The Project Gutenberg eBook of Percy Wynn

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Percy Wynn

oder ein seltsames Kind der Neuen Welt.

Author: Francis J. Finn

Editor: Francis S. Betten

Release date: November 28, 2023 [eBook #72254]

Language: German

Original publication: Mainz: Verlag von Franz Kirchheim

Credits: Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK PERCY WYNN ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1897 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.

Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt. Passagen in Antiquaschrift werden hier kursiv wiedergegeben. Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original gesperrt gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt erscheinen.

Original-Bucheinband

„Aber, Percy, wie bist Du da hinaufgekommen?“

„Das weiß ich selber nicht .... Als die Schildkröte aus dem Wasser kam und so wütend pfauchte und schnappte, war es mir, als könnte ich alles.“

Seite 65.

Percy Wynn
oder
ein seltsames Kind der Neuen Welt.

Von

Franz Finn S. J.

Für die deutsche Jugend bearbeitet

von

Franz Betten S. J.


Mit einem Titelbild.


Mainz,
Verlag von Franz Kirchheim.
1897.

[S. iii]

Druck von Fl. Kupferberg in Mainz.

Vorwort zur deutschen Bearbeitung.

Die wohlwollende Aufnahme, welche der deutsche „Tom Playfair“ gefunden, hat den Unterzeichneten ermutigt, auch eine zweite Erzählung desselben Verfassers in deutscher Bearbeitung erscheinen zu lassen. „Percy Wynn“ kann insofern als eine Fortsetzung der ersten betrachtet werden, als Tom Playfair auch hier noch eine wichtige Rolle zu spielen hat, wenn er auch naturgemäß hinter dem Haupthelden zurücktritt. — Über den Standpunkt, von dem aus beide Werkchen beurteilt werden möchten, seien hier ein paar Worte vorausgeschickt.

Zu dem Versuche, diese in Amerika schnell beliebt gewordenen Schriften auf Deutsch zu bearbeiten, bewog die Überzeugung, daß dieselben auch für die deutsche Jugend eine unschädliche, genuß- und gewinnreiche Lektüre abgeben und so die Zahl der brauchbaren katholischen Jugendschriften um einige vermehren könnten. Von dem Gedanken aber,[S. iv] hier ein Muster der Erziehungskunst vorzuführen oder die von den amerikanischen Jesuiten befolgte Methode zu schildern, wurde aus dem einfachen Grunde Abstand genommen, weil dieser Gedanke schon dem Verfasser gänzlich ferne gelegen hat. Ein Charakter, so abnorm wie derjenige Percy Wynns, dessen Erziehung überdies bei seinem Eintritte ins Pensionat der Hauptsache nach schon fertig ist, wäre dazu auch recht wenig geeignet. Nicht ein „Lienhard und Gertrud“ lag in P. Finns Absicht, sondern eine fesselnde und veredelnde Lektüre für die Jugend. Die wenigen Gebräuche und Maßregeln aber, deren bruchstückweise Anführung lediglich dem Fortschritte der Erzählung dient, können unmöglich außer dem Zusammenhang mit dem ganzen lebendigen Schul- und Pensionatsorganismus von „Maurach“ richtig beurteilt werden; und dieser selbst würde zu seinem Verständnis wiederum nicht nur eine genaue Kenntnis von Land und Leuten erfordern, sondern auch eine gewisse Vertrautheit mit den lokalen Verhältnissen von Haus und Umgebung.

Insbesondere sind drei Punkte hervorzuheben, die in den vorliegenden Erzählungen zwar berührt, aber doch nicht in dem Maße zum Ausdrucke gelangt[S. v] sind, daß auch dem Fernstehenden ein richtiges Urteil ermöglicht wäre. — Zunächst ist es die große Bedeutung, welche der Anglo-Amerikaner in seinen Erziehungsanstalten dem Traditionellen beilegt; „was grau vor Alter ist, das ist ihm heilig.“ — An zweiter Stelle kommt der stark ausgeprägte Nationalcharakter der nordamerikanischen Republik mit seinem weitgehenden Einflusse schon auf die erste Erziehung der freigeborenen Jugend und auf die Gestaltung des geselligen Verkehres zwischen groß und klein. — Unter den nationalen Eigentümlichkeiten sei als dritter Punkt noch besonders genannt eine außerordentliche Vorliebe für das Spiel, welche naturgemäß der Jugenderziehung ein ganz eigenes Gepräge geben muß. In der That macht das Spiel samt der Art, wie es nun einmal betrieben wird und nach Landessitte betrieben werden muß, in den amerikanischen Anstalten seine Wirkungen auch dort noch geltend, wo vom Spiele selbst längst nicht mehr die Rede ist.

Ohne Zweifel haben diese kurzen Bemerkungen den Wert beider Schriftchen in den Augen jener Leser vermindert, die in denselben etwa ein ausschlaggebendes Material zum Vergleiche zwischen[S. vi] deutscher und amerikanischer Erziehung zu finden hofften. Allein eine Aufklärung im Beginne ist besser, als eine Enttäuschung am Ende, und vielleicht wird deshalb die Jugendschrift als solche eine um so wohlwollendere Beurteilung finden.

Erwähnt sei noch, daß der Verfasser, wie er in der Vorrede zu seiner zweiten Auflage bemerkt, die Katechismusstunde (S. 136 ff.) der Hauptsache nach von P. Spee entlehnt hat. Dieses Produkt eines urdeutschen Gemütes kommt also hiermit auf den heimatlichen Boden zurück.

Valkenburg in holl. Limburg, d. 30. Aug. 1896.

Franz Betten, S. J.

[S. vii]

Kopfvignette des   Inhaltsverzeichnsses

Inhaltsverzeichnis.

 
Seite
1.
Kapitel.
Der schüchterne Neuling
2.
Percy muß bei Tom Playfair ein Examen machen. Neue Bekannte
3.
Die gelbseidene Krawatte und Ähnliches
4.
Spielplatz und Schule
5.
Das Gespenst
6.
Nachwehen
7.
Ein freier Tag. 1. Die Fußtour
8.
Ein freier Tag. 2. Fischen und Klettern
9.
Ein freier Tag. 3. Schwimmen und Rudern
10.
Eine Gesellschaft anderer Art
11.
Eine Verschwörung gegen Playfair und Quip
12.
Percy entdeckt das Komplott und beschließt zu helfen
13.
Ist das ein Feigling?
14.
Wie die geretteten Freunde ihrem Retter helfen
15.
Wie ein Vierter allen zu Hilfe kam. — In der Infirmerie
16.
Percys Pult
17.
Wie P. Middleton den Flüchtling findet
18.
Die Erlebnisse des Ausreißers
19.
Ruhe nach dem Sturme
20.
Noch im Krankenzimmer
21.
Fußball
22.
Der schiefe Philipp
23.
Auf der Gasse
24.
Wie zwei Tapfere mit Percy Fersengeld geben müssen
[S. viii]
25.
Zwei Briefe
26.
In der Aula
27.
Der unerwartete Besuch
28.
Der neue Zögling
29.
Der kleine Wißbegierige
30.
Fröhliche Weihnachten
31.
Ein junger Schlittschuhmeister
32.
Der seltsame Wanderer
33.
Ein Tod unter freiem Himmel
34.
Tom begegnet zwei Gesellen, die er lieber nicht sähe
35.
Schluß
Bemerkungen zu den ausländischen Wörtern
Inhaltsverzeichnis, Schlussvignette

[S. 1]

Kopfvignette des   1. Kapitels

1. Kapitel.
Der schüchterne Neuling.

D

Das amerikanische Pensionat Maurach liegt, wie den Lesern von ‚Tom Playfair‘ schon bekannt ist, eine halbe Stunde von dem gleichnamigen Städtchen entfernt, einsam auf der welligen Prärie. Ein paar Wälder und mehrere Seen unterbrechen angenehm die weiten, unabsehbaren Grasstrecken seiner Umgebung.

Die jugendlichen Insassen des Hauses zerfallen nach Alter und Entwickelungsstufen in zwei Abteilungen von je hundert oder hundertzwanzig Zöglingen.

Auf dem Spielplatze der Kleinen bemerken wir heute das gewöhnliche muntere Treiben. Nur fällt uns ein Knabe von etwa dreizehn Jahren auf, der sich abseits von dem fröhlichen Getümmel mutterseelenallein auf einer Bank im Winkel des Platzes niedergelassen hat. Er ist ein zartes, schwächliches Kind. Sein offener Blick verrät Unschuld und Zutrauen, und jeder Zug des ausdrucksvollen Gesichtes erzählt von einer glücklichen, reinen, im Kreise lieber Angehörigen verbrachten Kindheit.

Eine Gruppe von fünf größeren Zöglingen, lauter kräftigen, dreist aussehenden Burschen, nähert sich ihm.

[S. 2]

„Heda, Jüngelchen!“ ruft Kenny, der ihr Anführer zu sein scheint, in barschem Tone, „heda! was hockst Du hier so allein herum?“

Der Kleine, der wie in stillem Schmerze den Kopf gesenkt hielt, richtete sich bei diesen Worten langsam auf und erhob seine großen blauen Augen furchtsam und bittend zu den Herannahenden.

„Hast Du keine Ohren?“ fuhr Kenny fort, ebenso unsanft wie vorher. „Was hockst Du hier so allein?“

Die Lippen des Angeredeten zitterten; er hatte nicht den Mut, dem rauhen Fragesteller ein Wort zu erwidern.

„Dann sag uns wenigstens mal, wie Du heißest! Das wirst Du wohl noch wissen.“

„Percy Wynn.“

„Percy Wynn!“ wiederholte die ganze Gesellschaft in einem Tone, den sie für besonders geistreich hielt; „Percy Wynn! ha, ha! das ist ein feiner Name! ein herrlicher Name! Meinst Du das nicht auch, Percy?“

„O gewiß!“ versicherte Percy bangen Mutes, aber mit voller Überzeugung, worauf ein neues Gelächter entstand.

Die fünf hatten schlau einen Zeitpunkt ausersehen, da P. Scott, der die Aufsicht führte, sich an das andere Ende des Spielplatzes begeben mußte, so daß sie nicht leicht eine unliebsame Störung zu befürchten hatten.

Der gute Percy merkte jetzt, daß man sich nur über ihn lustig mache, und ein glühendes Rot übergoß seine blassen Wangen.

[S. 3]

„Da seht doch, er wird rot! gerade wie ein Mädchen!“ spottete Martin Prescott, und rief dadurch einen ausgelassenen Beifall hervor.

Percy hatte allerdings viel Mädchenhaftes an sich. Seine Gestalt war auffallend schmächtig; die Kleidung, von den zierlichen Schuhen und den langen schwarzseidenen Strümpfen an, bis zu der breiten, farbigen Krawatte, zeigte eine geradezu peinliche Sorgfalt; das goldgelbe, reiche Haar aber hing ihm nach Mädchenart in langen Locken auf die Schultern herab, ein Schmuck, der in Amerika zwar auch bei Knaben nicht ganz ungebräuchlich ist, aber doch auch nicht gerade häufig gesehen wird.

Percy, der immer mehr inne wurde, daß die Augen von fünf Buben sich an seiner Verlegenheit weideten, errötete noch mehr, stand hastig auf und suchte der unwillkommenen Gesellschaft zu entfliehen.

Allein Kenny ergriff ihn beim Arm.

„Da bleiben, Percy!“

„O bitte, lassen Sie mich doch los! Ich möchte so gern allein sein!“

„Sie! aha! er sagt ‚Sie‘!“ riefen mehrere. „Das ist recht. Du bist ja sehr höflich.“

Kenny drückte ihn wieder auf die Bank mit den Worten:

„Ich habe noch etwas zu fragen, Percy; sag’ mal, wo schläfst Du denn eigentlich?“

„Da drüben in dem großen Schlafsaal; der Herr Präfekt hat mir mein Bett schon gezeigt.“

„Gut. Du bist nun ein Neuer, und weißt noch nicht, wie es hier geht. Ich will Dir einiges sagen. Wenn Du im Bett bist — und wohlgemerkt, beim[S. 4] Auskleiden mußt Du sehr schnell machen — dann sagst Du mit lauter Stimme: ‚Löschen Sie das Licht nur aus, Pater, ich bin im Bett!‘ Das muß man aber im ganzen Schlafsaale hören können.“

„Muß ich das wirklich thun?“ fragte Percy betroffen. „Können Sie dafür nicht einen andern ausfindig machen?“

Jedes ‚Sie‘, das Percy aussprach, weckte ein neues Schmunzeln der Überlegenheit.

„Nein, das geht nicht,“ sprach Kenny, „es muß immer derjenige thun, der zuletzt gekommen ist. Vor vierzehn Tagen hat das Schuljahr schon angefangen. Du bist erst heute gekommen — also mußt Du es sagen.“

Das war natürlich eine Lüge, aber Kennys böswillige Genossen hielten es für den lustigsten Scherz und vermochten kaum ihr schadenfrohes Ergötzen zu verbergen.

„Das ist doch eine sonderbare Gewohnheit!“ rief Percy erstaunt aus.

„Sonderbar oder nicht sonderbar, das bleibt sich ganz gleich. Es muß nun einmal geschehen.“

„Dann will ich es auch thun.“

„Recht so, Percy. Was hast Du also zu sagen?“

„‚Löschen Sie das Licht nur aus, Pater, ich bin im Bett!‘“

„Vortrefflich! Du hast Deine Lektion gut gelernt. Jetzt kommt etwas anderes. Du mußt hier sofort einen Purzelbaum schlagen.“

„Was? einen ... was für einen Baum muß ich schlagen?“

[S. 5]

„O du Nestküchlein! — Du hast wohl immer bei Mama auf dem Sopha gesessen. — Er kann nichts als seinen Schwestern die Puppe einlullen“ — schrieen alle durcheinander.

„Und da wird das Mädchen wieder rot!“ sprach Prescott und zerrte ihm an den goldenen Locken, wobei er sich wohlweislich so stellte, daß der Präfekt, der wieder näher kam, die Bewegung seiner Hand nicht unterscheiden konnte.

„Einen solchen Baum,“ erklärte Kenny, als es wieder ruhiger geworden war, und machte es ihm vor.

„O, auf mein Wort!“ versicherte der beklommene Percy treuherzig; „das bringe ich nicht zustande! ganz sicher nicht!“

„Du mußt, Percy. Jeder Neue muß das thun.“

„Aber ich kann es ja nicht,“ sprach Percy flehentlich.

„Macht nichts! wenigstens kannst Du es probieren.“

„O bitte! erlassen Sie es mir dieses Mal! Ich will den Purzelbaum für mich üben, und wenn ich ihn kann, wird es mir ein großes Vergnügen machen, Ihrem Willen zu entsprechen. Ihr Wunsch soll mir Befehl sein.“

„O wie fein, wie fein! Was er schwätzen kann!“ höhnte Skipper. „Woher er nur die Wörter hat! Ich wette, er hat ein ganzes Wörterbuch auswendig gelernt.“

„Nein!“ sagte Percy voll Beklommenheit.

„Vorwärts, Percy!“ drängte Kenny in drohendem Tone; „keine Umstände!“

Das hilflose, geängstigte Kind brach in Thränen aus, stand auf und machte einen neuen Versuch, seinen Bedrängern zu entkommen.

[S. 6]

Aber Kenny faßte noch heftiger als das erste Mal Percys Arm.

„Nichts da, Wynn! Du thust, was ich will! Oder willst Du einen Faustkampf mit mir probieren?“ Dabei erhob er die geballten, kräftigen Fäuste. „Wir werden uns schon am rechten Orte treffen; ich will es Dir auch wohl zeigen, so gut wie den Purzelbaum.“

„Das lässest Du schön bleiben!“ rief eine neue Stimme von hinten, und zwei starke Ellenbogen pufften unsanft die saubern Freunde auseinander, daß sie sich mit lautem „au! au!“ an die getroffenen Stellen griffen; ein anderer Zögling, den das Spiel zufällig in diesen Winkel geführt hatte, trat neben den gequälten Percy. Sein jugendfrisches Gesicht glühte vor Entrüstung und seine Augen richteten sich zornig auf die fünf edlen Brüder.

„Schäm’ Dich, Kenny!“ rief er. „Sobald ein Neuer im Haus ist, fällst Du mit Deiner Bande über ihn her. Ihr seid ja selbst noch neu! Packt Euch fort! auf der Stelle! oder ich sorge, daß Ihr erfahrt, wie man sich in Maurach zu betragen hat.“

Der Redende war kleiner und offenbar auch etwas jünger als Kenny und die meisten seiner Genossen; aber der da vor ihnen stand, war ja Tom Playfair, der gefeiertste unter den jüngeren Zöglingen, Tom Playfair, dessen Haupt eine Reihe seltener Knabenthaten, worunter die glorreiche Verteidigung einer Schneefestung gegen mehrfache Übermacht noch die geringste war, mit einer strahlenden Ruhmeskrone umgeben hatte. Kenny und seine Genossen hatten das allerdings selbst nicht miterlebt, sie gehörten ja erst[S. 7] seit vierzehn Tagen der Anstalt an; aber die Berichte der älteren Zöglinge hatten ihnen bereits vieles mit weiteren Ausschmückungen zugetragen. Kein Wunder also, wenn sie es mit ihm wenigstens nicht ganz verderben wollten.

Zudem war der Präfekt doch bedenklich nahe gekommen; die verdächtige Unterhaltung zwischen dem Neuling und Kennys schon in etwa bekannter Gesellschaft hatte bereits mehrere Minuten gewährt. Um keinen Preis durfte sie einen erregteren Charakter annehmen, was geschähe, wenn man sich mit Playfair in einen weiteren Handel einlassen würde. Eine Untersuchung des Vorfalles und energische Ahndung der an einem Neuling verübten Quälerei wäre alsdann unabwendbar.

Nach einigen halb ärgerlichen, halb scheuen Blicken auf den Störer ihres niedrigen Vergnügens hielten es deshalb die fünf Burschen für geratener, sich in einer möglichst wenig auffallenden Weise zurückzuziehen und in der spielenden Menge zu verlieren.

Tom Playfair aber nahm sich gleich des schüchternen, hilflosen Mitzöglings an. Er setzte sich zu ihm auf die Bank und blickte voll Teilnahme auf den schluchzenden Knaben. Bald legte sich Percys Schmerz; er zog sein weißes, zierlich gefaltetes Battist-Tüchlein hervor, trocknete sich die Thränen ab und schaute seinen Wohlthäter mit inniger Dankbarkeit an.

„So, jetzt ist es ja gut,“ sprach Tom ermunternd, „nicht wahr? — Ich heiße Tom Playfair und bin von St. Louis. Deinen Namen weiß ich schon. Bist Du aus Chicago?“

[S. 8]

Percy hatte sich in seine veränderte Umgebung im Pensionat noch gar nicht gefunden. Voll Dankbarkeit sagte er mit einer Art Ehrfurcht:

„Ich bin aus Baltimore, mein Herr!“

„Aber soll ich denn gleich wieder fortlaufen?“ fragte Tom scherzend.

„Nein, sicher nicht, mein Herr,“ sprach Percy lächelnd und schüttelte seine Locken zurück. „Warum sollte ich das wollen?“

„Du sagst ja immer ‚Herr‘ zu mir, und ich bin kein Herr. Ich nenne Dich auch nicht Herr. Sage ‚Tom‘ zu mir.“

„Sehr gern, Tom,“ antwortete Percy mit noch froherer Miene. „Und es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Tom stutzte. Eine so feine, wohlgesetzte Redensart hatte er von seinesgleichen noch nie gehört und wußte deshalb nicht gleich, was er darauf erwidern sollte.

Eine kurze Pause trat ein.

„Gut,“ sagte er dann; „wir wollen uns also die Hand geben.“

Sein Staunen wuchs aber noch mehr, als Percy sich würdevoll erhob und mit anmutiger Verbeugung und feierlicher Miene Toms dargebotene Hand ergriff.

„Wa—wie—warum—,“ stotterte Tom verblüfft. „Wo in aller Welt kommst Du denn her?“

„Aus Baltimore in Maryland, Tom; ich meine, das hätte ich Ihnen schon gesagt.“

„Ihnen?“ wiederholte Tom, beinahe außer sich vor Staunen. „Sagen denn in Baltimore die Knaben alle Sie zu einander?“

[S. 9]

„Das weiß ich wirklich nicht, Tom. Ich habe in Baltimore keinen einzigen Knaben gekannt.“

Tom pfiff leise zwischen den Zähnen durch.

„Gar keinen Jungen gekannt?“

„Keinen einzigen. Mama sagt, Knaben seien viel zu roh. Und das sind sie auch“ — hier begann Percy wieder zu schluchzen — „nur Sie nicht, Tom, Sie sind gut, aber Sie sind der einzige.“

Tom wartete, bis Percys Erregung nachließ. Dann sprach er freundlich:

„Du mußt ‚Du‘ zu mir sagen, Percy, und geradeso zu allen Zöglingen im ganzen Hause. Ich habe ja auch noch keinen Schnurrbart.“

Percy sah ihn überrascht und erfreut an.

„Aber mit wem hast Du denn bis jetzt gespielt?“ fuhr Tom fort.

„Gespielt? O, mit meinen Schwestern, Tom. Ich habe sechs Schwestern. Die älteste ist achtzehn, die jüngste fünf Jahre alt. O, Tom, sie sind so gut, so gut! Ich wollte, Du känntest sie; Du würdest sie alle so gern haben!“

Tom wollte das nicht recht einleuchten.

„Hast Du denn viele Spiele mit Deinen Schwestern gespielt?“

„O ja, Tom. Seilchenspringen kann ich viel besser als sie alle. Wir spielten auch oft Kätzchen-ins-Eck, und Pantoffeljagd, und manchmal Kaufmann; dabei war ich der Kaufmann und sie die Einkäuferinnen, die kamen, um für ihre Herrschaften einzukaufen. O, es war sehr ergötzlich, Tom. — Und abends las uns Mama wunderbare Märchen und hübsche Erzählungen[S. 10] vor, und zuweilen auch herrliche Gedichte. — Hast Du schon das Märchen von den ‚Sieben Finken‘ gelesen, Tom?“

„Ich glaube nicht,“ erwiderte Tom fast kleinlaut; er wußte nicht recht, ob er Percys Begeisterung sonderbar oder beneidenswert finden sollte.

„Und ‚die Beatushöhle‘?“

„Nein.“

„O sie sind so schön! sie sind entzückend. Ich erzähle sie Dir später und noch andere dazu. Ich weiß sehr viele.“

„Erzählungen höre ich ganz gern,“ versicherte Tom. „Deshalb werden mir die Deinen gewiß Freude machen.“

„O sicher, Tom! — Aber weißt Du auch, weshalb ich hierhin gekommen bin? Meine liebe Mama wurde plötzlich krank, und als sie genesen war, schrieb ihr der Arzt eine Erholungsreise nach Europa vor; Papa ist vor mehr als zwei Monaten mit ihr abgereist. Meine Schwestern sind alle zu den Klosterfrauen vom Göttlichen Herzen ins Pensionat gekommen, mit Ausnahme der ältesten und der jüngsten, die in Baltimore bei unserer Tante sind. Meine Schwestern schreiben mir abwechselnd jeden Tag. Thun das Deine Schwestern auch, Tom?“

„Ich habe keine Schwestern,“ sprach Tom lächelnd, aber in diesem Lächeln war doch ein Anflug von Traurigkeit.

„Was, Tom? Keine Schwestern?“

„Nein, gar keine; und auch keinen einzigen Bruder.“

Percys Staunen ging in Mitleid über.

[S. 11]

„Armer Junge!“ rief er und schlug die Hände zusammen. „Wie bist Du denn überhaupt fertig geworden?“

„Ich habe mir eben so durchhelfen müssen. Meine Mutter“ — hier war Tom dem Weinen nahe — „ist auch schon lange tot.“

Percy erwiderte kein Wort, aber seine ausdrucksvollen Züge sprachen das innigste Mitgefühl aus; er ergriff Toms Hand und drückte sie herzlich.

Es dauerte eine Weile, bis Tom seine innere Bewegung verwunden und seine gewöhnliche, jugendfrische Stimmung wiedergewonnen hatte.

„Percy,“ sprach er dann, „Du bist ein gutes Kind, und ich will versuchen, aus Dir einen Jungen zu machen.“

„Einen Jungen? — Aber Tom, ich möchte doch fragen, für was Du mich denn bis jetzt angesehen hast.“

Tom zauderte.

„Du nimmst es mir übel, Percy, wenn ich es Dir sage.“

„O nein, Tom, nein! Dir nehme ich gar nichts übel! Du bist ja so gut gegen mich! Du bist mein Freund, Tom.“

„Ja sieh, Percy,“ sprach Tom zögernd. „Du bist so — so etwas merkwürdig, — so ganz anders, als wir alle — so wie — wie ein Mädchen, Percy.“

Percys Augen öffneten sich weit vor Überraschung.

„Was Du nicht sagst, Tom! wirklich? Aber wie kommt es denn wohl, daß ich früher nie etwas davon vernommen habe? Mama und meine Schwestern haben mir nichts dergleichen gesagt.“

[S. 12]

„Sie kannten sicherlich keinen Jungen.“

„Doch, Tom; sie kannten ja mich!“ Diesen Beweis hielt Percy für völlig durchschlagend.

„Aber Du bist eben nicht, wie andere Knaben. Und sie konnten immer nur sagen, daß Du eben Du bist. Aber so wie Du ist kein anderer Junge.“

„Wirklich nicht?“ sprach Percy, noch immer verwundert.

„Du gleichst andern gar nicht, Percy.“

„Aber ich habe viel über Knaben gelesen, z. B. über die Kindheit großer Maler und Musiker und Dichter. Ich habe auch ein schönes Gedicht auswendig gelernt, das anfängt:

O, meiner Kindheit gold’ne Zeit!
Tag und Nacht voll Seligkeit!

Ist das nicht schön, Tom?“

„Hast Du das in der Schule gelernt, Percy?“

„O nein, ich bin nie in einer Schule gewesen. Ich hatte einen Privatlehrer, der mir und meinen jüngsten Schwestern Unterricht gab. Aber dieses schöne Gedicht habe ich zu meinem Vergnügen gelernt, und noch viele, viele andere. Meine älteste Schwester erklärte sie mir, und oft hat uns Mama auch Gedichte vorgelesen und erklärt. O das war so schön.“

Tom war es wie den meisten seiner Altersgenossen noch nicht in den Sinn gekommen, aus eigenem Antriebe Gedichte zu lesen. Diese Mitteilung Percys erfüllte ihn daher fast mit Ehrfurcht vor seinem neuen Freunde.

„O, und ich habe Longfellow so gern,“ fuhr Percy mit steigender Begeisterung fort; „das ist ein rechter Dichter! Meinst Du nicht auch, Tom?“

[S. 13]

Zum Glück für Tom, der eben kleinlaut seine Unkenntnis eingestehen wollte, klang jetzt die Schelle und rief die Zöglinge zu Tisch. Er führte den Neuling in den Speisesaal und konnte während des ganzen Essens kaum das Lächeln zurückhalten, während er beobachtete mit welch’ ausgesuchter Zierlichkeit Percy in Maurach sein erstes Mittagsmahl einnahm.

Schlussvignette 1. Kapitel

[S. 14]

Kopfvignette des   2. Kapitels

2. Kapitel.
Percy muß bei Tom Playfair ein Examen machen. Neue Bekannte.

H

Harry! Harry Quip!“ rief eine Stimme, als die Zöglinge nach dem Essen wieder in den Hof eilten.

Harry drängte sich durch die Menge und stand bald vor dem ungestümen Rufer.

„Was ist denn los, Tom?“ fragte er.

„Ich will Dich mit einem Neuen bekannt machen; es ist ein sehr guter Junge.“

Harrys lustiges Gesicht und sein ganzes Wesen nahmen sofort jenen verlegenen und unbeholfenen Ausdruck an, den die Förmlichkeit des Vorgestelltwerdens gewöhnlich bei Knaben hervorruft.

„Hier ist er; er heißt Percy Wynn und ist aus Baltimore.“

Harry bot ihm die Hand dar, recht steif und linkisch; aber seine Verlegenheit machte dem Erstaunen Platz, als Percy mit seiner unbeschreibbaren Verbeugung zart und zierlich Harrys Hand ergriff und dabei mit ausgesuchter Artigkeit sagte: „Harry, ich bin entzückt, Deine Bekanntschaft zu machen.“

[S. 15]

„Er giebt sich auch mit Poesie ab!“ flüsterte Tom, „und er braucht Dir Wörter, wie Du sie Dein Lebtag nicht gehört hast.“

Dann fügte er laut bei:

„Bitte, Harry, geh doch und sieh nach, ob an seinem Pulte im Studiersaale nichts fehlt. Ich habe noch etwas mit ihm zu besprechen. Wenn Du fertig bist, bring Joseph Whyte und Willy Hodder mit hinten zu den zwei Bänken.“

Harry, der sich von seinem Erstaunen noch nicht erholt hatte, war froh fortzukommen; und während er die Treppe hinaufstieg, murmelte er noch voll Verwunderung: „Und er giebt sich auch mit Poesie ab!“

„Percy,“ fragte Tom, als sie dem Ende des Spielplatzes zuschritten, „hast Du auch schon Ziellauf gespielt?“

Vielen meiner Leser wird es bekannt sein, daß der Ziellauf (Base Ball) von den Nordamerikanern als ihr Nationalspiel betrachtet und daher ungemein viel gespielt wird.

„Nein,“ sprach Percy, „aber ich habe zuweilen davon gehört und gelesen.“

„Hast Du Handball gespielt?“

„Du meinst, zwei Bälle abwechselnd emporwerfen und schnappen, nicht? O, das hab ich sehr oft mit meinen Schwestern gethan, aber ich konnte es nicht so gut wie Klara.“

Tom meinte das natürlich nicht, doch fuhr er in seinem Verhöre fort.

„Hast Du je ein Gewehr in der Hand gehabt?“

„Ein wirkliches Gewehr?“

[S. 16]

„Natürlich! ich meine kein Knallpistölchen oder einen Besenstiel.“

In Amerika ist nämlich die Jagd ein gar nicht ungewöhnliches Vergnügen unter den Kindern höherer Stände, selbst wenn sie noch recht jung sind; das Pensionat Maurach war in der Lage, seinen Zöglingen diese Erholung gestatten zu können.

„Mit wirklichem Pulver und wirklichem Schrot?“ fragte Percy außer sich; „o Tom, was fällt Dir ein?“

„Hast Du je gefischt? mit einer wirklichen Angel?“

„Nein; aber ich thäte es gern, wenn ich nur jemanden hätte, der mir den Wurm an den Haken steckte und nachher den Fisch abnähme.“

„Je eine Kahnfahrt gemacht in einem wirklichen Kahn auf wirklichem Wasser?“

„O nein, Tom. Mama sagt, die Kähne schlügen sehr leicht um. Sie wollte mir nie gestatten, in ein Boot zu gehen.“

„Kannst Du schwimmen?“

„Ich habe es ein paarmal in der Badewanne versucht, aber sie war zu klein. Mama sagt, es sei gefährlich, in tiefes Wasser zu gehen.“

„Die meisten Knaben, Percy, verstehen sich auf all’ diese Künste, wenn sie noch lange nicht so alt sind wie Du.“

„Das ist mir neu, Tom! wirklich!“

„Zeig’ mir doch einmal Deine Hände, Percy. Richtig, das hab’ ich mir gedacht: so zart, so weich, wie Butter. Jetzt thu’ mir doch einen Gefallen. Schließ’ Deine Hand recht fest — so — noch fester! — Jetzt schlag, so stark Du kannst, hier an meinen Arm!“

[S. 17]

„Nein, Tom, das werde ich hübsch bleiben lassen. Meinst Du, ich wollte Dir weh thun?“

„Keine Angst! ich kann’s vertragen. Schlag’ nur kräftig zu!“

Percy erhob seine Hand, als ob ein kleines Mädchen werfen wollte; das zarte Fäustlein fuhr hernieder, hielt aber plötzlich inne.

„Ich kann es nicht, Tom! ich bring’ es nicht fertig!“

„Versuch’ es noch einmal! Nimm all Deine Kraft zusammen!“ ermunterte Tom.

Percy schwang also wieder seinen Arm, und weil die Bewegung doch ziemlich rasch war und sich so plötzlich nicht wollte hemmen lassen, so berührte er wirklich Toms kräftigen Arm, wenn auch mehr in der Art einer sanften Liebkosung.

„Pah! Du streichelst mich ja,“ rief Tom mit verstellter Ernsthaftigkeit; „das thut man hier in Maurach nicht. Noch einmal probiert! Von solchen Schlägen stirbt ja nicht einmal eine Fliege.“

Percy preßte die Lippen auf einander, nahm alle Kräfte zusammen, die ihm zu Gebote standen, und um nicht wieder den Mut zu verlieren, schloß er die Augen. Jetzt endlich traf er mit einer Spur von Wucht Toms Arm.

Ein Schmerzensschrei ertönte, aber derselbe kam nicht von Tom.

„O meine Hand, meine Hand! ich habe mir sehr weh gethan!“

Tom sank auf die Bank nieder und lachte, daß ihm die Thränen in den Augen standen.

[S. 18]

„Percy, Percy!“ rief er, „einen solchen Jungen habe ich mein Lebtag nicht gesehen! Ha, ha! ich bekomme Leibschmerzen vor Lachen.“

„Wirklich?“ sprach Percy, der nicht recht wußte, was er von sich denken sollte; „es freut mich nur, daß Du so viel Freude daran hast. — Ah — da kommt P. Middleton,“ fuhr er leise fort. „Das ist ein guter Mann; ich habe ihn sehr gern.“

Dann zog er mit anmutiger Bewegung den Hut ab und sagte, indem er seine unnachahmliche Verbeugung machte:

„Guten Tag, P. Middleton! — Wie schön das Wetter heute ist, nicht wahr?“

„Ein sehr angenehmes Wetter,“ erwiderte der Präfekt mit einem freundlichen Lächeln, ohne seine Verwunderung über die feinen, altklugen Manieren des neuen Zöglings kundzugeben. „Du warst gleich weg, Percy, als ich Dir Dein Bett gezeigt hatte; deswegen fand ich keine Gelegenheit, Dich mit einigen alten Zöglingen bekannt zu machen. Aber ich sehe, Du weißt Deinen Weg selbst zu finden, und das ist besser.“

„Knaben habe ich nicht gern, Pater.“

„Nicht? das ist sonderbar. Du bist ja selbst einer.“

„Leider kann ich daran nichts ändern, Pater. Aber Mädchen hab’ ich lieber.“

„Wirklich?“

„O ja! Meine Schwestern waren viel liebenswürdiger als die Knaben hier.“

„Du kennst noch nicht alle, Percy.“

„Das ist wohl wahr. Aber vor dem Essen kamen[S. 19] einige zu mir, die ganz entsetzlich roh waren. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn mir Tom nicht geholfen hätte. Tom ist ein guter Junge, er ist gerade wie Pankratius.“

Tom, der sich bei der Ankunft des Präfekten erhoben hatte, wurde bei diesem Lobe purpurrot; kaum gewahrte er den anerkennenden Blick, durch den sein Vorgesetzter ihm ein neues Lob erteilte.

„Du hast also Fabiola gelesen, Percy?“

„O und wie, Pater! Kein Wort ist mir entgangen. Ich habe das Buch fast auswendig gelernt. Wie gern ich die heil. Agnes habe! Und ebenso den Knaben Tarcisius, der lieber sterben als das Allerheiligste den Heiden überlassen wollte. O, das ist so groß, so heldenmütig, so ideal!“

„Ein merkwürdiger Junge!“ sprach der Präfekt bei sich. „So mädchenhaft habe ich wirklich noch keinen gesehen; und anderseits, glaub’ ich, steckt ein herrlicher Charakter in ihm. Allerdings muß er sich noch gut entwickeln. Doch ist dazu die beste Hoffnung vorhanden.“

Mit ein paar muntern Worten verließ er sie.

„Gott sei Dank!“ dachte er. „Er muß manches annehmen, was ihm noch fehlt. Aber ohne Zweifel wird er auch vielen seiner Mitzöglinge etwas geben, was ihnen sehr not thut.“

Indessen erschien Harry mit Joseph Whyte und Willy Hodder. Nachdem beide die peinliche Ceremonie des Vorstellens überstanden und ebenfalls an Percys eleganter Verbeugung sich ergötzt hatten, begann eine Unterhaltung über dies und das, bis endlich Tom den Vorschlag machte, Percy möge eine Geschichte erzählen.

[S. 20]

Ohne Zaudern begann dieser die Geschichte ‚Liebet eure Feinde.‘ Er sprach flüssig und lebendig und verwendete Wörter, die einem Durchschnittsjungen die Kinnladen verrenkt haben würden; die Erzählung, der Erzähler, sein lebhaftes Mienenspiel, Ton und Abwechslung der Stimme, die wohlangebrachten Bewegungen der Hände, das alles war den Zuhörern so neu, so ungeahnt, so bezaubernd, daß sie ohne Unterlaß in stummer Verwunderung einander anblickten und ihnen die Zeit im Fluge verstrich. Ehe sie es dachten, erklang die Schelle und rief sie an ihre Studierpulte. Aber in dieser halben Stunde hatte der seltsame Neuling ihre Herzen gewonnen: sie wollten ihm Freunde sein und bleiben.

Am Abend dieses Tages stand P. Middleton im Schlafsaal bei einer Lampe und las; die meisten Zöglinge hatten sich schon zur Ruhe gelegt, nur hie und da regte sich noch ein Säumiger.

Auf einmal unterbrach eine silberhelle Stimme das Schweigen.

„Löschen Sie das Licht nur aus, Pater, ich bin schon im Bett.“

P. Middleton ließ seine Augen durch den Saal gleiten und ging langsam an das andere Ende desselben. Kein Lachen war zu vernehmen, doch ein verstohlenes Kichern vermochte mancher fröhliche Knirps nicht ganz zu unterdrücken.

Percy aber, durch den Klang seiner eigenen Stimme erschreckt, drückte die Augen fest zu und vergrub den Lockenkopf tief in Kissen und Decken. Ihm kam nicht im entferntesten zum Bewußtsein, daß er etwas gethan[S. 21] habe, was gegen die Ordnung sei. Sehr bald war das unschuldige Kind friedlich entschlummert, jene heiligen Namen auf den Lippen, die seine zärtliche, fromme Mutter dem einschlafenden Liebling so oft vorgesprochen und ihn sprechen gelehrt hatte.

Schlussvignette, 2. Kapitel

[S. 22]

Kopfvignette des   3. Kapitels

3. Kapitel.
Die gelbseidene Krawatte und Ähnliches.

A

Am folgenden Morgen, kurz nach halb sechs, wurde es im Waschsaal der Kleinen lebendig. Immer mehr Zöglinge kamen aus dem Schlafsaal, einige noch recht schläfrig, und begaben sich an ihre Waschtische. Sie sprachen nicht miteinander, aber das Klappern der Becken, das Sprudeln und Plätschern des Wassers, das Geräusch der Bürsten, das scheinbar ordnungslose Hin- und Hergehen von hundert Knaben, — das mußte in jedem fremden Zuschauer den Eindruck eines recht frischen, geschäftigen Treibens hervorrufen.

Als daher Percy dieses Schauspieles ansichtig wurde, blieb er überrascht in der Thüre stehen. Da zogen einige gerade die Jacken aus oder an, oder streiften die Hemdsärmel empor, oder seiften ihre Köpfe ein, daß sie aussahen wie riesige Schneebälle, oder waren mit Kämmen oder Zähneputzen, oder mit Schuhwichsen oder Reinigen ihrer Kleider beschäftigt — und das alles Knaben, Knaben — nichts als Knaben, in allen Zuständen unfertiger Toilette, in jeder Art von Bewegung und Stellung. Es bedurfte einiger Augenblicke, bis Percy sich in diesem neuen, für ihn ungewohnten[S. 23] Anblicke zurechtgefunden hatte, und vielleicht hätte er noch länger dort gestanden, wenn nicht ein paar andere Knaben, die ihm folgten, ihn einfach in den belebten Saal hineingedrängt hätten.

In Toilettesachen war Percy vollständig zu Hause. Er füllte also jetzt sein Waschbecken, und besorgte das wichtige Geschäft des Waschens samt allem, was dazu gehört, mit der Gewandtheit eines Kundigen. Bald war die Krawatte an der Reihe. Da schaute er suchend durch den ganzen Saal und entdeckte auch schnell seinen Freund Tom, der schon fertig dastand, und sich nur noch bemühte, ein wenig beißender Seife aus dem Augenwinkel zu entfernen.

„Guten Morgen, Tom!“ grüßte er mit lauter Stimme, als er bei ihm war. „Aber wie nachlässig und verlaufen Du aussiehst! Du kannst Dich ja nicht einmal ordentlich kämmen. Reich’ mir einmal Deinen Kamm her!“

In der nächsten Umgebung entstand ein freudiges Gekicher, und Tom, der endlich sein Auge von der Seife befreit hatte, reichte ihm lächelnd Kamm und Haarbürste.

„Dein Haar macht sich nicht gut, Tom, wenn Du es so flach kämmst; ich will es etwas aufbauschen. — Still halten, Schlingelchen! — So, jetzt sieh in den Spiegel! Ist das nicht viel schöner? — Aber, Tom, da hast Du ja wieder dieselbe Krawatte, die mir gestern schon gar nicht gefallen hat. Wer trägt denn eine blaue Krawatte zu einer blauen Jacke! Das sticht ja gar nicht ab! — Warte ein Bißchen!“

[S. 24]

Percy trat einen Schritt zurück und schaute ihn prüfend an.

„Gewiß! Gelb ist gut! das paßt zum Blau. Tom, ich habe eine prächtige gelbseidene Krawatte; die will ich Dir schenken.“

Da hörte er plötzlich leise seinen Namen rufen, wandte sich um und sah, daß P. Middleton, den Finger auf die Lippen legend, ganz nahe stand und ihn warnend anschaute.

„O, ich bitte um Verzeihung, Pater, daß ich so laut gesprochen. Ich habe mich ganz vergessen. Ich wollte Tom nur ein wenig helfen!“

Er eilte an seinen Waschtisch und kam bald mit der gerühmten Krawatte zurück, die er mit Kennermiene um Toms Hals legte.

„Ich knüpfe sie Dir in einen Schmetterling, das nimmt sich herrlich aus. — Ah“ — flüsterte er dann, mit der Begeisterung eines Künstlers sein Werk betrachtend; „sehr gut! vortrefflich! da sieh in den Spiegel — nicht wahr? — Jetzt binde mir meine Krawatte, aber auch in einen Schmetterling, die andern Knoten erregen stets mein Mißfallen.“

„Percy, das bringe ich nicht zu stande!“ sprach Tom, etwas beschämt, daß er dem guten Percy die Bitte nicht erfüllen könne.

„Was? Du kannst keinen Schmetterlingsknoten machen?“

„Nein, Percy; ich habe ja keine Schwestern, die es mich hätten lehren können.“

„Ah so, das ist wahr. — Ich will zu P. Middleton gehen; ich glaube, er thut es, er ist so freundlich.“

[S. 25]

Ehe Tom Einsprache erheben oder sein Staunen ausdrücken konnte, schritt Percy schon eilfertig zu P. Middleton hinüber.

„Wollen Sie nicht so gut sein, Pater, mir meine Krawatte zu binden? Ich kann es nicht selbst; meine Schwester Maria hat es mir immer gethan. Jetzt bat ich Tom, aber er sagte, er könnte es nicht.“

Verwundert über das sonderbare Ansinnen, nahm der Pater die Krawatte und schickte sich an, sie um Percys Hals zu legen und zu binden.

„Aber bitte, Pater, in einen Schmetterling!“

Der Pater gab sich redlich Mühe, Percys Bitte zu erfüllen, allein ein rechter Schmetterling kam doch nicht zustande. Percy entging das keineswegs, aber in seiner feinen, rücksichtsvollen Art that er, als ob alles ganz nach Wunsch geschehen wäre.

„Danke sehr, Pater! Ich werde Ihnen hoffentlich nicht wieder lästig fallen müssen. Ich will heute Tom zeigen, wie man es macht.“

Und mit seinem eleganten Knicks entfernte sich Percy.

Es folgte sogleich die Messe, während welcher Percy durch seine Andacht und ehrfurchtsvolle Haltung alle Nachbarn erbaute. Er hatte ein prächtiges Gebetbuch mit Samteinband und Silberbeschlägen, und an der Art, mit der er es benutzte, sah man, daß der Gebrauch eines Gebetbuches ihm durchaus nicht neu war.

Nach dem Frühstück rief Percy seine Bekannten Tom, Harry, Willy und Joseph zusammen.

„Ich habe etwas für Euch,“ sagte er, geheimnisvoll[S. 26] lächelnd, und bat sie, ihn in den Raum zu begleiten, wo sein Reisekoffer noch stand.

Er entnahm dem Koffer ein wohlduftendes Kästchen, öffnete es und entfaltete vor ihren bewundernden Blicken eine reiche Auswahl Photographien, welche die Merkwürdigkeiten seiner Vaterstadt Baltimore darstellten.

„Da, nehmt!“ sprach er mit strahlendem Gesicht; „jeder, was ihm am besten gefällt!“

Tom lehnte aber entschieden ab.

„Du bist nicht nach Maurach gekommen,“ sprach er, „um von uns ausgeplündert zu werden.“

Percy erschrak anfangs über diese rauhe Weigerung; doch wiederholte er seine Bitte mit so liebenswürdiger Zudringlichkeit, versicherte so ernsthaft, man könne ihm kein größeres Vergnügen machen als durch die Annahme seines Geschenkes, daß ihm alle willfahrten und sich ein Gabe auswählten.

Schlussvignette   3. Kapitel

[S. 27]

Kopfvignette des   4. Kapitels

4. Kapitel.
Spielplatz und Schule.

A

Aber jetzt ist die Reihe an uns,“ sprach Tom; „kommt in den Hof, wir wollen Percy gleich ein paar Kunststücke lehren.“

Gern folgten alle dieser Aufforderung.

„Nun, Percy, stell’ Dich einmal hierhin, spreize die Beine auseinander, daß Du fest stehst, stütze die Hände auf die Kniee, so wie ich es Dir zeige, und beuge den Kopf so, daß Dein Kinn die Brust berührt!“

Percy gehorchte.

„Jetzt sicher gestanden, sonst purzelst Du!“

„Was willst Du denn machen, Tom?“

„Nur vor Dich sehen, Percy!“

Bei diesen Worten hatte sich Tom ein paar Schritte nach hinten entfernt, nahm einen Anlauf und sprang, mit den Händen sich leicht auf Percys Schulter stützend, über ihn weg.

Der verblüffte Percy wankte und schwankte, und als er das Gleichgewicht wiedergewonnen, fragte er besorgt:

„Du hast Dir doch nicht weh gethan, Tom?“

Tom schien die Frage nicht zu hören.

[S. 28]

„Jetzt spring Du so über mich!“

„O, Tom, nein! das geht nicht.“

„Probieren, Percy!“

„O, ich falle ganz sicher auf den Kopf und beschmutze meine Kleider; und dann,“ sagte er lächelnd, „könnten mir ja auch die Gedanken aus dem Gehirn rollen.“

„Nur vorwärts!“ drängte Harry. „Hier Joseph und ich stehen auf beiden Seiten und wir fassen Dich, wenn Du fallen willst.“

Tom hatte sich schon zurechtgestellt.

„O, das ist mir aber viel zu hoch,“ erklärte Percy.

„Gut, ich will mich niedriger machen.“

Und Tom kauerte sich so tief zusammen, daß er kaum noch die Höhe eines Stuhles hatte.

„Jetzt will ich es also wagen!“

Percy ging etwa fünfzig Schritte weit zurück, nahm einen Anlauf, und mit Aufbietung aller Körper- und Willenskraft machte er den ersten Bocksprung in seinem Leben, und zwar ohne zu fallen, und ohne daß ihm seine Gedanken aus dem Gehirn rollten.

„O, das ist herrlich!“ jubelte er, „das muß ich gleich noch einmal thun!“

„Bravo, Percy, bravo!“ riefen die Freunde. Durch ihre ermunternden Worte noch mehr angespornt, machte Percy den Sprung wieder und wieder, bis er fast außer Atem war. Die Freude über seinen Erfolg und das Bewußtsein, auch andere froh zu machen, ließ ihn kaum ein Ende finden.

Das Bockspringen war für ihn wie eine Offenbarung;[S. 29] es erschloß ihm mit einem Male eine neue Welt von ganz ungeahnten Möglichkeiten.

„Sind die Knabenspiele alle so schön?“ war seine erste Frage, als er endlich wieder zu Atem gekommen.

„O, das war ja noch gar nichts!“ sprach Joseph Whyte; „alle andern sind viel schöner.“

„Ja“ sagte Willy, „das Bockspringen thun wir nur, wenn wir für die andern Spiele keine Zeit haben. Aber Du solltest erst einmal Handball sehen!“

„Und Fußball!“ fuhr Harry fort.

„Und von allen das schönste,“ schloß Tom, „ist der Ziellauf. Der ist fein! Er ist besser als alle andern zusammengenommen.“

„Was ihr nicht sagt! Jetzt bin ich doch froh, daß ich ein Junge bin!“

„Sehr richtig, Percy,“ versicherte Tom, „und gieb nur acht, Du wirst Dich immer mehr darüber freuen, je länger Du hier bist.“

Percy wurde jetzt plötzlich abgerufen. Der Studienpräfekt, der in Maurach den gesamten Unterricht zu leiten hatte, wollte ihn examinieren und ihm seine Klasse anweisen.

Bald erfuhren dann Tom und Harry zu ihrer größten Freude, daß Percy ihr Mitschüler in P. Middletons Klasse sei. Diese Klasse setzte zwar schon einiges Latein voraus, und Percys Kenntnisse waren in diesem Punkte recht dürftig. Allerdings hatte sein Privatlehrer, sobald es feststand, daß Percy in eine klassische Schule eintreten solle, den Lateinunterricht begonnen; jedoch gestattete ihm die kurze Zeit nicht mehr als eine fast rein mechanische Einübung der[S. 30] Deklinationen. Da sein begabter Schüler die Grammatik der Muttersprache sehr gut beherrschte, so glaubte er, im Laufe eines geregelten Unterrichtes werde sich das, was am vollen Verständnis noch fehlte, nach und nach ergänzen, falls man nicht vorziehen werde, ihn ganz von vorn anfangen zu lassen.

Dieser letzte Fall trat nicht ein. Da Percy in allen übrigen Fächern der Klasse weit voraus war, so ließ sich bei seinen Talenten erwarten, daß die große Lücke sehr bald ausgefüllt sein werde, eine Hoffnung, die der gewissenhafte, fleißige Knabe glänzend rechtfertigte.

Zehn Minuten später begab sich denn Percy zum ersten Male in eine Schule. Da fand er aber alles ganz anders als daheim im trauten Familienzimmer, bei Mutter und Schwestern. Er merkte gar nicht, daß P. Middleton, als alle Schüler an ihren Plätzen waren, eine leichte Handbewegung machte, und wunderte sich, warum plötzlich alle wie auf Kommando emporschnellten, eine andächtige Stellung einnahmen und auf den Professor schauten. Zwar sah er gleich, was geschehen sollte, geriet aber in neue Verwunderung, als die ganze Klasse mit frischer Stimme anhub:

In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.

Dann folgte ebenso frisch und doch andächtig das Pater noster, Ave Maria, Gloria Patri und wieder das Kreuzzeichen.

Percy bekam eine nicht geringe Achtung vor der Gelehrsamkeit seiner Mitschüler. Aber er selbst sollte und wollte ja auch Latein lernen.

[S. 31]

Einen Augenblick nach dem Gebet saßen alle schon wieder ruhig; kein Buch, kein Bleistift oder Federhalter war auf den Tischen zu sehen, nur die Hände.

Ein Wink von P. Middleton, und Playfair stand auf.

Seco, secare, secui, sectum, aber secaturus, ich schneide.

Reseco, resecare, resecui, resectum, aber resecaturus, ich schneide ab.

Disseco, dissecare, dissecui, dissectum, aber dissecaturus, ich schneide auseinander.

Frico, fricare, fricui, frictum oder fricatum, ich reibe.“

So folgten ohne Stocken die zwölf Verba, welche aufgegeben waren. Auch zwei andere Schüler sagten sie mit derselben Geläufigkeit aus. Ein folgender blieb stecken, und Percy wunderte sich, daß derselbe sich so beschämt setzte, während P. Middleton mit ernster Miene einen Strich in sein Notizbuch machte.

Percy wußte natürlich nicht, was dieses krause Wortgewirre bedeute. Aber bald zeigte ihm sein Nachbar, wo die Verba in der Grammatik standen. Dann mußte auch einmal ein Schüler die Perfekta allein aufsagen: secui, ich habe geschnitten, u. s. w. Percys lebendiger Geist erfaßte das schnell.

In gleicher Weise wurde aufgesagt: secaturus, einer der schneiden will, resecaturus u. s. w., und nachdem Percy auch während der Kreuz- und Querfragen, durch die P. Middleton jetzt die Formen einübte, das eine oder andere glücklich erwischt hatte, glaubte er sich schmeicheln zu dürfen, er sei in dieser[S. 32] Viertelstunde schon um ein Erkleckliches gescheiter geworden.

Mit besonderer Freude erfüllte es ihn, zu erfahren, wie einige Wörter seiner englischen Muttersprache, die er schon oft gehört und gebraucht, sich einfach auf ein lateinisches Stammwort zurückführten, z. B. sect, (Sekte), dissect (secieren).

Als dann P. Middleton das Wort vivisection in seine Teile zerlegen ließ und ein Schüler mit frischer Stimme erklärte, vivus heiße ‚lebendig‘ und sectio komme von seco, da begriff Percy nicht nur, daß dieses Wort ‚bei lebendigem Leibe zerschneiden‘ bedeute, sondern sah auch freudig ein, wie die vielen englischen Wörter, die mit vivi anfangen, alle mit der Bedeutung ‚Leben‘ zusammenhängen müssen.

„Ah, das Latein ist doch schön,“ dachte er, „und auch nicht so besonders schwer!“

Frohen Mutes nahm er mit den andern sein Übungsbuch und ließ sich zeigen, wo man stand. Aber da hatte er sich getäuscht. Da mußte er mehr wissen, als zwölf Verba und die Deklinationen und ein paar Formen der Konjugation. Schon drei Sätze waren übersetzt und erklärt, bevor er aus dem ersten Worte klug geworden. Wohl faßte er noch das eine oder andere Wort, aber warum die Endungen so häufig wechselten, wenn der Schüler es während der Erklärungen nannte, das war ihm fast immer ein Rätsel. Sehr bald streckte er die Waffen und hörte ein paar Minuten geduldig zu.

Endlich sprach er, — natürlich ohne aufgerufen zu sein, — mit lauter Stimme:

[S. 33]

„Meinen Sie nicht, P. Middleton, das Lateinlernen sei für den Anfänger mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden?“

Die Schüler waren zu sehr überrascht, als daß sie gelacht hätten.

„Es ist wirklich am Anfange nicht leicht,“ sprach P. Middleton freundlich, ohne in seinen Mienen den geringsten Tadel zu äußern. „Du kennst ja das Sprichwort: Aller Anfang ist schwer. Aber je mehr man lernt, um so mehr versteht man; so wird es immer leichter, und man thut es zugleich immer lieber.“

„Ich glaube das wohl,“ sagte Percy, nicht anders, als wenn er daheim mit Mutter und Schwestern spräche. „Ich habe es im Englischen selbst schon erfahren. Im Anfange las ich nicht gern, weil ich es nicht gut konnte; aber ich habe mich überwunden, und jetzt thue ich nichts lieber als lesen. — Pater, bitte, erzählen Sie uns jetzt eine Geschichte!“

Da erschallte ein brausendes, allgemeines Gelächter. P. Middleton schmunzelte und rief, als wäre nichts geschehen, einen andern Schüler zum Übersetzen des nächsten Satzes auf.

Dieser Klasse gehörten auch Kenny und Prescott an, deren Aufmerksamkeit jetzt wieder auf den guten Percy gelenkt war.

„O, was für ein einfältiges Kindlein!“ sprach Kenny, als er sich nach der Schule mit Prescott allein fand. „Den hatte sicher seine Mutter immer am Schürzenband.“

„Ja, ja!“ bestätigte der saubere Freund; „aber[S. 34] um so besser! Wir wollen noch manchen Spaß an ihm haben. Der ist uns ein gefundenes Fressen!“

Jetzt folgte eine heimliche Unterredung.

„O, das ist herrlich!“ rief endlich Prescott halblaut. „Ein köstlicher Witz! so viel wert wie die beste Cigarre. Und verlaß Dich darauf, Du sollst ein ganz greuliches Gespenst werden; Du kriegst ein wahres Teufelsgesicht mit roten Augen.“

„Ja, Prescott, ich berste schon vor Freude, wenn ich mir vorstelle, wie das Mädchen in Todesangst gerät.“

„Und ich gehe hinter Dir her, damit ich sein Jammergesicht auch bewundern kann.“

Während alles dessen war derjenige, dem der Anschlag galt, in Frieden und Heiterkeit beschäftigt, die neue Welt der Knabenspiele noch weiter zu erforschen.

Zunächst zeigte ihm Tom einen Ziellauf-Ball.

„Sieh mal hier, Percy, kennst Du so ein Ding?“

„Hu, wie hart!“ rief Percy, indem er den Lederball mit seinen butterweichen Fingerchen vorsichtig berührte; „der ist ja gerade wie ein Stein!“

„Ich möchte Dich nun lehren, solche Bälle zu schnappen.“

„Ich solche Bälle schnappen? Nein Tom, das geht nicht. Ich kann nur ganz schöne, weiche Bälle schnappen. O, das hab’ ich oft mit meinen Schwestern gethan! Aber mit diesem verderbe ich mir ja die Finger, und dann kann ich nicht mehr Piano spielen.“

„Ei, Percy, kannst Du auch Piano spielen?“

[S. 35]

„O, das thu’ ich so gern; und singen kann ich, Tom.“

„Percy, Du kannst alles, was ich nicht kann, und nichts, was ich kann.“

„Das hab’ ich eben von meinen Schwestern lernen können,“ sprach Percy lachend und warf das lange Haar zurück.

„Aber jetzt, Percy, mußt Du diesen Ball schnappen lernen.“

„Das geht ja gar nicht, Tom; ich könnte geradeso gut eine Kanonenkugel schnappen.“

„Es ist gar nicht so schwer. Ich will es Dir zuerst zeigen. Nimm Du den Ball und geh’ bis an den Baum dort. Dann wirfst Du auf mich, so stark Du kannst, und siehst zu, wie ich das Schnappen mache.“

„Aber wenn ich Dir weh thäte, Tom?“

„Keine Angst! ich will mich schon in acht nehmen. Und wenn Du doch all zu stark werfen solltest“ — hier hielt Tom inne, um ein Lachen zu unterdrücken — „so ducke ich mich schnell, daß der Ball über mich weg fliegt.“

„Aber so weit habe ich noch nie geworfen, Tom.“

„Dann versuch’ es jetzt einmal. Wenn Du Dich recht anstrengst, wird es Dir schon gelingen.“

Percy nahm den Ball und ging mit dem festen Entschlusse, recht stark zu werfen, an den bezeichneten Platz.

Dort schwang er den Ball ein paar Mal herum und ließ ihn dann aufs Geratewohl fahren. Nicht[S. 36] ohne Grund zitterte er für die Folgen; denn anstatt gegen Tom, nahm der Ball seinen Weg in der ganz entgegengesetzten Richtung, wo eben ein größerer Zögling dieses Hofes, Johann Donnel, mit gespannter Aufmerksamkeit einem Handballspiele zusah. Der Ball würde ihn ins Gesicht getroffen haben, aber Tom hatte noch Zeit zu rufen: „Donnel, Dein Kopf!“ und so erhielt er den Ball an den Hinterkopf.

„Au!“ rief er, etwas überrascht, aber sein Erstaunen wuchs, als er den kleinen goldlockigen Neuling laut jammernd auf sich zueilen sah.

„O, Du armer Junge!“ rief Percy, und die Thränen standen ihm in den blauen Augen. „Ich habe Dir sicher sehr weh gethan. Aber ich konnte nichts dafür, nicht wahr, Tom? Ich habe es ganz gewiß nicht mit Absicht gethan. O, ich bitte tausendmal um Verzeihung. Ich finde gar keine Worte, um auszudrücken, wie leid es mir thut!“

Diese mitleidsvollen, aus innerstem Herzen quellenden Worte und das tief betrübte Gesicht des Kleinen waren für Donnel erst recht etwas Unerklärliches.

„Jawohl,“ sagte er mit einem recht bärbeißigen Gesicht. „Du hast mich beinahe tödlich verwundet. Jetzt solltest Du mich wenigstens zum Krankenbruder bringen!“

„O Tom, bitte, hilf mir! ich kann es nicht allein. Du faßt ihn bei den Füßen und ich bei den Schultern. O, was hab’ ich gethan! was hab’ ich gethan! O Verzeihung, Vergebung für meine Unvorsichtigkeit!“ Und Percy begann laut zu schluchzen.

[S. 37]

„Du armes Würmchen!“ lachte jetzt Donnel; „meinst Du wirklich, Du hättest mir weh gethan? Das war ja kaum ein Mückenstich. Weil Du es aber durchaus willst, so verzeihe ich Dir auch noch großartig. Und wenn Du in Zukunft Spaß daran hast, so komm’ und wirf mich, wo Du mich nur treffen kannst.“

„Du brauchst dabei nicht zu fürchten, Hans,“ sprach Tom, „er werde Dich treffen. Denn wenn er auf Dich zielt, wirft er sicher an Dir vorbei; er trifft nur die, auf welche er nicht zielt.“

Da ging in Percys Herzen wieder die Sonne auf. Halb verlegen flüsterte er:

„Stelle mich vor, Tom, bitte!“

„Gern. Johann Donnel, das ist Percy Wynn!“

In gewohnter Weise machte Percy seinen artigen Knicks und versicherte, er sei entzückt Donnels Bekanntschaft zu machen.

Donnel fand an dem seltsamen Menschenkind Gefallen. Er war nicht nur der größte Zögling des kleinen Hofes, sondern zugleich der freundlichste und umgänglichste, und die ganz Kleinen nannten ihn wegen seiner Herzensgüte den ‚Großpapa‘.

Sofort erriet er, was Tom mit Percy vorhabe, und unterstützte dessen Bestreben, aus Percy einen rechten Jungen zu machen, gleich praktisch, indem er Percy eine Lehrstunde im Werfen gab.

Unter seiner geschickten Leitung war Percy denn auch bald so weit vorgeschritten, daß wenigstens die umsichtigen Zuschauer vor seinen Würfen einigermaßen sicher waren.

[S. 38]

„Morgen fühlst Du nun Deinen Arm etwas steif,“ sprach Tom, als es Zeit war aufzuhören; „aber sei deshalb nicht besorgt; das passiert jedem, der das Werfen noch nicht gewohnt ist.“

Der Abend kam, und müde von den Strapazen seines ersten Pensionatstages fiel Percy in Schlaf, sobald sein Kopf das Kissen berührte.

4. Kapitel, Schlussvignette

[S. 39]

Kopfvignette des   5. Kapitels

5. Kapitel.
Das Gespenst.

E

Etwa zwei Stunden mochte Percy geschlafen haben, da erwachte er und richtete sich schlaftrunken auf, ohne die Augen zu öffnen. Es war ihm, als hätte jemand seine Füße berührt, aber er wußte nicht recht, ob es vielleicht bloß Täuschung sei.

Schon legte er sich nieder, um wieder einzuschlummern, als ihn ein leises, aber ganz schaurig klingendes Brüllen zu vollem Bewußtsein brachte. Hastig die Augen aufschlagend gewahrte er neben dem Fußende seines Bettes eine fürchterliche Gestalt, ganz weiß, das Gesicht so lang wie Percys Arm und aschgrau, mit roten Augen und schwarzen Runzeln und Furchen; über den Kopf war ein blutigrotes Tuch geworfen, und ein geisterhafter Schein leuchtete um Kopf und Gesicht.

Karl Kenny, — denn niemand anders war das Gespenst, — und Prescott, der im Hintergrunde verborgen stand, hatten mit Schadenfreude auf Percys Entsetzen gewartet, und sich schon an dem Gedanken geweidet, wie der furchtsame Knabe erblassen und vor Schrecken kaum wagen werde einen Angstruf auszustoßen.[S. 40] Sobald Kenny jetzt Percy die Augen öffnen sah, stöhnte er noch einmal geisterhaft tief.

Aber was war das? dieses wohlklingende, silberhelle Lachen, kam das von Percy?

Noch einmal ließ Kenny ein grausiges Brummen erschallen.

„Ha, ha, ha! o das ist herrlich! das ist lustiger als eine Maskerade! ein unbezahlbarer Scherz!“

Percy lachte, so fröhlich er nur konnte, und klatschte mit ungekünstelter Freude in die Hände.

Kinder schlafen fest, und so war es nicht zu verwundern, daß erst jetzt Percys nächste Nachbarn erwachten, vor allem Harry Quip, dessen Bett unmittelbar neben demjenigen Percys stand.

Der sah aber die Geistererscheinung mit ganz andern Augen an als der kindliche Percy. Auf der Stelle durchschaute er, daß irgend ein gewissenloser Junge seinen schüchternen Freund habe in Angst jagen wollen.

Im Nu stand er kampfbereit vor seinem Bette, stürzte sich auf den Spuk, der ganz gegen die Art anderer Spüke schon bei seiner Annäherung merklich zusammenfuhr, und schlug den verblüfften Kenny mit leichter Mühe zu Boden. Der Helfershelfer Prescott aber entwischte feige, um nicht entdeckt zu werden.

Kenny hatte sich nun zwar gut überlegt, wie er wieder in sein Bett schlüpfen wolle, bevor Percys erwarteter Angstruf den Pater geweckt habe. Allein Percys Lachen hatte ihn schon in Verwirrung gebracht, und auf einen Überfall von Seite eines Dritten war er erst recht nicht gefaßt; daß er gar zu Boden fallen könne, hatte er am allerwenigsten bedacht.

[S. 41]

Sein entsetzliches Gesicht war nun aber nichts weiter, als eine große durchscheinende Papiermaske, mittelst einer Kerze, die auf dem Kopfe befestigt war, von innen erleuchtet. Sobald er deshalb fiel, entzündete die Kerze sofort das Papier, und auch die übrigen Teile des Geisterputzes fingen Feuer.

„Hilfe! Hilfe!“ schrie der Geist, so laut er konnte; „ich verbrenne, ich verbrenne!“

Da wurde der ganze Schlafsaal wach.

„Wasser! Wasser! — Ruft den Pater!“ — „Ein Priester!“ riefen die Kleinen verwirrt durcheinander.

Einige glaubten sich schon in Todesgefahr und erweckten laut einen Akt der vollkommenen Reue, wie sie es im Religionsunterrichte gelernt hatten. Das war sehr schön, insofern es ihren vernünftigen, frommen Sinn zeigte; aber in ihrer kindlichen Furcht hatten sie die Gefahr überschätzt.

P. Middleton, der zwar wie alle gesunden Leute nach hartem Tagewerk einen festen Schlaf hatte, war doch schon früher erwacht und näherte sich bereits eilig, aber voll Ruhe, der Stelle, wo der brennende Spuk auf dem Boden lag.

Allein Tom Playfair war ihm zuvorgekommen; mit all seinen Bettdecken stürzte er sich auf Kenny, und entwickelte einen solchen Eifer im Ersticken des Feuers, daß das arme Gespenst beinahe mit erstickt wäre.

Kenny mußte in die Infirmerie geschickt werden. Zwar war er nicht erheblich verletzt, allein seine Haare waren versengt und stellenweise war auch die Haut verbrannt.[S. 42] Auch ohne die nachdrückliche Strafe, die ihm später zu teil wurde, wäre er nie wieder in Versuchung gekommen, eine Geisterrolle zu spielen.

Der Schlaf, der so große Macht über die sorglose Kindheit hat, stellte sehr bald die Ruhe wieder her, und friedlich schlummerte die aufgeschreckte Jugend dem Morgen entgegen.

5. Kapitel, Schlussvignette

[S. 43]

Kopfvignette des   6. Kapitels

6. Kapitel.
Nachwehen.

E

Es war am Morgen nach der Geistererscheinung; die meisten Zöglinge waren mit Waschen und Ankleiden schon ganz fertig. Da hinkte eine kleine Jammergestalt schmerzlich die Treppe hinab.

„O P. Middleton,“ sprach Percy und stand da wie ein Häuflein Unglück; „ich bin sehr krank. Sehe ich nicht unwohl aus?“

„Dein Gesicht hat seine gewöhnliche Farbe, Percy; aber Du scheinst etwas lahm zu sein. Wo fühlst Du denn Schmerzen?“

„O, überall, Pater.“

„Hat Dir der Spuk etwas zu leide gethan?“

„O, gar nichts, Pater! — Hat denn der arme Junge wirklich einen Geist spielen wollen? Ich glaubte, er wolle mich bloß zum Lachen bringen; es sah so köstlich aus. Ich habe nicht die geringste Furcht empfunden.“

„Wo thut’s Dir denn besonders weh?“

„Meine Beine sind so steif, daß ich sie kaum bewegen kann, und mein rechter Arm schmerzt mich schrecklich.“

[S. 44]

„Ah, jetzt weiß ich, was Dir fehlt. Du hast wohl gestern viel gespielt, nicht wahr!“

„Freilich, Pater, so viel wie noch nie in meinem ganzen Leben.“

„Davon kommt dein ganzes Unwohlsein, Percy; es vergeht von selbst wieder, wenn Du Dich nur einen oder zwei Tage ruhig hältst. Heute scheint es nun außergewöhnlich stark zu sein. Deshalb will ich Dir dieses Mal erlauben, noch etwas zu schlafen. Geh’ nur wieder hinauf und leg’ Dich zu Bett; Tom Playfair soll Dich wecken, wenn es Zeit ist.“

„Ich danke Ihnen sehr, Pater. Ich bin so müde, ich glaube, ich könnte eine ganze Woche schlafen. — Pater, ist das wirklich wahr, was alle Zöglinge sagen, daß ich aussehe wie ein Mädchen?“

„In einigen Punkten ja,“ erwiderte der Pater, den die unerwartete, seltsame Frage überrumpelt hatte.

„Das habe ich mir auch gedacht,“ sprach Percy, durch die Antwort keineswegs betroffen. „Tom Playfair sagt es ebenfalls, und er ist doch so gut gegen mich. Ist es denn wirklich etwas so Sonderbares, wie ein Mädchen auszusehen?“

„Darüber hab’ ich noch nicht nachgedacht,“ antwortete der Pater lächelnd. „Freilich, wenn einer nicht anders kann, so darf man es ihm nicht übel nehmen.“

„Aber Sie scheinen es doch als weniger passend zu betrachten. Es kommt mir auch vor, Pater, als gaffte man mich immer an, gerade wie einen, der etwas sehr Auffallendes an sich hat. Muß ich vielleicht irgend etwas ablegen? Ich weiß nicht, was es wohl[S. 45] sein könnte. — Es ist mir sehr peinlich, begafft zu werden; Ihnen nicht auch, Pater?“

„Wie könnte mir das angenehm sein, Percy?“

P. Middleton merkte wohl, daß Percy hauptsächlich seines langen Haares wegen solches Aufsehen erregte; schon wollte er ihm raten, sich dieses weniger männlichen Schmuckes zu entledigen.

„Allein,“ dachte er, „vielleicht sind gerade diese goldenen Haare Gegenstand besonderer Freude und Sorgfalt für Mutter und Schwestern gewesen, und es dürfte dem guten Kinde jetzt noch recht schwer fallen, sie zu opfern. Später kommt wohl eine schicklichere Gelegenheit.“

So gab er denn zur Antwort:

„Das beste, was ich Dir sagen kann, Percy, ist, daß Du gut spielen lernst; dadurch bekommt Deine Gestalt von selbst ein kräftigeres, männlicheres Aussehen und die Zöglinge werden schon aufhören, Dich so anzuschauen. Jetzt leg’ Dich zu Ruhe; später können wir ja noch einmal darüber sprechen.“

„Ich danke Ihnen sehr, Pater,“ entgegnete Percy erfreut. Aber zu seinem gewöhnlichen eleganten Knicks wollten sich die gelähmten Glieder nicht verstehen; nach einem vergeblichen Versuche stieg er unter manchem Schmerzensseufzer wieder die Treppe hinauf.

Als Tom ihn weckte, fühlte er sich bedeutend wohler, doch war die Steifheit noch geblieben, so daß er gar nicht daran denken konnte, heute wieder zu spielen.

„Du liest ja so gern, Percy,“ sprach deshalb Tom zu ihm nach dem Frühstück. „Nimm Dir also ein Buch und setz’ Dich ruhig dort hinten auf die Bank; ich[S. 46] komme von Zeit zu Zeit und spreche etwas mit Dir, damit es Dir nicht zu langweilig wird.“

„O Tom, bitte, leg’ Dir meinetwegen keine Unannehmlichkeit auf. Wenn ich ein interessantes Buch habe, bin ich ganz selig. Und jetzt habe ich gerade ein sehr interessantes: ‚Dion und die Sibyllen‘. Mama sagt, es gehöre zu den besten katholischen Romanen, die in unserer Sprache geschrieben sind.“

„Schön, Percy. Also lies! Ich wollte, ich könnte es so wie Du. Aber ich finde die meisten Bücher langweilig. Ich habe fast noch gar nichts gelesen, als ein paar Erzählungen.“

Tom fühlte sehr wohl, daß der mädchenhafte Percy an eigentlicher, nämlich geistiger Reife hoch über ihm stand, und mit einem Seufzer entfernte er sich, um ein Handballspiel mit Quip, das er unterbrochen hatte, fortzusetzen.

Percy aber setzte sich seelenvergnügt auf die Bank und war bald tief in seine Lesung versenkt. Doch sollte er nicht lange ungestört bleiben.

Martin Prescott, der mit Kenny die Geistererscheinung geplant und ausgeführt hatte, konnte sich Percys Charakter noch immer nicht reimen. Er hatte gesehen, wie Percy bei unverschämten Fragen errötete, wie er sich nicht entschließen konnte, über Tom zu springen, wie er in Aufregung geriet, als er Donnel getroffen; er mußte also der vollendetste Feigling sein. Und doch hatte er in der Nacht beim Anblick des Gespenstes nicht die mindeste Furcht gezeigt. Das war Prescott unerklärlich.

[S. 47]

„Ah,“ sagte er endlich zu sich selbst, „er hat sicher von unserm Vorhaben Kunde gehabt. Da hinten sitzt er gerade, ganz allein. Ich will ihm doch gleich einmal auf den Zahn fühlen!“

„Guten Morgen, Wynn,“ begann er und suchte freundlich zu lächeln. „Das ist wohl ein schönes Buch, das Du da liest.“ Mit diesen Worten setzte er sich neben den rätselhaften Knaben.

Percy schloß das Buch.

„O, ja, ein sehr schönes, ‚Dion und die Sibyllen‘. Kennst Du es schon?“

„Nein.“ — „Welch alberne Frage!“ war Prescotts erster Gedanke.

„O, Du solltest es lesen. Es ist entzückend. Einige Scenen sind so lebendig dargestellt, daß man glaubt, man wäre selbst dabei, und sähe alles mit eigenen Augen. Hast Du schöne Schilderungen nicht auch gern?“

„Jaah — jah! — Aber, Wynn, ich höre, Dir ist diese Nacht ein Gespenst erschienen; ist das wahr?“

Percy lachte wieder voll Heiterkeit.

„O nein, es war nur ein Zögling, der einen Spaß machen wollte. Ich habe auch herzlich darüber gelacht. Es thäte mir leid, wenn ihm etwas Schlimmes dafür geschähe. Er hat es sicher nicht böse gemeint.“

„Er hat Dich in Angst setzen wollen,“ erklärte Prescott, der noch immer nicht begriff, wie Percy die Sache so harmlos auffassen könne.

„O, ganz sicher nicht! Es wäre ja gewissenlos, jemanden zu erschrecken. Es ist schon vorgekommen, daß Leute auf diese Weise vor Angst schwer krank[S. 48] geworden oder gar plötzlich gestorben sind. Ich kann nicht glauben, daß Kenny einer solchen Bosheit fähig ist; er hat ein so gutmütiges Gesicht. Und dann sagt Tom Playfair auch, Knaben seien gerade so gut wie Mädchen. Mädchen würden das aber nie thun, das weiß ich von meinen Schwestern. Die waren immer so gut und liebevoll gegen mich, obgleich sie mir hie und da auch einen Streich spielten. Am liebsten that das Maria. Einmal sagte sie mir, ich solle auf mein Zimmer gehen und meine neuen Schuhe anprobieren. Ich antwortete, ich hätte ja keine bekommen. Aber sie drängte mich, bis ich endlich ging. Da lag auf meinem Tische ein großes Blatt Papier, worauf geschrieben stand:

Schuhe suchst Du für die Füße,
Und bist reich verseh’n;
Doch probier, wie diese Schuhe
Deinen Händen steh’n;
Steck’ im Winter Deine Fingerchen,
Wenn’s Dich friert, in diese Dingerchen.

Als ich dann das Blatt aufhob, sah ich ein Paar schöne Winterhandschuhe, die Maria mir gekauft hatte. War das nicht fein?“

Aber so unschuldige Scherze konnten auf einen Prescott keinen Reiz mehr ausüben. „Ein solches Schaf habe ich mein Lebtag nicht gesehen,“ dachte er bei sich.

„Warst Du denn diese Nacht gar nicht bange, Wynn?“

„Gar nicht! Warum hätte ich mich auch fürchten sollen?“

„Hast Du denn keine Angst vor Gespenstern?“

[S. 49]

„Nein, wahrhaftig nicht!“ erwiderte Percy mit herzlicher Überzeugung. „Ich denke gar nicht an Gespenster. Wenn ich im Bette bin, denk’ ich immer an Engel.“

„So?“

„Ja, und das ist auch viel vernünftiger. Wir haben alle einen Schutzengel, das ist sicher; ob es aber irgendwo Gespenster giebt, wer kann das wissen? Meine Mutter hat mich immer ermahnt, nach dem Abendgebet nur an Gott und an meinen Schutzengel zu denken, aber nie an schauerliche Sachen. Ist das nicht ein guter Rat?“

„J—ja,“ war die unsichere Antwort; Prescott merkte, daß ihn Percys fromme Beredsamkeit ganz aus seinem Fahrwasser brachte.

„O wie gern möchte ich einmal meinen Schutzengel sehen! Er sieht mich immer und hat mir schon so viel Gutes gethan! Deshalb möchte ich ihn gar zu gerne auch einmal anschauen dürfen. Nur eines würde mich in Furcht setzen, wenn er mir erschiene.“

„Was?“ fragte Prescott trocken.

„Die Sünde, die schwere Sünde. Wenn ich eine Todsünde auf dem Gewissen hätte, würde ich mich fürchten, ihn sichtbar zu erblicken. — Die Engel müssen wunderschön sein. Meinst Du nicht auch?“

„Ich denke,“ erwiderte Prescott zögernd.

„O, ich bin überzeugt davon!“ rief Percy voll Begeisterung. „Eines der schönsten Bücher, die ich kenne, ist das von Faber: ‚Erzählungen über die Engel‘. Kennst Du es?“

„Nein.“

[S. 50]

„O, das mußt Du lesen! Ich habe es mitgebracht und will es Dir gern leihen. Die Geschichten sind alle so wunderlieblich. Willst Du es haben? Eine solche Lektüre ist viel besser als Gespenstergeschichten. Ich glaube, das Buch wird Dir sehr gefallen.“

„So?“ sprach Prescott, stand auf und ging davon, ohne Percys freundliches Anerbieten auch nur einer Antwort zu würdigen. Welch ein Einfall, von Engeln zu sprechen! Jetzt betrachtete er Percy erst recht als einen beschränkten, ja einfältigen Jungen.

Allein da Prescotts Seele nicht minder wie jede andere von Natur christlich ist, so bleibt die Hoffnung, daß die gute Saat später noch aufkeimen und Früchte bringen wird.

6. Kapitel, Schlussvignette

[S. 51]

Kopfvignette des   7. Kapitels

7. Kapitel.
Ein freier Tag.

1. Die Fußtour.

P

Percys Steifheit war wieder vergangen. Schon längst hatten ihn die Freunde eingeladen, am nächsten freien Tage mit ihnen einen Ausflug zu den schönen Seen zu machen, welche, von Waldstreifen umsäumt, in einiger Entfernung auf der Prärie ihre silbernen Spiegel ausdehnten. Dort gedachten sie sich mit Fischen, Schwimmen und Kahnfahren weidlich zu vergnügen.

Auch Großpapa Donnel und dessen gleichgesinnter Freund Georg Keenan hatten ihre Teilnahme zugesagt.

Da sie alle auf der ‚Ehrenliste‘ standen, so durften sie sich die Vergünstigung, allein auszugehen, unbedenklich versprechen.

Der ersehnte Tag kam, und gleich nach dem Frühstück sah man die kleine Gesellschaft, mit Fischgerätschaften ausgerüstet und mit Lebensmitteln reichlich versorgt, muntern Sinnes aus dem Hofe des Kollegs treten und die Richtung nach den Seen einschlagen.

„Welch ein prächtiger Morgen!“ sprach Keenan und atmete in langen Zügen die frische, kräftige Luft ein. „Man könnte beinahe poetisch werden!“

[S. 52]

„O ja!“ sagte Percy entzückt:

„Manch prächt’gen Morgen hab’ ich schon geseh’n,
Mit Königsblick der Berge Gipfeln schmeichelnd.“

„Du Aufschneiderchen!“ scherzte Donnel. „Wo sind denn die Berge und die Gipfel?“

„Ich dachte nicht an bestimmte Berge. Hier in Kansas giebt es ja nur niedrige Hügel. Aber die Verse kamen mir so von selbst in den Sinn, als Georg sprach: Welch ein prächtiger Morgen. — Seht doch, wie die Dächer des Städtchens im ersten Sonnenlicht zittern!“

„Wie Tennyson so schön in seinem ‚Sonnenaufgang in Maurach‘ sagt,“ fuhr Georg mit verstelltem Ernste fort;

„Licht gießt sich aus,
Ums liebe Haus
Und fern um Maurachs neue Dächer,
Lichtstrahlen geh’n,
Ob unsern See’n,
Den Wald erregt des Windes Fächer.
Wir sind heut’ frei von der Schule Pflicht,
Vergil und Cäsar, wir brauchen sie nicht!
D’rum hinaus an den See, in den grünen Wald!
Heut’ schwindet die Sonne doch viel zu bald!“

Percy sah ihn stutzend an.

„Bist Du sicher, Georg, daß Tennyson dieses wirklich geschrieben hat?“

„Um die Wahrheit zu sagen, Percy, so ist es ein Produkt mehrerer Künstler, Tennyson hat die äußeren Umrisse des ersten Teiles gezeichnet, und ich fügte[S. 53] die pikanten Einzelheiten ein. Der zweite Teil aber ist von meinem Freunde Donnel hier.“

„Der zweite Teil kann sich sehen lassen,“ meinte Percy. „Aber er ist sicher noch länger; er hört viel zu plötzlich auf.“

„Da hast Du schon recht, Schlauberger,“ erwiderte der junge Poet. „Zu Hause will ich Dir die ganze Fortsetzung zeigen. Hier kann ich doch nicht anfangen zu deklamieren.“

„Obgleich der Morgen schon danach ist; alles so schön, so ruhig und klar! — Ich habe die frische Luft und den hellen Sonnenschein so gern. Du nicht auch, Tom?“

„Ja — ich denke,“ sprach Tom. Er war noch ganz in Staunen versunken, daß Percy über Gedichte mit solcher Sicherheit und Wortfülle zu reden verstand. Auch diese Frage war nicht ganz nach seiner Art. Wohl liebte auch er Sonnenschein und frische Morgenluft; allein es war ihm noch nicht zum Bewußtsein gekommen, daß man darüber auch sprechen könne. In diesem Punkte war er noch viel mehr ein Kind, als Percy, wie viel er auch sonst vor demselben voraus hatte.

„Wie weit sind die Seen vom Pensionat entfernt?“ fragte Percy.

„Ungefähr eine Stunde,“ erwiderte Harry.

„O wie schade! Ich dachte, wir wären gleich da! Aber jetzt muß ich schon wieder umkehren.“

„Wie? Umkehren? Warum?“ riefen alle.

„Ja! Eine Stunde hin und eine Stunde zurück, das halte ich nicht aus. Zu Hause durfte ich nie länger als zwanzig Minuten spazieren gehen. Mehr[S. 54] darf ich mir nicht zumuten. Ach es thut mir so leid! Ich dachte, es würde ein so schöner Tag, und jetzt ist es mit aller Freude vorbei!“

Betrübt setzte sich Percy auf einen großen Stein am Wege und begann sein Mißgeschick zu bejammern.

„Unsinn!“ sprach der kräftige Tom. „Niemand weiß, was er kann, bevor er es versucht hat.“

„O, ich brauche es nicht erst zu versuchen,“ versicherte Percy und schüttelte seine Locken zurück. „Ich weiß ganz genau, daß so etwas für mich zu viel ist.“

„Du Knäblein, du Würmchen, du Krabbelkäfer, du Zartpüppchen!“ zankte Donnel in gutmütigem Ärger. „Weißt Du, wofür ich Dich halte, wenn Du nicht mitgehst?“

„Ich hoffe für nichts Schlechtes,“ sprach Percy beklommen.

„Für eine Gans!“

„Das thäte mir sehr leid, Johann.“

„Aber ich thu’s.“

„Und ich auch!“ drohte Keenan.

„Und ich auch! Und ich auch!“ riefen alle zusammen.

„Ich will aber lieber eine Gans mit zwei gesunden Beinen sein, als ein Krüppel.“

„Ich bitte Dich, Percy,“ sprach jetzt Tom, „steh’ auf und geh’ mit uns! Thu’ es, um unsertwillen! Wenn Du müde wirst, werden Dich Donnel und Keenan tragen. Sie thun es gern und sind stark genug dafür.“

„Gut! ich will es wagen, weil es Euch freut. Aber Ihr sollt Euch meinetwegen keine Mühe machen.“

[S. 55]

Also faßte sich Percy ein Herz, stand auf und schritt mit voran.

Auf einmal sagte Tom:

„Percy, Du bist im Irrtum.“

„Wie so?“

„Du sagtest ja, Du könntest nicht mehr aushalten, als zwanzig Minuten, und jetzt bist Du schon eine halbe Stunde auf den Beinen. Sieh nur meine Uhr!“

„Wirklich!“ rief Percy voll Freude. „Und ich fühle noch gar keine Müdigkeit!“

Nach weiteren zehn Minuten beschloß man mit Rücksicht auf Percy, eine Pause zu machen. Aber der wollte nichts davon wissen, bis ihn nach vergeblichen Überredungsversuchen Tom schließlich mit Gewalt auf einen Stein niedersetzte.

„Du hattest doch recht, Johann,“ sprach er zu Donnel, „daß Du mich für eine Gans halten wolltest, wenn ich nicht weiter ginge. Ich merke immer mehr, daß ich schrecklich einfältig bin.“

„Aber Du wirst auch schrecklich schnell gescheit,“ tröstete Johann Donnel.

Harry Quip bat jetzt Percy, eine Geschichte zu erzählen.

„Sehr gern; aber hier geht es nicht. Wir bleiben ja nicht lange hier sitzen.“

„Dann sing’ uns ein Liedchen!“ sprach Tom, und aller Augen richteten sich voll Erwartung auf Percy.

Percy lächelte, summte ein wenig leise vor sich hin, um seine Geige zu stimmen, und sang:

„Ein Eiland schön, von Wogen umrauscht,
Das sei für heute mein Sang ....“

[S. 56]

Die Zuhörer horchten mit sprachlosem Erstaunen. Noch nie hatten sie empfunden, wie jemand gleichsam seine Seele in den Klang seines Gesanges legt. Zudem waren sie, gleich Percy, mit einer einzigen Ausnahme Kinder irischer Familien, die mit großer Liebe an ihrem alten Vaterlande hingen. Ein Loblied auf Irland, in so vollendet schöner Weise vorgetragen, war deshalb für alle etwas Unwiderstehliches. Sie zogen im Geiste hin zu der grünen Insel St. Patricks, der Heimat ihrer Vorfahren, mit ihren spiegelhellen Seen und rauschenden Flüssen, mit ihren epheu-umrankten Ruinen, den Trümmern herrlicher Schlösser und Klöster, die, von Tyrannenhänden zerstört, den verjagten Kindern des Landes nachtrauern. Nicht alle konnten alles verstehen, aber alle waren so ergriffen, daß, als Percy geendet, niemand recht das Gespräch wieder aufnehmen mochte.

„Ich bin von französischer Abstammung,“ begann endlich Keenan, „und habe auch englisches Blut in meinen Adern. Aber heute ist kein Irländer auf der ganzen Welt für Irland mehr begeistert, als ich.“

Harry, Willy und Joseph schauten in ehrfurchtsvoller Bewunderung den kleinen Sänger sprachlos an.

„Percy, ich gäbe Dir alle meine Fertigkeiten,“ sagte Tom, „wenn ich auch so etwas könnte!“

„Ich habe es von meiner Schwester Elise gelernt. Es freut mich, daß es Euch gefällt. Ich habe noch einen großen Vorrat von schönen Liedern, und will singen, so oft es Euch Vergnügen macht.“

7. Kapitel, Schlussvignette

[S. 57]

Kopfvignette des   8. Kapitels

8. Kapitel.
Ein freier Tag.

2. Fischen und Klettern.

N

Nach einem weitern Marsche von fünfundzwanzig Minuten waren sie am Gestade eines Sees angelangt und wählten eine liebliche Uferstrecke, wo der Schatten ästiger Bäume weit ins Wasser fiel, zum Fangplatze aus.

Tom reichte Percy sogleich eine Angel und einen Wurm als Köder.

Percy faßte behutsam den Wurm, aber als er sah, wie sich derselbe hin- und herwand, ließ er ihn mit einem Schrei zu Boden fallen.

„O! was soll ich jetzt machen?“

„Heb’ ihn auf! Er beißt Dich nicht!“

Nach manchen erfolglosen Versuchen gelang das schließlich. Percy unterdrückte mutig eine Anwandlung des Schauderns und wollte den Wurm an den Angelhaken bringen. Allein wie er es auch anstellen mochte, stets entschlüpfte er ihm.

„Ruhig liegen, unartiges Ding!“ rief er, fast aufgeregt.

Da kam ihm Tom zu Hilfe.

[S. 58]

„Das Zappeln kannst Du ihm leicht abgewöhnen,“ sprach er, nahm den ‚unartigen‘ Wurm in die eine Hand und gab ihm mit der andern einen kräftigen Schlag. Der Wurm zappelte nicht mehr, und Percy brachte ihn mit seinen geschickten Fingern leicht an den Angelhaken.

„Es giebt zwei Arten von Fischen,“ erklärte jetzt Tom, „kleine, zum Beispiel Barsche und Sonnfische, die ganz nahe an der Oberfläche schwimmen, und große, die gewöhnlich unten auf dem Grunde bleiben. Die großen sind sehr schwer zu fangen. Sie haben Mäuler wie Scheunenthore, und einen Angelhaken, wie den Deinen da, verschlucken sie mit dem größten Vergnügen und ohne alle Beschwerde; das ist nur eine kräftige Speise für sie.“

„Gewiß!“ ergänzte Quip. „Und sie thun sehr beleidigt, wenn man den Haken wieder herausziehen will.“

„Sie sind imstande,“ fuhr Whyte fort, „plötzlich heraufzukommen und Dich mit einer Schwanzspitze aufzuspießen.“

„Danach spüre ich nun wenig Verlangen.“

„Deshalb ist es am besten für Dich,“ nahm Tom wieder das Wort, „wenn Du sie ganz in Ruhe läßt. — Ich rate Dir überhaupt, mit den kleinen zu beginnen, die man am Ufer ganz leicht fangen kann. Wirf nur dort hinten, wo der dicke Holzklotz aus dem Wasser ragt, gleich einmal aus!“

Percy folgte der Anweisung. Ein paar Minuten lag der Kork seiner Angelschnur unbeweglich auf der glatten Wasserfläche. Aber auf einmal fing er an, hin und her gezerrt zu werden.

[S. 59]

„Tom, sieh doch nur! Was ist mit meinem Korke los?“

Tom war ganz in Anspruch genommen, seine eigene Angel für die ‚Tiefsee-Fischerei‘ instand zu setzen.

„Ist er am Ertrinken?“ fragte er, ohne seine Augen abzuwenden.

„Nein. Aber bitte, Tom, schau’ doch!“

„Vielleicht hat ein Fisch Streit mit Deinem Wurm.“ Und Tom schlenderte seine Angel weit ins Wasser hinaus.

„Ich meine, Tom —“

„Was meinst Du?“

„Mein Kork ist fort. Ich sehe nichts mehr davon.“

„So zieh’ doch! es hängt ein Fisch daran.“

War es nun bloße Aufregung, oder glaubte Percy, es hänge ein Walfisch oder sonst ein Wasserungetüm an seiner Schnur: kurz, er schwang die Angelrute mit aller nur möglichen Anstrengung aufwärts, und ein winziges Fischlein flog in die Zweige eines Baumes empor; dort verwickelte sich die Schnur, und das Fischlein zappelte hilflos in der Luft.

Ratlos stand Percy da. Man wußte nicht, wer mehr verdutzt war, der Fisch oder er.

„Was soll ich jetzt machen?“ fragte er.

„Leg’ ihm etwas Salz auf den Schwanz!“ riet Harry.

„Ist Dir das bedacht, Harry?“

„Der Quip schwätzt nur Unsinn,“ versicherte Donnel, und strengte alle Muskeln des Gesichtes an, um ernst zu bleiben. „Aber ich will Dir einen besseren Rat geben. Geh’ zur nächsten Farm und leih’ Dir eine[S. 60] Axt. Dann haust Du den Baum um und bekommst den Fisch ohne Mühe.“

„O Johann! Eine Axt habe ich mein Lebtag noch nicht in der Hand gehabt!“

„Baumfällen solltest Du nun doch lernen,“ sprach jetzt Keenan. „Du weißt ja, daß der große Gladstone keine bessere Erholung kennt.“

„Aber ich kann es noch nicht. — Vielleicht kommt der Fisch von selbst hinunter, meinst Du nicht, Johann?“

„Er wollte es ja gern, wenn er nur wüßte, wie. — Aber Du kannst gewiß verwirrtes Garn in Ordnung bringen, Percy.“

„Ja, ich habe es oft gethan, wenn ich meinen Schwestern beim Garnwickeln half.“

„Gut, dann paß auf!“ Der starke Donnel ergriff Percy bei den Knöcheln und hob ihn vom Boden auf, so daß er die Zweige, in denen die Schnur verwickelt war, fassen konnte.

Etliche Wochen vorher wäre Percy bei einem solchen Vorgange vor Angst in Ohnmacht gefallen. Jetzt aber blieb er ganz ohne Furcht, entwirrte geschickt die Schnur und ließ den Fisch herab.

„O Donnel!“ sagte er, als er wieder auf dem Boden stand, „Du bist ja ein wahrer Herkules! — Aber wie kann ich jetzt den Fisch vom Haken bekommen?“

„Sehr einfach! Faß ihn fest am Kopfe, dann gleitet er Dir nicht aus der Hand; wenn Du nun den Haken vorsichtig zurückdrückst, — so —“ hier zeigte ihm Donnel den einfachen Kunstgriff — „so bringst Du ihn heraus, ohne den Fisch weiter zu verletzen.“

[S. 61]

„S—s—st!“ flüsterte jetzt Tom. „Seht doch, was meinem Kork einfällt! Ich glaube, ich mache einen herrlichen Fang.“

Toms Kork bewegte sich in der That sonderbar. Anstatt, wie es sonst zu geschehen pflegt, unregelmäßig auf und ab, nach rechts und nach links, hierhin und dorthin gezerrt zu werden, schwamm er in stets gleicher Geschwindigkeit, oder besser gesagt Langsamkeit, der Mitte des Sees zu. Nur dann und wann tauchte er für einen Augenblick unter, um sogleich die frühere Bewegung wieder fortzusetzen.

„Festgebissen hat der Fisch noch nicht,“ sprach Keenan. „Aber er scheint es zu wollen, sonst würde er die Angel nicht mitziehen.“

Toms Angelschnur war mit dem einen Ende auf ein Rädchen gewunden, mittels dessen sie bequem verlängert oder verkürzt werden konnte. Tom rollte sie um eine gute Strecke ab, und der Kork schwamm noch weiter in den See.

Alle hatten bereits ihre Angeln aus dem Wasser gezogen und sich erwartungsvoll um Tom versammelt.

„Was ist zu thun?“ fragte dieser nach einer Weile, indem er wieder Schnur abrollte. „Das ist der verrückteste Fisch, der es je auf eine Angel abgesehen hat. Er sollte doch festbeißen oder davonschwimmen.“

„Schau’! jetzt bewegt er sich im Kreise!“ flüsterte Hodder.

„Der Fisch ist mondsüchtig,“ meinte Quip.

„Vielleicht ist es gar kein Fisch,“ versetzte Whyte.

„Zum Beispiel eine Wasserschlange!“ fuhr Percy fort,[S. 62] und sah aus, als wolle er im nächsten Augenblicke davonlaufen.

„Jetzt ist meine Geduld zu Ende!“ sprach Tom. „Wenn der Fisch nicht beißen will wie alle ehrlichen Fische auf dem weiten Erdenrund, so kann ich meine kostbare Zeit nicht länger mit ihm vertrödeln.“

Er gab der Angel einen starken Ruck nach oben, aber weder Angel noch Fisch wurden sichtbar. Die Rute bog sich, als wollte sie brechen.

„Jetzt weiß ich’s!“ rief er. „Ich habe ein tüchtiges Stück Holz gefangen.“

„Nein! Sieh nur! Sieh nur!“ sprach Keenan.

Der Kork bewegte sich wieder der Mitte des Sees zu, aber viel schneller als vorher.

„Der Kork ist verrückt, nicht der Fisch!“ sagte Whyte.

„Verhext ist er!“ meinte Hodder.

Percy war schon voller Aufregung.

„Leg’ ihm doch Salz auf den Schwanz, Tom!“ riet er.

Man lachte, aber nicht viel; denn die erfahrenen Fischer waren zu gespannt, um den Scherz recht würdigen zu können.

Der Kork schwamm indes der Tiefe zu und verschwand plötzlich, um nicht wieder aufzutauchen. Da fing Tom an zu ziehen. Aber das rätselhafte Wesen am andern Ende der Leine zog auch. Zuerst waren die Kräfte einander gleich. Plötzlich schrie alles vor Freude laut auf: das gefangene Wassertier fing an nachzugeben.

„Es ist mindestens ein Haifisch,“ sprach Tom, während er langsam die Leine weiter anzog.

[S. 63]

„Vielleicht,“ sprach gravitätisch der Dichter Donnel, „ist es der Schatten eines abgeschiedenen Pani-Häuptlings, der über den Styx zurückgeschwommen ist und jetzt aus des Hades Finsternissen emportaucht, um zu atmen im rosigen Licht!“

„Und den es gelüstet,“ fuhr Keenan fort, „noch einmal den Kriegspfad gegen den weißen Mann zu beschreiten, mit dem seine Nachkommen bereits die Friedenspfeife rauchen.“

„Eher ist es ein alter Holzschuh!“ beschloß Tom nüchtern die poetischen Ergüsse.

Der Angelhaken kam indessen mit dem, was daran hing, immer näher. Ein Fisch konnte es unmöglich sein; denn ein solcher würde ruckweise gezerrt und gerissen haben, auch wahrscheinlich das eine oder andere Mal aus dem Wasser gesprungen, oder für Augenblicke nahe an die Oberfläche gekommen sein. Statt dessen merkte Tom nur ein anhaltendes starkes Ziehen.

„Meiner Ansicht nach ist es ein Esel,“ sprach Quip ernsthaft.

„Nein,“ sprach Whyte, „dafür ist es zu dumm. Ich glaube, ein Kürbis ist noch gescheiter, als dieses Ding.“

„Ich sehe es!“ rief Hodder. „Es ist jetzt in seichterem Wasser.“

„Nicht wahr, es hat lange Ohren?“ fragte Quip.

„Ich sehe es auch!“ rief Whyte. „Es ist rund, wie ein Schild.“

„Der Geist eines Indianerschildes!“ bemerkte Donnel.

„Nein, eine Schildkröte! Eine Schildkröte!“ riefen sie alle. „Eine Schnappschildkröte!“

[S. 64]

Die runde Rückenschale war sehr deutlich sichtbar, immer mehr kroch das Tier auf dem Boden des Sees dem Ufer zu und endlich trat es in seiner ganzen Häßlichkeit aus dem Wasser. Es klappte sein abscheuliches, breites Maul mit wütendem Kreischen auf und zu, vermochte aber das Drahtende der Angelschnur nicht abzubeißen und wollte sich deshalb mit seinen ungeschlachten Vorderfüßen von derselben befreien.

„Nimm Dich in acht!“ sprach Keenan, als Tom dem seltsamen Fang etwas nahe kam. „Ehe Du Dich versiehst, hast Du einen Biß! Wir wollen sie lieber erst töten.“

„Aber wie?“

Keenan hatte bereits Toms kleines Jagdgewehr geholt und gab dem Tiere eine Ladung, die allem weiteren Sträuben ein Ende machte.

„Herrlich!“ rief Quip. „Eine solche Fischerei hab’ ich nie erlebt.“

„Ich habe wohl schon Schildkröten gefangen,“ sagte Donnel; „aber nicht mit der Angel und nie eine so große. Ich glaube, diese wiegt wohl fünfzig Pfund. Es ist schade, daß man Schnappschildkröten nicht essen kann.“

Plötzlich schaute Tom bestürzt auf.

„Wo ist Percy?“ rief er.

Percy war verschwunden.

„Percy! Percy!“ klang es in den Wald hinein.

„Hier bin ich ja!“ kam eine zitternde Stimme von oben.

Sie erhoben ihre Augen, und wer beschreibt ihre Verwunderung, als sie Percy zehn Fuß über dem[S. 65] Boden rittlings auf einem dicken Baumaste sitzen sahen!

„Aber, Percy,“ riefen sie überrascht und erfreut, „wie bist Du da hinaufgekommen?“

„Das weiß ich selber nicht. Ich meinte immer, ich könnte gar nicht klettern. Als aber die Schildkröte aus dem Wasser kam und so wütend pfauchte und schnappte, war es mir, als könnte ich alles.“

„Ihr habt gut lachen,“ fuhr er fort, als er bemerkte, wie heiter man seine Worte auffaßte. „Aber meine Lage ist keineswegs lächerlich. O, wenn mich meine Mutter hier sähe, sie würde in Ohnmacht fallen. Und wie soll ich wieder hinunter kommen?“

„Eine Art wäre, wieder herabzuklettern,“ sprach Tom, ohne sein Gesicht zu verziehen.

Harry Quip bot sich an, eine Axt herbeizuholen. „Dann haue ich den Baum um, und Du kommst ganz von selber aus den Boden.“

Percys Beklommenheit mehrte sich.

„Sollte es nicht in der Nähe eine Leiter geben?“ fragte er zaghaft.

Neues, herzliches Lachen begrüßte diese Bitte.

„O, was soll ich machen, was soll ich machen?“ jammerte Percy. „Noch nie war ich in einer so schrecklichen Lage.“ Seine Lippen zitterten, und die Augen wurden feucht.

Aber niemand hatte beabsichtigt, Percy weh zu thun.

„Es geht sehr einfach!“ sprach Donnel, der am allerwenigsten ein Mitgeschöpf betrübt sehen konnte. „Thu’ nur genau, was ich Dir sage. — Bring’ Deine beiden Füße nebeneinander auf den Ast, auf dem Dein[S. 66] linker Fuß steht! — Prächtig, Percy! — So, jetzt kniest Du auf diesen Ast und hältst Dich an dem obern Aste fest, auf dem Du gesessen hast. — Gut! — Jetzt fasse den untern Ast neben Deinen Knieen mit den Händen, und laß Dich getrost hinab!“

Percy, der auf seine Freunde großes Vertrauen setzte, wagte alles ohne Bedenken. So konnte ihn Donnel an den Füßen ergreifen und dann auf den Boden stellen.

Erfreut und beschämt zugleich blickte er um sich.

„Ich bin noch lange kein rechter Junge,“ sprach er. „Aber wenn mich je wieder eine Schildkröte bedroht, so werde ich es ganz anders machen — ich werde zeitig weglaufen.“

8. Kapitel, Schlussvignette

[S. 67]

Kopfvignette des   9. Kapitels

9. Kapitel.
Ein freier Tag.

3. Schwimmen und Rudern.

D

Die Gesellschaft begann jetzt ihre Fischerei von neuem und war vom Glücke begünstigt. Auch Percy warf seine Angel nicht vergebens aus. Zu seiner eigenen und seiner Freunde angenehmern Überraschung fing er noch acht kleinere Fische.

Tom zog seine Uhr.

„Jetzt wäre es wohl Zeit zum Schwimmen!“

„Ihr wollt doch hier nicht schwimmen!“ rief Percy voll Schrecken.

„Gewiß! Warum denn nicht?“

„Die Schildkröten könnten Euch ja in die Beine beißen! Hu!“ Und Percy schauderte.

„Du brauchst keine Angst zu haben,“ versicherte Tom. „Sie thun Dir nichts.“

„Mir, Tom? Mir? Ich darf mich nicht ins Wasser wagen. Ich kann ja noch gar nicht schwimmen.“

Tom ging zu einem der Ranzen, die man mitgebracht hatte und kam mit einer neuen Schwimmhose zurück.

[S. 68]

„Hier, Percy, das ist von meiner Seite ein Gegengeschenk für die schönen Photographieen, die du uns neulich verehrt hast.“

Allein Percy legte die Hände auf dem Rücken zusammen, und sein Gesicht drückte nichts weniger aus als Freude oder Dankbarkeit.

„Aber, Percy, ist denn das die Art, ein Geschenk anzunehmen?“

Jetzt fühlte sich der fein erzogene Knabe an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Er zwang sich zu einem Lächeln und empfing die Gabe des Freundes mit seiner gewöhnlichen anmutvollen Verbeugung.

„Ich bin Dir wirklich sehr verbunden, Tom. Verzeihe mir, daß ich so spröde that! Es war mir ganz sicher nicht bedacht. — Wie nett sie ist! Kein Zebra hat so schöne, zierliche Streifen. Ich lege sie in mein Pult, und so oft ich sie sehe, will ich mich an Dich erinnern.“

Diese seltsame Verwendung einer Schwimmhose wollte Tom natürlich nicht gefallen.

„Es ist doch keine Photographie von mir!“ sprach er. „Gebrauchen sollst Du sie! Schwimmen ist nicht so schwer, wie Du meinst. Manche finden es leichter als Klettern.“

„Das Wasser ist so kalt, Tom! Ich bekomme sicher einen Schnupfen.“

„Nur, wenn Du zu lange drin bleibst oder Dich nachher nicht bewegst.“

„Und wir wollen Dich schon jagen,“ rief Quip, der eben ins Wasser gesprungen war und wieder auftauchte, vom See aus.

[S. 69]

Aus Gefälligkeit gegen Tom beschloß Percy endlich, das Wagnis zu unternehmen. Er unterdrückte einen Schrei, als er den Fuß in das kalte Wasser setzte, hielt dann aber doch eine gute Zeit aus. Tom und Joseph Whyte blieben stets um ihn, bemühten sich, ihm einige Winke für seine ersten Schwimmübungen zu geben, und sorgten, daß er nicht an Stellen geriet, wo der See zu tief war.

Eben hatte Percy seine Kleider wieder angelegt, als ein lauter Juchzer seinen Lippen entfuhr. Ein kleines Boot, von Quip gesteuert und von Keenan gerudert, erschien an einem Ufervorsprung.

„O Georg! Harry! bitte, laßt mich auch hinein! Hurra! das wird lustig!“

„Was, Percy, Du willst in ein Boot?“ fragte Tom, der noch im Wasser war, mit ernster Miene. „Du weißt doch, wie leicht die Boote umkippen!“

„La, la! ich bin nicht bange!“ rief der Leichtfuß Percy. „Ich will rudern lernen.“

„Komm, spring’ hinein!“

Percy setzte sich zu Georg in die Mitte des Kahnes.

„Gieb mir auch ein Ruder, Georg!“

„Da! Nachher kannst Du sie beide bekommen. Aber versuch’ es erst mit dem einen. Vor allem mußt Du nun Takt halten lernen.“

„Giebt es hier Takt?“ fragte der Musiker.

„Und zwar Sieben-Elftel,“ erklärte der Steuermann lachend.

„Laß den Quip schwätzen, Percy! — Das Takthalten besteht darin, daß Du zu gleicher Zeit mit mir das Ruder einsetzest, anziehst und heraushebst.“

[S. 70]

Percy heftete seine Augen auf Keenans Ruder und that richtig die ersten Ruderschläge.

„Wenn Du so fortmachst, Percy,“ sprach Quip, „so lernst Du auch bald, wie man eine Krabbe fängt.“

„So? wie geht das denn?“

„Du lernst es ganz von selbst, ohne Anstrengung, Du brauchst auch nicht dabei aufzupassen.“

„Wirklich?“ fragte Percy verwundert, und schaute zu Quip auf. Dabei wandte er naturgemäß seine Aufmerksamkeit vom Rudern ab; er tauchte nicht tief genug ein, zog aber doch mit gewohnter Kraft an. Infolgedessen fiel er nach hinten und würde sich den Kopf wohl arg angestoßen haben, hätte nicht Keenan, der dieses Mißgeschick erwartete, ihn sogleich am Knie ergriffen und festgehalten.

„Du kannst es! Du kannst es!“ rief Quip mit unsäglichem Vergnügen. „Das ist so ganz das richtige Krabbenfangen. Du brauchst Dich jetzt nie mehr zu üben.“

„Gewiß!“ sprach Keenan. „Die beste Anwendung dieser neuen Kenntnis ist, daß Du sie gar nicht anwendest.“

Percy brachte sich in die frühere Stellung, schüttelte die Locken zurück, rückte seine Mütze zurecht und begann fröhlich wieder zu rudern. Für Quips Neckerei aber nahm er, ohne es zu wollen, bald Rache. Als derselbe nämlich einmal über eine kleine Ungeschicklichkeit des Anfängers lachte, flog ihm von Percys Ruder eine gute Ladung Wasser in den offenen Mund und erstickte das Lachen, als wäre es ein winziges Feuerflämmchen.

[S. 71]

Kurz darauf steuerte Harry ans Land, stieg aus und verschwand im Walde.

„Was hat er, Georg?“ fragte Percy.

„Er ärgert sich vielleicht.“

„O, das thut mir leid. Habe ich ihn beleidigt? Ich wollte es sicher nicht. Er ist ein so guter Junge.“

„Das ist er. Aber sieh dort zwischen den Bäumen den Rauch aufsteigen. Donnel oder Tom hat schon ein Feuer angezündet, um unser Mittagessen herzurichten, und Quip thut nichts lieber als kochen. Er ist meistens unser Oberkoch und Speisemeister, und wir sind mit seiner Thätigkeit sehr zufrieden.“

„So? das freut mich!“ sprach Percy. Auch er war in der edlen Kunst der Speisebereitung durchaus nicht unerfahren. Wie in anderen Sachen hatten ihm auch hierin die sechs Schwestern einige Fertigkeit anerzogen. Deswegen hatte er schon geglaubt, heute damit seinen Freunden einen Dienst leisten zu können. Allein jetzt sprach er gar nicht darüber, sondern beschloß, den Erzeugnissen von Harrys Kochkunst alle Ehre anzuthun.

Um ein Uhr setzte sich die Gesellschaft zum Essen nieder. Das Tischgebet bestand diesesmal bloß in einem andächtigen Kreuzzeichen.

Donnel konnte sich nicht enthalten zu fragen, woher wohl die Rosen auf Percys Wangen kämen.

„Von der Bewegung,“ erwiderte Keenan.

„Und davon, daß Du ein Junge wirst,“ fügte Tom bei.

„Ja,“ meinte Percy, „ich bin jetzt doch lieber ein Junge, als alles andere in der Welt. — Und welch einen Hunger ich habe!“

[S. 72]

„Schwimmen und Rudern und Krabbenfangen macht immer Appetit, und ordentliches Kochen hilft nach,“ sprach Quip, der mit weißer Schürze geschäftig dastand, und mit großer Genugthuung seine Produkte verschwinden sah.

Der Nachmittag verflog in gleich angenehmer Unterhaltung.

Auf dem Heimwege aber that Percy sein Bestes, um mit Singen und Erzählen seine Freunde zu unterhalten. Von Müdigkeit zeigte er keine Spur, obgleich er doch den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war.

„Jetzt kann ich aber einen Riesenbrief an meine Schwestern schreiben. Ich erzähle ihnen, was ich alles schon gelernt habe: bockspringen, werfen, angeln, rudern, Krabben nicht fangen, und auch ein kleines bißchen Schwimmen.“

„Das glauben sie Dir gar nicht,“ meinte Donnel.

„O doch! Sie glauben mir alles, was ich sage.“

„Aber das Wichtigste hast Du ausgelassen,“ bemerkte Tom.

„Was denn?“

„Du mußt vor allem schreiben, daß Du auf einen Baum geklettert seist und doch nicht wüßtest, wie man das Klettern macht, Du könntest klettern, obgleich Du es nicht gelernt hättest.“

9. Kapitel, Schlussvignette

[S. 73]

Kopfvignette des   10. Kapitels

10. Kapitel.
Eine Gesellschaft anderer Art.

K

Kenny hatte für seine Gespenstererscheinung eine empfindliche Strafe erhalten und verlor selbstverständlich das Privileg, allein auszugehen. In diese Strafzeit fiel nun auch ein freier Tag, den der P. Rektor zur Feier eines nationalen Ereignisses bewilligt hatte.

Der Himmel war heiter, deshalb waren schon am Morgen manche Zöglinge ausgeflogen. Unter der Schar derjenigen aber, die freiwillig oder unfreiwillig daheim blieben und sich geräuschvoll auf dem Spielplatz tummelten, befand sich Kenny, natürlich in der denkbar schlechtesten Stimmung. Er konnte sich mit dem gleichen Schicksal der meisten seiner Genossen trösten, die seit längerer Zeit den Ehrenvorzug ebenfalls nicht mehr besaßen.

In der übelesten Laune trieben sie sich jetzt auf dem Hofe umher und suchten sich womöglich aller Aufsicht zu entziehen, um eine ihrem Geschmacke zusagende Unterhaltung zu finden.

Da bemerkte Kenny, daß der Waschsaal, der sonst immer geschlossen war, offen stand. Ah! vielleicht ließ sich dort etwas anstellen. Sogleich holte er Prescott[S. 74] und Skipper herbei und betrat mit ihnen den Raum. Im Hintergrunde desselben war eben ein Zögling, ein kleines, zartes Kind, beschäftigt, seine Schuhe zu wichsen. Er erschrak, als er die drei Gesellen in der Thüre erblickte.

„O bitte, kommt doch nicht herein!“ flehte er. „Ich durfte die Thüre nicht aufstehen lassen. Aber ich habe ganz vergessen, sie zu schließen. Bitte, bleibt doch draußen! Wenn sonst etwas geschieht, werde ich bestraft.“

„Ah, bist Du es, Granger?“ sprach Kenny, ohne auf die Bitte zu achten. „Du solltest doch längst spazieren gegangen sein. Du gehörst ja zu den Braven. Was hast Du hier verloren?“

„Ich mache mich fertig, um meine Mutter abzuholen. Sie kommt mit dem Zehn-Uhr-Zug.“

„Dann mach’ auch, daß Du hinaus kommst!“ knurrte Kenny unwirsch. „Wir drei wollen hier allein sein.“

„O, ich darf Euch nicht drin lassen. Wenn ich fertig bin, muß ich den Saal abschließen und P. Scott den Schlüssel gleich wiederbringen.“

„Daraus wird nichts, Granger! Marsch hinaus! Etwas hurtiger! Verstanden?“

Der gewissenhafte Kleine nahm seine ganze Energie zusammen und erklärte:

„Ich thue, was der Pater gesagt hat. Wollt Ihr hier bleiben — meinetwegen! Dann sperre ich Euch ein.“

„Das wirst Du bleiben lassen! — Vorwärts! hinaus mit Dir!“

„Laß ihn, Kenny,“ sprach Skipper leise. „Wir gehen hinaus und sperren ihn selber ein.“

[S. 75]

Granger stand jetzt an der Thüre, zog den Schlüssel aus der Tasche und schob ihn mit zitternder Hand ins Schloß. Er fürchtete sich vor den großen Burschen, aber ein Feigling war er nicht. Um jeden Preis wollte er seine Pflicht erfüllen.

„Wollt Ihr hinaus?“ fragte er schüchtern.

Statt einer Antwort stieß ihn Kenny bei Seite, zog den Schlüssel wieder aus der Thüre und steckte ihn ein. Seine Freunde hatten indessen von dem Saal schon völlig Besitz ergriffen. Für sie war es ein Hochgenuß, die Seifenstücke, Kämme, Handtücher, und was sonst niet- und nagellos war, durcheinander zu werfen. Voll Schrecken erblickte Granger die Verwüster in ihrer Thätigkeit. Aber was konnte er machen? Er begann laut zu weinen.

„Ich gehe zu P. Scott und sage ihm, Du hättest den Schlüssel, Kenny.“

„Was?“ donnerte ihn Kenny an. „Nimm Dich in acht! das sage ich Dir! Sonst geht’s Dir schlimm.“

Skipper wiederholte seinen ersten Vorschlag:

„Wir sperren ihn selber ein.“

„Prächtig!“ jubelte Prescott schadenfroh. „Dann sieht es noch dazu aus, als rührte diese Unordnung von ihm her. Es schadet dem unschuldigen Kinde gar nicht, wenn es auch mal eine Strafe bekommt. Nicht weglaufen, Granger!“ sprach er höhnend zu dem hilflosen Kleinen, indem er ihn ergriff und festhielt. „Du sollst auch einmal merken, daß eine Strafe weh thut.“

„Nein, das geht doch nicht!“ meinte Skipper, etwas verdutzt über den Plan, den er angeregt.

[S. 76]

„Wir sollten besser selbst hier bleiben,“ sprach Kenny.

„Das nützt uns wenig,“ warf Skipper ein. „P. Scott wird den Schlüssel vermissen und uns hier entdecken. Dann geht es uns schlimm.“

„Ich weiß, was wir thun!“ entschied Prescott nach einigem Bedenken. „Wir schließen die Thüre nicht, sondern schicken den Schlüssel gleich durch einen andern dem P. Scott zurück und lassen sagen, Granger sei schon zur Bahn. Ihn selbst sperren wir in die Lederkammer, damit er uns nicht verrät. Vorwärts mit ihm! — Nicht so strampeln, Du Feigling!“

Die Lederkammer war ein dunkler Raum am andern Ausgange des Waschsaals unter einer breiten Treppe, wo Schuhe, Fußballüberzüge und ähnliches Lederzeug aufbewahrt wurden.

Der arme Granger wurde totenblaß. In den ersten Augenblicken setzte er sich zur Wehr, freilich vergebens; dann bat er flehentlich um Schonung, er müsse ja seine Mutter abholen; umsonst. Nur noch ein paar Schritte war man von dem schrecklichen, dunkeln Loche entfernt. Da schrie er in seiner Angst und Verzweiflung laut um Hilfe.

Kenny ergriff schnell ein Handtuch und wollte es mit einem Ende Granger in den Mund pressen. Auf einmal flog er zappelnd an die Wand und sah am hellen Tage den ganzen Himmel voll Sterne.

„Ihr Bengel!“ rief Tom Playfair, während ein zweiter Schlag Prescott zu Boden streckte. „Ihr Bengel!“ Und auch Skipper hatte einen gründlichen weg.

[S. 77]

Tom hatte Grangers Angstrufe vernommen und war so schnell herbeigeeilt, daß alle drei ihre Püffe schon in Sicherheit hatten, bevor sie wußten, daß jemand anders da sei.

Jetzt aber wandten sie sich wutentbrannt gegen ihn.

„Er muß mit hinein!“ rief Kenny, der sich am schnellsten wieder erhoben hatte. Zugleich ergriff er den wehrlosen Granger und stieß ihn in die Lederkammer, vor deren Thüre sich jetzt ein heißes Ringen entspann.

„O Du Abgott aller Knirpse!“ schrie Prescott außer sich vor Zorn. „Jetzt sollst Du demütig werden!“

Tom, für sein Alter sehr stark und gewandt, schlug um sich, was er nur konnte. Allein, obwohl die Drei manchen empfindlichen Puff zu fühlen bekamen, so hätte er ihren vereinten Kräften doch auf die Dauer nicht zu widerstehen vermocht.

Da kam unerwartet P. Scott mit ernster Miene die Treppe herab. Sofort war Tom frei, die drei Burschen aber wurden schamrot und zitterten wie Espenlaub ob der Dinge, die da kommen sollten. Der Pater sprach kein Wort. Langsam und ruhig stieg er noch die beiden untersten Stufen hinunter und trat vor sie hin, als suche er den Zusammenhang der Dinge ohne Frage zu ermitteln.

Tom erhob sich und schlug den Staub ein wenig von seinen Kleidern. Dann öffnete er die Thüre der Lederkammer und befreite den zitternden Granger.

„Da, Willy,“ sagte er mit dem gewöhnlichen Tone seiner Stimme, „nimm ein paar Datteln!“

P. Scott beobachtete alles. Aber bald verwandelte[S. 78] sich seine abwartende Miene in den Ausdruck nicht des Zornes, sondern der Trauer.

„Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen,“ sprach er, „so würde ich es nicht für möglich halten, daß Mauracher Zöglinge solche Gemeinheiten begehen können.“

Er hielt einen Augenblick inne. Diese einfachen, schmerzerfüllten Worte waren für die Schuldigen härter als die unsanfteste Anrede hätte sein können; nur Prescott schien sich nicht betroffen zu fühlen.

„Ich hätte nie gedacht, daß ich noch mit Knaben zusammenwohnen müßte, welche handeln wie Wilde. Jetzt geht Ihr Drei! Ich bin nicht in der Verfassung, die rechte Strafe für diese Roheit zu bestimmen. Morgen werde ich Euch wieder sprechen.“

„Sie wollen uns doch nicht roh nennen!“ versetzte Prescott frech.

„Wie ich Euch nenne, darauf kommt es nicht an, sondern darauf, wie Ihr Euch betragt. Und ein armes, hilfloses Kind in ein solches Loch einzusperren, das bringen nur rohe, ja wilde Jungen fertig.“

„Playfair,“ sprach er, als die Sünder sich wie begossene Pudel von dannen geschlichen, „Du bist doch nicht verletzt? Ich fürchte, sie haben Dich etwas arg mitgenommen.“

„Gar nicht, Pater!“ war die heitere Antwort. „Ich habe nur etwas mehr Bewegung gehabt, als ich heute Morgen voraussah; denn ich wollte erst am Nachmittag spazieren gehen.“

„Du bist ein braver Junge, Playfair.“ Dann[S. 79] wandte er sich an den Kleinen, dessen Thränen noch immer flossen: „Haben sie Dir weh gethan, Willy?“

„Nein,“ schluchzte Willy, begann aber ruhiger zu werden.

„Komm’, Willy, ich will Dir helfen, Deine Kleider wieder in Ordnung zu bringen,“ fuhr der Präfekt fort und nahm eine Bürste. „Du mußt Dich auch ein wenig beeilen; es ist schon beinahe halbzehn.“

Dann zupfte er ihm die Krawatte wieder zurecht, füllte ein Waschbecken und sagte:

„Jetzt wasch Dir noch die Thränen ab! Deine Mutter würde ja erschrecken, wenn sie sähe, Daß Du geweint hast.“

Aber Granger hatte noch ein schweres Anliegen.

„Pater, ich hatte die Thüre des Waschsaales aufgelassen. Ich hatte ganz vergessen, was Sie mir sagten.“

„Darum mach’ Dir keine Sorge, Willy. Du siehst jetzt freilich, daß man auch in kleinen Dingen gehorchen muß. — In Zukunft brauchst Du solche Roheiten nicht mehr zu fürchten; die Drei werden es sich gut überlegen, bevor sie wieder so etwas anstellen.“

„Ich glaube aber nicht, Pater,“ versicherte Playfair, „daß sie alle eigentlich schlechte Jungen sind. Skipper zum Beispiel war in den ersten Tagen ganz brav. Aber sie kleben so zusammen, das macht’s.“

„Gott gebe, daß Du recht hast, Playfair. — So, Willy! Nur noch die Haare etwas kämmen! — Jetzt geh’ hurtig, dann bist Du zur rechten Zeit auf dem Bahnhofe.“

[S. 80]

Die Güte des Präfekten hatte Grangers Heiterkeit schnell wiederkehren lassen.

„Ich danke Ihnen sehr, Pater. Ich bin wieder ganz lustig. Meine Mutter soll gar nichts merken. Adieu Pater! — Adieu Playfair,“ sprach er mit einem Ausdruck, der alle Worte des Dankes überflüssig machte.

10. Kapitel, Schlussvignette

[S. 81]

Kopfvignette des   11. Kapitels

11. Kapitel.
Eine Verschwörung gegen Playfair und Quip.

S

Sobald Tom in den Hof kam, sah er sich nach seinen Widersachern um. Sie standen in einer Ecke, wo sich all ihre Gesinnungsgenossen zusammengefunden hatten. Tom ging geradenweges auf sie zu und trat ohne weiteres mitten unter sie.

„Hört einmal, ich will Euch offen sagen, was ich von Euch denke! Ihr seid alle Neue, und ich gebe Euch die Versicherung, daß eine solche Mißhandlung der Kleinen hier nicht Mode ist.“

„Du willst wohl auch behaupten, wir seien Feiglinge!“ unterbrach ihn Prescott mit drohender Gebärde.

„Warum nicht?“ erwiderte Tom unerschrocken. „Aber warte nur, bis ich fertig bin. Auch Percy Wynn habt Ihr gequält, als er kam. Das wissen bis jetzt nur sehr wenige. Hätte ich es erzählt, so würde man Euch einen nach dem andern gehörig übergelegt haben. Und wenn erst Eure neueste Flegelei bekannt wird, dann spricht überhaupt niemand mehr ein Wort mit Euch. Ich will nun gar nichts davon erzählen, wenn Ihr Euch in Zukunft anständig aufführt. Aber[S. 82] erwische ich Euch noch ein einziges Mal so wie heute, dann posaune ich alles aus, und es ist mit Euch vollständig vorbei. Schreibt Euch das hinter die Ohren!“

Nach diesen Worten wandte Tom den Rücken und entfernte sich ebenso ruhig als er gekommen war.

„O Du verstellter Heiliger!“ kreischte ihm Prescott nach, konnte aber nicht bewirken, daß Tom auch nur umschaute.

„Er ist doch kein übler Junge,“ sprach Kenny, dessen bessere Natur sich emporzuringen begann. „Geht er nicht offen und ehrlich zu Werke?“

„Das ist wahr,“ stimmte Skipper bei. „Ich kann in dem, was er sagte, nichts Unrechtes finden. Wir sind Flegel gewesen, das ist klar. In meinem Leben habe ich mich nicht so geschämt, als da uns P. Scott die Leviten las. Sobald er vor uns stand, sah ich alles mit ganz andern Augen an.“

„Papperlapapp, Du Milchtopf!“ spottete Prescott. „Du willst uns wohl im Stiche lassen!“

„Nein — das gerade nicht!“ erwiderte Skipper zögernd, und sein Mut sank sogleich wieder. „Zusammen müssen wir bleiben. Aber wir sollten uns doch mehr in acht nehmen.“

„Das meine ich auch,“ sagte Kenny. „Wir können Spaß genug machen, ohne uns gerade in solche Lagen zu bringen. Vor allem dürfen wir es nicht mit dem Playfair verderben; sonst verlören wir auf der Stelle alles Ansehen. Er hätte den ganzen Hof sogleich auf seiner Seite.“

[S. 83]

„Ah so! so! jetzt verstehe ich!“ sprach Prescott mit bitterem Hohne. „Du willst Dich also auch vor Playfair beugen. Das ist recht! Was Playfair sagt, das schwätzen wir nach. Nur immer erst fragen, was Herr Playfair sagt! Herr Playfair sagt, wir seien Feiglinge — hört Ihr? Feiglinge! — Wollt Ihr ihm das auch nachschwätzen?“

Vor einer Minute noch hätten mehrere sich zur Besserung entschließen können. Aber sie waren Feiglinge, nicht im Sinne Prescotts, sondern rechte, echte Feiglinge, die sich vor dem Spott eines Nichtswürdigen fürchteten.

„Das hat niemand gesagt,“ lenkte Kenny wieder ein, „daß wir ihm alles nachschwätzen wollen. Er soll sich nichts gegen uns herausnehmen.“

„Das lasse ich mir gefallen. Ich dachte, Du meintest, er solle uns um den Finger wickeln dürfen.“

„Das ist mir nicht in den Sinn gekommen,“ versicherte Kenny, der schon fürchtete, die Führung der edlen Bande zu verlieren. „Wir müssen ihm einen Denkzettel anhängen, daß er sein Lebenlang nicht vergißt, wen er verhöhnt hat.“

Der Strom war wieder in seinem alten Bette. Die letzten Dinge drohten noch schlimmer zu werden als die ersten: Rache, gemeine Rache war das Losungswort. Ein schadenfrohes Lächeln verzerrte Prescotts Gesicht; einen Augenblick schwieg er wie lauernd.

„Hast Du noch nichts?“ fragte er dann. „Ich weiß längst den feinsten Plan.“

„Welchen denn?“

Sie drückten sich nahe aneinander und Prescott entwickelte[S. 84] mit leiser Stimme, was sein böses Herz ihm eingegeben. Kenny nickte beifällig aber zögernd, andere schwiegen. Nur Skipper war offenbar nicht einverstanden, sein Gesicht drückte lebhafte Mißbilligung des Vorhabens aus, an dem er teilnehmen sollte. Plötzlich wandte er sich ab und verließ die Gruppe: er hatte sich von seinen Kameraden losgesagt.

Ein paar Minuten vorher waren P. Middleton und P. Scott in den Hof getreten, in lebhaftem Gespräche über den bedauerlichen Vorfall, der sich vor kurzem ereignet hatte.

„Schauen Sie doch dort in die Ecke,“ sprach jetzt P. Middleton, „da ist es ganz sicher nicht geheuer. Ich glaube, die Geschichte von heute Morgen ist noch nicht zu Ende. Es ist heute Dienstag, der Tag der heiligen Schutzengel. Vielleicht kommt noch etwas ans Licht. Dann machen wir allerdings sehr kurzen Prozeß. — Sie glauben nicht, wie mich diese Sorge beunruhigt. In all meinen sechs Jahren habe ich nie so widerhaarige und dabei so verschlagene Zöglinge gekannt.“

„Schlimme Gesellen sind es,“ sagte P. Scott. „Wenn sie ihr Wesen noch ein paar Wochen weiter fortsetzen, bringen sie einen Geist unter die Kleinen, der einen guten Teil unserer Arbeit vergebens macht. Der Anführer scheint mir Kenny zu sein, obgleich ich ihn gar nicht für den schlechtesten halte.“

„Auch ich habe diesen Eindruck von ihm. Er steht an der Spitze, ist aber nur der Geschobene; doch bringe ich nicht heraus, wer ihn schiebt. Vielleicht wissen wir das heute Abend. — Holla, da geht ja Skipper[S. 85] auf einmal von ihnen weg. Was mag das bedeuten?“

„Der wird mit ihnen gebrochen haben, Pater. Könnten wir seine guten Vorsätze nur etwas warm halten, daß er nicht in Versuchung kommt, umzukehren!“

„Sie haben recht. — Skipper!“ rief P. Middleton, als der Knabe mit einem Gesicht, das halb mürrisch, halb entrüstet war, an ihnen in einiger Entfernung vorbeigehen wollte.

Skipper kam und zog verlegen den Hut ab.

„Willst Du wohl für mich in der Stadt eine Bestellung machen, Skipper?“

„Sehr gern, Pater!“ erwiderte der Angeredete freudig überrascht; ein solches Zeichen des Vertrauens hatte er nicht im mindesten erwartet.

„Hier ist ein Brief an den Redakteur des ‚Sonntagsblattes‘. Wenn Du ihn abgiebst, sage zugleich, Du kämest nach einer Stunde wieder, um die Antwort in Empfang zu nehmen. Du kannst dann so lange spazieren gehen. Einen Begleiter wirst Du schon finden.“

„Ich danke Ihnen, Pater.“

In der besten Stimmung entfernte sich Skipper. Der ehrenvolle Auftrag hatte seine moralische Kraft gestärkt und ihn zugleich der bösen Gelegenheit eines Rückfalles entzogen.

Doch war seine Umkehr noch nicht vollständig. Während er der Stadt zuschritt, entbrannte in seinem Innern ein heftiger Kampf zwischen dem erwachten Pflichtbewußtsein und der Furcht vor den bisherigen Freunden. Skipper hatte bis jetzt als ein Feigling gelebt; es kam ihm hart an, auf einmal als Held zu[S. 86] handeln. Er wußte, was Tom Playfair bevorstand. Mit Aufbietung aller Mittel mußte er die Gefahr von dem Bedrohten abwenden, das sagte ihm sein Gewissen. Und doch konnte er sich nicht entschließen, das einzige Wort zu sprechen, das genügte, um Tom Playfair zu retten. Die Vorwürfe seiner früheren Genossen, das Wort ‚Verräter‘ und ‚Feigling‘ im Munde dieser erklärten Feiglinge dünkte ihm zu hart.

„Vielleicht,“ sprach er zu sich selbst, „wird auch ein glücklicher Zufall ihren Plan vereiteln. Aber wenn das nicht geschähe — der arme Playfair! Und doch — ich mag diejenigen nicht verraten, die meine Freunde gewesen sind. — Kann ich das? Muß ich das? — Nein, es geht nicht! Ich warte bis diesen Abend; sind Playfair und Quip nicht zur rechten Zeit zu Hause, dann ist es ja noch immer früh genug, und ich brauche die Vorwürfe von Prescott und Kenny nicht so zu fürchten.“

Skipper fühlte, daß sein Gewissen mit diesem Entschlusse nicht zufrieden sei. Es war eine schwächliche Halbheit; die Ausführung mußte Prescott und Kenny doch noch gegen ihn aufbringen, während sein ungerechtfertigtes Zaudern zugleich bei den Vorgesetzten nur Mißbilligung zu erwarten hatte. Skipper war eben trotz seiner Umkehr noch ein Feigling, furchtsam und wankelmütig. Hoffen wir, daß sein armseliger Wille nach und nach zu einer größeren Entschlossenheit erstarkt.

11. Kapitel, Schlussvignette

[S. 87]

Kopfvignette des   12. Kapitels

12. Kapitel.
Percy entdeckt das Komplott und beschließt zu helfen.

W

Was trieb Percy an diesem Vormittag?

Still vergnügt saß er im Studiersaale an seinem Pulte. Gestern hatte er wieder stark gespielt und war so steif und lahm geworden, daß er ohne Schmerzgefühl nicht die geringste Bewegung machen konnte. Von allem, was im vorigen Kapitel erzählt ist, hatte er keine Ahnung. Seite um Seite las er ungestört ‚Dion und die Sybillen‘, und erst als die Glocke zum Mittagessen rief, schleppte er sich mühsam in den Speisesaal.

Der Nachmittag war einladend. Der helle Sonnenschein hatte die klare, reine Luft angenehm erwärmt. Daher beschloß Percy, nicht in den Studiersaal zurückzukehren, sondern seine Lesung im Hofe fortzusetzen. Von P. Middleton erbat und erlangte er die Vergünstigung, daß er sich mit Dion und den Sybillen vom eigentlichen Spielplatz in einen einsamen Winkel zurückziehen durfte.

Percy besaß die Fähigkeit, sich in eine Lektüre so zu vertiefen, daß seine Sinne für die Außenwelt gleichsam abgestorben waren. Tom Playfair hatte sich davon[S. 88] oft überzeugt, indem er sich von hinten an den Lesenden heranschlich, ihm die Taschen leerte oder auch mit Steinen füllte, oder indem er ihm die Krawatte in Unordnung brachte, was Percy regelmäßig erst nachher mit großer Überraschung bemerkte.

Auch jetzt war Percy wieder weit vom Lande der Wirklichkeit entfernt. Das Rufen auf dem Spielplatze, das Getöse eines vorbeifahrenden Zuges, das Geschrei der verspäteten Herbstvögel, und was sonst um ihn herum laut werden mochte, fiel nicht mehr in den Bereich seines Bewußtseins. Percy weilte unter einem fremden Himmel bei fremden Menschen. Daß der Lärm auf dem Spielplatze abnahm, weil die Zöglinge nach und nach spazieren gingen, und daß zuletzt ein Trupp, aus weniger Zuverlässigen bestehend, in Begleitung von P. Scott geräuschvoll das Pensionat verließ, störte ihn so wenig, als geschähe es am andern Ende der Welt.

Allein nicht alle Zöglinge waren ausgegangen. Zweien der Zurückgebliebenen müssen wir unsere besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Sie haben sich gleich Percy vom Spielplatze entfernt. Eben jetzt sind sie von ihm kaum drei Schritte entfernt, seinen Augen aber durch einen Mauervorsprung verdeckt. Offenbar wollen sie nicht bemerkt werden und sind des Glaubens, ihr eifriges, sehr erregtes Gespräch, das sie halblaut flüsternd miteinander führten, werde von niemanden vernommen.

In Percy erwachte aber doch ein unbestimmtes Gefühl, er sei nicht mehr allein. Ihm war, wie jemanden, der im Traume ein wirkliches Geräusch hört, das in ihm nur ein dunkles Bewußtsein weckt, während[S. 89] er ganz in den Gebilden des Traumes weiter lebt. Auch hier gelangten die Worte der Sprechenden lange Zeit zu Ohren, welche ihrer Bedeutung nicht achteten. Noch immer hätte Percy mit Wahrheit sagen können, er habe von der ganzen Unterhaltung auch nicht eine Silbe gehört.

Mit einem Schlage kehrte er aus den Tagen Dions in seine eigene Zeit zurück; das Buch wäre beinahe seinen Händen entfallen.

„Sicherlich“ — das waren die Worte, die ihn aus dem Traume aufschreckten — „wenn Playfair eine ganze Nacht in Frost und Nebel daliegen muß, holt er sich eine schwere Krankheit. Sieh’ nur, wie klar der Himmel ist; es wird kalt. Nein, das Ding geht zu weit, es ist ein Verbrechen!“

Percy unterschied Skippers Stimme.

„Es ist zu spät,“ versetzte der andere, den Percy nicht erkannte. „Prescott hat herausgebracht, daß Playfair und Quip diesen Nachmittag einen Ausflug zum Paniflusse vorhatten. Kenny, Prescott und die meisten von den andern, die nicht allein ausgehen dürfen, sind jetzt mit P. Scott fortgegangen. Unterwegs wollen sie den Pater bitten, ein wenig vorangehen zu dürfen. So wollen sie sich von den übrigen ganz trennen, sich bei dem Steinwall, weißt Du, mitten auf der Prärie, verstecken und dort Quip und Playfair auflauern. Nachher wollen sie dann vorgeben, sie hätten sich verirrt und hätten den Hauptzug nicht wieder finden können.“

„O, ich will mit diesen Kerlen nie wieder etwas zu thun haben!“ versicherte Skipper. „Warum habe[S. 90] ich nicht eine kleine Andeutung gemacht, als es noch Zeit war? Aber wenn ich noch einmal in der Lage wäre, ich würde es gewiß abermals unterlassen. O, was für ein Feigling ich bin! — Doch warum soll denn Quip auch daran?“

„Kenny beabsichtigte es nicht, aber Prescott bestand darauf. Quip würde sonst alles gleich verraten. Prescott will auch, daß man ihnen den Mund verstopft. Sie sollen nicht einmal um Hilfe rufen können.“

„Ach, wenn sie sie nur nicht fänden! Vielleicht nimmt Tom für den Heimweg den Pfad am Bahndamm entlang.“

„Nein, das thut er nicht. Prescott hat das alles ausspioniert. Die beiden wollen bis vier Uhr am Paniflusse bleiben und dann auf dem kürzeren Wege mitten über die Prärie heimkehren. In der Nähe des Steinwalles haben sie ein paar Kaninchenfallen, nach denen sie noch sehen wollen. Diese weiß Prescott auch, und so kann er sich mit seinen Genossen leicht an einem Platze in den Hinterhalt legen, wo sie notwendig vorbei müssen.“

„Ich fürchte, es geht den beiden sehr schlecht,“ sprach Skipper traurig. „Jetzt sehe ich ein, daß ich mich mehr als einmal von ihm zu ähnlichen Grausamkeiten habe verleiten lassen, obgleich es so weit nie gekommen ist. Sie binden die armen Jungen jetzt sicher so fest, daß sie kein Glied rühren können. Dabei dürfen sie noch von Glück sagen, wenn man sie nicht erst halb tot schlägt.“

Mehr verstand Percy nicht; denn die Redenden,[S. 91] die sich keineswegs belauscht glaubten, entfernten sich jetzt in der Richtung zum Spielplatze hin.

Man denke sich nun Percys Entsetzen und Aufregung! Seine besten Freunde in Gefahr! Er selbst vermochte kaum einen Schritt ohne Schmerzen zu machen, und Tom und Harry waren stundenweit von ihm entfernt!

Allein er war gewohnt, in jeglicher Not seine Zuflucht zum Gebete zu nehmen.

„O mein Gott,“ flüsterte er auch jetzt mit beklommenem Herzen, „sende mir Deine Hilfe! Gieb mir Licht! Gieb mir Kraft! Heiliger Schutzengel, steh’ mir bei!“

Ein paar Augenblicke betete und überlegte er. Dann stand er auf, ließ Dion und die Sybillen allein auf der Bank zurück und schritt mühsam zum Spielplatze.

„Wenn ich nur Donnel und Keenan treffe,“ dachte er, „dann ist alles in Ordnung. Die werden schon Mittel und Wege ausfindig machen.“

Aber von Donnel und Keenan war keine Spur, und unter den Zöglingen, die er dort gewahrte, glaubte er keinen ins Vertrauen ziehen zu dürfen.

P. Middleton,“ wandte er sich endlich an diesen, „können Sie mir nicht sagen, wo Donnel und Keenan sich jetzt wohl aufhalten mögen?“

„Irgendwo auf der Prärie,“ erwiderte der Angeredete lächelnd. „Bei solchem Wetter bleiben die nicht zu Hause.“

„Wann kommen sie denn wohl zurück?“ fragte Percy ängstlich.

„Schwerlich vor halb fünf. Und jetzt ist’s kaum drei.[S. 92] — Aber was fehlt Dir denn, Percy? Du siehst so verwirrt aus.“

Percy zauderte mit seiner Antwort. An Tom, Harry und all seinen andern Freunden hatte er nie bemerkt, daß sie etwas bei den Vorgesetzten anzeigten, wenn sie es selbst, allein oder mit gleichgesinnten Kameraden vereint, in Ordnung bringen konnten. War das vielleicht auch hier der Fall? Ja, wären Donnel und Keenan zur Stelle, wie einfach würde sich alles abwickeln lassen! Aber jetzt! Blieb ihm denn ein anderes Mittel, als die Hilfe des Präfekten? —

Und doch, Percy entschloß sich zu schweigen. Er konnte ja schließlich selbst, wenn auch mit großer Mühe, die Bedrohten warnen. Zudem hatte er nur einen Teil der Unterredung gehört; es war also immerhin möglich, daß der Anschlag ihm entsetzlicher vorkam, als er in Wirklichkeit war. So schien es ihm wenigstens.

„Ja gewiß,“ dachte er, „ich kann ja nicht einmal mit voller Sicherheit sagen, was eigentlich im Werke ist.“

Thatsächlich wäre Percy zu einem rückhaltlosen Bericht des Gehörten verpflichtet gewesen, schon deshalb, weil ein Zögling wie Prescott ein wahres Unglück für das gesamte Pensionat war. Allein Percy wußte es damals nicht besser. Er wollte selber den Plan vereiteln, um seine Mitzöglinge keiner Strafe auszusetzen, eine Rücksicht, die wahrhaftig niemand von ihnen, am allerwenigsten Prescott, verdient hätte.

Einen Augenblick nur hatte es gebraucht, bis dieser Entschluß feststand.

P. Middleton, ich bitte um die Erlaubnis, an[S. 93] den Panifluß zu gehen. Ich muß Tom und Harry etwas Wichtiges sagen.“

Der Präfekt ahnte, daß der Knabe wohl besondere Gründe zu diesem Ersuchen habe. Allein er glaubte nicht weiter in ihn dringen zu sollen; jedenfalls beabsichtigte Percy nichts Schlimmes. Daß er aber vom vorigen Tage her noch so gelähmt sei, entging P. Middletons Auge. Percy hatte sich ja eingewöhnt, ließ sich behandeln und wollte behandelt werden wie jeder andere Zögling.

„Gut, Percy! thu’ das nur!“

„O, ich danke Ihnen sehr, Pater. Sie sind immer so gut. Darf ich Sie noch bitten, mir, wenn es Ihnen nicht zu viele Mühe macht, den nächsten Weg zu zeigen?“

„So, Du bist noch nicht da gewesen? Dann gebe ich Dir die Erlaubnis nur unter der Bedingung, daß Du mir versprichst, hin und zurück den Bahndamm entlang zu gehen. Da kannst Du Dich nicht verirren, und wenn Du Tom und Harry nicht treffen solltest, findest Du Dich auch allein wieder heim. Auf diesem Wege brauchst Du ungefähr eine Stunde.“

„Und jetzt ist es drei,“ sprach Percy und sah auf seine Uhr.

„Nein, schon fünf Minuten nach drei, Deine Uhr ist etwas zurück.“

„O weh, o weh!“ seufzte Percy leise, als er sich mit einer steifen Verbeugung entfernte.

Hastigen Schrittes eilte er der Pforte zu. Sein gefühlvolles Herz schlug heftig bei dem Gedanken, er komme vielleicht zu spät; seine Freunde könnten ja den[S. 94] Rückweg früher angetreten haben, als sie ursprünglich festgesetzt.

Schon hatte er das Thor erreicht, als er seinen Namen rufen hörte. Er wandte sich um und sah P. Middleton auf sich zukommen.

„Warte einen Augenblick, Percy! — Möglicherweise findest Du die beiden nicht gleich. Hier, nimm diese Pfeife mit; sie hat einen sehr hellen Ton, der weithin hörbar ist. Vielleicht ist sie Dir von Nutzen.“

„Aber Sie sind doch zu gütig,“ rief Percy, seine großen, ausdrucksvollen Augen voll inniger Dankbarkeit auf den Pater gerichtet. „O, P. Middleton, ich will für Sie beten, daß Ihnen Gott Ihre Freundlichkeit vergilt.“

Sinnend schaute P. Middleton dem Wegeilenden nach, bis er um eine Ecke seinen Augen entschwand. Was mochte der Knabe vorhaben?

12. Kapitel, Schlussvignette

[S. 95]

Kopfvignette des   13. Kapitels

13. Kapitel.
Ist das ein Feigling?

S

Sobald Percy vom Hofe aus nicht mehr gesehen werden konnte, begann er zu laufen. Von seiner Steifheit fühlte er in der Aufregung nichts mehr. Niemand hätte bei seinem Anblick geglaubt, daß er zehn Minuten vorher sich kaum durch den Hof zu schleppen vermochte.

Ein paar Minuten rannte er dahin. Allein dann traten auch schon die ersten Zeichen der Ermattung ein. Sein Atem wurde kürzer, heftiger und lauter, und sein Herz fing an rascher zu schlagen.

„O mein Gott, mein Gott! Was soll ich anfangen?“ murmelte er, während sein Lauf sich in ein schnelles Gehen verwandelte. „Ich bin ja so schwach und müde! Und Tom und Harry sind in Gefahr! Mein heiliger Schutzengel, hilf mir!“

Doch während der ersten Viertelstunde schritt er immerhin noch rüstig voran, obgleich ein Ruf zu seinem unsichtbaren Begleiter fast jeden seiner Schritte begleitete.

„Ein gutes Viertel des Weges! Gott sei Dank! Jetzt mutig ans zweite!“

[S. 96]

Mit einem neuen, innigen Gebete zu seinem Engel, den er mit dem Auge eines lebendigen Glaubens sich gegenwärtig sah, setzte er sich wieder in Trab.

Aber dieses Mal verließen ihn die Kräfte viel schneller. Um seine Leiden und Befürchtungen zu erhöhen, machte sich auch die frühere Lähmung wieder fühlbar. Jeder Schritt verursachte ihm Schmerzen. Sein Gesicht glühte vor Anstrengung und war von Schweißtropfen ganz bedeckt. Aber die krampfhaft zusammengepreßten Lippen und der feste, entschlossene Blick zeigten deutlich, daß ein starker, männlicher Wille in diesem schwachen Körper wohne. Jeder Schritt kostete Mühe und Pein, aber jeder Schritt wurde auch aufgeschrieben an jenem Orte, zu dem Pein und Müdigkeit keinen Zutritt haben, weil er der Wohnplatz ungestörten Friedens und seliger Ruhe ist.

Percys Schmerzen nahmen mit jeder Minute zu. Bald quollen ihm die Thränen aus den Augen und rollten die Wangen herab. Aber jetzt war es zum Umkehren schon zu spät. Jetzt konnte nur noch er, er allein, Tom und Harry retten. Und doch, wie heftig drängte es ihn, sich niederzulegen! Wie einladend erschien seinen Augen das verdorrte, herbstliche Gras!

„O, ich komme nicht weiter!“ dachte er. „Aber wenn ich nicht weiter komme, werden Tom und Harry — nein, ich halte aus! Vorwärts! So lange ich nicht umfalle, gehe ich voran!“

Abermals begann er zu laufen, und merkwürdigerweise hielt er jetzt länger aus, als das erste Mal,[S. 97] obgleich ihm der Schmerz einen Seufzer um den andern entpreßte.

Ein heftiger Luftstoß von Norden traf ihn, ergriff seinen Hut und führte ihn wirbelnd weg. Der Wind begann sein gefühlloses Spiel mit Percys Lockenhaar zu treiben; bald schlug er es ihm vor die Augen, bald ließ er es lang in der Lust flattern. Aber darauf konnte der Knabe nicht achten. Es galt ja Tom und Harry zu retten.

Ist das noch Mamas Herzkäferchen von Anfang des Schuljahres? Derselbe, der meinte sterben zu müssen, wenn er weiter als zwanzig Minuten gehe? Er ist es und ist es nicht. Diesen Opfergeist brachte er schon aus dem Elternhause mit; allein seine Körperkräfte hätten damals nicht ein Dritteil dieser Anstrengungen zu leisten vermocht.

Eine starke halbe Stunde war er nun schon unterwegs. Da stieß er in seinem peinvollen Laufe mit dem Fuße an einen Stein, daß er wankte und hinstürzte. Schwindel überkam ihn, und zugleich stieg das blinde, aber sehr mächtige Verlangen in ihm auf, liegen zu bleiben, wo er lag. Der Kopf sank ihm zur Erde; die Augen schlossen sich; er war beinahe bewußtlos. Tom und Harry schienen verloren. Da erschauerten plötzlich seine Glieder — vielleicht von der Kälte des nahenden Abends; er schlug die Augen auf, das Bewußtsein kehrte zurück.

„O Maria, hilf!“ stöhnte er.

Mit Aufbietung aller Willenskraft erhob er sich und nahm den Weg wieder unter seine Füße. Freilich schwindelte ihm noch, und sein Herz pochte[S. 98] laut hörbar. Aber er zwang sich voran — weiter, weiter!

Auf einmal entfuhr seinen Lippen ein Laut — es war kein Schrei — der Freude. Die Brücke, die Panibrücke war in Sicht, noch weit weg, aber in Sicht.

„O Gott sei Dank!“ sprach er oder versuchte er zu sprechen, denn die zersprungenen Lippen versagten ihren Dienst.

Abwechselnd gehend und laufend eilte er mit erneuertem Mute der Brücke zu. Je näher sie kam, um so mehr wuchs seine Hoffnung und ersetzte die schwindenden Kräfte. Noch ein Lauf — ein paar hundert Schritte — jetzt ist die Brücke erreicht.

Zitternd, atemlos, den Ausdruck des Schmerzes in dem von Schweißtropfen und Thränen überronnenen Antlitze langte er an; seine Kleider und selbst sein Haar waren mit Staub bedeckt. Da lehnte er, todmüde, aber innerlich frohlockend, an einen Pfosten und ließ sein Auge die Gegend auf und ab durchmustern. Doch von Tom und Harry gewahrte er nichts. Er zog die Pfeife hervor und setzte sie an die Lippen; sie gab einen starken, durchdringenden Ton. Allein auch ihre Stimme blieb ohne Antwort. Kein Laut unterbrach die Einsamkeit der Prärie; keine Bewegung gewahrte er, als das träge, schleichende Wasser des Flusses.

Er wollte weiter gehen. Aber wohin? Den Fluß hinauf oder hinab? Noch nie hatte ihn ein Spaziergang an diesen Fleck der Prärie geführt. Er wußte auch nicht, welche Plätze für Tom und Harry eine besondere Anziehungskraft besaßen, so daß er sie dort hätte aufsuchen können.

[S. 99]

Da fiel ihm ein, daß die beiden Freunde ja vom Flusse aus über die Prärie heimgehen wollten, und daß dieser Weg bei weitem der kürzere sei. Das konnte aber nur der Fall sein, wenn sie sich weiter stromaufwärts befanden. Ohne Zögern machte er sich also wieder auf.

In einer Entfernung von ungefähr tausend Schritten sah er eine leichte Erhöhung, von deren Scheitel er sich einen Rundblick über die Ebene und namentlich über das Flußufer versprach. Dorthin schleppte er sich also mit Einsetzung aller Kräfte, welche Liebe und Hoffnung in den erschöpften Gliedern noch rege machen konnten. Auf halbem Wege sah er sich gezwungen, einen Augenblick zu rasten; es kam ihm vor, als drehe sich um ihn herum alles im Kreise. Er war nahe daran, abermals hinzusinken.

„Herz Jesu, gieb mir Kraft!“

Wieder konnte er sich voranschleppen. Noch ein paar Minuten voll Schmerz und Anstrengung, und er stand oben.

Zum Teil war seine Erwartung erfüllt; denn die Höhe gewährte eine ziemlich weite Aussicht. Allein die beiden Knaben vermochte er nicht zu entdecken.

Percy brach nicht in Thränen aus; sein Kummer war für Thränen zu tief. Sollten also trotz all seiner Anstrengung die lieben Freunde ihrem Schicksal nicht entrinnen?

Noch einmal durchschweifte sein ermattetes Auge den Gesichtskreis. Gegen Westen hin, nicht sehr nahe, hob sich eine langgestreckte Hügelwelle scharf vom klaren Abendhimmel ab. Standen nicht zwei Figuren auf[S. 100] ihrem Scheitel? Percys Sehkraft war zu sehr geschwächt, um das mit Sicherheit sagen zu können. Aber wenn sie es wären, was half es ihm? So weit reichte ja die Stimme eines Halbtoten nicht. Und womit könnte er sich ihnen sonst bemerklich machen? — Ach ja, die Pfeife. Wieder ließ er sie schrill und laut ertönen.

Wurde sie gehört? Wandten sich die zwei Gestalten, in denen er seine Freunde zu erblicken glaubte, bei ihrem Schalle um? Noch einmal pfiff er und versuchte mit letzter Kraft ihre Namen zu rufen. Armes Kind! Dein Rufen würde kaum ein Vögelchen aufscheuchen, wenn es auch gerade vor Dir säße.

Das Gefühl des Schwindels nahm zu. Percy wußte kaum noch, was er that. Er bückte sich nieder und suchte am Boden umher, wonach, das hätte er selbst nicht sagen können. Ein langer Stock, der wohl einmal als Angelrute gedient hatte, lag dort im dürren Grase. Percy ergriff ihn, nahm sein Taschentuch, knüpfte es hastig an das eine Ende desselben und schwenkte es dann hoch in der Luft hin und her, so lange, bis er wankte und ohnmächtig zu Boden fiel.

13. Kapitel, Schlussvignette

[S. 101]

Kopfvignette des   14. Kapitels

14. Kapitel.
Wie die geretteten Freunde ihrem Retter helfen.

T

Tom kniet auf dem Boden und sieht besorgten Blickes in das Antlitz des Bewußtlosen. Endlich öffnen sich die Augen.

„Geht es besser, Percy?“

„Wasser!“ haucht der kaum Erwachte.

„Lauf schnell, Harry!“

Der tummelte sich nicht schlecht und kehrte bald mit einer Feldflasche voll Wasser zurück.

Der Trunk erfrischte Percy sichtlich; das erblaßte Antlitz zeigte wieder mehr Farbe und Leben.

„Trink noch einmal, Percy! Es thut Dir wohl. — So — in zwei Minuten bist Du wieder wie neugeboren!“

„O Tom!“ flüsterte Percy mit schwacher Stimme. „Ich war so nahe daran, Euch nicht mehr zu treffen.“

„Das warst Du allerdings. Hättest Du nicht einen so höllischen Lärm mit Deinem Pfeifen gemacht, Harry und ich wären schon halbwegs bis Maurach. — Aber jetzt laß hören, was Dich auf die Prärie herausgetrieben hat! Jeder vernünftige Junge mit Beinen, wie Du sie hast, wäre eher zu Bett gegangen. Du[S. 102] bist ja kaum imstande wieder heimzukommen. Und erst wenn Du uns nicht getroffen hättest!“

Percy erwiderte nichts.

„Es muß etwas los sein,“ fuhr Tom fort. „Hat Dich wieder jemand gequält?“

„O nein, Tom. Die meisten sind ja sehr freundlich gegen mich. Und selbst wenn sie mich einmal necken, weil ich noch so mädchenhaft bin, dann geschieht es immer mit so großer Gutmütigkeit.“

„O das kennen wir!“ warf Harry dazwischen.

„Ich wollte Euch nur bitten, nicht über die Prärie, sondern den Bahnkörper entlang nach Hause zu gehen.“

Tom pfiff.

„Und wir sollen glauben, Du hättest Deine armen Beine so mißhandelt und Dich in eine tödliche Ermüdung gerannt, nur um uns einen andern Heimweg anzuraten?“

„Doch, Tom. Prescott und — ich weiß nicht wer sonst, es sind ihrer aber mehrere — liegen auf der Prärie im Hinterhalt und lauern Euch auf. Sie wollten Euch binden und Euch dann auf der Prärie liegen lassen. Ich war so in Angst, ich möchte Euch verfehlen, und das wäre beinahe auch geschehen. Jetzt bin ich so froh, daß es gelungen ist. Gott sei Dank!“

Sprachlos starrten ihn die beiden Freunde an. Zum erstenmale seit langer Zeit füllten sich Toms Augen mit Thränen. Harry Quip aber brach in lautes Schluchzen aus.

„Percy,“ sprach endlich Tom mit einer Stimme, die zugleich Rührung und Nachdruck wiedergab, „wenn[S. 103] ich je gesagt habe, Du seiest kein rechter Junge, so war ich verrückt. Als wir Dich diesen Mittag sahen, konntest Du kaum einen Schritt thun, und jetzt läufst Du eine ganze Stunde um zweier armen Tröpfe willen!“

Er wischte sich verstohlen die Augen.

„O bitte, Tom! Macht nicht so viel Aufhebens davon. Es war gar nicht so schrecklich. Mir ist ja gar nichts Schlimmes passiert. Ich bin nur deshalb ohnmächtig geworden, weil ich eben die viele Bewegung noch nicht ertragen kann. Ich wollte von Herzen gern für jeden von Euch noch viel mehr thun.“

„Ich bildete mir immer ein,“ fuhr Tom unbekümmert um Percys Worte fort, „ich wüßte, was ein rechter Junge ist. Unsinn! Nichts wußte ich. Jetzt geht mir erst ein Licht auf. O Percy, Percy, wie konntest Du —“

Schnell erhob sich Percy.

„Kommt! vorwärts! Es ist die höchste Zeit! Mir fehlt ja nichts! Ich bin wirklich noch nie so froh gewesen wie jetzt. Ich hätte nie geglaubt, Euch noch irgendwie nützlich sein zu können.“

„Das bist Du aber,“ erklärte Tom bewegt, „und bist es gewesen. Von Dir habe ich mehr gelernt als aus vielen, vielen Büchern.“

„Und ich,“ fügte Harry bei, dessen Erregung soweit nachgelassen hatte, daß er seine Dankbarkeit in Worte kleiden konnte, „ich hätte nie gedacht, ich könnte von Dir auch nur halb so viel lernen, als Du mir in diesen paar Minuten beigebracht hast.“

Eine Pause trat ein. Für beide Knaben, die, selber edelmütig und großherzig, Percys Opfermut[S. 104] voll und ganz zu würdigen verstanden, bedurfte es einiger Ruhe, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Forderungen des Augenblicks zuwenden konnten.

„Wie sollen wir heimkommen, Tom?“ fragte endlich Harry. „Er hat sich kaum hierhin zu schleppen vermocht und kann unmöglich denselben Weg noch einmal zurücklegen.“

„O, ich bin ja noch ganz gut auf den Beinen!“ versetzte Percy entschlossen. „Nur wegen des Laufens bin ich so müde geworden. Gehen kann ich ohne Mühe.“

Schweigend schritten sie nun dem Bahnkörper zu.

„Wären nur Donnel und Keenan hier!“ knirschte Tom nach einer Weile und ballte die Faust. „Dann gingen wir sicher den andern Weg!“

„Es wird schon merklich kälter,“ sprach Harry. „Es giebt eine frostige Nacht. Und wie schneidend kalt der Wind ist! Huuu — — denk’ nur, was wir zittern und beben würden, wenn wir in diesem linden Lüftchen fein ruhig zu liegen hätten. Und eine ganze Nacht durch! Da verginge es uns schon, am andern Tage auch nur ‚Guten Morgen‘ zu sagen!“

„Auch wenn sie uns kein Schnupftuch in den Mund gestopft hätten,“ ergänzte Tom.

Percy erzählte dann mit schwacher Stimme, wie es ihm gelungen, hinter den abscheulichen Plan zu kommen. Allein unterdessen wurden seine Schritte immer unsicherer, während zugleich hin und wieder ein Ausdruck des verhaltenen Schmerzes über sein Gesicht glitt.

Mittlerweile war es fast halbfünf geworden, und[S. 105] die Strecke, die sie zurückgelegt, betrug noch nicht ein Viertel des Heimweges.

„Percy,“ sprach Tom, als die Erzählung zu Ende war, „Du bist ja fast außer stande, weiter zu gehen. Wenn ich Dir doch meine Beine wenigstens für einige Zeit abtreten könnte! Die würden sich freuen, endlich einmal in anständige Gesellschaft zu kommen.“

„Sorge nicht um mich, Tom! Ich bin ja ganz wohl. Allerdings fühle ich mich etwas gelähmt, das ist wahr. Es kommt aber nur davon, daß ich im Laufen gar keine Übung habe.“

„Gut, Percy, deshalb wollen Harry und ich Dir von unsern Beinen soviel leihen, als sich machen läßt. — Harry, nimm Du seinen rechten Arm; ich fasse ihn beim linken. Wir können ja denken, wir wären Polizisten und sollten diesen Burschen auf die Wache bringen.“

„O, ich wollte nur, ich wäre ein Polizist!“ versicherte Harry. „Dann hätte ich bald Hilfe herbeigepfiffen. — Nein, doch nicht! Ich ließe niemand helfen, so lange ich selber noch einige Kräfte hätte.“

Von den Freunden unterstützt, ja fast getragen, ging Percy wieder ein Weilchen voran. Doch es entging ihren wachsamen Augen nicht, wie trotz ihrer Hilfe immer häufiger ein heftiger Schmerz seinen ganzen Körper erschütterte.

„Und alles das für mich und Harry!“ dachte Tom, während sich abermals seine Augen heimlich mit Thränen füllten. „Wenn wir nicht mehr für ihn thun, zieht sich der arme Junge noch einen ernsten Schaden zu. — Hätte er nur von der ganzen Verschwörung nichts gehört! Wir hätten uns vielleicht doch noch durchgeschlagen.[S. 106] Und wenn nicht — ich wollte lieber die ganze Nacht da liegen, als den guten Percy in diesem Zustande sehen!“

„Wir wollen einmal einen Augenblick ausruhen!“ fügte er laut bei.

Sogleich zog er dann seinen Rock aus; Harry verstand ihn und folgte seinem Beispiele. So bereiteten sie für Percy auf einem grasbedeckten Plätzchen ein Lager. Tom setzte sich an dem einen Ende desselben, den Rücken gegen einen Stein gelehnt flach auf den Boden und zwar so, daß er das Lager an seiner rechten Seite hatte.

„Jetzt, Percy,“ sprach er, „leg’ Dich hier nieder! Du bist von Deiner Anstrengung noch zu heiß und würdest Dich auf dem bloßen Boden erkälten. Ein Kissen haben wir leider nicht; deshalb mußt Du es Dir auf meinem Knie bequem machen.“

Ohne Widerrede that Percy nach Toms Anweisung, indem er beiden dankbar zulächelte. Kaum hatte er sich ausgestreckt, als seine Augen auch sofort zufielen, gerade als sänke er in eine plötzliche Ohnmacht.

Beide Knaben sahen mit lebhaftester Besorgnis in das ruhige, abgemattete Antlitz, das ihnen in ihrer Angst vorkam wie das Antlitz eines Toten.

„Harry,“ sprach endlich Tom im leisesten Flüstertone, „meinst Du wirklich, Percy könnte schneller gehen, wenn er etwas geschlafen hat?“

„Sicher nicht; wir müssen ihn so ganz langsam heimbringen, wenn wir auch eine Stunde zu spät kommen.“

„Ich will Dir was sagen, Harry. Zu Fuß kommt er nie nach Haus. Ich bleibe hier und warte, bis er[S. 107] erwacht; dann trage ich ihn, soweit ich komme. — Ach wäre ich doch nur für eine Stunde ein Mann! — Du aber rennst jetzt gleich, was Du rennen kannst, und holst Hilfe, am besten einen Wagen. — Wir wollen beten, daß alles gut abläuft.“

Ungesäumt eilte Harry davon, während Tom geduldig Percys Erwachen abwartete. Ängstlich lauschte er auf die schwachen Atemzüge des Schlafenden. Da schlug dieser die Augen auf.

„O, Gott sei Dank!“ rief Tom. „Wie fühlst Du Dich, Percy? Besser?“

Percy gewahrte die übergroße Bekümmernis seines Freundes.

„O gewiß!“ sprach er leise, indem er sich bemühte, frisch und wohlgemut dreinzusehen. „Ich glaube, ich komme jetzt bis nach Hause.“

„Sehr gut, Percy! Also voran!“

Tom half ihm aufstehen und zog dann seine Jacke an.

„Und Du kannst wohl Harrys Jacke tragen, Percy.“

„Sehr gern, Tom!“

„Gut, ich hänge sie Dir um wie ein Kriegsmäntelchen; das sieht ganz schön aus.“

Percy war zu sehr geschwächt, um seiner Überraschung noch Ausdruck zu verleihen, als ihn Tom jetzt ohne Umstände ergriff, aufhob und mit ihm weiter ging, als verstände sich das von selbst.

Zum Glücke für Tom war der Leidende, obgleich ein volles Jahr älter, sehr zart gebaut. Doch blieb er immerhin eine ansehnliche Last für den Zwölfjährigen. Aber Dankbarkeit und ein gewisser edler Stolz, sich[S. 108] an Großmut nicht übertreffen zu lassen, schienen Toms Kräfte zu erhöhen.

So schritt er dahin, schnellen und sichern Fußes. In seinen Mienen trug er eine möglichst große Gleichgültigkeit zur Schau, obwohl er bald anfing hastiger zu atmen.

„Keine Angst, Percy!“ sagte er, als dieser ihn einmal sehr besorgt anschaute. „Ich werde nicht müde. Du weißt ja, ich war immer darauf aus, meine Kräfte zu üben. Ich habe schon Schwereres gehoben. Ich könnte sogar mit Dir laufen, nur fürchte ich, anzustoßen und Dich unsanft auf den Boden zu setzen.“

Bald gewahrte er durch die schon tief herabgesunkene Dämmerung einen Reiter im Galopp heransprengen. Sollte das schon die Hilfe sein, die Harry schickte? Sein Herz schlug freudiger, je näher Roß und Reiter kamen.

„Hurra!“ rief er, als die Gestalt des Helfers einigermaßen kenntlich geworden. „Percy, hättest Du das gedacht? ich glaube, es ist P. Middleton.“

14. Kapitel, Schlussvignette

[S. 109]

Kopfvignette des   15. Kapitels

15. Kapitel.
Wie ein Vierter allen zu Hilfe kam. — In der Infirmerie.

P.

P. Middleton war es. Ein paar Worte mögen seine Ankunft erklären.

P. Scott, der den Trupp Spaziergänger begleitet hatte, traf kurz vor fünf Uhr wieder im Pensionate ein, machte aber die Mitteilung, daß Kenny, Prescott und etliche andere fehlten. In P. Middleton stieg sofort der Gedanke auf, es könne dieser Streich wohl mit den Ereignissen des Tages in irgend welchem Zusammenhang stehen. Playfair hatte ja Kenny und dessen Gesellen bei der Mißhandlung des kleinen Granger gestört. Percy Wynn hatte unter den Zeichen größter Aufregung nach Playfair gefragt. Richtig, der Arme war ja ganz gelähmt, sonst wäre er sicher gar nicht mehr zu Hause gewesen; und doch lief er so eilig hinaus! Wollte er etwa einen Anschlag gegen seinen Freund verhindern?

„Warum habe ich ihn doch nicht weiter ausgefragt? Ich zweifle nicht, daß sein ganzes rätselhaftes Treiben mit dem Ausbleiben dieser Schlingel zusammenhängt.“ — „P. Scott,“ sprach er, „wollen Sie die Güte haben, mich für die nächste Stunde zu vertreten? Ich will[S. 110] sehen, ob ich der Sache nicht gleich auf den Grund kommen kann. Es muß etwas Schlimmes im Werke sein. Beten Sie zu den heiligen Schutzengeln!“

Mit diesen Worten entfernte er sich, sattelte das beste Reitpferd, stieg auf und jagte dem Paniflusse zu.

Als er sich dem oft genannten Steinwalle näherte, wurde er einiger dunklen Gestalten ansichtig, die sich vor dem Reiter verbergen zu wollen schienen. Er gab seinem Tiere die Sporen und hatte bald das Häuflein der Wegelagerer erreicht. Es waren genau diejenigen, welche vom Spaziergange nicht mit heimgekommen waren.

„Sofort nach Hause!“ donnerte er streng. „Wer in zwanzig Minuten nicht da ist, kann sich auf eine gehörige Strafe gefaßt machen. Was Ihr bis jetzt verdient habt, sage ich Euch heute Abend.“

Dann wandte er sein Pferd, ließ die verblüfften Attentäter mit ihrem Schrecken allein und galoppierte dem Bahnkörper zu, wo er seiner Anweisung an Percy zufolge auch noch etwas zu entdecken hoffte. Bald hatte er den Bahndamm in Sicht. Was auf der hohen, scharf abgegrenzten Linie desselben in Bewegung war, ließ sich leicht erkennen, da es sich vom Firmamente deutlich abheben mußte. So brauchte P. Middleton nur ein paar Minuten in der Nähe über die Prärie hinzureiten, um den eilenden Harry zu gewahren. In einem Augenblick war er bei ihm.

„O P. Middleton!“ rief der hemdärmelige Läufer, „Gott sei Dank, daß Sie kommen! Der arme Percy ist halbtot vor Müdigkeit. Ich bin vorangelaufen, um Hilfe zu holen. Tom ist bei ihm, nur vielleicht zehn Minuten von hier.“

[S. 111]

„Warum habt Ihr denn nicht den kürzeren Weg über die Prärie genommen?“

„Weil — ja, weil Percy das nicht wollte.“

„So, so, Percy wollte das nicht! — Und wo ist Deine Jacke geblieben?“

„Meine Jacke? Die wird mir Tom wohl mitbringen. Percy hat noch darauf geschlafen, als ich wegging.“

„Gut, Harry! Geh’ jetzt zurück, daß Du Deine Jacke wiederbekommst.“

Er verdoppelte seine Eile und war schnell bei Tom, der schon recht unsicher unter seiner Bürde daherschritt.

„Bravo, Tom! Bravo! Du bist ja selbst schon müde zum Umfallen. Ist Percy bewußtlos?“

„O, ich bin ganz wohl, Pater!“ rief Percy, so laut die kraftlose Stimme noch rufen konnte. „Guten Abend, Pater!“

„Kannst Du ihn mir heraufreichen, Tom?“

„Gewiß,“ sprach der kleine Träger und keuchte heran. „Er ist gar nicht besonders schwer.“

P. Middleton nahm ihn vor sich und setzte ihn, so gut es ging, zurecht.

„Armes Kind!“ sprach er mitleidig. „Und ich selbst trage noch die Schuld daran. Es hätte mir doch einfallen müssen, daß Du schon so müde warest. Ich hätte Dich nicht sollen gehen lassen.“

„O, Sie konnten mir nichts Lieberes thun, Pater, als mich gehen lassen. Um keinen Preis möchte ich diesen Gang missen.“

„Tom,“ fuhr der Präfekt fort, „Du gehst jetzt zu Harry, der gerade so müde ist wie Du. Ihr braucht[S. 112] nicht rasch zu gehen. Percy und ich sind vor Euch zu Hause und wollen sorgen, daß noch ein gutes Abendessen für Euch bereit steht. Nicht wahr, Percy?“

Percy lächelte schwach.

„Wenn Ihr anlangt, begebt Ihr Euch gleich zur Infirmerie. Der Krankenbruder soll Euch heute zu Gast haben. Laßt es Euch nur ordentlich schmecken! — Ah, Harrys Jacke! Da, gieb sie ihm!“

Dann sprengte er in einem sanfteren Schritt, der seinem leidenden Gefährten nicht unangenehm war, zum Kolleg zurück. Dort lenkte er zur Thüre der Infirmerie, stieg ab und trug seinen Schützling in die Abteilung, welche für die Kleinen bestimmt war.

„Bruder, hier ist ein Junge, der mal probieren wollte, wie weit er laufen könnte, ohne sich umzubringen.“ Dabei legte P. Middleton den Knaben sanft auf ein Bett nieder. „Sie sehen, er ist sehr schwach und bedarf etwas, um wieder auf die Beine zu kommen.“

Der Bruder begab sich in seine Apotheke und kehrte mit einem Glase Wein zurück.

„Nimm das, Kleiner, dann wird es gleich besser. — Es freut mich übrigens, daß Du kommst,“ fuhr er fort, während Percy langsam den stärkenden Trank zu sich nahm. „Seit vierzehn Tagen ist niemand mehr hier gewesen, und es wird mir beinahe langweilig.“

„Diesen Abend wird’s Ihnen nun jedenfalls nicht langweilig werden, Bruder,“ sprach P. Middleton. „Ich habe noch zwei andere hierher bestellt: Quip und Playfair. Sie haben Percy brav geholfen und sind fast so müde wie er.[S. 113] Sie hoffen bei Ihnen bis morgen Kost und Obdach zu finden. Für diese Gäste dürfen Sie heute auch etwas mehr aufwenden.“

„O, natürlich, Pater,“ erwiderte der Bruder herzlich und rieb sich die Hände. „Ein Abendessen sollen sie haben, wie noch niemals, seit sie in Maurach sind.“

„Gut also. Ich habe noch einige wichtige Sachen in Ordnung zu bringen, Bruder. Deshalb will ich mich zurückziehen und Ihnen alles Weitere überlassen. — Gute Nacht, Percy!“

„Gute Nacht, P. Middleton. Meine Schwestern hätten nicht gütiger sein können, als Sie gewesen sind, ja nicht einmal meine Mutter.“

Der Pater lächelte, als er sich ohne weitere Entgegnung rasch entfernte. Ich vermute, er beeilte sich deshalb so sehr, weil er ein Erröten sich nicht wollte anmerken lassen.

Die Zöglinge hatten den Speisesaal schon wieder verlassen und spielten auf dem Hofe.

P. Middleton ging jedoch nicht zu ihnen, sondern in sein Zimmer, und ließ Kenny zu sich rufen.

Nachdenklich setzte er sich an seinen Tisch, stützte den Kopf auf beide Hände und suchte nach dem Faden, der die Ereignisse dieses bewegten Tages verknüpfte.

„Was weiß ich nun eigentlich?“ sprach er zu sich selbst. „Heute Morgen platzt Tom mit diesen nämlichen Jungen zusammen — dann sehe ich die verdächtige Munkelei im Hofe — es muß sich um etwas ungewöhnlich Niedriges gehandelt haben, sonst hätte sich Skipper nicht von ihnen losgesagt, und Skipper war auch am[S. 114] Nachmittag nicht mit dabei — dann Percy mit seinem rätselhaften Unterfangen, das ihn nahezu ruiniert, — und zu welchem Zweck? damit die beiden nicht auf dem vorgehabten Wege heimkehren — ich treffe die Bande an einer Stelle, wo Playfair und Quip vorbeigekommen wären, wenn Percy sie nicht gewarnt hätte — man hat auf sie gelauert — aber was sollte ihnen wohl geschehen — und wer ist das eigentliche Haupt der Verschwörung — doch vielleicht erfahre ich das jetzt.“

Es klopfte.

„Herein!“

Kenny, totenblaß, betrat das Zimmer.

„Ah, da ist er! Das ist eine saubere Geschichte, Kenny. P. Scott hat Euch diesen Morgen Euer Betragen schon vorgerückt. Ich glaube aber, von der Wirklichkeit hatte er gar keine Ahnung. — Was kannst Du zu Deiner Verteidigung vorbringen?“

„Der Anschlag geht ganz gewiß nicht von mir aus, Pater,“ beteuerte Kenny, der mit Recht fürchtete, man werde ohne weiteres ihn in erster Linie verantwortlich machen. „Ich schäme mich fürchterlich, Pater, daß ich nachgab. Aber ich hatte nicht vorausgesehen, daß eine so schrecklich kalte Nacht folgen würde.“

„Oho, kalte Nacht!“ sprach der Präfekt zu sich selbst. „Playfair sollte also draußen die Nacht zubringen. Gar nicht übel, das! Aber wie?“ Mit lauter Stimme fuhr er fort: „Daran hättest Du aber denken müssen. Die beiden hätten sich ja eine schwere Krankheit zuziehen können!“

„Ich habe das auch immer entgegen gehalten und[S. 115] habe gesagt, man sollte ihnen wenigstens den Mund nicht verstopfen. Aber Prescott wollte nichts davon wissen. Er sagte, sie machten dann einen solchen Lärm, daß alles in die Brüche ginge.“

„So?“ P. Middleton wußte genug. „Ich will mir den Fall weiter überlegen. Du kannst gehen.“

„Aber, Pater, seien Sie überzeugt, daß ich mich bessern will. Haben Sie noch einmal Geduld mit mir! Ich weiß, daß ich mich bessern kann, wenn ich will. O, bitte, Pater, sorgen Sie doch, daß ich nicht weggejagt werde! O, ich hätte nie gedacht, daß es so weit mit mir kommen würde. Ich versichere Sie, es soll anders werden.“

„Nun ja,“ erwiderte P. Middleton, bewegt durch die Reue und die Angst, welche aus des Knaben Zügen sprach. „Ich will versuchen, ob sich etwas für Dich thun läßt; versprechen kann ich Dir freilich nichts, denn alles hängt von jemand anders ab. Morgen gebe ich Dir Nachricht, und ich hoffe, gute.“

„O, ich danke Ihnen, Pater! Ich will Ihnen in Zukunft folgsamer sein, als bis jetzt.“

„Hab’ mir’s doch gedacht!“ fuhr P. Middleton bei sich selber fort, als Kenny das Zimmer verlassen hatte. „Prescott ist der Hauptschelm; Kenny war nur die Tatze, die er vorstreckte. Wahrscheinlich hat er seinen Leuten eingeredet, es werde niemand fortgeschickt, weil ihrer zu viele seien. Er muß einen großen Einfluß auf sie besitzen, sonst hätten sie sich zu dieser Gemeinheit nicht hergegeben. Sein Hiersein ist eine ständige Gefahr für den guten Geist unserer Kinder. — Mein[S. 116] Gott! so weit ich denke und gehört habe, ist ein ähnlicher Fall doch noch nie in einem unserer Pensionate vorgekommen.“

Unterdessen begingen die drei Freunde in der Infirmerie, wie Harry sich auszudrücken beliebte, eine ‚hochfein altehrwürdige Zeit‘. Tom und Harry hatten einen gar nicht zu verachtenden Appetit von ihrer Exkursion mitgebracht, und was ihnen vorgesetzt wurde, war ebenfalls nicht zu verachten. Wie der Toast verschwand! und die Eier und der Schinken! Man darf nicht weiter davon reden, um die Braven nicht in üblen Geruch zu bringen. Percy allerdings war zu sehr ermüdet, um dem Mahle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sein Geist jedoch war ganz frisch und mit gewohnter Lebhaftigkeit nahm er, in einem großen Lehnstuhle sitzend, an der Unterhaltung teil.

Der gute Krankenbruder hatte die Geschichte dieses Nachmittags bereits von Percy vernommen, zwang aber nichtsdestoweniger Tom, sie noch einmal zu erzählen. Endlich bewog er Harry, noch eine dritte Auflage zu veranstalten. Das wurde freilich keine verbesserte — die erste war die beste gewesen — aber eine ganz bedeutend vermehrte. Harrys Phantasie offenbarte eine staunenswerte Fruchtbarkeit. Eine ganze Reihe von Einzelheiten, von denen Tom und Percy nichts erlebt hatten, erfand er fröhlich dazu und erzählte sie so haarklein, als ob er wirklich mit dabei gewesen wäre. Tom und Percy wußten ihrem Staunen keinen Rat und hatten alle Mühe, ihn bei den Thatsachen zu halten, wodurch natürlich das Vergnügen des Bruders nur um so größer wurde.

[S. 117]

„Die Geschichte ist so gut, als stände sie in einem Buche,“ sprach er zuletzt. „Und hätte ich Zeit, ich würde sie aufschreiben, herausgeben und viel Geld damit verdienen.“

Harry Quip war überhaupt heute so lustig wie noch nie. Eine Schnurre nach der anderen fiel ihm ein, so daß der Saal von dem heitern Lachen der kleinen Gesellschaft fortwährend widerhallte.

Endlich jedoch wurde die Unterhaltung stiller.

„Wißt Ihr auch,“ fragte Percy ernst, „daß ich dies als eine Strafe meiner Eitelkeit ansehe?“

„Meinst Du Dein Essen?“ warf Quip mit schelmischem Blicke ein.

„Nein, Harry! Du scherzest; ich meine die Schmerzen in meinen Beinen!“

„Warum denn?“

„Weil ich früher, wenn ich mit meinen Schwestern tanzte, auf meine Geschicklichkeit sehr eitel zu sein pflegte. Aber jetzt werde ich mir,“ fügte er schmerzlich bei, „nie wieder etwas auf meine Beine einbilden.“

„Nach dieser reuevollen Bemerkung,“ erklärte der Bruder, „dürft Ihr ganz passend zu Bette gehen.“

Die übrigen Zöglinge saßen wieder im Studiersaal hinter ihren Büchern. Allein ein rechter Eifer war offenbar nicht vorhanden. Eine gewisse Unruhe herrschte im ganzen Saale, und war für jeden, der zu schließen verstand, ein Zeichen, daß irgend ein peinlicher Vorfall sich ereignet habe und noch seines Ausganges harre.

Mehrere Zöglinge, die wir sehr wohl kennen, fehlten. Der Aufsicht führende Pater wollte vorschriftsmäßig[S. 118] eben ihre Namen notieren, als die Thüre sich öffnete und P. Middleton eintrat. Leise ging er zu dem Pater hin und fragte in flüsterndem Tone:

„Ist Martin Prescott hier?“

„Nein. Sehen Sie dort: sein Platz ist unbesetzt.“

Wo war Prescott geblieben?

Um das zu erforschen, müssen wir zurückkehren zu der Zeit, da Kenny von P. Middleton schied, während die Zöglinge noch im Hofe spielten.

15. Kapitel, Schlussvignette

[S. 119]

Kopfvignette des   16. Kapitels

16. Kapitel.
Percys Pult.

K

Kenny hatte das Zimmer seines Präfekten als ein ganz anderer Mensch verlassen. Jetzt endlich war es ihm sonnenklar, daß der Weg, den er in dieser Anstalt bis jetzt gewandelt, sehr schnell bergab führe. Bei dem Lichte, das ihm die heutigen Ereignisse gebracht, erschrak er wieder und wieder über die Tiefe, in die er bereits gesunken.

Da er keine Lust hatte, zu seinen spielenden Kameraden zu gehen, so trat er in den leeren Studiersaal, um hier das Ende der Erholung abzuwarten.

Als er eben die Schwelle überschritt, störte ihn das Klappen eines Pultdeckels aus seinen Gedanken auf. Er erhob die Augen und gewahrte Prescott, der neben Percy Wynns Pulte stand und sehr verwirrt aussah.

„Ich suche meine lateinische Grammatik,“ sprach Prescott. „Es muß sie mir jemand gestohlen haben.“

„Prescott, ich fürchte, Dir geht es schlimm,“ erwiderte Kenny, ohne auf diese Worte einzugehen. „Ich wollte Dich eigentlich nicht anzeigen; aber ich[S. 120] war so voll Angst, daß ich glaube, ich habe alles ausgeschwätzt. Du thust mir leid, aber was mir am meisten leid thut, ist, daß ich mich überhaupt mit Dir abgegeben. Ich wollte, ich hätte Dich nie gekannt.“

„So,“ versetzte Prescott mit einem befremdlichen, ja unnatürlichen Tone. „Ich sehe mich dann während des Studiums nach meiner Grammatik um.“

Und mit einem sonderbaren kalten Ausdruck im Gesicht, einem Ausdrucke, den Kenny erst nach den Begebenheiten, die wir jetzt sehen werden, ganz verstand, eilte Prescott aus dem Saale fort.

Kenny sah ihn während des Studiums nicht. Da fielen ihm seine Worte bezüglich der lateinischen Grammatik wieder ein und ließen einen schrecklichen Verdacht in seiner Seele aufsteigen.

Jetzt trat P. Middleton ein und sprach mit dem Pater jene Worte, die den Schluß des letzten Kapitels bilden. Dann ging er auf Kennys Platz zu.

„Weißt Du etwas von Prescott?“ flüsterte er.

„Nein. Aber als ich gerade aus Ihrem Zimmer kam, sah ich ihn hier. Er behauptete, es müsse ihm jemand seine lateinische Grammatik gestohlen haben; die suche er jetzt.“

„Suchte er in den Pulten anderer?“

„Ja. So schien es mir wenigstens. Er hatte gerade eines wieder geschlossen.“

P. Middleton begab sich ruhig zu Prescotts Pult, öffnete es und übersah die Bücher: die lateinische Grammatik war da. Unverändert blieb das Gesicht des Präfekten. Er wußte ja, das jegliches Auge im ganzen Saale auf ihn gerichtet sei.

[S. 121]

Er kehrte zu Kenny zurück.

„Wessen Pult schloß Prescott, als Du ihn sahest?“

„Das von Percy Wynn.“

„Gut. Jetzt, Karl, geh’ hinaus und erwarte mich auf dem Gange. Ich komme bald und habe Dir dann höchstwahrscheinlich etwas zu sagen. — Du brauchst keine Angst zu haben,“ fügte er bei, als er bemerkte, daß Kenny böse Kunde befürchtete. „Ich habe Deinetwegen schon mit dem hochwürdigen P. Rektor gesprochen. Es geht alles gut.“

Er ging jetzt zu Percys Pult. Percy besaß, wie die meisten Mauracher Zöglinge, ein schönes, verschließbares Kästchen aus Metall zur Aufbewahrung von Briefen, Geld und etwaigen kleineren Wertsachen. Dieses Kästchen stand offen, es war aufgebrochen worden. Ein Blick zeigte, daß die Briefe nicht berührt waren, aber eine Anzahl Photographien lag da zerrissen — die Photographien von Percys Eltern und Schwestern.

„Das arme Kind!“ dachte P. Middleton. „Diese Gefühllosigkeit ist ihm bitterer als der Verlust von noch so viel Geld. Gäbe es doch ein Mittel, ihm diese traurige Entdeckung zu ersparen! — Vielleicht ist ihm aber auch Geld gestohlen! Richtig! heute Morgen sprach er ja von dem Taschengeld, das er noch in seinem Pulte habe. Und hier ist nichts mehr.“

Er schloß das Pult und verließ den Saal.

„Wir müssen den Verdacht hegen,“ sprach er zu dem draußen harrenden Kenny, „daß Prescott zu einem ganz andern Zwecke hier im Saale war, als[S. 122] er vorgab. Er ist weggelaufen, wie Du wahrscheinlich auch schon vermutet hast. Erzähle das niemanden! Sage, er sei aus der Anstalt ausgeschlossen, was vor einer Viertelstunde wirklich geschehen ist. Auch daß Du ihn hier gesehen, darf nicht bekannt werden. Jetzt geh’ nur zu Deinen Büchern zurück!“

Nach einem kurzen Besuche beim Rektor verfügte sich P. Middleton wieder auf sein Zimmer, um nachzusinnen, wie er Percy Wynn vor einem herben Schmerze bewahren könne. Endlich glaubte er einen Ausweg gefunden zu haben. Er ergriff die Feder und schrieb folgenden Brief:

Sehr geehrter Herr Wynn!

Percy besaß, wie Ihnen ohne Zweifel bewußt ist, eine Anzahl Photographien seiner Lieben. Diese Photographien sind ihm nun zerrissen worden, und zwar von einem Knaben, der — ich schäme mich, es zu sagen — bis vor einer Viertelstunde Zögling dieser Anstalt war. Percy selbst weiß es noch nicht. Ich fürchte aber, die Entdeckung dieser Roheit würde dem gefühlvollen Kinde sehr zu Herzen gehen. Deshalb sende ich Ihnen die Stücke zu mit der Bitte, die Photographien neu herstellen und an mich abschicken zu lassen. Auf diese Weise braucht Percy nie zu erfahren, daß dieses teure Andenken an ein glückliches Familienleben so grausam mißhandelt worden ist.

Mit vorzüglicher Hochachtung
A. Middleton, S. J.

Als der Brief vollendet war, schellte es zu einer kurzen Unterbrechung der Studien. P. Middleton eilte hinaus, und als der letzte Zögling den Saal verlassen, trat er an Percys Pult, nahm das Kästchen[S. 123] heraus und trug es in sein Zimmer. Allein die Zöglinge waren heute gegen ihre sonstige Gewohnheit sehr still, und in Gruppen beisammen stehend flüsterten sie geheimnisvoll miteinander.

Gegen Ende der kleinen Erholungsfrist näherte sich Donnel mit etwa fünf andern dem Präfekten.

„Ist es wahr, Pater, daß Prescott geschaßt ist?“

„Das ist wahr, Johann. Ich hoffe, er ist auch der letzte, der dieses Jahr fort muß.“

Er zog seine Schelle hervor und gab das Zeichen zum Schlusse der Erholung.

„Ich denke,“ fuhr Johann Donnel fort, „er wird bei diesem herrlichen Wetter nicht auf der Plattform stehen, sondern sich fein im Wagen halten. Puh, welch ein kalter Wind diese Nacht pfeift! — Er hat doch den Sieben-Uhr-Zug genommen, Pater, nicht wahr?“

„Lauf, Donnel, es ist Zeit!“ war die Antwort des Präfekten.

Aber Donnels Frage wollte ihm nicht aus dem Sinne. Sollte Prescott wirklich den bezeichneten Zug benutzt haben?

Nach dem Diebstahl hatte er sich aus Furcht vor Entdeckung jedenfalls nicht für die gewöhnliche Art der Reise entschieden; er war schlau genug, um zu vermuten, daß ihm ein Telegramm vorauseilen, und daß auf der nächsten Station schon ein Polizist zu seinem Empfange bereit stehen könne.

Viel mehr Wahrscheinlichkeit hatte es für sich, daß er zu Fuß nach Sykesville gegangen war, einem Orte, der nicht ganz zwei Stunden von Maurach entfernt lag. Das[S. 124] Kolleg mußte er etwa um viertel vor sieben verlassen haben, konnte also viertel vor neun in Sykesville sein.

„Wenn er es so gemacht hat,“ sprach P. Middleton zu sich selbst, während er auf die Uhr sah, „so ist er jetzt da. Wenn aber das nicht — was wird dann der arme Junge wohl bei dieser Witterung zu leiden haben?“

Er begab sich in die Infirmerie, wo die drei Freunde zum Abendgebete neben ihren Betten knieten. Percy stand auf, als er bemerkte, daß der Pater mit ihm reden wolle.

„Wie viel Geld hattest Du in Deinem Kästchen, Percy?“

„Fünfzehn Dollars.“

„Ich fürchte, Percy, Du bist bestohlen worden.“

„O! wirklich? Der Dieb ist doch wohl kein Zögling?“

„Leider scheint es doch der Fall zu sein. Ich vermute Prescott. Er ist weggelaufen, nachdem er Dein Kästchen erbrochen und das Geld genommen hat.“

„O, der Arme! Er thut mir so leid! Welch ein trauriges Leben muß er doch geführt haben, daß er eine solche Sünde begehen konnte!“

„Freilich, Percy. Aber das Geld! Dein Geld!“

„O Pater, an dem Gelde liegt mir nichts. Mein Vater schickt mir Geld wieder, wenn ich ihn nur bitte. Aber der arme, arme Junge thut mir so leid. Wie unglücklich muß er sich jetzt fühlen!“

„Erzähle dies jetzt niemanden, Percy! Auch daß er weggelaufen ist, darf niemand erfahren. Er ist aber zugleich geschaßt worden, und das weiß man unter[S. 125] den Zöglingen. Im übrigen wollen wir seinen Ruf schonen, soviel es noch möglich ist.“

P. Middleton, das gleicht Ihnen nun so ganz. Sie nehmen stets Rücksicht auf andere. Ich hätte hieran gar nicht gedacht. Ich wäre hingegangen und hätte jedem in die Ohren gerufen, Prescott sei ein Dieb und ein Ausreißer. Ich danke Ihnen sehr, Pater. Sie haben mir durch Ihr Beispiel eine heilsame Lehre gegeben.“

Hätte unser kleiner Freund gewußt, was für ein Brief an seinen Vater noch auf P. Middletons Tische lag, er würde die aufmerksame Rücksichtnahme seines Präfekten noch dankbarer bewundert haben.

„Noch eines, Percy. Dein Kästchen habe ich mit in mein Zimmer genommen. Das Schloß war ja erbrochen, und auch sonst war es arg beschädigt. Hast Du etwas dagegen, daß ich es Dir erst zurückstelle, wenn alles wieder in Ordnung ist?“

„O gar nichts, Pater! Behalten Sie es, so lange Sie wollen, eine Woche, einen Monat, behalten Sie es nur ganz.“

Mit einem Lächeln wünschte P. Middleton seinem braven Zögling gute Nacht.

16. Kapitel, Schlussvignette

[S. 126]

Kopfvignette des   17. Kapitels

17. Kapitel.
Wie P. Middleton den Flüchtling findet.

J

Je weiter die Nacht voranschritt, um so kälter wurde es, und um so weniger wollte es P. Middleton gelingen, den Gedanken an den Entflohenen aus seinem Kopfe zu verbannen. Immer sicherer wurde es ihm, daß Prescott die Eisenbahn nicht benutzt haben könne. Auf dieser Voraussetzung arbeitete seine Phantasie weiter und malte ihm die schauerliche Lage vor, in welcher sich der Unglückliche jetzt befinde. Da er den gewöhnlichen Weg nach Sykesville jedenfalls vermied, so konnte es leicht geschehen, daß er sich verirrte und alle Aussicht verlor, in der Nacht den Ort noch zu erreichen. Wo sollte er dann aber Unterkunft und Schutz gegen die schneidende Kälte finden? Ja würde er überhaupt Unterkunft suchen? er, der in seiner Art schlau und gerieben war und alles vermied, was bei einer Verfolgung auf seine Fährte bringen konnte?

Um elf Uhr ging P. Middleton endlich zur Ruhe. Allein seine Einbildungskraft scheuchte allen Schlaf von seinen Augenlidern weg. Stunde um Stunde verging, ohne daß er einzuschlummern vermochte. Beständig folgte sein Geist den Schritten des gewissenlosen, unglücklichen Wanderers.

[S. 127]

Um vier Uhr endlich stand er wieder auf, verließ den Schlafsaal und ging in einem einsamen Teile des Hauses ein paarmal auf und ab.

„Ich halte es nicht mehr aus. Ich muß dem armen Jungen nachgehen. Vielleicht kann ich ihm doch helfen. — Aber soll ich wirklich den P. Rektor wecken?“

Er begab sich an einen Ort, wo er das Fenster des Rektors sehen konnte. Es war erleuchtet.

„Gott sei Dank! — Aber der hätte doch wenigstens schlafen sollen!“

Er ging und klopfte an.

„Herein!“

Der Rektor erhob sich von den Knieen und sah den Eintretenden erstaunt an.

P. Middleton, was führt Sie denn zu dieser Stunde her? Nach dem gestrigen Tage könnten Sie die Ruhe doch gebrauchen.“

„Hochwürden, ich habe die ganze Nacht noch kein Auge geschlossen vor Sorge um den Prescott. Stets kommt mir die Idee und will mich nicht verlassen, er sei bei dieser Kälte ohne Schutz draußen. Wollen Sie mir nicht erlauben, ihm nachzureiten? Um neun Uhr kann ich zurück sein, um meine Klasse zu halten.“

Einen Augenblick überlegte der Rektor, wobei er zugleich aufmerksam in das bekümmerte Antlitz seines Untergebenen sah.

„Gut! Gehen Sie! Aber unter einer Bedingung!“

„Welcher, Hochwürden?“

„Daß Sie gleich nach Ihrer Rückkehr in ein Fremdenzimmer gehen und sich schlafen legen. Ich will Ihre Klasse halten und will sorgen, daß Sie auch[S. 128] auf dem Spielplatze Vertretung erhalten. Keine Entschuldigung, mein Lieber! Sie haben für die Zöglinge zu sorgen, ich für die Patres. Sie brauchen Ruhe, Pater. Wenn Sie mir um neun Uhr nicht schlafen, schicke ich Sie für eine Woche zur Erholung aus dem Hause. In der letzten Zeit haben Sie sich zu sehr angestrengt.“

„Jetzt bitte ich Ew. Hochwürden noch um Ihren Segen. Ich fürchte sehr, ich schlafe um neun Uhr nicht, wenn ich den Jungen nicht auffinde.“

Er kniete nieder vor dem Manne, in dem er schon als Zögling einen väterlichen Erzieher verehrt hatte, und der ihm jetzt Gottes Stelle vertrat.

Andächtig erhob der Rektor seine Hände und sprach die Worte des priesterlichen Segens:

Benedictio Dei omnipotentis Patris et Filii et Spiritus Sancti descendat super te et maneat semper.

(Der Segen des allmächtigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes steige auf Dich herab und verbleibe über Dir immerdar.)

„Amen,“ sprach P. Middleton.

Als er sich erhob, begegneten sich die Augen beider in einem Blicke, der weitere Worte zwecklos machte.

Ein paar Minuten später trabte P. Middleton auf der festgefrorenen Straße nach Sykesville dahin und langte an, bevor es recht hell geworden war. Einiges Nachforschen führte ihn bald zu der Überzeugung, daß Prescott den Ort nicht betreten habe. Er mußte sich also wohl irgendwo zwischen Maurach und Sykesville befinden.

[S. 129]

P. Middleton kehrte demgemäß um, ritt von der Landstraße weit nach rechts und nach links ab und untersuchte vorsichtig jeden Busch und Strauch.

Die Dämmerung war indessen in jenes sanfte und milde Licht übergegangen, das ein unmittelbarer Vorbote des Sonnenaufganges ist.

Eine gute Strecke hatte P. Middleton zu beiden Seiten der Straße bereits mit ängstlicher Genauigkeit durchforscht, als er in der Ferne ein paar großer Heuschober ansichtig wurde. Sofort lenkte er sein Pferd dorthin und ritt langsam um sie herum.

Da lag Prescott, das Gesicht nach unten gekehrt. Mit herzlichem Dank gegen Gott sprang der Pater vom Pferde und hob den Bewußtlosen auf. Ein Ruf des Schreckens entfuhr seinen Lippen: Prescott war an Händen und Füßen gebunden und hatte einen Knebel im Munde. Das Schicksal, das er Playfair und Quip zugedacht hatte, war ihm selbst widerfahren.

17. Kapitel, Schlussvignette

[S. 130]

Kopfvignette des   18. Kapitels

18. Kapitel.
Die Erlebnisse des Ausreißers.

P

Prescott hatte eben Percys Geld eingesteckt und die Photographien zerrissen und wollte dessen Briefschaften das Gleiche widerfahren lassen, als das unerwartete Eintreten Kennys seinem Rachewerke ein plötzliches Ende bereitete.

Aus dem Studiersaal schlich er sich unbemerkt in den Garten, und es gelang ihm schließlich, durch ein Loch der Hecke, welche das Gebiet des Pensionates umfriedigte, zu entschlüpfen. Dann schlug er die Richtung nach Sykesville ein, indem er sich stets in der Nähe des Bahndammes hielt, der dorthin führte.

P. Middleton hatte ganz recht geahnt. Prescott fiel es nicht ein, den Zug zu nehmen oder sich vor Sykesville von irgend einem Sterblichen erblicken zu lassen. Er wollte erst eine beträchtliche Strecke zwischen sich und das Pensionat bringen und dann im Freien einen wenn auch noch so mangelhaften Unterschlupf ausfindig machen.

Er eilte ganz in ähnlicher Weise dahin, wie einige Stunden früher Percy. Eine Zeitlang lief er, ging langsam, bis er wieder bei Atem war, um abermals[S. 131] aus Leibeskräften zu rennen. Doch wie verschieden waren bei dieser äußeren Ähnlichkeit die inneren Beweggründe!

Alles war wohl überlegt. Allein an eines hatte der schlaue Dieb nicht gedacht: er hatte vergessen, seinen Überrock mitzunehmen. Jetzt merkte er, wie er durch das Laufen und schnelle Gehen sich immer mehr erhitzte, und daß die kalte Nacht ihm infolgedessen recht gefährlich werden könnte.

Noch eines hatte er außer acht gelassen: sein schlechtes Leben. Das Kleid, das die Seele schützt und warm hält, das gute Gewissen, besaß er nicht. Die schnell zunehmende Dunkelheit, die Stille der schwindenden Landschaft, die nur von dem Brausen des kalten Nordwindes unterbrochen wurde, erfüllten ihn mit trüben Ahnungen und weckten in seinem schuldbeladenen Herzen das Vorgefühl eines nahen Unglücks.

Anderthalb Stunden waren vorüber. Da sah er in der Ferne ein paar schwache Lichter schimmern. Dorthin durfte er noch nicht kommen. Er bog von seiner Richtung ab und ging oder stolperte aufs Geratewohl über die Prärie hin, um einen Ruheplatz zu erspähen.

Nachdem eine weitere halbe Stunde in fruchtlosem Umherirren vergangen, gewahrte er einen dunklen Gegenstand. Bei dem spärlichen Lichte, das vom Tage noch übrig war und das der Schein der Sterne matt verstärkte, hob sich derselbe noch schwach von der Prärie ab. Mit ein paar Schritten war Prescott ihm nahe genug und unterschied zu seiner höchst angenehmen Überraschung ein paar Heuschober. Alle Gewissensbisse[S. 132] und trüben Ahnungen verschwanden: ihm war geholfen. Wenn er sich in einen solchen Haufen verkroch, brauchte er weder Kälte noch Entdeckung zu fürchten.

Ohne Zögern tastete er unten am Boden den Rand des nächsten Schobers entlang, um etwa eine passende Höhlung oder wenigstens den Ansatz zu einer solchen zu finden. Wirklich traf er eine Öffnung, wie er sie wünschte. Er streckte die Hand weiter hinein, zog sie aber mit einem Rufe des Schreckens zurück.

Cospetto!“ ertönte eine Stimme. „Wer sein das?“ Im nämlichen Augenblicke tauchte ein wild aussehender Kopf aus dem Heu hervor.

Ohne Säumen gab Prescott Fersengeld. Allein der Edle, den er in seiner Nachtruhe gestört, war einer von jenen, die an rasche Entschlüsse und schnelles Handeln gewöhnt sind. Prescott war noch nicht hundert Schritte weit, als ihn eine starke Faust im Nacken ergriff.

Er schrie um Hilfe. Aber da schloß sich die Hand für einige Sekunden fester um seinen Hals, so daß dem unglücklichen Knaben fast die Zunge aus dem Munde trat.

„Pst!“ zischelte der Italiener. „Wenn nock ein Wort sagen, ick erwürgen.“

Dann schleppte er den Gefangenen wieder zu den Heuhaufen zurück.

„Jack, Jack!“ rief er leise, „werden wack!“

„Du ungeschlachter Ausländer,“ erwiderte ein gleich unheimlicher Geselle, der hinter einem Heuhaufen hervortrat;[S. 133] „ich bin ja längst wach. Was ist das für ein Vögelchen, das Du gefangen hast?“

Zugleich brachte er sein Gaunergesicht nahe vor Prescotts Antlitz und stierte ihn forschend an.

„Ich bin ein Waisenknabe und habe weder Vater noch Mutter,“ sprach Prescott, der sich von seinem Schrecken soweit erholt hatte, daß er wieder lügen konnte. „Ich bin ganz arm und suche nach Arbeit, um etwas zu verdienen. Es wurde mir so kalt; deshalb dachte ich, ich könnte hier wohl schlafen. Aber ich will gern weiter gehen, wenn Sie es wünschen.“

„Jack, was heißen ein Waisenknabe? Heißen es ein Mann von die Polißei?“

So unverständig diese Frage auch war, sie ließ den Gefangenen am ganzen Leibe erzittern. Er sah sich in der Gewalt von Leuten, die zu jeder Missethat fähig waren, die im Himmel und auf Erden nichts kannten, was ihrer Verbrecherlust Schranken setze, als die Polizei.

„Ein Waisenknabe, Du verbummelter Garibaldianer, ist ein Junge, dessen Eltern tot sind. Er hat’s Dir ja selbst gesagt.“

„Nickt schimpfen, Jack! Dies Junge haben bestohlen mich letztes Sommer. Ick sein Gesickt kenne.“

Prescott machte jetzt abermals eine verzweifelte Anstrengung, sich den Händen des Italieners zu entwinden; denn derselbe fing schon ohne Umstände an, seine Taschen zu untersuchen. Ein heftiger Schlag, den ihm der Amerikaner ins Gesicht gab, zeigte ihm die Vergeblichkeit seiner Mühe.

„Du kleiner Teufel! Wenn Du Dich noch einmal[S. 134] rührst oder den geringsten Laut von Dir giebst, drehen wir Dir den Hals um.“

Dann wühlten beide in den Taschen des Wehrlosen herum, unbekümmert um die Thränen der Angst und des Schmerzes, welche ihm die Wangen herabflossen.

„Ha, ich hab’s!“ rief der Amerikaner. „Du Lügner! Ich glaubte schon halb, Du hättest wirklich kein Geld. — Wahrhaftig! Der Flegel ist reicher als ein Lord.“

„Was viel?“ fragte der Diebsgesell, und seine schwarzen Augen blitzten.

„Dreizehn — vierzehn — fünfzehn Dollars! Nun, mein wertester Herr, überlassen wir Ihnen sehr gern die Heustöcke, ich den meinen für siebeneinhalb Dollar und mein Freund den seinen um den gleichen Preis. Es ist ein ganz billiges Unterkommen.“

Prescott schluchzte in hilflosem Zorne.

„Ah, und sein Uhr! Ick habe es! O, es ist schön, es ist wert swansick Dollars. — O Sie lieblick armes Waisenknabe, wir binden Sie jetzt Händkens und Füßkens zusammen, daß Sie können schlafen fester.“

„O binden Sie mich doch nicht! Ich will Sie ganz gewiß nicht verraten. Darauf will ich Ihnen einen Eid schwören. Lassen Sie mich nur gleich niederknieen.“

„Versprich nur, was Du willst, Du Lügner. Wir sorgen, daß Du Dein Wort hältst,“ versetzte der Amerikaner und stopfte Prescott ein schmutziges Tuch in den Mund. „Wir schieben Dich aber nicht unter das Heu; da fände man Dich vor dem nächsten Frühjahr[S. 135] nicht. Hier draußen bemerkt Dich schon eher eine Menschenseele. Es ist freilich ein wenig kalt; aber was können wir dafür? Wir haben ja das Wetter nicht gemacht. Später darfst Du dann alles erzählen, wozu Du Lust hast. — Jetzt gute Nacht! angenehme Ruhe!“

Mit diesem Spott entfernten sich die herzlosen Bösewichter und überließen den gebundenen Prescott der schneidenden Kälte, der düstern Nacht und — seinen eigenen Gedanken.

Seinen eigenen Gedanken! Gedanken an ein mißbrauchtes Leben, Erinnerungen an zahlreiche Sünden, Aussicht auf einen frühen, schrecklichen, einsamen Tod und das strenge Gericht eines Gottes, dessen Gnade er trotz seiner Jugend schon so oft geringgeschätzt hatte. Er sah schon die Teufel in der Nähe erscheinen, um seine Seele in den Abgrund zu zerren. Tropfen von Schweiß, von Todesschweiß traten auf seine Stirne, als Sünde um Sünde in ihrer ganzen unverhüllten Häßlichkeit sich dem Auge seines Geistes darstellte. Ja, manche seiner Vergehen, die an sich nicht so schwer waren, malte ihm der Teufel, dessen liebste Augenweide die Verzweiflung der Menschen ist, zu wahren Greuelthaten aus. Was Wunder, daß er immer schwächer und schwächer sich gegen die Einflüsterung wehrte, als ob für ihn keine Hoffnung mehr sei, als ob alles vorüber und er schon jetzt lebendig zur Hölle verdammt sei.

Doch auch eine andere Erinnerung erhob sich auf dem sturmbewegten Meere seiner Gedanken. Hatte nicht vor ein paar Tagen P. Middleton so eindringlich und ergreifend von der unendlichen Güte Gottes geredet?[S. 136] Damals hatten seine Worte Prescott freilich wenig gerührt; allein jetzt, da er ihrer bedurfte, da herbe, herbe Not sein Herz empfänglicher machte, kehrten sie so klar vor seine Seele zurück, als durchlebte er jene Stunde noch einmal.

P. Middleton hatte zuerst ein paar Worte der Wiederholung über die vollkommene Reue gesprochen, daß sie nämlich stets, auch ohne die Beichte, sofort die Sünden tilgt, daß man aber nachher die verziehenen Sünden beichten muß, wenn man Gelegenheit hat.

„Es ist also,“ schloß er, „die vollkommene Reue ein Mittel, das jeder Mensch zu jeder Stunde anwenden kann, um in den Stand der Gnade Gottes zu kommen, ein Mittel, das uns durch keine Macht entrissen wird. Ich möchte, daß Euch diese Wahrheit sehr klar würde und klar bliebe, damit Ihr sie in der Not anwenden könnet.“

„Angenommen — Riddel — Du hättest, seit Du den Gebrauch der Vernunft besitzest, stets in Sünden gelebt, keine wäre Dir vergeben, alle Deine Beichten wären gottesräuberisch gewesen. Nun erführest Du plötzlich, Du müßtest jetzt gleich hier in diesem Schulzimmer sterben. Würdest Du verzweifeln?“

„O nein, Pater. Ich bäte die Mutter Gottes, mir zu einem recht guten Akte der vollkommenen Reue zu helfen, und dann spräche ich von Herzen: ‚O mein Gott, alle meine Sünden bereue ich, weil ich Deine große Güte und Liebe beleidigt habe.‘ Nach diesen Worten überließe ich mich mit Vertrauen der Barmherzigkeit Gottes.“

„Aber — Forps — angenommen, Du hättest in[S. 137] Deinem ganzen Leben nie das geringste gute Werk gethan, dagegen lasteten alle Sünden, die von allen Knaben der Welt je begangen sind, auf Deinem Gewissen: was thätest Du, wenn es hieße, Du müßtest jetzt sofort sterben?“

„Ich erweckte einen Akt der vollkommenen Reue und vertraute auf die unendliche Kraft des Blutes Christi.“

„Whyte — ich will den Fall noch schwieriger machen. Mit all jenen Sünden auf Deiner Seele befindest Du Dich allein, verlassen, mitten auf dem Meere. Kein Priester ist da, der Dich absolvieren, kein Freund, der mit Dir beten könnte, und Du siehst voraus, daß Du in zwei Minuten versinken wirst.“

Whyte antwortete mit großer Zuversicht, die unwillkürlich aus den Worten des Lehrers in die seinigen übergegangen war:

„Ich würde doch mit Gottes Gnade einen Akt der vollkommenen Reue erwecken, wenn auch noch so kurz. Dann wollte ich untersinken, als sänke ich in die Arme Gottes; denn er ist überall.“

„Eine schöne Antwort, Whyte! — Aber — Quip — nimm an, Gott ließe Dich zur Strafe für so viele Sünden in eine abscheuliche Krankheit fallen. Infolgedessen treiben Dich Deine Verwandten fort in eine Wildnis. Da liegst Du hilflos am Sterben. Man sendet Dir noch einen Priester, aber von Schauder ergriffen vergißt er, was seine Pflicht gebietet, wendet sich ab von Dir und ruft laut, Gott habe Dich schon unwiderruflich verdammt. Würdest Du dann verzweifeln?“

[S. 138]

„Nein, mit Gottes Gnade würde ich nicht verzweifeln.“

„Es soll noch schlimmer werden. — Holden! — Während Du im Begriffe bist, in jener gräßlichen Verlassenheit Deine arme Seele auszuhauchen, erscheint Dir eine Bande von Teufeln, drängt sich um Dich und schreit laut, Deine Seele sei ihr Eigentum, sie kämen, um abzuholen, was ihnen gehöre. Würdest Du verzweifeln?“

Der Schüler zauderte.

„Ich — ich hoffe nicht.“

„Ganz recht, Holden. Aber weiter — Playfair! — um diesen Teufeln widerstehen zu können, rufst Du in Deiner schrecklichen Lage mit Inbrunst die Engel und Heiligen an. Sie antworten einstimmig, es sei zu spät, Du seiest verloren.“

„Ich würde es ihnen nicht glauben,“ erklärte Tom. „Gottes Wort steht höher als das, was die Engel und Heiligen sagen.“

„Hodder — wenn aber sogar Maria, die Mutter Gottes selbst Deine Bitten abwiese und sagte, Du seiest verdammt?“

„Dann glaube ich, ich würde verzweifeln.“

„So? warum denn?“

„Weil Maria eine viel zu gute Mutter ist, als daß sie mich täuschen könnte.“

„Kein übler Grund. Doch vielleicht hat jemand eine andere Antwort bereit.“

Eine lange Pause trat ein. Endlich erhob sich Playfairs Finger.

„Ich glaube nicht, Pater, daß die Mutter Gottes[S. 139] so etwas sagen würde. Sie ist ja die beste, liebreichste Patronin der Sünder. Sie wäre sicher die letzte, einen Sünder aufzugeben.“

„Sehr gut, Playfair. Allein um die Sache ganz zu durchschauen, wollen wir auch diesen unmöglichen Fall voraussetzen. Würdest Du verzweifeln?“

„Nein! Wahrhaftig nicht!“

„Warum nicht?“

Tom hatte keine Antwort.

„Glaubst Du etwa, Maria könnte und wollte Dich täuschen?“

Das mochte Tom weder bejahen noch verneinen.

„Wynn — würdest Du verzweifeln, wenn Dir Maria erklärte, es sei zu spät?“

„Nein. Sie könnte damit nur sagen wollen, es sei in dem Falle zu spät, daß ich versäumte, einen Akt der vollkommenen Reue zu erwecken. Wir wissen ja aus dem Glauben, daß jeder Mensch, so lange er lebt, hinreichend Gnade erhält, um sich zu retten. Darum darf niemand verzweifeln und braucht auch nicht zu verzweifeln.“

„Gut, Wynn. Das ist die letzte Antwort, die ich haben wollte. Übrigens habt Ihr alle brav geantwortet. — Ich will Euch jetzt noch zwei Aussprüche eines gelehrten Mannes vorlesen, welche hierzu passen. Der erste ist sehr kurz und lautet: ‚Am Tage des Gerichtes will ich lieber von Gott gerichtet werden, als von meiner eigenen Mutter.‘ Der andere ist über den Tod des Sünders: ‚Gott ist gegen jegliche Seele unendlich barmherzig. Was aber diejenigen angeht, die nicht zum Heile gelangen, so glaube ich, daß Gott[S. 140] zu Zeiten förmlich seine Vaterarme um diese Seelen schlingt und ihnen durch die Dunkelheit des Sündenlebens mit dem Strahlenauge seiner Liebe ins Antlitz schaut, so daß nur ihr überlegter böser Wille sie aus seinen Armen loszureißen vermag.‘ In diesen Worten habt Ihr ausgesprochen, wie unendlich, wie überaus zärtlich die Güte und Barmherzigkeit Gottes ist.“

Die ganze Unterhaltung lebte jetzt in Prescotts Geiste wieder auf. Erst jetzt dämmerte ihm das rechte Verständnis und er fing an, es begreiflich zu finden, wie damals, da Lehrer und Schüler sich so unmittelbar der tröstlichsten aller religiösen Wahrheiten gegenüber sahen, eine geheimnisvolle Ruhe gleich dem Frieden des Himmels von dem ganzen Raume Besitz nahm.

Noch an eine andere Unterhaltung erinnerte sich der Verlassene, während seine Arme und Beine bereits zu erstarren anfingen: an das Gespräch, das er am Morgen nach der Geistererscheinung mit Percy gehabt. War hier wirklich ein Engel bei ihm, sein eigener Engel? — Ein ganz unbekanntes Empfinden durchströmte ihn. Zum erstenmale seit langer Zeit redete er wieder zu seinem Gott und seinem Engel, und ein herzlicher Akt der vollkommenen Reue führte den verlorenen Sohn zum Vater zurück. Während er dann vor dem Allbarmherzigen sein Leid und seine Liebe aussprach, ihm dankte, daß er ihn auf so hartem Wege zu besserer Erkenntnis geführt, gewann die Kälte immer mehr Gewalt über seine Glieder, bis sie seinen ganzen Körper wie mit eisigen Banden einschnürte und dem Reuigen das Bewußtsein raubte.

Als er die Augen wieder aufschlug, sah er[S. 141] P. Middleton, der sich sorgenvoll über ihn beugte. Er befand sich in einer kleinen ländlichen Behausung. Neben dem Bette, in dem er lag, standen die Hausfrau und ein Arzt.

„Gott sei Dank, Martin, daß Du noch lebst. Der Herr Doktor sagt, wenn ich Dich eine Stunde später gefunden hätte, so wärest Du vielleicht nicht mehr zu retten gewesen.“

Auf ein Zeichen des Arztes näherte sich jetzt die Frau und reichte dem Kranken eine Schale mit kräftiger Fleischbrühe.

„Der arme Junge!“ flüsterte sie, als sie zurückgetreten. „Aber sein Gesicht ist jetzt anders geworden. Er sah viel sanfter und friedlicher aus, als ihn der Pater brachte.“

Auch P. Middleton hatte diesen Wechsel in Prescotts Zügen wahrgenommen.

„Er muß gebetet haben, als er die Besinnung verlor,“ war seine Erklärung, und sie entsprach der Wahrheit. Der Wandel, den die vollkommene Reue in Prescotts Seele hervorgebracht, hatte sich auch seinem Antlitz mitgeteilt. Sobald jedoch die Besinnung wiederkehrte, trat die frühere Angewöhnung in ihr längst erobertes Recht, und der edle Ausdruck eines Betenden wich den Mienen eines Knaben, der seit Jahren kaum je eine bessere Regung in sich hatte aufkommen lassen. Jahre edleren Denkens und Handelns mußten erst vergehen, bevor die frühere Roheit aus diesen Zügen verschwand.

Seine Gesinnung freilich war schon jetzt eine andere geworden. Der Knabe, der hier voll Verwunderung[S. 142] in P. Middletons gütige Augen emporsah und sich bemühte, alles, was um ihn vorging, zu reimen, war nicht mehr der Knabe von gestern. Der Prescott von gestern war wirklich tot.

„Ja, junger Herr,“ sagte die Frau, „Sie können sich glücklich schätzen, daß Sie einen solchen Lehrer besitzen. Hätte er Sie nicht in seinen Mantel gehüllt, während er selbst halb tot fror, und hätte er Sie nicht nachher ohne Unterlaß gewärmt und gerieben, bis der Herr Doktor kam — wer weiß, ob Sie noch lebten!“

Prescott ergriff P. Middletons Hand und küßte sie.

„Die gute Frau übertreibt stark, Martin!“

„O nein, Herr Pater! Alles, was ich sage, ist wahr. Wenn Sie einen von Ihren Zöglingen ganz besonders gern haben, so ist es sicher dieser.“

„Pater, kann ich Sie allein sprechen?“ flüsterte Prescott.

Als der Arzt und die Frau sich zurückgezogen hatten, gab er dann einen umständlichen Bericht all seiner traurigen und schließlich doch so gnadenreichen Erlebnisse.

„Deine Erzählung,“ sprach P. Middleton zuletzt, „reicht hin, mir für mein ganzes Leben den Unterricht zur liebsten Beschäftigung zu machen.“

Er suchte dann Prescott auf eine harte Eröffnung vorzubereiten. Der Arme mußte wenigstens zwei Finger verlieren, einen an jeder Hand. Für die übrige Zeit seines Lebens war er ein Krüppel.

„Ich will es gern leiden,“ sprach er bei dieser Mitteilung. „Ich habe viel Böses gethan, und ich hoffe, Gott nimmt dies zur Buße für meine Sünden an.“

[S. 143]

„Noch eine andere peinliche Nachricht wartet Deiner, Martin. Du — Du darfst nicht ins Pensionat zurückkehren.“

„Das habe ich gar nicht gehofft, Pater. Es wäre ja Sünde, einen offenkundigen Dieb unter den Zöglingen zu lassen.“

„Offenkundig ist es nicht, Martin. Percy Wynn und ich sind im ganzen Hause die einzigen, die darum wissen. Du kannst Dich darauf verlassen, daß nichts verlauten wird. Ich darf noch weiter gehen: Percy will das Geld nicht von Dir zurückverlangen und verzeiht Dir alles. Und wenn ich Deine Geschichte in der Klasse erzähle, so bin ich sicher, daß jeder nur mit Liebe an Dich zurückdenken wird.“

P. Middleton, das habe ich nicht verdient!“

„Solltest Du an Percy schreiben, so erwähne nicht, daß Du ihm seine Photographien zerrissen hast. Er weiß das nämlich nicht und wird es auch, hoffe ich, nie erfahren. Ich sorge, daß ihm die gleichen Photographien von Hause geschickt und heimlich zugestellt werden. — Jetzt muß ich gehen. Es ist acht Uhr und um neun soll ich zurück sein. Da nimm diese fünf Dollar, armes Kind. Diesen Abend bist Du so weit hergestellt, daß Du auf den Zug gehen kannst. Ich telegraphiere Deinem Vater, daß er Dich am Bahnhofe abholt. Die Auslagen für den Arzt und Deine Wirtin sind schon beglichen. So, jetzt lebe wohl, Martin!“

Prescott ergriff die dargebotene Hand und bedeckte sie mit Küssen.

[S. 144]

„O lieber Pater,“ schluchzte er, „ich kann nicht sagen, wie — wie — — Gott sei mir gnädig!“

P. Middleton war tief bewegt.

„Wir sehen uns wieder, Martin. Ich werde täglich für Dich beten und ich will Dir auch schreiben, wenn Du es wünschest.“

„Danke, Pater!“ war das einzige Wort, das der Kranke hervorzupressen vermochte.

„Adieu, Martin!“

Prescott wandte sein Gesicht ab und weinte, als ob ihm das Herz brechen wollte.

18. Kapitel, Schlussvignette

[S. 145]

Kopfvignette des   19. Kapitels

19. Kapitel.
Ruhe nach dem Sturme.

A

Als Percy am Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und leuchtete hell durch die Fenster der Infirmerie. Er wollte aufstehen, fand aber zu seinem Erstaunen, daß er nicht einmal fähig war, sich im Bette aufzurichten.

Ruhig schickte er sich in seine Lage, machte das Kreuzzeichen und verrichtete sein Morgengebet. Bald trat auch der Bruder ein und brachte auf einem Speisebrett ein reichliches Frühstück.

„Was Du ein fauler Junge bist!“ schalt er lächelnd. „In Deinem Alter solltest Du doch vor der Sonne heraus sein. Tom und Harry sind längst fort. Hurtig aufgesprungen! Lauf ein paarmal durch den Hof, um Dir Appetit fürs Frühstück zu holen!“

„Der Geist ist willig, Bruder, aber das Fleisch ist schwach,“ erwiderte Percy. „Auf meinen Appetit dürfen Sie auch nicht stark zählen.“

Der Bruder half ihm in eine sitzende Lage und brachte ein Krankentischlein, das über sein Bett reichte, herbei.

[S. 146]

„So,“ sprach er, indem er das Frühstück hinstellte, „nimm wenigstens etwas! Und je mehr, desto besser.“

„Bruder, ich möchte Sie noch etwas fragen. Glauben Sie nicht es sehe sonderbar aus, wenn ein Junge, so alt und so groß wie ich, mit langen, wallenden Haarlocken herumläuft?“

„Vielleicht sieht es hübsch aus,“ erwiderte der Bruder freundlich. „Aber auf jeden Fall ist es in diesem Hause etwas Ungewohntes.“

„Das meine ich auch. Für Mädchen mag es ganz passend sein, aber nicht für Knaben. Es ist einem ja auch beim Spiele oft hinderlich. Wenn ich es nicht hätte, ließe ich nicht so viele Bälle vorüberfliegen, obgleich ich solche Butterfinger habe, wie Tom sagt. Ich will es mir schneiden lassen. Man soll nicht meinen, ich sei stolz.“

„Sehr gut!“ versetzte der Bruder, der sein Vergnügen über das naive Bekenntnis nur schlecht verhehlen konnte. „Und ich selbst will Dich scheren, sobald Du wieder hinaus darfst.“

Percy nahm indessen einiges zu sich. Als er sich wieder zurücklegte, klopfte es an der Thüre, und herein trat — niemand anders als Karl Kenny.

„Der Tausend! Kenny! Du bist da?“ rief Percy überrascht. „Bitte, setz’ Dich doch zu mir! Bringe gefälligst einen Stuhl von dort mit; ich bedaure unendlich, daß ich Dir nicht mehr Aufmerksamkeit erweisen kann.“

Diese höflichen Worte sprach der Invalide mit ungeheuchelter Herzlichkeit und mit der Feinheit und Würde eines geborenen Prinzen.

[S. 147]

Kenny, durch den unerwarteten Empfang ein wenig verblüfft, that ohne ein Wort der Erwiderung nach Percys Bitte, nahm einen Stuhl und setzte sich etwas beklommen und verlegen neben das Bett.

„Ich bin gekommen, Percy,“ begann er, „weil ich Dich um Verzeihung bitten wollte. Ich schäme mich unaussprechlich und bin Dir sehr dankbar, daß Du unsern niederträchtigen Plan vereitelt hast. Darf ich Dich bitten, mir die Hand zu reichen?“

„Hier! Schlag ein! Es freut mich außerordentlich, Deine Freundschaft zu gewinnen. Es ist ja wohl zum größten Teile meine Schuld gewesen, daß Du bis jetzt nichts von mir wissen wolltest. Ich bin ein so sonderbarer Mensch; ich stolzierte umher wie ein Pfau und that, als wäre ich überhaupt kein Junge. Jetzt begreife ich aber sehr gut, warum mich alle neckten und am Haare zupften und es mir zuweilen vor die Augen schlugen, wenn ich den Ball schnappen wollte. Sie hatten die Absicht mich zu bessern. In der That, meine einzige Verwunderung ist nur, daß sie mich nicht noch mehr geplagt haben.“

Eine solche Einfalt und Herzensgüte, die auch an offenbaren Beleidigungen noch eine gute Seite fand und selbst die Bedränger als Wohlthäter liebte, war für Kenny ein blaues Wunder.

„Ist Dir das ernst?“ fragte er erstaunt.

„Gewiß, natürlich ist mir das ernst. Es ist meine feste Überzeugung. — Aber sag’ mir, Kenny, Du hast doch keine Strafe erhalten?“

„Noch nicht, obgleich ich eine gründliche verdient habe. P. Middleton hat für mich Fürbitte eingelegt.[S. 148] Ich will mich jetzt aber ernstlich bessern. — Und Playfair, denk’ Dir, kommt heute Morgen, so früh es nur ging, zu mir und bittet mich, ihm die Hand zu geben!“

„O das gleicht ihm so,“ rief Percy voll Begeisterung. „Er ist der beste Junge, den ich je gesehen. Wenn der heilige Pankratius noch lebte, ich wette, er wäre nicht anders als Tom.“

„Er ist ein famoser Kerl,“ versetzte Kenny bedächtig. „Dem Quip bin ich dann aber glücklich zuvorgekommen, wie es ja recht und billig war. — Ich wollte, ich hätte solche Jungen gleich kennen gelernt, anstatt mit dem Prescott anzubinden. Du weißt, er ist geschaßt, nicht wahr?“

„Ich hörte gestern Abend so etwas.“

Kenny erzählte dann, wie man Prescott am vorigen Abend in der Erholung sowie im Studiersaale vermißt habe, daß aber P. Middleton später ausdrücklich mitgeteilt habe, er sei aus der Anstalt entlassen.

„Ach, der arme Schelm!“ sprach Percy mitleidig. „Wir müssen oft für ihn beten. — Aber welch ein Schmerz wird dieses für seine Mutter sein!“

„Er hat keine Mutter mehr. Seine Mutter ist schon während seiner ersten Kindheit gestorben.“

„O mein Gott, mein Gott! Kein Wunder, daß er nicht recht brav war. Wenn meine Mutter und meine Schwestern nicht für mich gesorgt hätten, ich wäre sicher ein sehr böser Mensch. Ich möchte oft weinen, wenn ich an die vielen unglücklichen Kinder denke, die ohne die Sorge einer Mutter aufwachsen und auch sonst niemand haben, der ihnen Mutterstelle vertritt. Sie sind in einer überaus traurigen Lage.“

[S. 149]

„Das ist allerdings sehr wahr.“

„Und nun erst diejenigen,“ fuhr Percy fort, „die noch dazu keine Religion haben. Ach, sie besitzen keine Mutter auf der Welt und keinen Vater im Himmel und wissen nichts von der allerseligsten Jungfrau und Mutter Maria, die sie in der Not anrufen können.“

„Percy, ich will mich jetzt auch zum Eintritt in die Marianische Kongregation melden. Bis jetzt habe ich die Mutter Gottes nicht verehrt, wie ein Christ es thun sollte. Im letzten Jahre habe ich meinen Rosenkranz kaum gebraucht.“

„Wirklich?“ erwiderte Percy betroffen. „Dann konnte es nicht ausbleiben, daß Du in schlechte Gesellschaft gerietest.“

„Freilich nicht. Aber in den letzten vierundzwanzig Stunden habe ich vieles gelernt. Es soll anders werden, und ich hoffe, es wird auch anders.“

„Ich auch, Kenny, und dazu, daß wir beiden gute Freunde werden.“

Auf dem Spielplatze war heute nach dem Frühstück nur wenig Leben. Die meisten Zöglinge hatten sich in zwei Gruppen, deren Mittelpunkte Tom und Harry bildeten, zusammengeschart und horchten mit gespannter Aufmerksamkeit ihren Worten. Diese beiden aber boten all ihre Beredsamkeit zum Lobe Percys auf.

„Ich dachte immer,“ schloß Tom seinen Vortrag, „dieser Wynn hätte auch nicht das mindeste von einem rechten Jungen an sich und wäre höchstens ein rechtes Mädchen. Aber jetzt sollte es mich freuen, wenn ich nur halb so viel von einem Jungen an mir hätte wie er.“

[S. 150]

Vor der Schule wurde Tom zum P. Studienpräfekten oder Direktor gerufen, um zu seiner angenehmsten Überraschung zu erfahren, er solle mehrere Schulstunden einstweilen nicht besuchen, sondern während derselben Percy in der Repetition der lateinischen Grammatik behilflich sein. Eine erwünschtere Nachricht hätte beiden kaum werden können.

Percy hatte in den zwei Monaten, während welcher er die Schule besuchte, zwar schon manches gelernt, sich gemerkt und auch in der Grammatik nachstudiert. Doch wie staunenswerte Fortschritte der begabte, fleißige und geistig gewandte Schüler auch gemacht, es war für ihn eine bare Unmöglichkeit gewesen, in dieser kurzen Zeit das Pensum hinreichend zu bewältigen, für welches seine Klassengenossen ein ganzes Jahr ernsten Unterrichts gebraucht hatten. Er wußte zwar vieles, hatte aber außer den Deklinationen noch keinen der verwickelteren Abschnitte im Zusammenhange durchgenommen.

Das konnte jetzt mit Muße geschehen. Tom wußte seine Grammatik und hatte zudem noch frisch im Gedächtnis, auf welche Art und Weise sein hochverehrter Lehrer Middleton im vorigen Jahre verfahren war. Er suchte das jetzt treulich nachzuahmen, obgleich es ihm oft herzlich schlecht gelang. Nach dem Erfolg zu urteilen, war jedoch seine Unterrichtsweise vortrefflich. Sehr bald hatte sein gelehriger Schüler die Pronomina gut verstanden. Es folgten zur Abwechslung einige Zählübungen: 222 Köpfe von 222 Füchsen, oder: 3131 Pferde haben 3131 Schwänze und 12524 Beine. Aber[S. 151] Percy ließ sich mit dergleichen Fußangeln nicht oft fangen, sobald er einmal die Grundregeln begriffen hatte.

„Wenn Du so weiter lernst, bist Du bald gelehrter als ich,“ sprach Tom nach einiger Zeit.

Percy aber lernte so weiter und wurde auch richtig gelehrter als sein jüngerer Herr Professor.

Nicht selten wurde Percy auch durch einen Besuch von P. Middleton beehrt.

„Nun, wie geht’s dem Schnellläufer?“ Mit dieser Frage trat er eben wieder ein.

„O, vortrefflich! Pater. Alle Welt ist so gut und liebevoll gegen mich. Sehen Sie nur, was für einen feinen Lehnstuhl mir der Bruder heute gebracht hat! Ich merke, daß es fast stündlich besser wird. Gestern konnte ich schon etwas gehen, und ich glaube, nach acht Tagen sind meine Beine wieder gerade so gut, oder eigentlich gerade so schlecht, wie früher.“

„Aber es wird Dir wohl oft langweilig, nicht wahr?“

„O nein, Pater! Tom kommt ja immer, um mir Stunden zu geben. Wir haben schon viel miteinander durchgenommen, und ich weiß alles gut. Die Pronomina, die Komparation und auch die Zahlwörter kann ich. Tom sagte, die Pronomina seien so schwer zu verstehen. Aber ich fand sie leicht, weil ich früher sehr viel englische Grammatik studiert habe. Nur die Konjugation ist noch ein gutes Stück Arbeit. — Wenn ich vom Studieren müde bin, lese ich ‚Dion und die Sibyllen‘, das mich ganz an ‚Ben Hur‘ erinnert. Diese beiden Bücher gefallen mir sehr.“

„Die Liebe zu guten Büchern, Percy, ist eine ungemein wertvolle Gabe. Der Mensch ist meistens nicht[S. 152] besser als die Bücher, die er liest, oder die Leute mit denen er umgeht.“

„Dasselbe habe ich schon oft von meiner Mutter gehört. Sie sagte auch oft, von Natur seien alle Kinder gut und hätten eine Neigung zum Edlen und Rechten. Wenn sie aber unter bösen Leuten und Kindern lebten, oder wenn sie nachher schlechte Bücher läsen, fingen sie an, alles von der falschen Seite anzusehen, von der ‚linken Seite‘ pflegte sie zu sagen.“

„Hätten doch alle Mütter im ganzen Lande solche Ansichten, Percy!“

„O Pater, auf Weihnachten wird meine Mutter kommen; dann will ich Sie ihr vorstellen. Es wird ihr große Freude machen, Sie kennen zu lernen.“

„Meinst Du?“

„O sicher. Ich wollte meine Schwestern kämen alle mit. Dann könnten Sie die auch sehen. Die sind alle so gut und lieb, aber doch nicht liebevoller, als Sie, Pater, gegen mich gewesen sind.“

„Gute Nacht, Percy! Weil ich an Komplimente nicht gewöhnt bin, so ziehe ich es vor, mich jetzt aus dem Staube zu machen. Wenn Du aber für mich beten willst, so ist mir das sehr angenehm.“

„O, das thue ich schon längst, Pater. Ich bete jeden Tag für Sie, und alle meine Schwestern müssen mir dabei helfen; die können viel besser beten als ich.“

„Sehr gut, Percy! Gute Nacht!“

Voll Verwunderung über die herzliche, ungekünstelte Einfalt dieser Worte zog sich P. Middleton zurück.

19. Kapitel, Schlussvignette

[S. 153]

Kopfvignette des   20. Kapitels

20. Kapitel.
Noch im Krankenzimmer.

P

Percys Befinden hatte solche Fortschritte gemacht, daß man ihn im Grunde als wiederhergestellt betrachten konnte. Nur der Vorsicht halber wurde er noch ein paar Tage zurückbehalten.

Auch diese Zeit verstrich, und Tom Playfair trat ein, um seine letzte Privatstunde zu geben. Er fand Percy beschäftigt mit dem Lesen eines Briefes.

„Ah, Tom, Du kommst gerade recht. Ich habe einen schönen Gruß an Dich auszurichten.“

„Du? an mich einen Gruß? Von wem denn?“

„Von meiner Schwester Maria. Hör’ nur, was sie schreibt: ‚Sage Deinem herrlichen Freunde Tom Playfair, daß wir alle voll Dankbarkeit gegen ihn sind, weil er unserm Bruder so viel Güte und Liebe erwiesen hat. Wenn Gebete und Segenswünsche ihm nützen können, so soll es daran nicht fehlen.‘ — Und hier ist noch etwas für Dich, Tom.“

Er überreichte Tom ein feines, kostbares Bildchen, eine Darstellung der Mutter Gottes.

„Das ist ein Geschenk von Minchen.“

[S. 154]

„Minchen?“

„Ja, das ist die jüngste, erst sechs Jahre alt. Sie bittet Maria, mir zu schreiben, daß niemand Tom Playfair lieber hat als sie, höchstens etwa Maria; und selbst diese Ausnahme ist ihr noch zweifelhaft. Wenn sie nächstens wieder zu wenig Zucker erhält, will sie weglaufen und es Tom Playfair erzählen. Sie hat immer so drollige Einfälle, Tom! Zuweilen hält sie förmliche Reden. Für sechs Jahre ist sie merkwürdig gescheit.“

„Wenn schon das kleine Ding Reden hält,“ dachte Tom, „wie gescheit müssen dann erst die übrigen sein! Sollte je eine sich hier blicken lassen, dann mache ich mich schleunigst davon.“

„Ich habe noch einen andern schönen Brief,“ fuhr Percy fort.

„Von welcher Schwester?“

„Von keiner Schwester; von Prescott. Er entschuldigt sich, daß er mir nicht eher schrieb. Allein er habe bis jetzt seine Hand nicht gebrauchen können. Doch seien seine Füße gerettet und auch sonst habe der Arzt keine Besorgnis mehr.“

„Eine sehr angenehme Nachricht, Percy. Aber der arme Kerl muß jetzt sehen, wie er sein ganzes Leben lang mit zwei Fingern weniger auskommt. Was schreibt er sonst?“

„Er bittet mich um Verzeihung und wünscht sehr, daß ich für ihn bete.“

„Das kommt ihm von Herzen. Mir hat er nämlich auch geschrieben. Ich erhielt den Brief gestern beim Abendessen. Er richtet an mich dieselbe Bitte, und[S. 155] durch mich an Quip, aber in einer solchen Weise, daß ich beim Lesen rot wurde und den Brief nachher gleich zerriß.“

„So?“

„Jawohl. Es stand noch darin, er nehme jetzt Privatunterricht, um auf Ostern wieder eine Schule besuchen zu können. Die gründliche Lektion, die er erhalten, hat ihn doch zur Vernunft gebracht.“

„‚So hart war Gott, um gütig sein zu können,‘“ warf Percy ein.

„Woher mag er nur diese Sprüche haben?“ dachte Tom, und fuhr dann laut fort:

„Percy, Du hast etwas an Dir, das mich oft wunder nimmt.“

„Wirklich? Das ist mir neu. In der letzten Zeit habe ich Dich nie mehr erstaunt gesehen, ich mochte thun und sagen, was ich wollte. Ich dachte, Du hättest Dich ganz an mich gewöhnt.“

„In manchen Punkten ist dem auch so. Aber eines kann ich mir noch nicht erklären. Wenn sonst neue Zöglinge in diese Anstalt kommen, so überfällt sie fast immer in den ersten Tagen Heimweh, das oft ganz schrecklich ist und ihnen alle Heiterkeit nimmt. Bei Dir dagegen habe ich so etwas fast gar nicht bemerkt.“

„Das ist auch wirklich merkwürdig, Tom. Als ich von meinen Verwandten Abschied nahm, hatte ich vor dem Heimweh große Furcht; aber es ist nicht gekommen. Einige Umstände machen das jedoch begreiflich. Zunächst wurde ich gleich mit sehr braven, teilnahmsvollen Zöglingen bekannt, die mich so brüderlich behandelten, daß ich mich oft vor mir selber schämte; so etwas hatte[S. 156] ich nicht verdient. Dann kamen die vielen Spiele, dann das Fischen und Schwimmen —“

„Und Klettern,“ warf Tom ein.

Percy lachte.

„Das war alles für mich eine ganz neue Welt. Es war so schön und gefiel mir so, daß ich fürs Heimweh keine rechte Zeit hatte.“

„Jawohl,“ fuhr Tom fort. „Das konnte ausreichen, solange Du gesund und wohl warest. Aber hier in der Infirmerie hörte die angenehme Abwechselung auf. Ich dachte, Du bekämest sicher Heimweh, aber ich habe Dich niemals betrübt gesehen.“

„O, ich habe ja immer studiert und gelesen. Während man lateinische Grammatik treibt, kann man doch kein Heimweh haben!“

Tom erwiderte nichts, aber er schien zu fühlen, daß Percys stete Heiterkeit hiermit nicht genügend erklärt sei. Percy bemerkte das und sprach nach kurzer Überlegung:

„Nun ja, Tom, Dir will ich es ganz erzählen. Ich habe einen Freund, der mich nie verläßt, und mit dem ich spreche, so oft mich Traurigkeit anwandelt. Sieh’, hier ist sein Bild!“

Er zog eine kleine, reich verzierte Kapsel hervor und enthüllte vor Toms Augen ein anmutiges Herz-Jesu-Bildchen.

Toms Antlitz drückte die unverkennbarste Freude aus.

„Das ist ein herrlicher Gedanke!“ rief er.

„Nicht wahr? Ich habe mehr als einmal erfahren, wie ein paar Worte mit dem Herzen Jesu mir wieder Freude und Mut einflößten.“

[S. 157]

„Ich selbst mache es übrigens ähnlich,“ entgegnete Tom und zog ein ziemlich abgenutztes Skapulier des göttlichen Herzens aus der Tasche. „Es ist nicht viel daran zu sehen. Aber wenn ich ärgerlich oder brummig werden will, oder wenn beim Studieren die Ermüdung kommt, so greife ich in die Tasche und erfasse es. Das bringt mich regelmäßig wieder in Ordnung. — Was nun unsere Stunden angeht,“ fuhr Tom fort, „so haben wir jetzt das meiste durch, das Du wissen mußt, und werden heute gut fertig. Den Rest kannst Du Schlauberger ganz gut neben der Klasse nachstudieren.“

„Du scherzest, Tom. Aber ich bin wirklich ganz zufrieden, daß ich diese Zeit fürs Latein frei bekommen habe. Seit ich etwas mehr davon weiß, bekomme ich Lust daran. In den andern Fächern habe ich doch nichts verloren.“

„Morgen kommst Du also wieder heraus. Wir spielen jetzt Fußball; das ist das rechte Spiel für den Winter.“

„Ah, das ist wohl das Spiel, bei dem man einen so großen, dicken Ball braucht, der dann so hoch durch die Luft fliegt, nicht wahr?“

„Freilich. Die Regeln lernst Du bald.“

„Das muß lustig sein!“

Acht Tage später langte für Tom ein kleines Packetchen an. Es enthielt in einer zierlichen Kapsel ein Herz-Jesu-Bildchen, genau so, wie dasjenige Percys. Ein beiliegender Zettel enthielt die Worte: Gruß von Maria Wynn.

20. Kapitel, Schlussvignette

[S. 158]

Kopfvignette des   21. Kapitels

21. Kapitel.
Fußball.

A

Am folgenden Morgen ging also Percy, und zwar mit kurzgestutztem Haar, zum erstenmale wieder in den Hof. Ein wahrer Sturm der Freude erhob sich. Alles scharte sich um ihn und drängte sich in seine Nähe, um ihm die Hand zu schütteln. Die Ehre, die ihm in solcher Fülle zu teil wurde, und zugleich die Furcht, er möchte ohne sein langes Haar doch vielleicht sonderbar aussehen, machten ihn so verlegen und verwirrt, daß er gar nicht wußte, was anfangen. Johann Donnel bemerkte dieses peinliche Gefühl, zwängte sich mit Anwendung seiner überlegenen Körperkraft zu Percy durch, hob ihn auf und trug ihn hinaus mitten auf den Spielplatz.

„Hurra, Jungens! anfangen!“ rief er. „Percy gehört zu meiner Partei.“

Zugleich begann er als Anführer seinen Leuten die Posten anzuweisen.

[S. 159]

Auf den beiden Schmalseiten des Spielplatzes standen die zwei Ziele, jedes in Gestalt eines geraden griechischen Π und etwa zwei Meter hoch.

Jede Partei hat nun zunächst ein solches Ziel zu verteidigen, das heißt zu verhüten, daß der Ball durch dasselbe fliegt. Zugleich aber muß sie womöglich den Ball durch das Ziel der Gegner treiben.

Wenn der Ball nach einem Schlage den Boden wieder berührt hat, darf er nur noch mit dem Fuße geschlagen werden. Bevor er den Boden berührt hat, ist es erlaubt, ihn zu schnappen, mit der Faust zu schlagen oder auch mit ihm davonzulaufen, ihn zu ‚schleppen‘. Wollte man ihn jedoch in diesem Falle mit dem Fuße schlagen, so müßte er erst auf den Boden gelegt werden.

Dieser kurze Inbegriff der Spielregeln, wie sie in Maurach gültig waren, wurde Percy von Tom auseinandergesetzt, während dieser ihn auf seinen Posten, in der Mitte zwischen beiden Zielen, geleitete.

„Jetzt merk’ Dir das!“ schloß er. „Im Anfange triffst Du den Ball überhaupt nie, Du magst es versuchen, so oft Du willst. Das schadet unserer Partei aber nicht, weil Du so weit vom Ziele weg bist. Auch näher beim feindlichen Ziele würde es nicht schaden; allein da könnte es Deinen Schienbeinen im Gedränge schlimm ergehen.“

„Aber stände ich nicht besser recht nahe bei unserm Ziele?“

„Keineswegs. Wenn Du dort nur ein einziges Mal vorbeischlügest, könntest Du uns das ganze Spiel verderben. — So, jetzt weißt Du alles. Nur immer gut aufgepaßt! — Komm’ jetzt zurück, bis angeschlagen ist! Donnel hat den ersten Schlag.“

Die Parteien nahmen ihre Anfangsstellung ein: zwanzig Schritte vor ihrem Ziele in einer geraden[S. 160] Linie, die quer über den Spielplatz ging. Donnel stand etwas vor seiner Partei, und vor ihm auf dem Boden lag der Ball.

„Fertig?“ rief er.

„Fertig!“ war die Antwort Keenans, der die Gegenpartei kommandierte.

Donnel trat zurück, nahm einen Anlauf, und der Ball flog wirbelnd hoch in die Luft.

Das Bild von Leben und Bewegung, das jetzt folgte, spottet jeder Beschreibung. Percy war vor Staunen ganz außer sich. Einen Augenblick zuvor sah er sich noch inmitten einer Knabenreihe, die fast lautlos und regungslos einer zweiten gleich ruhigen Reihe gegenüberstand; nur die Augen aller regten sich erwartungsvoll oder waren auf Donnel und den Ball gerichtet.

Sobald aber der Ball emporstieg, brach ein lauter Ruf der Begeisterung aus mehr als hundert lustigen Kehlen, und mehr als hundert Knaben rannten in einem für Percy unentwirrbaren Durcheinander über den ganzen Platz hin.

„Vorwärts, Percy!“ rief Tom, der sich dem verwunderten Neuling näherte. „Nicht in die Sterne gucken! Auf Deinen Posten!“

Damit ergriff er ihn beim Ärmel und zog ihn ohne Umstände in die Mitte des Platzes.

Alles dieses geschah, während der hochgeschleuderte Ball noch in der Luft war. Er flog gerade auf das feindliche Ziel los, aber Kennedy, einer der feindlichen Zielwächter, eine große, dünne Stange, erwischte ihn noch zur rechten Zeit.

[S. 161]

„Schleppen! Schleppen!“ riefen seine Kampfgenossen.

„Hinwerfen! Hinwerfen!“ schreien unsere Leute — der Einfachheit halber wollen wir Percys Partei „die unsrige“ nennen — und laufen mit geflügelter Eile auf ihn zu.

Kennedy war offenbar kein geübter Spieler, denn er zauderte; wer aber beim Fußball zaudert, der ist verloren. Langsam entschloß er sich zum ‚Schleppen‘. Allein schon nach wenigen Schritten war Donnel bei ihm und schlug ihm mit geschickter Hand den Ball zwischen den Armen weg, daß er hoch empor flog.

Jetzt galt es, den Ball durch Keenans Ziel zu treiben. Als derselbe wieder den Boden berührte, waren die Unsrigen schon in großer Zahl zur Stelle, und, angefeuert von ihrem Hauptmann und seinen Offizieren, machten sie die größten Anstrengungen, den Ball durch die Masse ihrer Gegner hindurchzubringen.

Aber auch Keenans Leute setzten alle Kraft und Behendigkeit ein, den Ball von ihrem bedrohten Ziele abzuhalten.

Währenddessen stand Percy an seinem Platz und wunderte sich baß, wohin wohl der Ball gekommen sein möge. Man sah nichts als ein dichtes Gewühl von Knaben, schiebend, springend, rufend, mit den Füßen schlagend, alles mit großem Eifer, aber nicht aufgeregt, erst recht nicht zornig. Der Ball dagegen war verschwunden.

Tom, dessen Posten sich nicht weit von demjenigen Percys befand, war inzwischen nicht in Anspruch genommen[S. 162] und benützte die Muße, um Purzelbäume zu schlagen. Da näherte sich Percy mit der Frage:

„Wo ist der Ball geblieben, Tom?“

„Das möchte eben ein jeder gern wissen.“

„Aber meiner Treu, Tom!“ fuhr Percy fort und schüttelte die Locken zurück, die er nicht mehr hatte. „Ist es möglich, daß eine solche Menge Knaben sich so zusammenpressen kann? Wie viele sind es wohl?“

„Alle, mit Ausnahme von Dir, mir und unsern sechs Zielwächtern, mehr als neunzig. — Jetzt Augen auf! Der Ball kann jeden Augenblick hierhin fliegen.“

Das Drängen und Drücken währt fort.

„Hinaus damit!“ rufen die Feinde.

„Drin halten! Drin halten!“ erwidern die Unsern.

„Playfair, komm’ hierher!“ rief Donnel schließlich durch das Kampfgetöse. „Bring’ die Zielwächter mit, nur zwei laß dort! Der Ball muß drin bleiben.“

„Bleib’ hier, Percy!“ sprach Tom in Eile und schrie dann zu seinem Ziele gewandt: „Alle Zielwächter mit heran! Nur Hodder und Skipper da bleiben!“

Allein bevor dieses Kommando aus Toms Munde war, stieg der Ball in kühnem Fluge mitten aus dem Knäuel empor. Das Schicksal wollte, daß er gerade auf Percy zuschwebte, der ihm mit zagender Scheu entgegensah.

Schrecken erfüllt die Unsrigen.

„Wieder zum Ziele! Rasch!“ schreit Donnel seinen Zielwächtern entgegen.

Die Feinde jubeln, aber ein Freudenschrei übertönt sogleich ihren Triumph. Tom Playfair hat Percys Unfähigkeit nicht vergessen. Wie der Blitz[S. 163] ist er vor ihm, erhascht den Ball noch einen Fuß über dem Boden und fegt jetzt, den Ball in den Armen, bereits auf Keenans Ziel los.

So schnell waren diese Vorgänge einander gefolgt, daß diejenigen Spieler, die sich in der Mitte des Gedränges befunden hatten, noch nicht wieder kampfbereit waren. Tom hatte also nicht sehr viele Feinde zu gewärtigen.

„Lauft ihm in den Weg! Haltet ihn auf! Schlagt ihm den Ball weg!“ erscholl es von allen Seiten.

Allein Tom war nicht nur ein flinker Läufer, er wußte namentlich glatt und gelenkig allen, die ihm entgegentraten, zu entwischen. An dreien war er vorbei. Einen vierten umlief er und rannte dabei — gegen seine Absicht — einen fünften um, daß er sich kugelte. Jetzt war es die höchste Zeit, denn die Hauptmasse der Feinde war nahe an ihm. Er warf den Ball hin, um ihn schlagen zu dürfen — bum — der Ball flog zu Keenans Ziele. Tiefbetrübtes „O“ begann zu klingen, wurde aber sogleich zu einem hellen Freudenrufe — der Ball flog über das Ziel.

Keenan lief und holte den Ball zurück. Nach den Regeln hatte er jetzt von einem bestimmten Platze aus das Recht eines „freien Schlages“, das heißt, niemand durfte ihn belästigen, so lange er den Ball noch in den Händen hielt.

Als der Ball wieder im Spiele war, fing das Rennen und Jagen von neuem an.

Doch diesmal scheint er sich nicht zwischen den unruhigen Beinen eines Knabengewirres verlieren zu wollen. Man läßt ihn nicht einmal zu Boden fallen.[S. 164] Von Hand zu Hand oder, besser gesagt, von Faust zu Faust geschlagen, schwebt er beständig über den Köpfen der Spieler. Der eine will ihn mit kräftigem Schlage dem feindlichen Ziele zusenden, da springt ein anderer hoch empor, hält ihn auf und schlägt ihn ebenso kräftig zurück. Minutenlang währt dieses Schauspiel.

Da endlich berührt der Ball den Grund. Aber ein starker Tritt Keenans treibt ihn über die Köpfe der ‚Faustkämpfer‘ gerade auf Percy zu, der ihn zur allgemeinen, vornehmlich aber seiner eigenen Verwunderung schnappt.

„Hurra!“ schrie Tom. „Lauf’, Percy, und schlag’ ihn, sobald Dir einer zu nahe kommt!“

Percys Augen leuchteten vor Eifer und Aufregung. Er blickte nach Keenans Ziele, wohin er ja laufen mußte. Aber der Weg dorthin war noch von atemlos durcheinanderrennenden Knaben erfüllt. Nach der andern Seite war alles frei.

„Hurra!“ schrie er und rannte, was er rennen konnte — auf sein eigenes Ziel los.

„Halt, Percy! Halt! Zurück! Nach der andern Seite!“ rief Tom.

Allein seine Worte verschwanden in dem allgemeinen Lärm. Percy lief dahin wie einer, der sich voll bewußt ist, daß ein edles Ziel die Anspannung all seiner Kräfte verlangt.

Weil auf dieses Verfahren rein niemand gefaßt war, so traf Percy auf seinem Wege nicht viele Hindernisse. Dreien seiner eigenen Leute entwischte er glücklich und stand bald nur noch sechs Schritte vor seinem[S. 165] Ziele. Dort begegnete er Harry Quip und blieb stehen.

„Was muß ich mit dem Balle thun, Harry?“

„Mir geben!“ war die hastige Antwort.

Harry nahm ihn, legte ihn nieder und ließ ihn dann in hohem Bogen mitten auf den Spielplatz zurückfliegen.

„O! warum thust Du das?“

„Percy, es kommt hier nicht darauf an, den Ball auf irgend eine Weise irgendwohin zu schlagen oder zu tragen. Man muß suchen, ihn durch das Ziel der Feinde zu bringen. Du hast jetzt gegen uns gespielt. Du liefst so schnell mit Deinen lahmen Beinen, daß wir Deinetwegen beinahe verloren hätten.“

„O! wirklich? das thut mir unendlich leid. Ihr müßt Geduld mit mir haben. Ich will nie wieder so dumm spielen.“

Nachdem also seine Ideen in diesem Punkte sich etwas geklärt hatten, begab er sich wieder auf seinen Posten.

Kaum stand er da, als sich abermals ein wirres, erregtes Geschrei erhob.

„Fangt ihn! Ihm voraus! Aufhalten! Den Ball wegschlagen! Hurra, Keenan hat ihn!“

Diese Rufe tönten lärmend und bunt durcheinander, während Keenan, den Ball fest in die Arme geschlossen, sich gewaltsam einen Weg bahnte, keuchend und atemlos auf unser Ziel zueilend.

Keenan war eine kleine Gestalt, aber mit Muskeln von Eisen, und rennen konnte er wie keiner. Mit der Unwiderstehlichkeit eines Mauerbrechers stürzte er[S. 166] voran. Einige wagten einen schwachen Versuch, ihn festzuhalten, aber man sah es ihnen an, daß sie wenig Mut und geringe Aussicht hatten.

Jetzt naht er sich Tom, und dieser, dem nicht so leicht das Herz in die Schuhe fällt, eilt ihm kühn entgegen. Keenan will ihn vermeiden, aber Tom, nicht weniger behend, ergreift ihn am Arme und läßt nicht los. Keenan setzt seinen Weg fort, Tom mit sich schleppend, ja fast tragend.

Die Aufregung hat jetzt den Höhepunkt erreicht und wird so ansteckend, daß sie selbst Percy ergreift. Auch er rennt auf Keenan zu und will ihn fassen. Allein Keenan entschlüpft ihm, und statt seiner erwischt Percy Tom. Das doppelte Gewicht ist für Keenan zu schwer; er strauchelt, fällt, und der Ball entrollt ihm. Rasch erhebt sich Tom, ein wohlgezielter Schlag bringt den Ball zu Donnel, der ihn mit einem gleichen Schlage, bevor die überraschten Feinde wieder zur Besinnung gekommen sind, durch Keenans Ziel treibt.

So hat Percy, ohne auch nur den Ball treffen zu können — erst nach Wochen war er im Besitze dieser Kunst — einen ganz wesentlichen Teil zur Erringung des Sieges beigetragen.

21. Kapitel, Schlussvignette

[S. 167]

Kopfvignette des   22. Kapitels

22. Kapitel.
Der schiefe Philipp.

D

Die Zeit, die uns behandelt wie wir sie, verging unsern jungen Freunden schnell und angenehm. Ein ununterbrochener Wechsel von Arbeit und Spiel entwickelte Geist und Körper. Nicht wenige Tage waren verstrichen ohne jede, auch die geringste Störung des allgemeinen Wohlbehagens.

Kenny gehörte jetzt zu den eifrigsten Zöglingen. Mit seinen früheren Genossen hatte er keine Gemeinschaft mehr. Er hielt sich dafür zu den Besseren und genoß namentlich den Umgang von Playfair, Quip, Wynn und andern im gleichen Rufe stehenden Zöglingen.

Kennys Entwickelung war eine sehr allseitige, und besonders hatte er erstaunlich viel gelesen. Darin lag jedoch zugleich die Wurzel von manchen seiner Untugenden. Unberaten und unbeaufsichtigt war er bloß seiner Neigung gefolgt und hatte an die Bücher, die er kaufte, keine andere Anforderung gestellt, als daß sie recht billig und dann entweder recht schauerlich oder recht lustig seien.

[S. 168]

Nun brachte er einmal zu P. Middleton ein solches billiges, kaum eingebundenes Buch, das er noch heimlich ins Pensionat eingeschleppt hatte, und fragte ihn, ob dasselbe eine geeignete Lesung sei.

„Ich habe es früher gelesen und finde nichts Arges darin,“ fügte er ehrlich bei. „Allein seit den letzten Erlebnissen glaube ich auch in diesem Punkte meinem Urteile nicht recht trauen zu dürfen.“

„Gut, Kenny. Ich bemerke mit Freuden, wie ernst Du jetzt Dinge nimmst, die Du früher kaum beachtet hast. Dein Zweifel ist höchstwahrscheinlich begründet. Dem Äußern nach zu schließen ist dieses Buch eines von jenen, die bloß um des Geldes willen gedruckt werden, ohne Rücksicht darauf, ob sie den guten Sitten schädlich sind oder nicht. Ich fürchte, es ist viel gefährlicher, als Du glaubst. Aber ich will es lesen und Dir dann sagen, ob ich mich täusche.“

Das Buch erzählte die Abenteuer eines Studierenden von sechzehn Jahren, der wegen seiner Gestalt „der schiefe Philipp“ genannt wurde. Die Sprache war keineswegs schlecht. Der schiefe Philipp stellte sich dar als eine Art „Richard ohne Furcht,“ dabei witzig, erfinderisch, unternehmend, trotz seiner Gestalt ein geschickter Spieler, kurz mit allem ausgerüstet, was ihm die Begeisterung junger Leser erwerben konnte.

Am folgenden Tage sprach P. Middleton in der Klasse um die Mitte der letzten Stunde:

„Jetzt will ich Euch ein kurzes Geschichtchen vorlesen.“

Ein leises, unterdrücktes ‚Ah‘ der Freude war die Wirkung dieser Worte. Die Gesichter leuchteten und[S. 169] wehe dem Unglücklichen, der sich vergessen sollte, zu husten oder eine Feder fallen zu lassen.

P. Middleton las dann ein Kapitel jenes Buches, das ihm Kenny zur Prüfung übergeben hatte. Die Schule, welcher Philipp angehörte, wollte ihren jährlichen Ausflug halten. Einer der Professoren, der wegen seiner mangelhaften Aussprache der gesamten Bubenschar, besonders aber dem schiefen Philipp, als Zielscheibe des Spottes dienen mußte, hatte sich verlauten lassen, er wolle dieses Jahr auch einmal daran teilnehmen; weil er aber zu alt sei, um zu Fuße zu gehen, wolle er reiten. Nun hatte der schiefe Philipp in Erfahrung gebracht, daß der Professor überhaupt gar nichts vom Reiten verstehe. Er ging deshalb zu ihm hin und erbot sich, ihm ein sanftes, lenksames Tier zu verschaffen. Der Professor ließ sich bethören und erhielt, wie sich erwarten läßt, ein Pferd, das zwar dem Anscheine nach lammfromm war, sich aber bald als die störrischste, widerhaarigste Mähre herausstellte. Dann fehlte es natürlich nicht an ergötzlichen Vorfällen, und der arme Professor mußte sich glücklich schätzen, daß er mit heiler Haut und gesunden Gliedern davonkam.

P. Middletons Schüler zeigten eine unverhohlene Freude. Einige lachten laut und herzlich. Percy Wynn war der einzige, der unangenehm berührt schien.

„Ihr lacht?“ sprach der Lehrer mit ernster Miene, indem er das Buch niederlegte; „worüber lacht Ihr denn?“

Das Lächeln, jeder Ausdruck des Vergnügens erstarb auf den Gesichtern.

[S. 170]

„Noch einmal, worüber habt Ihr gelacht? Ihr werdet doch einen Grund gehabt haben. Ihr lacht nicht bei den unregelmäßigen Verben; Ihr lacht nicht, wenn wir Brüche dividieren. Weshalb habt Ihr also jetzt gelacht?“

„Wir lachen, Pater,“ erwiderte Harry Quip, der selten lange um eine Antwort verlegen war, „weil die Geschichte so lustig erzählt ist.“

„Gut. Du hast doch wenigstens einen Grund. Es scheint Dir also, daß die Geschichte lustig erzählt ist. Jetzt aber weiter! Ist die Geschichte denn an sich auch lustig?“

Gedankenvoll runzelte sich manche junge Stirn; das war eine schwere Frage.

Da streckte Percy die Hand empor.

„Was meinst Du, Wynn?“

„Die Geschichte ist an sich gar nicht lustig, sie hat nur den Anschein des Lustigen, und zwar weil sie so geschickt erzählt ist.“

„Ganz gut, Wynn. An sich ist die Geschichte eher eine traurige. Ich will Euch sagen, worüber Ihr gelacht habt, aber mit den eigentlichen Worten; ich will Euch, wie man sich auszudrücken pflegt, das Kind mit dem rechten Namen nennen: Ihr habt gelacht über die Lümmelei eines Erzlümmels.“

Bestürzt sahen die Schüler einander an.

„Ihr braucht aber nicht zu fürchten, ich wäre deshalb mit Euch unzufrieden. Ihr seid noch zu jung, um den Unwert, ja die Bosheit dieser Geschichte gleich beim ersten Hören zu durchschauen. Die anziehende Darstellung mußte Euch irreführen.“

[S. 171]

Kenny, der kein Wort des Paters verloren hatte, erhob jetzt seine Hand.

„Zeigen Sie uns doch im einzelnen, Pater, warum diese Erzählung so schlecht ist. Ich sehe es dunkel ein, wäre aber nicht im stande, mir darüber Rechenschaft zu geben.“

„Sehr gern, Kenny. — Jedermann lacht, und lacht mit Grund, wenn einem andern ein guter Streich gespielt wird. Ich sage ein guter Streich; das setzt nämlich voraus, daß keine unrechten Mittel dabei zur Verwendung kommen, und daß dem Angeführten um des Scherzes willen kein eigentlicher Schaden an Ehre und Vermögen, an Leib und Seele erwächst.

Betrachten wir nun unsere Geschichte. Sie berichtet keineswegs einen unschuldigen Scherz, der dem Professor gespielt wird. Der schiefe Philipp bietet sich an, dem Professor ein sehr zahmes Pferd zu verschaffen, obgleich er den Willen hat, das gerade Gegenteil zu thun: er lügt. Das Mittel also, das den ganzen Streich ermöglicht, ist eine Sünde. Und erst was für eine Sünde! Ihr wißt zwar, daß die Lüge, wie häßlich sie auch ist, doch an sich keine schwere Sünde ausmacht. Sie kann aber eine Todsünde werden. Und das geschieht hier. Skipper, was hat jemand zu befürchten, der ohne die einfachsten Kenntnisse im Reiten ein heimtückisches, wildes, unlenksames Roß besteigt?“

„Es ist nicht unmöglich, daß ihn der erste Ritt das Leben kostet.“

„Was meinst Du, Wynn?“

„O mein Gott, ich wage gar nicht, daran zu denken.“

[S. 172]

„Und Du, Playfair?“

„Wenn er mit dem Leben davonkommt, darf er von Glück sagen; zum mindesten wird er wohl Arm oder Bein oder ein paar Rippen brechen.“

„Sehr richtig — oder sich eine schwere innere Verletzung zuziehen, was oft viel schlimmer ist als ein Beinbruch. Nun bleibt zwar der Professor von ernsteren Unfällen verschont; allein das ist nicht Philipps Verdienst. Seine Lüge ist einzig nach dem zu beurteilen, was er, der alt genug war, voraussah. Wer einen Streich spielen will, darf die Verhütung schweren Unglücks nicht dem blinden Zufall überlassen. Philipps leichtfertige Lüge bringt also den arglosen Mann in die höchste Gefahr. Darum ist sie hier eine Todsünde, verdammenswerter, als mancher Diebstahl, der mit hartem Zuchthaus gebüßt wird. — Ich glaube, jetzt, da Ihr dieses einseht, wäret Ihr nicht mehr im stande, über die Geschichte zu lachen. — Der schiefe Philipp soll ein Held sein. Gott urteilt ganz anders über ihn; nach Gottes Urteil ist er ein Verbrecher, und seine Heldenthat hat ihm die Hölle verdient. — Nicht wahr?“ fügte P. Middleton lächelnd bei, „Ihr habt nicht gewußt, was Ihr thatet.“

Erstaunt, fast entrüstet über sich selbst und doch wieder sichtlich erfreut über die gewonnene Kenntnis sah die Klasse zu ihrem Lehrer auf.

„Wie war es nur möglich, Pater,“ fragte Quip, „daß wir so dumm sein konnten?“

„Sehr einfach. Der Erzähler versteht es, die Aufmerksamkeit des Lesers von der Bosheit abzulenken.[S. 173] Jedermann ist unwillkürlich geneigt, beim Lesen alles so anzusehen wie der Schriftsteller selbst, und das um so mehr, je mehr seine ganze Sprechart uns gefällt und uns fesselt. Unser Erzähler thut nun gleich, als wäre Philipps Lüge nicht im mindesten tadelnswert. Jeder Leser, der noch nicht gelernt hat, stets auf seiner Hut zu sein, wird dadurch verleitet, in derselben nichts Schlimmes zu erblicken. Besonders verführerisch ist auch der gute Ausgang. Euer Lachen würde sicher gleich verstummt sein, wenn erzählt worden wäre, der Getäuschte hätte wirklich den Tod gefunden. Da hätte sich die ganze Roheit und Sündhaftigkeit sogleich geoffenbart. Anstatt den Helden zu bewundern, würde jeder Edeldenkende den Verunglückten bemitleiden und dem gewissenlosen Urheber zürnen. Jetzt dagegen sieht man beim ersten flüchtigen Blick bloß eine Reihe Vorfälle, die man lächerlich findet. Man vergißt aber die Lüge und den sündhaften Leichtsinn, welche der ganzen Sache zugrunde liegen, ja ohne es zu merken lacht man auch über sie — über eine Sünde.

Ich habe aber noch eine andere Frage. Angenommen, der schiefe Philipp brächte es fertig, den Professor in ganz ähnliche, aber völlig ungefährliche Lagen zu bringen. Wäre er dann von aller Schuld freizusprechen?“

Einige Antworten lauteten bejahend, andere zweifelnd. Percy Wynn verneinte es.

„Aber warum nicht?“

Das wußte auch Percy nicht zu sagen.

„Gut, ich will Euch helfen. Ihr kennt das vierte[S. 174] Gebot. Whyte, wer hat aber an der Ehre und Liebe, die wir den Eltern schulden, Anteil?“

„Die Lehrer und alle, welche die Stelle der Eltern vertreten, auch die geistliche und die weltliche Obrigkeit.“

Jetzt blitzte es auf mehreren Gesichtern.

„Nun? — Hodder!“

„Es war auch deshalb sündhaft, weil Philipp seinen Lehrer verspottete. Denn der Professor hatte ein Recht auf die Ehre all seiner Schüler, den schiefen Philipp nicht ausgenommen.“

„Aber Du hast doch wohl gehört, daß der Professor so schlecht sprach und überhaupt manche Sonderbarkeiten an sich hatte.“

„Das ist kein Grund, ihm die Ehre zu versagen; denn er bleibt doch immer noch der Stellvertreter der Eltern, den man ehren muß.“

„Sehr gut, Hodder. Man würde es ja nicht tadeln, wenn der schiefe Philipp einen Gleichgestellten etwas hänselte. Allein dem Lehrer gegenüber ist dies eine kränkende Beschimpfung, um so kränkender, da Philipp auch seine Mitschüler zu der gleichen Roheit und Sünde verleitet.

Jetzt seht Ihr die Doppelsünde, die hier unter den heiteren Blumen von Fröhlichkeit und Scherz verborgen liegt. Wehe dem Leser, der ihr geheimes Gift nicht erkennt. Langsam, unmerklich, aber ganz sicher wird es wirken. Ohne sich bewußt zu werden wird der Leser nach und nach Lüge, Verachtung der Vorgesetzten und bodenlosen Leichtsinn als gut, ja als witzig und heldenhaft betrachten, wenn es ihn nur zum Lachen reizt. Zwar kommt das Verderben nicht gerade[S. 175] immer mit einem einzigen Buche, obgleich es nicht an solchen fehlt, deren einmaliges Lesen unschuldige Herzen für immer verdorben hat. Manche töten nicht so schnell. Bei Zeiten gewarnt, kann sich ein Knabe durch Folgsamkeit ihrer bösen Wirkung entziehen. Allein einer fortgesetzten Lektüre solcher Bücher wird auch die stärkste Tugend auf die Dauer nicht widerstehen.

Noch eines wird Euch jetzt klar geworden sein, daß es nämlich oft einer bedeutenden Reife des Geistes, einer großen Selbständigkeit bedarf, um das Verderbliche eines Buches mit Sicherheit zu entdecken.“

Pater Middletons Worte waren von durchschlagender Wirkung. Mehrere seiner Schüler, die sich bis dahin heimlich der Lektüre von anrüchigen Zehn-Cent-Geschichten hingegeben, wandten sich mit Abscheu von denselben weg. In die ganze Klasse fuhr ein Eifer für gute Bücher und für Verbreitung derselben unter den Mitzöglingen. Percy erwarb sich hierbei eigentliche Verdienste. Wie Kenny besaß er eine weit ausgedehnte Belesenheit, hatte jedoch das Glück gehabt, daß eine umsichtige, fromme und gebildete Mutter seine Bücher aufs sorgfältigste auswählte. Zugleich hatte ein vortrefflicher Privatlehrer durch gediegene Unterweisung seinen Geschmack und sein Urteil zu einer frühen Reife geführt, so daß er mit größerer Sicherheit das Gute und Edle vom Minderwertigen und Verwerflichen unterschied.

Unterdessen verwandelt sich unser Freund immer mehr in einen rechten Jungen. Fester und frischer blicken die blauen Augen aus dem unschuldigen Antlitz, das, noch ebenso anmutig und edel wie beim[S. 176] Beginne des Schuljahres, jetzt auch in der Rosenfarbe blühender Gesundheit prangt. Seine ganze Erscheinung ist voller und stärker geworden. Die viele Bewegung in frischer, freier Luft hat ihn gekräftigt und kräftigt ihn noch. Und seine Hände! ah, Tom Playfair wird sich wohl bedenken, ihn noch einmal auf seinen Arm schlagen zu lassen.

Ruhig verflossen noch die Wochen bis Weihnachten. Allein dieses Fest sollte nicht ohne besondere Ereignisse vorübergehen, Ereignisse, die Percys Entwickelung wesentlich fördern halfen.

Wir haben gesehen, wie Percy das Allermädchenhafteste, das er nach Maurach mitbrachte, schnell abstreifte. Er hat den Beweis geliefert, daß er Großmut und Opfersinn in mehr als hinreichendem Maße besitzt, um den Anforderungen, die das Leben an den Christen stellt, vollauf zu entsprechen. Allein seine Nächstenliebe erscheint doch noch mehr als eine rein persönliche: den Freunden, die ihm wohlgethan, gilt in Dankbarkeit seine heldenmütige That. Sein Gesichtskreis muß sich erweitern. Die Religion, in deren Schoße er erzogen ist, auf deren geheiligtem Boden all seine Grundsätze und Anschauungen wurzeln, hat ihn schon mit der geistigen Sehkraft begabt, welche genügt, um eine Welt zu umspannen, und die sich entfalten wird, sobald sich die Gelegenheit dafür bietet.

22. Kapitel, Schlussvignette

[S. 177]

Kopfvignette des   23. Kapitels

23. Kapitel.
Auf der Gasse.

A

An einem hellen Dezembernachmittag sehen wir drei Zöglinge des Pensionates den Weg zur Stadt antreten. Munter schreiten sie dem kalten Winde entgegen, der bald ihre Wangen mit einer dunklen Röte bedeckt.

„Nur noch acht Tage!“ sagt Donnel.

„Jawohl,“ erwidert Keenan, „und dann eine ganze Woche Spaß! — Diese Nacht wird es wohl gehörig frieren; es ist jetzt schon so kalt, wie noch nie im ganzen Winter.“

„O, ich hoffe, daß es tüchtig friert!“ sprach Percy, der dritte in dem fröhlichen Bunde. „Meine Schlittschuhe sind gestern angekommen, und ich möchte so gern probieren, wie eigentlich das Schlittschuhlaufen geht.“

„Was?“ fragten beide erstaunt, „Du kannst nicht Schlittschuh laufen?“

„Nein,“ antwortete Percy lächelnd; „ich durfte noch nicht mitgehen aufs Eis.“

„Unbegreiflich!“ sprach Keenan. „Ich sehe nicht ein, was ein Junge im Winter anfangen soll, wenn[S. 178] er nicht Schlittschuh laufen kann. Aber tröste Dich, wir wollen Dir nachhelfen.“

„Ich muß gestehen, daß der Winter bis jetzt in der That meine Vorliebe nicht besessen hat.“

„Kein Wunder!“ lachte Donnel. „Wer nicht einmal Schneebälle drehen, geschweige denn damit werfen kann, wer weder Schlittschuh läuft noch Schlitten fährt, wer sich vor jeder Schneeflocke fürchtet, was kann der vom Winter zu erwarten haben? Ich für meinen Teil ziehe den Winter dem Sommer bei weitem vor.“

„Wirklich? das hätte ich nicht für möglich gehalten.“

„Und ich thu’ das auch,“ versicherte Keenan.

„Gieb mir den Winter, laß schneien knietief!
Wecke den Nordwind, den kalten, der schlief!
Es decke der See sich mit blankem Kristall!

Und dann ein noch blankeres Paar Schlittschuhe! Hurra! Dann fliegen wir, daß der Wind in den Haaren zischt, über die tönende Bahn! Das nenne ich Spaß!“

„Und ich,“ nahm Donnel das Wort, „ich wünsche mir eine Schlittenbahn, glatt wie aus Diamant und hoch wie ein Berg, mit einem Handschlitten vom besten Stahl. Dann sollte es hinuntergehen, daß jedem, der es sieht, das Blut erstarren möchte, und daß ich wie der Blitz noch dahinschieße, soweit man sehen kann. — Ich vergesse auch nie, wie ich einmal mit meinem Vater eine längere Schlittenpartie machte. Besonders zur Nachtzeit war es unbeschreiblich schön. Die Sterne flimmerten und funkelten so hell wie nie im Sommer, der Mond goß ein feenhaftes Licht über die schneeschimmernde[S. 179] Landschaft, jeder Strauch starrte einen ganz geisterhaft unter seiner Schneekapuze an. Wenn dann der leichte Schlitten, von flinken Rossen gezogen, unter Schellengeklingel über die Straße flog — o, ich sage Euch, das war entzückend.“

Dieses Gespräch zeigte, daß Donnel so gut wie Keenan der Klasse, der sie angehörten und die nach altem Brauch noch den Namen ‚Poesieklasse‘ trug, alle Ehre machten. Percy war freilich noch kein ‚Poet‘; allein seine Ideenwelt war nicht minder reich als die seiner älteren Freunde.

„Die Schönheit einer solchen Nacht,“ sprach er, „ist mir auch oft zum Bewußtsein gekommen. Freilich ist es ein Gedanke anderer Art, welcher der Winternacht für mich einen besonderen, aber lieblichen Reiz verleiht, nämlich die Erinnerung an die erste Weihnachtsnacht zu Bethlehem. Die Sterne erinnern mich dann immer an den Stern, der die heiligen drei Könige führte.“

„Nicht übel, Percy,“ lobte Donnel. „Das ist auch mir ein sehr lieber Gedanke; nur kann ich ihn nicht gerade so schön aussprechen wie Du. — Ich glaube übrigens wirklich, daß unter allen Menschen wir Knaben den meisten Grund haben, uns auf den Winter zu freuen und den bärbeißigen Alten mit den Eiszapfen im Bart und dem Nebelatem willkommen zu heißen. Er bringt uns ja Weihnachten mit all der Liebe und Freude, die wir von Gott und von unsern guten Eltern nur immer erwarten können.“

„Da fällt mir gerade,“ nahm Keenan das Wort, „die Ode von Horaz ein, die wir letzte Woche gelesen:[S. 180]Vides, ut alta stet nive candidum Soracte.‘ Das ist gewiß ein schönes Gedicht; ich habe es mit großem Vergnügen gelesen. Allein von einer Freude am Winter, wie wir sie uns zu besitzen rühmen, ist doch darin keine Rede. Hätte Horaz etwas von Christus gewußt, welch herrliche Werke hätte er schaffen können! Gerade das Winterfest Weihnachten ist ja der schönste Gegenstand für die Dichtkunst.“

„O,“ rief Percy begeistert, „das sieht man so deutlich an Miltons Hymne auf Christi Geburt, die ich, obgleich ich sie nicht ganz verstehe, so gern habe.“

„Nimm Dich in acht, Percy,“ sprach Donnel lachend. „Wenn Du einmal in unsere Klasse kommst, dann gerätst Du so hoch in die höchste Höhe der Poesie, daß selbst Dein Professor Dir nicht mehr beikommen kann. Wo hast Du das alles denn gelernt?“

„Von meinen Schwestern, besonders von Julie, der ältesten. Wenn wir in der Familie zusammen etwas gelesen hatten, bezeichnete sie mir immer die Stellen, welche am schönsten wären, und ich lernte sie auswendig.“

„Ich wünschte mir auch etliche Schwestern von der Art,“ meinte Keenan, „dann wüßte ich mehr.“

„Ich habe zwei Schwestern,“ versetzte Donnel, „aber wenn sechs erforderlich waren, um aus Dir, Percy, einen solchen Dichterknaben zu machen, dann wollte ich, ich hätte deren siebenundzwanzig.“

Percy lachte.

„Sechs sind nicht zu verachten, Johann; aber ich fürchte, siebenundzwanzig wären doch des Guten zu viel.“

[S. 181]

Unter ähnlichen muntern Gesprächen hatten sie bald den Ort erreicht und schritten auf der Hauptstraße voran.

„Jetzt bitte ich, mich zu entschuldigen,“ sprach dann Percy, der Erlaubnis hatte, ein Paar Handschuhe und einige andere Kleinigkeiten zu kaufen. „Ich bin schnell fertig und treffe Euch hier wieder.“

„Gut, also bis nachher!“

Percy betrat einen Laden — in demselben waren außer Handschuhen und andern Tuchwaren auch Uhren, Mehl, Eier und Pflüge feil, was einen Schluß auf die Natur des Städtchens erlaubt — und erstand, was er wünschte. Allein lange wartete er vergebens auf seine Gefährten. Er machte sich deshalb schließlich allein auf den Heimweg, immer um sich schauend, ob sie sich nicht einstellten.

Außerhalb der Stadt, wo die Gebäudereihen der Hauptstraße sich in vereinzelten Häusern fortsetzten, erblickte er eine Gruppe Knaben, die alle in der fröhlichsten Stimmung zu sein schienen. Sie umstanden irgend etwas, das Percy nicht unterscheiden konnte, da es in ihrer Mitte auf der Erde lag, und das offenbar der Grund ihres Gelächters und ihrer Freudenrufe war.

Als jedoch Percy näher kam, erkannte er mit Schmerz, daß diese Freude nichts war als die niedrigste Schadenfreude. Von ihnen umringt lag auf dem Boden ein feingekleideter junger Mann in bewußtlosem Zustande, mit einer noch leicht blutenden Wunde am Kopfe. Der Mann war betrunken. Sein Gesicht zeigte jene geistlosen, stumpfsinnigen Züge, welche die[S. 182] Folge eines übermäßigen Genusses von geistigen Getränken sind. Sein Hut lag schmutzig und zerdrückt neben ihm.

Was aber Percys Mitleid noch viel mehr rege machte, war ein weiterer Umstand. Neben dem Betrunkenen kniete ein wohlgekleideter, hübscher Knabe von acht oder neun Jahren, in vornehmem Anzuge, die Wangen entfärbt vor Furcht und Scheu, die thränengefüllten Augen mit dem Ausdrucke tiefsten Leides auf den Bruder gerichtet. Seine Schulbücher waren ihm entfallen und lagen zerstreut auf dem Boden umher, ein Zeichen, daß er eben auf dem Wege von der Schule gewesen. Die herzlosen, kleinen Zuschauer aber waren seine Mitschüler, vermehrt durch ein paar junge Stadtbummler.

„Lincoln!“ rief das Kind unter Schluchzen, „steh’ doch auf und geh’ mit nach Hause!“

„Rüttle ihn mal!“ sprach eine rohe Stimme.

„Er hat ganz gut getrunken,“ höhnte ein anderer.

„Warte ein wenig!“ rief ein Dritter von hinten, „ich komme gleich und zeige Dir, wie man ihn auftreiben kann.“

Percys Herz brannte vor Entrüstung über diese Gefühllosigkeit. Nicht mehr wie bisher zu neckendem Scherz, sondern in ernstgemeintem Zorne ballte sich seine Hand.

Der arme Kleine aber schien von diesem Spotte soviel wie nichts zu merken. Der Bruder allein nahm sein Denken in Anspruch.

„O Lincoln!“ jammerte er mit zitternder Stimme,[S. 183] „komm’, geh’ doch nach Hause! Papa würde ja sehr traurig, wenn er Dich wieder so daliegen sähe.“

„Sprich doch lauter!“ riet einer. „Vielleicht ist er taub.“

„Das ist ein guter Rat,“ sprach ein anderer. „Aber da hinten sehe ich Kracher kommen; der weiß sicher noch einen bessern.“

Kracher war ein etwas größerer, nicht gerade friedfertig und bescheiden aussehender Junge, der, wie es gleich den Anschein gewann, unter der gesamten Bubenschaft dieses Schlages ein bedeutendes Ansehen genoß. Man ließ ihn sofort wie einen Sachverständigen bis zu dem Betrunkenen und dem weinenden Knaben durch.

„O, der soll bald nüchtern und wach werden!“ versicherte er selbstbewußt, bückte sich nieder und wollte die Schultern des Mannes ergreifen.

Allein da sprang das Kind auf, schaute den ungerufenen Helfer mit flammendem Blicke an, so daß dieser unwillkürlich in seiner Bewegung innehielt, und rief halb zornig, halb flehend:

„Laß ihn in Ruhe! Rühre ihn nicht an! Er ist mein Bruder!“

Zugleich gab er ihm einen energischen Stoß.

„Das ist mir egal, wessen Bruder er ist,“ erwiderte Kracher, faßte den Mann bei den Schultern und rüttelte ihn.

Percy aber vermochte jetzt seinen Unwillen nicht länger zu bemeistern. Er drang bis zu Kracher durch und herrschte ihn mit erregter Stimme an:

„Schäme Dich, Du gefühlloser Mensch! Wenn[S. 184] Du vor dem Manne keine Achtung hast, solltest Du doch einem armen, hilflosen Kinde diesen Schmerz nicht bereiten.“

Kracher, der wie ein Gebieter gewohnt war, jede seiner Handlungen bewundert und gelobt zu sehen, war bei diesem gänzlich unerwarteten Widerspruch so überrascht, daß er nicht gleich eine Entgegnung finden konnte und in den Haufen zurückwich. Auch seine Gesellen, die es nicht begreifen konnten, wie ein unbekannter, magerer, fast wie ein Mädchen dreinblickender Knabe gegen Kracher, den Unbezwinglichen, aufzutreten wagte, bedurften einiger Besinnung, bis sie sich wieder zu den Scherzen, wie sie in ihrer Art lagen, erschwangen. So kam es, daß das befreite Kind für kurze Zeit sich unbelästigt seinem Verteidiger gegenübersah, den es mit stummer Verwunderung und Dankbarkeit anblickte.

Allein diese Frist währte nicht lange; dann begann wieder der Spott, der sich jetzt, wie zu erwarten stand, mit gesteigerter Heftigkeit gegen Percy wandte.

„Was für eine zarte Puppe!“ hieß es.

„Geh’ doch nach Hause zu Mama, armes Kindchen!“

„O, ich weiß es. Er ist ein Pensionatsjüngelchen.“

„Hast Du auch Erlaubnis auszugehen?“

Dann trat Held Kracher wieder in die Aktion ein und näherte sich Percy, der ihn unerschrocken, mit einem Blicke voll edler Entrüstung wie verurteilend ansah.

„Bist Du noch bei Troste, Du Geck?“

Mit diesen verächtlichen Worten wollte sich Kracher an ihm vorbei wieder dem Manne und dem Kinde[S. 185] zuwenden, um seine Geringschätzung gegen Percy um so deutlicher kundzugeben.

Allein Percy vertrat ihm den Weg.

„Ihr handelt gemein!“ rief er. „Es könnte einen Stein erweichen, ein armes Kind in solcher Lage zu sehen. Und Ihr wollt es noch verhöhnen und quälen!“

„Gemein?“ wiederholte Kracher. „Sag’ uns das nicht noch einmal!“

„Ja, gemein ist es, gemein!“

„Hört Ihr’s?“ redete jetzt Kracher die Gesellschaft an. „Hört Ihr’s? Sollen wir uns das gefallen lassen?“

„Er muß Spießruten laufen!“ klang eine Stimme.

„Ja, Spießruten laufen!“ schrie die Bande mit schadenfrohem Vergnügen.

Kracher ergriff Percy und hielt ihn fest, bis die andern sich in zwei Reihen, die einander das Gesicht zukehrten, aufgestellt hatten.

Von dem Betrunkenen, welcher der ursprüngliche Grund ihrer Ansammlung gewesen, war die Aufmerksamkeit jetzt völlig abgelenkt.

Der kleine Bruder jedoch beobachtete alles, was vorging, mit großen Augen. Er wußte sich zwar nicht recht zu erklären, was die Bubenschar eigentlich vorhabe, erkannte aber so viel, daß es gelte, seinem Retter Percy ein Leid anzuthun. Er eilte herbei, schlang beide Arme um Percy und rief, so laut er konnte, um Hilfe. Doch einige der nächsten Gesellen rissen ihn weg und stießen ihn zurück.

Unterdessen war die Aufstellung vollendet. Kracher brachte also den wehrlosen Percy an den Anfang[S. 186] dieser Gasse und stieß ihn hinein. Sofort regnete es Faustschläge und noch viel Schlimmeres auf ihn, so daß der zarte Knabe, der solche Mißhandlungen kaum dem Namen nach kannte, schon nach den ersten zwei Schritten niederfiel. Unsanfte Hände griffen zu, um ihn emporzuziehen. Allein das widerwärtige Schauspiel fand ein jähes Ende. Denn plötzlich, Percy wußte nicht warum, stob die ganze Meute auseinander, und drei der sauberen Brüder stürzten, so lang sie waren, neben Percy zu Boden.

23. Kapitel, Schlussvignette

[S. 187]

Kopfvignette des   24. Kapitels

24. Kapitel.
Wie zwei Tapfere mit Percy Fersengeld geben müssen.

D

Donnels und Keenans unerwartete Ankunft und energische Thätigkeit hatte diese Änderung hervorgebracht. Sie halfen Percy wieder auf die Füße und sahen sich auf dem Kampfplatze um.

Die drei gefallenen Buben waren indessen schnell aufgesprungen und liefen jetzt ebenfalls, was sie laufen konnten. Doch stand zu befürchten, daß die ganze Schar, mit Kracher an der Spitze, nicht gesonnen sei, vor Zweien das Feld zu räumen. In der That hatte Kracher auch nur deshalb die Flucht ergriffen, weil er glaubte, es sei ein größerer Trupp Zöglinge im Anzuge, ein Irrtum, der unsern drei Freunden nicht lange zu gute kommen konnte.

„Johann,“ sprach Keenan, „das Gescheiteste ist wegzulaufen. Sie sind im Nu wieder da, und ihre Wut ist dann um so größer. Was sind wir zwei gegen ihrer zwanzig? Wer weiß, welche Gemeinheiten wir dann zu erwarten haben.“

„Was? ausreißen? niemals!“ erklärte Donnel. „Mit einem Dutzend nehme ich es auf, und wenn Du mit den übrigen nicht fertig wirst, so kannst Du[S. 188] mir in Zukunft gestohlen werden. — Hör’, da rufen sie einander zu. — Kommt nur! Wir können auch liebenswürdig sein, wenn Ihr es wünscht.“

„Denk’ an Percy, Johann! Für uns beide wäre es ja eine ganz gesunde Bewegung. Aber Percy ist an diese Sorte Spaß nicht gewöhnt.“

„Er kann ja allein nach Hause laufen. Dann halten wir die Jungen auf, damit sie ihn nicht verfolgen. Lauf, Percy! Du hast nichts zu fürchten.“

Allein Percy — der während des ganzen aufgeregten Vorganges, wie er ja zu thun gewohnt war, fast beständig gebetet hatte — machte keine Miene, der Aufforderung zu folgen.

„Nein, ich bleibe bei Euch!“

„Was fällt Dir ein!“ drängte Keenan. „Siehst Du nicht, daß sie schon Steine aufheben? — Ah, jetzt merke ich’s. Seine Beine haben wieder etwas abgekriegt. O diese Beine!“

Percy vermochte es in der That nicht, den Schmerz, den er am Gelenk des rechten Fußes empfand, ganz zu verbergen.

„Wir müssen laufen!“ sprach Donnel ergeben. „Einer muß ihn wegtragen, und der andere kann doch nicht allein zurückbleiben.“

Während der letzten Worte hatte er Percy ergriffen und aufgehoben, und jetzt rannten sie davon, so schnell die Füße sie tragen wollten.

Der Feind hatte diese Wendung der Dinge nicht erwartet, sammelte sich dann aber um so schneller und lärmender, um den Entweichenden nachzusetzen. Eine wilde Jagd begann.

[S. 189]

Donnel trug seine Bürde mit Leichtigkeit. Allein es war nicht zu verwundern, daß er trotzdem nicht laufen konnte, als wäre er gar nicht belastet. Keenan, der sich von Zeit zu Zeit umsah, meldete ihm, der Haufe ihrer Verfolger komme mit jeder Minute näher.

„Setz’ mich nieder, Donnel!“ bat Percy. „Ich kann ganz gut etwas laufen. Ich fürchte mich nicht; auch vor einem Steinwurf bin ich nicht bange. Wenn ich schließlich auch eingeholt würde, so wäre das lange nicht so schlimm, als wenn Ihr mit in ihre Hände fielet.“

„Ruhig sein, Kleiner!“ sprach Donnel. „Unsere Knochen würden schon etwas aushalten, aber die Deinen nicht. Meinst Du, um unsertwillen liefen wir davon?“

„Würdest Du uns denn verlassen,“ fuhr Keenan fort, „wenn wir in Not wären und Du noch Aussicht hättest uns zu retten? — Holla, sie sind uns doch verzweifelt nahe. — Ah, da hab’ ich einen Gedanken, Johann! Du kannst mir Percys Beine geben, dann hast Du nur seine obere Hälfte zu tragen.“

„Herrlich! Percy, wir halbieren Dich. Sorge nur, daß wir Dich nicht zerreißen, sonst bringen wir Dich in zwei Stücken nach Hause.“

Mit erneuter Eile setzten sie ihre Flucht fort.

Übrigens war es nicht nur für sie das beste gewesen, daß sie sich zum Rückzuge entschlossen: auch der Betrunkene, der mittlerweile aus seinem Zustande erwachte, konnte sich unter fremder Hilfe mit dem Kinde unbehelligt entfernen.

[S. 190]

Donnel und Keenan waren indessen auch jetzt, nachdem sie Percy halbiert hatten, in ihrem Laufe nicht wenig behindert. Deutlich merkten sie, wie ihnen die Stimmen der Verfolger stetig näher kamen, wenn auch langsamer als früher. Bald traf ein Stein Keenan unterhalb des Kniees.

„Gut gezielt! Das ist gerade die Stelle, wo mein Bein am zähesten ist. — Hallo, Percy, wir sind bald da. In zwei Minuten haben wir schon die Brücke erreicht. Nicht bange sein! Du bleibst am Leben, um auch später noch einmal ausreißen zu können.“

„O, ich habe keine Angst,“ versicherte Percy mit seinem gewinnenden Lächeln, das Auge voll Vertrauen und Dankbarkeit auf seine braven Retter heftend. „Ich weiß mich in guter Gesellschaft.“

„Georg,“ rief Donnel plötzlich, „sind das nicht zwei Zöglinge dort vorne jenseits der Brücke?“

Keenans scharfes Auge bestätigte die Vermutung.

„Hurra, Ryan und Zieler!“ rief er.

Ryan und Zieler sind den Lesern der früheren Erzählung schon bekannt. Gehörten sie doch zu jenen neun Helden, deren sich vor zwei Jahren Tom Playfair so meisterhaft zu erwehren wußte.

Auch Donnel rief ihnen jetzt aus Leibeskräften zu; allein vergebens, sie waren noch zu weit.

Da ertönte ein lauter, schriller Pfiff. Percy hatte nämlich P. Middletons Pfeife als Andenken an sein Prärie-Abenteuer zurückbehalten, so daß sie jetzt abermals ihm und zweien seiner Freunde zu statten kommen konnte.

Ryan und Zieler wandten sich um. Mit einem[S. 191] Blick hatten sie die Lage überschaut und stürmten mit beflügelter Eile heran.

Ihr bloßes Erscheinen war genug. Man sah ihnen schon von ferne an, daß sie wohl im stande waren, Lektionen zu erteilen, die in keinem Buche der Welt geschrieben standen. Sobald sie deshalb erkennbar wurden, ergriff die nachjagende Bubenschaft sofort das Hasenpanier, ohne den geringsten Versuch der Gegenwehr zu machen.

Besonders Ryan war Ursache ihrer Furcht. Die mächtige, vierschrötige Gestalt, die erst im Rohbau fertig zu sein schien, und sein bärbeißiges Gesicht waren allerdings wohl geeignet, auch einem Beherzten Angst einzuflößen. Ryan hatte, zehn Jahre alt, als ein lebendiges, nicht gerade lenksames Bürschlein, seinen Einzug in Maurach gehalten und während der ersten Jahre in beständigem Krieg mit Professoren und Präfekten gelebt. Nur langsam war es ihm gelungen, die unbändige Kraft seiner Natur ins rechte Geleise zu bringen. Am schnellsten hatte er noch die Professoren befriedigt, wenigstens nachdem er das Stillsitzen in der Klasse in etwa begriffen; Ryan war nämlich bei weitem nicht so dumm, als er aussah. Seit mehreren Jahren jedoch stand es mit ihm ganz anders. Ryan galt mit vollem Recht als tadelloser, vertrauenswürdiger Zögling und wurde von allen Kameraden wegen seiner Gefälligkeit, die sich hie und da sogar als Gutherzigkeit äußerte, hochgeschätzt und geliebt. Sein Äußeres ließ allerdings gerade diese Eigenschaften am wenigsten vermuten. Im Gegenteil, die Rolle von Räuberhauptmännern, Christenverfolgern[S. 192] und andern Wüterichen war bei den theatralischen Darstellungen sein gewöhnlicher Anteil, und stets lohnte der beste Erfolg die geringe, von ihm aufgewandte Mühe.

Auf der Brücke angelangt, machten die Flüchtlinge Halt.

„Am Ende sind doch sie noch davongelaufen, nicht wir,“ sprach Keenan mit Befriedigung.

Percy hatte gleich eine Dichterstelle zur Hand:

„‚Der bess’re Teil der Tapferkeit ist Vorsicht‘, sagte Falstaff, als er sich tot gestellt hatte.“

Percy stand zwar, an das Geländer der Brücke gelehnt — auf dieser nämlichen Brücke hatte einst Tom Playfair zu mitternächtiger Stunde sein Heldenstück geliefert — wieder auf seinen eigenen Beinen. Doch brauchte es kein scharfes Auge, um zu gewahren, daß er große Schmerzen empfand.

„Ich habe nun stets gemeint,“ sagte Ryan, als auch er, ein gutes Stück vor Zieler, auf der Brücke war, „Ihr wäret die friedfertigsten Menschen von der Welt. Aber jetzt sehe ich Euch im Kriege mit ganz Jung-Maurach! Was ist denn los gewesen?“

„Percy Wynn hier,“ erklärte Donnel, „hat in seiner Wildheit den Einfall gehabt, sich auf ihrer zwanzig oder dreißig zu stürzen, um einmal zu erfahren, was man dabei alles erleben könnte.“

„Ich wollte sie nur bewegen,“ sprach Percy, „einen Knaben, dessen Bruder ohnmächtig auf der Straße lag, doch nicht zu verspotten. Es ging mir so zu Herzen, daß ich meinen Unwillen gar nicht mehr zurückhalten konnte.“

[S. 193]

„Jawohl! Wäre Keenan und ich nicht gekommen, um ihn aus der Patsche zu ziehen, dann hätten sie ihm dafür die Weihnachtstage gründlich verdorben. Sie wollten ihn gerade Spießruten laufen lassen.“

„Diese Bengel!“ sprach Ryan voll Abscheu. „Percy, Du bist ein Ritter sonder Furcht und Tadel. — Aber sieh’ Deine Hand! sie blutet ja.“

„Ich bin einmal niedergefallen; da muß ich diese Wunde erhalten haben.“

„Es ist höchste Zeit, daß Du es merkst.“ Mit diesen Worten zog Ryan sein Taschentuch hervor, um die blutende rechte Hand zu verbinden.

„Auch Dein Fuß muß verwundet sein. Armer Schelm! Du vermagst Dich ja kaum aufrecht zu halten. Und Dein Gesicht! Deine Lippen sind dick aufgeschwollen, als wärest Du ein Negerknabe. Wirklich! Du siehst noch abscheulicher aus als ich, was viel heißen will. — Ihr müßt ihn weitertragen und dem Krankenbruder abliefern. Wenn er nicht gleich mit Pflastern ordentlich geflickt wird, geht er ganz in Stücke. Donnel, Dein Gesicht hat übrigens auch einen gehörigen Puff mitbekommen, wahrhaftig!“

„Den gab mir einer in der ersten Hitze, ehe er noch recht wußte, wen er vor sich hatte. Dann lief er so schnell als möglich davon.“

Donnels Gesicht war in der That stark aufgeschwollen, und die Geschwulst schien noch immer zuzunehmen.

„Ryan,“ bemerkte jetzt Percy, „ich bin noch immer wegen des Betrunkenen und des hilflosen Kindes[S. 194] besorgt. Ich fürchte, die Jungen thun ihnen noch ein Leid an.“

„Das glaube ich kaum,“ beruhigte ihn Donnel. „Es war ja so nahe bei den Häusern. Was mich wunderte, war nur, daß nicht schon eher Hilfe kam. Es muß alles sehr schnell hergegangen sein.“

„Doch um Dich zu trösten,“ nahm jetzt Zieler das Wort, der dem letzten Teile des Gespräches zugehört hatte, „so wollen Ryan und ich noch schnell hingehen und uns überzeugen, obgleich unsere Gegenwart kaum mehr nötig sein wird.“

In der Infirmerie gab der Krankenbruder die tröstliche Versicherung, Percys Verletzungen seien nicht bedenklich und würden ihn in den Freuden und Festlichkeiten der Weihnachtstage nicht erheblich stören.

24. Kapitel, Schlussvignette

[S. 195]

Kopfvignette des   25. Kapitels

25. Kapitel.
Zwei Briefe.

A

Am andern Tage erhielt der Rektor des Pensionates folgenden Brief:

Hochwürdiger Herr P. Rektor!

Hochgeehrter Herr!

Unabweisbare Geschäfte machen es mir unmöglich, einer sehr dringenden Pflicht, die ich seit gestern gegen mehrere Mitglieder Ihrer geschätzten Anstalt habe, persönlich zu entsprechen.

Ich bin der unglückliche Vater jenes Betrunkenen, der gestern von einem Ihrer Zöglinge und dessen zwei Freunden in so aufopfernder Weise vor Insulten geschützt wurde. Nicht ohne ein bitteres Gefühl der Scham schreibe ich diese Zeilen nieder. Deshalb ist jedoch meine Dankbarkeit gegen jene drei vortrefflichen Knaben nur um so größer, da sie mir durch ihre edle That wenigstens einen Teil der Schande erspart haben. Weil ich nun ihre Namen nicht weiß, so ersuche ich Sie, Hochwürdiger, hochverehrter Herr P. Rektor, an ihrer Stelle meinen tiefgefühlten Dank entgegennehmen und ihnen übermitteln zu wollen. Der beste Teil meiner Erkenntlichkeit gebührt ohne Zweifel demjenigen unter ihnen, der von meinem kleinen Frank, dem Zeugen der Schande seines Bruders, als der kleinste bezeichnet wird. Er scheint nach Franks Erzählung wirklich der Hauptfaktor gewesen zu sein. Sobald meine Geschäfte es gestatten, werde ich mir die Ehre nehmen, selbst in Ihrer Anstalt vorzusprechen und dem kleinen Helden, sowie dessen Freunden persönlich zu danken.

[S. 196]

Zugleich gestehe ich, daß durch den gestrigen Vorfall meine Ansichten über Ihre Anstalt sich ganz wesentlich geändert haben. Ich bitte um gütige Zusendung eines Programmes, da mir sehr daran liegt, das Pensionat noch näher kennen zu lernen.

Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung verbleibe ich

Ew. Hochwürden ergebenster
Arnold Marschall.

Der Name Marschall kam dem Rektor nicht ganz unerwartet. Dieser reiche Geschäftsmann hatte nämlich zwei Söhne, welche allenfalls die ihm von Percy beschriebenen Brüder sein konnten. Herr Marschall war als Feind jeder Religion, vor allem der katholischen, bekannt.

Sein ältester Sohn hatte zwar nie den besten Leumund besessen und war für seinen Vater, der trotz allen Religionshasses im Rufe eines Ehrenmannes stand, eine fortwährende Quelle des Kummers. Allein ein Laster, das die eigene Verworfenheit in solchem Grade vor den Augen der Welt bloßstellt wie die Trunksucht, ließ sich in der vornehmen Familie nicht gut vermuten.

„Der junge Herr Marschall muß sich gegen früher sehr zu seinem Nachteile verändert haben,“ sprach der Rektor, als er den Brief zu Ende gelesen. „Früher hat man nie dergleichen von ihm gehört.“

Was Percy anging, so erfuhr er nichts von der Ankündigung des Besuches, der ihm bevorstand. Der Rektor beabsichtigte, ihm eine angenehme Überraschung zu bereiten. Es wollte ihn übrigens bedünken, jener Besuch werde auch für Herrn Marschall selbst wohl[S. 197] eine größere Bedeutung haben, als im Briefe ausgedrückt war.

Ohne Zögern ging das verlangte Programm an Herrn Marschall ab. In einem kurzen Begleitschreiben nannte ihm der Rektor die Namen der drei Zöglinge und bemerkte, Herr Marschall habe mit vollem Rechte das Benehmen derselben als eine Folge religiöser Erziehung aufgefaßt; alle drei, vornehmlich der kleinste, Percy Wynn, hätten eine vortreffliche, aber ausschließlich katholische Erziehung genossen, wobei jedoch dem Kolleg kein anderes Verdienst zukomme, als gehütet und gepflegt zu haben, was im Elternhause gepflanzt worden sei.

Mehrere Tage vergingen. Da langte ein zweiter Brief des Kaufmanns an. Herr Marschall bat um die Erlaubnis, bei seinem spätern Besuche mehrere Zweifel über Religionssachen vorlegen zu dürfen und gab zugleich folgenden kurzen Bericht über die Umwandlung, welche das jüngste Ereignis in seinen Anschauungen hervorgerufen hatte:

„Ew. Hochwürden kennen mich als einen ausgesprochenen Glaubensfeind. Ich verlor meine Religion als heranwachsender junger Mann infolge des Besuches glaubensloser Studienanstalten und des Verkehrs mit ungläubigen Geschäftsgenossen. Schließlich kam ich dahin, daß ich vor allem meine eigene, die katholische Religion aus dem Grunde verabscheute.

Da meine verstorbene Gattin dachte wie ich, so wurden unsere Kinder ganz in meinem Geiste erzogen. Im übrigen verwendeten wir jedoch große Sorgfalt auf ihre allseitige Ausbildung, behandelten sie mit einer vernünftigen Strenge und waren im Anfange mit unsern Erfolgen sehr zufrieden. Der Älteste, Lincoln, versprach wirklich das zu werden, was wir aus ihm zu machen[S. 198] wünschten: ein tüchtiges, brauchbares Glied der menschlichen Gesellschaft. In den Jahren seiner Kindheit, war er nicht minder als jetzt sein jüngster Bruder Frank, mein Stolz und meine Freude. Dann besuchte er eine höhere Schule, die natürlich religionslos war, und an der er von Jahr zu Jahr sichtlich mehr verdorben wurde. Daheim unter der Obhut seiner Eltern hatten die wenigen Grundsätze von Menschenwürde und Ehre, die ich ihm beigebracht, sowie die Liebe zu seinen Eltern noch Kraft genug besessen, um ihn vor schlimmeren Gewohnheiten zu bewahren; den Maßstab allerdings, nach welchem meine eigenen guten Eltern dereinst mich beurteilten, hätte ich an ihn nicht anlegen dürfen. An ihm wurde mir immer klarer, daß der Mensch, um in allen Punkten den Anforderungen der Sittlichkeit zu entsprechen, eines allwissenden und allmächtigen Richters bedarf, dem auch die geheimsten Gedanken nicht verborgen sind, und der nicht minder jene Überschreitungen zur Rechenschaft zieht, welche von der irdischen Strafgewalt nicht erreicht werden. Hielt ich ihm vor, wie sehr er durch sein ausschweifendes Leben seine Menschenwürde schände, so war stets sein letztes Wort: ‚Wer kann mir denn vorschreiben, meine sogenannte Menschenwürde nicht zu schänden? Und was habe ich denn von der Menschenwürde? Nichts, gar nichts. Was ich aber von meinen Vergnügungen habe, wird mir sehr wohl bewußt, und ich ziehe es aller Menschenwürde bei weitem vor.‘ Die einzige durchschlagende Erwiderung hätte ich im Glauben meiner Kindheit gefunden. Nur ein Gott kann den Menschen verpflichten, menschenwürdig zu leben. Allein diese Antwort mochte ich weder ihm noch mir geben.

Erst als mir mehrere Kinder hingestorben waren, als Lincolns Zügellosigkeit immer noch anwuchs, und schließlich der Tod auch meine Gattin von mir nahm, wurde ich dem Gedanken einer Umkehr weniger abhold. Trotzdem sträubte ich mich aus ganzer Kraft meiner Seele, mich selbst eines jahrelangen Irrtums zu zeihen. Es hatte mir jemand ein sehr gerühmtes apologetisches Werk in die Hände gespielt. Ich las dasselbe nicht ohne Interesse, redete mir aber selbst ein, es enthalte die Wahrheit nicht. Doch trug es nicht wenig dazu bei, meine Unruhe zu vergrößern.

Endlich hat Percy Wynns That meine letzten Bedenken zerstreut.[S. 199] Ich hielt mich noch beständig an der Einbildung festgeklammert, die katholische Religion bilde nur engherzige, schwächliche und feige Charaktere. — Die Erinnerung an meine eigene Jugend hätte mich schon eines bessern belehren können. — Da erfahre ich nun, daß dieses echt katholisch erzogene Kind eine Großmut und Unerschrockenheit an den Tag legt, die, wenn ihr auch die Umsicht späterer Jahre noch abgeht, doch schon jetzt einen Mann beschämen könnte, und die ihm selbst teuer zu stehen gekommen wäre, hätten nicht zwei edle, auch katholisch erzogene Gefährten sich mutig seiner angenommen. Weder Lincoln noch irgend einer von seinen Schulkameraden würde gehandelt haben wie Percy Wynn. Ja, als ich am Abende jenes Tages meine eigenen Anschauungen genauer untersuchte, mußte ich bekennen, ich sei zu jener Zeit, da ich noch Gott fürchtete, viel, viel selbstloser gewesen, als nachher. Zum erstenmale wagte ich nur einzugestehen, daß die Leugnung Gottes den Menschen überhaupt gar nicht selbstlos zu machen vermag, da sie alle stichhaltigen Gründe für eine uneigennützige, selbstlose Liebe zum Nebenmenschen in der Wurzel vernichtet.

Mit ganz anderer Gesinnung nahm ich abermals jenes Buch hervor — nur die Nachtzeit konnte ich diesem folgenschweren Geschäfte widmen — um es wieder und wieder zu lesen. Ein ganz neues Licht ergoß sich in meine irrende, zagende Seele. Die letzten Zweifel hoffe ich morgen von Ihnen, Hochwürdiger, Herr Rektor, gelöst zu sehen, um dann gleich durch eine Generalbeichte, zu der ich allerdings nach so vielen Jahren der gütigen Hilfe des Beichtvaters bedarf, mein Leben wieder in Ordnung zu bringen.

Den armen Lincoln werde ich wohl seinem durch den eigenen Vater verschuldeten Schicksale überlassen müssen. Der neunjährige Frank dagegen ist noch zu retten. Seinen verkommenen Bruder kennt er fast gar nicht, da Lincoln in den letzten Jahren nicht oft zu Hause war und ich zudem die beiden mit Fleiß von einander fern zu halten suchte. Frank kann und soll daher religiös erzogen werden. Da jedoch ich selbst mich zur Erfüllung dieser Elternpflicht unfähig gemacht habe, so wäre es mir sehr lieb, wenn er einen Platz in Ihrem Hause fände. Nach dem Zeugnisse seiner[S. 200] Lehrer ist er ein gut talentiertes Kind, namentlich bemerkt man an ihm eine ausgesprochene Anlage zu verstandesmäßigem Denken, die ich selbst im Verkehre mit ihm nach Möglichkeit gefördert habe.

Falls es Ew. Hochwürden genehm ist, werde ich mich morgen nach der Schlußfeier, deren Stunde ich aus dem gütigst übersandten Schulkalender ersehe, mit Frank einfinden, um noch über mehrere Punkte mir den erfahrenen und umsichtigen Rat Ew. Hochwürden zu erbitten.“

Mit einem herzlichen ‚Gott sei Dank‘ legte der Rektor das umfangreiche Schreiben nieder.

25. Kapitel, Schlussvignette

[S. 201]

Kopfvignette des   26. Kapitels

26. Kapitel.
In der Aula.

F

Für den Nachmittag des 23. Dezember ist also der Leser zu der großen Schlußfeier in der Aula des Kollegs eingeladen.

Zuerst tritt die Blechmusik des Pensionates auf und leitet durch einen kräftig vorgetragenen Marsch die Feier ein. Dann folgt der Hauptteil: die Überreichung der Schulzeugnisse, an welche sich unmittelbar eine Art Preisverteilung anschließt. Die Preisgekrönten werden in alphabetischer Ordnung aufgerufen und treten vor, um auf einer reichgeschmückten Tribüne aus der Hand des P. Rektor ihre Auszeichnung in Empfang zu nehmen.

Mancher uns wohlbekannte Zögling hört seinen Namen erklingen und begiebt sich mit freudig klopfendem Herzen zur Tribüne.

Auch Donnels Name ertönte. Als er sich erhob und mit seinem entstellten Gesichte — „es ist ja ganz windschief,“ flüsterte Tom Playfair seinem Nachbar zu — durch die Mitte der Knabenschar hinschritt, entstand ein allgemeines Beifallklatschen, so daß Donnel, dem diese Kundgebung vollständig unerwartet kam, über und über errötete.

[S. 202]

Den Schluß der Bevorzugten bildete Percy Wynn. Die Geschwulst in seinem Gesichte war allerdings ziemlich verschwunden und wurde bedeutend weniger bemerkt, als es zuvor bei Donnel der Fall gewesen. Als er jedoch, noch immer einige Pflaster auf Stirne und Wangen, mit unsicherem Schritte die Stufen der Tribüne hinaufstieg, um mit der verbundenen Rechten die Auszeichnung in Empfang zu nehmen, da blieb es nicht beim Klatschen: ein förmliches Hurrageschrei erfüllte den weiten Saal. Eigentlich war diese Art von Beifallsbezeugung verboten. Allein der P. Rektor, vor dessen Augen es geschah, konnte es ja gestatten. Es ging sogar das Gerede, er sei, wie er selbst später erzählt habe, versucht gewesen, mit einzustimmen. In bezug auf P. Middleton wurde das als Thatsache behauptet. Es mochte wahr sein oder nicht, die Knabenschaft des kleinen Hofes war fest davon überzeugt, und ihr erster Präfekt stieg nur um so mehr in ihrer Achtung und Liebe.

Percy hatte allerdings diese Ehre vollauf verdient. Bei seinen Talenten, seiner guten Vorbildung und seinem unverdrossenen gewissenhaften Fleiße war es ihm in der kurzen Zeit wirklich gelungen, an die Spitze seiner Klasse zu kommen. Im englischen Aufsatz war Percy der erste, Keenan der zweite; in der englischen Grammatik waren Quip, Playfair, Wynn gleich; in der Mathematik Playfair der erste, Wynn der zweite; im Griechischen standen beide gleich; die größte Verwunderung aber erregte es, daß im Latein Wynn der erste, Playfair der zweite war.

In sinniger Weise schloß die Feier mit einem[S. 203] Weihnachtsgesange. Percy hatte in demselben ein Solo vorzutragen. Gehoben durch die Herzlichkeit und Ehre, die ihm zu teil geworden war, übertraf er dieses Mal beinahe sich selbst. In einem solchen Grade gelang es ihm, die Gefühle des Liedes wiederzugeben, daß die Kundigen gerade seinem Auftreten einen großen Teil an der Wirkung des Stückes zuschrieben. Die junge Zuhörerschaft schien allerdings sehr ergriffen zu sein. Denn nachdem der Gesang verklungen, war nur eine schwache Spur von Beifallklatschen zu bemerken, ja gegen alle Gewohnheit währte es einige Augenblicke, bevor die Sprechorgane, die sonst bei Knaben so leicht zu erregen sind, sich wieder in Bewegung setzten.

Kaum war die Feier zu Ende, als Tom in erheucheltem Zorne zu Percy hineilte und mit drohend erhobener Faust ihm zurief:

„Warte, Du zusammengestückter Raufbold! Bevor ich Dir wieder Unterricht im Latein erteile, mußt Du erst wieder an einem kalten Tage draußen sein und dann pfeifen ohne P. Middletons Pfeife.“

„Das mußt Du mich erst lehren.“

„Ich werde mich hüten! Sonst übertrumpfst Du mich darin auch noch.“

Man wußte, daß Tom auf die Erfolge seines Schülers überaus stolz war. Er soll sogar vor Freude im Geheimen etliche Purzelbäume geschlagen haben. Im übrigen jedoch sprach er den Rest des Tages hindurch von „einem gewissen halblahmen Jungen, der sich unterstanden habe, seinen Professor zu überholen“.

Da Percys Zustand diesem nicht gestattete, im[S. 204] Hofe an den Spielen teilzunehmen, so zog er sich in den Spielsaal zurück und gab Tom Unterricht im Schach.

Plötzlich öffnete sich die Thüre und ein Zögling kam hereingelaufen mit dem Rufe:

„Percy Wynn, ins Sprechzimmer!“

„O mein Gott! Vielleicht ist es gar meine Mama. Das ist mir außerordentlich peinlich.“

„Du bist mir ein netter, liebevoller Sohn!“ sprach Tom mit ernster Miene. „Bei der Nachricht, daß die Mutter gekommen ist, fängt man doch nicht an zu jammern!“

„Du kannst Dir denken, weshalb ich mich jetzt fürchte, zu ihr zu gehen. Sie muß ja erschrecken, wenn sie mich in diesen Pflastern erblickt.“

„Mich würde das wenig grämen. Du siehst ja ganz köstlich darin aus. Wäre ich an Deiner Stelle, ich trüge sie zum Schmucke. Du könntest sie wirklich in Mode bringen. Sie stehen Dir gerade so gut wie Simpelfransen.“

„Ich habe wenig Lust, eine neue Mode zuerst bei Mama zu versuchen. — Vielleicht ist es aber jemand anders. Sie bemerkte einmal in einem Briefe, vor Januar könne sie die weite Reise nicht gut antreten.“

„Geh’ hin und sieh zu! Das ist das einfachste Mittel. Sag’ ihr dann auch, ich würde mir nächstens erlauben, eine Rechnung für die Privatstunden einzureichen.“

Percy zupfte sorgfältig seine Kleidung zurecht, wischte hie und da ein Stäubchen weg und machte sich dann pochenden Herzens auf den Weg ins Sprechzimmer.

26. Kapitel, Schlussvignette

[S. 205]

Kopfvignette des   27. Kapitels

27. Kapitel.
Der unerwartete Besuch.

V

Voll Spannung klopfte Percy an der Thüre des Sprechzimmers und trat zögernd ein. Wir wissen bereits, daß seine Besorgnis unbegründet war. Denn es war niemand anders als Herr Marschall, der ihn, eben im Gespräch mit P. Rektor begriffen, erwartete. Auch den kleinen Frank hatte Herr Marschall mitgebracht, und dieser kam sogleich dem Eintretenden freudestrahlend entgegen.

„Kennst Du den?“ fragte der Rektor Percy.

„O gewiß kenne ich ihn, und freue mich sehr, ihn wiederzusehen.“

Da ergriff der Kleine Percys Hand und drückte sie. Es schmeichelte ihn sichtlich, daß er Percys Zuneigung besaß.

Unterdessen hatte sich auch der Vater erhoben.

„Percy, das ist Herr Marschall,“ sprach der Rektor vorstellend.

Percy machte seine unnachahmliche Verbeugung.

„Herr Marschall, es ist mir äußerst angenehm, Ihre Bekanntschaft machen zu können.“

[S. 206]

„Percy, ich bin der Vater dieses Deines kleinen Bekannten und möchte Dir jetzt persönlich danken für die Hilfe, die Du ihm und seinem unglücklichen älteren Bruder auf der Straße hast angedeihen lassen. — Armes Kind,“ fügte er bewegt bei, als er bemerkte, daß Percy die Folgen seiner That noch an sich trug, „erst jetzt wird mir klar, wie mutig und selbstlos Du gehandelt hast. — Leider, Percy, muß ich jetzt schon gleich wieder Abschied von Dir nehmen, da ich noch mit dem hochwürdigen Herrn Rektor zu sprechen habe und morgen in aller Frühe eine kurze Reise antreten werde. — Könnte ich nicht auch die beiden andern Zöglinge noch sprechen, hochwürdiger Herr Rektor?“

„Ich habe bereits nach ihnen geschickt. Allein man scheint sie nicht finden zu können; sie sind wohl ausgegangen.“

„Schade. Aber Percy hat dann jedenfalls die Güte, ihnen meine Grüße und meinen Dank zu überbringen. Da ich später mehr Grund haben werde, ins Pensionat zu kommen, so werde ich sie, denk’ ich, auch einmal zu Hause treffen.“

„Es thut mir leid, Herr Marschall,“ sagte Percy, „daß Sie so schnell sich wieder entfernen wollen; ich hoffte, Frank noch etwas länger zu sehen.“

Frank ergriff abermals Percys Hand und drückte sie voll inniger Freude.

„Dieses Vergnügen will ich Euch beiden lassen,“ erwiderte der Vater lächelnd. „Seit Frank Dich auf der Straße kennen gelernt, plagte er mich Tag und Nacht mit der Bitte, ihn ins Pensionat zu schicken, bis ich es ihm zusagte.“

[S. 207]

„O wie schön!“ rief Percy erfreut.

„Die Trennung von ihm fällt mir schwer; allein ich darf hoffen, daß sie zu seinem Besten gereichen wird. — Ich lege ihn,“ wandte er sich an den Rektor, „ganz in Ihre Hände. Religion hat er natürlich ebensowenig, wie ich; auch getauft ist er nicht.“

Hier war es Percy unmöglich, einen Ruf des Mitleides zu unterdrücken. Also dieser Knabe mit dem intelligenten Gesichtchen, ein Kind desselben Vaterlandes, war ein eigentliches Heidenkind, war fern vom Glücke des Christentums.

„Mein sehnlichster Wunsch ist nun, daß er katholisch wird, und zwar recht bald. Doch möchte ich ihm anderseits auch keinerlei Zwang anthun. Er hat sein Alter, ist ziemlich entwickelt und einigermaßen zu einer selbständigen Wahl befähigt.“

„Bist Du auch katholisch, Percy?“ fragte Frank mit altkluger Miene.

„O gewiß!“

„Gut. Papa, dann werde ich ganz gewiß katholisch.“

„Gleichviel, wie die katholische Religion aussieht?“ sprach der Vater lächelnd.

Frank stutzte einen Augenblick.

„O,“ rief er dann voll Zuversicht, „sie ist sicher eine sehr schöne. Percy ist ja so gut und liebevoll. Meinst Du nicht auch, Papa?“

„Es freut mich, Frank, daß Du so von ihr denkst. Du hast jetzt Gelegenheit, sie gut kennen zu lernen. Thu’ das auch. Suche alles zu verstehen, soweit Du kannst. Ich glaube, auch Percy wird Dir gern dazu behilflich sein.“

[S. 208]

„Mit Freuden!“ versicherte Percy.

„Mein liebster Gedanke ist,“ wandte sich Herr Marschall an den Rektor, „aus Frank einen wohlunterrichteten Katholiken zu machen, der weiß, was er glaubt und warum er glaubt.“

„Seien Sie überzeugt, Herr Marschall,“ sprach der Rektor, „daß ich ihn zum Übertritt nicht zulassen werde, bevor er sich, soweit seine Jugend es ermöglicht, über den ganzen Inhalt unseres Glaubens hinreichend Rechenschaft geben kann. Auch mit Bekehrungsversuchen soll ihn niemand behelligen.“

Die letzte Versicherung sollte Herrn Marschall ein Vorurteil nehmen, das bei Nichtkatholiken nicht selten ist, und welches auch dieser Herr in den vielen Jahren seines Unglaubens jedenfalls gehegt hatte: daß nämlich an einer katholischen Anstalt jeder Lehrer oder gar jeder Schüler beim Anblicke eines Andersgläubigen in einen zudringlichen Bekehrungseifer verfalle.

„Sie haben mein volles Vertrauen, hochwürdiger Herr Rektor. — Frank, wir müssen scheiden; ich muß mit dem hochwürdigen Herrn Rektor allein noch einiges besprechen. Deshalb überlasse ich Dich der Sorge Percys.“

„Komm’, Frank,“ sprach Percy freudig. „Es macht mir ein großes Vergnügen, Dich ins Pensionatsleben einführen zu können. — Adieu, Herr Marschall!“

„Adieu, Percy! Ich habe Dir für eine große Wohlthat zu danken. Auf baldiges Wiedersehen! — Frank, mein liebes Kind, lebe wohl!“

Er hob den Kleinen auf und küßte ihn heftig bewegt.

[S. 209]

„Lebe wohl, Frank, und — und behüt’ Dich Gott!“

Das letzte Wort sprach der starke Mann nur mit Anstrengung aus, und seine Stimme zitterte dabei.

„Er ist mein Trost,“ sprach er, indem er sich abwandte und das Haupt senkte, „mein letzter Trost; seine Mutter lebt nicht mehr.“

Jedes seiner Worte erzählte von jahrelanger Liebe, Sorge und Bekümmernis.

„Armes Kind!“ rief Percy, dessen Augen vor Mitleid feucht wurden. „Komm, Frank! Dein Vater wird nur noch trauriger, wenn Du länger bleibst.“

Als die Thüre des Sprechzimmers sich hinter ihnen geschlossen hatte, brach Frank in Schluchzen aus.

„Das ist recht, Frank! Weine Dich erst recht aus. Ich kann mir leicht vorstellen, wie hart es ist, sich von einem so guten Vater trennen zu müssen.“

„O ja, er war immer so gut und liebevoll! Nie hat er ein hartes Wort zu mir gesprochen. O Papa, Papa!“

Percy ging ganz in Mitgefühl und Besorgnis auf. Es stand bei ihm fest, seinem neuen Mitzögling nach Kräften den Übergang aus dem Vaterhause in eine ganz veränderte Umgebung zu erleichtern. Das konnte ja nur dazu beitragen, daß Frank um so eher aus einem Heidenkinde ein glücklicher Christ werde.

„Du hast wirklich einen sehr gütigen Vater, Frank. Es ging ihm ja so nahe, Dich verlassen zu müssen, daß ich selber ihn lieb gewann.“

„Hast Du auch gehört, was er zuletzt sagte?“ war Franks Frage, nachdem sein Weinen etwas gestillt war.

[S. 210]

„Was denn?“

„Er sagte: Behüt’ Dich Gott!“

„Warum sollte er das denn nicht sagen?“ erwiderte Percy, erstaunt, daß dieser in den religiösen Kreisen Amerikas nicht ungebräuchliche Abschiedsgruß für Frank etwas Neues war.

„Früher hat er es nie gesagt.“

Jetzt erinnerte sich Percy, daß ja der Vater ungläubig gelebt hatte. Er entgegnete nichts mehr. Da sie eben im Begriffe waren, aus dem Hause auf den Hof zu treten, trocknete er mit fast mütterlicher Zärtlichkeit die Thränen von Franks Wangen, und dieser stand bald zum erstenmale auf dem Tummelplatze der Mauracher Pensionatsjugend.

27. Kapitel, Schlussvignette

[S. 211]

Kopfvignette des   28. Kapitels

28. Kapitel.
Der neue Zögling.

D

Da gab es nun viel Neues zu sehen, so viel, daß Frank nach rechter Kinderart seinen Trennungsschmerz bald vergaß.

„Komm’,“ sagte Percy, „ich will Dich gleich zu einigen Zöglingen führen, damit Du etwas bekannt wirst. — Dort hinten steht einer an dem Thore; der heißt Tom Playfair. Er ist der beste Junge auf der ganzen Welt.“

„Er ist aber sicher nicht besser als Du, Percy.“

„O, viel besser! mindestens so gut, wie hundert meinesgleichen.“

„Ich — ich,“ erwiderte Frank bedächtig, „ich glaube das nicht, bis es mir bewiesen ist. Papa sagt, man dürfe nichts glauben, ehe es bewiesen sei.“

Percy lachte und antwortete nicht. Tom Playfair aber hatte sein Vorhaben geahnt und kam den beiden schon entgegen.

„Tom, das ist ein neuer Zögling. Ich stelle Dir hiermit Frank Marschall vor.“

„Fröhliche Weihnachten, Frank!“ sprach Tom lustig, indem er Franks Hand ergriff. „Ich glaube fast, ich habe Dich schon gesehen.“

[S. 212]

„Vielleicht. Ich ging bis jetzt in die Mauracher Stadtschule.“

„Richtig. Da habe ich Dich gesehen. Ich bin oft dort vorbeigekommen, um mir Schuhe zu kaufen, weil ich so viele durchlaufe. Percy halten sie viermal so lange. — Es wird Dir im Pensionate gefallen, Frank, glaube ich.“

„O sicher! Percy hier und dann Keenan und Donnel — ich meine, so heißen sie — sind ja so gute Jungen.“

Tom merkte jetzt, daß Frank jener Knabe sei, um dessentwillen Percy ‚sich geschlagen‘ hatte.

„Deine neuen Mitschüler werden Dir besser gefallen als die alten aus der Stadtschule, Frank.“

Da schoß es wie ein Blitz aus Franks dunkeln Augen.

„Die Jungen aus der Stadtschule?“ rief er entrüstet, stampfte mit dem Fuße auf den Boden und stieß leidenschaftlich hervor: „Ich hasse sie!“

„Frank, Du scherzest,“ sagte Percy verwundert.

„Nein, ich hasse sie! Hassest Du sie nicht?“

„Nein, wahrhaftig nicht!“

Jetzt war es an Frank, zu staunen.

„Nachdem sie Dich so mißhandelt haben?“

„Man darf ja niemals einen Menschen hassen,“ gab Percy sanft zur Antwort. „Es ist auch möglich, daß sie es nicht besser wissen.“

„Das kümmert mich nicht!“ entgegnete Frank, noch immer voll Aufregung, und ballte die kleine Faust. „Sie sollten es besser wissen! Hätte ich nur eine Flinte, ich ginge und schösse den abscheulichen Kracher sogleich tot. Das thäte ich sicher!“

[S. 213]

„Langsam, langsam, Du Feuerteufelchen,“ erwiderte Tom lachend. „Du kommst schon bald zu andern Gedanken.“

„Nein!“ fuhr der Kleine zornig fort. „Ich wollte, sie wären alle tot, und begraben dazu. Und ich gönnte ihnen nicht einmal einen Leichenstein, nur einen alten hölzernen Sarg. Ich hasse sie! Ich hasse alle, die meinem Vater oder mir böse sind, und ich habe alle gern, die uns gern haben.“

Während des letzten Satzes wurde Franks Gesichtsausdruck ruhiger, und sein Auge richtete sich voll inniger Zuneigung auf Percy.

„Es ist aber nicht erlaubt, jemanden zu hassen,“ wiederholte Percy, den Blick entgegnend.

„Und weißt Du auch,“ fragte Tom in scheinbarem Ernste, „daß Du ein Erzjude bist, und gar kein Christ? Bei Dir heißt es: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘“

„Ach, Tom,“ unterbrach ihn Percy und gab zu verstehen, daß er nicht im Scherze rede, „er weiß von Religion noch gar nichts!“

Tom pfiff, steckte beide Hände tief in die Taschen seiner Jacke und spreizte die Beine weit auseinander.

„Das ist wahr,“ bestätigte Frank, „aber ich will jetzt auch Religion annehmen. Ich will katholisch werden, wie Percy. Bist Du auch katholisch, Tom?“

Toms Erstaunen hatte sich indessen ein wenig gelegt. Er erwiderte ruhig:

„Ich meine. Ich bin so was von der Art. — Aber weißt Du auch, was Weihnachten ist, Frank?“

„O, da giebt es Mittags ein großes, feines Essen mit einem Puter, und oft auch viele, viele Geschenke.“

[S. 214]

„O Du kleiner Jude!“

„Was ist ein Jude, Tom?“

Percy lächelte.

„Frank, willst Du wirklich erfahren, was Weihnachten ist?“

„Ich will alles lernen, was Du gelernt hast, Percy.“

„Prächtig, Frank!“ lobte Tom. „Du bist auf dem besten Wege. — Percy, am besten zeigen wir ihm jetzt die Krippe im Studium. Auf dem Wege dahin kannst Du ihm alles erzählen.“

Gesagt, gethan. Gespannt lauschte Frank dem Berichte von der Geburt des göttlichen Kindes, und betrachtete dann lange und aufmerksam die Gestalten der Krippe.

„Weißt Du auch,“ fragte Percy, indem er auf die Figur des neugeborenen Heilandes zeigte, „wie es ihm später ging?“

„Nein, wie denn?“

„Er ließ sich für seine Feinde unter schrecklichen Qualen töten.“

Frank schaute ihn stumm an, blickte dann wieder auf das Kind in der Krippe und versank in tiefes Nachdenken. Dann ergriff er plötzlich Percys und Toms Hand und sagte:

„Wenn ich zuweilen etwas sonderbar rede, nehmt es mir nicht übel; ich will sicher nichts gegen Eure Religion sagen.“

„Siehst Du?“ sprach Tom. „Du fängst schon an, Dich zu bekehren. Du bist schon kein Jude mehr. — Ah, da kommt P. Middleton.“

Bevor jedoch Tom oder Percy zu der Ceremonie[S. 215] des Vorstellens übergehen konnten, begrüßte P. Middleton bereits den neuen Zögling.

„Das ist wohl Frank Marschall,“ sagte er und ergriff freundlich die Hand des Kleinen. „Gut, daß ich Dich treffe. Du gehörst zu den Meinen, Frank. Ich hoffe, Du fühlst Dich hier bald zu Hause.“

Frank sah in das liebevolle Antlitz seines neuen Vorgesetzten empor.

„Ich hoffe das auch; hier sind ja alle so gut. — P. Middleton, warum tragen Sie einen so langen Rock?“

„Ich will alles gern anders haben, als andere Leute,“ erwiderte der Pater lächelnd. — „Percy, nimm Dich auch während des Abendessens seiner an. Er soll neben Dir sitzen; ich habe den Platz zu Deiner Linken frei gemacht. Nachher bringst Du ihn dann zu mir, damit ich ihm auch im Schlafsaal einen Platz anweise.“

„Darf er hier im Studium auch neben mir sitzen?“

„Er ist zu klein. Er soll dort vorn Nachbar von Granger werden. Das ist auch ein guter Junge, Frank. Percy, Du machst sie mit einander bekannt, nicht wahr?“

„Gewiß, Pater!“

„Er ist ein guter Mann,“ meinte Frank, als P. Middleton sich entfernt hatte. „Aber er scheint nicht reich zu sein.“

„O, Du bist doch noch ein Jude!“ scherzte Tom. „Aber weshalb glaubst Du, er sei arm?“

„Sein Rock ist ja so alt. Er sollte eigentlich schwarz sein, war aber an vielen Stellen ganz grün.[S. 216] Und erst das Ding, das er so — hier — so mitten um den Leib hatte, das war ja so grün wie eine Wiese.“

„Du hast ganz recht, Frank,“ erwiderte Tom. „Er ist sehr arm; er hat nicht einen roten Cent.“

„Dann giebt er wohl sein Geld gleich wieder aus, wenn er es bekommt.“

„Er bekommt gar kein Geld. Er thut alles umsonst.“

„Das willst Du mir aufbinden, Tom!“

Dabei wandte sich Frank mit einem fragenden Blicke an Percy.

„Es ist wahr,“ entgegnete dieser. „P. Middleton bekommt gar kein Gehalt.“

„Ist er verrückt?“

„O nein! Er arbeitet aus Liebe zu Gott.“

Es war nicht zu verwundern, wenn ihn Frank mit dem Ausdrucke völliger Ratlosigkeit ansah. So manche neue Ideen stürmten auf Franks Seele ein, daß es ihm nicht gelang, sich alles zu reimen. Einen Augenblick verharrte er in tiefem Nachdenken. Dann sagte er zu Percy:

„Zeig’ mir noch etwas anderes!“

Percy und Tom führten jetzt ihren kleinen Freund in den Spielsaal. Kaum waren sie dort angelangt, da erheiterte sich Franks Gesicht, er klatschte freudig in die Hände und rief:

„O, da sind sie! da sind sie!“

Zugleich eilte er davon, um Donnel und Keenan zu begrüßen.

„Guten Abend!“ begann er. „Ich bin so froh,[S. 217] Euch wiederzusehen. Ich bleibe jetzt hier im Pensionat. Mein Name ist Frank Marschall.“

„Guten Abend, Frank!“ erwiderte Donnel, der den Kleinen gleich wiedererkannt hatte. „Fröhliche Weihnachten!“ Er ergriff Frank und hob ihn empor. „Neulich hatte ich keine Zeit, Dich genauer zu besehen, deshalb halte ich Dich jetzt gehörig ans Licht. Ich heiße Johann Donnel.“

„Und ich heiße Keenan,“ fuhr Donnels unzertrennlicher Genosse fort, nahm Frank bei den Beinen und ließ ihn wieder auf den Boden herab.

Frank sah beide einen Augenblick überlegend an.

„Seid Ihr aus einer höheren Klasse, als Percy und Tom?“ fragte er dann.

„Jawohl,“ war die selbstbewußte Antwort. „Wir sind drei Klassen höher.“

„Dann möchte ich eine Frage an Euch stellen.“

„Ist sie schwer?“

„Nein. Haßt Ihr den Kracher?“

„O nein, gewiß nicht!“ erklärte Donnel.

„Und wenn Du sähest, daß er am Ertrinken wäre, würdest Du ins Wasser springen, um ihn zu retten?“

„Wenn ich sichere Aussicht hätte, ihn zu retten, thäte ich es.“

„Ist Dir das Ernst?“

„Natürlich. Thätest Du etwas anderes, Frank?“

Franks Auge flammte.

„Ich würde noch einen großen Stein auf ihn werfen.“

28. Kapitel, Schlussvignette

[S. 218]

Kopfvignette des   29. Kapitels

29. Kapitel.
Der kleine Wißbegierige.

D

Der Tag vor Weihnachten brach an, hell und kalt. Im Lichte der späten Morgensonne funkelten Millionen von Diamanten an den Zweigen und Zweiglein der bereiften Bäume.

Die Zöglinge holten ihre Schlittschuhe hervor und schickten sich unter fröhlichem Gespräche an, das Haus zu verlassen. Percy aber, dessen Fuß noch nicht genügend hergestellt war, mußte zu Hause bleiben und saß bereits mit einem Buche zufrieden und glücklich an seinem Pulte. Da kam Frank herein und weinte, als ob ihm das Herz brechen sollte.

„Frank!“ sprach Percy erschrocken, „was fehlt Dir denn?“

„O ich wollte, ich wäre tot!“

Dieses Lieblingswort mancher eigensinnigen Kinder war in Percys Familie nie gehört worden. Er wußte nicht, daß diejenigen, die es am häufigsten aussprechen, es selten ernst meinen.

„Frank, Frank!“ erwiderte er mit großem Ernste. „Sage doch so etwas nicht. Es kann Dir ja nicht bedacht sein; es wäre viel zu böse!“

[S. 219]

„Ja, es ist mir bedacht. Und ich bin auch böse. Das ist es eben, weshalb ich weine.“

„Es hat Dich wohl jemand geneckt.“

„Nein, alle sind freundlich. Aber sie lachen mich aus.“

„Wann haben sie Dich denn ausgelacht?“

„Diesen Morgen in der Kapelle redete ich meinen Nachbar an. Er antwortete keine Silbe, sondern lachte bloß. Dann setzte ich mich. Da lachten alle um mich her. O, ich sehe es jetzt. Tom Playfair hatte recht, daß er sagte, ich wäre ein Jude.“

Jetzt konnte sich auch Percy eines Lächelns nicht erwehren.

„Fränkchen, was ist denn eigentlich ein Jude?“

„Das weiß ich nicht. Aber es muß etwas sehr Schlimmes und Dummes sein.“

„Später wirst Du verstehen, was es ist. Jedenfalls bist Du kein Jude. Du glaubst das doch, wenn ich es Dir sage.“

„Ja, Dir glaube ich es, Percy,“ sprach Frank und wurde ruhiger. „Aber weshalb hat denn Tom Playfair gestern gesagt, ich wäre einer?“

„Er wollte bloß einen Scherz machen. Tom hat Dich sehr gern, Frank.“

„So?“ und Frank lächelte beglückt.

„Ja, ganz sicher. Er war heute Morgen schon bei mir und sagte, er wolle Dich mitnehmen aufs Eis.“

„O, ich gehe nicht aufs Eis,“ erklärte Frank, und das kleine Gesichtchen verfinsterte sich wieder. „Ich muß zu Hause bleiben und lernen. Ich will Religion annehmen.“

[S. 220]

Percy sah voraus, daß P. Middleton Frank nicht gestatten werde, heute auf die Erholung zu verzichten, und wollte ihm deshalb diesen übereifrigen Vorsatz ausreden.

„Frank, kannst Du überhaupt Schlittschuh laufen?“

„Gewiß. Aber gerade deshalb will ich nicht gehen, ich will lieber etwas Neues lernen, das ich noch nicht kann.“

„Wirklich? Du kannst Schlittschuh laufen?“

„Natürlich!“

„Das freut mich sehr. Später kannst Du mir dann einen großen Gefallen thun.“

„Dir einen Gefallen thun?“ rief Frank, strahlend in freudiger Erwartung. „Womit?“

„Lehre mich Schlittschuh laufen!“

„Was? Was? Du kannst nicht Schlittschuh laufen?“

„Ich habe nie einen Schlittschuh am Fuße gehabt.“

Durch ein herzliches Lachen machte Frank seinem Erstaunen Luft.

„Wenn das nicht zum Lachen ist, Percy! Du bist doch größer und älter als ich. Ich bin aber sehr froh, daß ich Dich etwas lehren kann.“

„Gut. Dann geh’ heute auch Schlittschuh laufen damit Du es noch besser lernst und es mir noch besser beibringen kannst.“

Aller Trübsinn und alle weltschmerzlichen Gedanken waren jetzt verflogen. Das Bewußtsein, er werde einen viel älteren Zögling zum Schüler haben, machte Frank ein solches Vergnügen, daß er aus dem Lachen gar nicht herauskam.

[S. 221]

„Ich nehme alles zurück,“ sagte er. „Ich wollte nicht, ich wäre tot. Ich will am Leben bleiben und Dich im Schlittschuhlaufen unterrichten. Und es soll Dich gar nichts kosten.“

„Danke schön, Frank. Ich sehe immer klarer, daß Du kein Jude bist. — Kannst Du auch Ziellauf spielen?“

„O, und wie!“ rief Frank mit steigender Fröhlichkeit. „Kannst Du das auch nicht?“

„Nein,“ sprach Percy schmunzelnd. „Ich kann nur die leichtesten Bälle schnappen.“

„Tralala!“ jubelte Frank. „Ich lehre es Dich auch. O, dann haben wir ganze Wagen voll Spaß.“

„Heda, Frank, Du alter Sünder,“ rief jetzt Tom in den Saal, „wo bleibst Du denn? Die meisten sind schon fort.“

Frank eilte hinaus, nahm seine Schlittschuhe und schloß sich mit Tom Playfair dem Zuge an.

„Tom,“ sprach er nach einiger Zeit. „Was ist ein Sünder? Du hast mich vorhin einen alten Sünder genannt.“

„Das war nur im Scherz,“ erwiderte Tom, der merkte, daß sein kleiner Freund ein lustiges Wort hochernst auffassen könne. „Ein Sünder ist ein Mensch, der etwas Schlimmes thut. Du thust aber nichts Schlimmes. Deshalb bist Du auch kein Sünder.“

Frank überlegte wieder. Da kam eine neue Frage.

„Ist jemand, der andere Leute haßt und sich selber den Tod wünscht, ein Sünder?“

„Wenn er wirklichen Haß gegen sie hat, und[S. 222] wenn er sich ganz im Ernste den Tod wünscht, so ist er ein Sünder.“

„Dann bin ich ein Sünder,“ schloß ruhig der Denker von neun Sommern, „und Du hattest das Recht, mich so zu nennen. Aber es soll aufhören. Ich will mich bessern. Ich will Religion annehmen.“

„Du sprichst vom Religion-Annehmen, als wäre die Religion im Laden zu kaufen, und als ob man sie anziehen könne, wie Handschuhe,“ bemerkte Tom lachend.

Während der ganzen Dauer des Weges hatte er dann genug zu thun, alle Fragen seines wißbegierigen Gesellschafters zu beantworten. Das gemeinsame Abendgebet mit der Gewissenserforschung, dann Kreuzzeichen, Messe, Weihwasser und anderes, das Frank am Abend und Morgen beobachtet hatte, kam zur Sprache. Seine Seele, die noch nicht durch Laster verdorben war, hatte einen förmlichen Heißhunger nach dem Religiösen, und jedes Samenkorn fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden.

Ehe beide es dachten, waren sie schon am Ufer des Flusses angelangt, legten ihre Schlittschuhe an und genossen einige Stunden unter dem fröhlichen Schwarm ihrer Mitzöglinge die Freuden des Eislaufes.

Die Zeit des Rückweges wurde Tom abermals durch den kleinen Fragesteller verkürzt. Daheim aber veranlaßte Tom bei der nächsten Gelegenheit Percy, in seiner anziehenden Weise Frank die Hauptbegebenheiten aus dem Leben Jesu zu erzählen.

Frank lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit.

[S. 223]

„Ist es wahr,“ fragte er schließlich Percy, „daß Er auch die Kinder geliebt hat?“

„Gewiß. Er hat oft mit großer Liebe von ihnen gesprochen. Einmal wollten seine Jünger die Kinder von Ihm weghalten, weil Er so müde war. Allein er verwies es ihnen und sagte, wer nicht gleich den Kindern sei, komme nicht in den Himmel.“

„Dann will ich Ihn auch wieder lieben,“ versicherte Frank mit großem Ernste, „weil Er mich so geliebt hat.“

Im Laufe des Tages wußte Frank einen Augenblick ausfindig zu machen, um P. Middleton allein zu sprechen.

„Pater,“ begann er geheimnisvoll, „wollen Sie niemanden wieder erzählen, was ich Ihnen jetzt sage?“

„Nein, Frank.“

„Ich möchte gern hören, wie man weiß, daß es einen Gott giebt.“

„Ich denke, das kann ich Dir sagen,“ sprach der Pater lächelnd.

„Dann bitte, thun Sie das!“

Es war der Tag vor Weihnachten, für die Präfekten ein Tag unendlicher Mühe und Arbeit. Allein P. Middleton ließ sich doch nicht abhalten, dem wissensdurstigen Kleinen wenigstens in etwa zu genügen.

„Zwar bist Du im Grunde noch zu jung,“ sprach er, „um es ganz zu verstehen, ebenso wie es Dir schwerlich gelungen sein wird, einen Beweis für den Umlauf der Erde um die Sonne ganz zu erfassen. Ich will aber wenigstens den Versuch machen.“

P. Middleton schlug dann jenen Weg ein, den[S. 224] einst der Weltapostel Paulus wählte, um die Heiden zu Lystra vom Dasein des Einen Gottes zu überzeugen: ‚Gott hat sich nicht ohne ein Zeugnis gelassen, indem er den Menschen vom Himmel aus Wohlthaten spendete, Regen und fruchtbare Zeiten gab und mit Freude die Gemüter erfüllte.‘

„Ich will Dir später,“ so schloß er, „ein Büchlein geben, worin Du alles dieses viel schöner und deutlicher, als ich es Dir in der Eile sagen kann, beschrieben findest. Es ist die Geschichte eines Knaben, der etwa in Deinem Alter stand; er hieß ‚Heinrich von Eichenfels‘.“

„Ich danke Ihnen, Pater. Percy hat mir erzählt, es gebe einen Gott, aber ich muß alles ganz genau wissen. Jetzt sehe ich es ein. — Darf ich Sie noch um etwas anderes fragen?“

„Gewiß.“

„Ist es böse, jemanden zu hassen?“

„Ja, das ist böse, Gott liebt alle Menschen, und er will, daß auch wir alle Menschen lieben.“

„Glauben Sie nun, daß ein Kind, nicht älter als ich, schon böse sein und andere hassen könnte?“

„Warum nicht? Die Bosheit hängt nicht vom Alter ab, wenn auch meistens die Kinder nicht so böse sind, wie viele Erwachsene. Der heil. Augustinus, der ein sehr gelehrter und dabei ein sehr guter Mann war, ist in seiner Jugend böse gewesen. Er sagte selbst: ‚Ich war ein kleiner Knabe aber ein großer Bösewicht‘. Nachher hat er sich aber ganz gebessert.“

„Es freut mich, daß ich das höre. Ich habe[S. 225] immer geglaubt, niemand wäre so wie ich. O, ich bin schrecklich böse.“

P. Middleton lachte.

„Das ist wahr, Pater. Ich habe den Kracher gehaßt und wollte ihn totschießen. Und diesen Morgen wurde ich traurig und wünschte mir den Tod.“

„Aber jetzt, da Du gelernt hast, daß so etwas böse ist, thätest Du es nicht mehr.“

„Nein, aber ich wünschte es zu thun.“

P. Middleton erklärte nun zu Franks sichtlicher Beruhigung, daß die Neigung zu einem bösen Werke noch nicht böse macht, so lange unser Wille dagegen ist und wir ihr nicht nachgeben, sondern im Gegenteil gern von ihr frei sein möchten. Ein paar Beispiele halfen dem Verständnisse nach.

„Ich danke Ihnen, Pater. Von jetzt an will ich nie mehr böse sein. Wollen Sie mir nicht dabei helfen?“

„Von Herzen gern. Und morgen, wenn wir das Andenken an die Geburt des Jesuskindes feiern, bitte es auch, Dir zu helfen.“

„Das will ich thun. Percy hat mir schon erzählt, daß Es die Kinder so gern hat. Sobald mein Papa wiederkommt, erzähle ich ihm alles; und er soll den Heiland auch lieben.“

Der heilige Weihnachtstag brach an. Die Zöglinge hörten an diesem Feste, nach gutem christlichem Brauche, drei heilige Messen.

Der erhebende Gesang, die prächtigen Gewänder, der Schmuck des Altars und der ganzen Kapelle, die würdevollen Ceremonien, sowie der andächtige Ernst[S. 226] so vieler Knaben, welcher sich in Antlitz und Haltung kundgab: das machte einen unwiderstehlichen Eindruck auf Frank. Was ihn aber am meisten fesselte, war die große Darstellung der Geburt Jesu in der Höhle zu Bethlehem, die allen sichtbar auf dem Chore stand. Unwillkürlich faltete er die Hände zum Gebet, wie er die übrigen thun sah, und bat das göttliche Kind, das die Kinder so geliebt hat, immer von neuem um Hilfe und Beistand, daß auch er alle Menschen lieben und vor allem seinem Heiland mit Gegenliebe vergelten möge.

Nach Schluß der Feier wartete er auf Percy.

„Glückseliges Weihnachtsfest!“ war Percys erstes Wort.

„O, es ist schon glückselig. Ich bin nie so froh gewesen, wie heute. Percy, die katholische Religion ist doch schön. — Jetzt, bitte, warte hier einen Augenblick, bis Tom, Keenan und Donnel kommen. Ich habe ihnen etwas zu sagen.“

Die Genannten fanden sich bald zusammen, alle in Feierstimmung und einstweilen noch voll Erwartung der Dinge, welche der Tag in seinem Verlaufe ihnen bescheren sollte.

Frank aber wurde sehr ernst. Als sie nach den ersten gegenseitigen Festgrüßen sich zu ihm wandten, sprach er:

„Ich habe zum Kinde Jesu gebetet und will jetzt ganz sicher Eure Religion annehmen. Ich will nie wieder wünschen, ich wäre tot, und wenn ich Kracher am Ertrinken sähe, so würde ich hineinspringen und ihn retten.“

29. Kapitel, Schlussvignette

[S. 227]

Kopfvignette des   30. Kapitels

30. Kapitel.
Fröhliche Weihnachten!

L

Lauter Jubel erschallte, als beim Beginn des Frühstücks jeder unter seinem Teller eine hübsche Karte mit allerliebst gedruckten Weihnachts-Glückwünschen entdeckte.

„Nie dagewesen!“ erklärte Harry Quip, der doch jetzt sein viertes Christfest in Maurach feierte. „P. Middleton weiß immer irgend etwas Neues ausfindig zu machen. Noch jedes Jahr kam etwas, das niemand erwartet hatte.“

„Man fühlt sich wirklich ganz wie zu Hause,“ bemerkte Joseph Whyte.

„Aber ist es nicht auch ein herrlicher Weihnachtsmorgen?“ sprach Hodder. „Der Schnee fällt noch in dichter Menge, und Weihnachten ohne Schnee wäre doch wie eine Erzählung ohne Ende.“

„Oder wie Brot ohne Butter,“ fuhr Whyte fort.

„Oder wie ein Engel ohne Flügel,“ sagte Donnel, der Vorsitzende dieser lustigen Tafelrunde.

„Oder wie eine Katze ohne Miau,“ kicherte Quip.

An den übrigen Tischen ging es nicht minder fröhlich zu. Heitere Grüße und Scherze flogen hin[S. 228] und her, und das Lob des Präfekten war in aller Munde. Dann und wann vernahm man deutlich die wohltönende Stimme Percys und das helle, durchdringende Lachen Franks.

Am Schlusse verkündete P. Middleton, daß die Weihnachtskistchen bereit ständen und ihrer Eigentümer harrten. Da bedurfte es natürlich keines weiteren Antriebes, um alle Zöglinge möglichst schnell aus dem Speisesaale zu bringen.

An der Thüre blieben Percy, Tom und Harry stehen, bis Frank sich einfand.

„Hurtig, Frank,“ sprach Tom, „Du mußt uns helfen unsere Kisten suchen und untersuchen.“

„O, für mich ist keine da,“ war Franks traurige Antwort. „Mein Papa hat mir nie auf Weihnachten etwas geschenkt, obgleich er sonst immer so gut gegen mich war. Und jetzt ist er gar nicht einmal zu Hause. Nein, ich gehe nicht mit hinauf.“

„Komm’, Frank, geh’ doch mit!“ bat Percy in recht beweglichem Tone. „Ich habe beim Öffnen meiner Kiste nicht halb soviel Vergnügen, wenn Du nicht mit dabei bist.“

„Und ich auch nicht!“ „Und ich auch nicht!“ versicherten Tom und Harry.

„Gut. Dann will ich mitgehen.“

Der Studiersaal bot heute einen sehr veränderten Anblick. Alle Pulte und Bänke waren entfernt. An den Wänden entlang standen Kisten von allen Formen und Gestalten in einer Reihe, große und sehr große und kleine und auch einige sehr kleine. Über einer jeden aber prangte auf einem Zettel, der am Getäfel[S. 229] der Wand befestigt war, der Name des glücklichen Besitzers.

Als unsere vier Freunde eintraten, herrschte bereits ein reges, um nicht zu sagen aufgeregtes Leben. Einige hatten ihre Namen noch nicht entdeckt. Andere knieten bereits vor dem aufgefundenen Schatzkasten und durchforschten ihn erwartungsvoll, um dann die einzelnen Geschenke von Vater und Mutter und Onkel und Großtante ihren Nachbarn zu zeigen. Einzelne standen vor ihrer Kiste und ergingen sich in Vermutungen, was wohl in ihrem dunkeln Schoße alles enthalten sein könne. Die meisten sprachen, entweder mit ihren Nachbarn, oder, wenn diese zu sehr beschäftigt waren, mit sich selbst. Die Wände mochten in diesen Stunden Ohren haben, manche unter den Zöglingen hatten keine.

Auch Percy, von Frank begleitet, hatte seine Kiste bald gefunden.

„O wie groß sie ist!“ rief Frank verwundert aus. „Sie ist ja die größte von allen.“

„Ja, weißt Du, ich habe auch sechs Schwestern,“ erklärte Percy, indem er den Deckel abhob, „und jede hat ihr besonderes Geschenk hineingelegt. Sie sind so gut und haben mich ungemein gern.“

Die Kiste enthielt eine rechte Varietäten-Sammlung: Schöne Bücher in Prachtband, Glückwunschkarten mit den wunderlichsten Figuren, Handschuhe aus Wolle und aus dem feinsten Leder, eine Mütze aus Seehundsfell, Krawatten der verschiedensten Art, goldene Manschettenknöpfe, etliche Schachteln mit Zuckerwerk, der für ein amerikanisches Weihnachten unentbehrliche[S. 230] Truthahn, dann Kuchen, Nüsse — Herz, was verlangst Du mehr!

Franks Augen gingen immer weiter auf, je mehr Reichtümer aus der Kiste zum Vorschein kamen. Allein daß alles für Percy sei, entzückte ihn nicht weniger, als wenn er selbst der Beschenkte gewesen wäre. Zuweilen vergaß er gar sein altkluges Wesen und tanzte vor Freude umher.

„Sieh doch einmal hier, Frank! Ich habe mir gleich gedacht, es wäre für Dich etwas darin.“

Er nahm ein schönes Paar wollener Handschuhe, faßte Frank bei den Schultern und begann sie ihm anzuziehen. Der Kleine sträubte sich aus Leibeskräften.

„Sie gehören ja Dir, Percy. Und mir sind sie viel zu groß.“

„Das ist nicht wahr. Du kannst sie ganz gut brauchen und sollst sie anziehen, wenn Du mir Unterricht im Schlittschuhlaufen giebst. — Wenn Du sie nicht nehmen willst,“ sprach er, als Frank sich noch immer weigerte, „verdirbst Du mir alle Freude an meiner großen Kiste.“

Das zog. Ohne längeres Sträuben ließ sich Frank die Handschuhe anlegen, die ihm wirklich gar nicht übel standen. Er war sehr stolz auf das Geschenk und gab sich keine Mühe, seine innere Freude zu verbergen. Sogleich tänzelte er zu Tom hinüber, um auch ihm die Gabe zu zeigen.

„Aha, Frank, woher hast Du die bekommen? Du bist ja ein rechter Spitzbube.“

„Was ich bin, ist mir einerlei. Sie sind von Percy.“

[S. 231]

„Aber was ist denn mit Deinen Jacken-Taschen los? Sie sehen ganz kurios aus.“

„So? Sind sie zerrissen?“

„Komm’ her, ich will Dir zeigen, was ihnen fehlt.“

Frank näherte sich. Tom ergriff ihn mit der linken Hand, daß er sich nicht zur Wehr setzen konnte, und füllte ihm die Taschen mit Nüssen, Rosinen und Bonbons.

„So, jetzt sehen sie besser aus, so rund wie eine Wurst.“

„Frank!“ rief Percy, „komm’ zurück! Ich muß Dir noch etwas zeigen.“

In der vergnügtesten Stimmung hüpfte Frank zurück.

„Hier ist noch etwas für Dich. Bitte, Frank, weise es nicht ab! Es ist ein Gebetbuch, das Du notwendig hast, wenn Du ‚Religion annehmen‘ willst. Ich habe schon drei andere.“

Frank war für Worte zu bewegt und entzückt. Während Percy noch in seiner Kiste herumsuchte, öffnete er ehrfurchtsvoll das schön gebundene Andachtsbuch — es war das erste, welches er in die Hand nahm — und und blätterte darin umher.

Da fiel ein hübsches Bildchen heraus.

„O sieh, Percy!“ rief er, „der Stall von Bethlehem mit dem Jesuskinde, das die Kinder so liebt. Das ist schön. Hier, Percy!“

„Nein, es ist auch für Dich. Alles was in dem Buche ist, soll Dir gehören. Das ist meine Weihnachtsgabe für Fränkchen.“

„Wenn ich einmal groß bin,“ versicherte Frank,[S. 232] der trotz seines altklugen Wesens doch ein rechtes Kind war, „dann gebe ich Dir ein schönes Haus mit einem großen Park und einer feinen Kutsche, und der Kutscher soll goldene Knöpfe und einen hohen Federhut tragen.“

„Und was giebst Du Tom?“ fragt Percy, dem es gelang, sich ernst zu halten.

„Dem gebe ich alle Taschen voll Gold.“

Es verbreitete sich die Kunde, „Fränkchen“, wie er bald hieß, habe keine Weihnachtskiste erhalten. Das genügte, um das Mitleid vieler rege zu machen. Donnel, Keenan, Kenny und mehrere andere stellten sich sofort ein, ihm von ihren mehr oder minder reichen Vorräten mitzuteilen.

Frank war außer sich vor Staunen. Er fand es begreiflich, wenn sein lieber Vater ihm jede Art von Aufmerksamkeit erwiesen hatte. Daß aber Knaben, die ihm im Grunde doch alle fern standen, mit den Beweisen von Zuneigung und Freundlichkeit so verschwenderisch waren, das wollte ihm unerklärlich dünken. So ungewohnt, ja rätselhaft war ihm die liebevolle Zudringlichkeit, daß er schließlich nichts anderes zu thun wußte, als sich aus dem Saale zu flüchten.

Zum erstenmale im Leben plante jetzt Percy einen Streich. Er rief einige seiner Freunde zusammen und begann:

„Ich habe einen Gedanken.“

„Hurra!“ rief Tom. „Welch ein Ereignis! Hört, hört!“

„Fränkchen wird kaum noch eine Bescherung zu erwarten haben. Jetzt könnten wir uns zusammenthun[S. 233] und ihm eine verschaffen. Wir müssen den Mund halten, damit er nicht erfährt, von wem sie herrührt. Das wäre eine Freude!“

„Fein, Percy!“ rief Quip. „Unter meinen Geschenken ist etwas, das mir vorkommt, als wäre es für Fränkchen bestimmt und nur durch Versehen in meine Kiste geraten. Meine Großmutter scheint zu glauben, ich wäre in den letzten vier Jahren gar nicht älter geworden.“

„Sie hat so Unrecht nicht,“ warf Joseph Whyte ein.

„Deshalb hat sie mir ein großes Bilderbuch mit allerlei kurzen, kindlichen Erzählungen geschickt. Das wäre für Fränkchen wie gemacht.“

„Vortrefflich!“ sprach Keenan, „obgleich Du es jedenfalls schwer entbehren wirst. — Ich für meinen Teil opfere eine Schachtel Datteln.“

„Und ich,“ nahm Donnel das Wort, „überlasse ihm meinen Puter. Ich will aber selbst auch keinen Hunger leiden; deshalb bin ich so frei, Georg, von dem Deinen mitzuessen.“

Bevor noch die einzelnen ihre Beiträge bestimmt hatten, brachte Tom bereits eine Kiste herein, die sich bald mit Büchern, Spielzeug, Äpfeln, Kuchen und Ähnlichem füllte. Donnel unternahm es noch, alles mit Sorgfalt einzupacken, damit der fromme Betrug nicht so leicht entdeckt werde.

Um zehn Uhr hörte Fränkchen von P. Scott, den die Verschworenen ins Vertrauen gezogen hatten, es sei auch für ihn etwas da. Hui! wie er da die Treppe hinaufflog und im Saale herumlugte, um seinen Namen[S. 234] zu erblicken! Dann machte er bei seinen Freunden die Runde und bat sie, doch auch von ihm etwas anzunehmen. Zuweilen zwang er ihnen förmlich etwas von dem auf, was sie ihm selbst gegeben hatten.

Der schöne Tag verfloß in ungetrübter Heiterkeit. Am Abende vereinigte ein Weihnachtsdrama das ganze Haus in der großen Aula.

Dieses Schauspiel wurde durch Frank um einen ‚Auftritt‘ bereichert. Er hatte nämlich in dem kleinen Ort noch nie eine dramatische Aufführung zu sehen bekommen und faßte daher alles, was auf der Bühne vor sich ging, als echte Wirklichkeit auf. Als nun einer der Spielenden, der einen glaubenslosen Geldmenschen darzustellen hatte, in die Worte ausbrach: ‚Weihnachten — Humbug!‘ da konnte Frank seinen Unwillen nicht beherrschen. Er sprang auf die Bank, stampfte mit dem Fuße, erhob drohend die kleine Faust gegen die Bühne und rief voll Entrüstung laut aus:

„Das ist gelogen, Du dummer Kerl! gelogen! Du bist ein ...“

Tom hatte ihn schon gefaßt, hielt ihm den Mund zu und setzte ihn auf den Boden. Während der großen Heiterkeit, die dieser ‚Auftritt‘ verursachte, wurde ihm dann in der Eile so viel erklärt, daß er sich zufrieden gab und gegen die Fortsetzung des Stückes keine Einrede mehr erhob.

Am Abende kniete Frank, bevor er sich auskleidete, erst noch an seinem Bette nieder, legte das Bildchen, das er von Percy erhalten, vor sich und begann[S. 235] andächtig zu beten. Als nach einiger Zeit P. Middleton die Runde machte, sah er ihn noch unbeweglich knieen. Er näherte sich und gewahrte, daß der Kleine, ermüdet von den Freuden und Gemütsbewegungen dieses Tages, friedlich eingeschlummert war, die Lippen auf das Bild des Kindes von Bethlehem gedrückt.

30. Kapitel, Schlussvignette

[S. 236]

Kopfvignette des   31. Kapitels

31. Kapitel.
Ein junger Schlittschuhmeister.

I

In unschuldiger Fröhlichkeit vergingen die freien Tage leider nur zu schnell, und ehe man sich’s versah, waren Pensa und Schulstunden wieder in ihre Rechte eingetreten.

Fränkchen hatte sich unterdessen durch keine Zerstreuung abhalten lassen, zur rechten wie zur unrechten Zeit ‚Religion anzunehmen‘. Schon sechs Tage nach seiner Ankunft überraschte er den Rektor mit dem ernsthaften Ansinnen, ihn zu taufen, und verlor beinahe die Fassung, als ihm die Bitte nicht auf der Stelle gewährt wurde. Er mußte sich mit der Zusicherung begnügen, daß er getauft werden solle, sobald er den Katechismus hinreichend verstanden habe.

Von jetzt an blieb aber erst recht kein Augenblick unbenützt. Mit dem besten Erfolge sorgte er, daß P. Scott und P. Middleton sich zur Zeit der Erholung nicht einsam fühlten. Kaum sah er den einen oder andern von ihnen allein, so war er auch schon bei ihm wie ein lebendiges Fragezeichen, und brachte ein Bedenken nach dem andern vor. Er war schwer zu befriedigen. Nach manchem Satze, den ein Durchschnittsjunge[S. 237] ohne weiteres als wahr angenommen hätte, war sein gewöhnliches Wort: „Wie beweist man das?“ Was er begehrte, war ‚die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts anderes als die Wahrheit.‘

Die Fortschritte, die er machte, waren auch geradezu erstaunlich. Wenn trotzdem seine Taufe immer noch verschoben wurde, so war das einzig eine Maßregel der Klugheit und sollte keineswegs andeuten, daß man sein Wissen für unzureichend halte.

Der nächste freie Tag bot Percy dann auch die Gelegenheit, unter Franks Leitung seine ersten Versuche im Schlittschuhlaufen zu machen.

Percy war im Waschsaal und suchte nach seinen Schlittschuhen. Da kam Tom herein und rief eilig:

„Ist es wahr, Percy, daß Du heute mitgehst?“

„Freilich. Ich bin gleich fertig.“

„Gut, dann kann ich Dir also endlich die ersten Stunden im Schlittschuhlaufen geben. — Auch schon da?“ wandte er sich an Frank, der eben durch eine andere Thüre eintrat.

„Gewiß. Du sollst aber Percy keine Stunden geben.“

„Was? Du bist mir ein netter Junge. Soll man Deinen Freunden nicht mehr gefällig sein? Ich lehre ihn Schlittschuhlaufen und Dir gebe ich auch so viele Stunden, als Du willst, alle umsonst.“

„Ich brauche keine,“ erklärte Frank entschieden. „Und Percy braucht von Dir auch keine. Ich kann ihn ganz allein unterrichten.“

„Nun ja, ich will Dir Deinen Willen lassen. Aber Du hast doch nichts dagegen, daß ich Dir behilflich bin.“

[S. 238]

Frank hielt inne, um den Antrag zu überlegen.

„Gut. Du kannst hie und da helfen, aber nur, wenn Du thun willst, was ich Dir sage.“

„Schönen Dank! Du bist das liebenswürdigste Wesen unter der Sonne.“

Heute ging es hinaus zu den fest zugefrorenen Seen. Als unsere drei Freunde anlangten, glitten schon einige auf der weiten, spiegelglatten Fläche hin und her; die meisten saßen am Ufer, um sich zu rüsten.

Fränkchen wurde ganz ungehalten, als Tom Playfair Miene machte, Percy beim Anlegen der Schlittschuhe Beistand zu leisten.

„Nein, Du nicht!“ wehrte er ärgerlich. „Zieh’ Deine eigenen an! Für Percy sorg’ ich selber.“

Tom fügte sich lachend, während Frank, ohne den mindesten Versuch, sein Hochgefühl zu verbergen, Percy in seine höchsteigene Behandlung und Fürsorge nahm. Als alles bereit war, ergriff der Kleine — auch Percys Handschuhe trug er — die Hand seines Schülers.

„Tom — Tom Playfair!“ rief er dann, „jetzt komm’, Du kannst seine linke Hand nehmen. Aber gieb wohl acht! ja nicht zu schnell!“

„Hallo, Percy!“ sprach Donnel, der sich von ungefähr näherte. „Ich dachte, es bestände ein Kontrakt zwischen uns, daß Du bei mir in die Schule gehen solltest.“

„Donnel, geh’ weg!“ kommandierte Fränkchen. „Ich erlaube das nicht! Bitte, weg da! Er ist mein Schüler.“

Frank fühlte sich überglücklich in seiner Rolle und[S. 239] war auf seine Professoren-Würde so eifersüchtig, daß kaum ein Zögling sich Percy nahen durfte. Da er übrigens von seinem Vater angeleitet worden war, in allen Dingen mit Überlegung voranzugehen, so machte sein Schüler ganz anerkennenswerte Fortschritte. Es kam ihm dabei sehr zu statten, daß Percys Fußgelenke durchaus nicht schwach waren und dieser gleich von Anfang an ziemlich sicher auf den Schlittschuhen stehen konnte. Nicht lange dauerte es, da hatte er sich die Kunst, einen Zug zu machen, hinreichend angeeignet.

„Hurra!“ rief der Herr Schlittschuhmeister, als dieser wichtige Punkt gewonnen war, „bin ich nicht ein famoser Lehrer?“

„Herr—lich!“ antwortete der Schüler, und saß auf dem Eise.

„Thut’s weh?“ schrie Frank erschrocken.

„Nein, gar nicht! Aber wie soll ich wieder aufkommen?“

„Tom — Tom, helfen!“

„Fein, Percy!“ sprach Tom, indem er Hand anlegte, um Percy wieder auf die Beine zu bringen. „Jeder Schlittschuhläufer muß erst einen Stern machen. Das hast Du also glücklich zu Wege gebracht.“

„Wo ist der Stern denn?“

„Er sollte dort im Eise sein; aber es ist zu stark. Du hast aber gethan, was in Deiner Macht stand.“

„Playfair,“ warnte jetzt Frank, der es mit dem Leben ernst zu nehmen pflegte, „das merk’ Dir: Du sollst Dich über Percy nicht lustig machen!“

„O, ich bitte um Verzeihung, Herr Professor. Ich werde mich in Ihrer Gegenwart einer größeren[S. 240] Ehrerbietung befleißen. Aber das muß ich sagen: Sie verstehen zu unterrichten.“

Dieses Kompliment versöhnte den Herrn Professor oder Turn- oder Tanzlehrer oder wie man ihn sonst nennen will, und beruhigt nahm er seine Übungen wieder auf.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Percy in seinen Bemühungen hie und da eine ganz possierliche Figur bildete und die nächste Umgebung zum Lachen reizte. Da hätte man aber den Kleinen sehen sollen! Wie Feuer schoß es ihm aus den Augen; ja zuweilen fehlte wenig, daß er nicht einen viel größeren Zögling anfiel, weil derselbe sich unterstand, über Percy zu lachen.

Die ersten Versuche strengten jedoch Percy mehr an, als er erwartet hatte, und da er sich auch sonst nicht ganz wohl fühlte, so bat er nach Verlauf zweier Stunden P. Middleton um die Erlaubnis, heimgehen zu dürfen. Frank bot sich ihm zum Begleiter an. Allein Percy wies ihn ab.

„Es ist für Dich nötig, länger in der frischen Luft zu bleiben, Frank. Bitte, lauf’ zu Tom dort auf dem See und sage ihm, er möge so gut sein, mit mir zu gehen.“

Der Heimweg, den Percy jetzt mit Tom Playfair antrat, sollte auf seine Entwickelung von nachhaltigem Einflusse sein.

31. Kapitel, Schlussvignette

[S. 241]

Kopfvignette des   32. Kapitels

32. Kapitel.
Der seltsame Wanderer.

F

Fast drei Viertel des Weges hatten Tom und Percy unter fröhlichem Gespräche zurückgelegt. Eben wollten sie aus einem niedrigen, beschneiten Gestrüpp, an dessen Rande man den Bahndamm unmittelbar vor sich hatte, heraustreten, da wurden sie eines Mannes ansichtig, der auf dem Bahnkörper zwischen den Schienen voranging.

In Amerika ist es keine Seltenheit, daß der Wanderer, um durch die Einöde der Prärie zu einer andern Stadt zu gelangen, einfach den Bahnkörper als Weg benutzt; ja in minder bewohnten Gegenden ist dies sogar das Gewöhnliche. Einen Zug kann man auf der ebenen Fläche meistens rechtzeitig gewahren, zumal die Bahnlinien häufig auf lange Strecken hin schnurgerade sind.

Was aber Tom und Percy an dem Manne auffiel, war sein unsicherer Gang. Er strauchelte zwar nicht von einer Seite zur andern, wie ein Betrunkener, sondern hielt sich gut in der Mitte des Geleises. Aber mit jedem Schritte drohte er niederzusinken und schien jedesmal erst seine Kräfte sammeln zu müssen, um den nächsten Schritt zu wagen. Durch das Gestrüpp[S. 242] noch verdeckt, beobachteten sie ihn eine Zeitlang und sahen, wie er mit jeder Minute schwächer wurde.

Sie konnten ihn jetzt genau sehen. Er war hager von Gestalt, spärliche, dünne Kleider hingen zerfetzt um seinen kraftlosen Körper, und dem eingefallenen Gesichte hatten Not und Kummer ihre unzweideutigen Spuren eingeprägt.

Plötzlich brachen die beiden Knaben in einen leisen Ruf des Staunens aus. Der Mann fiel nämlich ermattet zu Boden und legte wie zum Schlummer den linken Arm und den Kopf auf eine der beiden Schienen.

Mehrere Minuten warteten sie, aber der Unglückliche regte sich nicht.

„Der Mann muß krank sein,“ flüsterte Percy endlich.

„Wenn er sich nicht verstellt!“ warnte Tom.

„Was könnte er damit erreichen wollen? Er hat uns ja ganz sicher noch nicht gesehen. Und wie armselig und elend ging er daher!“

„Meinst Du, wir sollten einmal zu ihm gehen, Percy?“

„Das finde ich selbstverständlich. Zum mindesten müssen wir ihn aufmerksam machen, daß spätestens in einer halben Stunde der Zug da ist.“

„Gut also. Doch kann es nicht schaden, wenn ich für alle Fälle etwas zu unserer Verteidigung mitnehme.“

Er ergriff einen dicken Knüttel, den er aus dem Schnee hervorragen sah, und so bewaffnet näherten sie sich dem Unglücklichen.

„Hören Sie!“ rief ihm Tom zu. „Sie sollten von dem Geleise weggehen. Jeden Augenblick kann der Zug kommen.“

[S. 243]

Bei dieser Mahnung erhob der Angeredete ein wenig den Kopf und stierte sie an, ohne ein Wort zu sagen.

„Sind Sie krank?“ fuhr Tom fort, nachdem sie näher gekommen.

„Ich bin am Sterben.“

Wenn Tom und Percy auch noch so lange lebten, nie würden sie den Eindruck vergessen, den diese mit finsterm, verzweiflungsvollem Ernste gesprochenen Worte auf sie machten.

„O weh!“ rief Percy, und schlug die Hände zusammen.

Tom warf den Knüppel weg, ging mit Percy zu dem Armen hin und fragte:

„Können wir Ihnen helfen, armer Mann?“

Der Mann schwieg. Endlich erwiderte er langsam:

„Für mich giebt es keine Hilfe mehr.“

Percy betrachtete ihn aufmerksam.

„Er leidet Hunger, Tom,“ sprach er mitleidig.

Der Unglückliche blickte ihn überrascht an und sagte:

„Ja, ich leide Hunger.“

Tom hatte zufällig noch ein Stück Kuchen in der Tasche. Sogleich zog er es hervor.

„Versuchen Sie es,“ sagte er freundlich. „Es ist das einzige, das wir bei uns haben.“

Der Mann nahm die Gabe an und wollte essen, da bekam er einen Hustenanfall, wobei er eine Menge Blut auswarf.

„Ich danke!“ erwiderte er schwach, indem er den Kuchen zurückgab. „Nahrung kann mir nicht mehr helfen.“

[S. 244]

Bei diesen Worten hatte sich der Arme auf den Ellbogen erhoben und machte einen Versuch aufzustehen, fiel aber sogleich kraftlos zurück.

Tom legte seinen Überrock ab und breitete ihn an einer schneefreien Stelle aus.

„Wir müssen ihn dorthin tragen, Percy.“

Sie thaten es mit wenig Anstrengung. Dann zog auch Percy seinen Überrock aus, um den Armen damit einigermaßen zu bedecken.

Tom wollte es ihm wehren.

„Du bist ja selber nicht wohl. Du darfst Dich einer solchen Gefahr nicht aussetzen.“

„Jetzt heißt es, sich Gefahren aussetzen,“ erwiderte Percy furchtlos, indem er, so weit es ging, den Mann mit seinem Überrock einhüllte.

Der finstere, dumpfe, verzweifelnde Blick des Unglücklichen war schon verschwunden.

„Sie sind brave Knaben,“ hauchte er.

Es folgte eine kurze Pause, während welcher Tom mit sich zu Rate ging.

„Percy, fürchtest Du Dich, allein bei ihm hier zu bleiben?“

„O nein! Nicht im geringsten.“

„Ich glaube nämlich, es geht wirklich mit ihm zu Ende; deshalb sollte einer von uns laufen, um Hilfe zu holen.“

„Gut, Tom. Ich will gern hier bleiben. Du kannst schneller laufen als ich.“

„Das beste ist dann wohl, daß ich zur Stadt laufe, weil sie uns näher ist, als das Pensionat.“

Und Tom lief in höchster Eile davon.

32. Kapitel, Schlussvignette

[S. 245]

Kopfvignette des   33. Kapitels

33. Kapitel.
Ein Tod unter freiem Himmel.

S

„Seien Sie getrost,“ sprach Percy zu dem Unglücklichen, „bald ist Hilfe hier.“

„Es ist zu spät.“

„Glauben Sie wirklich, daß Sie jetzt sterben?“

„Ja.“

Percy sprach ein stilles Gebet zur Mutter Gottes.

„Wenn Sie wirklich sterben müssen,“ fuhr er dann fort, „so thäten Sie doch gut, an die andere Welt zu denken.“

Die Gesichtszüge des Unglücklichen verfinsterten sich wieder.

„Ich komme in die Hölle. Die letzten Jahre habe ich ein schändliches Leben geführt.“

Percy überdachte dieses Geständnis einen Augenblick.

„Aber Sie sind nicht immer böse gewesen?“ fragte er dann.

„Nein. Einst lebte ich brav, war zufrieden und glücklich.“ Bei der Erinnerung an schöne, bessere Zeiten schienen neue Kräfte in den abgezehrten Körper wiederzukehren. Der Mann erhob sich auf den Ellbogen und fuhr mit größerer Lebhaftigkeit fort. „Ich besaß[S. 246] eine vortreffliche Gattin, und ein liebes Kind, einen Knaben. Ich hatte damals einen höheren Posten in einer Fabrik und bezog einen ganz anständigen Lohn. Da traten Zerwürfnisse ein zwischen den Besitzern der Fabrik und den Arbeitern, deren Folge ein Ausstand war. Ich wurde gezwungen, ebenfalls die Arbeit niederzulegen. Der Ausstand hörte auf, aber ich erhielt meine Stelle nicht wieder. Ich sah meine Gattin vor Not und Elend hinsiechen. Ich gab mich zu den niedrigsten Arbeiten her, nur um ihr zu helfen; allein es wollte mir nicht gelingen, so viel zu erwerben, als sie bedurfte. Als sie in den letzten Zügen lag und mir noch einmal zulächelte, da war es aus mit meinem Glauben an Gott.“

„Armer Mann!“ sprach Percy mit Thränen in den Augen. „Es war hart. Aber Sie hätten um so mehr beten sollen, daß Sie Ihre Frau im Himmel wiedersehen. — Warten Sie, es ist zu anstrengend für Sie, sich auf den Arm zu stützen. Legen Sie Ihren Kopf auf meine Kniee.“

Percy setzte sich so, daß er dem Manne diese bequemere Lage möglich machen konnte.

„Sie sind sehr gütig. Gern möchte ich sprechen: ‚Gott segne Sie‘, allein das bedeutet in meinem Munde nichts. — Es verblieb mir also mein Söhnchen. Und wie liebte ich es! Ich arbeitete und plagte mich Tag und Nacht um den geringsten Lohn. Aber die Zeiten wurden immer schlechter; auch das Kind sah ich sterben. Da fluchte ich Gott.“

Ein sichtbarer Schauder überkam Percy. Während[S. 247] er der Erzählung weiter folgte, bewegten sich seine Lippen immerfort in leisem Gebete.

„Ich war nahezu wahnsinnig vor Schmerz. Von jener Stunde an haßte ich die Reichen, haßte Gesetz und Ordnung. Es war nicht recht, das wußte ich; ich war mit voller Überlegung schlecht. Von jener Stunde an war ich ein Dieb, ein Landstreicher, ein Räuber, bereit zu jeder Art Verbrechen. Allein das Sündenleben brachte mir wenig Glück. Mit jedem Monate geriet ich in tiefere Not. In Maurach habe ich die letzten acht Tage kümmerlich mein Dasein gefristet und wollte jetzt, da ich zum Fahren kein Geld habe, zu Fuß weitergehen. Ich glaubte nicht, daß meine Krankheit, die meine früheren Genossen von mir wegtrieb, so stark geworden sei, daß ich dieser Kälte keinen Widerstand mehr zu leisten vermöchte. — Ich leide nur, was ich längst verdient. Gnade giebt es für mich nicht. Meine Sünden sind zu groß. Ich gehe an jenen Ort, der für meinesgleichen geschaffen ist.“

Hatte Percy einen Protestanten oder einen Katholiken vor sich? Er beschloß, nicht darüber zu fragen. An ein Beichten war ja doch nicht zu denken. Das einzige, was sich thun ließ, war, den Mann zu einer vollkommenen Reue zu bewegen. Dieses Ziel allerdings hoffte er erreichen zu können. Es war ja schon ein gutes Zeichen, daß der Mann sein Unglück als wohlverdiente Strafe ansah.

„Gott verzeiht Ihnen sogleich, wenn Sie nur Ihre Sünden wirklich bereuen.“

Der Mann überlegte, während Percy aufmerksam seinen Blick auf das abgezehrte Antlitz gerichtet hielt.[S. 248] Da fing frischer Schnee zu fallen an, still und sanft.

„Ich darf es nicht mehr hoffen. Nein! Böse habe ich gelebt, und böse muß ich sterben.“

„Aber denken Sie an Jesus, der für Sie am Kreuze gestorben ist!“ drängte Percy milde. „Den letzten Tropfen Blut hat er für Sie vergossen.“

„Freilich. Aber ich habe es mit Füßen getreten,“ war die röchelnde Antwort.

In der Aufregung begann Percy laut zu beten.

„O mein Gott, mein Gott! Was soll ich sagen, um diese unsterbliche Seele für Dich zu gewinnen. O hilf mir, daß ich ihn zu einem Akt der vollkommenen Reue bringe. — Mein Freund!“ wandte er sich wieder zu dem Sterbenden, „mein lieber Freund, als Jesus am Kreuze hing und so schrecklich litt, vergab er noch einem Räuber, der ein ganzes Leben voll Sünden hinter sich hatte, auf dessen Seele gewiß mehr Verbrechen lasteten, als auf der Ihrigen. Er vergab ihm und nahm ihn am gleichen Tage noch ins Paradies auf. Jesus ist gegenwärtig nicht weniger huldreich. Sprechen Sie zu Ihm, mein lieber Freund! Sie haben gesündigt, aber Er will Ihnen so gern vergeben. Schließen Sie Frieden mit Gott! Sie haben nur eine einzige Seele.“

Der Unglückliche lauschte aufmerksam.

Mit jeder Sekunde nahm die Blässe seines Gesichtes zu. Schon standen Schweißtropfen auf seiner Stirne.

„Glauben Sie wirklich, Gott könne mir vergeben?“

„O gewiß! Und er wird Ihnen vergeben. Er[S. 249] hegt schon deshalb ein so großes Mitleid mit Ihnen, weil Sie ja sterben wie er, unter freiem Himmel und von aller Welt verlassen.“

„O könnte ich nur bereuen! Aber es ist zu spät.“

Langsamer und beschwerlicher wurde das Atemholen. Dichter und rascher fiel der Schnee.

Percy aber überkam es wie ein Gefühl der Ehrfurcht, daß die unsterbliche Seele eines Mitmenschen in seine Hände gelegt sei; doch mit seiner Besorgnis wuchs auch das zuversichtliche Vertrauen, Gott werde sich wirklich seiner bedienen, um diese arme, verstoßene Kreatur in die Gesellschaft der Heiligen eingehen zu lassen.

Vor der Hand freilich wußte er nicht, was er thun oder sagen solle; er überlegte betend. Da erhellte sich plötzlich sein Gesicht. Er griff in die Tasche, und ein kleines, silbernes Kruzifix, das Weihnachtsgeschenk von einer seiner Schwestern, kam zum Vorschein.

„Küssen Sie das, mein Freund, zur Erinnerung an die Liebe unseres Erlösers, der für Sie am Kreuze gestorben ist.“

„Ich wage es nicht,“ seufzte der Arme und schauderte. „O mein Gott, ich bin so böse, ich bin durch und durch verdorben. Ich bin nicht wert, bei einem so braven Kinde zu sein. Gehen Sie weg von mir! Ich bin verflucht. Gehen Sie weg, daß ich Sie nicht mit in die Hölle reiße.“

Statt aller Antwort erhob Percy das Haupt des Sterbenden und drückte einen Kuß auf die erkaltende Stirne. „O mein Gott,“ flehte er dabei im Herzen, „habe Erbarmen mit ihm!“

[S. 250]

Dieser Liebesakt vollendete das Werk der Gnade. Was dem Unglücklichen noch fehlte, die Hoffnung und Zuversicht, bei Gott Verzeihung zu finden, begann jetzt in seiner gequälten Seele zu erwachen.

„Wenn Sie schon so gütig sind,“ sprach er bewegt, „dann muß auch Gott überaus gütig sein.“

„O ja, ja!“ versicherte Percy erfreut; „er ist unermeßlich gütig.“

„Aber er weiß auch“ — ein Anfall von Kraftlosigkeit zwang den Sprechenden wieder zu einer Pause — „er weiß auch alle meine Sünden, die Ihnen unbekannt sind.“

„Mein lieber Mann, wären Ihre Sünden noch tausendmal größer, als sie sind, er würde sie Ihnen doch verzeihen und würde Sie mehr lieben, als er Sie jemals geliebt hat in Ihrem ganzen Leben.“

Da bewegten sich die Lippen des Sterbenden, aber Percy verstand ihn nicht; er röchelte sehr stark. Als er sich jedoch niederbeugte, vernahm er deutlich das Wort ‚Kruzifix‘.

Hocherfreut hielt er es ihm an die Lippen und sah, daß der Mann es inbrünstig küßte.

„Gott sei Dank!“ flüsterte Percy. — „Jetzt, mein Freund, versöhnen Sie sich ganz mit Gott, damit Sie Ihre Gattin und Ihr liebes Kind im Himmel wiedersehen. Erwecken Sie vollkommene Reue über Ihre Sünden. Soll ich Ihnen dazu helfen?“

Der Mann nickte.

„Dann wollen wir erst ein wenig still zu Gott beten; denn es ist eine große Gnade.“

Eine kurze Weile schwiegen sie.

[S. 251]

Um sie her schwieg die weite, weiße Prärie; schweigend sanken die zahllosen Schneeflocken in unsicheren Bahnen herab; nur in der Ferne ertönte der schrille Pfiff der Lokomotive durch die lautlose winterliche Stille.

Aus zwei Herzen aber stieg ein flehentliches Gebet empor zu Gott, dem Herrn der Menschenseele, der die Werke seiner Hände nicht vergißt und nahe ist denen, die ihn suchen. Es war, als ob durch die wirbelnden Schneeflocken Engelsgestalten lugten, mit Sehnsucht des Augenblicks harrend, da sie sich über einen büßenden Sünder freuen könnten.

„Küssen Sie das Kruzifix noch einmal!“ begann Percy wieder; er sah, daß der Tod schneller komme, als er erwartet hatte. „So — jetzt sprechen Sie mir von Herzen nach, was ich Ihnen vorbete.“

„O mein Gott — es thut mir leid gesündigt zu haben — weil ich weiß — daß Du so gut gegen mich bist — weil Jesus Christus sein Leben für mich geopfert hat — weil Du mich im Himmel selig machen willst — weil ich weiß — daß es nichts Größeres und Schöneres giebt als Dich. — O mein Gott — ich liebe Dich über alles. — Ich will Dich nie wieder beleidigen.“

Langsam und deutlich sprach Percy diese Worte und bemerkte an der Bewegung der Lippen, daß der Sterbende jeden Absatz nachsprach.

Das Getöse des Zuges war deutlich vernehmbar.

„O mein Jesus, Barmherzigkeit!“ sprach Percy abermals, und der Sterbende wollte es wiederholen. Allein es gelang ihm nicht. Ein heftiger Hustenanfall[S. 252] befiel ihn; aber er hatte zum Husten nicht mehr Kraft genug. Sein Atmen verstummte, das Auge richtete sich noch einmal auf seinen Wohlthäter, die Arme bewegten sich in der Not eines Erstickenden, das Gesicht nahm den Ausdruck der Todesangst an. Noch einmal sprach ihm Percy das kleine Schußgebetchen vor und glaubte zu bemerken, daß er es wiederhole.

Da rollte der Zug vorbei, und der Boden zitterte unter ihm, der Zug in seiner Kraft und Majestät, das Zeugnis von der Größe und Macht des menschlichen Geistes, der Zug mit so vielen reichen Menschen, deren Herz sich nie einem leidenden Mitmenschen in Liebe erschlossen, deren Auge nie das Elend geschaut, deren wohlgespickte Börsen sich nie zur Linderung von Not und Armut geöffnet hatten. Und während die stolze Wagenreihe vorüberflog, gab der verlassene, von der ganzen Menschheit hinausgestoßene Arme betend seinen gottentsprossenen Geist mit Gott versöhnt in die Hände seines Schöpfers und Erlösers zurück.

33. Kapitel, Schlussvignette

[S. 253]

Kopfvignette des   34. Kapitels

34. Kapitel.
Tom begegnet zwei Gesellen, die er lieber nicht sähe.

T

Tom war unterdessen auf dem Wege zur Stadt. Eine Viertelstunde war er schon ohne Ermüdung vorangeeilt; denn die Anstrengung war für den starken, abgehärteten Knaben eher ein Vergnügen als eine Unannehmlichkeit. Die Ellbogen fest in die Seiten gestemmt, die Hände geballt, den Hut tief in Gesicht und Nacken gedrückt, wäre er für jeden Liebhaber athletischer Übungen ein erwünschter Anblick gewesen.

Jetzt hatte er die Stadt in Sicht.

„Vorwärts, alter Junge!“ sprach er zu sich selbst. „Noch eine Viertelstunde ist’s, aber wenn Du es nicht in zehn Minuten machst, geb’ ich keinen Heller für Dich! — Jawohl, auch in sechs muß es gehen!“

Da erblickte er gar nicht weit von sich zwei Gestalten.

„Wer mag das sein?“ fragte er sich. „Vielleicht sind es Freunde. Doch ich sehe es ja bald; sie kommen auf mich zu.“

Als sie sich hinreichend genähert hatten, erkannte er zwei Knaben, aber gerade diejenigen, die er für heute lieber auf den Mond als auf seinen Weg gewünscht[S. 254] hätte. Der eine war nämlich kein anderer als der berüchtigte Kracher, der zweite ein jüngerer, gleichgesinnter Genosse, Dick mit Namen, der die Ehre hatte, Krachers besonderer Freund genannt zu werden.

Auch sie erkannten in ihm sogleich einen Zögling des Pensionates, und Tom sah schon voraus, was kommen werde. Der Kleinere warf die Schlittschuhe, die er trug, auf der Stelle zu Boden und fing trotz der Kälte an, seinen Rock auszuziehen: die Vorbereitung zu einem Faustkampfe.

„Eine nette Geschichte!“ dachte Tom. „Ich soll dran, und ich bin doch gar nicht in der Verfassung, mich mit diesen Kerlen zu balgen. Ausreißen kann ich nicht; dann liefen sie mir nach und Kracher hätte mich bald eingeholt. Hätte ich nur einen rechtschaffenen Knüppel; dann wollte ich sie schon Mores lehren!“

Unmittelbar vor den beiden ging er langsamer, um ruhiger atmen und sprechen zu können. Allein der Altere überhob ihn der Mühe, das Gespräch zu eröffnen.

„Nach solchen Kinderchen wie Du sind wir gerade ausgegangen,“ sagte er.

„Komm’ her, Du Pensionatsknäblein!“ rief der andere. „Komm’ her, und zeig’ mal, was Du kannst! Vorwärts! mach’ Dich bereit!“ Dabei führte er eine Art Kriegstanz vor Tom auf, um diesem zu beweisen, wie mutig er sei.

Tom ergötzte dies dergestalt, daß er für einen Augenblick seine wichtige Sendung vergaß. Ein vergnügtes Zwinkern spielte um seine Augen, und die[S. 255] Gesichtsmuskeln zuckten ihm so stark, daß er nach seinem eigenen Geständnis und Ausdruck, es nur mit Mühe fertig brachte, sein „Schmunzeln nicht loszulassen“.

Dick gewahrte das, hielt es aber für Furcht; er ließ deshalb seiner ungeschliffenen Beredsamkeit vollends die Zügel schießen und erging sich in Ausdrücken der Verachtung, die hier nicht wiederzugeben sind.

Anfangs steigerte sich Toms Vergnügen nur noch. Plötzlich aber wurde sein Gesicht sehr ernst; denn der Schnee begann zu fallen, und erinnerte ihn an Percy und den Sterbenden.

„Hört,“ sprach er mit großer Ruhe und Freundlichkeit, „ich bin nicht auf einen Kampf gefaßt. Dort hinten liegt ein Mann, ein ....“

„Schwindel!“ rief Kracher. „Ob Du gefaßt bist oder nicht, das ist uns egal. Du nimmst es mit Dick auf! der ist nicht größer als Du. Sonst prügle ich Dich, bis Du nicht mehr weißt, wo Deine Knochen sind.“

„Nein, ich thue es nicht!“ erklärte Tom fest und entschieden.

„Nicht? ich habe mir doch gleich gedacht, Du wärest ein Feigling. Versetz’ ihm eines, Dick! Er soll!“

Dick folgte der Anweisung, stürzte sich auf Tom und führte einen Stoß gegen ihn. Tom erhob halb unschlüssig die Hände, um sich zu schützen, vermochte aber den Stoß nur teilweise abzuwehren und wurde im Gesichte getroffen.

Tom war nun keineswegs leicht zu erzürnen, aber andererseits auch kein Engel der Sanftmut. Der plötzliche, so ganz ungerechtfertigte Angriff, sowie das[S. 256] Gefühl des Schmerzes ließen ihn jetzt sich selbst und seiner Aufgabe vergessen; er ballte die Faust und führte einen so kräftigen Stoß auf seinen Gegner, daß dieser nach rückwärts taumelte und fast zu Boden fiel. Wie der Blitz war Tom bei ihm, um ihn völlig niederzuwerfen. Allein die erhobenen Hände senkten sich: Tom gedachte des Unglücklichen, der mit dem Tode ringend auf der Prärie lag, dachte an Percy, der ohne genügende Kleidung diesem Wetter schutzlos ausgesetzt war. Inbrünstig betete er um Entschlossenheit und Mut. Und die Gnade kam in sein Herz, sanft und lieblich, wie die Schneeflocken, welche jetzt die Luft erfüllten.

„Wenn Ihr wollt,“ sprach er, indem er einen Schritt zurücktrat, „so schlagt nur beide auf mich los. Ich wehre mich nicht. Nur um eines bitte ich Euch. Nicht weit von hier liegt ein armer Mann auf der Prärie und stirbt vor Hunger. Wenn Ihr dann mit mir fertig seid, so geht doch hin, ihm zu helfen, oder verschafft ihm sonst Hilfe! Und Dich bitte ich von Herzen um Verzeihung, Dick, weil ich Dich in der Hitze geschlagen habe.“

Während dieser Worte hielt Tom mit seiner rechten Hand in der Jackentasche das Skapulier des göttlichen Herzens gefaßt, das er einstens Percy gezeigt hatte. Seine Wangen waren blaß, aber unerschrockenen Auges erwartete er den Ausbruch niedriger Rache, den er als unvermeidlich vorauszusehen glaubte.

Allein Gott war mit diesem guten Willen zufrieden. Seine Worte bewirkten etwas ganz anderes, als er gedacht hatte.

[S. 257]

Dick errötete — oft mochte ihm das nicht passiert sein — und auch auf Kracher schienen Toms Worte einen sehr tiefen Eindruck gemacht zu haben.

„Ein armer Mann?“ sprach er und war sichtlich ergriffen. „Warum hast Du uns das nicht gleich gesagt? Dann hätten wir Dich nicht aufgehalten. Aber was können wir thun? Ich habe etwas Wein bei mir, den will ich gern hergeben.“

„Wein?“ rief Tom erfreut. „Gerade das Rechte. Aber es ist keine Zeit zu verlieren; er kann jeden Augenblick sterben.“

„Dann vorwärts!“ sprach Kracher.

„Kann ich nicht auch helfen?“ fragte Dick eilig.

Die Frage war an Tom gerichtet und in einem Tone gesprochen, der zugleich volle Verzeihung zusicherte.

„Gewiß, Dick, mein Freund, Du kannst sehr viel thun. Lauf’ zur Stadt und hole so schnell Du kannst einen Wagen oder Schlitten! — Wir sind Freunde, nicht wahr?“

Bei diesen Worten schob Tom ein Dollarstück in Dicks Hand. Der arme Junge mit den geflickten, dünnen Kleidern sah allerdings aus, als könne er eine materielle Unterstützung wohl gebrauchen.

Er wollte danken, aber die Ausdrücke für edlere Gemütsbewegungen waren ihm nicht geläufig. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und wandte sich ab, ohne ein Wort hervorbringen zu können.

Tom und Kracher eilten also zur Unglücksstätte zurück.

[S. 258]


Der Schnee fällt in dichter Menge. Auf der weißgekleideten Erde liegt eine frische Leiche; ihr Antlitz ist durch ein letztes Gebet verklärt.

Zur Seite kniet ein betender Knabe, ohne Schutz gegen Schnee, Kälte und Wind.

Für Tom wie für seinen minder zartfühlenden Gefährten bedurfte es keiner Worte, um den Lauf der Dinge zu erklären. Einen Augenblick standen sie sprachlos vor dem ergreifenden Bilde. Dann knieten auch sie wie auf Übereinkunft neben dem Toten nieder, und im Gebete wurden alle eins.

Als der Wagen kam und die Leiche unter dem Dache von Segeltuch geborgen war, wandte sich Kracher zu Percy:

„Kennst Du mich noch?“

Percy schaute ihn an, nickte und reichte ihm lächelnd die Hand.

34. Kapitel, Schlussvignette

[S. 259]

Kopfvignette des   35. Kapitels

35. Kapitel.
Schluß.

P

Percy war, als der Leser ihn kennen lernte, fast mehr Mädchen als Knabe. Aber schnell, über Erwarten schnell sind seine Mädchensitten verschwunden; ein männlicheres festeres Wesen bekundet sich schon auf den ersten Blick in Haltung und Gesichtszügen.

Daß es ihm an Opfermut ja an Heldensinn nicht fehlte, hat er bei mehreren Gelegenheiten gezeigt. Ja sein ganzes Verweilen unter den Mitzöglingen, sein unermüdlicher Fleiß, seine Bescheidenheit und nie versagende Nächstenliebe sind ein Beweis, daß die christliche Tugend tiefe Wurzeln in seinem Herzen geschlagen und der schönsten Früchte fähig ist.

Vollendet aber wurde seine Entwickelung in jener Stunde, welche er einsam bei der Leiche eines von ihm selbst für den Himmel geretteten Armen auf der öden Prärie in bitterer Kälte zubrachte. Der vortrefflich gebildete Knabe, dessen Sinn in allem stets auf das Ideale gerichtet, dessen Seele mit einem reichen wohlgeläuterten Gemütsleben ausgestattet war, erblickte dort zum erstenmale eine Welt vor sich und um sich,[S. 260] eine Menschenwelt, in der ein heftiger Kampf um das Wohl vernunftbegabter Geschöpfe hin und her wogt. Er sah, wie die Not der Armut und die Hartherzigkeit des Reichtums sich mit den Mächten der Finsternis verbunden haben, um den Sendboten des göttlichen Heiles, in deren Dienste die Mildthätigkeit steht, die unsterblichen Seelen streitig zu machen. In jener Stunde reifte in ihm der Entschluß, an diesem Kampfe sich zu beteiligen und unter der Fahne Gottes in den vordersten Reihen zu fechten.

Noch ist dieser Entschluß unbestimmt; Percy fühlt sich unfähig, den Weg zu wählen, der ihn durchs Leben führen soll. Jahre müssen vergehen, bevor ihm der höchste Kriegsherr den Posten anweisen wird, den er im Streite zu verteidigen hat. Aber bis dahin wird ihm der große Gedanke als ein Leitstern in den Arbeiten, den Freuden und Leiden seiner Studienjahre vorschweben.

Noch ein paar Worte, und wir scheiden von unsern kleinen Mauracher Freunden.

Fränkchen wurde nach einiger Zeit in die Kirche aufgenommen; Percy war sein Taufpathe. Mit seinem Betragen ist man ganz zufrieden. Sein Lehrer aber glaubt in ihm ein außerordentliches Talent für Mathematik zu erkennen. Seine Zuneigung zu Tom und Percy nimmt täglich zu. Er will seine Ferien bei Percy zubringen.

Tom ist noch derselbe fröhliche, hochherzige, edelgesinnte Junge. Niemand weiß, daß er ein Jahr vor Percy einen ähnlichen, aber bestimmteren Entschluß gefaßt, und seine Beständigkeit auf dem guten Wege[S. 261] führten weder seine Mitschüler noch die meisten seiner Vorgesetzten auf die Quelle zurück, der sie entstammt.

In den Ferien wird er vorerst einige Zeit bei seiner guten Tante Hanna zubringen; dann aber will er, wenn sein Vater es gestattet, Percy und Fränkchen für ein paar Tage besuchen.

Es ist noch nicht ganz sicher, ob auch Harry Quip, Willy Hodder und Joseph Whyte an der Partie teilnehmen. Wahrscheinlich wird es sich machen lassen. Und dann! heissa, dann wird es lustig! Denn alle bringen mit, was zur rechten Fröhlichkeit gehört, ein braves Herz und einen frischen, offenen Kopf.

Tom und Percy reisten zusammen bis Kansas City, von wo sie verschiedene Richtungen zu nehmen hatten.

„Adieu, Tom,“ sprach Percy bewegt, als sie sich trennten, „ich werde nie vergessen, wie gut Du gegen mich warst. Du hast wirklich einen Jungen aus mir gemacht.“

„Unsinn,“ erwiderte Tom, indem er Percys Hand herzlich schüttelte. „Was Du bist, verdankst Du Dir selbst. — Du bist,“ fügte er hinzu, „Du bist mehr als ein Junge, Du bist ein kleiner Mann. — Adieu, Percy!“

„Adieu! — und behüt’ Dich Gott!“

„Adieu! Behüt’ Euch Gott!“ rufen auch wir den kleinen Amerikanern zu, „und herzlichen Dank für alle Freude, die wir in Eurer Gesellschaft genossen!“

35. Kapitel, Schlussvignette

[S. 263]

Bemerkungen zu den ausländischen Wörtern.

Der betonte Vokal ist fett gedruckt.

Baltimore sprich baltimor. (Das a ist vor l stets ein Mittellaut zwischen dem deutschen a und o.)

Base Ball sprich behß bahl. (Vgl. das vorige Wort.)

Cent sprich ßent (siehe Dollar).

Chicago sprich schikago.

Cincinnati sprich ßinßinnätti.

Dollar sprich doller, die Hauptmünze der Vereinigten Staaten. Er hat den Wert von 4 Mark oder 2¼ österr. Gulden oder 5 Francs. 1 Dollar = 100 Cents.

Gladstone sprich glädsten, großer englischer Staatsmann der Gegenwart.

Granger sprich grehndscher.

Harry sprich härri. Es ist eigentlich das Verkleinerungswort von Henry, Heinrich, wird aber gewöhnlich statt desselben gebraucht.

Infirmerie, in vielen klösterlichen Anstalten der Ausdruck für die Krankenzimmer, und die zum Dienste der Kranken bestimmten Räumlichkeiten (Apotheke u. s. w.), in Maurach ein eigenes getrenntes Gebäude. (Vgl. Tom Playfair S. 37.)

Kansas City sprich känßes ßitti.

Keenan sprich kihnen.

Lincoln sprich linkeln.

Longfellow sprich longfello, amerikanischer Dichter dieses Jahrhunderts. (Vgl. Baumgartner, Longfellows Dichtungen.)

Maryland sprich mehriländ.

Middleton sprich middelten.

Milton sprich milten, englischer Dichter 1608–1674.

[S. 264]

Pani; dieses Wort, Name eines Indianerstammes, wird auch wohl nach englischer Weise Pawnee geschrieben, ist aber stets pahnih zu sprechen.

Percy sprich pörßi.

Playfair sprich plehfähr.

Prärie, weite Länderstrecken im Stromgebiete des Mississippi, die teils ganz eben, teils von niedrigen Hügelwellen durchzogen und fast nur mit Gras bewachsen sind.

Ryan sprich reien.

Shakespeare sprich schehkspihr, englischer Dichter 1564–1616.

St. Louis sprich ßehnt luis.

Sykesville sprich ßeikswil.

Tennyson sprich tennißen, ein englischer Dichter 1810–1892. Die Strophe, welche S. 52 gemeint ist, findet sich in ‚The Princess; a medley‘, und lautet:

The splendor falls on castle walls
And snowy summits old in story:
The long light shakes across the lakes
And the wild cataract leaps in glory.

Toast sprich tohst, geröstetes Brot (Zwieback). In den Ländern englischer Zunge wird Toast zum Wein genommen, und so erhielt das Wort zugleich die Bedeutung „Trinkspruch“. In dieser Bedeutung spricht man es bei uns auch wohl toast.

Toilette sprich toalette.

Tom ist das im gewöhnlichen Umgang gebrauchte Wort für Thomas.

Whyte sprich hueit.

Willy ist das Verkleinerungswort von William (uiljem) Wilhelm; es sollte eigentlich uilli gesprochen werden, doch ist es bei uns mit der deutschen Aussprache ganz eingebürgert.

Wynn sprich uinn.

Schlussvignette