was Dankmar noch so lustig gelesen, war ihm eigenes Erleben geworden. Und Leonore lag auf den Heidengräbern und sah über die weiten Kornfelder, die sich dehnten im Sonnenbrand. * * * * * An den Mauern rötete sich der wilde Wein; die Grillen hatten aufgehört zu zirpen, im Garten blühten Astern, und der Wind, der über die Hochebene ging, hatte etwas sonderbar Lockendes, Schmerzliches. Da war es, daß Klemens und Leonore stumm und bedrückt miteinander im Garten standen, und mit ängstlichen Augen auf die bunten Blumen sahen -- und daß ihnen keine Abenteuer mehr einfielen und keine Erobererhistorien. Sie sprachen nichts miteinander, und verlangten doch nacheinander. Sie gingen wortlos, und jedes erwartete vom andern ein Wort. Das kam nicht. Nur der Wind kam zu ihnen und erzählte ihnen von fernen Ländern und von weiten Geschehnissen, und sie dachten beide, wir sind ja Ausgeschlossene, ausgeschlossen von Freude und Hoffnung. Die Gemeindeschwester ging über den Hof. Die Kinder wechselten einen Blick. Sie konnten nicht sprechen. Droben in seiner Stube lag der Großvater auf dem Bett. Er war im Wald gefallen. Darüber hatte er erst gelacht, es sei ja nichts gebrochen, sagte er. Aber ein paar Tage später konnte er morgens nicht mehr aufstehen. Da wäre eine innere Verletzung, fand der Arzt. Und nun lag der Großvater und redete nichts mehr als: lasset mich allein. Die Großmutter saß neben seinem Bett und schwieg. Und Tante Charlotte ging mit tränenlosen Augen umher, und manchmal stand der Arzt bei ihr auf dem Korridor und sagte: „Liebes Fräulein Charlotte“ zu ihr, oder: „Sie müssen die Tapfere sein.“ Der Großvater redete nichts. Wußte er, daß er sterben mußte? Er sagte kein Wort. Aber hinter seinem müden Gesicht lag eine Trauer, die den Kindern das Herz zerriß. Ja, das war oben in der stillen Stube, und die Kinder waren im Garten bei den Blumen. Da bückte sich Leonore und pflückte die schönsten von den roten Astern. Sie sagte: „Ich will sie dem Großvater bringen.“ Und Klemens merkte, daß sie Tränen in den Augen hatte. Der Junge sah starr vor sich hin. Er wollte doch ein Mann sein. Aber er und die Freundin waren dem Menschentum noch näher, als sie Mann und Weib nahe waren. Der Junge preßte heraus: „Nun muß er fort von seinem Wald, er hat ihn so sehr geliebt. Ich will ihm Eichenreiser holen.“ Leonore meinte, auch sie müsse tapfer sein, sie müsse zeigen, daß auch die Traurigkeit und die Furcht nicht Macht hatten, sie zu bezwingen. „Geh,“ sagte sie, „ich will bei der Großmutter bleiben.“ Und sie überwand eine rätselhafte und grauenvolle Scheu und ging hinein in das Zimmer, das so still, so unnennbar still war. Sie überwand die Scheu und lächelte und gab dem Großvater die Astern und gab auch eine davon der Großmutter in die bleichen, mühsamen Hände. „Die blühen noch,“ sagte der Großvater. Das klang Leonore, als hieße es: die Blumen blühen noch und ich bin bald tot. Sie biß sich ganz tief in die Lippen, daß sie einen scharfen Schmerz spürte, dann sagte sie: „Der Garten ist jetzt so schön. Wenn du wieder heraus kommst, Großvater, wirst du dich freuen. Alles steht voll Sonnenblumen, und die Anna sagt immer: meine Sonnenrosen sind die schönsten. Weil sie sie begossen hat, sagt sie, +meine+ Sonnenrosen.“ Leonore stockte einen Augenblick, dann redete sie weiter: „Vorgestern haben wir die Kassiopeia durch den Turm gesehen. Nachmittags um drei Uhr. Das ist doch wunderlich, noch nie ist es uns geglückt, als vorgestern. Das kommt wohl, weil jetzt die Sonne nicht mehr so nah und mächtig wirkt als im Sommer? Die Anna wollte es aber gar nicht glauben, sie sagte: da hat höchstens der Herr Klemens oben am Turm einen Lampion aufgehängt. So dumm ist die Anna. In der Schule hat sie wohl etwas von mathematischer Geographie gelernt, aber das glaubt sie nicht. Sie sagt, das wäre nur ausgedacht, daß die Kinder was zu lernen hätten.“ „Es ist wohl schon lang her, daß die Anna zur Schule ging,“ sagte der Großvater und lächelte ein klein wenig. Der alte Mann, der wußte, daß er bald sterben mußte, lächelte ein klein wenig, weil das junge Mädchen, in dessen Augen die Angst lag, ihm zeigen wollte: da war keine Angst, da war nichts, was man fürchten müsse. „Gestern ist die Anna vom Markt gekommen und war ganz verstört. Alles war teurer, schrie sie und tanzte dabei vor Aufregung in der Küche umher: Alles wird teurer, fünf Pfennig hab ich mehr für das Pfund Fleisch müßt geben -- die Menschen, sprech’ch, die Menschen kenn’ sich nicht mehr lang behaupten, was nicht ein Geschäfte hat, das kann bald betteln. Und Krieg gibt es -- ja, das hat mir ein sehr anständiger Mann, der mich unterwegs gefragt hat, ob er mich begleiten derfte, erzählt. Und drunten in Bayern hat man Menschen erschlagen, und Soldaten sind verhungert. Aber wie sie nun mitten im Klagen war, ist ihr eingefallen, daß sie die Karpfen aus dem Teich so teuer verkauft hat. Und da fing sie auf einmal an, Freudensprünge zu machen, und erzählte von dem Fischhändler. Der hätte ein Bassin, das wäre eine Sehenswürdigkeit. Großartig. Da schwämmen die Fische wie in einem See -- Karpfen und Forellen und Hechte, so stattlich wie Mannsleute. Da bin ich weggelaufen. Ich denke mir oft, wie es wohl in so einer Anna aussieht. Die weiß keine Zusammenhänge, obwohl sie denkt. Die nimmt lauter Bilder auf, und was sie erfassen kann, prägt sich fest -- aber dann kommt es wie Schrecken und Entsetzen über sie, wenn sie daran erinnert wird. Was ist das eigentlich für eine Fähigkeit, die uns die Zusammenhänge erkennen läßt, Großvater?“ „Weil wir den Ursachen der Geschehnisse nachgehen können, und weil wir so viel gelernt haben, daß wir an dem Bleibenden des Lebens und an der Erfahrung die Dinge messen, vergleichen und bewerten können, ist uns das Einzelereignis begreiflich und weniger belangvoll.“ Leonore dachte nach. Dann sagte sie: „So viel Furcht haben diese Menschen in sich. In ihnen spuken noch die alten Märchen und alte Geschichten von Krieg und Teuerung. Sie wissen gar nicht, daß man sich sein Schicksal machen kann.“ „Ja, woher weißt denn du das, kleine Leonore?“ „Ich meine, man muß es nur wollen.“ „Hat dir das jemand gesagt?“ Sie war verwirrt. „Nein, ich denke nur so.“ Da sagte der alte Mann zu seiner Frau: „Mir scheint, unsere kleine Leonore ist ein Fräulein geworden. Wie sie plaudern gelernt hat!“ In jedem andern Augenblick würde dieses Wort Leonore zum Verstummen gebracht haben. Jetzt dachte sie nur, der Großvater soll nicht immer glauben, daß er sterben muß. Wenn nur der Pastor nicht kommt, was kann der helfen? Der Großvater hat immer seine Sachen allein gemacht. Und alle Redefähigkeit, die sie draußen mit Frau Zeine, mit Klemens und Graf Kurtzen gehabt hatte, stellte sich ein. Als später Klemens mit scheuen Augen kam und seine Eichenzweige brachte, fand er, daß man in der Krankenstube geradezu vergnügt war. Leonore saß da -- sie zitterte, und Kälte stieg in ihr auf und ab, aber sie erzählte. Sie erzählte von ihren Taten und Träumen mit Klemens. Dabei kam verhalten zutage, wie sehr sie alles hier liebten, das Schloß, die Gärten, das Land, die Großeltern. Der alte Mann, der bald sterben mußte, konnte wissen: noch in manchem fernen Jahr würden seine Enkel mit heißem Herzen an die Heimat denken, die er ihnen hatte geben können. Und es kam, daß die Kinder sich nicht mehr fürchteten. Sie waren um den Großvater, und er wurde ihnen zu ihresgleichen. Ja, es kam, daß er selbst redete, daß er selbst zurückging in die Zeit, als er so jung gewesen war wie die Kinder. -- Der Arzt ging ab und zu. Er hatte nicht viel zu sagen. Der Großvater war so alt. An einem Abend sagte er zu den Kindern: „Kommt mir nur morgen bald, Ihr seid jetzt meine Hofkavaliere, die mich unterhalten.“ Am andern Morgen war der Großvater tot. Und die Kinder fürchteten sich nicht. Sie waren bei ihm -- und sie weinten. Es war ihnen wie eine Erlösung, daß sie weinen durften und nicht mehr gefaßt und tapfer sein mußten. Draußen im Garten blühten noch immer die Blumen. In grellen, fröhlichen Farben standen sie da bestrahlt von der Herbstsonne. Die Kinder gingen nebeneinander -- und holten Blumen für den Großvater. Leonore sagte: „daß es alles nicht mehr sein kann, das ist“ -- sie wandte sich ab. Sie sah nicht, daß in den Zügen des Freundes ein Kummer lag, der ihr galt. Klemens wußte -- sein Vater, der gekommen war, hatte es ihm gesagt -- bald nach dem Großvater würden auch Leonore und sie alle von Kapellendorf fortgehen -- freilich einen andern Weg. -- Der Großvater wurde begraben -- in heimatlicher Erde bestattet, in heimatlicher Erde, die Kinder und Enkeln teuer bleiben wird, sagte der Pfarrer. Er war ein Freund des Großvaters, von weit hergekommen. II. An der Fossa Carolina. Der Abschied von Kapellendorf wurde Leonore unsagbar schwer. Diese wehe Bitternis, die Stätte der ersten Jugend verlassen zu müssen: Hier läuteten in jedem jungen Jahr die Osterglocken Dir froh das hohe Fest des Frühlings ein. Hier warst in jedem jungen Jahr du bald erschrocken Von allem Blumenglück am Waldesrain. Du taumeltest gleich einem trunk’nen Falter Durch Maienpracht, durch Maiennacht; Du träumtest von dem ew’gen Erhalter, Der Pan heißt, dem dein Herz erwacht. Hier grüßt dich nun der Herbst, baut gold’ne Brücken Von der geliebten Erde auf zum Himmelsrand. Hier grüßt dich wie ein letztes, jubelndes Entzücken Das Bild der Heimat, deiner Jugend Land. Und du mußt geh’n. Kein Abschied ist so schwer Als der des jungen Herzens von der Heimaterde -- Nimmermehr, nimmermehr, Was einst dir ewig währte. Alles dir teuer -- jeder Meilenstein im Lande, Der Busch im Feld, der Eichenknick, Durch tausend Bande An dich gefesselt, bleibt es nun zurück. Alles dir teuer, in dem alten Haus Das letzte Fenster, alles konnte zu dir sprechen, Nur du mußt geh’n -- du mußt hinaus In fernes Land und fühlst, dir wird dein Herz zerbrechen. * * * * * Im Kronengarten wohnten sie nun. Das war ein altes Haus, am Hügel gelegen, vor dem Tor der Stadt, unter den Mauern und Türmen der Ruine von Pappenheim. Ach, sie war nicht Kapellendorf. Der Saal mit alten Büchern und Bildern war nicht der Saal von Kapellendorf. Das weitläufige Haus schien Leonore klein -- die Möbel aus Kapellendorf kamen ihr vor wie im Exil. Alles war anders. Hügel schlossen die Landschaft ein. Schlossen sie ein wie Grabesmauern. Sie war den Blick in weite Fernen gewohnt. Hinter dem Ettersberg war die Sonne untergegangen; vom Ettersberg herüber hatte ein weißes Schloß durch die Dämmerungen geleuchtet. Ueber weite, weite Felder war der Herbstwind gekommen -- wie ein Lied der Ewigkeit. Hier zankte er nur mit der Wetterfahne auf dem Römerturm. Die hülflose Qual heimatloser Nächte -- diese grauen, kalten Morgen, die das Unvertraute noch böser machten. Tatenlose Tage. Alles, was man tut, ist ja nur ein Abfall. Sich einrichten, sich einleben, alles ist nur ein Abfall. So merkwürdig leicht fanden sich die Großmutter und ihre Tochter in das Neue. Sie schlossen sich an den Schwiegersohn, Klemens’ Vater an. Er war lange schon verwitwet und nun froh, wieder sorgende Frauen um sich zu haben. Jeden Tag sprachen sie es aus. Und sie lebten für ihn, als wäre der Großvater schon ganz vergessen. Er hatte auch ähnliche Gewohnheiten wie dieser, das kam wohl von demselben Beruf. Die Großmutter fühlte sich hier wohl. Sie stammte aus dem Städtchen. Sie war einfach dorthin zurückgekehrt, wo sie den Ausgang genommen hatte. Und wie so viele alte Menschen, schien sie auch innerlich sich zurückzuneigen, zurückzugehen zu dem, was ihre Jugend gewesen war. Der Großmutter war alles hier heimisch. Die Menschen, ihre Sprache, das Haus, der Garten. Im Garten stand ein altes Steinhaus ganz schief über der Mauer. Fast schien es, als hielten es nur die Arme blutroten Weins vor dem Hinabstürzen. Drunten im Tal floß ein träger, mühseliger Fluß. In Kapellendorf war der wilde Wein lieberot gewesen. Die stillen Wasser waren herangekommen bis zu den Mauern. Von Kapellendorf aus ging man jetzt in die Wälder, die reifen Beeren des Wachholders zu sammeln. Und jetzt hörte man in Kapellendorf die Windmühle oben von der Höhe her rauschen, immerzu, Stunde für Stunde, weil ihr der Novembersturm, der über das Land brauste, keine Rast ließ. Und bald konnte man in Kapellendorf auf den Schloßgräben Schlittschuh laufen und über die weite Flur im Schlitten dahinjagen. Hier kam nur der tote Winter. Leonore ging durch das öde Land. Stumpf und traurig, im Gefühl des Verlassenseins, im Gefühl unwiederbringlichen Verlustes ging sie. -- Aber schon war es, daß dieser Schmerz ihr das einzige Gute schien, das sie besaß. Dieser Schmerz um die verlorene Heimat, der ihr noch immer die Tränen in die Augen trieb, wenn sie allein war. Sie ging und wußte nicht einmal, daß sie weinte. Da kam durch die Lindenallee eine junge Dame auf Leonore zu. Diese Fremde war schon öfters bei der Großmutter gewesen. Sie hatte eine tiefe, weiche Stimme und wirres, dunkles Haar. Sie wohnte ganz allein in der Stadt in einem ererbten Hause. Leonore gedachte, sich zu verkriechen. Aber schon begrüßte sie Fräulein Reisland. „Sie sollten nicht so allein gehen, Leonore,“ sagte sie, „ich begleite Sie ein wenig.“ Leonore genierte sich. Sie hatte bunte Handschuhe an, die man Tigerpfoten nannte, und die Dame wildlederne. Ja, fast der alten Sackjacke aus Kapellendorf schämte sich Leonore. „Wohin wollen Sie denn gehen?“ „Ich wollte nur ein wenig hinaus -- ich weiß nicht wohin -- es ist alles so grau und trübe hier“, antwortete Leonore. „Sie haben immer noch Heimweh, Kind? und Sie wissen doch, wenn Sie einmal erwachsen sind, können Sie wieder in die alte Heimat kommen.“ „Jetzt“ -- sagte Leonore nur. „Ja, jetzt leben Sie hier. Jetzt müssen Sie es überwinden. Ich weiß ein Wort, das hilft ein wenig, soll ich es Ihnen sagen?“ Leonore nickte. „Es ist ein kleines Gedicht. Es heißt: Weiche, lieber Schatten, weiche, Störe nicht des Tages Leben. Ist dir doch der Traum ergeben, Daß dein Bild mir nicht erbleiche.[1] [1] Von Margarete v. Bülow. Verstehen Sie, Leonore: was wir lieben, das behalten wir immer. Es ist unser zweites Leben im Traum. Wir müssen nur die Kraft erringen, auch etwas Neues zu erobern.“ „Ich habe das Gedicht nicht ganz merken können. Würden Sie es mir noch einmal sagen?“ Und die Dame wiederholte diese sanften, zärtlichen Worte der Abwehr eines geliebten Bildes: Weiche, lieber Schatten, weiche ... Leonore dachte: da war jemand, der hatte etwas so lieb gehabt und mußte doch den Schmerz überleben. Sie ging neben Fräulein Reisland her und zermarterte sich den Kopf, was sie wohl sprechen sollte. Aber die Dame redete schon von selbst. „Alles ist jetzt düster und trübe. Aber warten Sie nur, Leonore, Sie werden es noch erleben, daß in Franken die Veilchen gerade so blau sind wie in Thüringen, und oben, auf dem Plateau, das die Römerstraße durchzieht, gibt es weite, weite Kornfelder. Durch den Winter müssen Sie eben nun sich kämpfen. Sie sind doch ein tapferes, kleines Mädchen. --“ Ein paar Tage später saß Leonore bei der Großmutter, des Abends, als draußen der Herbstwind ging. Die Großmutter erzählte allerlei. Daß Leonore mit achtzehn Jahren sich einen Beruf sollte wählen können, das habe der Großvater bestimmt. Und sie, die Großmutter, habe mit dem lieben Fräulein Klothilde gesprochen, die wolle Leonore gern in Wissenschaften, im Malen, in Sprachen unterrichten. Leonore war entflammt. Wie -- diese feine, stolze Dame wollte sich mit ihr befassen? O, Leonore wollte alles lernen. Nur -- Geld würde sie nie zu dieser Dame tragen. Nie. Das dürfte niemand von ihr verlangen, daß sie so etwas Gräßliches vollbrächte. Die Großmutter lächelte ein wenig. „Nein, hab’ keine Sorge. Das machen wir schon mit dem Unterricht. Geld ist aber doch nichts Beleidigendes an sich. Dieser Fall liegt ja anders, aber sonst mußt du dir merken, alles Geschäftliche, alle Geldsachen kann man nur auf eine vornehme Weise erledigen, die nämlich, daß man sie rein als Geschäft behandelt. Künstler, Gelehrte, alle nehmen Geld für ihre Arbeit. Man nennt dies ein Äquivalent. Auch einem Arzt gibt man das Geld für seine Mühe, denn alle Menschen brauchen es zum Leben.“ „Aber es ist doch nicht gleich, ob ich eine Ware bezahle oder etwas, das Persönliches an sich hat. Ich kann nicht recht sagen, was ich meine, Großmutter.“ „Ich verstehe dich schon. Man bezahlt seinen Lehrer und seinen Schuster und ist mit beiden rechtlich quitt. Aber dem Lehrer bleibt man verpflichtet. Das ist der Unterschied zwischen Geldgeben und Geldgeben, sagte der Großvater.“ Ja, Großvater wußte alles so richtig. -- Damit war Leonore wieder bei Kapellendorf angekommen. * * * * * Ist dir doch der Traum ergeben, Daß dein Bild mir nicht erbleiche. Diese Nächte, diese heimatlosen Nächte. Da lag Leonore wach, und wenn es nur eine Viertelstunde lang sein mochte, so schien ihr doch diese Viertelstunde eine Ewigkeit des Grams. Sie sehnte sich so entsetzlich. Nach jedem Winkel in Kapellendorf sehnte sie sich. Nach dem Wald, nach den Feldern sehnte sie sich wie nach dem geliebtesten Freund. Und dann kam der Schlaf. Dann kamen Träume. Heiß und in leuchtenden Farben kamen sie. Ihre Seele schrie nach der Heimat. Ihr junges Blut schrie nach der Heimat .... Und es war -- es war .... Ich habe es schon oft geträumt, ja, damals waren es Träume, damals folgte ein bitteres Erwachen. Aber heute ist es Wirklichkeit. Sie kam heim -- sie kam heim. War nicht die Luft berauschend wie junger Wein? Lag nicht der Morgenglanz des Frühlings, die rote Tiefe des Sommerabends über dem Land? O, ihr Herz war verwundet und jubelnd zugleich. Sie kam heim -- über die Felder kam sie, die waren früchteschwer, und ihr Duft berührte wie eine Liebkosung. Da -- durch die Dämmerung glänzte das weiße Schloß am Ettersberg. Und dort -- die Talsenkung -- die schwarzen Bäume, die vor dem brandrotdüstern Himmel standen, sie umschlossen Kapellendorf. O, sie brauchte nicht zu eilen -- o nein. In jedem Augenblick lag Süße. In jedem Augenblick lag Lust. Das Dorf -- der Lindenbaum vor der Schenke -- ja, ja, ich werde euch alle begrüßen -- nachher, jetzt muß ich heim. Alles wartet auf mich. Und da lagen die alten Mauern -- sie lagen dunkel und doch leuchtend -- und Leonore bebte das Herz. Verhaltenes Glühen -- Jubel der Erfüllung. Da war alles, und sie trat in den Hof. Ja, dort im Gärtlein nickten die Malven, die lieberoten Malven. So vertraut alles, und doch wie neu. Größer, strahlender, herrlicher. Und hier ging der Weg über die Mauern hin, zu dem Frühlingsgärtlein, von dem aus man über das Land sah, weit, weit in Fernen -- zu den Freunden und Freuden und Festen zukünftiger Tage hin. Da -- da -- der Boden schwankt -- unaussprechliche Verheißungen klingen zu mir aus Nacht und Heimkehr. O, nur einen Augenblick noch -- das Wunder der Erfüllung tritt hervor. Da bin ich, da bin ich, du mein geliebtes Land, da bin ich, und die Nacht ist so schwer. Ich kann es ja noch nicht ertragen, noch nicht als Wirklichkeit fühlen. Du leidgetränkter Boden -- du schicksalsschwere, jubelnde Nacht. Da bin ich -- und ich hebe die Arme. Da bin ich -- -- Und Leonore erwachte. -- „Dein Lachen endet vor der Morgenröte.“ * * * * * Ich war ein Kind, als ich die liebte, die einen lachenden Tierarzt geheiratet hat, dachte Leonore. Ich war so unwissend und konnte nicht sehen, daß sie nur eine schöne Puppe gewesen ist. Es ist nicht die Schönheit allein. Es ist die Seele, die Wesensart. Nur wer eine einsame und vornehme Seele hat, wird unsere Liebe nie enttäuschen. Darf ich aber die lieben, die eine einsame und vornehme Seele hat, und die nichts tut, was täuscht, wenn ich vorher eine Clemence geliebt habe? Sie war ja schön gewesen, schön und verführerisch. Man glaubte nur das Seltenste von ihr. Sie haben es so leicht, die schön sind. Was in andern Gesichtern erst langsam wird, haben sie als Grundlage vom Zufall. Die Clemence war nicht bloß schön gewesen, ihre Art schien seltsam und eigen beschaffen. Hatte nicht auch Dankmar sich täuschen lassen? Apart und -- leer war sie gewesen. Apart und leer. Darf ich denn nun die lieben, die so reich ist und deren Gesicht schöner ist als das schönste, weil es ausdrückt, daß sie eine Seele hat? Leonore ging in bittern Zweifeln und Kämpfen. Sie würde alles für Fräulein Klothilde getan haben. Sie hätte Giftschlangen herbeigewünscht, um mutig den Kampf mit ihnen zu bestehen -- ja, sich den Tod oder doch etwas Gleichwertiges zu holen, wenn sie die Wunde aussog. Oder sie hätte in einer Hungers- oder Wassernot das letzte der schönen Klothilde gebracht. Oder sie aus dem brennenden Erbhaus gerettet. Oder sogar ihre Kleider genäht. Warum ging denn die Welt so elend still in ihren Geleisen? Eine Tat -- eine Tat. Mit einer Tat hätte Leonore wohl beweisen können, daß ihre Liebe zu Fräulein Klothilde etwas ganz anderes war als die zu Clemence. Kann man vielleicht seine Liebe beweisen, indem man Vokabeln richtig lernt? Ja, Leonore lernte Vokabeln und lernte die Literaturgeschichte auswendig: ~Stratford on Avon boasts of having been the birth-place of this hero of English literature. The circumstances of his youth are involved in great obscurity. But it is maintained, that his father was a glover or woolcomber.~ Das klang wie ein Lied, denn Klothilde hatte es vorgelesen. ~And often amidst decemberstorm You’ll hear this voice again~ -- Die Großmutter war der Meinung, Leonore lerne lauter Poesien in ihren Stunden. Denn Leonore trug die Historien von Handschuhmachern und Wollkämmern wie Welt-Epen vor und erfüllte das Haus mit den Lauten der englischen Sprache, in weniger korrekter als einschmeichelnder Aussprache. Viermal die Woche ging Leonore in das Erbhaus der Reislands. Sie lernte mit Heftigkeit alles, was man dort von ihr nur entfernt verlangte. Es wurde fast nur auf den Unterricht Bezügliches gesprochen. Aber als einmal Klothilde über Leonores bräunlich goldene Kraushaare strich, war es um Leonores Fassung geschehen. Sie wußte keine Vokabel mehr und nicht einmal, was es mit ~Stratford on Avon~ für eine Bewandtnis hat. Sie saß nur da und lächelte -- und lächelte -- und als Fräulein Klothilde ihr mit der Lampe später die Treppe hinunter leuchtete, griff sie nach ihrer freien Hand und küßte sie und rannte wie ein Verbrecher in die Dunkelheit des Winterabends hinaus. * * * * * Schauernd verkrochen sich die Menschen in ihre Stuben. Wenn Leonore durch den verschlafenen Ort ging, meinte sie in einer Totenstadt zu sein. Sie liebte es immer, durch die Dämmerung zu gehen. Man sah jetzt gar keine Lichter in der Stadt. Ueberall waren die Fensterläden geschlossen wegen der grimmigen Kälte. Die Leute sehnten sich nach Schnee. Aber seit Wochen war kein neuer mehr auf die kristallharte, weiße Erdkruste gefallen. Die Altmühl lag wie ein gläsernes Band. Selbst die Tiefen des so harmlos scheinenden Gewässers waren mit dickem Eis bedeckt. Keine Mühle im Altmühltal ginge mehr, sagte der Oberförster. Keine Mühle geht mehr? O, dann mußte man ja flußabwärts fahren können. Mit den Schlittschuhen das Land erobern. Leonore lief und lief. Ja, da lagen die alten Mühlen um Treuchtlingen; wie bewachsen mit Eis schienen sie. Weiter -- weiter -- da fuhr sie durch das Tor, das der Patrich und der Nagelberg bilden: das Tor ins fränkische Wiesenland. Sie fuhr in raschem Lauf. Da sah sie ein Dorf unfern des Flusses. Auf dieses Dorf führte von der Altmühl aus eine Reihe von Weihern hin, die zwischen von verkümmerten Bäumen bestandenen Hügeln lagen. Die Weiher zwischen den Erdhügeln lockten Leonore. Sie überschritt Binseneis und ging von einem zum andern. Es lag so eine seltsame Melancholie über dem Ganzen. Da fuhr ein Mensch auf dem letzten, großen Teich. Leonore sah ihn unbefangen an -- nicht anders, als wäre er ein schönes Tier. Der Mensch hatte grünliche Kleider an, die seinem Körper nicht hemmend waren, so wenig, als einem Tier sein Pelz. Der Mensch fuhr zu Leonore heran, wunderlich plastisch stand er da in der Einsamkeit wie aus Erde gewachsen. Sie sah auf einen roten Mund, in ferne Augen, auf unbedeckte Hände voll ruhender Kraft. Der Mann grüßte -- freimütig -- als wollte er ausdrücken: ich grüße dich, denn du und ich sehen einander ja doch nie wieder. Leonore dachte: er lächelt, dieses wunderlich schöne Tier lächelt und doch ist sein Gesicht so still wie von Stein. Der Mann sagte: „Da treffen sich ja einmal das Nordmeer und das Schwarze. Zwei, die sich noch nie gesehen haben.“ „Meere? Wo sind Meere?“ fragte sie gedankenlos. „Es ist hier die Fossa Carolina. Der Graben, durch den Carolus Magnus Europa durchqueren wollte. Die paar stillen Weiher sind die Reste.“ Leonore sah um sich, als kämen ihr diese Angaben nicht ganz glaubwürdig vor. „Sie meinen wohl, die Wikingerschiffe hätten hier nicht Platz gehabt und auch nicht in dem Bächlein Altmühl? Ja, wissen Sie, die Erdgeister kamen und schütteten nachts wieder zu, was am Tag gearbeitet wurde. Nur das Letzte ließen sie als ein Memento. Das alles ist so fern. Ein Jahrtausend fern. Wir wollen doch sehen, ob die Erdgeister uns wohlwollen, oder ob sie uns verschütten.“ Leonore blieb stehen. Sie hatte keine Furcht vor dem Fremden. Sie fühlte nur eine rätselhafte Anziehung. „Sind Sie den Fluß herauf gekommen?“ fragte der junge Mensch. „Ja, den Fluß.“ „Sie dürfen auch allein in Weiten gehen -- Ihnen tut man nichts. Ihnen tut niemand etwas.“ „Ich fürchte mich auch nicht.“ „Sie nehmen es wohl mit allem auf?“ „Ja.“ „Woher kommen Sie denn? Sie kommen jetzt aus einer kleinen Stadt am Fluß, das sehe ich: aber dort sind Sie nicht zu Hause. Wo sind Sie denn zu Hause?“ „Nirgends mehr. Das ist vorbei.“ „O, glauben Sie nicht, daß das vorbei ist. Irgendwo will man immer zu Hause sein. Ich war es jetzt vor tausend Jahren -- war allein, allein in der Zeit, als die Karlsgräber fortgegangen sind. Das ist doch wundervoll gewesen -- das ganze Land wieder leer -- nur wilde Möven, wilde Vögel auf den Weihern. -- Nun bin ich bei Ihnen zu Hause. So fremd und zutraulich kamen Sie daher. Ein Mensch -- zwei Menschen. Sonst nichts. Und jeder bringt ein Jahrtausend mit.“ „Jeder bringt ein Jahrtausend mit?“ „In seinem Blut natürlich. Sie sehen nicht aus, als wäre die Zeit hinter Ihnen tot. Sie tragen schwere und verschwiegene Wünsche aus Fernen her, von Hunderten her mit sich in ein Einzeldasein. Schwere und verschwiegene Wünsche ganzer Generationen, die sich einmal in einem Losgelösten, aus der Art Ragenden, erfüllen wollen.“ Sie sah den Menschen an, der so seltsam plastisch vor ihr stand -- fragte, ohne zu wollen: „Wie können Sie das wissen? Sie wissen doch nicht, woher ich komme.“ „O, das weiß ich wohl. Wenn Sie es vielleicht auch noch nicht wissen. Sie haben mich angesehen, und da weiß ich viel von Ihnen.“ „Wer sind Sie denn?“ „Ich will Ihnen lieber sagen, daß ich Kelt heiße. Oben auf der Höhe habe ich einen Bauernhof. Es ist ein Stück Wegs von hier -- doch das erzähle ich Ihnen lieber später einmal. Ja, lachen Sie nur, Sie kommen doch wieder. Oder wollen Sie auf der Altmühl fahren? Ist Ihnen das lieber? -- Aber wie soll ich Sie nennen? Wie nennen Sie Ihre Freunde?“ „Leonore,“ sagte sie. „Warum sind Ihre Freunde nicht bei Ihnen, Leonore?“ „Sie sind weit fort. Wir mußten alle fort von zu Hause.“ Der Mensch sah nach Westen. „Die Sonne ist weg,“ sagte er. „Es wird bald dunkel sein. Ich darf Sie doch begleiten, Leonore?“ Leonore wußte nicht, wie ihr geschah. Kein Wort der Abwehr hatte sie finden können. Es war ihr, als hätte sie mit Dankmar Kurtzen geplaudert, obwohl der nie solche Dinge sprach. Aber alles an dem Fremden schien ihr vertraut, heimatlich, gleiche Art. Sie fuhren zusammen. Kelt meist voraus -- dann wandte er sich wieder, umkreiste Leonore, lachte, rief ihr ein paar Worte zu und flog wieder dem Ziel nach. Er war prächtig anzusehen in seiner spielenden Kraft. Sein Körper schien keinen Zwang zu kennen. Wie auf Federn flog er dahin, und dann konnte er sich plötzlich wenden, plötzlich still stehen wie aus der Erde gewachsen. Die Mühlen tanzten vorbei -- die Hügel um Pappenheim kamen. Bald waren die Schlittschuhläufer unter dem Kronengarten. „Adieu, Leonore -- sagen Sie nur zu Hause, Sie hätten den Kelt getroffen, wenn man Sie fragt. Ihr Onkel kennt mich.“ „Adieu, Kelt.“ „Aber was denn? Seine zukünftigen Freunde nennt man doch nicht mit dem Gattungsnamen. Ich heiße Vitus.“ „Adieu, Vitus Kelt -- Sie haben den drolligsten Namen, den ich je gehört habe.“ * * * * * Die Nacht hatte Tauwind gebracht. Nun war es zu Ende mit dem Eislauf. Das bedauerte Leonore sehr. Doch bis der Tag zu Ende war, hatte er ihr eine neue, schöne Aussicht gebracht. Ganz erregt kam sie aus ihrer Stunde heim: „Großmutter, der Kelt ist ein Schüler von Fräulein Klothilde. Und wir sollen nun immer zusammen bei ihr lernen.“ „Ja, ich weiß schon. Er war in deiner Abwesenheit hier. Er ist ja ein Freund von Paul, deinem Vetter. Nun, soweit ist alles schön. Aber ich muß dir etwas sagen, Leonore, ich weiß ja nicht, wieweit der Karlsgraben von hier weg ist, aber du darfst doch nicht allein so weit dich von der Stadt entfernen und dich von jedem Fremden ansprechen lassen. Du bist jetzt doch ein junges Mädchen.“ „Das ist aber langweilig, Großmutter.“ „Ja, es kann dich aber niemand zu einem Jungen machen.“ „Ich hab mich auch noch von niemand bisher ansprechen lassen als von Kelt. Der sah aus wie ein schönes Tier. Ich habe dir doch gestern abend alles erzählt, wie es war.“ „Das sollst du auch immer tun, du weißt ja, Leonore, daß ich dir ganz vertraue. Du mußt nie etwas mit Menschen sprechen, was du mir nicht erzählen könntest. Ja, das versprichst du mir.“ „Ach Großmutter, manchmal redet man doch solche Sachen -- mit Dankmar zum Beispiel, daß wir Pferde haben wollten und ins Morgenrot reiten. Das war so schön zu denken. Es war aber nicht, daß ich dachte, man solle mir ein Pferd kaufen. Wenn ich nun das alles erzählte --“ „Dann wäre es nicht mehr so schön?“ „Ich glaube, Großmutter.“ Die Dämmerung sank tiefer. Mit leiser Stimme redete Leonore von Kapellendorf. Die Tanne auf Großvaters Grab sei nun weiß von Schnee. Und im Frühling würden alle die Waldblumen herauskommen, die sie gepflanzt hatten -- die Osterblumen, die Pulsatilla, die Himmelsschlüssel und die Veilchen. Ganz blau von Veilchen würde das Grab sein. Die alte Frau hörte zu und sprach nichts. Alte Menschen, die nur ein Schritt vom Grabe trennt, sind gelassen. Sie hatten ja ein ganzes Leben Zeit, sich der Notwendigkeit beugen zu lernen. Sie warten in Geduld und leben den Tag. Sie sind geduldig im Warten und lassen das Leben noch tagen. * * * * * Wie war das herrlich! Mit Fräulein Klothilde zogen sie über das weite Land. Kelt wußte, wo es Leonore gefallen würde. Er führte sie auf das Hochplateau zwischen der alten Feste Wülzburg und den weiten Forsten, die sich nach der Donau hin verlieren. Dort sah man sogar in der Ferne ein weißes Schloß, zwischen blauen Hügeln. Er führte sie zu einem einsamen Hof mit Lindenalleen und einer Jagdkanzel. Von dort aus konnte man zwischen Nagelberg und Patrich hindurch weit ins Altmühltal sehen. „Dort liegt eine graue Stadt,“ sagte Leonore, „wollen wir hingehen?“ „Da müßten wir wohl Siebenmeilenstiefel haben!“ „So erzählen Sie etwas, Kelt -- gibt es hier nicht Sagen und Märchen, die das Volk noch weiß?“ „Ich glaube nicht. Obwohl hier einst die Kelten wohnten. Aber ihre Geschichten von König Artus’ Tafelrunde, vom Parzival und Tristan und Isolde verlegten sie in ihr Mutterland, denn sie waren hier nur Fremde.“ „Hier haben wirklich Kelten gewohnt?“ „Ja, es gibt noch Druidensteine im Lande. Und wir beide sind von großmütterlicher Seite hier uransässig. Also, Leonore, seien Sie der Abkunft eingedenk.“ „Ist das auch wahr?“ „Wahr? Positiv wahr soll es auch noch sein, wenn ich Ihnen etwas erzähle? Im übrigen ist alles wahr, was wir glauben.“ Doch Leonore drang in den jungen Mann, er solle ihr noch mehr von den Kelten erzählen. Ihr war alles noch neu, was andere schon lange wußten. Neu und fremd. Ja, der Tauwind fuhr über die Welt. Sturm brachte er. Die Vorahnung von Frühlingsstürmen. Sie begegneten im Wald dem Oberförster Stengruben. „Ei, wie ist Leonore vergnügt,“ sagte er. „Zu Hause hören wir sie nur immer Schreckliches deklamieren. Verzeihen Sie, die Sie ihre Lehrmeisterin sind -- ich verstehe nicht Englisch -- es klingt nur alles so schauerlich traurig.“ Der Oberförster schloß sich an Fräulein Klothilde an, und Leonore war mit Kelt voraus. „Vitus, damals an der Fossa haben Sie gesagt, in uns gingen die Wünsche von Jahrtausenden. Aber wenn das wäre, da müßte ja eine ganz neue, flammende Zeit anbrechen.“ „Ja, warum sollte denn das nicht sein, Leonore? Es liegt ja alles vor uns, wir brauchen nur mit den Händen danach zu greifen.“ „Man sehnt sich immer,“ sagte sie, „o, so schwer sehnt man sich.“ „Immer noch nach Kapellendorf?“ „Nach was sehnen Sie sich denn, Vitus?“ „Ich freue mich jetzt auf den Frühling,“ sagte er. Sie kamen in ein junges Gehölz. Nur ein schmaler, gewundener Pfad führte durch, und sie mußten hintereinander gehen. Da kam ein junger Mensch des Wegs, er trug eine Holzaxt, hatte die Pfeife im Munde. Er grüßte. „Wer war denn das?“ fragte Leonore. „Der älteste Sohn vom Gastwirt in Osterdorf.“ „Sie kennen alle Leute hier.“ „Wie sollte ich nicht.“ Nach einer Weile ging wieder ein Holzfäller an ihnen vorüber. Noch zwei-, drei-, viermal wiederholte sich diese Begegnung. Alle grüßten. Und auf jede Frage Leonores kam von Kelt die Antwort: Es ist noch ein Sohn aus demselben Hause. Endlich fing Leonore zu lachen an. „Jetzt glaube ich das nicht mehr, Vitus. So viele Söhne kann niemand haben.“ „Fruchtbarkeit,“ sagte er. Und es schien Leonore, als sei Kelt nachdenklich bei dem Wort. „Wir haben wirklich keinen Grund, an dem Fortbestand der Menschheit zu zweifeln. Nein, Leonore, lassen Sie sich niemals anfechten von der Gassenweisheit, es dürfte keine Ehelosen geben, sondern nur solche, die aus Liebe, aus Gattungsbedürfnis oder ~à tout prix~ heiraten. Allein sein können bedeutet sehr viel -- und die freie Liebe ist leidenschaftsstärker und länger jung als die beste Ehe. Umsonst gibt es nichts -- darum werden die äußerlich einzelnen, die intensiver lebten, auch immer die Verschollenen sein. Die Toten von Geschlechtern, die, welche man auf den Stammbäumen mit abgebrochenen Ästen bezeichnet: Erloschene.“ Sie wußte mit dem Wort nichts anzufangen. Noch griff ihre Hand nicht nach dem Schicksal. * * * * * Das waren schwere Wochen gewesen -- böse Wochen. Ein eiserner Ring um den Kopf -- und immer dieses bohrende Brennen. Dann Schlaf -- Schlaf. Viele Wochen hatte Leonore so dagelegen -- und nun endlich war sie wieder auf. Sie hatte den Typhus gehabt, sich irgendwo die Ansteckung geholt und aufgenommen. Nun aber durfte sie wieder außer Bett sein -- matt und müde, wie sie war. Und als sie zufällig in einen Spiegel sah, mußte sie sehr lachen. Das war doch zu drollig, wie ein Junge sah sie jetzt aus. Ganz kurz geschnittenes Kraushaar stand um ihren Kopf. Die Großmutter lächelte: „Nun hat dich die Krankheit zu einem halben Jungen gemacht.“ Das fand Leonore sehr nett. Wie mußte es hübsch sein, nun immer so zu gehen. Die Großmutter saß neben Leonore -- viel rüstiger als früher schien sie der Enkelin (das kam weil die alte Frau wieder etwas zu sorgen gehabt hatte), und sie plauderte: „Wie du so krank warst, Lenorchen, da ist Fräulein Klothilde immer bei dir gewesen. Sie hat dich so wunderschön gepflegt.“ „Davon weiß ich gar nichts mehr,“ sagte Leonore. „Wenn ich es doch gewußt hätte.“ „Nein, das ist gut, daß du alles vergessen konntest. Und Kelt ist immer gekommen -- viele Stunden hat er jeden Tag draußen im Saal gesessen und gewartet, daß wir ihm von dir erzählten. Ein paar Nächte ist er sogar hiergeblieben, wenn vielleicht etwas zu holen gewesen wäre.“ „Der gute Freund,“ sagte Leonore. Und sie fand es sehr schön und sehr rührend: Kelt hatte in dem dämmerigen Saal gesessen -- viele Stunden lang -- viele Stunden lang. Ganz still war es -- nur die Kuckucksuhr hatte getickt, und er war bange, ob Leonores Lebensuhr noch schlug. „Erzähle nur noch weiter, Großmama.“ Doch da kam Kelt schon selbst. Er kam ohne Meldung herein, wie jemand, der zu Hause ist, stand vor Leonore und drückte ihre Hände. „Ja, wie sehen Sie denn aus, Leonore? Ganz fremd -- wie der Lord Byron. Aber wahrhaftig.“ „Lieber Kelt,“ meinte die Großmutter, „unser gutes Kind dürfte jetzt gern auch wie ein Kaminfeger aussehen.“ „Aber freilich. Doch was kann ich denn dafür, daß sie nun wie ein schöner Lord ist? Sie ist doch nicht meine Tochter -- ich bin unschuldig daran. Da -- da habe ich etwas mitgebracht, Leonore --“ und er hielt ihr in seinen beiden Händen, die so viel Kraft und Intelligenz verrieten, einen großen Strauß Tannenreiser hin. -- „Kapellendorf grüßt.“ „Ach,“ sagte sie nur. Sie war so müde und froh. „Jetzt müssen wir Leonore sehr verwöhnen, Frau Oberförsterin. Sie hat uns ja beinahe fortlaufen wollen, das fremde Mädchen. Gell du, Leonore, das wäre doch furchtbar abscheulich von dir gewesen -- es wäre treulos und unrecht und unverzeihlich von dir gewesen.“ Er nannte sie du -- und sie sagte ohne Gedanken, wie etwas Natürliches, dasselbe zu ihm. „Die Tannenreiser hast du von Kapellendorf schicken lassen, Vitus?“ „Freilich -- und gerade heute, wo du auf bist, sind sie gekommen.“ Sie drückte ihre bleich und schmal gewordenen Finger um die Nadeln. Sie lächelte so froh und müde. Und dann kam Fräulein Klothilde und brachte ihr Veilchen. „Sie sind nur von hier -- aber es sind die ersten im Jahr.“ Und Fräulein Klothilde küßte Leonore auf den Mund. Sie dachte, ich soll ihr die Hand küssen -- ja, das will ich. Aber sie war so schrecklich müde. Sie konnte die Zweige von Kapellendorf gar nicht loslassen. Und sie dachte: Ich träume -- es ist ja alles gar nicht so. Sie küßt mich, und Vitus ist so gut -- und die Großmutter tut mit mir, als sei ich eine Prinzessin. Ich träume -- aber ich will doch noch ein bißchen weiter träumen -- es ist so neu und sonderbar. * * * * * Kelt tat sein redlichstes, Leonore zu verwöhnen. Als sie noch nicht weit gehen durfte, kam er mit einem Wagen, sie abzuholen. Oder er saß mit ihr an den wunderschönen Frühlingsabenden drunten am Fluß. Sie konnte singen, und das mochte er gern. Eine feine, dunkle Stimme hatte sie, die klang wie tiefe Harfensaiten. Sie klang, wie wenn Menschen vom Meere sprechen und es nie gesehen haben. Wie wenn Menschen von einem unbeschreiblich kostbaren Kleinod erzählen, das ihre Hände nie berührten. Die Inbrunst der Seele macht das niegeschaute Meer zum jungfräulichen Gestade, das nie in verlangenden Händen gehaltene Kleinod zum heiligen Gral. Leonore hatte aufgehört zu singen; sie sah nach dem grünen Wasser hin, das unter Weidenbäumen melancholisch in langsamem Abschied zog. „Du gehst nun bald fort, Vitus?“ „Noch nicht so bald, Leonore. Paul kommt doch in einigen Wochen -- dein Vetter Paul -- und den möchte ich gern noch einmal sehen. Denn wenn ich fortgehe ist es auf lange.“ „Auf immer, Vitus?“ „Auf lange, Leonore!“ „Du machst eine so weite Reise mit deinem Freund?“ „Ja, das wird wohl sein. In das alte Land, wo das Paradies gestanden haben soll, wollen wir. Im Schutt von Jahrtausenden graben. Durch meine Arbeit wird zwar für die Wissenschaft nicht allzuviel herauskommen, ich bin ja nur ein Amateur, der selbst die größte Freude am bloßen Tun hat, nicht an seiner Konsequenz. Aber Frédéric Morton ist ein großer Gelehrter -- er besitzt jene Intuition des Intellekts, die man hat oder nicht hat -- und nicht durch Fleiß erwerben kann.“ „Du liebst diesen Freund wohl sehr, Vitus?“ Kelt lächelte: „Du solltest ihn nur kennen, Leonore. Er ist der idealste junge Mann, den es gibt. Er ist sehr schön. Was sage ich -- schön. In Menschenschönheit liegt oft so viel Zufälliges. Darum hat sie ihren einzigen Wert in den Augen der Gebildeten, die das Logische lieben, verloren. Sie vergessen, daß es das Seltenste ist, ein Geschöpf des Zufalles zu sein: ungedacht, nicht geschaffen, aus tausend Willküren heraus wie die Zufallsschönheit wilder Blumen, die Zufallsschönheit von Wolkengebilden, die über den Abendhimmel schwimmen. Wir sind Gewordene, du und ich, Leonore. Auf lange sehen wir zurück. Da waren die Reihen der Voreltern -- wir wissen noch, wie sie gewesen sind. So genau wissen wir, woher sie kamen. Ja an der Hand der Geschichte können wir sogar die Gedanken wissen, die sie dachten. Denn wären sie Ausnahmen gewesen, so hätten sie sich ausgeschieden von den andern und wären Ausgeschlossene, Verschollene, von denen man redet wie von Gespenstern. Und wir, die wir aus dem Folgerichtigen kommen, wir lieben gerade den Gegensatz: das Zufällige. Nicht jenes Zufällige, in dem Wahllose sich mit Wahllosen mischten, Willkür sich mit Willkür verband. Daraus entstehen nur Zwitter, die von der Bettelgnade des Tages leben.“ „Verhöhnst du die -- die den Tag lieben wie etwas Kostbares, das einzig ist?“ „Nein, Leonore, ich verhöhne sie nicht. Ich bin noch sehr wenigen begegnet, die das konnten, was du sagst. Nur wer Schicksal und Geschichte aus dem Augenblick formen wird, hat ihn geliebt -- die von der Bettelgnade des Tages leben, tun es nicht.“ „Du müßtest ein wenig deutlicher dich ausdrücken, wenn ich dich verstehen soll, Vitus.“ „Ja, wie soll ich das sagen. Immer einmal wieder wird Adam-Mensch geboren -- der ein Erstling ist und alles neu sieht. Immer einmal wieder geht Parzival, der junge Tor, durch die Welt, oder Kaspar Hauser, der nichts von seinem Ursprung weiß. Zuweilen erwachsen noch aus Finsternissen und dem Unnennbaren im Schoß der Erde jene strahlenden, untergrundlosen Nordlichtexistenzen, die ich Geschöpfe des Zufalls nannte. Und sie sind es, die den Gewordenen entzücken, die ihm das Novum, die Offenbarung des Lebens sind. Wenn du einmal liebst, Leonore, so wird es ein solcher Mensch sein. Einer, der einsam aus seiner Rasse ragt. Der nichts hinter sich will -- nur das stürmende Leben begehrt. Mein Freund ist ein solcher Mensch. Er hat nichts geerbt. Der Zufall hat ihn erschaffen. Es gibt Menschen, die seinen Gattungsnamen tragen, und wenn er unter ihnen ist, dünkt es einem, als sei ein Findlingsblock unter Ziegel gefallen. Nur eine Schwester hat er, die ihm gleicht.“ Ah -- eine Schwester, dachte Leonore. Und er redete weiter. „Er hat Augen wie Chrysoprase. Seine Haut ist wie bräunlich gewordenes Elfenbein. Weißt du, wie der Frühling sieht er aus -- so maienstark ist er -- ist sein ganzes Wesen. Wenn er spricht, spielt er mit den Worten wie mit Federbällen. Sie fliegen, sie pfeifen durch die Luft. Sinnlos scheint es -- zusammenhanglos. Und dann plötzlich braucht er nur die Hand auszustrecken und er fängt sie alle -- aus den zerstreuten Worten wächst eine wundervolle Einheit.“ „Wie alt bist du eigentlich, Vitus?“ „Ich war einundzwanzig Jahre alt. Du meinst wohl, weil ich so von meinem Freunde spreche. Ja, siehst du, das Äußerliche gehört zu ihm. Er muß klare, harte, grüne Augen haben. Das muß alles sein. Man kann ihn sich nicht anders denken. An ihm findet man eben alles schön. Da ist nichts zu wollen. Seine Schwester gleicht ihm sehr.“ „An dir ist auch kein solcher Fehler, Vitus. Auf dich kann man immer stolz sein. Was machst du für ein Gesicht -- wir sind doch gute Freunde. Soll ich das nicht sagen? Meinst du vielleicht, ich hätte mit dir an der Fossa geredet, wenn du nicht so ein schönes Tier wärst? Du bist wie ein großer Hund -- ein ganz feiner Hund. Den kann man mit in Stuben zu den schönsten Damen nehmen.“ „O Gott, ein Hund gerade,“ sagte Vitus Kelt. „Na, oder ein Pferd. Ich weiß nicht so die Worte. Einen Menschen wie dich habe ich noch nicht gesehen. Alle Menschen sind irgendwo schief. So meine ich es. Dankmar Kurtzen und Klemens waren draußen sehr nett, doch unter Erwachsenen und im Zimmer scheu oder komisch. Ich rede nicht garstig von meinen Freunden oder Verwandten, Vitus. Aber sieh mal Charlottchen, so fest und gerade ist sie in ihrem Hause -- und immer befangen, als hätte sie eine Schuld auf sich, vor den Menschen. Und der Onkel lärmt so in dem alten Saal. Du tust das nicht.“ „Nun, und Fräulein Klothilde?“ „Die kritisiere ich doch nicht,“ antwortete Leonore und wurde ein wenig rot dabei. Sie war so ehrlich und verehrte Fräulein Klothilde. Und doch hatte Kelt etwas vor ihr voraus. „Sag mal, Leonore, wie denkst du von dir?“ fragte Kelt. „Bist du auch irgendwo schief?“ „Ja -- ich geniere mich so oft, und geniere mich, daß ich mich geniere. Ueberhaupt ist es sehr schwer ein Mädchen zu sein.“ Sie saßen still und sahen auf das fließende Wasser, dem jedes Weitergleiten wie ein Abschied schien -- zögernd, schwer -- hülflos. * * * * * Blau war die Erde von Flieder. Leonore schien es, als erwache das ganze Städtlein in einem Frühlingsfliedertaumel. Um den Ruinenberg, um den Kronengarten selbst war alles voll verschwiegener Gärten hinter Fliederhecken. Der Berg lag wie eine Landzunge vorgeschoben in die beiden Täler des Flusses. Und an all seinen Hängen standen die kleinen, verborgenen Gartenhäuser von grauem Stein. Um jeden Garten waren blühende Fliederhecken, und alle die kleinen, heimlichen Wege und Stege auf dem Ruinenberg waren von Flieder umsäumt. Leonore ging durch die warmen Abenddämmerungen, die noch so leuchtend waren, trotzdem die Sonne schon hinter die Hügel sich gesenkt hatte. Und Leonore schien es, als trüge eine große, unaussprechliche Freude ihren Körper. Was war es denn, was war es denn? Es war ja nur der Frühling und sein hoffnungsschweres Jauchzen -- der Frühling, der das Land vergoldete, der es mit Reiz umkleidete -- „Guten Abend, Frau Traumfelder. Sammeln Sie Rapünzchen?“ „Ja, Freilein Lenore, Rawinzeli stech ich aus.“ Leonore guckte durch eine Öffnung in der Fliederhecke. „Haben Sie schon Bohnen gesteckt?“ „Ja. Die Eismänner sin vorbei. Die Kimmerling hab’ ich auch gelegt. Neie Sorten, die ranken sich an Bohnenstangen nauf -- die brauchen net so viel Platz.“ „Aber, Ihr Garten ist doch so groß?“ „Wir brauchen halt gar arg viel Kartoffeln, sieben Kinder, sieben Mäuler, Freilein Lenore.“ „Wie geht es denn Ihrem Soldaten?“ „No, ich dank, gut. Der freit sich sehr, wenn er heimkommt aufm Herbst und wenn die Kimmerling zeitig sin.“ „Machen Sie nur bald Feierabend. Die Kimmerlinge werden schon noch Zeit haben.“ „No, guten Abend, Freilein Lenore.“ Leonore ging weiter. Alles war so schön. Wie furchtbar drollig, daß man die Gurken an Stangen wachsen ließ, damit sie nicht so viel Platz brauchten. Das mußte sie der Großmutter erzählen. O ja, Leonore hatte jetzt schon viele Bekannte in der Stadt -- sie guckte so gern in die Gärten und freundete sich an. Traumfelder hießen die Leute, die hier Sommerfelder bebauten. Nicht nur mit den Menschen freundete sich Leonore an. Aus einem ganz verwilderten Garten, der niemand zu gehören schien, hatte sie gestern eine Schwertlilie gestohlen. Weil sie so über alle Maßen schön war. Mein Gott, die Schwertlilie hatte es doch so einsam in dem ganz verwilderten Garten. Auch Flieder stahl Leonore. Im Kronengarten blühte er für die Großmutter. Ganze Arme voll Flieder hatte sich Leonore in ihre Stube geholt. Das roch so wunderlich in der Nacht, wenn der Spätfrühlingswind durchs Fenster kam. Und erst wenn man das Gesicht in die breiten Trauben drückte, o, das war eine Lust -- Lust -- Und Leonore lief durch die kleinen Wege zwischen den Fliederhecken auf den Ruinenberg. Eine große, unaussprechliche Freude trug ihren Körper. Was war es denn? Es war der Frühling und sein liebesschweres Jauchzen. -- * * * * * Der Vetter Paul sah Leonores Malereien an, die sie bei Fräulein Klothilde gemacht hatte. Vetter Paul war eine Autorität. Er hatte ein Bild gemalt, und das war schon verkauft. Folglich mußte er etwas verstehen, und das Lob, das er Leonores Malereien spendete, erfreute besonders das Herz der Großmutter. Ja, nun sollte Leonore schon noch mehr Gelegenheit zur Ausbildung bekommen -- Porzellanmalen war doch so etwas Aufregungsloses und Solides. Leonore konnte das Lob Pauls nicht ergötzen. Denn dieser Paul nannte jetzt Fräulein Klothilde seine Liebste, und die Liebste sagte zu Leonore du, und sie waren jetzt Cousinen. Leonore fühlte dumpf: der von ihr so äußerst verachtete Tierarzt war gewiß ein vortrefflicher Mann gewesen. Sie hatte ihm sehr unrecht getan. Die Ideale heirateten alle, ob sie nur schöne Seelen oder nur schöne Gesichter hatten. Sie heirateten beliebige Männer, und daß Leonore sie geliebt hatte, bedeutete gar nichts. Und sie heirateten keineswegs Welteroberer oder Könige, sondern Mallehrer und Gestütsdirektoren. Leonore bedachte nicht, daß sie nie die Hoffnung genährt hatte, ewig von Klothilde Stunden zu haben. Doch sie war von Eifersucht erfüllt und schämte sich dessen in alle Tiefen hinein. Sie wollte gar nicht mehr an Klothilde denken, das war eben nun eine Cousine -- nun ja, was denn weiter? Nun ging man zu vieren im Wald und auf der Heide -- mochten Klothilde und ihr Bräutigam nur vorausgehen ... „Ja, Leonore,“ sagte Kelt auf einem solchen Weg -- „freut es dich denn gar nicht, daß du später in München noch besser malen lernst? Wie wäre ich glücklich um eine künstlerische Begabung.“ Leonore sagte erbittert: „Ich kann mir nun alles auf Kaffeetassen malen, was ich mir wünsche. Ich wollte doch lieber leben, lieber leben!“ „Na, Kind, der Paul lebt recht kräftig gerade, trotzdem er malt.“ „Ich kann ihn nicht leiden,“ kam eine heftige Antwort. „Weil er Klothilde heiratet? -- Aber liebe Leonore, damit beweist er doch nur einen guten Geschmack.“ „Du hast wohl auch wo eine Braut?“ „Ich? Aber Leonore. --“ „-- Aber, Leonore -- aber, Leonore. Ich höre schon, daß ich ein Aber bin.“ Kelt sah geradeaus ins Land. Ganz behutsam, und wie man ewige Wahrheiten ausspricht, die niemand ins Herz treffen können, redete er weiter: „Weißt du, wenn die Menschen ganz jung sind, wissen sie noch wenig von sich. Und sie glauben doch immer, sich in alle Zukünfte zu verstehen. So lange ein Mensch noch im Werden ist, hat er nicht den Überblick, vermag er nicht zu entscheiden, was ihm nicht nur Freude, nicht nur Vergnügen, sondern Notwendigkeit ist. Alles andere enttäuscht. Nur was uns Notwendigkeit ist, bleibt uns treu. Was sich von uns wendet, war nicht Notwendigkeit. Es war nur Handlanger zu unserer Entwicklung.“ * * * * * So still und rein kam der Juniabend. So still wie die letzte Liebe. Sanftheit lag über der Landschaft. Allen Ruhe, allen Ruhe und einen Schimmer von Glück schien sie zu bringen. Sie standen noch einmal an den Weihern der Fossa. Die Abendschatten lagen schon über den Hügeln, und in den melancholischen Wassern schrien die Frösche. Und wie im Traum fühlte Leonore die ferne, untergegangene Zeit -- fühlte sie den Schmerz, der hier noch zu wohnen schien. Kelt saß am Hügelrand und sah auf das ruhende Wasser. „Einen Augenblick sind wir uns begegnet, Leonore, und haben uns zugelächelt aus weiten Fernen. Aber es wird nicht sein, als sei nichts gewesen. Wir werden noch oft an einander denken, wenn jeder sein eigenes Leben lebt -- ja, weißt du, wenn wir einst beide auf den Inseln der Seligen sind, dann werden wir einander manchmal grüßen als Wegkameraden.“ Sie saß ihm gegenüber, lächelte verloren. „Ich muß dich noch viel ansehen, du schönes Tier. Du gefällst mir noch heute so gut wie beim ersten Mal.“ Er sagte nichts. Er schwieg lange. Die Grillen zirpten von den Wiesen her, und die Schatten des Abends vertieften sich. Es war, als hätte der Augenblick kein Ende; als hätte der stille, reine Abend keinen Untergang. Sie dachte: Hinter den Hügeln wird uns einst das Leben lächeln. Wie ein Jahrtausend muß das Glück sein -- so reich, so glühend von großen Taten -- „Vitus, liebst du deinen Freund?“ „Du weißt es ja, mein Kamerad.“ „Ich liebe die Erde und den Sommer,“ sagte sie und lächelte Kelt an. „Und dich hab’ ich so schrecklich gern. Hörst du -- du sollst mir nie schreiben -- ich schreibe dir auch nicht. Briefe enttäuschen so. Die wollen etwas sein und sind doch nichts. Heute sagen wir uns Lebewohl -- und wenn wir uns nie wiedersehen, so tut es nichts, denn es wäre doch anders.“ Sie lächelte wieder: „Adieu, Vitus Kelt, und es war sehr schön.“ Er stand auf. „So gehen Kameraden nicht auseinander. Rufe mich, wenn du mich je brauchen solltest. Wir haben uns lieb wie Geschwister. Ein Bruder, der fortgeht, sorgt sich, wer seiner Schwester Freund und Hüter sein wird -- Freund und Hüter im fernen Land des Lebens.“ „Ach, Vitus, in Wirklichkeit bin ich doch ein Junge. Ich werde mit allem schon allein zu Ende kommen. Adieu, Vitus Kelt, und grüße auch deinen Freund von mir.“ „Leb’ wohl, Leonore, ich werde dich nie vergessen.“ Wunderlich klang ihr das Wort: „ich werde dich nie vergessen.“ Dankmar Kurtzen hatte dasselbe gesagt. „So, Vitus, nun ist der Abschied zu Ende. Nun gehen wir heim, und du plauderst noch.“ Sie gingen durch den Juniabend. Der war rein und still wie eine letzte Liebe. Sanftheit lag über der Landschaft. Allen Ruhe -- allen Ruhe und einen Schimmer von Glück. Leonore war sonderbar gerührt. Kelt ging -- und doch war alles gut. Ein junges Herz klagt nicht um einen Frühling, der geht. Es weiß ja noch so viele junge Jahre vor sich. * * * * * Leonore ging die Wege die sie so oft mit Kelt gewandert war. Ueber die weiten Höhen, die nach den Wäldern hin abfallen, ging sie -- die Römerstraße verfolgend -- an alten Begräbnisplätzen vorüber, den Heidenfriedhöfen des Landes. Da lag die Flur in Sommermittagsstille. Schwer und reif war das Korn. Weiße Straßen schnitten am Himmelsrand ab. Nur zuweilen schob sich der Wald herein, zuweilen unterbrachen Heidenstrecken voll Thymian die Felder. Leonore ging und hörte hinter den Wäldern aus weiter, weiter Ferne her den Wind rauschen. Um sie war es still -- nur weit fort, von Ewigkeit her, klang der Wind. Sie fühlte sich der Erde so nahe. Voll Liebe fühlte sie sich. Und es war ihr, als bezauberte sie die stille Landschaft, als schliche sich ihr verschwiegener Sommerreiz wie ein Geliebter leise in ihr Herz. In jähem Erschrecken dachte sie: Bin ich denn untreu geworden? Was habe ich geweint um Kapellendorf! Und nun gehe ich über fremde Erde wie über heiliges Land. Was ist denn! Bin ich eine von denen, die keine Treue halten können? Nein -- nein, das will ich nicht! Sie dachte an die alte Heimat. Die stand vor ihren Augen mit zärtlicher Lockung. Sie dachte: einst, wenn ich mein eigenes Leben leben kann, dann will ich es wohl beweisen, daß diese Liebe kein vergänglicher Kindheitstraum war. Dann will ich heimgehen in das alte Land. Leonore ging die Wege, die sie so oft mit Kelt gegangen war. Sie ging und hörte von ferne, in weiter Ferne den Wind in Wipfeln spielen -- den Wind rauschen wie die Brandung des Meeres. Um sie war es still -- nur weit fort, von Ewigkeit her, klang der Wind. -- -- III. Die Stadt. Die königliche Beamtenswitwe Frau Bendler (man hätte ihr die Ehre abgeschnitten, würde man sie nur Beamtenwitwe genannt haben) sprach also: „Ich muß heint abend ins Volkstheater, weil der Xaver, wo mei Pat is, sein Benefiz hat. Akurat den Lumpensohn im Vierten Gebot tut er spielen, und ma muß so viel weinen dabei, aber weils halt der Xaverl ist und sei Ehrentag, da muß ich hin. Es ist nur, Freilein Wolfferstorff, weil doch das Freilein Tant’ mit Recht drauf drungen hat, daß Sie bei einer Beamtenswitwe, in einer anständigen Familje, unter einem Schutz und Schirm bei so viel Jugend sind -- aber was der Herr Tucher is, so leg ich die Hand ins Feier, und Freilein Trester ist doch scho a abgestandenes Frauenzimmer, da därf ich unbesorgt sein, wenn auch der Herr Wredegast a Schlankerl is. Also, ich kann halt beim Abendessen net derhoam sein.“ So sprach, mühsam das Gleichgewicht zwischen Dialekt und „Norddeitsch“ haltend, Frau Bendler. „Aber Frau Bendler, da lassen Sie sich doch keine grauen Haare wachsen,“ antwortete Leonore. „Wär auch zu früh bei meine zweiundvierzig Jähr, wär zu früh.“ Das Gespräch wurde unterbrochen. Es klopfte, und die Baronin Müller aus dem zweiten Stock kam in den dritten. Die Baronin Iphigenia Müller schien nicht die Blüte der Aristokratie zu verkörpern. Sie war höchst unordentlich angezogen, ihre Frisur löste sich stets irgendwo, und selbst ihr Gesicht drückte Unordnung aus, fand Leonore. Alles schien nicht zusammen zu gehören; es war, als hätte man von drei Menschen Augen, Nase und Mund geliehen und sie in ein Rechteck gesetzt. Iphigenia von Müller war wie immer in Eile. Sie erwiderte den tiefen Knix der Beamtenswitwe mit einem flüchtigen Blick und wandte sich an Leonore: „Liebes Kind, Sie sollen heute abend zu Nacka kommen. Auch Tröster, Wredegast und Tucher. Frau Bendler geht ins Theater, und Sie sollen nicht mit den Mannsbildern allein sein.“ „Frau Baronin, es ist der Ehrentag von mein Patenkind, mein Xaverl. Und bei uns, bei einer keniglichen Beamtenswitwe. --“ „Königliche Grenzoberaufseherswitwe zu Pferd, nicht wahr?“ fragte Iphigenia Müller. „G’horsamer Diener, ja. Bei mir also --“ „Aber, liebe Frau Bendler, natürlich gehen Sie ins Theater. So oft Sie wollen. Fräulein Leonore ist immer bei uns eingeladen. Fräulein Planck läßt Ihnen ausdrücklich sagen, Frau Bendler, wenn Sie mal fortgehen wollen oder dergleichen, Fräulein Wolfferstorff ist bei uns wie zu Hause. Uebrigens wäre sie ja auch kein Kind mehr.“ Leonore war der Baronin dankbar für diese Rede. Denn seit Tante Charlottchen mit Frau Bendler über die großen Gefahren der Großstadt konferiert hatte, war die „Beamtenswitwe“ um das Mitglied ihrer „Benzion“ besorgt, als sei Leonore ein Kind von zwölf Jahren. Und doch war Leonore eben achtzehn, hatte das Sprachexamen gut bestanden und hörte nun Kunstvorlesungen zur Ergänzung ihrer Ausbildung in der Porzellanmalerei. Iphigenia Baronin Müller hatte sich in Eile wieder verabschiedet. Leonore ging, ein anderes Kleid anzuziehen -- den bequemen Rock und die Jacke, zu der sie Leinenkragen trug, mit einem Gewand von edlerer Form und fließenden Linien zu vertauschen. Das mochte Anastasia Planck gern, und sie war eine berühmte Malerin und mußte wissen, was gut aussah. Leonore stieg hinunter in den zweiten Stock. Es war doch überaus freundlich von Planck und Müller, die ganze Bendlersche Pension zum Abend einzuladen. Bei Bendlers gab es stets etwas, das Herr Tucher „einen Fraß“ nannte, wovon Fräulein Tröster behauptete, ein chronisches Magenleiden zu haben, und was Herr Wredegast als „die Sünden der Väter“ bezeichnete. Hingegen besaß die Baronin Müller die Fähigkeit, in dieser, was das Essen anbelangt, barbarischen Stadt Dinge aufzutreiben und Mahlzeiten herzurichten -- beinahe so prächtig, wie man sie in den berühmten Restaurants des beliebten Berlins bekommt. Das war die Vaterstadt der Baronin, und Iphigenia war nur Anastasia Plancks wegen in das Exil gezogen. Es hieß, um zu malen, aber die Baronin verbarg ihre Kunsterzeugnisse noch. Als Leonore in den Müller-Planckschen Salon kam, dessen Charakteristikum mehrere Diwans voll Kissen bildeten, fand sich nur die Baronin Iphigenia vor. Die umarmte Leonore mit der geläufigen Zärtlichkeit einer Dame, die weiß: alles was von ihr kommt, ist Huld, und nötigte dann Leonore auf eine Chaiselongue. „Die Mannsbilder sitzen schon im Rauchzimmer,“ sprach die Gastfreundin, „mögen sie nur warten. Wir müssen auch warten. Nacka hat Modell bei sich, jetzt, wo man diese verdammten Leuchtmaschinen erfunden hat, wird das süße Kind schließlich auch noch die Nächte hindurch arbeiten.“ Leonore dünkte es, das süße Kind sei doppelt so alt als sie. Nun das schadet ja nichts. „O Leonore,“ fuhr Frau von Müller fort, „Sie ahnen nicht, was das ist. Immer hat Nacka diese Aktmodells bei sich. Ich vergehe beinahe!“ Leonore antwortete begütigend: „Sie brauchen ja nicht ins Atelier zu gehen, Frau Baronin, wenn Sie die Modelle nicht sehen mögen.“ „Nein, aber der bloße Gedanke erregt mich.“ -- Die Baronin Müller umarmte Leonore von neuem. „Sie dürfen sich nie von Nacka malen lassen -- nein, versprechen Sie mir.“ „Aber Fräulein Planck hat mich doch noch gar nicht malen wollen.“ „Hat sie das nicht? Wirklich?“ -- Iphigenia Müller schien ganz glücklich. „Nein, wirklich nicht, Frau Baronin!“ „Sie sind ein liebes Kind -- ich muß Sie küssen. Sie sind unsere kleine Prinzeß. Oder wollen Sie lieber der Page sein? Ja, mit Ihrem goldenen Kraushaar sind Sie ein Page. Aber Leonore, sagen Sie doch nicht Frau Baronin zu mir, nennen Sie mich doch Iphigenia. Und zu Nacka müssen Sie nie Fräulein mehr sagen, das kränkt sie. Ein so berühmter Name wirkt allein am schönsten.“ Leonore dachte: Ich will ja alles tun, wenn mich Frau von Müller nur nicht wieder küßt. Sie hatte einen so fransigen Mund, ja, als ob sie ihn mit Scheuerlappen oder einer Zahnbürste behandelte, sah er aus. Vielleicht war das eine Krankheit. Um so unangenehmer, geküßt zu werden. Leonore fragte: „Was malt denn -- Anastasia Planck gerade?“ Die eben besänftigte Iphigenia geriet von neuem in Erregung. „Das ist es ja -- ich weiß es nicht. Jeden Abend kommt das Modell in der Dämmerung -- es ist Winter, sie hat eine Kapuze und einen Schleier auf -- sie läuft direkt ins Atelier, und dann wird zugeschlossen.“ „Vielleicht sollen Sie das Bild zu Weihnachten bekommen,“ sagte Leonore in ermunternder Harmlosigkeit. „Glauben Sie? Meinen Sie das wirklich? Hat Sie Ihnen vielleicht eine Andeutung gemacht?“ „Das nun nicht. Aber es ist doch sehr wahrscheinlich, wenn Sie es nicht vorher sehen dürfen.“ Schon saß Iphigenia wieder neben Leonore. „Sie liebes Kind -- ach, Sie sind so ein Tröster. Wie lieb Sie sprechen können. Ich muß Ihnen die Hand drücken.“ Leonore wurde es ängstlich. Sie fragte ganz blind, nicht aus Neugier, sondern um nur etwas zu sagen: „Kommt Ihr Herr Gemahl Weihnachten hierher?“ „Der Baron Müller? Ach nein. Er arbeitet an einem Werk über das sibirische Klima. Das ist nämlich gar nicht so schlecht, wie man es macht.“ „Ist er selbst dort?“ „Nein. Er lebt in Wiesbaden. Da ist es ihm am wohlsten. Vielleicht besuchen wir ihn Ostern.“ „Warum schreibt er denn gerade über das sibirische Klima?“ „Ach, das weiß ich nicht. Er will eben eine Beschäftigung haben. Warum soll er nicht über das sibirische Klima schreiben?“ Gewiß, warum sollte der Baron Müller nicht über das sibirische Klima schreiben. Niemand in der Welt erlitt dadurch einen Schaden. Leonore wurde es frech und kühn zumute. Die Iphigenia von Müller, geborene von Hunsrück, sollte sie nicht wieder küssen. Nein -- nein. -- „Ich verstehe das nicht, Iphigenia, wenn Sie doch den Baron Müller geheiratet haben, warum leben Sie denn nicht bei ihm?“ „Ich könnte, da er mit dem klimatischen Werk so beschäftigt ist, doch keinen besonderen Gewinn von dem Umgang mit ihm haben. Sehen Sie, liebes Kind, in den Kreisen, aus denen ich stamme, und die ich hasse, werden viele Konvenienz-Ehen geschlossen. Dumm und thöricht habe ich mit siebzehn Jahren geheiratet. Baron Müller ist ein Konvenienz-Mensch. Er sieht es ein, daß ich mehr Anregung brauche, als er mir zu geben vermag. Ich lebe hier in der Freundschaft zu Nacka erst meine geistige Persönlichkeit aus. Ach -- aber es ist schwer, die Freundin einer Malerin zu sein. Es ist groß, erhebend schwer. Sie opfert so viel an fremde Menschen. Ich habe Nacka so wenig. Und ich brauche sie doch so sehr. Sie ahnen nicht, wozu.“ Leonore dachte: Der Iphigenia scheint nichts in der Welt zu glücken. Sie regt sich über alles auf. Iphigenia bestätigte die stummen Gedanken sofort: „Ach, in mir sieht es oft entsetzlich aus. Laßt hoch uns denken, sagt Shakespeare, aber die Modelle untergraben mein Leben. Ich brauche doch Nacka -- es handelt sich um mein Glück.“ „Aber Anastasia kann doch nicht ohne Modell malen, und wenn Sie sie wirklich lieb haben, dürfen Sie ihr doch ihre Kunst nicht erschweren.“ „O,“ sagte Iphigenia und ihre geborgte Nase schien zornig zu den fremden Augen des Gesichts hinaufzusehen -- „O -- Sie ahnen nicht, warum ich leide. Sie ahnen nicht.“ Nein, Leonore ahnte nicht. * * * * * Vor der Tür entstand Lärm. „Teufel nocheinmal, was ist das für eine Wirtschaft? Zwei nasse Mäntel auf dem Flur. Resie -- Leni, in die Küche damit -- Herrgottdonnerwetter -- die Briefe soll ich alle lesen -- warum sind Sie nicht der Baronin gebracht worden?“ Iphigenia war schon beim Klang der ersten Worte in die Höhe gefahren. Nun stürzte sie nach der Tür. „Nackachen -- ich, ich wußte ja nicht --“ „Nu nu, mein Schaf, mach es morgen. Schreib feine Antworten mit deiner stolzen Baroninnenschrift, bist ein Hammel, sei nur still.“ Anastasia Planck trat ins Zimmer. „Guten Abend,“ wollte Leonore sagen, aber die Worte erstarben ihr auf den Lippen. War etwa Kostümfest in diesem Hause? Anastasia Planck stand in braunseidenen Pumphosen da, hatte eine ebensolche Joppe mit unendlich vielen Taschen an und um den Hals ein weißes Seidentuch. Auf dem kurzgeschorenen, weißblonden Haar saß eine Wagnermütze, die nicht ganz gut zu dem starken Gesicht kleinrussischen Typs paßte. „Was starren Sie mich denn so an, kleines Mädchen? Haben Sie mich noch nie in meinem Atelierdreß gesehen?“ schnarrte Nacka Planck in hartem Deutsch. „Nein. Entschuldigen Sie.“ „Gottvoll -- entschuldigen Sie. Na, ich habe Hunger -- können wir essen gehen?“ Iphigenia sagte schüchtern: „Die Mannsbilder von Bendler sind aber da, Nackchen. Willst du dich nicht umkleiden?“ „Umkleiden? Seh ich etwa unanständig aus?“ „Behüte!“ rief Iphigenia. „Oder geniert sich das Mädchen vom Lande mit mir?“ „Bewahre!“ sagte Leonore. „Na, so kommt. Wo sind denn die Mannsbilder?“ „Im Rauchzimmer.“ Fräulein Nacka stürzte nach der Tür. „Guten Abend, meine Herren. Pardon, ich bin im Atelierdreß. Erröten Sie nicht -- ich greife Ihre Tugend nicht an. Haben Sie auch geraucht, ja?“ Alfred Wredegast, der einen langen Gehrock angezogen hatte, verbeugte sich würdevoll. „Ich habe mir soeben die siebente genehmigt.“ „Schön von Ihnen. Und Sie, Herr Tucher?“ „Ich bin doch abstinent, Gnädigste.“ Nacka Planck schüttelte sich. „Ich achte Sie hoch, Herr Tucher, aber tun Sie mir nur die eine Liebe und sprechen Sie in meinem Hause das Wort abstinent nicht aus. Es klingt so kränklich. Sie kriegen alle Limonaden der Welt und Pfeffermünzplätzchen statt Zigarretten, aber sprechen Sie nur das Wort abstinent nicht aus. Es ist mir als ob ich auf Kröten träte. Herr Wredegast -- da bitte -- dort im Flur, dort -- waschen Sie sich die Hände -- ja -- die Tabakfinger meine ich.“ Herr Alfred Wredegast lächelte. Wie eine Spitzmaus sah er aus, wenn er lächelte -- ein wenig überlegen, ein wenig unbeholfen, ein wenig gutmütig. Er kam dann hinterdrein und setzte sich mit zu Tisch. Auf dem Tisch prangte Geschirr mit dem Wappen des Hauses Hunsrück. Das gehörte Iphigenia Müller, die es mitgebracht hatte. Es gab sehr gute Dinge, und die Herren aus der Pension Bendler schienen beschlossen zu haben, ihren Geist erst später im Salon preiszugeben. Leonore dachte: Die Anastasia Planck ist doch schrecklich nett. Trotzdem sie mitunter so schimpft und immer von Mannsbildern redet und die Iphigenia augenscheinlich so quält. Sie ist so gastfrei und so heiter. Und arbeitet doch den ganzen Tag. „Wo ist denn Anna Tröster geblieben?“ fragte Nacka. -- Ja, wo war Anna Tröster. Niemand wußte es. -- „Entschuldigen Sie mich,“ sagte Nacka, „da muß ich mal nachsehen.“ Sie lief weg und kam nach ein paar Minuten mit Anna Tröster wieder. „Lachen Sie mal die Person da recht aus,“ sagte Nacka. „Die wollte nicht kommen, weil sie nicht schon vor drei Tagen auf einer Karte eingeladen war.“ Die Tröster war ein verschüchtertes Wesen. Sie hatte schon fünfzehn Mal den Echtler kopiert, der eigentümlicherweise neben Feuerbachs Iphigenia in der neuen Pinakothek hängt. Das vertreibt den Stolz. „Aber Tröster, man muß die Feste feiern, wie sie fallen,“ sagte Wredegast und lachte gutmütig. „Ich -- ich wußte gar nicht, daß ich eingeladen sei.“ „Ja, sehen Sie, wenn Gott will, können wir auch ohne Los einen Treffer machen,“ sagte Herr Tucher. Nun aß man. Gute Dinge von schönen Tellern mit schönen Geräten. Alle waren reichlich hungrig, weil sie lange hatten warten müssen. Nur der abstinente Herr Tucher dachte an andere Dinge als Essen. Er erzählte plötzlich eine Gespenstergeschichte aus dem berühmten Spukhaus an der Potsdamer Straße in Berlin und fürchtete sich dabei so sehr, daß er nicht weiter essen konnte. Mit Augen, hinter denen Angst, Unglück, Verzweiflung lagen, sah er über den Tisch, immer gerade Leonore an. Der wurde es ganz bang, weniger vor der Geschichte als vor den trostlosen Augen des Lyrikers. „Herr Tucher,“ sagte die Planck, „Gespenstergeschichten bitte am Tag. Nur in ~plein air~, bitte. Ich brauche meinen Schlaf, ich will nicht liegen und mich fürchten. Für Sie kann das von Nutzen sein. War es nicht Lenau, der nachts sich vor Gespenstern fürchtete und dabei seinen Faust schrieb! Na, oder wer es sonst war -- jedenfalls kein Maler.“ „Aber das Übersinnliche,“ wagte Herr Tucher zu sagen, „das Transzendentale ist doch ein notwendiger Bestandteil jeder wahren Kunst.“ „Wir essen jetzt, Herr Tucher,“ wiederholte Anastasia mit Nachdruck. Leonore lächelte. Sie sagte ein wenig geniert, aber doch ganz munter: „In meiner Malklasse ist eine Pfarrerstochter von hier. Wir malen ja sonst immer Stilmuster oder Farbenexperimente, aber vor Weihnachten erlaubt der Lehrer, daß man Kleinzeug zum Verschenken herstellt. Da malt nun die Pfarrerstochter Suppenteller für ihre Familie. Und auf die schreibt sie: ‚Dein Wort sei meine Speise‘.“ „Auf Suppenteller, o Gott!“ Sie lachten alle. -- „Leonorchen, das haben Sie niedlich erfunden.“ „Aber es ist ganz gewiß wahr,“ ereiferte sich Leonore -- „wir jubeln schon alle, wenn sie ihre Teller auspackt.“ Die Baronin Müller erzählte in Hast: „Die Frau Großherzogin von Baden hat viele Frauenarbeitsschulen gegründet, und wenn die Mädchen austreten, bekommen sie ein Wandschild zum Andenken, auf dem steht: ‚Die Hand bei der Arbeit, das Herz bei Ihm.‘ Ihm ist groß geschrieben -- aber die Mädchen meinen doch, sie brauchten kein Schild, das zu wissen.“ „Und in der evangelischen Mädchenherberge,“ sagte Herr Wredegast, „da hängen Schilder in den Schlafräumen, auf denen steht ‚Ich harre des Herrn‘.“ Nacka Planck sagte: „In meinem Hause wird die Religion nicht verspottet. Bitte sehr. Ich bin griechisch-katholisch, und in meinem Hause brennt eine ewige Lampe.“ „Unter dem Bild der Madonna. Unter Murillos Immaculata. Madonna Immaculata. O, ich verstehe, daß Ihnen die Religion heilig ist. Eine rote ewige Lampe unter dem Murillo. Sie haben Stilgefühl, Nacka Planck.“ Mit einer langsamen sanften Stimme sagte das Alfred Wredegast, und er sah Nacka Planck dabei an. Ihr schien dieser Blick Unbehagen zu machen. Sie erhob sich. Die Baronin aus Berlin teilte Händedrücke und Gesegnete Mahlzeiten aus. Leonore wußte nicht, war das Gesegnete Mahlzeitsagen eine Freundlichkeit oder eine Höflichkeit. Die Nacka Planck kam zu ihr, sah sie sanft und liebevoll an und sagte ruhiger als sie sonst sprach: „Gesegnete --“ „Mahlzeit,“ ergänzte Leonore, obwohl sie das Wort allein abscheulich fand. „Ich komme aber schlecht weg bei dem Dialog, Leonore.“ Draußen klingelte es. „Es wird Professor Freyer sein,“ sagte Nacka, „bitte kommen Sie herüber in den Salon.“ Sie ging selbst in den Flur, Freyer zu begrüßen. Freyer las Kunstgeschichte. Leonore besuchte seinen Damenkurs. Sie kannte den Professor schon lang persönlich -- er kam oft zu Planck und Müller. Er trat jetzt hinter Nacka ein. Der Lyriker und der Romancier schienen klein und schwächlich neben dem hochgewachsenen Mann. Ihre Gesichter dekadent neben seinen kräftig ausgebildeten, stark modellierten Formen. Man plauderte eine Weile. Dann gerieten plötzlich Planck und Wredegast contra Müller und Tucher in einen heftigen Streit. Ihre Worte flogen, ihre Zigaretten sprühten Feuer. Es war etwas um die Frauenbewegung. Professor Freyer ging zur Leonore, die ein wenig allein an einem Fenster saß. „Fräulein Leonore,“ sagte er, „haben Sie Lust, morgen mit nach Nymphenburg zu gehen? Die Frau Baronin kommt auch mit -- ich habe noch ein paar junge Leute dabei, die das Schloß ansehen wollen. Es ist Samstag, dann haben Sie doch nachmittags frei?“ Leonore bejahte freudig. Der Professor blieb noch neben ihr sitzen. „Ich höre Sie so gern thüringern,“ sagte er, „erschrecken Sie nicht, Sie sprechen gewiß ganz unauffällig. Nur ein geübtes Ohr hört den Thüringer Klang heraus.“ „Haben Sie Thüringen lieb, Herr Professor?“ „Ja,“ sagte er, „denn ich kenne es. Erzählen Sie mir doch ein wenig von Ihrer Heimat.“ Sie tat es unbefangen. Nach einer Weile verabschiedete sich der Professor. Tucher schloß sich ihm an, er wollte noch ins Nachtcafé; auch Wredegast. Die stumme Tröster war schon früher gegangen. Leonore hielt man noch zu bleiben. Sie wehrte sich, aber Nacka Planck erlaubte nicht, daß sie ging. Nacka Planck holte eine Gedichtsammlung und las vor, Schönes und Banales wahllos durcheinander. Alles aber war von großer Heftigkeit des Empfindens, und Iphigenia von Müller verschlang die Leserin mit den Augen. Warum muß nur ich dabei sitzen? dachte Leonore. Taumelnd vor Müdigkeit stieg sie nach Mitternacht die Treppe hinauf. Da stand Alfred Wredegast noch auf dem Korridor. Sie dachte: er ist wohl eben heimgekommen. Er ging an ihr vorbei, sah sie an und sagte im Vorbeigehen ganz unpersönlich, sehr sanft und sehr eindringlich geradeaus in die Luft: „Bleiben Sie nie allein dort unten, Fräulein Leonore. Nie allein! Sie gehören nicht zu diesen Damen.“ * * * * * Leonore arbeitete in dem Atelier des „diplomierten königlichen Porzellanmalers“ Fockendanz. Sie hatte gar nicht gedacht, daß es an einer Sache, die doch nur ein besseres Handwerk war, so lange, so viel zu lernen gab. Seit sie allerdings im Erdgeschoß der neuen Pinakothek die Porzellankopien der Schönheitsgalerie (einer Laune des Königs Ludwig I.) gesehen hatte, begriff sie: bis man ein solches Porträt den Tücken des Brandes, der Unberechenbarkeit mancher Erd- und Metallfarben abgewann, konnte man jahrelang lernen. Sie wollte ja das nicht. Aber wenn sie wollte, daß sie einst aus diesem Handwerk einen Lebensberuf, als Lehrerin etwa, machte, müßte sie es mit Methode treiben. Die alten „Dekors“ von Meißen, Sevres, Wedgewood, Nymphenburg, Berlin, Kopenhagen, Delft, Japan waren schließlich nur ein unerläßlicher Grundstock, der einem geläufig sein mußte, wie das Einmaleins. Dazwischen gab es eine Menge von mehr verschollenen Stilarten, die nur irgend jemand wieder in Mode bringen mußte: die alten bäuerlichen Stücke aus Feuerbachs Porzellanfabrik in Bruckberg, die Sachen in Glastönen, die Ornamente, Altäre, Urnen, Opfersteine und Gestalten des Empire, dann die moderne Linienführung in van de Veldescher Art. Freilich zum Neu-Schöpfer wird der selten, der den langen Weg historischer Entwicklung durchlaufen hat. Aber es war ja nicht ihr Ehrgeiz, eine Revolution auf dem Gebiete des Porzellandekors hervorzubringen. Ach Gott nein -- nein. Leonore wusch ihre Pinsel in Terpentin aus, machte sie sorgfältig trocken und gab ihnen dann ein wenig Mandelöl, denn das Terpentin schadete den Marderhaaren, und die waren von großer Kostbarkeit. Die Wortspeise, wie man abkürzend jene Pfarrerstochter mit den Suppentellern nannte, pinselte immer noch an den Passionsblumen eigener Zeichnung. „Nun, Fräulein Eichhorn, müssen Sie heute noch fertig werden?“ Fräulein Eichhorn benutzte die Ansprache, um etwas, das sie auf dem Herzen hatte, anzubringen. Ob Leonore sich nicht an den sonntäglichen Kindergottesdiensten beteiligen wolle. Es fehle an Kräften, besonders, seit irgendeine Dame die Stadt verlassen habe. „Herr Kandidat Auerochs hält die Vorbereitung; wenn Sie sich anschließen wollten, Fräulein Wolfferstorff, ich gehe direkt von der Stunde aus in die Vorbereitung. Herr Kandidat Auerochs ist gerade bei der Aussetzung des Moseskindes, und was Ihnen von der Schöpfung bis dorthin fehlt, wird gewiß Herr Kandidat Auerochs so gut sein mit Ihnen durchzugehen, wenn Sie ihn darum bitten.“ Aber Leonore hatte keine Neigung, den unbekannten Kandidaten Auerochs um etwas zu bitten. „Ich eigne mich nicht dazu, Fräulein Eichhorn,“ sagte sie freundlich. „Das dürfte doch erst Herr Kandidat Auerochs zu entscheiden haben, ob Sie sich eignen, Fräulein Wolfferstorff. Da wir so Mangel haben, wird er vielleicht an Ihrem kurzem Haar keinen Anstoß nehmen.“ O nein, Herr Kandidat Auerochs sollte nichts über Leonore zu entscheiden haben. -- „Ich danke Ihnen, Fräulein Eichhorn. Ich habe eine etwas andere Richtung, wenn Sie erlauben.“ Fräulein Eichhorn sah Leonore kühl und verächtlich an. „Ich hielt Sie für ernst gesinnt,“ sagte sie achselzuckend. „Ernst gesinnt? Was meinen Sie damit? Halten alle ernstgesinnten Menschen Kindergottesdienste?“ -- Und sie dachte an jene Clemence, die apart und leer gewesen war, Kindergottesdienste hielt und einen lachenden Gestütsdirektor geheiratet hatte. „Ernst gesinnt sein, heißt, sich zur Kirche halten und seine schwache Kraft in ihren Dienst stellen.“ „Glauben Sie, daß schwache Kräfte Ernst in sich haben?“ „Wenn nur die Gesinnung ernst ist, die Kraft mag dann auch schwach sein.“ „Kraft heißt doch Stärke. Wie können Sie das Allerpositivste immer zu etwas Relativem machen? Kraft oder Schwäche -- aber nicht schwache Kraft und starke Schwäche.“ Eine muntere Blondine rief aus einer Zimmerecke herüber: „O, Fräulein Leonore, ich fürchte, ich fürchte, wir haben beide eine starke Schwäche -- und zwar für Zigaretten.“ Leonore hielt es sogleich mit der Blonden, die sie auslachte. Es ist schöner, über jemandes Eifer beruhigend zu lachen, als ihn an dem Sterilen zu erhitzen. Aber weil Leonore nicht eine so selbstgerecht-hilflose Eichhornin kränken wollte, sagte sie noch einmal: „Seien Sie heilfroh, daß ich nicht mitkomme. Ich würde die einige Gemeinschaft sehr stören.“ Doch Fräulein Eichhorn packt heftig ihre Sachen ein und hörte nicht mehr auf Leonore. Die ging mit der Blonden ein paar Straßen weit. Dann war Leonore allein. So einen warmen Dezembertag hatte es schon lange nicht gegeben. Man konnte sich beinahe in den Englischen Garten setzen. Hei, das mußte fein in Nymphenburg werden. Die Baronin Müller ging mit. Was hatte wohl Wredegast mit den sonderbaren Worten gestern abend gemeint? Wie? Vielleicht hatte die Baronin wirklich eine Mundkrankheit -- nein, sie sollte sie nicht wieder küssen. Als Leonore die Treppe hinauf kam, hörte sie Wredegast eifrig mit der „Beamtenswitwe“ Bendler sprechen. Er redete ganz aufgeregt. Sie hörte: „Frau Grenzoberaufseher zu Pferd, mein Ofen riecht, als ob man ein Dienstmädchen darin verbrannt hätte -- ein Dienstmädchen samt all seinen Küchentoiletten.“ „Jesmaria nd Joseph, a Dienstmädel is verbrennt? Mit die Kleider?“ „Nein, es riecht bloß so, mein Ofen riecht so. Die Theres hat ihn mit einem alten Unterrock angezündet, ich schwöre.“ „Die Theres hat an Unterrock verbrannt, schämas Ihnen, Herr Wredegast -- daß Sie so was wissen.“ „Es riecht so,“ rief Wredegast immer aufgeregter. -- Leonore kam lachend auf den Flur. Alfred Wredegast nötigte sie in sein Zimmer. „Ich kann diesen verbrannten Dienstmädchengeruch nicht aushalten. Ich bin doch nicht Zola, dem es wohl dabei wäre.“ Die Bendler schnüffelte. „Also, wer das da riecht -- no, ich sag nix. Es ist ein Ofen, der schon Jahr lang seine Dienste tut -- Jahr lang, sag ich.“ Leonore untersuchte das eiserne Unglück. Es steckte über und über voll Asche, und der Rauch quälte sich durch einen Sprung im Gußeisen. Man holte die noch vorhandene Therese (gesprochen Deeres). Der Schaden wurde geordnet. Aber während des ganzen Mittagessens redete Wredegast davon. Er fürchte sich vor seinem Zimmer, er könne das verbrannte Dienstmädchen nicht mehr riechen. Es peinige ihn. Er habe im Pitaval gelesen -- und nun folgte eine Geschichte nach Frau Bendlers Herzen. Wredegast lief Leonore zu Planck-Müller nach. Er wolle eingeladen sein, mit nach Nymphenburg zu gehen, er könne nicht bei dem verbrannten Dienstmädchen bleiben. -- Freyer kam allein. Seine Begleiter seien abgehalten worden. Da war es allen lieb, daß Wredegast mitging. Als Dritte fühlte sich Iphigenia von Müller nie wohl. -- Ein weißes hohes Schloß -- ein ungeheures Rondell durch weiße Häuser darum gebildet. Die Häuser haben zuweilen das gebrochene französische Dach, vornauf den griechischen Giebel. Es ist sehr still da, und nur die Distinktion aller Linien und Flächen bewahrt den Platz vor dem Eindruck der Öde. Man geht durch den offen gehaltenen Teil des Erdgeschosses vom Schloß. An breiten Freitreppen vorüber. Da ist ein weiter Garten. Ein Wasserbecken mit steinernen Bildern ringsum. Hohe Bäume zur Seite. Leonore war entzückt. Sie ließ sich von dem Professor die Entstehungsgeschichte des Schlosses erzählen. Ließ sich weiter in den Park führen. Wredegast ging andere Wege mit Iphigenia Baronin Müller. Da war ein griechisches Tempelchen hinter einem Teich. „Ein Freundschaftstempel,“ sagte Freyer. „Das waren schöne Zeiten, als man sie baute. Heute gibt es keine Freundschaften mehr.“ „Wie?“ sagte Leonore heftig, „heute gibt es keine Freundschaften mehr?“ „Haben Sie denn eine Freundin?“ „Nein -- einen Freund.“ „Erzählen Sie mir doch.“ Und sie erzählte von Vitus Kelt. Warm, herzlich erzählte sie von Vitus Kelt. Auch von Dankmar Kurtzen und Klemens. Aber das waren doch mehr Gespielen gewesen. Ein wirklicher Freund blieb nur Vitus Kelt. Ernsthaft hörte der Professor zu. Sie nannte in ihrer Erzählung auch Kapellendorf. Er bat sie, wieder ein wenig von der Heimat zu sprechen. Und sie vergaß ganz, daß sie als kleine Schülerin mit einem berühmten Professor ging -- sie redete wie mit einem Kameraden. Immer mehr wollte Freyer wissen, es wurde schließlich Leonores Familiengeschichte daraus. „Sie haben mich überzeugt, Fräulein Leonore, Sie verzeihen, der Name ist so schön, man spricht ihn so gern aus, ich darf doch so sagen? Oder ist er nur für Ihre Freunde?“ Richard Freyer beugte sich ein wenig herunter. „Dann lassen Sie mich so sagen, wie Ihre Freunde Sie nennen! Ja, Sie haben mich überzeugt, daß es noch Freundschaften gibt.“ Wredegast und die Baronin Müller kamen herzu. Sie hörten das letzte Wort. Iphigenia griff es lebhaft auf. „Wir leben ja in einem neuen Zeitalter der Freundschaften, lieber Professor. Sehen Sie sich doch nur unter den jüngeren Menschen um. Die besten, die feinsten unserer Jugend sehen ihr höchstes Gefühl in der Freundschaft. Ist es nicht so, Herr Wredegast?“ Der nickte. „Unsere Zeit hat nur herbere Formen als die sentimentale Freundschaftsepoche des vorigen Jahrhunderts.“ Freyer strich seinen kurzen, eckig sich zuspitzenden Vollbart. „Ich habe wohl ein wenig zu lange über Büchern gesessen und kenne die Zeit nicht mehr.“ Er blieb an Leonores Seite. Er sprach von seiner Studentenzeit -- von Jahren voll Not und Freude in Berlin. Ja, und lange sei seine Frau tot. Viele Jahre. Kinder hatten sie nicht gehabt. So lange die Frau lebte, wäre es sehr gesellig bei ihnen gewesen. Seitdem lebe er nur der Wissenschaft -- ja, und als Hochschullehrer käme er ja viel mit der Jugend zusammen -- aber es sei doch eine Trennung; wenn man auch Vertrauen erführe, ein gewisser Rückhalt bliebe doch. Leonore ließ sich das in Ruhe erzählen. An einer Haltestelle verabschiedete sich Freyer. -- Die Baronin von Müller forderte im Hause Leonore auf, den Tee mit ihr zu trinken. Ob auch Wredegast Lust habe? O gewiß, ja. Iphigenia von Müller eilte heftig, ziellos im Salon umher. Sie suchte im Bücherschrank nach Kakes, im Schreibtisch nach Tassen, besann sich aber dann, daß sie nach alledem ja nur zu klingeln brauche. Nachdem sie sich dazu entschlossen hatte, kam der Tee zustande. Iphigenia redete noch von Freundschaften. O, es wäre ja wunderschön, wenn Leonore sich mit Freyer befreunde. Ein solcher Charakter, ein solcher Gelehrter, ein Kind, eine Seele von einem Menschen. Ja, sie würde sich herzlich freuen, sie würde sagen, das ist wohlgetan, wenn Leonore wirklich einen wahren Freund in Freyer fände. Und Nacka, auch sie würde es reizend finden. Und ob es nicht auch Herr Wredegast -- „Herr Wredegast, Sie sagen gar nichts. Und es ist doch etwas so wahrhaft Seltenes, Schönes -- denken Sie doch nur an Wilhelm von Humboldt und die Briefe an eine Freundin --“ „Sie sind nicht amüsant,“ sagte Herr Wredegast. „Wie?“ „Die Briefe,“ wiederholte der junge Mann bedächtig. Iphigenia Baronin Müller war seit Jahren bemüht, seit sie unter Künstlern lebte, die Gewohnheiten ihrer Art abzulegen. So vor allem, sie erwartete auch Antworten. „Was würden Sie sagen, wenn Freyer und Leonore Freunde würden?“ Alfred Wredegast lächelte, sah wie eine Spitzmaus aus und sagte leise und melancholisch: „Oh Maria Stuart, würde ich sagen.“ Leonore saß und aß Kakes, denn sie war hungrig. Auch wurde man nicht geküßt, während man aß. * * * * * Der Winter war schon weit vorgeschritten, und Leonore hatte das Einmaleins der historischen Porzellandekors schon mit der Sicherheit des Jongleurs in den Händen. Eigentlich hätte sie Ostern nun nach Hause gehen können. Aber alle redeten ihr zu, noch ein wenig „zu studieren,“ -- und sie fand es selbst schön, in dieser Stadt der Anregungen noch den Sommer über zu bleiben. Vorerst war es ja immer erst Februar. Wredegast und Tucher fanden es nicht gut, daß Leonore nur ein schlichtes Kunsthandwerk trieb. Sie vermuteten unentwegt eine selbständige Künstlernatur in ihr und waren der Meinung, sie dürfe jetzt nicht draußen auf dem Lande Stunden geben und Tassen und Vasen malen. Herr Tucher behauptete, Leonore vermöchte zu dichten, Herr Wredegast sah ein Bühnentalent in ihr. Sie ließ sich aber nicht verführen, Gedichte zu machen oder Rollen zu lernen, sondern arbeitete tapfer und brav im Atelier des königlich privilegierten Porzellanmalers Fockendanz weiter. Herr Wredegast aber wollte ihr das herrliche Leben der Bohême zeigen. Hier bei Bendler mußte man ja leben, als wollte man einst „Keeniglicher Biamter“ werden -- und bei Planck-Müller war eigentlich ein feudaler Haushalt. Leonore möge doch einmal mit in ein Nachtcafé kommen -- dort, wo alle Berühmtheiten aus der Jugend, dem Simplicissimus und der Sezession zu sehen wären, würde sie den Reiz des Künstlerlebens begreifen lernen. Er sagte das im Salon Planck-Müller zu Leonore, und Planck-Müller waren bereit, sich auch einmal einen Abend lang wieder zur Bohême hinab zu neigen und mit in das Café Simplicissimus zu gehen. Man brach denn um zehn Uhr auf, durchwanderte zugige, eiskalte Gassen und kam endlich in ein Lokal mit rot erleuchteten Fenstern, aus dem schon auf die kalte Gasse heraus ein quälender Lärm drang. Wredegast führte seine drei Damen durch nebeldicken Rauch zu einem Tisch. Nach einer Weile vermochte Leonore auch zu sehen, und sah viele Tische voll Herren und phantastischer Damen. Ein Klavierspieler, den man Herr Professor nannte, wimmerte La Paloma herunter, ein Herr spielte dicht daneben auf einer Ziehharmonika ein ganz anderes Stück, eine dritte Melodie klang von einer Querpfeife aus der Ecke, und am Tisch neben den Neuangekommenen versicherte eine Dame in Schwefelgelb sehr kläglich aus ihrer Betrunkenheit heraus, daß sie einst ein Kind von fünfzehn Jahren war. „Hier werden Kulturwerte geschaffen,“ sagte Herr Wredegast melancholisch und dabei wie eine Spitzmaus lachend, und er winkte der Kellnerin. Das war eine stattliche Dame, vielleicht dreimal ein Kind von fünfzehn Jahren -- sie begrüßt Herrn Wredegast -- und dann leuchteten plötzlich ihre Augen auf: „Hab’ ich die Ehr’, Freiln Planck, gnä’ Freiln?“ Anastasia Planck rief munter: „Ah, Katti Kipferl, wie geht’s?“ „Ich danke der Nachfrag’, gut. Und Ihnen -- ach ’s ist lang, wissen Sie noch gnä Freiln, in der Isarau -- das waren Zeiten.“ Nacka Planck erinnerte sich. „O ja, Katti Kipferl, sagen Sie mal, was ist denn da aus der Kleinen geworden, wissen Sie, die mit den sanften Rehaugen, die so jung war?“ Katti Kipferl nahm eine wehmütige Haltung an. Sie sagte, als spräche sie Unaussprechbares: „Is a Wassermädel worn, gnä Freiln, im Stephanie a Wassermädel.“ Leonore begriff nichts. Anastasia wiederholte jetzt voll Trauer, wie wenn es sich um eine Wasserleiche handelte: „Ein Wassermädel. So.“ „Ja,“ stöhnte Katti Kipferl, „no ja, wie’s halt geht -- hat a Kloans g’habt -- ja, wenn mers so bedenkt, a Wassermädel!“ „Schrecklich,“ sagte Nacka und ihr Gesicht verzog sich wie in Gram. Im selben Augenblick schüttelte sie sich: „Katti, bitte, eine Heidsieck -- trocken.“ „Sogleich, gnä Freiln.“ Auch Katti verlor in Sekundenschnelle die Melancholie und eilte nach Sekt. „Und Zigaretten,“ rief die Planck. Der Klavierspieler wimmerte immer noch La Paloma. „Herr Wredegast, bitte -- sagen Sie doch dem Kapellmeister, er soll die schöne blaue Donau spielen, und bestellen Sie ein Viertel Wein für ihn -- wenn er es lieber in Geld hat, auch recht.“ Herr Wredegast war kaum enteilt, als schon die blaue Donau klang. „Und sonst was Hübsches,“ rief die Planck, „die Alpenkönigin, das Edelweiß. Kommt, Kinder, wir wollen lustig sein -- hierher Katti Kipferl -- so -- gut -- trinkt Kinder, wir wollen lustig sein -- so ein Walzer, der macht Erinnerungen --“ Sie stieß Leonore an. „Leonore gehen Sie doch aus sich heraus -- gehn Sie aus sich heraus.“ Alfred Wredegast brachte einen Herrn. Er hatte Lieder aus dem Rinnstein gedichtet und war sehr berühmt. Er redete mit Leonore. „Sie sind Thüringerin?“ „Ja.“ „Aus welchem Ort denn?“ „Kapellendorf bei Weimar.“ „So so. Aus klassischen Landen. Hm. Wieviel Einwohner hat denn dieses Weimar?“ „Dreißigtausend.“ „So. Ist auch Militär dort?“ „Ja.“ „Husaren?“ „Ich weiß nicht.“ „Leonore,“ flüsterte Nacka Planck, „gehn Sie doch aus sich heraus.“ Aber der Dichter hatte schon genug. Die Baronin Müller redete von der anderen Seite heftig auf ihn ein. Es kam noch ein Herr. Von dessen Genie wurde erst das Weltumstürzende erwartet. Er konzentrierte sich noch. Auch er redete zuerst mit Leonore, was sie sehr unhöflich fand, da doch die reifern Damen zunächst zu bedenken waren. Der sich konzentrierende Herr fragte: „Kommen Sie oft hierher, gnädiges Fräulein?“ „Nein, zum erstenmal.“ „Dann haben Sie noch keinen Kummer gehabt?“ „Wieso denn?“ „Wir gehen hierher, wenn wir Kummer haben.“ „O, hierher?“ „Wir zerstreuen uns. Äußerlich -- und innerlich feiern wir den Kummer. Wo gehen Sie hin, wenn Sie Kummer haben?“ In den Garten -- in den Wald, wollte Leonore sagen, aber es fiel ihr ein: hier hatten ja die Leute weder Wald noch Garten. Nacka mischte sich rettend ein. „Wenn man Kummer hat, Herr Strom, wenn man Kummer hat und so ganz allein und verlassen sich fühlt -- man trinkt Sekt, Herr Strom -- oder, was besser ist, man fährt mit dem ~D~-Zug tausend Kilometer. Irgendwo ist ja doch immer jemand, der uns liebt.“ „Irgendwo ist ja doch immer jemand, der uns liebt,“ wiederholte Herr Strom. „O, nur wissen wir es oft nicht.“ „Das ist es,“ wiederholte Wredegast. „Wir wissen es oft nicht. Wir ahnen es nur.“ Es waren alle sehr erschüttert, daß irgendwo Menschen waren, die sie liebten und sie wußten es nicht. Sie ahnten es nur. Die Schwefelgelbe nebenan schrie plötzlich auf Wedekindisch: „Ich hab’ meine Tante geschlachtet, meine Tante war alt und schwach.“ „Sie hat einen großen Kummer,“ belehrte Herr Strom -- „sie sucht Lethe. Da brüllt sie, daß sie ihre Tante geschlachtet hat. Ach, wenn es nur das wäre, woran wir leiden!“ „Pfui Teufel!“ rief Nacka Planck, „ein so plebejischer Kummer wie ein Tantenmord -- nein, da gehört man ins Kriminal.“ „Es war vielleicht ein Kindesmord“ -- sagte Herr Strom sanft -- und sah traurig auf die Schwefelgelbe. Ein Kindesmord? -- Man vergaß einen Augenblick zu rauchen und zu trinken. „Ja, sind wir nicht Herren über Leben und Tod!“ fragte Strom. „Darf der Schöpfer nicht auch Vernichter sein? Ich kann das Werk meines Geistes, das Primärste, was ich hervorbringen kann, verbrennen. Warum soll nicht das Sekundäre, das Kind, meiner Gerichtsbarkeit unterstehen? Erst in dem Augenblick, wo sein Geist oder seine Seele mündig, produktiv geworden ist, beginnt sein Eigenleben. Bis dorthin ist es mein Sklave.“ Die Planck schwieg. Die kühnsten Revolutionärinnen, die das Mannsbild so von Herzen hassen, werden oft sentimentalisch, wenn sie von kleinen Kindern hören. Plötzlich fragte Herr Strom souverän nach Nacka Plancks Herkunft. „Sind Sie Jüdin?“ fragte er. Nacka Planck schnellte fast in die Höhe. „Jüdin? Griechische Katholikin bin ich.“ „O,“ sagte Herr Strom mitleidig -- „ich meine nicht die Konfession -- ich meine die Rasse. Sie können so furchtbar traurig aussehen, wie es eigentlich nur die Möglichkeit der Semiten ist. Es würde mich nicht wundern. Sie haben eine so merkwürdige Anziehung -- nur Wesensfremde, Heterogene ziehen sich in dieser Weise an.“ Nacka Planck sagte etwas gereizt, es wäre gewiß sehr amüsant, wenn jeder diese Nacht seine Familiengeschichte erzählte, aber man müßte jetzt doch bald nach Hause. Im übrigen, sie sei rein arischer Abkunft. Worauf Herr Strom sich verabschiedete. Aber Wredegast wollte noch nicht gehen. Er wiederholte das Wort des Bekannten: Irgendwo liebt uns immer jemand, und wir wissen es nicht. Und er erzählte eine Geschichte. Er war in Norwegen gewesen und hatte acht Nächte nicht geschlafen. Acht Nächte lang hörte er den Sturm flüstern: komm zu mir. Bis er endlich, wie von einem Dämon getrieben, nach Berlin zurückreiste, wo er damals studierte. Und da hörte er: ein junges Mädchen, eine Bildhauerin, die ihn geliebt hatte, der er Kamerad gewesen war, hatte Gift genommen. Und acht Tage und Nächte litt sie daran, bis sie endlich tot war. Und ihre Freunde hatten sie immer flüstern gehört: komm zu mir -- komm zu mir! Komm zu mir, komm zu mir, sagte sie mit ihrer armen, zerbrochenen Stimme. Und die andern vergingen vor Kummer, und niemand wußte, wen man rufen sollte. Niemand wußte es. Und sie konnte den Namen nicht mehr sagen. Niemand konnte ihr helfen. Und ich hörte acht Tage lang den Wind flüstern, komm zu mir, komm. Und erst als sie tot war, fanden sie einen Brief an mich. O, ich kann nicht weiter sprechen, ich darf nicht an den Brief denken, er zerreißt mir das Herz. Und Alfred Wredegast wurde bleich -- und Leonore dachte, wie sehr er leidet. Nebenan brüllte kreischende Musik. Nacka Planck starrte Wredegast an. Ihr Gesicht war verzogen vor Gram. Sie drückte die Hände vors Gesicht, ließ sie sinken und sagte mit tiefer Stimme: „Was Sie uns da erzählen, Herr Wredegast, bewegt mich tief. Ja, es bewegt mich tief, Herr Wredegast.“ Sie schüttelte sich -- rief in einem Atemzug mit hellem Ton, mit frohem Gesicht: „Katti Kipferl, zahlen!“ Man ging. Leonore war es ganz wirr im Kopf. Sind es alle Komödianten? dachte sie. * * * * * Am andern Tag bat Iphigenia um Leonores Besuch. Sie sei krank, sie habe Migräne, sie fürchte sich. Nackchen wäre im Atelier -- Nackchen hätte ja nie Zeit für sie. Und sie fühle sich erbarmungswürdig. Ob Leonorchen denn nicht etwas bei ihr bleiben möchte. Gewiß, Leonorchen wollte bleiben, wenn die Baronin doch so krank war. Die Baronin legte sich auf einen Diwan und ließ sich mit Decken und Kissen einbauen. Dann besann sich Leonore, was es für Mittel gegen Kopfschmerzen gibt, und zählte sie auf: Riechsalz, Brausepulver, Magentropfen, heiße Umschläge, Zitronensäure äußerlich und innerlich, ferner Kaffee, ein stark kohlensaures Getränk, oder aber ein Apothekermittel: Koffein, Migränin, Antipyrin, Aspirin, Phenazetin, Zitrophen, Morphium. „O Gott,“ fragte Iphigenia ganz erschüttert, „woher wissen Sie denn so viele Mittel?“ „Meine Großmutter leidet an Migräne.“ „Ihre arme Großmutter leidet an Migräne? Wie schrecklich. Das kehrt nämlich sehr oft bei den Enkeln als Geisteskrankheit wieder. Ja, oder als eine für die betreffende Rasse ungewöhnliche Erhöhung der psychischen und intellektuellen Kräfte.“ „O,“ sagte Leonore, der der Wahnsinn noch den Beigeschmack des Genialischen oder mindestens Interessanten hatte -- „wirklich, ist das so?“ Die Baronin Müller gab eine etwas phantastische physiologische Erklärung. Immerhin, Leonore bewunderte dieses Wissen und fand es anziehender als Zärtlichkeiten. Die Baronin beschäftigte sich aber wieder mit den eigenen Kopfschmerzen -- wünschte es mit Zitrone zu versuchen, und Leonore wandte das Mittel an: äußerlich Befeuchtung der Kopf- und Stirnhaut mit Zitronensaft, innerlich Zitronensaft in Brausepulver. War es nun das Mittel, war’s der Glaube, bald fühlte sich Iphigenia wohler. „Was sind Sie für ein liebes Kind, Leonorchen, Nacka hat für solche Dinge gar kein Verständnis. Sie ist nie krank, außer beim Zahnarzt hat sie noch nie Schmerzen gehabt, und sie rät immer Spazierengehen gegen Migräne. Ja, in einem Zustand, wo jeder Schritt eine Qual ist, rät sie Spazierengehen!“ „Sehr gesunde Menschen verstehen Krankheiten gewöhnlich gar nicht. Sie haben eine Art Haß dagegen. Haben Sie das noch nicht bemerkt, Iphigenia -- so ganz gesunde egoistisch-starke Menschen wenden sich immer von Kranken ab. Kopfschmerzen sind ja nun keine Krankheit. Aber diese egoistisch Starken fühlen Kranke wie Feinde, oder wie Minderwertige. Sie gehen sie nichts mehr an.“ Iphigenia dachte nach. Leonore schaute sich so lange in dem Schlafzimmer um. Es war zugleich Ankleideraum -- und alle Einrichtungen für eine raffinierte Reinlichkeit standen zur Schau. Ein Waschtisch mit warmer und kalter Leitung -- der Boden darunter mit Zinkblech ausgeschlagen -- mit Abflußröhre. Ein Sortiment von Schwämmen, Frottierlappen, Handtüchern, Bürsten und Seifen, und Toilettewässer wie ein Regiment Soldaten. Alle Javole und Odole der Welt -- ein Kamm- und Bürstenlager -- gerade, gebogene, gekrümmte Zahnbürsten, Zungenkratzer zur Wahl, eine vielteilige Nagelgarnitur -- das alles stand blitzblank da. O, man konnte beruhigt sein, Iphigenia pflegte ihren Körper -- aber wenn sie jeden Morgen, Mittag und Abend mit sechs Zahnbürsten in den Mund fuhr, gewiß zerriß sie die Lippen damit. Iphigenia war mit dem Nachdenken fertig. Sie sagte: „Leonore, Sie sind sehr klug für Ihre Jugend. Was Sie da von Gesunden und Kranken sagten, leuchtet mir sehr ein. Kommen Sie doch her zu mir, liebes Kind, setzen Sie sich zu mir auf die Ottomane. So -- so ist es gut. Geben Sie mir Ihre Händchen --“ „Es ist eine Hand,“ lachte Leonore. „Nummer 6½. Es ist wirklich eine Hand.“ „Also die Hand, wenn Ihnen das besser gefällt.“ Plötzlich weinte die Baronin. Weinte und drückte sich an Leonore. „Ich bin so unglücklich, Leonore, so schrecklich unglücklich.“ „Aber, liebe Iphigenia -- was ist denn? Soll ich Anastasia rufen? Haben Sie schlechte Nachrichten von dem Baron?“ „O nein -- nichts von beidem. Bleiben Sie -- Kind, gehen Sie nicht fort. Es ist -- ich fühle, wie Nacka von Tag zu Tag kälter gegen mich wird -- wie sie meiner überdrüssig wird. Ja, und einmal, da hatte sie Freundschaft für mich. Und nun -- was hat sie Ihnen gesagt, Leonore, was hat sie Ihnen gesagt?“ „Ob ich sie heute besuche, hat sie mir gesagt, sonst nichts.“ Die Baronin seufzte: „Es ist also so weit, daß sie gar nicht mehr von mir spricht. Ich existiere nicht mehr für sie.“ Alles wird Frau von Müller zum Unglück, dachte Leonore, und sie sagte: „Wir wissen es doch, daß Nacka Sie sehr gern hat -- man sieht es doch aus Ihrem ganzen Zusammenleben -- aus Ihrer gemeinsamen Lebensführung -- man fühlt es an dem Behagen, das von Ihrem Heim ausgeht.“ „Wie hübsch Sie das sagen, liebes Kind. Man könnte es fast glauben. Aber Sie täuschen sich. Ach, es ist nicht mehr wie früher. Hören Sie -- ich glaube, sie will mich forthaben. Ich langweile sie mit meiner Eifersucht.“ „Dann würde ich nicht mehr eifersüchtig sein, Iphigenia.“ „Dann würden Sie nicht mehr eifersüchtig sein? O, liebes Kind, waren Sie jemals eifersüchtig?“ Leonore dachte an den Tierarzt, an den Vetter Paul. War das Eifersucht gewesen? Wohl nur Enttäuschung. „Ich war ein Kind,“ sagte sie. „Was weiß ein Kind.“ -- Leonore redete wie ein alter Weiser: „Es gibt gewiß oft Differenzen zwischen zwei so verschiedenen Naturen, wie Sie und Anastasia sind. Ist das nicht einfach Naturnotwendigkeit? Sie sind beide so temperamentvoll -- und das lieben Sie gewiß auch aneinander. Man hat seine Freunde doch so lieb, wie sie sind.“ „Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß man an seinen Freunden auch die Untreue lieben soll?“ Leonore dachte: Untreue Freunde -- waren das Freunde? Oder ist es natürlich, daß alles sich ewig wandelt? Sie und Vetter Klemens, als er sie damals hier mit Dankmar besuchte, hatten sich doch jetzt gar nichts mehr zu sagen gehabt -- es ist die Zeit, die Entwicklung, die die Menschen auseinander bringt. Man hat sich nichts mehr zu sagen -- ohne daß die Anteilnahme an dem Geschick des andern sich verlöre. Es ist besser, man sieht sich nicht wieder -- man kann der Erinnerung freundlich gesonnen bleiben. -- Und Leonore sagte: „Könnten sich nicht Beziehungen einfach überleben? Ich meine nicht, Ihre Beziehung zu Nacka habe sich überlebt -- ich meine es rein akademisch, wie immer Tucher sagt. Es braucht nicht Untreue zu sein --“ Aber Frau von Müller hörte nicht auf akademische Weisheiten. Sie beugte ihr gerötetes, zerfahrenes Gesicht zu Leonore herüber und flüsterte: „Mein Mann liebt die Nacka Planck. Das ist mein Unglück. Ich bin zu ihr gezogen, um durch den täglichen Umgang ihr ähnlich zu werden. Aber sie mag ja gar nicht mehr meine Gesellschaft. Sie schließt sich im Atelier ein, widmet sich ihren Modellen und anderen Menschen. Sie war ehrlich traurig, daß mein Mann sich so vergaß. Sie bot mir an, bei ihr zu leben, bis eine Änderung einträte. Aber nun belästigt sie meine Dankbarkeit und ihre Gastlichkeit. Sie sagt mir in jeder Stunde des Alleinseins, ich gehöre zu dem Manne, weil ich ihn doch geheiratet habe. Und weil ich ihn noch liebe.“ Leonore begriff diese Zustände nicht sogleich. „Wie?“ sagte sie, „und um Nacka Planck ähnlich werden zu können, sind Sie böse, wenn Sie sich nicht jeden Augenblick allein haben? Deshalb sind Sie auf die Modelle eifersüchtig?“ „Ja,“ sagte die Baronin stupid. „Was haben Sie denn sonst gedacht?“ Leonore war sich darüber nicht klar. Sie brauchte auch nicht zu antworten, denn die Tür wurde aufgestoßen -- Nacka Planck kam herein. Ihr Gesicht drückte Brutalität aus, ihre Haltung Zorn. -- „Also hier -- das ist ja hübsch. Du klagst wohl über mich?“ Die Baronin zitterte. „Nackachen, Liebste, ich war so elend -- Lenorchen hat mich so schön gepflegt.“ „Du bist nicht krank,“ sagte die Planck hart. „Du wirst jetzt mit mir spazieren gehen. Haben Sie Lust, Leonore, mitzukommen?“ Doch Leonore war froh, entrinnen zu können. Sie sah noch, wie die Baronin gehorsam aufstand -- ihre Überkleider suchte -- und mit Blicken auf Nacka sah, wie sie ein geprügelter Hund hat -- und zugleich voll Neugier. Sie dachte wohl, ob auch diese Pose Nackas den Baron Müller betören würde? -- -- Leonore ging durch die Stadt. An hastenden, an bierseligen, an schimpfenden, an fremden Menschen vorbei. Sie aber sah nur das Festliche an dieser Stadt: die breiten, schön geformten Häuser, die von Heiterkeit und Genußfähigkeit sprachen, die schönen Bilder und Geräte an den Schauläden, die weiten Plätze. Sie sah nur die sichere Vornehmheit dieser Stadt, die von Künstlern erdacht worden ist. Sie kam durch die Straßen mit den Botschaftspalästen, mit den Häusern von Malern und Edelleuten. Kam an den Propyläen vorüber, die sie sehr liebte, und erreichte nach einer Weile das Siegestor. Der weiße Turm der Ludwigskirche leuchtete in den Vorfrühlingshimmel hinein. Die ganze Straße war erfüllt von diesem glänzenden, lebensvollen Weiß. O ja, das war wirklich eine königliche Straße. Leonore bekam Lust, ins Freie zu gehen. Im Englischen Garten mußte es um die Zeit des Abends gut sein -- ehe noch die Stadt ihre vielen Menschen aus der Arbeit entließ, ehe noch der Schutz der Dämmerung alle Laubnischen mit Gestalten füllte. Sie ging über die weiten Rasenflächen, die schon frühlingsgrün waren, ging und stieg den Hügel zu dem Monopteros hinauf. Da war niemand. Einsam klang Leonores Schritt auf den Steinfliesen, die den griechischen Tempel umgeben. Sie setzte sich auf die Rundeinfassung -- sah nach der Stadt. Eine weiche, verschleierte Luft zog um die Türme. Leonore lächelte. Sie wußte nicht warum. Sie seufzte. Sie wußte nicht warum. Vom Himmel fiel ein leiser Regen. Dieser tändelnde, zarte, warme Frühlingsregen, der Gras und Knospen und Sehnsucht und unnennbare Ahnungen wachsen läßt, fiel auf ihre bloßen Hände und auf ihr Kraushaar, von dem sie die Mütze genommen hatte. Sie saß und dachte an große Taten und blaue Fernen und Liebesnächte von Pan und Erde. Ganz wirr war alles in ihr, so glücklich empfing sie den Frühling. Da war auf einmal Freyer am Monopteros. Er hatte zu Ehren des Frühlings helle leichte Kleider an, und setzte sich neben Leonore. Sie mochte ihn gern. Er war von charaktervoller Häßlichkeit -- mager, brünett, muskulös, ohne alles Kleinliche in seiner Gesamterscheinung. „Der liebe Gott hat wieder einmal das Paradies erschaffen,“ sagte er, und er wies deutend mit der Hand auf den grünenden Garten um sie. „O, das ist es -- darum bin ich so froh,“ antwortete sie, und sie stand am Rand des Hügels und lächelte -- stand am Rand des Hügels und lächelte und hob die Hand in tastender Bewegung zu ihrer Stirn. -- „Ich wußte ja nichts -- ich wußte nie, warum mich der Frühling immer so glücklich macht,“ sagte sie -- „und nun ist es, weil in jedem Frühling das Paradies neu geschaffen wird -- oder sind es wir, die es schaffen? Wir wissen alles lange, lange -- und alles ist neu --“ Der Mann sah das junge Mädchen. Sah sie -- sah ihren Körper voll Enthusiasmus, voll schwankender, taumelnder, willenloser Entzückung. Sie war schön. Schön wie der Überschwang. Sie war jung. Jung wie der Frühling. Der Mann trat zu ihr. Er redete. Er fragte sie tausend Dinge. Und schließlich gingen sie zusammen nach Hause. Alles um sie her glänzte, strahlte von dem Frühlingsregen. Wie von Silber überrieselt. Wie in Morgenkühle getaucht. Die Tropfen fielen den an den Büschen Vorüberschreitenden auf die Hände. Sie leuchteten an den Stämmen herunter. Und Leonore war so froh. Diese zärtlich verheißungsvolle anregende Frühlingsluft fühlte sie wie ein Jubeln des Blutes. Wie einen einzigen Rausch. Und wie ein Rausch redete sie -- sie redete, wie nur der Reine spricht, der nie von einem Weggefährten etwas Unfeines zu denken fähig ist, wie nur der Unberührte spricht, der noch nicht weiß, daß Schweigen die Rettung vor den Menschen ist: „Man sollte zum Frühling beten. Man sollte singend durch die Wälder ziehen -- O, wissen Sie, wie das ist, wenn die Osterglocken durch Dämmerung und Stille läuten -- und im Steinbruch die Palmkatzen ihre Pelze aufsetzen und alles ist so voll von Unaussprechlichem? Man weiß es ja noch nicht -- und doch war es schön -- man fühlt es nur -- der Sturm kommt, der Frühlingssturm, der alles neu macht -- O, wenn ich ein König wäre, ich wollte meinem Volke Frühlingsfeste schenken -- allen Kindern und allen, die arm sind, wollte ich das Evangelium vom Frühling sagen -- wollte sie weit fort von den Städten führen -- in Talgründe, die blau sind von Veilchen, und wo die Himmelsschlüssel läuten -- Und denen, die alt und müde sind, wollte ich sagen: wenn einst die Toten erwachen, so werden sie in einem Frühlingsgarten stehen und alles wird sie mit einem Blumenlächeln grüßen --“ „Und sollte das immer so bleiben, Leonore? Immer?“ „Ich weiß nicht -- Wenn es immer wäre, könnten sie sich nicht mehr sehnen. Aber so lange wir auf der Erde sind, sehnen wir uns doch, und da ist es gut, an Erfüllung zu glauben. Den Sommer -- o, den Sommer wollen wir auch. Wenn die Felder weiß sind -- und Ungewitter ins Tal hinunter ziehen -- oder wenn die sturmbange Stille über dem Land liegt -- ja, vielleicht soll im Himmel auch ein ewiger Sommer sein. Wenn ich einmal König bin, will ich den Menschen versprechen ...“ So fabelte sie. Und der Mann neben ihr sah sie unverwandt an. Denn sie war jung. Jung wie der Frühling. Denn sie war schön. Schön wie der Überschwang. -- -- * * * * * Ein paar Tage später war Leonore wieder im Englischen Garten. Sie hatte ein wenig die Zeit vergessen und es dämmerte schon, als sie sich endlich auf den Heimweg besann. Leonore war zum ersten Male bis zum Aumeister hinaus gegangen, und nun ergab sich, daß sie den Rückweg nicht richtig wußte. Sie sah nach der Uhr: in einer Viertelstunde sollte sie bei Planck-Müller zum Abendbrot sein. Sie mußte sich also beeilen, denn bestenfalls hatte sie auf dem direkten Weg noch Dreiviertelstunden zu gehen. Sie lief und lief -- und merkte plötzlich, daß sie im Kreis herumgegangen war. Da entschloß sie sich, den nächsten Menschen, der ihr begegnen würde, anzureden und zu fragen. Und so wandte sie sich an den Nächstbesten, der des Weges kam. Es war ein Herr in mittlern Jahren, der ihr freundlich Bescheid gab und sagte, er habe denselben Weg, sie möchte nur mit ihm kommen. Sie war ein wenig ratlos, dachte aber: sobald ich wieder in einer mir genau bekannten Gegend bin, schlage ich einen andern Weg ein. Der Fremde plauderte Alltägliches: daß er München noch nicht näher kenne, daß es aber als lustige Stadt bekannt sei, und so weiter. Leonore antwortete kaum; sie fühlte ein gewisses Unbehagen und wußte nicht, woher es kam. Auch schien ihr der Weg, den man ging, durchaus nicht der Stadt zuzuführen. „Sie wissen wohl selbst den Weg nicht, da Sie hier fremd sind. Ich danke Ihnen, ich werde mich jetzt zurecht finden.“ In diesem Augenblick fühlte sie sich von hinten gepackt -- umschlossen, und sie fühlte den bärtigen Mund des Fremden auf ihrem Gesicht. „Süßes Mädel -- ich führ’ dich auch zum Soupieren.“ Mit aller Kraft, deren sie fähig war, stieß sie den Fremden weg. Sie rief, so laut sie konnte, um Hilfe. Da rannte der Fremde davon. Denn an der Wegbiegung tauchten einige Personen auf. Die nahmen sich Leonores an. Von Ekel geschüttelt kam sie nach Hause. Sie hatte nur den Gedanken und Wunsch: sich zu waschen. Frau Bendler sagte, schon zweimal sei Nacka Planck oben gewesen, nach ihr zu fragen. Man wäre unten schon bei Tisch. Da kam Nacka Planck noch einmal. Sie war nicht Leonores Vertraute -- Leonore schämte sich, ihr das häßliche Erlebnis zu erzählen. So ging sie wirklich noch mit hinunter. Das Eßzimmer war durch eine Glaswand von einem Vorraum getrennt. Und da sah Leonore die Versammlung -- sah neben Iphigenia von Müller den Mann, der sie vor einer Stunde geküßt hatte. „Wer ist dieser Mensch, Nacka?“ „Iphigenias Mann -- er kam heute mittag hierher.“ Leonore lief hinaus. Nacka hinter ihr. „Was haben Sie denn?“ „Ich bin so gräßlich unwohl -- Migräne -- Übelkeit -- ich muß zu Bett.“ Leonore lief in ihre Stube, schloß sich ein, sie wollte keinen Menschen mehr sehen. Sie dachte nur: Ich muß hier fort, ich will nach Hause. Ich kann weder der unglücklichen Iphigenia noch dem Manne wieder begegnen. IV. Heimkehr. Liebe Leonore, ich wollte Ihnen heute die Bücher bringen, von denen wir gesprochen hatten, und erfuhr dabei von der Frau, daß Sie ganz plötzlich abgereist wären. Sie wußte nicht den Grund. Auch Anastasia Planck konnte mir nichts sagen. Ich fürchte, Sie haben schlechte Nachrichten von zu Hause erhalten, und es tut mir leid, Sie in Sorge denken zu müssen. Antworten Sie mir doch, bitte, wenn es auch nur mit einigen Zeilen ist. Und vergessen Sie nicht zu sagen, wann Sie wiederkommen. Denn ich warte sehr darauf, meine liebe junge Freundin. Die Stadt kommt mir ganz leer vor, seit Sie fort sind. Herzlich Ihr Richard Freyer. Lieber Herr Professor, ich danke für Ihren Brief. Ich habe keine schlechten Nachrichten bekommen, ich bin nur heimgegangen, weil ich mich allein gefürchtet habe. Großmutter meint auch, ich soll nur bei ihr bleiben, ich habe ja doch so viel, so wenig, wie man will, gelernt, daß ich malen und Stunden geben kann. Es war sehr schön in München, aber ich kann jetzt nicht wieder hin. Sie waren immer gut zu mir, lieber Herr Professor, und es ist mir sehr leid, daß ich Ihre Vorträge nicht mehr hören kann. Geht es Ihnen gut? Ihre dankbare Leonore Wolfferstorff. Liebe Leonore, warum schreiben Sie mir so anders, als Sie sprechen? Ich will nicht ein Herr Professor für Sie sein, sondern Ihr Freund. Bin ich Ihnen dafür zu alt mit meinen vierzig Jahren? Ich kann mich ja leider nicht in einen Kelt, nicht in Kurtzen und Klemens verwandeln. Kann ich nicht trotzdem Ihr Freund sein? Was Sie mir schreiben, Liebe, macht mir nachträglich Sorge. Hat Ihnen jemand Böses getan? Sagen Sie mir, das darf nicht sein, das darf nicht ungeahndet bleiben. Wenn dies der Grund ist, warum Sie nicht wieder zurückkehren wollen, so soll er beseitigt werden. Verlassen Sie sich auf mich. Sie haben keinen Bruder, und Sie müssen mir erlauben, hier als Bruder für Sie einzustehen. Sie brauchen hier niemand zu fürchten, dafür lassen Sie mich nur sorgen. Sagen Sie Ihrer Frau Großmutter Empfehlungen von mir. Ich kann mir denken, daß sie Freude hat, ihre Enkeltochter wieder bei sich zu haben. Und antworten Sie mir sogleich. Herzlich Ihr R. Freyer. Lieber Freund, ich nenne Sie gern so, wenn Sie es erlauben. Sie sollen auch gar nicht denken, daß Sie dazu anders sein müßten, als Sie sind. Aber nach München kann ich nicht wieder -- und ich kann auch den Grund nicht sagen. Verzeihen Sie und haben Sie Dank für Ihre Fürsorge -- es ist nichts geschehen, was man „ahnden“ sollte. Grüßen Sie auch Tucher und Wredegast von mir. Sie haben mir zusammen geschrieben, aber ich weiß nichts Lustiges darauf zu antworten. Die Großmutter läßt Sie grüßen. Sie ist recht alt geworden diesen Winter. Aber manchmal geht sie doch mit mir in den Garten und freut sich an den Veilchen. Uns Thüringern ist das ja eine so heimatliche Blume. Sie wissen doch, Goethe hat sie überall gesät, wo er war -- in Gärten und ins freie Land. Sie werden wohl nun bald nach Florenz gehen, ich bin sehr stolz, daß ich durch Ihre Vorträge mit den alten Kunststädten Italiens nun so gut Bescheid weiß. Grüßen Sie auch den Monopteros von mir, wenn Sie noch einmal in den Englischen Garten kommen. Hier ist es Frühling -- und ich bin froh. Leonore. Liebe, ich gehe dieses Jahr nicht nach Italien. Etwas Unbestimmtes warnt mich, so weit weg zu reisen. Hier in dieser Stadt hat zwar Goethe nicht Veilchen gesät, und die man findet, können sich keiner so illustren Abkunft rühmen, wie die Weimarischen, aber sie gefallen mir doch, und Sie sollen an denen, die beiliegen, beurteilen, ob sie nicht auch blau sind und nach Frühling duften. Liebe, es ist so leer geworden, seit Sie fort sind. Wenn ich Sie unter meinen Zuhörern sah, kam mir immer Freude an meinem Stoff. Sie machten mir das oft Dozierte, Wohlbekannte neu. Als ob es mir selbst zum ersten Male begegnete -- als ob ich wieder mit jungen Augen sähe -- als ob ich ein ungebrochener Mensch wäre, dem das Kunstwerk die Offenbarung ist. Wenn Sie nun Schüler nehmen, werden Sie vielleicht dieses Gefühl auch kennen lernen. Unterrichten ist meist eine Frone. So selten findet man einen jungen Menschen, dem das Wort Wahrheit wird: „es ist ebenso schön zu lernen, als zu leben.“ Erzählen Sie mir doch von dem, was Sie nun tun. Wenn Sie schon wirklich nicht mehr hierher kommen können (Sie werden zwingenden Grund haben, glaube ich wohl), so möchte ich doch, soweit es Briefe gestatten, an Ihrem Leben Anteil nehmen dürfen. Sie haben mich Ihren Freund genannt, als solcher darf ich doch um etwas bitten. Herzlichst Ihr Richard Freyer. Lieber Freund, ja, ich habe nun zwei Schülerinnen und einen Schüler. Jetzt darf ich nicht mehr Flieder stehlen, wenn er blüht, und die einsamen Schwertlilien werden sicher vor mir sein. Ich habe zwei Mädchen, die eine allgemeine Bildung bei mir erhalten sollen. Die Eltern drückten sich aus, von allem ein bißchen wäre bei ihren Töchtern angebracht. So wie es in einem „Institut“ sei. Es sind zwei Konfirmandinnen (hier werden die Kinder schon mit dreizehn Jahren konfirmiert) und sie sollen vor allem Briefe schreiben lernen und ein wenig Französisch, ein wenig „Literatur“ und ein bißchen Geschichte und Zeichnen. Ich werde also Homöopathie mit ihnen treiben. Der Schüler ist ein Schmiedssohn, der nach Weißenburg auf die Realschule fährt und im Französischen eine Fünf hat -- im ersten Kurs geht es ihm schon so. Eigentlich verlangte meine Rechtlichkeit, dem Schmied zu sagen, er solle seinen Jungen doch nicht so quälen. Der würde gewiß leichter Schwerter als Syntaxformen schmieden. Aber wenn die Menschen mit ihren Kindern höher hinaus wollen, meinen sie es ja gut. Ich sagte den Konfirmandinnen neulich, sie sollen mal einen Brief an eine Freundin schreiben. Ganz nach freier Wahl -- sie sollen sich irgendein Ereignis ausdenken, etwas von allgemeinem Interesse, das in der Stadt sich ereignet hat. Sei es nun ein Unglück, ein Neubau, Hochwasser oder ein Fest -- oder die Konfirmation. Da brachte die eine folgenden Brief: Liebe Freundin! Teile Dir mit, daß sich hier eine Familie befindet, welche unverschuldet aus Not in das größte Elend geraten ist. Ein Brand hat ihre Habe verzehrt und befinden sich all ohne Kleider. So Du etwas hast, schicke es bald, nach dem Sprichwort: wer bald gibt, gibt doppelt. Im übrigen befinden sich wir im besten Wohlsein und indem ich dasselbige von Dir hoffe zeichne Deine treue Freundin Amanda Wiedemann. Ich wollte wissen, welchen Stand der Bildung und Ausdrucksfähigkeit die Schülerinnen haben. Solche Briefe lernten sie in der Schule, es war ein geläufiges Muster. Ich wollte schwören, nie würde eines von den Mädchen eine Freundin um alte Kleider bitten. In diesen Jahren denkt man gar nicht, daß andere helfen sollten. Und dann -- wenn diese Mädchen reden, sagen sie stets „ich und meine Mutter, ich und meine Freundin,“ --, aber wenn sie schreiben, vermeiden sie das „ich“ vollkommen, als sei es ein anstößiges Wort. Und alles „befindet sich“. Ach, wie wird dieser Stil mit Homöopathie zu behandeln sein? Sie sehen, lieber Freund, mit meinen Schülerinnen werde ich eher ein genügsames Amüsement als Freude haben. Doch ich bin ganz zufrieden. Ich habe mir ein sehr feierliches Schulzimmer gemacht, und alle meine Münchener Herrlichkeiten hängen da. Der Sohn des Schmieds benutzt in jeder Stunde die Bilder und Abgüsse, um zehn Minuten lang der Syntax und den Vokabeln zu entrinnen. Er ist ein kluger Junge -- ich glaube, es wäre für uns alle das Beste, von der Grammatik zur Kunst zu fliehen. Leben Sie wohl! Leonore. Liebe Leonore, ich möchte wohl einmal dabei sein, wenn Sie dem Schmiedssohn Unterricht gehen. Der Junge wird gewiß noch Ihre Freude, und vielleicht wird er einmal statt eines Stümpers in Sprachen, ein tüchtiger Kunsthandwerker. Kann er zeichnen? Probieren Sie das doch einmal mit ihm. Über Ihre Konfirmandinnen habe ich sehr gelacht. Da wird nicht viel zu machen sein. Aber schreiben Sie mir doch auch, wie Sie sonst leben. Ich stehe so ganz allein, wie Sie wissen, seit vielen Jahren habe ich kein menschliches Interesse mehr gefühlt -- Nummern, konventionelle Gestalten glitten an mir vorbei. Wenn ich an Sie denke, ist es mir immer, als dächte ich an meine eigene Jugend. Und es will mir nicht so ganz gefallen, daß Sie mit Ihren achtzehn Jahren (wenn es neunzehn sind, so bitte ich um Entschuldigung) so brav den Schulmeister spielen. Könnten Sie denn wirklich nicht wieder hierher kommen? In ein anderes Haus -- ohne Berührung mit den früheren Bekannten? Herr von Müller ist noch immer hier, es scheint, Iphigenia soll wieder mit ihm zu leben lernen. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich wieder in Sie dringe. Es ist nicht nur Egoismus, ich denke auch an Ihre Jugend, für die die große Stille Ihres Ortes vielleicht nicht gut ist. Ihr Freyer. Lieber Freund, bitte, fragen Sie mich nicht mehr, weshalb ich nicht wieder nach München komme. Ich habe dort ein Erlebnis gehabt, an das ich nicht wieder erinnert werden will. Und selbst wenn dies nicht wäre, ich möchte nun die Großmutter nicht verlassen. Sie ist leidend, ohne eine Krankheit zu haben. Immer müde -- viel zu Bett. Der Arzt nennt es das Alter. Sie ist froh, daß ich da bin -- sie freut sich an meiner Tätigkeit. Und in der freien Zeit bin ich um sie. Es ist gewesen, mein Onkel Steingruber, der Oberförster, hat sich in aller Stille mit der Tante Charlotte, seiner Schwägerin, verheiratet. Er wünschte das schon vor Jahren, weil Charlottchen ihrer Schwester, seiner ersten Frau, so ähnlich ist. Aber damals wagte er es nicht zu sagen, weil sie doch bei ihren alten Eltern war. Der Großmutter ist das eine große Freude, aber fast scheint es mir, seit sie nicht mehr für ihre „Jüngste“ zu sorgen hat, fühlt sie nicht mehr die Notwendigkeit zu leben. Onkel und Tante reisten auf ein paar Wochen nach der alten Thüringer Heimat. So bin ich mit Großmutter allein. Ich schreibe diese Familiengeschichten, weil Sie doch -- im Gegensatz zu allen Menschen, die ich in München kennen lernte -- immer so teilnehmend nach meinen Angehörigen fragten. Es ist eine gute Zeit für mich, trotzdem Großmutter krank ist. Sie hat ja keine Schmerzen, kaum Unbequemlichkeiten. Da bin ich bei ihr, und sie erzählt mir aus ihrer Jugend, von Dingen und Menschen, die fern und tot sind und in diesen Gesprächen vielleicht ihre letzte Auferstehung feiern. Und ich spreche zu ihr von den kleinen Geschehnissen des Tages -- spreche ihr auch von Ihren Briefen und Ihrer Person. Um den Abend gehe ich manchmal ins Freie -- und es kommt doch vor, daß ich Flieder stehle. -- Das alles auf Ihre Frage nach meinem Wiederkommen. Verzeihen Sie, wenn dieser Brief nur von mir redet. Leonore. Leonore, Liebe, Ihr Brief hat mir so wohl getan. Ich glaube, so wohl, wie Sie der Großmutter tun, wenn Sie mit Ihren sanften Händen und Ihrem gütigen Gesicht und Ihrer lieben Stimme um sie sind. Ich bin auch krank -- richtig krank -- und kann nicht viel schreiben. Wie geht es mit Ihren Schülern? Macht Ihnen die Sache noch Freude? Schreiben Sie mir doch -- es will heute bei mir nicht recht gehen, und ich möchte so gern wieder von Ihnen hören. Richard Freyer. Lieber Freund, aber Sie müssen doch nicht krank sein. Nur alte Menschen dürfen es und Sie sind doch jung! Tun Sie doch schnell die Krankheit fort. Ja, ich bitte Sie -- oder soll ich den lieben Gott bitten? Ist es so schlimm? O, ich hoffe, es geht Ihnen besser, Sie waren schon sehr tapfer gegen die Krankheit. Sie fragen nach meinen Schülern. Ach, der Schmiedssohn hat sein schlummerndes Genie noch nicht preisgegeben -- die Mädchen bleiben unverrückbar wie Denkmäler auf den Postamenten. Es ist mir oft eine Qual, mich mit so sterilen Intellekten -- was noch schlimmer ist, mit so unerwecklichen Seelen befassen zu müssen. Aber der Großmutter ist das eine Beruhigung -- und dürfte ich sie dann betrüben, wenn ich Wünsche, Willen verriete, die sie nur erschrecken müßten! Ich bin ja jung. -- Schreiben Sie mir, lieber Freund, wie es Ihnen geht. Sonst muß ich mich sorgen. Ihre Leonore. Liebe, liebe Leonore, würden Sie sich denn wirklich sorgen, wenn ich sehr krank wäre? Liegt Ihnen etwas an mir? Sagen Sie es mir, Liebe, ich warte sehr auf die Antwort. Ihr Richard Freyer. Lieber Freund, freilich liegt mir etwas an Ihnen. Ich würde Sie doch nicht meinen Freund nennen, wenn es nicht so wäre. Sie müssen bald wieder ganz gesund sein, ja, das will ich. Ich muß noch einmal auf etwas zurückkommen, was Sie mir neulich sagten. Sie meinten die Stille dieses Ortes sei vielleicht nicht gut für mich. Ich glaube fast, Sie haben nie dauernd an einem stillen Ort gelebt. Sonst müßten Sie wissen, wie gut das sein kann. Wir sind ja der Erde so nah. Allem Guten sind wir nah, allem Lebendigen. Ich könnte nie dauernd in einer Stadt sein. Ich glaube, ich würde vergehen vor Sehnsucht nach all dem, was mir aus den Kinderjahren her teuer und vertraut ist wie ein Freund -- das weite Land, das uns gehört -- das sich uns immer neu schenkt. Später: Ich muß Ihnen etwas erzählen: denken Sie, meine Verwandten haben es geschrieben: die alte Oberförsterei Kapellendorf ist eingezogen. Kapellendorf und ein Stück Weimarischen Landes stehen zum Verkauf. Ich kann gar nichts anderes denken als: Wenn ich das haben könnte! Wenn ich das wieder haben könnte! Aber was helfen alle Wünsche. Für mich sind sie wohl da, überwunden zu werden. Leonore. * * * * * Leonore ging durch den Saal. Es hatte draußen an der weißen Gittertür geklingelt, schon zweimal, und niemand machte auf. Sie mußte selbst sehen. Sie öffnete die Tür -- und Richard Freyer stand vor ihr. „Leonore“ -- „O -- Sie sind es?“ Der Mann drückte ihr die Hand. Sein Gesicht war sehr blaß. Wie weiß schien es hinter dem dunkeln, kurzgehaltenen Bart. Sie wußten beide nichts zu sagen. Stumm führte ihn Leonore in den Saal. „Leonore -- wie geht es Ihrer Großmutter?“ „Sie ist heute sehr wohl.“ „Leonore, ich habe mit Ihrer Großmutter etwas zu sprechen.“ Sie sah ihn grenzenlos erstaunt an: „Mit der Großmutter?“ „Ja -- Sie sollen später alles wissen -- sagen Sie ihr nur, Ihr Freund aus München sei da und bäte um eine halbe Stunde Gastfreundschaft.“ Leonore fühlte eine seltsame Beklommenheit. Sie ging wie auf einen Befehl. Ging zu der Großmutter und sagte ihr Freyers Wunsch. Die Großmutter war verwundert, aber doch bereit, den Fremden zu empfangen. „Großmutter erwartet Sie.“ Freyer küßte Leonores Hand und ging. Sie blieb in dem grünen Saal zurück -- einen Augenblick nur. Dann dachte sie: ich will doch nicht hören, was geredet wird. So ging sie in den Garten hinunter, zu dem Steinhäuslein hin, das immer noch von den Armen des wilden Weins über der Mauer gehalten wurde. Was war das schrecklich sonderbar? Was wollte Freyer von der Großmutter? Sie dachte Unsinniges, Ungereimtes -- das Richtige fiel ihr nicht ein. Endlich, nach einer langen Weile meinte sie, länger dürfe sie die Großmutter mit einem Gast nicht allein lassen. Die Großmutter strengte doch das Sprechen mit Fremden an. So ging sie wieder in den grünen Saal und klopfte an die Tür des Wohnzimmers. Da hörte sie drinnen noch ein leises Sprechen. Dann öffnete Freyer selbst. „Leonore,“ sagte er, „die Großmutter möcht ein wenig Ruhe. Darf ich mit Ihnen in den Garten gehen?“ „Ja, gewiß, aber ich will doch erst nach der Großmutter sehen.“ „Tun Sie es jetzt nicht,“ sagte er sanft. „Sie wünscht, daß Sie mit mir gehen. Kommen Sie, ich habe Sie etwas zu fragen.“ Sie fühlte, wie ihre Hände kalt wurden. Ja, nun wußte sie ganz deutlich, was Richard sie fragen würde. Und ihre Seele irrte nach einer Antwort. Sie kamen in den Garten. Freyer ging auf das Steinhäuslein zu, bat Leonore einzutreten. Er schloß die Tür hinter ihnen beiden -- und nun war es ganz dunkel da, denn durch die von Laub übersponnenen Fenster kam nur gedämpfteres Licht. Sie setzte sich mechanisch. Und wartete. Wartete auf etwas, von dem sie nicht entrinnen zu können meinte. „Leonore, es ist eine lange, alte Geschichte. Sie haben mir von Kaspar Mühlfund erzählt. Kaspar Mühlfund hat Ihre Tante geliebt, als er jung war, und sie hat ihn verraten. Dann ist Kaspar Mühlfund in die Welt gegangen -- und hat kein schönes Leben geführt. Wer betrogen wurde, wo er heilige Versprechungen hatte, der führt kein schönes Leben, Kasper Mühlfund ist ehrgeizig geworden -- ist Professor geworden, hat seinen Namen ausgelöscht, hat eine Frau -- ja, eine reiche Frau geheiratet, die es gut bei ihm hatte und durch einen Sturz vom Pferde nach sechs Jahren starb. Kaspar Mühlfund, der Findling, hat sich einen Platz in der Gesellschaft erobert. Kaspar Mühlfund ist angesehen und bettelarm gewesen. Er konnte nie die alte Heimat und die Jugend vergessen. Und da kam zu ihm ein lebendig gewordenes Stück jener Jugend -- da kamen Sie, Leonore, wie eine Gnade des Lebens, wie eine Offenbarung kamen Sie. Leonore, die Großmutter hat dem Kaspar Mühlfund verziehen, daß er fortlief und ein Undankbarer war. Leonore, wie die Gnade des Lebens sind Sie mir, Leonore -- ich liebe Sie, Leonore, ich liebe Sie, und dort ist Kapellendorf. Ein Wort von dir, und es ist unser. Es ist unser Haus, unsere ewige Heimat. O, ich weiß, ich betöre dich mit dem Wort. Verlange von mir, was du willst, ich werde es tun -- um deinen Besitz.“ Sie hörte nur das Wort Kapellendorf. Das alte lockende Wort. Sie sah den Mann vor sich, an den sie in ihrer Kindheit oft gedacht hatte, den man betrogen hatte, den, der ihr Kamerad war, und er redete von Kapellendorf als der wiedergeschenkten unverlierbaren Heimat. „Leonore, bist du mir gut?“ „Ich bin dir gut,“ sagte sie, wie voll Angst. „O, ich weiß nichts. Kapellendorf? Du sagtst mir das Wort, das dereinst uns hat betört.“ Der Mann stand neben ihr. Er zitterte. „Leonore -- du liebst keinen andern?“ „Nein,“ sagte sie frei. „Leonore -- ich weiß alles. Ich nehme dich gefangen mit Kapellendorf. Ich weiß es. Ich will dich. Ich verlange nichts von dir, als daß du mich zu Kapellendorf nimmst. Ich liebe dich -- ich liebe dich! O, es ist etwas anderes, wenn ein Vierzigjähriger das sagt, als wenn ein Jüngling es stammelt. Ich liebe dich, ich will dich, auch wenn ich wüßte, daß du mir einst untreu wirst --“ Da lächelte sie plötzlich. „Kapellendorf untreu.“ Und sie sah den Mann vor sich, den sie Freund genannt hatte -- sie sah ihn, der ihr die alte Heimat brachte. Was wußte sie denn? War es nicht der Wunsch so vieler Jahre, die Hoffnung so vieler Jahre? „Identifiziere mich nur mit Kapellendorf, Liebe, Geliebteste. Ich will nichts anderes. Ich sage es dir ja so frei -- ich weiß, ich verlocke dich damit. Aber wenn du mich nicht ein wenig lieb hast, dann -- ich --“ Hülflos schwieg er. Hülflos und arm stand er vor ihr -- Und ihre Ritterlichkeit erwachte. O -- sie wußte nicht, hätte sie entfliehen sollen, ehe er das Zauberwort sprach? Hätte sie es nie bis zu dieser Aussprache kommen lassen dürfen? Plötzlich errötete sie. Es ist anders, wenn ein vierzigjähriger Mann von Freundschaft redet, als wenn ein Jüngling es sagt. Hatte sie Richard Rechte gegeben? Hätte sie als Erwachsene nicht so mit ihm sein dürfen, wie als ein halbes Kind zu den andern Freunden? Wenn sie doch jemand fragen könnte -- Kelt -- der wußte alles -- die Großmutter --. Und sie sagte: „Was hat denn Großmutter -- haben Sie mit Großmutter --“ „Ich habe Großmutter alles erzählt. Mein ganzes Leben. Sie war sehr gut zu mir. Und sie sagte, wenn du ja sagst, ist es ihr lieb.“ Wieder schwieg Leonore. Der Mann beugte sich zu ihr herunter. „Leonore, ist es, daß ich eine Frau gehabt habe?“ Wie, was ging das Leonore an? Was gingen sie seine Dinge an, die vor ihr lagen? Wie sie vielleicht kaum gelebt hatte. Plötzlich sah sie, der Mann weinte. Ganz armselig stand der große, breite Mann da und weinte. „Warum weinst du denn, o Gott, du sollst doch nicht weinen?“ „Leonore, mit dir wollte ich wieder jung sein. Mit dir zurückgehen in die alte Heimat, in die Jugend. Soll ich wieder fortgehen, Leonore, willst du nicht mit mir nach Kapellendorf?“ Sie wußte nichts mehr. Sie hörte nur das alte geliebte Wort. „Du sollst nicht fortgehen, Lieber.“ Er umschlang sie. Noch küßte er sie nicht. „Leonore, Liebe, ist es denn wahr? Und du glaubst, daß du mit mir glücklich wirst?“ „Ja,“ sagte sie plötzlich frei. „O, wir wollen glücklich sein. Wir wollen Kapellendorf haben und das alte Land. Und das Schloß am Ettersberg wollen wir durch die Dämmerungen leuchten sehen -- und alles soll glühen -- wie ein Jahrtausend soll das Glück sein, glühend von großen Taten.“ So fabelte Leonore. Und sie berauschte sich selbst an den Gedanken. War er nicht ein Kind, der Mann neben ihr -- o, sie wollte mit ihm spielen, mit ihm warten, ja, und dann sollte das Glück kommen -- leuchtend durch Dämmerungen, wie das weiße Schloß am Ettersberg. „Du,“ sagte sie, „wir müssen hinein -- so lange wartet Großmutter schon.“ „Hast du mich lieb, Leonore?“ „Ja ich habe dich lieb, komm!“ Die Großmutter saß ganz still. Ganz leise redete sie mit dem einstigen Pflegesohn. Ihren Jungen nannte sie ihn. Und sie hielt Leonores Hände. Es war Leonore plötzlich, als begriffe die alte Frau alles gar nicht mehr. Sie verwechselte Namen, fragte, ob der Vater denn nicht käme -- aber dabei sah sie so strahlend und froh aus. Und nach einer Weile wollte sie schlafen gehen. Freyer verabschiedete sich. Er küßte beiden die Hände, nannte die Großmutter Mama. Wie in einem wunderlichen Traum war Leonore um die Großmutter. Sie bat sie, noch ein wenig an ihrem Bett zu sitzen -- lächelte -- lächelte -- Und Leonore sprach von Kapellendorf. Aber mitten in einem Satz hörte sie erschrocken auf. Die Großmutter hatte einen sonderbaren kleinen Laut ausgestoßen. Leonore beugte sich über sie. Ja -- die alte Frau war tot. Mit einem Lächeln der Freude war sie sanft hinübergeglitten. Sie hatte ja nun nichts mehr zu tun. Leonore war ohne Fassung. Sie wußte nicht, was sie tat. Sie stand plötzlich -- oder war es lange später -- am Fenster -- sah hinunter. Da ging Richard den einsamen Weg vor dem Hause auf und ab. Sie rief ihm. Er kam. Die lange, bange Nacht blieb er mit ihr neben der Toten in dem einsamen Hause. Die lange, bange Nacht trug er mit ihr den Schmerz. Und als der Morgen dämmerte nach der langen, bangen Nacht und das Frühlicht ihnen in die Augen sah, da wußte Leonore, er, der ihr Freund und Hüter gewesen war in der Nacht des Todes -- der hatte nun ein Anrecht auf sie -- ihm würde sie sich geben müssen. Ja, ihm würde sie alles geben. * * * * * Vielleicht hätte unter andern Verhältnissen Leonore dem Richard Freyer am andern Tage gesagt, es wäre doch alles ein Traum gewesen und sie wollte immer sein guter Kamerad bleiben -- aber er möge sie doch nicht heiraten wollen. Vielleicht hätte Leonore unter andern Verhältnissen das gesagt. Aber er war ihr in der langen, bangen Nacht in dem vereinsamten Hause Freund und Hüter gewesen. Den großen Schmerz hatte er mit ihr getragen. Während der Zeit der Einsamkeit und der Trauer verließ er sie nicht. Wen hatte sie denn noch, seit die Großmutter tot war? Alle andern lebten ihr eigenes Leben, sie fühlte das plötzlich stark. Und so sagte sie nur ein stilles Ja, als nicht viele Wochen, nachdem die Großmutter begraben war, an einem Nachmittag Richard Freyer sie fragte, ob sie mit ihm auf das Standesamt gehen wollte. Es sei der Menschen wegen besser, nicht länger damit zu warten. Der Oberförster und sein Sohn Paul, der noch vom Begräbnis her da war, gingen mit ihnen. Der Handlung war alles Feierliche, alles Ungewöhnliche genommen. Die Einsetzung eines Vormundes fiel dadurch fort. Der Bürgermeister sagte ein paar gutgemeinte Worte, daß die Großmutter noch die Freude erlebt habe, und wie es begreiflich sei, daß man kein Fest feiere, sondern nur in aller Stille den einander vor der nun Toten gegebenen Verspruch vollziehe. Leonore kamen die Tränen, wie immer, wenn man von der Großmutter sprach -- sie sah den kahlen Amtsraum -- die vier Männer -- sie schrieb ganz mechanisch Leonore Freyer, geborene Wolfferstorff, unter die Urkunde und ging an Richards Arm nach Hause. Dort war die Cousine Klothilde und weinte, und die Tante Charlottchen weinte, und alles kam Leonore so unwirklich vor wie der Tod. Richard wollte nun bald abreisen -- um in Kapellendorf alles Nötige zu besorgen. Es war nicht ihre Tischstunde, als man vom Standesamt nach Hause kam -- so zwischen fünf und sechs Uhr am Nachmittag. Freyer bat Leonore, mit ihm spazieren zu gehen. Das schien allen eine Erleichterung. Sie ging mit ihm -- sehr still gingen sie dem kommenden Abend entgegen, über die Höhe dem Walde zu. Ihr war es beklommen, sonderbar zumute. Vor der Trauung waren sie alle auf dem Kirchhof gewesen. Freyer hatte geweint. War er denn so arg unglücklich? Sie wußte nicht, daß er sich seiner Eile fast schämte. Daß er das Gefühl nicht los bekam, Leonores Stimmung mißbraucht zu haben. Sie kamen in den Wald. Da war es schon ein wenig dämmerig, und rasch stieg Leonore hügelan, um auf die freie Höhe zu kommen. Da oben stand noch rostrotes Gras vom gewesenen Jahr, rostrotes Laub hing noch im Eichenknick. Und zwischen dem Gras waren grüne Flecken -- da blühten die ersten Maiblumen. Sie lief darauf zu; sie bog die grünen Blätter auseinander und suchte nach Blütenstengeln. „Richard, sieh doch auch -- wer am meisten findet!“ Und sie wurde sehr eifrig und lief beim sinkenden Licht des Tages durch das rostrote Gras und an den versunkenen Mauerwällen einer alten Burg hin über Steine und durch Dornen nach den grünen Flecken, wo Maiblumen standen. Und das alte Pangefühl des Kindes, die Freude an wilden Blumen, die man gleich Schätzen aus verschwiegenen Wäldern holt, kam über sie. Aus dem kleinen Erinnerungswollen kam eine neue, starke Freude. O, was hatte sie soviel geweint all die Zeit? Warum sollte sie nicht denken, die Großmutter war in einem Land, dem jeder Tag des Frühlings Süße brachte. So fest hatte doch die Großmutter daran geglaubt. Was wir glauben, ist unser. Warum wollte denn sie, Leonore, nicht glauben, dieser Frühling war ein Erstling und brachte ihr die Verheißungen des Lebens? Es wurde dunkler. Richard mühte sich fern von ihr noch um Blumen. Sie aber stand -- stand auf dem alten Berg und hob die Arme in die Frühlingsabenddämmerung. -- O, warum hatte sie soviel geweint? Sie rief ihn. „Lieber!“ rief sie ihn. Und er kam -- scheu, wie er jetzt immer war, kam er -- da lächelte sie -- lächelte sie -- und sie steckte ihm ihre Blumen in seine Brusttasche und sagte: „Lieber -- es ist ja Frühling -- es ist Frühling. Komm, wir wollen den Frühling umarmen!“ Sie stand da, und ihr ausdrucksvoller großer, geschweifter Mund drückte die Sehnsucht aus. Und ihre dichten goldbraunen Knabenlocken schienen sich stolz zu heben wie sich kräuselnde Lippen und in den Linien ihres jungen Leibes lag Gesundheit, frohes Wollen, stürmisches Vorwärtsschreiten. Der Mann war betört. Er nahm sie fest in den Arm und ging mit ihr weiter durch den schweigenden Wald, durch die sinkende Nacht. Sie kamen heim über den Ruinenberg, auf dem an allen Hecken der Flieder blühte, sie gingen unter dem Frühlingshimmel, an dem schon die Gestirne standen, die wohlvertrauten, und sie sprachen miteinander vom Frühling -- vom Frühling. In dem grünen Saal war festlich gedeckt, mit trüben Gesichtern warteten die Verwandten. Da kam Leonore -- kam Leonore mit einem sanften, ansteckenden Lächeln -- und sie legte ihre, Richards Blumen auf den Stuhl der Großmutter in der Ecke unter den Blattpflanzen, und dann sagte sie, wie jemand, der sich seiner Wichtigkeit bewußt ist, der sich ihrethalben verpflichtet fühlt, frei, ohne Zwang: „Es ist doch Frühling -- und es ist unser Hochzeitstag. Wir wollen heute froh sein, alle wollen wir froh sein.“ V. Sommerstunden. „An einem Sommermorgen ward ich jung.“ Novalis. Sie wußte nicht, ob sie über ihn lachen oder weinen sollte. Denn er war gänzlich hülflos. Wohl -- er hatte ihr oft gesagt, daß er sie liebe. Er hatte ihr Kapellendorf geschenkt. Und nun stand er da und wußte sich nicht zu helfen. Wie ein Kind stand er da; man hat ihm alles gebracht, das Haus zu erbauen: behauene Steine, Balken, Türen, Fenster, Sand, Kalk und alles Geräte. Aber das Kind kann das Haus nicht aufrichten. Wie ein Kind, das spielen will und es doch nur mit einem leitenden Gefährten vermag, kam er ihr vor. Sie dachte: der Kaspar Mühlfund hat keine Jugend gehabt. Unter den Bauern wurde er herumgestoßen, bis ihn die Großeltern aufnahmen. Und dann war er ehrgeizig und lernte in Eile die Schule durch. Dann betrog man ihn, stieß ihn wieder in den Kampf. Später ist er ein angesehener Mann geworden -- und jetzt möchte er gut zu mir sein, möchte jung sein, und er weiß doch nicht, wie er es anfangen soll. Ein mütterliches Gefühl kam über Leonore. Sie wollte ihm die Jugend, die er nie gehabt hatte, neu schenken. Man mußte nicht an das Glück denken, das stolz und glühend war, wie ein Jahrtausend voll großer Taten. Nicht jetzt. Das Leben -- Kapellendorf -- Leonore hatten dem Kaspar Mühlfund eine alte Schuld zurückzugeben: die leichte, frohe, spielende Jugend. O, nun wußte sie es. Nun brauchte sie nicht mehr zu bangen, nicht mehr zu denken, ob denn das auch eine richtige Ehe war, wie sie ehrliche Menschen hatten. Nun wußte sie es: darum hatte sie nicht nein sagen können in dem alten Gartenhaus, als ihr Herz nach einer Antwort irrte. Und darum hatte sie seinen Trost genommen in der bangen Nacht des einsamen Hauses, in dem ein Toter lag. Darum war sie mit ihm gegangen und nannte sich Leonore Freyer; sie wollte ihm, der ihr ein lieber Kamerad war, der so hülflos vor ihr stand, die nie gelebte frohe, erste Jugend schaffen. Wie konnte er etwas vom Glück wissen, das wir leuchten sehen durch die ferne Dämmerung verheißungsvoller Frühlingsnächte -- wie konnte er es wissen, er, dem man seine Jugend gemordet hatte? O, nun war alles gut. Nun wußte sie alles. Nun lag kein Kummer und kein Bangen mehr in ihrem Herzen. * * * * * So früh war es noch, daß das Land still lag, als erwartete es den Tag der Pfingsten. Die Luft war voll von blauem Nebel, der wogte wie Schleier um die Sonne und putzte sie so blank und hell, daß es schien, als sei sie etwas ganz Neues, Junges, das dem ersten Morgen entsteigt. Der Mann und das Kind traten aus dem Tor. „Nun wandern wir ins Abenteuerland,“ sagte sie und lief voll Freude in den goldenen Dunst des Morgens hinein. „Siehst du mich noch, Richard?“ Er eilte hinter ihr her. O ja, er sah sie schon, er konnte lange Schritte machen und blieb nicht weit zurück. -- „Wohin gehen wir?“ fragte er, als er sie wieder erreicht hatte. „Wohin wir gehen? O, das wollen wir nicht wissen, das werden wir schon finden.“ Das Dorf lag bald hinter ihnen. Der Hohlweg führte hinauf zur freien Höhe. „Siehst du, Richard, da schlafen alle Blumen noch. Die blauen Glocken haben sich geschlossen, und die Erdbeerblüten ruhen noch ein wenig von ihren Pflichten aus. Sie müssen sich ja so schrecklich eilen: kaum haben sie ihr goldenes Pelzherzchen, da soll es schon grün sein: kaum ist es grün, so sieht es der Wanderer an, ob es das Erröten noch nicht lernt. Und erst muß es doch weiß werden --“ Sie hatte sich herunter gebeugt zu den Erdbeerblüten am Wegrand. „Adieu, kleine Blumen, und eilt euch nicht so sehr. Seid klug wie sparsame Menschen, die sich zwölfmal besinnen, ehe sie sich verschenken.“ „Es muß an sonnigen Stellen doch jetzt schon Erdbeeren geben,“ meinte der Mann. „Wir wollen ihnen nichts tun. Wir wollen sie alle das Fest des Sommers feiern lassen. Komm doch, komm -- hier sind wir oben, und alles ist voll Sonne. Nun müssen wir tapfer laufen -- dem Wind nach. Fühlst du, wohin er streicht?“ Sie nahm den kleinen Hut ab und wartete, der Wind möchte über ihre Knabenhaare weggehen und sie ein wenig zausen. Aber es war ganz still, ganz morgendlich klar lag die Luft, und die alte Mühle oben stand ernsthaft und stumm und sah gleich einem grollend zur Untätigkeit verdammten rüstigen Alten, dem man sein Amt genommen hat, ins Weite. „Komm, Richard, wir wollen der Mühle einen guten Morgen sagen. Ach, du mußt nicht auch ein Gesicht machen, so ernst wie die Mühle. Heut ist doch Feiertag.“ Sie standen dort, wo man einst den Kaspar Mühlfund aufgelesen hatte. Leonore setzte sich ins Gras -- sie sagte halb singend, halb horchend vor sich hin: All’, was vergangen, Will Wiedererlangen, All’, was gewesen, Sei neu erlesen, All’, was betrübte, Sei nun das Geliebte, All’, was gut und gestorben, Neu sei es erworben, Und allen lieben Toten in der Erde In uns heut Auferstehung werde -- „Was ist das für ein Lied?“ fragte er. „Es ist kein Lied, man sagt doch manchmal, was einem gerade einfällt, vor sich hin. Das hat man doch oft, man hört irgendwo etwas, in der Luft, im Wald, man sagt es dann. Denk doch nur, was der Wind alles hört, was er alles mitnimmt von Lippen, die flüstern, oder lachen, oder weinen. Und wenn er dann an unsern Ohren vorbeikommt, fangen sie irgendeinen Ton auf, wie eine Melodie von Worten, und dann muß man es sagen. Hörst du denn nie auf den Wind? Du -- komm doch -- komm doch zu mir, Käsperlein Mühlfund, weißt du noch, wie es damals war in ferner Zeit? Der Wind ist dein Pate gewesen hier oben -- der Wind hatte dich lieb -- o, der erzählt mir hier wunderschöne Sachen von dir, wie du klein warst und ganz winzig jung. Bist solange in der Welt herumgelaufen und hast einen schwarzen Bart gekriegt und ganz messertiefe Striche um den Mund. Warte nur, die nimmt dir der Wind im weimarischen Land wieder fort, bis du wieder ein kleines Käsperlein bist, das so schön lachen kann. Ich weiß schon, wie du bist, der Wind hat mir alles verraten. Er geht ja nur ganz leise, die alte, schwere Windmühle streichelt er bloß, aber weil sie so alt und dumm ist, merkt sie es gar nicht.“ Der Mann saß neben dem Kind, und er hielt ihre Hand, und sie ließ sie ihm. Er fragte mit der scheuen Neugier eines Menschen, der es ganz entwöhnt war, daß jemand mit Zärtlichkeit seinem Leben nachspürt: „Leonore, was sagt dir der Wind von mir?“ Sie lächelte sanft, weich und antwortete langsam: „Er sagt mir, daß da ein kleines Büblein war, ein braunes, kleines Jungchen, das ist in die Welt gekommen und wußte nicht woher. Oft lag es draußen und dachte, andere kleine Käsperlein die haben Brüder und Schwestern, und ich bin so allein. Aber immer, wenn es traurige Sachen denken wollte, dann ist der Wind gekommen, der frohe, warme Sommerwind, und hat ihn eingeschläfert, und die Blumen haben dazu genickt, die haben Ja und Amen dazu gesagt und ihn von schönen Gärten träumen lassen, in denen ein kleines Hündlein auf ihn zusprang, das hatte das allerschönste Fell und bellte so freundlich; das hieß: Ich bin dein Hündlein und gehöre dir! Später, als der Kaspar schon größer war, da hat ihm der Wind erzählt, daß er ein Freigeborner ist, einer, den nichts bindet, nichts hält, nichts verpflichtet, einer, der rechtlos ist und darum sich alles rauben darf; einer, dem +nichts+ gehört oder +die ganze Welt+ -- ein Freier, ein Selbstgewordener, nach dem niemand fragt und der kein lastendes Erinnern zu tragen hat, einer, für den die Welt neu geschaffen wurde.“ Das halb verlegene, halb glückliche Lächeln auf Freyers Gesicht verschwand. Die scharfen Striche um den Mund traten schärfer hervor. „Ich habe meine Kompromisse mit der Welt gemacht!“ „O, das war eine andere Welt als die, über die der Wind, dein Pate, geht. Die ist ganz versunken und verloren, die ist böse, und die lassen wir nicht in uns neu werden. Die tun wir fort -- hörst du mich, das ist alles vorüber, Richard.“ Sie beugte sich über ihn, der im Grase lag. „Quält dich noch etwas, das fern ist? Quält es dich? Dann wollen wir es dem Wind erzählen, und der trägt es weit fort, zu seinem Ursprung zurück -- und alles ist vergangen und beendet.“ „Du,“ sagte er, „Liebe, du, wenn ich bei dir bin, ist nichts.“ „Wir sind ja immer beieinander.“ Sie strich mit ihrer leichten Hand über sein Haar. „Komm, nun sagen wir der Mühle wieder adieu. Nun gehen wir mit dem Wind ins Land.“ Sie streckte die Arme aus, als wollte sie den Morgen umfangen. Und dann nahm sie raschen Schrittes den nächstliegenden Weg auf. Ein Wandersmann kam ihnen entgegen. Es war ein Jüngling, der sich den ersten Bart um Lippen und Wangen wachsen ließ und aussah wie ein Krähenküken. Er hatte den Hut mit einer Metallzwecke am Rock befestigt, er trug Sandalen an den strumpflosen Füßen, und seine Brust zierte ein Wollhemd, das eine rote Krawatte noch besonders zum Ansehen aufforderte. Also ausgerüstet, dokumentierte der Vielhaarige, daß er beschlossen habe, sich mit seinen Gewohnheiten, soweit dies in einem zivilisierten Staat möglich ist, der Natur zu nähern. „Herr Wandersmann,“ redete ihn Leonore an, „wo ist denn der schönste Weg? Wir möchten es gern wissen!“ Diese unerwartete, ungewohnte Ansprache nötigte den Jüngling, um seine Fassung bewahren zu können, sich für einen Augenblick in die Schranken der Konvenienz zurückzubegeben. Er stammelte: „Mein Name ist S--treckhorn, ich bin hier leider zu fremd, um ihnen Beis--tand leisten zu können. Doch s--teht nicht weit von hier ein Wegweiser!“ Leonore lachte ihn an. „Steht denn auf dem Wegweiser, wohin der schönste Weg führt?“ „O, Verzeihung, ich dachte, Sie s--prächen von dem Namen eines Dorfes.“ Sie sah auf den Jüngling, der mit der Uhr in der Hand seinen ausgerechneten Morgengang machte. „Sie können uns also nicht helfen, Herr Wandersmann? Nun, dann leben Sie wohl!“ „Verzeihung,“ stammelte der junge Mann, machte eine Verbeugung und kehrte dann zur Natur zurück. Sie sahen ihn noch eine Weile eifrig, pflichtgemäß die S--trecke gehen, die er für diesen Tag sich ausgerechnet hatte. Leonore sagte: „Herr S--treckhorn trinkt nur Wasser und Limonade. Er s--teht mit dem Morgengrauen auf und läuft seine S--trecke ab. Und er lebt der Natur. Mit dem Wollhemd von brauner Farbe nähert er sich dem schuldlosen Tier, und die rote Krawatte verkündet seine Freude, ein Bekehrter zu sein. Es ist sein Manness--tolz, mit bloßen Füßen eine Gesellschaft von Unnatürlichen zu s--trafen. Er sieht schon fast aus wie ein Alldeutscher, aber niemandem würde er je ein Leid tun. Er sieht in Gedanken schon das Neuland, wo alle in Wollhemden Feste der Natur feiern. In Wollhemden und in Schönheit. Ach, du, Richard, wie gut ist es doch, daß du von selbst weißt, wie man sich anziehen muß.“ Wieder lächelte der Mann verlegen erfreut. „Tu ich das?“ „Ja, du weißt, was zu dir paßt. Du hast jenes Stilgefühl für das eigene Aussehen, das angeboren sein muß oder erst nach langem Nachdenken erworben wird.“ „Du hast es auch, Leonore.“ „Das werden nicht alle Menschen finden. Ich sehe doch immer jungenhaft aus. Wenn ich mich aber so richtig damenhaft anziehen wollte, weißt du, so wie die Durchschnittsdame mit Seidenfetzchen am Kleid und Spitzenstückchen und Schmucksachen, dann wäre ich gerade wie ein Osterhase auf Ansichtskarten, dem man ein Mäntelein umgetan und einen Zylinderhut aufgesetzt hat.“ „Gibt es solche Ansichtskarten?“ fragte er. „Wenn wir uns mal getrennt haben, schicke ich dir eine.“ „Will mein Osterhäslein fortlaufen?“ „Das mußt du am besten wissen,“ antwortete sie lachend. „Wenn du dir schon einen Osterhasen als Lebensgefährtin ausgesucht hast, dann mußt du auch wissen, wie diese Tiere beschaffen sind. Ja, das mußt du.“ Sie gingen durch die Felder. Die standen grün und bekamen schon Ähren. Und schon blühten vereinzelt am Rand die lieberoten Blumen des wilden Mohns. Und die Lerchen stiegen auf in den Himmel -- stiegen, jubelten, stiegen höher -- und taumelten dann, von Lust trunken, wie Blüten, die von unsichtbaren Bäumen fallen, wieder herunter in das grüne Feld. „d’Annunzio beendet den ersten Akt seines Dramas ‚Die tote Stadt‘ mit den Worten einer Blinden: Irgendwo muß eine tote Lerche sein. Der, den sie liebte, hatte sie ihr heimgebracht -- die kleine, tote Lerche, die sich die Brust zersprengt hatte vor Jubel.“ Leonore antwortete ernsthaft: „Professor Freyer, ein Herr von großer Rednergabe, wenn Sie ihn vielleicht kennen, pflegt seine junge Frau auf Spaziergängen durch den Morgen von italienischen Dramen zu unterhalten. Es ist dies ebenso lehrreich als bildend, denn es ist ganz rückständig, in einer Lerche eine Lerche zu sehen, nachdem doch Gabriele d’Annunzio die Lerche zum Symbol einer toten Stadt gemacht hat.“ Der Mann wurde ganz verlegen über diese Standrede. „Magst du es nicht hören, wenn man von Büchern spricht?“ „Sehr gern mag ich das. Aber die Lerche des Gabriele ist ja schon lange tot. Und hier um uns fliegen ganz neue. Die ersten Lerchen der Welt.“ Sie kamen zum Waldrand -- und Leonore setzte sich an der sonnigen Halde nieder. Der Mann kam zu ihr und war zärtlich. Er küßte ihre jungen Haare und küßte ihren freien Hals und die Hände, die braun und stark und weich waren. Sie konnte sich aber darein immer nicht recht finden. Ihr fielen Worte leichter als Geberden. Und so kam sie zu ihm mit Worten einer ritterlichen Zärtlichkeit -- mit Worten, die alles auslöschen sollten, was seine Jugend trübe gemacht hatte -- mit Worten, die vielleicht nach Liebe klangen und die ihr doch nur die Gerechtigkeit des Lebens schienen. „Du bist so gesund, du,“ sagte sie, „ich freue mich immer daran, wenn ich dich ansehe. So einen festen, schwarzen Pelz hast du auf deinem Kopf, und dein Bart könnte gewiß so lang wachsen, daß du mich an ihm aus einem tiefen Brunnen ziehen könntest, wenn ich hineinfiele.“ „Möchtest du mich denn noch, wenn ich einen so grauslichen Bart hätte?“ „Probier’s doch!“ Plötzlich war sie fort von ihm. Sie lief einer Eidechse nach, die durch das storre Gras geraschelt war. Und dann kam sie wieder und hatte das Tierlein auf ihrer braunen Hand. „Siehst du, dem jungen Sommer zu Ehren hat es sich ganz smaragdgrün angezogen, daß es nicht vom Grase absticht. Und die armen Mücken meinen dann, es ist ein freundliches, grünes Blatt, auf das sie sich setzen -- sieh doch, wie es guckt! Ja, du Eidechsin, du junge, was willst denn du? Sei froh, daß ich nicht so böse bin wie ich aussehe, sonst nähme ich dich mit heim und sperrte dich in einen Glaskasten, und du müßtest ein Familientier sein! Lauf’ doch, adieu, geh fort!“ Aber die Eidechsin wollte bleiben; sie lief in Leonores Ärmel hinein, kam beim Hals wieder heraus, und es gefiel ihr da auf der warmen Haut so gut, daß sie sich ruhig niederließ. „Mögen dich alle Tiere so gern leiden?“ „Die merken es schon, wenn man sie lieb hat.“ Nach einer Weile sagte Leonore: „Wenn du erlaubst, bin ich jetzt recht hungrig. Da drüben ist eine Kirche, folglich gibt es auch eine Schenke. Führst du mich hin und bestellst du auch das Wunderschönste zum Essen?“ Er war bereit. Im Dorf herrschte schon volle Tagesgeschäftigkeit. In der Schenke stand eine Frau am Herde, mit der begann Freyer eine Beratung. Das dauerte gar lange, und als er endlich die Gaststube betrat, fand er Leonore in eifrigem Gespräch mit einem alten Handwerksburschen. „Junges Fräulein,“ sagte der Handwerksbursch von verwittertem Aussehen, „ich darf sagen, daß ich die Welt kenne. Ich bin im Preißischen gewest und im Welschland und im Elsaß, und überall war ich g’ehrt und g’acht.“ „Und hab’ es doch zu nichts gebracht,“ reimte Leonore, aber sie sah den Verwitterten so freundlich dazu an, daß der gar nicht beleidigt war, sondern in ihr Lachen einstimmte. „Junges Fräulein -- ah, da ist der Herr Papa, ich hab’ die Ehre --“ „’s ist doch mein Hochzeiter, Wandersmann.“ Der Wandersmann hatte Takt und Bildung und bemäntelte den begreiflichen Irrtum. Er sagte: „Hab mich nur rewantschiert, junge gnädige Frau, für das ‚zu nix bracht haben‘. Blüte und Apfel an einem Baum, Das ist der schönste Lebenstraum, sagt man bei uns.“ „Woher sind Sie denn, Wandersmann?“ „Geltens, das heert man niche! Ich spreche eine internationalische Sprache. Wenn man in der Welt g’ehrt und g’acht sein will, da därf man seine Mundart nich reden. Also, ich bin ein g’lernter Maurer, die Stadt Närrnberg blickte auf meine Wiege. An der hat man mir auch nicht gesungen, daß ich als alter Mann noch ein reisender Etranschär im fremden Lande wäre.“ „Wissen Sie denn noch, was man an Ihrer Wiege gesungen hat?“ Der Mann lachte: „Es ist allerdings a weng lang her.“ Freyer mischte sich in das Gespräch. „Wenn Sie Papiere haben und Arbeit suchen -- ich hätte welche zu vergeben.“ „Nach mir därf man sich überall erkundigen,“ sagte der Wandersmann stolz. „Nur aus Charakter hab’ ich meine Stellen wieder aufgegeben -- nur aus Charakter.“ Und er zog seine schmutzigen Papiere heraus. Man vereinbarte bald, der charaktervolle Mann solle in dem Ruinenteil von Kapellendorf mit Beton und Zement dem Verfall Einhalt tun. In die weitern Verhandlungen wollte Leonore nicht eingreifen -- so ging sie voraus, die Kirche des Dorfes anzusehen, denn sie galt als berühmt. Die Schule lag dem Kirchplatz gegenüber. Und es war gerade Entlassungsstunde. Die Wissenschaft schwieg für den Tag, nachdem von sechs bis neun Uhr ihre Zeit gewesen war. Die Dorfkinder kamen heraus, bestaunten die fremde Erscheinung, und als Leonore fragte, wer den Schlüssel zur Kirche habe, rannte ein Junge davon und kam in Gesellschaft eines rundköpfigen, knasterbärtigen Brillenträgers wieder. Der Brillenträger zupfte an seinen Rockärmeln, die etwas kurz waren und das Fehlen von Manschetten nicht verbergen konnten. Er hielt ein kleines Buch in der Hand und kam auf Leonore zu. Zu dieser hatte sich unterdessen ihr Mann gesellt. „Sie sind der Herr Lehrer, wenn ich richtig rate,“ begann Leonore die Annäherung, „und Sie wollen so freundlich sein, uns die Kirche zu zeigen.“ Der Herr Lehrer reckte seine untersetzte Gestalt, nicht bedenkend, daß seine Hosen dadurch noch kürzer wurden, als sie schon waren -- sein Gesicht zeigte noch mehr Würde, und er entschuldigte im voraus, daß die Kirche nicht schöner sei, als sie eben war; das Innere sei ganz leer, die Einrichtung auf Reparatur fort, man könne sich also nur an dem Äußeren ergötzen. Und der Herr Lehrer begann in wundervoller Aussprache aus dem Buch die Daten und Motive und angebrachten Inschriften des Kirchenbaues vorzulesen. Richard suchte nach Steinmetzzeichen an dem Bauwerk. Unterdessen plauderte Leonore mit dem Apostel der Bildung des Dorfes. „Wohnt auch der Pfarrer hier?“ „Nein, wir sind nur eine Filialgemeinde.“ „Da sind Sie also der einzige Gebildete hier?“ Der Herr Lehrer verbeugte sich nach hinten über durch heftiges Zurückwerfen des Kopfes. Dies tat er nicht etwa wie der deutsche Adel, um seine hohe Geburt zu bekunden, sondern seine körperliche Kleinheit schien ihm in diesem Augenblick, da er den einzigen Gebildeten einer Siedlung darzustellen hatte, noch unangenehmer als sonst. „Ja,“ sagte er in einem trockenen Ton, der Erfreutsein verbarg, „nun, man hat seine Herren Kollegen in der Nähe.“ „Sie haben ja auch Familie,“ sprach Leonore weiter, denn ein schmutziger Junge näherte sich eben, Zeichen machend, dem Lehrer. Doch hinter dessen Brillengläsern schoß ein harter Schulmonarchenblick auf den kleinen Schmutzfinken hervor, so daß dieser aufhörte, seinen Vater zu kompromittieren, und davonlief, als fühlte er schon das traditionelle Erziehungsmittel auf sich. Da Richard sich noch ein Steinmetzzeichen kopierte und der Lehrer, neuer Ansprachen gewärtig, stehen blieb, fragte ihn Leonore, ob er auch Bienen hielte. Bienenzucht und Obstbau zu lehren sei ja der soziale Beruf des Landlehrers. Und das fände sie schön, es brächte den Volkserzieher dem Volke näher. Sie hatte einen Bienenstand gesehen, darum redete sie also. Jawohl, der Herr Lehrer hatte sieben Stöcke. „O, da verkaufen Sie gewiß auch Honig?“ „Eine Mark das Pfund, prima Qualität.“ Die Besichtigung der Kirche endete mit einer Honigbestellung, mit einer Einladung der werten Familie nach Kapellendorf, mit dem Versprechen, dem Herrn Lehrer ein Buch zu leihen, nach dem er sich schon lange sehnte, und mit des Herrn Lehrers tiefsten Verbeugungen nach vorn. „Leonore,“ sagte der Mann, als sie wieder allein waren -- „wie fängst du es nur mit den Leuten an? Alle geraten sie in Ergebenheit, sobald du mit ihnen sprichst. Sogar dieser spröde Schullehrer!“ Sie lachte. „Ich bin so froh, nun kann ich alle Menschen ansprechen, wenn ich mag. Weißt du, ich habe ihm auch gesagt, sein Junge sei ein hübscher Junge, dann sorgt er gewiß dafür, daß ihn die Frau öfters wäscht, und er braucht sich seiner nicht mehr vor Fremden zu schämen. Ach du, was tätest du, wenn du auf einem solchen Dorfe Schulmeister sein müßtest?“ „Ich machte es vielleicht wie Franz Schubert, der aus Zorn über seine Lage den ganzen Tag die Kinder prügelte.“ „Nun wieder wie ein anderer! Meinst du nicht es müßte ganz schön sein, sich so als der Verantwortliche über alle zu fühlen? So wie ein kleiner Souverän?“ „Du liefest gewiß recht bald aus dem Schulhause fort in blaue Fernen.“ „Tun wir es jetzt,“ sagte sie, „aber nein, wir müssen nach Hause.“ -- Immer wieder konnte sie das alte Haus begrüßen, als käme sie von weiten Fernen heim. Sie führte den Mann durch die Stuben, die er noch nicht alle kannte. Immer wieder war wo ein verborgenes Treppchen, das in ein kleines Zellengemach oder auf einen verborgenen Korridor hinunterführte. Stuben voll alter Geräte waren da, mit verblaßten Malereien oder kunstvollen Türschlössern. „Was machen wir nun mit dem allem?“ fragte der Mann. „Ja, hast du so viel Geld, daß wir den charaktervollen Maurer lange behalten können?“ „Aber gewiß.“ „Dann wollen wir alles schön machen lassen -- frisch tünchen und ausbessern --, und dann stellen wir deine Sammlungen auf und bekommen das allerschönste Schloß der Welt. Aber jetzt müssen wir uns zu Tisch zurechtmachen. Du hast jemand mitgebracht, der sagt: ~Madame est servie~, da muß Madame auch ein langes Kleid anziehen, ein feierliches, langes Kleid.“ Richard Freyer hatte Leonore gefragt gehabt, wo sie schlafen wolle in Kapellendorf. Da hatte sie ihr Mädchenzimmer genannt und naiv befohlen, er solle doch auch das haben, was er als Junge bewohnte. So war es gemacht worden, und der Mann ging darauf ein, als sei es das Natürlichste. So waren sie durch eine Zimmerflucht getrennt, aber die Türen standen immer offen, und des Morgens riefen sie einander zu, ob sie noch schliefen. Als Leonore das stolze Kleid anhatte, kam Freyer herüber, sie abzuholen. Sehr feierlich saß Leonore an dem Tisch, den ein männliches Wesen bediente, das ~Madame est servie~ sagen konnte und bei Professor Freyer schon lange in Diensten gewesen war. Sie dachte, das männliche Wesen, das soviel von guter Sitte versteht, soll nicht denken, sein Herr hat nur ein Wald- und Wiesenmädchen geheiratet. Es würde ihn doch zu heftig enttäuschen. Später, wenn er einsieht, daß ich seinen Sitten gewachsen bin, später vereinfachen wir uns ein wenig. Nach Tisch mußte man in den Garten hinuntergehen, denn Richard protestierte heftig, daß er mittags etwa gar schliefe. Nein, so alt wäre er denn doch noch nicht, und von schwerer Arbeit müsse er sich auch nicht erholen. Nun machte Leonore allerlei Gartenpläne. Auch war manches da im Hofe doch im Laufe der Jahre unschön, verwahrlost gelassen. Im Garten standen die Malven voll Knospen -- und Leonore beschrieb, wie schön es wäre, wenn sie alle errötend standen. Und dann kam es als heiße Freude über sie: das alles gehört nun mir, das alles ist annehmbar unser. Und sie liebte den dafür, der ihr alles geschenkt hatte. Ob man nun am Nachmittag Besuche im Dorfe machen sollte oder einen Spaziergang? Sie überlegten das noch sehr, als sie schon weit über die Heidenhügel hinausgekommen waren. Nun, da lag der Wald, wacholderumsäumt lag die Halde vor ihnen. Hier müssen wir erst Grüß Gott sagen -- dann später kommen die Menschen. Die Wacholdersäulen sind viel älter und ehrwürdiger als die Einwohner von Kapellendorf. Es schickt sich nur, daß wir zuerst zu ihnen kamen. Doch sie saßen kaum an den Wacholdersäulen, als ein Trupp Mädchen aus dem Wald kam. Sie trugen, so klein sie waren, Holzbündelchen, ob rechtlich oder frei erworben, kümmerte sie nicht. Es kümmerte sie auch nicht, daß niemand sie aufforderte, zu verweilen. Sie blieben stehen, schwiegen eine Weile, dann kritisierten sie unbefangen Leonores Kleid, ihren kleinen Hut und die Uhrkette, die Freyer anhatte. „Heute ist wohl Holztag?“ fragte Leonore. Ein munterer Braunkopf mit den glitzernden prächtigen und nicht allzu treuen Augen der Thüringerin nahm sogleich das Wort: „Mir gähn immer Sunnabend ins Hulze, meine Mutter spricht: dazu ist keene Schule.“ „Da hat die Mutter sehr recht.“ „Sie,“ sagte darauf die Rednerin entschlossen, „Sie, warum därfen mir denn nicht mehr in den Bassäng baden, seit Sie gekummen sin? Mir haben immer in den Bassäng baden därfen.“ „Weil ihr so schwarze Fische seid -- Tintenfische seid ihr.“ Die Kinder schrien: „Da derfier gähn mir doch nein, werd sich doch keener baden, wo reine is.“ „So, wißt ihr das so genau? Warum sagt ihr aber nicht Weiher oder Teich, sondern Bassäng?“ „So spricht der Lehrer, das ist ein Bassäng, spricht er.“ „Nun wir wollen sehen, vielleicht dürft ihr wieder hinein.“ „Aber balde -- es macht so heeß itze. Kumm, meine, mir machen itze furt.“ Die Rednerin ergriff ein ganz kleines Mädchen am Arm. Aber das war noch immer in den Anblick der Uhrkette versunken, wehrte sich und sagte: „Ich bin nich deine, ich bin meiner Mutter seine.“ „Na du, ich soll doch aufpassen auf dir.“ Leonore fragte: „Sagt einmal, wer ist denn die Brävste von euch?“ Die Rednerin besann sich gar nicht, sie zeigte auf ein abseits stehendes, sanftes, blondes Kind. Und die bisher so schweigsamen Genossinnen stimmten zu: ja, das war die Brävste. Leonore griff ihrem Mann lachend in die Tasche und holte ein wenig Geld heraus: „Was mögt ihr denn am liebsten? Na, ich muß es nicht wissen. Aber weil ihr so fleißig wart, soll euch die Brävste was kaufen. Und du mußt auch dafür sorgen, Brävste, daß jeder sein Teil kriegt.“ Die Kinder stürmten davon. Sie purzelten und kollerten den Hügel hinunter. Ein wenig schuldbewußt sagte Leonore: „Es ist nur heute, Richard, ich werde sie nicht zu Bettelkindern machen. Ausnahmen dürfen einmal sein.“ * * * * * Leonore und Richard gingen weiter -- gingen in den Wald hinein. Da war Sommermittagsstille. Nur von fern hörte man das Hämmern der Spechte, hörte man vereinsamten Vogelruf. „Weißt du, Lieber, wie wir am Abend unseres Hochzeitstages oben auf der freien Höhe standen, und es war so still im Wald, so unnennbar still, als sei alles Leben in den Gründen verdämmert, als hätte die Zeit aufgehört zu gehen. Da fühlte ich auf einmal, wie gut es war, daß ich dich wußte -- daß ich nicht mehr allein zu sein brauchte. Da rief ich dich, und du kamst -- ja, dort im stillen Wald war unsere Hochzeit, da wußte ich, daß ich mit dir gehen wollte.“ Und sie gingen mit einander durch den stillen Wald -- sie hörten nichts als fern das Hämmern der Spechte, hörten nichts als ihrer beider Atemzüge, die von dem Lebenswillen zueinander sprachen. -- Der Tag neigte sich schon, als sie auf einem andern Weg, durch die Flur her, sich Kapellendorf wieder näherten. Da begegnete ihnen ein alter Mann, der hatte eine prächtig lackierte, rötliche Brummbaßgeige auf dem Rücken. Und er redete sie an: „Morgen ist Kirmes in Isserstedt. Machen Sie auch hin?“ Sie hatte ein Scherzwort für ihn -- und sie sah ihm noch nach, bis die bunte Geige nur noch ein kleiner, rötlicher Fleck war. Sie seufzte halb, als sei ihr ein dunkler Gedanke gekommen -- sie wußte nicht, woher -- Durch das Kornfeld geht ein Alter, Trägt den Brummbaß auf dem Rücken, In der Tasche seinen Psalter, Schelmerei in seinen Blicken. „Spiel euch wohl ein lustig Liedel, Meine lieben Jungfräulein, Spiel euch wohl auf meiner Fiedel Liebe in das Herz hinein.“ Alter Bursch, mit deiner Geigen Wirst du dir kein Herz erweichen, Wirst du nur zum Liebesreigen Andre sehn sich niederneigen. „Tanzen all nach meiner Fiedel, Tanzen all nach meinem Liedel Bis zum letzten Morgenrot -- Denn ich bin der Fiedler Tod.“ Seinen Brummbaß umgehangen, Geiger geht zum Kirmesboden, Nur ein Weilchen -- und voll Bangen Tanzen wir den Tanz der Toten. * * * * * Leonore hatte die alte Gewohnheit wieder aufgenommen, nach Tisch des Abends wieder auf das Mauergärtlein zu gehen, dorthin, wo man im Dämmern so weit, weit ins Land sehen konnte -- bis zu dem weißen Schloß am Ettersberge. Alte Blumen blühten auf dem steinigen Erdreich: wilde Königskerzen, stolzer Heinrich; Erdbeeren wuchsen unter den Steinen und mußten sich so hohe Stengel schaffen, daß sie aus dem Gras hervorsehen konnten. Die Waldrebe umspann das Gemäuer, und der Dornbusch grünte. Eine einsame Wacholdersäule stand wie ein Schatten an die Mauer gelehnt. „Sprich zu mir,“ sagte Leonore. „Ich weiß so wenig mehr von dir, als daß ich dich lieb habe.“ „Ist das nicht genug, Leonore?“ „Ich möchte alles von dir wissen -- verstehst du, um es lieb zu haben. Es ist doch nicht, daß man Worte redet und alles, was vergangen ist, damit umbildet. Du sollst mir doch nicht eine Phantasiegestalt bleiben. Ich glaube, die Wirklichkeit kann schöner sein als alle Gedanken und Vorstellungen. Lieber, man sieht es dir doch an, daß du viel erlebt hast.“ Er fuhr unwillkürlich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er die Spuren von Leben, Sorgen, Kämpfen und Genießen verwischen. Sie lächelte: „Du willst mir etwas forttun? Aber wir sind doch zusammengekommen, um immer beieinander zu bleiben, Richard. Willst du denn, daß da fremde Dinge sind, die ich nicht weiß? Ich will doch alles zu verstehen suchen -- ach nein, verstehen ist nicht das richtige Wort -- deine frühere Zeit soll bei mir zu Hause sein, ich will deine Erinnerungen hüten und bei mir lebendig sein lassen.“ Der Mann antwortete: „Wie sehr liebst du mich.“ Ihre Seele starrte das Wort an. Was sollte sie damit machen? Nie hätte sie es sprechen mögen. +Ich liebe dich+ -- ja, tausendmal. Aber +du+ liebst +mich+ so sehr -- als positive Aussprache, als Ausdruck von Zufriedenheit -- oder war es Anerkennung einer Kraft, die man selbst nicht mehr stark besaß? Sie dachte, das ist wohl Mannesart -- vielleicht soll es gar etwas wie ein Lob sein. „Sprich nur von dir,“ wiederholte sie. Doch er antwortete: „Nicht heute -- nicht jetzt. Ich will meine trüben Vergangenheiten ein wenig vergessen. Ich will nicht das alte Kapellendorf des Kaspar Mühlfund, sondern das neue von dir, das neue von uns.“ „Ich weiß nicht, wie du es wollen wirst,“ sagte sie ein wenig unsicher. „Ich habe heute den Lehrer eingeladen, dann fiel mir ein, vielleicht möchtest du es nicht, obwohl du nichts dawider sagtest. Siehst du, bei den Großeltern war es so: sie hatten immer viele Menschen um sich. Wer im Lande wohnte, konnte zu ihnen kommen. Ich meine, sie fragten nicht zuerst nach der Bildung der Menschen, noch viel weniger nach ihrem Stand. Aber wenn die Menschen in Großmutters Stube kamen, waren sie anders als draußen. Die Großmutter sprach gar nicht viel und gab doch immer den Ton. Niemand nannte sie hochmütig, und sie war doch eine stolze Frau, und nie ist ihr eine unziemliche Vertraulichkeit begegnet. Ich bin ja nun nicht wie die Großmutter. Aber ich bin so unter den Leuten aufgewachsen, ich könnte nie eine Dame werden, wie viele in den Städten sind, und von denen man das Gefühl hat, sie müßten sich fortwährend verschanzen und nur mit genau denselben Ständen verkehren, damit niemand denkt, sie seien weniger als sie sind. Du bist doch nicht böse, daß ich Lehrers eingeladen habe. Weißt du, alle Leute, die sich unfrei, subaltern fühlen, sind so leicht verletzt, und nur gegen Gleichstehende darf man rücksichtslos sein.“ „Du hast recht. Meinst du aber, es wäre gerade rücksichtslos gewesen, den Lehrer +nicht+ einzuladen?“ „Er hat uns doch aus Freundlichkeit aus dem Buch vorgelesen. Und wenn er zu uns kommt, kann er die vielen schönen Sachen aus deinen Kunstsammlungen sehen, das kennt er gewiß noch gar nicht, und uns schadet es nichts.“ „Nein, kleines Liebchen, uns schadet es nichts. Ich freue mich, dich zu sehen, wie du mit den Leuten bist. Aber erzähle mir doch noch von dir -- vom alten Kapellendorf.“ „Ja, weißt du, viele, viele Sommerabende bin ich hier gewesen -- und sah, wie das Land dunkel wurde, wie die Farben sich vertieften, so wie man es gar nie würde malen können, weil es nur ein Übergang ist und darum zwischen den Wirklichkeiten. All diese Übergänge kennen die Menschen meist nicht, sie wollen nicht das Tastende, Suchende, sie wollen und glauben immer nur das, was auf festen Füßen steht ... Aber mit dem Tastenden, Übergehenden in solchen Sommerabenden, wo alle Farben im Ersterben so unwirklich wunderschön werden, gehen unsere Wünsche. Aus dem Augenblick die Dauer schaffen zu können, sehnen wir uns. Weißt du -- siehst du es jetzt --, der Ettersberg ist indigoblau, man erkennt keinen Baum mehr, keine Unebenheit. Alles ist so vereinfacht. Das Land hinten wird grün wie ein edler Stein, am Himmel kommen die Gestirne. Und durch die Dämmerung glänzt das weiße Schloß. Alles ist stark und erwartungsvoll. Da dachte ich mir oft, durch dieses Land der Dunkelheiten weithin, fernhin möchte ich ziehen -- Und man müßte dabei so viel erfahren, was man noch nicht weiß. Die Erde müßte sprechen können -- und man müßte alles vergessen, was klein und müde war, und alles Traurige müßte Stärke werden. Und dann, ja dann kam das weiße Schloß. Weißt du -- das lange geliebte. Weißt du, jemand, der uns ganz kennt. Der uns erlöst ... Ich habe dich -- du warst mir immer der, von Anfang an, der von mir weiß. Und nun bin ich bei dir. Aber ich weiß so wenig von deinem Letzten. Ich quäle dich nicht -- es wird schon kommen, du brauchst Zeit, Lieber. Und das muß wohl sein, denn wir wollen ja die Ewigkeit haben.“ „Du bist schön,“ antwortete der Mann -- „ja, die Ewigkeit der Treue werden wir haben. Eine Burg --“ „Du bist wie ein Heidenaltar, der aus der Erde ragt, und den Menschenhände nicht stürzen können. Unser Kapellendorf -- unsere alte Heimat, die du uns neu geschenkt hast.“ Sie lächelte ihn mit ihren guten Augen an und nahm seine Hand und küßte sie ganz leise. In ihr war es ruhig. Fern, hinter den Dämmerungen glänzte das weiße Schloß am Ettersberg. Einst, ja einst, war alle Sehnsucht Erfüllung. Einst blieb kein Rest mehr zu wünschen ... Das war ein Tag von einem ganzen Sommer. Das war ein Korn aus der vollen Ähre, die sie ihm reichte. Das war ein grünes Blatt von dem Maibaum, den sie ihm pflanzte. VI. Dämmerungen. Sie gingen heim durch die Felder. Reif und schwer, leuchtend weiß standen sie. Darüber war der Himmel wie blauer Stahl, und nur zuweilen riß ein Sonnenglanz das Gewölk auseinander und warf ein grelles, erschreckendes Licht über ein Stück Feld. „Wir müssen eilen,“ sagte Freyer, „fast eine Stunde sind wir von jedem Dorf fort, komm doch rascher, du.“ Aber sie eilte nicht. Sie starrte nach dem düster-schweren Himmel -- sie sah über die Felder mit den vereinzelten, gespensterhaft weißen Flecken, und sie fühlte ihr Herz schlagen in Qual und Lust. „Es kommt der Sturm,“ sagte sie, und das klang, als spräche sie: es kommt das Glück. „Liebst du den Sturm?“ Sie antwortete aus ihren Gedanken heraus: „Ich kenne ihn nicht, aber es muß schön sein, ich kenne ihn nicht, und will ihn erleben.“ Etwas Fremdes lag auf ihrem Gesicht, etwas von schmerzhaftem Willen. Alles war Sanftheit -- so viel, zu viel. „Laß uns doch hier bleiben und den Sturm fühlen.“ Aber er war voll Angst. Voll Angst um sie. „Komm doch, komm doch.“ Da klang schon ferner Donner. Und sie lachte. „Hörst du,“ sagte sie, „wie alles erbebt? Wie die Erde zittert! O, das ist nicht Angst, das ist Freude. Wiedergeburt. Erneuerung. Die Erde hat einen wilden Freund, das ist der Sturm. Er kommt nicht mit sanften Händen. Er zerbricht sie schier, und er weiß doch, sie ist stark. Sie kämpfen miteinander und immer siegt die Erde und zwingt den Sturm, ein freundlicher Wind zu werden, der allem wohltut.“ Leonore blieb stehen. Ihr ganzes Wesen drückte Enthusiasmus, willenlose, trunkene Begeisterung aus: ein Augenblick, der vielleicht einmal im Leben über einen starken Menschen kommen kann. Ein Augenblick, in dem alles Wollen begraben ist -- nicht aus Machtlosigkeit, nicht aus mangelnder Schöpferfähigkeit -- nicht aus Hingabe. Es ist der Augenblick, in dem der Stärkste bereit sein kann, nichts mehr zu wollen -- zu stehen -- zu warten -- So reif und weiß stand das Feld. O, war sie nicht reif, das Leben zu leben -- war sie nicht reif wie ein blühendes Sommerfeld, den Sturm zu empfangen? Ja, die Erde bebte. Der stahldunkle Himmel beschattete das Land. Sollte nicht das Unerhörte kommen? -- Der Mann konnte sie nicht bewegen, heimzugehen. Sie blieb und hörte auf den Sturm. Aber das Gewitter zog zu Tal. Hinunter zog es und verlor sich in den Gründen. Von den Bergen hallte noch der Donner wieder, und nur ein leiser Regen grüßte die Flur. Lag Enttäuschung um Leonores Mund? Nun wollte sie heim. -- Sie gingen. Sobald der Regen aufhörte, waren sie noch in dem alten Mauergärtlein. Ja, und da leuchtete durch die stillgewordene Luft des Sommerabends das weiße Schloß am Ettersberg. Man sah es noch von den Fenstern des Zimmers aus, als sie hinein gegangen waren. Plötzlich sprach Leonore: „Siehst du das Schloß durch die Dämmerung leuchten? O, ich liebe es lange, lange. Über meiner ganzen Jugend hat es gestanden wie ein Gruß von den Toren der ewigen Stadt. Warum führst du mich nicht? Was weiß ich denn von deiner Seele? Sie wohnt in einem tiefen Bronnen, in den ich nicht hinabsehen kann. Du -- ich sehne mich so sehr -- ich sehne mich so sehr. Du müßtest kommen und mir deine Seele schenken -- dann erst kann es gut sein --“ Der Mann sagte mit verhaltener Stimme: „Ich wußte ja nicht, ob ich durfte.“ „Ob du dürftest, du? O, ich wollte alles mit dir. Siehst du, wir haben gescherzt und gelacht wie Kinder. Ich kann nicht immer nur lachen, du -- ich muß den Freund haben, von dem ich alles weiß -- sonst war alles -- eine Lüge.“ Sie stand vor ihm, und auf ihrem jungen Mund lag der Ausdruck einer stürmischen, einer todesernsten Sehnsucht. Sie hob den Arm -- bog sich damit die Stirn zurück. „Bin ich denn ganz allein? Können wir nie Freunde werden? Kannst du nicht sein, daß ich dich liebe wie Gott?“ Der Mann taumelte. Er küßte sie ... Und Richard Freyer gab Leonore, was seit den Tagen des Paradieses der Mann als Heilmittel für alle Frauennot hält. In dem Augenblick, da eine Jugendinbrunst nach einer andern Seele rief, hatte er nur das eine zu geben, was von ihm schon oft verschenkt war. Es war in dieser Stunde ein Bettelpfennig -- ein unbegehrter Bettelpfennig. * * * * * Draußen ging der Winter. Ein langer, stiller Winter. Müde, sonderbar müde war Leonore in all der Zeit. Und Richard saß über Büchern, über unendlichen Notizen, Manuskripten und Abbildungen. Er wollte das wissenschaftliche Werk schreiben, zu dem er lange Jahre schon Vorarbeiten gemacht hatte. Sie war dessen fast froh. Seit jener Nacht nach dem Gewittertag hatte sich etwas zwischen ihnen geändert. Der Mann sprach zu ihr -- ja wirklich, sie könnten nicht immer nur lachen und durch das Land gehen, sie hätten nun lange genug gespielt, nun müsse der Ernst des Lebens, die schwere Verantwortlichkeit des Lebens über sie kommen. War es „über sie kommen?“ Er konnte sich auch anders ausgedrückt haben, der Sinn blieb es jedenfalls. Ein Spiel nannte er das, worein sie allen Willen gelegt hatte. Gut -- mochte es ein Spiel gewesen sein, daß sie ihm die Jugend schenken wollte, daß sie seine Freundschaft begehrte. Er sprach ja so viel von Freundschaft. Er meinte wohl etwas anderes damit, als sie. -- Von der Treue, von der Ewigkeit der Treue sprach er oft. Wie kann man dem, was sich nicht zu erschließen vermochte, treu bleiben? Treu bleiben -- einem Wort? Einem leeren Wort? Sie ging umher, und alles, was einst in ihr geglüht hatte, schien erloschen. Trug sie die Schuld? Hatte jemand Schuld? Sie zerquälte sich; sie dachte: was ging wohl in dem fremden Manne vor, der neben ihr hinlebte und von dem sie nichts wußte, als daß er sie wohl einmal schön gefunden hatte wie ein Schmuckstück, das man nach seinem Willen anlegt und abtut. Was ging wohl in dem Manne vor, der ihr so fremd war? Sie fand einmal irgendwo Verse von jemand, den sie nicht kannte. In irgendeinem Buch, das mit andern aus der Stadt geschickt worden war. „Revenants“ stand darüber -- Heimkehrende, Wiederkommende, Gespenster, wie man es deuten wollte. Gedankenlos hatte sie es gelesen -- und sie las es, aufmerksam geworden, noch einmal: Revenants. Spürst du, wie der Tag entgleitet Über sommerschönem Land? Fühlst du, wie mit sanfter Hand Sich das Dunkel um uns breitet? Weißt du, daß wir lange starben, Daß wir untergehen mußten, Bis wir uns das Jetzt erwarben, Bis wir neu das Leben wußten? Kam nicht das Leben als taumelnder Tanz Von trunkenen Füßen geschritten? War nicht das Leben ein grüner Kranz Vom Schicksal erstritten? Lust -- Lust -- Überschwang, sterbend In Überschwang -- Lust -- Lust -- Liebe, die werbend Wie Flötenklang -- Vorbei -- Weißt du, daß wir langsam starben, Daß wir lange untergingen, Bis wir wieder um uns warben, Bis wir neu uns dann umfingen? Wohl weißt du es. Dein Mund ist rot Von vielem Wissen, Von tausend Küssen, Die er andern bot. Du gibst mir deine Hand -- sie ist so weich, Sie war zuerst von mir geküßt -- Du gibst mir deinen jungen Leib -- er ist so reich, Er war zuerst von mir begrüßt. Kamst wieder heim -- mein Herz, mein Kind, Dorthin, wo vereint wir nun immer sind, Und unsere Augen haben ausgeweint. Ja, alle Lebensnot Und aller fremde Lebenswille ruht nun aus. Ein junger Dornstrauch wächst um unser Haus Und blüht so lieberot. Der Abend umschattet den Raum, Still ist alles. Du bist ja da. Und nur durch eine lange Nacht Ging einst ein ferner Traum, Geliebteste, der Umkreis ist vollbracht: +Zu ihrem Ursprung kommt die Liebe heim+. Sie las das, und es war ihr, als seien diese fremden Worte vielleicht ein Schlüssel zu Richards Wesen. Nie hatte er von seinem Leben mehr gesprochen. War da wohl vor langer, ferner Zeit eine Liebe gewesen, die er doch nicht hatte vergessen können? Die verleugnet zu haben er sich jetzt schämte? Sie dachte nicht an sich; sie hätte darum wissen können, daß seine Verändertheit ihr nicht das Herz verwundete. Sie dachte nicht an Recht und Stolz; sie hätte darum wissen können, daß es ihr nicht die Norm aller Dinge war, nicht der geliebte Mensch, von dessen Wertung unser Sein abhängt. Das alles wußte sie nicht. Sie meinte nur: warum soll er neben mir gehen, wenn er sich vielleicht nach einer noch erreichbaren Vergangenheit sehnt? O, das sollte doch nicht sein. -- Sie fragte ihn. Als sie einen Vorfrühlingsabend um den Kamin saßen -- draußen stand die Sonne brandgelb erlöschend über dem farblosen Land --, fragte sie ihn: „Richard, du hast mir nie von deinem Leben sprechen wollen. Ich weiß ja das von Kaspar Mühlfund. Auch, daß du eine kurze Zeit verheiratet warst. Wenn ich dein Gesicht sehe, so kann ich mir nicht denken, dies sei alles gewesen, was dich einst bewegt hat. Über dein Gesicht ist einst der Sturm gegangen. Als wir uns kennen lernten, warst du ein ruhiger Mann. Ich glaube, als du mir von Liebe sprachst, war es aus einer Erinnerung an die heraus, die auch aus Kapellendorf kam. Richard, ich glaube, wenn über einen Menschen der Sturm gegangen ist, wird es nie ganz ruhig mehr. Er kann es nie vergessen. Du mußt mir nicht böse sein und denken, ich quäle dich. Ich glaube nur, vielleicht sprächst du gern, und dann sollst du nicht denken, hier bei dir ist jemand mit Ansprüchen, mit Neugier. Ich möchte dich nur verstehen lernen, und wenn du sprechen magst, kannst du es sagen, als sprächest du zu jemand, der ohne Furcht, ohne Hoffnung, ohne Widerstreit, sondern nur mit verstehendem Wollen dich hört.“ Richard Freyer saß am Kamin. Er rauchte. Zuweilen warf er einen Bündel Tannenreiser-Wellchen, die arme Frauen aus dem Wald brachten, in die Glut, so daß es aufprasselte. Jetzt legte er seine Zigarre weg -- sie sah, er warf sie nicht einmal ins Feuer, er wollte nachher gleich weiter rauchen -- und trat zu Leonore. „Nun fühle ich es, daß du Freundschaft für mich hast. Einmal war es, an einem gewitterschwülen Tag, da sprachst du davon, aber du wußtest nicht, was du wolltest. Und nun sprichst du so, wie ich es von meinem Lebenskameraden wünsche. Ja, nun sprichst du so. Nun will ich dir auch gern von meinem Leben erzählen. Du weißt, daß ich dich sehr lieb habe -- und da ist doch eine Erinnerung in meinem Leben, die mir oft noch weh tut.“ „Sprich nur,“ antwortete sie. Er ging an seinen Platz zurück und holte die Zigarre. Sie glühte noch. Dann suchte er sich eine dunkle Ecke des Saales. Leonore nahm den verlassenen Platz am Kamin ein. Sie setzte sich auf die niedrige, hölzerne Stufe und lehnte sich halb liegend gegen die Mauer zurück. Richard kam noch einmal zu ihr. „Wie schön du bist,“ sagte er, „wie eine Prinzessin siehst du aus.“ Ihr klangen diese Worte wie eine zufriedene Kritik. Sie antwortete still: „Sprich nur, Richard.“ Er ging wieder an den dunkeln Platz, und sie sah in das Feuer, in das stillglühende Feuer von Buchscheiten, das sein Licht an die Kaminwände warf. Und sie wartete, von etwas Großem, Starkem zu hören. „Weißt du, Leonore, mit 21 Jahren kam ich nach Berlin. Ich war fast mittellos -- ich wohnte in einem Hinterhause, weit draußen im Osten, über vier Treppen, bei einer alten Frau. Die hatte noch eine Pensionärin -- eine echte Berlinerin; o, du meinst vielleicht, die Berlinerinnen sind so, wie man sie aus den Witzblättern kennt -- nein, so war das kleine Mädchen von Berlin nicht. Sie war nicht sehr hübsch -- so schlecht genährt und blaß und klein. Sie nähte Mäntel in einem Geschäft und kam immer abends todmüde heim. Und weil wir uns beide kein Feuer bezahlen konnten, saßen wir zusammen in der Küche der Frau. Die ging oft abends fort, und wir hatten dann die Küche allein. Ich achtete lange gar nicht auf das Mädchen; viele Tage saß ich da und las in meinen Büchern und achtete nicht auf sie. Bis sie mich einmal fragte: Sie haben auch einen Kummer, Herr Mühlfund? Damals war ich ja noch Mühlfund. Auch? fragte ich. Und da erzählte sie mir eine traurige Geschichte. Ihr Bräutigam war gestorben -- auf eine grauenvolle Weise bei einer Kesselexplosion in seiner Fabrik umgekommen. Ja, weißt du, so verlassen wie ich damals war, erzählte ich dem kleinen Mädchen mein Herzeleid. Und sie war sanft und teilnehmend zu mir, wie ein Kamerad, wie ein alter Weggenoß ... Lange, lange sahen wir uns nur des Abends in der häßlichen Küche. Und dann, als der Frühling kam, und es mir ein wenig besser ging, führte ich sie manchmal hinaus in den Grunewald, nach Halensee, oder zu den Zelten im Tiergarten. Das war eine Freude, das Entzücken dieses kleinen Mädchens zu sehen -- sie war ja kaum noch aus der Stadt gekommen. Wie sie den kahlen Kiefernwald schön fand, und wie sie die kleinen Seen anstaunte. Ja, einmal sagte sie in ihrem stark ausgeprägten Berlinisch: Det is ja richtijes Wassa -- da meinte sie, das ist Wasser, wie es aus der Erde kommt, wie es die Natur hingesetzt hat.“ „Der arme, kleine Mensch,“ sagte Leonore, „und du hast ihr das alles geben können! Das muß gut gewesen sein. Ja -- und dann?“ „Ach das war lange. Ich glaube, fast zwei Jahre lebten wir so. Und ich las ihr auch etwas vor -- du weißt, ich habe doch damals Gedichte gemacht -- und das waren die ersten, die sie hörte, und sie gefielen ihr sehr.“ Jetzt rauchte Freyer nicht mehr -- er war ganz eingenommen von dem Gedanken an sein kleines Mädchen. Dann begann er wieder: „Ich kam ja durch Unterrichtgeben so leidlich durch. Oft halfen wir einander mit Pfennigen aus. Ich machte auch das Philologen-Examen -- in einem geborgten Rock, mit von ihr geplätteter Wäsche. Und sie wurde so reizend, sie blühte ordentlich auf; sie war siebzehn, als ich sie kennen lernte, und alt -- mit neunzehn war sie jung und hübsch.“ „Ihr liebtet einander?“ fragte Leonore. „Ja, das kam. Es mußte ja kommen. Hunger und Liebe, Hunger nach Liebe ketteten uns zusammen.“ „Und dann?“ Freyer schwieg. „Und dann?“ fragte Leonore. „Ich bekam durch einen jungen Mann, den ich, nachdem die Familie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, durch die Reifeprüfung brachte, eine Hauslehrerstelle bei reichen Leuten. Mein kleines Mädchen gab mir noch von seinen Ersparnissen, damit ich mich einigermaßen anständig equipieren konnte. Es war ein großes Glück für mich -- wenn auch ein harter Abschied. Doch ich konnte ihr ja schicken, ich ließ sie beruhigt bei der Frau zurück, die es gut mit ihr meinte, und auch das Kind versorgen wollte und pflegen, wenn sie nachher wieder auf Arbeit mußte.“ „Das Kind?“ „Das Kind, das wir erwarteten. Ich reiste also. Nach Italien kam ich mit der fremden Familie. Ein schönheitshungernder Mensch nach Italien. Wir reisten von Ort zu Ort -- ihre Briefe fanden mich seltener -- und wie das bei dem Reiseleben so geht -- ich schrieb seltener -- ich verschob alles auf die Heimkehr. Und als ich nach Jahren wieder zurückkehrte -- da fand ich bei der Frau nur einen Brief von ihr. Ein paar Worte voll Sehnsucht, unterzeichnet: Dein kleines Mädchen. Aus Rom war er unbestellbar zurückgekommen.“ „Und wo war sie?“ „Das wußte niemand. Sie war fortgegangen, fort mit dem Kinde. Die Frau hatte ihr auch zugeredet, denn da sie so lange nichts hörten, hatten sie einen früheren Bekannten von mir nach mir gefragt, und der sagte ihnen wohl in gutem Glauben, ich sei jetzt ein vornehmer Herr geworden, sie solle sich doch lieber nicht an mich gebunden betrachten.“ „Du hattest ihr so lange nicht mehr geschrieben?“ „Lange nicht. Ich hatte doch zu unterrichten -- machte eine wissenschaftliche Arbeit -- studierte für die Zukunft.“ Leonore sah ins Feuer und schwieg. Der Mann fing wieder an zu sprechen: „Lange, lange ist sie durch meine Träume gegangen, weißt du, immer als ein lieber Kamerad, ein armes kleines Seelchen, das wie ein verborgenes Lichtlein in der lauten, aufdringlichen Riesenstadt für mich gebrannt hatte. Wenn ich dann einsam war -- und wie war ich einsam --, dann mußte ich immer an sie denken, wie sie mir meinen Kummer hatte tragen helfen, wie sie so ohne alle Scheu -- vertrauensvoll alle meine Sorgen und Note mit mir trug, und wie sie so glücklich war, wenn ich sie mein kleines Mädchen nannte -- mein kleines, reizendes Mädchen.“ Leonore dachte: nichts hat er sich halten können in seinem Leben, nichts. -- Sie lag noch am Feuer -- sie warf einen neuen Reisigbündel in die glimmende Asche. Der flammte auf, knisterte, brannte lichterloh. „Du müßtest suchen gehen, sie zu finden, Richard. Warum tatest du es denn nicht?“ „Sie ist tot,“ sagte der Mann. „Ist sie selbst in den Tod gegangen?“ „Ja.“ „Aus Mangel oder Kummer?“ „Es war -- als sie damals den Freund nach mir fragte, da bot ihr ein Mann die Ehe an. Sie konnte schlecht Arbeit finden mit dem Kind. Da heiratete sie. Es ging ihr nicht gut ...“ Leonore schwieg. Vielleicht hätte sie ein Wort der Güte finden müssen. Verdiente aber der Kaspar Mühlfund Güte, der nicht einmal mehr für den Unterhalt des Kindes gesorgt hatte -- und jetzt immer so zärtlich sagte: Mein armes kleines Mädchen? Und hinter ihren Gedanken hörte sie, wider Willen, das kleine Mädchen sagen: Det is ja richtijes Wassa, richtijes Wassa, und einmal hatte sie ein richtijes Kind jekriejt und war dann mit ihm in ein richtijes Wassa jejangen. Armseliger Kaspar Mühlfund. Armseliges kleines Mädchen. Leonore hatte ein Gefühl von Pein. Sie würgte daran, würgte es hinunter. „Laß sie schlafen, wir sterben alle einmal. Ob wir große Wünsche hatten oder ein kleines Mädchen, wenn wir tot sein werden, war es einerlei.“ Sie preßte die Worte heraus wie eine Qual. Sie stand vom Feuer auf und mit einer heftigen Bewegung hob sie den Arm, nahm das eiserne Gerät und zerstörte den Feuerrest im Kamin. „Es ist Nacht, laß uns gehen.“ „Du hast kein Wort für mich, Leonore?“ „Es war wohl dein Schicksal,“ sagte sie, und ihre Stimme klang fern, wie wenn hinter Mauern eine Glocke vertönt, „es war dein Schicksal, und niemand klagt dich an. Du mußt es tragen oder vergessen.“ „Ich will es ja bei dir vergessen, ich habe es fast schon vergessen,“ sagte er und trat zu ihr, „ich habe ja dich!“ „Mich?“ sagte sie, und es war ein stürmischer Hochmut in ihrer Stimme. „Ja, was willst du denn von mir? +Deine+ Toten, +diese+ Toten kann ich dir nicht auferstehen lassen -- ich nicht -- ich nicht.“ Hinter ihren Trübsalshohngedanken aber jubelte etwas auf: ich werde kein Kind von ihm haben -- ich nicht -- ich nicht. * * * * * Des Kaspar Mühlfund Seele hatte mit der ihren nichts zu tun. Das wußte sie jetzt. Hier war kein Band der Vereinigung zu schlingen. Doch sie hatte Freyers Wärme und Menschlichkeit genommen, in der Nacht, da sie in dem einsamen Hause bei einer Toten war. Das verpflichtete. Was hatten sie einander wohl noch zu geben, worauf sich das Leben fortbauen konnte? Sie dachte an München, wo sie seine Schülerin gewesen war. Sie meinte nun, sie müsse ihm in seiner intellektuellen Bedeutung nahe zu kommen suchen. Sie hatten ja so viel Zeit -- so unendlich viel Zeit -- Und wieder war es Leonore, die zu ihm kam und sagte: laß mich teilnehmen an dem, was dich beschäftigt: ich bin ja noch wie ein unwissendes Kind. Er war erfreut. Ja, das hatte er immer gewünscht, mit ihr noch einmal die Dinge zu treiben, die ihm in seiner Jugend neu gewesen waren. Literatur- und Kunstgeschichte etwa -- ja. Und so kamen Monate des intellektuellen Lebens ineinander. Er erzählte ihr, er las ihr vor. Vieles, vieles war da, was sie berührte, was ihr Offenbarungen des Verstandes bot. Eine ganze Bücherei nahmen sie zusammen durch an den länger werdenden Tagen. Und sie half ihm bei seiner Arbeit, sie suchte ihm das, was er brauchte, in den schweren großen Büchern; sie kam sich endlich vor wie ein Famulus bei einem gelehrten Magister. Sie war ja noch bildsam, biegsam, anpassungsfähig. Noch einmal nahm sie mit dem Mut der Jugend das Neue auf, um es zum Guten, zum Lebensvollen umzugestalten. Mit aller Kraft ihres fröhlich geborenen Herzens versuchte sie, ihm nahe zu sein. -- Vielleicht machen manchmal Menschen, die einander lieben, den Verständigungsweg über Kunstgeschichte, oder sprechen von sozialer Nächstenliebe, während sie nur an ihre persönliche denken. Aber Enttäuschungen der Liebe hat die Beschäftigung mit den Wissenschaften wohl noch nie in neue Zauber verwandelt. Und da kam es wieder -- wieder an einem Abend am Kamin. Richard Freyer sagte: „Was bist du doch für ein Kind, Leonore. Dir ist alles Tote lebendig.“ „War es dir denn nie?“ „Mir? Ach vielleicht einmal -- aber glaubst du, wenn die Männer nicht einen Namen, eine Stellung, Geld davon bekämen, würden sie sich so quälen mit Wissenschaft und Kunst?“ Sie hörte die Worte des Plebejers und antwortete: „Das sagst du und glaubst es nicht.“ Er aber widersprach eifrig und belehrte sie, alle Begeisterung sei nur ein Jugendausbruch, der überwunden werden müsse. „Du schwärmst,“ sagte er. „Zu viel, viel zu viel Temperament hast du. Du siehst alles so heftig und ungebärdig. Na -- ich will dich nicht ärgern -- ich bin in die Stille und Gelassenheit eingegangen, und du hast noch manchmal das Fernweh. Nun, das gewöhnt man sich ab. Mit der Zeit geben sich schon die Extravaganzen. Weißt du noch, zuerst warst du hier wie ein spielendes Kind -- es ist sehr hübsch gewesen, gewiß, aber nun habe ich dich lieber, nun bin ich sicherer --“ Sie sah ins Leere. Was fesselte sie wohl an ihn, wenn nicht die Erinnerung an jene Sommertage, da sie ihn lieb hatte, als sie den Ewigkeitswillen zum Glück hatte. „Du bist so voll Resignation, Richard --“ Er antwortete bedächtig: „Mit zwanzig Jahren ist uns das Wort Resignation fast so zuwider wie eine körperliche Mißgestalt. Aber einmal sehen wir: alle Reife ist nichts anderes als Resignation. Und wenn wir mit unsern still gewordenen Jahren nicht mehr die Lieblingsgedanken der Jugend -- Tod und Unsterblichkeit -- denken, so ist es nur, wir sehen ein, daß wir das Bild von Saïs nicht entschleiern müssen -- daß wir mißtrauisch werden unserm Intellekt gegenüber, der sich an Hypothesen und Phantastereien erwärmen wollte. O, man sage mir nichts über die Resignation -- sie ist unsere Würde, nur sie bewahrt den Mann davor, noch ein taumelnder Jüngling zu sein, da noch der Enthusiast zu sein, wo andere Erkennende sind.“ Das mochte wohl eine Wahrheit bedeuten -- aber sie paßte nur auf den, dessen junges Glühen vergangen sein mußte ... Leonore wachte in dieser Nacht. Nicht durch die letzten Worte, die einer Laune entsprungen sein konnten, war sie so traurig. Nicht durch ein einzelnes Wort. Aber in vielen Tagen der Einsamkeit war sie wissend geworden. Wissend über den Mann mit dem kleinen Mädchen von Berlin, der einmal in einer -- Laune Leonore begehrt hatte. Sie verstand jetzt, was ihn einen Augenblick lang zu ihr geführt hatte, verstand, was sie äußerlich verbunden, was sie im Innern unüberbrückbar trennte: es war vielleicht eine Rassenfrage. Sie kam aus dem Behüteten. Aus ruhiger Entwicklung. Sie dachte in Fernen zurück: in der Frühheimat der mütterlichen Familie standen heute noch Druidensteine -- die Kelten hatten das Land besessen. Dieses Volk der Inbrunst und der Schwermut. Die Gedanken verdämmern in weiten Frühzeiten. Blau stand der Himmel, jungfräulich die Erde. Wo jemand tot war, erhebt sich ein steinerner Schrei durch die Jahrtausende. Erobererrufe klingen, noch tönender kommt die Offenbarung der Seele -- Aus weitem, weitem Land kam sie den Weg. Und er? Er -- -- Vor einer Mühle auf der Hochebene des Weimarischen Landes, dort, wo immer der Wind weht, hatte man ihn gefunden. Eine tote Frau neben ihm. Niemand wußte, woher sie kam. Hinterm Dornbusch war er gezeugt, im Kornfeld geboren. Er wußte keine Vergangenheit. Er wußte keine Vergangenheit, bis er erwachsen war. Da erzählte sie ihm in heißen Nächten wohl sein rinnendes Blut. Von Ausgestoßenen, Heimatlosen kam er, die nichts verpflichtet, die nichts zur Ehrfurcht zwingt, die der Rasse in die sie geworfen werden, als erbitterte Feinde gegenüber stehen. Es gibt nur eine Verbindung, Verschmelzung zwischen solchen Menschen: die der Liebe. Liebe kann Freundschaft lehren, die Erlösung der Persönlichkeit. Alle hundert Jahre einmal tut sie es. Hier war es nicht geschehen. Er, der sich ausgekämpft hatte, und sie, die das Leben begehrte, hatten sich wohl nie nahe kommen können. Vielleicht nur weil ihr Wille stärker gewesen war als seiner, gingen sie dorthin zurück, wo sie beide den Ursprung nahmen. Ach -- sie wußte es plötzlich -- ein Kindheitswunsch war die erste Heimat gewesen -- oder ein Wunsch für die, die das Leben gelebt hatten und sich nun zurücksehnten in die Stille eines Gartens, in die Stille hinter Mauern, um die der Wind das Lied der Erinnerung sang. Ja er, Richard, hatte das Leben ausgelebt. Er war noch in den Jahren der Kraft -- aber manche Menschen verbrauchen ihre Erhebungsfähigkeit, ihren Tatendrang in ein paar Jahren stürmischer Jugend. Kalt dachte sie: es ist ein Atavismus, es ist das Erbe jener, die schon mit sechzehn Jahren Männer sind, die mit vierzig ins Greisenalter eingehen -- das Erbe des vierten Standes ist es, dessen Arbeitsverpflichtung schon in der Kindheit beginnt, dessen Selbständigkeit im Jünglingsalter anfängt. Ihre Jugend ist fast früher beendet als das Wachsen ihres Körpers. Ja, seine Jugend war vorbei. Und nun blieb nichts mehr. Nein, nein, sie durfte nicht ungerecht werden. Er war es, der ihrem Verstand einen neuen Inhalt gegeben hatte. Vielleicht wäre sie ewig im Unbewußten gegangen, wenn er ihr nicht die freie Herrlichkeit des Wissens gezeigt hätte. Gezeigt -- wie ein Vater seine Tochter lehrt. Wie ein Lehrer den Schüler. Wie ein Vollendeter den Ringenden. In ihr brannte alles, was in ihm überwunden war. In ihr lebte, was in ihm Vergangenheit war. Er hatte alle Dinge schon an dem ewigen Bestand der Kulturen gemessen -- er hatte alles schon bewertet und verworfen, was ihr noch hohen Wollens wert schien. Er lächelte weise, wenn sie glühte. -- -- Helden gingen durch die Welt, die formten die Geschichte der Menschheit, das Ethos ganzer Völker nach ihren Taten. Es war, sie glaubten noch an die Kraft eines leidenschaftlichen Willens, sie glaubten mit der einseitigen Zähigkeit des Eroberers an die Stärke in ihrem Tun. Sie vermochten für eine Idee zu sterben, sie setzten ihr Ich zum Trotz gegen die ganze Welt. Und sie -- und sie? Lag denn das wagemutige Leben schon hinter ihr, der Neunzehnjährigen? Die Ewigkeit war nun sie. Undurchbrechlich, unveränderlich -- die Ewigkeit eines Zusammenlebens. Still kommt der Tag, still geht der Tag. O, so tausendmal ruhig. Wir reden leise von leisen Dingen. Wir reden still von großen Taten. Wir lesen gelassen von den stolzen Geschehnissen des Lebens. Sie klingen uns wie Erinnerungen von fernen Festen her. Eine Mauer ist um unsere Burg. Und um die Mauer lastet steinern das Schweigen. Eine gläserne, kühle, ruhige Ewigkeit steht um die Mauern unserer Burg. Fern klingt der Wind. Fern, hinter der Mauer und der gläsernen Ewigkeit klingt lockend der Wind. Er weiß es nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt. Ich aber weiß -- um mich stehen undurchbrechlich, unverrückbar die Mauern der Ewigkeit. * * * * * Leonore fühlte es, trotzdem sie im Zimmer war und schon tagelang liegen mußte, weil der Hals sie schmerzte, sie wußte es, draußen ging tauender Frühlingswind. Denn die Vögel, die Amseln schrien so heftig, schrien so heftig, daß es verwirrte -- o, sie riefen, weil der Frühling kam. Ja, auch aus ihrer einsamen Seele heraus klang ein Ruf: O, du kommst wieder, Frühling, Füllst das Land mit Jauchzen und Singen, Und alle Brunnen springen, Und meine Sehnsucht ist so wild Und ungestillt. Fliederbüsche neigen sich Voll schwerer Trauben, In dunkeln Lauben Erklingt das alte Lied Von langem, sehnsuchtsschwerem Liebesglauben: War’s nicht in ferner Zeit der Morgenröte An einem nie gewes’nen holden Tag, Da spieltest du auf deiner Flöte, Pan-Geliebter im Waldeshag, Das Frühlingslied von Herzentbrennen -- War’s nicht? War’s nicht Erkennen? War’s nur ein Vorgefühl von jener Lust, Die einst in Frühlingsschöne unsere Brust Als nie geschautes Wunder trinkt? Die Zeit versinkt -- War es ein ferner, nie gewes’ner Tag von Leid beschattet, Ist es die Lust, die morgen, morgen mir sich gattet, Pan-Geliebter in Frühlingslauben? Alles glauben Will ich. Weiß ich doch kaum, Ob ich reich bin oder arm, Verlassen oder hörig Oder keinem gehörig Als dir, du fliederblauer Frühlingstraum. Komm, komm, ich hebe die Hände, die liebeswarmen, Das Nichts zu umarmen, Oder, Geliebtester, dich! Führe mich, Mein Herz ist schwer von Süße, Mein Herz ist voll bis an den Rand -- Führe mich, führe mich, du, den ich grüße, Endlich in dein Land -- VII. Ein nie gewesener Tag. Leonore, meine liebe Schwester! Jahre sind es, und ich habe so wenig von Dir gehört. Wohl weiß ich, daß Du glücklich bist, und das könnte ja genug sein. Nun aber frage ich Dich, magst Du mich wiedersehen? Darf ich mit eigenen Augen sehen, wie Du glücklich bist mit dem, der Dir Kapellendorf neu schenkte? Ich reise mit meinem Freund Frederic Morton und seiner jüngsten Schwester Julia Morton in nächster Zeit durch Deutschland. Darf ich dann in das Land kommen, wo immer der Wind weht? Meine Begleiter wissen von Dir, sie würden Dich gern begrüßen. Aber ich muß wohl erst fragen, ob wir Euch willkommen wären. Ich weiß sehr wohl, wenn man in jungem Glück lebt, sehnt man sich nicht nach Fremden. Darum gib mir eine offene Antwort. Allein aber darf ich Euch doch wohl irgendwann eine Stunde lang sehen? In alter Gesinnung Dein Vitus Kelt. „Wir bekommen Gäste,“ sagte Leonore fast jubelnd, als sie den Brief gelesen hatte, und sie reichte ihn Richard. „Lies doch -- ich darf ihm doch schreiben, daß Kapellendorf gern Gäste sieht?“ Richard las den Brief. Las ihn bedächtig und langsam. Dann lächelte er. „Schreibe, wie es dir lieb ist. Ich sehe gern deine alten Kindheitsgespielen.“ Sie erriet, warum er lächelte. Ihr kam plötzlich vors Gedächtnis, wie einmal im Salon der Anastasia Planck in München ihre beiden Freunde Dankmar und Klemens sich gar so wenig vorteilhaft in ihrer grünenden Jugend gezeigt hatten, und wie Nacka Planck plötzlich fabelte, sie wolle sich ein Landgut kaufen und fragte, welches die besten Düngemittel seien und ob Futterrüben einen guten Preis hätten? Und wie dann der hülflose, treuherzige Klemens gewissenhaft und langsam schweigend rechnete, und endlich als man längst nicht mehr von der Landwirtschaft redete, in ein Theatergespräch die Bemerkung warf, mit Futterrüben allein sei es doch eine gewagte Sache. „Nein,“ sagte sie, „nein, Richard, mit Kelt ist es etwas anderes. Er spricht nicht von Futterrüben, während andere von Kunst reden. Er ist im Lande des Paradieses gewesen. Er ist in Mykenae gewesen. Das interessiert dich gewiß.“ „Er muß ja ein Ausbund von Herrlichkeit gewesen sein nach allem, was du von ihm erzähltest. Daß Großmama eigentlich gar nichts darin sah, dich so ungezwungen mit dem jungen Mann verkehren zu lassen -- und jetzt reist wieder die junge Schwester des Engländers mit. Wunderliche Zustände!“ „So mußt du nicht sprechen. Kelt ist mehr als ein Gentleman -- er ist wie die Natur, die keine Zuneigung, kein Zugeständnis mißversteht.“ „Wieso nennt er dich Schwester?“ „Das sagte er, als wir an der Fossa Abschied nahmen. Weißt du, er nahm seine Worte genau. Er nannte niemand Freund als den Frederic Morton. Andere, wie Vetter Paul, hieß er Kameraden. Nur zuletzt sagte er Schwester zu mir. Ich nannte ihn nur bei seinem Namen.“ Richards Gesicht drückte ein leises Unbehagen aus; Leonore bemühte sich, ihm ihre Beziehungen zu Kelt recht klar und deutlich zu machen. Sie hatte alles Herzeleid vergessen. Sie war ja wieder jung -- jung -- * * * * * „Gott, was für schöne Menschen!“ Richard Freyer sagte das zu Leonore, als die Gäste für kurze Zeit nach ihren Zimmern gegangen waren. Leise antwortete sie etwas. „Leonore, hast du, hast du diesen Kelt geliebt?“ „O nein,“ sagte sie still -- „ich habe den Vitus nicht geliebt. Wir hatten nur Freude miteinander.“ Freyer fand, er würde sich nicht wundern, wenn es gewesen wäre. Er sei so seltsam anziehend. „Lieber, du mußt dir nichts denken, es ist nie etwas gewesen, was ich dir nicht gesagt habe.“ „Und diese wunderlichen Freunde die er hat, Leonore. Ich weiß nicht, man könnte sich vor ihnen fürchten.“ „Fürchten?“ fragte Leonore sanft. „Sie haben so etwas -- so etwas Leidenschaftliches in ihren Gesichtern. So etwas Stürmisches. Bruder und Schwester sind einander so ähnlich --“ „Und du fürchtest dich vor ihnen. Weil sie schön sind, fürchtest du dich vor ihnen?“ Er lachte nur, aber das klang gezwungen. -- -- Man hatte im Schloßhof unter den Linden zum Abendbrot gedeckt. Die Gäste kamen herunter. Kelt bat, daß er Leonore zu Tisch führen dürfte, Freyer bot Julia Morton den Arm. Er entschuldigte sich, daß für den Bruder keine Dame da sei. Kelt war sehr höflich. Er wandte sich gleich an Richard Freyer. „Sie Erfüller aller Wünsche,“ sagte er herzlich. „Ich habe Leonore nur einmal einen Tannenzweig von Kapellendorf gebracht. Und Sie konnten ihr die alte Heimat wiedergeben. Wie ist das schön. Wir haben oft von Kapellendorf gesprochen -- ich sage ‚wir‘, denn es war in der Zeit, als wir das Heimweh miteinander teilten.“ Es stand Wein auf dem Tisch. Kelt erhob sein Glas. „Kapellendorf und seinen Laren!“ „Und seinen Gästen,“ sagte Freyer rasch. Die Gläser gaben einen feinen Harfenton. Es klang Leonore wie eine Musik voll Lust. Das fremde junge Mädchen, das noch wenig gesprochen hatte, begann zu reden. „Wir haben in unserer Heimat eine kleine, alte Volkssitte. Wer als Fremdling in ein Haus kommt, darf um das Glas bitten, aus dem die Herrin getrunken hat. Er darf es zu Ende trinken, zum Zeichen, daß er kein Fremder mehr sein soll.“ Und das junge Mädchen stand vor Leonore und hatte den roten Mund ein wenig geöffnet und lächelte mit den Chrysoprasaugen, die sie hatte wie der Bruder. Leonore reichte ihr das Glas. „Nein, Sie sollen hier nicht Fremde sein.“ „Dank -- vielen Dank.“ Der kleine Vorgang war mit viel Anmut geschehen. Nun fragte Leonore: „Und die arme Herrin muß dann, darf dann den Abend keinen Wein mehr haben.“ „Wenn sie will -- schon,“ und das schöne Mädchen brachte Leonore das andere Glas. Der Abend ging. -- O, es war ein wunderlicher Abend, Leonore -- -- * * * * * Kelt sagte den andern Tag: „Ich habe gelesen, daß in der Nähe oder doch erreichbar von hier die Wüstung Moebis liegt, ein Brunnen, ein zerstörtes Dorf. Dürfen wir das sehen?“ Freyer hatte Bedenken: „Es wird Sie enttäuschen, es ist nur ein Waldbrunnen und eine erhöhte Wiese mit Mauerresten. Leonore kennt es gar nicht, man geht von hier aus doch drei Stunden -- und es ist ein mühseliger Weg.“ Aber Leonore wollte, was Kelt wollte, und so ging man am dritten Tag -- am zweiten hatte Leonore den Gästen Kapellendorf gezeigt -- nach der Wüstung Moebis. Über die weite Flur ging man, dort, wo die Windmühle das Land beherrscht, unter der Kaspar Mühlfund geboren war -- dann durch ein kleines Dorf jenseit der Bahn. Eine alte Kirche steht in einem ummauerten Gottesacker. Eine Pappel davor, der Dorfbaum. Die Gäste wollten den Kirchhof besehen. Ja, Leonore wußte, da war ein alter Stein: Unsere Herzen tragen Wundenmale Wie der Rasen im Begräbnistale. Sie standen davor, in der Enge des kleinen Totenackers, der nach Feuchte und Ungepflegtheit roch, trotzdem die Sonne so glühend über dem Lande war. Eine Lindenallee führt den Berg hinan -- ein breiter Weg zwischen Linden, die nicht ihre volle Größe haben erreichen können, weil der Boden hart von Steinen ist und der Wind allzuviel die Kronen niederzwang. Man sah über das weimarische Land -- die weiten Felder, die blauen Waldhügel, die ins Tal nach Jena abfielen. Indigoblau und sonnengolden stand das Land. Jungfräulich schien es, wie Eroberergrund, in dem noch Hirten Lieder singen, die eben der Erde entstiegen sind in klingender, reiner Morgenfrühe. Der Weg senkte sich, fiel in den Wald ab. Wohl, da ging es zu der Wüstung Moebis -- im Wald an einem steingefaßten Brunnen vorbei, dann aufwärts einer Wiese zu: Geröll überall, überwachsene, zerstörte Feuerstellen -- versunkene Mauern. Der Thymian blühte auf der Wüstung Moebis. Sie saßen auf den halbversunkenen Mauern und dachten ferner Zeit. Sie sprachen. Leonore wußte, unterschied kaum, wer sprach. Sie ergänzten einander; sprachen davon, wie sie alle drei als gute Weggenossen in dem Land um den Euphrat gewesen waren -- in den Ruinen von Babylon und dort im Schutt der Jahrtausende gegraben hatten. Voll Hoffnung -- von jubelndem Tatendrang beseelt. Und wie jeder kleinste Fund fast zu einem Ereignis des Herzens geworden war. Ja, das junge, schöne Mädchen war mit den Männern gegangen als tapferer Kamerad. Seltsam unwirklich klang Leonore das alles. Und nun wollten sie nicht zurückgekehrt sein, um der Erinnerung zu leben. O nein, nur eine Rast brauchten sie. Und dann wollten sie wieder in die Ferne, sie wollten neues Leben dort pflanzen -- wollten das alte Land von einem sagenhaften Paradies, das Land der Legende mit neuem Leben erfüllen. Alle Jugend lag ja noch vor ihnen. Was sind Worte, was ist Graben im Schutt. Neue Taten mußten sein. Und sie redeten von den neuen Taten, als wäre es nur der Zufall, ein leicht zu beseitigender Zufall, daß sie noch nicht Helden waren. Frederic Morton erzählte: „Einmal in einer Nacht kam ein Haufen von wilden Banden gegen unsere Siedlung. O, das war eine Nacht der Gefahr. Schön in ihrer Furchtbarkeit. Und doch nur ein Spiel. Denn es galt nur das Leben -- nicht eine Idee.“ Er redete weiter. Leonore hörte nur immer das Wort: es war ein Spiel, denn es galt ja nur das Leben -- nicht eine Idee. Sie hatten den Plan, weiter ins Innere zu gehen. Leonore verstand ja nichts Wirkliches von alledem. Doch Freyer fand das Vorhaben bedenklich. Aber sie meinten, wenn keine Bedenken, keine Kämpfe wären, wo bliebe da der Reiz? Sie lachten -- aber hinter dem Lachen lag Wille. Lag unbeirrbarer Wille. „Wir haben die Wüstung Moebis ganz vergessen,“ meinte Kelt. „Im dreißigjährigen Krieg, in dieser ungeheuren Psychose -- aber seht doch die Berge.“ -- Ja, die Berge um Jena glühten auf. Durch eine sonderbare, nicht häufig kommende Luftwirkung glühten sie auf wie Eisen, das aus der Rotglut ins Weiße übergeht. Der kahle Rücken, welcher das Schlachtfeld trägt, der Jenzig, den auf seinem Horn ein zerfallenes Parthenon zu krönen scheint, glühten auf und lagen wie Streifen der Morgenröte über dem Indigoblau der Wälder. „Die weimarischen Berge sagen uns ja,“ fand Kelt. „Ja zum Glück von Kapellendorf -- ja zu den Abenteuern, die hier ein wenig rasten.“ Sie blieben noch. Auf der Wüstung Moebis saßen sie und sahen in Zukünfte und Vergangenheiten -- vom Schicksal für einen Augenblick Zusammengeworfene. Und Leonore ward die Gegenwart schon fast zur Erinnerung, wie uns oft mitten in einer heißen Stunde des Erlebens das beschattende Gefühl kommt: daran wirst du noch oft denken müssen, noch oft. Richard, der immer an das Nützliche, Rechte dachte, zog die Karte heraus. „Wir haben eine helle Nacht zu erwarten,“ sagte er. „Dort steht ja schon ein blasser Mond. Wir wollen doch nicht ewig da bleiben, und haben wohl alle Hunger. Da führt ein Weg durch das Tal nach Jena. Es mag eine gute Stunde sein. Ich schlage vor, wir wollen nach Jena gehen, dort essen und dann mit einem Wagen über die alte weimarische Chaussee zurückfahren. Es ist ein schöner Sommernachtsweg.“ Man war einverstanden. Man suchte das Tal. Es ging einen steilen Abhang hinunter, dann einen gewundenen Weg weiter. Richard Freyer und Vitus Kelt liefen voran als Pfadfinder. Leonore ging mit den Geschwistern nach. Da plötzlich öffnete sich das Tal. Und es war, als träte man ein in das Reich des Fremden, des Fernen, Niegewesenen. Die Steinabhänge des Tales standen voll Wacholdersäulen. Neben dem Weg erhoben sich hohe Wände von Wacholder wie schwarze Mauern. War es das Tal des Todes, über dem die Zypresse trauerte? War es ein Trugbild des Sommerabends? Alle Farben waren von unwirklicher Stärke. Die Abendsonne und der schon leuchtende Mond am Osthimmel durchglühten alles, machten alles durchsichtig und zugleich voll seltsamer Plastik, wie schwebend in Unwirklichkeit. Der Berg, auf dem die Wacholdersäulen standen, war hell, gleich durchleuchtetem Elfenbein. Der Talgrund grün wie dunkle Smaragde. Die Stämme der Kiefern am Rande des Waldes schienen klingende, goldbraune Geigen. Und dazwischen, wie ein Memento des Todes erhoben sich die schwarzen, feierlichen Wacholdersäulen. „Was ist hier?“ fragte Julia Morton fast erschrocken. Und Leonore sagte sanft: „Die Schönheit.“ Ja, als eine unendliche Sanftheit, als ein Zusammenklang alles Zeitlosen stand alles greiflich und doch unnennbar fern, wie der Luft entrückt, dem Wesenlosen anheimgegeben. Sie gingen weiter, gingen weiter durch die betörende Seltsamkeit. Plötzlich horchte das fremde Mädchen. Hier unten muß ein Wasser rauschen -- ein dunkles Wasser. Die andern vermochten nichts zu hören. „Es ist die Stille, die unsere verwirrten Sinne klingen lassen,“ sagte Frederic Morton. „Alles klingt hier, erinnerungsstark wie Musik, in der alle Leiden, alle Sehnsüchte der Menschheit nachgefühlt, verdichtet sind.“ Und Leonore fühlte dieses farbentönende Schweigen, fühlte es wie eine ungeheure Lust, die ihren Körper durchirrte, die ihre Seele glühend machte, wie den Berg mit den Gespensterzeichen des Todes, der gleich durchleuchtendem Elfenbein war. Stand nicht die Zeit still? Sie gingen, und blieben doch. Sie gingen, und das Tal nahm kein Ende. Es war wie ein Traum, den man durchschreitet, ein Traum, der nichts auslöscht, kein Gefühl verringert, verblassen läßt. Da klang die Quelle neben ihnen. Unter einer Wacholderwand, die wie voll Zärtlichkeit einen Weidenstumpf umschloß, kam sie zutage. Und Leonore sah die erlöste Quelle wie ein Symbol. Im Tal, da die Zeit schwieg, brach das Leben aus verworrenem Dunkel -- löste sich ein ferner Strom, der lange, lange unter Tiefen hatte schlummern müssen. O, so stark war die Nacht. Stark, wie ihre leidgetränkten Farben. -- Und noch glühte der Berg wie durchleuchtetes Elfenbein, der Berg, der so lange stumm gelegen hatte. Und sie gingen durch die leuchtende Tiefe des Sommerabends -- im Schweigen, in klingendem Schweigen. Am Himmel stritten die Lichter des Tages und der Nacht ihren Wechselkampf -- der schön und glühend war wie große Taten, die ein Jahrtausend überdauern ... * * * * * Leonore kam in das Mauergärtlein, dorthin, wo sie so oft in den Tagen der Kindheit mit den Gespielen von blauen Fernen gesprochen hatte. Und dort -- der leise abschiednehmende Junitag leuchtete noch -- saßen die Geschwister Julia und Frederic. Sie begrüßten einander -- sprachen. Und dann ging eines von den Geschwistern fort. Draußen stand noch abschiednehmend der Juniabend -- und eines von den Geschwistern ging ... * * * * * Leonore kam durch den Hof. Allein kam sie, allein ging sie, und um ihren jungen Mund lag ein Lächeln voll Hochmut, voll Schmerz -- voll überschwenglicher Inbrunst. Sie ging, das Gesicht zu den Gestirnen erhoben, die über der Nacht standen. „Leonore, Liebe, was ist dir?“ Voll Angst klang die Frage. Vitus Kelt stand neben ihr. „Du -- Vitus? O, frage nicht.“ „Leonore, sage mir, ich bin dein Freund, Leonore, was ist dir?“ -- Er rührte ihre Hand nicht an -- aber er stand nahe bei ihr, wie jemand, der beschützen will, sei es um die Preisgabe von Scham und Schweigen. Sie stand -- und ihr Gesicht war den Gestirnen zugekehrt. Sie stand, und ihre Hände hingen herab wie müde, weiße Blumen; und um ihren jungen Mund lag der Zug einer inbrünstigen Leidenschaft. „Leonore, du weinst? Leonore, was ist? --“ O, einer Seele Menschlichkeit war erschüttert in dieser Stunde. Erschrocken, auf das seltsamste berührt von ihrer statuengleichen Schönheit sah Kelt auf sie. „Was ist, liebe Leonore?“ Sie antwortete mit einer weichen, fernen, verführerischen Stimme: „Ein nie gewesener Tag.“ Und langsam, als schritte sie ohne jede bewußte Bewegung, ging sie in das Haus. VIII. Die Nacht. Draußen, vom Turm, schlug die Uhr die Mitternacht. Langsam, in törichter, tönender, quälender Deutlichkeit zerbrachen ihre stummen Rufe die Stille. Langsam, in törichter, tönender, quälender Deutlichkeit drangen die Rufe herein in das mondweiße Zimmer. Leonore lag wach. Lange schon lag sie. Was war denn, was war denn gewesen, daß alles Alte zerstört und grausam vernichtet lag? Es war nichts gewesen als eine holde Stunde -- eine frühlingsholde, junge Stunde. Nichts Böses -- was für ein häßliches Wort für das Allerschönste -- -- Nur eine holde, junge Stunde war gewesen -- Ob Richard wohl schlief? Ja, draußen vom Turm hatte es die Mitternacht geschlagen. Und er wußte alles -- wußte nichts. Was war denn zu wissen? Sie hatten einst ihr Haus zusammen erbaut -- ihre feste Burg über der Welt, über den Niederungen des Tales -- ihre Burg, die stehen sollte wie ein Heidenmal, unverrückbar, unzerstörbar. Ihre Burg, die aufragen sollte wie ein Heidenaltar auf dem Berge, den Göttern geweiht. +Ja, das hatte sie gewollt.+ Was war denn, was war denn gewesen? Ein Vogel war um die Burg geflogen -- ein junger, sanfter, wilder, schöner Sommervogel. O, es war nichts gewesen als eine holde Stunde. Einst wollte ich, Richard, wir gehörten zusammen, wie zwei, die erst das Leben schufen. Die schuldig sind am Leben. +Ja, das habe ich einst gewollt.+ Einst war ich jung bei dir, Richard. Durch blaue Nächte klangen Sehnsuchtsrufe. Einst war ich stark. Einst glühte ich; die Welt -- und du, ihr solltet entbrennen von meinem Glühen. Einst war meine Sehnsucht so groß, daß sie Berge versetzen konnte. Weißt du noch, oder hast du es ganz vergessen? Meine Sehnsucht hatte ich dir geschenkt. Ich glaubte sie in einen tiefen Bronnen geschüttet. Aber du hast sie nicht behütet -- und so ist sie wieder zu mir gekommen. Die Nacht ist so bang -- Einst -- -- o, dieses tötende, tötliche, törichte Einst. Die Burg baute sich auf wie goldene Tore zum Himmel. Die Luft um die Burg glühte, als trüge sie den Brand der Leidenschaft -- Ja, so fühlte ich, was zwischen uns sein, werden sollte -- Geh -- geh -- ich konnte nicht mehr -- du hast es ja nicht haben wollen -- du hast alles leblos werden lassen, ehe es noch geboren war. Warum ist denn die Nacht so lang -- so bang und schwer? Was war denn? O, ich ersehnte die Ewigkeit. Ich wollte sie kennen, wie nur Gott sie kennt. Aber ein Gott stieg einst vom Himmel, um in einer erdgeborenen Mutter Schoß zu ruhen -- und ich bin gegangen -- und ich sah nicht mehr das Hoffnungslose -- ich habe eine Jugend gesehen, die noch glüht, als könne sie die ganze Welt entbrennen machen. Ich sah den Rausch -- den Rausch einer ersten Stunde -- und ich -- erlebte zum ersten Male das Ereignis der Erfüllung einer ersten Stunde. Ja, ich habe es dir gesagt -- du bist still gewesen und ich habe nichts zu verteidigen gehabt. Und nun ist die Nacht. Die Nacht -- Ich wollte schreien -- ich weiß nicht, ist es vor Qual oder Glück -- ich habe ja nicht gewußt, daß es dieses auch von andern gibt. Wie hätte ich dich sonst betrügen können, Richard, wenn ich einmal glaubte, zwischen uns wäre es gut. Du hast ja nicht auf mich gehört, wenn ich allen Willen allein nicht mehr tragen konnte -- ja, was sich von uns wendet, was wir verlassen, war nicht Notwendigkeit. Das andere -- o, du verzeihst mir doch, du geliebter Mensch, daß ich in dieser Nacht nicht allein an dich denke? Du, du bist noch unter diesem Dach -- und mein Herz zittert nach dir -- lauter als alle Gedanken ruft es. Du -- du bist noch unter diesem Dach -- und ich habe deine Schönheit gesehen, ich habe sie getrunken -- deine holde, wilde, sanfte, frühlingsstarke Seele habe ich gefühlt. Es brennt durch mein Blut -- da bist du, du wilder Vogel, der lachend und leuchtend über Meere zieht. Ich liebe dich -- ich liebe dich, ich will dich noch einmal sehen und sterben. Die Nacht ist lang -- bis die Turmuhr wieder eine Stunde schlägt, ist noch ein ganzes Leben -- mit dir gehen und die Welt jung sehen -- mit dir gehen und die Welt entbrennen sehen von unserer Liebe. Mit dir -- +mit dir+ -- Habe ich denn gelebt bis zu diesem einzigen Augenblick? Bis zu diesem niegewesenen Tag? O, ich wußte ja nichts. Ich war ja so arm. Ich habe geküßt und von Liebe geredet und wußte nichts. Und nun weiß ich -- komm zu mir, ich muß es dir sagen. Siehst du das Frührot hinter den Bergen? Hörst du den Lockruf lieberotester Liebe? Komm zu mir, komm, du geliebter Mensch, komm, erlöse mich mit deinem brennend roten Mund. Wie ein Jahrtausend muß mit dir das Glück sein, so glühend von großen Taten. Die Turmuhr schlug. Die zweite Stunde des ruhenden Tages schlug sie. Tönte sie herüber aus mahnenden Vergangenheiten? Es ist ja nichts, als daß ich leben will, als daß ich selig bin -- als daß der Tod mir das größte Wort, das heiligste Geschehnis wäre, führte sein Weg mit dir -- mit dir -- So schwer und bang und glühend ist die Nacht. -- Leonore -- wie wird dein neuer Tag sein? Ende. Druck von Mänicke & Jahn, Rudolstadt *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KAPELLENDORF *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. 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