The Project Gutenberg eBook of Buchstabenmystik

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Title: Buchstabenmystik

Author: Franz Dornseiff

Release date: March 29, 2024 [eBook #73284]

Language: German

Original publication: Leipzig: B. G. Teubner

Credits: Peter Becker, Marc-André Seekamp and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BUCHSTABENMYSTIK ***

[S. 1]

BUCHSTABENMYSTIK

INAUGURAL-DISSERTATION

ZUR ERLANGUNG DER DOKTORWÜRDE
DER HOHEN PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄT
DER RUPRECHT-KARLS-UNIVERSITÄT
ZU HEIDELBERG VORGELEGT

VON

FRANZ DORNSEIFF

DRUCK VON B. G. TEUBNER IN LEIPZIG 1916

[S. 2]

Die Arbeit erscheint vollständig als Heft VII der Στοιχεῖα,
herausgegeben von Franz Boll.
(Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin.)

[S. 3]

Die mystischen Spekulationen über das Alphabet und die Verwendung der Buchstaben zum Zaubern, wovon im folgenden die Rede sein soll, spielen eine große Rolle in der Kabbala und in muhammedanischen Kreisen. Es handelt sich also um Vorstellungen, die noch heute fortleben. Denn die Kabbala ist noch durchaus lebendig in der Sekte der Chasidim, der Anhänger des polnischen Messias Baal Schem († 1795)[1] und sonst im Volk wie in Theosophenkreisen. Ebenso haben die betreffenden muhammedanischen Sekten noch immer ihre Gemeinde, und der gelehrte Zauber, der die geheimen Kräfte der Buchstaben nutzt, ist die Hauptstütze für den Islam bei den wilden Völkern.[2] Die Wurzeln dieser Superstition liegen im Altertum, wie für so vieles im späteren Judentum und im Islam. Der reiche Stoff, der dies zeigt, soll hier gesammelt werden. Es läßt sich auch erkennen, aus welchen ganz bestimmten antiken Voraussetzungen diese Art der Mystik erwachsen ist, die sich dann als dauernder Bestandteil der mystischen Formensprache so lange gehalten hat.

[1] Jewish Encyclopedia s. v. Hasidim. Martin Buber, Vom Geist des Judentums, Leipzig 1916 S. 108 ff. Eliasberg, Süddeutsche Monatshefte 13 (1916) S. 703 ff.

[2] Becker in der Zeitschrift „Der Islam“ II (1911) S. 31 ff. Besonders Maghrib gilt bis in die neuesten Zeiten als Hochschule kabbalistischer Kunst, s. Goldziher, Zeitschr. d. d. morgenl. Ges. 41 (1887) S. 49.

I. DIE WURZELN DER BUCHSTABENMYSTIK

§ 1. DIE ANTIKEN ANSICHTEN ÜBER DEN URSPRUNG DER SCHRIFT

Nach dem Glauben mancher Völker stammt die Schrift von den Göttern. Keines unter diesen hat wohl die Findung der Buchstaben so sehr als kosmisches Ereignis ersten Ranges betrachtet wie es die altnordischen Skalden taten, von deren Dichtung die ältere Edda Reste erhalten hat. In der Edda[3] muß nach einem tiefsinnigen Mythus Odin,[S. 4] der oberste Gott, sich selbst opfern, um mit den Runen Wissen und Zaubermacht zu erlangen:

„Ich weiß, daß ich hing am windbewegten Baum
Neun Nächte durch,
Verwundet vom Speer, geweiht dem Odin,
Ich selber mir selbst.
Man bot mir kein Horn noch Brot zur Labung,
Nach unten spähte mein Aug’,
Ächzend hob ich, hob aufwärts[4] die Runen,
Zu Boden fiel ich alsbald.
Zu gedeihen begann ich und bedacht zu werden,
Ich wuchs und fühlte mich wohl.
Ein Wort fand mir das andere Wort,
Ein Werk das andere Werk.
Runen wirst du finden, geratene Stäbe,
Stäbe voll Stärke, Stäbe voll Heilkraft,
Von dem Fürsten der Sänger gefärbt,
Von mächtigen Göttern gemacht,
Es ritzte sie Ragna-Hropt“ usw.

Die Buchstaben sind hier die Fundamente alles Wissens und der Preis, um den sie erworben werden, kann gar nicht hoch genug sein. Ist nun Ähnliches schon im Altertum zu entdecken?

Die Vorstellung von der göttlichen Herkunft der Schriftzeichen finden wir sonst besonders da, wo die Kunst des Schreibens lange das Sonderrecht einer Kaste geblieben ist. Im alten Orient genießt der Schreiber, der in der Regel dem Priesterstand angehört, hohes Ansehen. Er trägt linnene Gewänder, da nichts Tierisches ihn berühren darf.[5] Der Schreiber hat unter den Göttern seinen Patron, der zugleich sein Gegenstück im Himmel, der Schreiber der Götter, ist. In Babel ist es Nebo[6], in Ägypten Thoth. Nebo, Marduks Sohn, ist der Gott, der die[S. 5] Schicksale aufschreibt und so das Leben verkürzt oder verlängert mit seinem „Griffel des Geschickes“.[7] Er gab den Menschen die Schrift. Für die Ägypter hat das Thot[8] getan, der Gott der Worte und Bücher, der Erfinder der magischen Formeln, denen nichts widersteht, und Verfasser der Zauberbücher, der Erfinder fast aller Kulturgüter. Jede Hieroglyphe ist für den Ägypter ein Gotteswort.[9] Später machte dem Thoth Isis die Ehre der Buchstabenerfindung streitig.[10] Im Islam finden wir die Lehre, daß Gott selbst die Buchstaben schuf und sie dem Adam offenbarte als ein Geheimnis, das er keinem der Engel kundtat.[11] Ja, eine alte und angesehene Tradition läßt diese Vorstellung sogar beim Beginn der Sendung Muhammeds eine Rolle spielen. Nach ihr wurde der Prophet von einem Engel nachts besucht und heftig aufgefordert, eine von dem Engel mitgebrachte Schrift zu rezitieren, die von Gott als Schöpfer und Offenbarer der Schreibkunst handelte — im Koran als Sura 96: „Verkündige im Namen deines Herrn, der schuf, der den Menschen von geronnenem Blute schuf; verkündige, denn dein Herr ist der gnädigste, er, der mit der Feder unterrichtete usw.“ In dieser Überlieferung spricht sich die naive Wertschätzung einer heiligen Schrift aus, die Muhammeds Buß- und Gerichtspredigt begleitete. Der Glaube daran, daß die Buchstaben in der Zeit, zumal durch menschliche Erfindung, entstanden seien, wird noch heute von orthodoxen Islamiten als Ketzerei gebrandmarkt.[12]

Darin treffen sie sich mit den Christen der orientalischen Kirchen.[S. 6] „Vor anderthalbtausend Jahren ersannen zwei Männer das armenische Alphabet, der heilige Mesrop erfand die Konsonanten und der Katholikos Sahak fügte die Vokale hinzu. König Wramschapuch half ihnen dabei und sorgte dafür, daß die neue Schrift durch eine Bibelübertragung sofort geheiligt wurde. Die einem fremden Auge wild verschnörkelten Zeichen, die mit geringen Änderungen heute noch gebraucht werden, gaben erst die Möglichkeit, die überaus lautreiche armenische Sprache schriftlich niederzulegen, für die das griechische und syrische Alphabet ungenügend gewesen war. Noch der Apostel Gregor, der dem Volke das Evangelium armenisch verkündete, hatte in den beiden fremden Sprachen geschrieben. Mit dem eigenen Alphabet war die Sprache fixiert, mit der Sprache die Kirche, die ihren monophysitischen Glauben für sich allein beibehielt, von der gefährlichen Berührung mit den Byzantinern geschieden, mit der Kirche die armenische Nation über alle politische Spaltungen hinaus vereint. Das armenische Alphabet ist nicht minder bedeutsam als das slawische, mit dem Kyrill und Methodius eine ganze Völkerfamilie von der westlichen Kultur trennten. Nur wer bedenkt, wie heute noch um Schriftzeichen gekämpft wird, wie etwa in Albanien unversöhnlicher Haß die Anhänger des arabischen und des lateinischen Alphabetes trennt, kann die Hartnäckigkeit verstehen, mit der im Orient jedes Volk an den krausen Zeichen hängt, die ihm seine kulturelle Selbständigkeit bedeuten oder doch vortäuschen. Und darum reden die Mönche von Etschmiadsin, deren Abt ein Papst ist und deren Gemeinde ein Volk, von den Buchstaben, die einer der Ihren erfunden, mit größerer Ehrfurcht als von Gott und seinem eingeborenen Sohne selber.“[13]

Im Gegensatz zu diesen orientalischen Vorstellungen fehlen in Griechenland derartige Mythen nahezu ganz, ebenso wie ein bevorrechteter schreibender Priesterstand fehlt. Die gebildeten Griechen der klassischen Zeit waren sich bewußt, die Buchstabenschrift wie so manche Erfindungen, die dem praktischen Leben dienen, aus dem älteren Orient überkommen zu haben. Es machte ihnen wenig aus, trotz ihres regen Interesses für mythische εὑρεταί, ob ihren eigenen Vorfahren oder Nichtgriechen die Priorität zukam. Ja, sie haben der ehrwürdigen Weisheit des Ostens eher in zu vielen als zu wenig Dingen die Urheberschaft zugestanden. Der wirkliche Ursprung der von den Griechen übernommenen Schrift, der durch die Epigraphik bestätigt wird, steht bei Hekataios und Dionysios, den milesischen Logographen (fr. 36 I FHG I p. 29[S. 7] II p. 5)[14] und bei Herodot zu lesen (5, 58): die Phoiniker — angeblich unter Kadmos — haben den Ionern die Buchstaben gebracht. Deshalb heißen die Buchstaben φοινιϰήϊα vgl. Kritias bei Athen. epit. p. 28 Kaibel = Fragmente der Vorsokratiker ed. Diels p. 614, 10 und unzählige Stellen, welche zeigen, daß die Gebildeten, insbesondere die Grammatiker, das immer gewußt haben.

Neben dieses Wissen trat früh eine andere Anschauung. Die ägyptischen Denkmäler einer uralten Vergangenheit haben auf die Griechen einen starken Eindruck gemacht. Sie sahen mit neidischer Bewunderung auf die schön geordnete Überlieferung einer ungeheuren Vorzeit, über die sie selbst nur die lästerlichen Lügen ihrer Dichter besaßen. Solon muß sich in Platons Timaeus p. 22 a sagen lassen: Ὧ Σόλων, Ἕλληνες ἀεί παῖδές ἐστε ... νέοι ἐστὲ τἀς ψυχὰς πάντες· οὐδεμίαν γὰρ ἐν αὐταῖς ἔχετε δἰ ἀρχαίαν ἀϰοὴν παλαιὰν δόξαν οὐδὲ μάϑημα χρόνῳ πολιὸν οὐδέν.[15] Hier war die Heimat der Kultur, von hier mußte auch die Schrift stammen, das mußte sich jedem aufdrängen, dem die Priester die uralten Inschriften auf Pyramiden und Tempelwänden wiesen.[16]

Wo Platon, der die Pyramiden wohl selbst gesehen hatte, auf den Ursprung der Schrift zu reden kommt, spricht er nur davon, daß der Ägypter Theuth die Buchstaben erfunden hat. Im Phaidros 274 c heißt es, der δαίμων Theuth sei einst zu dem König Thamus gekommen und habe ihm allerlei Erfindungen, darunter auch die Schrift, vorgelegt.[17]

[S. 8]

Damit stand Platon unter den Griechen nicht allein. Kadmos wird dementsprechend zum Ägypter gemacht.[18] Auch Danaos, der Bruder des Aigyptos, sollte die Schrift aus Ägypten mitgebracht haben, nach Pythodoros (schol. in Dionys. Thrac. p. 190, 22; 183, 7 Hilgard). Der Historiker Antikleides aus Athen, der nach Schwartz (bei Pauly-Wissowa s. v. Antikleides) im 3. Jh. schrieb, bewies aus Monumenten, daß der ägyptische König Men die Schrift erfunden habe (Plin. n. h. VII 57, 192).[19]

Der ägyptische Thot von Hermupolis war nach griechischer Anschauung niemand anders als Hermes von Kyllene. Der erfindungsreiche Gott, dem Apollon die Lyra verdankte und die Griechen die Wettspiele, konnte recht gut auch die Schrift erdacht haben. Hekataios von Abdera, der die Bestrebungen der Lagiden, Griechen und Ägypter zu verschmelzen — vielleicht unbewußt — unterstützte[20], hat in seinem Bericht, auf dem Diodors erstes Buch beruht, erzählt (Diod. I 16), von Hermes (= Thoth) sei zuerst die allgemeine Sprache gegliedert und vieles bisher Namenlose benannt worden, von ihm seien die Buchstaben erfunden und alles, was die Verehrung der Götter und die Opfer betreffe, geordnet worden. Den Griechen soll er die Regeln der ἑρμηνεία gelehrt haben, daher sein Name Hermes.[21] Umformung hekatäischen Stoffes ist es, wenn bei Artapanos[S. 9] (um 100 v. Chr.) Hermes, der Vater der Erfindungen, zum Moses-Hermes wird.[22]

An den durch Philon von Byblos erhaltenen Stücken hellenistisch-phönikischer Kosmogonien kann man sehen, wie die Schrift als Gabe des Thoth in der Spekulation hermetischer Theologen für heilig angesehen wurde[23]: πρὸ δὲ τούτων ϑεὸς Τάαυτος μιμησάμενος τῶν συνόντων ϑεῶν ὄψεις, Κρόνου τε ϰαὶ Δαγῶνος ϰαὶ τῶν λοιπῶν, διετύπωσε τοὺς ἱεροὺς στοιχείων χαραϰτῆρας.[24] Und an einer anderen Stelle: Καὶ τὰ μὲν πρῶτα στοιχεῖα τὰ διὰ τῶν ὄφεων, ναοὺς ϰατασϰευασάμενοι ἐν ἀ<δ>ύτοις ἀψιέρωσαν, ϰαὶ τούτοις ἑορτἀς ϰαὶ ϑυσίας ἐπετέλουν ϰαὶ ὄργια, ϑεοὺς τοὺς μεγίστους νομίζοντες ϰαὶ ἀρχηγοὺς τῶν ὅλων. Die Stellung des Oannes bei Berossos (fr. 1 Dübner, FHG II p. 497), der den Menschen Schrift, Künste und Gottesdienst lehrte, will Reitzenstein, Poimandres 109[25], durch die Annahme ägyptischer Einflüsse verständlich machen. Aber warum sollen die Babylonier nicht von sich allein aus derartiges über Ea gelehrt haben, den „Herrn der Weisheit“?[26]

Der griechische Hermes erscheint als Erfinder der Schrift bei Mnaseas (Müller, FHG III p. 156 = schol. in Dionys. Thrac. p. 183, 15), Apollodor von Athen (schol. zu ψ 198), Cicero, de nat. deor. III 22, 56, Varro bei Augustinus, de doctrina christ. II 28, Hygin fab. 277, Cassiodor variae VIII 12 (da steht, Mercur habe die Form der Buchstaben dem Flug der Kraniche abgesehen, vgl. S. 10 Anm. 2).[27]

Natürlich nannten manche Griechen noch andere εὑρεταί. Nach[S. 10] Ephoros hatte Kadmos sie nicht nur gebracht, sondern auch selber erfunden.[28] Sehr nahe lag es, sie dem erfindungsreichen Palamedes[29] zuzuschreiben. Das tat zuerst Stesichoros in seiner zweiten Orestie.

Ob seiner ähnlichen Findigkeit wird man an Sisyphos[30] gedacht haben. Außerdem werden als Erfinder genannt Prometheus[31], Herakles[32], Phoinix[33], der Paidagogos des Achilleus (nach Duris) oder ein König von Tyros — offenbar eine Deutung der Bezeichnung φοινιϰήια. Den Musaios (vgl. schol. in Dionys. Thrac. p. 183) nennt einmal Artapanos (vgl. oben S. 8 f). Diese Ansicht muß nicht auf dem Umweg über die Gleichung Thoth = Moses entstanden sein[34]: auch Orpheus und Linos[35] erscheinen unter den Schrifterfindern. In Latium hat Euandros[36] sie gelehrt, der durch seine Herkunft aus Arkadien, dem reineren Lande weiser, gerechter Menschen, dazu berufen war, den Völkern geistige Güter zu übermitteln. In einem Scholion zu Dionysios Thrax steht, die Buchstaben seien vom Himmel gefallen[37], auch Athena wird dort[38] als Buchstabenerfinderin genannt. Sie lehrt schon auf einer schönen rotfigurigen Vase dem Palamedes — das wird wohl der bärtige[S. 11] Schüler sein — die Schreibkunst (Ch. Lenormant et de Witte, Elite des monuments céramographiques, Paris 1844, I p. 252 f.). Doch das ist ganz singulär. Wäre es etwas Geläufigeres, so hätte es der Rhetor Aristides in seiner Lobrede auf Athena gewiß hervorgeholt, wo er die εὑρήματα der Göttin preist. Aber da steht nichts von Buchstaben.

In Diodors Inselbuch V 74 wird den Musen die γραμμάτων εὕρεσις zugeschrieben. Daß der Kreter Dosiades[39] (3. Jh.) in seinen Κρητιϰά behauptete, die Buchstaben seien in Kreta erfunden worden[40], steht so vereinzelt, daß es wohl keine Kenntnis der Scripta minoa verrät. Denn die Notiz schol. in Dionys. Thrac. p. 184, 29: Ἀλέξανδρος δὲ ὁ Ῥόδιος (sc. φησί Φοινίϰεια τὰ γράμματα ἐλέγοντο) ἀπὸ Φοίνιϰος τοῦ Προνάπου ϰαὶ Εὐρώπης, εὑρόντος αὐτὰ ὲν Κρήτη, ὃν ἀπέϰτεινε Ῥαδάμανϑυς φϑονήσας ist bis auf weiteres nicht zu deuten. Pronapos sieht aus, als verdanke er sein Dasein einer genealogischen Operation mit Προναπίδης, dem Lehrer Homers aus Athen.

Die Widersprüche der Überlieferung, die verschiedene εὑρεταί gab, führten dazu, das Verdienst an mehrere Erfinder zu verteilen. Darin spiegelt sich zugleich die allmähliche Anpassung des phönikischen Alphabets an die griechischen Bedürfnisse durch Umdeutung und Hinzufügung von Buchstaben. Simonides, der manche palamedeisch-sophistische Züge zeigte und sich großen Rufes als Gedächtniskünstlers erfreute, und Epicharmos, der ἀρχηγός einer wichtigen literarischen Gattung, sollen dem anfangs unvollkommenen Schriftsystem noch Zeichen hinzugefügt haben. Die Zeugnisse darüber sind so verschieden, daß es zwecklos wäre, sie in Einklang bringen zu wollen.[41]

[S. 12]

Diese Musterung der Traditionen über die Herkunft der Buchstaben hat wohl gezeigt, daß im griechischen Altertum den Schriftzeichen an sich noch keine Weihe innewohnen konnte wegen ihres göttlichen Ursprungs. Den besaßen sie nicht in dem Sinn, wie man es im Orient oder im altgermanischen Norden glaubte. Es hat keinen antiken Gott gegeben, dessen Funktionen mit der Schreibkunst wesentlich zusammenhängen, und was ein Heros erfunden hatte, war deshalb noch nicht heilig. Dieser Glaube scheidet also als Quelle für griechische Alphabetmystik und -magie aus.

Für den Analphabeten bildet die Kunst des Schreibens leicht ein unheimliches Mysterium, und derer wird es in der „unschuldigen Zeit“ des Altertums (Lachmann) stets viele gegeben haben. Was der Mensch an Bildung damals besitzen mußte, war unendlich viel weniger als bei uns, und infolgedessen wurden auch die Anfangsgründe nicht als etwas Selbstverständliches gering geachtet. Das Alphabet als Gegenstand des Wissens war im Athen des 5. Jahrhunderts etwas, worüber man ernsthaft reden durfte, selbst von der tragischen Bühne herab, wie γρίφος-artige Fragmente des Sophokles, Euripides, Agathon, Theodektes[42] und die später zu besprechende γραμματοτραγωδία des Kallias zeigen. Das Schreiben war für viele eine gewichtige feierliche Handlung. Trotzdem war dies keine entscheidende Ursache für die Entstehung der Buchstabenmystik. Diese liegt anderswo.

[3] In den „Sprüchen Hars“ (Hǫ́vamǫl): Die ältere Edda übers. Gering, Bielefeld u. Leipzig 1902 S. 105, vgl. R. M. Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte, Leipzig 1910 S. 257; Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde IV, Berlin 1898 S. 686 f. Über magische Runen s. Uhland, Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage VI. Stuttgart 1868 S. 225–277. Doutté, Magie et religion dans l’Afrique du Nord, Alger 1909 p. 172. P. Köbke, Om runere i Norden p. 50 (mir nicht zugänglich). Zauberrunen und Glaube an die Macht des Wortes besonders stark bei den Finnen, s. Buber, Literarisches Echo 1912 Sp. 1614. Comparetti, Kalewala, Halle 1892 S. 262. Zahlensymbolische Geheimschriften auf Grund der Runen s. Pauls Grundriß der germanischen Philol. I 260.

[4] Dabei fällt einem der Ausdruck ἀναιρεῖν für das Orakelerteilen in Delphi ein, vgl. Heinevetter, Würfel- und Buchstabenorakel, Dissertation Breslau 1912 S. 40. Vielleicht ist Wodun Schrifterfinder, weil er dem Hermes gleichgesetzt wurde (wednesday = mercoledi). Hommel, Archiv für Schriftkunde 1 (1914) S. 50.

[5] So auch der Schreiberengel Hesekiel 9, 2, dazu Gunkel, Archiv f. Religionswissenschaft I (1898) S. 294 ff.: über die Tracht des ägyptischen ιερογραμματεύς, der einen Sperberflügel auf dem Kopf trägt, s. Clemens Alexandrinus, Strom. VI 4, 36 u. Diodor I 87, vgl. Reitzenstein, Poimandres, Leipzig 1904 S. 153.

[6] Es ist sehr wahrscheinlich, daß die jüdische Vorstellung von einem himmlischen Schreiber, einem Buche des Lebens (Apc. 3, 5) babylonischer Herkunft ist, vgl. Gunkel, Archiv f. Religionswissenschaft 1 (1898 S. 298. Jeremias s. v. Nebo in Roschers mythol. Lexikon III, Sp. 55 f. P. Paul Dhorme, La religion assyro-babylonienne, Paris (Gabalda) 1910 p. 103 f. Kan, De Jovis Dolicheni cultu, Diss. Groningen 1901 p. 52. Johannes Hehn, Die biblische und babylonische Gottesidee, Leipzig 1913 S. 69: „Es verdient bemerkt zu werden, daß man Nebo nicht bloß den beschränkten Wirkungskreis des Schreibergottes zuerkannte, sondern ihn auf Grund seiner Schreibertätigkeit auf die höchste Stufe des Pantheons erhob und zum Weltenherrn stempelte.“ S. auch Birt, Schreibende Gottheiten, Neue Jahrb. 19 (1907) S. 700 ff.

[7] In den Balkansprachen bedeutet der Ausdruck für „es ist sein Schicksal“ soviel wie „es ist ihm geschrieben“; es mag dabei auch die Sternenschrift am Himmel mitspielen.

[8] Maspéro, Histoire ancienne des peuples de l’orient classique I (1895) p. 145, 220. Brugsch, Religion und Mythologie der alten Ägypter, Leipzig 1888 S. 446.

[9] Hymnos von Ios IG XII, VI Nr. 14 Zeile 5–8; Hymnos von Andros Zeile 10 ff., dazu Sauciuc, Andros, Sonderschriften d. österreich. Instituts VIII (1914) S. 122; derselben Ansicht war auch Varro nach Augustin de civit. dei XVIII 37 und Eugenius Toletanus, De inventoribus literarum „Isis arte non minori protulit Aegyptias“ sc. literas MGH Script. antiquiss. XIV p. 257 v. 5.

[10] Reitzenstein, Poimandres S. 63, 64 und 269.

[11] Schanawânî † 1610 n. Chr., Bl. 6 v. zitiert bei Goldziher, Zeitschrift der deutschen morgenländ. Gesellschaft 26 (1872) S. 782 (Flügel, Catalog der Wiener arab. Hss. nr. 210 I p. 192).

[12] Tiele-Söderblom, Kompendium der Religionsgeschichte, Berlin 1912 S. 185. Goldziher, Abhandl. d. Göttinger Ges. d. Wissenschaften 1907 S. 26.

[13] Weigel, Frankfurter Zeitung 14. Juli 1915, Nr. 193.

[14] Es stimmt gut zu den vielen Beziehungen Milets zur Kadmossage, daß hier zuerst „der Phönikier“ Kadmos als Buchstabenbringer betrachtet wird, vgl. Crusius in Roschers Lexikon s. v. Kadmos Sp. 874.

[15] Diese Äußerung Platons bekamen später die Ἕλληνες von den Christen oft zu hören: Clem. Alex. Strom. I 15 p. 357 P. S. 43 Staehlin. Euseb. Praep. ev. X 4 p. 471 c.

[16] Die „symbolische“ Schrift der Ägypter bei Clem. Alex. Strom. V 4 p. 657 P. und Porphyr. vit. Pyth. 12 ist das änigmatische oder anaglyphische System, das aus der Hieroglyphenschrift künstlich komplizierter gestaltet ist. „Dieses System kam erst in den späten Zeiten des Verfalls des Ägyptertums in Gebrauch; da dies aber gerade die Zeit war, in welcher die Griechen das Land kennen lernten, so spielt es bei diesen, die es in seiner Kompliziertheit freilich nicht verstanden, eine große Rolle.“ Wiedemann, Herodots II. Buch, 1890 S. 164.

[17] Die Erzählung ist wohl eine altägyptische Legende, vgl. Reitzenstein, Zwei religionsgesch. Fragen (1901) S. 123, Poimandres 123. Die Kritik des Königs an der Erfindung — er meint, sie wird das menschliche Gedächtnis schwächen — ist jedoch sicher erst platonisch: sie paßt zu gut zu einer Tendenz des Dialoges, die mündliche Dialektik über alles Schreiben zu stellen, und stimmt überein mit Platons nicht sehr hoher Meinung von den Ägyptern überhaupt. Phileb. 18 b wird erörtert, wie zwischen dem Eins und dem Vielen ein richtiges Vermitteln nötig sei. Theuth — εἴτε τις ϑεὸς εῖτε ϰαὶ ϑεῖος ἅνϑρωπος (das Schwanken, ob Theuth Mensch oder Gott ist, ist in ägyptischen Vorstellungen begründet, Reitzenstein, Zwei religionsgesch. Fragen (1901) S. 119) — sei da vorbildlich verfahren: als er darüber nachdachte, wie in der φωνή ἄπειρος ein ϰέρας zu finden sei, erklärte er nicht kurzerhand alles für ein ὲν — etwa wie der p. 15 e köstlich geschilderte junge Mann — sondern unterschied zuerst φωνήεντα, dann tönende Konsonanten, dann ἄφωνα. Erst zum Schluß faßte er alles unter dem Begriff στοιχεῖον zusammen. Der folgende Satz heißt in deutscher Paraphrase: weil er aber sah, daß keiner von uns jemals in die Lage komme, nur einen einzigen Buchstaben ohne die übrigen verstehen zu müssen, so fand er noch das Band, das, selbst eine Einheit, auch all dies zur Einheit — nämlich zur φωνή, der Mitteilung in Worten und Sätzen — gestaltet, und nannte diese Kunst, weil sie bei den γράμματα zur Verwendung kommt, γραμματιϰὴ τέχνη. Vgl. v. Bissing, Neue Jbb. 29 (1912) S. 95 f.

[18] Diod. I 23, 4; Hygin fab. 277; Pausan. IX 12, 2.

[19] Seine Gleichsetzung des Prometheus mit Thoth (Plut. de Iside et Os. 37, ebenso Istros περὶ τῆς Αἰγυπτίων ἀποιϰίας Clem. Alex. strom. I 21 p. 382 Potter S. 68 Staehlin) hatte also andere Gründe als die Buchstabenerfindung.

[20] Ed. Schwartz, RM 40 (1885) S. 256.

[21] Hermes λόγιος: Platon Kratyl. 407; Cornut. 16; Plotin Enn. 3, 6, 18; Hippolyt. philos. 5, 7; Porphyr. apud. Euseb. praep. ev. 3, 11 p. 114; Eitrem PW s. v. Hermes XV (1912) p. 782. Hermes-Thot „mit der Feder“, wie Furtwängler (Bonner Jahrbb. 103 (1898) S. 1 ff. 107 (1902) S. 45 ff. — Kleine Schriften, München 1913 S. 372 ff.) u. a. (Loeschcke ebenda 107, 48 ff., Reitzenstein, Poimandres S. 3) eine Reihe von hellenistischen Darstellungen benannten und für den Schreibergott erklärten, ist allerdings nicht zu halten. Das Attribut auf dem Kopf ist vielmehr ein Lotosblatt, R. Foerster, Röm. Mitt. 29 (1914) S. 171 ff. s. oben S. 4 Anm. 2. Aber ψυχοπομπός war Thoth wie Hermes: Pietschmann, Hermes Trismegistos 1875 S. 21. Reitzenstein, Poimandres 100.

[22] F. Jacoby s. v. Hekataios bei PW Sp. 2756; Reitzenstein, Poim. 182, Zwei religionsgesch. Fragen 13. Auch nach Eupolemos hat Moses die Buchstaben erfunden (Eus. praep. ev. IX 26 p. 431 c).

[23] Philon von Byblos, φοινιϰιϰὴ ἱστορία bei Eusebios praep. evang. I 10, p. 39 a. Müller FHG III p. 560 fr. 2 § 25. Reitzenstein, Poimandres 162.

[24] Philon von Byblos περὶ τῶν Φοινίϰων στοιχείων fr. 9 aus Eus. praep. ev. I 10 p. 42 b FHG III p. 573. Reitzenstein, Poimandres 162, 2. Thoth hat nichts mit der Schlange zu tun. Die Syrer machten ihn zum Schlangengott, weil tut = Schlange ist nach Baudissin, Studien zur semitischen Religionsgeschichte, Gießen 1876, I S. 19. Reitzenstein deutet das auf die Stelen des „Königs“ Amon (Philon von Byblos bei Eus. praep. ev. I 9, 24), auf die er die Offenbarungen aufzeichnete, die Hermes ihm gegeben hatte nach Jamblich. de mysteriis VIII 4 und der alchimistischen Schrift des Pibechios bzw. Pibeches (a. a. O. S. 107, 363; A. Dieterich, Kl. Schriften 8). Darauf befand sich u. a. das Symbol der Schlange, die sich in den Schwanz beißt.

[25] Thoth erscheint außerdem noch bei Strabo p. 816. Plut. quaest. conv. 9, 3. 12 p. 738 e: daher sei ἴβις der erste Buchstabe (? noch unerklärt!); de Iside et Osir. 3. Nach Arnob. adv. nat. IV 14 hat der griechische Hermes während eines Exils in Ägypten die Schrift erfunden.

[26] Jeremias in Roschers Lexikon s. v. Oannes III 1 Sp. 590 f.

[27] Knaack, Hermes 16 (1881) 590.

[28] Schol. in Dionys. Thrac. p. 183, 1. Hilgard (1901). Diese Scholien stammen nach Hörschelmann, acta societatis philol. Lips. IV (1875) p. 297 ff. aus dem 7. Jahrh. n. Chr.

[29] Über Palamedes als großen Erfinder Jahn, Palamedes (1836) S. 23; Kremmer, de catalogis heurematum, Diss. Lips. 1890 p. 44; ich entnehme Kremmer manche der jetzt folgenden Stellen. Palamedes erscheint als Schrifterfinder bei Stesichoros fr. 34 schol. in Dionys. Thrac. 185, 6, Gorgias Palam. § 30, Euripides Palamedes fr. 578, Hygin fab. 277, 31. Dio Chrysost. 13, 21; schol. Eurip. Or. 422. Athanas. contra gentes 18. Nach Philostrat. heroic. X 3 p. 309 und Nemesian de aucupio 15 = PLM ed. Baehrens III (1881) p. 204 hat er sie aus dem Flug der Kraniche gelernt, vgl. auch schol. in Dionys. Thrac. 320, 20 (dazu oben S. 9). Daß man aus den Linien des Fluges der Kraniche ein Λ bzw. ein Υ herauslas, zeigt Lucan V 716 und Martial XIII 75, vgl. Lewy in Roschers Lexikon s. v. Palamedes.

[30] schol. zu Dionys. Thrac. 185, 7.

[31] Aischylos Prom. 460 (467); schol. zu Dionys. Thrac. p. 190. 183, 16; 185, 8.

[32] Plut. quaest. Romanae 59 p. 278 e.

[33] Der Erzieher Achills nach Duris FHG II p. 473 fr. 16, schol. zu Dionys. Thrac. p. 184, 27; ein phoinikischer König nach Dosiades, s. S. 11.

[34] So Reitzenstein, Zwei religionsgeschichtliche Fragen 101.

[35] Orpheus nach Alkidamas Odysseus 24 (Dieterich, Die Grabschrift des Aberkios, Leipzig 1896 S. 34, 2); Linos als Kadmos’ Schüler nach Diod. III 67; Tacitus ann. XI 14; Suidas s. v. Λίνος.

[36] Livius I 7, 8; Dionys. Halic., arch. rom. I 33; Tac. I. I. Marius Victorinus, ars grammatica p. 1944 = Grammatici latini VI 194. Hae (sc. litterae) auctore, ut quidam volunt, Euandro, ut alii, Hercule in Italiam a Pelasgis adlatae sunt. Oder auch seine Mutter Nicostrata, Eugenius von Toledo, carm. 39, 3.

[37] Schol. in Dionys. Thrac. p. 185, 9.

[38] Ebenda p. 182, 18.

[39] Ebenda p. 183, 12.

[40] Bei ihm sind übrigens alle Erfinder aus Kreta.

[41] Aristoteles fr. 501 Rose = Plin. n. h. VII 57, 192: Kadmos 16, Palamedes ζυφχ, Simonides ψξωϑ, Epicharmos vielleicht ϑχ. Hygin fabul. 277, 31: Palamedes 11, Simonides ωηξψ, Epicharmos ϑχ. Tacitus ann. II 14: Simonides hat alle übrigen zu den alten 16 hinzuerfunden. Irenaeus adv. haer. I 15, 4 Manucci: Kadmos hat 16 gebracht, dann haben die Griechen Aspiraten und Doppelkonsonanten dazuerfunden, zuletzt soll Palamedes die langen Vokale hinzugetan haben. Theodosios von Alexandria περὶ γραμματιϰῆς p. 1 Göttling: Palamedes 16, Kadmos von Milet ϑφχ, Simonides ηω, später sind dazu gekommen ζξψ. Schol. in Dionys. Thrac. 320, 20: Palamedes hat alle 16 Buchstaben erfunden, die andern haben Zusätze gemacht, Kadmos ϑφχ, Simonides ηω, Epicharmos ζξψ; ebenda p. 185, 7: Simonides ηωξψ, Epicharmos die Aspiraten und ζ, vgl. ebenda p. 191, 30 Marius Victorinus, ars grammatica p. 1944 = Grammatici Latini VI p. 194, 15: Kadmos 16, Simonides ζξωϑ, Palamedes ηψχφ, ebenso Audacis excerpta ibid. VII p. 325, 6. Suidas s. v. Palamedes: ζπφχ, s. v. Simonides: die langen Vokale und die Doppelbuchstaben. Nach Servius zu Aen. II 81 hat Palamedes vielleicht alle erfunden, sicher aber das χ. Die von ihm angefertigten Lettern sind noch im Apollotempel zu Sikyon zu sehen nach Ampelius liber memorialis VIII 5, woraus wohl zu schließen ist, daß sich in dem Tempel des Apollon Στοιχείος zu Sikyon ein Buchstabenorakel (vgl. darüber unten den besonderen Abschnitt) befand, Pfister, Wochenschrift f. kl. Philologie 31 (1914) 477 f. Über die relative Berechtigung dieser εὑρήματα s. Lenormant bei Daremberg-Saglio I, Paris 1873 p. 205 ff.

[42] Euripides hat im Θησεύς die Buchstaben des Namens Θησεύς γρίφος-artig beschrieben, ebenso Agathon und Theodektes (Athen. X 454 bc.) ϰαὶ Σοφοϰλής δὲ τούτω παραπλήσιον ἐποίησεν ὲν Ἀμφιαράῳ σατυριϰῷ τὰ γράμματα παράγων ὀρχούμενον Athen. X 80 p. 454 f. — fr. 117 Nauck³.

§ 2. PYTHAGOREISCHE GRAMMATIK

Der Unterschied zwischen Vokalen und Konsonanten ist unseres Wissens im 6. Jahrhundert von den Pythagoreern zuerst beobachtet worden.[43]) Wie die Pythagoreer dazu kamen, sich grammatisch zu betätigen, darüber gibt eine Notiz bei Quintilian Aufschluß (instit. orat. I 10, 17) Archytas atque Evenus etiam subiectam grammaticen musicae putaverunt. Sie rechneten die Grammatik zur μουσιϰή.

Die ungeheure Entdeckung des Pythagoras, daß die musikalische[S. 13] Tonhöhe von der Länge der tönenden Saite abhänge, hat die Mitlebenden geradezu berauscht und wie kaum jemals ein anderer naturwissenschaftlicher Fund das Denken Späterer bestimmt. Die Töne hatten sich als verkörperte Zahlen herausgestellt, die qualitativen Unterschiede waren auf quantitative zurückgeführt. Der tiefe Sinn der Musik war der, daß sie Klang gewordene Zahl ist. In der Zahl hatte man jetzt einen Schlüssel, der alle Tore zu öffnen verhieß. Sie war das Wesentlichste am Kosmos, vielleicht das Wirklichste überhaupt, das Symbol der Vernunft. Die schönsten Sätze darüber stehen bei Philolaos (fr. 11 Diels): Kenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und lehrend für jeglichen in jeglichem, das ihm problematisch und unverständlich ist. Denn gar nichts von den Gebilden wäre irgend einem klar, weder ihr Zusich noch des einen zum andrem, wenn nicht die Zahl und deren Wesen wäre. Nun aber wirkt diese durch die Seele hin in die Empfindung gestaltend alles erkennbar aus und gesellig, nach des Gnomons Natur, gibt ihnen Leib und scheidet voneinander alle die Glieder der Gebilde als unendlicher wie als begrenzender. ... Sehen kann man nicht nur in den dämonischen und göttlichen Gebilden die Natur der Zahl und ihre haltende Macht, sondern auch in allen menschlichen Werken und Worten allenthalben und hin durch alle Schöpfungen des Bildens und hin durch die Musik.[44]

Fällt also die Grammatik unter die Rubrik Musik, so mußten in der Tat die Schriftzeichen die Aufmerksamkeit der Pythagoreer besonders auf sich ziehen. Denn sie waren zugleich die Zeichen für die Zahlen und die Musiknoten. In ihnen, in ihrer Form, ihrer Anzahl und ihren Verschiedenheiten mußte wohl manches von kosmischer Bedeutung zu finden sein. Aristoteles erwähnt darüber Folgendes (Metaphys. N 6, 1093 a 20): ἐπεί ϰαὶ τὸ Ξ Ψ Ζ συμφωνίας φασὶν εἶναι ϰαὶ, ὅτι ἐϰεῖναι τρεῖς, ϰαὶ ταῦτα τρία (nämlich διατεσσάρων, διαπέντε und διαπασῶν). ὅτι δὲ μύρια ἂν εἲη τοιαῦτα, οὐϑὲν μέλει· τῷ γὰρ Γ ϰαὶ Ρ εἴη ἂν ἒν σημεῖον (d.h. man könnte ja ebenso gut auch den Laut γρ durch ein einziges Zeichen ausdrücken). εὶ δ΄ ὅτι διπλάσιον τῶν ἅλλων ἕϰαστον ἅλλο δ΄ οὔ, αἴτιον δ΄ ὅτι τριῶν ὄντων τόπων ἒν ὲφ΄ ἑϰάστου ἐπιφέρεται τὀ σῖγμα, διὰ τοῦτο τρία μόνον ἐστίν, ἀλλ' οὐχ ὅτι αί συμφωνίαι τρεῖς, ἐπεὶ πλείους γε αί συμφωνίαι· ἐνταῦϑα δ΄ οὐϰέτι δύναται. Ebenso wie sie die Dreiheit der Doppelkonsonanten musikalisch, d. h. metaphysisch, begründet dachten,[S. 14] so auch die Tatsache, daß es gerade 24 Buchstaben gibt (ebenda 1093 b 1): ϰαὶ ὅτι ίσον τὀ διάστημα ἒν τε τοῖς γράμμασιν ἁπὸ τοῦ Α πρὸς τὀ Ω, ϰαὶ ἁπὸ τοῦ βόμβυϰος ἐπὶ τὴν ὀξυτάτην νεάτην ἒν αὐλοῖς, ἧς ὁ ἁριϑμὸς ίσος τῇ οὐλομελείᾳ τοῦ οὐρανοῦ. So stellten sie die Elementargrammatik in die denkbar kosmischsten Zusammenhänge ϰαὶ ὅσα εἶχον ὁμολογούμενα δειϰνύναι ἒν τε τοῖς ἀριϑμοῖς ϰαὶ ταῖς ἁρμονίαις πρὸς τὰ τοῦ οὐρανοῦ πάϑη ϰαὶ μέρη ϰαὶ πρὸς τὴν ὅλην διαϰόσμησιν, ταῦτα συνάγοντες ἐφήρμοττον. Dieser Satz aus Aristoteles Metaphysik (A 5, 986 a) paßt nicht bloß auf die alten Pythagoreer: er erschöpft den Inhalt eines beträchtlichen Teils der europäischen Literatur bis in die Renaissance hinein.

An den Vokalen mußte den Pythagoreern ihre Siebenzahl[45] wichtig erscheinen. „Sowohl die Altpythagoreer als auch der Verfasser der altionischen (nach andern [vgl. Boll, Neue Jhb. 31 (1913) S. 137 ff.] erst dem 5. Jahrhundert angehörigen) pseudohippokrateischen Schrift περὶ ἑβδομάδων erblickten in den sieben ionischen Vokalen (φωνήεντα, φωναί) oder Urbuchstaben eine der ältesten und wichtigsten Manifestationen der heiligen Siebenzahl.“ W. H. Roscher, Hebdomadenlehren S. 145. Dieser Hinweis auf die Bedeutsamkeit der Vokale ist, wie wir unten sehen werden, nicht ungehört verhallt.

[43] Aristot. metaph. XIV 6; Hippokr. περὶ ἐβδ. 541 Erm., π. διαίτης I p. 645 f. Kühn; Varro bei Gell. III 10, 2 und 16; alles bei Roscher, Hebdomadenlehren 27.

[44] Deutsch nach Herman Schmalenbach, Das Seiende als Objekt der Metaphysik I: die erste Konzeption der Metaphysik im abendländischen Denken. Dissertation Jena 1909 S. 36 ff. [Viel Material dazu zuletzt bei Weinreich, Triskaidekad. Studien RGVV XVI 1 (1916) S. 96 f.]

[45] Über die Siebenzahl Boll in PW s. v. Hebdomas Bd. VI Sp. 2552, wo gezeigt wird, daß die Heiligkeit einer Zahl sich dann herausbildet, wenn diese Zahl in der Natur wiederholt gegeben ist, so daß der Mensch immer wieder auf sie hingewiesen wird.

§ 3. ELEMENTUM

Recht folgenreich für die antike Wertung der Buchstaben war es, daß man sie mit dem Wort στοιχεῖον bezeichnet hat. Durch dieses Wort wurden die Buchstaben der Schrift für den Griechen, der vom Namen einer Sache aus unwillkürlich weitergehende Folgerungen zog als wir, — die „Kritik der Sprache“ fing erst an —, in die Sphäre philosophischer und religiöser Begriffe gehoben.[46]

Die Wortgeschichte von στοιχεῖον stellt sich nach den Untersuchungen von Diels und Lagercrantz folgendermaßen dar: Die Ableitung des Wortes στοιχεῖον von στοῖχος bei Dionys. Thrax, worauf Diels seine Übersetzung „Reihenglied“ gründet, ist wertlos und verbindet zu nichts.[47][S. 15] Es ist vielmehr von στείχειν = „gehen, marschieren“ auszugehen (S. 88). Στοιχέω ist nach Lagercrantz’ Nachweisen in der Bedeutung gehen, marschieren ganz geläufig (S. 103). Davon ist mit objektivisch-transitiver Verwendung der Endung -εῖον (S. 106) στοιχεῖον in der attischen Sprache gebildet und bedeutet:

I. das begangene Stück, der Gang, die Strecke (so die früheste Verwendung bei Aristophanes Eccles. 651):

II. Grund: a) Erdfläche; b) Grundlage, so bei Xenophon memor. 2, 1, 1; c) Stütze, so in der Astrologie (S. 62) und im Neuen Testament (S. 42). Die vollkommenste Analogie bietet die Bedeutungsentwicklung des von βαίνω abgeleiteten Wortes βάσις.

Das Wort dringt sodann in die wissenschaftliche Fachsprache und tritt auf: 1. in der philosophischen Sprache als Übersetzung von ῥιζώματα τοῦ παντός (der Elemente) bei Empedokles ins Attische, für uns zuerst bei Platon Soph. 252 b, Tim. 48 b (S. 16); 2. in der grammatischen als attischer Ersatz für πυϑμήν, ein Wort, das in grammatischen Ausführungen des Protagoras (Diels Vorsokr. S. 512, 26) in der Bedeutung „Grundform“ vorkam (S. 21). In Platons Theait. p. 202 e heißt στοιχεῖα τῶν γραμμάτων „Urbestandteile der Schrift“ (S. 19). Sicherlich waren aber schon vor Platon die Buchstaben στοιχεῖα genannt worden, sonst könnte Phileb. 19 c nicht so lauten, wie es überliefert ist. Da im Lauf der Kaiserzeit der persische Elementenkult, der besonders im Mithrasdienst ausgeprägt worden ist, in die griechische Welt eindrang (Diels S. 45)[48], so hat das Wort στοιχεῖον von diesen Kreisen her für viele einen starken religiösen Akzent erhalten.[49]

Die Verwendung des Ausdrucks in der Astrologie hat nichts mit der in der Philosophie als „Element“ zu tun, sondern ist eine unmittelbare Übertragung aus der Volkssprache, wo στοιχεῖον „Stütze“ bedeutet.[S. 16] στοιχεῖον heißt da 1. die Tierkreisfigur, insofern sie den wandernden Planeten zur Stütze gereicht[50], 2. Gestirn, insofern es für dessen δαίμων die materielle Stütze abgibt (S. 65 ff.).

Ferner hat Lagercrantz S. 74 ff. nachgewiesen, daß στοιχειοῦν durchaus nicht „verzaubern“ heißt, wie Diels S. 55 meint, der dort die Wortgeschichte auf einer sehr schmalen Linie weiterführt. Es heißt vielmehr gründen in der Bedeutung „festmachen“, real[51] und symbolisch. Als einer, der das symbolische „eingründen“, das ein magisches Binden und Festbannen an einen Ort bedeutet, besonders gut verstand, wird Apollonius von Tyana ein στοιχειωματιϰός genannt bei Cedrenus I 346, 18. Derselbe Ausdruck οί στοιχειωματιϰοί steht schon im Καρπός (Ps.-Claudius Ptolemäus)[52], ohne daß der Zusammenhang mehr lehrte als daß es sich um Leute handelt, die sich mit Astrologie abgeben. Wir müssen daraus schließen, daß es eine Anzahl von Magiern, Astrologen usw. gegeben hat, die diese Art von „Eingründung“ betrieb.

Im Neugriechischen heißt στοιχειό Geist, Gespenst. Lagercrantz entwickelt S. 80 ff. einleuchtend, wie dies aus Glauben und Brauch beim ϑεμελιοῦν von Häusern entstanden ist.

Das alles hat nicht unmittelbar damit, daß στοιχεῖον auch Buchstabe heißen kann, etwas zu tun, wie Albrecht Dieterich, Rhein. Museum 56 (1901) S. 102 f. = Kl. Schr. S. 225 f. will. Aber man begreift ohne Schwierigkeit, wie „die Tatsache, daß Buchstabe und Gestirn durch dasselbe Wort ausgedrückt werden, mystisch veranlagte Gemüter bewegen konnte, nach realen Entsprechungen zwischen ihnen zu suchen“. Lagercrantz S. 57.

[46] Die Dielssche Bedeutungsgeschichte von στοιχεῖον („Elementum“, Leipzig 1899) wird in entscheidenden Punkten berichtigt durch Lagercrantz, Elementum, eine lexikologische Studie. Skrifter utgifna af K. Humanistiska Vetenskaps-Samfundeti Uppsala XI 1, Leipzig, Harrassowitz 1911.

[47] Gegen eine verwandte Ableitung hatte auch schon Bedenken Pa.-Sabas, „Über die Mysterien der griechischen Buchstaben“, ed. Hebbelynck, Muséon N. S. I (1900) p. 21 f.: „Man gibt den Buchstaben den Namen Elemente (στίχος!) nicht deshalb, weil sie selbst nicht mehr in Elemente zerlegbar sind (d. h. die kleinste Schrifteinheit sind), wie die Weisen der Griechen in ihrer Hohlheit gedacht haben, sondern weil in ihren Zügen sich die Form der Elemente der erschaffenen Welt findet.“

[48] Cumont, Textes et Monuments I 6; Dieterich, Mithrasliturgie 2. Aufl. S. 64; Diels Elementum 45; Cumont-Gehrich, Die Mysterien des Mithra² 1911 S. 104 f.

[49] Zuerst bei Hippobotos, einem Schriftsteller des ersten Jahrh. v. Chr., der nach Diog. Laert. VI 102 von dem Hute des Menedemos, des Stifters der Philosophenschule von Eretria, sagte, auf ihm seien die zwölf στοιχεῖα abgebildet gewesen (Diels S. 45, Lagercrantz S. 62). Diesen Sprachgebrauch deutet Lagercrantz auf Grund von Tatian, orat. ad Graec. 9 στοιχείωσις δὲ αὐτοῖς ἡ ζώωσις ἦν zu übersetzen: zur Stützung diente ihnen (den Planeten) das Bevölkern des Himmels mit Tieren (S. 60 und 73).

[50] Nach Diels ist dieser Wandel der Wortbedeutung auf dem Umweg über den grammatischen Gebrauch von στοιχεῖον als Bezeichnung von „Buchstabe“ erfolgt. Den aus Nikomachos von Gerasa belegten Satz von Diels S. 44: „So hat an ältere Schrullen der Pythagoreer anknüpfend die neupythagoreische Schule das Alphabet an den Himmel versetzt“, hätte Lagercrantz noch mit folgendem chronologischen Argument widerlegen können: In einem Auszug aus Vettius Valens, dem Astrologen aus dem 2. Jahrh. n. Chr., steht zu lesen, daß im Gegensatz zu einem verwickelten Verfahren des Vettius die ἁρχαῖοι die Tierkreisbilder mit je zwei Buchstaben bezeichneten in der Anordnung Α Ν, Β Σ usw. bis Μ Ω. Mit den ἁρχαῖοι sind in der astrologischen Literatur meist „Nechepso und Petosiris“ gemeint. Also wahrscheinlich schon diese Begründer der griechischen Astrologie im 2. Jahrh. v. Chr. und durch die Tatsache, daß στοιχεῖον „Buchstabe“ und „Tierkreiszeichen“ bedeuten konnte, dazu bewogen worden, diese miteinander in Beziehung zu bringen (s. darüber unten in dem Abschnitt über Astrologie).

[51] Schlagend spricht für Lagercrantz die Stelle in Anonymi Byz. Παραστάσεις ed. Preger (Progr. d. Kgl. Max-Gymnas. München 1898) p. 33, 12 § 72 ὁ λεγόμενος Νεώριος ὁ ϰαὶ Ἀρϰάδιος, ὃν Κόνων ἐστοιχειώσατο, wo auch Diels das letzte Wort durch „bauen“ übersetzte.

[52] 16⁰-Ausgabe von 1552 S. 214.

[S. 17]

§ 4. KINDHEITSMYSTIK

Noch eine letzte mögliche Wurzel der Buchstabenmystik möchte ich andeuten. In viel stärkerem Maße als es heute m. W. geschieht, wurde im Altertum und bis ins 18. Jahrhundert auf das Erlernen des Alphabetes bis zur virtuosen Beherrschung Wert gelegt.[53] Während für uns die Alphabetreihe nur für Verzeichnisse und Lexika wichtig ist, war sie für den antiken Menschen auch die Folge der Zahlen[54], und das hatte, wie wir sahen, infolge der pythagoreischen Lehren in Altertum und Mittelalter keine bloß praktische Bedeutung. Wir hören, daß[S. 18] man das Alphabet an der Schule vor- und rückwärts einübte und in der Reihenfolge Α Ω Β Ψ Γ Χ usw.[55] Die Beschäftigung mit den Buchstaben war also etwas, das ein Wesentliches der Kindheit bezeichnet, und daß Kindheitserinnerungen auf assoziativem Weg zu Faktoren im religiösen Leben der Erwachsenen werden können, ist bekannt.

Albrecht Dieterich hat in seiner „Mithrasliturgie“ über das „liturgische Bild“ der Gotteskindschaft schöne Sammlungen vorgelegt. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Zeugung durch die Gottheit und Geburt aus ihr. In der spätantiken, besonders der christlichen Mystik haben auch Dinge, die mit dem Kindesalter zusammenhängen, einen religiösen Gefühlston. Christus selbst hatte gesagt: ἐὰν μὴ στραφῆτε ϰαὶ γένησϑε ὡς τὰ παιδία, οὐ μὴ εἰσέλϑητε εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν Mt. 18, 3 Lc. 18, 17. Dies Wort hat man nicht immer in seiner einfachen Tiefe verstanden. Christus fungiert bei Clemens von Alexandria als Paidagogos, als Kindererzieher. Seine Gestalt war schon zu fest umrissen, ebenso wie seine Stellung im dogmatischen System, als daß es bei einem rechtgläubigen Schriftsteller in der Zeichnung dieser Figur zu realistischen Einzelheiten hätte kommen können. Desto mehr sollen sich die Zöglinge hier als kleine Kinder fühlen. Am befremdlichsten zeigt sich das in dem langen Kapitel über die Milch im Paidagogos I 6 p. 112 P, das betitelt ist πρὸς τοὺς ὑπολαμβάνοντας τὴν τῶν παιδίων ϰαὶ νηπίων προσηγορίαν τὴν τῶν πρώτων μαϑημάτων αἰνίττεσϑαι διδαχήν.[56] Dazu haben wir jüngst in der 19. Ode Salomos eine Parallele bekommen, die uns zeigt, daß es sich hier nicht um Seltsamkeiten Einzelner handelt, für die es erst etwa in bekannten deutschen Kirchenliedern des 17. Jahrhunderts oder in Zinzendorfs Ausdrucksweise Entsprechungen gibt, sondern um verbreitete Stimmungen:

[S. 19]

Ein Becher Milch ist mir dargebracht worden, und ich habe ihn getrunken in der Süße der Freundlichkeit des Herrn.

Der Sohn ist der Becher, und der, der gemolken ward, der Vater.

Und es melkte ihn der heilige Geist, weil seine Brüste voll waren usw.

Man ist sich bewußt, Frommes zu tun, wenn man der Gottheit gegenüber und zu ihren Ehren Kindliches tut.

Der große Gnostiker Valentinos behauptete, der Logos sei ihm in der Gestalt eines kleinen Kindes erschienen und habe ihm so seine Offenbarungen mitgeteilt (Hippolytos philosoph. VI 5, 43 p. 309 Cruice). Sein Schüler Markos deutete den Vers 2 des 8. Psalmes: „Durch den Mund von Kindern und Säuglingen hast du ein Bollwerk gegründet um deiner Widersacher willen, damit du Feinde und Rachgierige zum Schweigen bringest“[57] so, daß er das Geschrei der Säuglinge als Vokale auffaßte. So loben die Kinder Gott ebenso, wie es in Psalm 19, 1 heißt: „die Himmel erzählen die Ehre Gottes.“ Diesen letzteren Vers deutete er natürlich auf die unten zu behandelnde Beziehung zwischen Vokalen und Planeten (vgl. Iren. adv. haer. I 14, 8 Manucci; Epiphan. I 3, 7 haeres. 34) und hielt das Geschrei der Säuglinge für eine Bestätigung dieser Entsprechung. Die Buchstabenspielerei in den später zu besprechenden Branchosversen gegen die Pest hält Klemens von Alexandria für einen frommen Hinweis auf die Kindheit (Stromata V 8, 48 p. 675 P.): αἰνίσσεται, οἶμαι, τὴν ἐϰ τῶν τεσσάρων ϰαὶ εἵϰοσι στοιχείων ψυχῆς γαλαϰτώδη τροφήν, μεϑ' ἣν ἤδη πεπηγὸς γάλα βρῶμα, τελευταῖον δὲ αἷμα ἀμπέλου τοῦ λόγου τὸν „αἴϑοπα οἶνον“ τὴν τελειοῦσαν τῆς ἀγωγῆς εὐφροσύνην διδάσϰει.

Dasselbe meinte Remigius von Auxerre († ca. 908) in seinem tractatus de dedicandis ecclesiis von dem Aschenkreuz auf dem Boden der neu zu weihenden Kirchen, auf welche das Alphabet geschrieben wird.[58] Auch der Kaiser Didius Julianus ließ 193 n. Chr. durch junge Knaben, die mit verbundenen Augen in einen Spiegel schauen mußten, die Zukunft[S. 20] erforschen.[59] Ein Knabe fungiert als Pythia bei Hippol. philos. IV 4, 1 p. 93 ff. Cruice.

So mag mancher, der schon vielleicht aus den erwähnten Gründen in den Buchstaben etwas Heiliges sah, in dieser Vorstellung dadurch bestärkt worden sein, daß sie ihm ein heiliges Stück Kindlichkeit waren. Und gerade die eifrige Erlernung des Alphabets mochte in dieser Richtung mitwirken; später wird sich zeigen, wie eine Anordnung der Alphabetreihe als mystisch bedeutungsvoll verwendet worden ist, die im Anfangsunterricht der Kinder ihre Stelle hatte. Ja, man hat auf dieser Unterrichtsstufe mit Zauberei nachgeholfen, wobei die Alphabetreihe im Sinn der hohen Anschauungen über den Ursprung der Schreibkunst als Symbol alles Wissens erscheint. Um ein Kind lernbegierig und leichtfassend zu machen, rät ein neugriechisches Zauberrezept, das ABC auf eine Schüssel zu schreiben, die für die heiligen Brote gebraucht wird, sie segnen zu lassen und die Schrift mit reinem Wein aufzulösen; das soll das Kind trinken.[60]

[53] Man gab den Kindern Kuchen (Horaz sat. I 1, 25), elfenbeinerne Typen (Quintilian inst. I 1, 26) und Würfel, worauf das Alphabet stand (Hieronymus, epist. ad Laetam 107, 4). Über altirische Alphabetkuchen Gaidoz, Les gâteaux alphabétiques, Mélanges Renier, Bibliothèque des hautes études Paris 1887. Woher die russischen Buchstaben stammen, die man noch heute als — übrigens recht schmackhaftes — Gebäck zu essen bekommt, weiß ich nicht. Jedenfalls stammt der Brauch, ebenso wie die Suppennudeln in Buchstabenform, aus alter Zeit. Ähnliche Verfahren des Elementarunterrichtes beschreiben noch Rabelais, Gargantua I 14. Goldsmith, vicar of Wakefield cap. 12. Smollet, Humphrey Clinker ed. Tauchnitz p. 122; über Basedows Buchstabenbäckerei s. Grasberger, Erziehung und Unterricht im klassischen Altertum I 2, 267, Würzburg 1864, vgl. Leclerq bei Cabrol, Dictionnaire d’archéologie chrétienne et de liturgie I, Paris 1907, s. v. Abécédaire p. 60 f. Beudel, Qua ratione Graeci liberos docuerint, Dissertation Münster 1911. S. auch die kuriose Geschichte von dem begriffsstutzigen Sohn des Herodes Atticus, des bekannten Redners zur Zeit der Antonine, bei Philostratos, vit. sophist. II 10 p. 66 Kayser: das Alphabet hat er wenigstens durch 24 mit den Buchstaben bezeichnete Spielkameraden gelernt.

[54] Über das Alter des milesischen Zahlenalphabets (8. Jahrh.) s. Larfeld, Griechische Epigraphik³ (1914) S. 294 ff. Man hat aber auch mit den Buchstaben α–ω als 1–24 numeriert, ebenso wie wir es mit unsern Buchstaben tun. Beispiele sind die in Olympia zur Auslosung der Kämpfer gebrauchten Täfelchen (Lukian Hermotimos 39), Theatermarken (J. Friedländer, Hermes 9 (1875) 251 ff. Svoronos, Περὶ τῶν εἰσιτηρίων τῶν Ἀρχαίων, Journal International d’Archéologie numismatique I (1898) 45-120; III (1900) 197–235; 319–349), Numerierung von Gesimsblöcken an Bauten (Karapanos, Dodone et ses ruines 68 f. pl. 34–40; thessalische Inschriften bei Lolling, Athen. Mitt. VII (1882) 69. Gesimsblöcke des Altars zu Pergamon, Robert, Hermes 18 (1883) 466 ff. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt, Nachtrag), der Sektionen des Heliastengerichtshofes in Athen (Lipsius, Das attische Recht und Rechtsverfahren I [1905] S. 140 f.), von Äckern („casae literarum“, Inschrift von Halesa, IG XIV 352. Gromatici ed. Lachmann I 309; II 235, 268, 409), die Bezeichnung der Stadtquartiere von Alexandreia (Ausfeld, RM 55 [1900] 379, Der griechische Alexanderroman, Leipzig 1907 S. 139), der Gesänge der homerischen Gedichte (Woisin, De Graecorum notis numeralibus, Diss. Kiel 1886, S. 30), der Wochentage (Boll s. v. Hebdomas, PW Sp. 2573). Über unsre Benennung der sieben Töne der Oktave von C bis H unten mehr. Auch der Alchimist Zosimos hat die 28 Bücher seines Werkes mit Buchstaben bezeichnet, ebenso Mani und Aphraat die ihrigen mit den 22 Buchstaben des syrischen Alphabets. Pachomius numerierte seine Mönchsklassen mit Buchstaben, s. unten den Abschnitt über die Spekulationen über die ganze Alphabetreihe.

[55] Quintilian, inst. or, I 1, 25: Quae causa est praecipientibus, ut etiam, com satis affixisse eas pueris recto illo quo primum scribi solent contextu videntur, retroagant cursus et varia permutatione turbent, donec litteras qui instituuntur facie norint, non ordine. Hieronymus in Jerem. 25, 26, Migne PL 24, 838 = p. 311 Reiter 1913. Ferner in Brief 107 an Laeta über die Erziehung ihrer Tochter II p. 294 Hilberg: Et non solum ordinem teneat literarum et memoria nominum in canticum transeat; sed ipse inter se crebro ordo turbetur, et mediis ultima, primis media misceantur, ut eas non sono tantum, sed et visu noverit. Dieterich, Rhein. Mus. 56 (1901) S. 99. Solche Schulübungen stehen auf einem Ostrakon im Brit. Museum, einem Säulenstück aus Sparta, Papyrus aus Hermupolis, vgl. Milne, Journ. hell. stud. 28 (1908) p. 121 nr. 1; Annual of the brit. school of Athens XII 476; Wessely, Studien zur Paläogr. und Papyruskunde II (1902) p. XLV nr. 2; Ziebarth, Aus der antiken Schule², Kleine Texte Nr. 65, Bonn 1913 S. 1 ff.

[56] Über Anklänge an gewisse Bräuche beim Verwandtschaftsschließen in diesem Kapitel Adolf Jacoby, Archiv für Religionswissenschaft 13 (1910) S. 549 ff.

[57] Der sich m. E. am besten erklärt, wenn man ihn mit dem Kommentar von Hitzig darauf bezieht, daß in einem Krieg ein siegreicher Feind durch das Geschrei von Säuglingen sich zur Milde hatte stimmen lassen, vgl. etwa 1 Sam. 30, 2.

[58] Migne PL 131, 851: Quid autem per alphabetum nisi initia et rudimenta doctrinae sacrae intelligi convenit? offenbar in Anlehnung an den Hebräerbrief 5, 12: τὰ στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ ϑεοῦ. Diese Erklärung ist übernommen von de Rossi, Bullettino di archeologia cristiana 1881 p. 135 und von Leclerq bei Cabrol, Dictionnaire d’archéologie chrétienne et de liturgie, Paris 1907 s. v. Abécédaire Sp. 56.

[59] Aelius Spartian, vita Didii Iuliani VII 10. Über ϰατοπτρομαντία Bouché-Leclercq, Histoire de la divination, Paris 1879, I 185. Wünsch, Hess. Blätter für Volkskunde 3 (1904) 154 ff. Reitzenstein, Historia monachorum, Göttingen 1916, S. 244 ff.

[60] Abbott, Macedonian Folklore, Cambridge 1903 S. 362. Pradel, Griechische Gebete usw. Religionsgesch. Versuche u. Vorarbeiten III, Gießen 1907 S. 381; Jacoby, Archiv für Religionswissenschaft 13 (1910) 529.

II. DIE VERSCHIEDENEN GEBIETE DER BUCHSTABENMYSTIK

§ 1. SPEKULATIONEN ÜBER EINZELNE BUCHSTABEN

Wir sahen, daß die alten Pythagoreer kraft der ganzen Haltung ihres Denkens dazu neigten, in den Buchstaben Übergrammatisches zu sehen. In welcher Richtung, das zeigt eine seltsame Notiz in den Scholien zu Dionysius Thrax (p. 183, 30): Ἀπολλώνιος ὁ Μεσσήνιος ἐν τῷ περὶ τῶν ἀρχαίων γραμμάτων φησί τινας λέγειν, ὅτι Πυϑαγόρας αὐτῶν τοῦ ϰάλλους ἐπεμελήϑη, ἐϰ τῆς ϰατὰ γεωμετρίαν γραμμῆς ῥυϑμίσας αὐτὰ γωνίαις ϰαὶ περιφερείαις ϰαὶ εὐϑείαις. Man hat also in pythagoreischen Kreisen — auf Pythagoras’ Person wird niemand trotz der bestimmten Bezeugung bestehen wollen — in der Form der einzelnen Buchstaben Symbolisches gesucht und gefunden. Dafür gibt es noch manchen Beleg im Einzelnen.

Delta bedeutet noch heute in der Medizin τὸ γυναιϰεῖον αἰδοῖον.[S. 21] Das ist eine uralte Bezeichnung, s. Aristophanes Lysistr. 151: γυμναὶ παρίοιμεν, δέλτα παρατετιλμέναι. Der Pythagoreer sah im Delta das Dreieck. So wird das Dreieck nach pythagoreischer Lehre zur ἀρχὴ γενέσεως ϰαὶ τῆς τῶν γενητῶν εἰδοποιίας (Procl. in Euclid. 166, 14 Friedlein), vgl. die Porphyrios-Stelle bei Euseb. praep. ev. III 7, 4 p. 98: ϰῶνον μὲν ἡλίῳ γῇ δὲ ϰύλινδρον, σπορᾷ τε ϰαὶ γενέσει φάλητα ϰαὶ τὸ τρίγωνον σχῆμα διὰ τὸ μόριον τῆς ϑηλείας.[61] Eine Auseinandersetzung von 14 Seiten über das Δ steht in dem koptisch erhaltenen Buch „Über die Mysterien der griechischen Buchstaben“, das dem großen palästinensischen Klostergründer Sabas aus Talas († 532) zugeschrieben wird, S. 112–129 der Publikation von Hebbelynck, Muséon N. S. I [1900]. Δ bedeutet die Schöpfung, es ist das στοιχεῖον ὁλόϰληρον, die ὁμάς[62] des Kosmos; es weist mit seinen drei Ecken auf die Dreieinigkeit und die sechs Schöpfungstage, und ist als der vierte Buchstabe ein Symbol der vier Elemente und anderer Tetraden.[63]

Über das Ε als Abbildung der Wage steht folgendes in den Theologumena arithmetica p. 30 Ast (vgl. Lobeck, Aglaophamus S. 1341, 1345) — unter anderen Spekulationen darüber, daß 5 die Mitte von 9 ist —: ϰαὶ τῷ σχήματι δὲ οἱ τοὺς τῶν γραμμάτων χαραϰτῆρας προτυπώσαντες. ἐπεὶ τὸ Θ τοῦ ἐννέα σημαντιϰὸν ὑπάρχει, μεσότης δὲ αὐτοῦ ὡς τετραγώνου τὸ Ε, τὸ δὲ μέσον ἐν ἑϰάστῳ σχεδὸν ϰατὰ τὸ ἥμισυ ὁρᾶται, ἥμισυ τοῦ Θ γράμματος τυποῦσϑαι τὸ Ε ἐπενόησαν, ὡς διχοτόμημα τοῦ Θ, ϰαϑὰ ϰαὶ τὸ τοῦ Ο. Τούτῳ δὴ τῷ τρόπῳ τῆς διϰαιοσύνης τῷ Ε ἀριϑμῷ διϰαιότατα ἐνοφϑείσης ϰαὶ τῆς τοῦ στίχου ἀριϑμητιϰῆς εἰϰόνος ζυγῷ τινι οὐϰ ἀπιϑάνως εἰϰασϑείσης, τὸ παράγγελμα τοῖς γνωρίμοις[S. 22] ὲν συμβόλου σχήματι ὁ Πυϑαγόρας ἐνεποιήσατο ‘ζυγὸν μὴ παραβαίνειν’ τουτέστι διϰαιοσύνην. Anderes über das Ε aus Theodoros v. Asine bei Proklos in Tim. 225 b II 274 Diehl, über das Ζ ebenda p. 275 unten. — Das berühmte Ε in Delphi, über das Plutarch einen Dialog geschrieben hat, kommt hier nicht weiter in Betracht, da es ursprünglich wahrscheinlich kein Buchstabe gewesen ist, sondern ein „andersartiges ἀνάϑημα, vermutlich eine ϰλεὶς ϰρυπτή, die zunächst als eine Erfindung geweiht, dann symbolisch gefaßt und endlich als Ε gedeutet wurde. Denn der Balanosschlüssel sieht einem archaischen Ε sehr ähnlich“. Diels, Vorsokr. II² 520 Anm. 5; Parmenides, Berlin 1897, S. 143; Norden, Agnostos Theos, Leipzig 1913 S. 231 f. Es ist übrigens recht merkwürdig, daß in dem plutarchischen Dialog nichts von Buchstabenmystik vorkommt.

Das Θ (= 9) war zunächst einmal ein Symbol der großen ägyptischen Enneas. Ferner schien seine kreisförmige Gestalt die Welt abzubilden. Bei Philon von Byblos fr. 9 FHG III p. 572 aus Euseb. praep. ev. I 10 = Johannes Lydus de mensibus IV 161 p. 177 Wünsch steht: ἔτι μὲν οἱ Αἰγύπτιοι τῆς αὐτῆς ἐννοίας τὸν ϰόσμον γράφοντες περιφερῆ ϰύϰλον ἀεροειδῆ ϰαὶ πυρωτόν χαράσσουσι ϰαὶ μέσον τεταμένον ὄφιν ἱεραϰόμορφον [οἱονεὶ συνεϰτιϰὸν ἀγαϑὸν δαίμονα] (ϰαὶ ἐστι τὸ πᾶν σχῆμα ὡς τὸ παρ’ ἡμῖν Θ) τὸν μὲν ϰύϰλον ϰόσμον μηνύοντες, τὸν δὲ μέσον ὄφιν συνεϰτιϰὸν τούτου ἀγαϑὸν δαίμονα σημαίνοντες. — Das ist rein astronomisch gewendet im schol. in Dionys. Thrac. p. 321, 37 und 488 Hilgard: Θῆτα ὅτι τοῦ παντὸς ϑέσιν μιμεῖται· ἡ δὲ τοῦ παντὸς ϑέσις ἐστίν ὁ οὐρανός, ὃς τό τε ϰυϰλοτερὲς ἔχει ϰαὶ τὸν διὰ μέσου ἄξονα τῇ ϰατὰ μέσον χαραϰτηρισϑέντα μαϰρᾷ· und übernommen im Etymologicum Magnum p. 441.[64] Weil man bei alleinstehendem Θ leicht daran dachte, daß das Wort ϑάνατος damit anfängt, so wird dieses Unglück bedeutende nigrum theta (Persius 4, 13) ängstlich gemieden, z. B. in den Jahreszahlen der Alexandriner und den Münzbuchstaben des Gallienus.[65]

Das Ι war wohl geborgen durch das Wort Iesu, Mt. 5, 18: οὺ μῂ παρέλϑῃ ἰῶτα ἐν. Auch der Name des Heilands beginnt damit. So spielt es im Mittelalter eine ziemliche Rolle auf Münzen; und Ps.-Joachim von Floris, De seminibus scripturarum (13. Jahrhundert) schreibt darüber Littera minima in forma sed maxima in sacramento.[66]

Das Τ glich dem Kreuz (σταυρός), wie auch Heiden bemerkten,[S. 23] vgl. Lukian, Δίϰη φωνηέντων 61. Die Methoden, die die Christen fanden, um das Τ in noch engere Beziehung zu Jesus zu bringen, sollen unten in dem Abschnitt über den Gnostiker Markos behandelt werden.

Das Υ ist das γράμμα φιλόσοφον schlechthin (Proklos in Plat. Tim. III 225). Es wird an zahlreichen Stellen als Illustration des Gleichnisses von den beiden Wegen der Tugend und des Lasters aufgefaßt, das seit Hesiod in griechischer und jüdischer Moralistik sehr beliebt gewesen ist.[67] Pythagoras selbst soll diesen Sinn des Υ aufgezeigt haben.[68] Neuerdings hat Brinkmann auch „ein Denkmal des Neupythagoreismus“ (Rhein. Museum 66 [1911] S. 616 ff.) richtig gedeutet, auf welchem ein großes Υ den Mittelpunkt einer bildlichen Darstellung des Kebesschen Πίναξ bildet.

Α und Ω war in christlichen Kreisen durch das ΑΩ der Offenbarung des Johannes geheiligt (darüber s. unten einen besonderen Abschnitt). Aber ganz pythagoreisch schreibt Theodosius von Alexandria, περὶ γραμματιϰῆς p. 4 Groettling, Zeile 12, Α bestehe aus drei Strichen, stelle also die ἀρχὴ πλήϑους dar[69], ebenso Paulinus von Nola, carmen 29, 645 ff.:

645
Alpha crucem circumstat et Ѡ, tribus utraque virgis
littera diversam trina ratione figuram
perficiens, quia perfectum est mens una, triplex vis.

Ebenso deutet noch Clemens Brentano, Romanzen vom Rosenkranz X 80 f. die Dreieinigkeit in das Α hinein:

„Ich will dich nun belehren,
Wie das Aleph ist geformet.
Aus drei Strichen es bestehet,
Wie auch steht die Einheit Gottes,
Dieses Aleph alles Lebens,
In drei göttlichen Personen.“

Und über das Ω schrieb der Alchimist Zosimus (Berthelot, Collection des alchymistes grecs II 228): τὸ Ω στοιχεῖον <τὸ> στρογγύλον, τὸ διμερές, τὸ ἀνῆϰον τῇ ἑβδόμῃ Κρόνου ζώνῃ ϰατὰ τὴν ἔνσωμον φράσιν—ϰατὰ[S. 24] γὰρ τὴν ἀσώματον ἄλλο τί ἐστιν ἀνερμηνεύτητον, ὂ μόνος Νιϰόϑεος <ὁ> ϰεϰρύμμενος οἶδεν, ϰατὰ δὲ τὴν ἔνσωμον, τὸ λεγόμενον ‘ὠϰεανος ϑεῶν’, φησίν ‘πάντων γένεσις ϰαὶ σπορά’, vgl. Reitzenstein, Poimandres S. 267. Historia monachorum, Göttingen 1916 p. 150. Ähnliches über Ω steht im Etymologicum Magnum p. 294, 29. Die rätselhafte Bemerkung Isidors von Sevilla, Etymologiae I 3, fünf Buchstaben seien mystisch, nämlich Α Θ Τ Υ Ω ist jetzt klar.

Die byzantinischen Lexikographen haben diese Dinge gerne aufgenommen (vgl. Fuhr, Berl. phil. Wochenschr. 31 [1911] S. 1176[70], ebenso wie die griechisch-byzantinischen Gesprächbücher.[71] Grübeleien über einzelne Buchstaben müssen also im oströmischen Schulunterricht einen gewissen Raum eingenommen haben. Ein Beispiel: Γ παρὰ τὸ ἀμᾶν, τὸ ϑερίζειν· δρεπανώδης γὰρ ό τύπος αὐτοῦ. Die Verwendung der alphabetischen Akrostichis bei allerhand Lernsprüchen leistete dem wohl noch Vorschub, s. unten den Abschnitt über Akrostichis.

Zu solchen Spekulationen fand sich in Ostrom noch ein weiterer Anlaß. In byzantinischer Zeit hat sich bei der Feier der Brumalia, die damals vom 24. November bis zum 17. oder 18. Dezember dauerten, die Sitte herausgebildet, diese 24 oder 23 Tage mit den Buchstaben des griechischen Alphabets zu benennen. Jedes Mitglied der guten Gesellschaft gab dann an dem Tag ein Fest, der mit dem Anfangsbuchstaben seines Namens bezeichnet wurde, τὰ ὑπὲρ τῶν ὀνομάτων συμπόσια (Agathias hist. V 3 p. 140 Bonn). Bei diesen Festen durfte natürlich der Festredner nicht fehlen. Wir haben noch einen Panegyrikos des Sophisten Chorikios aus Gaza εἰς τὰ τοῦ βασιλέως Ὶουστινιανοῦ Βρουμάλια[72], in dem die Initiale Ι des Kaisers zu grotesken Sehmeicheleien Veranlassung gibt: Die gerade Form des Ι versinnbildlicht die Gerechtigkeit und Wahrheit Seiner Majestät. Ι zu schreiben kommen in gleicher Weise Greise, Kinder und Jünglinge in die Lage: Beweis, daß der Herrscher kein Lebensalter ungerecht bevorzugt u. dgl.

Der Vater des Klosterwesens, der Kopte Pachomius, numerierte die[S. 25] von ihm gebildeten Mönchsklassen mit griechischen Buchstaben; im einzelnen gibt er darüber folgende Vorschriften, Palladios, hist. Lausiaca 38 bei Migne, PG 34 p. 1100 = cap. 32 p. 90 Butler: ἐϰέλευσεν εἰϰοσιτέσσαρα τάγματα εἶναι τῶν ἀδελφῶν, ϰατὰ τὸν ἀριϑμὸν τῶν εἰϰοσιτεσσάρων γραμμάτων. Καὶ προσέταξεν ἑϰάστῳ τάγματι τὸ ὄνομα τεϑῆναι στοιχεῖον Ἑλληνιϰόν, ἀπὸ τοῦ ἄλφα ϰαὶ βῆτα ϰαὶ τῶν ϰαϑεξῆς ἕως τοῦ ω μεγάλου· ἴνα ἐν τῷ ἐρωτᾶν ϰαὶ φιλοπραγμονεῖν τὸν ἀρχιμανδρίτην περί τινος εἰς τοσοῦτον πλῆϑος, ἐρωτᾷ τὸν δεύτερον ἑαυτοῦ, πῶς ἔχει τοῦ ἄλφα τὸ τάγμα, ἢ πῶς ἔχει τὸ βῆτα· πάλιν ἀσπάσαι τὸ ῥῶ· ἰδίῳ τινὶ σημείῳ ὀνόματος γραμμάτων ἀϰολουϑοῦντος. Καὶ τοῖς μὲν ἁπλουστέροις ϰαὶ ἀϰεραιοτέροις ἐπιϑήσεις τὸ ἰῶτα· τοῖς δὲ δυσχερεστέροις ϰαὶ σϰολιωτέροις προστάξεις τὸ ξ. Καὶ οὕτως ϰατ’ ἀναλογίαν τῆς ϰαταστάσεως τῶν προαιρέσεων ϰαὶ τῶν τρόπων ϰαὶ τῶν βίων ἑϰάστῳ τάγματι τὸ στοιχεῖν τοῦ γράμματος ἐφαρμόσεις, μόνων τῶν πνευματιϰῶν εἰδότων τὰ σημαινόμενα. Dasselbe steht bei Sozomenos III 14 Migne PG 67, 1072. Der letzte Teil dieser Stelle, der in 2. Person geschrieben ist, stammt anscheinend aus einem Brief des Pachomius, s. unten in dem Abschnitt über Abc-Denkmäler.

Die bisher erwähnten pythagoreisch gehaltenen Erklärungen betonen vor allem die Bedeutsamkeit, die der Form der einzelnen Buchstaben innewohnt. Demgegenüber weist man auf christlich-jüdischer Seite darauf hin, daß die Namen der Buchstaben nicht gleichgültig sind. Diese Namen waren ja uralt, älter, also richtiger, als alle griechische Weisheit.[73] Mit Befriedigung führt der große Kirchenhistoriker Eusebios von Caesarea in seiner Praeparatio evangelica X 5[74] den Nachweis, daß die Griechen ihre Bezeichnungen von den Hebräern übernommen haben. Denn jedes hebräische Schulkind könne über die Bedeutung der Buchstabennamen Auskunft geben, während unter den Griechen selbst Platon nicht dazu imstande wäre, gesetzt den Fall, daß er Ἄλφα, Βῆτα usw. für griechische Wörter hielte. Bei den Kirchenvätern und später finden sich dann mehrmals etymologisch-erbauliche Deutungen der Buchstabennamen im Anschluß an die unten gesondert zu besprechenden alphabetisch akrostichischen Stücke in den Psalmen und Klageliedern Jeremias. Schon Origenes von Alexandria in einem Kommentar zu Psalm 126 und in einem „Fe literae tractatus“ hatte Derartiges besprochen (Hieronymus, epistola XXXIV ad Marcellam de aliquot locis Psalmi CXXVI[S. 26] p. 260 Hilberg). Der älteste erhaltene Kommentar dieser Art ist die expositio in Psalmum CXVIII des Ambrosius vom Jahr 387[75] (vol. V ed. Petschenig 1913, Migne PL XV col. 1198–1526). Es folgt Hieronymus mit Brief 30 (p. 246 Hilberg), de nominibus hebraicis 71 (Migne PL 23, 827; Lagarde, Onomastica sacra, ²Göttingen 1887 S. 79) und dem Kommentar zu den Threnoi des Jeremia (Migne PL 25, 787–791). Den hier gesammelten Stoff übernahmen dann im 9. Jahrhundert der Abt Paschasius Radbertus von Corbie in seiner expositio in lamentationes Ieremiae (Migne PL 120, 1059–1256), Hrabanus Maurus, expositio super Ieremiam XVIII 1 (Migne PL 111, 1183 ff.), Remigius von Auxerre, enarrationes in psalmos (Migne PL 131 col. 145 und 732 ff.), Joseppus, memorialis liber 26 (Migne PG 106 p. 32 f). Eine kleine altenglische Abhandlung ähnlicher Art veröffentlichte Bonnard, Revue des études juives 4 (1882) p. 255 ff., ein hebräischer Alphabet-Midrasch, die „Othijoth des Rabbi Akiba“ ist übersetzt „Aus Israels Lehrhallen“ von A. Wünsche 1909, IV S. 199–269.

Als Beispiel diene das Α. Bei Suidas s. v. Ἀβραάμ steht, Abraham habe die Buchstaben erfunden. Καὶ τούτου μαρτύριον ἡ τοῦ Ἄλφα φονὴ τοῦ πρώτον στοιχείου ϰαὶ ἄρχοντος, ἀπὸ τοῦ Ἄλεφ Ἑβραιϰοῦ λαβόντος τὴν ἐπίϰλησιν τοῦ μαϰαρίου ϰαὶ πρώτον ϰαὶ ἀϑανάτου ὀνόματος. Dieser herrliche Name ist „die Erkenntnis“. Denn Aleph wird nicht immer gedeutet als Ochsenschädel, sondern oft als alliph = μαϑέ, vgl. Euseb. praep. ev. V 5 p. 474 b und XI 6 p. 519 c, Theodosios von Alexandria, περὶ γραμματιϰῆς p. 1 Goettling. An der letzteren Stelle heißt es weiter: Gott öffnete dem Menschen den Mund zur Sprache mit dem Laut, der das weiteste Öffnen erheischt. Auch das ΑΩ der Johannesapokalypse wird mitwirken. Ferner war sicher jeder, der aus irgendeinem Grund in den Buchstaben etwas Transzendentes sah, versucht, beim Α anzufangen. So der apokryphe Jesusknabe der Markosier, der, als er in der Schule die Buchstaben lernen soll, seinen Lehrer darüber zur Rede stellt, ob er wisse, was das Α sei.[76] Ebenso macht sich Johannes Chrysost homil.[S. 27] IX in epist. ad Hebr. Migne PG 63 col. 77 seine Gedanken zunächst über das Α: ὥσπερ γὰρ ἐπὶ τῶν στοιχείων τὸ πᾶν ἄλφα συνέχει, ϰαὶ ὁ ϑεμέλιος τὴν πᾶσαν οἰϰοδομήν, οὕτω ϰαὶ τοῦ βίου τὴν ϰαϑαρότητα ἡ περὶ τὴν πίστιν πληροφορία. Ταύτης δὲ ἄνευ οὐϰ ἔστιν εἶναι Χριστιανόν· ὥσπερ οὐδὲ ϑεμελίων ἄνευ οἰϰοδομήν, οὐδὲ στοιχείων χωρὶς ἔμπειρον γραμμάτων εἶναι.

Von der antiken Schule her kommen Gedichte wie Ausonius, De litteris monosyllabis Graecis et Latinis S. 166 Peiper. Scotus, versus de alphabeto bei PLM ed. Baehrens V p. 375 mit dem Kommentar Expositio prescripti alphabeti ed. Omont, Bibl. des hautes études, Paris 1881, p. 429. Cabrol Dictionnaire p. 61. Besonders wichtig scheint eine Schrift des 13. Jahrhunderts, De semine — oder seminibus — scripturarum, zu sein, die mit Unrecht dem berühmten Apokalyptiker Abt Joachim von Floris in Calabrien († 1202) zugeschrieben wird. Friedensburg, Symbolik der Mittelaltermünzen S. 90 ff. druckt ein bezeichnendes Stück daraus ab.

In einem Dit de l’ABC (440 Verse) von Hue de Cambrai (um 1250) „werden die Buchstaben des Alphabets mit geläufigen Wörtern in Verbindung gebracht, die mit ihnen anheben (z. B. crois, con bei C, dieu bei D, Eve bei E, lettres, langue bei L, Marie bei M usw.) oder es wird ihnen nach ihrer Form ein gewollter Sinn (wie bei PQ) untergelegt, nicht ohne daß bei Gelegenheit satirische Hiebe auf die verderbte Zeit fallen“ (Groeber, Grundriß der romanischen Philologie II 837).

An der oben erwähnten Stelle Hieronymus de nominibus Hebraicis 71 stehen nur kurze, rein etymologisch-grammatische Angaben über die Bedeutung der Buchstabennamen im Hebräischen. Irgendwelche mystische oder erbauliche Ausdeutung wird nicht daran geknüpft. Laut Angabe des ersten Satzes Migne PL 23 col. 771 ist dieses Onomastikon die Bearbeitung einer Schrift des Philon von Alexandria. Für Philon ist also irgendwelche Buchstabenmystik dadurch nicht bezeugt. Sie ist es auch sonst nicht. Trotzdem hat D. H. Müller in den Sitzungsberichten d. k. Akademie Wien, philos.-histor. Kl. 167. Bd. 2. Abh., Wien 1911 auf Grund dieses Tatbestandes und gestützt auf Vergleichung der Deutungen des Ambrosius und Hieronymus einerseits und spätjüdischer Midraschim andrerseits gemeint, die „verlorene Schrift Philos über die Etymologie und Symbolik der Buchstaben“[77] teilweise rekonstruieren zu[S. 28] können. Es liegt auf der Hand, wie willkürlich es ist, auf diesem Wege Spekulationen des 4. Jahrhunderts in das 1. zurückzudatieren.

Anhangsweise möchte ich für Leser, die hier derartiges wohl suchen werden, einiges zusammenstellen über Buchstabensymbolik nicht magischer und religiöser Art, Buchstabenspielereien u. dgl.

Wie im Altertum nicht anders zu erwarten, fehlt das obszöne Element nicht. Es handelt sich aber in den Fällen, die uns hier angehen, nicht um das primitive Jenseits von aller Scham, was eng mit der Religiosität des Naturvolkes zusammenhängt, sondern um einfache Cochonerien. Für den primitiven Menschen ist das Obszöne, das heilige Geheimnis der Zeugung, Tabu, es wird als solches gesucht und gescheut, verehrt und als verblüffendes Schutzmittel gegen die Dämonen in Dienst genommen. Aber auch schon da muß man, wie Albrecht Dieterich oft sagte, nicht so tun wollen, als hätte das den Leuten nebenbei keinen Spaß gemacht. Bei den Buchstabenzoten fällt alles Sakrale durchaus weg, es sind παίγνια, Belege für das nichts verschonende Argot der Griechen und Römer oder unpassende Schulwitze.

Das Älteste in dieser Art wird Aristoph. Eccl. 920 sein: δοϰεῖς δέ μοι ϰαὶ λάβδα ϰατὰ τοὺς Λεσβίους.[78] Dann steht als Priapeum 54 ein Rätsel:

CD si scribas temonemque insuper addas,

qui medium te vult scindere, pictus erit

Lösung: testiculae + mentula φ. Das Stärkste ist das Epigramm 87 von Ausonius S. 344 Peiper: „Ad Eunum ligurritorem paedagogum.“[79] Das Rätsel vom διπλοῦν γράμμα Συρηϰοσίων gehört jedoch nicht hierher: Anthol. Pal. V 191 Μελεάγρου· εἰς Καλλίστιον.

Γυμνὴν ἢν ἐσίδῃς Καλλίστιον, ὦ ξένε, φήσεις·

‘Ἤλλαϰται διπλοῦν γράμμα Συρηϰοσίων.’

Die Lösung ist harmlos. Doppelt kommt in dem Wort Συρηϰόσιοι der[S. 29] Laut συ : σι vor. Umgestellt ergibt das ὗς.[80] Derartige Anagramme müssen hier außer Betracht bleiben, sonst müßte ein gutes Teil aller antiken Rätsel und, wenn die neuere Zeit mitberücksichtigt werden sollte, die Unterhaltungsecke sämtlicher Zeitungen und Zeitschriften aufgearbeitet werden. Das antike Material ist gesammelt bei Ohlert, Rätsel und Rätselspiele der alten Griechen² (1912) S. 211–241. Wolfgang Schultz, PW s. v. Rätsel Sp. 109 f.

Buchstaben dienen ferner als Namen oder Beinamen von Personen. Recht lustig ist der Name, den der Korinthier Amphion seiner lahmen Tochter gab, die später Mutter des Tyrannen Kypselos wurde. Er nannte sie Labda[81]; natürlich ist das archaische Ladba gemeint, das die ungleiche Beinlänge gut wiedergibt. Sonst gibt es noch allerhand Schulwitze. Den großen Gelehrten Eratosthenes nannten sie Βῆτα[82], den Aristarcheer Satyros Ζῆτα, den Astronomen und Mathematiker Apollonios von Perge Ε[83], typische Schulspitznamen, wie sie wohl heute noch auf jedem Gymnasium vorkommen. Sie haben meist eine ganz gleichgültige zufällige Entstehungsursache, die bald vergessen wird. Später werden dann irgendwelche Gründe hinzugedichtet. Die unwahrscheinlichen Anlässe, die Ptolemaeus Hephaestion u. a. überliefern, hat Lehrs a. a. O. widerlegt. Aber wenn er nun alles auf körperliche Ähnlichkeit der Benannten mit den betreffenden Buchstaben zurückführen will, so ist das wieder einseitig. Wir werden uns da etwas bescheiden müssen.

Bloße Numerierung ist es, wenn Martial II 57 und V 26 einen Freund alpha paenulatorum und sich selber beta togatorum tituliert. Anth. Palat. XI 15 ist ein Scherz an einen Arzt, der verschiedene Leute, deren Namen mit A anfängt, totkuriert hatte. Da der Arzt demnach anscheinend in alphabetischer Reihenfolge vorzugehen gedenkt, will der Dichter Ὠριγένης heißen.

Das Sprichwort liebt die Häufung in symmetrischer Form. Da entwickelt sich entweder die Priamel

Beispiel: Ὑγιαίνειν μὲν ἄριστον ἀνδρὶ ϑνατῷ
δεύτερον δὲ φυὰν ϰαλὸν γενέσϑαι usw.[84]

oder das Zahlensprichwort, das der Orientale so liebt. Beispiel: Vier Tiere dürfen mit der Halfter angetrieben werden: das Pferd, das Maultier, das Kamel und der Esel. — Sechs Dinge dienen dem Menschen,[S. 30] drei sind in seiner Gewalt und drei sind nicht in seiner Gewalt: das Auge, das Ohr und die Nase sind nicht in seiner Gewalt. Der Mund, die Hand und der Fuß sind in seiner Gewalt (Talmud.)[85] Diesen Formen ist nahe verwandt die Spielerei mit mehreren Worten, die gleiche Anfangsbuchstaben haben. In dem Stabreim, der so entsteht, kommt der sich wiederholende Buchstabe besonders zu Ehren und wird als das Wichtigste hervorgehoben. Etwa: τρία ϰάππα ϰάϰιστα, nämlich Kreter, Kilikier, Kappadokier (Suidas s. v. ϰάππα); lateinisch: Cornelius Sulla, Cornelius Cinna, Cornelius Lentulus: Schneidewin-Leutsch, Paroemiogr. II S. 369 (aus Augustinus, de grammat.). Friedensburg, Die Symbolik der Mittelaltermünzen I, Berlin 1913 S. 90 verweist auf Gesta Romanorum Kap. 13, 42, 125 und Anhang Kap. 3 der Grässeschen Ausgabe und gibt als Beispiel: „Vier P soll jeder ehren: patriam, parentes, praeceptorem, praetorem“ und die drei Regierungsmittel des Rè Bomba Ferdinand II. von Neapel: farina, forca, festa. Dazu kämen noch die „drei bösen Weh“, die unter König Friedrich I. das Land Preußen plagten: Wartenberg, Wittgenstein, Wartensleben.

[61] Johannes Lydus, De mens. II 8 p. 28 Wünsch: οἱ Πυϑαγορεῖοι τριάδα μὲν ἐν ἀριϑμοῖς ἔν τε σχήμασι τὸ ὀρϑογώνιον τρίγωνον ὑποτίϑενται στοιχεῖον τῆς τῶν ὅλων γενέσεως, dazu Lobeck, Aglaophamus 1345. Delatte, BCH 37 (1913) S. 263 ff. Deltoton als Sternbild bei Aratos 233 und an vielen anderen Stellen; danach heißt es in einem byzantinischen Gesprächbuch: Δέλτα ἀπὸ τοῦ δελτωτοῦ ἐξ ἀστέρων συγϰειμένου. Heinrici, Abhandl. d. sächs. Ges. philos.-histor. Kl. 28 (1911) S. 90, 18. Wortlaut gebessert von Stählin, Byzantin. Zeitschr. 21 (1913) S. 508.

[62] Zu diesem Ausdruck s. unten in dem Abschnitt über Onomatomantie.

[63] Es folgt dann dort eine Deutung der einzelnen Buchstaben auf die Etappen der Schöpfung. Von Π ab gehen die Zeichen auf Christus (p. 271 ff.). Auf S. 114 steht eine Abbildung, wo das Delta-Dreieck als Bild des Kosmos in mehrere Stockwerke eingeteilt ist, die den obersten Himmel, die Wasser des Himmels, das Firmament, die Erde bezeichnen. Zu diesen Stockwerken gibt es nach einer Mitteilung von Dr. C. Jaeger-Straßburg auch äthiopische Belege. In einer Handschrift des Britischen Museums Orient 503 fol. 1 b steht eine Abhandlung über die Schönheit der Schöpfung, worin folgende fünf Stockwerke festgestellt werden: Himmel des Lichtes, das obere Wasser, der Plafond, das untere Wasser, die Erde. Die Einzeichnung in ein Dreieck findet sich dort nicht.

[64] Vgl. Lobeck, Aglaophamus 1341.

[65] Friedensburg, Berliner Münzblätter N. F. 4 S. 25. Martial VII 37, 2.

[66] Friedensburg, Symbolik der Mittelaltermünzen I, Berlin 1913 S. 69 ff.

[67] Albrecht Dieterich, Nekyia S. 182, Kleine Schriften S. 472. Wünsch, Sethianische Verfluchungstafeln S. 98.

[68] Persius III 56 mit Scholien. Lactant. instit. div. VI 3, 6. Servius zu Aen. 6, 136. Ausonius technop. 12. 13 p. 138 Schenkl; Maximinus in Anthol. lat. 632 Riese; Martian. Cap. II § 102; Hieronymus in Eccl. Migne, PL 23, 1091; vgl. Lobeck, Aglaophamus S. 1341, 1344; Dieterich, Nekyia (1893) S. 192; Pascal in den Miscellanea Ceriani (1910) p. 64; Wolfgang Schultz, Philologus 68 (1909) S. 488 ff.

[69] Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft der Griechen und Römer² II (1891) S. 366.

[70] Ἐτυμολογία τοῦ ἀλφαβήτου Etym. Gud. Anhang p. 595 Sturz.

[71] Heinrici, Die griechisch-byzantinischen Gesprächbücher, Abhandl. d. Kgl. sächs. Gesellschaft d. Wissenschaften, histor.-philol. Klasse, Bd. 28 (1911) S. 90, 14; Nachträgliches zu den griechisch-byzantinischen Gesprächbüchern, Berichte der Kgl. sächs. Gesellschaft, histor.-philol. Kl. Bd. 64 (1912) 8. 179 f.: ein cento grammaticus codex Marcianus VII 38. In der ersten Heinricischen Abhandlung S. 87, 27, stehen einige Zeilen über Buchstaben als σφραγῖδες. Ganz Ähnliches findet sich in einer Handschrift des Briefes Jesu an König Abgar von Edessa, der im Mittelalter als Palladium diente, s. Dobschütz, Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 43 (1900) S. 443.

[72] Hrsg. von R. Foerster, Index lectionum Vratislaviensium 1891.

[73] So empfindet noch heute der Orient. Hohes Alter ist das erste, was man von der Überlieferung verlangt. Und gegen die Tradition vermögen moderne Errungenschaften nur schwer aufzukommen.

[74] Dasselbe steht praep. ev. XI 6 p. 519.

[75] Zur Zeitbestimmung J. B. Kellner, Der hl. Ambrosius als Erklärer des AT, Regensburg 1893 S. 153. Ambrosius versteht es dabei, einen Zusammenhang der Anfangsbuchstaben mit dem Inhalt der damit begonnenen Verse nachzuweisen. Der Buchstabe des Akrostichons erscheint so als Titel. Als Beispiel diene Vers 4: Daleth bedeutet entweder „Furcht“ oder „Geburt“ (Ambrosius kann kein Hebräisch). Beides paßt; denn die Geburt ist etwas Materielles und Hinfälliges, deshalb nicht frei von Furcht. Vortrefflich bestätigt dies die erste Zeile: „Am Staube hing meine Seele“; denn Staub ist Erde, und die Erde ist etwas Materielles.

[76] Iren. adv. haeres. I 20. Kindheitsevangelium des Thomas cap. 6. Dazu Hennecke, Handbuch zu den neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen 1904, 8. 136 ff., bes. S. 142 eine indische Parallele: jeder Buchstabe ist der Anfang eines Spruches. Auch den Muslim hat die Geschichte von dem Jesusknaben gefallen, vgl. Schanawânî Bl. 16 (s. oben S. 5 Anm. 5) bei Goldziher, Zeitschrift d. deutschen morgenl. Gesellschaft 26 (1872) S. 784.

[77] Von deren Existenz wir zudem gar nichts wissen. D. H. Müllers Ergebnisse abgelehnt auch von Franz Wutz, Onomastica sacra, Texte und Untersuchungen 41, 1 (1914) S. 216–231.

[78] Dazu Goebel, Ethnica, de Graecorum civitatum proprietatibus proverbio notatis, Diss. Breslau 1915 S. 80 f.

[79] Der Schulmeister Eunus, ein fellator, der alle Sexualia in seinem Schuljargon wiedergibt, sieht das membrum muliebre für ein Rechteck an. Das hat den Vorteil, daß, wenn die eine Seite zusammengezogen wird, der Buchstabe Δέλτα herauskommt, der gewöhnliche Name für das γυναιϰεῖον αἰδοῖον s. oben S. 20 f. Die Rückansicht der Menschen erklärt er für ein Ψ (gebildet von den drei Linien: Grenze zwischen den Beinen und untere Grenze der beiden nates). Ubi si Eunus ligurrit, anus patet sicut Λ. Φ litera Ausonius aut πορδήν imitari mihi videtur, quae paedogogo ligurrienti sentienda est, aut figuram, quae natibus pueri et lingua istius paedagogi efficitur. Im letzten Vers wird ihm die Strafe den Θ(άνατος) gewünscht (s. oben S. 22). Die Verse 10–12 verstehe ich nicht.

[80] Preisendanz RM 68 (1913) S. 640.

[81] Herodot V 92.

[82] Marcian. Heracl. epit. peripl. Menippei 2.

[83] Phot. bibl. p. 151, 21; Lehrs, Quaestiones epicae, Königsberg 1837 p. 19 ff.

[84] Euling, Die Priamel bis Hans Rosenplüt, Germanist. Abhandlungen hrsg. v. Voigt Bd. 25, Breslau 1905.

[85] Wünsche, Die Zahlensprüche im Talmud und Midrasch, ZDMG 65 (1911) und 66 (1912).

[S. 31]

LEBENSLAUF

Ich, Franz Dornseiff, geboren zu Gießen am 20. März 1888, bin ein Sohn des Landsgerichtsdirektors Karl Dornseiff und seiner verstorbenen Frau Käthe geb. Baltzer. Ich besuchte zuerst das Gymnasium zu Gießen, seit 1904 das Neue Gymnasium zu Darmstadt, das ich Ostern 1906 verließ, um mich dem Studium der klassischen Philologie und Germanistik zu widmen. Ich war 3 Semester in Heidelberg, 1 in München, 5 in Berlin.

An diesen Universitäten hörte ich Vorlesungen und besuchte Übungen bei den Herren Professoren: Boll, Brandt, Dieterich †, v. Domaszewski, v. Duhn, Elsenhans, Petsch, F. A. Schmid, Schoell, Uhlig †, Windelband † (Heidelberg); Crusius, von der Leyen, Vollmer (München); Cassirer, Dessau, Diels, von Harnack, Helm, Meister, Eduard Meyer, Norden, Riehl, Roethe, Sieglin, Simmel, Vahlen †, Wentzel, v. Wilamowitz-Moellendorff, Woelfflin (Berlin).

Ihnen allen schulde ich herzlichen Dank. In besonderem Maß bin ich Herrn Geh. Hofrat Prof. Dr. Boll verpflichtet, der mich zu dieser Arbeit angeregt und sie ständig mit fördernder Teilnahme begleitet hat. Er hat mich dadurch zu wirklicher Forschung geführt und meine Neigung besonders zu dieser Materie vertieft.