The Project Gutenberg eBook of Das Leben und die Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg

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Title: Das Leben und die Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg

Von ihm selbst erzählt

Author: Ulrich Bräker

Editor: Adolf Wilbrandt

Illustrator: Lucian Bernhard

Release date: April 9, 2025 [eBook #75825]

Language: German

Original publication: Berlin: Meyer & Jessen, 1910

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEBEN UND DIE ABENTHEUER DES ARMEN MANNES IM TOCKENBURG ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurde übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.

Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt

.

Das Leben
und die Abentheuer
des
Armen Mannes
im
Tockenburg


Von ihm selbst erzählt


signet

1910


Bei Meyer & Jessen
Berlin

Bhd


Gedruckt in der Buchdruckerei von Herrosé &
Ziemsen, G. m. b. H. in Wittenberg. Titel und
Einband zeichnete Lucian Bernhard in Berlin


Vierte durchgesehene Auflage


[S. v]

Zur Einführung

»Kennen Sie den ›armen Mann im Tockenburg‹?« hab' ich wie oft gefragt; Männer und Frauen von allerlei Art. Die Antwort war fast immer: »Wer ist das?« Und doch hat man das Wenige, was wir von ihm haben, seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht selten gedruckt; er hat Leser und Freunde gefunden, auch Bewunderer. Immer ist er wieder vergessen worden; auf seinen eigentlichen Platz in unserer Geschichte hat ihn noch niemand gestellt. Darum hat es mich oft hingerissen, in dieser oder jener Gesellschaft, die nichts von ihm wußte, mit so viel Lobpreisung von ihm zu sprechen, daß ich mich hinterdrein wohl fragte: Hast du in deinem Feuereifer nicht zu viel gepriesen? Wenn diese Aufgestachelten ihn nun lesen[S. vi] werden, werden sie nicht sagen: nun ja, recht hübsch, aber warum übertreibt er so? — Dann hab' ich wohl zu Haus den »armen Mann« wieder zur Hand genommen und hier und da aufgeschlagen und gleichsam mit dem Ohr dieser andern hineingehorcht. Zuletzt bin ich lächelnd beruhigt und neu gerührt wieder aufgestanden. Nein! Ich sagte nicht zu viel von ihm. Er ist ein Phänomen, ein Einziger, Unvergleichlicher. Er war kein Fabulierer, kein Fruchtbarer wie Hans Sachs, aber zehnmal mehr Poet. In dem kleinen Schatz, den er uns hinterlassen hat, sind Perlen und Rubinen.

Ulrich oder Uli Braeker kam am 22. Dezember 1735 in dem Schweizer Tal zur Welt, das Tockenburg oder Toggenburg genannt wird; fast sieben Jahre nach Lessing, nicht vierzehn vor Goethe. Die dem Leser hier vorgelegte Geschichte seines Lebens erzählt in entzückender Aufrichtigkeit und poesievoller Lebendigkeit, wie er, eines ewig blutarmen[S. vii] Mannes ewig um sein Dasein kämpfender Sohn, Geißen weidet, liebt, tagelöhnert, webt, handelt, träumt, liest, phantasiert; kurz, wie er das Leben eines zum Dichter geborenen Habenichts führt, der redlich arbeitend, wenig erreichend, oft leichtgläubig, oft betrogen, bald im Elend verzagt, bald sich eine Welt von Luftschlössern bauend, von seiner keifenden Hausehre immer gemeistert, nie an seinem Gott verzweifelnd, sich durch gute und böse Jahre wie ein vielgekrümmter Fluß durch sein Engtal hinwindet; bis er endlich, noch nicht dreiundsechzig Jahre alt, in Gottes Schoß zurückkehrt, als dessen Kind er sich sein Leben lang in immer reinerer und verklärterer Frömmigkeit gefühlt hatte.

Als Zweiunddreißiger begann Uli zu schriftstellern, bald auch Verse zu machen; aber noch mehr einem moralisierenden Nachmittagsprediger gleich; 1770 fing er an ein Tagebuch zu schreiben, sein dürftiges Leben mit Betrachtungen zu begleiten und[S. viii] jenen Natursinn in sich auszubilden, der allmählich seine schönste Kraft werden sollte und sein holdester Trost. In seiner Prosa wuchs, Gott weiß wie, dieser ganz eigene Duft heran, der seine entbauerte Seele, seinen geadelten Geist zu den wirklichen Poeten gesellt. Er ward ein Dichter und wußte es nicht. Er lernte ohne Lehrer seine Gefühle und Gedanken formen, wie der Bildner Wachs und Ton. Als Dichter schrieb er auch sein Büchlein »Etwas über Shakespeare«, nachdem er in der kleinen Büchersammlung der »Moralischen Gesellschaft« (in dem benachbarten Städtchen Lichtensteig) diesen seinen Abgott kennen gelernt hatte, dem er fortan, wie Faust der Helena »Neigung, Lieb', Anbetung, Wahnsinn« zollte. Nicht vieles ist so rührend zu lesen, wie diese Ergießungen einer tief verstehend begeisterten, oft feurig beredten, in demutsvoller Andacht hingegebenen Auchdichterseele.

Die Geschichte seines Lebens, die er in den[S. ix] Jahren der Reife, 1781 und weiter, schrieb, gab er hernach seinem Seelenhirten und begönnernden Freund, dem Pfarrer Martin Imhof zu Wattwil, nebst andern Werken seiner Feder zu lesen; durch Imhof kam sie zu H. G. Füßli, dem Inhaber der Buchhandlung Orell Geßner Füßli und Comp. in Zürich, auch Schriftsteller, Lehrer und Staatsmann. Füßli teilte 1788 im »Schweizerischen Museum« das erste Probestück mit, das, wie er selber erzählt, »auch unter den verschiedensten Klassen von Lesern allgemeinen Beifall fand«. »Man mochte die einander ziemlich schnell gefolgten Fortsetzungen kaum erwarten; niemals wurde auch die gespannteste Neugierde getäuscht, und jedesmal nach dem Verfasser lüsterner gemacht.« Durch diesen Erfolg ermutigt gab Füßli 1789 das Ganze als Buch heraus, unter dem Titel: »Lebensgeschichte und Natürliche Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg«. Nur wenige Schilderungen aus dem[S. x] eigenen Leben gibt es auf der Erde, die an Frische, Natur, Anmut, Poesie mit Ulrich Braekers Werk zu vergleichen sind. Wie er seine Geißhirtenjahre, wie er seine Liebe zu Ännchen erzählt, das ist des größten Künstlers würdig. Aber alles lebt. Alles blüht auch. Oft reißt uns eine dramatische Kraft mit sich fort. Und ein Wunderding zum Kopfschütteln ist, wie ein Mensch, in dem keine kriegerische Ader lebte, die Lowositzer Schlacht beschrieben hat, in der er (der durch Werberlist Verlockte) desertiert.

[S. xii]

Fast um dieselbe Zeit, in der Goethes Prosa sich im »Werther« zu ihrer höchsten Jugendblüte entfaltete, rang sich im alemannischen Gebirge ein ungebildeter Weber zu einem Schriftsteller empor, den man ruhig neben Goethe nennen kann; ja vielleicht steht als Prosadichter niemand dem jungen Goethe so nahe wie er. Es war eine Begabung in ihm, die man immer anstaunen muß, schwer begreifen kann. Er hatte alle Eigenschaften des Dichters, nur Erfindung fehlte; von den Tönen, die unsere ganze Natur mit Kunst ergreifen, hat ihm vielleicht keiner gefehlt. Mitten in musenlosester Umgebung, in allen Bitternissen widerwärtigster Art, in selbstbildender, unberatener Einsamkeit, gewinnt er einen solchen Reichtum an Stimmungen, Vorstellungen, Empfindungen, einen so hohen, unzerstörbar freudigen Lebenssinn, eine solche Stufenleiter von Ausdrucksmitteln, daß man gerührt und beschämt vor diesem Naturwunder steht. Zuweilen, durch irgendein angelesenes Gefühl fortgetragen, zieht er wohl an einem fremden, kunstmäßigen Geläut; im nächsten Augenblick kehrt er zur Natur zurück. Kein Mensch hat lebendiger erzählt als er. Eine der schönsten Erscheinungen in der deutschen Literaturgeschichte; eine allerhöchste Bekräftigung und Bestätigung, daß die große Zeit unsrer Poesie aus der Urkraft unsres Volks hervorgegangen ist.

Für den hier vorliegenden Neudruck der Lebensgeschichte ist eine so wünschens- wie dankenswerte Arbeit gemacht worden: die früheren Ausgaben, die von Füßli und die von Eduard Bülow, sind verglichen und auseinander verbessert oder ergänzt worden, wo es möglich war; da beide Herausgeber dem Urtext nicht überall treu gefolgt sind, sondern mit persönlicher Willkür gekürzt, auch »verbessert« haben. So ist denn diese Ausgabe, wenn sie auch nicht die verschwundene Urhandschrift zugrunde legen konnte, jedem andern Abdruck vorzuziehen.

Adolf Wilbrandt



Das Leben und die Abenteuer
des armen Mannes im Tockenburg
Von ihm selbst erzählt


[S. 1]

Kindheit

Meine Voreltern

Meiner Voreltern wegen bin ich so unwissend, als es wenige sein mögen. Daß ich Vater und Mutter gehabt, weiß ich. Meinen seligen Vater kannt' ich viele Jahre, und meine Mutter lebt noch. Daß diese auch ihre Eltern gehabt, kann ich mir einbilden. Aber ich kannte sie nicht und habe auch nichts von ihnen vernommen, außer daß mein Großvater, M. Bräker, aus dem Käbisboden gebürtig gewesen, und meine Großmutter, deren Namen und Heimat ich niemals vernommen, an meines Vaters Geburt gestorben sei. Meinen Vater nahm daher ein kinderloser Vetter im Näbis, der Gemeind Wattwil, an Kindes Statt an, und den hielt und liebte ich nebst seiner Frau für meine rechten Großeltern, so wie sie mich hinwieder auch als Großkind behandelten. Meine mütterlichen Großeltern ab der Laad kannte ich noch wohl.

Mein Vater war sein Tage ein armer Mann; auch meine ganze Freundschaft hatte keinen reichen Mann aufzuweisen. Unser Geschlecht gehört zu dem Stipendigut. Wenn ich oder meine Nachkommen einen Sohn wollten studieren lassen, hätte er sechshundert Gulden zu beziehen. Ich weiß aber noch von keinem Bräker, der studiert hätte. Mein Vater hat viele Jahre das Hofjüngergeld bekommen, ist aber bei einer vorgenommenen Reform nebst andern Geschlechtern, welche wie das seinige, nicht genugsame Urkunden darbringen[S. 2] mochten, ausgemerzt worden. Mit der Genoßsame des Stipendii hingegen hat es seine Richtigkeit, obschon ich nicht recht weiß, wie es gestiftet worden und wer von meinen Voreltern dazu geholfen hat.

Ich habe also nicht Ursach, ahnenstolz zu sein. Alle meine Freunde und Blutsverwandten sind unbemittelte Leute, und von allen meinen Vorfahren hab' ich nichts anderes gehört. Fast von keinem, der das geringste Ämtli bekleidete. Meines Großvaters Bruder war Mesmer zu Kappel, und sein Sohn Stipendipfleger. Das ist alles aus der ganzen weitläufigen Verwandtschaft. Da können wir wohl vor dem Hochmut gesichert sein, der so viele arme Narren anwandelt, wenn sie reiche und angesehene Vettern haben, obgleich ihnen diese keinen Pfifferling geben. Nein! Von uns Bräkers quält diese Sucht, soviel ich weiß, keinen einzigen; und daß sie auch mich nicht plagt, sieht man; — sonst hätt' ich wenigstens unserm Stammbaum genauer nachgeforscht. Ich weiß, daß mein Großvater und dessen Vater arme Leute waren, die sich kümmerlich nähren mußten, daß mein Vater keinen Pfennig erbte, daß ihn die Not sein Leben lang drückte, und er nicht selten über seine kleine Schuldenlast seufzte. Aber deswegen schäm' ich mich meiner Eltern und Voreltern bei weitem nicht. Vielmehr bin ich noch eher ein bißchen stolz auf sie. Denn, ihrer Armut ungeachtet, hab' ich von keinem Dieb oder sonst einem Verbrecher, den die Justiz hätte strafen müssen, von keinem Lasterbuben, Schwelger, Flucher[S. 3] oder Verleumder unter ihnen gehört, von keinem, den man nicht als einen Biedermann mußte gelten lassen, der sich nicht ehrlich und redlich in der Welt nährte, von keinem, der betteln ging. Dagegen kannt' ich recht manchen wackern, frommen Mann mit zartem Gewissen. Das ist's allein, worauf ich stolz bin und wünsche, daß auch meine Kinder stolz werden, daß wir diesen Ruhm nicht besudeln, sondern denselben fortzupflanzen suchen.

Mein Geburtstag

Der für mich wichtige Tag meiner Geburt ist der zweiundzwanzigste Dezember 1735. Ich sei ein bißchen zu früh auf der Welt erschienen, sagte man mir. Meine Eltern mußten sich dafür verantworten. Mag sein, daß ich mich schon im Mutterleibe nach Tageslicht gesehnt habe, und dies nach dem Licht Sehnen geht mir all mein' Tage nach! Daneben war ich die erste Kraft meines Vaters, und Dank sei ihm unter der Erde von mir auch dafür gesagt! Er war ein hitziger Mann, voll warmen Blutes. O, ich habe schon tausendmal drüber nachgedacht, und mir bisweilen einen andern Ursprung gewünscht, wenn flammende Leidenschaften in meinem Busen tobten, und ich den heftigsten Kampf mit ihnen bestehen mußte. Aber sobald Sturm und Wetter vorbei war, dankt' ich ihm doch wieder, daß er mir sein feuriges Temperament mitgeteilt hat, womit ich unzählige schuldlose Freuden lebhafter als so viele andere Leute genießen kann. Genug, an diesem zweiundzwanzigsten Dezember kam ich ans Tageslicht. Mein Vater sagte mir oft, er habe sich gar nicht über mich gefreut,[S. 4] ich sei ein armes, elendes Geschöpf gewesen; nichts als kleine Beinerchen, mit einem verschrumpften Häutchen überzogen; und doch hätt' ich Tag und Nacht ein Zetergeschrei erhoben, das man bis ins Holz hören können. Er hat mich oft recht bös gemacht. Dachte: »Ha, ich werd's auch gemacht haben wie andre neugeborene Kinder!« Aber die Mutter gab ihm allemal Beifall. Nun, es kann sein.

Am heiligen Weihnachtstag ward ich in Wattwil getauft und ich freute mich schon oft, daß es gerad an diesem Tage geschah, da wir die Geburt unsers Erlösers feiern. Wenn's eine einfältige Freude ist, was macht's? gibt's doch gewiß noch viel kindischere! Meine Taufpaten waren ein feuriger reicher Junggesell von Kappel aus der Au und eine bemittelte hübsche Jungfer aus der Schamaten. Er starb ledig; sie lebt noch im Witwenstand.

Erstes Lebensjahr

In meinen ersten Lebensjahren mag ich wohl ein wenig verzärtelt worden sein, wie's gewöhnlich mit ersten Kindern geht. Doch wollte mein Vater schon früh genug mit der Rute auf mich dar; aber die Mutter und Großmutter nahmen mich in Schutz. Mein Vater war wenig daheim; er brannte hier und da im Land und an benachbarten Orten Salpeter. Wenn er dann wieder nach Hause kam, war er mir fremd. Ich floh ihn. Dies verdroß den guten Mann so sehr, daß er mich mit der Rute zahm machen wollte.

[S. 5]

Mein fernstes Denken

Ich kann mich beinah bis auf mein zweites Lebensjahr zurückerinnern. Ganz deutlich besinn' ich mich, wie ich auf allen Vieren einen steinigen Fußweg hinabkroch, und einer alten Base durch Gebärden Äpfel abbettelte. — Ich weiß gewiß, daß ich wenig Schlaf hatte und daß meine Mutter, um hinter den Großeltern einen geheimen Pfennig zu verdienen, des Nachts verstohlner Weise beim Licht gesponnen hat. Wenn ich dann nicht in der Kammer allein bleiben wollte, mußte sie eine Schürze auf den Boden spreiten, worauf sie mich nackt setzte und ich mit dem Schatten und ihrer Spindel spielte. Ich weiß, daß sie mich oft durch die Wiese auf dem Arm dem Vater entgegentrug und daß ich ein Mordiogeschrei anfing, sobald ich ihn erblickte, weil er mich immer rauh anfuhr, wenn ich nicht zu ihm wollte. Seine Figur und Gebärden, die er machte, seh ich jetzt noch lebendig vor mir.

Zeitumstände

Um diese Zeit waren alle Lebensmittel wohlfeil, aber wenig Verdienst im Lande. Die Teuerung und der Zwölferkrieg waren noch in frischem Angedenken. Ich hörte meine Mutter viel davon erzählen, das mich zittern und beben machte. Erst zu Ende der dreißiger Jahre ward das Baumwollspinnen in unserem Dorf eingeführt, und meine Mutter mag eine von den ersten gewesen sein, die Lötligarn[1] gesponnen. Unser Nachbar trug das erste um einen Schilling Lohn an den Zürchsee, bis er eine eigne Dublone vermochte. Dann fing[S. 6] er selber an zu kaufen und verdiente nach und nach etlich tausend Gulden. Da hörte er auf, setzte sich zur Ruhe, und starb. In meinen Kinderjahren sind auch die ersten Erdäpfel in unserm Ort gepflanzt worden.

Schon in Gefahr

Sobald ich die ersten Hosen trug, war ich meinem Vater schon lieber. Er nahm mich hier und da mit sich. Im Herbst des Jahres 1739 brannte er im Gandten, eine halbe Stunde von Näbis entfernt, Salpeter. Eines Tages nahm er mich mit, und da Wind und Wetter einfiel, behielt er mich zu Nacht bei sich. Die Salpeterhütte war vor dem Tenn,[2] und sein Bett im Tenn. Er legte mich darein und sagte liebkosend, er wolle bald auch zu mir liegen. Unterdessen fuhr er fort zu feuern und ich schlief ein. Nach einem Weilchen erwacht' ich wieder und rief ihm. Keine Antwort. Ich stand auf, trippelte im Hemdli nach der Hütte und um den Gaden[3] überall herum, rief, schrie: nirgends kein Vater. Run glaubt' ich gewiß, er wäre heim zu der Mutter gegangen. Ich also hurtig, legte die Höslin an, nahm das Brusttüchlin übern Kopf, und rannte in der stockfinstern Regennacht zuerst über die nächstanstoßende lange Wiese. Am End derselben rauschte ein wildangelaufener Bach durch ein Tobel.[4] Den Steg konnt' ich nicht finden, und wollte darum ohne weiteres gerade hinüber, dem Näbis zu, glitschte aber[S. 7] über eine Riese[5] zum Bach hinab, wo mich das Wasser beinahe ergriffen hätte. Die äußerste Anstrengung meiner jugendlichen Kräfte half mir noch glücklich davon. Ich kroch wieder auf allen Vieren durch Stauden und Dörn' hinauf, der Wiese zu, auf welcher ich überall herumirrte, und den Gaden nicht mehr finden konnte. Gegen eine Windhelle ward ich zwei Kerls, Birn- oder Apfeldiebe, auf einem Baum ansichtig. Diesen ruft' ich zu, sie sollten mir auf den Weg helfen. Aber da war kein Bescheid; vielleicht, daß sie mich für ein Ungeheuer hielten und oben im Gipfel noch ärger zittern mochten, als ich armer Bube unten im Kot. Inzwischen war mein Vater, der während meinem Schlummer nach einem ziemlich entfernten Haus etwas zu holen gegangen, zurückgekehrt. Da er mich vermißte, suchte er in allen Winkeln nach, wo ich mich möchte verkrochen haben. Er zündete bis in die siedenden Kessel hinein, hörte endlich mein Geschrei, dem er nachging, und machte mich nun bald ausfindig. O, wie er mich da herzte und küßte, mit Freudentränen Gott dankte, und mich, sobald wir zum Gaden zurückkamen, sauber und trocken machte. Ich war mausnaß, dreckig bis über die Ohren, und hatte aus Angst noch in die Hosen ... Morndeß[6] am Morgen führte er mich an der Hand durch die Wiese: ich sollt' ihm den Ort zeigen,[S. 8] wo ich heruntergepurzelt. Ich konnt' ihn nicht finden. Zuletzt fand er ihn an dem Geschlirpe, das ich beim Hinabrutschen gemacht hatte, und schlug die Händ' überm Kopf zusammen, vor Entsetzen über die Gefahren, worin ich geschwebt, und vor Lob und Preis der Wunderhand Gottes, die mich allein erretten können. »Siehst du,« sprach er, »nur noch wenige Schritte, so stürzt der Bach über den Felsen hinab. Hätt' dich das Wasser fassen können, so lägst du dort unten tot und zermürset!« Von allem diesem begriff ich damals kein Wort; ich wußte nur von meiner Angst, nichts von Gefahr. Besonders aber schwebten die Kerle auf dem Baum mir viele Jahre vor Augen, sobald mich nur ein Wort an die Geschichte erinnerte.

Unsre Nachbarn

Der Näbis liegt im Berg, ob Scheftenau. Von Kappel hört man die Glocke läuten und schlagen. Es sind nur zwei Häuser. Die aufgehende Sonne strahlt beiden gerad in die Fenster. Meine Großmutter und die Frau im andern Haus waren Schwestern; fromme alte Mütterle, welche von andern gottseligen Weibern in der Nachbarschaft fleißig besucht wurden. Damals gab es viel fromme Leute daherum. Mein Vater, Großvater und andere Männer sahen's zwar ungern, durften aber nichts sagen, aus Furcht, sie könnten sich versündigen. Der Betbeele (seinem Bruder sagte man Schwörbeele) war ihr Lehrer, ein großer langer Mann,[S. 9] der sich vom Kuderspinnen[7] und etwas Almosen nährte. In Scheftenau war fast in jedem Haus eins, das ihm anhing. Meine Großmutter nahm mich oft mit zu diesen Zusammenkünften. Was eigentlich da verhandelt wurde, weiß ich nicht mehr, nur so viel, daß mir dabei die Weil verzweifelt lang ward. Ich mußte mäuslinstill sitzen, oder gar knieen. Dann gab's unaufhörliche Ermahnungen und Bestrafungen von den Basen allen, die ich so wenig verstund als eine Katze. Dann und wann stahl mich mein Großvater zum voraus weg, und mußt' ich mit ihm in den Berg, wo unsre Kühe weideten. Da zeigte er mir allerlei Vögel, Käfer und Würmchen, dieweil er die Matten säuberte, oder junge Tännchen, den wilden Seevi[8] und anderes ausraufte. Wenn er alles an einen Haufen warf und es bei einbrechendem Abend anzündete, war's mir erst recht gekocht. Anderer Buben, die etwa dabei sein mochten, erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber etlicher halberwachsener Maidlinen, die mit mir spielten. Ich ging damals in mein sechstes Jahr und hatte schon zwei Brüder und eine Schwester, von denen es hieß, daß eine alte Frau sie in einer Butte gebracht.

Wanderung nach Dreyschlatt

Mein Vater hatte einen Wandergeist, der zum Teil auch auf mich gekommen ist. Im Jahre 1741 kaufte er ein groß Gut, für acht Kühe Sömmer- und Winterung,[S. 10] Dreyschlatt genannt, in der Gemeind Krinau, zu hinterst in einer Wildnis, nahe an den Alpen. Das nicht halb so große Gütchen im Näbis verkaufte er dafür, weil er, wie er sagte, sah, daß ihn eine große Haushaltung anfallen wolle, und damit er für viele Kinder Platz und Arbeit genug habe, die er in dieser Einöde nach seinem Willen erziehen könne, wo sie vor der Verführung der Welt sicher seien. Auch riet der Großvater, der von Jugend an ein starker Viehmann gewesen, sehr dazu. Aber mein guter Ätti verband sich den unrechten Finger, und watete sich, da er an das Gut nichts zu geben hatte, in eine Schuldenlast hinein, unter welcher er nachwärts dreizehn Jahre lang genug seufzen mußte. Also im Herbst 1741 zügelten wir mit Sack und Pack ins Dreyschlatt. Mein Großätti war Senn, ich jagte die Kühe nach, mein kleiner nur zwanzig Wochen alter Bruder ward in einem Korb getragen. Mutter und Großmutter mit den zwei andern Kindern kamen hinten nach, und der Vater mit dem übrigen Plunder beschloß den Zug.

Ökonomische Einrichtung

Mein Vater wollte das Salpetersieden nicht aufgeben, und dachte damit wenigstens etwas zu Abherrschung der Zinse zu verdienen. Aber so ein Gut, wie das Dreyschlatt, braucht Händ' und Armschmalz. Wir Kinder waren noch für nichts zu rechnen; der Großätti hatte mit dem Vieh, und die Mutter genug im Haus zu tun. Es mußten also ein Knecht und eine Magd gedungen werden. Im folgenden Frühjahr ging[S. 11] der Vater wieder dem Salpeterwerk nach. Inzwischen hatte man mehr Küh' und Geißen angeschafft. Der Großätti zog jungen Fasel[9] nach. Das war mir eine Tausendslust, mit den Gitzen so im Gras herumzulaufen, und ich wußte nicht, ob der Alte eine größere Freud' an mir oder an ihnen hatte, wenn er sich, nachdem das Vieh besorgt war, an unsern Sprüngen ergötzte. So oft er vom Melken kam, nahm er mich mit sich in den Milchkeller, zog dann ein Stück Brot aus dem Futterhemd, brockt' es in eine kleine Mutte, und machte ein kühwarmes Milchsüppli. Das aßen ich und er alle Tage. So verging mir meine Zeit unter Spiel und Herumtrillern, ich wußt' nicht wie? Dem Großätti ging's ebenso. Aber, aber — Knecht und Magd taten inzwischen was sie gern wollten. Die Mutter war ein gutherziges Weib, nicht gewohnt, jemand mit Strenge zur Arbeit anzuhalten. Es mußte allerhand Milch- und Werkgeschirr gekauft werden, und da man viel Weide zu Wiesen einschlug, auch Heu und Stroh, um mehr Mist zu machen. Im Winter hatten wir allemal zu wenig Futter, oder zu viel fressende War. Man mußt' immer mehr Geld entlehen, die Zinse häuften sich, und die Kinder wurden größer, Knecht und Magd feist, der Vater mager.

Tod des Großvaters

Er merkte endlich, daß so die Wirtschaft nicht gehen könne. Er änderte sie also und gab das Salpetersieden[S. 12] auf, blieb daheim, führte das Gesind selber zur Arbeit an, und war allenthalben der erste. Ich weiß nicht, ob er auf einmal gar zu streng angefangen, oder ob Knecht und Magd, wie oben gesagt, sonst zu meisterlos geworden; kurz, sie jahrten aus[10] und liefen davon. Um die gleiche Zeit wurde der Großätti krank. Erst stach er sich nur an einem Dorn in den Daumen; der wurde geschwollen. Er band frischwarmen Kuhmist drauf; da schwoll die ganze Hand. Er empfand entsetzliche Hitz; ging zum Brunnen, und wusch den Mist unter der Röhre wieder ab. Aber das hatte nun gar böse Folgen. Er mußte sich bald zu Bett legen und bekam die Wassersucht. Er ließ sich abzapfen; das Wasser rann in den Keller hinab. Nachdem er so fünf Monate gelegen, starb er zum Leidwesen des ganzen Hauses; denn alle liebten ihn, vom Kleinsten bis zum Größten. Er war ein angenehmer, Freud' und Friede liebender Mann. Er hatte an meinem Vater und mir ungemein viel getan, und ich habe nie von einem Menschen Böses über ihn sagen gehört. Mein Vater und Mutter erzählten noch viele Jahre allerhand Löbliches und Schönes von ihm. Als ich ein wenig zu Verstand kam, erinnerte ich mich seiner erst recht, und verehrt' ihn im Staub und Moder. Er liegt im Kirchhof zu Krinau begraben.

Die nächsten Folgen

[S. 14]

Nun wurde wieder eine Magd angeschafft; die war dem Vater recht, weil sie brav arbeitete. Aber Mutter und Großmutter konnten sie nicht leiden, weil sie glaubten, sie schmeichle dem Vater, und trag' ihm alles zu Ohren. Auch war sie krätzig, so daß wir alle die Raud von ihr erbten. Und kurz, die Mütter ruhten nicht; sie mußte fort, und eine andre zu. Die war nun ihnen recht, aber dem Vater nicht, weil sie nur das Haus- aber nicht das Feldwerk verstand. Auch meinte er, sie helfe den Weibern allerhand verschmauchen. Jetzt gab's bald alle Tage Zank. Die Weibervölker stunden zusammen, der Mann hinwieder glaubte, er sei einmal Meister, und kurz, es schien, als wenn der alte Näbis-Joggeli einen guten Teil vom Hausfrieden mit sich unter den Boden genommen hätte. Aus Verdruß ging der Vater einstweilig wieder dem Salpetersieden nach, übergab die Wirtschaft seinem Bruder, als Knecht, und glaubte mit einem so nahen Blutsfreunde wohl versorgt zu sein. Er betrog sich. Er konnt' ihn nur ein Jahr behalten und sah noch zu rechter Zeit die Wahrheit des Sprichworts ein: Wer will, daß es ihm ling, schau selber zu seinem Ding! Nun ging er nicht mehr fort, trat aufs neue an die Spitze der Haushaltung, arbeitete über Kopf und Hals, und hirtete die Kühe selber; ich war sein Handbub, und mußte mich brav tummeln. Die Magd schaffte er ab und dingte dafür einen Geißenknab, da er jetzt einen Fasel Geißen gekauft, mit deren Mist er viel Weid und Wiesen machte. Inzwischen wollten ihn die Weiber noch immer meistern; das konnt' er nicht leiden; 's gab wieder allerlei Händel. Endlich, da er einmal der Großmutter in der Hitz' ein Habermußbecken nachgeschmissen, lief sie davon, und ging wieder zu ihren Freunden in den Näbis. Die Sach' kam vor die Amtsleut. Der Vater mußt' ihr alle Wochen sechs Batzen und etwas Schmalz geben. Sie war ein kleines buckliges Fräulein, mir eine liebe Großmutter, die hinwieder auch mich hielt wie ihr rechtes Großkind, aber, die Wahrheit zu sagen, ein wenig wunderlich, wetterwendisch, ging immer den sogenannten Frommen nach und fand doch niemand recht nach ihrem Sinn. Ich mußt' ihr alle Jahr die Metzgeten[11] bringen, und blieb dann ein paar Tage bei ihr. Da war gut Leben, ich ließ mir's schmecken, ihre wohlgemeinten Ermahnungen hingegen zum einen Ohr ein und zum andern wieder aus. Gewiß kein Ruhm für mich. Aber dergleichen Buben machen's leider Gott erbarm! so. Zuletzt war sie einige Jahre blind, und starb endlich in der Feuerschwand in einem hohen Alter im Jahre 50, 51, oder 52. Sie vermachte mir ein Buch, Arndts wahres Christentum, apart. Sie war gewiß ein gottseliges Weib, in der Schamaten hoch estimiert, und die Leut dort sind mir noch besonders lieb um ihretwillen. Auch glaub' ich gewiß noch Glück von ihr her zu haben; denn Elternsegen ruht auf Kindern und Kindeskindern.

[S. 15]

Allerlei Schicksale

[S. 16]

Unsre Haushaltung vermehrte sich. Es kam alle zwei Jahr geflissentlich ein Kind; Tischgänger genug, aber darum keine Arbeiter. Wir mußten immer viel Taglöhner haben. Mit dem Vieh war mein Vater nie recht glücklich, es gab immer etwas krankes. Er meinte, die starken Kräuter auf unsrer Weid seien nicht wenig schuld daran. Der Zins überstieg alle Jahr die Losung.[12] Wir reuteten viel Wald aus, um mehr Mattland und Geld von dem Holz zu bekommen; und doch kamen wir je länger je tiefer in die Schulden, und mußten immer aus einem Sack in den andern schleufen. Im Winter sollten ich und die ältesten, welche auf mich folgten, in die Schule; aber die dauerte zu Krinau nur zehn Wochen, und davon gingen uns wegen tiefem Schnee noch etliche ab. Dabei konnte man mich schon zu allerlei Nützlichem brauchen. Wir sollten anfangen, Winterszeit etwas zu verdienen. Mein Vater probierte aller Gattung Gespunst: Flachs, Hanf, Seiden, Wollen, Baumwollen; auch lehrte er uns letztere kämbeln, Strümpfstricken und dergleichen. Aber keins warf damals viel Lohn ab. Man schmälerte uns den Tisch, meist Milch und Milch, ließ uns lumpen und lempen,[13] um zu sparen. Bis in mein sechzehntes Jahr ging ich selten, und im Sommer barfuß in meinem Zwilchröcklin, zur Kirche. Alle Frühjahr mußte der Vater mit dem Vieh oft weit nach Heu fahren und es teuer bezahlen.


Bubenjahre

Knabenspiele

[S. 18]

Indessen kümmerte mich alle dies kein Haar. Auch wußt' ich eigentlich nichts davon, und war überhaupt ein leichtsinniger Bube, wie es je einen gab. Alle Tag dacht' ich dreimal ans Essen, und damit aus. Wenn mich der Vater nur mit langanhaltender oder strenger Arbeit verschonte, oder ich eine Weile davonlaufen konnte, war mir alles recht. Im Sommer sprang ich in der Wiese und an den Bächen herum, riß Kräuter und Blumen ab, und machte Sträuße wie Besen; dann durch alles Gebüsch, den Vögeln nach, kletterte auf die Bäume und suchte Nester. Oder ich las ganze Haufen Schneckenhäuslein oder hübsche Steine zusammen. War ich müd', so setzt' ich mich an die Sonne und schnitzte zuerst Hagstecken,[14] dann Vögel, und zuletzt gar Kühe; denen gab ich Namen, zäunt' ihnen eine Weid ein, baut' ihnen Ställe, und fütterte sie, verhandelte dann bald dies bald jenes Stück, und machte immer wieder schönere. Ein andermal richtete ich Öfen und Feuerherd auf und kochte aus Sand und Lett[15] einen saubern Brei. Im Winter wälzt ich mich im Schnee herum, und rutschte bald in einer Scherbe von einem zerbrochenen Napf, bald auf dem bloßen Hintern, die Gähen hinunter. Das trieb ich alles so, wie's die Jahreszeit mitbrachte, bis mir der Vater durch den Finger pfiff, oder ich sonst merkte, daß es Zeit über Zeit war. Noch hatt' ich keine Kameraden; doch wurd' ich in der Schule mit einem Buben bekannt, der oft zu mir kam, und mir allerhand Lappereien um Geld anbot, weil er wußte, daß ich von Zeit zu Zeit einen halben Batzen zu Trinkgeld erhielt. Einst gab er mir ein Vogelnest in einem Mausloch zu kaufen. Ich sah täglich darnach. Aber eines Tages waren die Jungen fort; das verdroß mich mehr, als wenn man dem Vater alle Küh' gestohlen hätte. Ein andermal, an einem Sonntag, bracht' er Pulver mit — bisher kannt' ich diesen Höllensamen nicht — und lehrte mich Feuerteufel machen. Eines Abends hatt' ich den Einfall: Wenn ich auch schießen könnte! Zu dem End' nahm ich eine alte, eiserne Brunnröhre, verklebte sie hinten mit Lehm, und machte eine Zündpfanne, auch von Lehm; in diese tat ich das Pulver, und legte brennenden Zunder daran. Da's nicht losgehen wollte, blies ich ... Puh! mir Feuer und Lehm alles ins Gesicht. Dies geschah hinterm Haus; ich merkte wohl, daß ich was Unrechtes tat. Inzwischen kam meine Mutter, die den Klapf gehört hatte, herunter. Ich war elend blessiert. Sie jammerte und half mir hinauf. Auch der Vater hatte oben in der Weide die Flamm gesehen, weil's fast Nacht war. Als er heimkam, mich im Bett antraf, und die Ursache vernahm, ward er grimmig böse. Aber sein Zorn stillte sich bald, als er mein verbranntes Gesicht erblickte. Ich litt große Schmerzen. Aber ich verbiß sie, weil ich sonst fürchtete, noch Schläge obendrein zu bekommen, und wußte, daß ich solche verdient hätte. Doch mein Vater empfand, daß ich Schläge genug habe. Vierzehn Tage sah ich keinen Stich; an den Augen hatt' ich kein Härlein mehr. Man hatte große Sorgen wegen dem Gesicht. Endlich ward's allmählig und von Tag zu Tag wieder besser. Jetzt, sobald ich vollkommen hergestellt war, machte es der Vater mit mir, wie Pharao mit den Israeliten, ließ mich tüchtig arbeiten und dachte: So würden mir die Possen am besten vergehen. Er hatte recht. Aber damals konnt' ich's nicht einsehen, und hielt ihn für einen Tyrann, wenn er mich so des Morgens früh aus dem Schlaf nahm, und an das Werk musterte. Ich meinte, das wär' eben nicht nötig; die Kühe gäben ja die Milch von sich selber.

Beschreibung von Dreyschlatt

Dreyschlatt ist ein wilder, einöder Ort, zuhinderst an den Alpen Schwämle, Kreutzegg und Aueralp; vorzeiten war's eine Sennweid. Hier gibt's immer kurzen Sommer und langen Winter, während letzterm meist ungeheuern Schnee, der oft noch im Mai ein paar Klafter tief liegt. Einst mußten wir noch am heiligen Pfingstabend einer neuangelangten Kuh mit der Schaufel zum Haus pfaden. In den kürzesten Tagen hatten wir die Sonn' nur fünf Viertelstunden. Dort entsteht unser Rotenbach, der dem Fäsi in seiner Erdbeschreibung und dem Walser in seiner Kart entwischte, ungeachtet er zweimal größer als der Schwendi- oder Lederbach[S. 19] ist, der viele Mühlen, Sägen, Walken, Stampfen und Pulvermühlen treibt. Doch beim Dreyschlatt hat es das herrlichste Quellwasser; und wir in unserm Haus und Scheuer aneinander hatten einen Brunnen, der nie gefror, unterm Dach, so daß das Vieh den ganzen Winter über nie den Himmel sah. — Wenn's im Dreyschlatt stürmt, so stürmt's recht. Wir hatten eine gute, nicht gähe Wiese von vierzig bis fünfzig Klafter Heu und eine grasreiche Weide. Auf der Sommerseite im Altischwil ist's schon früher, aber auch gäher und rauher. Holz und Stroh gibt's genug. Hinterm Haus ist ein Sonnenrain, wo's den Schnee wegbläst, der hingegen an einem Schattenrain vor dem Haus im Frühjahr oft noch liegen bleibt, wenn's an jenem schon Gras und Schmalzblumen hat. Am frühesten und am spätesten Ort auf dem Gut trifft's wohl vier Wochen an.

Ja! ja! sagte jetzt eines Tags mein Vater, der Bub wächst, wenn er nur nicht so ein Narr wäre, ein verzweifelter Lappi; auch gar kein Hirn. Sobald er an die Arbeit muß, weiß er nicht mehr, was er tut. Aber von nun an muß er mir die Geißen hüten, so kann ich den Geißbub abschaffen. Ach! sagte meine Mutter, so kommst du um Geißen und Bub. Nein! Nein! Er ist noch zu jung. Was, jung? sagte der Vater, ich will es drauf wagen, er lernt's nie jünger, die Geißen werden ihn schon lehren, sie sind oft witziger als die Buben, ich weiß sonst nichts mit ihm anzufangen.

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Der Geißbube

Mutter: Ach! was wird mir das für Sorg' und Kummer machen. Sinn' ihm auch nach! Einen so jungen Bub mit einem Fasel Geißen in den wilden, einöden Kohlwald schicken, wo ihm weder Steg noch Weg bekannt sind, und es so gräßliche Töbler hat. Und wer weiß, was für Tier sich dort aufhalten, und was für schreckliches Wetter einfallen kann? Denk' doch, eine ganze Stund' weit! und bei Donner und Hagel, oder wenn die Nacht einfällt, nie wissen, wo er ist. Das ist mein Tod, und du mußt's verantworten.

Ich: Nein, nein, Mutter! Ich will schon Sorge haben, und kann ja dreinschlagen, wenn ein Tier kommt, und vorm Wetter untern Felsen kreuchen, und wenn's nachtet, heimfahren, und die Geißen will ich, was gilt's, schon paschgen.[16]

Vater: Hörst jetzt! Eine Woche mußt' mir erst mit dem Geißbub gehen. Dann gib Achtung, wie er's macht, wie er die Geißen alle heißt und ihnen lockt und pfeift, wo er durchfahrt, und wo sie die beste Weid finden.

Der Beckle

Ja, ja! sagt' ich, sprang hochauf und dacht': Im Kohlwald bist du frei; da wird dir der Vater nicht immer pfeifen und dich von einer Arbeit zur andern jagen. Ich ging also etliche Tage mit unserm Beckle hin, so hieß der Bub, ein rauher, wilder, aber ehrlicher Bursche. Denkt doch! Er stund eines Tags wegen[S. 21] einer Mordtat im Verdacht, da man eine alte Frau, welche wahrscheinlich über einen Felsen hinunterstürzte, auf der Kreutzegg tot gefunden. Der Amtsdiener holte ihn aus dem Bett nach Lichtensteig. Man merkte aber bald, daß er ganz unschuldig war, und er kam zu meiner großen Freud noch denselben Abend wieder heim. — Nun trat ich mein neues Ehrenamt an. Der Vater wollte zwar den Beckle als Knecht behalten; aber die Arbeit war ihm zu streng, und er nahm im Frieden seinen Abschied. Anfangs wollten mir die Geißen, deren ich bis dreißig Stück hatte, kein gut tun; das machte mich wild, und ich versucht' es, ihnen mit Steinen und Prügeln den Meister zu zeigen, aber sie zeigten ihn mir, ich mußte also die glatten Wort' und das Streicheln und Schmeicheln zur Hand nehmen. Da taten sie, was ich wollte. Auf die vorige Art hingegen verscheucht' ich sie so, daß ich oft nicht mehr wußte, was anfangen, wenn sie alle ins Holz und Gesträuch liefen, und ich meist rundum keine einzige mehr erblicken konnte, halbe Tage herumlaufen, pfeifen und johlen, sie an den Galgen verwünschen, brüllen und lamentieren mußte, bis ich sie wieder beieinander hatte.

Hirtenstand

Drei Jahre hatte ich so meine Herde gehütet; sie ward immer größer, zuletzt über hundert Köpf; mir immer lieber, und ich ihnen. Im Herbst und Frühling fuhren wir auf die benachbarten Berge, oft bis zwei Stunden weit. Im Sommer hingegen durft' ich nirgends hüten als im Kohlwald, eine mehr als Stund[S. 22] weite Wüstenei, wo kein recht Stück Vieh weiden kann. Dann ging's zur Aueralp, zum Kloster St. Maria gehörig, lauter Wald, oder Kohlplätz und Gesträuch, manches dunkle Tobel und steile Felswand, an denen noch die beste Geißweid zu finden war. Von unserm Dreyschlatt weg hatt' ich alle Morgen eine Stunde Wegs zu fahren, eh' ich nur ein Tier durfte anbeißen lassen; erst durch unsre Viehweid, dann durch einen großen Wald, in die Kreuz und Quer, bald durch diese, bald durch jene Abteilung der Gegend, deren ich jede mit einem eigenen Namen taufte. Da hieß es im vordern Boden; dort, zwischen den Felsen; hier, in der Weißlauwe; dort im Köllermelch, auf der Platten, im Kessel. Alle Tag hütete ich an einem andern Ort, bald sonnen-, bald schattenhalb.[17] Zu Mittag aß ich mein Brötlein, und was mir sonst die Mutter verstohlen mitgab. Auch hatt' ich meine eigne Geiß, an der ich sog. Die Geißaugen waren meine Uhr. Gegen Abend fuhr ich immer wieder den nämlichen Weg nach Haus, auf dem ich gekommen war.

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Welche Lust, bei angenehmen Sommertagen über die Hügel fahren, durch Schattenwälder streichen, durchs Gebüsch Eichhörnchen jagen und Vogelnester ausnehmen! Alle Mittag lagerten wir uns am Bach; da ruhten meine Geißen zwei bis drei Stunden aus, wann es heiß war noch mehr. Ich aß mein Mittagsbrot, sog mein Geißchen, badete im spiegelhellen Wasser und spielte mit den jungen Gitzen. Immer hatt' ich einen Gertel[18] oder eine kleine Axt bei mir und fällte junge Tännchen, Weiden oder Ilmen. Dann kamen meine Geißen haufenweis und kafelten[19] das Laub ab. Wenn ich ihnen Leck, Leck rufte, ging's gar im Galopp, und wurd' ich von ihnen wie eingemauert. Alles Laub und Kräuter, die sie fraßen, kostete auch ich; und einige schmeckten mir sehr gut. Solang der Sommer währte, florierten die Erd-, Im-, Heidel- und Brombeeren; deren hatt' ich immer vollauf, und konnte noch der Mutter am Abend mehr als genug nach Haus bringen. Das war ein herrliches Labsal, bis ich mich einst daran zum Ekel überfraß. Und welch' Vergnügen machte mir jeder Tag, jeder neue Morgen! wenn jetzt die Sonne die Hügel vergoldete, denen ich mit meiner Herde entgegenstieg, dann jenen haldigen Buchenwald, und endlich die Wiesen und Weidplätze beschien. Tausendmal denk' ich dran, und oft dünkt's mich, die Sonne scheine jetzt nicht mehr so schön. Wenn dann alle anliegenden Gebüsche von jubilierenden Vögeln ertönten, und dieselben um mich her hüpften, oh! was fühlt' ich da! Ha, ich weiß es nicht! Halt süße, süße Lust! Da sang' und trillerte ich mit, bis ich heiser ward. Ein andermal spürte ich den muntern Waldbürgern durch alle Stauden nach, ergötzte mich an ihrem hübschen Gefieder, und wünschte, daß sie nur halb so zahm wären wie meine Geißen, beguckte ihre Jungen und ihre Eier, und erstaunte über den wundervollen Bau ihrer Nester. Oft fand ich deren in der Erde, im Moos, im Farrn, unter alten Stöcken, in den dicksten Dörnern, in Felsritzen, in hohlen Tannen oder Buchen; oft hoch im Gipfel, in der Mitte, zu äußerst auf einem Ast. Meist wußt' ich ihrer etliche. Das war mir eine Wonne, und fast mein einziges Sinnen und Denken, alle Tag gewiß einmal nach allen zu sehn, wie die Jungen wuchsen, wie das Gefieder zunahm, wie die Alten sie fütterten. Anfangs trug ich einige mit mir nach Haus, oder brachte sie sonst an einen bequemeren Ort. Aber dann waren sie dahin. Nun ließ ich's bleiben und sie lieber groß werden. Da flogen sie mir aus. Ebensoviel Freuden brachten mir meist meine Geißen. Ich hatte von allen Farben, große und kleine, kurz- und langhaarige, bös- und gutgeartete. Alle Tage ruft' ich sie zwei- bis dreimal zusammen und überzählte sie, ob ich's voll habe? Ich hatte sie gewöhnt, daß sie auf mein Zub, Zub! Leck, Leck! aus allen Büschen hergesprungen kamen. Einige liebten mich sonderbar, und gingen den ganzen Tag nie einen Büchsenschuß weit von mir; wenn ich mich verbarg, fingen sie alle ein Zetergeschrei an. Von meinem Duglöörle, so hieß ich meine Mittagsgeiß, konnt' ich mich nur mit List entfernen. Das war ganz mein eigen. Wo ich mich setzte oder legte, stellte es sich über mich hin, und war gleich[S. 25] parat zum Saugen oder Melken; und doch mußt' ich's in der besten Sommerszeit oft noch ganz voll heimführen. Andremal melkt' ich es einem Köhler, bei dem ich manche liebe Stund zubrachte, wenn er Holz schrotete oder Kohlhaufen brannte.

Welch' Vergnügen dann am Abend, meiner Herde auf meinem Horn zur Heimreise zu blasen! Zuzuschauen, wie sie alle mit runden Bäuchen und vollen Eutern dastunden, und zu hören, wie munter sie sich heimblökten. Wie stolz war ich, wann mich der Vater lobte, daß ich gut gehütet habe! Run ging's an ein Melken, bei gutem Wetter unter freiem Himmel. Da wollte jede zuerst über dem Eimer von der drückenden Last ihrer Milch los sein und beleckte dankbar ihren Befreier.

Nicht daß lauter Lust beim Hirtenleben wäre! Potz Tausend, nein! Da gibt's Beschwerden genug. Für mich war's lang die empfindlichste, des Morgens so früh mein warmes Bettlin zu verlassen, und bloß und barfuß ins kalte Feld zu marschieren, wenn's zumal einen baumstarken Reif hatte, oder ein dicker Nebel über die Berge herabging. Wenn dann dieser gar so hoch ging, daß ich ihm mit meiner bergansteigenden Herde das Feld nicht abgewinnen und keine Sonn' erreichen konnte, verwünscht' ich ihn in Ägypten hinein, und eilte, was ich eilen konnte, aus der Finsternis wieder in ein Tälchen hinab. Erhielt ich hingegen den Sieg, und gewann die Sonne und den hellen Himmel über mir, das große Weltmeer von Nebeln, und hie[S. 26] und da einen hervorragenden Berg, wie eine Insel unter meine Füße, was das dann für ein Stolz und eine Lust war! Da verließ ich den ganzen Tag die Berge nicht, und mein Aug' konnt' sich nie satt schauen, wie die Sonnenstrahlen auf diesem Ozean spielten, und Wogen von Dünsten in den seltsamsten Figuren sich drauf herumtaumelten, bis sie gegen Abend mich wieder zu übersteigen drohten. Dann wünscht' ich mir Jakobs Leiter; aber umsonst, ich mußte fort. Ich ward traurig, und alles stimmte in meine Trauer ein. Einsame Vögel flatterten matt und mißmütig über mir her, und die großen Herbstfliegen summsten mir so melancholisch um die Ohren, daß ich weinen mußte. Dann fror ich fast noch mehr als am frühen Morgen, und empfand Schmerzen an den Füßen, obgleich diese so hart als Sohlleder waren. Auch hatt' ich die meiste Zeit Wunden oder Beulen an ein paar Gliedern, und wenn eine Blessur heil war, macht' ich mir richtig wieder eine andre, sprang entweder auf einen spitzen Stein auf, verlor einen Nagel oder ein Stück Haut an einem Zehen, oder hieb mir mit meinen Instrumenten eins in die Finger. Ans Verbinden war selten zu gedenken; und doch ging's meist bald vorüber. Die Geißen hiernächst machten mir, wie schon gesagt, anfangs großen Verdruß, wenn sie mir nicht gehorchen wollten, weil ich ihnen nicht recht zu befehlen verstund. Ferner prügelte mich der Vater nicht selten, wenn ich nicht hütete, wo er mir befohlen hatte, und nur hinfuhr, wo ich gerne[S. 27] sein mochte, und die Geißen nicht das rechte Bauchmaß heimbrachten, oder er sonst ein loses Stücklein von mir erfuhr. Dann hat ein Geißbub überhaupt viel von andern Leuten zu leiden. Wer will einen Fasel Geißen immer so in Schranken halten, daß sie nicht einem Nachbar in die Wiesen oder Weid gucken? Wer mit soviel lüsternen Tieren zwischen Korn- und Haberbrachen, Räb- und Kabisäckern[20] durchfahren, daß keins ein Maul voll versuchte? Da ging's an ein Fluchen und Lamentieren: Bärenhäuter! Galgenvogel! waren meine gewöhnlichen Ehrentitel. Man sprang mir mit Äxten, Prügeln und Hagstecken, einst gar einer mit einer Sense nach, der schwur, mir ein Bein vom Leibe wegzuhauen. Aber ich war leicht genug auf den Füßen, und nie hat mich einer erwischen mögen. Die schuldigen Geißen wohl haben sie mir oft ertappt und mit Arrest belegt; dann mußte mein Vater hin und sie lösen. Fand er mich schuldig, so gab's Schläge. Etliche unsrer Nachbarn waren mir ganz besonders widerwärtig und richteten mir manchen Streich auf den Rücken. Dann dacht' ich freilich: Wartet nur, ihr Kerls, bis mir eure Schuh' recht sind, so will ich euch auch die Buckel salben. Aber man vergißt's, und das ist gut. Und dann hat das Sprichwort doch auch seinen wahren Sinn: »Wer will ein Biedermann sein und heißen, der hüt' sich vor Tauben und Geißen.« — So gibt es freilich dieser und[S. 28] anderer Widerwärtigkeiten genug in dem Hirtenstand. Aber die bösen Tage werden reichlich von den guten ersetzt, wo es gewiß keinem König so wohl ist.

Neue Lebensgefahren

Im Kohlwald war eine Buche gerad über einem mehr als turmhohen Fels herausgewachsen, so daß ich über ihren Stamm wie über einen Steg spazieren und in eine gräßlich finstre Tiefe hinabgucken konnte; wo die Äste angingen, stund sie wieder geradeauf. In dieses seltsame Nest bin ich oft gestiegen und hatte meine größte Lust daran, so in den fürchterlichen Abgrund zu schauen, um zu sehen, wie ein Bächlein neben mir herunterstürzte und sich in Staub zermalmte. Einst schwebte mir diese Gegend im Traume so schauderhaft vor, daß ich von da an nicht mehr hinging. Ein andermal befand ich mich mit meinen Geißen jenseits der Aueralp, auf der Dürrwälder Seite gegen den Rotenstein. Ein Junges hatte sich zwischen zween Felsen verstiegen und ließ eine jämmerliche Melodie von sich hören. Ich kletterte nach, um ihm zu helfen. Es ging so eng und gäh, und zickzack zwischen Klippen durch, daß ich weder obsich noch niedsich[21] sehen konnte und oft auf allen Vieren kriechen mußte. Endlich verstieg ich mich gänzlich. Über mir stund ein unerklimmbarer Fels; unter mir schien's fast senkrecht, ich weiß selbst nicht wie weit hinab. Ich fing an zu rufen und zu beten, so laut ich konnte. In einer kleinen Entfernung sah ich zwei[S. 29] Menschen durch eine Wiese marschieren. Ich gewahrt' es gar wohl, sie hörten mich; aber sie spotteten meiner und gingen ihre Straße. Endlich entschloß ich mich, das Äußerste zu wagen und lieber mit eins des Todes zu sein, als noch weiter in dieser peinlichen Lage zu verharren, und doch nicht lange mehr ausharren zu können. Ich schrie zu Gott in Angst und Not, ließ mich auf den Bauch nieder, meine Händ' obsich verspreitet, daß ich mich an den kahlen Fels so gut als möglich anklammern könne. Aber ich war todmüd, fuhr wie ein Pfeil hinunter, zum Glück war's nicht so hoch, als ich im Schrecken geglaubt hatte, und blieb ebenrecht in einem Schlund stecken, wo ich mich wieder halten konnte. Freilich hatt' ich Haut und Kleider zerrissen und blutete an Händen und Füßen. Aber wie glücklich schätzt' ich mich nicht, daß ich nur mit dem Leben und unzerbrochnen Gliedern davonkam! Mein Geißchen mag sich auch durch einen Sprung gerettet haben; einmal, ich fand's schon wieder bei den übrigen.

[S. 31]

Ein andermal, da ich an einem schönen Sommertag mit meiner Herde herumgetrillert, überzog sich der Himmel gegen Abend mit schwarzen Wolken; es fing gewaltig an zu blitzen und zu donnern. Ich eilte nach einer Felshöhle, diese oder eine große Wettertann waren in solchen Fällen immer mein Zufluchtsort, und rief meine Geißen zusammen. Die, weil's sonst bald Zeit war, meinten, es gelte zur Heimfahrt und sprangen über Kopf und Hals mir vor, daß ich bald keinen Schwanz mehr sah. Ich eilte ihnen nach. Es fing entsetzlich an zu hageln, daß mir Kopf und Rücken von den Püffen sausten. Der Boden war dicht mit Steinen bedeckt; ich rannte in vollem Galopp drüber fort, fiel aber oft auf den Hintern und fuhr große Stück weit wie auf einem Schlitten. Endlich, in einem Wald, wo's gäh zwischen Felsen hinunterging, konnt' ich vollends nicht anhalten und glitschte bis zu äußerst auf einen Rand, von dem ich, wenn mich nicht Gott und seine guten Engel behütet hätten, viele Klafter tief herabgestürzt und zermürst worden wäre. Jetzt ließ das Wetter allmählig nach, und als ich nach Haus kam, waren meine Geißen schon eine halbe Stunde daheim. Etliche Tage lang fühlt' ich von dieser Partie keinerlei Ungemach; aber mit eins fingen meine Füß zu sieden an, als wenn man sie in einem Kessel kochte. Dann kamen die Schmerzen. Mein Vater sah nach und fand mitten in der einen Fußsohle ein groß Loch, und Moos und Gras darin. Nun erinnert' ich mich erst, daß ich an einem spitzen Weißtannast aufgesprungen war: Moos und Gras war mit hineingegangen. Der Ätti grub mir's mit einem Messer heraus und verband mir den Fuß. Nun mußt' ich freilich ein paar Tage meinen Geißen langsam nachhinken, dann verlor ich die Binde, Kot und Dreck füllten das Loch, und es war bald wieder besser. Viel andre Mal, wenn's durch die Felsen ging, liefen die Tiere ob mir weg und rollten große Steine herab, die mir hart an den Ohren vorbeipfiffen. Oft stieg ich einem Wälschtraubenknöpfli, Frauenschühlin oder andern Blümchen über Klippen nach, daß es eine halsbrechende Arbeit war. Wieder zündete ich große, halbverdorrte Tannen von unten an, die bisweilen acht bis zehn Tage aneinander fortbrannten, bis sie fielen. Alle Morgen und Abend sah ich nach, wie's mit ihnen stund. Einst hätte mich eine maustot schlagen können: denn indem ich meine Geißen forttrieb, daß sie nicht getroffen würden, krachte sie hart an mir in Stücken zusammen. So viele Gefahren drohten mir während meinem Hirtenstand mehrmal, Leibs und Lebens verlustig zu werden, ohne daß ich's viel achtete, oder doch alles bald wieder vergaß, und leider damals nie daran dachte, daß du allein es warst, mein himmlischer Vater und Erhalter! der in den Winkeln einöder Wüste die Raben nährt, und auch Sorge für mein junges Leben trug.

Kameradschaft

Mein Vater hatte bisweilen aus der Geißmilch Käse gemacht, bisweilen Kälber gesäugt und seine Wiesen mit dem Mist geäufnet.[22] Dies reizte unsere Nachbarn, daß ihrer vier auch Geißen anschafften und beim Kloster um Erlaubnis baten, ebenfalls im Kohlwald hüten zu dürfen. Da gab's nun Kameradschaft. Unser drei oder vier Geißbuben kamen alle Tag zusammen. Ich will nicht sagen, ob ich der beste oder schlimmste unter ihnen gewesen, aber gewiß ein purer Narr gegen[S. 32] die andern, bis auf einen, der ein gutes Bürschchen war. Einmal, die übrigen alle gaben uns leider kein gutes Exempel. Ich wurde ein Bißlein witziger, aber desto schlimmer. Auch sah's mein Vater gar nicht gern, daß ich mit ihnen laichte,[23] und sagte mir, ich sollte lieber allein hüten und alle Tage auf eine andere Gegend treiben. Aber Gesellschaft war mir zu neu und zu angenehm; und wenn ich auch etwa einen Tag den Rat befolgte und hörte die andern hüpfen und johlen, so war's, als wenn mich ein paar beim Rock zerrten, bis ich sie erreicht hatte. Bisweilen gab's Zänkereien, dann fuhr ich wieder einen Morgen allein oder mit dem guten Jacobli, von dem hab' ich selten ein unnützes Wort gehört, aber die andern waren mir kurzweiliger. Ich hätte noch viele Jahre für mich können Geißen hüten, eh' ich den Zehnteil von dem allem inne worden wäre, was ich da in kurzem vernahm. Sie waren alle größer und älter als ich, fast aufgeschossene Bengel, bei denen schon alle argen Leidenschaften aufgewacht. Schmutzige Zoten waren alle ihre Reden und unzüchtig alle ihre Lieder, bei deren Anhören ich oft Maul und Augen auftat, oft aber auch aus Schamröte niederschlug. Über meinen bisherigen Zeitvertreib lachten sie sich die Haut voll. Späne und junge Vögel galten ihnen gleich viel, außer wenn sie glaubten, Geld aus einem zu lösen, sonst schmissen sie dieselben samt den[S. 33] Nestern fort. Das tat mir anfangs weh; doch macht' ich's bald mit. So geschwind konnten sie mich hingegen nicht überreden, schamlos zu baden wie sie. Einer besonders war ein rechter Unflat, aber sonst weder streit- noch zanksüchtig, und darum nur desto verführerischer. Ein anderer war auf alles verpicht, womit er einen Batzen verdienen konnte, der liebte darum die Vögel mehr als die andern, die nämlich, welche man ißt; suchte allerlei Waldkräuter, Harz, Zunderschwamm und dergleichen. Von dem lernt' ich manche Pflanze kennen, aber auch, was der Geiz ist. Noch einer war etwas besser als die schlimmern; er machte mit, aber furchtsam. Jedem ging sein Hang sein Leben lang nach. Jacobli ist noch ein guter Mann, der andre blieb immer ein geiler Schwätzer und ward zuletzt ein miserabler hinkender Tropf; der dritte hatte mit List und Ränken etwas erworben, aber nie Glück dabei. Vom vierten weiß ich nicht, wo er hingekommen ist.

Sonderbare Gemütsstimmung
Ende des Hirtenstandes

[S. 35]

Daheim durft' ich mir von dem, was ich bei diesen Kameraden sah und hörte, nichts merken lassen. Ich genoß aber nicht mehr meine vorige Fröhlichkeit und Gemütsruhe. Die Kerls hatten Leidenschaften in mir rege gemacht, die ich noch selbst nicht kannte, doch merkte ich, daß es nicht richtig stund. Im Herbst, wo die Fahrt frei war, hütete ich meist allein. Ein Büchlein, das mir bloß darum jetzt noch lieb ist, trug ich bei mir und las oft darin. Noch weiß ich verschiedene sonderbare Stellen auswendig, die mich damals bis zu Tränen rührten. Jetzt kamen mir die bösen Neigungen in meinem Busen abscheulich vor, und sie machten mir angst und bang. Ich betete, rang die Hände, sah zum Himmel, bis mir die hellen Tränen über die Backen rollten, faßte einen Vorsatz über den andern und machte mir so strenge Pläne für ein künftiges frommes Leben, daß ich darüber allen Frohmut verlor. Ich versagte mir alle Arten von Freude, und hatte zum Beispiel lang einen ernstlichen Kampf mit mir selber wegen eines Distelfinken, der mir sehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder behalten sollte? Über diesen einzigen Vogel dacht' ich oft weit und breit herum. Bald kam mir die Frommkeit, wie ich mir solche damals vorstellte, als ein unersteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor. Meine Geschwister mocht' ich herzlich lieben, aber je mehr ich's wollte, je mehr sah ich Widriges an ihnen. In kurzem wußt' ich weder Anfang noch End, und es war niemand mehr, der mir heraushelfen konnte, da ich meine Lage keiner Menschenseele entdeckte. Ich machte mir alles zur Sünde: Lachen, Jauchzen und Pfeifen. Meine Geißen sollten mich nicht mehr erzürnen dürfen, und ich ward eher böser auf sie. Eines Tags bracht' ich einen toten Vogel nach Haus, den ein Mann geschossen und auf einem Stecken in die Wiese aufgesteckt hatte. Ich nahm ihn, wie ich in dem Augenblick wähnte, mit gutem Gewissen weg, ohne Zweifel, weil mir seine zierlichen Federn vorzüglich gefielen. Aber sobald mir der Vater sagte, das heiße auch gestohlen, weint' ich bitterlich — ich hatte diesmal recht — und trug das Äschen morgens darauf in aller Frühe wieder an seinen Ort. Doch behielt ich etliche von den schönsten Federn; aber auch dies kostete mich ziemliche Überwindung. Doch dacht' ich: Die Federn sind nun ausgerupft, wenn du sie schon auch hinträgst, verblast sie der Wind, und dem Mann nützen sie so nichts. Bisweilen fing ich wieder an zu jauchzen und zu johlen und trollte aufs neue sorglos über alle Berge. Dann dacht' ich: So alles, alles verleugnen, bis auf meine selbstgeschnitzelten hölzernen Kühe — wie ich mir damals den rechten Christensinn buchstäblich vorstellte — sei doch ein traurig elendes Ding. Indessen wurde der Kohlwald von den immer zunehmenden Geißen übertrieben; die Rosse, die man auf den fettern Grasplätzen weiden ließ, bisweilen von den Geißbuben verfolgt oder gesprengt. Einmal legten die Bursche ihnen Nesseln unter die Schwänze; ein paar stürzten sich im Lauf über einen Felsen zu Tode. Es gab schwere Händel, und das Hüten im Kohlwald wurde gänzlich verboten. Ich hütete darauf noch eine Weile auf unserm eignen Gut. Dann löste mich mein Bruder a. Und so nahm mein Hirtenstand ein Ende.

Neue Geschäfte
Neue Sorgen

Nun hieß es: Eingespannt in den Karrn mit dem Buben, ins Joch! Er ist groß genug! Wirklich tummelte mich mein Vater meisterlich herum; in Holz und Feld sollt' ich ihm statt eines vollkommenen[S. 36] Knechtes dienen. Die mehrern Mal überlud er mich, ich hatte die Kräfte noch nicht, die er mir nach meiner Größe zutraute, und doch wollt' ich stark sein und keine schwere Bürde liegen lassen. In Gesellschaft von ihm oder mit den Taglöhnern arbeitete ich gern; aber sobald er mich allein an ein Geschäft schickte, war ich faul und lässig, staunte Himmel und Erde an und hing, ich weiß selbst nicht was für Gedanken und Grillen nach; das freie Geißbubenleben hatte mich halt verwöhnt. Das zog mir Scheltwort oder gar Streiche zu, und diese Strenge war nötig, obschon ich's damals nicht fassen konnte. Im Heuet besonders gab's bisweilen fast unerträgliche Bürden. Oft streckt' ich mich vor Mattigkeit und fast zerschmolzen von Schweiß, der Länge nach auf den Boden und dachte: Ob's wohl auch in der Welt überall so mühselig zugehe? Ob ich mich grad' jetzt aus dem Staub machen sollte? Es werde doch an andern Orten auch Brot geben, und nicht gleich Henken gelten. Ich hätte auf der Kreutzegg beim Geißhüten mehrere solche Bursche gesehen, denen's außer ihrem Vaterland, wie sie mir erzählten, recht wohl gegangen, und was des Zeugs mehr war. Dann aber fand ich: Nein! es wäre doch Sünd', von Vater und Mutter wegzulaufen; wie? wenn ich ihnen ein Stück Boden abhandeln, es bauen, brav Geld daraus ziehen, dann aus der Losung ein Häuschen drauf stellen und so für mich leben würde? Husch! sagt' ich eines Tags, das muß jetzt sein! Aber, wenn mir's der[S. 37] Ätti abschlägt? Ei! frisch gewagt, ist halb gewonnen. Ich nahm also das Herz in beide Händ', und bat den Vater noch desselben Abends, daß er mir ein gewisses Stücklein Lands abtrete. Nun sah er freilich meine Narrheit ein, aber er ließ mich's nicht merken und fragte nur, was ich damit anfangen wolle? »Ha! sagt' ich, es in Ehren legen, Mattland daraus machen und den Gewinn beiseite tun.« Ohne ein mehreres Wort zu verlieren, sprach er: »So nimm eben die Zipfelweid, ich gebe sie dir um fünf Gulden.« Das war nun spottwohlfeil; hier zu Wattwil wär' so ein Grundstück mehr als hundert Gulden wert. Ich sprang darum vor Freuden hoch auf und fing sogleich die neue Wirtschaft an. Den Tag über arbeitete ich für den Vater; sobald der Feierabend kam, für mich, sogar bei Mondschein. Da macht' ich aus dem noch vor Nacht gehauenen Holz und Stauden kleine Bürden von Brennholz zum Verkaufen. Eines Abends dacht' ich so meiner jetzigen Lage nach; mir fiel ein: Deine Zipfelweid ist gar wohlfeil! Es könnte den Vater reuen und er's wieder an sich ziehen, wenn ich ihm den Kaufschilling nicht bar erlege. Ich muß um Geld schauen, so kann er mir nicht mehr ab der Hand gehn. Ich ging also zum Nachbar Görg, erzählt' ihm den ganzen Handel und bat ihn, mir die fünf Gulden zu leihen, ich woll' ihm bis auf Wiederbezahlung mein Land zum Pfand einsetzen. Er gab mir's ohne Bedenken. Ganz entzückt lief ich damit zum Vater und wollt' ihn ausbezahlen. Potz hundert![S. 38] wie der mich abschnauzte: »Wo hast du das Geld her?« Es fehlte wenig, so hätt' es noch Ohrfeigen obendrein gesetzt. Im ersten Augenblick begriff ich nicht, was ihn so entsetzlich bös mache. Aber erklärte mir's bald, da er fortfuhr: »Du Bärenhäuter! Mir mein Gut zu verpfänden!« riß mir die fünf Gulden aus der Hand, rannte im Augenblick zu Görg und gab sie ihm wieder, mit Bedeuten, daß er, so lieb ihm Gott sei! dem Buben kein Geld mehr leihe, er woll' ihm schon geben, was er brauchte. So war meine Freude kurz. Der Ätti, nachdem er bald wieder besänftigt war, mocht' mir lang sagen, ich brauch' ihm das Ding gar nicht zu zahlen, ich könn' ihm ja ein billiges Zinslein geben, der Schlempen Weid werde die Sach nicht ausmachen, ich soll damit schalten und walten wie mit meinem Eigentum. Ich konnt' es ihm nicht glauben, denn er lachte dabei immer hinten im Maul. Das war mir verdächtig. Aber er hatte guten Grund dafür. Endlich fing ich einfältiger Tölpel an, mich wieder zu beruhigen und machte aufs neue die Rechnung hinterm Wirt, was ich aus dem Bletz[244] mit der Zeit für Nutzen ziehen wollte; als eines Tags mir die Kühe in mein Äckerlein brachen, den jungen Samen abfraßen, auch mein Holz eben keine Käufer fand und mir fast alles liegen blieb. Solche gehäufte Unglücksstreiche nahmen mir mit eins den Mut, ich überließ den ganzen Plunder[S. 39] wieder dem Vater und bekam von ihm zur Entschädigung ein flanellenes Brusttuch.

Wißbegierde

Ich bin in meinen Kinderjahren nur wenige Wochen in die Schule gegangen; bei Haus hingegen mangelte es mir gar nicht an Lust, mich in mancherlei unterweisen zu lassen. Das Auswendiglernen gab mir wenig Müh, besonders übt' ich mich fleißig in der Bibel, konnte viele darin enthaltene Geschichten aus dem Stegreif erzählen und gab überhaupt auf alles Achtung, was mein Wissen vermehren konnte. Mein Vater las auch gern etwas Historisches oder Mystisches. Gerad um diese Zeit ging ein Buch aus, der flüchtige Pater genannt. Er und unser Nachbar Hans vertrieben sich manche liebe Stunde damit und glaubten an den darin prophezeiten Fall des Antichrists und die dem End der Welt vorgehenden nahen Strafgerichte, wie ans Evangelium. Auch ich las viel darin, predigte etlichen unsrer Nachbarn mit ängstlich andächtiger Miene, die Hand vor die Stirn gestemmt, halbe Abende aus dem Pater vor und gab ihnen alles für bare Münz aus; dies nach meiner eignen völligsten Überzeugung. Mir stieg kein Gedanke auf, daß ein Mensch ein Buch schreiben könnte, worin nicht alles nur lautere Wahrheit wäre; und da mein Vater und der Hans nicht daran zweifelten, schien mir alles vollends Ja und Amen zu sein. Aber das brachte mich eben auf allerlei jammerhafte Vorstellungen. Ich wollte mich gern auf den bevorstehenden jüngsten Tag recht zubereiten; allein da fand ich entsetzliche Schwierigkeiten,[S. 40] nicht so fast in einem bösen Tun und Lassen, als in meinem oft argen Sinn und Denken. Dann wollt' ich mir wieder alles aus dem Kopf schlagen, aber vergebens. Wenn ich zumal bisweilen in der Offenbarung Johannis oder im Propheten Daniel las, schien mir alles, was der Pater schrieb, vollends gewiß und unfehlbar. Und was das schlimmste war, so verlor ich ob dieser Überzeugung alle Freud' und Mut. Wenn ich im Gegenteil den Ätti und den Nachbar fast noch fröhlicher sah als zuvor, machte mich solches gar konfus, und kann ich mir's noch jetzt nicht erklären, wie das zuging. So viel weiß ich wohl, sie steckten damals beide in schweren Schulden und hofften vielleicht durch das Ende der Welt davon befreit zu werden: wenigstens hört' ich sie oft vom Neufunden Land, Carolina, Pensylvani und Virgini sprechen, ein andermal überhaupt von einer Flucht, vom Auszug aus Babel, von den Reisekosten und dergleichen. Da spitz' ich die Ohren wie ein Has. Einmal, erinnr' ich mich, fiel mir wirklich ein gedrucktes Blatt in die Hände, das einer von ihnen auf dem Tisch liegen gelassen und welches Nachrichten von jenen Gegenden enthielt. Das las ich wohl hundertmal; mein Herz hüpfte mir im Leib bei dem Gedanken an dies herrliche Kanaan, wie ich mir's vorstellte. Ach! wenn wir nur alle schon da wären, dacht' ich. Aber die guten Männer, denk' ich, wußten ebensowenig als ich Steg und Weg und wahrscheinlich noch minder, wo das Geld herzunehmen. Also blieb das[S. 41] schöne Abenteuer stecken und entschlief nach und nach von selbst. Indessen las ich immer fleißig in der Bibel, doch noch mehr in meinem Pater und andern Büchern, unter anderen in dem sogenannten Pantli Karrer, und in dem weltlichen Liederbuch, dessen Titel mir entfallen ist. Sonst vergaß ich, was ich gelesen, nicht so bald. Allein mein unruhiges Wesen nahm dabei sichtbarlich zu, so sehr ich mich auf mancherlei Weise zu zerstreuen suchte; und, was das Schlimmste war, hatt' ich das Herz nie, dem Pfarrer oder auch nur dem Vater hievon das Mindeste zu offenbaren.

Geistliche Unterweisung

Indessen wundert' es mich doch bisweilen, wie mein Vater und der Pfarrer von diesem und jenem Spruch in der Bibel, von diesem und jenem Büchlin denke. Letzterer kam oft zu uns, selbst zur Winterszeit, wenn er schier im Schnee stecken blieb. Da war ich sehr aufmerksam auf alle Diskurse und merkte bald, daß sie meist bei weitem nicht einerlei Meinung waren. Anfangs kam's mir unbegreiflich vor, wie der Ätti so frech sein und dem Pfarrer widersprechen dürfe. Dann dacht' ich auf der andern Seite: Aber mein Vater und der flüchtige Pater zusammen sind doch auch keine Narren und schöpfen ihre Gründe wie jener aus der gleichen Bibel. Das ging in meinem Sinn so hin und her, bis ich's etwa wieder vergaß und andern Fantaseyen nachhing. Inzwischen kam ich im Jahre 1752 zu diesem Pfarrer Heinrich Näf von Zürich in die Unterweisung zum heiligen Abendmahl. Er unterrichtete mich sehr[S. 42] gründlich und war mir in der Seele lieb. Oft erzählt' ich meinem Vater ganze Stunden lang, was er mit mir geredet hatte und meinte, er sollte davon so gerührt werden wie ich. Bisweilen tat er mir zu Gefallen dergleichen; aber ich merkte wohl, daß es ihm nicht recht zu Herzen ging. Doch sah ich auch, daß er überhaupt Wohlgefallen an meinen Empfindungen und an meiner Aufmerksamkeit hatte. Nachwärts ward dieser Heinrich Näf Pfarrer gen Humbrechtikon am Zürichsee; und seither, glaub' ich, kam er noch näher an die Stadt. Noch auf den heutigen Tag ist meine Liebe zu ihm nicht erloschen. Viel hundertmal denk' ich mit gerührter Seele an des redlichen Manns Treu und Eifer, an den liebevollen Unterricht, welchen ich von seinen holdseligen Lippen sog, und den mein damals gewiß für das Gute weiches und empfängliches Herz begierig aufnahm. Oh, der redlichen Vorsätze und heiligen Entschlüsse, die ich so oft in diesen unvergeßlichen Stunden faßte! Wo seid ihr geblieben? Welchen Weg seid ihr gegangen? Ach! wie oft seid ihr von mir zurückgerufen und leider wieder verabschiedet worden! O Gott! Wie freudig ging ich stets aus dem Pfarrhause heim, nahm gleich das Buch wieder zur Hand und erfrischte damit das Angedenken an die empfangenen heilsamen Lehren. Aber dann war bald alles wieder verflogen. Selbst in späteren Tagen, in Augenblicken, wo Lockungen von allen Seiten mir die süßesten Mienen machten und mich bereden wollten, Schwarz sei, wo nicht Weiß, doch Grau, stiegen mir[S. 43] meines ehemaligen Seelsorgers treugemeinte Warnungen noch oft zu Sinn und halfen mir in manchem Scharmützel mit meinen Leidenschaften den Sieg erringen. Was ich mir aber noch zu dieser Stunde nicht vergeben kann, ist mein damaliges öfteres Heucheln, und daß ich, selbst wenn ich mir keines eigentlichen Bösen bewußt war, immer besser scheinen wollte, als ich zu sein mich fühlte. Endlich — ich weiß nicht, war vielleicht auch das ein Tuck des armen Herzens? — sang ich, und zwar, wenn ich ganz allein bei der Arbeit war, wirklich mit größerer Lust etliche geistliche Lieder, die ich von meiner Mutter gelernt, als meine weltlichen Quodlibet und wünschte nur freilich allemal, daß mich mein Vater auch hören möchte, wie er mich sonst meist über meinem losen Lirum Larum ertappt hatte.

Neue Kameraden

[S. 45]

Übrigens hatte der Pfarrer in seinem kleinen Krinau neben mir nur einen einzigen Buben in der Unterweisung. Dieser hieß H. B., ein fuchsroter Erzstockfisch. Wenn ihn der Heer[25] was fragte, hielt der Bursch' immer sein Ohr an mich, daß ich's ihm einblasen sollte. Was man ihm hundertmal sagte, vergaß er hundertmal wieder. Am Heiligen Abend, da man uns der Gemeind vorstellte, war er vollends verstummt. Ich mußte darum fast aneinander antworten, von zwei bis fünf Uhr. Im Jahr zuvor ward hingegen ein anderer Knabe, J. W., unterwiesen, ein gar geschicktes Bürschlein, der die Bibel und den Catecist[26] vollkommen inne hatte. Mit dem macht' ich um diese Zeit Bekanntschaft. Von Angesicht war er häßlich, die Kinderblattern hatten ihn jämmerlich zugerichtet, aber sonst ein Kind wie die liebe Stunde. Er hatte einen gesprächigen Vater, von dem er viel lernte, der aber daneben nicht der beste und besonders als ein Erzlügner berühmt war. Der konnt' euch stundenlang die abenteuerlichsten Dinge erzählen, die weder gestoben noch geflogen waren; so daß es zum Sprichwort wurde, wenn einer etwas Unwahrscheinliches sagt: »Das ist ein W. — Lug!« Wenn er redete, rutschte er auf dem Hintern beständig hin und her. Von seinen Fehlern hatte sein kleiner Bube keinen geerbt, das Lügen am allerwenigsten. Jedermann liebte ihn. Mir war er die Kron in Augen. Wir fingen an, über allerlei Sachen Brieflin zu wechseln, gaben einander Rätsel auf oder schrieben uns Verse aus der Bibel zu, ohne Spezifikation, wo sie stünden; da mußte ein jeder selbst nachschlagen. Oft hielt es schwer oder gar unmöglich, in den Psalmen und Propheten zumal, wo die Verslin meist erstaunlich kurz, und viele fast gleichlautend sind. Bisweilen schrieben wir einander von allen Tieren, welche uns die liebsten seien; dann von allerhand Speisen, welche uns die besten dünkten; dann wieder von Kleidungsstücken, Zeug und Farben, welche uns die angenehmsten wären, und so fort. Da bemühte sich je einer den andern an Anmut zu übertreffen. Oft mocht' ich's kaum erwarten, bis wieder so ein Brieflin von meinem Freunde kam. Er war mir darin noch viel lieber als in seinem persönlichen Umgang. So dauerte es lange, bis einst ein unverschämter Nachbar allerlei wüste Sachen über ihn aussprengte. Obschon ich's nicht glaubte, verringerte sich doch nun, es ist wunderbar, meine Zuneigung zu ihm augenblicklich. Ein paar Jahre nachher, es war vielleicht ein Glück für uns beide, fiel er in eine Krankheit und starb. Ein andrer unsrer Nachbarn, H., hatte auch Kinder von meinem Alter. Aber mit denen konnt' ich nichts; sie waren mir zu witznasig, arge Förschler und Frägler. Um diese Zeit gab mir Nachbar Joggli heimlich um drei Kreuzer eine Tabakspfeife zu kaufen und lehrte mich schmauchen. Lange mußt' ich's im Geheim tun, bis einst ein Zahnweh mir den Vorwand verschaffte, es fortan öffentlich zu treiben. Und, oh, der Torheit! darauf bildete ich mir nicht wenig ein.

Häusliche Umstände
Der Verkauf

[S. 48]

Unterdessen war unsre Familie bis auf acht Kinder angewachsen. Mein Vater stak je länger je tiefer in Schulden, so daß er oft nicht wußte, wo aus noch ein. Mir sagte er nichts; aber mit der Mutter hielt er oft heimlich Rat. Davon hört' ich eines Tags ein paar Worte und merkte nun die Sache halb und halb. Allein es focht mich wenig an, ich ging leichtsinnig meinen kindischen Gang und ließ meine armen Eltern inzwischen über hundert unausführbaren Projekten sich den Kopf zerbrechen. Unter diesen war auch der einer Wanderung ins Gelobte Land, zu meinem größten Verdrusse, zu Wasser worden. Endlich entschloß sich mein Vater,[S. 46] alle seine Habe seinen Gläubigern auf Gnad und Ungnad zu übergeben. Er berief sie eines Tags zusammen, entdeckte ihnen mit Wehmut, aber redlich, seine ganze Lage und bat sie: In Gottes Namen Haus und Hof, Vieh, Schiff und Geschirr[27] zu ihren Handen zu nehmen und seinetwegen ihn, nebst Weib und Kindern, bis aufs Hemd auszuziehen; er wolle ihnen noch dafür danken, wenn sie ihn nur einmal der unerträglichen Last entledigten. Die meisten von ihnen, und selbst die, welche ihm mit Treiben am unerbittlichsten zugesetzt hatten, erstaunten über diesen Vortrag. Sie untersuchten Soll und Haben; und das Fazit war, daß sie die Sachen bei weitem nicht so schlimm fanden, als sie sich's vorgestellt hatten. Sie baten ihn also alle wie aus einem Munde, er soll doch nicht so kläglich tun, guten Muts sein, sich tapfer wehren, und seine Wirtschaft emsig treiben wie bisher; sie wollten gern Geduld mit ihm tragen und ihm noch aus Kräften beraten und beholfen sein; er habe eine Stube voll braver Kinder, die werden ja alle Tag' größer und können ihm an die Hand gehen. Was er mit diesen armen Schafen draußen in der weiten Welt anfangen wollte? Allein mein Vater unterbrach sie in diesen liebreichen Äußerungen ihres Mitleids alle Augenblick: »Nein, um Gottes willen, nein! Nehmt mir die entsetzliche Bürde ab. Das Leben ist mir so ganz verleidet! Aufs Besserwerden hofft' ich schon dreizehn Jahr vergebens. Und kurz, bei unserm Gut hab' ich einmal weder Glück noch Stern. Mit sauerm Schweiß und so vielen schlaflosen Nächten grub ich mich nur immer tiefer in die Schulden hinein. Geb, wie ich's machte, da half Hausen und Sparen, Hunger und Mangel leiden, bis aufs Blut arbeiten, kurz, alles und alles nichts. Besonders mit dem Vieh wollt's mir nie gelingen. Verkauft' ich die Küh', um das Futter versilbern zu können, und daraus meine Zinse zu bestreiten, so hatt' ich mit meiner Haushaltung, die außer dem Güterarbeiten keinen Kreuzer verdienen konnte, nichts zu essen, wenn ich gleich die halbe Losung wieder in andre Speisen steckte. Schon von Anfang an mußt' ich immer Taglöhner halten, Geld entlehnen und aus einem Sack in den andern schleufen, bis ich mich nicht mehr zu kehren wußte. Noch einmal, um Gottes willen! Da ist all' mein Vermögen. Nehmt, was ihr findet und laßt mich ruhig meine Straße ziehen. Mit meinen ältern Kindern wird's mir wohl möglich werden, uns allen ein schmales Stücklein Brot zu erwerben. Wer weiß, was der liebe Gott uns noch für die Zukunft beschert hat!« Als nun endlich unsere Gläubiger sahen, daß mit meinem Vater anders nichts anzufangen wäre, nahmen sie das Dreyschlatt mit aller Zubehörd gemeinschaftlich zu ihren Handen, setzten einen Gildenvogt, ließen einen neuen Überschlag machen und fanden wieder, daß einmal da kein großer Verlust herauskommen könne. Sie schenkten darum dem armen Ätti nicht allein allen Hausrat, Schiff und Geschirr, sondern baten ihn auch, bis sich ein Käufer fände, weiter auf dem Gut zu bleiben und es um billigen Lohn zu bearbeiten. Dieser bestund, nebst freier Behausung und Holzes genug, in der Sömmerung[28] für acht Kühe, und Grund und Boden, zu pflanzen, was und wieviel wir konnten und mochten. Jetzt war meinem Vater wieder so wohl, als wenn er im Himmel wäre; und was ihm am meisten Freud' machte, seine alten Schuldherren waren fast noch zufriedner als er, so daß von dem ersten Augenblick an keiner ihm nur eine saure Miene gemacht. Wir hatten ein recht gutes Jahr und konnten neben unsrer Güterarbeit noch eine ziemliche Zeit für Salpetersieden erübrigen. Ich lernte dieses ebenfalls, als mein Vater einst an einem Bein Ungelegenheit hatte und hernach wirklich bettliegerig ward. Die Schmerzen nahmen täglich so sehr überhand, daß er eines Abends von uns allen Abschied nahm. Endlich gelang es dem Herrn Doktor Müller aus der Schamaten, ihn wieder zu kurieren. Derselbe tat solches nicht nur unentgeltlich, sondern gab uns noch Geld dazu. Der Himmel wird es ihm reichlich vergelten. — Inzwischen zeigte sich ein Käufer zum Dreyschlatt. Wir waren im Grund alle froh, diese Einöde zu verlassen, aber niemand so wie ich, da ich hoffte, das strenge Arbeiten sollt' nun ein Ende nehmen. Wie ich mich betrog, wird die Folge lehren.

[S. 49]

Wanderung nach Wattweil
Schlimme Hausgenossenschaft

Mitten im März des Jahres 1754 zogen wir mit Sack und Pack aus dem Dreyschlatt weg und sagten dem wilden Ort auf ewig gute Nacht! Noch lag dort klaftertiefer Schnee. Von Ochs oder Pferd war keine Rede. Wir mußten unsern Hausrat und die jüngern Geschwister auf Schlitten selbst fortzügeln. Ich zog an dem meinigen wie ein Pferd, so daß ich am End fast atemlos hinsank. Doch die Lust, unsre Wohnung zu verändern und einmal auch im Tal, in einem Dorf, und unter Menschen zu leben, machten mir die saure Arbeit lieb. Wir langten an. Das muß ein rechtes Kanaan sein, dacht' ich; denn hier guckten die Grasspitzen schon unterm Schnee hervor. Unser Gütlin (es hieß die Staig), das wir zu Lehen empfangen hatten, stund voll großer Bäume, und ein Bach rollte angenehm mitten durch. Im Gärtlin bemerkt' ich einen Zipartenbaum. Im Haus hatten wir eine schöne Aussicht das Tal hinauf. Aber übrigens, was das für eine dunkle, schwarze, wurmstichige Rauchhütte war! Lauter faule Fußboden und Stiegen; ein unerhörter Unflat und Gestank in allen Gemächern. Aber das alles war noch nichts gegen den lebendigen Einsiegel, den wir im Haus haben mußten: ein abscheuliches Bettelmensch, das sich besoff, so oft es ein Kirchenalmosen erhielt und auf die Art zu Wein kam, dann in der Trunkenheit sich mutternackt auszog, und so im Haus herumsprang und pfiff, auch, wenn man ihm das geringste einreden wollte, ein Fluchen und Lamentieren erhob wie eine Besessene. Es bekamz war[S. 50] deshalb oft den Rinderriemen, der aber leider meist aus übel ärger machte. Das Ungeheuer war überdies auf junge Mannspersonen erpicht — Puh! mir schaudert noch die Haut davor — und hätte gern auch mich angepackt. Das war mir eine völlig neue Erscheinung, und ich redete davon mit meinem Vater, ohne der Versuchung selbst zu erwähnen. Der sagte mir dann, was eine Katze sei, und nun bekam ich einen solchen Ekel vor dem Tier, daß mir ein Stich durch alle Adern ging, so oft es mir unter Augen kam.

Göttliche Heimsuchung

Wenige Tage nach unsrer Ankunft ward ich mit einem heftigen Frost und Fieber befallen. Ob mir das plötzliche Vertauschen der frischen Bergluft mit der im Tal, oder die unreinliche Wohnung, oder ein schon mitgebrachter Stoff dazu im Körper, oder endlich gar der Abscheu vor dem entsetzlichen Geschöpfe das Übel zugezogen, weiß ich nicht. Einmal zuvor war, außer leichten Kopf- und Zahnschmerzen, jedes andre Übelbehagen mir ganz unbekannt. Man ließ den lieben Herrn Doktor Müller kommen; er verordnete mir eine doppelte Aderlässe, zweifelte aber gleich beim ersten Anblick an meinem Aufkommen. Am dritten Tag glaubt' ich, nun sei's gewiß mit mir aus, da mein armer Kopf beinah zerspringen wollte. Ich rang, wimmerte, krümmte mich wie ein Wurm, und stund Höllenangst aus: Tod und Ewigkeit kamen mir schrecklich vor. Meinem Vater, der sich fast nie von mir entfernte und oft ganz allein um mich war, beichtete ich in einem solchen Augenblick alles,[S. 51] was mir auf dem Herzen lag, sonderlich auch wegen der Verfolgungen des vorerwähnten Unholds, der mir viel zu schaffen machte. Der gute Ätti erschrak entsetzlich und fragte mich, ob ich mit dem Tier etwas Böses getan? »Nein, gewiß nicht, Vater!« antwortete ich schluchzend, »aber das Ungeheuer wollt' mich dazu bereden; und ich hab's dir verschwiegen. Das nun, fürcht' ich, sei eine große Sünd'.« »Sei nur ruhig, mein Sohn!« versetzte mein Vater, »halt dich im stillen zu Gott. Er ist gütig und wird dir deine Sünden vergeben.« Dies einzige Wort des Trostes machte mich gleichsam wieder auflebend. Oh, wie eifrig gelobt' ich in diesem Augenblick, ein ganz andrer Mensch zu werden, wenn ich's länger auf Erden treiben sollte. Indessen gab's noch verschiedene Rückfälle. Einmal wußt' ich vierundzwanzig Stunden lang nichts mehr von mir; aber dies war die Krisis. Beim Erwachen fühlt' ich zwar meine Schmerzen wieder, doch in weit geringerm Grade, und was für mich viel wichtiger war, die bangen, angsthaften Gedanken blieben aus. Der Doktor fing an, Hoffnung zu schöpfen, und ich nicht minder; und kurz, es ließ sich täglich mehr zur Besserung an, bis ich, freilich erst nach etlichen Wochen, wieder ganz auf die Beine kam. Aber das Tiermensch, das wir im Haus hatten und dulden mußten, war mir unausstehlicher als jemals. Mich und alle meine Geschwister überhäufte es mit den unflätigsten Schimpfworten. Während meiner Krankheit sagte es mir oft ins Gesicht,[S. 52] ich sei ein mutwilliger Bankert, es fehle mir nichts, man sollte mir statt Arzneien die Rute geben, und dergleichen. Ich bat meinen Vater, so hoch ich konnte, er solle uns die Kreatur vom Hals schaffen, sonst könnt' ich in Ewigkeit nicht vollkommen gesund werden. Aber es war unmöglich, für einmal wollt' sie uns niemand abnehmen. Wenn sie's gar zu schlimm machte, ließen wir sie, wie gesagt, karbatschen. Aber zuletzt wollt' uns auch diesen Dienst niemand mehr leisten, denn jedermann fürchtete sich vor ihr, wie vor dem bösen Geist. Mit guten Worten kam man ihr gewissermaßen noch am leichtesten bei. Was mir indessen als die allerherbste Prüfung vorkam, war, daß ich und meine Geschwister in ihrer Gesellschaft mit Baumwollen-Kämmen und Spinnen unsern Feierabend machen mußten. Sobald aber der Sommer anrückte, half ich mir damit, daß ich meine Arbeit, so viel's immer die Witterung zuließ, außer dem Haus verrichtete.

Jetzt Tagelöhner

»Danke deinem Schöpfer,« sagte inzwischen eines Tags mein Vater zu mir, »er hat dein Flehen erhört und dir von neuem das Leben geschenkt. Ich zwar, ich will dir's nur gestehen, dachte nicht, wie du, Uli, und hätt' dich und mich nicht unglücklich geschätzt, wenn du dahingefahren wärst. Denn, ach! große Kinder, große Sorgen! Unsre Haushaltung ist überladen. Ich hab' kein Vermögen, keins von euch kann noch sicher sein Brot gewinnen. Du bist das älteste. Was willst du[S. 53] nun anfangen? In der Stube hocken und mit der Baumwolle hantieren, seh' ich wohl, magst du nicht. Du wirst müssen tagmen!«[29] — »Was du willst, mein Vater!« antwortete ich, »nur ja nicht ofenbruten!« Wir waren bald einig. Der damalige Schloßbauer, Weibel K., nahm mich zum Knecht an. Von meiner überstandenen Krankheit war ich noch ziemlich abgemattet, aber mein Meister, als ein vernünftiger und stets aufgeräumter Mann, trug alle Geduld mit mir, um so viel mehr, da er eigne Buben von gleichem Schrot hatte. Die meiste Zeit mußt' er seinen Amtsgeschäften nach, dann ging's freilich oft bunt über Eck. Indessen gab er mir auch blutwenig Lohn, und die Frau Bäurin ließ uns manchmal bis um zehn Uhr nüchtern. Bei strenger Arbeit erhielten wir auch immer bessere Kost. Bisweilen brachten wir ihm etwas Wildbret, einen Vogel oder Fisch nach Haus; das ließ er sich vortrefflich schmecken. Eines Tages erbeuteten wir ein ganzes Nest voll junger Krähen, die mußt' ihm seine Hausehre wunderbar präparieren. Er verschlang mit ungeheurer Lust alle bis auf die letzte. Aber mit eins gab's eine Rebellion im Magen. Er sprang vom Stuhl und rannte todblaß und schnellen Schrittes den Saal auf und nieder, wo die Füß' und Federn noch überall zerstreut am Boden lagen! Endlich schnauzt er uns Buben mit lächerlichem Grimm an: »Tut mir das[S. 54] Schinderszeug da weg, oder ich kotze euch hunderttausend Dutzend von euern Bestien heraus. Einmal in meinem Leben solche schwarze Teufel gefressen, und nimmermehr!« Dann legte sich der launigte Mann zu Bett, und mit einem tüchtigen Schweiß ging alles vorbei.

Auch mein Bruder Jakob verrichtete um die nämliche Zeit ähnliche Knechtdienst'. Die Kleinern mußten in den Stunden neben der Schule spinnen. Unter diesen war Georg ein besonders lustiger Erzvogel. Wenn man ihn an seinem Rädchen glaubte, saß er auf einem Baum oder auf dem Dach, und schrie Kuckuck! »Du fauler Lecker!« hieß es dann etwa von seite der Mutter, wenn sie ihn so in den Lüften erblickte, und von seiner: »Ich will kommen, wenn du mich nicht schlagen willst, sonst steig ich dir bis in Himmel auf!« Was war da zu tun? Man mußte meist des Elends lachen.


[S. 55]

Die erste Liebe

Wenn einer in sein zwanzigstes Jahr geht, darf er schon ahnden, es gebe zweierlei Leute in der Welt. Der Weibel hatte ein bluthübsches Töchterchen, aber scheu wie ein Hase. Es war mir eine Freud', wenn ich sie sah, ohne zu wissen warum? Nach etlichen Jahren heiratete sie einen Schlingel, der ihr ein Häufchen Jungens auflud, und sich endlich als ein Schelm aus dem Land machte. Das gute Kind!

Ännchen
Auf dem Pfingstmarkt

[S. 57]

Dann hatte unser Nachbar Uli eine Stieftochter, Ännchen; die konnt' ich alle Sonntage sehen. Allemal winselt es mir ein wenig ums Herzgrübchen. Ich wußte wieder nicht warum, denk' aber wohl, weil's mich so hübsch dünkte; einmal etwas anderes kam mir gewiß nicht in den Sinn. An den gedachten Sonntagen zu Abend machten wir jungen Leute miteinander Buntreihen, Kettenschleuffen, Habersieden, Schühle verbergen und dergleichen. Ich war wie in einer neuen Welt, nicht mehr ein Eremit wie im Dreyschlatt. Nun merkt' ich zwar, daß mich Ännchen wohl leiden mocht', dacht' indessen, sie würd' sonst schon ihre Liebsten haben. Einst aber hatte meine Mutter die Schwachheit, mir, und zwar als wenn sie stolz drauf wäre, zu sagen: »Ännchen sehe mich gern.« Dieser Bericht rannte mir wie ein Feuer durch alle Glieder. Bisher hielt ich dafür, meine Eltern würden's nicht zugeben, daß ich, noch so jung, nur die geringste Bekanntschaft mit einem fremden Mädchen hätte. Jetzt aber — so wichtig ist es, die Menschen in nützlichen Meinungen durch kein unvorsichtiges Wort irrezumachen — merkt ich's meiner Mutter deutlich an, daß ich so etwas schon wagen dürfte. Indessen tat ich nicht dergleichen, aber meine innre Freud' war nur desto größer, daß man mir jetzt selbst die Tür aufgetan, unter das junge lustige Volk zu wandeln. Von dieser Zeit an, versteht sich's, schnitt' ich bei allen Anlässen Ännchen ein entschieden freundlich Gesichtchen; aber daß ich ihr mit Worten etwas von Liebe sagen durfte, oh, um aller Welt Gut willen hätt' ich dazu nicht Herz gehabt. Einst erhielt ich Erlaubnis, auf den Pfingst-Jahrmarkt zu gehn. Da sann ich lang hin und her, ob ich sie aufs Rathaus zum Wein führen dürfe? Aber das schien mir schon zuviel gewagt. Dort sah ich sie eins herumschlängeln. Herodes mag das Herz nicht so gepocht haben, als er Herodias Tochter tänzeln sah. Ach! so ein schönes, schlankes, nettes Kind, in der allerliebsten Zürchbietler-Tracht! Wie ihm die goldfarbnen Zöpf' so fein herunterhingen! Ich stellte mich in einen Winkel, um meine Augen im Verborgenen an ihr weiden zu können. Da sagt' ich zu mir selbst: Ah! in deinem Leben wirst du Lümmel nie das Glück haben, ein solch Kind zu bekommen, sie ist viel, viel zu gut für dich! Hundert andre weit bessre Kerls werden sie lang vor dir erhaschen. So dacht' ich, als Ännchen, die mich und meine Schüchternheit schon geraume Zeit mochte bemerkt haben, auf mich zukam, mich freundlich bei der Hand nahm und sagte: »Uli! führ' du mich auch eins herum!« Ich feuerrot erwiderte: »Ich kann's nicht, Ännchen! gewiß ich kann's nicht!« — »So zahl' mir eine halbe,« versetzte sie, ich wußt' nicht ob im Schimpf oder Ernst. »Es ist dir nicht Ernst, Schleppsack,« erwidert' ich darum. Und sie: »Mi See,[30] 's ist mir ernst!« Ich todblaß: »Mi See, Ännchen, ich darf heut' nicht!« Ein andermal. »Gwüß ich möcht' gern, aber ich darf nicht!« Das mocht ihr ein wenig in den Kopf steigen, sie ließ sich's aber nicht merken, trat, mir nix dir nix rückwärts und machte ihre Sachen wie zuvor. So auch ich, stolperte noch eine Weile aus einer Ecke in die andre, und machte mich endlich, wie alle übrigen, auf den Heimweg. Ohne Zweifel, daß Ännchen auf mich acht gegeben. Nahe beim Dorf kam sie hinter mir drein: »Uli! Uli! Jetzt sind wir allein. Komm' noch mit mir zu des Seppen, und zahl mir eine Halbe!« »Wo du willst,« sagt' ich, und damit setzten wir ein paar Minuten stillschweigend unsre Straße fort. »Ännchen! Ännchen!« hob ich dann wieder an, »ich muß dir's nur grad sagen, ich hab' kein Geld. Der Ätti gibt mir keins in Sack, als etwa zu einem Schöppli, und das hab' ich schon im Städtli verputzt. Glaub' mir's, ich wollt' herzlich gern — und dich dann heim geleiten! Oh! Aber da müßt' ich wieder meinen Vater[S. 58] fürchten. Gwüß, Ännchen! 's wär das erstemal. Noch nie hätt' ich mich unterstanden, ein Mädle zum Wein zu führen, und jetzt, wie gern ich's möcht', und auf Gottes Welt keine lieber als dich, bitte, bitte, glaub mir's, kann und darf ich's nicht. Gwüß ein andermal, wenn du mir nur wart'st, bis ich darf und Geld hab'.« — »Ei, Possen, Närrlin!« versetzte Ännchen, »dein Vater sagt nichts, und bei der Mutter will ich's verantworten — weiß schon, wo der Has lauft. Geld? Mit samt dem Geld! 's ist mir nicht ums Trinken und nicht ums Geld — und damit griff sie ins Säcklin — hier hast du, glaub' ich, genug, zu zahlen, wie's der Brauch ist. Mir wär's Ein Ding, ich wollt' lieber für dich zahlen, wenn's so Mode wär'.« Paf! Jetzt stand ich da, wie die Butter an der Sonne. Ich gab endlich Ännchen mit Zittern und Beben die Hand, und so ging's vollends ins Dorf hinein, zum Engel. Mir ward's blau und schwarz vor den Augen, als ich mit ihr in die Stube trat, und da alles von Tischen voll Leute wimmelte, die einen Augenblick wenigstens auf uns ihre Blicke richteten. Indessen deucht' es mich auch wieder, Himmel und Erde müss' einem gut sein, der ein so holdes Mädchen zur Seite hat. Wir tranken unsre Maß, weder zu langsam noch zu geschwind; zu schwatzen gab's, ich denk' durch meine Schuld, eben nicht viel. Entzückt, und ganz durchglüht von Wein und Liebe, aber immer voll Furcht, führt' ich nun das herrliche Kind nach Haus, bis an die Türe. Keinen[S. 59] Kuß? Keinen Fuß über ihre Schwelle? Ich schwöre es: Nein! Auch ich lief nun schnurstracks heim, ging mausstill zu Bett', und dachte: Heut wirst du bald und süßer entschlummern, als sonst noch nie in deinem Leben! Aber wie ich mich betrog! Da war von Schlaf keine Rede. Tausend wunderbare Grillen gingen mir im Kopf herum und wälzten mich auf meinem Lager hin und her. Hauptsächlich verwünscht' ich jetzt meine kindische Blödigkeit und Furcht: Oh, das himmlische süße Mädchen! dacht' ich, konnt' es wohl mehr tun, und ich weniger? Ach! es weiß nicht, wie's in meinem Busen brennt, und nur durch meine Schuld. Oh, ich Hasenherz! Solch ein Liebchen nicht küssen, nicht halb zerdrücken! Kann Ännchen so einen Narren, so einen Lümmel lieben? Nein! Nein! Warum spring' ich nicht auf und davon, zu ihrem Haus, klopf an ihrer Tür' und rufe: Ännchen, Ännchen, liebstes Ännchen! Steh' auf, ich will abbitten! Ich war ein Ochs, ein Esel! verzeih mir's doch! O, ich will's künftig besser machen, und dir gewiß zeigen, wie lieb mir bist! Herziger Schatz! ich bitt' dich drum, sei mir doch weiter gut und gib mich nicht auf. Ich will mich bekehren, bin noch jung und was ich nicht kann, will ich lernen. — So machte mich, gleich vielen andern, die erste Liebe zum Narren.

Des Morgens in aller Frühe flog ich nach Ännchens Haus. — Ja, das hätt' ich tun sollen, tat's aber eben nicht. Ich schämt' mich vor ihr, daß mir's Herz davon[S. 60] weh tat, in die Seel' hinein schämt ich mich, vor den Wänden, vor Sonn' und Mond, vor allen Stauden schämt' ich mich, daß ich gestern so erzalbern tat. Meine einzige Entschuldigung vor mir selber war, daß ich dachte, es hätte so seine eigne studierte Art mit den Mädels umzugehn, und ich wüßte diese Art nicht, niemand sage mir's, und ich hätt' nicht das Herz, jemand zu fragen. Aber so (roch's mir dann wieder auf) darfst du Ännchen nie, nie mehr unter die Augen treten, fliehen mußt du vielmehr das holde Kind, oder kannst wenigstens nur im Verborgenen mit ihr deine Freud' haben, nur verstohlen nach ihr blicken. Inzwischen macht' ich eine neue Bekanntschaft mit ein paar Nachbarsbuben, die auch ihre Schätz' hatten, um heimlich von ihnen zu erfahren, wie man mit diesen schönen Dingen umgehen und es machen müsse, ihnen zu gefallen. Einmal nahm ich gar das Herz in beide Händ' und fragte sie darum, aber sie lachten mich aus, und sagten mir so närrisches und unglaubliches Zeug, daß ich gar nicht mehr wußte, wo ich zu Haus war.

Inzwischen ward diese Liebesgeschichte, die ich gern vor mir selber verborgen hätte, bald überall laut. Die ganze Nachbarschaft, und besonders die Weiber, gafften mir, wo ich stund und ging, ins Gesicht, als ob ich ein Eisländer wäre: »Ha, ha, Uli!« hieß es dann, »du hast die Kinderschuh auch verheyt.«[31] Meine Eltern wurden's ebenfalls inne. Die Mutter lächelte dazu, denn[S. 61] Ännchen war ihr lieb, aber der Vater blickte mich desto trüber an, doch ließ er kein Wörtchen verlauten, als ob er in meinem Busen Unrat lese. Das war nun desto peinigender für mich. Ich ging überall umher wie der Schatten an der Wand und wünschte oft, daß ich Ännchen nie mit einem Aug' gesehen hätte. Auch meine Bauersleute rochen bald den Braten und spotteten meiner.

Nachtbesuch
Eifersucht

Eines Abends kam mir Ännchen so in den Wurf, daß ich nicht entwischen konnte. Ich stund wie versteinert. »Uli!« sagte sie, »komm heut z'Nacht ein bißli zu mir, ich hab' mit dir z'reden. Willst kommen, sag'?« — »Ich weiß nicht,« stotterte ich. »Eh, komm! Ich muß notwendig mit dir reden, sag, versprich mir's!« »Ja, ja gewiß, wenn ich kann!« Wir mußten scheiden. Ich rannte eilends nach Haus. Himmel! dacht' ich, was mag das sein? Kann das liebe Ännchen mir noch so freundlich begegnen? Soll ich, darf ich? Ja, ich muß, ich will gehn. Nun geriet ich, ob aus Ehrlichkeit oder List weiß ich selbst nicht, auf den guten Einfall, das Ding der Mutter zu sagen. »Ja ja, geh' nur,« sprach diese, »ich will dir nach dem Essen schon forthelfen, daß kein Hahn darnach krähen soll.« Das war mir recht gekocht. Alles gesagt, getan. Ich ging hin und traf Ännchen, ihre Mutter und ihren Stiefätti, sie hielten sonst eine Schenke, ganz allein an. Ich ließ ein Glas Branz[32] holen, um doch etwas zu tun, bis die Alten im[S. 62] Bett' wären, weil ich nichts zu reden wußte. Aus lauter Furcht saß ich weit von Ännchen weg. Aber darum mocht' ich's doch kaum erwarten, bis die Eltern zur Ruh' gingen. Endlich geriet's. Da fing mein Liebchen an, in einem fort zu schnättern, daß es lieblich und doch betrübt zu hören war, als sie mir über mein kaltes Bezeigen Vorwürf' über Vorwürf' machte, und alles, was sie die Zeit her über mich schwatzen gehört, mir unter die Nase rieb. Ich faßte Mut, verantwortete mich so gut ich konnte, und sagt' ihr auch gerad' allen Kram heraus, was die Leut' von ihr redeten und wofür man sie hielt, von meinen Gesinnungen hingegen kein Wort: »So!« sagte sie, »was schiert mich der Leute Reden! Ich weiß schon, wer ich bin, und hinter dir hätt' ich ein wenig mehr als soviel gesucht. Macht aber nichts, schadet gar nichts!« Nachdem dieser Wortwechsel noch ein Weilchen fortgedauert hatte, und mir das Brenz ein wenig in den Kopf stieg, wagt' ich's ihr ein bißchen näher zu rücken, denn das zwar bösscheinende, aber verzweifelt artige Räsonnieren gefiel mir in der Seele wohl. Ich erkühnte mich sogar, ihr einige läppische Lehrstücke von erznärrischen Liebkosungen zu machen. Sie wies mich aber frostig zurück und sagte: »Kannst mir warten! Wer hat dich das gelehrt?« Dann schwieg sie eine Weile still, guckte steif ins Licht, und ich ein gut' Klafter von ihr entfernt, ihr ins Gesicht. Oh, ihre zwei blauen Äuglin, die gelben Haarlocken, das nette Näschen, das lose[S. 63] Mäulchen, die sanft roten Bäcklin, das feine Ohrläpplin, das geründelte Kinn, das glänzend weiße Hälschen, o, in meinem Leben hab' ich so nichts gesehn. Kein Maler vom Himmel könnt's schöner malen. »Dürft' ich doch,« dacht' ich, »nur ein einziges Mal einen Kuß auf ihr holdes Mündlein tun! Aber nun hab' ich's schon wieder, und ach! wohl auf ewig verdorben.« Ich nahm also kurz und gut Abschied. Ganz frostig sagte sie: »Adieu!« Ich noch einmal: »Leb' wohl, Anne!« und im Herzen: Leb' ewig wohl, herzallerliebstes Schätzchen! Aber vergessen konnt' ich sie nun einmal nicht. In der Kirch' sah ich sie mehr als den Pfarrer, und wo ich sie erblickte, war mir wohl ums Herz. Eines Sonntagabends sah ich einen Schneiderbursch Ännchen heimführen. Wie da urplötzlich mein Blut sich empörte, und alle Säfte mir in allen Gliedern rebellierten! Halb sinnlos sprang ich ihnen auf dem Fuß nach, ich hätte den Schneider erwürgen können, aber ein gebietender Blick von Ännchen hielt mich zurück. Inzwischen macht' ich ihr nachwärts bittere Vorwürf' drüber, und eine ganze Litanei von räudigen Schneidern und Schneidereigenschaften. Dacht' halt: Verloren ist verloren! — Aber Anne blieb mir nichts schuldig, wie ihr's leicht denken könnt.

Die Eltern

Ännchens Stiefätti war ein leichtsinniger Brenzwirt; ihm galt's gleichviel, wer kam und ihm sein Brenz absoff. Ich war nun in kurzem bei seinem Töchterchen wieder wohl am Brett, und genoß dann und[S. 64] wann ein herrliches Viertelstündchen bei ihr. Das lag meinem Vater gar nicht recht. Er sprach mir ernstlich zu, es half aber alles nichts, Ännchen war mir viel zu lieb. Fürchterlich schimpft' er bisweilen auf das verdammte Brenznest, wie er es nannte; und Anne sah' er für eine liederliche Dirn' an. Aber Gott weiß es! das war sie nicht; das redlichste bravste Mädchen, fast meiner Länge, so schlank und hübsch geformt, daß es eine Lust war. Aber ja, schwätzen konnt' sie wie eine Dohle. Ihre Stimme klang wie ein Orgelpfeifchen. Sie war immer munter und allert;[33] um und um lauter Leben; und das macht es eben, daß mancher Sauertopf so schlimm von ihr dachte. Wenn meine Mutter meinen Vater nicht bisweilen eines Besseren belehrt, er hätt' mit Stock und Stein dreingeschlagen.

Ännchen zum Besuch

So verstrich der Sommer. Noch in keinem hatten mir die Vögel, die ich alle Morgen mit Entzücken behorchte, so lieblich gesungen. Gegen den Herbst zogen wir in die Pulverstampfe, wo um diese Zeit mein Vater zum Pulvermacher angenommen worden war. Der Meister, C. Gasser, wurde von Bern verschrieben, und lehrt' uns das Handwerk aus dem Fundament, so daß wir auch das Schwerste in wenig Wochen begreifen konnten. Unter andern war mein Ätti froh, mich jetzt ein Stück weit von Ännchen weg zu haben. Auch überwand ich mich ziemlich lang — als das liebe Kind[S. 65] einst unversehens zu uns zu Stubeten[34] kam. Ich erschrak sehr, und dacht' da würd' ein Wetter losgehen. So lang' sie da war, hingen des Vaters Augenbraunen tief herunter, er schnaubte vor Grimm, redte kein Wort, horchte aber, wie man leicht merken mochte, auf alle Scheltwort'. Oh, wie dauerte mich das herrliche Schätzchen! Würd's doch mein Vater wie ich kennen, wie ganz anders wär's da empfangen worden. Des Abends geleitete ich sie nach Haus. Noch war ich immer der alte blöde Junge. Sie neckte mich artlicher als sonst, aber doch mußt's geneckt sein. Morgens drauf erst ging des Ättis Predigt an: was er an Ännchen Ungereimtes bemerkt, oder vielmehr bemerkt haben wollte, was er gehört und nicht gehört, sondern nur vermutet, das alles kam in die Nutzanwendung seines Sermons. Allerhand Spottnamen, und kurz, alles was Ännchen in meinen Augen verächtlich machen sollte, blieb per se nicht aus. Und wirklich, so lieb mir das Mädchen war, nahm ich mir jetzund doch vor, von ihr abzustehn, weil mir der Vater sie schwerlich jemals lassen würde, und inzwischen noch mancher Ehrenpfennig ihretwegen spazieren müßte. Gleichwohl darf ich zu ihrem Preis auch nicht verschweigen, daß sie mich nie um Geld bringen wollte, ja, daß sie sogar, wenn ich für sie ein Brenzlin zahlte, nicht selten die Ürte[35] mir heimlich[S. 66] wieder zusteckte. Eines Tags nun sagt' ich zum Ätti: »Ich will nicht mehr zur Anne gehn', ich versprech dir's.« »Das wird mich freuen,« sprach er, »und dich nicht gereuen, Uli! Ich mein's gewiß gut mit dir. Sei doch nicht so wohlfeil. Du bist noch jung, und kommst alleweil früh genug zum Schick. Unterdessen geht's dir sicher mehr auf als ab. So eine gibt's noch, wann der Markt vorbei ist. Führ' dich brav auf, bet' und arbeite, und bleib fein bei Haus. Dann gibst einen rechten Kerl, einen Mann ins Feld, und, ich wette, bekommst mit der Zeit ein braves Bauernmädle. Indessen will ich immer für dich sorgen.«

So ging der Winter vorbei. Aber mein Wort hielt ich wenig, und sah Ännchen, so oft es insgeheim geschehen konnte.

Immer noch Liebesgeschichten

Von Gallitag bis in März konnten wir kein Pulver machen. Ich verdient' also mein Brot mit Baumwollenkämmen; die andern mit Spinnen. Der Vater machte die Hausgeschäfte, las uns an den Abenden aus David Hollatz, Böhm und Meads »Beinahe-Christ« die erbaulichsten Stellen vor, und erklärte uns, was er für unverständlich hielt, eben nicht allemal am verständlichsten. Ich las auch für mich. Aber mein Sinn stund meist nicht im Buch, sondern in der weiten Welt.

Im folgenden Frühling (1755) hieß es: Wohin nun mit so viel Buben? Jakob und Jörg wurden zum Pulvermachen bestimmt, ich zum Salpetersieden. Bei[S. 67] diesem Geschäft gab mir mein Vater den Uli M., einen groben, aber geraden, ehrlichen Menschen zum Gehilfen, der ehemals Soldat gewesen, und das Handwerk von seinem Vater her verstand, der in seinem Beruf, aber auch elend genug, verstorben, da er in einen siedenden Salpeterkessel fiel. Wir beiden Ulis fingen also miteinander im März 1755 in der Schamatten unsern Gewerb an. Da gab's unter der Arbeit allerlei Gespräche, die mein Kamerad wohl durch einen Umweg, und wie ich nachwärts erfuhr, geflissen, vielleicht gar auf Anstiften meines Vaters auf Heiratsmaterien zu lenken wußte. Er empfahl mir endlich eine schon ziemlich ältliche Tochter zur Frau, die auch meinen Eltern, dem Ätti besonders, ihres bestandenen Alters und stillen Wandels wegen, wohl gefiel. Ihnen zu Gefallen, führt' ich diese Ursel ein paar Mal zum Wein. Mein Uli machte viel Rühmens von diesem Esaugesicht, das er, nach seiner eignen Sag', schon vor zehn Jahren karessiert hätte. Daß ich eben wenig Reizendes an ihr entdeckte, versteht sich schon. Eine Stunde bei ihr dünkte mich eine halbe Nacht, so gut sie mir immer begegnete, ja, je besser, desto schlimmer für mich. Übrigens trug sie eine ordentliche Bauerntracht. Aber mit Ännchen verglichen war's halt wie Tag und Nacht. Als mich daher letztre eines Tags an der Straß' auffing, sprach sie mit bitterm Spott: »Pfui, Uli! So ein Haargesicht, so eine Iltishaut, so ein Tanzbär! Mir sollt' keiner mehr auf einen Büchsenschuß nahe kommen, der sich an einer[S. 68] solchen Dreckpatsche beschmiert hätte! Uhi! wie stinkst!« Das ging mir durch Mark und Bein. Ich fühlte, daß Ännchen recht hatte; aber dennoch verdroß es mich. Ich verbiß meinen Unmut, schlug ein erzwungenes Gelächter auf, und sagte: »Gut, gut, Ännchen! Nächstens will ich dir alles erklären!« und damit gingen wir voneinander. Es währte kaum vierundzwanzig Stunden, so gab ich meiner grauen Ursel förmlichen Abschied. Sie sah mir wehmütig nach und rief immer hintendrein: »Ist denn nichts mehr zu machen? Bin ich dir zu alt oder nicht hübsch gnug? Nur noch einmal.« Aber ein Wort, ein Mann.

Am nächsten Huheijatag,[36] wo Ännchen auch gegenwärtig war, sah sie, daß ich allein trank. Sie kam freundlich zu mir und lud mich auf den Abend ein. Voll Entzücken flog ich zu ihr hin, und merkte bald, daß ich wieder recht willkomm war, obschon mir das schlaue Mädle über meine Bekanntschaft mit Urseln aufs neue die bittersten Vorwürfe machte. Ich erzählte ihr haarklein, wie das Ding zugegangen. Sie schien sich zu beruhigen. Das machte mich herzhafter; ich wagte zum erstenmal, es zu versuchen, sie an meine Brust zu drücken, und einen Kuß anzubringen. Aber, potz Welt! da hieß es: »So! Wer hat dich das gelehrt? G'wiß die alte Hudlerin. Geh, geh, scher' dich, und sitz erst ins Bad, dir den Unrat abzuwaschen.« — Ich: »Ha! Ich bitt' dich, Schätzle! sei mir nicht kurios. Hab' dich[S. 69] ja alleweil geliebt, und lieb dich je länger je stärker. Laß mich doch — nur eins!« — Sie: »Abslut nicht! Um alles Geld und Gut nicht! Fort, fort, nimm deine Trallwatsch, die dir das Ding gewiesen!« — Ich: »Ach! Ännchen! Schätzchen! Laß mich! Hätt' dich schon lang für mein Leben gern — ach, mein Gott!« — Sie: »Laß mich gehn — ich bitt' dich! — Gewiß nicht. — Einmal jetzt nicht.« — Endlich sagte sie freundlich lächelnd: »Wenn du wiederkommst!« Aber dreimal, wenn ich wiederkam, fing das verschmitzte Mädchen immer das nämliche Spiel an. So können diese schlauen Dinger die dummen Buben lehren. Endlich schlug die erwünschte Stunde: »Ännchen, Ännchen! liebstes Ännchen! Kannst's auch übers Herz bringen? Bist mir doch so herzinniglich lieb! Und ich sollt' kein einzig Mal dein holdes Mündchen küssen? Gelt, du erlaubst's mir? Ich kann's länger nicht aushalten. Lieber will ich dich ganz und gar meiden.« Jetzt drückte sie mir freundlich die Hand, sagte aber wieder: »Nun gewiß, das nächstemal, wenn du wiederkommst!« Hier fing mir an, die Geduld auszugehn. Ich ward wild und schnippisch. Sie hinwieder befürchtete, glaub' ich, Unrat; foppte mich zwar, wie es scheinen sollte, noch immerfort, daß es eine Lust war; aber mit eins kam ihr ein Tränchen ins Aug', und sie wurde zahm wie ein Täubchen: »Nun ja!« sagte sie: »'s ist wahr, du hast die Prob' ausgehalten. Du solltest mir für deine Sünd' büßen. Aber die Straf' hat mich mehr gekostet, als[S. 70] dich, liebes, herziges Üchelin!« Dies sagte sie mit einem so süßen Ton, der mir jetzt noch wie ein fernes Silberglöcklin ins Ohr läutet: Ha! dacht' ich einen Augenblick, jetzt könnt' ich dich wieder strafen, loses Kind! Aber ich bedacht' mich bald eines Bessern, riß mein Liebchen in meine Arme, gab ihr wohl tausend Schmätzchen auf ihr zartes Gesichtlin, überall herum, von einem Ohr bis zum andern, und Ännchen blieb mir kein einziges schuldig; nur daß ich schwören wollte, daß die ihrigen noch feuriger als die meinigen waren. So ging's ohne Unterlaß fort mit Herzen und Schäkern und Plaudern bis zur Morgendämmerung. Jetzt kehrt' ich jauchzend nach Haus und glaubte der erste und glücklichste Mensch auf Gottes Erdboden zu sein. Aber bei alldem fühlt' ich's lebhaft, noch fehle mir, ich wußte doch nicht was? Meist kam's, glaub ich, darauf hinaus: Oh, könnt' ich mein Ännchen, könnt' ich dies holde, holde Kind ganz besitzen, völlig mein heißen, und ich sein, sein Schätzchen, sein Liebchen! Wo ich darum stund und ging, waren meine Gedanken bei ihr. Alle Wochen durft' ich eine Nacht zu ihr wandeln; die schien mir eine Minute, die Zwischenzeit sechs Jahre zu sein. Oh, der seligen Stunden! Da setzte es tausend und hunderterlei verliebte Gespräche, da eiferten wir in die Wette, einander in Honigwörtchen zu übertreffen, und jeder neue oder alte Ausdruck galt einen neuen Kuß. Ich mag nicht schwören und schwöre nicht, aber das waren gewiß nicht nur die seligsten, sondern auch die[S. 71] schuldlosesten Nächte meines Lebens! Und doch, ich darf's einmal nicht verbergen, war Ännchens Ruf nicht der beste. Dies hatte sie ohne Zweifel ihrem freien, geschwätzigen Mäulchen zu verdanken. Ich habe stets und immer mehr das redlichste, beste, züchtigste Mädchen an ihr gefunden. Freilich, von jenen eigentlichen Verführerkünsten braucht' ich und kannt' ich wirklich keine, doch bin ich überzeugt, daß sie auch dergleichen siegreich widerstanden wäre.

So ging der mir unvergeßliche Sommer des Jahres 1755 wie eine Woche vorbei, und täglich gewann ich mein Ännchen lieber. Vor allen andern Mädels ekelte mir's, obgleich ich von Zeit zu Zeit Gelegenheit hatte, mit den artlichsten Töchtern des Lands bekannt zu werden. Inzwischen war ich ein muntrer Salpetersieder, bald allein, bald in Gesellschaft mit jenem andern Uli, der sich noch immer große Mühe gab, mir die wunderbarsten Dinger anzukuppeln. Aber, puh! davon war keine Rede mehr, nebendem daß ich noch überall an kein Heiraten denken durfte.

Es geht auf Reisen

Es war im Herbst, als ich eines Tages meinem Vater eine hübsche Buche im Wald fällen half. Ein gewisser Laurenz Aller von Schwellbrunn, ein Rechen- und Gabelmacher, war uns dabei behilflich und kaufte uns nachwärts das schönste davon ab. Unter allerhand Gesprächen kam's auch auf mich: »Ei, ei, Hans!« sagte Laurenz, »du hast da einen ganzen Haufen Buben. Was willst mit allen anfangen? Hast doch kein Gut,[S. 72] und kann keiner ein Handwerk. Schad', daß du nicht die größten in die Welt 'nausschickst. Da könnten sie ihr Glück machen. Siehst's ja an des Hans Joggelis seinen: Die haben im Welsch-Berngebiet gleich Dienst gefunden, sind noch kaum ein Jahr fort, und kommen schon wie ganze Herren neumontiert, mit goldbordierten Hüten heim, sich zu zeigen. Sie würden um kein Geld mehr hiezuland bleiben.« »Ha!« sagte mein Vater: »Aber meine Buben sind dazu zu läppisch und ungeschickt, des Hans Joggelis hingegen witzig und wohlgeschult; können lesen, schreiben, singen und geigen. Meine sind nur lauter Narren in Vergleichung; sie stehen, wo man's stellt, und tun's Maul auf.« »Behüte Gott!« versetzte Laurenz, »mußt das nicht sagen, Hans! Sie wären gewiß zu brauchen; sonderlich der große da ist wohl gewachsen, kann auch lesen und schreiben, und ist sicher kein Stockfisch — seh's ihm wohl an. Potz Wetter! wenn der recht getummelt wird, das gäb' einen Kerl. Würd'st die Augen aufsperren! Hans, ich will dir Mann dafür sein, daß er nach Jahr und Tag heimkommt gestiefelt und gespornt, und Geld hat wie Hünd,[37] daß es dir ein' Ehr' und Freud' sein soll.« Während diesem Gespräch sperrt' ich Maul und Augen auf und guckte dem Vater ins Gesicht. Er mir dergleichen und sprach: »Was meinst, Uli?« Aber eh' ich antworten konnte, fuhr Laurenz fort: »Potz Hagel! wenn ich noch[S. 73] so jung wär', und 's Maul voll hübsche Zähn' hätte, wie du, das ganze Tockenburg mit allen seinen Stricken und Seilern sollten mich nicht im Land behalten. Ich bin auch in der Welt 'rumkommen. Ha! da gibt's G'lobte Länder, und Geld z' verdienen wie Dreck. Weiß, was ich da gesehen hab'. Aber ich war halt ein liederlicher Narr, und nun ist's zu spät, wenn man dem Alter zuruckt, und gar ein Weib hat. Oh, ich möchte noch brieggen[38] darob. Aber, was ist zu machen?« »Alles gut,« fiel mein Vater ein; »aber da müßt' er Empfehlungsschreiben oder sonst jemand haben, der ihm in den Teich hülfe. Ich wollte freilich gern all meine Kinder versorgt wissen, und keinem vor dem Glück stehn. Aber« — »Aber, was aber?« unterbrach ihn Laurenz. »Dafür laß mich sorgen, es soll dich nicht einen Heller kosten, Hans! und Bürg will ich dir sein, dein Bub soll versorgt werden, daß er einen Mann, daß er einen Herrn gibt. Ich kenne weit und breit angesehene Leut' genug, die solche Bursch' glücklich machen können; und da will ich dem Uli g'wiß den besten aussuchen, daß er mir's sein Lebtag danken soll.« — Mein Vater traute gegen seine Gewohnheit diesmal geschwind; denn er war dem Laurenz gut. Und von mir kam's, einige Liebesskrupel ausgenommen, von denen wir bald reden werden, gar nicht in Frage. Sobald es einmal von des Ätti Seite hieß: »Wie, Uli,[S. 74] hätt'st Lust?« hieß es von meiner: »Ja!« Mein Vater mochte um so viel zufriedener sein, da er mich dergestalt vollends von Ännchen entfernen konnte. Der Mutter hingegen lag's gar nicht recht. Aber, man weiß es schon, wenn der Näbishans einmal einen Entschluß gefaßt, hätten ihn Himmel und Erde nicht mehr davon abwendig gemacht. Es ward also Tag und Stund' abgeredt, wo ich mit Laurenz verreisen sollte, ohne weiter einem Menschen ein Wort davon zu sagen: denn es mache nur unnötigen Lärm, sagte mein Führer.

Gute Nacht, Welt! Ich geh' ins Tirol. So hieß es bei mir. Denn einesteils wenigstens war ich lauter Freude, meinte, der Himmel hange voll Geigen und Hackbrettlin, und hätt' Siegel und Brief in der Tasche, daß mein Glück gemacht sei. Andersteils ging mir's freilich entsetzlich nahe, nicht eben das Vaterland, aber das Land zu meiden, wo mein Liebstes wohnte. Ach! könnt' ich mein Ännchen nur mitnehmen, dacht' ich wohl hunderttausendmal. Aber dann wieder: Fünf, höchstens sechs Jahr' sind doch bald vorbei. Und wie wird's dann mein Schätzchen freuen, wenn ich mit Ehr' und Gut beladen, wie ein Herr nach Haus kehren, oder es zu mir in ein Gelobt Land abholen kann.

Abschied vom Vaterland

Also, auf den siebenundzwanzigsten des Herbstmonats (1755), Samstag abends, ward's abgeredt, den Weg in Gottes Namen unter die Füße zu nehmen. »Wir wollen bei Nacht und Nebel fort,« sagte Laurenz; »es gibt sonst ein gar zu wunderfitzig Gelüg, und an einem[S. 75] Werktag hab' ich nicht Zeit. Mach' dich also reis'fertig. Einen guten Rock, damit ist's getan.« Samstag morgens macht' ich alles zurecht. Nun ging's an den Abschied. Mutter und Schwestern vergossen häufige Tränen, und fingen schon um Mittag an, mir tausendmal: Gott behüt', Gott geleit' dich! zu sagen. Mein Vater, ebenfalls voll Wehmut, gab mir nebst etlichen Batzen folgendes auf den Weg: »Uli!« sprach er, »du gehst fort, Uli! Ich weiß nicht wohin, und du weißt's ebensowenig. Aber Laurenz ist ein gereister Mann, und ich trau' ihm die Redlichkeit zu, er werd' irgendwo ein gutes Nest kennen, wo er dich absetzen kann. Du von deiner Seite halt' dich nur redlich und brav, so wird's, will's Gott! nicht übel fehlen. Jetzt bist du noch wie ein ungebacknes Brötlin. Gib Achtung und laß dich weisen, du bist gelehrig. Übrigens weißt du, ich hab' dir das Ding nie mit einem Wort weder geraten noch mißraten. Es war Laurenzens Einfall und dein Wille; denen fügt' ich mich, und zwar noch mit ziemlich schwerem Herzen. Denn am End' konnt' ich dir noch wie bisher Brot geben, wenn du dich weiter willig zu saurer und nicht saurer Arbeit, wie sie kommt, bequemt hättest. Aber darum werd' ich mich nicht minder freuen, wenn du jetzt Speis' und Lohn dazu auf eine leichtere Art verdienen oder gar dein Glück machen kannst. Was mir am meisten Mühe macht, Uli! ist deine Jugend und dein Leichtsinn. Glaub mir's, du gehst in eine verführerische Welt hinaus, wo's Halunken und Schurken[S. 76] genug gibt, die auf die Unschuld solcher Buben lauern. Ich bitt' dich, trau' keinem Gesicht, bis du's kennst, und laß dich zu nichts bereden, was dich nicht recht dünkt. Bete fleißig, wie Daniel zu Babel, und vergiß nie, daß, wenn ich dich schon nicht mehr sehe und höre, dein bessrer Vater im Himmel in alle Winkel der Welt sieht und hört, was du denkest und tust. Du weißt ja die Bibel, das heißt Gottes Wort, in- und auswendig. Sinn' ihm nach, und vergiß es nie, wie wohl's den frommen Leuten, die Gott liebten, gegangen ist. Denk! Ein Abraham, Joseph, David. Und wie hingegen jenen nichtsnutzen, gottlosen Buben, wie unglücklich sie worden sind. Um deiner Seelen willen, Uli! um deiner zeitlichen und ewigen Wohlfahrt willen, vergiß deines Gottes nicht. Wo der Himmel über dir steht, ist er stets bei dir. Ich kann weiter nichts, als dich seinem allmächtigen Schutz anbefehlen, und das will ich tun, unablässig.« — — So ging's noch eine kurze Weile fort. Mein Herz ward weich wie Wachs. Vor Schluchzen konnt' ich nichts sagen, als: »Ja, Vater, ja!« und in meinem Inwendigen hallt' es wieder: »Ja, Vater, ja!« Endlich, nach einer kurzen Stille, sprach er: »Nun, in Gottes Namen, geh!« und ich: »Ja, ich will gehen!« und: »Liebe, liebe Mutter! tu doch nicht so, es wird mir nicht gänzlich fehlen. Behüt' euch Gott! lieber Vater, liebe Mutter! Behüt' euch Gott alle, liebe Geschwisterte! Folgt doch dem Vater und der Mutter! Ich will ihren guten Ermahnungen auch folgen in der[S. 77] weit'sten weiten Ferne.« Dann gab mir jedes die Hand. Die Zähren rollten ihnen über die feuerroten Backen. Ich mußte fast ersticken. Drauf gab mir die Mutter den Reisebündel und ging beiseite. Mein Vater geleitete mich noch ein Stück Wegs. Es war schon Abenddämmerung. In der Schamatten begegnete mir Kaspar Müller. Der gab mir ein artiges Reis'geldlin und Gottes Geleit auf die Straße.

Abschied vom Schätzle

Nun flog ich noch zu meinem Ännchen hin, welcher ich erst ein paar Nächte vorher mein Vorhaben entdeckt hatte. Sie ward darüber gewaltig verdrießlich, wollt' sich's aber anfangs nicht merken lassen. »Meinethalben,« sagte sie mit ihrem unnachahmlichen Bitterlächeln, »kannst gehen, hab' gemeint, wer nur so liebt, mag sich packen, wohin er will.« »Ach! Liebchen,« sprach ich, »du weißt wahrlich nicht, wie weh 's mir tut; aber du siehst wohl, mit Ehren könnten wir's so nicht mehr lang aushalten. Und ans Heiraten darf ich jetzt nicht denken. Bin noch zu jung; du bist noch jünger, und beide haben wir keines Kreuzers Wert. Unsre Eltern vermöchten nicht uns ein Nestlin zu schaffen, wir gäben ein ausgemachtes Bettelvölklin. Und wer weiß, das Glück ist kugelrund. Einmal, ich lebe der guten Hoffnung.« »Nun, wenn's so ist, was liegt mir dran?« fiel Ännchen ein. »Aber, gelt! du kommst noch einmal zu mir, eh' du gehst?« »Ja, freilich, warum nicht?« versetzt ich: »Das hätt' ich sonst getan!« Jetzt ging ich, wie gesagt, wirklich, meinem Herzchen[S. 78] das letzte Lebewohl zu sagen. Sie stund an der Tür, sah meine Reisepäckchen, hüllte ihr hold gesenktes Köpfchen in ihre Schürze und schluchzte, ohne ein Wort zu sagen. Das Herz brach mir schier. Es machte mich wirklich schon wankend in meinem Vorhaben, bis ich mich wieder ein wenig erholt hatte. Da dacht' ich: In Gottes Namen! es muß denn doch sein, so weh' es tut. Sie führt mich in ihr Kämmerlin, setzt sich aufs Bett, zieht mich wild an ihren Busen, und — ach! ich muß einen Vorhang über diese Szene ziehn, so rein sie übrigens war, und so honigsüß mir noch heute ihre Vergegenwärtigung ist. Wer nie geliebt, kann's und soll's nicht wissen, und wer geliebt hat, kann sich's vorstellen. G'nug, wir ließen nicht ab, bis wir beide matt von Drücken, geschwollen von Küssen, naß von Tränen waren, und die andächtige Nonne in der Nachbarschaft Mitternacht läutete. Dann riß ich mich endlich aus Ännchens weichen, holden Armen los. »Muß es denn sein?« sagte sie: »Ist auf Himmel und Erde nichts dafür? Nein! Ich lass' dich nicht, geh' mit dir, so weit der Himmel blau ist. Nein, in Ewigkeit lass' ich dich nicht, mein alles, alles auf der Welt!« Und ich: »Sei doch ruhig, liebes, liebes Herzchen! Denk einmal ein wenig hinaus, was für Freude, wenn wir uns wiedersehen und ich glücklich bin!« Und sie: »Ach! ach! dann laßst du mich sitzen!« Und ich: »Ha! in alle Ewigkeit nicht, und sollt' ich der größte Herr werden und bei Tausenden gewinnen, in alle Ewigkeit lass' ich dich nicht[S. 79] aus meinem Herzen. Und wenn ich fünf, sechs, zehn Jahre wandern müßte, werd' ich dir immer, immer getreu sein. Ich schwör' dir's«! (wir waren jetzt auf der Straße nach dem Dorf, wo Laurenz mich erwartete, fest umschlungen, und gaben uns Kuß und Kuß —) »Der blaue Himmel da ob uns mit allen seinen funkelnden Sternen, diese stille Mitternacht — diese Straße da sollen Zeugen sein!« Und sie: »Ja! ja! Hier meine Hand und mein Herz, fühl' meinen klopfenden Busen, Himmel und Erde seien Zeugen, daß du mein bist, daß ich dein bin; daß ich, dir unveränderlich getreu, still und einsam deiner harren will, und wenn's zehn und zwanzig Jahre dauern, wenn unsre Haare drüber grau werden sollten; daß mich kein männlicher Finger berühren, mein Herz immer bei dir sein, mein Mund dich im Schlaf küssen soll, bis« — — hier erstickten ihr die Tränen alle Worte. Endlich kamen wir zu Laurenzes Haus. Ich klopfte an. Wir setzten uns vors Haus aufs Bänkchen, bis er herunterkam. Wir achteten seiner kaum. Wirklich fing Ännchen jetzt wieder aufs neue an; die Scheu vor einem lebendigen Zeugen gab uns selber den Mut, uns besser zu fassen. Wir waren beide so beredt wie Landvögte. Aber freilich übertraf mich mein Schätzchen in der Redekunst, in Liebkosungen und Schwüren himmelweit. Bald ging's ein wenig bergauf. Nun wollte Laurenz Ännchen nicht weiterlassen. »Genug ist genug, ihr Bürschlin!« sagte er. »Uchel! so kämen wir ewig nicht fort. Ihr klebt da aneinander wie[S. 80] Harz. Was hilft jetzt das Brieggen? Mädel, es ist Zeit, mit dir ins Dorf zurück. Es gibt noch der Knaben mehr als genug!« Endlich, freilich währt' es lange genug, mußt' ich Ännchen selber bitten, umzukehren: »Es muß, es muß doch sein!« Dann noch einen einzigen Kuß, aber einen, wie's in meinem Leben der erste und der letzte war, und ein paar Dutzend Händedrück', und: Leb', leb' wohl! Vergiß mein nicht! Nein, gewiß nicht, nie, in Ewigkeit nicht! Wir gingen; sie stand still, verhüllte ihr Gesicht und weinte überlaut, ich nicht viel minder. Soweit wir uns noch sehen konnten, schweiten[39] wir die Schnupftücher und warfen einander Küsse zu. Jetzt war's vorbei. Wir kamen ihr aus dem Gesicht. Oh, wie's mir da zumute war! Laurenz wollte mir Mut einsprechen und fing eine ganze Predigt an: wie's in der Fremde auch schöne Engel gebe, gegen welche mein Ännchen nur ein Rotznäschen sei und dergleichen. Ich ward böse auf ihn, sagte aber kein Wort, ging immer stumm hinter ihm her, sah wehmütig ans Siebengestirn hinauf. Zwei kleine Sterne gegen Mittag sah ich, wie mir's deuchte, so nahe beisammen, als wenn sie sich küssen wollten, und der ganze Himmel schien mir voll liebender Wehmut zu sein. So ging's fort, ohne meinerseits zu wissen wohin, und ohne den mindesten Gedanken an Gutes oder Böses, das mir etwa bevorstehen könnte. Laurenz plauderte beständig;[S. 81] ich hörte wenig und betete in meinem Inwendigen fast unaufhörlich: Gott behüte meine liebe Anne! Gott segne meine lieben Eltern! Gegen Tagesanbruch kamen wir nach Herisau. Ich seufzte noch immer meinem Schätzchen nach: Ännchen, Ännchen, liebstes Ännchen! Und nun, vielleicht für lange das letztemal, schreib' ich's noch mit großen Buchstaben: ÄNNCHEN!


[S. 82]

Wanderschaft

Es war ein Sonntag. Wir kehrten im Hecht ein und blieben da den ganzen Tag. Alles gaffte mich an, als wenn sie nie einen jungen Tockenburger oder Appenzeller gesehen hätten, der in die Fremde ging, nicht wußte wohin, noch viel minder warum. An allen Tischen hört' ich viel von Wohlleben und lustigen Tagen reden. Man setzte uns wacker zu trinken vor. Ich war des Weins nicht gewohnt und darum bald aufgeräumt und recht guter Dingen.

Nachtwanderung

Wir machten uns erst bei anbrechender Nacht wieder auf den Weg. Ein fuchsroter Herisauer, und, wie Laurenz, ein Müller, war unser Gefährte. Es ging auf Gossau und Flohweil zu. An letzterm Ort kamen wir bei einem Schopf vorbei, wo etliche Mädel beim Licht Flachs schwungen. »Laßt mich einmal,« sagt' ich, »ich muß die Dinger sehn, ob keine meinem Schatz gleiche?« Damit setzt' ich mich unter sie hin und spaßte ein wenig mit ihnen. Aber da war wenig zu vergleichen. Indessen musterten mich meine Führer fort, sagten, ich werde derlei Zeug noch genug bekommen, und machten allerlei schmutzige Anmerkungen, daß ich rot bis über die Ohren ward. Dann kamen wir auf Rickenbach, Frauenfeld, Nünforn. Hier überfiel mich mit eins eine entsetzliche Mattigkeit. Es war, des Marschierens und Trinkens nicht einmal zu gedenken,[S. 83] das erstemal in meinem Leben, daß ich zwo Nächte nacheinander nicht geschlafen hatte. Allein die Kerls wollten nichts vom Rasten hören, pressierten gewaltig auf Schaffhausen zu, und gaben mir endlich, da ich schwur, ich könnte keinen Schritt weiter, ein Pferd. Das gefiel mir nicht unfein. Unterwegs ging's an ein Predigen, wie ich mich in Schaffhausen verhalten, hübsch grad strecken und frisch antworten sollte. Dann flismeten[40] sie zwei miteinander, doch mit Fleiß so, daß ich's hören mußte, von galanten Herren, die sie kennten, deren Diener es so gut hätten als die Größten im Tockenburg. »Sonderlich,« sagte Laurenz, »kenn' ich einen Deutschländer, der sich dort inkognito aufhält, gar ein vornehmer Herr von Adel, der allerlei Bediente braucht, wo's der geringste besser hat als ein Landamman.« »Ach!« sagt' ich, »wenn ich nur nicht zu ungeschickt wäre, mit solchen Herren zu reden!« — »Nur gradzu gered't, wie's kömmt,« sagten sie, »so haben's dergleichen vornehme Leut' am liebsten.«

In Schaffhausen
Preußische Werbeoffiziere

Wir kamen noch bei guter Zeit in Schaffhausen an und kehrten beim Schiff ein. Als ich vom Pferd eher fiel als stieg, war ich halb lahm und stund da wie ein Hosendämpfer. Da ging's von Seite meiner Führer an ein Mustern, das mich bald wild machte, da ich nicht begreifen konnte, was endlich draus werden sollte. Als wir die Stiege hinaufkamen, hießen sie mich ein wenig[S. 84] auf der Laube warten, traten in die Stube und riefen mich nach wenigen Minuten hinein. Da sah ich einen großen hübschen Mann, der mich freundlich anlächelte. Sofort hieß man mich die Schuh' ausziehn, stellte mich an eine Säul' unter ein Maß und betrachtete mich vom Kopf bis zu'n Füßen. Dann red'ten sie etwas Heimliches miteinander; und hier stieg mir armen Bürschchen der erste Verdacht auf, die zwei Kerls möchten's nicht zum besten mit mir meinen. Dieser Argwohn verstärkte sich, als ich deutlich die Worte vernahm: »Hier wird nichts draus, wir müssen weiter gehn.« »Heut' setz' ich keinen Fuß mehr aus diesem Haus,« sagt' ich zu mir selber; »ich hab' noch Geld!« Meine Führer gingen hinaus. Ich saß am Tische. Der Herr spazierte das Zimmer auf und ab und guckte mich unterweilen an. Neben mir schnarchte ein großer Bengel auf der Bank, der wahrscheinlich im Rausch in die Hosen geschwitzt, daß es kaum zu erleiden war. Als der Herr während der Zeit einmal aus der Stube ging, nahm ich die Gelegenheit wahr, die Wirtsjungfer zu fragen, wer denn wohl dieser Bursche sein möchte. »Ein Lumpenkerl,« sagte sie. »Erst heute hat ihn der Herr zum Bedienten angenommen, und schon sauft der H. sich blindstern voll und macht e'n Gestank, puh!« — »Ha!« sagt' ich, eben als der Herr wieder hereintrat, »so ein Bedienter könnt' ich auch werden.« Dies hört' er, wandte sich gegen mich und sprach: »Hätt'st du zu so was Lust?« »Nachdem es ist,« antwortet' ich. »Alle Tag neun[S. 85] Batzen,« fuhr er fort, »und Kleider so viel du nötig hast.« »Und was dafür tun?« versetzt' ich. Er: Mich bedienen. Ich: Ja! wenn ich's könnte. Er: Will dich's schon lehren. Pursch, du gefällst mir. Wir wollen's vierzehn Tag probieren. Ich: Es bleibt dabei. Damit war der Markt richtig. Ich mußt' ihm meinen Namen sagen. Er ließ mir Essen und Trinken vorsetzen und tat allerlei gutmütige Fragen an mich. Unterdessen waren meine Gefährten, wie ich nachwärts erfuhr, zu ein paar andern preußischen Werbeoffizieren gegangen, deren sich damals fünf auf einmal in Schaffhausen befanden, und machten bei ihrer Zurückkunft große Augen, als sie mich so draufloszechen sahen. »Was ist das?« sagte Laurenz. »Geschwind, komm! Jetzt haben wir dir einen Herrn gefunden.« »Ich hab' schon einen,« antwortet' ich. Und Er: »Wie, was? ohne Umständ« und wollten schon Gewalt brauchen. »Das geht nicht an, ihr Leute!« sagte mein Herr. »Der Bursch' soll bei mir bleiben!« »Das soll er nicht,« versetzte Laurenz. »Er ist uns von seinen Eltern anvertraut.« »Lirum! Larum!« erwiderte der Herr. »Er hat zu mir gedungen, und damit auf und Holla!« Nach einem ziemlich heftigen Wortwechsel gingen sie miteinander in ein Nebenkabinett, wo Laurenz und der Herisauer, wie ich im Verfolg hörte, sich mit drei Dukaten abspeisen ließen, von denen einer meinem Vater werden sollte, den er aber nie ansichtig ward. Damit brachen sie ganz zornig auf, ohne nur mit einem[S. 86] Wort von mir Abschied zu nehmen. Anfangs sollen sie bis auf zwanzig Louisdor für mich gefordert haben.

Als Bedienter

Den folgenden Tag ließ mein Herr einen Schneider kommen und mir das Maß von einer Montierung nehmen. Alle andern Beitaten folgten in kurzem. Da stand ich gestiefelt und gespornt, funkelnagelneu vom Scheitel bis an die Sohlen. Ein hübscher bordierter Hut, samtne Halsbinde, ein grüner Frack, weißtüchene Weste und Hosen, neue Stiefel, nebst zwei paar Schuhen: alles so nett angepaßt. — Sackerlot! Da bildet' ich mir kein kaltes Kraut ein. Mein Herr reizte mich noch dazu, nur ein wenig stolz zu tun. »Ollrich!« sagte er: »Wenn du die Stadt auf- und abgehst, mußt du hübsch gravitätisch marschieren, den Kopf recht in die Höhe, den Hut ein wenig auf's eine Ohr.« Mit eigner Hand gürtete er mir einen Pallasch an die Seite. Als ich so das erstenmal über die Straße ging, war's mir, als ob ganz Schaffhausen mein wäre. Auch rückte alles den Hut vor mir. Die Leut' im Haus begegneten mir wie einem Herrn. Wir hatten in unserm Gasthof hübsch möblierte Zimmer, und ich selber ein ganz artiges. Ich sah aus meinem Fenster alle Stunden des Tags das frohe Gewimmel der durchs Schifftor aus- und eingehenden Menschen, Pferde, Wagen, Kutschen und Chaisen, und, was mir nicht wenig schmeichelte, man sah und bemerkte auch mich. Mein Herr, der mir bald so gut war, als ob ich sein eigner Sohn wäre,[S. 87] lehrte mich frisieren, frisierte mich anfangs selbst und flocht mir einen tüchtigen Haarzopf. Ich hatte nichts zu tun, als ihm bei Tisch zu servieren, seine Kleider auszuklopfen, mit ihm spazieren zu fahren, auf die Vögeljagd zu gehn und dergleichen. Ha! das war ein Leben für mich. Die meiste Zeit durft' ich vollends allein wandeln, wohin es mir beliebte. Alle Tag' ging ich bald durch alle Gassen in dem hübschen Schaffhausen; denn außer Lichtensteig hatt' ich bisher noch keine Stadt gesehn, und kein größer Wasser als die Thur. Ich spazierte also bald alle Abend an den Rhein hinaus und konnte mich an diesem mächtigen Fluß kaum satt sehn. Als ich den Sturz bei Laufen das erstemal sah und hörte, ward mir's braun und blau vor den Augen. Ich hatte mir's, wie so viele, ganz anders, aber so furchtbar majestätisch nie eingebildet. Was ich mir da für ein klein winziges Ding schien! Nach einem stundenlangen Anstaunen kehrt' ich ordentlich wie beschämt nach Haus. Bisweilen ging's auf den Bonenberg, der schönen Aussicht wegen. An der Lände half ich den Schiffleuten, und fuhr bald selbst mit Pläsier hin und her.

Unerwarteter Besuch

So stund's, und mir war himmelwohl, als, ohne Zweifel durch meine wackern Begleiter, das Gerücht in meine Heimat kam, man hätte mich aufs Meer verkauft; namentlich sollte dies ein Mann ausgesagt haben, der mich mit eignen Augen anschmieden und den Rhein hinunterführen gesehn. Schon stellte man mich[S. 88] allen Kindern zum Exempel vor, daß sie fein bei Haus bleiben und sich nicht in die böse Welt wagen sollten. Zwar glaubte mein Vater kein Wort hievon; weil aber die Mutter so grämlich tat, ihm Vorwürf' über Vorwürfe machte und Tag und Nacht keine Ruhe ließ, entschloß er sich endlich, auf Schaffhausen zu kehren und sich selbst nach dem Grund oder Ungrund dieser Märe zu erkundigen. Also an einem Abend, welche Freude für uns beide, als mein innigstgeliebter Vater so ganz unerwartet, daß ich meinen Augen kaum trauen durfte, in meine Kammer trat! Er erzählte mir, was ihn hergeführt, und ich ihm, wie glücklich ich sei. Ich zeigte ihm meinen Kasten, die scharmanten Kleider darin, alles Stück für Stück bis auf die Hemdknöpflin, und stellte ihn meinem guten Herrn vor, der ihn freundlich bewillkommte und bestens zu traktieren befahl. — Nun aber traf's sich, daß man gerade den Abend nach dem Nachtessen in unserm Gasthof tanzte, und mein Herr als ein Liebhaber von allen Lustbarkeiten sich solches auch schmecken ließ, so wie mein Vater und ich uns am Tischchen in einem Winkel der großen Gaststube unsern Braten. Ganz unversehens kam er auf mich zu: »Ollrich! komm, mußt auch eins mit den jungen Leuten da tanzen.« Vergebens entschuldigt' ich mich und bezeugte auch mein Vater, daß ich mein Lebtag nie getanzt hätte. Da half alles nichts. Er riß mich hinterm Tisch hervor und gab mir die Köchin im Haus, ein artiges Schwabenmeitlin, an die Hand. Der[S. 89] Schweiß tropfte mir von der Stirn vor Scham, daß ich in Gegenwart meines Vaters tanzen sollte. Das Mädchen inzwischen riß mich so vertummelt herum, daß ich in kurzem sinnlos von einer Wand zu der andern platschte, und damit allen Zuschauern zum Spektakel ward. Mein lieber Ätti red'te zwar bei dieser ganzen Szene kein Wort; aber von Zeit zu Zeit warf er auf mich einen wehmütigen Blick, der mir durch die Seele ging. Wir legten uns noch zeitig genug zu Bette. Ich ward nicht müde, ihm nochmals eine ganze Predigt zu machen, wie wohl ich mich befinde, was ich für einen gütigen Herrn habe, wie freundlich und väterlich er mir begegne und so fort. Er gab mir nur mit abgebrochenen Worten Bescheid: Ja, so, es ist gut, und schlief, so wie ich nicht minder, ziemlich unruhig ein. Des Morgens nahm er Abschied, sobald mein Herr erwacht war. Derselbe zahlte ihm die Reisekosten, gab ihm noch einen Taler auf den Weg, und versicherte ihn hoch und teuer, ich sollt' es gewiß gut bei ihm haben und wohl versorgt sein, wenn ich mich weiter treu und redlich betragen würde. Mein redlicher Vater, der nun schon wieder Mut und Zutrauen faßte, dankte höflich und empfahl mich aufs beste. Ich gab ihm das Geleit bis zum Kloster Paradies. Auf der Straße sprachen wir so herzlich miteinander, als es seit jener Krankheit in meiner Jugend nie geschehen. Er gab mir vortreffliche Erinnerungen: »Vergiß deine Pflichten, deine Eltern und deine Heimat nicht, so wird dich[S. 90] Gottes Vaterhand gewiß auf gute Wege leiten, welche freilich weder ich noch du voraussehn.« Beim Abschied zerdrückten wir uns fast. Ich konnte vor Schluchzen kaum ein: Behüte, behüte Gott! herstammeln, und dachte immer: Ach! könnt' ich doch mein gegenwärtiges Glück ungetrennt von meinem guten Ätti genießen, jeden Bissen mit ihm teilen, und dergleichen.

Der Dienst
Johann Markoni

Meines Diensts war ich bald gewohnt. Mein Herr hatte, ohne mein Wissen, etlichemal meine Treu auf die Probe gestellt, und hie und da im Zimmer Geld liegen lassen. Als bald nachher einem andern preußischen Werboffizier sein Bedienter mit dem Schelmen davonging und ihm über achtzig Gulden enttrug, sagte mein Herr zu mir: »Willst du mir's auch einmal so machen, Ollrich?« Ich versetzte lachend: Wenn er mir so etwas zutraue, soll er mich lieber fortjagen. Ich hatte aber wirklich sein Vertrauen so sehr gewonnen, daß er mir den ganzen Winter durch die Schlüssel zu seiner Stube und Kammer ließ, wenn er etwa ohne Bedienten kleine Touren machte. Hinwieder ehrte und liebte ich ihn wie einen Vater. Aber er war auch freundlich und gütig danach. Nur zu viel konnt' ich spazieren und müßig gehn, und fuhr ich, besonders im Herbst, oft über Rhein auf Feuerthalen, denn die alte Brücke war kurz vorher eingefallen, und die neue erst akkordiert, in die Weinlese. Dort half ich dem jungen Volke Trauben essen, bis ans Halszäpflin. Einmal bei einer solchen Überfahrt sagte mir jemand: »Nun, wie geht's Ulrich?[S. 91] Weißt du auch, daß dein Herr ein preußischer Offizier ist?« Ich: »Ja! meinetwegen, er ist ein herzguter Herr.« »Ja, ja!« sagte jener, »wart' nur, bis d'enmal in Preußen bist, da mußt Soldat sein und dir den Buckel braun und blau gerben lassen. Um tausend Taler möcht' ich nicht in deiner Haut stecken.« Ich sah dem Burschen starr ins Gesicht, und dachte bloß, der Kerl rede so aus Bosheit oder Neid; ich ging dann geschwind nach Haus und erzählte meinem Herrn alles haarklein, worauf derselbe versetzte: »Ollrich, Ollrich! Du mußt nicht so jedem Narren und Flegel dein Ohr geben. Ja! es ist wahr, preußischer Offizier bin ich — und was ist's denn? von Geburt ein polnischer Edelmann, und damit ich dir alles auf die Nase binde, heiß' ich Johann Markoni. Bisher nanntest du mich Herr Leutnant. Aber eben dieser Grobiane wegen sollst du mich künftig Ihr Gnaden! schelten! Übrigens sei nur getrost und guten Muts, dir soll's, bei Edelmanns Parole! nie fehlen, wenn du anders ein wackrer Bursche bleibst. Soldat solltest werden? Nein, bei meiner Seel' nicht! Ich konnt' dich ja haben, um ein paar schlichte Louisdor wollten deine beiden saubern Landsleut' dich verkaufen. Aber du warst mir dazu etwas zu kurz; von deiner Länge nimmt man noch keinen an, und ich behielt dir was Besseres vor.« Nun, dacht' ich, bin ich Leibs und Guts sicher. Ha, der gute Herr! Er hätt' mich können haben. Die Schurken! Ja wohl, mich verkaufen? Der Henker lohn's ihnen! Aber komm'[S. 92] mir mehr so einer, ich will ihm das Maul mit Erde stopfen. Was für ein vornehmer Herr muß nicht Markoni sein, und dabei so gut! Kurz, ich glaubte ihm von nun an alles wie ein Evangelium.

Oh, die Mütter

Markoni machte bald hernach eine Reise nach Rottweil am Neckar, zwölf Stunden von Schaffhausen. Ich mußte mit, und zwar in der Chaise. In meinem Leben war ich in keinem solchen Ding gesessen. Der Kutscher sprengte die Stadt hinauf bis ans Schwabentor, daß es donnerte. Ich meinte alle Augenblick', es müsse umschlagen, und wollte mich an allen Wänden halten. Markoni lachte sich die Haut voll: »Du fällst nicht, Ollrich! Nur hübsch gerade!« Ich war's bald gewohnt, und das Fuhrwerk, sowie überhaupt die ganze Tour machte mir viel Vergnügen. Indessen begegnete mir während der Zeit ein fataler Streich. Meine Mutter war wenige Tage nach unserer Abreise gen Schaffhausen gekommen, und mußte, da ihr der Wirt nicht sagen konnte, wenn wir zurückkämen, noch welchen Weg wir genommen, wieder nach Haus kehren, ohne ihr liebes Kind gesehen zu haben. Sie hatte mir mein Neues Testament und etliche Hemden gebracht, und dem Wirt befohlen, mir's nachzuschicken, falls ich nicht wieder auf Schaffhausen käme. Oh, die gute Mutter! Es war eine kleine Buße für ihren Unglauben, sie wollte dem Vater nicht trauen, daß er mich angetroffen, sondern mit eignen Augen sehen und erst dann glauben. Ganz trostlos, unter tausend Tränen soll sie wieder von Schaffhausen[S. 93] heimgegangen sein. Dies schrieb mir auf ihr Ansuchen bald darauf Herr Schulmeister Am Bühl zu Wattweil, mit dem Beifügen, sie lasse mir, da sie keine Hoffnung habe, mich jemals wieder zu sehen, hiemit ihr letztes Lebewohl sagen, und gebe mir ihren Segen. Es war ein sehr schöner Brief, er rührte mich innig. Unter anderm stand auch darin: Als das Gerücht in meine Heimat gekommen, ich müsse über Meer, hätten meine jungen Schwesterchen all ihr armes Gewändlin dahingeben wollen, mich loszukaufen, die Mutter desgleichen. Damals waren ihrer neun Geschwisterte bei Hause. Man sollte denken, das wären ihrer genug. Aber eine rechte Mutter will keins verlieren, denn keins ist das andre. Wirklich war sie drei Wochen vorher noch im Kindbett gelegen und kaum aufgestanden, als sie meinetwegen auf Schaffhausen kam. Oh, die Mütter, die Mütter!

Hin und her
Leben in Rottweil

Da wir uns einstweilig in Rottweil im Gasthof zur Armbrust niederließen, schrieb mein Herr auf Schaffhausen, wo er wäre, damit, wenn seine Wachtmeister Rekruten machten, man ihm solche nachschicken könnte. Er bekam bald Antwort. Derselben war auch das Geschenk meiner Mutter, das Schreiben des Herrn Am Bühl, und — ich sprang hochauf! — eines von Ännchen beigebogen; dieses letztre offen, denn es sollte ein Zürchgulden zum Grüßchen drinstecken, und der war fort. Was schierte mich das? Die süßen Fuchswörtlin[S. 94] in dem Briefchen entschädigten mich reichlich. Meiner unverschobnen ausführlichen Antworten auf diese Zuschriften will ich nicht gedenken. Die an Ännchen zumal war lang wie ein Nestelwurm. — Diesmal blieben wir nur kurze Zeit zu Rottweil, gingen wieder nach dem lieben Schaffhausen zurück, und machten von Zeit zu Zeit kleine Touren auf Dießenhofen, Stein am Rhein, Frauenfeld u. s. f. Alle Wochen kamen Säumer aus dem Tockenburg herunter. Schon als Landskraft waren sie mir lieb, und ich freute mich immer, sobald ich nur die Schellen ihrer Tiere hörte. Jetzt machte ich nähere Bekanntschaft mit ihnen, und gab ihnen ein paarmal Briefe und kleine Geschenke an mein Liebchen und an meine Geschwister mit, erhielt aber keine Antwort. Ich wußte nicht, wo es fehlte. Das drittemal bat ich einen solchen Kerl, mir doch alles richtig zu bestellen. Er guckte das Päckchen an, runzelte die Stirn und wollte weder ja noch nein sagen. Ich gab ihm einen Batzen. »So, so,« sprach jetzt mein Herr Landsmann, »das Ding soll richtig bestellt werden.« Und wirklich bekam ich bald ordentliche Empfangscheine. Meine ältern Briefe und schweren Sachen hingegen waren natürlich nach Holland geschwommen.

In Schaffhausen lagen damals fünf preußische Werboffiziers in verschiedenen Wirtshäusern. Alle Tag traktierte einer die andern. So kam's auch jeden fünften Tag an uns. Das kostete jedesmal einen Louisdor, dafür gab's freilich Burgunder und Champagner[S. 95] gnug zu trinken. Aber bald hernach wurde ihnen ihr Handwerk gelegt, wie die Sag' ging, weil ein junger Schaffhauser, der in Preußen seine Jahre ausgedient, keinen Abschied kriegen konnte. Kurz, sie mußten alle fort, und neue Nester suchen. Mein Herr hatte ohnehin hier schlechte Beute gemacht, drei einzige Erzschurken ausgenommen, die sich, Verbrechen wegen, auf flüchtigen Fuß setzen mußten. Wir begaben uns wieder nach Rottweil. Hier kriegten wir in etlichen Wochen vollends einen einzigen Kerl, einen Deserteur aus Piemont, der aber Markoni viel Freude machte, weil er sein Landsmann war, und mit ihm polnisch parlieren konnte. Sonst war's in Rottweil ein lustig Leben. Besonders gingen wir oft mit einem andern Werboffizier, nebst unserm braven Wirt und etlichen Geistlichen, in die Nachbarschaft aufs Jagen. Im Hornung 1756 machten wir eine Reise nach Straßburg. Auf dem Weg nahmen wir zu Haßlach im Kinzingertal unser Schlafquartier. In derselben Nacht war das entsetzliche Erdbeben, welches man durch ganz Europa verspürte. Ich empfand nichts davon, denn ich hatte mich tags vorher auf einem Karrngaul todmüd geritten. Am Morgen aber sah' ich alle Gassen voll Schornsteine, und im nächsten Wald war die Straße mit umgeworfenen Bäumen in die Kreuz und Quer so verhackt, daß wir mehrmals Umwege nehmen mußten. In Straßburg mußt' ich Maul' und Augen aufsperren, denn da sah' ich erstens: die erste, große Stadt; zweitens:[S. 96] die erste Festung; drittens: die erste Garnison; und viertens: am dortigen Münster das erste Kirchengebäud', bei dessen Anblick ich nicht lächeln mußte, wenn man es einen Tempel nannte. Wir brauchten acht Tag' zu dieser Tour. Mein Herr hielt mich auch diesmal gastfrei und zahlte mir gleich meinen Sold. Da hätt' ich Geld machen können wie Heu, wär' ich nicht ein liederlicher Tropf gewesen. Er selbst hielt nicht viel besser Haus. Bei unsrer Rückkehr hatten wir zu Rottweil alle Tage Ball, bald in diesem, bald in jenem Wirtshause. Fast alle Hochzeiten richtete man, Markoni zu Gefallen, in dem unsrigen an. Der beschenkte alle Bräute, und trillerte dann eins mit ihnen herum. Auch für mich war dies ein ganzes Fressen. Zwar hatt' ich mir's fest vorgenommen, meinem Ännchen treu zu bleiben, und hielt wirklich mein Wort, gleichwohl aber macht' ich mir kein Gewissen daraus, hie und da mit einem hübschen Kind zu schäkern, wie mich denn auch die Dinger recht wohl leiden mochten. Mein Herr war vollends ein Liebhaber des schönen Geschlechts bis zum Entsetzen, und im Notfall jede Köchin ihm gut genug. Mich bewahre Gott davor, dacht' ich oft, so ein armes bisher ehrliches Mädchen zu besudeln, dann heut oder morgen wegzureisen und es sitzen zu lassen. Eine von den beiden Köchinnen im Wirtshause, Mariane, dauerte mich innig. Sie liebte mich heftig, gab und tat mir, was sie mir an den Augen ansah. Ich hingegen bezeigte mich immer schnurrig, sie ließ sich's[S. 97] aber nicht anfechten, und blieb gegen mich stets dieselbe. Schön war sie nicht, aber herzlich gut. Die andre Köchin, Hanne, machte mir schon mehr Anfechtungen. Diese war zierlich hübsch, und ich, vermutlich darum, eine Zeitlang sterblich verliebt in sie. Hätt' sie meine Aufwart williger angenommen, wär' ich wirklich an ihr zum Narren worden. Aber ich sah bald, daß sie gut mit Markoni stund. Ich merkte, daß sie alle Morgen zu ihm aufs Zimmer schlich. Damit tat sie mir einen doppelten Dienst: Erstlich verwandelte sich meine Liebe in Haß, zweitens stand nun mein Herr nicht mehr so früh als gewöhnlich auf, also konnt' auch ich hinwieder um so viel länger schlafen. Bisweilen kam er schon gestiefelt und gespornt auf meine Kammer und traf mich noch im Bett' an, ohne mir Vorwürf' zu machen, denn er merkte, daß ich wußte, wo die Katz' im Stroh lag. Nichtsdestoweniger warnte er mich, nach solcher Herren Weise, vor seinen eignen Sünden mit großem Ernst. »Ollrich!« hieß es da, »hörst, mußt dich mit den Mädels nicht zu weit einlassen, du könnt'st die schwere Not kriegen!« Übrigens hatt' ich's in allen Dingen bei und mit ihm wie von Anfang, viel Wohlleben für wenig Geschäfte, und meist einen Patron wie die liebe Stunde, zwei einzige Mal ausgenommen, einmal, da ich den Schlüssel zum Halsband seines Pudels nicht auf der Stell' finden konnte, das andre Mal, da ich einen Spiegel sollte zerbrochen haben. Beidemal war ich unschuldig. Aber das hätt' mir wenig geholfen,[S. 98] sondern nur durch demütiges Schweigen entging ich der zumal des Schlüssels wegen schon über mir gezogenen Fuchtel. Derlei Geschichtchen, kurz, alles, was mir Süßes oder Saures widerfuhr, meine Liebesmücken ausgenommen, schrieb ich fleißig nach Haus, und predigte bei solchen Anlässen meinen Geschwistern ganze Litaneien voll, wie sie Vater, Mutter und andern Vorgesetzten ja nie widerbelfern, sondern, auch wo sie Unrecht zu leiden vermeinen, sich hübsch gewöhnen sollten, das Maul zu halten, damit sie's nicht von fremden Leuten erst zu spät lernen müßten. Alle meine Briefe ließ ich meinem Herrn lesen, nicht selten klopfte er mir während der Lektur auf die Schulter! Bravo, Bravo! sagte er dann, verpitschierte sie mit seinem Siegel, und hielt mich in Ansehung aller an mich eingehenden Depeschen portofrei.

Mir ist so wohl beim Zurückdenken an diese glücklichen Tage! Heute noch schreib' ich mit innigem Vergnügen davon, und ich bin jetzt noch so wohl zufrieden mit meinem damaligen Ich, so geneigt, mich über alles zu rechtfertigen, was ich in diesem Zeitraum tat und ließ. Freilich vor dir nicht, Allwissender! Aber vor Menschen darf ich's sagen: Damals war ich ein guter Bursch' ohne Falsch, vielleicht für die arge Welt nur zu redlich. Harmlos und unbekümmert bracht' ich meine Tage hin, heut' wie gestern, und morgen wie heute. Kein Gedanke stieg in mir auf, daß es mir jemals anders als gut gehen könnte. In allen Briefen[S. 99] schrieb ich meinen Eltern, sie sollten zwar für mich beten, aber nicht für mich sorgen, der Himmel und mein guter Herr sorgten schon für mich. Man glaube mir's oder nicht, der einzige Kummer, der mich bisweilen anfocht, war dieser: Es dürft' mir noch zu wohl werden, und dann möcht' ich Gottes vergessen. Aber nein! beruhigte ich mich bald wieder, das werd' ich nie: War er's nicht, der mir, durch Mittel, die nur seine Weisheit zum besten lenken konnte, zu meinem jetzigen erwünschten Los half? Mein erster Schritt in die Welt geriet unter seiner leitenden Fürsorge so gut; warum sollten die folgenden nicht noch besser gelingen? Auf irgendeinem Fleck der Erde werd' ich vollends mein Glück bau'n. Dann hol' ich Ännchen, meine Eltern und Geschwister zu mir, und mache sie des gleichen Wohlstands teilhaft. Durch welche Wege? fragt' ich mich nie, und hätt' ich daran gedacht, so wär's mir nicht schwer gewesen, drauf zu antworten, denn damals war mir alles leicht. Zudem kam mein Herr tagtäglich mit allerlei Exempeln von Bauern, die zu Herren worden, und andern Fortunaskindern angestochen. Der Herren, die zu Bettlern worden, tat er keine Meldung. Er versprach auch, an meinem ferneren Fortkommen wie ein treuer Vater zu arbeiten. Was hätt' ich weiter befürchten sollen, oder vielmehr, was nicht alles hoffen dürfen? Von einem Herrn wie Markoni, einem so großen Herrn, dacht' ich Esel, dem zweit- oder drittnächsten vielleicht auf den König, der Länder und[S. 100] Städte, geschweige Gelds zu vergeben hat, soviel er will. Aus seiner jetzigen Güte zu schließen, was wird er erst für mich in der Zukunft tun? Oder warum sollt' er auf mich groben, ungeschliffenen Flegel jetzt schon so viel wenden, wenn er nicht große Dinge mit mir im Sinn hätte? Konnt' er mich nicht, gleich andern Rekruten, geradezu nach Berlin transportieren lassen, wenn er je im Sinn hätte, mich zum Soldaten zu machen, wie mir's ehemals ein paar böse Mäuler aufbinden wollten? Nein! Das wird in Ewigkeit nicht gescheh'n, darauf will ich leben und sterben. So dacht' ich, wenn ich vor lauter Wohlbehagen je Zeit zu denken hatte. Gesund war ich wie ein Fisch. Das Traktement konnt' ich nach meinem Geschmack wählen, und Mariane ließ mir's an guten Bissen nie fehlen. Tanz und Jagd förderten die Dauung; denn ohne das hätt's mir freilich an Bewegung gefehlt. Markoni besuchte, bald hie bald da, alle Edelleut' in der Runde. Ich mußte überall mit; und es tat mir in der Seele wohl, wenn ich sah, wie er ordentlich Hoffart mit mir trieb. Sonst waren solche Ausritte zu diesen meist armen Schmalzgrafen seinem Geldbeutel wenig nutz. Dann kostete ihn das Tarockspiel mit Pfaffen und Laien auch schöne Batzen. Einst mußt' ich darum die Karten vor seinen Augen in kleine Stück zerreißen und dem Vulkan zum Opfer bringen, aber morgens drauf ihm schon wieder neue holen. Ein andermal hatt' er auch eine ziemliche Summ' verloren, und kam abends um neun Uhr[S. 101] mit einem tüchtigen Räuschchen verdrießlich nach Haus. »Ollrich!« sagte er, »geh', schaff mir Spielleut', es koste, was es will.« »Ja, Ihr Gnaden!« antwortet ich, »wenn ich dergleichen wüßte; und dann ist's schon so spät und stockfinster.« »Fort, Racker!« fuhr er fort, »oder —« und machte ein fürchterlich wildes Gesicht. Ich mußte mich packen, stolperte im Dunkeln durch alle Straßen, und spitzte die Ohren, ob ich nirgends eine Geige höre? Als ich endlich zu oberst im Städtchen an die Müller- und Bäckerherberg' kam, merkt' ich, daß es da etwas Herumspringens absetzen wollte. Ich schlich mich hinauf und ließ einen Spielmann herausrufen. Die Bursch' in der Stube schmeckten den Braten; ein paar von ihnen kamen ihm auf dem Fuß nach, und husch! mit Fäusten über mich her. Dem Wirt hatt' ich's zu danken, daß sie mich nicht fast zu Tod geschlagen. Der Apollossohn hatte mir zwar ins Ohr geraunt, sie wollten bald aufwarten. Jetzt aber zweifelt' ich, ob er mir Wort halten könnte. Dennoch war ich Tropfs genug, sobald ich nach Haus kam, mit den Worten ins Zimmer zu treten: »Ihr Gnaden! innert einer Viertelstund' werden sie da sein!« — Die Furcht vor neuen Prügeln, eh' noch die alten versaust wären, verführte mich zu diesem Wagestück. Aber nun stand ich Höllenangst aus, bis ich wußte, ob ich nicht aus übel ärger gemacht. Mittlerweile erzählt' ich Markoni, was ich seinetwegen gelitten, um per Avanzo sein Mitleid rege zu machen, wenn der Guß fehlen[S. 102] sollte. Die tausendslieben Leute kamen, eh' wir's uns versahen. Unser Wirt hatte inzwischen etliche lustige Brüder und ein paar Jungfern rufen lassen. Jetzt kommandierte Markoni Essen und Trinken, was Küche und Keller vermochten, warf den Musikanten zum voraus einen Dukaten hin, und tanzte eine Menuett und einen Polnischen. Bald aber fing er auf seinem Stuhl an zu schnarchen; dann erwacht' er wieder, und rief: »Ollrich! mir ist's so hundsföttisch!« Ich mußt' ihn also zu Bett bringen. Im Augenblick schlief er ein wie ein Stock. Das war uns übrigen recht gekocht. Wir machten uns lustig wie die Vögel im Hanfe; alles so durcheinander, Herren und Dienstboten. Es währte bis morgens um vier Uhr. Mein Herr erwachte um fünf. Seine ersten Worte waren: »Ollrich! Sein Tage trau' Er keinem Menschen; 's ist alles falsch wie'n Teufel. Wenn der Kujon von R*** kömmt, so sag' Er, ich sei nicht zu Hause.«

Adieu Rottweil!

Dieser von R*** war einer von Markonis faulen Debitoren, wie er deren viel hatte. Nun fürchtete er zwar nicht, daß derselbe ihm Geld bringen, aber wohl, daß er noch mehr bei ihm holen möchte; denn mein Herr konnte keinem Menschen etwas abschlagen. Indessen wollt' er mich von Zeit zu Zeit dazu brauchen, ihm dergleichen Schulden wieder einzutreiben; dazu aber taugt' ich in Grundsboden nicht: die Kerls gaben mir gute Wort'; und ich ging zufrieden nach Haus. Aber länger mocht' eine solche Wirtschaft nicht dauern.[S. 103] Dazu kam, daß Markoni am End' das ärgste befürchten mußte, wenn er bedachte, wie wenig Bursche er für so viel Geldverzehrens seinem König geliefert hatte; denn der Große Friedrich, wußt' er wohl, war zugleich der genaueste Rechenmeister seiner Zeit. Er strengte darum mich, unsern Wirt, und alle seine Bekannten an, uns doch umzusehn, ob wir ihm nicht noch ein paar Kerls ins Garn bringen könnten? Aber alles vergebens. Auch die beiden Wachtmeister Hevel und Krüger langten um die gleiche Zeit ebenfalls mit leeren Händen wieder zu Rottweil an. Nun mußten wir uns sämtlich reisefertig machen. Vorher aber gab's noch ein paar lustige Tägel. Hevel war ein Virtuos' auf der Guitarr, Krüger eine gute Violine; beide feine Herren, solang sie auf der Werbung lagen, beim Regiment aber magere Korporals. Ein dritter endlich, Labrot, ein großer, handfester Kerl, ließ ebenfalls seinen Schnurrbart wieder wachsen, den er als Werber geschoren trug. Diese drei Bursche belustigten noch zu guter Letzt ganz Rottweil mit ihren Sprüngen. Es war eben Fastnacht, wo die sogenannte Narrenzunft, ein ordentliches Institut dieser Stadt, bei welchem über zweihundert Personen von allen Ständen eingeschrieben sind, ohnehin ihre Gaukeleien machte, die meinem Herrn schwer Geld kosteten. Und kurz, es war hohe Zeit, den Fleck zu räumen. Jetzt ging's an ein Abschiednehmen. Mariane flocht mir einen zierlichen Strauß von kostbaren künstlichen Blumen, den sie mir[S. 104] mit Tränen gab, und den ich ebensowenig mit trockenem Aug' abnehmen konnte. Und nun ade! Rottweil, liebes friedsames Städtchen! liebe, tolerante, katholische Herren und Bürger! Wie war's mir so tausendswohl bei euerm vertrauten, brüderlichen Zechen! Ade! ihr wackern Bauern, die ich an den Markttagen in unserm Wirtshaus so gern von ihren Geschäften plaudern hörte, und so vergnügt auf ihren Eseln heimreiten sah! Wie trefflich schmeckten mir oft Milch und Eier in euern Strohhütten! Wie manche Lust genoß ich auf euern schönen Fluren, wo Markoni so viel Dutzend singende Lerchen aus der Luft schoß, die mich in die Seele dauerten! Wie entzückt war ich, so oft mein Herr mir's vergönnte, in euern topfebenen Wäldern, an des Neckars reizenden Ufern, auf und nieder zu schlendern, wo ich ihm Hasen ausspähen sollte, aber lieber die Vögel behorchte, und das Schwirren des Wests in den Wipfeln der Tannen! Und nirgends war's so lustig als um Hefendorf, und dann bei dem auf einem schauerlich schönen Felsenberg gelegenen Schlosse Rotenstein, welches der dasselbe fast rund umrauschende Neckar zu einer höchst romantischen Halbinsel macht. — Nochmal also ade! Rottweil, wertes, teures Nestchen! Ach! vielleicht auf ewig! Ich hab' seit der Zeit so viel Städte gesehn, zehnmal größer, und zwanzigmal saubrer und netter als du bist! Aber mit aller deiner Kleinheit, und mit allen deinen Miststöcken, warst du mir zehn- und zwanzigmal lieber als sie! Ade, Marianchen! Tausend[S. 105] Dank für deine innige, und doch so unverdiente Liebe zu mir! Ade! Sebastian Zipfel, lieber, guter Armbrustwirt! und deine zarte Mühle desgleichen! Lebt alle, alle wohl!

Reise nach Berlin

Den fünfzehnten März 1756 reisten wir in Gottes Namen, Wachtmeister Hevel, Krüger, Labrot, ich und Kaminski, mit Sack und Pack, und, den letztern ausgenommen, alle mit Unter- und Übergewehr, von Rottweil ab. Marianchen nähte mir den Strauß aufn Hut und schluchzte; ich drückte ihr einen Neunbätzner in die Hand und konnt's auch kaum vor Wehmut. Denn so entschlossen ich zu dieser Reis war, und so wenig Arges ich vermutete, fiel's mir doch ungewohnt schwer auf die Brust, ohne daß ich eigentlich wußte, warum? War's Rottweil oder Marianchen, oder daß ich ohne meinen Herrn reisen sollte, oder die immer weitere Entfernung vom Vaterland und Ännchen? — Ich hatte allen zu Hause mein letztes Lebewohl geschrieben. Markoni gab mir zwanzig Gulden auf den Weg; was ich mehr brauche, sagte er, werde mir Hevel schießen. Dann klopfte er mir auf die Schulter: »Gott bewahre dich, mein Sohn, mein lieber, lieber Ollrich, auf allen deinen Wegen! In Berlin sehn wir uns bald wieder.« Dies sprach er sehr wehmütig; denn er hatte gewiß ein weiches Herz. Unsre erste Tagreise ging sieben Stunden weit, bis ins Städtchen Ebingen, meist über schlechte Wege durch Kot und Schnee. Die zweite bis auf[S. 106] Obermarkt neun Stunden. Auf der erstgenannten Station logierten wir beim Reh; auf der zweiten weiß ich selbst nicht mehr, was es für ein Tier war. An beiden Orten gab's nur kalte Küche und ein Gesöff ohne Namen. Den dritten Abend bis Ulm wieder neun Stunden. Diesen Tag fing ich an, die Beschwerlichkeiten der Reise zu fühlen; schon hatt' ich Schwielen an den Füßen, und war mir's sonst sterbensübel. Im Städtchen Egna setzten wir uns ein Stück Wegs auf einen Bauernwagen, da denn das gewaltige Schütteln dieses Fuhrwerks, zumal bei mir, seine gewohnte, herzbrechende Wirkung tat. Als wir unweit Ulm abstiegen, ward's mir schwarz und blau vor den Augen. Ich sank zu Boden. »Um Gottes Barmherzigkeit willen,« sagt' ich, »weiter kann ich nicht; lieber laßt mich auf der Gasse liegen.« Ein barmherziger Samariter lud mich endlich auf seine nackte Mähre, auf der ich mich vollends bis ins Städtchen so lahm ritt, daß ich weder mehr stehen noch gehen konnte. Zu Ulm logierten wir beim Adler und hatten dort unsern ersten Rasttag. Meine Kameraden besorgten da ihre alten Herzensangelegenheiten. Ich legte mich auf die faule Haut. Nur sah ich an diesem Ort einen Leichenzug, der mir sehr wohl gefiel. Das Weibsvolk ging ganz weiß bis auf die Füße. Den fünften Tag marschierten wir bis Gengen sieben Stunden. Den sechsten auf Nördlingen, wieder sieben Stunden, und hielten da den zweiten Rasttag. Hevel hatte dort beim Wilden Mann ein lieb's Liesel.[S. 107] Sie spielte artig die Guitarr, er sang Lieder dazu. Sonst weiß ich von diesem und so vielen andern Orten, wo wir durchkamen, nichts zu erzählen. Meist erst nachts langten wir müd' und schläfrig an, und morgens früh mußten wir wieder fort. Wer wollte da etwas recht sehen und beobachten können? Ach Gott! dacht' ich oft, wenn ich nur einmal an Ort und Stell' wäre, mein Lebtag wollt' ich nicht mehr eine so lange Reise antreten. Kaminski war, wie ich schon einmal angedeutet, ein lustiger Polack, ein Mann wie ein Baum, ein paar Beine wie zwei Säulen, und lief wie ein Elefant. Labrot hatte auch seinen tüchtigen Schritt. Krüger, Hevel und ich hingegen schonten ihrer Füße, und bald alle sechs Tage mußte man uns flicken oder versohlen. Am achten Tage ging's nach Gunzenhausen, acht Stunden. Gegen Mittag sahen wir Hevels Lieschen über ein Feld dahertrippeln. Das arme Ding rannte ihm durch andere Wege bis hierher nach, und wollte sich nicht abweisen lassen, ihn wenigstens bis auf unsere Station zu begleiten. Von hier gingen wir über Nürnberg, Bayreuth und Hof weiter und erreichten in sechs Tagen Schleiz, wo wir endlich wieder Rasttag hielten. Von Gunzenhausen an hatten wir in keinen Betten gelegen, sondern wenn's gut ging, auf elendem Stroh. Und überhaupt, obschon wir viel Geld verzehrten, war's ein miserabel Leben, meist schlecht Wetter, und oft abscheuliche Wege. Krüger und Labrot fluchten und pestierten den ganzen Tag; Hevel hingegen war ein[S. 108] feiner, sittlicher Mann, der uns immer Geduld und Mut einsprach. Den neunzehnten Tag gelangten wir über die Elbe bis auf Halle. Als wir den breiten Strom passiert hatten, bezeugten die Sergeanten große Freude, denn nun betraten wir Brandenburger Boden. Zu Halle logierten wir bei Hevels Bruder, einem Geistlichen, der aber nichts desto minder den ganzen Abend mit uns spielte und haselierte,[41] so daß ich glaube, sein Bruder Sergeant war frommer als er. Inzwischen war mein Geld alle geworden, und Hevel mußte mir noch zehn Gulden herschießen. Den zwanzigsten bis vierundzwanzigsten Tag ging's über Zerbst, Dessau, Spandau und Charlottenburg in vierundvierzig Stunden nach Berlin. An den letztern Orten zumal wimmelte es von Militär aller Gattungen und Farben, so daß ich mich nicht satt gucken konnte, die Türme von Berlin zeigte man uns schon, eh' wir nach Spandau kamen. Ich dachte, wir hätten's in einer Stunde erreicht, wie erstaunt' ich darum, als es hieß, wir gelangten erst morgen hin. Und nun, wie war ich so herzlich froh, als wir endlich die große herrliche Stadt erreicht. Wir gingen zum Spandauertor ein, dann durch die melancholisch angenehme Lindenstraße, und noch ein paar Gassen durch. Da, dacht' ich Einfaltspinsel, bringt man dich dein Lebtag nicht mehr weg, da wirst du dir dein Glück bauen, dann schickst du einen Kerl mit[S. 109] Briefen ins Tockenburg, der muß dir deine Eltern und Ännchen zurückbringen, die werden die Augen aufsperren. Nun bat ich meine Führer, sie sollten mich zu meinem Herrn führen. »Ei!« erwiderte Krüger, »wir wissen ja nicht, ob er schon angelangt ist, und noch viel minder, wo er Quartier nimmt!« »Der Henker!« sagt' ich, »hat er denn kein eigen Haus hier?« Über diese Frage lachten sie sich die Haut voll. Mögen sie immer lachen, dacht' ich, Markoni wird doch, will's Gott! ein eigen Haus haben.

In Berlin

Es war den achten April, als wir zu Berlin einmarschierten und ich vergebens nach meinem Herrn fragte, der doch, wie ich nachwärts erfuhr, schon acht Tage vor uns angelangt war. Labrot, denn die anderen verloren sich nach und nach von mir, ohne daß ich wußte, wo sie hinkamen, transportierte mich in die Krausenstraße, in Friedrichsstadt, wies mir ein Quartier an und verließ mich kurz mit den Worten: »Da, Mußier, bleib' Er, bis auf fernere Order!« Der Henker! dacht' ich, was soll das? Ist ja nicht einmal ein Wirtshaus! Wie ich so staunte, kam ein Soldat, Christian Zittemann, und nahm mich mit auf seine Stube, wo sich schon zwei andre Martissöhne befanden. Nun ging's an ein Wundern und Ausfragen: wer ich sei, woher ich komme und dergleichen. Noch konnt' ich ihre Sprache nicht recht verstehen. Ich antwortete kurz, ich komme aus der Schweiz, und sei Sr. Exzellenz[S. 110] des Herrn Leutnant Markoni Lakai, die Sergeanten hätten mich hierher gewiesen, ich möchte aber lieber wissen, ob mein Herr schon in Berlin angekommen sei und wo er wohne. Hier fingen die Kerls ein Gelächter an, daß ich hätte weinen mögen; und keiner wollte das geringste von einer solchen Exzellenz wissen. Mittlerweile trug man eine stockdicke Erbsenkost auf. Ich aß mit wenigem Appetit. Wir waren kaum fertig, als ein alter hagerer Kerl ins Zimmer trat, dem ich doch bald ansah, daß er mehr als Gemeiner sein müsse. Es war ein Feldweibel. Er hatte eine Soldatenmontur auf dem Arm, die er über den Tisch ausspreitete, legte ein Sechsgroschenstück dazu und sagte: »Das ist für dich, mein Sohn! Gleich werd' ich dir noch ein Kommißbrot bringen.« »Was? für mich?« versetzt' ich, »von wem, wozu?« »Ei, deine Montierung und Traktement, Bursche! Was gilt's da Fragens? Bist ja ein Rekrute.« »Wie, was? Rekrute?« erwidert' ich! »Behüte Gott! da ist mir nie kein Sinn daran kommen. Nein, in meinem Leben nicht. Markonis Bedienter bin ich. So hab' ich gedungen, und anders nicht. Da wird mir kein Mensch anders sagen können!« »Und ich sag' dir, du bist Soldat, Kerl! Ich steh' dir dafür. Da hilft jetzt alles nichts.« Ich: Ach! wenn nur mein Herr Markoni da wäre. Er: Den wirst du sobald nicht zu sehen kriegen. Wirst doch lieber wollen unsers Königs Diener sein, als seines Leutnants? Damit ging er weg. »Um Gottes willen, Herr Zittemann!«[S. 111] fuhr ich fort, »was soll das werden?« »Nichts, Herr!« antwortete dieser, »als daß Er, wie ich und die andern Herren da, Soldat und wir folglich alle Brüder sind, und Ihm alles Widersetzen nichts hilft, als daß man Ihn auf Wasser und Brot nach der Hauptwache führt, kreuzweis schließt, und Ihn fuchtelt, daß Ihm die Rippen krachen, bis Er kontent ist!« Ich: Das wär', beim Sacker! unverschämt, gottlos. Er: Glaub' Er mir's auf mein Wort, ander's ist's nicht, und geht's nicht. Ich: So will ich's dem Herrn König klagen. Hier lachten alle hoch auf. Er: Da kömmt Er sein Tage nicht hin. Ich: Oder wo muß ich mich sonst melden? Er: Bei unserm Major, wenn Er will. Aber das ist alles umsonst. Ich: Nun so will ich's probieren, ob's so gelte? Die Bursche lachten wieder, ich aber entschloß mich wirklich, morgens zum Major zu gehn und meinem treulosen Herrn nachzufragen.

Zum Rekruten gepreßt

Sobald also der Tag an Himmel brach, ließ ich mir dessen Quartier zeigen. Potz Most! das dünkte mich ein königlicher Palast und der Major der König selbst zu sein, so majestätisch kam er mir vor, ein gewaltig großer Mann, mit einem Heldengesicht und ein paar feurigen Augen wie Sternen. Ich zitterte vor ihm, stotterte: »Herr ... Major! Ich bin ... Herr Leutnants Markonis Be ... Bedienter. Fü ... fü ... für das bi ... bi ... bin ich angewo ... worben, und sonst wei ... weiters für ni ... ni ... nichts. Si ... Si ... Sie können ihn selbst fra ...[S. 112] gen. I ... Ich weiß nicht wo er i ... i ... ist. Jetzt sagen's da, ich müsse So ... o ... oldat sei ... ei ... ein, ich wolle o ... der wolle nicht.« — »So!« unterbrach er mich, »so ist Er das saubre Bürschchen! Sein feiner Herr hat uns gewirtschaftet, daß es eine Lust ist, und Er wird wohl auch seinen Teil gezogen haben. Und kurz, jetzt soll Er dem König dienen, da ist's aus und vorbei.« Ich: Aber Herr Major! Er: Kein Wort, Kerl! oder die Schwernot! Ich: Aber ich hab' ja weder Kapitulation noch Handgeld! Ach! Könnt' ich doch mit meinem Herrn reden! Er: Den wird Er sobald nicht zu sehen kriegen, und Handgeld hat Er mehr gekost't als zehn andre. Sein Leutnant hat eine saubere Rechnung, und Er steht darin obenan. Eine Kapitulation soll Er haben. Ich: Aber — Er: Fort, Er ist ja ein Zwerg, daß — Ich: Ich bi ... bi ... bitte. — Er: Kanaille! scher' Er sich zum Teufel. Damit zog er die Fuchtel. Ich zum Haus hinaus wie ein Dieb, und nach meinem Quartier, das ich vor Angst und Not kaum finden konnte. Da klagt' ich Zittemann mein Elend in den allerhöchsten Tönen. Der gute Mann sprach mir Mut ein. »Geduld, mein Sohn! Es wird schon alles besser gehn. Jetzt mußt' dich leiden, viel hundert brave Bursche aus guten Häusern müssen das gleiche tun. Denn, gesetzt auch, Markoni könnte und wollte dich behalten, so müßt' er dich doch unter sein Regiment abgeben, sobald es hieß: ins Feld, marsch! Aber wirklich, einstweilen würd' er kaum

[S. 113]

Kapitulation

einen zu nähren imstande sein, da er auf der Werbung ungeheure Summen verzehrt und dafür so wenig Kerls eingeschickt haben soll, wie ich unsern Oberst und Major schon oft lamentieren gehört, man wird ihn gewiß nicht mehr so geschwind zu derlei Geschäften brauchen.« So tröstete mich Zittemann, und ich mußt's wohl annehmen, da mir kein besserer Trost übrigblieb. Nur dacht' ich dabei, die Größern richten solche Suppen an, und die Kleinern müssen sie aufessen.

Soldatenleben

Des Nachmittags brachte mir der Feldweibel mein Kommißbrot nebst Unter- und Übergewehr und fragte, ob ich mich nun eines Besseren bedacht. »Warum nicht?« antwortete Zittemann für mich, »er ist der beste Bursch' von der Welt.« Jetzt führte man mich in die Montierungskammer, paßte mir Hosen, Schuh' und Stiefeletten an und gab mir einen Hut, Halsbinde und Strümpfe. Dann mußt' ich mit noch etwa zwanzig andern Rekruten zum Herrn Oberst Latorf. Man führte uns in ein Gemach, so groß wie eine Kirche, brachte etliche zerlöcherte Fahnen herbei und befahl jedem, einen Zipfel anzufassen. Ein Adjutant, oder wer er war, las uns einen ganzen Sack voll Kriegsartikel her und sprach uns einige Worte vor, welche die mehrern nachmurmelten, ich regte mein Maul nicht, dachte dafür was ich gern wollte, ich glaube an Ännchen; er schwung dann die Fahne über unsre Köpfe und entließ uns. Hierauf ging ich in eine Garküche und ließ mir ein Mittagessen nebst einem Krug Bier[S. 114] geben. Dafür mußt' ich zwei Groschen zahlen. Nun blieben mir von jenen sechsen noch viere übrig; mit diesen sollt' ich vier Tage wirtschaften, und sie reichten doch bloß für zwei hin. Bei dieser Überrechnung fing ich gegen meine Kameraden schrecklich zu lamentieren an. Allein Cran, einer derselben, sagte mir mit Lachen: »Es wird dich schon lehren. Jetzt tut es nichts, hast ja noch allerlei zu verkaufen! Per Exempel deine ganze Dienermontur. Dann bist du gar doppelt armiert, das läßt sich alles versilbern. Auch kriegen solche junge Bursche oft noch eine Traktements-Zulage, und kannst dich deswegen beim Obrist melden.« »Oh! oh! Da geh' ich mein Tage nicht mehr hin,« sagt' ich. »Potz Velten!« antwortete Cran, »du mußt mal des Donners gewohnt werden, sei's ein wenig früher oder später. Und dann der Menage wegen nur fein aufmerksam zugesehn, wie's die andern machen. Da heben's drei, vier bis fünf miteinander an, kaufen Dinkel, Erbsen, Erdbirnen und kochen selbst. Des Morgens um e'n Dreier Fusel und e'n Stück Kommißbrot. Mittags holen sie in der Garküche um e'n andern Dreier Suppe und nehmen wieder e'n Stück Kommiß. Des Abends um zwei Pfennig Konvent oder Dünnbier und abermals Kommiß.« »Aber das ist, beim Strehl, ein verdammtes Leben,« versetzt' ich, und Er: Ja! So kommt man aus und anders nicht. Ein Soldat muß das lernen, denn es braucht noch viel andre Ware: Kreide, Puder, Schuhwachs, Öl, Schmirgel, Seife und was[S. 115] der hundert Siebensachen mehr sind. Ich: Und das muß einer alles von den sechs Groschen bezahlen? Er: Ja! und noch viel mehr, wie z. B. den Lohn für die Wäsche, für das Gewehrputzen und so fort, wenn Er solche Dinge nicht selber kann. Damit gingen wir in unser Quartier, und ich machte alles zurecht, so gut ich konnte und mochte. Die erste Woche hatt' ich noch Vakanz. Ich ging in der Stadt herum, auf alle Exerzierplätze, sah, wie die Offiziere ihre Soldaten musterten und prügelten, daß mir schon zum voraus der Angstschweiß von der Stirne troff. Ich bat daher Zittemann, mir zu Hause die Handgriffe zu zeigen. »Die wirst du wohl lernen,« sagte er, »aber auf die Geschwindigkeit kömmt's an. Da geht's dir wie e'n Blitz!« Indessen war er so gut, mir wirklich alles zu weisen; wie ich das Gewehr rein halten, die Montur anpressen, mich auf Soldatenmanier frisieren sollte. Nach Crans Rat verkaufte ich meine Stiefel und kaufte dafür ein hölzernes Kästchen für meine Wäsche. Im Quartier übte ich mich stets im Exerzieren, las im Hallischen Gesangbuch, oder betete. Dann spaziert' ich etwa an die Spree und sah da hundert Soldatenhände sich mit Aus- und Einladen der Kaufmannswaren beschäftigen, oder auf die Zimmerplätze, da steckte wieder alles voll arbeitender Kriegsmänner. Ein andermal in die Kasernen, da fand ich überall auch dergleichen, die hunderterlei Hantierungen trieben, von Kunstwerken an bis zum Spinnrocken. Kam ich auf die Hauptwache,[S. 116] so gab's deren, die spielten, soffen und haselierten; andre, welche ruhig ihr Pfeifchen schmauchten und diskurierten; etwa auch einer, der in einem erbaulichen Buch las und's den andern erklärte. In den Garküchen und Bierbrauereien ging's ebenso her. Kurz, in Berlin hat's unter dem Militär, wie, denk' ich freilich, in großen Staaten überall, Leute aus allen vier Weltteilen, von allen Nationen und Religionen, von allen Charakteren, und von jedem Berufe, womit einer noch nebenzu sein Stücklein Brot gewinnen kann. Das dachte auch ich zu verdienen, wenn ich nur erst recht exerzieren könnte; etwa an der Spree? Doch nein! da lärmt's zu stark, aber z. E. auf einem Zimmerplatz, da ich mich so ziemlich auf die Art verstund. So war ich wieder fix und fertig, neue Pläne zu machen, ungeachtet ich mit meinem erstern so schändlich gescheitert. Gibt's doch hier, damit schläferte ich mich immer ein, selbst unter den gemeinen Soldaten ganze Leute, die ihre hübschen Kapitalien haben, Wirtschaft, Kaufmannschaft treiben, und anders. Aber dann erwog ich nicht, daß man vorzeiten ganz andere Handgelder gekriegt als heutzutag oder dergleichen Bursche bisweilen ein Namhaftes mochten erheiratet haben, besonders aber, daß sie ganz gewiß mit dem Schilling gut hausgehalten, und nur darum den Gulden gewinnen konnten; ich hingegen weder mit dem Schilling noch mit dem Gulden umzugehen wisse. Und endlich, wenn alles fehlen sollte, fand ich auch einen elenden[S. 117] Trost in dem Gedanken: Geht's einmal zu Felde, so schont das Blei jene Glückskinder so wenig, als dich armen Hudler! — Also bist du so gut wie sie.

Soldatendressur
Wiedersehen mit Markoni

Die zweite Woche mußt' ich mich schon alle Tage auf dem Paradeplatz stellen, wo ich unvermutet drei meiner Landsleute, Schärer, Bachmann und Gästli fand, die sich zumal alle mit mir unter gleichem Regimente Itzenblitz, die beiden erstern vollends unter der nämlichen Kompagnie Lüderitz befanden. Da sollt' ich vor allen Dingen unter einem mürrischen Korporal mit einer schiefen Nase, Mengke mit Namen, marschieren lernen. Den Kerl mocht' ich für den Tod nicht vertragen; wenn er mich gar auf die Füße klopfte, schoß mir das Blut in den Gipfel. Unter seinen Händen hätt' ich mein Tage nichts begreifen können. Dies bemerkte einst Hevel, der mit seinen Leuten auf dem gleichen Platz manöverierte, tauschte mich gegen einen andern aus, und nahm mich unter sein Peloton.[42] Das war mir eine Herzensfreude. Jetzt kapiert' ich in einer Stund' mehr als sonst in zehn Tagen. Von diesem guten Manne vernahm ich auch bald, wo Markoni wohne; aber, bat er um Gottes willen, ich solle ihn nicht verraten. Des folgenden Tags, sobald das Exerzitium vorbei war, flog ich nach dem Quartier, das mir Hevel verdeutet hatte, und murmelte immer vor mich her: »Ja, ja, Markoni! wart' nur, ich will dir deinen[S. 118] an mir verübten Lumpenstreich, deine verfluchte Verräterei so unter die Nase reiben, daß es dich gereuen soll! Nun weiß ich schon, daß du hier nur Leutnant und nirgends Ihr Gnaden bist!« — Bei geringer Nachfrage fand ich das mir benannte Haus. Es war eins von den geringsten in ganz Berlin. Ich pochte an; ein kleines, magres, fuchsrotes Bürschchen öffnete mir die Tür und führte mich eine Treppe hinauf in das Zimmer meines Herrn. Sobald er mich erblickte, kam er auf mich zu, drückte mir die Hand, und sprach zu mir mit einem Engelsgesicht, das in einem Nu allen meinen Grimm entwaffnete und mir die Tränen in die Augen trieb: »Ollrich! mein Ollrich! mach' mir keine Vorwürf'. Du warst mir lieb, bist's noch, und wirst's immer bleiben. Aber ich mußte nach meinen Umständen handeln. Gib dich zufrieden. Ich und du dienen nun Einem Herrn.« — »Ja, Ihr Gnaden« — — »Nichts Gnaden!« sagte er: »Beim Regiment heißt es nur: ›Herr Leutnant!‹« Jetzt klagt' ich ihm, nach aller Ausführlichkeit, meine gegenwärtige große Not. Er bezeugte mir sein ganzes Mitleid. »Aber,« fuhr er fort, »hast ja noch allerlei Sachen, die du versilbern kannst, wie z. E. die Flinte von mir, die Reisemütze, die dir Leutnant Hofmann in Offenburg verehrt, und dergleichen. Bring sie nur mir, ich zahl' dir dafür, so viel sie je wert sind. Dann könntst du dich, wie andre Rekruten, um Gehaltserhöhung beim Major« — »Potz Wetter!« fiel ich ein. »Nein, den sah ich einmal[S. 119] und nimmermehr!« Drauf erzählt' ich ihm, wie dieser Sir mir begegnet sei. »Ha!« versetzte er, »die Lümmels meinen, man könn' auf Werbung von Luft leben und Kerle im Strick fangen.« »Ja!« sagt' ich, »hätt' ich's gewußt, wollt' ich mir wenigstens in Rottweil auch einen Notpfennig erspart haben.« »Alles hat seine Zeit, Ollrich!« erwiderte er, »halt' dich nur brav! Wenn einmal die Exerzitien vorbei sind, kannst du was verdienen. Und wer weiß, vielleicht geht's bald ins Feld, und dann« — Weiter sagte er nichts; ich merkte aber, was er damit wollte, und ging vergnügt, als ob ich mit meinem Vater geredet hätte, nach Haus. Nach etlichen Tagen trug ich Flinte, Pallasch und die samtene Mütze wirklich zu ihm hin; er zahlte mir etwas weniges dafür, aber von Markoni war ich alles zufrieden. Bald darauf verkauft' ich auch meinen Tressenhut, den grünen Frack, so wie alles Übrige, und ließ mir nichts mangeln, so lang ich was anzugreifen hatte. Schärer war ebenso arm als ich, allein er bekam ein paar Groschen Zulage und doppelte Portion Brot. Der Major hielt ein gut Stück mehr auf ihn als auf mich. Indessen waren wir Herzensbrüder, solang einer was zu brechen hatte, konnte der andre mitbeißen. Bachmann hingegen, der ebenfalls mit uns hauste, war ein filziger Kerl und harmonierte nie mit uns; doch schien immer die Stunde ein Tag lang, wo wir nicht beisammen sein konnten. Gästli mußten wir in schlechten Häusern suchen, wenn wir ihn haben[S. 120] wollten; er kam bald hernach ins Lazarett. Ich und Schärer waren auch darin völlig gleichgesinnt, daß uns das Berliner Weibsvolk ekelhaft und abscheulich vorkam. Ich wollt' für ihn so gut wie für mich einen Eid schwören, daß wir keine mit einem Finger berührt haben. Sobald das Exerzieren vorbei war, flogen wir miteinander in Schottmanns Keller, tranken unsern Krug Ruhiner- oder Gottwitzerbier, schmauchten ein Pfeifchen, und trillerten ein Schweizerlied. Immer horchten uns da die Brandenburger und Pommeraner mit Lust zu. Etliche Herren sogar ließen uns oft expreß in eine Garküche rufen, ihnen den Kuhreihen zu singen. Meist bestand der Spielerlohn bloß in einer schmutzigen Suppe; aber in einer solchen Lage nimmt man mit noch weniger vorlieb.

Spaziergänge in Berlin
Vom Desertieren
Exerzierübungen
Schmale Kost
Heimweh
Der Gefangene

Berlin ist der größte Ort in der Welt, den ich gesehen; und doch bin ich bei weitem nie ganz darin herumgekommen. Wir drei Schweizer machten zwar oft den Anschlag zu einer solchen Reise; aber bald gebrach's uns an Zeit, bald an Geld, oder wir waren von Strapazen so marode, daß wir uns lieber der Länge nach hinlegten.

Von der Stadt Berlin sagen zwar viele, sie bestehe aus sieben Städten; unsereinem hat man aber nur drei genannt: Berlin, Neustadt und Friedrichsstadt. Alle drei sind in der Bauart verschieden. In Berlin oder Cölln, wie man auch sagt, sind die Häuser so hoch wie[S. 121] in den Reichsstädten; aber die Gassen nicht so breit wie in Neu- und Friedrichsstadt, wo die Häuser wieder niedriger, aber egaler gebaut sind. Da sehen auch die kleinsten, oft von sehr armen Leuten bewohnt, wenigstens sauber und nett aus. An vielen Orten gibt es ungeheuer große, leere Plätze, die teils zum Exerzieren und zur Parade, teils zu gar nichts gebraucht werden; ferner Äcker, Gärten, Alleen, alles in die Stadt eingeschlossen. Vorzüglich oft gingen wir auf die lange Brücke, auf deren Mitte ein alter Markgraf von Brandenburg,[43] zu Pferd in Lebensgröße, von Erz gegossen steht, und etliche Enakssöhne mit krausen Haaren zu seinen Füßen gefesselt sitzen, dann der Spree nach, auf den Weidendamm, wo's gar lustig ist, dann ins Lazarett, um das traurigste Spektakel unter der Sonne zu sehn, bei dem einen, der nicht gar unsinnig ist, die Lust an Ausschweifungen bald vergehen muß. In diesen Gemächern, so geräumig wie Kirchen, steht Bett an Bett gereiht, in deren jedem ein elender Menschensohn auf seine eigene Art den Tod, und nur wenige ihre Genesung erwarten. Hier ein Dutzend, die unter den Händen der Feldscherer ein erbärmliches Zetergeschrei erheben; dort andre, die sich unter ihren Decken krümmen, wie ein halb zertretener Wurm; viele mit an- und weggefaulten Gliedern. Meist mochten wir's da nur wenige Minuten aushalten, gingen wieder an[S. 122] Gottes Luft und setzten uns auf einen Rasenplatz. Da führte unsre Einbildungskraft uns fast immer unwillkürlich in unser Schweizerland zurück, und erzählten wir einander unsere Lebensart zu Hause: wie wohl's uns war, wie frei wir gewesen und was es hier für ein verwünschtes Leben sei. Dann machten wir Pläne zu unsrer Entledigung. Bald hatten wir Hoffnung, daß uns heut oder morgen einer gelingen möchte; bald sahen wir vor jedem einen unübersteiglichen Berg; am meisten schreckte uns die Vorstellung der Folgen eines fehlschlagenden Versuches. Fast alle Wochen hörten wir nämlich neue, ängstigende Geschichten von eingebrachten Deserteurs, die, wenn sie auch noch so viele List gebraucht, sich in Schiffer und andre Handwerksleute oder gar in Weibsbilder verkleidet, in Tonnen und Fässer versteckt, dennoch ertappt wurden. Da mußten wir zusehen, wie man sie durch zweihundert Mann achtmal die lange Gasse auf und ab Spießruten laufen ließ, bis sie atemlos hinsanken — wie sie des folgenden Tags aufs neue dran mußten, die Kleider vom zerhackten Rücken heruntergerissen, und wie wieder frisch drauflosgehauen wurde, bis Fetzen geronnenen Bluts ihnen über die Hosen hinabhingen. Dann sahen Schärer und ich uns zitternd und todblaß an und flüsterten einander in die Ohren: »Die verdammten Barbaren!« Was hiernächst auch auf dem Exerzierplatz vorging, gab uns zu ähnlichen Betrachtungen Anlaß. Auch da war des Fluchens und Karbatschens von[S. 123] prügelsüchtigen Jünkerleins, und hinwieder des Lamentierens der Geprügelten kein Ende. Wir selber zwar waren immer von den ersten auf der Stelle und tummelten uns wacker. Aber es tat uns nicht minder in der Seele weh, andre um jeder Kleinigkeit willen so unbarmherzig behandelt und selber jahrein, jahraus so kujoniert zu sehn: oft ganzer fünf Stunden lang, in unsrer Montur eingeschnürt, wie geschraubt stehn, in die Kreuz und Quer pfahlgerad marschieren, und ununterbrochen blitzschnelle Handgriffe machen zu müssen, und das alles auf Geheiß eines Offiziers, der mit furiosem Gesicht und aufgehobnem Stock vor uns stund, und alle Augenblicke wie unter Kabisköpfe[44] dreinzuhauen drohte. Bei einem solchen Traktement mußte auch der starknervigste Kerl halb lahm und der geduldigste rasend werden. Kamen wir dann todmüde ins Quartier, so ging's schon wieder über Hals und Kopf, unsre Wäsche zurechtzumachen und jedes Fleckchen auszumustern, denn bis auf den blauen Rock war unsre ganze Uniform weiß. Gewehr, Patrontasche, Kuppel, jeder Knopf an der Montur, alles mußte spiegelblank geputzt sein. Zeigte sich an einem dieser Stücke die geringste Untat, oder stand ein Haar in der Frisur nicht recht, so war, wenn man auf den Platz kam, die erste Begrüßung eine derbe Tracht Prügel. Das währte so den ganzen Mai und Juni fort. Selbst den Sonntag hatten wir nicht[S. 124] frei; dann mußten wir auf das properste Kirchenparade machen. Also blieben uns zu jenen Spaziergängen nur wenige zerstreute Stunden übrig, und wir hatten kurz und gut zu nichts Zeit, als zum Hungerleiden. Wahr ist's, unsre Offiziere erhielten gerade damals die gemessenste Order, uns über Kopf und Hals zu mustern; aber wir Rekruten wußten den Henker davon und dachten halt, das sei so Kriegsmanier. Alte Soldaten vermuteten wohl so etwas, schwiegen aber mausstill. Indessen waren Schärer und ich blutarm geworden; und was uns nicht an den Hintern gewachsen war, hatten wir alles verkauft. Nun mußten wir mit Brot und Wasser oder Kovent,[45] das nicht viel besser als Wasser ist, vorlieb nehmen. Mittlerweile war ich von Zittemann weg, zu Wolfram und Meewis ins Quartier kommen, von denen der erstre ein Zimmermann, der andre ein Schuster war, und die beide einen guten Verdienst hatten. Mit diesen macht' ich anfangs ebenfalls Menage. Sie hatten so ihren Bauerntisch: Suppe und Fleisch, mit Erdäpfeln und Erbsen. Jeder schoß zu einem Mittagsmahl zwei Dreier: Abends und zum Frühstück lebte jeder für sich. Ich aß besonders gern eine Ochsenpfote, einen Hering oder ein Dreierkäschen. Nun aber konnt' ich's nicht mehr mit ihnen halten; zu verkaufen hatt' ich nichts, und mein Sold ging meist für Wäsche, Puder, Schuhwachs, Kreide,[S. 125] Schmirgel, Öl und anderes Plunderzeug auf. Jetzt fing ich erst recht an, Trübsal zu blasen, und keinem Menschen konnt' ich so recht von Herzensgrund meine Not klagen. Des Tags ging ich umher wie der Schatten an der Wand. Des Nachts legt' ich mich ins Fenster, guckte weinend in den Mond hinauf, und erzählte dem mein bittres Elend: »Du, der jetzt auch überm Tockenburg schwebt, sag' es meinen Leuten daheim, wie armselig es um mich stehe, meinen Eltern, meinen Geschwisterten, meinem Ännchen sag's, wie ich schmachte, wie treu ich ihr bin, daß sie alle Gott für mich bitten. Aber du schweigst so stille, wandelst so harmlos deinen Weg fort? Ach, könnt' ich ein Vöglein sein und dir nach in meine Heimat fliegen! Ich armer, unbesonnener Mensch! Gott erbarm' sich mein! Ich wollte mein Glück bauen, und baute mein Elend. Was nützt mir dieser herrliche Ort, worin ich verschmachten muß! Ja, wenn ich die Meinigen hier hätte und so ein schön Häuschen, wie dort grad' gegenübersteht, und nicht Soldat sein müßte, dann wär's hier gut wohnen; dann wollt' ich arbeiten, handeln, wirtschaften, und ewig mein Vaterland meiden! Doch nein! Denn auch so müßt' ich den Jammer so vieler Elenden täglich vor Augen sehn! Nein, geliebtes, liebes Tockenburg! Du wirst mir immer vorzüglich wert bleiben! Aber, ach! Vielleicht seh' ich dich in meinem Leben nicht wieder, verliere sogar den Trost, von Zeit zu Zeit an die Lieben zu schreiben, die in dir wohnen! Jedermann erzählt[S. 126] mir ja von der Unmöglichkeit, wenn's einmal ins Feld gehe, auch nur eine Zeile fortzubringen, worin ich mein Herz ausschütten könnte. Doch, wer weiß? Noch lebt mein guter Vater im Himmel; dem ist's bekannt, wie ich nicht aus Vorsatz oder Liederlichkeit dies Sklavenleben gewählt, sondern böse Menschen mich betrogen haben. Ha! Wenn alles fehlen sollte. Doch, nein! desertieren will ich nicht. Lieber sterben, als Spießrutenlaufen. Und dann kann sich's ja auch ändern. Sechs Jahre sind noch auszuhalten. Freilich eine lange, lange Zeit; wenn's zumal wahr sein sollte, daß auch dann kein Abscheid zu hoffen wäre! Doch, was? Kein Abscheid? Hab' ich doch eine, und zwar mir aufgedrungene Kapitulation! — Ha! Dann müßten sie mich eher töten! Der König müßte mich hören! Ich wollte seiner Kutsche nachrennen, mich anhängen, bis er mir sein Ohr verleiht. Da wollt' ich ihm alles sagen, was der Brief ausweist. Und der gerechte Friedrich wird nicht gegen mich allein ungerecht sein.« — Das waren so damals meine Selbstgespräche.

In diesen Umständen flogen Schärer und ich zusammen, wo wir konnten; klagten, überlegten, beschlossen, verwarfen. Schärer zeigte mehr Standhaftigkeit als ich, hatte aber auch mehr Sold. Ich gab jetzt, wie so viele andre, den letzten Dreier um Genever, meinen Kummer zu vertreiben. Ein Mecklenburger, der nahe bei mir im Quartier und mit mir in gleichen[S. 127] Umständen war, machte es ebenso. Aber wenn der seinen Brand im Kopf hatte, setzte er sich in der Abenddämmerung vors Haus, fluchte und haselierte da mutterseels allein, schimpfte auf seine Offiziere, und sogar auf den König, wünschte Berlin und allen Brandenburgern tausend Millionen Schwernot auf den Hals und fand, wie der arme Teufel, so oft er wieder nüchtern ward, behauptete, in diesem unvernünftigen Rasen seinen einzigen Trost im Unglück. Wolfram und Meewis warnten ihn oft; denn sonst war er noch vor kurzem ein recht guter, umgänglicher Bursche: »Kerl!« sagten sie zu ihm, »gewiß wirst du noch ins Tollhaus wandern!« Dieses war nicht weit von uns. Oft sah ich dort einen Soldat vor dem Gegitter auf einem Bänkchen sitzen, und fragte einst Meewis, wer er wäre. Ich hatte ihn nie bei der Kompagnie gesehn: »Just so einer, wie der Mecklenburger,« antwortete Meewis; »darum hat man ihn hier versorgt, wo er anfangs brüllte wie ein ungarscher Stier. Aber seit etlichen Wochen soll er so geschlacht[46] wie ein Lamm sein.« Diese Beschreibung machte mich lüstern, den Menschen näher kennen zu lernen. Er war ein Anspacher. Anfangs ging ich nur wie verstohlen bei ihm hin und wieder, sah mit wehmütigem Vergnügen, wie er, seinen Blick bald zum Himmel gerichtet, bald auf den Boden geheftet, melancholisch dasaß, bisweilen aber, ganz für[S. 128] sich, sanft lächelte, und übrigens meiner nicht zu achten schien. Schon aus seiner Physiognomie war mir ein solcher Erdensohn in seiner Lage heilig. Endlich wagt' ich es, mich zu ihm zu setzen. Er sah mich starr und ernst an, und schwatzte zuerst lange meist unverständiges Zeug, das ich doch gerne hörte, weil mitunter etwas höchst Vernünftiges zum Vorschein kam. Was ihm am meisten Mühe zu machen schien, war, soviel ich merken mochte, daß er von gutem Haus, und nur durch Verdruß in diese Umstände gekommen sein mußte, jetzt aber von Nachreu und Heimweh erbärmlich litt. Nun entdeckt' ich ihm durch Umwege auch meine Gemütsstimmung, hauptsächlich in der Absicht, zu horchen, was er allenfalls zu meiner Entweichung sagen würde; denn der Mann schien mir ordentlich einen Geist der Weissagung zu haben: »Brüderchen!« sprach er, aus Veranlassung eines solchen Diskurses, einst zu mir: »Brüderchen, halt' du still! Deine Schuld ist's sicher, daß du leidest, und was du leidest, mehr oder minder verdiente Züchtigung. Durch Zappeln machst du's nur ärger. Es wird schon noch anders und immer anders kommen. Der König allein ist König; seine Generals, Obersten, Majoren sind selber seine Bedienten und wir, ach! wir, so hingeworfene, verkaufte Hunde, zum Abschmieren im Frieden, zum Totstechen und Totschießen im Krieg bestimmt. Aber all' eins, Brüderchen! Vielleicht kommst du nahe an eine Türe; geht sie dir auf, so tu', was du willst. Aber halt still, Brüderchen! nur[S. 129] nichts erfrettet[47] oder erzwungen, sonst ist's mit einmal aus!« Dergleichen und noch viel anderes sagte er öfters zu mir. Aller Welt Priester und Leviten hätten mir nicht so gut predigen und mich zugleich so gut trösten können wie er.

Kriegsgerüchte

[S. 131]

Indessen murmelte es immer stärker vom Kriege. In Berlin kamen von Zeit zu Zeit neue Regimenter an; wir Rekruten wurden auch unter eins gesteckt. Da ging's alle Tag vor die Tore zum Manövrieren, links und rechts avancieren, attackieren, retirieren, pelotons- und divisionsweise chargieren, und was der Gott Mars sonst alles lehrte. Endlich gedieh es zur Generalrevue; da ging's zu und her, daß dies ganze Büchelchen nicht klecken würde, das Ding zu beschreiben; und wenn ich's wollte, so könnt' ich's nicht. Erstlich wegen der schweren Menge aller Arten Kriegsgrümpel, die ich hier großenteils zum erstenmal sah. Zweitens hatt' ich immer Kopf und Ohren so voll von dem entsetzlichen Lärm der knallenden Büchsen, der Trommeln und Feldmusik, des Rufens der Kommandeurs und dergleichen, daß ich oft hätte bersten mögen. Drittens war mir das Exerziz seit einiger Zeit so widerlich geworden, daß ich nur nicht mehr bemerken mochte, was all' die Korps zu Fuß und zu Pferde für Millionszeug machten. Freilich kam mich hernach manchmal große Reue an, daß ich diese Dinge nicht besser in Obacht genommen; denn allen meinen Freunden und allen Leuten hierzulande wünscht' ich, daß sie solches nur einen Tag sehen möchten, es würde ihnen zu hundert und aberhundert vernünftigen Betrachtungen Anlaß geben. Also nur dies wenige. Da waren unübersehbare Felder mit Kriegsleuten bedeckt; viele tausend Zuschauer an allen Ecken und Enden. Hier stehen zwei große Armeen in künstlicher Schlachtordnung; schon brüllt von den Flanken das grobe Geschütz aufeinander los. Sie avancieren, kommen zum Feuer, und machen ein so entsetzliches Donnern, daß man seinen nächsten Nachbar nicht hören und vor Rauch nicht mehr sehen kann: Dort versuchen etliche Bataillons ein Heckenfeuer; hier fallen's einander in die Flanke, da blockieren sie Batterien, dort formieren sie ein doppeltes Kreuz. Hier marschieren sie über eine Schiffbrücke, dort hauen Kürassiers und Dragoner ein, und sprengen etliche Schwadrons Husaren von allen Farben aufeinander los, daß Staubwolken über Roß und Mann emporwallen. Hier überrumpeln's ein Lager; die Avantgarde, unter der ich zu manövrieren die Ehre hatte, bricht Zelte ab und flieht. Doch noch einmal: Ich müßte ein Narr sein, wenn ich glaubte, hier eine preußische Generalrevue beschrieben zu haben. Ich hoffe also, man nimmt mit diesem wenigen vorlieb, oder, vielmehr, verzeiht's mir, um der Freude willen, mein Gewäsch nicht länger anzuhören.

Behüte Gott Berlin!
Ausmarsch

Endlich kam der erwünschte Zeitpunkt, wo es hieß: Allons, ins Feld! Schon im Heumonat marschierten etliche Regimenter von Berlin ab, und kamen hinwieder andre aus Preußen und Pommern an. Jetzt mußten sich alle Beurlaubten stellen, und in der großen Stadt wimmelte alles von Soldaten. Dennoch wußte noch niemand eigentlich, wohin alle diese Bewegungen zielten. Ich horchte wie ein Schwein am Gatter. Einige sagten, wenn's ins Feld gehe, könnten wir neue Rekruten doch nicht mit, sondern würden unter ein Garnisonsregiment gesteckt. Das hätte mir himmelangst gemacht; aber ich glaubte es nicht. Indessen bot ich alle meine Leibes- und Seelenkräfte auf, mich bei allen Manövers als einen fertigen, tapfern Soldaten zu zeigen, denn einige bei der Kompagnie, die älter waren als ich, mußten wirklich zurückbleiben. Und nun den einundzwanzigsten August abends spät kam die gewünschte Order, uns auf morgen marschfertig zu halten. Potz Wetter! wie ging es da her mit Putzen und Packen! Einmal, wenn's mir auch an Geld nicht gebrochen, hätt' ich nicht mehr Zeit gehabt, einem Bäcker zwei geborgte Brote zu bezahlen. Auch hieß es, in diesem Fall dürfte kein Gläubiger mehr ans Mahnen denken: Doch ich ließ mein Wäschkistchen zurück; und wenn es der Bäcker nicht abgefordert hat, hab' ich heutigen Tages noch einen Kreditor in Berlin, auch etliche Debitoren für ein paar Batzen, und geht's ungefähr so wett auf. Den zweiundzwanzigsten August morgens um drei Uhr ward Alarm geschlagen,[S. 132] und mit Anbruch des Tages stand unser Regiment Itzenblitz — ein herrlicher Name! — das die Soldaten wegen der gewaltigen Schärfe unseres Obristen auch Donner und Blitz nannten, in der Krausenstraße schon Parade. Jede seiner zwölf Kompagnien war hundertfünfzig Mann stark. Die in Berlin nächst um uns einquartierten Regimenter, deren ich mich erinnere, waren Vokat, Winterfeld, Meyring und Kalkstein; dann vier Prinzenregimenter: Prinz von Preußen, Prinz Ferdinand, Prinz Karl und Prinz von Württemberg, die alle teils vor, teils nach uns abmarschierten, nachwärts aber im Feld meist wieder zu uns gestoßen sind. Jetzt wurde Marsch geschlagen, Tränen von Bürgern, Soldatenweibern, Huren und dergleichen flossen zu Haufen. Auch die Kriegsleute selber, die Landskinder nämlich, welche Weiber und Kinder zurückließen, waren ganz niedergeschlagen, voll Wehmut und Kummer; die Fremden jauchzten heimlich vor Freuden und riefen: Endlich ist unsre Erlösung da! Jeder war bebündelt wie ein Esel, erst mit einem Degengurt umschnallt, dann die Patrontasche über der Schulter mit einem fünf Zoll langen Riemen; über die andre Achsel der Tornister, mit Wäsche und so weiter bepackt; item der Habersack mit Brot und anderer Furage gestopft. Hiernächst mußte jeder noch ein Stück Feldgerät tragen; Flasche, Kessel, Haken, oder so was, alles an Riemen; dann erst noch eine Flinte, auch an einem solchen. So waren wir alle fünfmal kreuzweis über die Brust geschlossen,[S. 133] daß anfangs jeder glaubte, unter solcher Last ersticken zu müssen. Dazu kam die enge, gepreßte Montur und eine solche Hundstagshitze, daß mir's manchmal deuchte, ich geh' auf glühenden Kohlen. Wenn ich meiner Brust ein wenig Luft machte, kam ein Dampf heraus wie aus einem siedenden Kessel. Oft hatt' ich keinen trockenen Faden mehr am Leib und verschmachtete bald vor Durst.

Marschroute bis Pirna

So marschierten wir den ersten Tag (22. August 1756) zum Köpenicker Tor aus, und machten noch vier Stunden bis zum Städtchen Köpenick, wo wir zu dreißig bis fünfzig bei Bürgern einquartiert waren, die uns für einen Groschen traktieren mußten. Potz Plunder, wie ging's da her! Ha! da wurde gefressen. Aber denk' man sich nur so viele, große, hungrige Kerls! Immer hieß es, schaff her, Kanaille, was d' im hintersten Winkel hast. Des Nachts wurde die Stube mit Stroh gefüllt, da lagen wir alle in Reihen, den Wänden nach. Wahrlich, eine kuriose Wirtschaft! In jedem Haus befand sich ein Offizier, welcher auf gute Mannszucht halten sollte; sie waren aber oft die Fäulsten. Den zweiten Tag ging's zehn Stunden weit bis Fürstenwalde, da gab's schon Marode, die sich auf Wagen packen lassen mußten. Es war auch kein Wunder, da wir diesen ganzen Tag nur ein einzigmal haltmachen, und stehenden Fußes etwas Erfrischung zu uns nehmen durften. Am letztgedachten Orte ging es wie an dem erstern, nur daß hier die meisten lieber soffen als[S. 134] fraßen, und viele sich halbtot hinlegten. Den dritten Tag ging's sechs Stunden bis Jakobsdorf, wo wir drei Rasttage hielten, aber desto schlimmer hantierten und die armen Bauern bis aufs Blut aussogen. Vom siebenten bis vierzehnten Tage kamen wir über Guben, Spremberg und Hoyerswerda bis Kamenz, dem letzten Örtchen, wo wir einquartiert wurden. Von da an kampierten wir im Felde, und machten Märsche und Kontermärsche, so daß ich selbst nicht weiß, wo wir all durchkamen, da es oft bei dunkler Nacht geschah. Nur so viel erinnr' ich mich, daß wir am zehnten September Pirna erreichten, wo noch einige Regimenter zu uns stießen, und wir ein weites, fast unübersehbares Lager aufschlugen, sowie auch das über Pirna gelegene Schloß Königstein diesseits und den Lilienstein jenseits der Elbe besetzten. Denn in der Nähe dieses letzteren Berges befand sich die sächsische Armee, in deren Lager wir gerade übers Tal hinübersehen konnten. Unter uns im Tale an der Elbe lag Pirna, das jetzt ebenfalls von unserm Volke besetzt ward.

Bis hierher hatte der Herr geholfen! Diese Worte waren der erste Text unsers Feldpredigers bei Pirna. O ja, dacht' ich, das hat er, er wird auch ferner helfen, und zwar hoffentlich mir in mein Vaterland; denn was gehen mich eure Kriege an?

Mittlerweile ging's, wie's bei einer marschierenden Armee zu gehen pflegt, bunt übereck und kraus, so daß ich alles zu beschreiben nicht imstande bin, auch solches,[S. 135] wie ich denke, zu wenig Dingen nütz wäre. Unser Major Lüderiz, denn die Offiziere gaben auf jeden Kerl besonders Achtung, mag mir oft meinen Unmut aus dem Gesichte gelesen haben. Dann drohte er mir mit dem Finger: »Nimm dich in acht, Kerl!« Schärern hingegen klopfte er bei den nämlichen Anlässen auf die Schulter, und nannte ihn mit lächelnder Miene einen braven Burschen, denn der war immer lustig und wohlgemuts und sang bald seine Maurerlieder, bald den Kühreih'n. Im Herzen dachte er wie ich, obschon er es besser verbergen konnte. Ein andermal freilich faßt' ich wieder Mut und dachte: Gott wird alles wohl machen! Wenn ich vollends Markoni, der doch keine geringe Schuld an meinem Unglück war, auf dem Marsch oder im Lager erblickte, war's mir immer, ich sehe meinen Vater oder meinen besten Freund, wenn er mir zumal vom Pferd herunter seine Hand bot, die meinige traulich schüttelte, mir mit liebreicher Wehmut gleichsam in die Seele 'nein guckte: »Wie geht's, Ollrich! wie geht's? 's wird schon besser kommen!« zu mir sagte, und, ohne meine Antwort zu erwarten, dieselbe aus meinem tränenschimmernden Aug' lesen wollte. Oh! ich wünsche dem Mann, wo er immer tot oder lebendig sein mag, noch auf den heutigen Tag alles Gute; denn von Pirna weg ist er mir nie mehr zu Gesicht gekommen. Mittlerweile hatten wir alle Morgen die gemessene Order erhalten, scharf zu laden; dieses veranlaßte unter den ältern Soldaten ein Gerede:[S. 136] »Heute gibt's was! Heut setzt's gewiß was ab!« Dann schwitzten wir Jungen freilich an allen Fingern, wenn wir bei einem Gebüsch oder Gehölz vorbeimarschierten und uns verfaßt halten mußten. Da spitzte jeder stillschweigend die Ohren, erwartete einen feurigen Hagel und seinen Tod, und sah, sobald man wieder ins Freie kam, sich rechts und links um, wie er am schicklichsten entwischen konnte, denn wir hatten immer feindliche Kürassiers, Dragoner und Soldaten zu beiden Seiten. Als wir einst die halbe Nacht durchmarschierten, versuchte Bachmann den Reißaus zu nehmen, und irrte etliche Stunden im Wald herum, aber am Morgen war er wieder hart bei uns und kam noch eben recht mit der Ausflucht weg, er habe beim Hosenkehren in der Dunkelheit sich von uns verloren. Von da an sahen wir andern die Schwierigkeit, wegzukommen, alle Tag' deutlicher ein, und doch hatten wir fest im Sinn, keine Bataille abzuwarten, es koste was es wolle.

Das Lager zu Pirna

Eine umständliche Beschreibung unsers Lagers zwischen Königstein und Pirna sowohl als des gerade vor uns überliegenden Sächsischen bei Lilienstein wird man von mir nicht erwarten. Ich schreibe nur, was ich gesehen, was allernächst um mich her vor- und besonders was mich selbst anging. Von den wichtigsten Dingen wußten wir gemeine Hungerschlucker am allerwenigsten, auch kümmerten wir uns nicht viel darum. Mein und so vieler andrer ganzer Sinn war[S. 137] vollends allein auf: Fort, fort! Heim ins Vaterland! gerichtet.

Lagerleben

Vom elften bis zweiundzwanzigsten September saßen wir in unserm Lager ganz still, und wer gern Soldat war, dem mußt' es damals recht wohl sein. Da ging's vollkommen wie in einer Stadt zu. Da gab's Marketender und Feldschlächter zu Haufen. Den ganzen Tag, ganze lange Gassen durch, nichts als Sieden und Braten. Da konnte jeder haben was er wollte, oder vielmehr was er zu bezahlen vermochte: Fleisch, Butter, Käs, Brot, aller Gattung Baum- und Erdfrüchte. Die Wachten ausgenommen, mochte jeder machen was ihm beliebte, kegeln, spielen, in und außer dem Lager spazieren gehen. Nur wenige hockten müßig in ihren Zelten. Der eine beschäftigte sich mit Gewehrputzen, der andre mit Waschen, der dritte kochte, der vierte flickte Hosen, der fünfte Schuhe, der sechste schnifelte was von Holz und verkauft' es den Bauern. Jedes Zelt hatte seine sechs Mann und einen Überkompletten. Unter diesen sieben war immer einer gefreit, dieser mußte gute Mannszucht halten. Von den sechs übrigen ging einer auf die Wache, einer mußte kochen, einer Proviant herbeiholen, einer ging nach Holz, einer nach Stroh, und einer machte den Seckelmeister, alle zusammen aber eine Haushaltung, einen Tisch und ein Bett aus. Auf den Märschen stopfte jeder in seinen Habersack, was er, versteht sich in Feindesland, erhaschen konnte. Mehl, Rüben, Erdbirnen, Hühner, Enten. Wer nichts aufzutreiben[S. 138] vermochte, ward von den übrigen ausgeschimpft, wie denn mir das zum öfteren begegnete. Was das für ein Mordiogeschrei gab, wenn's durch ein Dorf ging, von Weibern, Kindern, Gänsen und Spanferkeln. Da mußte alles mit, was sich tragen ließ. Husch! den Hals umgedreht und eingepackt. Da brach man in alle Ställ' und Gärten ein, prügelte auf alle Bäume los und riß die Äste mit den Früchten ab. Der Hände sind viel, hieß es, was einer nicht kann, mag der andre. Da durft' keine Seel' Mux machen, wenn's nur der Offizier erlaubte, oder auch bloß halb erlaubte. Da tat jeder sein Devoir zum Überfluß. Wir drei Schweizer, Schärer, Bachmann und ich, es gab unsrer Landsleute zwar beim Regiment noch mehr, wir kannten sie aber nicht, kamen keiner zum andern ins Zelt, auch nie zusammen auf die Wache. Hingegen spazierten wir oft miteinander außer das Lager bis auf die Vorposten, besonders auf einen gewissen Bühel, wo wir eine weite zierliche Aussicht über das Sächsische, unser ganzes Lager und durchs Tal hinab bis auf Dresden hatten. Da hielten wir unsern Kriegsrat: was wir machen, wo hinaus, welchen Weg wir nehmen, wo wir uns wieder treffen sollten. Aber zur Hauptsache, zum Hinaus fanden wir alle Löcher verstopft. Zudem wären Schärer und ich lieber in einer schönen Nacht allein, ohne Bachmann, davon geschlichen, denn wir trauten ihm nie ganz, und sahen dabei alle Tag' die Husaren Deserteurs einbringen, hörten Spießrutenmarsch schlagen,[S. 139] und was es solcher Aufmunterungen mehr gab. Und doch sahen wir alle Stunden einem Treffen entgegen.

Einnahme des sächsischen Lagers
Marsch und Kontermarsch

Endlich, den zweiundzwanzigsten September, ward Alarm geschlagen und erhielten wir Order aufzubrechen. Augenblicklich war alles in Bewegung, in etlichen Minuten war ein stundenweites Lager, wie die allergrößte Stadt, zerstört, aufgepackt und allons, Marsch! Jetzt zogen wir ins Tal hinab, schlugen bei Pirna eine Schiffbrücke und formierten oberhalb dem Städtchen, dem sächsischen Lager en front, eine Gasse wie zum Spießrutenlaufen, deren eines End' bis zum Pirnaer Tor ging, und durch welche viele gefangene Sachsen zu vieren hoch spazieren, vorher aber das Gewehr ablegen, und, man kann sich's einbilden, die ganze lange Straße durch Schimpf- und Stichelreden genug anhören mußten. Einige gingen traurig mit gesenktem Gesicht daher, andre trotzig und wild, und noch andre mit einem Lächeln, das den preußischen Spottvögeln gern nichts schuldig bleiben wollte. An dem nämlichen Tage marschierten wir noch ein Stück Wegs fort und schlugen unser Lager bei Lilienstein auf. Den dreiundzwanzigsten mußte unser Regiment die Proviantwagen decken. Den vierundzwanzigsten machten wir einen Kontermarsch, und kamen bei Nacht und Nebel, der Henker weiß wohin. Den fünfundzwanzigsten früh ging's schon wieder fort, vier Meilen bis Aussig. Hier[S. 140] schlugen wir ein Lager, blieben da bis auf den neunundzwanzigsten und mußten alle Tag' auf Furage aus. Bei diesen Anlässen wurden wir oft von den kaiserlichen Panduren attackiert, oder es kam sonst aus einem Gebüsch ein Karabinerhagel auf uns los, so daß mancher tot auf der Stelle blieb und noch mehrere blessiert wurden. Wenn aber unsre Artilleristen nur etliche Kanonen gegen das Gebüsch richteten, flog der Feind über Kopf und Hals davon. Dieser Plunder hat mich nie erschreckt, ich wäre sein bald gewohnt worden, und dacht' oft: Pah! wenn's nur den Weg hergeht, ist's so übel nicht. Den dreißigsten marschierten wir wieder den ganzen Tag und kamen erst des Nachts auf einem Berg an, den ich und meinesgleichen abermals so wenig kannten, als ein Blinder. Inzwischen bekamen wir Order, hier kein Gezelt aufzuschlagen, auch kein Gewehr niederzulegen, sondern immer mit scharfer Ladung parat zu stehn, weil der Feind in der Nähe sei. Endlich sahen und hörten wir mit anbrechendem Tag unten im Tal gewaltig blitzen und feuern. In dieser bangen Nacht desertierten viele, neben andern auch Bruder Bachmann. Für mich wollt' es sich noch nicht schicken, so wohl's mir sonst behagt hätte.

Die Schlacht bei Lowositz

Früh morgens mußten wir uns rangieren und durch ein enges Tälchen gegen das große Tal hinuntermarschieren. Vor dem dicken Nebel konnten wir nicht weit sehen. Als wir aber vollends in die Plaine kamen und zur großen Armee stießen, rückten wir in drei Treffen[S. 141] weiter vor und erblickten von ferne durch den Nebel, wie durch einen Flor, feindliche Truppen auf einer Ebene, oberhalb dem böhmischen Städtchen Lowositz. Es war kaiserliche Kavallerie, denn die Infanterie bekamen wir nie zu Gesicht, da sich dieselbe bei gedachtem Städtchen verschanzt hatte. Um sechs Uhr ging schon das Donnern der Artillerie sowohl aus unserm Vordertreffen als aus den kaiserlichen Batterien so gewaltig an, daß die Kanonenkugeln bis zu unserm Regiment, das im mittlern Treffen stund, durchschnurrten. Bisher hatt' ich immer noch Hoffnung, vor einer Bataille zu entwischen; jetzt sah' ich keine Ausflucht mehr, weder vor noch hinter mir, weder zur Rechten noch zur Linken. Wir rückten inzwischen immer vorwärts. Da fiel mir vollends aller Mut in die Hosen. In den Bauch der Erde hätt' ich mich verkriechen mögen, und eine ähnliche Angst, ja Todesblässe las man bald auf allen Gesichtern, selbst derer, die sonst noch so viel Herzhaftigkeit gleißneten. Die geleerten Brenzfläschchen, deren jeder Soldat eines hat, flogen unter den Kugeln durch die Lüfte; die meisten soffen ihren kleinen Vorrat bis auf den Grund aus, denn da hieß es: Heute braucht es Courage und morgen vielleicht keinen Fusel mehr! Jetzt avancierten wir bis unter die Kanonen, wo wir mit dem ersten Treffen abwechseln mußten. Potz Himmel! wie sausten da die Eisenbrocken ob unsern Köpfen weg, fuhren bald vor, bald hinter uns in die Erde, daß Stein und Rasen hoch in die Luft sprang,[S. 142] bald mitten ein und spickten uns die Leute aus den Gliedern weg, als wenn's Strohhälme wären. Dicht vor uns sahen wir nichts als feindliche Kavallerie, die allerhand Bewegungen machte, sich bald in die Länge ausdehnte, bald in einen halben Mond, dann in ein Drei- und Viereck sich wieder zusammenzog. Nun rückte auch unsre Kavallerie an, wir machten Lücke und ließen sie vor auf die feindliche losgaloppieren. Das war ein Gehagel, das knarrte und blinkerte, als sie einhieben! Allein kaum währte es eine Viertelstunde, so kam unsere Reiterei, von der österreichischen geschlagen, und bis nahe unter unsre Kanonen verfolgt, zurück. Da hätte man den Spektakel sehen sollen, Pferde, die ihren Mann im Stegreif hängend, andre die ihre Gedärme auf der Erde nachschleppten. Inzwischen stunden wir noch immer im feindlichen Kanonenfeuer bis gegen elf Uhr, ohne daß unser linker Flügel mit dem kleinen Gewehrfeuer zusammentraf, obschon es bereits auf dem rechten sehr hitzig zuging. Viele meinten, wir müßten noch auf die kaiserlichen Schanzen Sturm laufen. Mir war's schon nicht mehr so bange wie anfangs, obgleich die Feldschlangen Mannschaft zu beiden Seiten neben mir wegrafften und der Wahlplatz mit Toten und Verwundeten übersät war; als mit eins, ungefähr um zwölf Uhr, die Order kam, unser Regiment nebst zwei andern, ich glaube Bevern und Kalkstein, müßten zurückmarschieren. Nun dachten wir, es gehe dem Lager zu, und alle Gefahr sei vorbei. Wir eilten darum mit muntern Schritten[S. 143] die gähen Weinberge hinauf, brachen unsre Hüte voll schöne rote Trauben, aßen vor uns her nach Herzenslust, und mir und denen, welche neben mir stunden, kam nichts Arges in Sinn, obgleich wir von der Höhe herunter unsre Brüder noch in Feuer und Rauch stehen sahen, ein fürchterlich donnerndes Gelärm hörten und nicht entscheiden konnten, auf welcher Seite der Sieg war. Mittlerweile trieben unsre Anführer uns immer höher den Berg hinan, auf dessen Gipfel ein enger Paß zwischen Felsen durchging, der auf der andern Seite wieder hinunter führte. Sobald unsre Avantgarde den erwähnten Gipfel erreicht hatte, ging ein entsetzlicher Musketenhagel an, und nun merkten wir erst, wo der Has im Stroh lag. Etliche tausend kaiserliche Panduren waren nämlich auf der andern Seite den Berg hinauf beordert, um unsrer Armee in den Rücken zu fallen. Dies muß unsern Anführern verraten worden sein, und wir mußten ihnen zuvorkommen. Nur etliche Minuten später, so hätten sie uns die Höhe abgewonnen, und wir wahrscheinlich den kürzern gezogen. Nun setzte es ein unbeschreibliches Blutbad ab, ehe man die Panduren aus jenem Gehölz vertreiben konnte. Unsre Vordertruppen litten stark, allein die hintern drangen ebenfalls über Kopf und Hals nach, bis zuletzt alle die Höhe gewonnen hatten. Da mußten wir über Hügel von Toten und Verwundeten stolpern. Alsdann ging's Hudri, Hudri, mit den Panduren die Weinberge hinunter, sprungweise über eine Mauer nach der andern[S. 144] herab, in die Ebene. Unsre gebornen Preußen und Brandenburger packten die Panduren wie Furien. Ich selber war in Jast[48] und Hitze wie vertaumelt, und, mir weder Furcht noch Schreckens bewußt, schoß ich eines Schießens fast alle meine sechzig Patronen los, bis meine Flinte halb glühend war und ich sie am Riemen nachschleppen mußte. Indessen glaub' ich nicht, daß ich eine lebendige Seele traf, sondern alles ging in die freie Luft. Auf der Ebene am Wasser vor dem Städtchen Lowositz postierten sich die Panduren wieder und pülverten so tapfer in die Weinberge hinauf, daß noch mancher vor und neben mir ins Gras biß. Preußen und Panduren lagen überall durcheinander, und wo sich einer von letzteren noch regte, wurde er mit der Kolbe vor den Kopf geschlagen oder ihm ein Bajonett durch den Leib gestoßen. Nun ging in der Ebene das Gefecht von neuem an. Aber wer wird das beschreiben wollen, wo jetzt Rauch und Dampf von Lowositz ausging, wo es krachte und donnerte, als ob Himmel und Erde hätten zergehen wollen; wo das unaufhörliche Rumpeln vieler hundert Trommeln, das herzzerschneidende und herzerhebende Ertönen aller Art Feldmusik, das Rufen so vieler Kommandeurs und das Brüllen ihrer Adjutanten, das Zeter- und Mordiogeheul so vieler tausend elender, zerquetschter, halbtoter Opfer dieses Tages, alle Sinnen betäubte! Um diese Zeit, es mochte[S. 145] etwa drei Uhr sein, da Lowositz schon im Feuer stand, viele hundert Panduren, auf welche unsre Vordertruppen wieder wie wilde Löwen einbrachen, ins Wasser sprangen, wo es dann auf das Städtchen selber losging; um diese Zeit war ich freilich nicht der Vorderste, sondern unter dem Nachtrab noch im Weinberg droben, von denen mancher, wie gesagt, weit behender als ich von einer Mauer über die andre hinuntersprang, um seinen Brüdern zu Hilf' zu eilen. Da ich also noch ein wenig erhöht stand, und in die Ebene wie in ein finsteres Donner- und Hagelwetter hineinsah, in diesem Augenblick deucht' es mich Zeit, oder vielmehr mahnte mich mein Schutzengel, mich mit der Flucht zu retten. Ich sah mich nach allen Seiten um. Vor mir war alles Feuer, Rauch und Dampf, hinter mir noch viele nachkommende auf die Feinde loseilende Truppen, zur Rechten zwei Hauptarmeen in voller Schlachtordnung. Zur Linken Weinberge, Büsche, Wäldchen, nur hie und da einzelne Menschen, Preußen, Panduren, Husaren, und von diesen mehr Tote und Verwundete als Lebende. Da, da, auf diese Seite! dacht' ich, sonst ist's nur lautere Unmöglichkeit!

Desertion
Glücklich entronnen
In Prag

Ich schlich also zuerst mit langsamem Marsch ein wenig auf die linke Seite, die Reben durch. Noch eilten etliche Preußen bei mir vorbei. »Komm', komm', Bruder!« sagten sie, »Viktoria!« Ich ripostierte kein Wort, tat nur ein wenig blessiert, und ging immer allgemach fort, freilich mit Furcht und Zittern. Sobald[S. 146] ich mich indessen so weit entfernt hatte, daß mich niemand mehr sehen mochte, verdoppelte, verdrei-, vier-, fünf-, sechsfachte ich meine Schritte, blickte rechts und links wie ein Jäger, sah noch von weitem, zum letztenmal in meinem Leben, morden und totschlagen; strich dann in vollem Galopp ein Gehölz vorbei, das voll toter Husaren, Panduren und Pferde lag, rannte eines Rennens gerade dem Fluß nach hinunter, und stand jetzt an einem Tobel. Jenseits desselben kamen soeben etliche kaiserliche Soldaten angestochen, die sich gleichfalls aus der Schlacht weggestohlen hatten, und schlugen, als sie mich so daherlaufen sahen, zum drittenmal auf mich an, ungeachtet ich immer das Gewehr streckte und ihnen mit dem Hut den gewohnten Wink gab. Doch brannten sie niemals los. Ich faßte also den Entschluß, gerad' auf sie zuzulaufen. Hätt' ich einen andern Weg genommen, würden sie, wie ich nachwärts erfuhr, unfehlbar auf mich gefeuert haben. Ihr Hunde, dacht' ich, hättet ihr eure Courage bei Lowositz gezeigt! Als ich zu ihnen kam und mich als Deserteur angab, nahmen sie mir das Gewehr ab, unterm Versprechen, mir's nachwärts wieder zuzustellen. Aber der, welcher sich dessen impatroniert hatte, verlor sich bald darauf, und nahm das Füsil mit. Nun so sei's! Alsdann führten sie mich ins nächste Dorf Scheniseck, eine starke Stunde unter Lowositz. Hier war eine Fahrt über das Wasser, aber ein einziger Kahn zum Transport. Da gab's ein Zetermordiogeschrei von Männern, Weibern und Kindern.[S. 147] Jedes wollte zuerst in dem Teich sein, aus Furcht vor den Preußen, denn alles glaubte sie schon auf der Haube zu haben. Auch ich war keiner von den letzten, der mitten unter eine Schar von Weibern hineinsprang. Wo nicht der Fährmann etliche hinausgeworfen, hätten wir alle ersaufen müssen. Jenseits des Flusses stand eine Panduren-Hauptwache. Meine Begleiter führten mich auf dieselbe zu, und die roten Schnurrbärte begegneten mir aufs manierlichste, gaben mir, ungeachtet ich sie und sie mich kein Wort verstunden, Toback, Branntwein und Geleit auf Leitmeritz, glaub' ich, wo ich unter lauter Stockböhmen übernachtete, und freilich nicht wußte, ob ich da mein Haupt sicher zur Ruhe legen konnte. Allein ich hatte von dem Tumult des Tags noch einen so vertaumelten Kopf, daß dieser Kapitalpunkt mir am mindesten betrug. Morgens darauf, den zweiten Oktober, ging ich mit einem Transport ins kaiserliche Hauptlager nach Budin ab. Hier traf ich bei zweihundert andrer preußischer Deserteurs, von denen, so zu reden, jeder seinen eignen Weg und sein Tempo in Obacht genommen hatte; neben andern auch unsern Bachmann. Wie sprangen wir beide hoch auf vor Entzücken, uns so unerwartet wieder in Freiheit zu sehn! Da ging's an ein Erzählen und Jubilieren, als wenn wir schon zu Haus hinterm Ofen säßen. Einzig hieß es bisweilen: Ach wäre nur auch der Schärer von Wil bei uns! Wo mag der geblieben sein? Wir hatten die Erlaubnis, alles im Lager zu besichtigen.[S. 148] Offiziers und Soldaten stunden bei Haufen um uns, denen wir mehr erzählen sollten als uns bekannt war. Etliche wußten Winds genug zu machen, ihren Wirten zu schmeicheln und zur Verkleinerung der Preußen hundert Lügen auszuhecken. Da gab's auch unter den Kaiserlichen manchen Erzprahler; und der kleinste Zwerg rühmte sich, wer weiß wie manchen langbeinigten Brandenburger auf seiner eignen Flucht in die Flucht geschlagen zu haben. Drauf führte man uns zu etwa fünfzig Mann Gefangenen von der preußischen Kavallerie. Ein erbärmlich Spektakel! Da war kaum einer an Wunden oder Beulen leer ausgegangen; etliche übers ganze Gesicht heruntergehauen, andre ins Genick, andre über die Ohren, über die Schultern oder Schenkel. Da war alles ein Ächzen und Wehklagen! Wie priesen uns diese armen Wichte selig, einem ähnlichen Schicksal so glücklich entronnen zu sein; und wie dankten wir selber Gott dafür! Wir mußten im Lager übernachten und bekamen jeder einen Dukaten Reisegeld. Dann schickte man uns mit einem Kavallerietransport nach einem böhmischen Dorfe, wo wir, nach einem kurzen Schlummer, folgenden Tags auf Prag abgingen. Dort verteilten wir uns, und bekamen Pässe, je zu sechs, zehn bis zwölf, welche einen Weg gingen. Wir waren ein wunderseltsames Gemengsel von Schweizern, Schwaben, Sachsen, Bayern, Tirolern, Welschen, Franzosen, Polacken und Türken. Einen solchen Paß bekamen unser sechs zusammen bis Regensburg. In Prag selbst[S. 149] war ein Zittern und Beben vor den Preußen ohne seinesgleichen. Man hatte den Ausgang der Schlacht bei Lowositz bereits vernommen und glaubte den Sieger schon vor den Toren zu sehn. Auch da stunden ganze Truppen Soldaten und Bürger um uns her, denen wir sagen sollten, was der Preuß' im Sinn habe? Einige von uns trösteten diese neugierigen Hasen; andre hatten noch ihre Freude daran, sie tapfer zu schrecken, und sagten ihnen, der Feind werde spätstens in vier Tagen anlangen und sei ergrimmt wie der Teufel. Dann schlugen viele die Händ' über'm Kopf zusammen; Weiber und Kinder wälzten sich gar heulend im Kot herum.


[S. 150]

Heimkehr

Heimreise mit Bachmann

Den fünften Oktober traten wir unsre wirkliche Heimreise an. Es war schon abends, als wir von Prag ausmarschierten. Es ging bald über eine Anhöhe, von welcher wir eine unvergleichliche Aussicht über das ganze schöne königliche Prag hatten. Die liebe Sonne vergüldete seine mit Blech bedeckten zahllosen Turmspitzen zum Entzücken. Wir stunden eine Weile still, unter allerhand Gesprächen und mannigfaltigen Empfindungen dieses herrlichen Anblicks zu genießen. Einige bedauerten den prächtigen Ort, wenn er sollte bombardiert werden; andre hätten mögen dabei sein, wenigstens während dem Plündern. Ich konnte mich kaum satt sehn; sonst aber war mein einziges Sehnen wieder nach Haus, zu den Meinigen, zum Anneli. Wir kamen noch bis auf Schibrack; den sechsten bis Pilsen. Dort hatte der Wirt eine Tochter, das schönste Mädchen, das ich in meinem Leben gesehn. Mein Herr Bachmann wollte mit ihr hübsch tun, und fast einzig ihr zulieb hielten wir da Rasttag. Aber der Wirt verdeutete ihm, sein Kind sei keine Berlinerin! Vom achten bis zwölften ging's über Stab, Lensch, Rötz, Kürn auf Regensburg, wo wir zum zweitenmal rasteten. Bisher hatten wir nur kurze Tagreisen von zwei bis drei Meilen gemacht, aber desto längere Zechen. Mein Dukaten Reisegeld war schon dünn wie ein Laub worden, sonst hatt' ich keinen Heller in der Ficke, und ward[S. 151] also genötigt, auf den Dörfern zu fechten. Da bekam ich oft beide Taschen voll Brot, aber nie einen Heller bar. Bachmann hingegen hatte noch von seinem Handgeld übrig, ging in die Schenke, und ließ sich's wohlschmecken. Nur etwa zu vornehmen Häusern, Pfarrhöfen und Klöstern, kam er mit. Da mußten wir oft halbe Stunden stehn und den Herren alle Hergangenheit erzählen; des wurde besonders Bachmann meist überdrüssig, sonderlich wo für die Geschichte einer ganzen Schlacht, der er nicht beigewohnt, nur ein paar Pfennige flogen. Er gab immer vor, daß er bei Lowositz gewesen, und ich mußt' ihm die Lüge frisieren helfen; dafür hat er mir die ganze Reis' über keinen Krug Bier bezahlt. In den Klöstern gab's Suppen, oft auch Fleisch. Zu Regensburg, oder vielmehr im Bayerschen Hof verteilten wir uns wieder. Bachmann und ich erhielten einen Paß nach der Schweiz. Die andern, ein Bayer, zween Schwaben und ein Franzose, von denen ich nichts weiter zu sagen weiß, als daß sie alle vier rüstige Kerls und uns Tölpeln weit überlegen waren, nahmen jeder seine Straße. Die unsrige ging, der kleinern Orte nicht zu gedenken, über Ingolstadt, Donauwörth, Dillingen, Bregenz, Rheineck, nach Rorschach. Oberhalb Rheineck begegnete mir bald ein trauriger Spaß. Bisher waren wir unter lauter muntern Gesprächen über unsre glückliche Flucht, über unsre ältern und neuern Schicksale und unsre Aussichten für die Zukunft ganz brüderlich gereist. Bachmann,[S. 152] dem, von vorigen Zeiten her, fast alle Tag Hünd' und Hasen wieder in den Sinn stiegen, hatte sich, sobald wir von Prag weg waren, eine Jagdflinte gekauft, die er mit sich trug. Ich war seiner ewigen Diskurse von Hetzen und Treiben schon längst müde geworden, als wir, wie gesagt, oberhalb Rheineck in den Weinbergen Hunde jagen hörten. Hier machte mein Urian vor Entzücken ordentliche Purzelsprünge und behauptete, es wären, beim Himmel! seine alten Bekannten; er kenne sie noch am Bellen! Ich lachte ihn aus. Hierüber ward er böse, befahl mir stillzustehn, und der schönen Musik zuzuhorchen. Jetzt spottete ich vollends seiner und stampfte mit den Füßen. Das hätt' ich freilich sollen bleiben lassen. Er ward rasend, stand ganz schäumend mit aufgehobener Flinte vor mich hin, und setzte sie mir zähneknirschend vor den Kopf, als wenn er mich den Augenblick töten wollte. Ich erschrak. Er war bewaffnet, ich nicht; und auch dies und seine Wut ungerechnet, glaub' ich kaum, daß ich dem ohnehin verzweifelt wilden, handfesten Kerle, der beinahe zwei Zoll höher als ich war, hätte gewachsen sein können. Doch, ich weiß nicht, ob aus Mut oder Furcht, stand ich bockstill und guckte nach allen Seiten herum, ob ich niemand zu Hilf rufen könnte? Aber, es war an einem einsamen Ort, auf einer Allmend;[49] ich sah kein Mäuschen. »Sei kein Narr!« sagt' ich zu ihm, »wirst wohl[S. 153] Spaß verstehn.« Damit legte sich seine Wut schon um ein ziemliches. Wir gingen stillschweigend weiter, und ich war froh, als wir unvermerkt ins Städtchen Rheineck traten. Jetzt flattierte er mir wieder, eines Talers wegen, den ich auf dem Weg von ihm geborgt hatte; und ich dachte oft, dies Lumpenstück Geld hab' mir das Leben gerettet. Aber von dem Augenblick an schwand alles Vertrauen unter uns. Doch hab' ich mich nie gerochen, obgleich's der Anlässe viele gab, und mein Vater zahlte ihm den Taler willig, als er wenig Tage nach meiner Heimkunft in unser Haus kam. Wir kamen noch bis Rorschach, und des folgenden Tags (25. Oktober) auf Herisau, denn mein Herr Bachmann mochte nicht eilen, und ich merkte, daß er sich nicht recht nach Haus getraute, bis er sich erkundigt hätte, wie seiner vorigen Frevel wegen der Wind blies.

Trennung
Heim! Heim!
Nichts als Heim!

Länger konnt' ich dem Burschen nicht abpassen; denn, so nahe bei meiner Heimat, brannt' ich vor Begierde, dieselbe völlig zu erreichen. Also den sechsundzwanzigsten Oktober morgens früh nahm ich den Weg zum letztenmal unter die Füße, rannte wie ein Reh über Stock und Stein, und die lebhafte Vorstellung des Wiedersehns von Eltern, Geschwistern und meinem Liebchen ging mir einstweilen vor Essen und Trinken. Als ich nun meinem geliebten Wattweil immer näher und näher, und endlich auf die schöne Anhöhe kam, von welcher ich seinen Kirchturm ganz nahe unter mir erblickte, bewegte sich alles in mir, und rollten große[S. 154] Tränen haufenweis über meine Wangen herab. Oh, du erwünschter, gesegneter Ort! so hab' ich dich wieder, und niemand wird mich weiter von dir nehmen, dacht' ich im Heruntertrollen wohl hundertmal, und dankte dabei Gottes Vorsehung, die mich aus so vielen Gefahren wo nicht wunderbar doch höchstgütig gerettet hat. Auf der Brücke zu Wattweil redete mich ein alter Bekannter an, der vor meinem Weggehn um meine Liebesgeschichte gewußt hatte, und dessen erstes Wort war: »Je, gelt! deine Anne ist auch verplempert; dein Vetter Michel war so glückselig, und sie hat schon ein Kind.« Das fuhr mir durch Mark und Bein; indessen ließ ich's den Unglücksboten nicht merken: »Eh' nun,« sagt' ich, »hin ist hin!« Und in der Tat, zu meinem größten Erstaunen, faßt' ich mich bald, und dachte wirklich: »Nun freilich, das hätt' ich nicht hinter ihr gesucht! Aber, wenn's so sein muß, so sei's, und hab' sie eben ihren Michel!« Dann eilt' ich unserm Wohnort zu. Es war ein schöner Herbstabend. Als ich in die Stube trat, Vater und Mutter waren nicht zu Hause, merkt' ich bald, daß auch nicht eines von meinen Geschwistern mich erkannte, und sie über den ungewohnten Spektakel eines preußischen Soldaten nicht wenig erschraken, der so in seiner vollen Montierung, den Tornister auf dem Rücken, mit 'runtergelassnem Zottenhut und einem tüchtigen Schnurrbart sie anredte. Die Kleinern zitterten; der Größte griff nach einer Heugabel, und lief davon. Hinwieder wollt' auch ich mich[S. 155] nicht zu erkennen geben, bis meine Eltern da wären. Endlich kam die Mutter. Ich sprach sie um Nachtherberg an. Sie hatte viele Bedenklichkeiten; der Mann sei nicht da und dergleichen. Länger konnt' ich mich nicht halten, ergriff ihre Hand und sagte: »Mutter, Mutter! kennst mich nicht mehr?« Oh, da ging's zuerst an ein lärmendes, von Zeit zu Zeit mit Tränen vermengtes Freudengeschrei von Kleinen und Großen, dann an ein Bewillkommnen, Betasten und Begucken, Fragen und Antworten, daß es eine Tausendslust war. Jedes sagte, was es getan und geraten, um mich wieder bei ihnen zu haben. So wollte meine älteste Schwester ihr Sonntagskleid verkaufen, und mich daraus heimholen lassen. Mittlerweile langte auch der Vater an, den man ziemlich aus der Ferne rufen mußte. Dem guten Mann rannen auch Tropfen die Backen herunter: »Ach! Willkomm, willkomm, mein Sohn! Gottlob, daß du gesund da bist, und ich einmal alle meine Zehn wieder beisammen habe. Obschon wir arm sind, gibt's doch alleweil Arbeit und Brot.« Jetzt brannte mein Herz lichterloh, und fühlte tief die Wonne, so viele Menschen auf einmal, und zwar die Meinigen, zu erfreuen. Dann erzählt' ich ihnen noch denselben und etliche folgende Abende haarklein meine ganze Geschichte. Da war's mir wieder so ungewohnt herzlich wohl! Nach ein paar Tagen kam Bachmann, holte, wie gesagt, seinen Taler, und bestätigte alle meine Aussagen. Sonntags früh putzt' ich meine Montur,[S. 156] wie in Berlin zur Kirchenparade. Alle Bekannten bewillkommten mich; die andern gafften mich an, wie einen Türken. Auch nicht mehr meine, sondern Vetter Michels Anne tat es, und zwar ziemlich frech, ohne zu erröten. Ich hinwieder dankte ihr hohnlächelnd und trocken. Dennoch besucht' ich sie eine Weile hernach, als sie mir sagen ließ, sie wünschte allein mit mir zu reden. Da machte sie freilich allerlei kahle Entschuldigungen. Sie hab' mich auf immer verloren geglaubt, der Michel hab' sie übertölpelt, und so weiter. Dann wollte sie gar meine Kupplerin abgeben. Aber ich bedankte mich schönstens, und ging.

Anne
Was nun anfangen?

Und nun, hieß es, was anfangen? Graben mag ich nicht; doch schäm' ich mich zu betteln. Nein! für mein Brot war ich nie besorgt, und jetzt am allerwenigsten; denn, dacht' ich, nun bist du wieder an deines Vaters Kost, und arbeiten willst du auch wieder lernen. Doch merkt' ich, daß mein Vater meinetwegen ein bißchen verlegen war, und vielleicht obige Textesworte auf mich anwandte, obschon er nichts davon sagte. In der Tat war mir die schwarze, gefährliche Kunst eines Pulvermachers höchst zuwider; denn dergleichen Spezerei hatt' ich genug gerochen. Jetzt sollt' ich auch wieder Kleider haben, und der gute Ätti strengte alles an, mir solche zu verschaffen. Den Winter über konnt' ich Holz zügeln und Baumwolle kämmen. Allein im Frühjahr 1757 beorderte mich mein Vater zum Salpetersieden.[S. 157] Da gab's schmutzige und zum Teil strenge Arbeit. Doch blieb mir immer so viel Zeit übrig, meinen Geist wieder in die weite Welt fliegen zu lassen. Da dacht' ich: »Warst doch als Soldat nicht so ein Schweinskerl, und hattest bei aller deiner Angst und Not manch lustiges Tägel!« Ha! wie veränderlich ist das Herz des Menschen. Denn jetzt ging ich wirklich manche Stunde mit mir zu Rat, ob ich nicht aufs neue den Weg unter die Füße nehmen wollte; stunden mir doch Frankreich, Holland, Piemont, die ganze Welt, außer Brandenburg, offen. Mittlerweile wurde mir ein Herrndienst im Johanniterhaus Bubickheim, Zürcher Gebiets, angetragen. Ich ging zwar hin, mich zu erkundigen. Allein, ich gefiel, oder, was weiß ich, man gefiel mir nicht; und so blieb ich bei meinem Salpeter, war ein armer Tropf, hatte kein Geld, und mochte gleichwohl gern mit andern Burschen laichen.[50] Mein Vater gab mir zwar bisweilen, wenn ein Trinktag oder andrer Ehrenanlaß einfiel, etliche Batzen in den Sack; allein die waren bald über die Hand geblasen. Der ehrliche Kreuztrager hatte eben sonst immer mehr auszugeben als einzunehmen, und Kummer und Sorgen machten ihn lange vor der Zeit grau. Die Wahrheit zu sagen: Keins von allen seinen zehn Kindern wollte ihm recht ans Rad stehn. Jedes sah vor sich, und doch mochte keines was vor sich bringen. Die einen waren[S. 158] zu jung. Von den zwei Brüdern, die nächst auf mich folgten, gab sich der ältere mit Baumwollenkämmen ab, und zahlte dem Ätti das Tischgeld; der andre half ihm zwar in der Pulvermühle. Überhaupt aber ließ der liebe Mann jedes sozusagen machen, was es wollte, erteilte uns viel gute Lehren und Ermahnungen, und las uns aus gottseligen Büchern allerlei vor; aber dabei ließ er's bewenden, und brauchte kurz keinen Ernst. Die Mutter mit den Töchtern machte es ebenso, und war gar zu gut. — Wie spät kommt der Verstand! Bei mir sollte er damals schon längst gekommen, und ich meines Vaters beste Stütze geworden sein. Ja! wenn das sinnliche Vergnügen nicht so anziehend wäre. An guten Vorsätzen fehlte es nie. Aber da hieß es:

Zwar billig' ich nicht mehr das Böse, das ich tue —
Doch tu' ich nicht das Gute, das ich will.

Und so stolpert' ich immer meinem wahren Glücke vorbei.

Heiratsgedanken
Lieschen

Schon im vorigen Jahre geriet ich bei meinem Herumpatrouillieren hie und da an eine sogenannte Schöne; und es gab deren nicht wenig, die mir herzlich gut waren, aber meist ohne Vermögen. Ich nichts, sie nichts, dacht' ich dann, ist doch zu wenig, denn so unbedachtsam war ich nicht mehr wie im zwanzigsten. Auch sprach der Vater immer zu uns: »Buben! seid doch nicht so wohlfeil. Seht euch vor. Ich will's euch[S. 159] zwar nicht wehren; aber werft den Bengel ein Bißlin hoch, er fällt schon von selbst wieder tief; in diesem Punkt darf sich einer alleweil was Rechtes einbilden.« Nun, das war schön und gut; aber es muß einer denn doch durch, wo's ihm geschaufelt ist. Gleichwohl dacht' ich etwas zu erhaschen, und glaubte mich eigentlich zum Ehestand bestimmt, sonst wär' ich um diese Zeit sicher in die weite Welt gegangen. Inzwischen war, aller meiner obbelobten Bedächtlichkeit ungeachtet, der Geiz wirklich nicht meine Sache. Ein Mädchen, ganz nach meinem Herzen, hätt' ich nackend genommen. Aber da leuchtete mir eben keine vollkommen ein, wie weiland mein Ännchen. Mit einem gewissen Lieschen war ich ein paarmal auf dem Sprung. Erst machte das Ding Bedenklichkeiten; nachwärts bot es sich selber an. Aber meine Neigung zu ihr war zu schwach; und doch glaub' ich nicht, daß ich unglücklich mit ihr gefahren wäre. Aber zu stockig ist zu stockig. Bald darauf kam ich fast ohne mein Wissen und Willen mit der Tochter einer katholischen Witwe in einen Handel, welcher ziemliches Aufsehen machte, obschon ich nur ein paarmal mit ihr spazieren gegangen war und ein Glas Wein mit ihr getrunken hatte, alles ohne sonderliche Absicht, und vornehmlich ohne sonderliche Liebe. Aber da blies man meinem Vater ein, ich wolle katholisch, und Marianchens Mutter, sie wolle reformiert werden; und doch hatte keins von uns so wenig an den Glauben als eine Änderung desselben gedacht. Das arme Ding kam[S. 160] wirklich darüber in eine Art geheimer Inquisition von Geist- und Weltlichen, erzählte mir alles haarklein, und ihr ward himmelangst. Ich hingegen lachte im Herzen des dummen Lärms, um so viel mehr, da mein Vater solider zu Werk ging, mich zwar freundernstlich examinierte, aber mir dann auch auf mein Wort glaubte, als ich ihm sagte, daß ich so steif und fest auf mein Bekenntnis leben und sterben wollte, als Lutherus oder unsre Landskraft Zwingli. Inzwischen wurde die Sache auf Marianchens Seite ernsthafter, als ich glaubte. Das gute Kind ward so vernarrt in mich wie ein Kätzchen, und befeuchtete mich oft mit seinen Tränen. Ich glaube, das Närrchen wär' mit mir ans End der Welt gelaufen; und wenn ihm schon sein mütterlicher Glaube sehr ans Herz gewachsen war, meint' ich fast, ich hätt' in der Wagschal' überwogen. Auch setzte mir das Mitleid fast mehr zu, als je zuvor die Liebe. Doch mußt' ich, wenn ich alles und alles überdachte, durchaus allmählich abbrechen, und tat es wirklich. Hier falle eine mitleidige Träne auf das Grab dieses armen Töchterchens! Es zehrte sich nach und nach ab, und starb nach wenig Monaten im Frühling seines zarten Lebens. Gott verzeihe mir meine schwere Sünde, wenn ich an diesem Tod einige Schuld trug. Und wie sollt' ich mir dies verbergen wollen?

Indem ich so hin und wieder meinen Salpeter brannte, sah' ich eines Tags ein Mädchen mit einem Amazonengesicht vorbeigehn, das mir, als einem »alten[S. 161] Preußen« nicht übel gefiel, und das ich bald nachher auch in der Kirche bemerkte. Dieser fragte ich erst ganz verstohlen nach, und was ich von ihr vernahm, behagte mir ziemlich, einen Kapitalpunkt ausgenommen, daß es hieß, sie sei verzweifelt böse, doch im bessern Sinn; und dann glaubten einige, sie habe schon einen Liebhaber. Nun, mit alledem, dacht' ich, 's muß doch einmal gewagt sein! Ich sucht' ihr also näherzukommen und mit ihr bekannt zu werden. Zu dem End' kauft' ich in Eggberg, wo mein Schatz daheim war, etwas Salpetererde, und zugleich ihres Vaters Gaden, ihr zulieb viel zu teuer, denn es war fast verloren Geld. Schon bei diesem Handel merkt' ich, daß sie gern den Herrn und Meister spiele; aber der Verstand, womit sie's tat, war mir nicht zuwider. Nun hatt' ich alle Tag Gelegenheit, sie zu sehen; doch ließ ich ihr lange meine Absichten unentdeckt, und dachte, du mußt sie erst recht ausstudieren. Die Böse, wovon man mir so viel Wesens gemacht, konnt' ich nicht an ihr finden. Aber der Henker hol' ein lediges Mädchen aus! Meine Besuche wurden immer häufiger. Endlich leert ich den Kram aus und gewahrte, daß ihr mein Antrag nicht unerwartet fiel. Dennoch hatte sie viele Bedenken, und ihr Ziel ging offenbar dahin, mich auf eine lange Probe zu setzen. Setz' du nur, dacht' ich, wanderte unterdessen mit meinem Salpeterplunder von einem Ort zum andern, und machte noch mit verschiedenen andern Mädchen Bekanntschaft, welche mir, die Wahrheit zu gestehen,[S. 162] vielleicht besser gefielen, von denen aber keine so gut für mich zu taugen schien als sie. Endlich begriff ich, oder vielmehr gab mir's mein guter Genius ein, daß ich nicht bloß meiner Sinnlichkeit folgen solle. Inzwischen setzte es jetzt schon fast allemal, wenn ich meine Schöne sah, irgendeinen Strauß oder Wortwechsel, aus denen ich wahrnehmen konnte, daß unsre Seelen eben nicht gleichgestimmt waren. Aber selbst diese Disharmonie war mir nicht zuwider, und ich bestärkte mich immer mehr in einer gewissen Überzeugung: Diese Person wird dein Nutzen sein, wie die Arznei dem Kranken. Einst ließ sie sich gegen mich heraus, daß ihr meine dreckige Hantierung mit dem Salpetersieden gar nicht gefalle, und mir war's selber so. Sie riet mir, ein kleines Händelchen mit Baumwollengarn anzufangen, wie's ihr Schwager getan, dem's auch nicht übel gelungen sei. Das leuchtete mir so ziemlich ein. Aber wo 's Geld hernehmen? war meine erste und letzte Frage. Sie bot mir wohl etwas an, aber das kleckte nicht. Nun ging ich mit meinem Vater zu Rat. Der hatte ebenfalls nichts dawider und verschaffte mir hundert Gulden, die er noch von der Mutter zu beziehen hatte.

Um diese Zeit hatt' ich eine gefährliche Krankheit zu bestehen, da mir ein Geschwür, an welchem ich beinahe das Leben verloren hätte, tief im Schlunde wuchs. Endlich schnitten's mir die Herren Doktors Mettler, Vater und Sohn, mit einem krummen Instrumente so glücklich[S. 163] auf, daß ich gleichsam in einem Nu wieder schlucken und reden konnte.

Als Garnhändler
Wohnungspläne

Im März des folgenden Jahres, 1759, fing ich wirklich an, Baumwollengarn zu kaufen. Damals mußt' ich noch den Spinnern auf ihr Wort glauben, und den Lehrbletz teuer genug bezahlen. Indessen ging ich den fünften April das erstemal mit meinem Garn nach St. Gallen, und konnt' es so mit ziemlichem Nutzen absetzen. Dann schaffte ich mir sechsundsiebenzig Pfund Baumwolle, das Pfund zu zwei Gulden, an, ward also in aller Form ein Garnhändler, und bildete mir schon mehr ein, als der Pfifferling wert war. Ungefähr ein Jahr lang trieb ich nebenbei noch mein Salpetersieden fort, und da meine Barschaft gering war, mußt' ich sie um so viel öftrer umzusetzen suchen. Ich wanderte deswegen einmal übers andere nach St. Gallen und befand mich dabei nicht übel; doch betrug mein Vorschlag in diesem Jahr nicht über zwölf Gulden. Aber das deuchte mir damals schon ein Großes.

Als ich so den Handelsherrn spielte, dacht' ich, Liebchen sollte nun keine Einwendung mehr gegen meine Anträge machen. Aber weit gefehlt! Das verschmitzte Geschöpf wollte meine Ergebenheit noch auf andre Weise probieren. Nun, was ohnehin in meinen Planen stund, mochte hingehn. Als ich ihr daher eines Tags mit großem Ernst vom Heiraten redete, hieß es: Aber wo hausen und hofen? Ich schlug ihr verschiedene Wohnungen vor, die damals eben zu vermieten stunden,[S. 164] »das will ich nicht,« sagte sie, »in meinem Leben nehm' ich keinen, der nicht sein eigen Haus hat!« »Ganz recht!« erwiderte ich; aber hätt's nicht auch in meinem Kopf gelegen, ich wollt's probiert haben. Von der Zeit an fragt' ich jedem feilgebotenen Häuschen nach; aber es wollte sich nirgends fügen. Endlich entschloß ich mich, selber eins zu bauen, und sagte es meiner Schönen. Sie war's zufrieden, und bot mir wieder Geld dazu an. Dann eröffnete ich meine Absicht auch meinem Vater, der versprach, ebenfalls mir mit Rat und Tat beizustehn, wie er's auch redlich hielt. Nun erst sah ich mich nach einem Platz um und kaufte einen Boden um ungefähr hundert Taler, dann hie und da Holz. Einige Tännchen bekam ich zum Geschenk. Nun bot ich alle meine Kräfte auf, fällte das Holz, das meist in einem Bachtobel stund, und zügelte es — der gute Ätti half mir wacker — nach der Säge, dann auf den Zimmerplatz. Aber Sägen und Zimmern kostete Geld. Alle Tag' mußt' ich dem Seckel die Riemen ziehn, und das war doch nur der Schmerzen ein Anfang. Doch bisher ging alles gut von statten; der Garnhandel ersetzte die Lücken. Meinem Schatze rapportiert' ich alles fleißig, und sie trug an meinem Tun und Lassen meist ein gnädiges Belieben. Den Sommer, Herbst und Winter durch macht' ich alle nötigen Zubereitungen mit Holz, Stein, Kalk und Ziegel, um im künftigen Frühjahr mit meinem Bau zeitig genug anfangen und je eher je lieber mit meiner jungen Hausehre einziehen zu können. Nebst[S. 165] meinem kleinen Handel pfuscht' ich, zumal im Winter, allerlei Mobilien und Werkgeschirr. Ich dachte, in ein Haus würde auch Hausrat gehören, von meiner Liebsten werd' ich nicht viel zu erwarten haben, und von meinem Vater, dem ich jetzt ein geringes Kostgeld bezahlen mußte, noch minder. Überhaupt war wohl nichts unüberlegter, als dergestalt, bloß einem Weibsbild und meiner Eitelkeit zulieb, um eine eigene Hofstätte zu haben, mich in ein Labyrinth zu vertiefen, aus welchem nur Gott und Glück wieder herausführen konnten. Auch lächelten mich ein paar meiner Nachbarn immer schalkhaft an, so oft ich bei ihnen vorüberging. Andre waren offenherziger und sagten mir's rund ins Gesicht: »Ulrich, Ulrich! du wirst's schwerlich aushalten.« Einige hatten vollends die Gutheit, mir nach dem Maß ihrer Kräfte, bloß auf mein und des Ätti Ehrenwort, tätlich unter die Arme zu greifen.

Bräutigamsstand

Übrigens war dies Tausendsiebenhundertundsechzig ein vom Himmel außerordentlich gesegnetes Wunderjahr, durch ein seltenes Gedeihen der Erdfrüchte und namhaften Verdienst, bei äußerst geringem Preis aller Arten von Lebensmitteln. Ein Pfund Brot galt zehn Pfennige, ein Pfund Butter zehn Kreuzer. Das Viertel Äpfel, Birnen und Erdäpfel konnt' ich beim Haus um zwölf Kreuzer haben; die Maß Wein um sechs Kreuzer, und die Maß Branz um sieben Batzen. Alles, reich und arm, hatte vollauf. Mit meinem Bauelgewerb wär's mir um diese Zeit gewiß gut gegangen, wenn ich[S. 166] ihn nur besser verstanden und mehr Geld und Zeit dareinzusetzen gehabt hätte. So floß mir dieses Jahr ziemlich schnell dahin. Mit meiner Schönen gab's manchmal ein Zerwürfnis, wenn sie etwa meine Lebensart tadelte, mir Verhaltungsbefehle vorschreiben wollte, und ich mich, wie noch heutzutag, rebellisch stellte; aber der Faden war allemal bald wieder angesponnen und bald wieder zerbrochen.


[S. 167]

Ehe- und Wehestand

Der Hausbau

Nachdem ich, wie gesagt, den Winter über alle möglichen Anstalten zu meinem Bauen gemacht, das Holz auf den Platz geschleift und der Frühling nun heranrückte, langten auch meine Zimmerleute auf den Tag an, wie sie mir's versprochen hatten. Es waren außer meinem Bruder Georg, den ich ebenfalls gedingt, und für den ich darum meinem Vater jetzt Kostgeld entrichten mußte, sieben Mann, deren jedem ich alle Tag für Speis' und Lohn sieben Batzen, dem Meister Hans Jörg Brunner von Krinau aber neun Batzen bezahlte und darüber noch täglich eine halbe Maß Branz, Sell-,[51] Beschluß- und Firstwein. Es war den siebenundzwanzigsten März, da die Selle zu meiner Hütte gelegt wurde, bei sehr schönem Wetter, das bis Mitte April dauerte, wo die Arbeit durch eingefallenen großen Schnee einige Tage unterbrochen ward. Bis Mitte Mai, also in zirka sieben Wochen, kam alles unter Dach. Noch vorher aber, End' Aprils, spielte mir das Schicksal etliche fatale Streiche, die mir, so unbedachtsam ich sonst alles dem Himmel anheimstellte, der doch nirgends für den Leichtsinn zu sorgen versprochen hat, beinahe allen Mut zu Boden warfen. Es hatten sich nämlich drei oder vier Unsterne miteinander vereinigt, meinen Bau zu hintertreiben. Der eine war, daß ich noch viel zu wenig Holz[S. 168] hatte, ungeachtet der Meister mir gesagt, es sei genug, und daher es erst jetzt einsah, als er an die oberste oder Firstkammer kam. Also mußt' ich von neuem in den Wald, Bäum kaufen, fällen, und sie in die Säge und auf den Zimmerplatz führen. Der zweite Unstern war, daß, als bei dem ebengedachten Geschäft mein Fuhrmann mit einem schweren Stück zwischen zwei Felsen durch, und ich nebenein galoppieren wollte, mir der Baum im Renken den rechten Fuß erwischte, Schuh' und Strümpf' zerriß, und Haut, Fleisch und Bein zerquetschte, so daß ich ziemlich miserabel auf dem einen Roß heimreiten, und unter großen Schmerzen viele Tag' inliegen mußte, bis ich wieder zu meinen Leuten konnte. Nebendem vereinigten sich während dieser meiner Niederlage noch zwei andre Fatalitäten mit den erstern. Die eine, einer meiner Landsmänner, dem ich hundertzwanzig Gulden schuldig war, schickte mir unversehns den Boten, daß er zur Stund' wolle bezahlt sein. Ich kannte meinen Mann und wußte, daß da Bitten und Beten umsonst sei. Also dacht' ich hin und her, was anzufangen wäre. Endlich entschloß ich mich, meinen Vorrat an Garn aus allen Winkeln zusammenzulesen, nach St. Gallen zu schicken und um jeden Preis loszuschlagen. Aber, o weh! das vierte Ungeheuer! Mein Abgesandter kam, statt mit Barschaft, mit der entsetzlichen Nachricht, mein Garn liege im Arrest wegen allzu kurzen Häspeln, ich müsse selber auf St. Gallen gehn und mich vor den Herren Zunftmeistern stellen.[S. 169] Was sollt' ich nun anfangen? Jetzt hatt' ich weder Garn noch Geld, sozusagen keinen Schilling mehr, meine Arbeiter zu bezahlen, die indessen drauflos zimmerten, als ob sie Salomonis Tempel bauen müßten. Und dann mein unerbittlicher Gläubiger! Aufs neue borgen? Gut! Aber wer wird mir armen Buben trauen? Mein Vater sah meine Angst, und mein Vater im Himmel sah sie noch besser. Sonst fanden der Ätti und ich noch immer Kredit. Aber sollten wir den mißbrauchen? Kurz, er rannte in seinem und meinem Namen, und fand endlich Menschen, die sich unser erbarmten, Menschen und keine Wuchrer! Gott vergelt' es ihnen in Ewigkeit!

Einzug

Sobald ich wieder aushoppen und meinen Sachen nachgehen konnte, war meine Not, vielleicht nur zu bald, vergessen. Mein Schatz besuchte mich während meiner Krankheit oft. Aber von allen jenen Unsternen ließ ich ihr keinen Schein sehn; und mein guter Engel verhütete, daß sie nichts davon erfuhr; denn ich merkte wohl, daß sie noch unschlüssig, nur mein Verhalten, und den Ausgang vieler ungewisser Dinge erwarten wollte. Unser Umgang war daher nie recht vertraut. Zu St. Gallen kam ich mit fünfzehn Gulden Buß davon. Als die Zimmerleut' fertig waren, ging's ans Mauern. Dann kam der Hafner, Glaser, Schlosser, Schreiner, einer nach dem andern. Dem letzten zumal half ich aus allen Kräften, so daß ich dies Handwerk so ziemlich gelernt und mir mit meiner Selbstarbeit manchen Schilling[S. 170] erspart habe. Mit meinem Fuß war's indessen noch lange nicht recht, und ich mußte bei Jahren daran bayern,[52] sonst wäre alles viel hurtiger vonstatten gegangen. Endlich konnt' ich am siebenzehnten Juni mit dem Bruder in mein neues Haus einziehn, der nun einzig, nebst mir, unsern kleinen Rauch führte. Wir beide stellten also Herr, Frau, Knecht, Magd, Koch und Keller, alles an einem Stiel vor. Aber es fehlte noch an vielem. Wo ich herumsah, erblickt' ich meist heitre und sonnenreiche, aber leere Winkel. Immer mußt' ich die Hand in Beutel stecken, und der war klein und dünn, so daß es mich jetzt noch Wunder nimmt, wie die Kreuzer, Batzen und Gulden alle heraus- oder vielmehr hineingekrochen. Aber freilich am End erklärte sich manches durch eine Schuldenlast von fast tausend Gulden.

Hochzeit

Inzwischen war ich nun beinahe vier Jahre lang einem stettigen[53] Mädchen nachgelaufen; und sie mir, wenn auch etwas minder. Wenn wir uns nicht sehen konnten, mußten bald alle Tage gebundene und ungebundene Briefe gewechselt sein, wie mich denn über diesen Punkt mein verschmitzter Schatz meisterlich zu betrügen wußte. Sie schrieb mir nämlich ihre Briefe meist in Versen, so nett, daß sie mich darin weit übertraf. Ich hatte eine große Freude an dem gelehrten[S. 171] Ding, und glaubte eine vortreffliche Dichterin an ihr zu haben. Aber am End kam's heraus, daß sie weder schreiben noch Geschriebenes lesen konnte, sondern alles durch einen vertrauten Nachbar verrichten ließ. »Nun, Schatz!« sagt' ich eines Tags, »jetzt ist unser Haus fertig, und ich muß doch einmal wissen, woran ich bin.« Sie brachte noch einen ganzen Plunder von Entschuldigungen hervor. Zuletzt wurden wir darüber einig, ich müss' ihr noch Zeit lassen bis im Herbst. Endlich ward im Oktober (1761) unsre Hochzeit öffentlich verkündet. Jetzt, so schwer war's kaum Rom zu bauen, spielte mir ein niederträchtiger Kerl noch den Streich, daß er im Namen seines Bruders, der in piemontesischen Diensten stand, Ansprache auf meine Braut machte, die aber bald für ungültig erkannt wurde. An Aller Seelen-Tag wurden wir kopuliert. Herr Pfarrer Seelmatter hielt uns einen schönen Sermon, und knüpfte uns zusammen. So nahm meine Freiheit ein Ende, und das Zanken gleich den ersten Tag seinen Anfang. Ich sollte mich unterwerfen, wollte nicht, und will's noch nicht. Sie sollt' es auch, und will's noch viel minder. Auch darf ich einmal nicht verhehlen, daß mich eigentlich bloß politische Absichten zu meiner Heirat bewogen hatten, und ich nie jene zärtliche Neigung zu ihr verspürte, die man Liebe zu nennen gewohnt ist. Nur das erkannt' ich wohl, und erkenne ich noch in der gegenwärtigen Stunde, daß sie für meine Umstände unter allen, die ich bekommen hätte, die tauglichste war. Mein Bruder[S. 172] Jakob hatte ein Jahr vor mir, und meine älteste Schwester ein Jahr nach mir sich verheiratet, und keins von beiden traf's so gut wie ich. Nicht zu gedenken, daß die Familie meiner Frau weit besser war, als die, worein meine beiden Geschwister sich hineingemannet und geweibet hatten, sind diese auch immer ärmer geblieben. Bruder Jakob zumal mußte in den teuern siebenziger Jahren von Weib und Kindern weg in den Krieg laufen.

Tod des Vaters

Das Jahr 1762 war mir besonders um des sechsundzwanzigsten Märzens und zehnten Septembers willen merkwürdig. An dem erstern starb mein geliebter Vater eines schnellen, gewaltsamen Todes, den ich lange nicht verschmerzen konnte. Er ging am Morgen in den Wald, etwas Holz zu suchen. Gegen Abend kam Schwester Anne-Marie mit Tränen in den Augen zu mir und sagte, der Ätti sei in aller Frühe fort und noch nicht heimgekommen, sie fürchten alle, es sei ihm was Böses begegnet, ich solle doch fort und ihn suchen, sein Hündlein sei etlichemal heimgekommen und wieder weggelaufen. Mir ging ein Stich durch Mark und Bein. Ich rannte in aller Eil' dem Gehölze zu, das Hündlein trabte vor mir her und führte mich gerade zu dem vermißten Vater. Er saß neben seinem Schlitten, an ein Tännchen gelehnt, die Lederkappe auf dem Schoß und die Augen sperroffen. Ich glaubte, er sehe mich starr an. Ich rief: Vater, Vater! aber keine Antwort. Seine Seele war ausgefahren, gestabet[54] und kalt waren seine[S. 173] lieben Hände, und ein Ärmel hing von seinem Futterhemd herunter, den er mag ausgerissen haben, als er mit dem Tode rang. Voll Angst und Verwirrung fing ich ein Zetergeschrei an, welches in kurzem alle meine Geschwisterte herbeibrachte. Eins nach dem andern legte sich auf den erblaßten Leichnam. Unser Geheul ertönte durch den ganzen Wald. Man zog ihn auf seinem Schlitten nach Haus, wo die Mutter samt den Kleinen ihr Wehklagen mit dem unsrigen vereinte. Ein armer Bube aß die Suppe, die auf den guten Herzensvater gewartet hatte. Zehn Tage vorher hatt' ich das letztemal, oh, hätt' ich's gewußt, daß es das letztemal! mit ihm gesprochen, und sagte er mir unter anderm, er möchte sich die Augen ausweinen, wenn er bedenke, wie oft er den lieben Gott erzürnt habe. Oh, welch einen guten Vater hatten wir, welch einen zärtlichen Ehemann unsre Mutter, welch eine redliche Seele und Biedermann alle, die ihn kannten, an ihm verloren. Gott tröste seine Seele in alle Ewigkeit! Er hatte eine mühsame Pilgrimschaft. Kummer und Sorgen aller Art, Krankheiten, drückende Schuldenlast folgten ihm stets auf der Ferse nach. Sonntags, den achtundzwanzigsten März, wurde er unter einem zahlreichen Gefolge zu seiner Ruhestatt begleitet, und in unser aller Mutter Schoß gelegt. Herr Pfarrherr Bösch ab dem Ebnet hielt ihm die Leichenrede, die für seine betrübten Hinterlassenen[S. 174] ungemein tröstlich ausfiel. Der Selige mag sein Alter auf fünfundfünfzig Jahre gebracht haben. Oh, wie oft besucht' ich seither das Plätzchen, wo er den letzten Atem ausgehaucht. Die sicherste Vermutung über seine eigentliche Todesart gab mir der Ort selbst an die Hand. Es war sehr gähe, wo er mit seinem Füderchen Holz hinunterfuhr. Der Schnee trug den Schlitten, aber mit den Füßen mußte er an einer lockern Stelle, die ich noch wohl wahrnehmen konnte, unter den letztern gekommen, und derselbe mit ihm gegen eine Tanne geschossen sein, die ihm den Herzstoß gab. Doch muß er noch eine Weile gelebt, sich freimachen gewollt, und über dieser Bemühung sein Futterhemd zerrissen haben.

Familiensorgen

Nach diesem traurigen Hinschied fiel eine schwere Last auf mich. Da waren noch vier unerzogene Kinder, bei welchen ich Vaterstelle vertreten sollte. Unsre Mutter war so immer geradezu und sagte zu allem: Ja, ja! Ich tat, was ich konnte, wenn ich gleich mit mir selbst schon genug zu schaffen hatte. Bruder Georg nahm den eigentlichen Haushalt über sich. Aus den hundert Gulden, die mir der Selige gegeben hatte, tilgte ich seine Schulden. In meinem eigenen Häuschen machte ich einen Webkeller zurecht. Ich lernte selbst weben und lehrte es nach und nach meine Brüder, so daß zuletzt alle damit ihr Brot verdienen konnten. Die Schwestern verstunden recht gut Löthligarn zu spinnen, die jüngste lernte nähen.

[S. 175]

Das erste Kind

Der zehnte September war wieder der erste frohe Tag für mich, an welchem meine Frau mir einen Sohn zur Welt brachte, den ich nach meinem und meines Schwähers Namen Uli nannte. Ich hatte eine solche Freude mit diesem Jungen, daß ich ihn nicht nur allen Leuten zeigte, die ins Haus kamen, sondern auch jedem vorübergehenden Bekannten zurief: Ich hab' einen Buben, obgleich ich schon voraus wußte, daß mich mancher darüber auslachen und denken werde: Wart nur, du wirst noch des Dings genug bekommen, wie's denn auch wirklich geschah. Inzwischen kam mein gutes Weib dies erstemal nicht leicht davon und mußte viele Wochen das Bett hüten. Das Kind wuchs und nahm wunderbar zu.

Bald nachher erzeugten die Angelegenheiten der Meinigen manchen kleinern und größern Ehestreit zwischen mir und meiner Hausehre. Die letztre mochte nämlich nach Gewohnheit die erstern nie recht leiden, und meinte immer, ich dächt' und gäb' ihnen zu viel. Freilich waren meine Brüder ziemlich ungezogene Bursche, aber immer meine Brüder, und ich also verbunden, mich ihrer anzunehmen. Endlich kam einer nach dem andern unter die Fremden, Georg ausgenommen, der ein ziemlich liederliches Weib heiratete. Die andern alle verdienten, meines Wissens, ihr Brot mit Gott und mit Ehren.

[S. 176]

Eheleben

Die Flitterwochen meines Ehestands waren nun längst vorbei, obgleich ich wenig von ihrem Honig zu sagen weiß. Mein Weib wollte immer gar zu scharfe Mannszucht halten; und wo viel Gebote sind, gibt's mehr Übertretung. Sobald ich nur ein bischen ausschweifte, waren gleich alle Teufel los. Das machte mich bitter und launisch, und verführte mich zu allerlei eiteln Projekten. Mein Handel ging bald gut, bald schlecht. Bald kam mir ein Nachbar in die Quere und verstümmelte mir meinen schönen Gewerb; bald betrogen mich arge Buben um Baumwolle und Geld, denn ich war gar zu leichtgläubig. Ich hatte mir eines der herrlichsten Luftschlösser gemacht, meine Schulden in wenig Jahren zu tilgen; aber die Ausgaben mehrten sich von Jahr zu Jahr. Im Winter 63 gebar mir meine Frau eine Tochter, und 65 noch eine. Ich bekam wieder das Heimweh nach Geißen; auf der Stelle mußten deren etliche herbeigeschafft sein. Die Milch stund mir und meinen drei Jungen trefflich an; aber die Tiere gaben mir viel zu schaffen. Andremal hielt ich eine Kuh; oft gar zwei und drei. Ich pflanzte Erdäpfel und Gemüse, und probierte alles, wie ich am leichtesten zurechtkommen möchte. Aber ich blieb immer so auf dem alten Fleck stehn, ohne weit vor, doch auch nicht hinterwärts zu rücken.

Die Sechzigerjahre

Überhaupt vertrödelte ich diese Sechzigerjahre, daß ich nicht recht sagen kann, wie? und so, daß sie meinem Gedächtnis weit entfernter sind als die entferntesten[S. 177] Jugendjahre. Nur etwas Weniges also von meiner damaligen Herzens- und Gemütslage. Schon mehrmals hab' ich bemerkt, wie ich in meiner Bubenhaut ein lustiger, leichtsinniger, kummer- und sorgenloser Junge war, der dann doch von Zeit zu Zeit manche gute Regungen zur Buße und manche angenehme Empfindung, wenn er in der Besserung auch nur einen halben Fortschritt tat, bei sich verspürte. Nun war die Zeit längst da, einmal mit Ernst ein ganz anderes Leben anzufangen. Gerade von meiner Verheiratung an wollt' ich mit nichts Geringerm beginnen, als der Welt völlig abzusagen, und das Fleisch mit allen seinen Gelüsten zu kreuzigen. Aber, oh, ich einfältiger Mensch! Was es da für ein Gewirre und für Widersprüche in meinem Innern absetzte. Vor meinem Ehestand bildete ich mir ein, wenn ich nur erst meine Frau und eigen Haus und Heimat hätte, würden alle andern Begierden und Leidenschaften wie Schuppen von meinem Herzen fallen. Aber, potztausend! welch' eine Rebellion gab's da. Lange Zeit wendete ich jeden Augenblick, den ich entbehren, aber auch manchen, den ich nicht entbehren konnte, aufs Lesen an. Ich schnappte jedes Buch auf, das mir zu erhaschen stund. Ich hatte acht Foliobände von der Berlenburger Bibel vollendet, nahm dann, wie es sich gebührt, eine scharfe Kinderzucht vor, ging dann und wann in die Versammlung etlicher Heiliger und Frommen, und ward darüber, wie es mir jetzt vorkommt, ein unerträglicher, eher gottloser Mann, der alle andern[S. 178] Menschen um ihn her für bös, sich selber allein für gut hielt, und darum jedes Bein nach seiner Pfeife wollte tanzen lehren. Jede auch noch so schuldlose Freude des Lebens machte mir Skrupel über Skrupel, ich wollte mir bald sogar die Befriedigung eigentlich unentbehrlicher Bedürfnisse versagen, und mein Busen steckte doch voll schnöder Lust und tausend abenteuerlicher Begierden, die ich so oft ertappte, als ich hineinzugucken Mut genug hatte. Ich geriet dann freilich fast in Verzweiflung, faßte aber doch allemal von neuem wieder Posto und suchte meine Sachen mit Beten, Lesen und — oh, ich abscheulicher Kerl! — hauptsächlich damit wieder zu verbessern, daß ich meiner Frau und Geschwisterten wie ein Pfarrer zusprach, und die Höll' bis zum Zerspringen heiß machte. Oft fiel mir's gar ein, ich sollte, gleich den Herrnhutern und Inspirierten, in der weiten Welt herumziehn und Buß' predigen. Wenn ich aber so nur einem meiner Brüder oder Schwestern einen Sermon hielt, und schon im Text stockte, dacht' ich wieder: Du Narr! Hast ja keine Gaben zu einem Apostel, und also auch keinen Beruf dazu. Dann fiel ich darauf, ich könnte vielleicht besser mit der Feder zurechtkommen, und flugs entschloß ich mich, ein Büchlein zum Trost und Heil wo nicht ganz Tockenburgs, wenigstens meiner Gemeinde zu schreiben, oder es auch nur meiner Nachkommenschaft — statt des Erbguts zu hinterlassen.

Das Jahr 1767 hatte mir wieder einen Buben beschert. Ich nannte ihn [S. 179]nach meinem Vater Johannes. Um die nämliche Zeit fiel mein Bruder Samson im Laubergaden ab einem Kirschbaum zu Tod. Im Jahre 68 fing ich obbelobtes Büchlein und zugleich ein Tagebuch an, das ich bis zu dieser Stunde fortsetze, das anfangs aber voll Schwärmereien stak, und nur bisweilen ein guter Gedanke in hundert leeren Worten ersäuft war, mit denen nb. meine Handlungen nie übereinstimmten.


Sonst ward ich in diesen frommen Jahren des Garnhandels bald überdrüssig, weil ich dabei, wie ich wähnte, mit zu viel rohen und gewissenlosen Menschen umzugehen hätte. Aber, oh, des Tucks! warum überließ ich ihn denn meiner Frau und beschäftigte mich selbst mit der Baumwolltüchlerei? Ich glaubte halt, für meine Haut und mein Temperament mit den Webern besser als mit den Spinnern auskommen zu können. Aber es war für meine Haushaltung ein törichter Schritt, oder wenigstens fiel er übel aus. Im Anfang kostete mich das Webgeschirr viel, und mußt' ich überhaupt ein hübsches Lehrgeld geben: und als ich die Sachen ein wenig im Gang hatte, schlug die War' ab. Doch, dacht' ich, es wird schon wieder anders kommen.

Das Jahr 1769 bescherte mir den dritten Sohn. »Ha!« überlegt' ich eines Tags, »nun mußt du einmal mit Ernst ans Sparen denken; bist immer noch so viel schuldig wie im Anfang, und dein Haushalt wird je länger je stärker. Frisch! die Händ' aus den Hosen getan,[S. 180] und die Bären abbezahlt. Jetzt kann's sein. Bisher hattest noch stets an deiner Hütte zu flicken, und fehlte immer hie und da ein Stück; andrer Ausgaben in deinem Gewerb zu geschweigen. Dann hast du unvernünftig viel Zeit mit Lesen und Schreiben zugebracht. Nein, nein! Jetzt willst anders dahinter. Zwar das Reichwerdenwollen soll von heut an aufgegeben sein. Der Faule stirbt über seinen Wünschen, sagt Salomon. Aber jenes ewige Studieren zumal, was nützt es dir? Bist ja immer der alte Mensch, und kein Haar besser als vor zehn Jahren, da du kaum lesen und schreiben konntest. Etwas Geld mußt' freilich noch aufnehmen; aber dann desto wackerer gearbeitet, und zwar alles, wie's dir vor die Hand kömmt. Verstehst ja, neben deinem eigentlichen Berufe noch das Zimmern, Tischlern und anderes wie ein Meister; hast schon Webstühl', Trög', Kästen und Särg' bei Dutzenden gemacht. Freilich ist schlechter Lohn dabei, und: Neun Handwerk', zehn Bettler, lautet das Sprichwort, doch wenig ist besser als nichts.« So dacht' ich. Aber es liegt nicht an jemands Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Verhängnis, an Zeit und Glück!

Die schlimmen Siebenzigerjahre

Während diesem meinem neuen Planmachen und Projekteschmieden rückten die heißhungrigen Siebenzigerjahre heran, und das erste brach ein, ganz unerwartet wie ein Dieb in der Nacht ein, da jedermann auf ganz andre Zeiten hoffte. Freilich gab's seit dem[S. 181] Jahr 1760 in unsern Gegenden kein recht volles Jahr mehr. Die Jahre 1768 und 1769 fehlten gänzlich, hatten nasse Sommer, kalte und lange Winter, großen Schnee, so daß viel Frucht darunter verfaulte, und man im Frühling aufs neue pflügen mußte. Das mögen politische Kornjuden wohl gemerkt und der nachfolgenden Teurung vollends den Schwung gegeben haben. Dies konnte man daraus schließen, daß fürs Geld immer Brot genug vorhanden war; aber eben jenes fehlte, und zwar nicht bloß bei dem Armen, sondern auch bei dem Mittelmann. Also war diese Epoche für Händler, Bäcker und Müller eine goldene Zeit, wo sich viele bereicherten oder wenigstens ein Hübsches auf die Seite schaffen konnten. Hinwieder fiel der Baumwollengewerb fast gänzlich in den Kot und war aller diesfällige Verdienst äußerst klein, so daß man Arbeiter genug ums bloße Essen haben konnte. Ohne dies wäre der Preis der Lebensmittel noch viel höher gestiegen, und hätte die teure Zeit bald gar kein End' genommen.

Das siebenziger Jahr neigte sich schon im Frühling zum Aufschlagen. Der Schnee lag auf der Saat bis im Maien, so daß gar viel darunter erstickte. Indessen tröstete man sich den ganzen Sommer auf eine leidliche Ernte, dann auf das Ausdreschen; aber alles umsonst. Ich hatte eine gute Portion Erdäpfel im Boden; es wurden mir aber viel gestohlen. Den Sommer über hatte ich zwo Kühe auf fremder Weide, und ein paar[S. 182] Geißen, welche mein erstgeborener Junge hütete; im Herbst aber mußt' ich aus Mangel an Geld und Futter alle diese Schwänze verkaufen. Der Handel nahm ab, so wie die Fruchtpreise stiegen, und bei den armen Spinnern und Webern war nichts als Borgen und Borgen. Nun tröstete ich die Meinigen und mich selbst mit meinem: »Es wird schon besser kommen!« so gut ich konnte; ich mußte aber auch dafür manche bittre Pille verschlucken, die meine Bettgenossin wegen meinem vorigen Verhalten, Sorglosigkeit und Leichtsinn mir auftischte, und die ich nicht allemal geduldig und gleichgültig ertragen mochte. Gleichwohl sagte mir mein Gewissen meist: Sie hat recht. Wenn sie's nur nicht so herb' präpariert hätte.

Mein erstes Hungerjahr

Nun brach der große Winter ein, der schauervollste, den ich erlebt habe. Ich hatte fünf Kinder und keinen Verdienst, ein bißchen Gespunst ausgenommen. Bei meinem Händelchen büßt' ich von Woche zu Woche mehr ein. Ich hatte viel vorrätig Garn, das ich zu hohem Preis eingekauft, und an dem ich verlieren mußte, ich mocht' es wieder roh verkaufen oder zu Tüchern machen. Doch tat ich das letztere und hielt mit dem Losschlagen zurück, mich immer meines Waidspruchs getröstend: »Es wird schon besser werden!« Aber es ward immer schlimmer, den ganzen Winter durch. Inzwischen dacht' ich: »dein kleiner Gewerb hat dich bisher genährt, wenn du damit gleich nichts beiseite legen konntest. Du magst und kannst's also nicht[S. 183] aufgeben. Tätest du's, müßtest du gleich deine Schulden bezahlen, und das wär' dir jetzt pur unmöglich.« Auch in andern Punkten ging's mir nicht besser. Mein kleiner Vorrat von Erdäpfeln und anderm Gemüs' aus meinem Gärtchen, was mir die Diebe übriggelassen, war aufgezehrt, ich mußte mich also Tag für Tag aus der Mühle verproviantieren; das kostete am End' der Woche eine hübsche Handvoll Münze, nur für Rotmehl und Rauchbrot. Dennoch war ich noch immer guter Hoffnung, hatte auch nicht eine schlaflose Nacht, und sagte alleweil: »Der Himmel wird schon sorgen und noch alles zum Besten lenken!« »Ja!« ripostierte meine Jöbin: »wie du's verdient; ich bin unschuldig. Hätt'st du die gute Zeit in Obacht genommen, und deine Hände mehr in den Teig gesteckt, als deine Nase in die Bücher!« »Sie hat recht!« dacht' ich dann, »aber der Himmel wird doch sorgen,« und schwieg. Freilich konnt' ich meine schuldlosen Kinder unmöglich Hunger leiden sehn, so lang ich noch Kredit fand. Die Not stieg um diese Zeit so hoch, daß viele eigentlich blutarme Leute kaum den Frühling erwarten mochten, wo sie Wurzeln und Kräuter finden konnten. Auch ich kochte allerhand dergleichen, und hätte meine jungen Vögel noch lieber mit frischem Laub genährt, als es einem meiner erbarmenswürdigen Landsmänner nachgemacht, dem ich mit eignen Augen zusah, wie er mit seinen Kindern von einem verreckten Pferd einen ganzen Sack voll Fleisch abhackte, woran sich schon mehrere Tage Hunde und Vögel satt[S. 184] gefressen hatten. Noch jetzt, wenn ich des Anblicks gedenke, durchfährt Schauer und Entsetzen alle meine Glieder. Bei alledem ging mir mein eigner Zustand nicht so sehr zu nahe, als die Not meiner Mutter und Geschwisterte, welche alle noch ärmer waren als ich, und denen ich so wenig helfen konnte. Indessen half ich über Vermögen, da ich stets noch einigen Kredit fand, und sie gar keinen. Im Mai 1771 verhalf mir ein gutmütiger Mann wieder zu einer Kuh und zu ein paar Geißen, da er mir Geld dazu bis auf den Herbst lieh. Nunmehr hatte ich wenigstens ein bißchen Milch für meine Jungen. Aber verdienen konnt' ich nichts. Was mir noch etwa von meinem Gewerb einging, mußt' ich auf die Atzung von Menschen und Tieren verwenden. Meine Schuldner bezahlten mich nicht, ich konnte also auch meine Gläubiger nicht befriedigen und mußte Geld und Baumwolle auf Borg nehmen wo ich's fand. Endlich ging dem Faß vollends der Boden aus. Zwar kam mir mein gewöhnliches: »Gott lebt noch! 's wird schon besser werden!« noch immer in den Sinn, aber meine Gläubiger fingen nichtsdestoweniger an, mich zu mahnen und zu drohen. Von Zeit zu Zeit mußt' ich hören, wie dieser und jener bankerott machte. Es gab hartherzige Kerls, die alle Tag mit den Schätzern im Feld waren, ihre Schulden einzutreiben. Neben andern traf die Reihe auch meinen Schwager; ich hatte ebenfalls eine Anforderung an ihn, und war selber bei dem Auffallsakt gegenwärtig; freilich mehr ihm zum Beistande, als[S. 185] um meiner Schuld willen. Oh, was das für ein erbärmlicher Spektakel ist, wenn einer so wie ein armer Delinquent dastehn, sein Schulden- und Sündenregister vorlesen hören, so viele bittre, teils laute, teils leise Vorwürfe in sich fressen, sein Haus, seine Mobilien, alles, bis auf ein armseliges Bett und Gewand, um einen Spottpreis verganten sehn, das Geheul von Weib und Kindern hören und zu allem schweigen muß wie eine Maus. Oh, wie fuhr's mir da durch Mark und Bein! Und doch konnt' ich weder raten noch helfen, nichts tun, als für meiner Schwester Kinder beten und im Herzen denken: »Auch du, auch du steckst ebenso tief im Kot! heut oder morgen kann es, muß es dir ebenso gehn, wenn's nicht bald anders wird. Und wie sollt' es anders werden? Oder darf ich Tor auf ein Wunder hoffen? Nach dem natürlichen Gang der Dinge kann ich mich unmöglich erholen. Vielleicht harren deine Gläubiger noch eine Weile, aber alle Augenblick' kann die Geduld ihnen ausgehn. Doch, wer weiß? Der alte Gott lebt noch! Es wird nicht immer so währen. Aber, ach! Und wenn's auch besser würde, braucht' es Jahre, bis ich mich wieder erholen könnte. So lang werden meine Schuldherren mir gewiß nicht Zeit lassen. Ach, mein Gott! Was soll ich anfangen? Keiner Seele darf ich mich vertrauen, muß ich doch vor meinem eignen Weib meinen Kummer verbergen.« Mit solchen Gedanken wälzt' ich mich ein paar lange Nächte auf meinem Lager herum, dann faßt' ich, wie mit Eins, wieder[S. 186] Mut, tröstete mich aufs neue mit der Hilfe von oben, befahl dem Himmel meine Sachen und ging meine Wege wie zuvor. Zwar prüft' ich mich selbst unterweilen, ob und inwiefern ich an meinen gegenwärtigen Umständen Schuld trage. Aber, wie geneigt ist man in solcher Lage, sich selbst zu rechtfertigen! Freilich konnt' ich mir keine eigentliche Verschwendung oder Liederlichkeit vorwerfen, aber doch ein gewisses gleichgültiges, leichtgläubiges, ungeschicktes Wesen. Erstlich hatt' ich nie gelernt, recht mit dem Geld umzugehn, auch hatte es nie Reize für mich, als inwiefern ich's alle Tag zu brauchen wußte. Hiernächst traute ich jedem Halunken, wenn er mir nur ein gut Wort gab; und noch jetzt könnte mich ein ehrlich Gesicht um den letzten Heller im Sack betrügen. Endlich und vornehmlich verstunden lange weder ich noch mein Weib den Handel, und kauften und verkauften immer zur verkehrten Zeit.

Not und Tod

Mittlerweile ward meine Frau schwanger, den ganzen Sommer 1772 über kränklich, und schämte sich vor allen Wänden, daß sie bei diesen betrübten Zeitläufen ein Kind haben sollte. Ja, sie hätte selbst mir bald eine ähnliche Empfindung eingepredigt. Im Herbstmonate, da die rote Ruhr allenthalben grassierte, kehrte sie auch bei mir ein, und traf zuerst meinen lieben Erstgebornen. Von der ersten Stund' an, da er sich legte, wollt' er, außer lauterm Brunnenwasser, nichts, weder Speis' noch Trank mehr zu sich nehmen, und in acht Tagen war er eine Leiche. Nur Gott weiß, was ich bei[S. 187] diesem Unfall empfunden. Ein so gutartiges Kind, das ich wie meine Seele liebte, unter einer so schmerzhaften Krankheit geduldig wie ein Lamm Tag und Nacht, denn es genoß auch nicht eine Minute Ruh', leiden zu sehn! Noch in der letzten Todesstunde riß es mich mit seinen schon kalten Händchen auf sein Gesicht herunter, küßte mich noch mit seinem erstorbnen Mündchen und sagte unter leisem Wimmern, mit stammelndem Zünglin: »Lieber Ätti! es ist genug. Komm auch bald nach« — rang dann mit dem Tod und verschied. Mir war, mein Herz wollte mir in tausend Stücke zerspringen. — Noch war mein Söhnlein nicht begraben, so griff die wütende Seuche mein ältestes Töchterchen an, und es war aller Sorgfalt der Ärzte ungeachtet noch schneller hingerafft. Diese Krankheit kam mir so ekelhaft vor, daß ich's sogar bei meinen Kindern nie ohne Grausen aushalten konnte. Als das Mädchen kaum tot, ich von Wachen, Sorgen und Wehmut wie vertaumelt war, fing's auch mir an im Leibe zu zerren, und hätt' ich in diesen Tagen tausendmal gewünscht zu sterben und mit meinen Lieben hinzufahren. Doch ging ich, auf dringendes Bitten meiner Frau, selbst zu Herrn Doktor Wirth. Er verordnete mir Rhabarber und sonst was. Sobald ich nach Haus kam, mußt' ich zu Bett liegen. Ein Grimmen und Durchfall fing mit aller Wut an, und die Arznei schien die Schmerzen zu verdoppeln. Der Doktor kam selbst zu mir und sah meine Schwäche, aber nicht meine Angst. Gott, Zeit und Ewigkeit, meine geist- und[S. 188] leiblichen Schulden stunden fürchterlich vor und hinter meinem Bett. Keine Minute Schlaf, Tod und Grab, Sterben, und nicht mit Ehren, welche Pein! Ich wälzte mich Tag und Nacht in meinem Bett herum, krümmte mich wie ein Wurm, und durfte, nach meiner alten Leier, meinen Zustand doch keiner Seele entdecken. Ich flehte zum Himmel, aber der Zweifel, ob der mich hören wollte, ging mir jetzt zum erstenmal durch Mark und Bein, und die Unmöglichkeit, daß mir bei meinem allfälligen Wiederaufkommen noch gründlich zu helfen sei, stellte sich mir lebhafter als je vor. Indessen ward mein Töchterchen begraben, und in wenig Tagen lagen meine drei übrigen Kinder nebst mir an der nämlichen Krankheit darnieder. Nur mein ehrliches Weib war bis dahin ganz frei ausgegangen. Da sie nicht allem abwarten konnte, kam ihre ledige Schwester ihr zu Hilf'; sonst übertraf sie mich an Mut und Standhaftigkeit weit. Ich stund, teils meiner leiblichen Schmerzen, teils meiner schrecklichen Vorstellungen wegen, noch ein paar Tage Höllenangst aus, bis es mir in einer glücklichen Stunde gelang, mich und meine Sachen dem lieben Gott auf Gnad und Ungnad zu übergeben. Bisher war ich ein ziemlich mürrischer Patient. Nun ließ ich mit mir machen, was jeder gern wollte. Meine Frau, ihre Schwester und Herr Doktor Wirth gaben sich alle ersinnliche Sorge um mich. Der Höchste segnete ihre Mühe, so daß ich inner acht Tagen wieder aufkam und auch meine drei Kleinen sich wieder allmählich erholten.[S. 189] Als ich noch darniederlag, kam eines Abends meine Schwägerin und eröffnete mir, meine zwei Geißen seien auf und davon. »Ei so fahre denn alles hin!« sagt' ich, »wenn's so sein muß.« Allein des folgenden Morgens rafft' ich mich, so schwach und blöd' ich noch war, auf, meine Tiere zu suchen, und fand sie wieder, zu mein und meiner Kinder großer Freude.

Sonst war der Jammer, Hunger und Kummer damals im Land allgemein. Alle Tag' trug man Leichen zu Grabe, oft drei, vier bis elf miteinander. Nun dankt' ich dem lieben Gott, daß er mir wieder so geholfen, und ebensosehr, daß er meine zwei Lieben versorgt hatte, denen ich nicht helfen konnte. Aber lange schwebten mir die anmutigen Dinger, ihr gutartiges kindliches Wesen, wie leibhaftig vor Augen. »Oh, ihr geliebten Kinder!« stöhnt' ich dann des Tages hundertmal, »wann werd' ich einst zu euch hinfahren? Denn ach! zu mir kommt ihr nicht wieder.« Viele Wochen lang ging ich umher wie der Schatten an der Wand, staunte Himmel und Erde an, tat zwar, was ich konnte, konnte aber nicht viel. Zur Bezahlung meiner Gläubiger wurden die Aussichten immer enger und kürzer. Aus einem Sack in den andern zu schleufen und mich so lange zu wehren, wie möglich, mußt' jetzt mein einziges Dichten und Trachten sein.

Fünf weitere Jahre

Fünf Jahre lang (1773-77) kroch ich so immer zwischen Furcht und Hoffnung unter meiner Schuldenlast[S. 190] fort, trieb mein Händelchen und arbeitete daneben, was mir vor die Hand kam. Zu Anfang dieser Epoche ging's vollends den Krebsgang. So viel unnütze Mäuler, denn die Fünfzahl meiner Kinder war jetzt wieder komplett, die Ausgaben für Essen, Kleider, Holz und die leidigen Zinse fraßen meinen kleinen Gewinst noch etwas mehr als auf. Meine schönste Hoffnung erstreckte sich erst auf Jahre hinaus, wo meine Jungen mir zur Hilfe gewachsen sein würden. Aber wenn meine Gläubiger bös gewesen, sie hätten mich lange vorher überrumpelt. Nein! sie trugen Geduld mit mir; freilich bestrebt' ich mich aus allen Kräften Wort zu halten so gut wie möglich; aber das bestund meist in neuem Schuldenmachen, um die alten zu tilgen. Da waren mir allemal die nächsten Wochen vor der Zurzacher-Messe sehr schwarze Tag' im Kalender, wo ich viele Dutzend Stunden verlaufen mußte, um wieder Kredit zu finden. Oh, wie mir da manch' liebes Mal das Herz klopfte, wenn ich so an drei, vier Orten ein christliches Helf dir Gott! bekam. Wie rang ich oft meine Hände gen Himmel, und betete zu dem, der die Herzen wendet, wohin er will, auch eines zu meinem Beistand zu lenken. Und allemal ward's mir von Stund' an leichter um das meinige, und fand sich zuletzt, freilich nach unermüdetem Suchen und Anklopfen, noch irgendeine gutmütige Seele, meist in einem unverhofften Winkel. Ich hatte ein paar Bekannte, die mir wohl schon hundertmal aus der Not geholfen, aber die Furcht,[S. 191] sie endlich zu ermüden, machte, daß ich immer zuletzt zu ihnen kehrte, und dann, hätt' ich ihnen ein einzigmal nicht Wort gehalten, so wäre mir auch diese Hilfsquelle auf immer versiegt; ich trug darum zu ihr wie zu meinem Leben Sorg'. Übrigens trauten's mir nur wenige von meinen Nachbarn und nächsten Gefreundten zu, daß ich sogar bis an die Ohren in Schulden stecke; vielmehr wußt' ich das Ding ziemlich geheim zu halten, meinen Kummer und Unmut zu verbergen, und mich bei den Leuten allezeit aufgeräumt und wohlauf zu stellen. Auch glaub' ich, ohne diesen ehrlichen Kunstgriff wär' es längst mit mir aus gewesen. Freilich hatt' ich, wer sollte es glauben? auch meine Neider, von denen ich wohl wußte, daß sie allen Personen, die mit mir zu tun hatten, fleißig ins Ohr zischten, was sie unmöglich mit Sicherheit wissen konnten. Da hieß es: »Er steckt verzweifelt im Dreck, lange hält er's nicht mehr aus. Wenn er nur nicht einpackt, oder Weib und Kinder im Stich läßt. Ich fürcht', ich fürcht', will aber nichts gesagt haben; wenn er's nur nicht inne wird.« Zu mir kamen die Kerls als die besten Freunde, förschelten und frägelten mich aus, taten so mitleidig, als wenn sie mir mit Gut und Blut helfen wollten, wenn ich nur Zutrauen zu ihnen hätte, und jammerten über die bösen Zeiten und Stümpler. Wie ich's doch bei meinem kleinen verderbten Händelchen mit meiner großen Haushaltung mache? Einst, ich weiß nicht mehr, ob aus Schalkheit oder Not, sprach ich einen dieser Uriane um ein halbdutzend[S. 192] Dublonen auf einen Monat an. Mein Herr hatte hundert Ausflüchte, schlug mir's am End' rund ab, und raunt' dann in jedes Ohr, das ihn hören wollte: Der Bräker hat gestern Geld von mir lehnen wollen. Er machte freilich auch einige meiner Kreditoren mißtrauisch; andere hingegen sagten: »Ha, er hat doch immer Wort gehalten, und so lang er das tut, soll er offne Tür bei mir finden. Er ist ein ehrlicher Mann.« Also eben jene falschen Freunde waren es, welche mir die meiste Mühe machten, und denen ich mich nicht entdecken durfte, wenn ich nicht völlig kaput sein wollte. Ich hatte schon im Jahre 1771 oder 1772 meine Weberei, obgleich mit ziemlichen Verlust, ab mir geladen und das brachte mir auch nicht den besten Ruf, da mein Baumwollenbrauch dadurch geringer und mein Baumwollenherr unzufrieden und mürrisch wurde. Desto eher sollt' ich nun die alten Baumwollenschulden bezahlen und konnt' es doch desto weniger. So verstrich ein Jahr nach dem andern. Bald flößte mir mein guter Geist frischen Mut und neue Hoffnung ein, daß mir noch einst durch die Zeit zu helfen sein werde. Nur allzuoft aber verfiel ich wieder in düstre Schwermut, und zwar, die Wahrheit zu gestehen, meist, wenn ich zahlen sollte und weder aus noch ein wußte. Da ich mich, wie schon gesagt, keiner Seele glaubte entdecken zu dürfen, nahm ich in diesen mutlosen Stunden meine Zuflucht zum Lesen und Schreiben. Ich entlehnte und durchstänkerte jedes Buch, das ich kriegen[S. 193] konnte, in der Hoffnung, etwas zu finden, das auf meinen Zustand paßte, fing halbe Nächte durch weiße und schwarze Grillen, und fand allemal Erleichterung, wenn ich meine gedrängte Brust aufs Papier ausschütten konnte. Dann war der Entschluß bei mir fest, die Dinge, die da kommen sollten, ruhig abzuwarten, wie sie kommen würden; und in solcher Gemütsstimmung ging ich allemal zufrieden zu Bett und schlief wie ein König.

Das Samenkorn meiner Autorschaft

Um diese Zeit kam einst ein Mitglied der Moralischen Gesellschaft zu Lichtensteig in mein Haus, als ich eben die Geschichte von Brand und Struensee durchblätterte, und etwas von meinen Schreibereien auf dem Tisch lag. »Das hätt' ich bei dir nicht gesucht,« sagte er, und fragte: Ob ich gern so etwas lese, und oft dergleichen Sächelchen schreibe? »Ja!« sagt' ich: »Das ist neben meinen Geschäften mein einziges Wohlleben.« Von da an wurden wir Freunde und besuchten einander zum öftersten. Er anerbot mir seine kleine Büchersammlung, ließ sich aber in ökonomischen Sachen noch lieber von mir helfen, als daß er mir hätte beispringen können, obschon ich ihm von weitem meine Umstände merken ließ. In einem dieser Jahre schrieb die erwähnte Gesellschaft über verschiedene Gegenstände Preisfragen aus, welche jeder Landmann beantworten könnte. Mein Freund munterte mich zu einer solchen Arbeit auf; ich hatte große Lust dazu, machte ihm aber die Einwendung:[S. 194] Man würde mich armen Tropf nur auslachen. »Was tut das?« sagte er: »Schreib du nur zu, in aller Einfalt, wie's kommt und dich dünkt.« Da schrieb ich denn über den Baumwollengewerb und den Kredit, sandte mein Geschmiere zur bestimmten Zeit neben vielen andern ein, und die Herren waren so gut, mir den Preis von einem Dukaten zuzuerkennen. Ob zum Gespötte? Nein, wahrlich nicht. Oder vielleicht in Betrachtung meiner dürftigen Umstände? Kurz, ich konnt' es nicht begreifen, und noch viel minder, daß man mich jetzt gar von ein paar Orten her einlud, ein förmliches Mitglied der Gesellschaft zu werden. »Oh, behüte Gott!« dacht' und sagt' ich anfangs, »das darf ich mir nicht träumen lassen. Ich würde einen Korb bekommen. Und wenn auch nicht, ich mag so gelehrten Herren keine Schande machen. Über kurz oder lang würden sie mich gewiß wieder ausmustern.« Endlich aber, nach vielem Hin- und Herwanken, und besonders aufgemuntert durch einen der Vorsteher, bei dem ich sehr wohl gelitten war, wagt ich's, mich zu melden. Ich kann übrigens versichern, daß mich weniger die Eitelkeit als die Begierde reizte, an der schönen Lesekommun der Gesellschaft um ein geringes Geldlein Anteil zu nehmen. Indessen ging es, wie ich vermutet hatte, und gab's allerlei Schwierigkeiten. Einige Mitglieder widersetzten sich, und bemerkten mit Recht, ich sei von armer Familie, dazu ein ausgerissener Soldat, ein Mann, von dem man nicht wisse wie er stehe, von dem wenig Ersprießliches[S. 195] zu erwarten sei. Gleichwohl ward ich durch Mehrheit der Stimmen angenommen. Aber erst jetzt reute mich mein unbesonnener Schritt, als ich bedachte: Jene Herren sagten ja nichts als die nur lautere Wahrheit und könnten noch einst damit triumphieren. Inzwischen mußt' ich's gelten lassen, und tröstete ich mich mit dem auch nicht ganz uneigennützigen Gedanken, das ein und andre Mitglied könnte mir im Verfolg zu manchen wichtigen Dingen nützlich sein.

Mitglied einer gelehrten Gesellschaft
Lesewut
Selbstanklagen
Schuldner und Gläubiger
Harte Versuchungen

Was hatt' ich da für eine kindische Freude an der großen Anzahl Bücher, deren ich in meinem Leben nie so viele beisammen gesehn, und an denen allen ich nun Anteil hatte. Ich errötete zwar noch immer bei dem bloßen Gedanken, ein eigentliches Mitglied einer gelehrten Gesellschaft zu heißen und zu sein, und besuchte sie darum nur selten und verstohlen. Aber da half alles nichts; es ging mir wie dem Raben, der mit den Enten fliegen wollte. Meine Nachbarn und andre alte Freunde und Bekannte, kurz, meinesgleichen, sahen mich, wo ich stund und ging, überzwerch an. Hier hört' ich ein höhnisches Gezisch; dort erblickt' ich ein verachtendes Lächeln. Denn es ging unsrer Moralischen Gesellschaft im Tockenburg anfangs wie allen solchen Instituten in noch rohen Ländern. Man nannte ihre Mitglieder Neuherren, Bücherfresser, Jesuiten und dergleichen. Meine Frau vollends speite Feuer und Flammen über mich aus, wollte sich viele Wochen nicht besänftigen lassen, und gewann nun gar Ekel und Widerwillen gegen[S. 196] jedes Buch, wenn's zumal aus unsrer Bibliothek kam. Einmal hatt' ich den Argwohn, sie selbst habe um diese Zeit meinen Kreditoren eingeblasen, daß sie mich nur brav ängstigen sollten. Sie leugnet's zwar noch auf den heutigen Tag, und Gott verzeih' mir's! wenn ich falsch gemutmaßt habe; aber damals hätt' ich mir's nicht nehmen lassen. Genug, meine Treiber setzten stärker in mich als sonst. Da hieß es: Hast du Geld, dich in die Büchergesellschaft einzukaufen, so zahl' auch mich. Wollt' ich etwas borgen, so wies man mich an meine Herren Kollegen. »Oh, du armer Mann!« dacht' ich, »was hast du für einen hundsdummen Streich gemacht, der dir vollends den Rest geben muß. Hätt'st du dich mit deinem Morgen- und Abendsegen begnügt, wie so viele andre deiner redlichen Mitlandsleute. Jetzt hast du deine alten Freund' verloren, von den neuen darfst und magst du keinen um einen Kreuzer ansprechen. Deine Frau hagelt auf dich zu. Du Narr! was nützt dir jetzt all' dein Lesen und Schreiben? Kaum wirst du noch dir und deinen Kindern den Bettelstab dafür kaufen können.« So macht' ich mir selber die bittersten Vorwürfe und rang oft beinahe mit der Verzweiflung. Dann sucht' ich freilich von Zeit zu Zeit aus einem andern Sack auch meine Entschuldigungen hervor, die hießen: »Ha! das Lesen kostet mich doch nur ein Geringes, und das hab' ich an Kleidern und anderm mehr als erspart. Auch bracht' ich nur die müßigen Stunden damit zu, wo andre ebenfalls nicht[S. 197] arbeiten, meist bei nächtlicher Weile. Wahr ist's, meine Gedanken beschäftigten sich auch in der übrigen Zeit nur allzuviel mit dem Gelesenen und waren zu meinem Hauptberuf selten bei Hause. Doch hab' ich nichts verludert, und trank höchstens zuweilen eine Flasche Wein, meinen Unmut zu ersäufen. Das hätt' ich freilich auch sollen bleiben lassen. Aber was ist ein Leben ohne Wein, und zumal ein Leben wie meines?« Dann kam's wieder einmal ans Anklagen: »Aber, wie nachlässig und ungeschickt warst du in allem, was Handel und Wandel heißt. Mit deiner unzeitigen Güte nahmst du alles, wie man's dir gab, gabst jedem, was er dich bat, ohne zu bedenken, daß du nur andrer Leute Geld im Säckel hattest, oder daß dich ein redlich scheinendes Gesicht betrügen könnte. Deine Ware vertrautest du dem ersten besten und glaubtest ihm auf sein Wort, wenn er dir vorlog, er könne dir auf sein Gewissen nur soundsoviel bezahlen. Oh, könnt'st du noch einmal wieder von vornen anfangen. Aber, vergeblicher Wunsch! Nun, so willst du doch alles versuchen, willst denen, die dir schuldig sind, eben auch drohen wie man dir droht.« So dacht' ich elender Tropf und setzte wirklich zween meiner Debitoren den Tag an; freilich mehr um sie und andre zu schrecken, als daß es Ernst gegolten hätte. Aber sie verstunden's nicht so. Ich ging auf die bestimmte Zeit mit den Schätzern zu ihren Häusern; und, Gott weiß! mir war's viel bänger als ihnen. In dem ersten Augenblick, da ich in des einen Wohnung trat,[S. 198] dacht' ich: Wer kann das tun? Die Frau bat, und wies mit den Fingern auf das zerfetzte Bett und die wenigen Scherben in der Küche; die Kinder in ihren Lumpen heulten. Oh, wenn ich nur wieder weg wäre! dacht' ich, bezahlte Schätzer und Weibel, und strich mich unverrichteter Sachen fort, nachdem man mir in bestimmten Terminen Bezahlung versprochen, die noch auf den heutigen Tag aussteht. Auch erfuhr ich nachwärts, daß diese Leute, einige Stunden vorher, eh' ich in ihr Haus kam, die besten Habseligkeiten geflöchnet,[55] und ihre Kinder expreß so zerlöchert angezogen hätten. »Meinetwegen,« sagt' ich da zu mir selbst, »das will ich in meinem Leben nicht mehr tun. Meine Gläubiger mögen eines Tages Barbaren gegen mich, ich will's nicht gegen andre sein. Es geh' mir wie es geh', diese Schulden müssen zuletzt doch auch zu meinem Vermögen gerechnet werden.« Aber jene fragten nichts darnach, und diesen jagte eine solche Denk- und Verfahrungsart gerade keine Scheu ein. Die erstern trieben mich immer stärker und unerbittlicher, so daß mich meine überspannte Einbildung zuletzt wirklich glauben ließ, Gott habe nun einmal beschlossen, mich vor aller Welt zu Spott und Schande zu machen und mich die Folgen meiner Unvorsichtigkeit abbüßen zu lassen. Der Versucher feiert bei solchen Gelegenheiten gewiß nicht, und mir war's oft, ich fühlte seine Eingebungen, wenn ich[S. 199] den ganzen Tag vergeblich nach Menschenhilfe umhergelaufen war und abends schwermütig oder halb verrückt der Thur nach schlich, mit starrem Blick in den Strom hinuntersah, wo er am tiefsten ist. Dann deuchte es mir, der schwarze Engel hauche mich an und flüsterte mir zu: Stürz dich hinein, Tor, du hältst es doch nicht länger aus. Sieh' nur, wie sanft das Wasser rollt! Ein Augenblick, und dein ganzes Sein wird ebenso dahinwogen. Dann schläfst du so ruhig und so wohl, so wohl! Da wird für dich kein Leid und kein Geschrei mehr sein und dein Geist und Herz ewig in süßem Vergessen schlummern. Himmel, wenn ich dürfte! dacht' ich jetzt wohl. Aber welch ein Schauer, Gott, welch ein Grausen durchfährt alle meine Glieder! Sollt' ich meiner besseren Überzeugung vergessen können? Nein, Satan, packe dich! ich will ausharren und erdulden, was ich verschuldet habe. Ein andermal riet mir der Böse wieder, ich sollt' mein Bündel aufpacken und davonlaufen. Mit meiner noch übrigen Barschaft könnte ich in einem entfernten Lande etwas Neues anfangen, und zu Hause würden Weib und Kind schon gutherzige Seelen finden. — Was! ich davonlaufen? Mein zwar unsanftes aber getreues Weib und meine unschuldigen kleinen Kinder im Stich lassen? Die Winkelprophezeiungen meiner Feinde zu ihrer größten Freude wahrmachen? In welcher Ecke der Erde könnt' ich eine Stunde Ruhe genießen, wo mich verbergen, daß der Wurm in meinem Busen mich nicht fände? Und stell'[S. 200] ich mir meine Sachen am Ende nicht zu schrecklich vor? Wenn mich nun auch meine Sünden so wie jetzt nur meine Schulden quälten?

So bekam ich von Zeit zu Zeit wieder guten, festen Mut, der freilich nicht länger währte, als bis ich mich bei einer neuen Gelegenheit abermals des Gedankens nicht erwehren konnte: Jetzt ist's aus. Es ist kein Kraut für ein unheilbares Übel gewachsen. Aber auch alsdann bestand es weit mehr in der Einbildung als in der Wirklichkeit.

Eines Tages, als ich eben auch vergebens herumgelaufen, um etliche Gulden zu borgen, und einer meiner Gläubiger mir mit entsetzlicher Roheit begegnet war, ging ich voll trübsinniger Phantasien zu Bett und wälzte mich bis Mitternacht schlaflos auf meinem Kissen hin und her.

Brief an Lavater

Da kam mir mit einemmale der menschenfreundliche Lavater in den Sinn, und ich entschloß mich augenblicklich, ihm zu schreiben. Ich stund auf und entwarf einen Brief an ihn, den ich gleich des anderen Morgens an seine Behörde abzusenden gedachte. Je öfter ich ihn aber, als die Zeit dazu gekommen war, überlas und überdachte, desto weniger wollte er mir in dem Bewußtsein dessen gefallen, wie sehr der teure Menschenfreund von Kollektanten, Bettlern und Bettelbriefen bestürmt werde. Um auch den bloßen Schein zu vermeiden, als beabsichtige ich die Zahl der Unverschämten zu vermehren, unterdrückte ich mein Geschreibsel wieder und[S. 201] nahm von dieser Stund' an meine Zuflucht ganz allein zu Gott. Ich hatte zwar in der Folge noch öftere Anfälle meines eingewurzelten Kummerfiebers, wandte nun aber alle meine Leibes- und Seelenkräfte an, meine kleinen Geschäfte zu vermehren, und sah allenthalben selbst zu meinen Sachen.

Gegen meine Bekannten stellte ich mich weit weniger mutlos als ich war, und tat immer munter und guter Dinge. Meinen Gläubigern gab ich die besten Worte, indem ich die älteren bezahlte und wieder bei anderen borgte. In der benachbarten Gemeinde Ganterschwil sah ich mich nach neuen Spinnern, soviel ich deren aufzutreiben wußte, um.

Bessere Zeiten

Das Jahr 1778 gab mir ganz besondern Mut und Zuversicht; mein Händelchen ging damals vortrefflich vonstatten, und bald konnt' ich glauben, daß ich mit Zeit und Weile mich vollkommen erholen und meiner Schuldenlast entledigen würde. Aber die Angst will ich mein Tage nicht vergessen, die mich auch jetzt noch quälte, wenn ich den Geschäften nach traurig meine Straße ging und mich dem Kontor eines überlegenen Handelsmanns oder der Tür eines harten Gläubigers nahte. Wie es mir da zumute war! wie ich meine Hände gen Himmel rang: »Herr! du weißt alle Dinge! Alle Herzen sind in deiner Hand; du leitest sie wie Wasserbäche, wohin du willst! Ach! gebiete auch diesem Laban, daß er nicht anders mit Jakob rede als freundlich!« Und der Allgütige erhörte meine Bitte; ich bekam[S. 202] mildere Antwort, als ich's hätte erwarten dürfen. Oh, wie köstlich ist's, auf den Herrn hoffen und ihm alle sein Anliegen mit Vertrauen klagen. Dies hab' ich so manchmal und so deutlich erfahren, daß mir die felsenfeste Überzeugung davon nichts in der Welt mehr rauben kann.

[S. 204]

Zu Anfang des Jahres 1779 ward mir ohne mein Bewerben und Bemühen der Antrag gemacht, einem auswärtigen Fabrikanten von Glarus, Johannes Zwicki, Baumwollentücher weben zu lassen. Anfangs lehnt' ich den Antrag aus dem Grunde ab, weil vor mir ein gewisser Grob bei der nämlichen Kommission Bankerott gemacht. Da man mich aber versichert, daß die Ursache seines Unfalls eine ganz andre gewesen, ließ ich mich endlich bereden, und traf den Akkord vollkommen auf den Fuß wie jener. Sofort hob ich diesen Verkehr an. Man lieferte mir das Garn, und zwar zuerst sehr schlechtes; aber nach und nach ging's besser. Auch hatt' ich anfangs viel Mühe genug, Spuler und Weber zu kriegen. Doch merkt' ich bald, daß zwar mit diesem Geschäft viel Verdruß und Arbeit verbunden, aber auch etwas zu gewinnen sei. Im Jahre 1780 erweitert' ich meine Anstalt um ein merkliches, fing auch an, für eigne Rechnung Tücher zu machen, und befand mich gut dabei. Mein Kredit wuchs wieder von Tag zu Tag, und meine Gläubiger merkten bald, daß die Sachen eine andere Wendung genommen. Ich hüpfte daher nicht selten in meiner Warenkammer vor Freuden hoch auf und betrachtete meine Errettung als ein Beinahe-Wunder. Und doch ging in der Welt von jeher und geht noch alles seinen natürlichen Lauf! Glück und Unglück richteten sich immer, teils nach meinem Verhalten, das in meiner Macht stund, teils nach den Zeitumständen, die ich nicht ändern konnte. Auch die folgenden Jahre bis 1785 förderten meinen Wohlstand je mehr und mehr und änderten in meinem Innern nichts, als daß mir meine Geschäfte mehr zu denken gaben und meinen Hang zum Schreiben um ein gut Teil minderten. Hätte ich schon damals alle meine Waren und ausstehende Schulden zu Geld gemacht, so würde ich haben meine Gläubiger vollkommen befriedigen können und mein Haus und Garten mit all meiner Habe mir frei und ledig zu eigen verblieben sein. Es hat zwar seitdem den Anschein gewonnen, als ob der Baumwollentücherverkehr in unserem Lande nimmer wieder zu seinem vorigen Flor gelangen könne. Indessen ergeht es mir fortwährend leidlich genug, und würde ich, wenn ich mich zu einer ängstlichen Sparsamkeit bekehren wollen, heutigen Tages gewiß ein sogenannter bemittelter Mann sein.


Schluß

Stilling und Rousseau
Meine Geständnisse
Liebesgeschichte
Käthchen

Als ich dies Büchel zu schreiben anfing, dacht' ich Wunder, welch' eine herrliche Geschicht' voll der seltsamsten Abenteuer es absetzen würde. Ich Tor! Und doch — bei besserm Nachdenken — was soll ich mich selbst tadeln? Wäre das nicht Narrheit auf Narrheit gehäuft? Mir ist's, als wenn mir jemand die Hand zurückzöge. Das Selbsttadeln muß also etwas Unnatürliches, das Entschuldigen und sich selbst alles zum Besten deuten etwas ganz Natürliches sein. Ich will mich also herzlich gern entschuldigen, daß ich anfangs so verliebt in meine Geschichte war, wie es jeder Fürst und — jeder Bettelmann in die seinige ist. Oder, wer hörte nicht schon manches alte, eisgraue Bäurlein von seinen Schicksalen, Jugendstreichen und so fort ganze Stunden lang mit selbstzufriedenem Lächeln so geläufig und beredt daherschwatzen, wie ein Procurator, und wenn er sonst der größte Stockfisch war. Freilich kömmt's denn meist ein bißel langweilig für andre heraus. Aber was jeder tut, muß auch jeder leiden. Freilich hätt' ich, wie gesagt, mein Geschreibe ganz anders gewünscht; und kaum war ich damit zur Hälfte fertig, sah' ich das kuderwelsche Ding schon schief an; alles schien mir unschicklich, am unrechten Orte zu stehn, ohne daß ich mir denn doch getraut hätte, zu bestimmen, wie es eigentlich sein sollte; sonst hätt' ich's flugs auf diesen Fuß, z. B. nach dem Modell eines Heinrich Stillings, umgegossen.[S. 205] »Aber, Himmel! welch ein Contrast! Stilling und ich!« dacht' ich. »Nein, daran ist nicht zu gedenken. Ich dürfte nicht in Stillings Schatten stehn.« Freilich hätt' ich mich oft gerne so gut und fromm schildern mögen, wie dieser edle Mann es war. Aber konnt' ich es, ohne zu lügen? Und das wollt' ich nicht, und hätte mir auch wenig geholfen. Nein! Das kann ich vor Gott bezeugen, daß ich die pur lautere Wahrheit schrieb; entweder Sachen, die ich selbst gesehen und erfahren, oder von andern glaubwürdigen Menschen als Wahrheit erzählen gehört. Freilich Geständnisse, wie Rousseau's seine, enthält meine Geschichte auch nicht, und sollte auch keine solchen enthalten.

Um indessen doch einigermaßen ein solches Geständnis abzulegen, und dem Leser einen Blick wenigstens auf die Oberfläche meines Herzens zu öffnen, so will ich sagen: Daß ich ein Mensch bin, der alle seine Tage mit heftigen Leidenschaften zu kämpfen hatte. In meinen Jugendjahren erwachten nur allzufrüh gewisse Naturtriebe in mir; etliche Geißbuben und ein paar alte Narren von Nachbarn sagten mir Dinge vor, die einen unauslöschlichen Eindruck auf mein Gemüt machten, und es mit tausend romantischen Bildern und Fantaseyen erfüllten, denen ich, trotz alles Kämpfens und Widerstrebens, oft bis zum unsinnig werden nachhängen mußte, und dabei wahre Höllenangst ausstund. Denn um die nämliche Zeit hatte ich von meinem Vater, und aus ein paar seiner Lieblingsbücher allerlei, nach[S. 206] meinen jetzigen Begriffen übertriebene Vorstellungen von dem, was eigentlich fromm und reinen Herzens sei, eingesogen. Da wurde mir nur das allerstrengste Gesetz eingepredigt; da schwebten mir immer unübersteigliche Berge, und die schwersten Stellen aus dem Neuen Testament von Händ' und Füß' abhauen, Augausreißen und so ferner vor. Mein Herz war von jeher äußerst empfindlich; ich erstaunte daher sehr oft, wenn ich weit bessere Menschen als ich, bei diesem oder jenem Zufall, bei Erzählung irgendeines Unglücks, bei Anhörung einer rührenden Predigt und dergleichen, wie ich wähnte, ganz frostig bleiben sah. Man denke sich also meine damalige Lage in einem rohen einsamen Schneegebürg': Ohne Gesellschaft, außer jenen schmutzigen Buben und unflätigen Alten auf der einen — auf der andern Seite jenen schwärmerischen Unterricht, den mein junger feuerfangender Busen so begierig aufnahm; dann mein von Natur tobendes Temperament und eine Einbildungskraft, welche mir nicht nur den ganzen Tag über keine Minute Ruhe ließ, sondern mich auch des Nachts verfolgte, und mir oft Träume bildete, daß mir noch beim Erwachen der Schweiß über alle Finger lief. Damals war es (wie man schon zum Teil aus meiner obigen Geschichte wird ersehen haben) meine größte Lust, an einem schönen Morgen oder stillen Abend, während dem Hüten meiner Geißen, mich auf irgend einem hohen Berge in einen Dornbusch zu setzen — dann jenes Büchelchen hervorzulangen, das ich viele Zeit überall[S. 207] und immer bei mir trug, und daraus mich über meine Pflichten gegen Gott, gegen meine Eltern, gegen alle Menschen und gegen mich selbst, so lang zu erbauen, bis ich in eine Art wilder Empfindung geriet, und (ich entsinne mich noch vollkommen) allemal mit einer Ermahnung an Kinder endete, deren Anfang lautete: »Kommt Kinder! Wir wollen uns vor dem Thron des himmlischen Vaters niederwerfen.« Dann richtete ich meine Augen starr in die Höhe, und häufige Tränen flossen die Wangen herab. — Dann hing ich wieder für etwas Zeit Grillen von ganz andrer Natur, und auch diesen bis zur Wut nach; baute mir ein, zwei, drei Dutzend spanischer Schlösser auf, riß alle Abend die alten nieder, und schuf ein paar neue. — So dauerte es bis ungefähr in mein achtzehntes Jahr, da mein Vater seinen Wohnort veränderte, und ich sozusagen in eine ganz neue Welt trat, wo ich mehr Gesellschaft, Zeitvertreib, und minder Anlaß zum Phantasieren hatte. Hier fingen dann auch, besonders eine Art der Kinder meiner Einbildungskraft — und zwar leider eben die schönste von allen — an, sich in Wirklichkeit umzuschaffen, und kamen mir eben nahe an Leib. Aber zu meinem Glücke hielt mich meine angeborene Schüchternheit, Schamhaftigkeit, oder wie man das Ding nennen will, noch Jahre lang zurück, eh' ich nur ein einziges dieser Geschöpfe mit einem Finger berührte. Da fing endlich jene Liebesgeschichte mit Aennchen an, die ich oben, wie ich denke, nur mit allzusüßer Rückerinnerung,[S. 208] beschrieben habe. Noch lebt diese Person, so gesund und munter wie ich; und mir steigt eine kleine Freude ins Herz, so oft ich sie sehe, obgleich ich mit Wahrheit bezeugen kann, daß sie alle eigentlichen Reize für mich verloren hat. Hie und da geriet ich auch an andre Mädchen; aber da stund mir keine an wie mein Aennchen. Nur eines gewissen Käthchens und Mariechens erinnr' ich mich noch mit Vergnügen, obschon unsere Bekanntschaft nur eine kleine Zeit währte. Wenn ein Weibsbild, sonst noch so hübsch, dastund oder saß wie ein Stück Fleisch, mir auf halbem Weg entgegen kam, oder mich gar noch an Frechheit übertreffen wollte, so hatte sie's schon bei mir verdorben; und wenn ich dann auch etwa in der Vertraulichkeit mit ihr ein bißchen zu weit ging, war's gewiß das erste und letzte Mal. Nie hab' ich mir auf meine Bildung und Gesicht viel zu gut getan, obschon ich bei den artigen Närrchen sehr wohl gelitten war, und einige aus ihnen gar die Schwachheit hatten, mir zu sagen, ich sei einer der hübschesten Buben. Wenn gleich meine Kleidung nur aus drei Stücken bestund, einer Lederkappe, einem schmutzigen Hemd, und ein Paar Zwilchhosen, so schämte sich doch auch das niedlichst geputzte Mädchen nicht, ganze Stunden mit mir zu schäkern. Insgeheim war ich denn freilich stolz auf solche Eroberungen, ohne recht zu wissen warum? Andremal nagte mir, wie gesagt, wirklich die Liebe ein Weilchen am Herzen: Dann sucht' ich mich des lästigen Gastes durch Zerstreuungen zu entledigen;[S. 209] jauchzte, pfiff, und trillerte einen Gassenhauer, deren ich in kurzer Zeit viele von meinen Kameraden gelernt hatte; oder brütete an abgelegenen Orten wieder etliche Fantaseyen aus, und träumte von lauter Glück und guten Tagen, ohne daß ich mir einfallen ließ, mich auch zu fragen: Wann und woher sie auch kommen sollten, was ich mir auch sicher nicht hätte beantworten können. Denn die Wahrheit zu gestehn, ich war ein Erzlappe und Stockfisch, und besaß zumal keine Unze Klugheit oder gründliches Wissen, wenn ich schon über alles ganz artlich zu reden wußte. Daß ich bei jedermann, und bei jenen schönen Dingern insonderheit wohl gelitten war, kam einzig daher, weil ich so ziemlich gut an jedem Ort augenblicklich den für dasselbe schicklichsten Ton zu treffen wußte, und mir, wie meine Nymphen behaupteten, alles zierlich nett anstund. — Und nun abermals ein neuer Akt meines Lebens. Als mich nämlich bald hernach das Verhängnis in Kriegsdienste führte, und vorzüglich in den sechs Monaten, da ich noch auf der Werbung herumstreifte, ja da geht's über alle Beschreibung, wie ich mich nun fast gänzlich im Getümmel der Welt verlor. Zwar unterließ ich auch während meiner wildesten Schwärmereien nie, Gott täglich mein Morgen- und Abendopfer zu bringen, und meinen Geschwisterten gute Lehren nach Haus zu schreiben. Aber damit war's dann auch getan; und ob der Himmel daran große Freude hatte, muß ich zweifeln. Doch, wer weiß! Selbst diese flüchtige Andacht unterhielt[S. 210] vielleicht manche gute Gesinnung in mir, die sonst auch noch zu Trümmern gegangen wäre, und behütete mich vor groben Ausschweifungen, deren ich mir, Gott Lob! keiner einzigen bewußt bin. So z. B. wenn ich schon mit hübschen Mädchens für mein Leben gern umgehen mochte, hätt' ich's doch auf allen meinen Reisen und Kriegszügen nie über's Herz gebracht, nur ein einziges zu übertölpeln, wenn ich auch dazu noch so viel Reizung gehabt. Wahrlich, mein Gewissen war so zart über diesen Punkt, daß ich mir vielmehr oft nachwärts ruchlose Vorwürfe über meine eigne Feigheit gemacht und den und diesen guten Anlaß wieder zurückgewünscht. Aber wenn sich denn wirklich die Gelegenheit von neuem ereignete, und alles bis zum Genusse fix und fertig war, so fuhr ein zitternder Schauer mir durch Mark und Beine, daß ich zurückbebte, meinen Gegenstand mit guten Worten abfertigte oder leise davon schlich. Auf dem ganzen Transport bis nach Berlin bin ich, bis auf ein einziges Nestchen, vollends ganz rein davon gekommen. In dieser großen Stadt hätt' ich an gemeinen Weibsleuten keinen Schuh' gewischt. Hingegen will ich's nicht verbergen, daß meine zügellose Einbildungskraft ein paarmal über glänzende Damen und Mamselles brütete. Aber es stellten sich immer noch zu rechter Zeit genugsame Hindernisse in den Weg; die Anfechtungen verschwanden, und besserer Sinn und Denken erwachten wieder. Während meiner Campagne und auf der Heimreise hab' ich abermals keinen weiblichen[S. 211] Finger berührt. Was meine Desertion betrifft, so machte mir mein Gewissen darüber nie die mindesten Vorwürfe. Gezwungener Eid ist Gott leid! dacht' ich; und die Ceremonie, die ich da mitmachte, wähnt' ich wenigstens, könne kaum ein Schwören heißen. — Nach meiner Rückkehr ins Vaterland ergriff ich wieder meine vorige Lebensart. Auch Buhlschaften spannen sich bald von neuem an. Meine herzliebe Anne war freilich verplempert; aber es fanden sich in kurzem andere Mädels, mehr als eines, denen ich zu behagen schien. Mein Aeußeres hatte sich ziemlich verschönert. Ich ging nicht mehr so läppisch daher, sondern hübsch gerade. Die Uniform, die mein ganzes Vermögen war, und eine schöne Frisur, die ich recht gut zu machen wußte, gaben meiner Bildung ein Ansehn, daß dürftige Dirnen wenigstens die Augen aufsperrten. Bemittelte Jungfern dann — ja, o bewahre! — die warfen freilich auf einen armen ausgerissnen Soldat keinen Blick. Die Mütter würden ihnen fein ausgemistet haben. Und doch wenn ich's nur ein wenig pfiffiger und politischer angefangen, hätt' es mir mit einer ziemlich reichen Rosina geglückt, wie ich nachwärts zu spät erfuhr. Inzwischen erhob selbst dieser mißlungene Versuch meinen Mut und meine Einbildung nicht um ein geringes — und der geschossene Bock wäre mir nicht um tausend Gulden feil gewesen. Ich sah darum von erwähnter Zeit an alle meine bisherigen Liebschaften so ziemlich über die Achsel an, und warf den Bengel höher auf. Aber meine[S. 212] sorglose lüderliche Lebensart verderbte immer alles wieder. Mit Kindern meines Standes war mein Umgang freilich, Gott verzeih' mir's! oft nur allzufrei; in Absicht auf solche hingegen, die über mir standen, verließ mich meine Feigheit nie; und das war mir am meisten hinderlich. Denn wer weiß nicht, wie oft der dümmste Labetsch[56] bloß mit einem beherzten angriffigen Wesen zuerst sein Glück macht. Aber mir so viele Mühe geben, kriechen, bitten, seufzen und verzweifeln, konnt' ich eben nicht. — Eines Tages ging ich nach Herisau an eine Landsgemeinde. Meine gute Mutter steckte mir all' ihr kleines Spargeldlin von etwa 6 Gulden bei. Einer meiner Bekannten im Appenzeller Land trachtete mir zu Trogen, in einer großen Gesellschaft, eine gewisse Ursel aufzusalzen, die mir aber durchaus nicht behagen wollte. Ich suchte also, sie je eher je lieber wieder los zu werden. Es glückte mir auf dem Rückweg nach Herisau, wo sie sich, oder vielmehr ich mich, unter dem großen Haufen verlor. Es war eine große Menge jungen Volkes. Bei einbrechender Abenddämmerung näherte man sich einander, und formierte Paar und Paar, als ich mit eins ein wunderschönes Mädel, sauber wie Milch und Blut, erblickte, das mit zwei andern solchen Dingern davon schlenterte. Ich streckt' ihm die Hand entgegen, es ergriff sie mit den beiden seinigen, und wir marschierten bald Arm an Arm in dulci jubilo unter Singen[S. 213] und Schäkern unsre Straße. Als wir zu Herisau ankamen, wollt' ich sie nach Haus begleiten. »Das bei Leib nicht!« sagte sie, »ich dürft's um alles in der Welt nicht. Nach dem Nachtessen vielleicht, kann ich denn eher noch ein Weilchen zum Schwanen kommen.« Mit einem solchen Ersatz war ich natürlich sehr zufrieden. Damals wußt' ich noch nicht, wer mein Schätzgen war, und erfuhr erst jetzt im Wirtshaus, daß sie ein Töchterchen aus einem guten Kaufmannshaus, und ungefähr sechszehn Jahr alt sei. Ungefähr nach einer Stunde kam das liebe Geschöpf — Käthchen hieß es — mit einem artigen jungen Kind auf dem Arm, das sein Schwesterchen war, denn anders hätt' es nicht entrinnen können, als eben auch die verwünschte Ursel in die Stube trat, mich gleichfalls aufsuchen wollte, bald aber Unrat merkte, mir bittere Vorwürfe machte, und davon ging. Alsdann gab uns der Wirt ein eigen Zimmer; Käthchen hinein, und ich nach, geschwind wie der Wind. Ich hatte ein artiges Essen bestellt. Nun waren ich und das herrliche Mädchen allein, allein. O was dieses einzige Wort in sich faßt! Tage hätt' es währen sollen, und nicht zwei oder drei wie Augenblicke verflossene Stunden. Und doch — die Wände unsers Stübchens — das Kind auf Käthchens Schoß — die Sternen am Himmel sollen Zeugen sein unsrer süßen, zärtlichen, aber schuldlosen Vertraulichkeit. Ich blieb noch die halbe Woche dort. Mein Engel kam alle Tage mit ihrem Schwesterchen vier bis fünfmal zu mir. Endlich[S. 214] aber ging mir die Barschaft aus, ich mußte mich losreißen. Käthchen gab mir, immer mit dem Kind auf dem Arm, trotz aller Furcht vor seinen Eltern, das Geleit noch weit vor den Flecken hinaus. Wie der Abschied war, läßt sich denken. Tränen vom Liebchen trug ich auf meinen Wangen genug nach Haus. Wir winkten einander mit Schürze und Schnupftüchern unser Lebewohl mehr als hundertmal, und so weit wir uns sehen konnten. O man verzeihe mir meine Torheit! Gehören doch diese Tage zu den allerglücklichsten, und ihre Freuden zu den allerunschuldigsten meines Lebens. Denn mein guter Engel hatte mir gegen dies holde Mädchen ordentlich eben so viel Ehrfurcht als Liebe eingeflößt; so daß ich sie, wie ein Vater sein Kind, umarmte, und sie mich hinwieder, wie eine Tochter ihren Erzeuger, sanft an ihren reinen Busen drückte, und mein Gesicht mit ihren Küssen bedeckte. — Jetzt war ich dem Leibe nach wieder bei Haus, aber im Geiste immer mit diesem herzigen Schätzgen beschäftigt, dem weiland Ännchen sogar weit nachstand. Indessen kam mir nur kein Gedanke daran, daß ich jemals zu ihrem Besitz gelangen könnte; vielmehr sucht' ich mir alles Vorgegangene vollkommen aus dem Sinn zu schlagen, und es gelang mir. Denn dies war von jeher meine Art: Was einen schnellen Eindruck auf mich machte, war auch bald wieder vergessen, und von neuen Gegenständen verdrängt. Allein, wer hätte daran gedacht? An einem schönen Abend brachte mir der Herisauer[S. 215] Bote ein Briefchen von meinem Käthchen, worin sie in zärtlich verliebten und dabei recht kindisch naiven Ausdrücken mir sagte, wie's ihr sei seit unserm Abschied; wie sie mich gern wieder sehen, noch einmal mit mir reden möchte, und wenn das nicht möglich wäre, mich wenigstens zu einem schriftlichen Verkehr auffordere. Ich küßte das Papier, las es wohl hundertmal, und trug's immer in der Tasche, bis es ganz verschmutzt und zerfetzt war. Also — ich flog eilends nach Herisau? Nein! Ich antwortete auf der Stelle? Nein! auch das nicht; kein Wort. Kurz ich ging nicht und schrieb nicht. Warum? Daß ich gerade damals kein Geld hatte, dessen erinnere ich mich; daß sonst noch etwas dazwischen kam, weiß ich auch; die eigentliche Ursach' aber ist mir aus dem Gedächtnis entfallen. Genug, ich vergaß meinen Herisauer Schatz, worüber ich mir nachwärts manchen bittern Vorwurf gemacht. Endlich, erst nach zwanzig Jahren, dacht' ich wieder einmal dieser Begebenheit so lange und so ernsthaft nach, und die Begierde, zu erfahren, ob das liebe Kind noch lebe, und was aus ihr geworden sei, ward so stark in mir, daß ich eigens deswegen auf Herisau ging (ungeachtet ich in der Zwischenzeit manchmal mich tagelang dort aufhielt, ohne daß mir nur ein Sinn an sie kam) nach ihrer Wohnung fragte, und bald erfuhr, daß sie schon Mutter von zehn Kindern, und auf einem Wirtshaus sei. Ich flog dahin. Der Mann war eben nicht zu Hause. Ich sprach sie um Nachtherberg an, setzte mich[S. 216] zu Tisch' und beguckte mein — nun nicht mehr mein Käthchen. Himmel! wie das arme Ding ganz verlottert war. Und doch erkannt' ich ihre ehevorigen jugendlichen Gesichtszüge mitunter noch deutlich. Ich konnte mich der Tränen kaum erwehren. Sie war unglücklicher Weise an einen brutalen und dabei lüderlichen Mann geraten, der nachwärts wirklich bankerott machte. Schon damals war sie in sehr ärmlichen Umständen. Sie kannte mich nicht mehr. Ich fragte sie alles aus, nach ihrer Herkunft, wer ihr Mann sei, und so fort. Und endlich auch: Ob sie sich nicht mehr eines gewissen U. B. erinnre, den sie vor zwanzig Jahren etliche Tag' nacheinander beim Schwanen angetroffen. Hier sah sie mir starr ins Gesicht, fiel mir an die Hand: »Ja! Er ist's, er ist's!« und große Tropfen rollten über ihre blassen Wangen herab. Nun ließ sie alles stehn, setzte sich zu mir hin, erzählte mir der Länge und Breite nach ihre Schicksale, und ich ihr die meinigen, bis spät in die Nacht hinein. Beim Schlafengehen konnten wir uns nicht erwehren, jene seligen Stunden durch ein paar Küsse zu erneuern; aber weiter stieg mir auch nur kein arger Gedanke auf. Im Verfolg kehrte ich noch manchmal bei ihr ein. Sie starb etwa vier Jahre nach unserm ersten Wiedersehen, und es tut mir so wohl, noch eine Träne auf ihr Grab zu weinen, wo sie jetzt mit so viel andern guten Seelen im Frieden wohnt.

Wirklichkeit und Idealwelt

Daß ich in meiner obigen Geschichte über die allerernsthaftesten Scenen meines Lebens, wie ich an meine[S. 217] Dulcinea kam — ein eigen Haus baute — einen Gewerb anfing, und so fort so kurz hinweggeschlüpft, kömmt wahrscheinlich daher, daß diese Epoche meines Daseins mir unendlich weniger Vergnügen als meine jünger Jahre gewährte, und darum auch weit früher aus meinem Gedächtnis entwichen ist. So viel weiß ich noch gar wohl: Daß, als ich auch im Ehestand mich betrogen sah, und statt des Glücks, das ich darin zu finden mir eingebildet hatte, nur auf einen Haufen ganz neuer unerwarteter Widerwärtigkeiten stieß, ich mich wieder aufs Grillenfangen legte, und meine Berufsgeschäfte nur so maschinenmäßig lässig und oft ganz verkehrt verrichtete, und mein Geist, wie in einer andern Welt, immer in Lüften schwebte, sich bald die Herrschaft über goldene Berge, bald eine Robinsonsche Insel, oder irgend ein andres Schlaraffenland erträumte. Da ich hier um die nämliche[S. 218] Zeit anfing, mich aufs Lesen zu legen, und ich zuerst auf lauter mystisches Zeug, dann auf die Geschichte, dann auf die Philosophie, und endlich gar auf die verwünschten Romane fiel, schickte sich zwar alles dies vortrefflich in meine idealische Welt, machte mir aber den Kopf nur noch verwirrter. Jeden Helden und Abenteurer alter und neuer Zeit macht' ich mir eigen, lebte vollkommen in ihrer Lage, und bildete mir Umstände dazu und davon, wie es mir beliebte. Die Romane hinwieder machten mich ganz unzufrieden mit meinem eigenen Schicksal und den Geschäften meines Berufes, und weckten mich aus meinen Träumen, aber eben nur zu größerm Verdruß auf. Bisweilen, wenn ich denn so mürrisch war, sucht' ich mich durch irgend eine lustige Lektur wieder zu ermuntern. Alsdann je lustiger, je lieber; so daß ich darüber bald zum Freigeist geworden, und dergestalt immer von einem Extrem ins andre fiel. In dieser Absicht bedaur' ich die Gefährtin meines Lebens von Herzen. Denn so wenig Geschmack ich an ihr fand, so hatte sie doch noch viel mehr Ursache, keinen an mir zu finden. Dennoch war ihre Neigung zu mir stark, obgleich nichts weniger als zärtlich. Ein Betragen ganz nach ihrem Geschmack, meine Unterwürfigkeit und Liebe zu ihr, das alles wollte sie von dem ersten Tag' an erpochen und erpoltern — und macht's heute mit mir und meinem Jungen noch ebenso und wird es so wenig lassen, als ein Mohr seine Haut ändern kann. Und doch ist dies, wie ich's nun aus Erfahrung weiß, gewiß das ganz unrechte Mittel, einen an das Joch zu gewöhnen. Inzwischen flossen meine Tage so halb vergnügt, halb mißvergnügt dahin. Ich suchte mein Glück in der Ferne und in der Welt, mittlerweile es lange ganz nahe bei mir vergebens auf mich wartete. Und noch jetzt, da ich doch überzeugt bin, daß es nirgends als in meinem eigenen Busen wohnt, vergeß ich nur allzuoft, in mich selbst zurückzukehren, flattre in einer idealischen Welt herum, oder wähle in dieser gegenwärtigen falsche, Ekel und Unlust erweckende Scheingüter außer mir.

Glücksumstände und Wohnort
Die ganze Welt ist unser
Glücksempfindung

Meine Lebensgeschichte so weit geschrieben, bleibt mir nur noch weniges von mir zu sagen übrig. Ein Häuschen und ein Gärtchen ist mein ganzes Vermögen. Eine Frau und vier Kinder, also sechs Mäuler und ein Dutzend Hände machen meinen Haushalt aus. Aber das gesunde Speisen der erstern, Kleider und anders mit eingezählt, zehrt das Produkt einer noch so muntern Arbeit der letztern beinahe auf. Meinen Baumwollengewerb hab' ich schon beschrieben. Dieser ist wie ein Vogel auf dem Zweig, und wie das Wetter im April. Wer sein ganzes Studium darauf wendet, und zumal die rechte[S. 219] Zeit abzupassen weiß, kann noch sein Glück damit machen. Aber dies Talent in gehörigem Maße hatt' ich nie, war immer ein Stümper, und werd' es ewig bleiben. Und doch hab' ich diese Art Handel und Wandel gleichsam von Jahr zu Jahr lieber gewonnen. Warum? Ich denke, natürlich, weil derselbe das Mittel war, durch welches mich die gütige Vorsehung, ohne mein sonderliches Zutun, aus meiner drückenden Lage wenigstens in eine sehr leidliche emporhob. Freilich wär' ich, ohne die Rolle eines Handelsmanns zu spielen, vielleicht auch niemals so tief in jene hineingeraten. Doch, wer weiß? Es wäre wohl gleich viel gewesen, mit welchem Berufe ich mich lässig, unvorsichtig und ungeschickt beschäftigt hätte. Und heißt's, denk' ich, auch hier: Der Hund, der ihn biß, leckt' ihn wieder, bis er heil war.

Haus und Garten

Mein Vaterland ist zwar kein Schlaraffenland, kein[S. 220] glückliches Arabien und kein reizendes Pays de Vaud. Es ist das Tockenburg, dessen Einwohner von jeher als unruhige und ungeschliffene Leute verschrien waren, aber allerorten, soweit ich gekommen bin, hab ich ebenso grobe, wo nicht viel gröbere — ebenso dumme, wo nicht viel dümmere Leut' angetroffen. — Unser Tockenburg ist ein anmutiges, zwölf Stunden langes Tal, mit vielen Nebentälchen und fruchtbaren Bergen umschlossen. Das Haupttal zieht sich in einer Krümmung von Südost nach Nordost hinab. Gerade in der Mitte desselben, auf einer Anhöhe, steht mein Edelsitz, am Fuß eines Berges, von dessen Spitze man eine treffliche Aussicht beinahe über das ganze Land genießt, die mir schon so manchmal das entzückendste Vergnügen gewährte, bald in das mit Dörfern reich besetzte Tal hinab, bald auf die mit den fettesten Weiden, Wiesen und Gehölzen bekleideten und abermals mit zahllosen Häusern übersäten Anhöhen zu beiden Seiten, über welche sich noch die Gipfel der Alpen hoch in die Wolken erheben, dann wieder hinunter auf die durch viele Krümmungen sich mitten durch unser Haupttal schlängelnde Thur, deren Dämme und mit Erlen und Weiden bepflanzten Ufer die angenehmsten Spaziergänge bilden. Mein hölzernes Häuschen liegt gerade da, wo das Gelände am allerlieblichsten ist, und besteht aus einer Stube, drei Kammern, Küche und Keller — Potz Tausend! die Nebenstube hätt' ich bald vergessen — einem Geißställchen, Holzschopf, und dann rings ums Häuschen[S. 221] ein Gärtchen, mit etlichen kleinen Bäumen besetzt, und mit einem Dornhag tapfer umzäunt. Aus meinem Fenster hör' ich von drei bis vier Orten her läuten und schlagen. Kaum etliche Schritte vor meiner Türe liegt ein meinem Nachbar zudienender artiger beschatteter Rasenplatz. Von da seh' ich senkrecht in die Thur hinab, auf die Bleichen hinüber, auf das schöne Dorf Wattwil, auf das Städtchen Lichtensteig und hinwieder durchs Tal hinauf. Hinter meinem Haus rinnt ein Bach herab, der Thur zu, der aus einem romantischen Tobel kömmt, wo er über Steinschrofen[57] daherrauscht. Sein jenseitiges Ufer ist ein sonnenreiches Wäldchen, mit einer hohen Felswand begrenzt. In dieser nisten alle Jahr' etliche Sperber und Habichte in einer unzugänglichen Höhle. Diese, und dann noch ein gewisser Berg, der mir um die Tag- und Nachtgleiche die liebe Sonne des Morgens eine Stunde zu lang aufhält, sind mir unter allem, was zu dieser meiner Lage gehört, allein widerlich. Beide würd' ich gern verkaufen oder gar verschenken. Die vertrackten Sperber zumal plagen nicht nur von Mitte April bis spät in den Herbst mit ihrem Zetergeschrei meine Ohren, sondern, was noch weit ärger ist, verjagen mir die lieben Singvögelchen, daß bald kein einziges mehr in der Gegend sich einzunisten wagt. Meine Nachbarn sind recht gute ehrliche Leute, die ich aufrichtig schätze und liebe. Freilich läuft[S. 222] bisweilen auch ein andrer mit unter, wie überall. Innige Freunde, mit denen man Gedanken wechseln und Herzen tauschen kann, hab' ich in der Nähe keine. Dies ersetzen mir meine platonischen Geliebten in meinem Stübchen. Im Frühling liegt mir der Schnee auch ein bißchen zu lang in meinem Gärtchen. Aber ich fange einen Krieg mit ihm an, zerfetze ihn zu kleinen Stücken, und werfe ihm Asche und Kot auf die Nase; dann verkriecht er sich in die Erde, so daß ich noch mit den Frühesten gärtnen kann. Und überhaupt macht mir dies kleine Grundstück viel Vergnügen. Zwar ist die Erde ziemlich grob und ungeschlacht, obgleich ich sie schon an die fünfundzwanzig Jahr bearbeitet habe, demungeachtet gibt das Ding Kraut, Kohl, Erbsen, und was ich immer auf meinen Tisch brauche, zur Genüge; mitunter auch Blumenwerk und Rosen die Fülle. Kurz, es freut mich so wohl, als manchen Fürsten all' seine babylonischen Gärten. — Sag' also, Bub! ist unser Wohnort nicht so angenehm, als je einer in der Welt? Einsam, und doch nahe bei den Leuten; mitten im Tal, und doch ein wenig erhöht. Oder geh' mir einmal im Maimond auf jenen Rasenhügel vor unserer Hütte. Schau durchs buntgeschmückte Tal hinauf; sieh', wie die Thur sich mitten durch die schönsten Auen schlängelt; wie sie ihre noch trüben Schneewasser gerade unter deinen Füßen fortwälzt. Sieh', wie an ihren beiden Ufern unzählige Kühe mit geschwollenen Eutern im Gras waten. Höre das Jubelgetön von den großen und[S. 223] kleinen Buschsängern. Ein Weg geht zwar an unsern Fenstern vorbei; aber der ist noch nichts. Sieh' erst jenseits der Thur jene Landstraße mitten durchs Tal, die nie leer ist. Sieh' jene Reihe Häuser, welche Lichtensteig und Wattwil wie zusammenketten. Da hast du einigermaßen, was man in Städten und auf dem Lande nur haben kann. Ha! sagst du vielleicht, aber diese Matten und Kühe sind nicht unser! Närrchen! freilich sind sie und die ganze Welt ist unser. Oder wer wehrt dir, sie anzusehn, und Lust und Freud' an ihnen zu haben? Butter und Milch bekomm' ich ja von dem Vieh, das darauf weidet, so viel mir gelüstet, also haben ihre Eigentümer nur die Mühe zum Vorteil. Was braucht es, jene Alpen mein zu heißen? Oder jene zierlich prangenden Obstbäume? Bringt man uns ja ihre schönsten Früchte ins Haus! Oder jenen großen Garten? Riechen wir ja seine Blumen von weitem! Und selbst unser eigener kleiner, wächst nicht alles darin, was wir hineinsetzen, pflegen und warten? Also, lieber Junge! wünsch' ich dir, daß du bei allen diesen Gegenständen nur das empfinden möchtest, was ich dabei schon empfunden habe und noch täglich empfinde; daß du mit eben dieser Wonne und Wollust den Höchstgütigen in allem findest und fühlest, wie ich ihn fand und fühlte, so nahe bei mir, rings um mich her, und in mir, wie er dies mein Herz aufschloß, das er so weich und so fühlend schuf. Lieber Knabe! Beschreiben kann ich's nicht. Aber mir war schon oft, ich sei verzückt, wenn ich all' diese Herrlichkeit[S. 224] überschaute, und so, in Gedanken vertieft, den Vollmond über mir, dieser Wiese entlang hin und her ging, oder an einem schönen Sommerabend dort jenen Hügel bestieg, die Sonne sinken, die Schatten steigen sah, mein Häuschen schon in blauer Dämmerung stand, die schwirrenden Weste mich umsäuselten, die Vögel ihr sanftes Abendlied anhuben. Wenn ich dann vollends bedachte: »Und dies alles für dich, armer, schuldiger Mann?« Und eine göttliche Stimme mir zu antworten schien: »Sohn! dir sind deine Sünden vergeben.« Oh! wie da mein Herz in süßer Wehmut zerschmolz, wie ich dem Strom meiner Freudentränen freien Lauf ließ, und alles rings um mich her, Himmel und Erde, hätte umarmen mögen, und noch selige Träume der folgenden Nacht mein gestriges Glück wiederholten.


ENDE


Fußnoten:

[1] Abgemessene Garnmenge.

[2] Vorraum zum Haus.

[3] Hütte für Vieh und Heu.

[4] Bachschlucht.

[5] Rinne, die über einen Abhang fällt, in der man das gefällte Holz hinabgleiten läßt.

[6] Des anderen Tages.

[7] Aus gröberem minderwertigen Flachs- oder Hanfwerg Garn spinnen.

[8] Sävenstrauch (Juniperus Sabina), eine Wacholderart.

[9] Schmalvieh, junges Vieh, Aufzucht.

[10] Nach einem Jahr aus dem Dienst gehen.

[11] Geschenk von Fleisch und Würsten beim Schlachten.

[12] Erlös; Einnahme.

[13] Armselig haushalten.

[14] Stecken für einen Hag; Zaunpfahl.

[15] Lehm.

[16] Bezwingen; meistern.

[17] Bald auf der Sonnen-, bald auf der Schattenseite.

[18] Kleines Handbeil mit langer Schneide.

[19] Nagen.

[20] Äcker von weißen Rüben und Kohl.

[21] Weder aufwärts noch abwärts.

[22] Emporbringen, heben.

[23] Herumstreichen.

[24] Fetzen.

[25] Heer = Pfarrer.

[26] Katechismus.

[27] Haus- und Ackergerät.

[28] Weide für die Sommerszeit.

[29] Taglöhnern; um Taglohn arbeiten.

[30] Meiner Seel!

[31] Zerbrechen, zerreißen.

[32] Branntwein.

[33] Flink.

[34] Zu Besuch.

[35] Die Zeche.

[36]Lustiger Feiertag.

[37] Heidelbeeren.

[38] Weinen.

[39] Schwenkten.

[40] Flüsterten.

[41] Poltern, groß sprechen, Wind machen.

[42] Rotte.

[43] Der Große Kurfürst.

[44] Kohlköpfe; in verächtlicher Bedeutung: Dickköpfe.

[45] Ursprünglich: im Kloster gebrautes Bier; hier: Dünnbier.

[46] Sittsam: Gegenteil von ungeschlacht.

[47] Erhasten.

[48] Ungestüm.

[49] Gemeindeweide.

[50] Herumstreichen.

[51] Selle: der wagerechte Grundbalken des Hauses. (Schwelle.)

[52] Mit dem Klöpel an die Glocke schlagen; übertragen: hinken.

[53] Eigensinnig.

[54] Steif wie ein Stab, starr.

[55] Geflüchtet; in Sicherheit gebracht.

[56] Tropf, Tölpel.

[57] Felsabsatz.