The Project Gutenberg eBook of Der Held und andere Novellen

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Title: Der Held und andere Novellen

Author: Wilhelm Holzamer

Commentator: Richard Wenz

Release date: December 15, 2024 [eBook #74906]

Language: German

Original publication: Leipzig: Philipp Reclam jun

Credits: Richard Scheibel and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER HELD UND ANDERE NOVELLEN ***

Der Held
und andere Novellen.

Von

Wilhelm Holzamer.


Mit einer Einleitung

von

Richard Wenz.




Mit dem Bildnis des Dichters.



Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.








Uebersetzungsrecht vorbehalten






Portrait und Signatur Wilhelm Holzamer

Einleitung des Herausgebers.

Wie eine lange, beschwerliche Bergwanderung war das Leben Wilhelm Holzamers. Vor dem Aufstieg ein frohes Schreiten über saftig grüne Matten, durch die klare, heitre Luft des Frühlenzes, darein drängende Lebenslust ihre Lieder schmetterte. Ein kurzes, behagliches Verweilen, aber doch die Unruhe im Herzen, hinaufzukommen zur Höhe, die sein Ziel sein sollte. Und nun das Aufwärts! Zuerst über öde, dürre Steinhalden, wo die Stimmen des Lebens schwiegen, wo nur die Helle von oben das Wandern noch erträglich machte, wo aber auch schon dann und wann eine fliehende Wolke ihren raschen Schatten über ihn hinwarf, daß ihm einen Augenblick lang das Herz klopfte vor ungewisser Ahnung. Aber die Sehnsucht in ihm drängte, und rüstig schritt er fürbaß. Der Pfad ward steiler. Ueber Felsvorsprünge ging's, dann wieder durch enge, dunkle Schluchten, in denen wirres Gestrüpp wucherte. Schritt um Schritt hemmte es seinen Fuß; aber das Licht und die Höhe lockten. Und dann wieder, kaum in der Sonne, der huschende, geheimnisvoll drohende Schatten der Wolke! Die Ahnung in ihm wuchs und machte ihn müd und traurig. Und einmal im Traum sah er den Tod schreiten, der ihm winkte. Da war ihm sein Ahnen zur schlummernden Gewißheit geworden. Aber die Wanderung und das weitgesteckte Ziel, die machten sie vergessen. Hohe Schroffen türmten sich auf vor ihm, und ganz oben lockte das üppige Grün einer Bergwiese. Sein Stab griff aus; aber dann: Fuß über Fuß, mit klammernden Händen die steile Bergwand hinauf! Und oft, daß ihm der Atem ausging, wenn er hinuntersah in die Tiefe, wohin es heil kein Zurück gab. Und wieder schreckte ihn der Schatten. Ein Straucheln — aber eine unsichtbare, starke Hand hielt ihn, und nun, aus schweren Träumen erwachend, stand er müd auf blumiger Au, stand er auf der Höhe. Und neben ihm die Gefährtin, die den gleichen mühseligen Aufstieg gemacht, die Fremde und doch Vertraute, die ihm die Hand gereicht hatte, als sein Fuß strauchelte. Dann ein frohes Wandern über die Höhe, der Sonne entgegen, reich und glückvoll, bis wieder die Wolke ihren schwarzen Schatten über ihn hinwarf, der nicht mehr weichen wollte ... Der Tod hatte ihn eingeholt. Mitten auf seinem Weg. Mitten aus seinem Schaffen riß es ihn, den Frühgereiften aber nicht Vollendeten; denn sein letzter, großer Roman, »Der Entgleiste«, ist kein Ausklang, sondern eine volltönige Introduktion, ein kraftvoller Aufstieg zu neuen Höhen.

»Zum Licht« hieß seine erste Gedichtsammlung, die er 1897 veröffentlichte. Fast alles darin ist noch gärend und draufgängerisch; man spürt Dehmel, Falke, Liliencron und: Nietzsche, als einen, den er eben erst erlebte, der alles aufwühlte in ihm. Aber ein ganzer »Holzamer« war auch dieses Buch schon. Es umzirkte weit aber fest den Kreis seines Lebens und Schaffens. Und auch von seinen Erstlingserzählungen her, »Auf staubigen Straßen«, geht deutlich erkennbar ein einziger Weg, eine einzige Entwicklungslinie. Es hieße daher, das Bild des Dichters fälschen, wollte man, wie es geschehen ist, seine hessischen Dorferzählungen der Heimatkunst zuweisen und seine über die Grenzpfähle der Heimat hinausstrebende Allgemeinkultur als Abwärtsentwicklung oder Entartung abtun. »Im Dorf und draußen« war die zweite Novellensammlung, in deren Titel er, bewußt oder unbewußt, schon äußerlich andeutete, daß sich seine Kunst nicht in der Volks– und Bauerngeschichte erschöpfen wollte. Und innerlich? Sind nicht hier schon seine Gestalten meist Eingänger und Sonderlinge, wertbewußte Starke, die dem Leben ihre Notwendigkeit abtrotzen? Und keinem einzigen begegnet man unter seinen Helden, von dem man nicht sagen müßte, der hat seine ausgeprägte Art, der ist ein Vollmensch, ein Ganzer, so wie's nachher sein armer Lukas ist, sein Peter Nockler und sein heiliger Sebastian, so wie's die Frauen in diesen Büchern sind und ihre nur konsequenter gezeichneten, bis zur Härte eigenartigen Schwestern in den späteren Romanen »Inge« und »Ellida Solstratten«, in denen nur engherziges Pfahlbürgertum Dekadenz und Verkümmerung erkennen konnte. Und doch waren auch diese Frauen nicht andrer Art als die im höchsten Maße problematische Figur der jungen Dorth in »Vor Jahr und Tag«, dem Roman also, der zeitlich nach den beiden vielfach angefeindeten »Frauen«–Romanen liegt, aber unbedingt mit dem »Peter Nockler« zusammengenannt werden muß. Wäre Holzamer wirklich jemals der einseitige Heimatdichter und Volkserzähler gewesen, wie ihn seine Gegner sich wünschen, so hätte er in jener Schaffensperiode nicht die »Kunstbriefe an den deutschen Michel« über »Die Siegesallee« schreiben können, so hätte ihn auch nicht der Großherzog Ernst Ludwig von Hessen vom Schulkatheder in seine Kabinettsbibliothek und als Leiter an die Darmstädter Spiele berufen. Wenn einer, so erkannte dieser fürstliche Mäzen klar, welche hohen künstlerischen Qualitäten allgemeinkultureller Art in Holzamers Werken lagen.

Lediglich zur stofflichen Gruppierung darf man also die drei Romane (»Der arme Lukas«, »Peter Nockler« und »Der heilige Sebastian«) zusammenfassen und sie von den folgenden sondern. Ihre Ausgeglichenheit bis ins kleinste, die Holzamer selber sah und die ihn den »Peter Nockler« so hoch einschätzen ließ, mag man in »Inge« und »Ellida Solstratten« vermissen; dafür entschädigen aber der kühne Zug ins Große und die von Lebensernst gestählte Energie, die da ihren Ausdruck sucht. Wer diese neue Phase des Dichters künstlerisch oder auch nur psychologisch werten will, der darf ihn nicht im Werden ergreifen, sondern im Gewordensein, der muß ihn messen an seinen letzten Arbeiten, den zahlreichen Novellen aus den fünf Jahren seiner Pariser und Berliner Zeit, die in zwei Bänden erscheinen sollen, sowie seinen beiden Romanen »Vor Jahr und Tag« und »Der Entgleiste«, der im Herbst dieses Jahres herauskommt.

Kann damit die scheinbare Kluft in des Dichters Schaffen als überbrückt gelten, so wird man nun die markantesten Züge seiner Künstlerpersönlichkeit leicht erkennen können. Von seiner Bevorzugung besonders individuell gearteter Menschen war schon kurz die Rede. In zweiter Linie müßte die Ruhe und Sicherheit der Gestaltung hervorgehoben werden: scharfe Skizzierung und dann, Strich um Strich Tönung und Nuancierung bis ins feinste, bis zum blutwärmsten Leben. Und wo dann noch verborgene Unterströmungen aufzudecken sind, da greift, kaum merklich, seine überlegene Reflexionskunst ein, die Hand in Hand geht mit einer subtilen psychologischen Tiefgründigkeit. Schon der ruhige Fluß seiner Sprache, die erschöpfende Klarheit des Ausdrucks, der kaum die Feile verrät, kennzeichnen die Überlegenheit, mit der er charakterisiert. Und schön ist diese Sprache, voll Wohllaut, schmiegsam, weich und anderswo doch auch wieder kraftvoll und wuchtig. Dazu kommt eine feine poetische Stimmungsgabe; aber das Maß des lyrischen Einschlags ist so verständig innegehalten, daß man ihn vermissen würde, wenn er nicht da wäre.

Es ist schade, daß an dieser Stelle auf die Tendenz der einzelnen Romane ebensowenig eingegangen werden kann wie auf ihren Inhalt. Es würde einem dann auch der Mensch Holzamer näher gerückt werden. Man würde sich nicht nur mit dem träumerisch gemütvollen, dem edlen und weisen Manne befreunden, der aus dem »Peter Nockler« und dem »Armen Lukas« spricht; wir würden auch willig mit ihm gehen, wenn er uns vom »Heiligen Sebastian« bis zur »Ellida Solstratten« führte, und auch in der Härte, die weniger verwunden will als verwunden muß, Ehrlichkeit, Größe und Kraft sehen, die gepaart mit jener weisen Güte unserer Verehrung und Liebe würdig ist. Die ihn kannten, wissen gut, wie sehr Holzamer seine Künstler–Ideale auch lebte. Wer einmal den tiefen Eindruck dieser sympathischen Persönlichkeit empfing, konnte ihn nicht mehr vergessen. Er war ein vornehmer Charakter; aber seine Vornehmheit hatte eine Wärme, die man schon im Druck seiner Hand, im Blick seines Auges spürte.

Zwischen Holzamers ersten Gedichten und dem späteren Band, »Carnesie Colonna«, lagen die zart getönten dramatischen »Spiele«, die aber mit ihrer Weichheit und ihrem hohen Stimmungsgehalt eher seiner Lyrik zugezählt werden müssen als dem einzigen Drama (»Um die Zukunft«), das wiederum viel mehr auf seine wuchtige Epik, etwa die im »Heiligen Sebastian«, hinweist. Aber wenn man den Lyriker Holzamer einschätzen will, so muß man auf die zart rhythmische Musik des Leides und Glücks in den Phantasien »Carnesie Colonna« hinhören. Und klingt mancher Ton darin auch noch als Verheißung, so wird die Lyrik des durch Kampf und Schmerz gereiften Dichters, die der Nachlaß enthält, Erfüllung sein.

Sein Drama, das in die Pariser Zeit fällt, war ein erster Wurf, hatte als solcher aber seine große Tragweite und bewies jedenfalls, daß Holzamer auch auf diesem Gebiet ungewöhnlich starke Möglichkeiten bot. Daß es von keinem besondern Glück begünstigt war, lag am »Theater«, das außer Kunst ja auch eine gewisse Routine fordert. Ob er ihm nach dieser Richtung noch Konzessionen gemacht hätte, wer weiß!

So wenig aber, wie man den Dramatiker Holzamer übersehen darf, so wenig darf man auch an dem Essayisten vorübergehen. Sein selbständiges Urteil hatte Wert und Gewicht, nicht nur in der Literatur, sondern in der Kunst überhaupt. Unkenntnis und Vorurteil haben seinem dreijährigen Aufenthalt in Frankreich Unfruchtbarkeit nachgesagt; aber schon allein die Essaysammlung »Im Wandern und Werden«, eine Monographie über Conrad Ferdinand Meyer, der später eine solche über Heine folgte, könnten das Gegenteil beweisen, außer ihnen Dutzende von Aufsätzen und Kritiken in führenden Blättern. Holzamer war in seiner kritischen Tätigkeit kein Fanatiker irgendeiner Richtung; aber auch hier verleugneten sich nie seine unbestechliche Ehrlichkeit und sein hoher künstlerischer Ernst.

Von den sechs Novellen des vorliegenden Bändchens zeigen uns »Cellist Behnke«, »Hochsommerglück« und »Der böse Wunsch« des Dichters starkes Talent im ersten Wachsen, während »Der Held« und »Sein letztes Hochamt« die deutlichen Merkmale einer kräftigen Entwicklung an sich tragen. »Die Freite« endlich darf als eine reife Frucht aus der letzten Zeit seines Schaffens hingenommen werden.

Am 28. März dieses Jahres hätte Holzamer erst die Vierzig erreicht, und nun jährt sich am 28. August schon zum drittenmal sein Todestag. Ein Frühgereifter, aber kein Vollendeter.

Köln, im April 1910.

Richard Wenz.



Der Held.

Der Ochsenwirt zu Schafbach hatte ein Preiskegeln ausgeschrieben. »Erster Preis: eine goldene Uhr, zweiter Preis: ein Regulator, dritter Preis: ein Revolver.«

Er hatte damit die ganze Gegend in Aufruhr gebracht. So hohe Preise, das war ja unerhört! Allerdings war auch der Einsatz ziemlich hoch. Aber das war ja natürlich.

Der Ochsenwirt lachte sich ins Fäustchen. Er hatte es gut gemacht diesmal. Die ganze Woche war sein Lokal jeden Abend gestopft voll. Jeder wollte die Preise sehen. Es war ja nicht zu glauben, so hohe Preise! Und erst am Sonntag! Da war's ein Geschäft! Von Latzenbach kamen sie, von Werden, von Bellenbach, von Sundsbach, ja von Hatzbach, ganz drüben hinterm Gebirge, und von Weilau und Buchenau, ganz drunten im Tal, fünf, sechs Stunden Wegs.

Er hatte es dem Sternwirt zum Ärger getan. Darüber konnte der nicht. Es war für die Pfingstmusik, die der ihm abgespannt hatte.

»Dem hewwe mer emol — ha, ha, ha! — E Schoppe noch, Hannes? — un Sie auch noch an, Herr Nochber? — Na — un sein Se de Sunndag aach debei? — Die schön guldenig Uhr! — Do gucke Se nor emol! — — — Prost! bekumm's Ihne!«

Es war erst Mittwoch heut, aber der Ochsenwirt animierte schon tüchtig. Er war ein Geschäftsmann. »Wann mer Wert is, muß mer Wert sein!« war sein Wort. Und darin lag ihm alle Klugheit und Geschicklichkeit, alle List und Verschmitztheit als Recht und Sinn des Lebens.

Eins war dumm, daß ihm jetzt grad — es war am Donnerstagnachmittag — seine »Alte« ins Kindbett kommen mußte. — Wer, Deiwel, sollte die Arbeit all schaffen am Sonntag! Da hieß es Beine machen — unter Umständen auch Fäuste. Vor allen Dingen aber: Hand zu und Augen auf!

Aber der Peter Knoll war ein Geschäftsmann. »Wann mer Wert is, muß mer Wert sein!«

Er ließ ausschellen und ins »Kreisblättchen« setzen, daß das Kegeln auf den Sonntag darauf verschoben sei — »auf Wunsch vieler Kegler aus Schafbach und Umgegend« — und daß die Preise im großen Saal »zum Ochsen« ausgestellt blieben.

Das gab Ärger. Das vermehrte aber auch die Hitze. Jeder war jetzt ungeduldig. Der Ochsenwirt wußte das, er verstand sein Geschäft. Er kannte aber auch seine Leute. Jeder hatte ja in Gedanken schon die goldene Uhr in der Tasche — oder den Regulator an der Wand — oder wenigstens knallte er schon mit dem Revolver.

Der Ochsenwirt hatte so noch einmal am Sonntag ein vollbesetztes Lokal und das Haus »voll Disput«, wobei er tapfer ausschenken konnte. Er hatte »seinen Schnitt« bereits gemacht. »Ja, das Geschäft muß man verstehen!« Er hatte beinahe die Preise schon wieder verdient. Denn wieder waren sie gekommen, von Latzenbach und Werden, von Bellenbach und Sundsbach, ja von Hatzbach, von Weilau und Buchenau sogar. Es war ja »was Unerhörtes«, kaum zu glauben. So hohe Preise!

Man hatte »das Kreisblättchen« dreimal durchstudiert und jedem Schellen genau zugehört, ob es nicht wieder eine Verschiebung gegeben habe. Keiner hatte was davon gelesen, ausgeschellt war's auch nicht worden. Das Preiskegeln fand also statt. »Sonntagnachmittag von drei Uhr ab.«

Schon am Sonntagmorgen ging's beim Ochsenwirt hoch her. »Ich wett' en Humpe« — »ich e Fäßche« — »der krickt die Uhr — der krickt se!«

»Halt die Meiler!« sagte der Schusteranton. »De Hannphilipp von Garnbach hot noch all die Preiskegele rundherum gewunne, der krickt aach die Uhr diesmol — do will ich eich mein Kopp verwette. Un ich were den Regulator krieje, daß er meiner Fraa als die Stunne schlägt, wann ich owends hocke bleib« — fügte er hinzu. Es war noch kein rechter Witz, wie sie der Schusteranton sonst machte, aber er hatte auch noch nichts »unnerm Dach«.

Schlag drei Uhr warf dann Peter Knoll eine Kugel in die Vollen. Damit eröffnete er das Preiskegeln. Und dann begann die Reihe. Auf jeden Einsatz drei Kugeln, die erste in die Vollen. Der Polizeidiener und der Lehrer führten die Liste. Die waren unparteiisch.

Anfangs ging's still her. Nur bei einem guten Wurf ein kurzes Hallo. Dann ruhig die Reihe weiter. Der Lehrer rief die Namen und bestimmte die Kugeln, der Polizeidiener rief die Würfe.

Gegen vier Uhr kamen die Burschen aus Buchenau. Sie kamen alle auf einmal, während sich die Gäste aus den anderen Ortschaften vereinzelt, zu zweien oder dreien, eingefunden hatten.

Bei den Buchenauern war der »Jean«. Der genoß ein ganz besonderes Ansehen. Der Jean wurde in der Gegend nur mit seinem Vornamen genannt. Höchstens hieß er auch noch »der Herr Ober«. Er war nicht in der Gegend geboren, er war ein Rheinhesse. Er war mit dem Grafen »herüber« gekommen, als dieser vom Militär kam. Er war sein Bursche gewesen — bei der Artillerie hatten sie gedient — und der Jean hatte dem Grafen gefallen. Und der Jean war auch gerne mit ihm gegangen. Während des Manövers hatte er mal im Odenwald gelegen, und da hatte es ihm gefallen: der Wald, die Berge! Seit zwei Jahren etwa war er nun der Oberknecht auf dem Gute des Grafen. So hatte er sich in die Höhe geschafft.

Und er war auch ganz der Kerl dazu. Schöner war keiner weit und breit. Und keiner stolzer.

Und gut war er. Er sorgte für seine Knechte; was sie ihm klagten, vertrat er beim Grafen. Und er forderte auch nicht zu viel von ihnen, keine Arbeit, die er nicht selbst tat. Er tat allen voraus.

Er hatte die schönsten Pferde. Die Schimmel hatte er sich genommen. Und wie sauber waren sie immer, wie glänzten sie. Er tat alles selbst, er ließ sich nichts tun, so leicht er das gekonnt hätte. — Der Jean hielt sich stramm. Man mußte ihn fahren sehen, um ihn zu bewundern. Er stand immer auf seinem Wagen. Und man mußte den Jean gehen sehen, um zu wissen, daß er ein »anderer« war. Er hatte nicht den schweren, tappenden Gang der Gebirgler, er schritt rasch, gerade, kerzengerade mit gehobener Brust. Er stieß nie an, er stolperte nie. In seinem Tritt war Tempo. Aber auch Kraft und noch mehr Selbstbewußtsein lag darin.

Der Gutsverwalter, in seinem besten Staat, sah neben dem Jean wie ein gewöhnlicher Knecht aus. Der Jean hätte der Graf selbst sein können. Er hatte Augen, die förmlich glühten, die alles festhielten, die alles lenkten. Wenn er über den Hof schritt, entging ihm nichts, wenn er über die Straße ging, war's, als ginge er allein. Er war kein Diener und kein Ducker. Der Jean war ein Herr.

Er war Knecht, aber wem fiel das ein! Niemand dachte daran. Er war's am Gesindetisch — und da saß er oben! — sonst war er's nie. Er war der »Ober«. Unser »Ober« sagten die Knechte und die Mägde — »der Gutsober« hieß er in Buchenau.

Die Mägde waren sämtlich in ihn verschossen, die Mädchen von Buchenau träumten von ihm. Er hätte sie billig wie Wecken haben können, die armen wie die reichen. Er wollte keine. Er hatte keiner Magd noch einen verlangenden Blick zugeworfen, wie er sie auch schon gesehen hatte. Und nichts hatte bei ihm verfangen, wie's auch manche schon angelegt hatte. Kein Mädchen von Buchenau konnte sich seiner Gunst rühmen, er sah jede so stolz und unbefangen mit seinen scharfen Augen an, als seien sie alle gleich schön oder gleich häßlich. Alle waren sie ihm gleichgültig.

Man sagte darum, er habe einen Schatz »überm Rhein«, dem sei er treu.

Außerdem — man mußte den Jean noch am Sonntag sehen, wenn er im Wirtshaus war. Da war er vornehm. Da rüpelte er nicht, da schrie er nicht. Er saß vor seinem Bier und hörte zu, gerade als gehöre er nicht zu den Leuten, als sei er nur zufällig unter sie geraten und suche auf gute Art mit ihnen auszukommen. Als sei er andere Gesellschaft gewöhnt. Und wirklich, der Schullehrer setzte sich zu ihm, der Bahnassistent und der Postassistent, der Gutsverwalter und der Gemeindeschreiber. Er war ihnen der »Ober«, und man brauchte sich nicht zu schämen mit ihm. Er sprach, was er verstand, und was er nicht verstand, redete er nicht. Hatte er sich aber eine Meinung gebildet, vertrat er sie mit Wärme. So jüngst, als die Hübnerslies mit ihrem Kind in den Grafenteich gegangen war. Alle verurteilten sie — wegen des Kindes und wegen des Selbstmordes. Der Jean allein tat's nicht. Er sprach für sie — er entschuldigte nicht, er erklärte nur. »Leid ist mir für die arme Lies, was soll ich sie verdammen! Das Kind — ich kann's schon verstehen, wie das Mädel vertraute und fiel. Sie hat den Franz wohl gern gehabt, und das kann was heißen bei einem jungen, feurigen Ding — und daß sie, wie alles so ausging und zu Ende ging, verzweifelte — ich kann's schon verstehen. Da sind die Menschen alle so gut und haben nie einen Fehler gemacht und werfen darauf, als ob sie dazu bestellt seien. Aber helfen, helfen! — gibt's nicht. Die Menschen haben da immer Mitschuld, und ein gut Teil, gerade die ›guten‹, die das Maul so voll nehmen und die ›strengen‹, die so harte Augen, so verächtliche Blicke haben. Weh tun — wer nicht weiß, was weh tun heißt, der soll da nicht richten, das ist meine Meinung,« schloß er. Und er war sogar ein wenig hitzig dabei geworden, ganz gegen seine Art.

Und als der Schullehrer und der Gemeindeschreiber abends noch ein Stück zusammen gingen auf dem gleichen Heimweg, da meinte der Lehrer: »Was der ›Herr Ober‹ da gesagt hat — es ging an mich. Das steht nicht im Katechismus — das kommt aus dem Herzen. Der muß schon was erlebt haben, der ›Herr Ober‹. Mir ist das heut abend eingefallen, so was kann man nur erleben. Der trägt was in sich herum, kommt's mir jetzt vor. Aber ich hab' Respekt. Ich hab' Respekt.«

Manche sagten, der Jean sei selbst ein Grafensohn. Andere aber behaupteten — und das waren ein paar, die mit ihm beim Militär waren — er sei das uneheliche Kind einer Schauspielerin. Man erzählte sich das im ganzen Dorf. Aber es schadete dem Jean nicht. Er war einer von den Menschen, die man nicht nach Stellung, nach Herkunft und Anhang beurteilt, die man als sie selbst nimmt und nach dem Werte schätzt, der in ihrem Benehmen, ihrem Tun, ihren Leistungen, ihrer Art, eben in ihrer Persönlichkeit in die Erscheinung tritt. Darin war er ein Glücklicher.

Was aber seine Herkunft anbetrifft, so war er wirklich der Sohn einer Schauspielerin, in wilder Ehe geboren, als seine Mutter die »Direktrice« einer Schmiere war. Und er hatte ein Schicksal, er hatte »was erlebt«. Als Kind hatte er schon auf der Bühne gestanden. Als Kind schon hatte er gehungert, hatte er stehlen müssen, und oft war gerade er's gewesen, den man geschickt benutzt hatte, die vielen Gläubiger, die's an jedem Orte rasch gab, wo ihr Karren hielt, hinters Licht zu führen.

Und welches Leben hatte gerade er gehabt bei dem Vater, dem »Direktor«. Manchmal fielen ihm die hübschen Titel ein, die ihm der Vater beigelegt hatte. Dann knirschte er. Aber weinen hätt' er mögen, wenn er an all die Gemeinheiten und Liederlichkeiten dachte, die er hatte ansehen müssen. Wozu hatte die Not nur seine Mutter oft gezwungen! Er schämte sich heute noch. Eine Blutwelle stieg ihm jedesmal heiß ins Gesicht.

Da hatte er Verachtung und — Verzeihung gelernt. Denn er hatte sie in Verzweiflung gesehen, wildfeindlich gegen sich selbst, erstickend vor Ekel — vor Haß und Scham. Da hatte er das Mitleid gelernt.

Früh war er reif geworden. Das Schicksal hatte ihn in die Lehre genommen. Es hatte ihm die Jugend vergiftet, denn es hatte seinen Kinderaugen das Leben gezeigt, in seiner Härte und seinem Schmutz, in seinen Abgründen, Lockungen und Falschheiten.

Da ward er in sich selbst zurückgeschreckt. Er fühlte sich als Gegner zum Leben, zu all seinen Reizen und Genüssen.

Sein Wille ward so geweckt. Dem Leben einen besseren Wert! schrie's in ihm.

Er hielt sich allein. Er war ernst. Er ward froh im Freien, befreit und gesund in der Natur draußen, wenn er im Grase lag, wenn er die Straße hinwanderte, wenn er die Vögel singen hörte, die Blumen blühen sah und die Bäume Früchte tragen. Den Bauer liebte er, der den Acker bestellte, und er hätte einen Tag lang zusehen können, wie sein Pflug durch den Boden schnitt.

So hatte ihn sein Schicksal geformt.

Gering war er, aber so jung er noch war, er hatte sich nicht herabziehen lassen. Er hatte einen Stolz in sich und eine starke Sicherheit. Und das wußte er: Klagen und Sehnen konnten ihm nicht helfen, es galt eine Tat.

Er war siebzehn geworden und eines Tages wußte er, was er tun mußte. Eine ekelhafte Szene zu Hause hatte ihn zum Entschluß gebracht. Ganz plötzlich war's ihm eingefallen: er wollte ein Bauer werden. Morgen wollte seine Gesellschaft weiterziehen. Am Abend ging er. Ohne Abschied, gleichsam ein Wankendwerden fürchtend. Und er fand auch eine Stelle und blieb, bis er »einrücken« mußte.

So war er frei geworden. Er arbeitete mit Pflug und Hacke, unermüdlich, und atmete auf. Er befreite sich. Manchmal zerrte es ja in ihm, so gering zu sein und unbeachtet. Aber er sprach sich Mut und Hoffnung zu. Geduld und Ausdauer, sagte er sich. Er würde schon »hinauf« kommen. Langsam in sich — und dann auch vor den Menschen.

Und er hatte ja auch ein wenig Glück dabei. Wenigstens war's ein Glück zu nennen, daß er an den Grafen gekommen war.

**
*

Der Jean war also mit den Buchenauer Burschen zur Kegelbahn nach Schafbach gekommen. Er war unterwegs zu ihnen gestoßen.

In der Kegelbahn war's nun schon laut. Und heiß, sehr heiß. Die Luft dick vom Tabaksqualm.

Der Jean wünschte, lieber nicht hierher gegangen zu sein. Wenn er noch mal draußen wäre, ginge er vorbei. Da er aber nun mal drin war — immerzu.

Er begrüßte den Lehrer, den er kannte.

Dann suchte er sich einen Platz abseits, von wo aus er gut sehen konnte. Er wollte nur zusehen.

Der Ochsenwirt brachte ihm ein Glas Bier.

»Nicht mitkegeln, Herr ›Ober‹?«

»Will mal sehen, später mal einen Wurf, warum nicht!«

Ein paar am Tisch hörten das.

»Dann kriegt der Herr ›Ober‹ die Uhr, dann adje Partie!«

Der Jean sagte aber nichts darauf, er sah still zu.

Weitere Gäste kamen, einzeln, zu zweien und dreien — meist aus den umliegenden Ortschaften. Die Schafheimer waren schon ziemlich vollzählig da.

Es war besetzt in der Kegelbahn. Nun kamen noch die Weilauer und gleich nach ihnen die Hatzbacher. Sie hatten die weitesten Wege und wurden darum allgemein begrüßt.

Jetzt hieß es zusammenrücken. Und man tat's auch. Nur da und dort war mal einer, der schimpfte.

»Der Knoll soll for Disch und Stiehl sorje, so e Drickerei!«

An Jeans Tisch saßen ein paar Hatzbacher. Einer erzählte, die Italiener aus Hatzbach, die da beim Bahnbau beschäftigt waren, kämen noch.

»Gibt's aach noch Krawall heit,« sagte einer.

Ja, und sie hätten auch noch die Tremplers Anna bei sich. Die hätt' sich dem einen an den Hals geworfen, am Sonntag vor acht Tagen, auf der Tanzmusik hätt' sich's gemacht. Ein »schöner Kerl« sei der Italiener ja. Aber es sei doch schad für die Anna. Sie habe auch schon ihr Teil Schläge daheim gekriegt. Aber sie lasse scheint's nicht los.

Sie habe doch ein paar tausend Mark Vermögen und sei von guten Leuten. Und sei auch immer so still und ordentlich gewesen. Und auf einmal ganz vernarrt.

Man mußt's ja sagen, schön sei der Italiener, der schönste und »feinste« von denen. Aber 's gäb doch auch noch »schöne Kerl« im »eigene Ort«.

Und dann wisse man auch, wie's da gehe. Erst alles Lieb's und Gut's. Dann mal so ein Suff — und dann sei's geschehen. Bis dann's Kind da sei, sei der Kerl längst verduftet — oder käm's mal zur Heirat, dann Hunger und Schläge.

Da wär's doch schad um die Tremplers Anna. Und dann hätt' man ja immer 's Totenhemd bei den Kerlen an. Beim geringsten 's Messer.

Der Jean hörte nur mit halbem Ohr.

Er kannte das ja all geradesogut. Und bei der Hübnerslies war's ja geradeso gewesen. Die Mädels nehmen ja aber nicht Vernunft an.

Da waren die Italiener schon. Sechs, acht Mann.

Sogleich gab's ein Lärmen, daß das Kegeln einen Augenblick aussetzen mußte. Die Italiener forderten einen Tisch für sich.

Der Ochsenwirt sprang. Man mußte den rauflustigen Burschen rasch den Willen tun. Er hätte ihnen schon lieber gleich auf den Rücken gesehen. Das waren immer böse Gäste, und erst wenn sie betrunken waren! Und das waren sie bald. Sie tranken ja das Bier wie Wasser. Und das starke Rauchen und Lärmen dazu — da stieg's rasch ins Hirn.

Nun hatten sie ihren Tisch.

Die Anna saß mitten unter ihnen. Es wurde ihr doch bald ein bißchen genierlich, dies Lärmen der Italiener, dies Welschen, das sie ja nicht verstand. Erst war ihr das so merkwürdig vorgekommen, und sie lachte dazu. Bald war's ihr aber doch keine Unterhaltung mehr. Das Fremde hatte sie gereizt, die Gesten, die redenden Augen, das hatte ihr gefallen. Auch die gewandtere Art der Italiener. Wie wurde ihr nur das Glas hingehalten zum Prosit! Cara mia! wie lag ihr das im Ohr!

Bald hatte das alles aber den ersten lockenden Reiz verloren. Sie staunte nicht mehr, es war ihr bekannt, fast gewohnt. Fremd freilich blieb es ihr, so eine halbwehe Komik lag ihr darin. Heute wenigstens. Es war ihr unbehaglich. Vielleicht weil sie das einzige Mädchen auf der Bahn war.

Doch da wollte sie sich drüber wegsetzen.

Aber ewig dieses Italienisch um sie herum. Sie war ordentlich froh, wenn sie deutsch radebrechten. Sie hatte das neulich bei der Tanzmusik gar nicht so bemerkt, gar nicht gefühlt. Da war die Musik, da waren die anderen Mädchen.

»Ein schöner Italiener!« hatten die gesagt.

Und sie hatte er zum Tanz geholt. Darauf war sie stolz. Sie hatte ja auch bei der Tanzmusik bei ihm und den anderen Italienern gesessen. Aber das war ihr ganz anders vorgekommen. Dies Lärmen, dies Fluchen und Spucken, es war ihr heute rein zum Ekel.

Sie betrachtete sich ihre Freunde. Die braunen, hartknochigen Gesichter unter den großen Hüten, die schwarzen Augen. Sie hätte sich fürchten mögen. Selbst ihr Lächeln war bös, kam ihr verzerrt vor.

Ein paar Geschichten fielen ihr ein. Sie schauderte heimlich. Sie mußte an die Hübnerslies denken, die mit ihrem Kinde in den Grafenteich gegangen war. Und der Italiener war fort über alle Berge.

Und an den Rothekarl mußte sie denken, wie er tot dalag am dritten Kirchweihtag. Wegen einer Kleinigkeit hatten sie ihn erstochen. Und keiner hätte sagen können, wer's getan hatte.

Die Anna mußte an ihren Heimweg denken. Nein, nicht für alles, sie ginge allein mit denen nicht nach Hause — am Abend, die fünf Stunden Weg.

Und wie die wieder heut tranken! Auch der Fiori. Sie mußte immer mit ihm trinken.

O, wenn sie nur heraus könnte! Fortlaufen möchte sie. Beständig mußte sie an den Abend denken, an den Heimweg. Und die Hübnerslies fiel ihr ein, und der Rothekarl. O, sie hatte Angst! Eine Angst hatte sie! —

Sie betrachtete den Fiori. Er war ja schön. Diese dunklen, leuchtenden Augen! Die roten Lippen und das schwarze Schnurrbärtchen darüber.

Aber sie hatte Angst.

Ein bißchen Furcht hatte sie ja immer gehabt, wenn sie sich abends hinterm Garten trafen. Aber so noch nicht wie heute.

Hätte sie ihr Vater nicht gleich geschlagen — sie hätt' ja nicht den Kopf aufgesetzt. Aber so —

Doch jetzt wußte sie's, sie mochte doch den Fiori nicht.

Sie malte sich ihr zukünftiges Leben mit ihm aus. Er verdiente ja viel, er verbrauchte aber auch viel. Dies starke Trinken! Und den ganzen Tag sie allein, ein paar Kinder zu besorgen, und dann in der Mittagshitze hinaus auf den Arbeitsplatz, den Essenkorb in der Hand. Und immer die Angst um ihn bei der gefährlichen Arbeit! Wie oft geschah ein Unglück bei den Sprengarbeiten! —

O, dann wär' sie auch bald so alt und abgerackert wie die anderen Italienerweiber! Und schließlich ging's wo anders hin! Gott weiß wohin! Unter ganz, ganz fremde Leute! Lauter fremde Menschen! Weinen könnt' sie ihr gut Teil, das Lachen wär' ihr was Seltenes! Und die armen Würmchen, die Kinder! —

Noch nie hatte sie seither ans Heiraten gedacht, so ernstlich wenigstens noch nie.

Ach, wie war's ihr jetzt so furchtbar!

Da stieß der Fiori schon wieder an ihr Glas.

Sie war ganz verzweifelt. Sie wollte nicht mehr trinken.

Da stieg ihm eine Zornglut zu Kopfe, er stieß sein Glas hin, er zischte einen Fluch, und er kollerte einen langen italienischen Satz heraus, daß ihn die anderen beruhigten. Sie beruhigten ihn, sie merkte es an ihren Gebärden; denn sie verstand ja ihre Sprache nicht.

Aber ganz außer sich war sie. Wenn sie nur eine Hilfe finden könnte! Aber wen, aber wie!

»Du lieber Herrgott!«

Sie nahm ihr Glas und trank.

Sie sah sich um, als ob sie eine Hilfe finden könnte. Über alle Tische ging ihr Blick, in jedes Auge. Er fiel auch auf den Jean. Der hatte schon die ganze Zeit beobachtend zu ihr herübergesehen.

Er musterte sie. Er musterte sie mit tiefer Befriedigung und stillem Wohlgefühl. Ein Weib! Es war sofort ein unbewußtes Einssein, ein Verlangen, ein Besitz. Es war wie ein Erwachen über den Jean gekommen, wie eine Verklärung lag's in ihm.

Und so wuchs alles in ihm, wie er diese Anna der Italiener betrachtete. Es wuchs still, wie eine heimliche Glut. Es machte ihm nicht heiß, es machte ihm nur wohl. Es nahm ihm nicht die Herrschaft über sich und peitschte ihm nicht die Sinne.

Diese Anna war schön. Sie hatte volles, blondes Haar, große blaue Augen. Ihr runder Kopf saß auf einem schlanken Hals, der aus einer weißen Krause wie feines Elfenbein leuchtete. Ihre Wangen waren rot, aber zart wie das Rot des Pfirsichs. Sie waren sauber und appetitlich zum Anbeißen.

Der Jean sah nach der Bewegung ihrer Hände. Auf ihre Anmut legte er Wert. Er hatte sich schon oft dabei ertappt, daß er das bei allen Menschen tat. Leute mit ungeschickten Händen, mit Steifheit und Ungeschick in ihren Handbewegungen, konnten ihn abstoßen. Das hatte er wohl noch vom Theater her in sich.

Ohne weiteres Gezier mit den Fingern hatte sie ihr Glas genommen. Die Hand hatte sich hübsch gerundet, das Gelenk leicht gebogen. Er lächelte. Sie hatte nicht gerade eine kleine Hand, aber groß war sie auch nicht. Und daß sie nicht plump und täppisch war, war ihm jetzt alles.

Die Anna saß da wie eine beleidigte Prinzessin, wie ein ängstliches Kind.

Und wie jetzt ihre Blicke umgingen!

Jean erkannte sofort: die schämte sich.

Und alles war in ihr gespannt. Es wirkte direkt auf ihn, auch in ihm trieb etwas zu einer Spannung. Er sah scharf zu ihr hin. Wie sie sich vor dem Italiener hütete, förmlich vor ihm verbarg.

Sie hatte Angst — das wußte er mit einem Male.

Sie war voller Unruhe, aber sie verhielt sich ruhig. Sie wußte, daß sie ein gewagtes Spiel spielte.

Voller Harmlosigkeit deutete sie dem Italiener dies und das in der Kegelbahn, wohin ihre Augen gegangen waren. Er sah hin — ihr Auge ging darüber weg. Fast mit einer Rührung fühlte der Jean: die fleht zu den Menschen fromm und stumm.

Er sah ihr lange zu.

Und nun dachte er: sie ist doch raffiniert.

Doch wie er sie nun weiter sah, hilflos, flehend, da schalt er sich. Sie war doch herzlich, arm und bittend wie ein Kind. Keiner verstand ihren Blick. Blitzschnell ging er weiter.

Eine Verzweiflung lag nun schon darin. Er wurde heißer und heißer. Er war fast irr. Sie würde es nicht mehr aushalten können, sie würde sich ihm verraten. Und sie wäre verloren — er würde sie niederstechen.

Da sah sie zu Jean.

Sie sah seinen Blick. Sie zuckte. Einen Moment.

Sie flehte, flehte, flehte. Ganz Kind. Einen Moment.

Sie wußte schon, daß sie verstanden und erhört sei.

Sie atmete auf. Ihre Brust hob sich. Ein Weiches trat in ihren Blick, legte sich über ihre Züge.

Die Spannung in ihr wollte sich lösen, sie fühlte es, und man sah es deutlich.

Da ging's wieder wie ein Schreck über ihr Antlitz, fuhr in ihr Auge. Sie raffte sich auf.

Sie warb, warb, warb. Einen Moment. Einen heißen, tiefen Moment. Der Jean rührte sich nicht. Aber sie verstand sein Auge.

In diesem Augenblick war sie nur noch Weib. Sie strich sich ein Stirnlöckchen von der Stirne hoch und glitt mit der Hand über die Augen. Sie lockte. Aber es war nicht gewöhnlich, es war ein unendliches Glück darin. Und sie mußte die Augen schließen, sie mußte sie schließen. Sie war wie im Taumel.

Ein Lächeln spielte um ihren Mund.

Der Italiener stieß sie an.

»Prost!« sagte sie. — Er tat einen tiefen Zug.

Aber in seinen Augen flackerte es.

Er verfolgte jede ihrer Bewegungen, jeden ihrer Blicke. Er lag auf der Lauer wie ein Luchs. In dem Jean war die Glut zur Flamme geworden. Sie schlug nun auf und wuchs hoch in ihm.

Und er selbst wuchs dabei. Er fühlte seine Kräfte, und er fühlte sich ihr Meister.

Er hatte sich vorhin gefragt: wie bring ich dies Mädchen aus dieser Gesellschaft? Er fragte sich's nicht mehr. Er sagte sich: dies Mädchen muß aus dieser Gesellschaft heraus.

Er hatte sich einen Augenblick geängstigt: kann dies Mädchen in dieser Gesellschaft rein geblieben sein? Es fiel ihm ein — sie war ja zu kurz darin, sie mußte rein sein — sie war rein.

Er sah noch ihren flehenden Kinderblick, ihr ängstliches Werben. Immer sah er diese Augen, diese Wimpern, die weit aufschlugen, die sich scheu senkten und schlossen, während die Hand von der Stirne herunter über die Augen glitt.

Und plötzlich wußte er's: sie mußte sein werden.

»Sie muß mein werden!« rief's in ihm. »Ich will sie erringen!«

Er stand auf — er ging wie im Traume.

Er kam sich viel größer vor als alle, viel stärker, viel wichtiger. Die anderen sah er nicht, er war nur ganz von sich erfüllt. Aber ganz in ihr und nur in ihr. Als ginge er eine weite Straße hin, war's ihm, in ein weites Land, ihr entgegen. Und aller Widerstand war ihm ein Spiel, spielend überwand er ihn — und sie sah ihm zu. Lächelnd, winkend.

So ging er wie im Traume. Weit war ihm die Welt geworden, und doch nur eine enge Bühne für seine Taten. Vornehm, stolz–gerüstet, ein glänzender Ritter — seine Jugend grüßte ihn. Das Beste seiner Jugend — in seinem schönsten Lebensmomente.

Er zahlte seinen Einsatz.

»Der Jean wirft! Hurra!«

Er würde gewinnen, er wußte es. Siegen! Es war die größte Tat, die er jetzt vollbringen konnte.

Er stellte sich in die Reihe, er wartete geduldig. Er sah gar nicht, was die anderen warfen. Das war ihm gleichgültig.

Es rief seinen Namen. Er trat vor — wieder wie im Traume. Er nahm eine Kugel. Er prüfte nicht erst. Die erste beste nahm er und schob sie hinaus.

»Hurra! Alle neune!«

Sie lagen alle.

»Alle neune, richtig!« rief der Polizeidiener.

»Zweite Kugel, Herr ›Ober‹!« rief der Lehrer.

Jean schob die zweite.

»Runde! — Bravo, bravo!«

»Der hot Glick! Dunnerwetter! Der hot die Uhr!«

»Runde, richtig!« rief der Polizeidiener.

»Dritte Kugel, Herr ›Ober‹ — auf den König!« rief der Lehrer.

»E fein Spritzkigelche jetzt,« sagte einer wohlmeinend zum Jean und klopfte ihm auf die Schulter, »do kimmt kaner driwwer.«

Der Jean schob die dritte. Er zielte jetzt doch ein wenig.

Zweimal zagte er. Dann beim drittenmal flog die Kugel. Fein mitten setzte sie auf. Drei Schritte lief er mit. »Der liegt!« sagte er und drehte sich um.

In der halben Bahn tat die Kugel den ersten Sprung, gleich darauf noch einen, beim dritten »spritzte« sie über den liegenden Bauer, und der König lag.

»König!«

»König, richtig!« rief der Polizeidiener.

»Neun, Runde, König —«

Der Lehrer zählte dann die Würfe zusammen, aber der Lärm, das Hallo war so groß geworden, daß man's nicht mehr verstehen konnte.

Jean schritt auf seinen Platz zu. Stolz, hoch in die Brust geworfen. Die Buchenauer brachten ihm ein Hoch aus. Er schwenkte ihnen den Hut zu.

»Danke!« rief er. Dabei sah er die Anna an. Mit einem großen verschlingenden Blick.

»Einen Humpen! Einen Humpen Wein!«

Die Anna strahlte. Ihr Blick hing an dem seinen, so tief, so innig, so eins.

Das Fremdartige, was ihr an dem starken und schönen Italiener so sehr gefallen hatte, das wurde jetzt ganz in Schatten gestellt von der Kraft und Schönheit der eigenen Stammesart.

Heiß entbrannt war ihr Herz. Doppelt heiß in dieser Stunde, da er sie aus ihrer Bedrängnis befreien, aus der Gefahr, in die sie sich begeben, erlösen wollte. Sie war sein! Sie fühlte: der konnte sie fordern, er würde es tun. Ihr Blick gab ihm alle Rechte auf sie.

Sie zitterte. Nicht aus Angst — in glücklicher Erregtheit. Den Italiener fürchtete sie jetzt nicht mehr. Der war ihr gleichgültig.

Sie vertraute voll auf den Jean. Wie es werden sollte, was werden sollte, wußte sie ja nicht, konnte sie nicht ausdenken. Am liebsten wäre sie ihm in die Arme gestürzt, hätte ihn geküßt, nur geküßt, geküßt!

Aber sie tat nichts. Sie wartete auf ihn. Er würde alles schon machen, dieser starke, stolze, umjubelte Mann.

Der Italiener knirschte. Er sprach erregt mit seinen Kameraden. Er hatte erkannt, daß hier einer um sein Mädchen warb — daß er ihm den Rang ablaufen würde. Ja, daß er schon gewonnen hatte.

Die Italiener tranken rasch leer.

»Auf!« zischte er, »amante mia; Anna!« flötete er nach. — Sie gehorchte.

Da kam der Jean mit dem Humpen auf sie zu.

Flamme ging zu Flamme.

»Auf deine Gesundheit, Mädchen!«

»Prost! — Bravo!« schrie's rings. Man hatte jetzt den Jean verstanden.

»Prost!«

Hinten rollte dumpf eine Kugel in die Vollen.

Anna schlug die Augen nieder.

Der Jean tat einen tiefen Zug. Dann reichte er den Humpen dem Mädchen.

Der Italiener hatte die Anna schon am Arm.

»Die bleibt hier!« sprach der Jean, als ob er ihr Herr, ihr Vater sei. –

Sie stand schon an seiner Seite und atmete tief auf.

Die Italiener waren doch verblüfft. Einen Augenblick waren sie sprachlos. Dann brachen sie in Fluchen aus.

Die Anna schmiegte sich eng an den Jean. Der legte seinen Arm um ihren Nacken.

»Wer will nun noch was?«

Und groß stand er da.

»Bravo!« rief's.

Eben kam der Humpen mit dem Rest zurück.

Der Jean leerte ihn. Wie er trank, flog ihm ein Messer an den Augen vorbei.

»Ha, ha!« sagte er. »Jetzt gilt's! Aber offen und ehrlich, Kraft gegen Kraft. Ein Schuft, der sich sein Mädchen nehmen läßt. Nun wer gewinnt!«

Rasch hatte er die Anna hinter sich auf einen sicheren Platz gesetzt.

Nun stand er zum Kampfe bereit.

»Hier stehe ich — allons!« sagte er.

Ein Italiener war schon gepackt worden. Der habe das Messer geworfen. Der Polizeidiener war dazwischengesprungen — er war machtlos. Von allen Seiten sausten die Hiebe. Stöcke, Gläser, Fäuste. Alles ging schon drunter und drüber.

»Ehrlich!« rief der Jean, »Kraft gegen Kraft, nicht das Messer! Ein feiger Schuft, wer sticht!«

Vor ihm rangen sie, in einem solchen Durcheinander, daß Freund oder Feind schwer zu unterscheiden war. Nun sprang der Jean hinein. Wer von ihm gepackt wurde, fiel, den Freund befreite er, half ihm, den Verletzten riß er heraus. Keine Waffe hatte er, seine Faust, sein starker Arm genügten ihm. –

Der verschmähte Liebhaber kämpfte wütend. Er suchte an den Jean heranzukommen.

Und auch dem Jean war's recht.

Jetzt hatte er freie Bahn.

»Ach Gott!« schrie die Anna.

Sie wußte, jetzt ging's auf Leben und Tod.

Der Italiener fiel den Jean an. Der war aber gefaßt. Kragen, Rock, Weste, Hemd wurden ihm nur aufgerissen.

Nun kämpfte er mit freier Brust.

Er packte den Gegner an den Armen. Wie Eisenringe legte er seine Finger um des Feindes Muskeln. Er drückte ihm die Arme in die Seiten. Der Italiener keuchte.

Anfangs leistete er Widerstand. Auf einmal ward er geringer. Aber der Jean war vorsichtig. Die Kraft des Gegners konnte ja noch nicht erschöpft sein.

Plötzlich schnellte er denn auch auf, den Jean, den er siegesgewiß wähnte, zu werfen.

Aber der hatte ihn schon an der Kehle gepackt und zusammengerissen, daß er sich überschlug.

»Hurra!« schrie's. »Der Jean hot gewunne!«

Der Italiener bäumte sich auf. Der Jean hielt ihm die Arme bei. Auch jetzt fürchtete er eine List.

Der Italiener warf sich auf die Seite. Er suchte nach seiner Messertasche.

»Freundchen, Messer nicht!« sagte der Jean.

»Steh doch einer dem Herrn ›Ober‹ bei!« rief's.

»Wenn der Kerl sein Messer erwischt!«

»Nicht helfen, keiner helfen — Kraft gegen Kraft! So will ich gewinnen!« rief der Jean halb außer Atem dagegen. Und mit aller Kraft suchte er dem Gegner den Kopf auf den Boden zu zwingen.

»Er hot gesiegt — gewunne! hoch der Herr ›Ober‹!« rief's schon.

Da gellte ein Schrei. Er gellte furchtbar durch Mark und Bein. Ein Menschenschrei — und doch kaum zu glauben, daß er aus einer Menschenkehle kommen könnte.

»Ah — hui—u—u—io!«

Das schnitt, das riß, das pfiff, das röchelte. Das ging durch eine ganze Tonleiter, durch alle Vokale. Entsetzen machte alle starr.

Der Streit war aus.

Der Jean war rücklings hingeschlagen.

»Schu—u—ffft!« stöhnte er.

Einer der Italiener hatte ihm hinterrücks das Messer ins Herz gestoßen. Er stöhnte noch einmal — noch einmal warf er sich auf. Er schnellte hoch.

Schwer und dumpf fiel er nieder.

Dann lag er still, die Arme weit auseinander, Blut vorm Munde.

Die Italiener waren fort. In der Bestürzung hatte sich keiner nach ihnen umgesehen, selbst der Polizeidiener nicht. Unbemerkt hatten sie sich davongemacht.

Welcher hatte gestochen? Der Fiori nicht.

Man stand um den Toten.

Einer bückte sich nieder und legte dem Jean das Ohr auf die freie Brust. »Er ist tot!« sagte er.

Die Anna saß auf ihrem Platz und weinte.

Sie konnte nichts denken, nichts begreifen.

Der Jean war tot.

Da lag er — nie wieder würde er aufstehen. Tot, tot!




Sein letztes Hochamt.

Man darf das jetzt von ihm erzählen, wenn er selbst es auch nie getan hätte. Er ist ja nun schon beinahe zwei Jahrzehnte tot. Und er war immer so schweigsam gewesen und sprach gar nie von sich. Es lag so in seiner Natur. Und es war auch wohl ein gut Teil Angewöhnung. Er war nie so recht verstanden worden, nie in seiner engsten Umgebung, und auch in seiner weiteren nur selten. Bei seinen Freunden höchstens hat er sich tiefer ausgesprochen. Aber das waren selbst wieder so stille Leute, und sie sind ja nun auch alle tot.

Es war in den Jahren der Reaktion nach der Volkserhebung 1848–1849. Der einzelne war durchaus unsicher geworden, die Gegensätze der Parteien waren heftig und wuchsen immer mehr. Die Wühlarbeit machte stets größere Fortschritte, und ihre Erfolge, die anfangs noch heimlich waren, traten offen zutage.

Besonders wer ein Amt hatte, mußte sich hüten. Nichts unbedacht sagen, nicht immer ehrlich seine Meinung sagen. Nicht mal eine Meinung haben wollen. Das war im Amt so verderblich und war so unvereinbar mit dem Amt, wie das Aufklären und Agitieren am Wirtstisch. Oder gar im vertrauten Kreise, denn überall hockten die Heuchler und Horcher, und brühwarm und gehörig vergröbert kam alles ins Pfarrhaus. Denn der Pfarrer war der Hüter des zahmen und unterwürfigen Geistes, der Hüter der Meinungslosigkeit und der Verdammer der Freiheit. Und die Falschen und Ohrenbläser, die Locker und Lügner waren ihm gute Werkzeuge.

Eine Meinung haben und ein Mann sein — ja oft einen »Kopf« haben und nicht dumm sein, das hieß frei sein, hieß anrüchig, ja direkt gefährlich sein.

Da red' ich von meinem Heimatdorfe. Es war der Schullehrer Andreas Krafft, der der Stein des Anstoßes geworden war. Es wäre schwer zu sagen gewesen, warum.

Es lag vielleicht im Krafft. Ich stelle mir ihn vor, wie er über die Straße ging. Ein Schullehrer vom alten Schlage. Auf den ersten Blick ein Schullehrer. Aber mehr als das, auf den ersten Blick zu sehen: eine Persönlichkeit. Einer, der mehr hatte vom Leben als sein armes Amt. Einer, der ein Leben gelebt hatte, dem das Leben einen Inhalt gegeben hatte, und der seinen Idealismus, den alten guten, hohen, heiligen Idealismus, durch sein Leben trug. Er leuchtete auf seiner Stirn, er glühte in seinen Augen. Und mag er uns öde und töricht geworden sein — wo er uns heute noch so ganz eins mit dem ganzen Menschen begegnet, ziehen wir den Hut ab.

Der Krafft war nach oben nicht genehm. Er war gewissermaßen schon prädestiniert dazu. Es lag so in seiner ganzen Art. Sie machte nicht warm, sie machte vielleicht scheu, machte einem unbehaglich. Es war so etwas Starkes, Abwehrendes in ihm, es wurde oft etwas Herausforderndes, Herrschendes. Man sah's auf den ersten Blick, man hörte es beim ersten Wort. Vielleicht ein starkes geistiges Übergewicht. Vielleicht war's etwas Äußeres nur: der Blick, die Stirn, die Schädellinie — vielleicht der graue Hambacher Bart, das lange Haar — vielleicht die Art zu gehen oder zu sitzen, ja nicht zum wenigsten die Art zuzuhören, stille zu sein.

Ja, das war's vielleicht beim Krafft, wie still er war. Und wie ernst immer. Er ging durchs Feld, immer in den gleichmäßigen breiten Schritten — »guten Tag, Herr Lehrer!« rief's, er dankte und schritt weiter. Und wenn er in den Gesangverein kam — und war der lauteste Lärm im Saale, und ging die Tür auf und der Krafft trat ein, war's mäuschenstill. Und alle sahen nach ihm, und alle hingen an seinem Blick, und es war mehr als Furcht, es war ein hoher Respekt. Etwas Vornehmes trug er an sich, trug er überall hin, so einfach er war. Keiner kam ihm zu nahe, selbst wenn er scherzte. Und keiner wagte sich so recht aus sich heraus, wenn der Krafft dabei war. Jede Bemerkung wurde zweimal bedacht, eh' sie gemacht wurde. Und doch — wer den Krafft respektierte, und es waren die Besten meines Dorfes, der hing ihm auch an.

Doch war der Krafft nicht hochmütig. Einige behaupteten auch das, aber schon die Freunde, die er sich ausgewählt hatte, bewiesen gegen sie. Die Freunde waren nicht aus den sogenannten »vornehmen« Kreisen, nicht »Doktor« und Apotheker, nicht Schullehrer und Angestellte — es war der Musikant Jakob Veit, kurz der Veitjakob genannt, der die Violine spielte auf den Kirchweihen und im Gesangverein den ersten Tenor sang, war der Botsieben–Hannes, der die Post hatte von Thurn und Taxis und Musikant war nebenbei, war der Pankraz Klein, der den zweiten Baß »hielt« im Gesangverein, war freilich auch der Rudolf Schwarz, der Bürgermeister, der auch Freimaurer war, vielleicht auch sonst noch was Geheimnisvolles und Böses, was den Krafft anzog.

Der Krafft sah aber nicht aufs Äußere und nicht aufs Böse, er suchte in seinen Freunden eine Ergänzung zu sich selbst. Oder das nicht einmal, oder wenigstens nicht so bös egoistisch ausgedrückt — er suchte gesunden Menschenverstand und ein warmes Herz, Liebe und Begeisterung. So beim Veitjakob, dem Musikanten — beim »alten Schwarz« aber war's oft ein Aufblicken und Bewundern, öfter die freudige Gewißheit und Dankbarkeit, verstanden zu werden, angeregt und bestärkt zu werden. Denn der Schwarz war ein Weltmann. Das Leben hatte ihn nach allen Richtungen schon umhergeworfen, er hatte sich auf dem Dorfe vor Jahren festgesetzt, hatte erst eine Wirtschaft eröffnet, dann eine Branntweinbrennerei und war dann zum Bürgermeister gewählt worden. Denn er war reich. Er war aber auch ein heller Kopf. Und er war auch — ein Demokrat.

Ein Demokrat war der Krafft nun freilich auch. Er hatte in seiner Jugend das Hambacher Fest mitgemacht und hatte flüchten müssen: er hatte im »tollen Jahre« geredet und geschrieben für die Freiheit und die Verwirklichung der Träume der deutschen Seele.

Aber nun war er still geworden, ganz still. Still im Kreise seiner zahlreichen Familie, für die er schwer zu sorgen hatte, still bei seinen Büchern und Noten, in seinem Schulgarten, den er fleißig bepflanzte. Und wenn er von seiner Arbeit ausruhte, saß er unter dem hohen Efeu an der alten Schloßmauer und paffte aus seiner Pfeife. Und alte Träume und alte Lieder wurden in ihm wach, er lächelte des Vergangenen und leid ward ihm um all das, was unerfüllt blieb — aber er blieb still. Ja, ganz still war der Andreas Krafft. Er hatte sich vom Leben zurückgezogen, er hatte seinen Kreis verengert, und was er von dem Draußen dabei verloren hatte, das suchte er sich zu ersetzen durch die innigere Beschäftigung mit dem, was ihm lieb war.

So hatte seine Persönlichkeit ihre Gewichtigkeit und Schwere bekommen, und auch eine Ruhe war ihm geworden, und Kampf und Leid waren nicht verloren. Und so wurde der Krafft auch nicht zur Maschine, trotz der gleichmäßig schweren Tätigkeit, die er entfalten mußte. Er fand sich überall einen Punkt, von dem aus betrachtet alles einen eigenen Wert und Ansehen erhielt, von dem aus trotz aller Anstrengung und Überwindung der Krafft noch Werte für seinen inneren Menschen herausschlug, so daß er sich seine Freudigkeit bewahren konnte. Warm fühlte er sich von ihr durchströmt, wenn er seinen Gesangverein übte, wenn er ein Lied oder ein Präludium für die Orgel einrichtete, und ganz besonders, wenn er an der Orgel saß und die Töne ihm die Sprache seines Herzens wurden, in der sich das letzte sagen ließ, was sein Herz verborgen hielt.

Und nun war plötzlich die Hetze gegen ihn losgegangen. Es war fast über Nacht gekommen. Der eigentliche Anlaß wäre schwer zu finden gewesen. Der Anlässe und Gründe wußte man viele anzugeben. Kraffts politische Vergangenheit, seine geistige Selbständigkeit, sein Übergewicht, die Sicherheit und Reinheit seiner Persönlichkeit, ja gerade das mochte vielen ein Dorn sein. Auf einmal fand man ihn kirchlich zu lax, man fand bald, daß er kirchenfeindlich sei. Man gab hundert heimliche Anlässe zum Streit, tausend heimliche Stiche. Aber der Krafft stand über der Kleinlichkeit der Menschen, er blieb ruhig. Da riß die Geduld. Man ging im Amt gegen ihn vor. Man schikanierte ihn, man tadelte, rügte, drohte. Da stand der Krafft seinen Mann, er verteidigte sich. In seinem Amt ließ er sich nicht antasten. Er hatte allzeit seine Pflicht getan, er hatte sich nichts vorzuwerfen — keiner sollte ihm etwas vorwerfen dürfen.

Da war die Flamme aufgeschlagen. Das Dorf war plötzlich in zwei Lager geteilt: hie Pfarrer! hie Lehrer! Und eigentlich hatte der Krafft gar nichts dazu getan. Er hatte seine Angelegenheit allein vertreten, fest und still, wie es seine Art war. Niemandes Hilfe hatte er angerufen, niemandes Beistand erbettelt. Nur einmal hatte er in der Erregung das Zeugnis seiner Schulkinder gefordert. Sonst war er passiv geblieben. Er glaubte an sein gutes Recht und seinen Sieg.

Aber Beichtstuhl und Kanzel hatten gute Arbeit getan und taten sie weiter. Die Gemeinde blieb in zwei Parteien gespalten. Und heiß war der Kampf. Auf den Straßen, in den Wirtshäusern begann er, in den Familien setzte er sich fort, und sogar die Jugend beteiligte sich daran.

Kraffts Partei war eigentlich ohne Führer, denn der Andreas Krafft wollte nichts mit dem Zwist zu tun haben. Er ermahnte immer zur Ruhe und ihn allein zu lassen. Aber die Fanatiker und Herausforderer der Gegenpartei ruhten nicht. Und der Streit spann sich immer weiter. Er wurde dann auch noch bei der Behörde gegen Krafft benutzt, dem alle Schuld zugeschoben wurde, und eines Samstags, da er gerade unterrichtete, wurde ihm sein Absetzungsdekret zur Unterschrift vorgelegt. Es riß ihn hin, es seinen Schülern vorzulesen. Dann unterschrieb er's und ging.

Die Gesangstunde für den Abend sagte er ab, er fürchtete einen heftigen Ausbruch von Streitigkeiten im Vereinslokal oder auf der Straße, wenn er sich jetzt zeigen würde. Und er fürchtete auch, sich nicht halten zu können und in der Erregung ein unbedachtes Wort zu reden, wenn er herausgefordert würde. Am Nachmittag kam noch einmal ein amtliches Schreiben. Es war vom Pfarrer, »daß er gehalten sei, die Orgel bis zum Eintreffen seines Nachfolgers zu spielen.«

Diesen Sonntag wollte der Krafft noch einmal spielen, aber es sollte zum letztenmal sein. Er hatte sich's fest vorgenommen: Es sollte sein Abschied von der Orgel sein.

Am Sonntagmorgen, als es anfing »zusammenzuläuten«, ging der Krafft in seiner gewohnten Weise nach der Kirche. Er ließ sich vom Glöckner die Weisungen des Pfarrers holen, dann schritt er langsam die Treppe zur Empore hinauf. Als sein grauer Kopf sichtbar wurde, sah man von allen Seiten nach ihm. Auf allen Gesichtern lag ein tiefer Ernst. Der grimmigste Feind hätte jetzt im Gefühl seines Sieges nicht lächeln können. So ernst Kraffts Gesichtszüge waren, so ruhig und fast klar waren sie doch auch, denn nichts Bitteres sprach in ihm. So sah er fast feierlich aus, und allen war es feierlich bei seinem Anblick. Als ob jeder fühlte, daß da einer zwischen ihnen gehe, der ein Schicksal auf seinen Schultern trage. Es mochte manchem sein, als ob dies Haar, das in diesen schweren Tagen fast schlohweiß geworden war, mehr fordere als nur die Ehrfurcht vor dem Alter. Und manchem mochte auch das Herz bange geworden sein im Gedanken an des alten Lehrers Zukunft, und er mochte sich in diesem Augenblick seiner eigenen Schuld erinnern, die er selbst an dem Unglück des Lehrers trug, dem er doch nur hätte dankbar sein müssen. Einem oder dem anderen gar mochte es aufgehen, daß es etwas Gebietendes, Großes und Erhebendes sein müsse, so fest und sicher dahinzugehen, sich aufrecht zu halten und kein Mitleid zu fordern, wenn ein großes Leid die Seele beschwert, ein Wirken, eine Zukunft, eine Existenz zertrümmert liegt.

Alle waren ergriffen, jedem schlug das Herz höher. Das Schicksal erzwang sich Achtung, sein Anblick mahnte zur Einkehr. Der Krafft hatte jetzt die Orgel aufgeschlossen und die Noten aufgestellt. Dann setzte er sich auf den Orgelbock. Er wartete, bis der Priester aus der Sakristei trat.

Ernst und feierlich spielte er das Präludium, ernst und einfach begleitete er den Gesang des Volkes und des Priesters, schlicht und unverschnörkelt präludierte er und spielte die Zwischenstücke ohne viel Stimmenaufwand.

Durch nichts Äußerliches verriet sich die Bewegung seines Herzens, und sie niemand auch nur im leisesten zu künden, befleißigte sich Krafft der größten Strenge und bewahrte sie während des ganzen Gottesdienstes im begleitenden und füllenden Spiele.

Der Pfarrer hatte die Predigt ausfallen lassen. Der Krafft war froh darüber. Er hätte ihm heute nicht zuhören können. Er war froh, an seiner Orgel sitzen bleiben zu können. Zu spielen, zu vergessen. So wichtig waren ihm sonst die einzelnen Akkorde nie gewesen. Sie flossen ihm nicht zu — er wählte streng und vorsichtig aus, alles Prunkende vermeidend. Er war schwer und ernst gestimmt. Er spielte nicht nur vor dem Gotte, dem der Priester opferte, den die Gemeinde anbetete — groß und streng sah er sein Schicksal vor sich. Er spielte vor seinem Schicksal. Und er wollte nicht klein sein vor ihm.

Als sei es sein Richter, war ihm, als wäge es nun, ob er zu leicht sei und schwach, oder wert, die Schwere seiner Last zu tragen und seinen Arm zu fühlen, der wie aus einer Ferne, einer Höhe, einer Ewigkeit herüberreichte.

Gut und groß ward der Krafft vor seinem Blick.

Er hatte alle Kränkungen und Beleidigungen vergessen, er stand über dem Augenblick, der so schwer war, und es war ihm, als weihe er sich jetzt, sein Verhängnis zu tragen. Er fühlte sich so außerhalb der Menschen, außerhalb ihres Kreises gesetzt. Er fühlte sich ganz allein. Und er gab sich für das geringste, was er tat, tief und streng Rechenschaft.

So weihevoll gestimmt, wählte er die Akkorde aus. Dann war das Ite missa est gekommen, — und Krafft atmete tief auf. Der Gottesdienst war zu Ende.

Und jetzt dachte der Krafft an den Abschied, an den Abschied von seiner Orgel, die er die langen Jahre gespielt, der er das verborgenste seiner Seele und ein ganzes Leben anvertraut hatte.

Mächtig durchdrang ihn, was die Musik je in ihm ausgelöst hatte, mächtig packte ihn, was sie ihm gewesen war. Daß sie ihm mehr war als ein Spiel, als eine Pflicht, daß sie ein Leben war, das außer ihm lebte und doch seinen Puls hatte.

Und nun Abschied. Krafft bebte. Der Künstler in ihm bebte, der vielleicht nie seinen ganzen Ausdruck hatte finden können, der ihm vielleicht nie klar geworden war. Der nichts weiter in ihm war als Liebe, als eine Freudigkeit, ein Vertrauen. Der vielleicht nie etwas mehr getan hatte, als in Stunden der Ergriffenheit seine Zuflucht zur Musik zu nehmen, und das nur in unklarem Trieb, fast mechanisch und unbewußt.

Aber der Krafft wollte es kurz machen. Er wollte abbrechen und gehen. Er konnte nicht. Es hielt ihn.

Daß er ja zum letztenmal spiele, rief's in ihm, daß er den Schluß machen müsse zu all dem, was er die Jahre hier in Tönen gesagt hatte. Daß er dann erst gehen könne für immer von diesen Tönen, die sein waren, sein eigen und seines Wesens — und daß ihr Inhalt dann erst ganz sein könnte, wenn er seinen letzten Sinn bekäme, den Sinn seines schwersten Erlebnisses.

Mächtig fühlte Krafft dieses Erlebnis in sich. Seinen ganzen Schmerz, all das Traurige, all die schweren Folgen, all das Ungewisse — freilich auch seinen Mut, seine Kraft, seinen Stolz und seinen Willen.

Daß er gefallen, fühlte er, aber nicht geschlagen fühlte er sich. Ja, ihm war, als habe er einen Sieg errungen.

Ein paar Akkorde hatte der Krafft wie im Traume gegriffen. Die Rechte war ihm von den Tasten gesunken, die Linke hielt die Akkorde fest. Ein Postludium von Bach hatte er fast mechanisch aufgeschlagen. Eine Fuge, deren Thema er jetzt spielte.

Er machte eine Pause und strich mit der Rechten über seine Stirn. Eine Strähne war ihm tief ins Gesicht gefallen.

Sein Schicksal stand nicht mehr vor ihm, es sprach in ihm. Er spielte. Er wiederholte das Thema. Zart und feierlich leitete er im oberen Manual ein. Dann zog er die Koppel. Immer inniger wurde die Verschlingung, immer mächtiger und sicherer schien das Thema zu werden, je gewaltiger die Gegensätze anwuchsen. Und immer wieder und wieder setzte er ein.

Der Krafft hatte die ganze Orgel gezogen. Der Schluß des Postludiums brauste durch die Kirche.

Die Gläubigen waren auf ihren Plätzen geblieben. Keiner hätte gehen können. Sie standen und sahen hinauf zur Empore.

Ein paar Männer waren tiefer ins Schiff gegangen und standen lauschend, staunend in den Gängen.

Krafft spielte weiter.

Etwas Großes brauste über die Gemeinde hin, etwas Großes, das kein Wort hat: der Atem einer Seele, die verhauchen möchte und festgehalten ist.

Keiner mochte wissen, was es war. Aber alle fühlten, daß es ein Etwas sein müsse, das stärker war als die Musik, die es trug, stärker als Feier und Andacht, die dem Gotte gegolten hatte.

Alle standen und lauschten und sahen empor.

Und Krafft spielte noch. Er hatte den Blick von den Noten abgewandt, er hatte den Kopf vorgebeugt, das rechte Ohr der Orgel zugewandt. Er lauschte tief in sein Spiel hinein. Er lauschte auf das letzte, das er sich spiele, das er nicht hinauskündete in die Welt.

Er hatte alle Register eingeschoben bis auf die vox humana und einen Baß — und nun schlug er unisono eine schlichte Folge von Tönen an, hielt jeden fest und sicher aus und faßte zuletzt einen Akkord, den er sacht verklingen ließ. Es war wie ein Verbluten, ein Seufzen. Oder es mochte wie ein Vergeben und Weinen sein.

Der Pfarrer war aus der Sakristei getreten. Er stand oben vor dem Marienaltar, deren Kerzen der Glöckner löschte. Er hatte die Rechte zur Faust geballt und stützte sie auf die Kommunionbank auf. Mit flammenden Augen sah er zur Orgel hinauf. Und er knirschte.

Krafft schloß die Orgel und zog die Schlüssel ab. Er blickte sich um. Er sah, daß die Leute jetzt erst ihre Plätze verließen. Es ging ihm auf — sein Spiel hatte sie festgehalten. Er hatte alles vor allen gesagt, was sein Herz bewegt hatte. Und alle hatten's verstanden.

Er wurde tief rot. Er strich sich verlegen durchs Haar. Er schämte sich. Ihm war, als habe er sich der Menge preisgegeben.

Er war erlegen, er war schwach gewesen.

Er mußte sich stützen — er griff nach dem Orgelbock. Er griff fehl.

»Herr Lehrer!« klang eine Männerstimme neben ihm.

Einer seiner Sänger hatte ihn beobachtet und war auf ihn zugetreten, ihn zu stützen. Der Krafft beherrschte sich wieder: »Ich danke!« sagte er.

Dann ging er. Er ging ruhig und sicher, wie er gekommen war. Die Kirche hatte sich geleert. Alle Kerzen waren gelöscht. Die Kirche lag im Dämmer. Nur durch ein offenes Fenster floß ein Sonnenstrahl. Andreas Krafft stand an der Tür. Er wollte sie aufziehen. Da mußte er sich noch einmal umsehen. Voll fiel das Sonnenlicht in sein Gesicht. Er senkte es ein wenig. Da sah er oben den Pfarrer stehen.

Sie standen einander gegenüber, die Gegner, der leere Raum nur zwischen ihnen.

Wenn sie hätten Freunde werden können, wenn es gekommen wäre, daß sie Freunde geworden wären?!

Krafft zitterte ein wenig. Dann aber hob er rasch den Kopf, obgleich das Licht seinen Augen weh tat. Und rasch ging er.

Auf dem freien Platz, vor der Kirche stand noch die Menge. Geteilt wie immer: links die Freunde, rechts die Gegner. Aber alle standen stumm. Aller Augen waren auf den Alten gerichtet, der jetzt oben auf der Freitreppe der Kirche stand. Der Krafft hielt betroffen den Fuß an. Unmerklich reckte er sich auf.

Dann schritt er fest und sicher die Treppe hinab.

Noch einmal hielt er an und nahm die Brille ab. Er wollte nicht scharf sehen jetzt, er konnte nicht.

Und er wollte auch nicht gerührt werden.

Er ging festen Schrittes zwischen den Reihen hin.

Es schnitt ihm durch die Seele: »Ich bin ein Gezeichneter.«

Ein Graukopf nahm tief den Hut ab.

Und er blieb stark und ging groß und stolz. Man hörte nur seinen Tritt — und fast auch den Atem der Leute.





Cellist Behnke.

Seit vierzehn Tagen studierte das Theaterorchester des Kapellmeisters neue symphonische Dichtung »Märchen«. Der gemütliche Kapellmeister Hornbach brachte die Musiker diesmal fast um. Nichts konnte ihm recht sein. Ton nicht und Tempo. Er fand späte Einsätze, falsche Töne, Schwankungen in den einzelnen Stimmen, die er gewiß sonst übergangen hätte. Es waren nur sehr geringe Fehler, die immerhin mal passieren konnten. »Mehr Temperament, mehr Verve!« rief er ein übers andere Mal. »Mittun, bitte, nicht so lahm, nicht so hängen lassen.«

Die Musiker schüttelten die Köpfe. Sie taten doch schon alles mögliche. Aber weil sie Hornbach so lieb hatten und ihn als Künstler so hoch schätzten, setzten sie immer wieder froh und frisch die ganze Kraft und bestes Wollen ein. Hornbach aber schien eine Manie erfaßt zu haben, abzuklopfen.

Sonntag im Symphoniekonzert sollte die Premiere sein.

Am Samstag war Hauptprobe.

In den letzten Tagen war der Kapellmeister etwas milder geworden. So, wie er sonst war. Es ging flott, daß es eine Freude war. Und wenn er auch hier und da mal ein Gesicht zog, zuletzt lächelte er doch.

Fritz Behnke, der Cellist, war diesmal erster. Zum erstenmal, da der geniale Poppel, der seither als erster das Cello gespielt hatte, gestorben war.

Hornbach hatte lange gezögert. Im Cello lag ein großes Solo. Es verlangte einen ganzen Künstler. Ja, wenn das der Poppel noch streichen könnte. Da würde es zittern und wieder zittern bis in den letzten Saalwinkel. Bis in die Fußspitzen würd's prickeln.

Aber der Behnke!?

Er war ja fleißig, äußerst fleißig. Er hatte sich eine respektable Fertigkeit angeeignet. Wohl. Und er konnte auch Ton geben. Ja Gott, alles recht brav und ordentlich, gewissenhaft bis ins einzelnste. Aber es fehlte doch etwas. Das Individuelle, das persönlich Tiefe. Behnke war ein brauchbarer, guter Musiker, aber halt kein Künstler.

Aber es mußte doch sein. Und es ging auch nicht anders. Er war der älteste. Hornbach wollte ihn sein Bedenken und Zögern gar nicht merken lassen. Als er die Stimmen ausgab, sagte er liebenswürdig leichthin: »Behnke, Sie spielen erster. Seien Sie brav. Ein Solo, auf das ich alles setze, Behnke.«

Behnke verneigte sich tief, sehr tief. Er war krebsrot geworden, glücklich, als ob er's große Los gewonnen hätte.

Nun hatte er den Lohn, den großen Lohn für seinen Fleiß, seine jahrelange Mühe, sein Streben und seinen Eifer.

Er sollte das große Solo spielen, auf das der gute Hornbach »alles setzte«.

»Fritz Behnke, erster Cellist des Hoftheaterorchesters«, ließ er sich jetzt Visitenkarten drucken.

Er übte halbe Nächte lang. Es war kein Zeichen, das unbeachtet blieb. Die ganze Stimme stand bald sauber vor seinem Geiste. Er kannte sie genau auswendig. Er blätterte sogar im Gedächtnis um. Es sollte eine Musterleistung geben.

Hornbach lächelte vergnügt in sich hinein. Ein bißchen spöttisch, aber doch zufrieden. Es ging besser, als er gedacht hatte.

Und dann der Behnke. Man kannte ja den kleinen Kerl gar nicht mehr. Er war ordentlich gewachsen. Der gute Behnke! ... Nur ein bißchen Genialität! ...

— Hauptprobe! Hornbach war in bester Laune. Behnke war ganz zappelig. Er stimmte schon eine Viertelstunde lang sein Cello. Immer wieder strich er und horchte. Das große Solo! — ging's ihm beständig im Kopfe herum.

Er schmierte den Bogen. Seine Finger trommelten nervös auf dem Griffbrett.

Er betrachtete sein Cello. Da in der Fuge saß ein Fleckchen Staub. Er nahm sein sauberes weißes Taschentuch und wischte ihn aus.

Die zweite Piece war Hornbachs symphonische Dichtung.

Die Pause war jetzt um. Ganz leise und vorsichtig rupfte Behnke noch einmal an den Saiten. Er schüttelte den Kopf.

Aber Hornbach gab schon das Zeichen.

Es durchfuhr alle wie ein elektrischer Strom.

Behnke perlte der Schweiß von der Stirn.

Gar fein bebten die Geigen ... Zitternd jauchzten die Klarinetten und Flöten. Mächtig schmetterten die Blechbläser. Voller und voller rauschten die Akkorde. Das war der Tag, der erwachte.

Behnke hatte bis jetzt nur in der Begleitung zu spielen. Die Celli schwollen an und sanken wieder wie leichte Wellen eines Sees.

Und immer höher und mächtiger schwollen die anderen Stimmen an. Licht und Jubel und Leben ...!

Nun mußte es bald kommen.

Noch einmal riefen die Posaunen wie ein Halleluja! ins Land hinaus. — Und Flöten und Klarinetten und Geigen vereinigten sich zu freudiger Antwort. Dann der große Triller ... und gleich nach dem Nachschlag kam das große Solo im Cello.

... Und die Lotosfee schwimmt ans Land ... und die Wasser murmeln ... und die Nixen haschen sich und neiden die schöne Schwester ... Und aus dem Dickicht tritt der Ritter mit klingendem Sporn ... Und kosend und schmeichelnd, verführerisch, in begehrender Brunst singt die Fee so süß das Lied der Liebe ...

Behnke schloß die Augen.

Als ob der Genius seine Hand gesegnet habe — er hatte einen Ton und eine Tiefe, eine Wärme und einen Schmelz, goldig geradezu. Hornbach lauschte entzückt. War das der Behnke?!

Die Geigen malten die zitternde Glut ... Aber alles übersang das Cello.

Der Behnke hatte seine Stunde. Das war der Behnke nicht. Da war etwas lebendig geworden, das sonst nicht da war.

Voll setzte das Orchester ein, und der Jubel des Glückes und Genusses durchbrauste den Saal ...

Da klatschten die Geladenen Beifall.

»Bravo, Behnke!« rief der Theaterdirektor.

Und Hornbach legte den Stab hin. Er lächelte vergnügt.

»Behnke!« sagte er mit eigener Betonung und nickte ihm zu. »Famos!« Der arme Behnke aber wußte sich vor Glück nicht zu fassen und betrachtete dann sein Instrument.

Die Probe nahm ihren Fortgang. Die große symphonische Dichtung Hornbachs wurde tapfer bewältigt. Es mußte einen Erfolg geben.

Ein Meisterwerk, darin waren sich die Kunstverständigen, die zur Hauptprobe geladen waren, einig.

»Ich danke Ihnen, meine Herren,« schloß Hornbach die Probe. »Nur morgen so, dann ist's gut.«

Behnke konnte die ganze Nacht kein Auge zutun. Sein großes Solo! Der Applaus morgen! Die Lorbeerkränze! Nun war er der erste Künstler in der Stadt. Dem genialen Poppel, den sie so vergöttert hatten, gleich.

Der Fürst wird sicher der Premiere beiwohnen. O, dann das große Solo!

Er wird ihn sicher zum Kammermusiker, vielleicht zum Professor ernennen. Dann müßte er sich wieder andere Visitenkarten drucken lassen: —

»Kammermusiker Fritz Behnke, Professor« — oder vielleicht besser: »Professor Fritz Behnke, Kammermusiker.«

Er entschied sich für diese Fassung.

In Gedanken ging er noch einmal seine ganze Stimme durch. Jede Note, haarklein. Es wird einen Triumph geben. Trotz Hornbach.

Ob er wohl gerufen würde?!

Er würde dann einen tiefen Knicks machen und die Hand aufs Herz legen. Aber wohin mit dem Cello? Er würde dann rasch den Bogen in die linke Hand nehmen und den Knicks machen. Das würde gewiß gut aussehen. Ob's wohl auf dem Zettel stehen würde, auf dem offiziellen natürlich:

Cello–Solo ..... Herr Fritz Behnke .....

Um fünf Uhr morgens hatte er schon wieder sein Instrument in der Kur. Er stimmte es nämlich. Auf einmal mußte sich sein Gehör zehnfach verfeinert haben. Bis auf die letzten Schwingungen hörte er genau. Es konnte ihm gar nicht genügen. So — einigermaßen! — Und er schloß die Augen und spielte sein Solo. Ganz Gefühl.

Ob er wohl den Tremulant etwas mehr anwenden sollte? Da lag doch alles Gefühl drin.

Hornbach mochte ja freilich das Tremulieren nicht so recht leiden. Persönliche Ansichten! Ja, er könnt's ja auch lassen. Also wie in der Hauptprobe.

Er hatte das Anklopfen wohl überhört. Die Hauswirtin brachte den offiziellen Zettel.

Da stand's wahrhaftig:

Cello–Solo ........... Herr Fritz Behnke.

Er hüpfte in die Höhe, daß ihm die Pantoffel von den Füßen flogen. Er hätte laut schreien mögen; Er hätte das Fenster aufmachen und auf die Straße rufen mögen:

Cello–Solo ........... Herr Fritz Behnke!

Er tanzte vor Vergnügen in seinem Zimmer herum.

»Ach was!« sagte er dann. »Selbstverständlich! Man muß ein bißchen blasiert sein, wie alle Genies. — Der erste Cellist in der Stadt! Weit und breit!«

Dann suchte er die Plätze aus für die Lorbeerkränze. Einen über den Spiegel, einen über sein Bild, und da einen über das Bild seiner Eltern.

Er war ein pietätvoller Mensch.

Wenn er jetzt nur eine Braut hätte! Die würde er mit dem vierten bekränzen. Aber so war er ein alter Hagestolz. Er würde also seinen Ruhm und sein Glück allein tragen.

Heute schmeckte ihm nicht Essen und Trinken.

Er hatte nirgends Ruhe. Er konnte den Abend nicht abwarten.

Als erster kam er ins Theater. Der Dienstmann stellte sein Cello unsanft hin. Behnke räsonierte gewaltig.

Dann fing er an zu stimmen. Bald kamen die Kollegen und störten ihn. Das Theater füllte sich. Bis auf den letzten Platz. Die elektrische Klinge! ertönte. Da traten die Hofdamen in die Loge. Das Fürstenpaar folgte nach.

Behnke fühlte unwillkürlich an seine Krawatte, ob's auch die neue weiße sei, und ob er auch den Hemdenknopf richtig verdeckt habe.

Hornbach hatte das Zeichen gegeben.

Die Musiker spielten die erste Nummer etwas zurückhaltend. Man merkte, sie wollten sich nicht ausgeben. Schumann fand immer Beifall.

Nun aber bei Hornbachs Symphonie! Es war schon gleich eine Wärme in ihnen, als sie nur die Notenblätter in die Hand nahmen.

Sie sahen nach Hornbach. Der schien ganz ruhig. Er strich nur ein paarmal über seinen Schnurrbart. Ob das nervös war?

Behnke zitterte wie Espenlaub. Es hatte ihn plötzlich eine Angst überlaufen. Wenn er sich verpassen würde! Fehlgreifen? Nein, bei Gott, das war ausgeschlossen. Wenn er nur auch im Tempo nichts verfehlen würde! Um Gottes willen keine Saite reißen würde! Er sah sie sich noch einmal an. Alles in Ordnung.

Aber er litt jetzt doch sehr. Wenn nur Hornbach anfangen wollte!

Jetzt klopfte er.

Und wie gestern, wärmer noch, voller, reicher. Bis ins einzelne klappte es, bis aufs Tremolo der Pauke. Haarscharf. Hornbach hatte sein Orchester ganz in der Gewalt.

Man hörte ordentlich das Feuer der Musiker heraus.

Nun schwoll der glanzvolle Jubel des neuerwachten Lebens zu höchster Höhe. Der große Triller ... der Nachschlag ...

Nun strich Behnke sein Solo.

Er schloß die Augen. Warm und wärmer Ton um Ton. — Süß schmeichelte die Melodie. Wie aus einer Jungfrau Kehle — wie aus silberner Quelle.

Die Geigen malten die zitternde Glut ... in goldigen Tönen sang das Cello ...

Und voll setzte das Orchester ein und schwelgte in Tönen des Glückes und Genusses.

Da brach der Beifall los — im Parkett, droben auf der Galerie, in den Logen, und raste durchs Theater. Der Fürst klatschte Beifall.

Blumen und Kränze flogen nach dem Dirigenten hin. Der Fürst sandte einen großen Lorbeerkranz. Behnke zitterte. Er wollte danach greifen. Da hing ihn der Direktor über Hornbachs Pult.

Behnke wartete noch auf etwas. Er hatte sich schon ein paarmal verneigt, kaum merklich, als könne er so den Beifall auf sich ziehen. Er war in äußerster Erregung. Da kam ein Kranz geflogen, gerade zu Behnkes Füßen. Schnell stand er auf. —

»Hornbach!« rief's in demselben Augenblick.

Da knickte Behnke zusammen. Es ging ihm ein Schnitt durchs Herz, es glühte ihm ins Gehirn ...

Hornbach hing liebenswürdig den Kranz über seines Cellisten Pult. Ja, er sollte ihm gehören. Aber Behnke lächelte nur stumpf.

Das Solo mußte wiederholt werden.

»Noch einmal also, lieber Behnke, bitte,« sagte der Kapellmeister. »Noch einmal so.« Und er hob den Stab.

Behnke spielte. Mit der gleichen Fertigkeit wohl, aber es klang tot. Die zitternden Geigen deckten das Cello.

Die symphonische Dichtung Hornbachs hatte rauschenden Erfolg errungen. Der Komponist feierte höchste Triumphe.

Gebrochen schlich Fritz Behnke heim.

Kaum daß er sein Zimmer erreichen konnte. Fieber schüttelte ihn.

Als die Zeitungen reiches Lob für sein treffliches Spiel brachten, lag er sterbenskrank.

Der Fürst ernannte ihn zum Kammermusiker. Als er's hörte, lächelte er.

Behnke wurde nicht wieder ganz gesund. Vom Nervenfieber genesen, mußte er pensioniert werden. —





Hochsommerglück.

Da hinter den Bergen reckte sich schon der Tag. Die Sonne riß mit ihren glühenden Fingern heftig an der grauen Wolkenwand, ohne sie niederreißen zu können. Nur obenauf legte sich ein schmales, rotglänzendes Streifchen, der allererste Schimmer Morgenrot.

Es war noch sehr früh.

Im weiten Felde war es noch still. Hier und da ein leiser Vogelweckruf, kurz hervorgestoßen. Und dazwischen auch mal ein kleiner Lerchentriller. Wie zur Probe, ob's noch ginge, so kurz abgebrochen.

Nur der Kaspar und die Lene standen schon im reifen Roggenfeld. Ihr Herr, der allerfrüheste im Dorf, hatte sie schon herausgeschickt, als es noch dunkel war. Er wollte was getan haben für sein gutes Geld. Kaum die Bettruhe ließ er den Leuten.

So waren sie die einzigen im weiten Feld.

Die beiden murrten darüber nicht. Sie waren jung und schafften gern. Und übrigens waren sie das Frühaufstehen gewöhnt.

Der Kaspar trug das Frühstück und den Weinkrug tief in den Kleeacker nebenan und ging dann zur Lene zurück. Er guckte sich ein paarmal in der Runde um und sagte kurz: »'s wird heiß heut, Lene.« Dann zog er sein Wams aus, schürzte die Hemdärmel auf, schob den Hut in die Anke, und nachdem er den Wetzstein einigemal hin und her durch den feuchten Klee gestrichen hatte, wetzte er flott die Sense. Wie das in die Morgenfrühe klang! Der Kaspar hatte selbst seine Freude dran, und er schlug ein paar kurze Schläge wie einen Wirbel. —

Die Lene aber guckte ihm zu und freute sich. Ihre Augen glänzten und ihr Mund lachte. Sie hatte unterdessen ihre Jacke ausgezogen und ihr frischgewaschenes Kopftuch um den Kopf gebunden. Dann streifte sie noch ihren Oberrock ab und stand nun zur Arbeit bereit.

»Also!« kommandierte der Kaspar, und die Sense schnitt in weitem Bogen durchs Korn.

Es »schutzte« in der Frühe. Die Lene konnte kaum die Schwaden alle legen und hinter dem Kaspar her sein, so rasch ließ er die Sense fliegen.

Und so Reihe um Reihe — ein kurzes Zittern und Zucken — und die reifen Halme lagen am Boden. Und die Lene hob die Mahden mit ihrer Sichel vorsichtig auf, teilte sie gleichmäßig ab und trug sie in gleichen Abständen zu schwach gebogenen, hübsch parallelen Reihen auf. Denn man sollte sehen, wer hier gearbeitet hatte.

Wie der Kaspar so die Lene: sie waren beide tüchtig und verstanden ihre Arbeit aus dem ff. Darauf waren sie aber auch nicht wenig stolz.

Und mählich war der Tag erwacht. Im Wiesental drunten flogen die weißen Nebel scheu hin. Die Lerchen jubelten der sieghaften Sonne entgegen, die die Wolkenmauer tief weit dahinten in die Ecke geschoben hatte. Einzelne Menschen bewegten sich schon auf den Pfaden und Feldwegen, Schnitter und Schnitterinnen, Bauersleute mit Rechen und Hacken. Aber noch kein Fuhrwerk freilich.

Im Dorfe drunten läutete es jetzt zu Tag. Süßfeierlich klang die Frühglocke. Lange, lange Töne, über Tal und Hügel, sanft wie Flehen; kein hartes Rufen, weiche, in der Ferne sacht verzitternde Schwingungen.

Der Kaspar hielt plötzlich den Atem an — eben hatte er das Läuten erst gemerkt.

»Lene, der Tag läut' an!« sagte er, stellte die Sense auf und nahm den Hut ab. Er faltete die Hände. Und auch die Lene, die Sichel in der Hand behaltend, schlug, so gut's ihr gelingen wollte, die Finger ineinander.

Und ein paar Augenblicke Stille und Ausruhen. Die beiden sahen zu Boden und bewegten die Lippen. Um sie und über ihnen die verzitternden Glockenklänge, auf ihrer Stirn der sanfte Glanz der Morgensonne. Ein Moment des Friedens und der Andacht.

Wo sich's anderen von der Brust gelöst hätte, einer schweren Last frei, in einem hellen Jubel — ein Umfangen mit brünstigen Armen, ein Einsaugen in gierigen Zügen, da hatten sie nur ein mechanisches Murmeln, ihnen seltsam dünkender, tiefer Worte. Und doch fühlten sie etwas von der großen, heiligen Schönheit, ein Etwas, das sie bezwang und erhob und sich in sie ergoß, so klar und mild und rein, daß ein Glanz sie erfüllte und ein wunschloser Friede, dem sie Ausdruck gaben in ihrem unverstandenen Gebet, weil sie nicht eigne Worte hatten.

Einen Augenblick lang, und die Sense rauschte wieder durch die Halme. Und immer so.

Schritt um Schritt ging der Kaspar vor. Selten ruhte er. Nur manchmal wetzte er die Sense, oder er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Es war nämlich schon gehörig warm geworden. Aber es gab noch kein Ruhen; dafür war das Stück, das sie gearbeitet hatten, noch nicht groß genug. An ihrer Arbeit lasen sie die Zeit ab.

Endlich hielt der Kaspar einmal länger an. Er sah sich um und schätzte ab, was sie hinter sich hatten, um dann kurz zu sagen: »Lene, wollen Frühstück machen!«

Der Kaspar ging ein paar Schritte in den Kleeacker hinein und holte Frühstück und Weinkrug. Dann setzten sich die beiden nebeneinander in die Furche, und der Kaspar schnitt das Brot vor und teilte den Käse aus. Sie aßen tüchtig.

Nach einer Weile entkorkte der Kaspar den Krug und hielt ihn der Lene hin. »Da trink, Lene!«

Die Lene setzte ihn an die Lippen und sog tief. Dann reichte sie den Krug zurück.

Und der Kaspar setzte ihn an. Ihm war's, als fühle er noch eine Wärme am Munde des Kruges. Und er behielt ihn lang an den Lippen. Auch noch, als er schon getrunken hatte.

Sie aßen weiter.

Der Kaspar war dicht an die Lene herangerückt. Ihre nackten Arme berührten sich.

Der Kaspar sah die Brüste der Lene, die nur von dem groben weißen Leinenhemde lose bedeckt, sich sanft mit dem Atem bewegten.

Und es stieg ihm heiß zu Kopfe.

Ihm war's, als müsse er die Lene umfassen. Fest und innig. Und an sich drücken mit all seiner Kraft. Ihre Brust an seiner Brust.

Er rückte dichter an sie heran. Ganz unauffällig.

Aber er durfte nicht mehr zu ihr hinübersehen. Das fühlte er in sich. Er durfte nicht mehr. Er hätte sonst die Lene unbedingt umfaßt.

Wie köstlich war's, ihren weichen, warmen Arm zu fühlen. Wohlig und wonnig. Und die Erregung bohrte sich immer tiefer in ihn hinein und jagte sein Blut, daß ihm fast wirbelte.

Aber er meisterte sich. Er aß hastig. Und öfter reichte er der Lene den Weinkrug, ohne sie anzusehen. Und wohlig fühlte er jedesmal die Wärme ihrer Lippen noch.

Sie hatten gefrühstückt —

In ihm sang's, die süße Lust auszukosten.

Er wollte die Arbeit wieder aufnehmen.

In ihm drängte es zu bleiben —

Er schwankte. Nein. Und er sprang auf und nahm seine Sense.

Er arbeitete jetzt mit Hast. Die Lene merkte es gleich. Er würde sich bald die Hörner abgelaufen haben. Aber der Kaspar hielt's aus. Bewundernd sah ihm die Lene zu, und sie blickte nun gern und öfter zu ihm auf und hatte Gefallen und Freude an seiner kräftigen Gestalt, seinen braunen Armen, den dicken, festen Muskeln.

Dem Kaspar war's heiß. Aber er setzte nicht aus.

Ihm kam alles so verändert vor. Alles, alles, rund um ihn. Er wußte selbst nicht wie. Er arbeitete nur so nebenbei. Die Hauptsache war ihm die Lene. Immer die Lene. Er mußte fortwährend an sie denken. An ihre Arme, ihre Brüste. Wie sie frei im Hemde lagen. Wie sie sich bewegen würden, mußte er sich vorstellen, wenn sie sich bückte, wenn sie die Garben aufnahm, wenn sie sie wieder hinlegte. Und von Zeit zu Zeit mußte er mal so halb rückwärts zu ihr blinzeln. Auf einen Moment trafen sich ihre Augen, wenn die Lene zu ihm sah.

Er wußte jetzt auch, was die Lene für Augen hatte: große dunkle. Früher hatte er das gar nicht gesehen.

Überhaupt fühlte sich der Kaspar jetzt ganz anders. Es war ein Glücksgefühl in ihm, eine Kraft, ein Mut und eine Heiterkeit! Er hätte jetzt alles fertig bringen können, das Allerschwerste.

Der Kaspar stellte die Sense auf und wetzte sie. Wie er sie wetzte! Das klang lustig wie ein Werben. Er wollte auch mal der Lene eins zeigen. Und der Wetzstein sprang über den Stahl in leichtem, lustigem Spiel.

Kling — kling, kling, ling klang — —

Von Zeit zu Zeit mußte er jetzt doch einen kurzen Moment einhalten. Er war wie betäubt.

Lene! — wollte er rufen — aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt.

Es verließ ihn nicht. Lene, Lene. — Und ihr ganzes Bild ... Vor ihm, um ihn, überall ... Und Lene, Lene — aus dem Rauschen der Halm, dem Klingen der Sense.

Und jetzt hörte er auch die Vögel singen, was er vorher gar nicht bemerkt hatte. Und Lene, Lene, sang's, und Lene, Lene — auf sie bezog er alles. Für sie arbeitete er nur. Er wollte ihr seine Kraft zeigen. Sie sollte noch keinen so gesehen haben. — Und sie hatte auch noch keinen so gesehen!

Oder wen denn? Im ganzen Dorf war keiner so. Wie er, wie er — und kräftiger warf er die Sense aus, weiter führte er den Bogen.

Die Lene kam ihm kaum nach. Ja, sogar die kräftige Lene nicht. Sie schnaufte ordentlich, das freute ihn.

Die Lene aber sah zu ihm und wußte nicht, was sie davon halten sollte. Sie mußte ihn nur bewundern. Solche Kraft hatte doch keiner mehr. Wie der Kaspar! der Kaspar! Sie bekam einen großen Respekt vor seiner Kraft. Und sie mußte immer wieder zu ihm hinsehen.

Einmal konnte sie sich nicht mehr halten. »Kaspar, so geht's nicht mehr. Langsam, ich komm' nicht mit.«

Da stellte der Kaspar die Sense auf und lachte sie an. Das war ein Triumph! Und er lachte erst kichernd mit blinkenden Zähnen, dann packte ihn mächtig die Freude über seinen Erfolg, und er lachte unbändig, daß die Lene ganz rot wurde.

So gefiel sie ihm noch viel besser, er wußte selbst nicht warum.

Und von neuem ging's an die Arbeit. Und wieder wie vorher die Lene, immer die Lene, die Lene. —

Es kam ihm jetzt auf einmal wie ein Ärger darüber. Er wollte sich's aus dem Kopfe schlagen. Aber 's ging nicht.

Dann gefiel's ihm. Es war ihm so wohl dabei. Und wieder packte es ihn, einzuhalten und herumzusehen und so laut und jubelnd und jauchzend er konnte, Lene! Lene!! Lene!!! zu rufen.

Aber er tat's nicht. Dann fühlte er, wie's ihm zu Kopfe stieg, siedend heiß, und wie sein Herz hoch schlug. Da schämte er sich. Und er mähte kräftig weiter.

Ja, auf die Dauer wurd's ihm doch zur Qual, was ihm da mit der Lene in den Kopf geschossen war — und doch war's ihm lieb.

Hinter dem Kaspar her schaffte immer tapfer die Lene. Wenn sie auch mal zu ihm hinäugte, sie hielt sich doch nicht weiter dabei auf. Aber sie bewunderte den Kaspar und hielt ihn für den stärksten Kerl, den sie kannte. Auch für den besten und trefflichsten.

Was nur mit ihm los war!

Wenn sie merkte, wie er etwas sagen wollte, fragte sie jedesmal: Was? Aber er schüttelte nur den Kopf.

Etwas war, das war ihr sicher.

Und auch mit ihr war eine Veränderung vorgegangen. Was ging sie der Kaspar an! der war heut ein Schaffnarr! Einfältig, sie so ins Keuchen zu bringen! —

Aber sie konnte ihm doch nicht böse sein. Nein, er war doch — ja, er war doch ein Prachtkerl. Immer mußte sie zu ihm sehen, immer stak ihr nur der Kaspar im Kopf. Es ärgerte sie halb, halb war's ihr recht. Aber — äh brr! — was ging sie der Kaspar an! Und sie schlug in Gedanken ein Schnippchen. —

Mittlerweile hatte ein Bube das Mittagessen herausgebracht.

Der Kaspar hörte auch endlich mit seiner wilden Mäherei auf und sagte wieder kurz: »Lene, wollen Mittag machen.« Aber es war etwas Unsicheres in seiner Stimme; er keuchte es mehr als er's sagte.

Die Lene wurde ganz verwirrt davon.

Die beiden setzten sich jetzt wieder in die Furche, ihre Mittagsmahlzeit zu halten, diesmal aber war's ein gut Stück weiter im Feld drin.

Wieder berührten sich die nackten Arme. Eines fühlte die Wärme vom andern. Und beide rückten sie dicht zueinander, unwillkürlich mehr. In beiden war etwas, was sie zueinander drängte.

Der Kaspar ließ die Lene wieder zuerst aus dem Weinkrug trinken und warf ihr einen eigentümlichen, verschlingenden Blick zu, als er ihr den Krug abnahm. Und nun schoß es ihm wie Feuer durchs Blut und stieg ihm glühend zu Kopfe, da er wieder die Wärme von ihren Lippen spürte. Er schmeckte den Wein nicht, er berauschte sich nur an dieser milden Wärme, die sich ihm so zart wie Flaum auf den Mund legte.

Er zitterte vor Erregung.

Sie waren fertig und saßen noch eine Weile beieinander.

»Kaspar!« sagte die Lene, denn ihr war's, als müsse sie etwas sagen.

»Was?« fragte er. Aber die Lene wußte nichts weiter zu sagen.

Eine Weile saßen sie wieder stumm. Dem Kaspar war's als fühle er einen leisen, ganz leisen Druck am Arme.

»Lene!« sagte er da, und die Lene fragte: »Was?« — aber jetzt wußte der Kaspar nichts weiter zu sagen.

Ein eigentümlicher Bann lag über beiden. Sie hatten das Gefühl, sich etwas sagen zu müssen, waren sich aber nicht klar darüber. Beiden war das so seltsam genierlich, und doch zugleich so beseligend.

Von der Welt beachteten sie nichts. Sie waren allein. Sie wurden sich ihrer selbst nur in bezug aufeinander bewußt, das Sein und Leben des einen erwuchs aus dem des anderen. Der Kaspar dachte nur an die Lene — und die Lene mußte nur an ihn denken, als ob er sie dazu gezwungen hätte. Und wie ein förmlicher Zwang war's auch über sie gekommen.

Die Grillen zirpten, die Lerchen trillerten. —

Die Sonne brannte glühend, und Insekten umflogen und belästigten sie. Aber sie merkten nichts davon, sie starrten vor sich hin und wagten nicht einander anzusehen.

Noch einmal reichte der Kaspar der Lene den Weinkrug.

Und diesmal konnte er nicht anders, er mußte sie voll ansehen. Ein heftiges Zittern überlief ihn.

Das war die Lene!

Das!!

Wie ihr der Wein durch die Kehle rann, und wie sich ihre Brust hob und senkte! Diese starke, volle Brust! Sie gab ihm den Krug zurück und lachte ihn herzig an.

Er warf ihn in den Klee — und frei war er von allem Banne! Er umfaßte Lene mit starken Armen.

Lene! — erst kam's heiß und keuchend aus der tiefen Brust. Lene! und jetzt frei und jubelnd.

Lene! Lene!!

Er hob sie empor und drückte sie an sich. Und sie lachte und zeigte ihm dabei ihre gesunden, kräftigen Zähne und sah ihm mit leuchtenden stolzen Augen gerad in die seinen. Etwas verwirrt stammelte sie: »Aber Kaspar!« schlug dann aber gleich die Arme um seinen Hals und hielt sich mit aller Kraft fest.

Und der Kaspar hob sie hoch und jauchzte laut. Er trug sie tiefer in den Klee hinein, tanzend, wie im Rausche. Seine Augen glühten, seine Zähne bissen sich in ihre Lippen.

Zart legte er sie nieder, wie ein Kind die Puppe.

Die Lene aber hielt ihn fest und zog ihn zu sich herab. Mund an Mund. In den Augen der Lene spielte es in wechselnden heißen Lichtern. Und sie umfaßten sich fester. Noch ein ersticktes: Lene! — und es ward still.

Die Luft flimmerte wie heißer Atem — hoch auf stieg eine trillernde Lerche. Und der Schöpfer ruhte und schloß die Augen, denn er wußte, daß alles gut war in seiner Schöpfung.





Der böse Wunsch.

Er war Schullehrer in einem lumpigen Nest, ganz hinten im dicksten Odenwald. Da ging er auf in christlicher Übung der Armut und marterte seine Nerven in »Berufsfreudigkeit«. So wurde er immer dürrer und blasser. Böse Menschen sagten, seine Nase sei schon so eingehutzelt, daß die Brille gar nicht mehr sitzen bleiben wolle und jede Woche mindestens ein Millimeterchen abwärts rutsche ...

Es wäre ihm übrigens ein leichtes gewesen, sein Gelübde der Armut zu brechen, denn bei neunhundert blanken Mark Gehalt und einer Frau und sechs Kindern, da läßt sich's doch leben —! Und wie leben! Aber doch deklamierte der arme Schulmeister von Dingskirchen tagtäglich, wenn er auf der kahlen Höhe stand, an der großen Eiche, wo die Touristenwege zusammenlaufen und so viele vornehme Herren aus den Städten so stolz und wohlgenährt an ihm vorübergingen: »Ja, wer sich heitigendags zum Schulmaster versteht, hot vun vornerein des Gelibd der Aarmut abgeleht.« Wie oft hatte er dies Verschen drüben in Rheinhessen, im gesegneten Rheinhessen, wo er seine Jugendzeit verlebt hatte, sagen hören. Damals lächelte er dazu und wollte dem schalkhaften Lennig aus Mainz, der das gedichtet hat, nicht glauben. Damals träumte er von goldnen Zeiten und sah den Himmel voller Baßgeigen und hörte die Engel, all die wohlgenährten, pausbackigen Engel ein Tedeum singen. »Mein Sohn werd Schulmaster,« prahlte sein Alter. »Des is emol e Kerl, der hot's fauschtedick hinner de Ohren. Soll mer aach was Rechtes wern — un wann vun drei Johr de Wein druff geht — — Schulmaster!«

Dem Schullehrer von Dingskirchen gab's einen Stich in die Seele, wenn er daran dachte. Und sein Magen knurrte. — Ob er wohl nun nach Hause trollte, um den Quäler zur Ruhe zu bringen? Auch im Hungern kriegt man bald einige Übung und erfindet allerhand dagegen, wenn man das Radikalmittel nicht anwenden kann ...

So lebte der dürre Schullehrer schon seit Jahren in seinem lumpigen Nest, ganz hinter der Welt. Und da hockte er nun fest. Früher hatte er sich ein paarmal fortgemeldet, an bessere Stellen, gar einmal nach einer Kreisstadt. Aber es war ihm nie gelungen. Er wußte eigentlich selbst nicht warum. Seine Pflicht tat er wie jeder andere. Einen ernstlichen Rüffel hatte er auch noch nicht bekommen. Auch die schlechtesten Zeugnisse hatte er nicht gerade. Aber es gelang ihm doch nie. Es war halt immer so eine Sache, wenn seine Meldung aus dem armseligen Nest kam. Bald gab er das Melden auf und sagte sich in frommer Resignation: Ich habe halt kein Glück. Und dann kam er in die Jahre, wo so ein einfaches Gemüt sein Heim und seinen Halt sucht. Er kam sich unter den seßhaften Odenwälder Bauern wie ein Vagabund vor, der immer herumfliegt. Dem wollte er ein Ende machen. Und er heiratete. Eine dralle Bauerndirne aus dem Dorf, die gescheitste nicht und die dümmste nicht, auch nicht die ärmste, aber auch nicht die reichste. Reiche waren überhaupt keine da.

So hatte denn der Schulmeister auch seinen Halt und sein Heim. Und nun kamen auch bald Kinder in das Heim. Jedes Jahr eines, und einmal sogar Zwillinge. Wie die Orgelpfeifen kamen sie. Einige starben bald. Und als das Kinderkommen endlich anscheinend aufhörte, waren's gerade sechs. Das Jüngste war nun zwei Jahre. Jetzt war's sicher vorbei ...

Das Jüngste aber war nicht ganz gesund. Die Schullehrersleute hatten viel Last mit ihm. Doktor– und Apothekerkosten! Und die Rechnungen fielen immer gehörig aus. Der Schullehrer hielt etwas auf Ehre. Lieber litt er Hunger, als daß er die Rechnungen nicht bezahlte. Und doch galt der Schullehrer von Dingskirchen bei seiner Behörde und bei seinen Kollegen als versackt und verkommen. Dem äußeren Schein nach zu urteilen. Es war gut, daß er da hinten in Dingskirchen hockte — da hinten, hinter der Welt, wo er mit den anderen nicht in Berührung kam. Sie mieden ihn übrigens geflissentlich. Das wußte der Schullehrer, und das nagte auch noch in seiner Seele. Denn eigentlich war er nicht verkommen ...

Der Schullehrer kam müd und matt von seinem Spaziergange am Abend heim. Frau Grete hatte schon das Essen aufgetragen: Gesottene Kartoffeln und Schmierkäse. Die fünf »Freßsäcke«, wie die Mutter die Kinder gelegentlich nannte, saßen schon um den Tisch und erwarteten den Vater.

Er legte seinen Rock ab, hängte den Hut vorsichtig an den Haken und sagte dann zum Ältesten: »Beten, Karl!«

Der Junge stellte sich und plapperte das Vaterunser herunter. Dann wurde gegessen.

»War jemand da?« fragte der Schullehrer seine Frau.

»Em Herr Parre sein Knächt,« lautete die Antwort.

»Und was wollte er?«

»Du müßt morje Mittag um ein Uhr in Heimdingsen sein, do wär' Leich.«

Dem Schullehrer fiel's zwar ein, daß er da gleich nach seiner Schule fortspringen müsse, ohne vorher etwas essen zu können, daß er eine Stunde hin und eine her auf schlechtem Wege zu gehen habe, daß er sich in Heimdingsen höchstens ein Käsebrot leisten könne, des Kostenpunkts wegen, aber er machte nur: hm, hm. Denn er hatte sich daran gewöhnt, zu allem nichts anderes mehr zu sagen.

Dann aß er seine Kartoffeln weiter.

Am anderen Tage, gleich nach der Schule, machte sich der Schullehrer auf nach Heimdingsen. Die Grete hatte ihm doch ein Stück Brot und Wurst eingewickelt. Er war ordentlich froh. Wie seine Grete doch so besorgt war! —

Als die Leiche gehalten war, winkte der Pfarrer den Schullehrer zu sich.

»Morgen haben Sie Kreisschulkommissionsprüfung, Herr Lehrer. Ich habe es die ganze Zeit vergessen. Wird ja wohl nichts zu sagen haben, Ihre Schule ist ja wohl in Ordnung.«

Dem Schullehrer wurde das Herz schwer. Das kam zu unverhofft. Daß es der Pfarrer auch vergessen hatte! —

Er stammelte so etwas wie Dank; und daß es nicht zu spät sei. Er wußte selber nicht, was er sagte.

Wie immer, wenn's die Schule anging, war er heftig erregt. Alles wippelte und zappelte in ihm. Dann eilte er nach Dingskirchen hinunter. Er brauchte höchstens eine halbe Stunde.

Er lief direkt in die Klasse. Da lag noch ein Stoß Hefte. Aufsätze, die noch nicht korrigiert waren. Und ein Stoß Diktate. Er nahm sie unter den Arm, steckte seine rote Tinte ein und lief nach Hause. Da fiel ihm ein, daß er in seinen Listen noch etwas nachzutragen hatte. Er eilte wieder in die Klasse, sah alles nach, trug ein, legte und rückte dann alles in Ordnung, nahm ein frisches Stück Kreide, stäubte das Kruzifix ab, stellte sich dann mitten ins Schulzimmer und musterte alles.

— In Ordnung — gut so! —

Dann ging er.

Er sprach daheim kein Wort. Sogleich fiel er über seine Hefte her und arbeitete fieberhaft. Es wollte ihm ganz schwindlig werden. Aber er bezwang sich. Ein roter Strich nach dem anderen — da ein Wort eingeflickt — da einen ganzen Satz ausgestrichen — dann überblickte er das Ganze noch einmal und schrieb dann die Note darunter. So bei jedem Heft.

Die Zeit ging weiter, ohne daß er's merkte.

Seine Frau rief zum Nachtessen. Er winkte ab, ohne aufzusehen.

Seine Frau brachte ein Licht.

Er arbeitete weiter, immer weiter.

Schlag zwölf Uhr war er fertig.

Aber wie war ihm nun. Er spürte in seinem Kopfe ein Stechen, wie wenn Nadeln darin wären. Er mußte sich den Kopf halten und drückte ihn. Darauf wurde es ein bißchen besser.

»Eß noch was!« rief die Grete vom Bett aus.

Aber er konnte vor lauter Aufregung nichts essen.

Er legte sich. Aber an Einschlafen war gar nicht zu denken. Er war zu aufgeregt. Und alle Augenblicke schrie das Jüngste. Es war eine harte Nacht.

Ganz abgespannt stand der Schullehrer bei guter Zeit auf und trug seine Hefte in die Klasse.

Schlag sieben trat der Schulinspektor mit dem Ortsschulvorstand ein.

Die Prüfung begann.

Der Schullehrer zitterte am ganzen Leibe.

»Lesen!« befahl der Inspektor.

Das Lesen ging so leidlich. Dem Lehrer wollte es ein bißchen leichter werden.

»Kopfrechnen!« befahl der Inspektor.

Der Lehrer gab eine Aufgabe. Nach einer Weile gingen die Finger in die Höhe.

»Wieviel? — Du? — Du? — Du?«

»Falsch!« rief der Lehrer mit seiner dünnen Stimme nach jeder Antwort.

Er spürte es ganz heiß, daß ihn der Inspektor scharf ansah.

Die Aufgabe wurde vorgerechnet. Das Resultat war das der Schüler. Dem Lehrer hämmerte es in den Schläfen. Er gab eine zweite Aufgabe. Die fiel ihm schwer; er verschluckte, verbesserte sich, die Aufgabe war nicht recht klar. Auf den Gesichtern in der obersten Bank erschien ein Lächeln. Der Lehrer wiederholte dieselbe Aufgabe noch einmal. Jetzt war's ihm gelungen.

Es gab verschiedene Antworten. Der Lehrer wurde ganz verwirrt. Er konnte sich nicht entscheiden.

»Wir wollen die Aufgabe vorrechnen,« stammelte er.

»Wer hat 253?« fragte der Inspektor.

Die Finger gingen in die Höhe.

»Die haben's recht,« sagte der Inspektor, dann führte er das Kopfrechnen weiter.

Er machte sich einige Notizen in sein Büchelchen.

Mit dem Lehrer ging alles herum. Er sah alles grün. Über die Gesichter seiner Schüler ging ein grüner Schein. Und er hörte ein leises Geflüster und Gekicher neben sich und hinter sich.

Der Schweiß wurde ihm kalt. Seine Zähne klapperten. Er fror.

»Geographie, bitte,« sagte der Schulinspektor sehr freundlich. Er hatte wohl Mitleid mit dem armen, blassen, zitternden Lehrer.

Als der Inspektor sprach, ging es ihm wie ein elektrischer Strom durch den Körper. Er rappelte sich auf und fing an zu prüfen. Aber in seinem Kopfe war alles verwirrt, alles lag durcheinander. Ein Name jagte den andern. Und alles waren nur noch Namen. Er fragte und wußte selbst nicht was. Er fühlte nur so dunkel, daß alles falsch war. Da hörte er den Schulinspektor mit der Zunge schnalzen. Er fühlte es deutlich, jetzt schüttelte er wohl den Kopf. Aber es mußte, mußte gehen. Er tat noch ein paar Fragen und verhaspelte sich immer mehr. Die Schüler lachten hell auf.

Der Inspektor berührte ihn an der Schulter.

»Das ist ja gräßlich, lassen Sie es, bitte.«

»Herr Inspektor — ich — — — —«

»Sie sind wohl unwohl — ich sehe es Ihnen an — — oder — —?«

»Ach Gott,« seufzte der Lehrer.

Dann besprach sich der Inspektor mit dem Ortsschulvorstand. Sie betrachteten die Hefte. Der Lehrer merkte deutlich, der Pfarrer trat für ihn ein. Der Schulinspektor widersprach. Er erhitzte sich nun sogar.

Dem Lehrer wurde nun alles gleichgültig.

»Nun denn,« hörte er den Inspektor sagen, »wollen wir es beschließen. Unter solchen Umständen — — also,« wandte er sich an den Lehrer, »Schluß für heute — ich sehe bald wieder nach — unbegreiflich ... ihr könnt gehen, ihr Kinder.«

Und nach und nach leerte sich das Schulzimmer. Der Schulinspektor sagte dem Lehrer noch etwas, aber das hörte er gar nicht. Er war ganz abwesend. Ihm war, als sei er geköpft worden, oder doch wenigstens, als sei ihm mit einem schweren Hammer auf den Kopf geschlagen worden, gerade vorn oben hin, wo die Stirn anfängt. Denn da spürte er noch den Druck.

Er stand allein in seinem Schulzimmer. Noch eine kurze Weile nur, und er ging auch.

Wohin er gehen wollte, wußte er selbst nicht. Er ging nur. Zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und dann die Straße weiter. Er schritt dem Walde zu. Als ob der Weg ganz eben wäre, so leicht schritt er die Höhe hinauf. Ziellos ging er weiter. Und endlich stand er vor der großen Eiche.

Ein scharfer Wind ging da. Er nahm seinen Hut ab. Die Kühlung tat ihm wohl.

Und er ging weiter. Allmählich verlor sich der Schmerz in seinem Kopfe, und er fühlte sich kräftiger.

Auch die Erinnerung seines heutigen Erlebnisses begann sich zu verwischen. Bald war es ihm, als habe er einen Kater. Nur noch ein schwaches Brummen im Kopfe. Und nun dachte er an seine Frau und seine Kinder.

Er trat den Heimweg an.

Er kam gerade recht zum Nachtessen. Die Grete wußte schon alles; aber sie sagte nichts. Der Pfarrer hatte es ihr ausdrücklich verboten — ihr Mann sei überarbeitet, hatte er gesagt. Obgleich sie zuerst darüber ungläubig gelacht hatte, denn von Überarbeiten begriff sie nichts, folgte sie doch dem Rate des Pfarrers und schwieg.

Die Schullehrersleute legten sich früh ins Bett. Sie hatten ja immer schlechte Nächte mit dem Jüngsten. Das ließ gar nicht ruhen. Frau Grete, um ihren Mann nicht zum Legen überreden zu müssen, legte sich zuerst. Ihr Mann tat ihr alsbald nach. Er saß noch im Hemd auf der Bettkante und zog seinen Strumpf aus, als das Jüngste schon anfing zu schreien.

»Ach Gott!« stöhnte die Grete.

»Bsch — wsch — wsch,« sang der Schullehrer.

Aber das Jüngste schrie immer ärger.

Nun sang die Grete:

»Feierche, Feierche brennt —
Mein Kind des friert an de Händ',
Mein Kind des friert am linke Fuß,
Daß des Feierche brenne muß.« ...

Geschrei und Singen dauerten eine Weile. Endlich hörte der Gesang auf.

»Ach Gott, was en Last, was en Last!« seufzte die Mutter. Der Vater machte nur »hm, hm«.

»Tag und Nacht kein Ruh,« fuhr die Mutter fort. »Und das viele Geld, was es kost! Ach Gott, ach Gott!«

Nun kam wieder eine unheimliche Erregung über den Schullehrer. Tausenderlei schwirrte ihm durch den Kopf. Unglück — Krankheit — Brotlosigkeit — Not — Elend — ohne Stelle — —! Wo das nur all auf einmal herkam!? Er dachte nun sogar ans Sterben ...

»So en Last wie mir, so en Last wie mir,« fing die Grete wieder an. »Des saure Lewe — is denn beim liebe Herrgott gar kein Erbarmen!«

Das kam mitten in des Schullehrers Gedanken vom Sterben hinein.

Rasch, ohne daß er's eigentlich merkte, stieg ein schlimmer Wunsch auf und schlüpfte über seine Lippen: »Ja, wenn er es zu sich nähme, der liebe Gott —« Er erschrak heftig, und nun war's ihm, als ob er erwache — —.

Er lag nun im Bette. In einem fort hörte er wie drohend den argen Wunsch. Das ließ ihm keine Ruhe.

Das Jüngste war nun still. Die Mutter schlief. Aber der Vater konnte den Schlaf nicht finden. Immer und immer wieder der arge Wunsch. Er stand auf und sah nach seinem Kinde. Es schlief ruhig. Aber ihm war doch so sonderbar. Es schien ihm, als sei's noch blasser als sonst, als gehe sein Atem schneller. Er sah genauer und horchte. — Nein, doch nicht — beruhigte er sich. Er legte sich wieder. Das Wort »Erfüllung« ging ihm durch den Sinn. Eine unheimliche Angst faßte ihn. Er weckte seine Frau.

»Grete, sieh mal nach dem Kind!«

»Loß mich schlofe,« knurrte die. »Wann mer emol Ruhe kennt.« Sie schlief schon weiter.

Der Schullehrer stand wieder auf und sah nach seinem Kinde. Alles wie vorhin. Er legte sich wieder.

Jetzt zitterte er am ganzen Körper. Schweiß trat auf seine Stirn. Eine Last legte sich auf seine Brust. Das nahm ihm fast den Atem. Nun wurde es ihm zum Ersticken heiß. »Erfüllung« — das gespenstische Wort wieder und wieder.

Er sah eine Gestalt auf sich zukommen, halb Habicht, halb Mensch. Die Hände waren mächtige Fänge, die Augen glühten, in dem krummen Schnabel staken spitze, blutige Zähne. Dieses Untier würgte alles Leben. Und ein junges, liebes, blasses Kind spielte da am Wege. Sein Kind. Und der Habichtmensch griff schon nach ihm ...

Eine stöhnende Angst ... Und das Kind hob das Auge, sah seinen Vater an, so gehorsam–vorwurfsvoll, so traurig ... Welch ein Schmerz! — Und er lief davon, weit fort, über Steine, über Felsen — immer den Berg hinauf ... Aber es heftete sich etwas an seine Fersen. Er trat nach hinten ... Er hörte das Weinen seines Kindes, als habe es den Tritt bekommen ... Aber es hielt ihn fest, fest wie mit einem scharfen Haken ... Und es lief an ihm hinauf ... Das Leben war's, das junge Leben, das nicht vergehen wollte ...

»Du Mörder, du Egoist!« schrie's ihm gellend ins Ohr.

Nun saß es ihm fest im Genick — und es drückte seine Nägel in seinen Hals ... Es überlief ihn starr, kalt ...

»Gleiches Recht — Recht zu leben wie du — oder Kampf!« schrie's.

Er konnte nur noch stöhnen.

»Kampf! — Kampf!« jubelte es.

Da drückte es ihn nieder, nieder auf einen Felsengrat über einem dunklen Abgrund. — Er schlug sich die Schläfe auf — da fühlte er einen schnellen scharfen Schnitt, noch einen blutigen Riß im Gehirn — — alles war auseinander ...

»Leben, Leben!« schrie's über ihm. »Triumph!« ... Da brach er in sich zusammen zu einem morschen Klumpen ...

— — — — — — — —

»Johann! — Johann!« rief die Grete.

Aber er rührte sich nicht.

Sie schüttelte ihn. Da lallte er etwas und sang: »Bsch — wsch — wsch — — wsch« und zog's immer länger.

Die Grete sah ihm in die Augen. Die waren erloschen, beinahe wie bei einem Toten.

Sie griff sich in die Haare. — —

**
*

Draußen rappelte eine Chaise. Der Kreisarzt fuhr am Hause vorbei. Er war ins Dorf gekommen, um die Impfung vorzunehmen. Die Grete rief ihn herein.

Er betrachtete den Schullehrer, fragte ihn dies und das, konnte aber nichts aus ihm herausbringen.

Dann murmelte er etwas vor sich hin — Nervenschlag! — Gehirnerweichung? — so etwas murmelte er ...

Bis Mittag riefen sich die Kinder, die froh waren, daß sie keine Schule hatten, auf der Straße zu: »Unser Schullähre is närrischt worn ... ja — er is närrischt worn ...«




Die Freite.

Also nun war es wieder November geworden. Trübe Tage. Der Oktober war noch einmal licht und freundlich gewesen, und das Land hatte weit und breit klar gelegen. Nur am Morgen waren die Nebel aufgezogen, lang und dicht das Selztal hin, aber bald war die Sonne gekommen und hatte sie vertrieben. Da hatten sie dann in den Weiden und Erlen in losen Fetzen geflattert, bis die auch verflogen waren und nur in den ausgespannten Spinnennetzen als dünne glitzernde Perlchen eine Spur zurückgelassen hatten. Es waren so schöne Tage gewesen, die Oktobertage diesmal, und man hatte noch einmal ans Leben gedacht, als wär's Sommer, hatte hinaus gedacht zu den Menschen, ins Weite und Gesellige.

Und nun war's November und trübe, und man war mit seinem ganzen Sinnen und Sorgen zurückgetrieben in seine vier Wände, in die Enge, und man mußte sich einrichten auf den Winter, auf Frost und Feuchte, auf die lange tote und unliebe Zeit.

Nun blieb die Wiesenmühle ganz abgeschlossen von der Welt. Niemand mehr, der im Felde arbeitete. Höchstens vielleicht, wenn es Eis gab, daß die Eismacher herauskamen. Dann die paar Bauern, die mahlen ließen. Es waren nicht mehr viel. Die Hauptsache war schon weggemahlen, das wenige, das noch in den Scheunen lag, das war nicht mehr der Mühe wert.

Die Wiesenmühle hatte sehr nachgelassen in den letzten Jahren. Alles fuhr nach der mittleren Mühle, die dem Jerrisepp gehörte, weil dahin die neue Chaussee vorbeiführte und die Bauern bequemer anfahren konnten, als den holprigen Feldweg zur Wiesenmühle hin. Der war nun fein heraus, der Jerrisepp. Oben, die Ecklocher Mühle, hat auch fast gar nichts mehr zu mahlen, die Kettenmühle hätte auch fast das Rad abstellen können. Nur noch ein paar alte Kunden waren ihr treu geblieben, und nur dadurch, daß der Kettenmüller eine Bäckerei eingerichtet hatte, hatte er sich über Wasser halten können.

Der Wiesenmüller war keiner von denen, die sich allzu viel Sorgen machten. Im Gegenteil, er gönnte es dem Schlauberger Jerrisepp, daß er so viel zu tun hatte. Er dachte, das würde auch einmal wieder anders werden, und die vier Mühlen liefen wieder wie in guten Jahren, da sie Tag und Nacht geklappert hatten und keiner dem anderen Neid getragen hatte. Wozu auch neiden! Damit schadet man sich nur selbst und ändert die Dinge doch nicht.

Vor ein paar Tagen, bei dem hellen Oktoberwetter, hatte der Wiesenmüller noch gern droben gestanden am Giebelfenster und hatte über die Wiesen hin hinauf zum Jerrisepp gesehen, ob noch tüchtig die Kornwagen bei ihm einfuhren. Und richtig, der ganze Hof stand ihm noch voll. Aber dann hatte der schöne Sonnenschein den Blick weiter gelockt, und er hatte nach dem Dorfe gesehen, wo die Schornsteine rauchten und woher die Glocken klangen, klar und rein herüber in den stillen Mühlengrund, in dem die Töne verhallten wie in einem weiten Dom. Er war nicht von Sorgen bedrückt. Er und seine Frau, sie hatten genug zusammengebracht und genug zusammen errungen, wenn es auch einmal einen Winter lang gar nichts war, sie verhungerten noch nicht. Was sie zum Leben brauchten, das wuchs auf ihren Feldern um die Mühle herum, und was sonst nötig war, das konnte von den Zinsen bestritten werden, wenn die Kasse leer wurde. Nein, es war dem Wiesenmüller leicht und froh sogar ums Herz, wie er da oben stand. Der Himmel war so klar und rein wie frisch ausgewaschen, und das Land war so voll von seltenen Farben, wie man sie sonst im Jahre gar nicht sah, und die Sonne hatte etwas so Mildes und Zartes, wie wenn sich eine Mutter über die Wiege von ihrem Neugeborenen bückt. Er wußte gar nicht, was es war und wie er es sich klarmachen sollte. Er kannte doch das Land und hatte es zu den verschiedensten Zeiten gesehen, aber so schön und anziehend hatte es noch nie dagelegen, soweit er sich erinnern konnte. Es lockte ordentlich hinaus, und man konnte sich gar nicht vorstellen, daß der Winter vor der Tür stünde. Er dachte daran, daß er am Sonntag einmal mit seiner Frau und seiner Tochter ins Dorf gehen könnte, den »Neuen« zu probieren. Ja, das könnte man wirklich einmal, es war ganz gut, sich von Zeit zu Zeit im Wirtshaus sehen zu lassen. Sonst wurde man den Leuten ganz fremd und muffelte sich so in sein Alleinsein ein, daß kein Mensch mehr etwas mit einem zu tun haben wollte und die Welt einen gar nicht mehr verstand. Er summte ein altes Liedchen vor sich hin. Dann pfiff er. Und weil in der Mühle der Gang jetzt leer gelaufen war, hallte die Schelle laut zu ihm herauf, daß er aus seiner Stimmung gerissen wurde und ein barsches Hallo! hinunterrief. Dann ging er, aufzuschütten. Aber das behielt er sich, daß er am Sonntag ins Dorf zum »Neuen« gehen wollte.

Da er aber am Sonntag aufwachte und zum Fenster hinaussah, war alles in dichten Nebel gehüllt, daß man keine drei Schritt weit sehen konnte. Und der Wiesenmüller sagte nichts zu seinen Leuten vom »Neuen« und behielt seinen Gedanken für sich. Aber er sagte zu seiner Frau, daß man jetzt an den Winter denken und sich verwahren müsse.

**
*

Richtig, am Montag, in aller Frühe, saß er denn auch schon auf seiner Scheunentenne am langhalmigen Stroh und legte sich's zu Schichten und Wulsten, machte dann eine Strohtür für den Stall, rahmte Fenster und Haustür mit Strohzöpfen ein, stopfte sonst noch zu, was die Kälte hereinlassen konnte, die Keller– und Dachluken, die Löcher in den Stalltüren und die Tröge des Schweinestalles. Die Wasserpumpe und die Pfuhlpumpe umwickelte er so geschickt mit den hellen Strohzöpfen, daß sie ordentlich stolz aussahen und so recht behaglich in ihren warmen Kleidern dastanden, wie junge Mädchen, die zum erstenmal die neuen Wintermäntel anhaben.

Die Müllerin saß indessen drin am wärmenden Kastenofen und strickte warme Wintersocken und Knie– und Pulswärmer. Sie stopfte die Fausthandschuhe Und sah auch die wollene Strumpfkappe des Müllers nach, ob nicht die Motten Löcher hineingefressen hätten oder eine Masche aufgegangen war. Es war eine recht mechanische Arbeit, und sie duselte von Zeit zu Zeit ein kleines Weilchen drüber ein und nickte ein Stückelchen herunter. Wenn dann die Schelle am Mahlgang riß, fuhr sie auf und strickte oder stopfte hastig weiter und sah sich jedesmal dabei ein wenig in der Stube um, ob sie niemand beobachtet hatte, obgleich sie wußte, daß sie allein war.

Nur für die Eve, die einzige Tochter, brachte die Zeit nichts Neues und keine Veränderung. Sie besorgte die Arbeit in der Küche, und Sommer wie Winter wollten die Menschen ihren Tisch gedeckt haben, und das Vieh wollte sein Futter; Küche und Stube und Ställe brachten immer die gleiche Arbeit. Nur die Feldarbeit fiel freilich ein paar Wochen lang weg. Dafür half sie der Mutter etwas bei ihren Ausbesserungen, wenn sie mit dem anderen fertig war.

Die Eve tat ihre Arbeit mit Fleiß und Lust. Es freute sie, etwas hinter sich zu bringen, was es war, war ihr gleich. Sie wußte, es war auf der Welt keinem Menschen etwas gespart. Warum sollte es ihr sein. Und sie schaffte ja auch für sich selbst. Wenn's für andere Leute wäre, ja dann wär's eher zum Murren und Überdrüssigwerden, aber so. Sie war eine vergnügliche Natur, freute sich, mit jemand zu plaudern, hörte gern Neuigkeiten, fragte gern aus — was hatte sie denn auch sonst hier draußen in der Abgelegenheit! — sang gelegentlich ein Liedchen und lief gern in die Kirche. Sie konnte den Rosenkranz aus dem »ff« beten. Und das war so bequem. Dabei konnte sie sich in der Kirche umsehen — links ein bißchen herausschielen, rechts ein bißchen — und das Lippenwerk ging immer weiter, und wenn die Kirche aus war, waren es nur wenige, von denen sie nicht gewußt hätte, was sie anhatten und was sie auf dem Kopfe trugen, wer etwas Neues hatte und wer nur immer und ewig dasselbe trug. Selten auch, daß sie sich in ihren Berechnungen getäuscht hatte, wenn sie im Dorfe fragte, ob denn da und dort das Kleine noch nicht angekommen sei.

Es stimmte denn auch fast immer, und wenn es einmal nicht stimmte, so war daran ein Grund schuld, den die Eve nicht vorher hatte wissen können. Aber alles, was sie von den Menschen wußte, das plauderte sie nicht weiter aus. Sie sagte keinem etwas Böses nach. Nur ihrer Mutter erzählte sie die Dorfmirakel, und die war schon so abgestumpft, die hörte sie nur mit einem halben Ohr. Die Eve war keine Ausmacherin. Sie war nur neugierig. Sie ließ sich mehr erzählen, als sie selber erzählte. Und von jedermann war sie wohl gelitten, wenn sie auch einige eine »Trutschel« nannten. Das waren aber meist solche, die bei dem alten Wiesenmüller abgefahren waren, wenn sie um die Eve angehalten hatten. Denn der alte Wiesenmüller, so ein guter Kerl er auch war, vormachen ließ er sich doch nichts. Er wußte ganz genau, daß es den Werbern nicht um die Eve zu tun war, sondern um das, was sie mitbekam, und da sagte er immer nein. Ganz hart und schroff. Die Eve war nicht schön. Der Müller wußte das. Ihr eckig Gesicht verlockte keinen. Darum war's keinem zu tun. Aber die einzige Tochter, der einmal das ganze Vermögen zufiel, das stach ihnen in die Augen. Zudem hatte die Eve zu keinem eine besondere Zuneigung verraten, und der Müller war noch aus der alten Zeit, in der man gemeint hatte, zum Heiraten gehöre auch noch etwas anderes, als nur ein Schrank voll Weißzeug, ein paar Verschreibungen, ein Bündel blaue Scheine, und die Frau nur so als Dreingabe, weil man sich ja trösten konnte, daß bei Nacht alle Katzen grau sind. Und seine Verweigerung mußte die Eve dann büßen. Sie wurde eine dumme »Trutschel« genannt.

Wer aber die Leute ein bißchen besser kannte, wußte, daß da ein paar Füchsen die Trauben zu sauer gewesen waren, und sie lachten sich heimlich ins Fäustchen.

So ging also die Zeit herum und brachte keine Veränderung in der Mühle. Der November war feucht und neblig, und wenn die Müllersleute abends beisammen saßen, sagte die Eve einmal: »Es ist doch schade um den schönen Oktober, es war doch gar so schön Wetter!«

Die Mutter nickte der Eve zu. Der Vater aber murrte: »Dumm Gered, das ich nit hör'n kann. Nix ist schad. Der Oktober ist da, daß er vergeht, damit auch der November vergehen kann. Du solltest's nur mal erleben, 's ganze Jahr Mai oder 's ganze Jahr dein schöner Oktober, da könntest du bald blau pfeifen, sag' ich dir. Man muß die Feste nehmen, wie sie fallen, und 's Wetter, wie's wird. Alles andere ist Weibergewäsch und hat keinen Wert. Fertig! Und wenn's Frühjahr kommt, dann fangen wir wieder von vorn an und tun unser Bestes, das wir tun können. Fertig. Und das ist das Richtige!«

»Du bist doch ein alter Brummbär,« sagte die Müllerin.

»Ich jammer nur nit, weiter gar nix. Wer anders besser zu seinem Teil kommt, meinetwegen. Ich mach's auf meine Art. Fertig!«

**
*

Es war wieder Sonntag. Wieder hatte er mit dem dicken Nebel begonnen, der wie lauter graue Wolle war. Aber es schien, die Sonne könnte ihn heute packen. Sie hing schon den ganzen Morgen als blasse Scheibe am Himmel, und man sah sie von früh an ihren stillen Weg gehen, wenn sie auch verborgen war. Da es gegen Mittag ging, hatte sie richtig den Sieg davongetragen. Sie glänzte im Blauen, daß man ihr nicht ins Antlitz sehen konnte. Und die ganzen Wiesen glitzerten, und an den Gerten der Weiden glitzerte es.

Die Eve spülte das Eßgeschirr und sah von Zeit zu Zeit an dem Küchenfenster vor ihr hinaus übers Land. Es war ihr ganz seltsam zumute. Gerade als ob sie etwas erwarte. Als wenn draußen ein Wind stehe, fest in die Weiden und Pappeln am Bach gekeilt und jeden Augenblick sich losmachen könnte und heranbrausen. Aber nein, das war es gar nicht. Gar nichts Brausendes. Etwas Stilles und Sanftes. Als wenn jeden Augenblick die Glocken vom Dorf herüberklingen müßten. Oder als ob ein Festzug den Weg herkommen müßte, jetzt oben um die Ecke herum und dann die Wegbiegung lang und weiter her nach der Mühle zu. Der Eve schienen die Wege so leer heute. Gerade als verlangten sie es, daß etwas auf ihnen vorgehe, daß über sie geschritten werde. Ach, sie war ja dumm. Nichts war natürlich von all dem, es war einfach Sonntag, und die Sonne schien, die Wiesen glitzerten, und der Himmel hatte so ein tiefes Blau, besonders wenn man zwischen den Bäumen durchsah, so blau, wie wenn eine Waschfrau zu viel Bläue in die Bütte tut. Das war es einfach, und da juckte es ihr in den Kleidern, als stecke sie in einem rauhen Bockfell drin.

Die Eva spülte weiter. Aber die Augen gingen ihr doch immer wieder hoch durch das Fenster hinaus und zogen die Wege hin, die zwischen den Wiesen sich krümmten und sich oben im grauen Feld, das stellenweise von der Feuchtigkeit ganz tiefbraun war, verloren. Sie unterbrach ihre Arbeit nicht, aber ihre Gedanken waren nicht dabei.

Und immer wieder sah sie nach den drei Mühlen, die ganz hellklar in der Sonne lagen, während die ihre abseits im Dämmer und in der schlummerigen Feuchte träumte.

Die Eltern saßen drin in der Stube und erzählten sich, was sie auf dem Kirchgang des Morgens im Dorf alles gehört hatten. Der Vater trommelte dazu auf der Fensterbank und trat den Takt mit dem Fuße, und die weiß und rot gefleckte Katze schnurrte hinterm Ofen. Die Mühle lief. Aber sie lief leer, und der Müller hatte heute keine Lust, aufzuschütten.

»Der Jerrisepp ist heut so scheu an uns vorbeigegangen,« sagte die Mutter.

»So, scheu? Hast du das gemerkt? Na, ich kann nit wissen, was er hat. Und wenn er was hat, kann er's doch sagen. Wir haben uns nie was nachgetragen, wir vier Müller, und hatten auch nie keinen Futterneid.«

»Es heißt, er soll sich verheiraten wollen. Wenigstens sagen's die Leute.«

»Mein, was die Leute sagen. Aber 's könnt ja auch schon sein. Warum nit? Er ist länger Junggesell geblieben, als es andere aushalten. Und eine Frau ernähren, das kann er.«

»Du meinst, lang genug gesucht hätt' er?«

»Meinetwegen heiß' es so,« meinte der Alte dazu. »Was der Jerrisepp macht, macht er vorsichtig und sicher, alles was wahr ist.«

»Auch uns die Kunden abspannen.«

»Auch das. Aber wann er's fertig bringt, bringt er's halt fertig. An seiner Mühl' vorbei geht halt die Chaussee, da braucht er sich kein extra Müh' zu geben. Und das will ich auch nit von ihm denken, daß er sich darin extra Müh' gäb. Die Tauben, die einem in den Schlag fliegen, die fängt man halt. Ich tät's auch so machen, warum nit?«

»Ich sag's ja immer, daß du die Menschen nit verstehst. Und dadrum hast du auch immer 's Nachsehen.«

»So, Mutter, meinst das? Na ja, vielleicht hast recht. Es kann aber auch sein, daß du nit recht hast. Guck, gönn's doch dem Jerrisepp. Es war doch ein bißchen zurückgegangen bei ihm, durch die viele Krankheit, seit sein Vater hat ins Gras beißen müssen. Dann immer die kranke Mutter und die kranke Schwester, bis sich der liebe Gott erbarmt hat und sie alle beide abgerufen.«

»Das ist ja nit unwahr —«

»Und na ja, wir haben gerade genug. Wir haben nur die Eve, und es ist nit zu gering, was wir der einmal mitgeben können. Und was wir brauchen, das bringt uns noch die Mühl', und kommt später einmal ein anderer Müller herein, so soll er halt auch tun, was ich auch einmal hab' tun müssen. Aber jetzt bin ich dazu zu alt. Dazu muß man jung sein. Also brummel nit und gönn's dem Jerrisepp.«

Er trommelte heftiger und trat fest den Takt. Die Katze schnurrte und der Sägemann auf dem Kastenofen setzte nur geschwinder seine Arbeit fort. Die Alten waren jetzt still und sannen vor sich hin.

Draußen klapperten die Teller und Schüsseln. Die Eve spülte eifrig. Man konnte es in der Stube hören trotz dem Gang der Mühle.

Plötzlich hörte das auf.

»Kann die Eve denn schon fertig sein?« fragte der Vater.

»Kann gar nit sein,« antwortete die Mutter.

Nun lauschten die beiden Alten.

Aber draußen blieb es still. Denn die Eve stand am Fenster und blickte über die Wege, die Hand mit dem Spüllappen noch in der Spülschüssel. Sie war vorhin schon aufmerksam geworden. Wer kam denn da den Pfad her? Da oben kam jemand.

Sie äugte scharf.

»Der Jerrisepp! Jesses, der Jerrisepp! Rein und heilig!«

Aber was war denn dabei, wenn es wirklich der Jerrisepp war? Wie oft war der den Wiesenpfad schon gegangen, und es war ihr nichts drüber eingefallen. Warum denn heute?

Sie fing wieder an zu spülen?

Aber war er's denn wirklich? Sie guckte sich halb die Augen aus. Wahrhaftig, er war's. Und er ging den Pfad nach ihrer Mühle zu.

Am Feldweg da oben konnte er freilich noch abbiegen. Sie wollte sehen. Und sie hörte wieder mit dem Spülen auf. Nein, er ging geradeaus weiter. Jetzt über den Steg.

Er konnte doch nicht da oben an seinen Acker gehen wollen. Was hätte er da jetzt sehen können? Gar nichts.

Nein, er ging den Pfad weiter und weiter herunter. Jetzt war er an der Selz selbst und ging über die weiße Brücke. Na ja, nun war's sicher, er kam zu ihnen.

Der Eve schlug das Herz, hart und rasch. Sie wußte gar nicht warum. Sie konnte es gar nicht begreifen. Was ging sie der Jerrisepp an? Wie konnte ihr der Jerrisepp das verursachen? Er war ihr doch kein Fremder. Er war freilich lange nicht hüben gewesen. Allerdings. Aber das war doch kein Grund. Früher war er öfter gekommen. Aber was lag am Jerrisepp? Er war der nächste Nachbar. Fertig!

»Fertig!« sagte sie. Sie gewöhnte sich das immer mehr vom Vater an. Aber es war doch nicht fertig. Sie mußte immer wieder aufhören und nach dem einfältigen Jerrisepp sehen. Er ging ordentlich feierlich heut. Oder kam ihr das nur so vor? Er hatte sich fein gemacht. Das wollene Tuch um seinen Hals war funkelnagelneu. Und auf der Kappe saß kein Riebelchen Mehlstaub.

»Vater,« rief sie in die Stube, »ich glaub' der Jerrisepp kommt zu uns!«

»Gut, soll er kommen,« sagte der Vater.

Dann spülte die Eve weiter. Und zwar guckte sie nun auch nicht mehr auf. Der Jerrisepp war jetzt nach der Mühle hereingebogen und vom Fenster aus nicht mehr zu sehen.

Der Cäsar schlug an. Die Eve rief ihm zu. Da war er still und ließ den Jerrisepp passieren. Gleich darauf ging die Haustür. Der Jerrisepp trat ein.

Er ging direkt auf die Stubentür zu und klopfte an.

Als er eintrat, legte die Müllerin ihr Strickzeug in den Schoß, und der Müller hörte einen Augenblick auf zu trommeln.

»Bist lang nit dagewesen, Jerrisepp!«

»Ihr auch nit bei mir, Nachbar. Und alle Gebot kommen, geht doch auch nit.«

Es war in beider Reden etwas wie ein spitzer Ton, ohne daß sie's beide beabsichtigten.

»Ja,« lachte der alte Müller, »ich kann halt immer nüber gucken zu dir, bis in dein' Haustür hinein, da brauch ich nit zu dir zu gehen.«

»Ja, freilich,« stichelte der Jerrisepp, »da habt ihr auch sehen können, daß ich tüchtig zu mahlen hatt' den Monat?«

Er lächelte spitzbübisch.

»Ja,« sagte der alte Müller, »und ich hab' dir's von Herzen gegönnt.«

Der Jerrisepp besann sich. Er war betroffen. Es hatte so gütig geklungen. Er war ein bißchen verwirrt.

»Euer Mühl' läuft leer, Nachbar,« entfuhr es ihm. Dabei wurde er rot.

»Die feiert Sonntag heut,« erwiderte lächelnd der Müller. »Man muß so einer Mühl' auch ihren Sonntag gönnen.«

Nun war der Jerrisepp ganz geschlagen. Um so mehr verwirrt wurde er. Er wußte nicht mehr zu unterscheiden, was gut und was nicht gut zu reden wäre. Und er hatte sich doch alles ganz genau ausgedacht gehabt, was er sagen wollte.

Der Jerrisepp verwurstelte sich noch weiter. »Mein' Mühl' kann ich halt nit Sonntag feiern lassen, das verträgt's nit. Es ist halt, daß ich durch die neu' Chaussee so einen guten Weg gekriegt hab'. Die Fuhrleut' wollen doch die holprigen Feldweg' heutigestags nit machen. Drum ist's halt was anders bei Euch, Nachbar. Den langen Feldweg scheuen sie halt all.«

»Und kommen aber doch,« fuhr die Müllerin nun heraus.

Der alte Müller bekam einen roten Kopf. Er trommelte sehr laut.

»Willst dich nit setzen, Jerrisepp?« fragte er. Der Jerrisepp tat's.

»Bei dei'm Großvater und mei'm Vater, Jerrisepp, wie ich noch Bub war und an dich noch kein Mensch gedacht hat, war's anders. Jeder hatt' damals sein gleich Teil.«

»Ja,« sagte der Jerrisepp, »so wie's bei den Menschen ist, daß die einen alt werden und die anderen jung, so ist's auch mit den Mühlen. Das eine überlebt sich, daß andere erhebt sich.«

»Hm!« knurrte der Alte.

»Ich hab' sogar noch weiter gedacht. Ich seh' ein, daß die Müllerei muß zugrunde gehen, wenn sie nit ein bißchen aufgeholfen kriegt. Durch die Müller mein' ich. Die alten Einrichtungen taugen nit mehr. Ich hab' mir Bücher angeschafft, die fürs neue sind. »Der praktische Mühlenbauer«, »Unsere Mühleneinrichtungen«, »Dampf– und Wassermühlen«, und noch so ein paar. Man kann ja nit alles brauchen, was da grad drinsteht, aber manches ist doch richtig und gut. Ich will jetzt die Sach' anders einrichten. Zuerst mal das Wasser besser ausnutzen. Das geht ja so nit mehr. Alle paar Tag' verschlammt, und wann am meisten zu mahlen ist, am wenigsten Wasser. Alleweil drückt sich's nit so mit der Arbeit, da kriegt man eher jemand und braucht auch die höchste Löhn' nit zu bezahlen. Ich hab' mir drum für morgen fünf, sechs Mann bestellt, ich heb die Bach vor der Mühl' aus, faß das Wasser enger und leit's hoch und mach mein Rad oberschlächtig.«

»Was tausend!« knurrte der Müller.

»Dann rechne ich, geht's wieder zehn, fünfzehn Jahre. Und gehts dann nit mehr und man erlebt's noch, so kost's halt eine Dampfmaschine.«

»Jerrisepp,« fuhr es der Müllerin heraus, »daß du dann so einen hohen Schornstein bauen müßt?«

»Gewiß, Nachbar'n, man muß mit der Zeit gehn. Wer das richtig tut, wird nix dabei verlier'n, aber zugucken, wie's dort weitergeht und doch still sitzenbleiben auf sei'm alten Fleckelchen, das führt zu nix. Ja, und was ich sagen wollt, Nachbar, mit dem Wasser das, Ihr müßt auch dabei was tun. Ich kann dann mit wenig Wasser mahlen, aber bei dem schlechten Zustand von der Bach wird's bei Euch dann erst recht hapern. 's ist halt alles verschlammt, und Euer Gefäll ist so gut wie keins. Die Hauptkraft nehm' ich dann weg, wie gesagt, weil das Wasser dann kein' Gewalt von oben mehr für Euch hat.«

»Ich hab' aber das Wassergerecht schon von alten Zeiten her,« protestierte hier der Müller.

»Ganz recht, Nachbar, das Wassergerecht wird Euch auch nit genommen, nur das Wasser wird seine Kraft verlieren. Und unser Mühl' ist auch nit jünger wie Eure. Bloß hab' ich den Vorteil, daß ich oben lieg und Ihr unten, und daß ich also vor Euch das Wasser hab'.«

Der Alte sah, daß ihn der Jerrisepp festhatte. Und der Jerrisepp sah, daß sich das Blättchen gewendet hatte. Nun galt's, den Vorteil ausnützen. Der Alte brummelte etwas vor sich hin, das der Jerrisepp nicht verstand.

»Es ist ja vorauszusehen, Nachbar, und darüber muß man sich klar sein, wenn ich mein' Betrieb in die Höhe bring, geht Eurer herunter. Das liegt auf der Hand. Weismachen wollen wir uns nix. Was ist, das ist. Aber ich hab' mir gedacht, da wär' doch abzuhelfen. Ich denk' immer bloß nit von heut auf morgen, auch auf übermorgen. Und da hab' ich gemeint, Ihr macht einfach ganz zu, Nachbar!«

Der Müller fuhr auf. Und die Müllerin gab der Katze einen Tritt.

»Radikalkur!« sagte der Alte. »Ich bedank mich aber schön.«

Aber der Jerrisepp war jetzt im Zug.

»Ihr seid alt und habt genug geschafft Euer Lebtag, Ihr könnt jetzt ausruhen. Was ich vom Werk brauchen kann, das nehmen wir heraus, und ich bezahl's Euch so gut, als es zu bezahlen ist. Ihr zieht herüber zu mir, ich setz noch einen Kniestock auf mein' Mühl' — und, die Eve wird mein' Frau, und der eine Betrieb nährt uns besser, als die zwei, wo Ihr nix habt, und ich am End' auch nur Euer Feindschaft. Es will alles beraten und bedacht sein im Leben, und ein fetter Ochs ist allemal noch besser als zwei magere Küh', das mein' ich.«

Der Jerrisepp war während dieser Rede doch erregt geworden. Es war ja auch nicht leicht gewesen, das mit der Eve, und er hatte seine Kappe rasch in den Händen gedreht, wie's heraus mußte.

Der alte Müller hatte heftig getrommelt und den Takt getreten, die Müllerin machte noch große Augen und schien gar nicht zu sich zu kommen. So halb etwas Glänzendes war nämlich in ihren Augen.

»Das wär' schon ein Plan,« stammelte sie.

Aber der alte Müller guckte sie streng an, daß sie sich ganz zusammennahm und ihre weitere Rede für sich behielt.

Es blieb still zwischen den dreien.

»Ihr müßt mir doch sagen Nachbar,« unterbrach der Jerrisepp das Schweigen, »daß ich's gut mit Euch mein'.«

Das löste die Spannung beim alten Wiesenmüller.

»Auf Gnad' und Barmherzigkeit, Jerrisepp, nein, dadrauf sind wir doch noch nit angewiesen. Nit wahr, Mutter? Wir haben all unser Tag redlich geschafft und hausgehalten, und wann wir ruhen wollen, ruhen wir daheim, wo wir alt geworden sind und wo wir auch sterben wollen. Nit wahr, Mutter?«

Das hatte sehr traurig und bitter geklungen.

Aus den Augen der Müllerin war nun das Glänzende geschwunden. Sie waren trübe geworden, und sie mußte sich schnäuzen.

»So ist das aber nit gemeint, Nachbar, und so ist das auch nit zu verstehen. Ihr seid ja dann bei Eurer Tochter.«

»Hm, hm!«

Dann war's wieder eine Weile still.

Die Tür ging auf, und Eve steckte den Kopf herein.

»Soll ich den Kaffee bringen?« fragte sie.

»Ja, bring ihn,« sagte der Vater.

Der Jerrisepp trank eine Schale Kaffee mit und aß ein Stückchen Apfelkuchen, den die Müllerin alle Sonntage backte, sobald es Äpfel gab und solange es gab.

Es wurde nun vom Wetter geredet und den Kartoffeln und von den Reben und der Traubenernte. Der Jerrisepp meinte, man müsse sich auf eine neue Pflanzung besinnen, es sei ja doch schon lange nichts mehr mit den Reben.

»Du willst aber gerad' alles umstürzen,« spöttelte darauf der Wiesenmüller.

»Es kann nit alles ewig halten. Menschenwerk ist nit für die Ewigkeit,« erwiderte ihm der Jerrisepp mit Nachdruck.

Die Mutter wechselte einen Blick mit der Eve und zog die Augenbrauen hoch. Die Eve lächelte und wurde rot. Sie guckte in ihre Kaffeeschale und rührte verlegen den Zucker.

Als der Kaffee getrunken war, trug die Eve ab. Und als sie draußen war und der Jerrisepp sich mit einem scharfen Blick nach der Tür vergewissert hatte, daß die Eve außer Hörweite war, fragte er: »Nun, wie ist's, Nachbar, habt Ihr Euch besonnen?«

»Allerdings,« sagte der Wiesenmüller, »und zwar so, daß nix draus werden kann. Wir sind noch nit so weit, die Mutter und ich, daß wir aus dem Haus zu gehen brauchen auf Gnad' und Barmherzigkeit. In unseren Jahren aber außerdem, geht man nur aus sei'm Haus, wann man hinausgetragen wird auf den Kirchhof. Bis dahin —«

»Hm, hm,« machte nun der Jerrisepp. Er lächelte verschmitzt in sich hinein.

»Das ist ganz schön, Nachbar, aber ob's nit doch vernünftiger wär' —«

»Du guckst's mit deinen Augen an, ich mit meinen, da sieht's jeder auf eine andere Vernünftigkeit.«

»Also brauchen wir nix mehr zu reden?«

»Dadrüber vorläufig nit. Nein, das wollen wir doch noch mal ein bißchen abwarten.«

»Hm, hm! Wie Ihr wollt, Nachbar.«

Dann ging der Jerrisepp, und lächelte auch dann noch verschmitzt vor sich hin. — —

In dieser Woche blieb plötzlich die Wiesenmühle stillstehen. Der Müller sah nach, es fehlte an Wasser. Wie ausgetrunken war der Bach. Das hatte der Jerrisepp gemacht. Er schaffte oben sechs Mann hoch. Nun, der Wiesenmüller wollte den Frieden bewahren und wartete noch ein paar Tage. Aber das Wasser kam nicht. Endlich lief ein dünnes Rinnsal. Und als es mehr wurde, war's recht schwach und träge. Da es nicht besser werden wollte, schickte der Wiesenmüller die Eve hinauf zum Jerrisepp, fragen, wann er denn mit seiner Arbeit fertig sein werde. Sie sei schon fertig, brachte die Eve Antwort. Es hatte schon immer so wie so an einem tüchtigen Gefäll gehapert, nun war ihm alle Kraft genommen. Droben beim Jerrisepp war's fein eingefangen und hoch gelegt und rauschte es nur so übers Rad. Dann hatte er's unterhalb der Mühle ganz tief gelegt, so daß es sich nur so faul durch die Wiesen hinsickerte bis es zur Wiesenmühle kam.

Das ging dem Wiesenmüller denn doch über die Hutschnur. Er band sein Halstuch um und ging ins Dorf zum Bürgermeister. Da erfuhr er, daß der Jerrisepp die Genehmigung eingeholt und alles ordnungsgemäß vorgelegt und begründet hatte. Es war freilich nicht gesagt, daß er der Wiesenmühle das Wasser schwächen werde, aber es war genug damit, daß er ihr es nicht genommen hatte. Wenn er seine Wasserverhältnisse verbesserte, so war das ja ganz natürlich. An dem Wiesenmüller sein Wasserrecht war nicht gerührt, wenigstens nach Ansicht des Bürgermeisters. Das übrige müßten dann freilich die Advokaten besorgen. Der Wiesenmüller kratzte sich hinter den Ohren. Schon wenn er das Wort Advokat hörte. Er hatte sich vorgenommen, im Leben keinen Prozeß mehr zu führen, nachdem er vor langen Jahren den ersten verloren hatte. Da hatte er gesehen, was das kostet. Es war wegen eines Äckerchens damals gewesen: gegen den Bruder seiner Frau. Das Äckerchen ging dabei verloren und zwei andere noch dazu.

Der Wiesenmüller besann sich unterwegs, wie er die Sache auf gütlichem Wege schlichten könne. Er dachte an den Paul Ludwig. Das war der Müller von der Ecklocher Mühle. Der mußte einmal mit dem Jerrisepp reden, ehe es zur Klage kam und das Gericht sich in die Sache mischte.

Der Paul Ludwig war ein sonderbarer Kauz. Seit Jahren war er nicht aus seiner Mühle herausgekommen. Um die Menschen kümmerte er sich gar nicht. Er hatte nur seine Mühle, das Feld, die Wolken und seine Pfeife. Er war der Wetterkenner. Morgens in aller Frühe reckte er den Kopf aus seinem kleinen Mühlenfensterchen heraus und schaute sich nach dem Wetter um. Und das geschah so noch ein paarmal am Tage. Er wußte ganz genau Bescheid. Wenn der Paul Ludwig sagte, daß es zur Kirchweih regnen werde, so konnte man ganz sicher sein, daß es eintraf. Wenn ein Verein ein Fest feiern wollte, ging man erst zum Paul Ludwig, um ihn wegen des Wetters zu befragen. Das meiste Ansehen hatte der Paul Ludwig gewonnen, als er die schlechten Weinjahre prophezeit hatte. Und sie waren alle so eingetroffen, wie er es vorausgesagt hatte. Er beobachtete alles, die Kleeblüte und den Bienenflug, die Vogelstimmen und den Nestbau der Vögel, und noch viele ganz natürliche Dinge, die er den Leuten gar nicht sagte, wenn sie ihn fragten. Außerdem putzte er die Schwarzwälder Uhren aus, wenn sie stehen geblieben waren, und ölte sie auch ein. Er konnte alles. Nichts, was er nicht hätte bosseln können. Er reparierte sogar den Musikanten des Dorfes die Instrumente, und wenn sich einer einen ganzen Tag lang abgemüht hatte, den Stimmstock in einer Geige zu stellen und es ihm doch nicht gelungen war, so ging er eben zum Paul Ludwig, der machte es im Handumdrehen. Wie aber der Bienenstand vom Paul Ludwig aussah, so schön gab's keinen mehr in der ganzen Gegend.

Von den Umgestaltungen, die der Jerrisepp mit seinem Wasser und in seiner Mühle vorgenommen hatte, war ihm schon erzählt worden, aber so sehr er sich dafür interessierte, hingegangen wäre er nicht. Nun ihn der Wiesenmüller bat, ihm den Vermittler zu spielen, war's ihm gerade recht, das war ihm eine Gelegenheit, sich die Arbeit vom Jerrisepp anzusehen. Er stülpte also sein besseres Käppchen auf, zündete seinen Kloben noch einmal an, steckte sich ein Päckchen Tabak ein und ging hin zum Jerrisepp.

Der Jerrisepp zeigte ihm alles, die ganzen Verbesserungen und Einrichtungen, und der Paul Ludwig guckte ganz genau. Sagen tat er nicht viel. Höchstens mal ein »Hm, hm,« oder mal ein paar tiefere Züge aus der Pfeife. Das war schon ein bedeutender Beifall. Der Jerrisepp freute sich. Wenn es einer verstand, war es der Paul Ludwig. Und er guckte ins allerkleinste und einzelnste. Alles stieberte er aus. Aber von der Sache mit dem Wiesenmüller sagte er nichts. Die hatte er ganz über dem Neuen, was er da sah, vergessen. Und sie zählte ihm auch nicht mehr, nachdem was er gesehen hatte. Er hatte vielmehr einen richtigen Respekt vor dem Jerrisepp gewonnen. So was hätte er dem gar nicht zugetraut. Der war doch ein dicker Duckmäuser, der. Und daß er jetzt so freundlich und bereitwillig im Zeigen war, das war lauter Stolz von dem. Aber, dachte der Paul Ludwig, was schadet's! Er darf stolz sein. Was er da gemacht hat, hat wirklich Hand und Fuß und kann sich sehen lassen. Dumm nur, daß man nicht schon früher darauf gekommen ist. Die Welt macht doch Fortschritte. Es war schon richtig düster, als er ging. Und er war schon ein Stück Wegs gegangen, da fiel ihm der Wiesenmüller wieder ein. So ging er noch einmal zurück. Aber nun wußte er gar nicht, was er sagen sollte. Es war ja alles richtig und in seiner Ordnung.

»Du, Jerrisepp,« sagte er, »der Wiesenmüller beklagt sich, er hat kein Wasser.«

»Die Wiesenmühl' hat zu Lebtag noch nit viel Wasser gehabt. Und soll ich vielleicht dem Wiesenmüller Wasser hinunterbringen?«

»Ja, recht hast du, Jerrisepp.«

»Die vierte Mühl' war schon zu Lebtag ein Stiefkind. Immer hat da das Gefäll gefehlt. Ich wunder' mich, daß sie so lang' sich gehalten hat und das Wasser nit schon längst ausgegangen ist.«

»Recht hast du eigentlich.«

»Wer die da hingebaut hat, der hat auch nit allzuviel Überlegung und Verständnis gehabt, oder die Bach ist damals anders gelaufen.«

»Das ist's, die Bach ist damals anders gelaufen. Das war alles anders. Und früher war die Wiesenmühl' eine von den allerbesten in der ganzen Umgegend. Aber seit der Wiesenentwässerung ist das anders geworden.«

»Also müßt' der Wiesenmüller eigentlich die Gemeind' verklagen und nit mich, wenn er kein Wasser hat.«

»Ja, eigentlich müßt' er das,« sagte der Paul Ludwig. »Denn seit der Wiesenentwässerung, die die Gemeinde gemacht hat, geht's ihm so schlecht mit dem Wasser.«

Dann ging der Paul Ludwig wieder und hatte das Gefühl, daß er die Sache vom Wiesenmüller sehr gut vertreten habe.

Der Wiesenmüller beruhigte sich aber dabei nicht. Er wollte jetzt unbedingt sein Recht haben. Und trotz seiner Scheu vor den Advokaten fuhr er nach Mainz und machte die Klage anhängig. Und legte gleich einen tüchtigen Batzen Geld auf den Tisch.

Nun kamen die Sachverständigen und prüften die neue Anlage vom Jerrisepp und den Wassermangel von der Wiesenmühle, und prüften alle Einsprüche, zum Beispiel den, daß der Jerrisepp das Wasser unterhalb der Mühle zu tief gelegt habe. Aber der Jerrisepp war sattelfest. Er hatte sich genau an die Bestimmungen gehalten.

Es war wenig Aussicht. Dazu mußten immer neue Vorlagen gemacht werden.

Der alte Müller war ganz krank. Von Bub auf an hatte er die Mühle jeden Tag klappern hören, von morgens bis abends und sogar in der Nacht, nun stand sie still. Totenstill war's, abgestorben, begraben. Der Alte konnte nicht mehr ruhen, nicht schlafen. Die Stille weckte ihn. Sie verjagte ihn aus seiner Mühle. Auch der Müllerin ging's so. Als ob sie nun ohne Haus und Heimat wären, ganz verstoßen und verlassen war ihnen. Dann und wann nur bekam das Wasser einen stärkeren Trieb und das Rad lief ein wenig, aber es war nicht der Mühe wert. Auch Stauungen halfen wenig. Wenn überhaupt etwas zu machen gewesen wäre, so hätte das wenigstens ein paar Hundert Mark gekostet. Die ganze Mühle war nun aber dem Wiesenmüller verleidet. Geld wollte er keines mehr an sie hängen. Er schickte die Eve zum Jerrisepp, fragen, wann er zu ihm kommen könnt'. Die Eve kam zurück mit der Antwort, daß es sein könne, wann es dem Vater passe. Dabei wußte sie des Rühmens kein Ende zu finden, wie fein alles in der Reihe sei beim Jerrisepp, wie er nun mit zwei Gängen mahle, und wie er nun gar nie mehr trocken sitzen könne. Der alte Müller kraute sich hinter den Ohren. Er sah die Eve lang' und durchdringend an.

»Es hat dir also gefallen?«

»Ich könnt' nit anders sagen, Vater.«

»Hm, hm! 's ist fein in der Reih'?«

»Ich müßt' lügen, Vater.«

Der Alte ging hinaus auf den Hof und machte sich da zu schaffen. Nach einer Weile kam er wieder herein.

Er fragte die Eve: »Willst ihn?«

»Wen?« fragte die Eve lachend.

»Hm!« — er deutete zur Mühle hinüber.

»'s ist alles fein in der Reih', Vater.«

»Willst ihn also?«

»Wann's Euch recht wär', Vater.«

»Hm!«

Am Sonntag lag der Wiesengrund tief im Nebel. Man konnte den Nebel schneiden. Er benahm einem ordentlich den Atem.

Als die Kirche aus war, sagte der Wiesenmüller zu seiner Frau: »Mutter, es wird uns nix anders übrigbleiben. Die Wasserregulierung vor ein paar Jahr, jetzt der Jerrisepp ... 's hilft halt nix. Und das ganze Geld zu verprozessieren, und am End' noch mit der Gemeind' anfangen ... Wo ist denn mein kariert wollen Halstuch? 's ist mir, meiner Seel, kein leichter Gang ...«

Die Mutter nickte.

Der alte Wiesenmüller schritt langsam und vorsichtig durch den Nebel nach der Mühle vom Jerrisepp.

»Kommt Ihr, Nachbar?«

Der Wiesenmüller sah sich um, Küch' und Keller, das Wasser, das neue Rad, den neuen Gang, den Stall, den Dachboden. Es gefiel ihm alles sehr gut. Ordentlich begeistert war er von allem, was der Jerrisepp eingerichtet hatte, und er kargte nicht mit seinem Lobe.

»Aber in der Mühle drunten bleiben wir wohnen, wir zwei Alten. Fertig!«

»Wie Ihr wollt.«

»Den Kniestock sparst du dir. Fertig!«

»Wie Ihr wollt,« lächelte der Jerrisepp.

»Und die Hochzeit?«

»Noch vor der Fastnacht,« sagte der Jerrisepp.

»Noch vor der Fastnacht? Soll mir recht sein.«

Dann besprachen sie noch die Mitgift, und was so drum und dran hing.

»Es trifft sich halt so,« meinte nach einer Pause der Jerrisepp, »die neu' Chaussee hätt' auch an Euch können vorbeigehen, dann hätt' ich's Nachgucken gehabt. Freilich, mein Wasser war immer besser gewesen als Eures. Aber man muß sich zu helfen wissen. Wenn man's Leben verkehrt anpackt, nur an einer Stell', dann bleibt's verkehrt für sein Lebtag.«

Der alte Wiesenmüller klopfte ihm auf die Schulter: »Du brauchst dir nix einzubilden. Wenn ich's nit gewollt hätt', dann wär's nit geschehen. Und man weiß noch nit, wer's von uns zwei am längsten ausgehalten hätt'. Fertig!«

Dann ging der Wiesenmüller wieder seinen Weg zurück. Der Heimweg war ihm ein gut Teil leichter. Es wär' aber gar nit notwendig gewesen, daß die Freierei so viel Geld gekostet hätt', der Jerrisepp hätt's nur gleich richtig anpacken sollen. Na, was vorbei war, war vorbei. So dachte er.

Am Sonntag drauf wartete der Jerrisepp auf der Kirchentreppe auf die Eve und führte sie heim. Da wußte das ganze Dorf, daß die Heirat ausgemacht war. Trotz Prozeß, man hatte sich's ja freilich immer gedacht. Denn was ein rechter Müller ist, freit in einer Mühl'. Das war zu Lebtag so. —


Ende.



Holzamer, Der Held und andere Novellen.


Inhalt.
Seite
Einleitung des Herausgebers 3
Der Held 9
Sein letztes Hochamt 32
Cellist Behnke 45
Hochsommerglück 54
Der böse Wunsch 64
Die Freite 76





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Im Dorf und draussen. Novellen. (Daraus im vorliegenden Bändchen: »Der Held« und »Sein letztes Hochamt«.)

Die Siegesallee. Kunstbriefe an den deutschen Michel.

Spiele. Dramatische Skizzen.

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Im Wandern und Werden. Essays.

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Im Verlage von Egon Fleischel & Co. in Berlin erschienen:


Der arme Lukas. Eine Geschichte in der Dämmerung.

Peter Nockler. Die Geschichte eines Schneiders.

Der heilige Sebastian. Roman eines Priesters.

Die Sturmfrau. Eine Seenovelle.

Inge. Ein Frauenleben.

Ellida Solstratten. Roman.

Vor Jahr und Tag. Roman.

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Den Weg gekreuzt. Novellen.

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Hochstetter, D–Zug–Geschicht. 5530.

Hollaender, F., Der Pflegesohn und zwei andere Novellen. 5300. Geb. 60 Pf.

Holzamer, Der Held und andere Novellen. 5200. Geb. 60 Pf.

Hopfen, Böswirt. 4400. Geb. 60 Pf.
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Junghans, Wisel.
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Klinckowstroem, A. v., Novellen. 5376.

Kretzer, Der Baßgeiger. 3207.

Krickeberg, Die Krähe und andere Novellen. 5250.

Kröger, Wohnung d. Glücks. 4570. Geb. 60 Pf.

Külpe, Der Silbergarten.
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Marriot, Kinderschicksale. Novellen und Skizzen. 5608.

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Ortmann, Der Teufelswalzer und sieben andere Novellen. 4428.

Perfall, A. v., Die Uhr. 4130.
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Raabe, W., Zum wilden Mann. 2000. Geb. 60 Pf.

Reichenbach, Oberschlesische Dorfgeschichten. 4240.

Resa, Villa Idylle und andere Humoresken. 5656.

Reuter, Gabriele, Eines Toten Wiederkehr und andere Novellen. 5001. Geb. 60 Pf.

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Rosegger, P., Geschichten u. Gestalten a. den Alpen. 4000. Geb. 60 Pf.
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Salus, Nachdenkliche Geschichten. Novellen. 5700. Geb. 60 Pf.

Schanz, Wolken. 4959/60. Geb. 80 Pf.

Schlaf, Tantchen Mohnhaupt und Anderes. 5626/27. Geb. 80 Pf.

Schnitzer, Wunderliche Lebensläufe. 5255.

Schönaich–Carolath, Die Rache ist mein u. a. Nov. 5800. Geb. 60 Pf.

Schönthan, Fr., Der General. 4444. Geb. 60 Pf.

Schullern, v., Berggenossen und andere Erzählungen. 5650.

Skowronnek, Fr., Garbata.
— Der Kawaljer. 5131.

Sommer, Ein wunderliches Eiland. Novelle. 5684.

Spielhagen, Alles fließt. 4270. Geb. 60 Pf.
— Dorfkokette. 4100. Geb. 60 Pf.
— Was die Schwalbe sang. 4138–4140. Geb. M. 1.

Stona, Maria, Die Heidelerche und andere heitere Geschichten. 5817.

Suttner, Bertha, Ku–i–kuk. 5568.

Telmann, Unheilbar. 3750.

Torrund, Weiße Narzissen u. andere Novellen. 4540.
— Sein Herzenskind. 4950. Geb. 60 Pf.

Trinius, Tauwind u. a. Thüringer Geschichten. 3649.

Villinger, Der Nachkömmling.
— Die erste Schuld. 5707.

Voß, R., Amata.
— Liebesopfer. 5324. Geb. 60 Pf.
— Narzissenzauber.
— Das Wunderbare. 4991. Geb. 60 Pf.
— Rolla. 5221–24. Geb. M. 1.20.

Westkirch, Bürgermeister v. Immelheim u. a. Nov. 5347. Geb. 60 Pf.
— Gletschermühle. 4786. Geb. 60 Pf.

Wickenburg, R. v., Franz Mooshammer. Roman. 5409/10. Geb. 80 Pf.

Wilda, Ein Urlaub. 5359.

Wildberg, Dunkle Geschichten. 5160. Geb. 60 Pf.

Willomitzer, Eine Nacht im Mittelalter und andere Geschichten. 5340. Geb. 60 Pf.

Zobeltitz, H. v., König Pharaos Tochter und and. Novellen. 4200. Geb. 60 Pf.



Hinweise zu Änderungen gegenüber dem Original:

Das Erscheinungsjahr 1910 wurde gemäß Nachweis im Gemeinsamen Verbundkatalog (GVK) angegeben.
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Bild und Signatur des Autors, welche sich im Original vor dem Innentitel befinden, wurden vor die Einleitung verschoben.
Einige kleine offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.
Auf S. 45 wurde der Satzfehler "Manuel" in "Manual" verbessert ("leitete er im oberen Manual ein.")
Auf S. 89 wurde das Fragezeichen hinter "fing wieder an zu spülen" belassen, da unklar ist, ob es sich um einen Satzfehler handelt.