Title: Die Juden von Zirndorf
Roman
Author: Jakob Wassermann
Release date: December 17, 2025 [eBook #77490]
Language: German
Original publication: München: Verlag von Albert Langen, 1897
Credits: Markus Brenner, Jens Sadowski, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from scanned images of public domain material from the Google Books project.
Die Juden von Zirndorf
Von demselben Verfasser:
Melusine. Roman 1896.
Schläfst du Mutter? Novelle 1896.
Roman
von
Jakob Wassermann

Paris, Leipzig, München
Verlag von Albert Langen
1897
Gemächlich schwebt die Zeit hin über die Länder und über die Geschlechter, und wenn sie auch Städte zertritt und Wälder zerstampft und neue Städte und neue Wälder hinwirft mit gleichgültiger Gebärde, so vermag sie doch dem heimatlichen Boden niemals seine Lieblichkeit zu rauben oder seine Rauhheit, kurz jene Gestalt und jenes Antlitz, womit die Heimat ihren Sohn erfüllt, indem sie ihn gleichsam als ihr Eigentum in Anspruch nimmt und ihm auf den Weg seines Lebens nur diese Worte zur Mitgift wählt: aus meinem Thon bist du gemacht.
Die süße und einschmeichelnde Linie des Horizonts, die von den Mauern Nürnbergs über Altenberg nach der Kadolzburg zieht, hat sicherlich im Lauf der Jahrhunderte keinerlei Veränderung erlitten; es sei denn, daß ein gewitterreicher Sommer eine einsame Pappel gefällt, oder daß eine ungestüme Überschwemmung einen stillen Fichtenhain mit fortgerissen hätte. Dort, wo Rednitz und Pegnitz zusammenfließen, haben freilich die letzten zweihundert Jahre den Flor der Wälder vernichtet, aber weiter hinüber, jenseits der alten Feste mit ihren Steinbrüchen und ihren dunklen Tannen, dehnt sich der fränkische Gau seit Urandenken als eine weite, breite, friedliche, fruchtbare Ebene, wo das Korn gedeiht und die Kartoffel gedeiht und der Mohn blüht und die weiße Rübe reift.
Aber in jenem stillen Winkel zwischen den beiden Strömen haben die Kriege des siebzehnten Säkulums dem natürlichen Schmuck des Bodens gar sehr Abbruch gethan. In den dreißiger Jahren befand sich hier das große Lager der Schweden, und der geängstigte Bauer fand seine guten Äcker mit Blut gedüngt. Schnellfüßig hastete der Kriegsschrecken durch Franken und die kurfürstlich Onolzbachischen und die Nürnbergischen sahen sich gleicherweise gedrängt, Mut und Gottvertrauen nicht fahren zu lassen. Lange Jahre gingen hin, bis die zertretenen Felder wieder zu ihrer natürlichen Fruchtbarkeit erwuchsen, und selbst nach dem Friedensschluß lag noch manches Stück Land verödet. Überall zeigten sich Spuren frecher Feindeshände. Unweit der Kapelle Karls des Großen, die am Schießanger in Fürth steht, ragt ein mächtiger Steinhaufen in die Höhe, und man sagt, die Schweden hätten ihn aufgerichtet als ein Wahrzeichen ihrer Siege. Nämlich jeder Stein bedeutet ein geplündertes Haus. Langsam entfaltete sich der Frieden wieder; gleichsam schüchtern wuchs er heran und sah mit ungläubigen Augen ins ebene Land der Regnitz hinauf. Das Volk begann zu vergessen und es kam die Zeit, wo schon die Väter und die alten Veteranen von den Schrecken der Schlacht erzählten, und sie ließen sich die Mühe wahrlich nicht verdrießen, all die Fährlichkeiten, die sie erlitten, phantasievoll auszuschmücken, und was sie an Heldenthaten von andern vernommen, sich selbst zuzuschreiben. So war es Kriegerbrauch seit Kriege bestehen, und die von Franken waren mit ihrer Zunge immer ein wenig mehr Helden als mit ihrem Arm. Der Krieg gewinnt an Buntheit und an Frohheit, wenn ihn die Jahre fortgetragen haben, und gar mancher erzählt schmunzelnd von jenen Gräueln, die ihn einst erzittern ließen bis in seine tiefste Seele.
Auf jenem Schwedenstein bei der Kapelle befand sich auch unter vielem anderem Gemäuer ein gut zubehauener Granitblock, welcher mit seltsamen und fremdländischen Lettern bemalt war. Es war eine jüdische Inschrift auf einem Grabmonument, und die Schweden hatten ihn vom Gottesacker der Juden gestohlen und ihn hier unter die Steine rechtgläubiger Christen geworfen. Kein Christ wagte es, den Stein zu entfernen, denn ein großes Befremden ging von ihm aus und seinen verschnörkelten Lettern, und sie hatten Furcht, daß sie dem Bann eines Zauberspruchs verfallen möchten, wenn ihre reine Hand den verruchten Judenblock berührte. Mehr als drei Jahrzehnte lag der Grabstein so; wollte man seine Inschrift in die Sprache jener Zeit übersetzen, so lautet sie: Der schöne Joseph, den man nur gern angesehen, unsere Augen-Lust ist nicht mehr vorhanden. Jetzt sind ihm der Gabriel und Michael als Hüter zu seiner rechten und linken Hand zugegeben worden. Die Jahre seines Lebens waren wenig und boeß. Er brachte sie nicht höher als auf siebzig. Er war ein solcher Regent, der wie Barak und Deborah, das Volk mit großem Ruhm regieret. Er suchte seine Lust in dem Studieren, sein Sterben war wie seine Geburt, nemlich ohne Sünde. Als seine Seele am fünften Tag in der Woche von ihm geschieden, hörte man Heulen und Weinen. In Bamberg ist er freudig gestorben, den achtundzwanzigsten Tag des Sivans. Jetzt ist dies die Zeit, da wir vor Jammer und Herzeleid unsere Kleider zerreißen und unsere Augen Thränen fließen lassen. Nach seinem Abscheiden hat man ihn zu Fürth zur Grabesruhe gebracht. Seine Seele soll gebunden sein in das Bündelein der Lebendigen mit der Seele Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Sara.
Lange Zeit hindurch war es der Kummer der Juden, einen Stein aus ihrem Heiligtum solcher Entweihung preisgegeben zu wissen. Sie glaubten auch, die Seele des Joseph Gabriel, des Naphtali Sohn, hätte keine Ruhe und wandle allnächtlich klagend zum Schwedenstein. Denn auch sie wagten nicht, den Stein zu entfernen, weil der Schwedenstein als eine Art von Friedens-Symbol galt, und jede Beschädigung einer Vorbedeutung neuen Krieges gleichgeachtet wurde. Schwer trug der Bürger und der Bauer noch an Kriegeslasten, und viele ließen vom Pfaffen ein Bittgebet um langen Frieden sprechen.
So stand also das Grabmal der Juden unter ungleichartigen Genossen wie ein Fremdling aus weiter Ferne. Es sprach eine unbekannte Sprache und seine edlere Form ließ es zu besserem Dienst berechtigt erscheinen. Es blickte nicht hinaus auf die Ebene, sondern sah herein gegen die niederen Häuser und in die krummen, winkeligen Gassen von Fürth. Und unfern rauschte der Fluß hinunter ins Bistum Bamberg, und wenn er im Herbst die gelben Fluten zum Uferrand und noch weit darüber hinauswälzte, so mußten stets einige Linden am Schießanger ihr Leben lassen. Das Wasser brach sie wie dürre Zweiglein und trieb sie ins Mainland hinab, innig gesellt mit Balken und Astwerk und Hausgeräten und allerlei seltsamen Dingen, die der wildgewordene Strom aus der guten Stadt Nürnberg mit sich führte.
Wenn der Stein des Joseph Gabriel an Gottesfrieden verlor, so gewann er hingegen an Weltweisheit und Kenntnis der Dinge und Menschen. Ernst besah er sich das Treiben der Leute, die um ihn herumwandelten wie die Sperlinge um einen gedeckten Tisch; Gewitter und Schneegestöber, Regen und Sonnenhitze, er hielt sie mit gleicher Geduldigkeit aus, und wenn die sanfte Nacht seine graue Stirn beschattete, so schien darauf noch ein süßer Abglanz der letzten purpurnen Sonnenröte zu haften oder ein Vorglanz des kommenden Morgenrots. Denn die Sonne strahlt diesem Erdstrich beim Aufgang und beim Niedergang mit einer unerhörten Glut, welches die Gelehrten dem Dünstereichtum des Landes zuschreiben.
Fest, Tanz und Kirmesspiel waren von jeher üblich bei den Fränkischen, die einen leichten Sinn haben und ihre Pfennige gern zum Schenkwirt tragen. An einem Kirchweihtag im Oktober, siebzehn Jahre nach dem großen Friedenspakt, – wie jubelte das Volk auf dem Schießanger, wie schwangen sich die Mädchen zum Tanz und wie lustige Weisen spielten die Zigeuner und Spielleute! – ging ein alter Mann, nachdem er lange Zeit nachdenklich vor der jüdischen Inschrift am Schwedenstein gestanden, gegen den Anger zu. Der Abend sank schon herab und der Himmel war von einem matten Rot getränkt. Blaue Schatten fielen auf den rauschenden Fluß und Schmiedehämmer tönten von fernen Gassen her, und der schrille Laut verklang erst weit draußen in den Wiesen. Dann setzte wieder die Musik ein: Orgel und Fiedelbögen und die Maultrommel und die Wasserpfeife. Die Buben lachten und sprangen wilder als je um die alten Bäume, und die Mädchen hatten glänzendere Augen an diesem festlichen Tag. Die Nürnberger Kaufleute boten niegesehene Waren aus und die Seiltänzer und Taschenspieler und die Zigeuner versprachen Wunder an Kunst zu bieten. Als die Dämmerung herabsank, befestigte man Pechfackeln an die Stämme und die fahrenden Häuser der Komödianten, und der schwere, braune Rauch erhob sich in weiten Wellungen und zog hinüber gegen den Strom, zog über die Wiesen hin, und einzelne tolle Funken sprangen knisternd in die Lindenäste. Die dumpfe Glut gab den Gesichtern der Menschen ein abenteuerliches Farbenspiel und die Sterne am Himmel verblaßten für jeden, der sich in diesem Leuchtkreis befand. Der alte Jude hielt die rechte Hand wie einen Schirm über die Augen und blickte finster und forschend in das heitere Getümmel. Sein Gesicht war von grünlich-weißer Färbung und ein roter Bart floß mager um Wangen und Kinn, so daß er nur eigentlich eine Art von Rahmen bildete und dem Gesicht etwas Fremdes, etwas erschreckend Deutliches verlieh. Dann waren seine Augen: die braunen Sterne irrten unruhig in dem geröteten Weiß umher, und bisweilen erweiterten sich die Pupillen so rasch wie die eines Raubtiers. Es waren die Augen der Juden, – voll Hast, voll Unfrieden, voll von unbestimmtem Flehen, von einer gedrückten Innigkeit, bald in Leidenschaft flackernd, bald in Schwermut alle Glut verlierend, die Augen des gehetzten Tieres, das angstvoll und kraftlos die Blicke dem Verfolger zuwendet, oder in bebender Sehnsucht hinausstarrt in das reiche, ferne Land der Freiheit. „Das Volk ist wild,“ murmelte er, „da tanzen sie und blasen Schalmeien und morgen schon wird Gott ein Gericht halten, daß es unerhört sein wird.“ Er blieb stehen, verbeugte sich tief nach Osten und lispelte ein kurzes Gebet durch die schmalen Lippen.
Unter den Linden des Angers tanzte ein Zigeunermädchen einen seltsamen Tanz aus der Heimat und zwei Burschen spielten die Geige dazu. Eine Menge von Zuschauern hatten sich im weiten Kreis versammelt, und das düstere Licht der Fackeln machte alle Augen größer und lichtreicher und gab den Gesichtern ein neues, fremdes Leben. So ist es immer in den Tagen Remigius, Leodegar und Lukretia in Fürth; da erwachen die Menschen aus dem drückenden Traum ihrer Sorgen und eine gütige Sonne lacht ihnen ins Herz.
Nach der Zigeunerin kam ein junges Mädchen von großer Schönheit langsam in die Mitte des Kreises. Wunderlich irrten schmale Schatten auf ihren bleichen Wangen und auf ihrer Stirn, und sie war schlank wie jene Frauen, die man damals zu Florenz malte. Ein langes Gewand floß an ihrem Leib herab, und sie begann, ohne die Arme zu bewegen, ohne die Augen vom Boden zu erheben, mit klagender Stimme ein Recitativ:
Ich weiß nicht, wo’s Vögelein ist,
Ich weiß nicht, wo’s pfeift.
Hinterm kleinen Lädelein,
Schätzlein, wo leist?
Es sitzt ja das Vögelein
Nicht alleweil im Nest,
Schwingt seine Flügelein,
Hüpft auf die Äst’.
Wo ich gelegen bin,
Darf ich wohl sagen.
Hinterm grün Nägeleinstock
Zwischen zwei Knaben.
Doch weshalb sang sie dies so leise und melancholisch? Ihre Lippen zitterten und sie senkte den Kopf tief gegen die Brust. Der Harlekin kam und äffte sie, aber sie blieb starr wie eine Bildsäule; der Narr begann an ihr herumzuschnuppern und erklärte endlich grinsend, das sei ein feines Aschenputtel für sein Ehegespons. Er wollte sie eben umfassen und davontragen, da kam ein Ritter in glänzender Rüstung, um sie zu befreien. Und der Hanswurst verwandelte sich und stand nun in seiner wahren Gestalt da: als der Teufel. Er kämpfte nun mit dem Ritter und als er nahe daran war, zu siegen, zog jener ein weißes, elfenbeinernes Kruzifix heraus und hielt es dem Bösen hin. Der Satan stieß ein schreckliches Geheul aus und sprang in großen Sätzen davon.
Da trat aus einer Lücke in dem Kreis der Zuschauer der alte Jude, stieg über die abschließende Bank hinweg und sein langer Kaftan flatterte im Abendwind, als er auf das blasse Mädchen zuschritt. Sie schlug ihre Augen zu ihm auf und schüttelte sich plötzlich wie im Fieberfrost; seine Blicke bohrten sich gleich Nadeln in sie ein und sie las etwas in dem flackernden Feuer dieser Augen, das lange und lange schon ihre Seele mit seltsamer Furcht, mit grüblerischer Furcht erfüllt hatte. Es war, als ob ihre Seele auf einmal von frühen Erinnerungen der Kindheit ergriffen würde und darüber tief erschüttert wäre. Auch die Angst war darin zu lesen vor dem Unbegreiflichen dieser plötzlichen Klarheit, der Schrecken über die gespenstige Erscheinung des rotbärtigen Juden. Er hatte seine Finger um ihren Arm gelegt, daß sie wie Spangen sich schlossen und er blickte sie unverwandt an, – so, als ob er einen Wunsch, einen unwiderstehlichen Befehl tief in ihr Herz zu senken wisse, so daß kein Mensch daran zu rühren vermochte. Die Musik schwieg, der Lärm in der nahen Runde dämpfte sich zum Gemurmel, viele empfanden ein zielloses Grauen, viele nur Neugier und Erwartung; den Fluß hörte man rauschen und den Wind durch die Bäume streichen. Er warf gelbe Blätter herab und eine leichte Kühlnis ging herbstahnend über den Anger. Der Jude beugte sich nieder und murmelte in des Mädchens Ohr: „Gedenkst du noch an den Feuerbrand in deiner Heimat, Zirle? An den Vater, an die Mutter, an die Brüder und an alle andern, die tot sind? Zirle, denkst du’s noch?“ – Unaufhörlich flossen die Thränen über des Mädchens Wangen und es schaute völlig verloren in eine vergangene Nacht hinein. Und der Alte fuhr fort, zu ihr zu reden: „Um die Mitternacht des nächsten Vollmonds mußt du zu mir kommen; du wirst dann Zacharias Naar zu finden wissen, wo es auch sei. Den Messias verkündige ich, dem die geheimnisvollen Tiefen der Wesenheiten offenbar geworden sind.“
Jetzt begann ein unwilliges Murren sich über die Störung des Festes und der Fröhlichkeit zu erheben. Zacharias Naar wandte sich ab von dem Mädchen und schritt bald darauf langsam dem Ausgang des Angers zu. Niemand kannte ihn. Alle wichen ihm aus und schnell lief ein Wort von Mund zu Mund: Ahasverus. „Ja, ja, er laufft umher wie der tolle Judt,“ sagte ein ganz verschrumpftes, gebücktes Weib und schnüffelte mit der dünnen Nase in der Luft umher. Sie wisse ein Sprüchlein, erzählte sie mit ihrer klirrenden Stimme den jungen Leuten, die sie umstanden:
Der Jud’ Ahasverus weit und breit
Vor alters und vor dieser Zeit
Bekannt, geht nun durch alle Welt,
Red’t alle Sprachen, veracht’ das Geld.
Was er von Christo reden thut,
Kannst hören hie, doch mit Unmut.
Veracht ihn nicht, laß wandern hin,
Weil Gott ihm geben solchen Sinn:
Daß er von Christo, seinem Sohn
Red’t alles Guts; doch laß ich schon
Dein Urteil selbst, wie es mag seyn,
Gott sieht und kennt das Herz allein.
Was im Herzen verborgen ist,
Bringt Wort heraus zu jeder Frist.
Zacharias Naar schritt durch die dunklen Straßen des Orts zum Tempel der Juden. Dort war noch Gottesdienst, denn es war der Vorabend des Versöhnungsfestes. Bald stand er unbeachtet unter der Menge der Gebetemurmelnden, den Tallis um die Schultern und starrte mit glühenden Augen gegen den Altar. Keine friedliche Feststimmung herrschte in diesem Raum. Jeder schien seinem Gott für sich zu dienen, und bisweilen entstand ein unbestimmter Lärm, in dem sich eine schreiende oder keifende Stimme abhob. Ein dumpfer Höhlengeruch erfüllte das Gotteshaus; es roch nach altem Leder, nach alten Gewändern, nach Rauch und faulem Holz. Kinder standen umher und glotzten mit stumpfsinniger Andacht in Bücher mit gebräunten Blättern. Der Raum glich einem unterirdischen Gemach für Verschwörer, einer Büßerklause für Asketen, denn nichts von Lebensfreude und nichts von Gottesfreude war hier zu finden. Die Lichter qualmten und wer aus freier Luft hereinkam, glaubte alsbald zu versinken, tief hinein in eine schwüle Schlucht, wo man einem strengen Gott finstere Gebete brachte.
Das letzte Kaddisch war beendet; alle rüsteten sich schon zum Aufbruch. Da schritt Zacharias Naar dem Altar zu und erhob die Hand: ein Zeichen, daß er zu reden wünsche. Es wurde still und aller Augen wandten sich dem Fremdling zu. Der begann, – nicht laut und scheinbar mehr für sich selbst. Er sprach zuerst in hastig hingeworfenen Worten von der Niedrigkeit und Erbärmlichkeit des jüdischen Volkes; von der Unterdrückung, die es erlitten und von der Zerstreuung in alle Teile der Welt. Dann, als er gewiß war, daß alle aufmerksam lauschten, wurde seine Stimme lauter, sie verlor den Ton des Hingeworfenen, und seine Augen begannen zu blitzen. Er rief den alten Gott der Juden an, der Verheißung auf Verheißung gehäuft und die Armut über sein erwähltes Volk geschüttet habe und die Qualen der Heimsuchung, ärger als zur Zeit der ägyptischen Plagen. Es wurde totenstill. Selbst die kalten Mauern schienen zu lauschen und diese Worte mit Begierde einzusaugen. Der Redner fuhr fort: „Der Zorn des Herrn ist entbrannt wider sein Volk, und er streckt seine Hand wider sie aus und er schlägt es, so daß die Berge erzittern und ihre Leichen wie Kehricht mitten auf den Straßen liegen. Haben sie uns nicht beschuldet: ihr vergiftet unsere Brunnen? haben sie nicht unsere Brüder hingeschlachtet zu Tausenden? Haben sie nicht geschrien: ihr nehmt das Blut unserer Kinder zum Opfer beim Passahfeste? Ihr nehmt das Blut und braucht es für eure schwangeren Weiber? haben sie uns nicht ausgewiesen aus ihren Städten und unsere Häuser verbrannt? und unsere Güter geraubt? Müssen wir nicht vogelfrei dahinwandern und viele finden keine Hütte, wie Kain, der seinen Bruder erschlug? Haben sie uns nicht aufs Rad geflochten und den Henkern im Land preisgegeben wie krankes Vieh? nicht unsere Kinder verbrannt, nicht unsere Weiber geschändet und als die Pest kam, nicht schlimmer unter uns gewütet, denn die Pest? Bei alledem hat sich der Zorn des Herrn nicht gewandt. Doch jetzt, jetzt wird er ein Panier aufrichten dem Heidenvolk aus der Ferne und wird ihm pfeifen vom Ende der Erde und siehe, eilends, flugs kommt es. Kein Matter und kein Strauchelnder ist darunter; nicht giebt es sich dem Schlummer noch dem Schlafe hin; auch springt nicht der Gurt seiner Lenden, noch zerreißt der Riemen seiner Schuhe. Die Hufe seiner Rosse sind wie Kiesel zu achten und seine Räder wie der Sturmwind. Gebrüll hat’s wie die Löwin und brüllt wie die jungen Löwen und knurrt und packt den Raub und trägt ihn davon und niemand vermag zu retten. Und es wird über Juda dröhnen wie Meeresdröhnen und blickt er auf das Land hin, siehe da ist angsterregende Finsternis und das Licht ward dunkel in dem Gewölbe darüber. Nahet euch, ihr Heiden, um zu hören, und ihr Völker, merket auf! Es höret die Erde, was sie erfüllet, der Weltkreis, und alles, was ihm entsproßt. Denn einen Groll hat der Herr auf alle Heiden, er hat sie bestimmt für die Schlachtung und ihre Erschlagenen werden hingeworfen, und ihre Leichen, – aufsteigen soll ihr Gestank, und es sollen die Berge zerfließen von ihrem Blut. Die Sterne sollen zerbröckeln und wie ein Pergamentum soll der Himmel zusammengerollt werden. Aber unsere Trift soll lustig sein, frohlocken soll unsere Steppe und blühen wie die Narzisse. Sie soll blühen, ja blühen und frohlocken, frohlocken und jubeln! Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr geschenkt und die Pracht des Karmel. Stärkt die erschlafften Glieder und die wankenden Kniee macht fest! Sagt zu denen, die bekümmerten Herzens sind, seid stark! Aufgethan werden die Augen der Blinden und die Ohren der Tauben geöffnet! Dann wird wie ein Hirsch der Lahme springen und jubeln die Zunge des Stummen. Denn seht: ein Mann ist aufgestanden in der kleinasiatischen Stadt Smyrna, das ist der wahre Messias und das Himmelreich ist nah! Ja, ich sehe eure Blicke leuchten und eure Hände beben! Habt ihr ihn nicht rufen hören von den Gestaden des Mittelmeers? Ein neues Erlösungswerk geht ihm voran und Olam ha Tikkun wird erstehn. Das göttliche Wesen hat er allein erkannt, Sabbatai Zewi! Sammelt euch, Brüder, richtet euch empor, richtet eure Weiber empor, lehrt eure Kinder seinen Namen aussprechen und eure Waisen tröstet mit seinem Wort! Im Jahre 5408 der Welt begann die Erlösungszeit zu tagen, und in diesem Jahre hat sich Sabbatai Zewi uns offenbart. Wunder über Wunder hat er verrichtet und die Juden Kleinasiens und der Türkei jauchzen ihm zu.“
Ein furchtbarer Tumult unterbrach den Redner. Lange schon war die Kunde von dem Ereignis nach Franken gedrungen, aber stets waren es nur dunkle Laute gewesen, geheimnisvolle Andeutungen, von wandernden Mönchen, von wandernden Juden oder gar von Zigeunern hergetragen. Es war gleichsam nur das dumpfe Geräusch eines sehr fernen Wetters gewesen, das die Gemüter wohl in nächtlicher Stille und Träumerei zu ergreifen vermag, aber das Licht des Tages machte zweifeln und ungläubig. Zum ersten Male nun war es wie ein Trompetenstoß in die Ohren der Juden gefahren, wie ein heller, schmetternder Schlachtruf, ein Klirren mit tausend Schildern und tausend Schwertern, ein wahrer Auferstehungsschrei. Es wurde leuchtend um ihre Augen, rings herum wurde es Tag, das bange Los der Unterdrückung schien einem Ende nahe: Sonne, Freiheit, göttliches Auserwähltsein zu großen Dingen, Glanz und Freudigkeit und verzückte Sehnsucht, – als eine wundervolle Erfüllung tausendjähriger Glaubensdienste. In ihre bedrückten Seelen fuhr es wie der Aufruf zu einer neuen Weltordnung; Knaben sahen sich zu Männern geworden, die Männer ballten ihre Fäuste und es rieselte ihnen kalt und heiß über den Rücken. Und als der erste Taumel sich gelegt, drängten sie sich um den Fremden, bestürmten ihn um Einzelheiten und lauschten atemlos. Vergessen war die Stunde der Heimkehr, vergessen die Gebote des Fasttags; die Weiber drängten sich aus ihren Verschlägen und hörten mit erhitzten Wangen zu. Und sie sahen ihn in ihrer Phantasie förmlich lebendig werden, den geheimnisvollen Propheten von Smyrna, der am hellen Tag der Geschichte wie ein glühendes Meteor hingewandelt ist und, ergriffen von lurjanischer Mystik, das Ende der Zeitalter herbeizuführen glaubte. Zacharias Naar erzählte, völlig versunken und hingegeben wie ein Träumender: wie Sabbatai seinen Leib kasteite und Sommer und Winter, bei Tag oder bei Nacht, im Meer badete. Wie sein Leib von den Seebädern einen Wohlgeruch erhielt und sein Auge klar davon wurde. Niemals hatte er ein Weib berührt und obwohl er zwei Frauen vermählt worden war, mied er sie und verstieß sie bald. Ernst und einsam war sein Wesen, und er hatte eine schöne Stimme, mit der er die kabbalistischen Verse oder seine eigenen Verse sang. Das Jahr 1666 bezeichnete er als das messianische Jahr; den Juden sollte es eine neue Herrlichkeit bringen und sie sollten nach Jerusalem zurückkehren. Seine Seele ergab sich jauchzend dem süßen Rausch des Gottesbewußtseins. Man hatte ihn von Smyrna verjagt, aber dann brach das glimmende Feuer zur großen und verheerenden Flamme aus. Seine Demütigung war seine Größe geworden und seine Verklärung. Er ließ zu Salonichi ein Fest bereiten und vermählte sich in Gegenwart seiner Freunde feierlich mit der heiligen Schrift: Thora, die Himmelstochter, wird mit dem Sohn des Himmels in unzertrennlichem Bund vereinigt. Fünfzig Talmudisten speisten an seiner Tafel und kein Armer ging hungrig von seiner Thüre. Er vergoß Ströme von Thränen beim Gebet, und Nächte lang sang er bei hellem Kerzenlicht die Psalmen. Er sang auch Liebeslieder. Er sang das Lied von der schönen Kaisertochter Melliselde:
Aufsteigend auf einen Berg
Und niederschreitend in ein Thal,
Kam ich zur schönen Melliselde
In des Kaisers Krönungssaal.
Mild kam sie einher
Mit flutendem Haar
Und ihr Antlitz milde,
Süß ihre Stimme war;
Ihr Antlitz glänzte wie ein Degen,
Ihr Augenlid wie ein Bogen von Stahl,
Ihre Lippen, das waren Korallen,
Ihr Fleisch wie Milch so fahl.
Die Kinder folgten ihm auf den Straßen, so daß die Mütter seinen Namen lobpriesen. Und er ließ verkünden, daß er vom Flusse Sabbation aus die zehn Stämme nach dem heiligen Lande führen werde: auf einem Löwen reitend, der einen siebenköpfigen Drachen werde im Maule haben.
Wie von einem ergreifenden Zauber gebannt, wanderten die Juden nach Hause. Das Fieber der Erwartung hatte sie gepackt, das von Land zu Land floß wie ein berauschender Strom. In dieser Nacht konnte keiner schlafen.
Man sagte damals, der Herr der Welten öffne seine Thore, den Propheten zu empfangen, oder er pflücke die Sterne vom Himmel, als wären es Trauben am Rebstock, das Volk sähe ein edles Licht, und die Todesschatten verschwänden neben ihm; hinabgestürzt sei die Pracht der Könige und das Rauschen ihrer Harfen; der Prophet steige zum Himmel empor und oberhalb der Gestirne errichte er seinen Thron; viele Stimmen schrieen zu ihm empor: Wächter, wie weit ist’s in der Nacht? Da verkündete er schon das Morgenrot. In seiner Nähe gab es nichts alltägliches mehr, der Fürst schien dem Bauer gleich, der Bettler dem Richter, keine liebende Hand streckte sich dem Kranken hin, und es war auch groß und erhaben, alle Pein der Kasteiung zu erdulden und der aufgehenden Gnadensonne zerknirscht entgegenzuwinseln. Die Schule der Kabbalisten glaubte die Verkündigung klarer zu verstehen. Aus dem göttlichen Schoß hatte sich die neue göttliche Person entfaltet, der wahre König, der Messias, der Erlöser und Befreier der Welt und die Herrschaft des Metatron ist zu Ende. Es steht aber im Buche Sohar, sagten sie: Metatron ist das erste der Geschöpfe, der Abglanz Gottes; er ist die mittelste Säule, die das Himmlische vollkommen macht; er ist das Vereinigende in der Mitte. Denn der wahre Messias ist der verkörperte Urmensch, der Adam Kadmon der Schrift, ein Teil der Gottheit.
Der Tag brach an, ein trüber und dunstiger Herbstmorgen. Ein kühler trockner Wind ging durch die Gassen. Die christlichen Einwohner waren verwundert über das aufgeregte Wesen der Juden. Der Rabbi Bärmann rannte bleich von einem Haus ins andere. Der Rabbi Salman Klef stand, ein vergilbtes Pergament lesend, stundenlang vor seinem Haus. Salman Ulman Käsbauer rief mit lebhafter Stimme nach dem Fremdling von gestern. Hutzel Davidla hinkte nachdenklich umher und Boruchs Klöß wurde nicht müde, an den heiligen Fasttag zu erinnern und daß man zur Schul gehen müsse. Gegen neun Uhr kam ein staubbedeckter Bote aus der Richtung der Stadt Nürnberg. Er brachte ein Sendschreiben. Michel Chased, der Chassan, nahm es entgegen und die Juden, Männer, Weiber und Kinder in stets wachsender Anzahl, sammelten sich um ihn, als er mit lauter Stimme vorlas. Das Schreiben kam von dem berühmten Samuel Primo, einem Jünger des Sabbatai, und lautete: „Der einzige und erstgeborene Sohn Gottes, Sabbatai Zewi, Messias und Erlöser des jüdischen Volkes, bietet allen Söhnen Israels Frieden. Nachdem ihr gewürdigt worden seid, den großen Tag und die Erfüllung des Gotteswortes durch den Propheten zu sehen, so müssen eure Klagen und Seufzer in Freude und eure Fasten in frohe Tage umgewandelt werden. Denn ihr werdet nicht mehr weinen. Freut euch mit Gesang und Lied und verwandelt den Tag der Betrübnis und der Trauer in einen Tag des Jubels, weil ich erschienen bin.“
Ein Todesschweigen folgte diesen Worten. Die Zumutung des Propheten war für dies Volk, das mit unerschütterlichem Fanatismus am Hergebrachten, am überlieferten Gesetz hing, etwas Furchtbares und Unerhörtes. Wolf Käsbauer wurde weiß wie Schnee und stotterte ein hebräisches Gebet. Viele andere, besonders Frauen, beteten ihm nach. Aber es waren doch auch solche da, die von Mut erfüllt waren für die neue und große Sache. Sie riefen Hallelujah und ihre Augen leuchteten dem Kommenden froh entgegen. Der Messias, weil er so fern war, wuchs ins Unermeßliche vor ihren Augen, sein Haupt stand golden in den Morgenwolken, ihre Seele war ausgefüllt von ihm, weil der Druck niederer Dienstbarkeit auf ihnen lastete, die Verachtung eines ganzen Volkes, einer ganzen Welt. Tagelang wohnte eine dumpfe Angst über den Juden in Fürth; sie wagten nicht aus ihren Häusern zu gehen, sie ergaben sich ganz den Gefühlen der Zerknirschung oder der Erbitterung oder der Reue oder der Hoffnung.
Da kam am zweiten Tage nach dem Feste Jom ha Kipurim die Kunde aus dem Norden, der berühmte Hamburger Jude Manoel Texeira, der Vertraute der Königin Christine von Schweden, habe sich öffentlich in der Synagoge für den Messias erklärt. Aus Amsterdam, aus London, aus Prag, aus Mainz, aus Frankfurt und aus Wien gingen Huldigungen an den Propheten ab, und seltsame Zeichen am Himmel machten auch vielen Christen das Herz schwer. Der Jude Wassertrüdinger in Fürth, genannt Weiber-Lambden, der bei schwangeren Weibern herumging und mit lauter Stimme Gebete las, sah nämlich am Samstag Abend, dem ersten des Monats Tibeth, einen großen anwachsenden Feuerschein am nördlichen Himmel. Seine Augen wurden naß vor Grauen und mit seinem Hinkbein lief er, so schnell es ging, in die Häuser der Juden und schrie mit halberstickter Stimme, daß Gott ein Zeichen gegeben habe. Viel Volk sammelte sich schweigend an den Ufern der Regnitz und Pegnitz und Christen und Juden standen in gleicher Furcht, in gleicher mystischer Andacht Schulter an Schulter. Zacharias Naar tauchte auf, fiel am Schilf des Flusses nieder und wandte sein gelbes Gesicht mit den weiten Augen dem himmlischen Feuer zu. Er begann ein flehendes Gebet zu singen, eine klagenvolle Anrufung des Gottessohnes zu Smyrna und die Gemeinde fiel im Chorus beim letzten Vers mit ein. Einsilbig rauschte der Fluß durchs Land und die erblassende Röte des Firmaments beleuchtete unsicher die dunklen Talare der in süßer Verzückung heimkehrenden Juden.
In derselben Nacht erhob sich ein gewaltiger Sturm, riß das heilige Kreuz von der katholischen Kirche herab und als die Juden in der Morgenfrühe zum Gebet gingen, sahen sie über dem niederen Portal der Synagoge die Anfangsbuchstaben vom Namen des Sabbatai Zewi in goldenen Lettern stehen.
Nun lebte ein Mann in Fürth, den man Maier Knöcker nannte; er hieß auch Maier Nathan und bei den Christen Maier Satan. Er hatte einen offenen Mund und eine häßliche Nase und war wegen seines Schacherns sehr verhaßt. Knöckern heißt bei den Juden stammeln und ein Stammler war Maier Knöcker, der Nathan. Er sah mit scheelen Augen in das erregte Treiben seiner Glaubensbrüder, und inmitten des allgemeinen Rausches blieb er nüchtern und kalt. Er war nur besorgt, daß er von seinem Geld nichts verliere und beriet sich oft mit seiner Frau, wie man die Kasse am besten verwahren solle. Er wohnte in einem alten Haus mit vielen Löchern und Winkeln und jeden Tag in der Woche brachte er sein Geld in ein anderes Versteck. Sobald eine Nachricht von auswärts kam über irgend einen bedeutsamen Vorfall, irgend ein unerklärliches Ereignis, so begann Maier Knöcker zu zittern und lief in sein Haus, um seine Schätze nachzusehen. Und wie die Flut der Ereignisse schwoll und sich ausbreitete und die Länder bedeckte, wuchs auch in der Seele des Knöckers die Furcht vor dem Verluste seines Vermögens, und er konnte keinen ruhigen Schlaf mehr finden und mußte seine Bissen bei den Mahlzeiten in Unfrieden hinunterwürgen. Er betete sogar weniger, um seinem Hab und Gut ein besserer Wächter sein zu können. Er verdammte diese unruhigen Zeiten und es gab Tage, wo er sich nicht mehr über die Gasse wagte und die Thüren versperrte, um irgend einen geheimnisvollen Feind abzuhalten.
Aber es lebte noch eine andere Furcht in diesem schiefen und winkelreichen Haus, das in jeder Stunde einzufallen schien und das beim hellen Mondschein der Herbstnächte einer Ruine glich. Der Maier Knöcker hatte eine Tochter. Sie war nicht gerade schön, aber sie hatte die üppigen Formen und die äußerliche Leidenschaft der jüdischen Weiber, und in ihren Augen war etwas dumpf Sinnliches, das die Männer zu ihr trieb. Rahel hatte nun vor langem ein Liebesverhältnis mit einem christlichen Studiosus aus Erlangen angeknüpft und war in dessen Armen gefallen. Seit Monaten nun fühlte sie ein junges Leben sich in ihrem Leib regen, und wenn sie daran dachte, was Vater und Mutter sagen würden, wenn sie es entdeckten, so wurde ihr Herz förmlich wund. Ihre Ratlosigkeit und Traurigkeit verdunkelte ihr Leben und machte ihre Jugend finster und bereuenswert. Aber als die Woge der Messiasbegeisterung in den stillen Hofmarkt stürzte, sah das gequälte Mädchen darin eine Art Erlösung. Sie fand es leichter als sonst, ihren leiblichen und seelischen Zustand zu verbergen, denn die Erregung der Gemüter wandte sich nichts Einzelnem mehr zu. Trotzdem rückte die Zeit immer näher, wo nichts mehr zu verbergen war, wo sie, ohne zu reden, ihr Geheimnis offenbar werden lassen mußte. Sie sann und sann in schlaflosen Nächten, vergoß zahllose Thränen, und endlich ließ sie die angeborene Schlauheit des Weibes einen abenteuerlichen Ausweg aus ihrer Bedrängnis finden. Sie beschloß, ihren Geliebten um Hilfe zu bitten.
Maier Knöcker war eben von der Abendschul nach Hause gekommen und erzählte finster, daß er mit vier andern unverrichteter Sache wieder gegangen sei. Die Juden vergäßen, sich zum Minjan zu versammeln; er sehe darin ein schreckliches Zeichen. Und beklommenen Herzens lugte er hinaus auf die Straße, als erwarte er Stunde für Stunde den unerbittlichen Gegner alles häuslichen Friedens von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Da läutete die Hausglocke und Itzig Gänßhenker kam und berichtete atemlos, daß sich ein wirkliches Gotteswunder begeben habe. An der Küste von Nordschottland habe sich nämlich ein Schiff gezeigt, mit seidenen Segeln und seidenen Tauen und die Schiffsleute, die es führten, hätten hebräisch gesprochen und die Flagge habe die Inschrift getragen: die zwölf Stämme oder die Geschlechter Israels. Dies Schiff sei für die Braut des Messias bestimmt.
Sie sprachen nun von vielen Dingen und Thelsela, das Weib des Knöckers, mischte sich auch in die Unterhaltung, bis Boruchs Klöß kam und man im Talmud lesen wollte. Auch Klöß wußte von dem geheimnisvollen Schiff und alle, alle draußen wußten es schon. Es kam nicht zum Studium des Talmuds, da Boruchs Klöß manche neue Seltsamkeiten zu berichten wußte: wie ein jüdischer Schneider zu Mailand in einen Zustand von Raserei gefallen sei und sich seitdem in prophetischen Verzückungen winde; stundenlang liege er am Boden und spreche bald lachend, bald weinend von der nahen Erlösung und von Sabbatais Macht im Himmel und auf Erden. Ferner erzählte er, daß sein Oheim aus der Türkei nach Hause zurückgekehrt sei. Der sei gänzlich betäubt von dem Großen und Wundervollen, das er dort gesehen. Das Volk von Smyrna sei wie im Wahnsinn und jauchze dem Befreier zu, der in Prozessionen von nie gesehener Pracht durch die Straßen ziehe. Die Ungläubigen, die Chofrim, seien ihres Lebens nicht sicher; Chajim Peña sei vom Volk fast zerfleischt worden, als er gegen Sabbatai aufgetreten war; da sei des Peña Tochter gekommen, habe mit verzückten Sinnen das Heil des Erlösers ausgerufen, habe geweissagt und sei wie berauscht gewesen; da gaben sie Chajim Peña frei, und er wurde später zum Jünger. So wurde weiter erzählt und Boruchs Klöß wußte immer noch mehr Dinge und erstaunlichere Dinge, als Itzig Gänßhenker. Maier Knöcker aber schwieg mit schwerem Herzen. Ringsum sah er den wilden Tanz sich gestalten. Seine Klugheit warnte ihn davor, zu widerstehen, um so mehr, als noch in derselben Nacht das Gerücht laut wurde, Zacharias Naar stehe in Verbindung mit dem Propheten selbst. Er erhielt dadurch eine förmliche Weihe; er ging in die Häuser der Juden, überzeugte die Zweifler und entflammte die Hoffenden. Überall schritt er umher, überall fand man ihn, oft hob er sich gegen den dunklen Himmel der Felder ab, einsam in der Nacht.
Die Glocke verkündete die Mitternacht. Ein junger Mensch schlich über den Lilienplatz in die Wassergaß zum Haus des Knöckers. Er hatte ein langes Rohr unter seinem Mantel verborgen, und sein Kopf war sorglich in eine Kapuze gehüllt. Der rote Mond senkte sich gegen Westen und schien ein zauberhaftes Blühen auf die Dächer zu breiten. Gelbe Blüten, zarte Nebelschleier, er hauchte sie hin, daß es keiner sah, und die Steine waren nicht mehr Steine, sondern es waren Knospen von Mondblüten und jeder Zaunpfahl erwachte aus einem traumlosen Schlaf und guckte schwermütig in diese Welt der Verkehrtheiten. Die brüchigen Häuser sahen so unbekleidet, hilflos und gottverlassen aus! Manche waren förmlich rührend in ihrer trostlosen Verfallenheit, während ihre Fenster traurigen Augen glichen, die in die dunstige Glasglocke des Himmels hineinstarrten, als ob sie geblendet wären von dem sanften, nächtlichen Licht.
Der junge Mensch überkletterte einen niederen Zaun, und erstieg eine schmale, morsche Treppe, von wo aus er auf ein Dach kam und dort auf den Zehen weiterschritt. Vor einem grünen Fensterladen stand er still und steckte sein Rohr durch einen schmalen Spalt. Nun rief er mit dumpfer und verstellter Stimme in das Sprachrohr: „Baruch ado adonai elohim! O ihr gerechten und gottliebenden Eheleute Maier Nathan und Thelsela! freuet euch, denn eure Tochter, die eine Jungfrau ist, hat eine Tochter in ihrem Leib empfangen, die wird die Braut sein dem Erlöser des Volkes Israel, dem Messias zu Smyrna.“
Der Knöcker, der vergebens seine Kissen um Schlaf zerwühlt hatte und dessen Phantasie in wilder Bewegung war, weckte sein Weib. „O meine Liebste,“ flüsterte er beklommen, „hast du die himmlische Stimme gehört? Es ist ein Engel dagewesen; stehe auf, wir wollen beten, daß du die himmlische Stimme auch zu hören gewürdigt werdest.“ Zitternden Leibes erhob sich die Frau, die ein müdes Gesicht und noch immer schöne, klare Augen hatte. Sie lauschte in die Nacht hinaus, legte die vermagerte Hand auf die klopfende Brust und kniete nieder. Da ertönte die Stimme von neuem: „Ihr sollt eure Tochter in hohen Ehren halten und großen Fleiß anwenden, daß sie wohl versorgt werde. Denn aus ihrem jungfräulichen Leib wird die Messiasbraut geboren werden.“
Da packte Thelsela ihren Mann und zog ihn hinüber in das Zimmer, wo die Tochter schlief. Sie schien ruhig zu schlummern, abgehärmt sah sie aus, ihre Lider zuckten ein wenig. Und als die Mutter ihr die Decke vom Körper ziehen wollte, stieß sie einen heiseren Schrei aus und krampfte die Hände fest, in einer tödlichen Angst befangen, in den Stoff. Doch der Knöcker streichelte ihr die Wangen und stotterte unverständliche Zärtlichkeiten, während Thelsela den Leib des Mädchens befühlte, ernst nickte und von Andachtsschauern durchrieselt wurde. Eine große Freude hatte den Maier Nathan befallen; sein Haus war zu solch vorzüglichen Dingen auserwählt worden, daß er in diesen Stunden sogar der Sorge um sein Geld vergaß und mit seinem Weibe am Lager der Tochter sitzen blieb, um ungeduldig den Anbruch des Tages zu erwarten. Über Rahels Wangen flossen bittere Thränen. Mit weitgeöffneten Augen sah sie beständig auf einen Punkt. Böse Gesichte schienen sie zu foltern; das Licht that ihr weh, auch jede Tröstung schmerzte sie.
Der Maier Nathan indessen, dem eine ganz neue Welt aufgegangen war, sah sich schon als den Patriarchen der Gemeinde, gepriesen als den Vater eines ganz unerhörten Glückes. Er nahm sein Weib bei der Hand, führte sie in das Schlafgemach zurück, stotterte verwirrte Dinge, von denen die Thelsela in ihrem blöden Sinn nichts verstehen konnte und ging fort, um zuerst seinen Freund Boruchs Klöß und dann den Chassan aufzusuchen.
Der Morgen war nahe. Eine seltsame, drückende Öde lag auf den Gassen. Fern in der Ebene rauschte der Fluß, und bisweilen klang es herein wie das Klappern eines Mühlenrades oder das Geläute von Kuhglocken. Den Zenith belagerte eine große dicke Wolke. Wie ein Raubtier lag sie und schien bereit, sich auf das Land zu stürzen.
Fast in allen Judenhäusern war Licht. Wo auch Maier Knöcker das neugierige Ohr an einen Thürverschluß oder an eine dünne Mauerwand legte, hörte er Gebete murmeln, Klagen und Anrufungen und Lobpreisungen.
Als der helle Tag angebrochen war, vernahm man etwas Wunderbares. Es hieß nämlich, die Juden in dem Städtchen Avricourt rüsteten sich, nach Jerusalem zu ziehen. Dann hieß es auch, Jakob Sasportas, der wütende Feind des Zewi, sei plötzlich zum glühenden Anhänger geworden, und mit der heiligen Schrift im Arm tanze er verzückt durch die Straßen von Worms. Ferner kam die Nachricht, Manoel Texeira sei mit zehn Ältesten nach Smyrna gepilgert und habe sich dem Messias zu Füßen geworfen. Nathan Ghazati war von Sabbatai zum König von Griechenland und Elisa Levi, der Bettler, zum Kaiser von Afrika bestimmt worden. Die Palästiner, die durch Jakob Zemach eine Huldigung an den neuen König der Juden abgeschickt hatten, schmückten ihren Tempel und zogen psalmensingend und blumenstreuend durch die Stadt, gerade wie zu Davids Zeiten. Sabbatai Raphael in Polen und Mathatia Bloch seien von heiligem Geist erfaßt, so daß sie wahrsagten auf offenem Markt in Warschau und in Thorn.
So kommt der Föhn im Frühjahr und im Herbst über das deutsche Hochland wie all diese Botschaften nach Fürth. Selbst die Christen wurden miterregt und bedrückt von der Wucht der fremdartigen Ereignisse. Ein Taumel ging durch das mittlere Europa, jene Mittelgebirgsländer, welche fanatischen Strömungen so leicht zugänglich sind, die dann an irgend einer Stelle einen tollen, hungrigen Strudel bilden, der alles Feine und alles Friedliche in eine schwarze Tiefe hinunterzerrt. Die alte Welt schien aufzuwachen aus einem Schlaf. Der Bedrücker fürchtete den Bedrückten, der Knecht hatte reiche Träume von Freiheit. Kein Tag verging, an dem nicht Kunde von Außerordentlichem eintraf, wäre es auch nur ein geheimnisvolles, deutungsreiches Wort des Messias gewesen. Er steht z. B. auf einer Terrasse am Meer, streckt seine Hand aus gegen Chalkidike und spricht: Seht, ich gebe euch heute das Leben und den Tod. Das wurde von wandernden Juden berichtet, oder es gingen Sendschreiben durch die Städte; wunderliche Dinge lagen in der Luft.
Maier Knöcker, der Nathan, der das unerwartete Glück, dessen er teilhaftig geworden, voll Entzücken weitergetragen hatte, traf zuerst auf Mißtrauen, dann auf Verwunderung, dann auf blinden Glauben. Er fand einen begeisterten Apostel in Boruchs Klöß und dieser beredsame Mann erwies sich in der That als der beste Anwalt einer so begnadeten Sache. Die Ältesten der Gemeinde kamen zu Rahel, um sie durch Gebete gleichsam heilig zu sprechen. Am gleichen Abend wurde ein großes Festmahl unter dem Vorsitz des Ober-Rabbis abgehalten, und das Haus des Stammlers wurde als eine Art frommer Zuflucht erklärt. Aber Rahel selbst blieb finster und verschlossen dabei. Sie wich jedermann aus und hatte es verlernt, Vater und Mutter gerade ins Gesicht zu sehen. Wenn einer länger mit ihr redete, begann sie zu zittern. Ihre Hände waren feucht, ihre Lippen trocken und aufgesprungen, ihre Augen gerötet. Sie konnte in keiner Nacht mehr schlafen; die Finsternis nahm eine purpurne Färbung für sie an, so daß es wie ein Vorhang vor ihren Blicken lag, undurchdringlich und beängstigend. Oft bevor noch der Tag anbrach, erhob sie sich vom Lager und schleppte sich hinauf in die Bodenkammer, um in irgend einer Luke zu kauern und starren Blickes zu brüten, stundenlang. Oder sie stieg in den Keller hinab, wo es sehr kühl war. Aber sie freute sich, wenn sie fror; sie wünschte zu frieren, wünschte zu leiden, denn ein äußerer Schmerz verlieh dem inneren Milderung. Am Sabbat nach der Schule kamen die Weiber zu ihr; aber sie war so sehr bedrückt, daß sie vor den Besucherinnen in lautes Weinen ausbrach. Sie rang die Hände, stöhnte, warf sich zu Boden, fletschte die Zähne, und murmelte Worte ohne Sinn und Klang. Das war ein sehenswertes Schauspiel für die Weiber, eine Bestätigung des Wunders, das mit dieser Jungfrau vorgegangen. Sie brachten Geschenke, doch das Mädchen warf sie ihnen vor die Füße und schalt und drohte ganz fassungslos. Auch viele Männer kamen: Thurathara, Wolf Batsch, Seligman Schrenz, Seligman Rumpel, Hirsch und Herz, die Rumpeln, Wolf Bieresel, Joel und David, die Bieresel, Maier Anschel und Itzik Gänßhenker, ja sogar Moses Bock aus Würzburg und Michael bar Abraham aus Markt Erlbach. So schnell hatte sich die Kunde im Lande verbreitet. Alle brachten sie Geschenke: Güldene Schleier oder Sternlein oder durchgezogene Sternlein oder Umhänge von Drapd’or oder gestickte von Gold, von goldenen oder silbernen Blumen, Kleider von Sammet mit einer Blumenbordüre, einen Mantel von Damast, verbrämte Schuhe oder Pantoffeln von gutem oder schlechtem Gold, oder von Bändern oder von schwarzem oder gefärbtem Leder, Kartelsteine oder andere Gehänge, auch Hand- und Leibschnallen, güldene Gürtel und einen Gürtel von Gold, der mit Diamanten besetzt war, Ringe und Ohrgehänge, Handschuhe von Pelz und Halstücher bis auf zwei Gülden Wert.
Das waren festliche Tage für Maier Knöcker, den Nathan. Mit zitternden Händen tastete er über den Reichtum; nahm die Tücher, faltete sie wieder zusammen, liebkoste die Schuhe und Ringe, legte die Gehänge um seinen Hals und stolzierte im Zimmer damit auf und ab; auch stellte er sich damit vor einen Spiegel, machte Bücklinge, schnitt lächerliche Grimassen und ging dem finsteren Schicksal mit kindischer Heiterkeit entgegen.
Am Tag Dionysius war die Luft so klar, daß man die Kirchenglocken von Nürnberg vernahm. Ein gelber Schimmer lag auf den Wiesen und der Himmel war mit weißen, feinen, runden Wölkchen marmoriert. Ein Zug jüdischer Spielleute, die von der Domprobstei Bamberg verwiesen worden waren, brachte die Nachricht, der Messias sei von Smyrna aufgebrochen und käme nach Deutschland, die Gläubigen um sich zu versammeln und an ihrer Spitze ins heilige Land zu ziehen.
Als Rahel dies vernahm, erwachte sie aus ihrer langen Apathie. In ihr war nur ein Gedanke: daß sie fort sollte aus dem Land, wo der Geliebte wohnte; denn in ihrer heißen und erregten Phantasie war ein Gerücht schon einem Geschehnis gleich. Mit glühenden Augen eilte sie auf die Gassen; niemand beachtete sie heute. Viele schienen in einer Tollheit befangen, wie eine Schar Verschmachtender, denen man feurigen Wein gegeben hat. Kein Ritus wurde mehr beachtet, weder das Abend-, noch das Morgenminjan, weder der Socher, noch der Bund der Beschneidung. Über den Lilienplatz lief ein junger Mensch mit nacktem Oberkörper; er hatte sich auf die Brust die Worte gemalt: wir empfahen was unsere Thaten wert sind; wir leiden Pein in heißen Flammen. Der Schmuel, der Richter der Gemeinde, ein Mann von siebzig Jahren, der Tag und Nacht den Talmud studiert, hatte sich im Schulhof bis an den Hals in Erde eingegraben, und sein Leib war beinahe erstarrt. In hebräischen Worten schrie er leidenschaftlich das Lob des Messias und viele Menschen standen bleich und andächtig um ihn her. Rahel eilte hinaus zum Schießanger, wo noch von der Kirchweih die Wagen der Zigeuner standen, und dann lief sie hinüber zum Schwedenstein, wo sie kraftlos ins Gras sank. Sie hörte die Zigeuner schreien in ihrem Rotwälsch und sah sie gestikulieren, trotz des Nebels, der über der Landschaft lag. Der Schulklopfer und der Totengräber liefen an der Kapelle vorbei, aber sie nahm es nicht wahr. Ihr war zu Mut, als läge sie schon tagelang hier, ohne Sinn für die Flucht der Zeit und als müsse sie noch tagelang und wochenlang hier kauern, unfähig zu begreifen, was in ihr vorging. Der Himmel bedeckte sich mit Wolken und ein feiner Perlenregen fiel. Eine dieser Wolken, die heraufzogen vom Vestner-Wald, hatte die Gestalt und die Züge des jungen Studenten, den sie liebte. Sie sah es genau: die Wolke trug einen schwarzen Bart, der zierlich um Kinn und Wangen stand und kokett zugespitzt war. Sie sah auch den kleinen Mund und die kleine Nase und die unsteten Augen. Und dann stand er plötzlich bei ihr, Thomas Peter Hummel, und ihr war, als könne sie seine Hand fassen. Er sprach ihr zu, fein und schnell und geschickt und wenn er überzeugte, war es nicht in dem, was er sagte, sondern in seiner Stimme, in seiner gewandten, schlangenhaften Art, in seiner heiteren Geschwätzigkeit. Er wählte seine Worte wie ein scharfer Politiker und spielte taschenspielerhaft mit Gefühlen. Aber wie es in der Welt geht, sie liebte ihn.
Ein Mann und ein Weib kamen vom Anger her. Ihr gemächlicher Schritt zeigte, daß sie den Regen nicht achteten. Rahel erkannte Zacharias Naar und jenes schlanke Mädchen, das sie bei den Schaustellungen am Schießanger gesehen hatte. Sie war schön. Man muß die Augen zumachen, wenn man sie sieht, dachte Rahel. Sie war blaß und krank, wie verzehrt von einer geheimen Sehnsucht. Jede Linie an ihrem Körper hatte etwas Leidendes und die Form ihres Mundes verriet Geduld und Lieblichkeit. Dennoch war etwas an ihr, das all dies Lügen strafte, vielleicht in der Heftigkeit und dem Trotz ihrer Augen. Bald verschwanden sie an der Biegung des Wiesenwegs. Rahel blickte starr in die leise dämmernde Landschaft hinein und war froh, daß sie nicht gesehen worden war. Sie fühlte nicht Kraft genug, wieder nach Hause zu gehen und fürchtete, die einbrechende Nacht könne sie noch immer hier finden. Sie erschien sich ausgestoßen und verfolgt; verurteilt, für sich allein Schmach, Bedrückung, Ruhelosigkeit und Heimatlosigkeit zu ertragen; sie wollte nicht mehr heimkehren. Sie haßte Vater und Mutter, haßte die bleichen, gebetseifrigen, jüdischen Männer, ihre gefräßigen, schwatzhaften Weiber, die altklugen Knaben, die frühreifen Mädchen, die kindischen, fanatischen Greise: alle schienen ihr verächtlich und unrein. Doch wohin sollte sie gehen, wenn nicht nach Hause; sie dachte, endlos ist die Welt und für ein Judenmädchen giebt es kein Erbarmen und keine Unterkunft. Jeder Christenknecht, selbst ein Räuber darf sie stoßen mit seinen Füßen. Schließlich stechen sie dir gar noch die Augen aus, wenn sie es für gut finden, und dann mußt du verhungern. Sie glaubte nicht an diesen Messias, sie verachtete seine Prophezeiungen, vielleicht nur deshalb, weil es ihr gelungen war, durch einen plumpen Betrug alle, die um sie herum waren, völlig zu täuschen.
Während sie so sann und dabei in den westlichen Himmel sah, teilten sich dort die Wolken, und auf einmal warf die untergehende Sonne eine Flut schwefelgelben Lichtes über das ganze Firmament. Bäume, Steine, Wiesen, das Wasser, der Wald, die Häuser in der Ferne, die Kirchtürme, ja die Luft selbst schien ganz dick von diesem Gelb zu sein. Da lächelte Rahel und die Spannung ihrer Seele löste sich. Ein tiefer Frieden erfüllte sie, und sie schloß träumend die Augen.
Ein Bauer kam über das Feld geschritten, der seinen Kopf mit einem Sack verhüllt hatte. Er sah das Judenmädchen am Boden kauern und war so erschrocken durch den Anblick, den sie bot, daß er sich bekreuzigte und spornstreichs gegen die Häuser des Orts rannte. Eine Schar von Juden kam ihm entgegen, die zum Schwedenstein wollte, um das Grabmal des Joseph Gabriel, des Naphtali Sohn, mit Gewalt fortzunehmen, nachdem die Familie beim Schultheiß und beim Friedensrichter mit ihren Bitten abgewiesen worden war. Der Bauer aus Ronhof oder Poppenreut, dessen eines Auge erblindet war, machte den Juden die Mitteilung, daß er eine Hexe am Schwedenstein gesehen habe. Aber jene erkannten schon von weitem die Tochter des Knöckers, und einer lief zurück, um den Maier Nathan zu holen. Der Ronhofer Bauer hatte schnell erhorcht, daß die Juden den Schwedenstein berauben wollten; er schwang drohend den Arm, lief fort und alarmierte einen Hornmacher, einen Schneider, einen Goldplätter und zwei Metzger- oder Schlächterburschen, die in der Nähe des Schießangers ihre Verrichtung hatten. Als Maier Knöcker bleich und atemlos aus der Fischergasse kam, stürzten sich Hornschuch, der Kammacher und Federlein, der Schneider, voll Wut auf ihn, während ein paar ganz verdorrte alte Weiber aus dem Erdgeschoß eines grünen Hauses herauskeiften und ihren Haß gegen das Jüdengesindel nicht zu zügeln vermochten. Die andern Helden rannten mit dem Ronhofer Bauern zum Schwedenstein und freuten sich baß auf die bevorstehende Prügelei; im Laufen verteilten sie die Opfer unter sich und rechneten aus, daß jeder etwa drei Juden zum Prügeln bekommen würde.
Es war dunkel geworden: ein sanfter, milder Abend wider alle Erwartung. Die Sterne blinkten hervor unter den Wolkentüchern; auch der volle Mond stieg im Osten herauf, gerade über den Türmen Nürnbergs. Ein olivenfarbenes Licht ging von ihm aus, während im Westen das finstere Rot und das bronzene Gold allmählich verblaßten. Wer sich niederließ auf die Kniee oder sich platt auf den Leib legte und aufmerksam hineinsah in das weite ebene Land, konnte glauben, daß die Erde Atem schöpfe, wie ein Mensch, daß das melancholische Frankenland gleichsam die Brust der Erde sei, die sich auf und nieder bewegte in ruhigem Rhythmus.
Kaum waren die händelsüchtigen Burschen am Schwedenstein angekommen, als sie erstaunt und bestürzt stillstanden. Der Schelomo Schneiors, der Bürgermeister der Juden, hatte sich seiner Kleider entledigt, und mit einer kurzen Geißel, die fast wie eine Pritsche aussah, schlug er wütend auf seinen Körper los. Sein Gesicht war so verzerrt, daß es einen widerlichen Anblick bot, und seine dicken, blutroten Lippen schoben sich Gebete murmelnd hin und her. Sein Körper zuckte vor Schmerz, und die Rippen quollen förmlich heraus unter der magern, verwundeten Haut. Die andern Juden standen totenbleich rings um ihn her wie Scharwächter und beugten taktmäßig das Knie. Behrman der Levit rief mit einer Stimme, die schrill und unheimlich hinausscholl in den friedlichen Abend der Felder, eine kabbalistische Anrufung: Der König Messias wird erscheinen, und ein auf der Morgenseite befindlicher Stern wird sieben Sterne von der Mitternachtsseite verschlingen, und eine schwarze Feuersäule wird vom Himmel herabhangen sechzig Tage lang. Alsdann werden alle Völker zusammentreten gegen die Sprößlinge Jakobs, und eine große Finsternis wird in der Welt sein, fünfzehn Tage lang.
Mit einem irren Schrei stürzte Maier Nathan, den seine Feinde nun endlich losgelassen hatten, in den Kreis, ergriff Rahels Kopf mit beiden Händen, streichelte sie und fragte mit Todesangst in der Stimme, warum sie fort sei, ob sie krank sei, ob sie traurig sei. Rahel schüttelte nur den Kopf.
Der Schneider Federlein und der Hornmacher hatten ihren Mut eingebüßt und unverrichteter Sache zogen sie mit den andern davon; sie schickten den Ronhofer Bauern zu Herrn Pfarrer Wagenseil, damit er Bericht gebe und sie wegen des Schwedensteins keinerlei Verschulden treffe. Die beiden Schlächterburschen und der Goldplätter, die alle drei sehr gedrückt schienen, wünschten alsbald eine geruhsame Nacht und der Schneider und Herr Hornschuch gingen allein weiter. Am Gänsgraben kam ihnen ein Leiterwagen entgegen, dessen Fuhrmann dem Hornmacher bekannt war, und nun teilte jeder dem andern seine Gedanken mit. Der Fuhrmann wußte befremdliche Dinge zu sagen von Himmelszeichen und vom nahen Ende der Welt. Es sei gut, meinte er, daß man in Nürnberg keine Juden habe, denn dort seien die Bürgersleute noch halbwegs zu vernünftigen Dingen zu gebrauchen. Und er erzählte beiläufig, daß er am Juden-Bühel in Nürnberg einen großen Stein gesehen habe mit der Inschrift:
Der Stein ist nach den Juden blieben
Als sie von Nürnberg wurden vertrieben
In Wolfgang Eysen Haus, das ist wahr
Im vierzehnhundertneunundneunzigsten Jahr.
Allmählich, wie der Mond höher stieg, wurden die Gassen mondhell. Herüber von den Wäldern der Veste wogten die schweren Dünste des Herbstes. Die Blätter der Bäume, ein wenig regenfeucht, schimmerten silbern und zitterten leise im Abendwind.
Fast alle Fenster in den Häusern waren erleuchtet. Die Juden schienen heute ein dreifaches Licht zu brennen, und die Christen hatten offenbar den unbestimmten Trieb, wachsam zu sein. Uralte Prophezeiungen schienen auf dem Wege der Erfüllung, und die Schwülnis, die vom Orient herkam, war viel drückender als einst vor sechzehnhundert Jahren, da man Jesus Christus gekreuzigt hatte.
Junge, jüdische Mädchen liefen in den Gassen umher, mit aufgelösten Haaren; manche hatten die Brust entblößt und ihre Augen glänzten wie von übermäßigem Weingenuß. Knaben saßen in Gruppen vor den Thüren und sangen Psalmen und Hymnen an den Messias. In den Zimmern hatten sich die Greise versammelt und gaben sich mit tiefer Inbrunst dem Studium der Kabbala hin. Da erhob sich z. B. in einem Haus am Kohlmarkt der neunzigjährige Chajim Chaim Rappaport und sprach: „Wäre er es nicht, der die Schmerzen von Israel über sich nähme, wahrlich kein Mensch wäre es zu erdulden imstande. Unsere Krankheiten wird er tragen und alle Übel und Schmerzen nimmt er ab von der Welt.“ Dann verkündete er, Sabbatai Zewi habe den vierbuchstabigen Gottesnamen auszusprechen gewagt und der Türke Murad Effendi sei dadurch bekehrt worden.
Im Hause des Ober-Rabbi hatten sich fünfzig Männer und Frauen zu einem Mahl versammelt. Je weiter der Abend vorschritt, je ungezügelter wurde der Freudenrausch, je heißer wurden die Köpfe vom Wein, vom Spiel, von Erregung seltsamer Art. Viele tanzten sinnlose Tänze in dem Betsaal des Ober-Rabbi und warfen die silbernen Becher in die Luft und viele, die später kamen, knieten hin und schrieen mit heiserer Stimme Gebete. Der Rabbi selbst war es, der zuerst die Kleider von sich warf und dann der jungen, schönen Esther Fränkel das Gewand vom Leibe zerrte. Ihre Lippen küßten sich, wie zwei Ertrinkende hielten sie sich umschlungen und nahezu nackt schwangen sie sich in einem orgiastischen Tanz umher. Andere folgten bald dem Beispiel; überall erhoben sich bleiche Gesichter von der Tafel, glühende Augen starrten fassungslos in die kommende Welt der Erlösungen hinein und nackt zu sein schien als der Gottheit lautester Preis zu gelten: gerade wie wenn ein scheuer Sklave plötzlich die Freiheit empfängt und in wilder Zügellosigkeit sich selbst zerfleischt und seine eigene Habe zerstört. Männer, die schon an der Schwelle des Greisentums standen, gebärdeten sich wie Faune. Weiber mit grauen Haaren gaben sich einem Taumel hin, der ihnen selbst fremd und beklagenswert erscheinen mochte. Die Thelsela Knöcker trank fast ohne auszusetzen schweren Burgunderwein, lallte mit kindischer Stimme hebräische Worte von der Messiasbraut, bis sie besinnungslos zu Boden sank. Es waren junge Mädchen da, die sich einer tollen, rasenden Liebesgier überließen, gleichsam als wollten sie damit lange Jahre der Entbehrungen in ihrem Gedächtnis verwischen. Manche sahen aus wie Furien, die lechzend von Lust zu Lust wankten und schamlos hineinstürzten in finstere Laster. Geschrei, Ächzen und schrilles Johlen herrschte, eine scheußliche Musik, ausgeübt von fünf betrunkenen Spielleuten. Dazwischen erhob sich ein düsterer Gebetskanon, den drei oder vier Männer in einer dunkelen Ecke hersagten, oder ein fanatischer Schrei um Erlösung, der von einem fernen Haus in einer fernen Gasse erwidert wurde. Michel Chased, der Chassan, hatte die Gesetzrolle von der Schule geholt und tanzte damit umher wie mit einer Geliebten; er trieb eine lächerliche und furchtbare Unzucht mit ihr, und als er keuchend, die anderen gleichsam um Atem bettelnd, zu Ende war, bohrte er eine lange stählerne Nadel tief in den Oberarm, daß sein dunkelrotes Blut auf die Gesetzrolle und auf den Boden rann. Boruchs Klöß, Wolf Batsch und die Rumpeln knieten hin und leckten und schlürften winselnd das halbgeronnene Blut, indes der Chassan bleich und steif in die Arme seines Sohnes sank. Zwei junge Leute sahen für kurze Zeit den rotbärtigen Zacharias Naar durch den Raum gehen, beschwörend die Hände heben und wieder verschwinden. Ja, der alte Thurathara, dessen gerötete Augen stets wie aus einem dünnen Spalt hervorblinzten, behauptete, jener habe ein wunderschönes, blasses Kind auf den Armen getragen und lächelnd und heiter habe das goldlockige Geschöpf in das schreckliche Treiben geschaut. Der alte Seligman Schrenz wollte die Blöße seiner Tochter bedecken, wollte sie mit seinem Mantel umhüllen; aber jauchzend, mit halbgeöffneten Lippen lief die feine Noemi davon, warf sich in die Arme ihrer Freundin, der Schwester des Schulklopfers, und die beiden Mädchen küßten sich, warfen sich zu Boden und drückten ihre fieberheißen Körper dicht aneinander.
Und ein Haus weiter lag der Maier Lambden mit seiner Familie auf den Dielen; denn sie schliefen nicht mehr in Betten. Bei Tage hüllten sie sich in Tücher von grobem Stoff und hörten nicht auf, zu beten. Es gab Männer, die sich des Schlafes gänzlich enthielten und sich Tag und Nacht mit dem Studium des Gesetzes befaßten, denn durch die Tikkunim in der Mitternachtsstunde wurden die Sünden verwischt. Maier Wolf, genannt der Fünkler, und sein Bruder Samuel Fünkler gingen des Morgens bei dem kühlen Herbstwetter hinaus und badeten im Fluß, um ihren Leib zu reinigen. So stieg und stieg die Erregung der Gemüter, und es war bald ein gewöhnlicher Anblick, wenn einer nackend durch die Gassen taumelte und sich geißelte, bis sein Körper über und über mit Blut bedeckt war.
Als am Freitag Serapion die Glocke die zehnte Abendstunde schlug, kam die Familie des Gabriel, des Naphtali Sohn auf dem Lilienplatz zusammen und vier junge Männer trugen den Grabstein vom Schwedendenkmal. Es war eine Menge von Menschen dabei: Frauen und Kinder, die sich mit heiteren Tüchern geschmückt hatten und Freudengebete sangen. Auch viele Männer hatten sich eingefunden. Im langsamen, schmalen Zug schritten sie dem Gottesacker zu, an der Spitze die vier mit dem Stein, der mit goldbestickter Sammetschärpe umwunden war. Dazu lugte der Mond über das Dach der Michaeliskirche und es war, als müsse man überall erst die feinen Nebel zerreißen, bevor man hineingehen konnte in die blaue Nacht. Über dem Fluß, weit hinunter bis an ferne Waldgrenzen lag der Dunst, gleich einem weißen Gewölbe, oder wie die lange Säulenhalle eines Schlosses. Rote, dumpfe Flecken, wachte dort und da ein rätselhaftes Licht. Das Wasser rauschte in den Frieden, und nichts Bewegtes war zu sehen, außer den lichten, fast blendenden Wolken am Himmel und dem jüdischen Zug an der Straße.
Da sie sich den Mauern des Bes Chajim näherten, kam aus dem weitgeöffneten Thor ein Weib mit aufgelösten Haaren gelaufen und stammelte, oft unterbrochen durch staunende, erschreckte Ausrufe der Zuhörer, ein Geist schwebe über die Gräber und singe wunderbare Weisen und rufe: Messias, o Messias, o Sabbatai, Stern der Höhe! Alle blickten angestrengt hinüber. Der Gräberort lag ausgebreitet an einer Hügelsenkung und die zahllosen Grabsteine gaben ihm ein phantastisch zerklüftetes Aussehen. Darüber hinaus die nebelschimmernde Ebene, baumlos, häuserlos, einem Meer ähnlich, darin einsame Dörfer wie Toteninseln lagen.
Die Juden bemerkten nichts von dem gemeldeten Geist, überwanden ihre natürliche Furchtsamkeit und schritten ängstlich und zaudernd durch das Thor. Vorsichtig zogen sie den breiten Hauptweg entlang, immer spähend, zum Grab des Joseph Gabriel. Am mutigsten waren die Knaben; sie sangen ein Lied vom Stolze Zions, und ihre köstlichen frischen Stimmen erfüllten die Nacht gleichsam mit Heiterkeit.
Das Grab lag an der westlichen Mauer, die hart an den Schindanger der Christen stieß, und wo auch die verurteilten Verbrecher hingerichtet wurden. Deutlich war die alte Veste mit ihrem düstern Wald sichtbar und ein leiser, flötender Hornruf klang herein. Der Totengräber kam und Änsel Steinblaser trat als Vorbeter heraus, um die im Schulchan Aruch vorgeschriebenen Gebete zu sagen. Aber er fing nicht an; Minuten vergingen und weil die hinten Stehenden sein Gesicht nicht sehen konnten, drängten sie sich gierig vor. Einige verwünschten schon die Furcht vor den Christen, die sie veranlaßt hatte, die Ceremonie zur Nachtzeit vorzunehmen, und viele Weiber schlossen die Augen, um nichts sehen zu müssen. Als aber Obadia Änsel noch immer keinen Laut von sich gab, näherten sie sich ihm, so dicht sie konnten, und nun sahen sie, daß er mit aufgerissenen Augen und mit leichenfahlem Gesicht beständig nach einem Punkt starrte. Sie folgten seinem Blick und sahen eine weibliche Gestalt bei einem Weidenbusch mitten unter den Steinen stehen. Die Stille tödlichen Schreckens entstand, als ob alle auf einmal zu atmen aufgehört hätten; leise und eindringlich erscholl eine Mädchenstimme von dorther, – eine Melodie in einem fremden Rhythmus und einer fremden Sprache. Elkan Hirsch, der Totengräber und Rabbi Seligman in der Clauß waren die mutigsten, und da es doch eine menschliche Stimme war, die sie vernahmen, so folgten schließlich auch die anderen Männer, dann die Kinder und zuletzt die Frauen.
Niemand erkannte Zirle in dem jungen Mädchen. Wer sie auch vorher bei den Zigeunern gesehen hatte, würde sie nicht wiedererkannt haben. Nur mit einem Hemd bekleidet stand sie da und schien doch nicht zu frieren. Wer sie so sah, mußte im Innern jedes Leiden mitfühlen, das sie bedrückte. Aber es war etwas listiges in ihrem Schmerz und etwas begehrliches in ihren klagenden Augen. Sie hatte eine lange, schmale Hand mit vielen Fältchen, mit überraschenden Bewegungen; oft scheint die ganze Seele in den Formen einer Frauenhand zu liegen.
„Ich habe nichts“, sagte das Mädchen, „ihr könnt mit mir thun, was ihr wollt. Laßt mich nur hier.“
„Vielleicht liegt deine Mutter begraben hier?“ forschte Elkan Fränkel. Ein junges Weib bot ihr einen schwarzen, englischen Shawl an, aber Zirle wies ihn schweigend zurück.
„Hört nur, was ich euch erzählen will“, flüsterte das Mädchen und flüchtige Schauer überliefen sie, während sich alle dicht herandrängten. „Ich bin im Kloster gewesen. Die Nonnen haben mich gelehrt, an Jesus Christus zu glauben. Was ich als Kind war, ist vergangen gewesen, denn das war in Polen, müßt ihr wissen. Ich denke jetzt so genau daran. Die Christen, so viel es gab im ganzen Land, sind hergefallen über uns, und die Gassen waren voll Blut. Unser weißes Tischzeug war voll Blut und die Betten. Mein Vater und meine Mutter und die zwei Brüder und die zwei Schwestern sind alle totgeschlagen worden. In der Nacht haben sie die Häuser verbrannt. Viele, viele Frauen und junge Mädchen haben sie in den Tempel gesperrt und haben Feuer daran gelegt. Ach was für ein Wimmern und Schreien! Und überall in Polen war es so. Ich habe mich versteckt in einem Stall, wo lauter Schweine und Schafe waren. Ich habe nimmer gewußt, ob es Tag oder Nacht war, habe Hunger gehabt und bin gelegen, wie viel Tage weiß ich nicht. Wie ich fort bin, barfuß, habe ich mich blutig gestoßen an den Steinen. Dann haben sie mich im Kloster aufgenommen. Die Zeit verging. Aber wenn ich auch Christengebete sagte, vergaß ich doch nichts. Es war immer, wie wenn ich meine Geschwister tot sähe. Auch den Garten sah ich und die Lichter beim Chanukafest und am Neujahrstag und wie wir an den Fluß gingen, um unsere Sünden ins Wasser zu werfen. Freilich war es immer wie ein Traum und wie ich eines Tages fort bin, weiß ich gar nicht und wie ich zu Zigeunern kam. Oft habe ich fremde Stimmen gehört, auch wenn ich ganz allein war in der Nacht. Ein Bräutigam wartet auf dich, rief es oft, er breitet seine Arme aus und erwartet dich. Er ist mehr noch wie Jesus Christus, er ist selbst Gott. Und eine andere Stimme rief mich Melliselde mit flutendem Haar, Kaiserstochter, Messiasbraut.
„Gestern, seht ihr, gestern kam mein Vater zu mir im Schlaf. Er sagte, Gott hat dich zur Braut des Sabbatai bestimmt. Du sollst ihm entgegengehen, denn er ist der Stern, der aufgegangen ist aus Jakob, wie es in der Bibel steht. Dann war ich den ganzen Tag darauf voll Angst und konnte nicht Ruhe finden. Und heute lag ich, da kam wieder der Geist meines Vaters und faßte mich mit seinen Händen an und trug mich hierher.“
Sie streifte das Hemd zurück und zeigte Nägelspuren an ihrem Leib, wo die Hand des Vaters sie gepackt hatte. Oberhalb der rechten Brust und an der linken Hüfte waren blutige Schrammen.
Ein langes Schweigen entstand. Eine sonderbare Scheu hielt sie ab, das junge Mädchen anzureden. Stille Schwärmerei, fanatische Gläubigkeit, geheimnisvolle Extase und die Taumel der Bacchanterei, das alles hatten sie gesehen oder gefühlt. Aber das offenbare Wunder, so dicht vor ihren Augen, machte sie verdutzt und voll Angst.
Eine schwarze Menge tauchte in der Richtung des Thores auf und kam mit dumpfem, unruhigem Gemurmel näher. Am Leichenhaus zündeten sie Fackeln an, die einen blutigen Glanz über die Gesichter warfen, und deren Rauch die Mondscheibe verdüsterte. Von der Senkung des Hügels kam Zacharias Naar herauf, nahm Zirle bei der Hand und sagte laut und vernehmlich: „Führe sie, Tochter Zions! Alle, die da kommen, werden sich dir beugen.“
In den Gassen des Hofmarkts war die Nacht zum Tag geworden. Überall standen aufgeregte Leute. Von Ottensoos, Schnaittach, Unterfarrnbach und Hüttenbach waren die Juden hereingekommen. Niemand wußte, wie sich das Gerücht so schnell verbreitet hatte, zu Fürth habe sich Außerordentliches auf dem Gottesacker begeben, schier jede Stunde sei unerschöpflich an neuen Geschehnissen. Zwei Juden, Samuel Ermreuther und Nachman Sandel Mahler, markgräfischer Schulklopfer, hatten große kostbare Teppiche auf der Straße ausgebreitet und sie mit Blumen bestreut: Rosen, Levkojen, Nelken und Orchideen aus dem Treibhaus einer vornehmen Gärtnerei. Guirlanden hingen an den Fenstern, und goldene und silberne Leuchter standen auf den Simsen, ein wunderlicher Gegensatz zu den alten, halbverfallenen Häusern. Höher und höher, sturmflutgleich, stieg der Aufruhr der Gemüter. Da war ein kluger und vielgereister Jude, namens David Tischbeck, ein Bruderssohn des Wolf Bieresel; er erzählte, daß überall in deutschen, österreichischen, italienischen und spanischen Landen so ein wüster Taumel, so eine entsetzliche Verwirrung herrsche, daß niemand wisse, ob nicht sein Nachbar, sein Weib oder sein Kind in Wahnsinn verfallen sei. Es war, als sei die Luft selbst zu schwerem, betäubendem Wein geworden, und wer da atmete, wurde auch trunken. Keiner behielt Besonnenheit und Könige begannen für ihren Thron zu zittern.
Im ersten Schein des Frührots ging Zacharias Naar am Haus des Ober-Rabbi vorbei, wo noch die Lichter brannten. Erstickte, gequälte Rufe, wilde Schreie, leidenschaftliche Gebete, schmerzliches Stöhnen drangen heraus. Naar ging versonnen seinen Weg weiter, hinaus gegen Westen, wo die Häuser bald im Morgendunst verschwanden. Der hagere Mann mit seinem spitzen, düten-, oder kegelförmigen Hut, der nach der Vorschrift jener Zeit orangegelb mit weißem Rand war, schritt unter den tiefhängenden Ästen der Bäume dahin und die gelbgewordenen Blätter gerieten in leise Bewegung, wenn der Judenhut sie streifte. Zacharias Naar ließ sich unter einem Apfelbaum nieder und starrte ins Morgenrot. Die Ebene schien sich zu recken und zu dehnen, und der Schlaf flog auf von ihr in Gestalt der Raben und Krähen. Der Wanderer zog eine schwarze Tafel und einen Stift aus dem Gewand und mit träumerisch zaudernden Fingern formte er Buchstaben und Worte immer bestimmter und rascher. „Mein Mund ist schwer wie der Mund eines Mörders. Mein Geist schreit nach dir. Der blasse Morgen drückt deine zitternden Lider zu, da du kommst. Du liegst schon schlafen, und ich küsse im grünlichen Schein der Nachtwende dein Gewand. Kraft, Kühnheit, Stolz und Genugthuung sind nichts mehr vor dir. Soll ich lächelnd an den kommenden Tag denken, wenn du enteilst? Die Liebe schreitet jauchzend der Finsternis zu und verachtet den Regentag. Was ist im Himmel und auf Erden, außer der Liebe, Leib der Leiber und Schoß aller Schoße! Die heimliche Glut der Erdbrust wohnt in dir. Ich gehe durch die Dämmerung, wo die Wetter schlummern, in die jahrlose Einsamkeit der großen Ewigkeiten hinab. Ich gehe, Gott zu suchen.“ Hastig fuhr der Stift wieder über das Geschriebene und machte es unleserlich. Dann wischte Naar alles mit feuchten Gräsern wieder aus und schaute mit bitterem Mund hinaus ins Land, über dem die Sonne kam. Zum zweitenmal nahm er den Stift und schrieb bedächtig, bei jedem Zug den Stift gleichsam in die Tafel eingrabend: „Ist ein Gott in diesem leeren All? Ich will ihm schreien, ich will ihm die Glut meiner Seele opfern. Ist ein Gott, daß er die Unbill räche, die Kränkung des Stolzes, daß er den Höfling demütige? Ist ein barmherziger Vater, der das Feuer stillt, wenn es des Armen Dach beleckt? Der den Schläfer auf nackter Erde bewahrt, dem frierenden Hund eine Hütte giebt? Ich rufe dich, Ewiger und deine Welten verneinen dich, deine Sonnen verleugnen dich. Ich suchte dich und nirgends fand ich dich. Die Himmel sind echolos, wenn ich dich rufe, schweigend starren die Wälder. Allein bin ich gegangen im Angesicht der schweren Nacht und die Dunkelheit war mein Mantel und meines Kummers Kleid; breit ist das Meer und tief, und maßlos dehnen sich die Himmel, aber du bist nicht. Jahrtausende verschwinden wie ein Lächeln und wer gut ist verdirbt und die Falschen und Treulosen werden zu Propheten. Aber laß es laufen, das Volk, laß es springen zu den Kammern des Todes. Wo bist du Gott? Bist du, wo das Jahr zeitlos ist, und die Unendlichkeiten zusammenschrumpfen wie Leichname? Bist du, wo die Sonne aus dem Westen steigt und der Mond aus Brunnen strahlt? Bist du beim Gastmahl der Toten und hast du den neuen Morgen der Welten verschlafen? Ach wo lauf ich hin? Der Himmel ist nur in mir. Wo ist Raum für meine Seele?“
Als er fertig war, zerschmetterte Zacharias Naar die Tafel am Baumstamm und streute die Trümmer in alle Winde. Dann erhob er sich und ging den Häusern zu.
Im Schindelhof begegnete ihm ein Zug jüdischer Männer und Frauen mit Kerzen in den Händen. Vier Jungfrauen trugen einen Purpurbaldachin, unter dem ein Knabe und ein Mädchen trippelten, beide noch Kinder. Sie sollten einander vermählt werden, denn es war der Glaube jener Zeit, dadurch den Rest der noch ungeborenen Seelen in die Leiblichkeit eingehen zu lassen und so das letzte Hindernis zum Eintreffen des Gottesreiches zu beseitigen. Die Kinder, deren Name Benjamin und Eva war hielten sich fest an den Händen, und ihre Augen standen voll Thränen; wenn sie sich einander anschauten, so geschah es immer gleichzeitig, und sie lächelten dabei ein wenig schwermütig wie solche Kinder, denen eine Strafe bevorsteht, der sie nicht entrinnen können und die sie auch nicht verdient haben. „Warum sie nur Kerzen tragen,“ sagte der kleine Benjamin. – „Das gehört zum Heiraten“ erwiderte Eva. „Ich bin übrigens froh,“ fügte sie sinnend hinzu, „ich habe mir schon lange gewünscht, zu heiraten; alle sind sie so abscheulich zu mir.“ – „Alle Mädchen und Buben werden verheiratet,“ flüsterte der Knabe zurück. „Im Schulhof warten sie auf uns.“ – Plötzlich bedeckte sich Evas Gesicht mit einer glühenden Röte. Die feine Noemi kam mit ihrer Freundin völlig nackt die Gasse einhergelaufen und trotz der frischen Herbstmorgenluft schienen ihre Körper heiß zu sein von Tanz und Ausschweifungen. Wie besinnungslos, doch graziös wie Gazellen liefen sie dahin und in jeder Bewegung war etwas Überschwengliches und in jedem Laut den sie von sich gaben, etwas Bacchantisches. Die kleine Eva wußte sich nicht zu helfen vor Scham, und in heller Verzweiflung schlang sie einen Arm um den Hals des Knaben, und mit der freien Hand bedeckte sie seine Augen.
Der sonderbare Brautzug kam in ein buntes Gewühle. Über den Gärtnerplatz ging eine Kinderprozession und jedes Kind trug einen schweren Teller südländischer Früchte, oder Schalen mit Wein oder Backwerk. Das war für die Hungrigen bestimmt, im Namen des Messias. In diesen Tagen des Wahnsinns ging auch kein Christ im weiten Umkreis seinen Geschäften nach, und keiner, wie mächtig er auch sein mochte, versuchte den leidenschaftlichen Brand, der unter dem verachteten und verhaßten Judenvolke ausgebrochen war, zu dämpfen, oder gar zu verspotten. Hebräische Melodien klangen aus vielen Häusern und belebten die Seelen der Zagen und Blutlosen. Fremde Musikanten kamen des Wegs, (es wußte niemand woher), und spielten auf Instrumenten, die man vorher gar nicht gesehen. Alles war zauberisch, überirdisch, aufregend und bestürzend.
Unerhörtes begab sich auf dem Platz vor dem Pfarrhof. Dort nahm ein junges und schönes Mädchen die symbolische Handlung vor, deren Deutung war, daß auch die Tiere eingehen sollten in das messianische Reich. Die Ceremonie geschah mit einem mächtigen Hunde und das junge Mädchen sang dabei wilde Lieder, oder sie schrie verzückt auf. Alle die dabei standen, waren wohl entsetzt oder erschüttert oder verwundert, aber sie empfanden es doch als einen religiösen Vorgang von tiefer Feier. Mit bleichen Wangen standen sie umher und zitterten vor Grauen. In der Synagoge blies man das Schofar, und es klang wie ein einsamer Weckruf hinein in alle Gassen, hinweg über alle Häuser, – wie ein Ruf aus den dunklen Tiefen der Kabbala. Eine Krone auf dem Haar, kam Zirle einher, mit einem Gefolge wie eine wahrhafte Königin. Wer sie sah, wurde völlig gebannt und glaubte an sie, wie an den neuen Erlöser selbst. Ein junger Christ, Namens Wagenseil, der Sohn des Pfarrers, folgte ihr wie behext auf Tritt und Schritt. Schließlich sang er das Lob des Sabbatai fast in dichterischen Worten und Zirle erhörte ihn, noch ehe der Tag zur Neige ging. Ihr Wesen war ohne Schüchternheit; sie hatte etwas Glänzendes in jeder Gebärde. Die Männer verloren alle Vernunft, wenn sie vor ihnen stand, und die Glorie der Messiasbraut gab ihrem Wort ein unwiderstehliches Gepräge. Sie kam zu den Fastenden und Betenden und richtete sie auf. Denn manche wälzten sich ja tagelang wie Würmer auf der Erde, enthielten sich jeglicher Nahrung, oder sie hockten regungslos in den feuchten Winkeln unterirdischer Gewölbe, hatten Visionen, „strahlende Nächte“, wie sie sagten, fromme Gesichte, widerstanden so allen Verlockungen des Satans und erfüllten zur Nachtzeit die Luft mit ihren Klageliedern. Ohne zu erlahmen studierten sie alle Bücher der Kabbala, alle Seiten des Talmud nach neuen und wunderbaren Deutungen; ihre Weiber, wenn sie nicht zu den Orgien gingen, ergaben sich oft einem grenzenlosen Fanatismus, stellten sich auf den Markt unter viele Leute und predigten, wie weiland Peter von Amiens mit hinreißender Beredsamkeit, stachelten zu nutzlosen Grausamkeiten und nutzlosen Versündigungen auf und fluchten den Christen mit bitteren Flüchen. Die Kinder, waren sie auch noch so klein, wurden sich selbst überlassen, viele Säuglinge schrieen umsonst nach der Mutterbrust und starben bald. Hunger und Überfluß, Prunk und Erbärmlichkeit reichten sich die Hände. Es fand kein regelmäßiger Gottesdienst mehr statt, und wenn man gemeinsam vor dem Altar betete, war es einer Schändung des alten Gottes gleich. Zigeuner zogen herum und vermehrten das Unheimliche und die Verwirrung. Der Papst und der Kaiser schickten wie in alle Städte, auch hierher Beamte und Abgesandte, die unverrichteter Sache wieder abziehen mußten. Die freie Stadt Nürnberg schickte einen Hauptmann mit fünfzig Reitern, aber den Hauptmann und seine Reiter sah man noch am selben Abend wüst johlend durch die Gassen taumeln. Am Fluß oben, gegen Buch zu, wohnte ein ehrwürdiger christlicher Mann von bedeutender Gelehrsamkeit. Er kannte gründlich die klassischen Sprachen und befaßte sich auch mit Astrologie und Alchymie. Viele Leute behaupteten, er habe den Stein der Weisen längst gefunden und ihn für einen unermeßlichen Schatz an den Großtürken abgegeben. Nun, er wurde befragt, was er von all dem Sturm und Aufruhr halte, und da sagte er: „Der Jüd ist ein tolles Tier. So ihr ihn aus dem Käfig laßt, frißt er euch auf mit Stumpf und Stiel. So er aber im Käfig ist, ist er zahm wie ein Hund. Viel Verstand hat der Jüd und er ist wie ein Blindschleich. So du ihn entzweihackst, kriechen zwei Blindschleichen hinweg.“
Niemals stand die Anarchie drohender über den Völkern, als zu dieser Zeit der Dämonie und der Ekstase. Als die Nachricht eintraf, die Juden von Frankfurt, von Worms und Mainz rüsteten sich zum Aufbruch nach Zion, entstand eine Erregung, die mit einer langen, inbrünstigen Andacht zu vergleichen war. Alle Sehnsucht hatte nun ein Ziel bekommen, und jeder wußte: auch ich werde dem Rufe des Propheten folgen.
An demselben Tage, dem Tage Allerseelen, lag Rahel in dumpfer Apathie auf einem Diwan und starrte gleichgültig durch das Fenster in den Abendhimmel. Das Haus war leer, die Schritte mochten darin nachhallen, und die Dielen knisterten oft von selbst. Rahel hatte die Mutter schon seit zwei Tagen nicht gesehen, und auch der Vater war seit dem Morgen fort gewesen. Niemand hatte sich in der letzten Zeit um sie gekümmert, und keine der jüdischen Frauen kam mehr, um stundenlang bei ihr zu sitzen. Aber darüber dachte sie nicht nach. Sie war froh, daß wieder die Nacht kam, wo man nicht so viel sehen mußte, und wo man vielleicht auch schlafen konnte.
Als es dunkel war, kam Maier Nathan nach Hause. Sein Wesen war verstört, und fortwährend brach er in kurzes meckerndes Lachen aus. Beim Schein eines Öllichts zählte er sein Geld nach und vergrub später einen Kasten mit Perlen und Schmucksachen im Hofe neben dem Brunnen. Erhitzt von der Arbeit, schnaufend und pustend kam er zurück und setzte sich neben seine Tochter hin, das Kinn auf den Griff des Spatens gestützt. Er seufzte, fuhr mit den Fingern in die Haare, schnitt Grimassen, sprang endlich auf, warf den Spaten heftig von sich, focht mit den Armen in der Luft umher und brach in ein glucksendes Weinen aus. Rahel rührte sich nicht. Sie war daran gewöhnt, seit Zirle gekommen war. „Schadai, Schadai voller Gnade!“ rief der Knöcker aus. „Ich hab die himmlische Stimme gehört, ich hab se doch ganz sicher gehört mit meinen Ohren. Der liebe Gott soll mich strafen, aber mein Rahelchen ist doch keine Hur!“ Er kniete vor Rahel hin, strich mit der Hand über ihr Haar und stammelte: „Du bist doch mein Rahelchen, mein gutes Jeleth, mein Engelchen. Mise meschinne über die Narren, daß se an die falsche Braut glauben. Sterben sollen se den Tod durch Aussatz.“ Und er erhob sich und rannte wie gepeitscht davon.
Die Nacht war schwer und stürmisch. Wilde Winde kamen von Süden, und draußen in der Ebene gurgelte es wie in einem Strudel. Der Mond grinste bisweilen fahl durch geborstene Wolken, und es war, als ob er selbst sie zerrissen hätte und sie nun aufgelöst dahinjagte, über die Flächen des Firmaments. Gegen Mitternacht kam ein Herbstgewitter. Flatternde, schwere, graue lichtsaugende Nebel fielen nieder, und die Blitze fuhren hinein mit einem süß-gelben Leuchten. Rahel sah zu, und ihr wurde bitter in der Kehle vor Grauen. Hinter dem Haus geriet der Hühnerstall in Aufruhr. Alles gackerte und gluckste durcheinander, und der Hahn krähte schmetternd; in der Ferne heulten die Hunde.
Rahel war müde. Was da draußen vorging in der Welt, sie kümmerte sich nicht darum. An nichts glaubte sie, mitten in einem Haufen von Wahnsinnigen blieb sie ruhig und nachdenklich. Doch hatte sie Furcht vor der Zukunft. Sie dachte: wenn sie alles erfahren, werden sie mich steinigen. Und was soll aus dem Kind werden? dachte sie. Gegen zwei Uhr, das Gewitter hatte sich verzogen, rief das Schofar die Juden in den Tempelhof. Zacharias Naar verlas einen Brief des Sabbatai an seine Braut Zirle, die er Zilla nannte. Es war ein feuriges und sinnlich überschwengliches Liebesgedicht, und es hieß zum Schluß, daß er sie samt ihrem Volk, den Lebenden und denen, welche von den Toten auferstehen würden am siebzehnten Tag des Monats Tamuz zu Salonichi empfangen würde. Darauf stellte Zacharias Naar drei Fragen an die schweigende Gemeinde: Ob sie mit Gut und Blut sich dem Messias ergeben wollten? ob sie die Mühen und Beschwerden der langen Wanderung nicht scheuen wollten? ob sie ohne Murren und Weigern die Göttlichkeit der Messiasbraut anerkennen und ihren Befehlen folgen wollten? Ein leises, bebendes Ja aus vielen hundert Kehlen antwortete. Dann trat Zirle in die Mitte des Kreises, hob ihre Arme verzückt zum Himmel, und ein leidenschaftlich erregtes Gebet ließ alle, die herumstanden, heiß werden vor Sehnsucht und Begierde nach dem Neuen, Großen, Wundervollen, das für sie bereit war. Noch wußten sie nichts, das ihnen Sicherheit gab, aber mehr war es, zu glauben und in zügelloser Begeisterung dem Kommenden zuzuleben. Jauchzend wollten sie ein Land verlassen, das nur Verachtung und unmenschliche Grausamkeit für sie gehabt hatte. Es schien leicht, alles hinter sich zu werfen, wenn im Osten die guten Triften der ererbten Wohnsitze lockten, wenn ein königlicher Prophet sie zum unverbrüchlichen Bunde rief. Das hier war kein Vaterland für sie und konnte es niemals werden, wie sich auch die Zeiten wandeln mochten.
Die Ältesten der Gemeinde erklärten sich zum Aufbruch bereit; noch am kommenden Tag sollte mit den Vorbereitungen begonnen werden. Als man auseinandergehen wollte, sprang Maier Knöcker, der Nathan plötzlich schreiend auf Zirle zu, packte sie bei den Haaren und riß sie zu Boden. Die andern Juden, entsetzt und empört, hätten ihn sicherlich in Stücke zerrissen, wenn nicht sein Weib, die Thelsela und die tugendsame Treinla, des Rabbi Man Ehewirtin, sich über ihn geworfen und flehentlich um sein Leben gebeten hätten.
Düster, gleich fernem Brandschein, zeigte sich der erste Streifen des Morgenrots und hoch oben in der Luft zogen Vögel mit kurzen, zirpenden Schreien dahin.
Als Maier Knöcker nach Haus kam, fand er seine Tochter schlafend. Aber es bedurfte nur einer leisen Berührung und sie erwachte. Ihr Blick war scheu, verstört und furchtsam. „Gebenscht, ich hab se zugericht,“ sagte der Nathan mit stumpfsinnigem Frohlocken. „Unbeschrien ich hab’r die Haare ausgerissen, der falschen Braut.“ Er sah seine Tochter lange durchdringend an, schüttelte bekümmert den Kopf und fragte dann die Thelsela, wie lang es noch dauern könne bis zu Rahels Niederkunft. Geistesabwesend erwiderte das arme Weib, sie wisse das nicht; jedenfalls aber noch vier bis sechs Wochen. Gegen Mittag kam der Ober-Rabbi mit finsterem Gesicht und fünf Älteste begleiteten ihn. In harten Worten stellte er den Knöcker zur Rede und gab schließlich Zweifel darüber zu erkennen, daß Maier Nathan wirklich eine himmlische Stimme gehört habe. Aber der Knöcker wurde darüber ganz fassungslos. Sein leidenschaftlicher Protest und die schwermütige Bestätigung der Thatsache durch die Thelsela stimmten den Rabbi milder und Chajim Chaim Rappaport meinte in seiner wohlwollenden Art, man könne ja doch das Ende der Schwangerschaft abwarten; auch sei es nicht ausgeschlossen, daß dem Messias zwei Bräute bestimmt seien, obwohl der Zacharias Naar ein Gegner dieser Ansicht sei.
Wenn Maier Knöcker sich auf den Gassen blicken ließ, sah er sich mit Mißtrauen beobachtet, und seine ehemaligen Freunde gingen ihm aus dem Weg. Nur die erregte, ameisenhafte Geschäftigkeit, die überall herrschte, schützte ihn vor Schlimmerem. Doch hatte er nirgends Rast. Ein wühlender Schmerz über die untergeordneten Zustände bedrückte ihn. Er suchte nach der Reihe seine Schuldner auf und keifte überall und drohte mit dem Landrichter. Dann eilte er wieder schnellen Laufs nach Hause, in die Kammern, zu seinen Kostbarkeiten und Pfandpapieren; seine übermäßig dicke und weit hervorstehende Unterlippe bewegte sich mechanisch in gehässigen Lauten. Da er sich so verachtet fand, nahm die Liebe zu den Schätzen zu, wie auch ein gewisses trotziges Vertrauen in die Mission seiner Tochter, und mit zorniger Ungeduld erwartete er die Ankunft der gottgeweihten Enkelin, überzeugt, daß es dabei an himmlischen und weit erkennbaren Zeichen nicht fehlen werde.
Änsel Obadja und Hutzel Davidla standen am Abend des 4. November tuschelnd unter einem Hausthor und gaben ihren Sorgen Ausdruck über die Vernachlässigung jeglichen Gottesdienstes. Es gab kein Mincha mehr, kein Schachreth, kein Maarith, wie die Gebete der Tageszeiten heißen. „Wenn es sich zuträgt, daß viele trinken werden,“ sagte Hutzel Davidla zitternd und seine Mausaugen schauten glitzernd gegen Himmel, „dann hat es unser Herrgott gewollt.“ Davidla gebrauchte das Wort ‚trinken‘ und meinte damit den Tod, denn die Juden redeten ungern vom Sterben, und schon im Talmud Ketuboth steht diese Redensart vom Trinken. Ein alter Chronist, der zu Fürth lebte, schreibt: Man frage nicht, warum sich dieses Volk allezeit so sehr für dem Tod entsetzet? Dies macht es, sie wissen nicht, wie sie dem künftigen Zorn entfliehen sollen. Das Sterben der Juden ist daher allezeit mit Furcht und Schrecken umgeben. Alle, alle müssen mit Entsetzen für den Dingen, die da kommen, aus der Welt scheiden.
Laubhüttenende, das Fest, das seit Jahrhunderten den süßen Zauber der Idylle über das jüdische Leben gebreitet hatte, war unbeachtet herangekommen und sah mitten hinein in den Taumel und Wirrwarr der kommenden großen Wanderung. Breite Lastwagen, die von Bauern draußen oder von Christen im Markt selbst erkauft worden waren, rumpelten ununterbrochen vor die Häuser der Juden. Die streitenden Stimmen der Fuhrleute mengten sich mit dem Gekeife der Weiber; Pferde, Esel und Rinder wurden mit vielem Lärm erhandelt; die Gassen lagen voll von zerbrochenem Hausrat, leeren Kisten, Kleiderfetzen und Leinwandfetzen, Stroh, Pergamenten und Spänen. Wenn Christen vorbeikamen, hatten sie ein finsteres und drohendes Gesicht und sahen aus, als ob sie die Mittel überlegten, um all diese Anstalten zu nichte zu machen.
Auf einer Kiste saß sinnend der kleine Benjamin und pendelte mit den Beinchen hin und her. Er dachte: wo nur die Eva ist? Ihm war so unwohnlich. In das Haus des Maier Lambden sah er durch die hohlen Fensterlöcher hinein; er sah Kasten auf Kasten getürmt, sah die Weiber mit weißen Tüchern um den Kopf hin- und hereilen, wie sie die Schränke leerten und das Geschirr verpackten, und er hörte das Silberzeug klirren und den Lärm von Hammer und Meißel. Und daneben stand das Haus des Samuel Ermreuther. Der ließ von seinen Söhnen das Dach abtragen, denn nichts sollte den Gojim verbleiben von seinem Gut und Eigentum. Bei Itzig Genßhenker hatten sich viele junge Mädchen zusammengefunden und nähten emsig Wagendecken und Reisegewänder und sangen dazu alte Gesänge. Stunde für Stunde zogen arme Juden aus fremden Ortschaften durch die Hauptstraße, und in der frischen Glut ihrer Begeisterung vermochten sie nicht länger Rast zu machen, als es nötig ist, um ein Gebet zu sagen. Dann eilten sie weiter in ihren Lumpen, mit ihrer jämmerlichen Habe, so schnell es ging.
Betrübt, mit trägen Schritten ging Benjamin an den Häusern entlang. Er blickte in die Gärten hinein, in denen alle Blüten verwelkt waren und alle Blätter den Boden bedeckten. Einmal sah er die kleine Eva über die Gasse eilen, und er stürzte jauchzend zu ihr hin. Aber das Kind, mit aufgestreiften Ärmeln und geröteten Wangen, schüttelte heftig den Kopf und sagte, sie habe zu viel zu thun, um plaudern zu können. Benjamin hatte Hunger, und weil man ihm daheim nicht zu essen gab, ging er hinaus an den Fluß, wo er Haselstauden wußte und wo er sich sättigen wollte. Er gehörte zu jenen Kindern, die stets im Märchen leben, und denen die Welt, wie sie ist, so wenig giebt, daß sie darin verkümmern müssen. So sah er durch seine melancholische Stimmung sich rings etwas Herrliches ereignen. Farbe, Glanz und Heldentum waren da, ihn zu entzücken und sein Herz in eine stürmische Bangnis zu versetzen. Er dachte mit klopfendem Herzen an das Land der Verheißung, wo es keine Christen gab und keinen bösen Stadtvogt und keine Daumenschrauben und kein Spießrutenlaufen. Wie klar und furchtbar erinnerte er sich des Tages, wo sein Vater wegen einer angeblich gestohlenen Sanduhr gefoltert worden war. Und seinen Oheim hatten sie aus Nürnberg hinausgepeitscht, weil er da übernachtet hatte. Und die Mutter erzählte, daß ihre Muhme als Hexe verbrannt worden war, obwohl sie eine fromme und sanfte Frau gewesen war. Dies alles machte ihn so ungeduldig, mächtig und stark zu sein.
Ein Jubelgesang scholl von den Häusern herüber. Er hörte eine Weile zu und fragte sich, warum eigentlich die Juden so verachtet seien. Doch dabei kam er zu keinem Schluß. Im Grunde schmerzte es ihn, von diesen Feldern fort zu müssen, wer weiß, wie weit. Es war so schön hier! Wie breit und ruhig lag das Land da! Ein grauer, glanzloser Nebel kroch über ferne Äcker und da drüben lag Nürnberg mit seiner kaiserlichen Burg, mit seinen starken Mauern, mit seinen schmalen, stolzen Türmen. Alle Häuser waren vielleicht aus Marmor gebaut, und die Stoffe und das viele Gold und die herrlichen Rosse, die Kampfspiele, der Jahrmarkt auf der Schüttinsel, der Metzgersprung, – wie bunt, wie wechselvoll, wie freudig und schimmernd das alles!
Und alles versank allmählich in der Dämmerung. Er ging heimwärts. Die dumpfe, gleichsam drohende Geschäftigkeit, die überall herrschte und die immer mehr anschwoll, erweckte eine unbestimmte Angst in ihm. Bei einer Gartenthür lag ein Stein und dort ließ er sich ermüdet nieder. Samson Weinschenk und die Seinen hatten schon zwei Wagen vollbepackt und saßen nun zwischen leeren Wänden. Auch David Tischbeck und Samuel Schrenz und Hutzel Davidla und Löw Wassertrüdinger und Moses Käsbauer und Maier Wolf: alle waren sie schon fertig und bereit, das Land der Pegnitz für immer zu verlassen. Der Knabe fühlte gleichsam eine Reihe schwerer Schicksale voraus, darum war er so traurig; dann kam wieder dies Sagenhafte, das alle Vorgänge um ihn unwirklich machte, so daß er um ein jedes Ding riesengroße Blumen emporschießen sah, oder eine schmerzlich schöne Musik erscholl von irgendwoher und zog unaufhörlich durch die kümmerlichen Gassen des Judenviertels.
Der Knabe blickte empor und sah Rahel Nathan mit plumpen, aber hastigen Schritten daherkommen. Sie wollte vorbei, aber Benjamin rief sie an. Da fuhr sie zusammen, winkte mit beiden Armen ab und wollte schnell weitergehen, – gegen die Häuser der Christen hinüber. Dann besann sie sich wieder eines anderen und setzte sich neben den Knaben auf den Stein. „Morgen soll es fortgehen, weißt du das, Junge?“ fragte sie. Sie konnte das R nicht gut aussprechen und das gab ihrer Stimme etwas Rührendes. Rahel erwiderte nichts auf seine Antwort. Es war, als ob sie sich ganz in sich selbst verkröche. Der Knabe sah, daß sie mit ihren Händen das Gesicht bedeckt hatte, und die Ellbogen waren durch das niedere Sitzen tief in den Schoß vergraben. Es fiel ihm ein, daß es im Gesetz verboten sei, so niedrig zu sitzen; nur die Leidtragenden dürfen es um ihre Verstorbenen. Da stand er rasch auf. Aber ehe er sich dessen versah, hatte ihn das junge Mädchen heftig bei den Armen gepackt, zog ihn an sich, nahm dann seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und drückte die glühendheißen trockenen Lippen leidenschaftlich auf des Knaben Mund. Benjamin glaubte zu versinken, auf seiner Stirn perlte feiner Schweiß, der ihn gleich Nadeln förmlich verwundete. Und er hörte Rahels Herz wie einen dumpfen Hammer pochen, die Wärme ihres Körpers strömte auf ihn über, die Flut ihrer Haare umhüllte seinen Kopf. Und nun fielen nasse Tropfen auf seine Wangen nieder, und erst durch das laute Schluchzen des jungen Mädchens kam er darauf, daß es wohl Thränen sein mußten. Auf einmal stand sie auf, stieß den Knaben rauh von sich und eilte davon. Gleich darauf aber kam sie wieder. Ihre Stimme war ruhig, und sie schämte sich offenbar allzusehr, um sich zu dem Knaben niederzubeugen. „Sag nichts, wo ich hingeh’,“ stammelte sie, „der liebe Gott wird dir’s lohnen.“
In der Rosengaß stand ein kleines grünangestrichenes Haus, wo heute die jüdische Waisenschul ist. Darin wohnte Thomas Peter Hummel, der christliche Studiosus. Rahel tastete sich mühsam durch die Finsternis des Flurs. Und es fiel ihr plötzlich, sie wußte nicht warum, ein Vers aus dem Talmud Taanit ein: Und ich mache allen ihren Jubel still, ihre Feste, Monden und Sabbate. Heiserer Gesang scholl aus einem Raum im Hintergrund, dann kam ein wüstes Lärmen und Durcheinanderreden, Gläserklirren und Zurufe und auf einmal war es wieder ganz still. Eine weiche, schmiegsame Mittelstimme begann ein Lied zu singen, und Rahel kannte die Stimme, die so verführerisch war und von der sie meinte, daß niemand ihr widerstehen könne. Es war eine Stimme, von der man träumen konnte, nächtelang. „Es ist ein’ Ros’ entsprungen aus einer großen Zahl“ sang er, – ein altes Lied voll Trauer und pochender Sehnsucht. Wer es sang, mußte gewiß um der Liebe willen leiden. Es war etwa so, wie wenn ein Vogel gefangen sitzt, von dem man weiß, daß er nur durch Freiheit leben kann, und er sitzt in einem schmalen Käfig und flattert sich die Flügel wund. Das Lied mochte wohl schon lange zu Ende sein, aber Rahel stand immer noch regungslos da, und ein schmaler Lichtstreifen aus der Thürspalte fiel auf ihre Stirn. Plötzlich wurde die Thür aufgerissen und lachend, in der einen Hand den Weinkrug, mit der andern der Schar von Studenten am Tische in der übertriebenen Lustigkeit, die ihm eigen war, zuwinkend, trat Thomas Peter Hummel heraus. Das Zimmer war von Rauch erfüllt, denn die jungen Leute saßen alle mit Pfeifen im Mund und pafften fleißig drauf los. Hummel schloß die Thür wieder und setzte mit einem Feuerstein ein Öllicht in Brand, um in den Keller zu gehen. Als er sich mit dem Lämpchen in der Hand umdrehte, gewahrte er Rahel. Er erbleichte und konnte nichts reden. Sein kleiner Mund kniff sich zusammen, seine Pupillen erweiterten sich wie bei einer Katze, und endlich stieß er einen dumpfen, fragenden Laut hervor. „Wir gehn fort von hier,“ murmelte Rahel, und ihr Kinn sank gegen die Brust. Der Student lächelte schnell unter seinem schwarzen, koketten Bart hervor und sagte, in eine Stube könne er sie nicht führen; sie sollte mit ihm in den Keller kommen. Darauf lief er zurück, erfand schnell eine Ausrede bei den zechenden Kameraden, um länger ausbleiben zu können, und Rahel folgte ihm in den feuchten Keller hinab. Hummel ließ sie auf ein leeres Fäßchen setzen, nahm ihre Hand und sprach sehr schön zu ihr. Das war seine Kunst, schön zu sprechen. Da vergaß er sich selbst und den andern, ja sogar den Zweck seiner Rede vergaß er, wußte hundert Gründe oder Dinge, an die kein Mensch dachte oder denken konnte, geriet vom zehnten ins zwanzigste und von da noch weiter, unterbrach niemals den freien Fluß seiner Rede, setzte, wo es anging ein gelehrtes Citat statt eigener Meinung, oder brachte füglich eine lehrreiche Geschichte von spannender Erfindung an, kurz, er wußte das Wort so vollkommen zu gebrauchen, daß er es in knapper Zeit vermochte, ein großes Unglück ganz winzig erscheinen zu lassen, und war im ganzen ein glänzendes Beispiel für den Ausspruch des alten Cicero über die Beredsamkeit. Dabei war seine Stimme leise und berückend, eindringlich und gleichsam erziehend. Seine Gesten waren rund und gefällig, gemessen und wohlwollend, besonders, wenn er Daumen und Zeigefinger mit den Spitzen zusammendrückte und dann den Arm pendelartig auf- und abbewegte. So war er wirklich die verkörperte Liebe und Uneigennützigkeit, und alles, was er sagte, hatte Klang und Vernunft, sozusagen Hut und Schuh, und er vermochte einen Menschen zu trösten, daß er all seine Schmerzen vergaß und sich so vollgeredet fand, als habe er am Tisch des Großmoguls die köstlichsten Speisen gespeist.
Rahel erhob sich also, reichte dem Studiosus die Hand und ging wieder, gerade als oben das ungeduldige Fußgetrampel der andern Studenten hörbar wurde. Sie ging in die Nacht hinaus. Sie erinnerte sich auch dunkel, daß Thomas Peter ihr empfohlen hatte, die Juden zu warnen, es sei etwas im Werk; aber das ließ sie kühl. Sie fühlte sich wie das tote Werkzeug in einer fremden, mächtigen Hand. Sie dachte an den Geliebten, von dem sie eben auf so seltsame Weise ewigen Abschied genommen, und sogleich zog ein Schauer ihr die Brust zusammen und ihr Herz lag wie Blei im Körper. Jenes Haus, das so Teures für sie beherbergt hatte, konnte nimmer ihre Träume verschönen. Stand doch schon über seinem Eingang ein roher Landsknechtspruch, neu hingemalt:
Wer so fährt wie ich, fährt boeß.
Meines Vaters Guett hab’ ich versoffen,
Bis auff einen alten Filzhuett.
Der leit da.
Den ofen wer ich aach ball versaufen.
Die Nacht war kalt und finster. Die Wolken am Himmel hatten in ihrem gelben Leuchten und ihren kargen Umrissen etwas Wesenhaftes und Persönliches. Vor manchen Hausthüren der Christen standen Männer im Schein düsterer Lichter und berieten offenbar über die Vorgänge im Judenviertel. Sie schienen besorgt, denn wie auch dies Volk verhaßt bei ihnen war, so beleidigten doch all diese Dinge ihr Herrischkeitsgefühl, und sie glaubten es nicht zugeben zu dürfen, daß sich der Knecht so leichterdings frei mache und davonziehe. Freilich, die zu Wucherzins Verpflichteten rieben sich insgeheim die Hände und beglückwünschten sich zu den so mühelos errungenen Kapitalien.
Rahel wagte sich nicht heim. Sie wußte nicht, was sie davon abhielt, aber ihre Seele verging förmlich in dieser Furcht. Sie wanderte dahin, ohne über ein Ziel nachzudenken. Sie lebte völlig in einer dunklen Innenwelt und die Blicke, die sie in die erleuchteten Fenster der Wohnungen warf, hatten etwas Irres. Wie so oft, ging sie in das Haus des frommen Elieser Rappaport, der ihr Verwandter war. Die ganze Familie saß um den großen Tisch herum, sonst waren die Wände ganz kahl, die Schränke fortgeschafft, Geschirr, Betten, Wäsche und Gewänder. So war es unheimlich zu sehen, wie die Menschen um das trübe, rauchende Licht herumhockten, mit blassen, erwartungsvollen Gesichtern oder mit milden Gesichtern, in denen gleichsam nur noch eine entfernte, eine fliehende Sehnsucht, ein schüchternes Hoffen leuchtete, und wie sie dem Vorlesen des Elieser lauschten. Und draußen fuhr der Wind herum, und überall klimperte es und klirrte es und oft blökten ängstliche Rinder oder wieherten die Pferde.
Rahel setzte sich in eine Ecke des Raumes, wo ein Balken aus der Wand hervortrat. Keiner achtete auf sie, denn man war es fast gewohnt, sie auf leisen Sohlen hereinschleichen und nach einer halben Stunde verschwinden zu sehen. Elieser las aus dem Buch Simchas Chamefesch, der „Seelenfreude“, welches zu Frankfurt und zu Sulzbach deutsch gedruckt worden war. Mit bebender Stimme las der alte Mann die Parabel, die von der Stärke des Glaubens handelt. „Einer hat drei gute Freund; einer is sein Leibfreund, der ander is aach ein guter Freund, un der dritter, den hat er vor gar nix geacht. Urbizling schickt der Melech, der König, ein Boten nach den Mensch, er soll geschwind zum Melech kommen. Der Mensch derschreckt sehr, denkt, was muß das bedeuten, als der Melech nach mer schickt und fercht sich sehr, un geht zu sein Leibfreund, er soll mit ihn gehn zum Melech, der will aber nit mit ihn gehn. Da geht er zu den andern Freund, er soll mit ihn gehn zum Melech, da spricht er, ich will dich begleiten bis an dem Schloß, aber weiter will ich nit gehn. Da geht er zu den dritten Freund, den er vor gar nix geacht hat. Da spricht er, ich will mit dir gehn zum Melech un will dich beschermen. Un is mit ihm gangen zum Melech un hat ihm beschermt. Aso aach die drei Freund; einer das is Geld, der ander, das is sein Weib un Kind, der dritt Freund, den er vor nix hat gehalten, das is die Thora, die Gebote, die guten Thaten, das acht der Mensch vor nix. Der Melech das is Got, der Bote das is der Tod, den schickt Got urbizling, soll dem Menschen seine Seel nehmen. Der beste Freund das is das Geld, das bleibt derheim, wenn er gleich noch aso viel hat kann er doch nix mitnehmen. Der ander Freund das is sein Weib un Kinder, gehn mit ihn bis ans Grab, schreien un weinen, kennen ihm nit helfen. Der dritt Freund den acht der Mensch vor nix, der geht mit zum Melech.“
Die Stimme verklang wie in einer Höhle. Es befand sich aber noch ein Rabe im Zimmer, der von Obadja Änsel aufgezogen worden war, und der stets eine sehr sonderbare Redensart seines Herrn wiederholte. Er saß auf einer Stange, duckte sich und krächzte seinen Spruch in die gelehrtesten Diskurse hinein. Rahel sah den Vogel beständig an, denn ihr war, als sei ein menschliches Wesen in ihm verborgen, ja sie dachte: so ist mein ganzes Volk wie dieser Rabe. Doppelt schwarz und doppelt unruhig sah er aus im Gegensatz zu den glutgeröteten Gesichtern am Tisch; mitten im Dunkel saßen alle in einem Lichtkreis wie auf einer Insel in einem Ozean von Finsternis.
Gebete und Fasten füllten allenthalben diese Nacht aus. Es gab freilich manche, die wieder zaghaft geworden waren, und manche, die am liebsten zurückgeblieben wären, aber zu ihnen kam Zacharias Naar. Es war, als ob er die Schwächlinge und Feiglinge am Blick zu erkennen vermochte. Es war erstaunlich, wenn er zu ihnen sprach und sie folgsam wurden wie Hunde, wenn er seine Augen auf sie heftete und in geheimnisvoller Weise ihre Entschlüsse formte wie Thon.
Der Zug der wandernden Juden nahm nicht ab. Die Erregung in Deutschland wurde immer stärker. Im Osten häuften sich die Ereignisse in verwirrender Art. Es kam die Kunde, Sabbatai sei zum Sultan der Türkei zu Gast geladen worden und reise nun in Begleitung seiner zwölf Jünger und einer großen Schar von gelehrten Talmudisten zu Schiffe nach Salonichi. Eine ganze Flottille von Smyrnaer Schiffen sei in seinem Gefolge, Ehefrauen hätten ihre Männer verlassen um seinetwillen, Mütter ihre Kinder, Jungfrauen und Knaben das elterliche Heim. Gold und Geschmeide flösse ihm zu wie aus unerschöpflichen Bornen, und die Khalifen der Bucharei und die Fürsten Afghanistans und die Rajahs von Indien schickten Perlen und Geschmeide, schickten Gesandte, schickten Speisen für seine Festmahle, Gewänder von Purpur und Seide und Sammet. Dergleichen war wie ein Rausch für das ganze Judenvolk der Erde. Ihre Erwartung hielt kaum Schritt mit ihrer Freude, eine sinnlose Vergötterung für den Menschengott erfüllte sie und der Jude, der so leicht der Raserei in jeglicher Gestalt zugänglich ist, vergaß dabei sein irdisches Gut und alle irdischen Dinge. Engel bliesen auf Sturmschalmeien und der alte, finstere Gott der Juden, der Moses erhoben und Pharao gezüchtigt hatte, kam selbst, um dem Messias entgegenzuschreiten. Darum war es kein Wunder, wenn Zirle sich alsbald zu ungeahnter Höhe emporgerissen fand. Ihre Seele, im Beginn dieser Mission ein wenig fremd, entflammte sich im Angesicht des wunderbaren Mysteriums. Ihr Wesen war nicht keusch, wer ihr gefiel, dem ergab sie sich, oft mehr aus Mitleid als aus Begierde, denn sie sah die Männer vor sich zerschmelzen wie Wachs. Dennoch blickte sie mit Schauern hinüber in jenes heilige Land, wo der Sohn des Himmels ihrer harrte, der so schön sein sollte, daß niemand ihn anzuschauen vermochte, ohne geblendet zu werden. Sie empfing auf rätselhafte Art Briefe von ihm, deren Inhalt ihrem Träumen und ihrem Wachen einen unabsehbaren Kreis von Glückseligkeit verlieh.
Einst ging sie am Haus des Knöckers vorbei und sah Rahel unter der Thüre sitzen. Etwas in dem Gesicht des Mädchens zog sie an, vielleicht die hilflosen Augen oder der hilflose Mund, der oft ein wenig geöffnet war. Zirle trat näher, stellte sich vor Rahel hin, nahm ihre Hand und drückte sie sanft. Rahel schüttelte befremdet den Kopf und lächelte störrisch. Aber plötzlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten: es war, wie wenn etwas in ihr zerbrochen wäre: sie fiel auf die Kniee und drückte ihr Gesicht schluchzend in den Schoß Zirles, die sich schmerzlich unzufrieden fand, um des Leidens des jungen Mädchens willen. Auf der Gasse stand Wagen an Wagen, vollbepackt zur langen, schweren Reise. Darin und in den Mienen der alten Männer, die so besorgt waren, und doch eine freudige Zuversicht erheuchelten, lag plötzlich etwas Erschütterndes für Zirle.
Der Maier Nathan wurde mit jedem Tag unruhiger, fragte seine Tochter, wann sie denn glaube, daß das Große sich ereignen würde, und holte den Rat der Frau Pesla, einer erfahrenen Wehmutter, ein, von der noch in alten Chroniken zu lesen ist: daß sie mit frühem Morgen jedesmal nach dem Tempel geeylet sei, daß sie viele Jahre weder Fleisch noch Wein genossen und ohne Betten auf der Erde lag. Wenn der Nathan sein Weib betrachtete, die sich einer stillen Schwermut so gänzlich ergeben hatte, daß sie oft stundenlang mit geschlossenen Augen kauerte, so wurde er recht bang in seiner Seele und seine letzte Zuflucht waren seine Kostbarkeiten. Auch that er alles, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und dies um so mehr, je stärker er die Verachtung empfand, mit der man ihm begegnete. So errichtete er in einer Nacht einen großen Scheiterhaufen hinter seinem Haus, setzte ihn in Brand und stand davor wie vor einem Altar und betete, als das Feuer lohend gegen Himmel stieg. Entsetzt kamen Männer herbeigelaufen, ihn zu fragen, was dies zu bedeuten habe. „Ich hab’ Flachs hineingeworfen.“ sagte der Nathan, doch kein Mensch konnte es verstehen. „Ich faste,“ fuhr er fort, „wegen eines bösen Traums, und Rabbi bar Mechasja sagt, Fasten ist dem Traum, wie Feuer dem Flachs.“ Alle schüttelten spöttisch die Köpfe und gingen. Die Gerüchte, die über Rahel umliefen, wurden häßlich und abenteuerlich und bald galt sie für unrein; und doch wanderte sie umher wie im Schlaf, dachte der Wochen, wo noch die Liebe ihren Gang verschönt hatte, wo keine Nacht saumselig genug war für den frischen Trunk des Glücks, wo die ganze Welt einem Eden glich, – das aber war vorbei.
Am Samstag Kreszenz, den 28. November, sollte der Aufbruch stattfinden. Frühe des Morgens, lange, ehe der Osten sich rötete, versammelte sich die Gemeinde in der Synagoge. Die heilige Schrift wurde aus der Lade genommen und der Älteste trug sie mit gesenktem Kopf demütig und bleich hinaus, während die Kille, Mann hinter Mann betend folgte und der Schammes oder Schuldiener die Lichter verlöschte, die Thüre fest versperrte und den großen, hohlen Schlüssel an einem sicheren Ort neben der Klauß vergrub. Dann hörte man weinen hinter vielen Wänden: es galt den Abschied vom Ort der Fron und der Verachtung.
Unfern der Mauer des Gottesackers, da wo heute der Doggelesgarten steht, kamen die Wagen zusammen. Der Regen wälzte sich daher im grauenden Tag und der Sturmwind pfiff durch die Wagenzelte. Doppelt öde lagen die weiten Felder in der Dämmerung und die verlassenen Häuser drüben schienen zu rufen, ihre leeren Fenster hatten etwas Ziehendes und Warnendes. Frauen kreischten auf dem feuchten Plan, Hunde bellten, Kinder wimmerten, die Männer riefen nach ihren Angehörigen und die Rinder brüllten. Nicht am wenigsten machte sich der Rabe des Obadja Änsel in dem Tumult bemerkbar. Zigeuner gesellten sich dem Zug bei und sie wurden geduldet, weil sie als Wegweiser dienen konnten; ihre Weiber riefen sich ihr gellendes Rotwälsch durch den brausenden Wind zu und aus einem verschlossenen Zigeunerwagen tönte in seltsamer Unbekümmertheit eine Geige in langen Mollaccorden. Dann kam ein Bote und meldete, die freie Reichsstadt Nürnberg gebe den Durchzug durch ihr Gebiet nicht frei. Das nächste Ziel der Wanderung war daher die Schwedenveste im Süden und dann weiter Stein und Roßstall. Auch griff die Besorgnis um sich, die Nürnberger möchten Soldaten aufbieten und die Juden am Abzug verhindern. Vielen schien es, als ob Geschehnisse sich wiederholten von vieltausendjährigem Alter. Der Himmel gab ihnen recht; vor allen Plagen schien die Plage der Finsternis sich vorzudrängen. Der Tag war angebrochen und doch war es noch Nacht. Die Wege waren durchweicht und die Wagenräder standen tief im Kot. Zirle, der man eine Art vornehmer Karosse gegeben hatte, lehnte bleich, mit zuckenden Lippen im Rücksitz. Im strömenden Regen stand der junge Wagenseil vor dem Gefährt. Er war wie trunken von seiner Liebe. Unter großer Feierlichkeit hatte er gestern den christlichen Glauben abgeschworen und war zum Jünger des Messias geworden. Nun wollte er mit fortziehen, wollte getrost alle Bande der Heimat zerschneiden, nur um unverwandt in dies wundervolle Antlitz schauen zu können. Unbeachtenswert erschien es ihm, daß sie die Braut des Sabbatai war; darin war so viel Überirdisches und Unsinnliches, daß ihn nichts bei diesem Gedanken beunruhigte. Er wußte freilich nicht, daß er das Unglück für diese Gemeinde in der Hand trug. Die stille Gärung unter den Christen des Hofmarkts war vom alten Pfarrer Wagenseil zur offenen Flamme geschürt worden, und noch im Lauf des Tages entstand ein geschäftiges Einverständnis mit den Nürnbergischen zur raschen That. Nur die Furcht vor dem Gloriosen und Erhabenen, die in der Stimmung dieser Tage lag, hatte den feindseligen Arm gelähmt.
Um den Gottesacker vor frevlerischen Händen zu sichern, wurde das Thor mit fünffachem heiligem Siegel verschlossen. Gegen acht Uhr wurde endlich, mitten in der größten Verwirrung durch ein dreimaliges Hornsignal das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Die Zigeuner hatten sich bereits an die mit Lebensmitteln gefüllten Wagen gemacht und rauften um Fleisch und Brot wie die Wölfe. Keiner verstand den andern im Tumult; Ermahnungen und Ermunterungen verhallten fruchtlos. In manchen Augen tauchte jene geheimnisvolle Verzweiflung auf, die durch einen unsicheren und brennenden Glanz den Schein von Mut erhält und sich durch rastlose Geschäftigkeit unkenntlich macht. Der Lärm und das Geschrei erscholl weit hinaus, scheuchte die Krähen aus den kahlen Feldern empor und die Peitschen der Kärrner schallten durchdringend bis an den Wald hinüber und klangen zurück als ein schüchternes, zitterndes Echo. Die Wolken sahen aus wie zerzauste Leinwand und der ganze Himmel war wie ein graues, schwankes Tuch. Am Kreuzweg nach Unterfarrnbach stießen die kleine Judengemeinde dieses Dorfes, sowie die von Ermreuth und Bocksdorf zu dem großen Hauptzug. Bald flatterten schlecht befestigte Zelttücher im Wind und allerlei leichte Gegenstände flogen in der Luft herum. Was half das Beten der Frommen und das fromme Deuten der Talmudisten? Was half der strenge Glaube und die sichere Begeisterung? Der finstere Judengott ließ offenbar nicht mit sich spaßen und streckte seine grausame Hand herab, daß sie wie eine Mauer vor jenen süßen und verlockenden Zielen stand, die eine morgenländische Phantasie heraufgezaubert hatte. Oft stand ein Gefährt fest im dicken Kot und fünfzig und mehr Männer mußten es unter Anspannung aller Kräfte mit den Schultern herausschieben. Ein Wagen diente als Betzelt, und in ihm war auch die heilige Lade in kostbarem Putz aufbewahrt. Der Ober-Rabbi und der Chassan und die Rumpeln und Wolf Batsch saßen herum und sangen Lieder des Sabbatai. Boruchs Klöß in seinem Wagen hielt sein Weib umschlungen; eine Art von Mittagessen, eine fettige Mehlspeise, stand in einer zinnernen Schüssel vor ihnen, aber sie aßen nicht, sondern sahen beide nur stumpfsinnig hinein in die erkaltende Speise. Dumpfe Schreie schallten in ihre erbärmliche Behausung; manche hatten ihre Hauskatzen mitgenommen, und die Tiere miauten unaufhörlich aus unauffindbaren Verstecken. Dann wurde wieder das Ächzen des Windes laut; an den spärlichen Baumalleen der Straße flogen die braunen, nassen Blätter in einem geisterhaften Tanz umher, und die Äste bogen sich knarrend und brachen doch nicht. Der Regen prasselte und trommelte auf die dünnen Dächer, die Achsen wimmerten gleichsam, an vielen Gespannen standen die Tiere störrisch still und waren nicht fortzubringen, man mochte sie quälen oder ihnen gütlich zureden. Die ganze Natur war aufgelöst in eine erdrückende Bangnis. Im Gefährt des Maier Knöcker war es ruhig, denn die Thelsela kauerte teilnahmslos in einem Winkel und in einem andern Winkel kauerte Rahel. Nur der Nathan selbst schien froh bewegt. Aus irgend einem Grund schien er sehr glücklich zu sein, rülpste beständig wie ein Narr, zwinkerte freundlich mit den Augen und fragte: „Rahelchen, wann kommt das güldene Mädchen? das himmlische Töchterchen?“ Seine Unterlippe war sicherlich noch dicker und unförmlicher geworden, und seine Augen waren hektisch gerötet.
Endlich erreichte die Karawane den Wald, – nach vier Stunden. Ein Fußgänger hätte den vierten Teil dieser Zeit nötig gehabt. In sanfter Steigung sollte es nun bergan gehen, aber vorher wurde eine Stunde Rast gehalten. Der Wald war finster. Damals glich er noch sehr den Urwäldern der Vorzeit. Es war so dunkel, wie es zu vorgeschrittener Dämmerungszeit im freien Feld ist, die Zweige trieften vom Regen, der Boden war ganz schwarz und schlammig. Ein eigentümlich klirrendes oder raschelndes Geräusch ging wie eine Welle durch den ganzen Wald. Zwischen den Stämmen in der Tiefe lagerte aufdringlich die Nacht und die Nadeln und das Laub am Boden waren naß und schlüpfrig. Bisweilen war der ferne Schrei eines Wildes vernehmbar oder ein Geräusch gleich dem Schlagen einer Axt. Der Himmel war verschwunden, auch die Ebene war nicht mehr zu sehen, und Regenschleier und Nebelschleier machten den Pfad zu einem unsicheren Bilde. Ein Vogel flog auf und huschte scheu und hastig ins tiefere Gehölz, in den tieferen Frieden des Waldes. Über dem sumpfigen Grund lag eine schwere Starrheit, etwas Gelähmtes. Wie fern fühlten sich alle schon der Heimat, ihren Gärten, ihren Häusern, dem Bereich ihrer Kinderspiele, dem Schauplatz ihrer Sorgen. Rahel lehnte, mit einem dicken Wolltuch geschützt, an einer Buche. Wohl war sie stumpf und müde, doch fühlte sie etwas in sich, das sie merklich von allen unterschied; sie fühlte sich edler und besser, gleichsam geweiht durch die vergangene Leidenschaft. Auch empfand sie schaudernd das junge Leben in sich, täglich mehr, täglich erschreckender, und doch war es so märchenhaft und unglaubwürdig, dies zu tragen, daß die Seele stark wurde und sich aufrichtete, als sei sie selbst etwas Körperliches. Sie trug die Zukunft im Schoß, ein neues Geschlecht, Kämpfer später Zeiten.
Das Zeichen zum Aufbruch wurde gegeben. Es ging zur Höhe, wo die Veste stand, von wo man ins Thal der Regnitz gelangen konnte. Männer und Weiber waren ausgestiegen und schleppten sich zu Fuß. Viele der Kärrner, die für schweres Geld gemietet worden waren, weil die meisten jüdischen jungen Leute nicht mit Pferden zu hantieren verstanden, und die an der nächsten Grenze durch andere abgelöst werden mußten, machten schon bissige und feindselige Bemerkungen. Viele Frauen trugen ihre Kinder auf dem Rücken, in Tücher eingehüllt. Wie langsam und mühevoll ging es hinan! Das Geschrei der Fuhrleute erfüllte die Luft, die Zigeuner heulten durcheinander, daß es rings wiederhallte wie in einem Kessel, und als einmal eine Wildsau über den Weg rannte, kreischten die furchtsamen Weiber durchdringend auf, und auch viele Männer wurden blaß und starrten fassungslos vor sich hin. In halber Höhe begannen die Steinbrüche, die nach dem großen Frieden von Nürnberger Bürgern gekauft und ausgebeutet worden waren. Jetzt galt es, Gestrüpp und überhängende Äste aus dem Weg zu räumen, und man mußte vorsichtig sein, damit kein Rad dem Abgrund eines Steinbruchs zu nahe kam. Drunten lagerte schwarzes Wasser, und es schien brunnentief zu sein. Der Regen bildete enge Ringe und der Himmel sah hinein und spiegelte sich darin mit düsterer Stirn. Schutt und Geröll und unbehauene Steine lagen umher; allenthalben gab es Löcher und tückische Schluchten, und das Heidekraut wuchs an den Hängen und die Brennessel. Wie große Ruinen waren diese Brüche, wie die zerstörten Häuser von Riesen, und sie hatten dazu etwas so frisch Verlassenes, daß man oft aus einem Abgrund den ungeheuren Leib des Bewohners auftauchen zu sehen glaubte.
Es ward Abend. Dicke Pfützen von Regenwasser standen in den Höhlungen des Weges, oder im Weggraben, und die Räder fuhren hinein, und das Wasser spritzte hoch auf. Erstaunlich war es und zugleich unheimlich, daß noch keiner an eine Umkehr dachte, da sie doch nur Peinigungen und Mühsale vor sich sahen. Sie blickten unerschüttert hinaus in diese mysteriösen Weiten, und es war eine dumpfe Ergebung, die sie so hinwandeln hieß, verstummt vor dem unhörbaren Gebot dieses Hüters in der Ferne. Wühlten Zweifel in ihrer Seele? Waren sie zu müde, mit ihren Zweifeln sich abzufinden? Zu stoisch oder zu sklavisch, den Willen jener Idee zu brechen? Zu feige, um sich bloßzustellen durch Ahnungen? Wer kann es wissen. Ein geduldiger Fatalismus war über sie gekommen. Als es dunkler und dunkler wurde, erhob sich ein ungestümer Sturm. Die Stämme erzitterten, viele Pechfackeln verlöschten und die Funken flogen beängstigend gegen die Kronen der Bäume.
Auf einmal, es mochte um die sechste Nachmittagsstunde sein, erschallten von vier Seiten im Dickicht des Waldes gleichzeitig Trompetensignale. Der ganze Wagenzug stand fast mit einem Ruck still. Ein furchtbares Schweigen, eine wahre Totenstille entstand im Nu. Alle wußten, was nun kommen würde, und sie waren so feig, daß sie förmlich zusammenschrumpften vor Angst. Da oder dort, in einer Lücke des Gehölzes erschien ein Reiter in der Tracht der Nürnbergischen Bürgersoldaten, beleuchtet von den Fackeln, die sie am Bug des Pferdes befestigt hatten. Mit höhnischem Lächeln betrachteten sie den matten Zug der Auswanderer; sie verachteten die kriegerische Aufgabe, die ihnen zu teil geworden war. Die Stimme des jungen Wagenseil erschallte: zu den Waffen, zu den Waffen! Es war ein heiserer Schrei, halb erstickt durch die Erkenntnis der Hoffnungslosigkeit und des Fehltritts. Da krachte schon eine Flinte, schwer und donnernd; der greise Rabbi Elieser sank, ohne einen Laut von sich zu geben, ins schwammige Erdreich, und sein altes Blut floß ungehemmt dahin und mischte sich mit dem Regen. Jetzt wurden die Gemüter aufgerüttelt. Sie fühlten, daß es nicht nur die Freiheit war, die sie jetzt erringen sollten; hier stand der Jude vor dem Christen, Glaube gegen Glaube. Viele waren plötzlich wie betrunken. Sie stürzten zu den Wagen, packten, was sie gerade fanden: ein Küchengerät, einen Strick, eine Latte, einen Eisenstab, einen Besen, eine Flasche, ein altes ehernes Thürschloß, Lenkriemen für die Pferde, Steine, Stöcke und Baumäste, das alles sollte Schutz geben gegen die Waffen geübter Landsknechte. Nur zehn oder zwölf hatten Flinten aufzufinden vermocht, aber da sie nicht mit der Hantierung vertraut waren, ergriffen sie sie vorn am Lauf und schwangen die Kolben drohend in der Luft. Doch schon knallten die Nürnberger von allen Seiten ihre Gewehre los und ein Knabe und zwei Frauen folgten dem armen Elieser in den Tod. Die Weiber begannen ein herzzerreißendes Weinen; das Schluchzen muß tief in den Schoß der Erde gedrungen sein, denn noch heute hört man es zur Nachtzeit in den Wäldern dorten. Die Zigeuner allein verstanden zu schießen, aber sie hatten kein Ziel, denn die Pferde der Angreifer waren überaus unruhig und sprangen förmlich gequält von Baum zu Baum, während sie im Fackelfeuer ihre eignen Schatten vor sich tanzen sahen. Viele alte Männer hockten mit fanatisch glänzenden Augen im Wagen, wo die heilige Schrift sich befand, küßten die Schrift mit bebenden Lippen und beteten ein Schemenesre und sangen Psalmen. Die Kinder verkrochen sich unter die Räder und waren gänzlich betäubt vor Schreck. Einer der Angreifer schrie auf seinem bockenden Gaul etwas von Ergeben und Umkehren, aber seine Worte verhallten, worauf er Befehl zu neuem Feuern gab. Nun mußten Boruchs Klöß und Wolf Bieresel an den finstern Tod glauben und fielen hin und streckten sich aus zu jenem langen und gefürchteten Frieden. Die Verzweiflung erschafft sich eine wilde Soldateska. Mit ihren grotesken Waffen liefen die Juden auf ihre grausamen Feinde zu und fürchteten weder Sterben noch Wunden. Sie sahen nicht mehr, sie waren wie im Rausch, sie schrieen hebräische Worte und ihre wunderliche Kleidung gab ihnen etwas Gespensterhaftes. Ein Teil stürzte zu Boden über Knorren und Wurzeln, denn das Erdreich war glatt und schlüpfrig, die nassen Zweige schlugen ihnen ins Gesicht und dann lagen sie da und wälzten sich in konvulsivischen Zuckungen. Nichts mehr schien zu helfen, eine blutige Nacht schien im Nahen zu sein, da gellte plötzlich eine wie toll kreischende Stimme: Feuer! der Wald brennt! Und: der Wald brennt! der Wald brennt! lief es weiter in der Kette. Die Tannenstämme am zweiten Steinbruch waren wie von innen erleuchtet durch eine dicke gleichmäßige Glut. In der Tiefe des Forstes stieg ein breiter Lichtkegel empor, ruhig und blendend. Die Luft war durchdrungen vom Purpur der Flammen, die nassen Blätter glänzten, das nasse Moos. Bis in den Grund der Steinbrüche leuchtete der Brand. Schlängelnde Flammen spiegelten sich jäh im nachtschwarzen Moorwasser. Aufsteigend und aufsteigend wie aus einem unerschöpflichen Schlund vermehrte sich die Kraft der Feuersbrunst. Das feuchte Holz prasselte und knatterte, die Flammen leckten gierig von Baum zu Baum, angetrieben durch den sausenden Sturm, der von den Feldern herauffegte. Es wurde drückend heiß; als ob sie aus den Wolken hervorgetreten wären, erschienen die Ruinen der Schwedenveste zwischen den Feuern. Schrei auf Schrei erschallte, Schreie gräßlicher Angst, wie sie der Wald niemals vorher und niemals nachher vernommen hat. Die Gäule der Landsknechte heulten mit jenen Tönen, die stundenweit ins Land dringen, und rannten unaufhaltsam den Abhang hinunter durch Gestrüpp und über Felsen. Ein junger Reiter, der Sohn des Nürnberger Stadtschreibers, blieb mit seinen langen Haaren an einem Ast hängen, während das tolle Roß weitersauste zur Tiefe. Hilflos, mit stets schwächer werdenden Rufen hing er wie einst Absalom und mußte die Flammen heranschleichen sehen und ihn belecken bei lebendigem Leib. Unter den Juden war die Verwirrung so groß geworden, daß viele geradewegs in das Feuer hineinflüchten wollten; die mit Pferden bespannten Wagen rollten hinter den entsetzt fliehenden Tieren davon und wurden halb zerschmettert; schmerzliches Stöhnen drang aus allen Ecken und die Zigeuner machten sich den Wirrwarr zu nutze und stahlen selbst jetzt noch, was ihnen unter die Faust kam. In der größten Ratlosigkeit erschien Zacharias Naar. Er stellte sich vor die Fliehenden, erhob die Arme und vermochte ihren Lauf zu hemmen. Er führte sie so sicher durch die Flammen, als ob ihm diese aus Ehrfurcht den Durchzug frei gäben und alle folgten ihm wie Lämmer dem Hirten, und ruhig zogen die Fuhrleute die Wagen nach.
Im Wagen des Maier Knöcker lag ein neugeborenes Wesen auf der bloßen Diele. Rahel, durch die Häufung von Schrecknissen erschüttert, war mit einer Frühgeburt niedergekommen. Sie lag regungslos in der Ecke auf nacktem Stroh, während draußen der große Tumult wie Laute aus einer fernen Welt, wie durch Mauern zu ihr kam. Sie wußte kaum, wie sie es hatte ertragen können, und doch war ihr jetzt so gut. Sie hörte, wie die beiden Ochsen vor dem Gefährt gutmütig blökten; ihr dünkte, sie sei wieder bei ihrer alten Tante in Rot, wie vor zwei Jahren. Ein feiner Lichtschein, der stärker und stärker wurde, fiel in den Raum, aber auch das vermehrte ihr Wohlbehagen. Es war ihr, als stünde der Geliebte neben ihrem Lager und streichle sie, und sie sah einen alten, gepreßten Lederdeckel vor sich schweben, den sie oft in seiner Wohnung gesehen hatte, und der etwas Fremdes und Liebliches, etwas Märchenhaftes an sich hatte. Er hatte sie oft zum Heiland bekehren wollen, aber was war ihr der Heiland und was war ihr selbst der Gott ihrer Väter neben der bitteren und leidenschaftlichen Liebe, die sie empfunden! In ihr sang und klang es stolz von alten Liedern mit einem süßen, hallenden Kehrreim, da der Abend im Mai kommt und die Blüten zart umhaucht und die stille Nacht von Liebe schwer ist.
Holpernd rollte der Wagen gleich den andern unter der Leitung von Zacharias Naar ins Thal. Wortlos kniete Maier Knöcker vor dem Neugeborenen und achtete nicht das durchdringende Quietschen des Wurms. Er war völlig zusammengebogen, der Nathan, und schien nur noch ein Haufen von Kleidern. Er hatte die Fäuste geballt wie zum Schlag und bisweilen zitterte er am ganzen Körper. Das Wesen, das vor ihm sich wand, war ein Knabe. Sonst vermochte er nichts mehr zu denken. In seinem Innern war ein Loch und um ihn herum war es kalt und finster. Ihm gegenüber saß sein Weib. Sie hatte Hilfe geleistet bei der Geburt. Sie war durch nichts bewegt worden. Es schien, als könne sie durch nichts mehr in der Welt überrascht werden, nicht durch Reichtum und Kleinodien, nicht durch Schmerzen und die Wandlungen des blinden Schicksals.
Die Bauern standen auf den Feldern und sahen hinauf in die brennende Höhe und in den glühenden Himmel. Scheu wichen sie zurück vor den Juden, die sich langsam zu sammeln begannen. Aus allen Richtungen kamen die Verstreuten und fanden sich mit Freudenrufen ein. Für die Nacht wurde ein Lager bereitet; die Zigeuner, deren Hilfe jetzt nötig gewesen wäre, waren spurlos verschwunden. Zacharias Naar stand sinnend an einem Ginsterstrauch und lächelte trüb seinem Werk zu: dem brennenden Wald.
Noch in der Nacht kam eine große Menge von Bauern, mit Sensen, Beilen und Knüppeln bewaffnet und sie konnten nur mit Mühe und unter großen Opfern an Gold und Silber auf friedlichem Weg zum Abzug bestimmt werden. Der Rest der Nacht verlief ruhig; aber am Mittag des nächsten Tages wollte man aufbrechen und den Marsch beschleunigen, um den Feindseligkeiten der Nürnberger zu entgehen und sich zum Weiterzug in den Schutz der Markgrafen von Onolzbach zu begeben. Der Vormittag sollte der Bestattung der Toten gewidmet werden. Das Kind des Wolf Batsch und die Frau des Samuel Ermreuther waren in der Eile im Wald liegen geblieben und ihre Leichen waren verbrannt. Die Familie des Elieser war die ganze Nacht wach geblieben, war an der Leiche des Greises gesessen, während die Frauen an den Sterbekleidern näheten. Auch in den andern Wagen, in denen es Verstorbene gab, blieb das Licht brennen zu den aufrichtigen Thränen der Trauernden. Oft klang der Schrei des Wildes aus der Höhe des Waldes herab, wo sich das Feuer beruhigt hatte; über der Ruine lag eine schwere Rauchkrone, und die noch glimmenden Stämme leuchteten herrlich in die weite Ebene hinein.
Der Morgen kam mit dichtem, regungslosem Nebel. Die Gräber waren rasch gegraben, denn das geschieht bei den Juden mit Hingebung, weil sie alles für ein gutes Werk ansehen, was für einen Verstorbenen geschieht. Die Weiber mußten in der Behausung bleiben, sie durften nicht mitgehen bei Begräbnissen, außer den nächsten Blutsverwandtinnen, und denen durfte sich während dieser Zeit kein Mann nähern, weil es hieß, der Engel des Todes tanze mit dem bloßen Schwert vor den Weibern her. Bevor der Körper in den Sarg gebettet wurde, begoß man ihn dreimal mit Wasser, und ein alter Chronist sagt schon, daß dies etwas anderes bedeute, als eine äußerliche Reinigung. Feierlich erklingen dazu die Worte des Propheten: ich will rein Wasser über euch sprengen, daß ihr rein werdet von eurer Unreinigkeit, und von all euren Götzen will ich euch reinigen. Und als die Begießung geschehen, faßte der Chassan den Körper bei der großen Zehe an und kündigte ihn der Gesellschaft der Menschen völlig auf. Dann wurde der Leichnam mit weißen Kleidern angethan, sein Haupt wurde mit dem Tallis bedeckt und also angekleidet wurde er in den Sarg gelegt. Die Zizis, die nicht vergessen werden durften, sahen ein Stück aus dem Sarg hervor. Und weil die Juden alle Erde außer der Erde Kanaans für unrein achten, so bedeckten sie die Augen des Toten mit einer weißen Erde, die aus dem heiligen Land sein soll, und auf die Erde legten sie zerbrochene Scherben von Töpfen. Und dann wurde der Sarg zum Grab getragen, und es war üblich, ihn auf diesem Weg dreimal niederzusetzen. Und jeder Freund warf drei Schaufeln Erde in das Grab, und der nächste Blutsverwandte zerriß seine Kleider. Der Totengräber nahm dabei ein Messer verkehrt in die Hand und schnitt oben einen Riß in das Kleid dieses Leidtragenden, der dann den Riß mit der Hand vollendete.
Bald waren die Bestattungen zu Ende. Die Sonne brach hervor aus den Nebeln, und leuchtend lag alles Land da. Langsam schritten die Leidtragenden zurück, und sie wuschen dreimal ihre Hände, weil sie sich mit dem Tod verunreinigt haben. Und manche rissen auch dreimal Gras aus, um es rückwärts hinter sich zu werfen.
Die Zurückkehrenden wurden mit der Nachricht empfangen, daß Maier Knöcker, der Nathan, gänzlich in Wahnsinn verfallen sei. Der Eindruck dieser Kunde war nicht tief, um so mehr, als Zacharias Naar vor dem Aufbruch in Worten von eindringlicher Kraft den Mut und die Zuversicht schwellte wie der Sturm das schlaffe Segel. Sie vergaßen Not und Mühen wieder und weihten sich gänzlich dem Glauben an die große Zukunft, an die Macht und Unumstößlichkeit all dieses Langgehofften, Langentbehrten. In solchen Stimmungen des Vertrauens wirkte jede Herbstzeitlose, die blaß und kümmerlich aus den Feldern grüßte, als ein Freudezeichen, jeder frühe Sonnenstrahl hatte etwas Berauschendes, Liebenswürdiges und Ergreifendes an sich. Der eine Mensch macht den andern gut und froh; es ist ein stummes Zureden unter ihnen, ein wortloses Sichbestärken. Es ist, als ob das Unglück sie nun geweiht hätte zum Dienst des Rechtes, zum Dienst des Glücks, und wenn einer ein fallendes Meteor in der Nacht gewahrt, ist es ihm eine Glücksbürgschaft für Tage, für Wochen. Es giebt Perioden in der Geschichte der Menschen, die etwas Nervöses und Zuckendes an sich haben, ein Hintaumeln von der Schlucht zur Höhe, ein bewußtloses Berauschtsein; da wachsen dann Menschen, die etwas von der erschreckenden Empfindlichkeit junger und feuriger Pferde haben, und denen ein seltsamer Morgentraum die Begeisterung zu großen Thaten verleihen kann. Denn an sich giebt es keine Freuden und giebt es keine Erlösungen in diesem wunderlichen Labyrinth von Schicksalen, in dem wir leben.
Mit gutem Mut zogen die Juden im Schein der Herbstsonne gegen das Thal der Rednitz hinunter. Drei Wagen, – die des Obadja Änsel, des Hutzel Davidla, des Simon Fränkel, – waren schon früher aufgebrochen und bildeten gleichsam die Vorhut. Sie fuhren nicht mehr so langsam wie am vorhergehenden Tag. Die weißen Wagendecken leuchteten freundlich in der Landschaft, der Wald stand in seinem matten Grün wie eine niedere Wand am Horizont, der Himmel war klar und rein und lichtbegossen, und das Licht strömte verschwenderisch über die Gefilde. Drüben, weit drüben, lag die alte Kadozburg und auf der andern Seite, noch weiter, kaum noch als zarte Silhouette erkennbar, das Kaiserschloß von Nürnberg.
Da sah der Hauptzug, wie seine Vorhut im Gelände stille hielt. Der Maier Lambden hielt die Hand über die Augen und sagte, er sehe eine Anzahl fremder Wagen, die aus einem Gehölz herausgefahren kämen, das sie bis jetzt bedeckt habe. Jetzt stiegen mehrere auf die Kutschböcke und sahen aufmerksam hinaus. Den meisten schlug das Herz in der Brust; denn sie fürchteten einen neuen Überfall. Der junge Wagenseil, der vortreffliche Augen hatte, sagte, es seien Leute, die eine ungewohnte und fremdländische Kleidung trügen; aber er hielte sie für Juden. Dann sagte er, Obadja Änsel ginge den Vordersten der unbekannten Karawane entgegen. Dann sahen alle, wie sie sich trafen, und wie sie kurze Zeit mit einander redeten. Und dann sahen sie, wie der Obadja Änsel die Arme ausbreitete wie ein Ertrinkender und dann hinfiel wie ein Stock. Und dann liefen zwei nach und redeten ebenfalls und schienen in Weinen auszubrechen und gebärdeten sich wie Verrückte. Zirle stand und schaute unablässig in die Ferne, wo diese Scenen sich ereigneten und plötzlich stieß sie einen markerschütternden Schrei aus, als ob sie alles durch die Lüfte vernommen hätte, und sank vom Wagen herab. Die vordersten Wagen kehrten um, kehrten zurück und in kurzer Zeit hatte sich ein lähmender, tötender Bann von wildem Schmerz um die vorher so wanderungslustigen Menschen gelegt.
Sabbatai Zewi war zum Islam übergetreten.
Der Prophet, der seine Zeit beunruhigt hatte wie eine seltene Himmelserscheinung, hat bei Zeitgenossen und Nachwelt nur das dunkle Bild des Geheimnisvollen und Rätselhaften hinterlassen. Wenn nicht seine außerordentliche Schönheit die Welt betrunken gemacht, so war es doch der Zauber seines Geistes, die Größe seiner Seele oder das Hinreißende seiner Worte. Oder wäre es nichts dergleichen gewesen? Es giebt Stimmen aus jener Zeit, die ihn dem Teufel gleich erachten oder einem schlechten Schauspieler oder einem Würfelspieler oder einem Lüsternen oder einem banalen Charlatan. Aber wer kann den Beweggrund seiner Handlungen kennen? Oft ist die Geschichte wie ein dummes Frauenzimmer und läßt sich bethören von der Fabel und von der Fama und das ist gut, denn wie sollte der arme Nachgeborene die Fülle erdrückender Wahrheit ertragen, die sie ihm sonst nicht vorenthalten könnte? Der Grundpfeiler alles dessen, was besteht, ist die wohlthätige Lüge. Wenn in Polen ein Froschmensch zur Welt kommt und der Türke macht einen Gottmenschen daraus, so ist das nicht weniger wichtig, als die wahrhafte Mission eines Heilands.
Der fremde Zug, der den Weg der Fürther Juden so jäh gehemmt hatte, war ein kleiner Teil der Wiener Juden, die um diese Zeit von Kaiser Leopold des Landes verwiesen worden waren. Die Verzweiflung der Juden war groß und kann nicht in den herkömmlichen Worten beschrieben werden. Es war, wie wenn ein hoffnungsvoller Sohn plötzlich hinstirbt, auf den man alles gesetzt, von dem man alles erwartet, und der nun geht. Doch es war schlimmer. Es war mehr wie der Tod, schrecklicher wie der Tod, etwas, das die ganze Haltlosigkeit des Lebens in einem grellen Bild zeigte. Die Juden sind ein starkes und störrisches Volk; doch sind sie nur groß, wenn ein wenig Gelingen bei ihnen wohnt, und sie sind nicht lange groß, denn sie brechen leicht in dem Erstaunen über ihre eigne Größe. Auch Sabbatai Zewi war ein Jude, vielleicht das klarste Bild des Juden, ein Stück Judenschicksal: Macht oder Sklaverei.
Viele zogen wieder nach Fürth zurück. Einige Familien der österreichischen Vertriebenen, die große Not litten, und furchtbare Entbehrungen hinter sich hatten, siedelten sich nebst einigen jungen Leuten aus Fürth in dem stillen Thale an. Bei ihnen blieb Thelsela, das Weib des blödsinnigen Maier Nathan, mit ihrer Tochter und ihrem Enkel, der der Stammvater jenes denkwürdigen Menschen wurde, von dem in den folgenden Blättern die Rede ist. Die Thelsela war zu müde geworden, nach der stiefmütterlichen Heimat zurückzukehren, an der Seite der Christen zu leben und stets durch den Ort, wo sie gelitten, an die Reihe ihrer Leiden erinnert zu werden. Sie verkaufte ihr Haus und baute dort drüben ein neues. Sie wollte nichts mehr vom Leben; sie war auch nicht die Frau, viele Worte um das Leben zu machen. Sie trug knechtisch und trug still. Sie war vernünftig geblieben, doch ihre Vernunft hatte etwas Dunkles, Bitteres und Lehrhaftes.
Jener Ort, der mit Erlaubnis des freundlichen Herrn von Onolzbach gegründet wurde, hieß zuerst Zionsdorf, welcher Name dann durch die einwandernden Christen in Zirndorf umgewandelt wurde. Er gedieh, die Felder um ihn herum waren fruchtbar und voll Segen und waren stets bereit, die anvertraute Saat zehnfach zurückzugeben. Schön ist dies Land und voll von unmittelbarer Poesie für den, den es geboren hat.
Zacharias Naar und Zirle blieben für immer verschwunden. Ihr Leben verlor sich in eine Folge von Sagen und schließlich wurden auch ihre Thaten märchenhaft. Geschlecht auf Geschlecht erstand und verblühte, und eine neue Zeit kam. Und das Kommende war immer größer, freier und vollendeter, als das Vergangene, und der Jude, anfänglich nur Knecht, wert genug, den Fußtritt des übelgelaunten Herrn zu empfangen, that seine Augen auf und erspähte die Schwächen und erriet die Geheimnisse dieses Herrn. Da griff er alsbald mit seinen Händen hinein in die Maschinerie der Völker und ihrer Gerichte und ihrer Kriege, und oft verrichtete er ungesehen wahrhaft kaiserliche Dinge, wenn die Monarchen schliefen und die Minister schwach waren. Sabbatai wurde ein Moslem, und manche sagen zum Schein. Der Jude wurde ein Kulturmensch, und manche sagen zum Schein. Manche sagen, der Verderber und der Verführer sitze in ihm und er verstünde die Bühne dieser Welt besser als ihre Erbauer. Dies ist sicher: ein Schauspieler oder ein gütiger Mensch, voll innerlicher Schönheit und doch häßlich; lüstern und asketisch, ein Charlatan oder ein Würfelspieler, ein Fanatiker oder ein feiger Sklave, alles das ist der Jude. Hat ihn die Zeit dazu gemacht, die Geschichte, der Schmerz oder der Erfolg? Gott allein weiß es. Vor den Blicken thut sich ein unermeßliches Bild auf, denn das Wesen eines Volkes ist wie das Wesen einer einzelnen Person: sein Charakter ist sein Schicksal.
Im Jahre 1885 fing es in den Ebenen der Rednitz und Pegnitz einige Tage nach Maria Himmelfahrt an zu regnen, und es regnete unaufhörlich bis über die Mitte des August hinaus. Die Saaten gingen völlig zu Grund dabei, und zu Ende des August war alles Land, das durch den Ring der Dörfer Poppenreuth, Kalkreuth, Buch, Altenberg, Kadolzburg, Zirndorf, Bach und Unterfarrnbach eingeschlossen ist, ein einziger See. Sogar noch weiter, bis ins Thal der Zenn hinein erstreckte sich die Überflutung und nach Norden in die Erlanger und Bayersdorfer Gegend. Graugelb und gurgelnd schlug das Wasser gegen den Eisenbahndamm in Fürth, als ob er zornig wäre, daß es so hoch nicht reichen konnte. Der Frohnmüllers-Steg war weggerissen, ja sogar die stärkere Brücke, die nach dem Weiler Dambach führt; die Badeanstalt war gänzlich zerstört; tagelang sah man die Bretter und Balken und die kleinen Schindeldächer der zerrissenen Hütten die Strömung hinuntertreiben. In der Fischergasse und in der Pegnitzgasse und am Schießanger und in all den kleinen Winkeln beleckte das Wasser die Häuser, füllte die Keller, und schlug drohend an die Schwelle mancher kleinen Krämerei oder Metzgerei, oder an die niederen Simse der Goldschlägerwohnungen, deren Gehämmer sonst lustig und mit anziehender Taktmäßigkeit den ganzen Tag erschallte. Wenn die Weiber des morgens zum grünen Markt wollten, mußten sie in Booten fahren fast bis zur Stadtwage hin, und sie standen dabei viel Angst aus.
Wie eine große, gebirgige und geheimnisvolle Insel sah der Vestnerwald mit seinem viereckigen Turm in das überschwemmte Land. Wenn man von dort aus gegen Zirndorf hinunterblickte, sah es aus wie der Ozean selbst; nur ein paar Pappelbäume oder die Bäume einer Obstanpflanzung oder weit in der Ferne quer durcheinander geschichtete Hopfenstangen, oder der hohe Pfahl, worauf bei Schützenfesten der bemalte Adler befestigt wird, ragten aus dem Wasser hervor, das gelbschimmernd dalag, ohne sonderliche Bewegung wie ein matter Spiegel. Das Dorf selbst war zum größten Teil verschont geblieben, weil es etwas höher lag. Kein Rauch stieg aus den Schloten der Ziegelei am Eingang der Hauptstraße. All die roten Dächer sahen gleichsam ergeben in das helle Grau des Himmels, und die Raben, die hoch in der Luft mit unruhigerem Flügelschlag als sonst dahinzogen, hatten etwas Schmerzliches, ja vielleicht Verzweifeltes in ihren plötzlichen gellenden Schreien.
Den Wirten im Dorf ging es schlecht bei diesen feuchten Zeiten, besonders zweien: Sürich Sperling, dem St. Sebalderwirt und Martin Ambrunn, der die „gläserne Burg“ innehatte. Auch das Turnerfest war auf den nächsten Sommer verschoben worden und die Fürther Kirchweih stand vor der Thür; da würde ohnehin wieder alles Geld in die Stadt wandern. Als der Burgwirt keinen Ausweg mehr sah, schickte er bei allen Juden herum und ließ sagen, daß er von nun ab auch koscheres Fleisch zum Aushacken bringen werde und daß der Schochat die üblichen Formalitäten vornehmen werde. Auch der Bauer litt schwer unter der Wassersflut und mancher, dem bislang eine selige Thalerfülle im Beutel geklappert, schlich nunmehr gebückt und finster ins Wirtshaus, um daselbst seinen ganzen Groll gegen die Zechbrüder auszuleeren. Zwischen den Dörfern Altenberg und Zirndorf, die sehr nahe beieinanderlagen, wurde der Verkehr durch Boote vermittelt, und an einem Donnerstag war es, die Wolken hingen niedrig, waren zerzaust und regenschwer, fuhren zwei Kähne ungefähr gleichzeitig, der eine von Zirndorf, der andere von Altenberg ab und befanden sich einander in Sehweite, noch ehe jeder hundert Meter zurückgelegt hatte. Der Wind strich übers Wasser und warf kurze, lautlose Wellen auf, so daß ein nervöses Leben in die starre Fläche geriet. In kleinen Entfernungen erhoben sich die Chausseebäume aus der Flut, und das dünne Zweigwerk hing wie trauernd nieder und wurde vom Wasser bespült. Die Bäume zeichneten den Weg vor und die Boote näherten sich rasch; aber das von Zirndorf kommende, in dem Sürich Sperling, seine zwei Knechte, der Milchmeier von Altenberg, der Metzger Frühwald von Fürth und ein ganz fremder, vornehm aussehender junger Mann saßen, glitt viel schneller dahin als das andere. Sie waren sich auf zehn Schritte nahe gekommen, und Sürich Sperling schrie eine Warnung hinüber; doch es lag etwas Gehässiges in seiner Stimme, und es hatte den Anschein, als suchte er das kleinere Boot zu kentern. Die Bedrohten wichen furchtsam aus, aber Sürich Sperling, der das aus einer alten Kohlenschaufel verfertigte Steuer handhabte, richtete die Spitze des Kahns gegen die Breitseite des andern Fahrzeugs, und dieses stieß dadurch ziemlich heftig an einen Baumstamm. Gleichzeitig ertönte ein entsetzlicher Schrei aus fünf oder sechs Kehlen, und ein junger Mensch von etwa siebzehn Jahren stürzte kopfüber ins Wasser. „Laßt das Judenpack versaufen,“ krächzte Sürich Sperling, und die zwei Knechte und Herr Frühwald begannen zu lachen, während sie hastig davonruderten. Selbst der schwarzbärtige junge Mann grinste, offenbar nur um seinen Reisegefährten gefällig zu sein. Dann warf er stirnrunzelnd den Stumpf der Zigarette ins Wasser und sah mit angestrengten Blicken nach der Stelle des Unglücks hinüber. Etwas Düsteres und Drohendes glomm in seinen Augen, doch war es kaum klar, gegen wen sich solche Gefühle kehrten. Sürich Sperlings Boot fuhr erbarmungslos davon, und sie überließen es den jüdischen Männern, den Verunglückten aus dem Wasser zu ziehen.
Dort herrschte große Ratlosigkeit, der leichte Kahn wurde vom anschwellenden Wind und von einer leichten Strömung fortgetragen, und die Köpfe waren so verwirrt, daß der eine Ruderer das Fahrzeug dahin und der andere es dorthin lenkte. Keiner konnte schwimmen. Wasser war ihnen das unfehlbar totbringende Element; und als Elkan Geyer in heller Angst um seinen Sohn doch den Rock von sich warf, um in die Flut zu springen, hielten ihn sechs Arme zurück, wobei das Boot fast zum Kippen gekommen wäre. Plötzlich stieß Bärman Schrot einen Freudenschrei aus. Agathon tauchte aus dem Wasser empor, erfaßte den weit überhängenden Ast eines Birnbaumes, und mit bewundernswerter Kraft hatte er auch die andere Hand an den Ast geklammert. Dann schnellte er aus dem Wasser und kletterte mit der Behendigkeit eines Affen ins dichtere Gezweig des Baumes. Als er droben saß, streckte er seinen Kopf wie aus einem Korbgeflecht heraus und sah hämisch ins Boot. „Komm, komm, Agathon!“ rief Elkan Geyer mit der schüchternen Zärtlichkeit eines Schuldbewußten.
„Mag nicht!“ schallte es kurz zurück.
„Aber Aga, so komm doch!“ bat Elkan erschrocken. Er kannte den wunderlichen Starrsinn seines Sohnes.
„Ich will aber nicht. Ich will nicht mehr in euer Boot.“
„Aber Aga, deine Kleider sind naß, und du wirst totkrank werden.“
„Gut, dann will ich totkrank werden.“
„Lieber Junge, jetzt hopp!“ rief Isidor Rosenau entschlossen und befehlend.
„Ich will euch etwas sagen,“ erwiderte Agathon sehr ernst. „Ich werde warten, bis Sürich Sperling zurückkommt und wenn es Nacht wird, und wenn es morgen wird. Ich will ihm sagen, daß er ein Hund ist, ich will ihm sagen, daß er es büßen muß. Ihr, ihr laßt euch ja alles gefallen. Euch dürfen sie die Ohren abreißen, dann küßt ihr ihnen noch die Hand. Bloß daheim könnt ihr schimpfen.“
„Aber Aga, so komm doch,“ flehte Elkan Geyer. „Du kannst doch nicht da droben sitzen bleiben bis in die Nacht, chaas we Scholam, Gott behüte.“
„Ja, ich bleibe sitzen,“ beharrte Agathon und seine Augen funkelten.
„So a Meschuggas!“ rief Isidor Rosenau entrüstet. Und er packte sein Ruder und stieß den Kahn vom Baum. Elkan Geyer schlug jammernd die Hände zusammen und bat, man solle doch zurückfahren und einer solle den Baum erklimmen. Aber die andern lachten ihn aus. „A Chutzpa von dein Jung, wahrhaftig a Gemeinheit,“ sagte Bärman Schrot. „Was haste dei Jeleth nit besser gezogn? Meins thät so was nicht. Cholilah, ich schlagets tot.“
Der Kahn flog rasch gegen das Dorf und Elkan Geyer wartete ungeduldig auf die Landung, um allein wieder zurückfahren zu können. Er saß da, den Kopf in die Hand gestützt, und sah verträumt hinaus gegen den Horizont, wo ein leises, trübes Roth die Wolken zu säumen begann, das sich auch im Wasser spiegelte mit einem seltsam schwanken Schein. Es war überhaupt etwas Verträumtes in seinem ganzen Wesen; in seinem Blick lag eine flehende Hilflosigkeit; sein frühergrautes Haar mochte Zeuge davon sein, wie er alles zu Herzen nahm, woran andere nicht lange tragen. Ja, wenn es andere fortwarfen, hob es Elkan Geyer erst auf, und er wußte seine Angelegenheiten immer von einer Seite anzugreifen, von wo sie mißlingen mußten.
Agathon fror auf seinem Baum erbärmlich. Aber er verzog keine Miene, wenn er auch schauderte in den nassen Kleidern; er machte ein Gesicht, als gälte es, sich vor den eigenen Leiden zu verstecken. Unten gluckste das Wasser; wenn man lange hinlauschte, war es, als plauderte es immer in demselben müden Rhythmus mit hellen, wiederkommenden Lauten.
In diesem Augenblick hatte er eine seltsame Erscheinung. Aus dem Wasser hob sich ein Körper, die Arme breit in die Luft gestreckt, das Gesicht fast sehnsüchtig nach oben gerichtet. Lautlos wuchs die Gestalt herauf und die Arme Muskeln schwollen wie unter einer gewaltigen Anstrengung. Und daneben zeigte sich ein kleines Männchen, spitz, winzig, mit einem gefälligen Grinsen auf den Zügen, in beständigen Verbeugungen begriffen, und er reichte der großen Gestalt die Hand. Aber wie diese die Hand nahm, sank sie tief und tiefer ins Wasser, wich angstvoll zurück, strauchelte und verflüchtigte sich im Dunst, der in der Ferne über dem Wasserspiegel lag. Mit vorgestrecktem Hals starrte Agathon hin und atmete tief auf, als er dann nichts weiter sah als die glatte Fläche, und kein Geräusch weiter vernahm als das klagende Glucksen des Wassers.
Als es zu dämmern anfing, wurde ein klatschender Ruderschlag hörbar. Elkan Geyer kam. Agathon zögerte nicht (umsoweniger, als sein Vater allein war) und ließ sich, nachdem er flüchtig den Horizont abgeguckt, ins Boot hinab. Sie fuhren heim auf der stillen Fläche, über die es langsam hindunkelte, und sie sprachen kein Wort miteinander. Die Krähen flogen ums Boot, lautlos und geängstigt, und bisweilen war das Wasser von einer Schicht gelber Blätter bedeckt. Die Röte am westlichen Himmel glich einer schmalen Schleife und wurde zusehends trüber und einige Wolken lagerten dort, die großen, sensenschwingenden Männern glichen. Am Kirchhof landeten die beiden, schritten die kotige Straße des Dorfes hinauf und waren bald daheim: in diesem kleinen, grüngestrichenen Häuschen, das dem Verfall keinen Widerstand mehr bot und in jedem Augenblick zusammenzubrechen schien. Das Dach drückte schwer auf Giebel und Mauern, und die Fenster waren so unregelmäßig gebaut, daß sie leicht den schielenden Augen eines Menschen zu vergleichen waren. Elkan Geyer schritt durch den langen, finstern Gang mit den brüchigen Ziegelsteinfließen, an vielen Thüren vorbei in die Kammer, wo die Obstvorräte und Spezereien für den kleinen Kramladen aufgestapelt lagen. Eine sonderbare Mischung von Gerüchen herrschte da: es roch nach frischen Äpfeln und nach alten Stoffen, nach schlechter Schokolade, nach eingemachten Früchten, nach Essig und nach Konserven, nach geräuchertem Fleisch und nach Kaffee. Dazu lag feiner Mehlstaub in der Luft, und düster-grünes Tuch war über große Kasten gebreitet.
Agathon war seinem Vater gefolgt, der den Kerzenstumpf anzündete und dann bekümmert in das dürftige Flämmchen schaute. Mit seiner müden Stimme begann er zu reden, daß ihm wohl sein Ältester das Leben leichter machen könne, als er es thäte, und wie er, Agathon, sich eigentlich die Zukunft vorstelle? Daran läge jetzt alles, mehr als alles; das sei bitter ernst und er, Elkan, werde ja jetzt alt und es werde ihm schon schwer, das viele Schulgeld aufzubringen. Auch dürfe er sich ja nicht schlecht benehmen gegen Sürich Sperling, denn er, Elkan, sei tief verschuldet bei diesem Mann, so daß er sich keinen Rat in der Welt mehr wisse. Niemand wolle helfen, auch der Großvater nicht, Enoch Karkau, der es doch sicherlich vermöchte. Elkan Geyer sagte gewiß mehr, als er beabsichtigte; er bemerkte endlich, wie Agathons Glieder zitterten, vielleicht nicht nur der nassen Kleider wegen. Schnell gebot er ihm, sich umzukleiden, aber er solle es so anstellen, daß die Mutter nichts merke.
Gedankenvoll ging Elkan Geyer hinaus in den kleinen Hof, der zwischen Haus und Gemüsegarten lag, und trotzdem es schon ziemlich dunkel war, traf er seinen alten Schwiegervater noch bei der Arbeit. Enoch Karkau war zweiundachtzig Jahre alt, aber er übte noch immer sein Handwerk als Seiler aus. Er wanderte noch täglich den langen Weg nach Fürth, war schweigsam und mürrisch, und niemand konnte ihn auf mehr als sechzig schätzen. Zu keiner Zeit hatte er eine Nacht unter fremdem Dach geschlafen, niemals hatte er für länger als zehn Stunden das Dorf verlassen. Hier war ihm jeder Stein bekannt und die ganze übrige Welt war für ihn ein Gleichnis. Er kannte keine Sehnsucht als die nach dem Gold, und Gefühlen anderer Art war er gänzlich verschlossen. Die Welt, in der er lebte, veraltete ihm nicht, und er dachte auch nicht an den Tod. Er war fromm, d. h. er ging allmorgendlich zum Gottesdienst, sowie jeden Abend, um den Tallis, den er seit neunundsechzig Jahren um die Schultern legte, von neuem zu küssen und das halbzerfetzte Gebetbuch mit den braungewordenen Blättern von neuem aufzuschlagen. Das war für ihn eine tote Pflicht geworden, über die man nicht nachdenkt. Der Lauf der Welt war ihm gleichgültig. Die Stürme, die um die Mitte des Jahrhunderts die Völker hatten erbeben lassen, der Bürgerkrieg im Innern achtzehn Jahre später, er hatte kaum danach gefragt; der Kampf der siebziger Jahre, obwohl er einen Sohn dabei verloren hatte, war für ihn ein „Muschikaam“ gewesen, eine Narretei. So hatte er sein langes Leben gelebt und war alt geworden.
Einige Sterne zuckten unter schnellen Wolken auf. Die Luft war satt von Feuchtigkeit und hatte etwas Durchdringendes. Das Laub des wilden Weins war blutrot und leuchtete selbst durch die Dunkelheit. Von der „gläsernen Burg“ her erschallte das Geschrei der Zecher, und einer war es, der mit simpler Geduld und in flennenden Tönen immerfort dieselbe Melodie sang: spinn’ spinne Töchterlein. Die Abendglocken begannen zu läuten; bald klang es fern, bald klang es nah, und jeder, der auf der Straße ging, klaubte sich unwillkürlich seine eigene Weise zusammen aus den abgehackten Tönen.
Enoch Karkau hatte eine kleine, verrostete und verbogene Laterne angezündet, holte eine Wanne herbei, die mit Schafsdärmen angefüllt war, und bedeckte sie mit einem runden, tellerartigen Holzsturz, den er zur Beendigung seines Tagewerks mit Fugen für die Henkel des Bottichs versehen hatte.
„Nun, Vater“, flüsterte Elkan Geyer und sah ängstlich auf die Hände des Alten, die mit großen, braunen Flecken und langen Haaren bedeckt waren.
Enoch schwieg.
„Und wenn’s Jette erfährt?“ murmelte Elkan. „Schließlich ist sie doch dein Kind.“
„Sie waaß ja nix,“ erwiderte Enoch mürrisch.
„Sie wird’s bald wissen. Sürich Sperling ist ein Halsabschneider.“
„Wärst nit leichtsinnig gewesen. Mer hätten kei Scheuer zu bauen gebraucht. Was haste nu? Ich kann der nit helfen. Ich ha ka Geld.“
Elkan rang stumm die Hände. Dann sagte er: „Du hast so vielen das Messer an die Gurgel gesetzt, Vater. Da kann ich’s begreifen, daß du gegen deine Kinder so bist.“
Enoch richtete sich langsam auf und machte eine abwehrende Armbewegung. Gleich darauf ging er ins Haus. Die Laterne zitterte in seiner Hand und sein Schatten schwankte hinter ihm auf dem schwarzen Erdreich.
Im Zimmer vorn rauchten die Kartoffeln auf dem Tisch, und zwei Heringe lagen in gelber Sauce in einer großen Schüssel. Die Kinder hatten Teller von Blech vor sich, die alt waren und unappetitlich aussahen. Nur die Magd und Frau Jette hatten Porzellanteller. In der großen Ofennische brodelte singend der Kaffee, und sein Geruch vermischte sich mit dem übergelaufener und verbrannter Milch. Das Zimmer war niedrig und schwül, und eine von Tagen aufgehäufte Unordnung herrschte. Die Möbel schienen schief zu stehen, die Dielen waren rissig, und zu den gardinenlosen Fenstern schaute unbehindert die schwarze Nacht oder wer sonst noch wollte herein. Und doch zeugte alles von der Hand einer unermüdlich scheuernden Hausfrau, die nur zu schwach war, das Reich, das man ihr gegeben, völlig zu regieren. Sie beherrschte auch ihre Kinder nicht, das sah man schon an den Gesichtern der Kinder, die so unbekümmert dasaßen, als ob sie niemandem zu gehorchen brauchten. Sie nahmen sich selbst Kartoffeln so viel sie wollten und Butter und Brot, und wenn eines ein größeres Stück Häring erwischte, erhob das andere ein neidisches Zetergeschrei. Eine Katze schlich unter dem Tisch herum, rieb sich an den Stuhlbeinen und stieß bisweilen ein leises und begehrliches Miauen aus, wozu die Kinder und die dicke Bauernmagd schadenfroh kicherten. „Wo ist Aga, Mama?“ fragte der Knabe, ein lockiger Pausback von fünf Jahren. Frau Jettes Mund verzog sich zu einem ärgerlichen Grinsen. „Red nicht, wenn du’s Mund voll hast!“ schrie sie und schlug mit der Faust auf den Tisch. Wie alle Frauen, die von ihren Kindern tyrannisiert werden, suchte sie durch grundlose Heftigkeit ihre Schwäche zu bemänteln. Enoch Karkau kam mit müden, tappenden Schritten herein, pustete sein Laternchen aus und stellte es in einen dreieckigen Eckschrank, der zugleich als Waschbehälter diente, wusch sich die Hände und sprach das übliche Gebet. Niemand beachtete ihn. Da er den Tisch besetzt fand, ließ er sich schwer in die Ecke des Ledersofas fallen, seufzte und sah mit glanzlosen Augen in das Ofenloch, aus dem der purpurne Feuerschein zitterte. „Warum singt denn der Mann immer, Großpapa?“ fragte der Pausbäckige. Enoch grunzte und schüttelte den Kopf. „Was singt er denn, Großpapa?“ – „Sei still!“ schrie Frau Jette heiser und erregt und klopfte mit zwei Fäusten auf den Tisch, daß alles klapperte. „Spinn’ spinne Töchterlein, singt er,“ flüsterte dem Pausbäckigen schüchtern die ältere Schwester zu, Mirjam, ein Kind von wunderbarer Schönheit. Plötzlich sprang Enoch auf, ergriff mit einem Satz das Kätzchen bei seinem aufgerichteten Schwanz, öffnete die Thüre und warf das quietschende Tierchen heftig an die gegenüberliegende Flurwand. Gerade trat Elkan Geyer auf die Schwelle, warf dem Alten einen schmerzlichen Blick zu und nickte.
Eine Fensterscheibe erbebte und klirrte leise. Aller Blicke wandten sich dorthin. Mirjam stieß einen Schrei aus und legte die Händchen vor die Augen. Frau Jette blieb der Bissen im Mund stecken. „Sürich Sperling“, murmelte Enoch. In der Tat war es das rote Gesicht des Wirts, das zu einer breiten, gräßlichen Fratze verzerrt, augenlos und mit plattgedrückter Nase hereinstierte. Elkan Geyer wurde totenbleich und machte einen Schritt gegen das Fenster. Da war Sürich Sperling schon wieder verschwunden. Jubelnd sprang Mirjam, die alle Leiden schnell vergaß, dem Vater in die Arme, der das Kind aufhob und es leidenschaftlich küßte. Die Magd kicherte ohne Grund in sich hinein, und Enoch schlich wieder in seinen Sofawinkel, um geduldig zu warten, bis die Zeit für ihn kam, um zu essen.
„Wo ist Aga?“ fragte jetzt auch Frau Jette und blickte ihren Mann forschend an. Elkan Geyer sah sich erstaunt um, stellte das Kind auf die Erde, und ein Schatten rätselhafter Besorgnis ging über seine Stirn. Er öffnete die Thür und rief in den Flur: „Agathon! Agathon!“ Nichts antwortete dem Ruf, und die Stille im Haus erschien groß und drückend. Die Kinder schwiegen am Tisch, selbst die dicke Magd hatte aufgehört zu kichern und Elkan lauschte und lauschte und hörte nur das Ticken der Pendeluhr im Zimmer. Er hatte eine unbestimmte Angst und dachte nicht weiter, als wie seltsam dieser Name sei, wenn man ihn laut rufe: Agathon. Frau Jette wollte hinausgehen, um zu suchen. Aber Elkan hielt sie zurück, schlug murrend die Thür zu und setzte sich an den Tisch, um zu essen.
Nach einer halben Stunde stürzten die Rosenaus Mädchen herein: mit fliegenden Haaren, überreizt lachend, atemlos. Sie waren immer aus irgend einem Grunde atemlos. Ihnen folgte ihr Bruder Isidor: würdig, ernst, gemessen. Die Mädchen sprachen den Bauerndialekt der Gegend, was von den wilden und südlichen Zügen ihres Gesichts wunderlich abstach. Sie ließen sich in allen Dingen völlig gehen, während Isidor sich einen städtischen Anstrich zu geben bemüht war. Er trug einen steifen, englischen Hut, Kravatten nach der neuesten Mode, umgestülpte Hosen und hellgelbe, obwohl kotbedeckte Schuhe. Seine Finger waren von Ringen jeglicher Façon bevölkert, und seine Uhrkette war schwer von goldenem Behängsel. Er hatte etwas Impertinentes in seinem Wesen wie ein Mensch, dem nichts in der Welt mehr neu sein kann; er ging in der Stadt am liebsten dorthin, wo man ihn nicht kannte, denn nichts beglückte ihn mehr, als wenn man ihn für keinen Juden ansah. Die Mädchen küßten die Kinder der Reihe nach ab, und Isidor machte einen Witz und sah sich um, ob niemand lache. Klara Rosenau berichtete hastig die neueste Neuigkeit: ein junger Mann sei seit gestern im Dorf, dessen Verwandter die Ziegelei kaufen werde. Er sei sehr schön und heiße Stefan Gudstikker, doch niemand wisse, was er sei, noch was er wolle. Bei der Nennung des Namens begann Frau Jette zu zittern, lehnte sich kraftlos zurück und schloß die Augen. Die Mädchen sahen es nicht; sie bemerkten nichts in der Welt, was nicht sie selbst betraf.
Elkan Geyer und Isidor standen beim Ofen und flüsterten miteinander. Der schwächliche und furchtsame Elkan schien von einer wilden Beredsamkeit ergriffen, aber Isidor zuckte fortwährend die Achseln, und sein Gesicht wurde grausam und kalt. „E betuchter Mann, dei Schwiegervater, boruch ha schem,“ bemerkte er höhnisch.
„Und wenn er mir das Haus weg nimmt und das letzte Stück Brot, zuletzt findet sich immer noch ein Ausweg. Gott wird helfen.“
Isidor lächelte kühl und flüchtig und klimperte mit den Thalern in seiner Tasche. Und Elkan Geyer fuhr fort: „Der Sürich ist nicht wie Gläubiger sonst, das muß man nicht glauben. Es ist ein eigner Geist in ihm. Rastlos kommt er herein und in seinen Augen funkelt’s vor Haß. Er kommt herein, streckt seinen Hals, lacht oder knipst mit den Fingern. Ich weiß nicht was es ist, er ist unheimlich, jawohl, aber er hat etwas Edles an sich.“
Die Frauen und die Kinder unterhielten sich abseits. Nur Enoch blickte starr auf die beiden Männer und sein gelbes Gesicht mit dem struppigen Bartrand schien ganz versteinert zu sein. Er grämte sich auch darüber, daß man ihm nichts zu essen gab und weil alle seiner vergaßen wie eines abgebrauchten Hausrats. Sie lauern auf meinen Tod, dachte er, aber den Gefallen will ich ihnen nicht thun. Das Kätzchen miaute vor der Thür. Er hörte es nicht; in dunklen Bildern stieg Vergangenes herauf und mischte sich sonderbar fremd mit Bildern des Tages.
„Ach ja, euern Aga habe ich gesehen!“ rief plötzlich Helene Rosenau ganz laut. Auf einmal schilderte sie da ein ganzes Drama, und alle lauschten erregt. Sie suchte sich durch das Feuer ihrer Rede gleichsam für den Leichtsinn zu entschuldigen, der sie den Vorfall so lang hatte verschweigen lassen.
Sürich Sperling stand an seinem Haus am Kirchenplatz. Das Haus war beleuchtet vom hellen Feuer der Schmiede gegenüber. Das kleine Lämelche Erdmann ging vorüber, das schon seit dreißig Jahren die Gebete in der Spitalschule las. Es schlenkerte so daher, und das Köpfchen wackelte hin und wackelte her, und Sürich Sperling rief, es solle zu ihm kommen. Und als das Lämelche sich furchtsam aus dem Staub machen wollte, ging Sürich hin und zog es bei den Ohren zu seiner Treppe. Er stierte dem Kleinen lange in die Augen, und sein rotes Gesicht wurde blaß, ja es erhielt für diesen Augenblick etwas Hoheitsvolles; sein Mund begann zu lächeln, – schmerzlich. „Hin ist hin,“ sagte er und machte mit dem Arm eine unbestimmte weite Gebärde. „Ich bin ein Mann, mit dem’s die Welt verdorben hat. Wenn ich einen Juden seh’, kocht mein Blut, das muß ich noch büßen. Ich kann die Juden riechen, wie der Hund das Wild. Schmied komm mal rüber, leg’ den Kerl da unter deinen Amboß.“ Der Schmied trat heraus ins Freie und nickte Sürich freundlich zu, der den Kopf des Lämelche niederzog, daß das Männchen zu schreien anfing. Jetzt kam Agathon Geyer aus dem Schatten des Brunnens, stürzte auf den Wirt zu und spie ihm ins Gesicht. Sürich Sperling ließ sein Opfer los, packte Agathon, nahm ihn wie ein Paket und verschwand mit ihm im Haus. Der Schmied lachte, die Mägde am Brunnen lachten auch; stets fanden sie den Sebalderwirt überaus spaßhaft.
Aber er war in Wahrheit ein prächtiger Mensch. Er war gebaut wie ein Steinbild. „Er ist ein Germane, das Urbild des Germanen,“ sagte Professor Brünotte in Fürth. In ihm schien sich alles Glänzende und Rohe, alles Kraftvolle und Plumpe der Rasse vereinigt zu haben. Er liebte und haßte ohne Rechenschaft und Künstelei, ohne Berechnung und Überlegung. Er haßte die Juden unbeschreiblich; jede Gebärde, jeder Ton der Stimme, jede Handlung regte ihn auf wie Wein. Es war unerhört und wunderlich; keines Menschen Erfahrung wies einen ähnlichen Fall auf. Er war ein Tier: wild, stolz, unbezähmbar, keinem Vernunftgrund der Welt zugänglich. Niemals hatte er vor einem Herrn den Nacken gebeugt; nie war er wie andere junge Leute seiner Abkunft Knecht gewesen. Es gab Leute, die sich fürchteten, wenn irgend einer von der Regierung ins Dorf kam; sie fürchteten ein Unglück für den Regierungsmann und für den Wirt. Denn Sürich Sperling verachtete den Adel und verachtete das Gesetz und verachtete den Pfaffen, und die am Ruder sitzen verachtete er. Er war ein Sohn dieser großen Natur rings umher, dieser breiten Ebene, die sich ausstreckt und ausstreckt, riesenleibig. Wenn er einen Soldaten sah, spuckte er kurz auflachend in eine Ecke. Ja, er bewirtete gar keinen Soldaten; sie bekamen einfach kein Bier bei ihm. Und doch war sein Gemüt kindlich, und er war leicht zu lenken. Oft war er rätselhaft in seinem Wesen, schrie und tobte und war innerlich traurig. Sein Vater soll ein Riese gewesen sein, und von seiner Mutter erzählt man sich seltsame Dinge, die an die Berichte über die Kleopatra erinnern. Sürich Sperling paßte nicht herein in diese Welt. „Das Urbild des Germanen“ fand kein Bett, worin es bequem ruhen konnte.
Kaum hatte die schwarze Helene gesagt, was sie gesehen, als Elkan Geyer mit einem schwachen Aufschrei seinen Hut vom Nagel riß und hinausrannte. Die Kinder begriffen nicht, worum es sich handelte und blickten scheu und fragend umher. Isidor stand leise und verlegen trällernd am heißen Ofen und tippte mit den Fingern an die Kacheln. Der alte Enoch war still; sein Blick hatte sich umschleiert; es war, als ob die beängstigende Stimmung von ihm ausflösse.
Elkan Geyer eilte die Gasse hinunter. Am Brunnen standen noch immer schwatzende Jungfern. Das Wasser lief plätschernd in den Trog, und der dünne Strahl war blutrot im Widerschein des Schmiedefeuers. Sürich Sperling hockte vor seinem Haus auf den Steinfließen, hatte das Gesicht zwischen die Hände geklemmt und starrte unverwandt hinüber in die Esse, vor deren Glut die Gesellen silhouettenhaft hin und hereilten. Elkan Geyer ging hin zu ihm und fragte: „Was haben Sie mit meinem Sohn gemacht? Reden Sie!“ Sürich Sperling schwieg, ja, er erhob nicht einmal die Augen. Mechanisch wiederholte Elkan seine Frage, aber der Andere öffnete den Mund nicht, machte keine Bewegung, blieb starr wie im Schlaf. Sein Gesicht hatte den Ausdruck wie bei einem Menschen, der über das Tiefste und Geheimnisvollste des Lebens nachdenkt, oder wie bei einem Kranken, dem man den Tag seines Todes vorhergesagt hat. Was ist mit ihm vorgegangen? dachte Elkan und er wagte es, diesen Feind an der Schulter zu rütteln. Er hätte nicht den Mut dazu gehabt, wenn ihn nicht Furcht und Verzweiflung getrieben hätten. Da richtete sich Sürich Sperling auf und ging schweigend ins Haus. Elkan, der sich nicht getraute, ihm zu folgen, zitterte vor Besorgnis. Er ging hinüber zu den Mägden. Ja, sagten sie, sie hätten Agathon gesehen. Mit dem Arm wiesen sie gegen die Richtung von Elkans Haus. Er schloß sekundenlang die Augen, – erleichtert, und kehrte dann seufzend den finsteren und schmutzigen Weg zurück.
Frau Jette kam ihm im Flur entgegen, und ihr Gesicht, das auch sonst von einem kranken, bräunlichen Gelb war, sah ganz erschreckend aus. Ihre Augen fragten, ihr Mund nicht. Wenn es auch fast stockfinster war, Elkan sah es doch; er bemerkte diesen irren Glanz, in dem alles Durchwühlte der Frauenseele lag. Die Rosenaus hatten sich mit banalen Trostsprüchen entfernt; wenn es wo nicht mehr munter und witzig herging, wurde es ihnen unbehaglich. „Er ist nicht da?“ stieß Elkan heftig hervor, indem er in die Stube trat und sich unruhig umsah. Niemand antwortete. Aber kaum hatte Frau Jette die Thür hinter sich geschlossen, als sie leise wieder aufging und Agathon hereintrat. Sofort gewahrten alle, selbst das kleinste der Kinder, daß in seinem Gesicht etwas war, das sie vorher nicht darin gesehen hatten. Er schlich mehr, als daß er ging, sagte weder guten Abend, noch sonst irgend eine Silbe, setzte sich auf einen der Holzstühle neben seine Schwester Mirjam, der er flüchtig schmeichelnd übers Haar strich, nahm einen der erkalteten Erdäpfel von der Platte, schälte ihn und begann zu essen. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, aber er schien nichts davon zu bemerken. Mit bleiernem und glanzlosem Blick guckte er auf seinen Teller und aß anscheinend mit Ekel und Überwindung. An seinem Hals war eine blutige Schramme.
„Wo warst denn du?“ fragte Elkan Geyer mit richterlicher Würde und trat an den Tisch. Seine Stimme bebte. Agathon sah seinen Vater ausdruckslos an und fuhr fort zu kauen. Frau Jette hatte sich, den Kopf auf den Arm gestützt, weit über den Tisch gelegt und sah ihren Sohn durchdringend an.
„Woher hast du die Schramme?“ fragte Elkan Geyer weiter und stützte beide Fäuste auf den Tisch. Seine weichen, guten Augen begannen zu funkeln. Auch Enoch trat jetzt herzu, schob den Kopf Agathons mit der Hand so weit zurück, daß ihm das Gesicht aufwärts zugewandt war und sah ihn finster an. Agathon schlug die Augen nieder. „Woher hast du die Schramme?“ brach Frau Jette mit ihrer kreischenden Stimme aus. – „Vom Baum“ murmelte Agathon. Elkan Geyer verfärbte sich, und fing an zum Erstaunen aller andern von den Erfolgen seiner Fahrt nach Altenberg zu berichten.
Agathon erhob sich und verließ das Zimmer. „Sag’ mir nur um Gotteswillen, was der Jung’ hat! Er is meschugge, rein meschugge!“ klagte Frau Jette. Elkan stand am Fenster, wo man die Straße entlang sehen konnte. Ihm war, als sähe er den Wasserspiegel im Fernen oder spüre den feuchten, kühlen Hauch der Flut. Sein Herz wurde eng. In ihm lebte jenes hinreißende Vertrauen auf ihren Gott und auf den Kommenden, den Messias, das in allen frommen Juden schlummert, und das ihn selten verließ, – wie jetzt.
Er ging, um nach Agathon zu sehen, denn der Gedanke an ihn bedrückte seine Sinne. Er öffnete eine Thür des finstern Flurs und kam in eine kalte, kahle Kammer, wo auf einem elenden, hochbeinigen Holztisch eine Kerze stand. Agathon war über ein dickes Buch gekrümmt, die Finger in den Haaren verwühlt. Es war das Neue Testament. Kaum hatte Elkan das Buch angesehen, als er es mit einer wütenden Bewegung packte, es unter dem Ellbogen Agathons hervorzerrte, die einzelnen Blätter zerfetzte und den Band in eine Ecke warf. „Das thust du! Das thust du mir!“ flüsterte er atemlos. Agathon schwieg und wandte die Augen von denen seines Vaters nicht und veränderte nicht seine seltsam kauernde Stellung. Elkan empfand plötzlich eine unerklärliche Furcht vor ihm, setzte sich auf den Bettrand und fragte schüchtern: „Was hat er mit dir gemacht, der Sürich?“
Agathons Augen funkelten katzenhaft. Er schüttelte den Kopf und sah begierig in den schmalen Spiegel an der grünen Wand, als ob er jede Veränderung seines Gesichts studieren müsse.
„Kannst du’s nicht sagen? Deinem Vater?“
„Nein.“
„Ja, aber –!“
„Nein. – Warum hast du denn das Buch zerrissen?“
„Weil es Sünde ist, es zu lesen, Sünde gegen den Gott Israels. Woher hast du’s?“
„Sünde? Das kann ich mir nicht denken. Du sagst, Israel ist Gottes Lieblingsvolk? Er beschützt es vor allen andern?“
„Ja.“
„Das ist Unsinn, wirklicher Unsinn.“
„Agathon!“
„Ja! Das ist ja dumm. Ist es wahr, daß wir das Blut aller Völker vergiften?“
„Was für Reden!“
„Wir haben Jesus gekreuzigt und –“
„Wir –! nicht wir, Aga.“
„– aber ohne das wäre er nicht Jesus. Sie haben uns also Jesus zu verdanken.“
„Natürlich.“
„Aber das ist es,“ fuhr Agathon in einem seltsamen Gedankensprung fort, „wir haben kein Vaterland.“
„Warum nicht? Hier ist unser Vaterland! Deutschland! Uns beschützt der Kaiser und das Gesetz.“
„Aber Kaiser und Gesetz sind nicht Deutschland, Vater. Und wo man beschützt werden muß, ist man auch nicht daheim.“
„Du bist ein Talmudist. Du willst zu klug sein. Das Leben ist viel einfacher, als die Klugheit eines Knaben.“
„Ich bin kein Knabe mehr, Vater. Wenn uns das Volk lieb hätte, warum könnten wir dann nicht Offiziere sein? Aber wir sind Unebenbürtige in diesem Land und wir sind doch mehr als alle, stärker als alle!“ Wieder funkelten seine Augen und plötzlich lief ein heftiges Zittern durch seinen Körper; er stand da, sein schmales Gesicht war verzerrt, seine Hände waren ineinander gekrampft, und er stieß einen Laut des Grauens aus. Elkan blickte verstört umher, aber er gewahrte nichts. Er packte Agathon bei den Armen, schüttelte ihn und begegnete seinem ausdruckslosen, leeren, starrenden Blick.
Die Thüre knarrte, und Frau Jette kam herein. Sie sagte, ein armer Gast sei gekommen und wolle für die Nacht Unterkunft. Fast mechanisch verließ Elkan das Zimmer. Als er wiederum den Flur entlang schritt, überfiel ihn beklemmend das Gefühl seiner Not. Morgen würde ihn Sürich Sperling pfänden lassen, und selbst die kleine Krämerei, die den Bedarf für den Tag deckte, würde zu Grunde gehen. Hätte er nur seiner Kinder Geld bei Löwengard bekommen können! Doch daran war nicht zu denken.
Der Fremde, Joelsohn mit Namen, stand während der nächsten halben Stunde und murmelte Gebete; er verneigte sich mehr als hundertmal; seine Augen flogen gierig über die schmutzigen Blätter des Buches und sein Gesicht hatte einen theatralisch-inbrünstigen Ausdruck. Als er mit dem Beten fertig war, wurden seine Mienen finster und feindselig; er beantwortete alle Fragen so kurz als möglich, schaute keinem ins Gesicht und als die Magd mit den aufgewärmten Kartoffeln kam und sie kichernd vor ihn hinsetzte, wandte er sich ab und bedeckte das Gesicht mit den Händen, um nicht durch den Anblick einer Christin verunreinigt zu werden. Sein Hut, den er während des Essens aufbehielt, mochte schon ein greisenhaftes Alter erreicht haben.
Alle gingen zur Ruhe, auch der Fremde, dem man in der obern Kammer am Giebel eine Bettstätte gab. Immer klang es wie Wasserrauschen und Wellengeplätscher herein ins Dorf, überall schienen Schatten zu huschen. Der Regen strömte herab, dann war es wieder still, dann kam ein summender Wind, dann trat wieder der Mond aus den Wolken, und seine Strahlen legten sich scheu auf die Dächer und auf die Flut. Frau Jette sagte am Morgen, sie habe zweimal das Hauptthor knarren hören, aber alle lachten sie aus, besonders Isidor Rosenau, der auch schon wieder da war, „auf einen Sprung“, wie er sagte, und der Veranlassung nahm, die Existenz von „Geistern“ ernstlich zu bezweifeln. Frisches, warmes Brot stand auf dem Tisch und der Kaffee brodelte schon wieder in der Nische. Draußen lag der Herbst, jetzt schon offenbar und unverhüllt, mit bleiernem Himmel und stoßweisen Winden. Die Männer kamen herein mit den Gebetsriemen, um das Morgengebet zu verrichten, denn sie konnten nicht zur Synagoge gehen, weil der alte Vorbeter durch häßliche Zwistigkeiten und Scheelsucht, wie sie stets unter den Juden des Dorfes herrschte, daran verhindert wurde, sein Amt auszuüben.
Die Kinder kamen lachend und schwatzend, wenig eingeschüchtert durch die finstere und asketische Miene des Joelsohn. Es war noch lange Zeit bis zum Schulbeginn; nur Agathon rüstete sich zum Aufbruch; er mußte um acht Uhr in Fürth sein, und das war eine Stunde Wegs, die er täglich zweimal zurücklegen mußte. Mittags hatte er Freitische bei reichen Juden in der Stadt. Er steckte die Bücher, die er heut brauchen würde, in seinen Träger und war dabei weniger entschlossen und überlegt als sonst. Oft besann er sich lange, drückte die Augen zusammen, schaute fremd auf alle, die im Zimmer waren, auf seine Geschwister und auf seine Mutter. Er spielte im Dorf als Schüler der obersten Klasse in Fürth eine gewisse Rolle, aber es ist sicher, daß ihn das nie eitel gemacht hatte. Elkan Geyer war schon aufgebrochen, er ging über Land; wie er sagte wegen der Geschäfte, in Wahrheit nur aus Angst vor Sürich Sperling.
Während Frau Jette einen Scherz erzählte, den man dem Muhl der Gemeinde gespielt und Enoch mit großem Geräusch seinen Kaffee schlürfte, erschallte auf der Straße ein gellender, durchdringender Schrei, wie wenn einer, die Finger zwischen den Zähnen, in der Art des Metzgerpfiffs aus aller Kraft pfiffe. Dann lief der Bauer Jochen Wässerlein vorbei, d. h. er überstürzte sich fast vor Eile. Dann kam Pavlowsky, der Gendarm; er lief zwar nicht, aber er ging so schnell, wie noch niemand im Dorf ihn hatte gehen sehen. Sein Körper wurde bei jedem Schritt förmlich durchschüttelt. Isidor riß das Fenster auf und schaute hinaus; dann verließ er den Platz am Fenster, ergriff seinen steifen Hut und rannte hinaus. Agathon stand mitten im Zimmer, weiß wie ein Hemd, und ein irrsinniges oder triumphierendes Lächeln spielte um seine Lippen. Frau Jette, die sich weit hinausgebeugt, sah am Kirchenplatz viele Menschen stehen; auch vor Martin Ambrunns Wirtschaft standen sie und starrten hinunter. Der kleine Pausbäckige heulte, Mirjam lächelte verwundert und Joelsohn lächelte verächtlich.
Die Magd Kathrin stürzte herein. Der Ausdruck ihres Gesichts war nicht mehr Schrecken zu nennen; es war ein Krampf. Sie ließ die Unterkiefer herabhängen, daß der Mund weit offen stand und machte bloß Versuche, den Arm zu heben. „Was ist denn?“ fragte Frau Jette mit starrendem Herzen. Kathrin brachte kein Wort hervor. Alle umstanden sie und endlich flüsterte das Mädchen: „Sie hom en – sie hom en – erstochen!“ – „Elkan!“ schrie Frau Jette mit aufgehobenen Händen. Die Magd schüttelte den Kopf. „Naa, naa,“ brachte sie atemlos hervor, „’n Sürich Sperling heit Nacht!“ Alle schwiegen. Joelsohn und Enoch Karkau beteten. Die Kinder eilten auf die Straße, standen aber vor der Thür furchtsam still.
Agathon verließ bald das Dorf, um nach Fürth zu gehen. Er verfolgte zuerst den aufsteigenden Weg nach der Veste, und von dort aus ging er den Kamm der Hügel entlang über Dambach und die äußere Schlachthausbrücke. Er wanderte im Halbkreis um das überflutete Gelände; überall rauschte und brandete das Wasser, und wenn sich die fernen Morgen-Nebel hoben, entstanden phantastische Städtebilder. Am Schlachthaus war der Anprall der Wogen gewaltig; das Gerassel der Wagen auf der Brücke wurde verschlungen vom Dröhnen der Brandung.
Hier traf Agathon seit den acht Tagen, da er diesen Weg gehen mußte, jeden Tag um dieselbe Minute und an derselben Stelle eine Frau, die leise murmelnd daherkam, und überhaupt mehr kroch, als sie ging. Sie hatte leicht gerötete Wangen, vielleicht war sie einmal sehr schön gewesen, auch war sie nicht arm gekleidet. Erst hatte sie Agathon wenig beachtet, dann war sie ihm aufgefallen durch den hartnäckigen, bösen und trotzigen Ausdruck, mit dem sie ihren Korb schleppte. Dann begann er sie aus einem geheimnisvollen Grund zu hassen; immer wenn sie seinen Weg kreuzte, funkelten seine Augen; als er ihr einmal ausweichen wollte, begann sein Herz zu klopfen und trieb ihn förmlich ihr entgegen. Wenn er sie sah, war ihm, als müsse alles, was er an diesem Tag unternahm, zerbrechen und fehlschlagen.
Heute kam sie nicht. Er blieb am ersten Brückenpfeiler stehen und sah sich um. Sie kam nicht. Er selbst, der den ganzen Weg wie im Traum zurückgelegt, begann dadurch gleichsam aufzuwachen und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sein Blick ging forschend durch die aufsteigenden Gassen des Uferviertels.
Sonst wenig geneigt zu Gesprächen, redete er am Obstmarkt einen Schulkameraden an, einen kleinen, unbeholfenen Jungen, der sehr jüdisch aussah. Die beiden gingen eine zeitlang wortlos, endlich sagte der Kleine, gedrückt von dem schweigenden Wesen Agathons: „Wie sonderbar es hier riecht? Nicht? So frisch.“
„Nach Kohl,“ entgegnete Agathon sarkastisch.
„Au!“ schrie der Kleine enthusiastisch. Er war wie erlöst durch diesen anscheinenden Witz. „Hast du die salischen Kaiser gelernt?“ fragte er dann.
„Ich lerne nicht. Ich kann nicht lernen,“ murmelte Agathon. „Ich kann nicht Zahlen einpauken und Namen und Regeln, was weiß ich. Das quält mich. Wenn Bojesen nicht wäre, ich könnte nichts arbeiten, nichts denken in allen den Stunden. Das ist alles tot.“
Der Kleine schien sehr erstaunt und betreten und jammerte dann, ziemlich unmotiviert anknüpfend, daß ihm sein Bein weh thäte. Agathon wurde immer bleicher, je näher sie dem Schulhaus kamen. In allen Gassen wurden die Laden geöffnet und die Kaufleute und Commis, meist Juden, standen frisiert und frisch gewaschen vor den Thüren und Auslagefenstern, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Die Commis machten jetzt sehr verdrießliche Gesichter; sie zeichneten sich alle durch energisch aufgedrehte Schnurrbärte aus und benahmen sich im ganzen, als die wichtigen Personen, die sie waren, sehr formvollendet.
Schon von weitem sah man die Schar der Schüler vor dem Schulgebäude, eine schwarze, undurchdringliche Masse. Viele standen um eine Litfaßsäule, wo eine Göttin der Vernunft auf einem grünen Plakat ein gelbes Stück Seife emporhielt, als wäre es eine Brandfackel. Die Schüler machten ihre unangenehmen Zoten über die Nacktheit der Seifengöttin. Kaum war Agathon und sein Begleiter, der jetzt seinerseits in ein philosophisches Schweigen versunken war und nur bisweilen einen schelen Seitenblick auf den Mitschüler warf, am Eck der Mathildenstraße angekommen, als eine ganze Anzahl von Klassenkameraden Agathons auf ihn zustürzte, ihn an Schultern und Armen packte und in ihn hineinschrieen: es sei doch einer ermordet worden in Zirndorf, ob er ihn gesehen habe, er solle erzählen, wie und warum es denn zugegangen sei u. s. w. Die Schüler der niederen Klassen machten respektvoll Platz und wagten am Rande des Kreises kaum ihre Ohren zu spitzen, um etwas zu erlauschen. Agathon sah sich dicht umstellt, und der Kleine sah voll naiver Furcht zu ihm auf und fragte: „Warum hast du denn das mir nicht gesagt?“
Herr Pedell Dunkelschott erschien pustend auf der Schwelle des Schulhauses, und die Schar strömte unaufhaltsam und laut lärmend in die hallenden Korridore. Der Mord beschäftigte die jugendlichen Köpfe; sie sahen die finstere Nacht des Dorfes und hörten den letzten, erstickten Schrei des Opfers. Agathon saß bald auf dem kleinen Klappstuhl, steif und still – und hörte nichts von dem Toben um sich. Ein feines, süßes Wohlbehagen kam über ihn; der Ofen summte an seiner Seite, und draußen lag durchsichtig der lichte Herbstnebel. Er sah die Landkarten und sah damit die fernen Länder, den Globus und er fühlte sich weit über der Erde. Er fühlte sich edler und älter, wie ein Mensch, der seine tiefst schlummernden Leidenschaften kennen gelernt hat.
Der Unterricht begann. Herr „Professor“ Schachno spazierte mit seinen kurzen, dicken Beinchen geziert umher und schien bisweilen im Gehen zu schlummern. Oder er summte behäbig eine stille Weise vor sich, gleichsam ein Hymnus an jene sanfte Milde, mit der er die Welt betrachtete. Seine Hauptthätigkeit bestand im Zudiktieren von Strafarbeiten. Das schien ihm das Ideal aller Pädagogik zu sein. Ein vergessenes Heft, ein schlecht gelernter Vers, ein Tintenfleck, ein unzeitgemäßes Lachen, ein unanständiges Rülpsen, das alles waren Fehler, einzig und allein ausrottbar durch das Universal Strafarbeit. Er dozierte deutsche Litteratur und sprach über Goethe so, als ob Goethe froh sein müßte, einen Sigismund Schachno als Nachgeborenen gefunden zu haben. Er summte gerade wieder und schlummerte auch ein wenig dabei, als sich Agathon Geyer schwankend erhob und mit erloschenem Blick gerade vor sich hindeutete. In seinem Gesicht lag ein tierisches Entsetzen. Alle Schüler erhoben sich bang und flüsternd. Agathon stürzte zum Podium, fiel in die Kniee, machte eine Armbewegung, als ob er die Füße eines Menschen umklammerte und sah mit brechenden Augen hinauf in das Gesicht dieser unsichtbaren Gestalt, Sürich Sperlings.
Niemals sinkt der Abend so still herab und so unbemerkbar, als wenn die Kirchenglocken anfangen zu läuten, fern oder nah; der Nebel sinkt wie ein haltloses Gespinst über die Dächer, gleitet an den Häuserwänden herab und umhüllt flatternd die Laternenlichter. Starr und grau liegt er in den Gärten und giebt ihnen das Ansehen eines Sees. Die Schritte scheinen leiser zu werden wie auf Teppichen.
Agathon stand auf dem nebelnassen Pflaster und schaute in eine glänzend erleuchtete Etage hinauf. Er dachte etwas verwundert nach über die Pracht und den Reichtum dieses Judenhauses, – denn in dieser Stadt gab es mehr Judenpaläste als Christenhütten, und ging dann weiter und begegnete den Juden, die aus dem Abendgottesdienst kommend, die Gebetbücher trugen und laut feilschten und handelten. Als er sie sah, fühlte Agathon, daß diese alte Religion der Juden etwas totes sein müsse, etwas nicht mehr zu Erweckendes, Steinernes, Gespensterhaftes. Er wandte seine Augen ab von diesen häßlichen Gesichtern voll Schacher-Eifers und Glaubensheuchelei.
Die Kirchweihbuden füllten den Kohlmarkt, die Königsstraße bis zur protestantischen Kirche und zum grünen Markt. Eine festestrunkene Menge wogte dort. Die Ausrufer der Schaubuden schrieen sich heiser und verdrehten den Körper, als ob sie Leibschmerzen hätten; mit gesträubten Haaren schrieen sie die Vorzüge ihrer Sehenswürdigkeiten aus. Wirr und schrill klangen die Orgeln, Pfeifen und Trompeten und das Gebrüll der Tiere drang aus der Menagerie. Kindertrompeten, Pfeifen und Ratschen erschallten, ein wüstes Summen, Surren und Johlen. Kinder mit vor Neugier bleichen Gesichtern machten sich keuchend Bahn. In den Wirtschaften gröhlten die Zecher. Aus dem Gäßchen hinterm Königsplatz drangen Fischgerüche; Heringsbratereien verbreiteten ihren Gestank. An der Glückshalle stand Kopf an Kopf in bewegungslosem Gedränge. Daneben lief ein großes Caroussel auf Schienen; es wurde durch einen sinnreichen Mechanismus in rasende Schnelligkeit versetzt. Man sah dann nur schattenhafte Gestalten, verzerrte Gesichter und hörte bacchantische Schreie. Unter den Leinwanddecken des Zeltes brannten Pechfackeln; es sah aus wie eine Höhle, die von schwarzem, schwälendem Rauch durchzogen war wie von mattglänzenden Schleiern.
Agathon schob sich durch die Massen, während seine Seele wunderbar warm und gerührt wurde. Ein heißes und ziehendes Heimatsgefühl erfaßte ihn; alle Farben empfand er doppelt intensiv. Er hatte freudige Augen für das, was rings um ihn her geschah und sah die vielen Gegenstände, die allenthalben zur Schau geboten wurden, mit zärtlichen Blicken an, als könne jene Linie in ihrer Form die Wärme seines Innern steigern. Er sah viele bekannte Gesichter, ohne sich bewußt zu werden, daß er sie irgendwo gesehen. Er stand am Kasperl-Theater und schaute den belanglosen Rüpelstücken der Holzpuppe zu; ein alter Arbeiter mit grauem Lockenhaar und fast antikem Profil, offenbar ein Italiener, stand neben ihm und wollte schier sterben vor Lachen. Die Kirchenglocke begann wieder zu läuten. Bestürzt blickte Agathon an dem hohen Turm empor.
Der Ausrufer des Wachsfiguren-Kabinets strengte sich vielleicht mehr an, als all seine Kameraden. Mit krebsrotem Gesicht schrie er, verdrehte die Augen und warf hin und wieder seinem Gegenüber, dem Ausrufer des Flohtheaters wütende Blicke zu. Dann läutete er, gab der Orgel einen Wink, sich bemerkbar zu machen und die korpulente Dame am Kassatisch stützte schwermütig das dunkle Haupt in die Hand. „Hier kann man sehen die Passion Christi, unseres Heilands, in siebzehn Stationen, – großartig, meine Damen und Herren, großartig!“ schrie der Krebsköpfige, der sich nur noch in bellenden Lauten vernehmlich machen konnte.
Wie von einer Faust gestoßen, bestieg Agathon das Podium; zahlte zwanzig Pfennig, das einzige Geldstück, das er besaß, und verschwand hastig hinter der braunen Portiere.
Tiefaufatmend stand er in der dumpfen Luft des Innenraumes. Nur wenig Leute gingen mit scheuen Schritten umher. Gegen eine scharlachrote Wand hoben sich sanft die Gruppen der Leidensstationen ab. Das gleichmäßige und beruhigende Licht milderte das Starre der Wachsgebilde. Es war etwas Stilles, Erhabenes, Heiliges über den Gestalten, etwas das zur Anbetung drängte. Ferne Zeiten stiegen langsam herauf, und es war, als ob die Schicksalsgöttin träumend die Augen aufschlüge, um den Beschauer bestürzt und versonnen zu machen. Das ist der Heiland, dachte Agathon befremdet, als er vor dem Bild der Kreuzabnahme stand. Er preßte die Hände zusammen und dachte nach. Freunde und Eltern kamen wie eine Reihe vorbereiteter Wandelfiguren an ihm vorbei und die toten Gebilde vor ihm wurden lebendig. Er lächelte traurig und begriff, daß er um etwas betrogen worden war, ohne daß er es hatte hindern können.
Draußen war der Nebel dichter geworden. Viele Buden wurden geschlossen. Agathon ließ sich stoßen und schieben, bis er in dunkle, unbelebte Gassen kam. Immer eiliger ging er, und seine Gedanken wurden immer quälender. Unversehens stand er vor der Claußschule, wo sich nur die frömmsten Juden zum Abendgebet versammelten. Ein Lächeln, dessen Bedeutung er selbst nicht begriff, glitt über seine Züge, und er trat in das dunkle, düstere und niedrige Gemach. Der Vorbeter an seinem kleinen Pult lallte mit zitterigem Stimmchen das Schlußgebet. Es lag etwas Gläubiges in der Art des Chassans; sonst waren nur verbissene, steinerne Gesichter hier, voll von einer jahrhundertalten Grausamkeit, voll Haß, Erbitterung und zelotischem Glaubenseifer. Agathon sah es. Zum erstenmal in seinem Leben wurde ihm klar, daß Jude sein eine Ausnahme sein heiße; zum erstenmal hörte er diese hebräischen Formeln mit Unsicherheit und Groll und er glaubte sich in einer Art von Zelle, wo man verderbliche Verschwörungen anstiftet.
Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, als er die Stube verließ. Als er auf die Straße trat, prallte er erschrocken zurück. Stefan Gudstikker stand dicht vor ihm und schaute angestrengt gegen ein erleuchtetes Fenster hinauf. Die Gasse war sehr eng, daher mußte er den Kopf weit zurückbiegen. Indem er noch gegen die Mauer nach rückwärts schritt, stieß er plötzlich an den regungslos dastehenden Agathon, bat um Verzeihung und griff geschmeidig an den Hutrand.
„Ach, Sie sind ja der junge Mann da, – Sie sind es doch? Sie sind doch neulich bei der Bootfahrt –“ Die schwarzen Augen hinter den Gläsern leuchteten flüchtig, fast drohend auf. „Sagen Sie mal junger Mann, haben Sie vielleicht ein Streichholz bei sich?“
In diesem Augenblick kam raschen Schrittes ein Arbeiter mit brennender Cigarre aus dem Thor. Gudstikker bat ihn mit etwas übertriebener Höflichkeit um Feuer. Dann ging er an Agathons Seite weiter. „Was meinen Sie denn zu der geheimnisvollen Geschichte da mit dem Mord?“ sagte er, den Rauch mit geblähten Nasenflügeln in die nebelerfüllte Luft blasend.
„Ich?“
„Ja, – natürlich.“
„Ich weiß nicht.“
„Es interessiert Sie wohl gar nicht? Sie thun wenigstens so. Wo gehn Sie denn hin?“
„Zu Baron Löwengard.“
„So? Was wollen Sie denn dort?“
„Ich darf dort zu abend essen!“ erwiderte Agathon bissig.
Gudstikker lachte laut.
„Ja, Dienstag und Freitag. Da übernacht’ ich auch dort, weil Mittwoch und Samstag die Schule schon um sieben beginnt.“
„Das alles dürfen Sie? Sogar übernachten? Komisch. Ist das ein Jude, dieser – Baron? Natürlich. Sagen Sie mal, – Ihre Eltern sind wohl sehr arm?“
„Ja.“
„Auch der Alte, der Seiler, Karkau oder wie er heißt –?“
„Ja.“
„Wie alt sind Sie denn? Sechzehn?“
„Siebzehn.“
„Na, um so besser. So kennen wir uns also. Ich heiße Gudstikker. Rufname: Stefan. Geboren 12. Mai 1859. Sonntag Nachmittag. Verrichtung unbekannt. Der Mord interessiert Sie also nicht?“
Agathon blieb stehen und lehnte sich an die Mauer.
„Ich weiß Einiges und möchte gern mehr erfahren. Sie sind ein stolzer, junger Mann, das ist mir klar. Aber nun erzählen Sie einmal, was hat Sürich Sperling damals getrieben? Er nahm Sie unter den Arm und ging mit Ihnen ins Haus. Sie rührten sich nicht. Andere hätten gezappelt wie ein Fisch, jawohl, wie ein Fisch. Ich habe ja alles gesehen vom oberen Stock. Ich wohnte ja in St. Sebald.“
Schweigend gingen beide weiter.
„Nun reden Sie doch,“ begann Gudstikker wieder und stellte den Kragen seines Mantels in die Höhe. „Ich würde ja schweigen. Ich kannte den Sürich Sperling schon lange. Wer ihn umgebracht hat, muß ein Vogel oder ein Genie von Verbrecher sein. Ein Genie, jawohl. Er hatte einen Stich in der Brust, nicht größer wie ein Schlangenbiß. Der Thäter ist am Weinlaub heraufgeklettert wie ein Mondsüchtiger, – Thatsache! hat sich durch ein schmales Fenstergitter gezwängt und hat nichts geraubt, absolut nichts. Fatale Sache. Mir wär’ es ja gleichgültig, aber Sürich Sperling war kein gewöhnliches Exemplar der Species Mensch. Er konnte lumpen durch sieben Nächte, ohne Schlaf zu fühlen. Wenn er müde wurde, setzte er sich einfach in einen Stuhl, schloß für zwanzig Minuten die Augen und dann wußte er von sich und der Welt nichts mehr. Erhob er sich wieder, so war er so frisch wie vor den sieben Tagen. Einmal, als er melancholisch geworden war, ging er auf seinen Speicher und zertrümmerte mit der nackten Faust Kisten und Kasten und Bretter um sich her. Seinen Hund, wenn er unfolgsam war, schlug er halbtot, und danach konnte er sich hinsetzen und heulen wie ein kleines Mädchen. Bis vor sechs Jahren hatte er überhaupt keine Frau berührt und als es kam, wäre das arme Weib ihm fast in den Armen gestorben. Das war ein Mensch!“
Wieder entstand ein langes Schweigen. Agathon wurde durch das ganze Wesen Gudstikkers förmlich verwundet. Seine Geschwätzigkeit beunruhigte und jede Geste erschreckte ihn.
„Wie heißen Sie denn eigentlich?“ fragte Gudstikker.
„Agathon.“
„A – ga – thon –? Agathon Geyer?“
„Ja.“
„Seltsam. Wie kommen Sie zu dem Namen. Agathon ... So hieß mein Vater. Sonst weiß ich keinen im ganzen Kreis und ich bin doch bekannt wie ein bunter Hund. Na gleichviel.“ Wieder eine Pause. Dann wurde Gudstikkers Stimme gütig und mütterlich. „Sehen Sie, Sie gefallen mir. Ich weiß kaum warum, aber vielleicht steckt etwas in Ihnen, was in mir nicht steckt. Sie sind ein Jude. Bei den Leuten giebt es manchmal Individuen von wunderlicher Kraft. Besonders in Ihrem Alter. Daran mag es liegen. Wenn sie so jung sind, ist ihre Seele von einem reinlichen, unbeschmutzten Feuer erfüllt. Sie sind starke Träumer, möchten die Welt aus den Angeln heben und wissen doch nichts von der Welt. Wenn sie es nur wüßten! Gehen Sie hin, Agathon, wecken Sie Ihr Volk auf. Sagen Sie, wach auf mein Volk, wie der Prophet in der Bibel. Dann werden auch die Deutschen erwachen, besonders da oben im Norden, – wach auf Norden! Eins oder das andere wird dann totgeschlagen. Na gleichviel, was scheren mich die Philosophen. Glauben Sie, daß es heut’ nacht regnen wird?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht doch. Vielleicht schneit es. Vielleicht auch nicht.“
„Ah, Sie sind boshaft. Na gleichviel. Ich muß Ihnen sagen, es ist nicht Neugierde, wenn ich Sie vorhin fragte, was Sürich Sperling mit Ihnen gemacht hat. Auch nicht Teilnahme. Nun, werden Sie nur nicht wieder ungeduldig. Stellen Sie sich die Nacht vor, die laue Herbstnacht und die Situation! Später kam Sürich in mein Zimmer, bleich, erregt, und sprach von gleichgültigen Sachen. Er erzählte von der Ziegelei, die der Vater meiner Braut jetzt gekauft, und plötzlich legte er sich auf mein Bett und sagte keine Silbe mehr.“
„Keine Silbe?“ fragte Agathon mechanisch.
„Ganz so. Nach fünf Minuten stand er auf, ging vors Haus und dort saß er dann wieder zwei geschlagene Stunden, ohne sich zu rühren. Um neun Uhr ging der Schmied heim und rief ihn an. Wer aber nicht antwortete, war Sürich. Und wer um zehn Uhr in sein Zimmer stolperte, ohne sich um die Wirtschaft zu kümmern, war Sürich. Nun, am Morgen war das „personifizierte Germanentum“ tot und das Rätsel ist, wer es umgebracht hat. Wenn nicht die Eisenstäbe am Fenster verbogen wären und das Weinholz demoliert, ich würde glauben, er selbst – nun, nun, was ist denn los?“
Agathon hatte mit den Händen Gudstikkers Arm umklammert und schwankte, als ob er zu Boden sinken wolle. Gudstikker schüttelte den Kopf und warf den Cigarettenstumpf weit über die Gasse. Agathon blickte ihn gespannt an beim matten Schein des Straßenlichts, als ob er sein Gesicht nie wieder vergessen wollte und ging dann weg, ohne ein Wort zu sagen, dem Löwengard’schen Palast an der nächsten Ecke zu. Scheu betrat er das breite, lichtgebadete, mit schweren Teppichen belegte Vestibül. Der Plafond und die Wände waren von Künstlerhand mit Darstellungen aus der antiken Mythologie geschmückt. Vor ihm stand wie eine lebende Gestalt Kassandra, den Arm gegen das brennende Troja erhoben. Sie war fast nackt, die Brüste waren geschwellt von Haß. Stets mußte Agathon die Augen vor dem Bild niederschlagen. Die dem Juden angeborene Scham vor dem Nackten ging bei ihm bis zu physischem Schmerz. Auch wurden seine Sinne oft wild erregt, wenn er in der Nacht sich des Bildes erinnerte.
Stefan Gudstikker hörte fast nicht auf, den Kopf zu schütteln. Dann wandte er sich nach der Friedrichstraße, lauschte mit gesenktem Kopf auf das Stimmengewirr aus den Gasthäusern, das mit dem Wimmern der Geigen und dem Fistelgesang der Harfendamen vermischt war. Schweigend zogen Musikanten an ihm vorbei und der Älteste zählte immer die Tageseinnahme. Gudstikker sah das alles mit den Augen des Beobachters, der sich freut, daß ihm nichts von den kleinsten Dingen des Lebens entgeht und den die Gewohnheit des Scharfsehens dazu verführt hat, den ganzen reichen, vielgestaltigen Bau der Wesen in einige Weisheitssprüche zu schachteln.
Der kalte Glanz des Mondes brach hervor. Gudstikker ging am Rand der Anlage auf und ab, rauchte unablässig und spähte gegen die Straßenflüchte. Die Turmuhren schlugen acht, kreischend fielen die Rollläden herab, die kleinen Ladnerinnen eilten kichernd von dannen, und die Commis drehten die gesunkenen Schnurrbartspitzen wieder empor.
Endlich kam sie, Käthe Estrich. Mit schwachem Lächeln hing sie sich an den Arm ihres Verlobten und schmiegte sich an ihn. „Denk, ich konnte kaum kommen. Der Vater hat so geschimpft über dich. Du seiest zu nichts gut in der Welt. Sie plagen mich immer mit dir und quälen mich. Ach, wenn du doch berühmt würdest, Stefan. Bist du bös? Bitte, nicht bös sein! Ich hab’ ja nur dich, nur dich allein.“
„Ich bin nicht bös, aber du darfst nicht so dumm reden. Wie geht’s dir?“
„Schlecht.“
„Warst du beim Arzt?“
„Nein.“
„Nein! – Wenn dein Herr Vater sich besser um dich gekümmert hätte, das wäre eine größere Heldenthat, als über mich schimpfen. Aber unser ganzes Bürgertum ist borniert darin. Von hundert Mädchen sind neunzig bleichsüchtig und lebensmüd.“
„Ach, Stefan, ich möchte sterben, – mit dir.“
„Sterben! ja, wenn es sonst nichts wäre, als eben sterben. Mein Gott!“
„Du bist so kalt mit mir!“ flüsterte Käthe und schauerte zusammen, als ob diese Kälte sie frösteln mache. „Ich muß wieder heim,“ fuhr sie mit derselben leisen Stimme fort; „ich wollte dich nur sehen.“ Gudstikker mußte sie fast tragen. Als sie am Ziel waren, küßte er sie flüchtig auf die Wange und ließ sie allein.
Am jüdischen Waisenhaus, wo er vorbeikam, waren alle Fenster schon dunkel. Unter dem Portal stand ein Knabe in Lumpen, kotbedeckt, verwahrlost. Doch zwei klare Augen blickten mit seltsamer Treuherzigkeit empor in das erleuchtete Treppenhaus. „Wie heißt du?“ fragte Gudstikker und beugte sich herab zu dem Kind, das seine Finger in den Mund steckte und verlegen zu Boden sah. „Wie heißt du?“ wiederholte er fast streng.
„Weiß nicht.“
„Wem gehörst du denn?“
„Weiß nicht.“
„Wo ist denn deine Mutter?“
„Tot.“
„Aber dein Vater?“
„Auch tot,“ sagte der Knabe und machte eine Handbewegung, die das größte Erstaunen ausdrücken sollte.
„Aber was thust du da?“
Der Knabe drückte sich scheu an ihn und fragte bang: „Gell du bist der Herr Jesus?“
Da erschallte ein herzzerreißendes Schreien im Innern des Waisenhauses. „Hörst? Hörst?“ machte der Knabe, streckte die Arme von sich und begann leise zu schluchzen.
Gudstikker nahm das Kind bei der Hand und stieg mit ihm die Treppen hinan.
Wie in einem wirklichen Traum gefangen, ging Agathon in die Küche, wo es von köstlichen Speisen duftete, und aß, was man ihm an Überbleibseln und für die Tafel Unbrauchbarem gab. Dann ging er in die Bodenkammer hinauf, wo er die Nacht verbringen durfte. Von unten klang Musik herauf, Gläserklingen, dumpfe Rufe der Fröhlichkeit, das Schlürfen des Tanzschrittes, und das lange, wogende Murmeln der Gespräche. Etwas Neues und Feierliches war heute über ihn gekommen, das ihm die Welt in anderem Licht zeigte als bisher, doch war alles noch verhüllt.
Er wälzte sich lange Zeit schlaflos auf dem Strohlager und sah in die dunkle, schwere Nacht hinaus. Zuweilen erfüllte ein bitteres Gefühl sein Herz, daß er im Haus des reichen Verwandten auf Stroh unter dem Dach schlafen mußte. Denn daß der Baron ein Vetter seiner Mutter war, hatte er Stefan Gudstikker stolz verschwiegen. Er witterte in diesem Menschen einen Feind, der zugleich etwas seltsam Anziehendes besaß. Er brachte gleichsam den fremden Laut aus diesem fremden Land. Man lehrte ihn in der Schule die Liebe zum deutschen Vaterland. Da brannte ein geheimes Feuer in seinen Augen, das zu reden schien, oder doch nach einem Vaterland für ihn zu suchen schien. Oder war es dies Deutschland? Was sagte dann das stumme Abweisen in den Gesichtern der Mitschüler, oder der kühle Blick der Lehrer, wenn er Agathon streifte? Und Deutschland bemühte sich auch gar nicht so sehr, sich ihm als Vaterland angenehm zu machen. Deutschland war eben so freundlich, ihn zu dulden und er durfte dafür die große Hymne mitsingen. Aber wo war es denn, dies Vaterland, dies geheimnisvolle, liebevolle?
Er konnte nicht schlafen. Sein geschärftes Ohr vernahm durchdringender noch den Lärm des Festes und es war, als ob ihn eine Stimme riefe. Eine dunkle Sehnsucht ließ ihn zittern vor Ungeduld; er sprang aus dem Bett, warf sich wieder in die Kleider und, die Augen noch umschleiert von der Finsternis, stieg er die Treppe hinab mit dem Bewußtsein einer Schuld. Es war ihm gleich, wohin er kam; daher öffnete er im zweiten Stock eine Thüre (viel deutlicher hörte er Musik und Tanz von unten) und befand sich nun in einem großen Salon, der noch warm war von einem lang erloschenen Kaminfeuer und trotz des Dunkels glaubte er, daß Möbel und Tapeten um ihn her grün sein müßten. Er lächelte, setzte sich in einen weichen Fauteuil am Kamin und versank darin wie in einem Lager von Flaumfedern. Er harrte jetzt förmlich auf die Veranlassung, die ihn hierhergerufen. Die Musik unter ihm machte die Dunkelheit rings eigentümlich zittern.
Da hörte er vom Nebenzimmer ein Geräusch, wie wenn jemand weint und er will es nicht hören lassen. Agathon ging hin, öffnete die Thüre und stand nun verlegen, bestürzt vor seiner Base, die die glückliche Braut war und der man heute das große Verlobungsfest gab. Sie saß vor einer Kerze und schluchzte in ihr Taschentuch.
Jeanette blickte auf, und vor Erstaunen brachte sie kein Wort hervor. Endlich murmelte sie heiser eine Frage: was er hier zu suchen habe.
Agathon zuckte die Achseln. „Ich – nichts. Ich habe dich nur so weinen hören.“
„Von oben? Von deiner Kammer?“
„Ja, von meiner Kammer.“ Agathon wurde bleich und ließ den Blick verächtlich in dem königlich geschmückten Boudoir umherschweifen. „Nein,“ sagte er plötzlich entschlossen, „nicht von meiner Kammer.“
„Nun?“
Agathon schwieg. Die großen, durchdringenden, von Thränen nassen Augen des Mädchens erweckten ein Gefühl von Niedrigkeit in ihm. Jeanette nahm ihn rasch bei der Hand. „Nun gestehe. Weshalb bist du gekommen? Hast du Hunger? Dann soll dir Babette geben, was du willst. Auch Wein sollst du haben. Ich will es ihr gleich sagen. Oder willst du Geld? Hier ist meine ganze Börse.“ Sie lächelte bitter und wollte aufstehen. Doch Agathon, der immer bleicher geworden war, nahm ihre Hand und drückte sie mit großer Kraft fest zusammen, so daß das Mädchen schmerzlich seufzend und überrascht zurücksank. „Ich bin nicht das, was du meinst,“ sagte Agathon.
„So?“ Ein flüchtiger und unsicherer Spott trat auf Jeanettens Gesicht.
„Ich bin nicht hungrig,“ sagte Agathon leise.
„Das mußt du allerdings wissen.“
„Ich brauche auch kein Geld. Also nimm dein Geld hier weg, sonst muß ich es nehmen und zum Fenster hinauswerfen.“
Jeanette streckte zögernd ihre Hand nach dem Geld aus und nahm es langsam an sich. Sie sah lange in Agathons erregtes Gesicht, dann faßte sie ihn plötzlich an beiden Händen, zog ihn zu sich und sagte herzlich: „Nun sprich!“
Agathon schüttelte den Kopf. „Ich glaubte, du hast etwas zu sagen. Ich habe nicht geweint. Freilich woher sollst du Vertrauen haben, bei meinen schlechten Kleidern.“ Er lächelte wieder, wandte das Gesicht ab und starrte ins Dunkle. Die Wände schienen sich aufzuthun vor seinen Blicken, und aus zahllosen Augen schauten ihn die Sorgen an, unter denen die Menschen Schätze zusammentragen, um sie wieder von Sorgen bewachen zu lassen.
„Gerade du!“ flüsterte Jeanette jetzt erregt. Sie ließ seine Hand nicht mehr los, und er fühlte, wie heiß ihre Hand war. „Ich habe dich stets übersehen wie einen Schatten. Du hast dich auch so schmal gemacht wie ein Schatten, du wunderlicher Agathon. Aber du hast komische Augen, sehr!“
Agathon antwortete nicht.
„Rede, Agathon, hast du eigentlich schon sehr viel Böses gethan? Warum zitterst du nun? Ach, was hast du?“
„Böses, fragst du? Warum fragst du es. Was ich gethan hab’, war nicht böse. Es war auch nicht gut. Nein, es ist etwas anderes als das. Es wäre schlechter gewesen, wenn ich einem Vogel die Flügel genommen hätte. Oder kann es böse sein, wenn es dich erhebt, glücklich macht? Oder gut, wenn es das ganze finstere Leben erkennen läßt und was man versäumt hat und was andere versäumt haben –?“
Jeanette, ganz erregt über das Wesen des jungen Menschen, flüsterte stockend: „Setz dich doch zu mir. So. Später einmal mußt du öfter kommen. Bloß zu mir allein. Siehst du, sie wollen mich einem alten, wackeligen, zahnlosen, gichtigen Menschen verloben und das der Geschäftsverbindung wegen. Ich werde verkauft und soll mich ruhig verkaufen lassen in das Bett dieses Schweins. Erröte nicht, Agathon, das ist nicht die Stunde zum Erröten, freilich ist es nichts Neues, denn bei uns werden ja alle Mädchen verschachert wie Häuser und Grundstücke, aber du wirst doch zugeben, daß man bisweilen auch aus anderen Gründen heiraten kann. Wie? Aus Liebe zum Beispiel, wie?“
„Aus Liebe, ja,“ wiederholte Agathon und zuckte zusammen.
„Sieh her, sieh her,“ sagte das Mädchen und ihre roten Haare fielen wild und ordnungslos in die Stirn, und sie zog Agathon dichter neben sich. „Hab ich nicht die weichste Haut, die du dir denken kannst? Rühr mich nur an! Hab ich nicht einen weichen Mund? siehst du, ich küsse dich damit, und ein klopfendes Herz? und mag ich nicht alles, was schön ist, z. B. deine Augen? Und wenn du mich liebst, siehst du, da darf auf der einen Seite eine Kirche voll Geld und Ehren sein, und auf der andern Seite ich: verstoßen, verachtet, oder ein Frauenzimmer, das sich verkauft oder verkaufen läßt für Geld, dann nimmst du mich, wenn du mich liebst, verstehst du? Ja du freust dich sogar, wenn du mir zeigen kannst, wie viel du für mich giebst und lachst ihnen allen ins Gesicht. Und doch giebt es einen Mann, an den ich geglaubt hatte, und der anders gehandelt hat wie ich dir sage, – nicht für Kirchen voll Geld und Ehren, sondern bloß weil er leiden wollte um mich. Ist das nicht närrisch? Ich sitze da mit meinem Herzen voll Leben, daß es nur so brennt und soll das Schwein heiraten und habe Ja gesagt nur aus Rache gegen den Leidenssüchtigen dort. Triffst du ihn einmal, Agathon, so gieb ihm dies Haar da von mir, sag ihm, wie schön meine Haare sind, wie sie fluten und wallen wie bei einer Fee, und sag ihm, wie meine Augen leuchten in diesem Reichtum um mich, und wie ich ihn verachte, den Anstand und die Bürgerlichkeit und so weiter. Pfui!“
Agathon starrte fassungslos in diese wilden, zigeunerhaften, leidenschaftlichen Züge. Jeanette sprang auf und klatschte in die Hände. „Ich weiß es,“ rief sie und lachte schrill. „Ich will etwas Göttliches aushecken. Du mußt dabei sein! Du mußt alles thun, was ich will und nicht widersprechen. Nur heute thu’, was ich will, und ich will immer deine Magd sein. Ein Lieutenant ist dabei, was sagst du dazu! Ein Adler im Taubennest. Donnerwetter nochmal!“
Sie lachte nervös und fuhr fort, Agathon zu putzen. Sie legte ihm eine weiße Stickerei um den Hals, gab ihm rote Saffianschuhe, in die er kaum hineinkam, weiße Handschuhe, eine rote Schärpe und eine Art Soldatenmütze. Dann nahm sie eine Puppe aus ihrem Schrank, wickelte sie in Seidenpapier, nahm Agathon bei der Hand und zog den Erstaunten und Willenlosen, der nicht begriff, was mit ihm vorging, durch das dunkle Zimmer zur Treppe, über die Stufen hinab, bis sie mit ihm unter der Saalthür stand, die der Lakai mit einem Gemisch von Respekt und Verdutztheit eifrig aufstieß. Mit blitzenden Augen sah Jeanette in das bunte Treiben der Gäste. Nicht einmal die Haare hatte sie geordnet. Sie hingen ebenso wild und ordnungslos um die Stirn wie vorher.
Der Baron kam rasch und fragte mit einem finstern Blick auf Agathon, wo sie so lang bleibe und was der Unfug bedeute. Alle hätten schon nach ihr gefragt. Jeanette zuckte die Achseln, sah ihn gar nicht an, ging in die Mitte des Saales, wo die Herren sie mit leisem Händeklatschen und mit gedämpften, gleichsam kosenden Beifallrufen empfingen. Die Damen zogen sich naserümpfend zurück. „Also meine Herren,“ begann Jeanette, „hier ist der General und Preisrichter. Er hat zu dem Zweck eine rote Schärpe. Er ist mein Freund. Ich habe für jeden von euch eine Aufgabe. Wer sie löst, darf mich küssen!“
„Bravo!“ rief der Chorus schmeichelnd.
„Ich hoffe, mein Bräutigam giebt mir die Erlaubnis –?“
„Wird nicht gefragt,“ murmelte der Chorus ergeben.
„Der Preisrichter soll meinen Bräutigam kennen lernen. Salomon! – Sa–lo–moon!“
Ein alter, grinsender, gebückt gehender Mensch mit brauner Perücke und gefärbtem Bart schob sich einher. Er hatte ein süßliches Lächeln, das bald wohlwollend, bald neckisch, bald traurig wurde, ohne den Ausdruck des Süßlichen zu verlieren. Mit einem tiefen, ironischen Bückling stellte Jeanette den Greis vor. „Salomon Hecht, Witwer.“ Ihrem Vater, der sie beiseite ziehen wollte, warf sie einen langen, drohenden Blick zu, so daß er kopfschüttelnd abließ und ängstlich harrte, was kommen sollte.
Herren und Damen standen lauernd im Halbkreis um das junge Mädchen. Es war eine ziemlich ungemischte Gesellschaft: jüdische Kaufleute mit den üblichen Formen der Bärte und den glatten, pomadisierten Haaren. Juden von der Presse mit dem spitzfindigen, alles hinnehmenden, alles entschuldigenden Lächeln, der schmalen Tournüre und den tänzelnden Schritten. Juden vom niederen Beamtendienst mit dieser überhobenen Wichtigkeit und dem unerschütterlichen Ernst. Jüdische Ärzte und Advokaten mit gleichsam stechenden Manieren, voll Höflichkeit und Gesuchtheit. Alle Gesichter verrieten Intelligenz, aber nur jene Intelligenz des Augenblicks, die von den verborgenen Werten der Dinge nichts weiß, die an der Stunde festklebt, mit der Stunde rechnet und die Augen schließt, wenn die Nacht kommt. Alle Gesichter hatten etwas Überlebtes, etwas von dem Abgeglühtsein, wie es das gemeine Leben mit sich bringt; das Edlere war verwischt von der Freude an flüchtigen Genüssen, von der Verachtung des wahren Ernstes, von Frivolität und der Sucht, den Tag leicht zu nehmen. Sie alle trugen Fräcke und tadellose Wäsche, aber darin lag etwas seltsam Anachronistisches, das sich in Worte nicht fassen läßt. Die Geschäftsleute hatten das Übergewicht, das ist klar. Sie fühlten das Geld in ihrer Tasche klimpern und waren überzeugt von den höchsten Eigenschaften dieser Macht: wie Sklaven, die heuchlerisch ihre Gewalt verstecken und sich auf die Stunde freuen, wo sie die Krallen zeigen dürfen.
Jeanette nahm ihre Puppe und ein langes Stück Bindfaden, dessen eines Ende sie um den Porzellanhals der Puppe schnürte; dann stellte sie sich auf einen Stuhl, und mit erstaunlicher Geschicklichkeit warf sie das leichte Spielzeug so gegen die Decke, daß die Schnur in einem stählernen Haken im Plafond hängen blieb. Dann zog sie unten, so daß die Puppe etwa drei Meter vom Boden entfernt, schweben blieb. „So meine Herren!“ rief Jeanette und zog die Brauen bald hoch, bald auseinander wie eine Katze. „Jetzt müssen Sie springen! Anlauf ist die Schwelle des Salons. Absprung vom Rand des Teppichs. Wer die Puppe mit den Fingern erreicht und herabziehen kann, ist Sieger. Wenn mehr als einer siegt, müssen die Betreffenden noch einmal springen. Niemand darf sich ausschließen, das ist die einzige Bedingung.“ Und sie warf stolz den Kopf zurück und verschränkte wartend die Arme.
Alle traten zurück und sahen sich ratlos an. Viele lächelten schwerfällig, einige wandten sich vorsichtig zur Thür. „Die Lakaien schließen die Thüren!“ gellte Jeanette erregt. Unwilliges Murmeln ward laut. Der Baron ging energischen Schritts zu seiner Tochter und wollte reden. Sie schnitt ihm das Wort ab. „Eine Silbe, Vater, und ich erkläre meine Weigerung, mich mit dem Schwein zu verloben,“ flüsterte sie ihm zu. Der Baron setzte sich an den Tisch und bohrte wütend in seiner Nase. Die Damen gingen bleich, mit halbgeschlossenen Augen und sozusagen mit gerümpften Schultern in den Nebenraum. Einige jüngere Herren begannen die Sache heiter zu nehmen, vielleicht um nicht für feig zu gelten, vielleicht aus Furcht vor Jeanettens spöttischer Zunge. Der Lieutenant, nach dem alle mit den Blicken suchten, war spurlos verschwunden. Endlich begann Elias Heumann, das „Tuchgeschäft“ mit einer möglichst harmlosen Miene zu springen; er suchte sich den Anschein zu geben, als springe er eben probeweise, um die Sache in einem um so scherzhafteren Licht erscheinen zu lassen. Aber nicht nur, daß das Tuchgeschäft sich kaum einen Zoll vom Boden erhob, nein es fiel auch noch am Rand des Teppichs hin und humpelte keuchend in eine Ecke, um sich während einer Viertelstunde der Betrachtung des sanften Sternenhimmels zu widmen. Agathon lachte; aber das Lachen starb auf seinen Lippen, als er in die Augen des Barons sah, in denen ein unheimliches Feuer glühte; er biß die Zähne zusammen, und plötzlich mußte er an die arme, niedere Stube zu Haus denken, und das gelbe Gesicht seiner Mutter stieg wie aus einem Schattengewühle auf. Und er verlor sich selbst: aus diesen Schatten erhoben sich Generationen, Greise und Greisinnen, die mit müdem Kopfschütteln vorbeigingen.
Jeanette klatschte und nun sprang Nathan Kirschbaum, das Bankgeschäft, rot im Gesicht, mit unterlaufenen Augen und plumpste wie ein junger Hund auf das glatte Parkett. Dann sprang die Hopfenhandlung Alois Cohn nebst Theilhaber, das Viehgeschäft Eduard Steinam, die Kurzwarenfabrik René Reinemann, der Feuilletonist Moritz Goldbach. Es war grotesk, wenn sie in der Luft den Arm ausstreckten, die Beine anzogen, den Kopf zwischen den Schultern versteckten, und dann gänzlich zerschmettert, gleichsam platzend vor Scham und Menschenhaß wieder an der Erde anlangten. Dazu wurde nun sehr wenig gelacht, die Gesichter wurden immer finsterer und endlich als schon niemand mehr springen wollte, trat der Baron mit einem heiseren „Jetzt ist es genug!“ dazwischen. Da setzte sich Jeanette, die bis dahin ernst geblieben war, in einen Sessel und fing an zu lachen, daß alle sich bestürzt umblickten. Es war etwas Hysterisches, etwas Bitteres und Tragisches in diesem Lachen. Dann hörte sie ebenso plötzlich auf, ging zu Agathon, riß ihm die Lappen ab, mit denen sie ihn geputzt und rief ihm herrisch zu: „Springen Sie!“ Agathon, überrascht durch das plötzliche Sie, rührte sich erst nicht. Doch nahm er schließlich gar keinen Anlauf, sondern schnellte sich gewandt von den Fußballen in die Höhe, ergriff die Puppe und riß sie herab.
„Gott sei Dank! Endlich ein Mann!“ rief Jeanette, nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn auf den Mund mit einer geheimnisvollen und durchdringenden Glut. Ihre Lippen waren feucht, ihre Haare waren feucht und knisterten dennoch und ihr Atem war heiß wie ihre Hände.
Ein eisiges Schweigen war entstanden. Agathon schauderte bis ins Herz bei ihrem Kuß. Dann wurde Jeanette heftig zurückgerissen und der Baron, in maßloser Wut, stand mit geballten Fäusten hinter ihr, während der Bräutigam daneben furchtsam lächelte. „Was willst du?“ flüsterte Jeanette.
Der Baron wurde schneebleich. „Ich will dich aus dem Haus peitschen lassen,“ sagte er bebend.
„Ich will auch, daß du mich peitschen läßt, hörst du? Das kannst du nur einmal, aber wenn ich das Schwein da heirate, bin ich für immer gepeitscht. Ich will einen Mann haben und keinen Getreidesack und keinen Geldschrank und keine zehnprozentigen Aktien. Verstehst du das nicht? Verstehst du nicht, daß ich nicht unter diesen abgegriffenen Papierseelen da verkehren mag? Seid ihr denn Menschen, was? Sagt doch selbst! Was soll ich denn anfangen mit diesem Schwein in der Nacht, wenn ich von Männern träume, die nicht ein paar matte Nachtlichter im Kopf haben, sondern Augen, Augen, Augen –? Wenn ihr nur das wollt, was ihr wollt, dann handelt! Verhandelt euern letzten Flederwisch im letzten Kehrichtfaß, und für das andere geb’ ich mich nicht her wie eure hochmütigen Weiber, die mich jetzt anglotzen wie eine Hexe. Da! da habt ihr und mich laßt zufrieden! da! da! da!“ Und sie ging hin, weiß wie Kalk, warf die kostbare Broche ins Kaminfeuer, die Armreife, die Ringe an den Fingern, riß die Spitzen über der Brust entzwei und öffnete mit einem Ruck die Knöpfe der Taille. Da stürzte Löwengard mit unartikuliertem Schreien auf seine Tochter, nahm sie in die Arme und wollte sie forttragen, hinaustragen. Sie wehrte sich wild, und in dem Kampf fiel sie hart zu Boden. Die Damen eilten herbei, – jammernd, scheltend, der Bräutigam suchte aus dem Kaminfeuer erst mit entblößtem Arm, dann mit der Schaufel die Kostbarkeiten herauszuholen, viele wandten sich feig und finster nach der Thüre, der Lakai sah mit eigentümlichem Lächeln in den von schwüler Luft erfüllten Raum, und auf einmal blieben alle regungslos stehen.
Der jetzt hereintrat, ohne daß der Lakai auch nur versucht hätte, ihn abzuhalten, war ein Greis von mehr als neunzig Jahren. Er hatte etwas wie eine große, seltsame Ruine; etwas in seinem Gesicht, das man unvergänglich nennen möchte: so einen Schimmer von wandelloser Milde und Güte. An Gliedern riesenhaft, in den Augen jenes Funkeln, das man zuweilen bei alten Männern sieht, die die Jugend müde hinwanken sehen und selber niemals müd zu werden scheinen, so kam er herein und Agathon lächelte auf seine stille Weise, wie ein Kind, das an den Wendepunkt eines Märchens gelangt ist, wo die wohlbekannte gute Fee kommt, um die Verwicklung zu lösen. Jedermann auf den Dörfern kannte den Gedalja Löwengard von Roth in seinen ärmlichen Lumpen.
Der Alte ging also ohne weiteres auf seinen Sohn zu, stutzte aber, als er dessen Gesicht sah, das von verräterischer Scham erfüllt war, ließ die halbausgestreckte Hand wieder sinken und nahm ruhig Platz. Da er nun sah, daß der Sohn sich seiner schämte, sagte er nichts, sondern sah lächelnd und nickend vor sich hin. Dann nahm er die Hand des „Barons“, zog ihn zu sich nieder, deutete ein paarmal auf das Kaminfeuer und sagte nach jedem Wort pausierend: „So hat’s Gott gewollt.“ Der Baron machte sich verlegen los, warf dem Lakaien einen zornigen Blick zu, den dieser achselzuckend hinnahm und trat mit einem betretenen Lachen zu seinen Gästen, die sich wie eine Phalanx vor ihm aufgepflanzt hatten. Jeanette kroch auf den Knieen zu dem Greis hin, streichelte seine großen Hände und sagte: „Großvater, was hast du denn? Warum kommst du denn so spät noch zu uns?“ Mit einer scheuen und beschwichtigenden Geste wandte sie sich nun zu den andern und sagte: „Er weint.“
Der alte Gedalja packte schnell ihre Hand und lispelte ihr zu: „Sag’s ihnen nicht. Sie wollen nicht sein gestört. Und mein Sohn hat vergessen, daß ich nicht habe zu kaufen einen Frack. Hat er vergessen, daß ich bin arm. Heut abend ist abgebrannt ganz Roth. Der Herr hat mich wollen gedenken lassen, daß es mir gegangen is zu gut im Leben. Sei ruhig, sei ruhig, ich sag’s bloß dir. Mei Haus, mei Hof, mei bisla Vieh, nebbich, alles is hin.“
Bald wußten es alle im Saal. Der Feuilletonist schlug mit einem boshaften Seitenblick auf den Baron vor, man solle sammeln. Übrigens brach die Gesellschaft rasch auf, und der Baron, verstört, verzweifelt, verfluchte sich und seine Tochter und vermochte kaum einen oberflächlichen Anteil an dem Unglück seines Vaters zu nehmen, dem er ein Zimmer zum Schlafen anweisen ließ. Dann forderte er Jeanette auf, mit ihm zu kommen. Agathon hörte ihn schreien; er wurde immer heiserer, schien um sich zu schlagen ... Der Lakai suchte ein vertrauliches Gespräch mit Agathon anzuknüpfen; seine Worte klangen widerlich zurück von den Wänden des verödeten Saales. Agathon schlich beschämt in seine Kammer, warf sich angekleidet aufs Lager und fiel sofort in einen schweren Schlaf.
Am Morgen hörte er vom Hausgesinde, daß Fräulein Jeanette verschwunden sei. Agathon fühlte sich darüber glücklich, ohne zu wissen warum. Die Luft war kühl, scharf und gleichsam gereinigt, als er zur Schule ging. Die Welt schien neu. Am Morgen hat alles nur ein Auge nach dem Licht hin; alles hat Zweck, Bedeutung, Form und Rundung. Besonders an diesen neblichen Oktobermorgen; alles ist mit Frieden gesättigt, die Dächer glänzen, die Sonne taucht langsam auf mit kupferigem Glanz, der Rauch erhebt sich kerzengerade, jeder Schornstein scheint sich zu brüsten im Gefühl seiner Pflichterfüllung. Die Mägde haben weiße Schürzen, und das knattert ordentlich, wenn sie zum Markt gehen. Die Bäckerbuben pfeifen Lieder, die man nirgends sonst gehört hat; sie halten jeden Ton lang aus, besonders in der Höhe. Über die große Brücke rauscht und rollt der Schnellzug, aus dem rätselhafte, übernächtige Gesichter in die weite, überschwemmte Ebene schauen. Dann saust der Zug herein, die Schranke am Dambacher Weg ist geschlossen, ganze Reihen von Ochsen stehen da und warten gutmütig. Und zwischen den Häusern verschwindet der Zug, rasselnd, polternd, pustend, und Agathon hört, wie er mit schrillem Pfiff am Bahnhof hält, und seine Sehnsucht eilt hin und steigt ein, um in ihr geheimnisvolles Vaterland zu fahren. Er geht gerade am Haus des Abraham Porkes vorbei, der Millionen besitzt und der als edler Menschenfreund bekannt ist; über eine halbe Million hat er für das Waisenhaus vermacht. Es giebt viele Dinge, die Agathon bewundert, und er liebt die Menschen. Die Wandlung, die er seit kurzem durchgemacht, kommt ihm merkwürdig vor. Er weiß, daß es neu ist, was er fühlt, aber er will sich nicht durchforschen. Es ist, als ob man in seinem Herzen etwas baue, und er will warten bis es fertig ist. Er denkt an jenes erste Bild der Stationen, wo der nackte Jüngling mit einer Zange dem Heiland die Dornen von der Dornenkrone nimmt. Und wie er daran denkt, erschrickt er, bleibt stehen und lauscht. Aber es pfeifen nur die Bäckerjungen in ihrem monotonen Diskant.
In der Schule hörte er nichts von dem was gelehrt wurde, hatte nichts gelernt, eine wichtige Lektion nicht geschrieben, wurde in den Strafbogen eingeschrieben, ohne daß er sich einen Gedanken darüber gemacht hätte. Er begriff nicht, warum er tote Wissenschaft in sich hineinstopfen solle, da es doch des frischen Lebens genug gab. Aber er begriff die Verachtung, in der die meisten Lehrer bei den Schülern stehen; es gilt nicht der Person, sondern dem Amt. Draußen war die Freiheit, der Wald, unbegrenzt, dunkel, voll von Erlösungen für den, der sie sucht; aber die Schule wollte, daß man nichts anderes wolle als die Schule. Das ließ ihn den Lehrer verachten und seine Handwerkerart, die großen, feierlichen Dinge der Geschichte so hinzusagen, als ob es nichts wäre, Mythologie zu lehren, als ob es gälte, ein Adreßbuch durchzulesen. An diesem Morgen begann Agathon plötzlich durch ein wunderbares Spiel seiner Seele zu sehen, wie wenn ein Brett von den Augen seiner Seele genommen wäre. Und diese große Umwälzung beschäftigte ihn sehr, so daß seine Wangen ab und zu erbleichten. Nur ein Lehrer war es, an dem er mit abgöttischer Verehrung hing, an den er mit keinem Hauch von Kritik zu rühren wagte. Es war nichts an ihm als das, wie er die Wissenschaft der Chemie vor den Schülern zerlegte, so daß auch der Blöde und der Boshafte aufmerksam wurden. Er griff gleichsam mit seinem Arm hinein in die Nacht der Natur, oder in die Feuer der Natur und holte ihre Rätsel hervor, die er trotz aller Erläuterungen Rätsel und Wunder sein ließ vor den Augen seiner Zuhörer. Er that nicht wichtig mit der Wissenschaft und spielte nie mit ihr, machte auch nichts „Interessantes“ daraus, sondern eher etwas Heiliges. Da stand er hinter seinen Retorten und Röhren wie einer, der im Tempel steht und im Begriff ist, einen Gott zu predigen, dessen ganze Schönheit und Größe nur er selbst kennt. Nie ging er auf die tote Formel ein, wie ein junger Priester, der die gedruckten Gebetbücher verachtet und sein eigenes Gebet haben will und hat. So war Erich Bojesen.
Da Agathon Geyer nun nicht um die Welt aufmerksam werden wollte, nahm „Professor“ Schachno die Gelegenheit wahr, ihn die „Braut von Korinth“ fünfmal abschreiben zu lassen. Agathon lächelte.
Als Stefan Gudstikker mit dem kleinen Knaben, der immer still vor sich hinschluchzte, das Innere des großen, hallenden Gebäudes betreten hatte, hörte das Schreien wieder auf. Doch in einem jener Energieanfälle, die oft über ihn kamen und durch die er in seiner Achtung gewann, beschloß er, der Sache auf den Grund zu gehen. Und er stieg die Treppe hinan, wurde nachdenklich gestimmt durch den feierlichen, ja düsteren Stil des Hauses, schüttelte den Kopf über die mangelhafte Beleuchtung, machte seine Glossen zu dem großen, bemalten Glasfenster, das den Propheten Japhta mit seiner Tochter zeigte, in einer naiven und herzlichen Darstellung, die an Cranach und seine Schule mahnte. Auf dem großen Korridor war es still und öde. Er öffnete die nächste Thüre, wobei sich das Bürschchen ungeduldig zwischen seine Beine drängte, um auch etwas zu sehen, und hatte einen großen, weißgetünchten, fast finsteren Saal vor sich, in welchem Bett an Bett stand, wohl dreißig oder vierzig wie in einer Kaserne, und über jedem der weißen Tücher schaute ein kaum weniger weißes Knabengesicht hervor, mit geschlossenen Augen, geschlossenen Lippen, angestrengten Lippen, die sich zu bemühen schienen, Seufzer zurückzuhalten. Eine dumpfe Luft schlug heraus wie aus einer Katakombe und Gudstikker schloß schnell die Thüre, stand ratlos da und sah die Augen des zerlumpten Knaben verehrungsvoll und flehend auf sich ruhen. Da ertönte wieder das Schreien: lauter, klarer und eindringlicher. Der Kleine rang stumm die Hände und das Eckige und Verzweifelte in der Gebärde trieb Gudstikker mehr an als Worte.
In einem schmalen, matt erhellten Raum saß der Schammes mit einer blauen Brille, riesenhaften Filzschuhen, einer dicken Uhrkette und einer Art Kaftan und nickte schläfrig; und wenn ihn sein Gegenüber, der Wohlthäter Abraham Porkes anredete, fuhr er auf, machte ein devotes Gesicht und kehrte dann wieder an die Grenze des Schlummers zurück. In der Mitte des Raumes war ein Knabe von vielleicht dreizehn Jahren auf ein Brett mit Riemen festgeschnallt, und wenn der Schammes, das Rohr in der Hand, mit seinem devoten Gesicht emporschnellte, schlug er zugleich mit dem Rohr klatschend auf den Rücken des Knaben. Dieser öffnete dann den Mund zu einem Schrei, der lang hinhallte und langsam erstarb, worauf er in eine schmerzliche Starrheit verfiel. Dies alles hatte etwas Gespensterhaftes und Stefan Gudstikker hätte lachen müssen, wenn er nicht sofort das Gesicht dieses Knaben gesehen hätte, das sich mühsam emporhob: ein feines, reines Gesicht, mit einer Lieblichkeit, die nur den frühen Schmerzen zukommt, mit einer unerfahrenen Gläubigkeit. Schwarze Locken fielen in die Stirn, auf die deutlichen Brauen, unter denen hilflos fragende Augen hervorschimmerten mit jenem Knabenblick, der manchem erfahrenen Mann etwas zu denken giebt. Kaum sah der kleine Bursche an Stefans Seite das Unglück seines Freundes, als er auf ihn zustürzte und, da er mit den Ärmchen nicht hinaufreichte, bitterlich zu weinen anfing.
„Ruhig! was ist hier los?“ sagte der Wohlthäter in sanftem Baß.
„Ruhig, was ist hier los?“ wiederholte getreulich der Schammes und zeigte einen wahren Schwertfischzahn, der wie eine Schaufel aus der Unterlippe hervorragte.
„Wo kommt ihr her?“ fragte der Wohlthäter und schaute seine dicken Finger an, als wären sie durch die Erscheinung der Fremden beschmutzt.
„Wo kommt ihr her?“ fragte der Schammes und versteckte seinen Zahn, so gut es ging.
Stefan Gudstikker erwiderte nichts, nahm sein Messer, durchschnitt die Riemen und hob den Knaben herab. „Ignazle, guts Ignazle“, flüsterte der Kleine mit der Betonung einer Mutter. „Siehst mich nit? Thut’s weh?“
„Ruhig!“ donnerte Abraham Porkes. „Was erlauben Sie sich, junger Mann!“
„Ja, was erlauben Sie sich!“ sagte der Schammes mit einer unbeschreiblichen Stimme und schneuzte sich in ein blaues Tuch mit thalergroßen, roten Flecken.
„Was hat der Junge gethan?“ fragte Gudstikker mit einer Hoheit, die ihn selbst überraschte und sehr befriedigte.
„Er huldigt der Unzucht, verstehen Sie, und das muß bestraft werden. Da alle andern Mittel vergebens sind, muß er bestraft werden. Seine Mutter selbst hat ihn hergebracht, – kurz und gut, was haben Sie hier zu suchen und dieser nichtsnutzige Bengel da?“
„Ja!“ machte der Schammes und sah streng aus.
Gudstikker lachte. „Wollen Sie mir das Kind überlassen?“ fragte er dann. „Ich werde ihn heilen. Er interessiert mich.“
„Sind Sie Jude?“
„Nein.“
„Dann bedaure ich. Bedaure lebhaft.“
„Aber Herr Kommerzienrat! Sie, bei Ihrer Vernunft und Bildung! Sie kennen ja auch meine Mutter, Elise Gudstikker. Es kann Ihnen ja gleich sein. Und wenn Sie ihn wieder verlangen, können Sie ihn haben.“
„Ja, wenn Sie glauben,“ meinte Porges unentschieden. „Gut“, sagte er dann, „auf acht Tage; vorausgesetzt, daß nichts geschieht, was unsere Religion – na, also gut, der Junge weiß das schon selbst. Adieu junger Mann, machen Sie’s gut, grüßen Sie Ihre Mutter. Sie gefallen mir!“
Gudstikker ging heim mit den zwei Knaben. Der Zerlumpte konnte sich nicht trennen und überhäufte das Judenkind mit Liebkosungen. Gudstikker zog die Schultern hinauf und lachte in sich hinein. Er wußte, daß die beiden froh waren, den Knaben los zu sein.
Zu Hause angelangt, fand er seine Mutter unpäßlich. Sie lag auf dem Sofa, sah etwas kummervoll aus, forderte ihn aber gar nicht auf, zu erklären, wie er zu den Kindern komme. Sie kannte seine Art, eigenwillig und schnell zu handeln, gut genug. Sie kannte auch seine redselige und mitteilsüchtige Natur zu sehr, um sich neugierig zu zeigen. Ihrer apathischen und lebensweisen Art war das fremd. Ihr Leben bewegte sich hin und her zwischen Seufzen und gleichgültig gewährendem Lächeln, dabei hatte sie jene eigentümliche Strenge, die dem Blick etwas Unwiderstehliches giebt, einen Blick, von dem man glaubt, daß er den Körper wie Glas durchdringe. Den jüdischen Knaben sah sie an, lachte leise und hart, betrachtete seine langen, feinen, dünnen Finger, das abgesetzte Handgelenk, nickte Stefan zu, legte sich ruhig wieder hin und sah mit spöttischem Lächeln in die Lampe.
„Können sie hier schlafen, Mutter? Oder in der Kammer?“
Der Judenknabe, den sein kleiner Kamerad aus Gott weiß welchem Grund Ignazle nannte, während er Sema Hellmut hieß, sprach kein Wort. Aber er schien alles tief in sich aufzunehmen, was er sah und hörte, dem träumerischen Spiel seiner Augen nach zu schließen. Diese einfache und gemütliche Stube mit dem weißen Kachelofen, der fortwährend leise in sich hineinbrummte, die Nacht draußen mit dem einförmigen Flußgerausche, die stille Lampe, die alten Bilder an den Wänden, er besah es mit scheinbar verächtlicher Gelassenheit, doch mit einer gewissen inneren Unruhe. Er schien gar nicht empfänglich zu sein für die unaufhörlichen Liebkosungen seines Freundes, doch tauchte bisweilen sein Blick angstvoll in den des kleinen Zerlumpten.
„Nun, das ist doch jüdische Degeneration, wie sie im Buch steht,“ sagte Gudstikker zu seiner Mutter.
„Ich weiß nicht, was im Buch steht,“ entgegnete sie lakonisch. „Ich will dir sagen, die Juden sind viel bessere Menschen als wir, edlere Menschen. Sie trinken nicht, sie betrinken sich nicht, sie sind eigentlich viel fremder in der Welt als wir. Wenn bei uns nicht alles aus dem Leim geht, haben wir es bloß den Juden zu danken.“
„Meinst du? Das hat zwei Seiten. Es giebt solche Juden und solche. Die einen scheinen auserlesen für alles, was gut, groß, prophetisch ist. Die andern, die meisten, sind Würmer, Schlangen, Mistzeug. Ich bin der Ansicht, es läßt sich auch gar nicht leugnen, daß unsere ganze Kulturkrankheit Judentum heißt.“
„Wer weiß, vielleicht heißt sie auch anders,“ entgegnete Frau Gudstikker mit seltsamem Lächeln und spielte mit einem elfenbeinernen Kruzifix an der Wand. „Das sind so Worte, mein Lieber. Aber ich kann darüber nicht reden. Ich bin zu dumm. Alle Frauen sind ja dumm.“ (Wieder dies feine Lächeln.)
Gudstikker schwieg und verfolgte ein eigentümliches Schauspiel zu seinen Füßen. Der große Bernhardinerhund, Faust, ein energisches, edles und kühnes Tier, erhob sich aus seiner Ofenecke, tappte zu den zwei Kindern, beschnüffelte den drolligen Zerlumpten, brummte, (er war kein Freund der Kinder), beschnüffelte Sema, und statt wieder zu brummen, leckte er die Hand des Knaben, freudig und förmlich demütig, dann ließ er sich neben Sema nieder und hörte nicht auf, ihn gespannt anzublicken, als ob er einen Befehl erwarte. Es war wie ein Bild aus einem alten und vergessenen Buch.
Da gewahrte Sema eine Geige an der Wand über der Kommode; seine Augen wurden groß und begehrlich. Er stand auf, machte eine bittende Gebärde, wobei er auf das Instrument deutete und kaum das erstaunte Nicken Frau Gudstikkers abwartete; dann stellte er sich auf die Zehen und nahm die Violine herab, kehrte auf seinen Platz zurück und begann vorsichtig lauschend zu stimmen. Hierauf nahm er den Bogen und spielte. Aber wenn man sagt, er spielte, dann ist es zu wenig. Es war nicht mehr der kleine Knabe mit dem bisweilen aufstrahlenden Blick und der müden Blässe der Wangen; es war irgend eine verstorbene wundervolle Künstlerseele, die mit fleischgewordener fester Hand den ärmlichen Bogen führte. Es waren solche Töne, die gleichsam den Himmel durchsichtig machen, ohne daß man Gott selber findet, ein schwermütiger Hymnus an alles Liebliche des Frühlings und des Sommers, das unbeklagt hingegangen ist, um nicht mehr zu erscheinen, oder es war die Trauer um die Jugend, die zu leiden hatte, oder ein Märchen selbst ersonnen in einer einsamen Nacht, – unaussprechlich.
Als Sema die Arme sinken ließ, lauschte er selbst noch den Tönen nach. Er schien nicht zu ahnen, was er mit seinem Spiel gethan; er blickte nur bewegt auf den still vor sich hin heulenden Wendelin, seinen kleinen Freund, auf die regungslos hingestreckte Frau Gudstikker, auf den verloren träumenden jungen Mann. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf, stand auf, legte die Geige auf die Kommode, ging zum Ofen, rieb seine Hände an den Kacheln, legte die Stirn an den Messingring der Nische, und bei alledem folgte ihm der große Hund Faust, und ließ nicht ab, ihn mit seinen feuchten, treuen, glänzenden Augen anzustarren.
Am andern Tag gegen Mittag, kurz nachdem er aufgestanden war, bat Gudstikker seine Mutter um Geld. Er habe keines mehr und bekomme erst morgen wieder. Sie habe kein Geld für ihn, erwiderte sie. Er solle seine Uhr versetzen.
„Mutter,“ erwiderte er ernst, „du weißt, daß ich nichts versetze. Es geht gegen meine Natur. Willst du, oder willst du nicht?“
Sie gab, was sie entbehren konnte. „Wie lange wird es noch dauern mit deinen großen Ideen,“ seufzte sie. „Wir alle haben zu leiden gehabt unter deinen großen Ideen.“
Gudstikker lachte verächtlich und ging. Nach dem Essen begab er sich ins Caféhaus, vergrub sich in Zeitungen, saugte alle belletristischen, politischen und vermischten Neuigkeiten in sich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser, zahlte erst als es dämmerte, dann ging er zu einem Trödler, versetzte seine Uhr und machte sich auf den Weg nach Zirndorf, um die Nacht im Ziegeleigebäude zu verbringen.
Das Wasser war nun so weit zurückgetreten, daß die gewöhnlichen Wege gangbar waren: den Damm entlang zur äußeren Turnhalle, dann tiefer ins Thal hinab, durch Äcker und Wiesen. Bei Dambach war ein Notsteg errichtet und schwankte hin und her wie eine Schaukel. Der Abenddunst huschte schattenhaft über das Wasser, das rauschend und grollend dahinschoß. Dann trat der Mond heraus, kalt, klar, eine halbe Scheibe. Aus der öden Ebene wurde ein Nebel- und Elfenreich, die ferne Stadt schien eine alte Festung, aus Rauch und Staub erbaut, der Wald schien zu hüpfen, oder sich zu verschieben wie eine Coulisse. Der Mond war tausendmal in tausend Wellen zu sehen, auch in dem ruhigen breiten Wasser, womit die Wiesen überschwemmt waren. Quä, machten die Raben, schienen sich zu besinnen, wohin sie fliegen sollten. Lichter schauten aus einem Weiler, flimmerlos, matte Punkte, wie Leuchtkäfer; ein Bauer schrie, ein Hund bellte, dann fingen plötzlich die Glocken in der Stadt an herüberzuläuten; es war wie das Gerippe zu einer Melodie, die lang und feierlich hinströmen muß, wie dunkler Wein aus grünem Glas.
Gudstikker sah eine Gestalt vor sich. Sie schwankte beinahe müßig dahin, griff nach Stauden am Weg, nach Halmen, warf Steine ins Wasser. Es war Agathon. Gudstikker griff aus und wünschte guten Abend. Agathon erschrak.
„Was denken Sie so den langen Weg ins Dorf?“ fragte Gudstikker.
„An Vieles. Oder an nichts.“
„Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen? Sie sind ein Träumer, aber ein aufgeregter. Sie machen sicherlich noch mal irgend welchen Tumult in der Welt. Sie sind so ein versteckt kochendes Wasser. Niemand ahnt, daß es kocht, auf einmal fliegt der Deckel herunter –!“
Agathon lächelte überlegen. „Was denken Sie sich eigentlich dabei? Sie kennen mich doch gar nicht. Sie wollen mir nur imponieren.“
Gudstikker schüttelte melancholisch den Kopf. Dann rauchte er sehr nachdenklich weiter, bis er die Stille unterbrach. „Was sagen Sie nun zu dem Abend? Da könnt ich nun einfach sterben. Aber dafür haben Sie ja gar keinen Sinn. Juden haben keinen Natursinn. Ach, ich muß Ihnen etwas erzählen. Ich hatte gestern ein merkwürdiges Abenteuer. Ein Romanstoff. Es ist sehr fein, rätselhaft, metaphysisch sozusagen. Als ich an eurem Waisenhaus vorbeiging, hörte ich furchtbares Schreien. Die Straße menschenleer, nur ein kleiner Junge stürzt auf mich zu, nennt mich Herr Jesus, zerrt mich die Stiege hinauf, durch drei, vier Schlafsäle, durch ein ödes Schulzimmer, durch eine Art Karzer oder Betsaal und auf einmal hör’ ich wieder schreien.“
„Im Haus?“
„Im Haus. Ich öffne eine Thür, zwei große Kerle in schwarzem Talar stehen da, der eine betet und der andere sticht mit seinen Nadeln in den Körper eines Knaben, der, merken Sie auf, der an der Decke hängt, mit den Füßen nach oben. Ich bin wie toll, schlage den einen zu Boden, drücke den anderen an die Wand, schneide den Knaben ab und gehe mit ihm fort. Zuhause sieht der Junge meine Geige und fängt nun an zu spielen, – ich habe nie im Leben dergleichen gehört. Ich heule, meine Mutter heult, die Leute auf der Gasse bleiben stehn, der kleine Bengel, der mitgelaufen ist, wird ohnmächtig ...“ Gudstikker schwieg erschöpft. Es war, als sähe er jetzt alles viel deutlicher, als zur Zeit der Ereignisse selbst.
Agathon sah seinen Begleiter mit leisem Mißtrauen von der Seite an. „Weshalb hatten sie ihn denn so gezüchtigt?“ fragte er.
„O, das ist sehr einfach!“ Gudstikker sagte etwas, wobei Agathon die Hände zusammenschlug.
„Ja, es ist eine schmutzige Welt, in der wir leben,“ seufzte der andere. „Wir waten durch den Kot, in dem sich die Sterne spiegeln. Exempla odiosa sunt. Ich will Ihnen sagen, wir sind zu gebildet, um noch brauchbare Menschen zu sein. Sürich Sperling war kein Gebildeter, aber ein Mensch.“
„Warum reden Sie stets davon!“ sagte Agathon unwillig.
Gudstikker blieb stehen und heftete seine Augen durchdringend auf den Gefährten; und seine Augen sahen groß und feurig aus im Licht des Mondes. Sie waren auf dem Hügelkamm angelangt. Zu den Seiten blickte die Waldnacht sie an, in der Tiefe schimmerten die Lichter von Zirndorf. Agathon lehnte sich an einen Baumstamm; sein Gesicht hatte einen visionären Ausdruck. „Ich sehe ihn,“ sagte er. „Er nickt.“
Gudstikker wich scheu zurück.
„Hören Sie,“ fuhr Agathon fort, „mir ist, als könnte ich die Zukunft genau sehen. Einer hat mich hinaufgehoben, daß ich es sehen kann: Sürich Sperling. Nicht weil er gelebt hat, sondern weil er tot ist. Aber fragen Sie mich nichts.“
Sie gingen weiter. Gudstikker kaute an seiner erloschenen Cigarette. Über den Mond zogen flaumige Wolken, ohne daß sie seinen Glanz merklich zu mindern vermochten.
„Was ist eigentlich Ihr Beruf?“ fragte Agathon.
Gudstikker errötete. „Ich schreibe,“ sagte er, bemüht, sich selbst zu verspotten. „Ich mache in Kunst. Ja, man wird bald von mir hören.“
„Aber nicht lange,“ fügte Agathon versunken hinzu. „Sie haben bloß Funken, keine Flamme.“ Er brach erschrocken ab, als er Gudstikkers verzerrtes Gesicht gewahrte.
An der Ziegelei trennten sie sich. Agathon ging heim. Es war der Vorabend der letzten Tage des Laubhüttenfestes. Zum erstenmal hatte Elkan Geyer keine Hütte gebaut. Doch trotzdem war es sehr festlich. Die fromme Liebe, mit der man die Feier begann, übergoldete gleichsam die Ärmlichkeit. Aus nichtigen Dingen entstand unter den Händen einer einfachen Frau Poesie: Äpfel, Nüsse, Trauben, schwer gelagert auf blendend weißen Decken, gescheuerte Dielen und Fenster, die Festtagslampe, eine kupferne Ampel, dampfende Speisen, frischgewaschene Kinder, die froh sind, daß alles anders ist, als am Werktag.
Enoch Karkau starrte im Sofawinkel. Der Fremde, Joelsohn, war wieder da und las Gebete. Elkan Geyer sah Keinen an; sein Gesicht war wie durchpflügt von Unglück. So ging er seit dem Mord herum, und nichts war aus ihm herauszubringen. Die verschuldete Summe hatte er im letzten Augenblick noch aufgetrieben und dem Bruder des Toten eingehändigt. Frau Jette siechte nur so hin. Es war oft, als ringe sie mit einer unsichtbaren Macht und sei nicht stark genug, die Arme frei zu bekommen. Daher leuchtete es bisweilen dämonisch auf in ihren Augen, wie von der Gewißheit der Niederlage erfüllt und doch voll trotziger Widerstandslust. Die Sorge um die Kinder beschäftigte sie am meisten, und sie glaubte Ruhe zu haben, wenn nur Elkan endlich einmal die streitige Chassanstelle erhielte.
Um neun Uhr wurden die Kleinen ins Bett geschickt. Alles war still. Joelsohn las den Israelit, die Zeitung für das Judentum, und sah plötzlich empor.
„Es steht schlimm mit Jisroel,“ sagte er. „Habt’r gelesen von Rußland? Habt’r gelesen von Wien? Is der Jüd a Verbrecher, daß er sich soll steinigen lassen von die Gojim? Es wird e böses End nehmen, en End mit Schrecken.“
Sie sprachen dann vom Brand in Roth, und vom Bankrott einiger Nürnberger Bankfirmen. Frau Jette sagte, daß Isidor Rosenau entschlossen sei, sein Geld beim Baron Löwengard zu erheben. Das sei lächerlich, warf Enoch Karkau hin; Löwengard sei sicher wie Rothschild. Joelsohn hörte dies alles nicht; er redete sich in eine flammende Hitze gegen die Christen und wurde schließlich ganz fantastisch in seinen Anklagen. Er ist um ein paar Jahrhunderte verspätet, dachte Agathon. Es gab viele solcher Juden, besonders in der Stadt; es waren Zeloten. Das Gebet ging ihnen über alles, über Gott selbst und wer nicht betete, war der Feind und der Christ; etwas Unreines, Fettiges, Übelriechendes lag über diesen Eiferern wie über abgestandenen Speisen.
„Ja“, sagte Elkan Geyer müde, „das ist ja ganz recht, aber schließlich sind wir doch nur Geduldete. Wir speisen an einer fremden Tafel, bei einem fremden Volk. Was können wir fordern? Nichts. Erobert, genommen haben wir ja genug, das muß wahr sein, die einen viel, die andern wenig.“
„Und wenn der Messias kommt?“ murmelte Joelsohn fanatisch.
Elkan bog den Kopf leicht vor und seine beiden Mundwinkel zuckten gleichzeitig. Darin lag etwas schmerzlich Zweifelndes. Agathon liebte in diesem Augenblick seinen Vater sehr.
Bald sagte er gute Nacht. Ihm war wunderlich zu Mut. Er hatte ein Gefühl von Macht und Freiheit; ihm war, als könne er all diese bunten Verwicklungen des Lebens lösen, wenn er nur die Hand erhob. Er wollte noch nicht schlafen, darum ging er in den Hof und schlürfte gleichsam die Nacht in sich ein, die so still war, spätsommerlich lau, trotzdem der Oktober schon weit vorgerückt war. Der zerbrochene Zaun, der verwilderte Gemüsegarten, in der Ferne die Felder, die niederen Häuser: alles in der sanften Bronzierung des sinkenden Mondes. Er hörte etwas murmeln, ging ohne Furcht den Lauten nach, öffnete das Scheunenthor und wurde ganz bleich vor Bestürzung, als er auf einem Strohlager den alten Gedalja gewahrte, der in einen mattleuchtenden Kerzenstumpf hineinstarrte und Agathon eifrig zu sich herwinkte, als er ihn erblickte.
„Psch! nix reden!“ rief er mit unterdrückter Stimme. „Mausstill sein, sonst schneid’ ich d’r ab die Ohren. Setz’ dich her zu mir, und ich will d’r sagen was Guts fors ganze Leben. So. Ob de bist reich, ob de bist arm, ’s is ganz egal; ob de bist gottesfürchtig, ob de bist nit gottesfürchtig, ’s is aach egal. Müßt ich sonst sitzen auf Stroh in der Scheune wie Hiob, und unterm Gras wie Nebukodnezor? Ich will dir geben en guten Rat un sollst’n nit vergessen fors ganze Leben. Sag’ niemals, un wenn de wirst siebzig Jahr, sag’ niemals, daß de hast einen Menschen, wozu de haben kannst Vertrauen. Gott im Himmel, bin ich geworden neunzig Jahr, un meine Kinder schämen sich meiner. Hab’ ich gehabt e Gut, e Haus, un e Viech, un e Fraa, un es Unglück is gekommen un hat aufgesperrt sein Rachen, daß ich jetzt sein muß heimlich in der Scheune meines Vetters, bis er wird sein willig, mir zu geben e Kammer für die Nacht. Glauben is kaaner mehr in der Welt, ich spür’s am eignen Fleisch, Gott hat die Zeit verloren, sie is ihm gefallen aus der Hand, nebbich. Du hörst se schreien von Juden un Christen, aber was se meinen is das Geld un was se nicht meinen, is die Frommheit. Was is Gott? Is das Gott, wenn ich mach e Kreuz, wenn ich bet in der Thora? Is das Papier Gott? Is das Holz Gott? Is Gott der Himmel, is Gott der Mond? Nix is Gott; Gott is meine Gutwilligkeit un mein Armsein. Ich bin Gott, du bist Gott, e Gespenst is Gott, e Stück Armut un Elend.“
Er hatte die Hände erhoben und seine Augen standen voll Thränen. Zerrissen mit sich und der Welt lag er da. Und Agathon war wie versteinert. Dann begann der Alte wieder, leiser und ruhiger: „Jetzt gehste wieder hin, wo de bist hergekommen, legst dich schlafen un bist still. Du bist e Chuchem und wirst thun wollen e Mitzwe bei en alten Mann. Ich muß sein allein. Ich kann nit sehn vor mir e menschliches Gesicht.“
Agathon wandte sich, verschloß die Thür, ging ins Haus, in sein Zimmer, kleidete sich aus, – alles mechanisch. Dann legte er sich ins Bett und dachte nach, weit über Mitternacht hinaus.
Er stand auf, fühlte förmlich die Nacht um sich her mit den Fingern, kleidete sich an, ging hinab, und obwohl er sich gar nicht bemühte, leise zu gehen, schwebte er doch nur so hin über die Treppe und den Flur. Auf der Straße war es zauberhaft still: die Häuser, die Gärten, die Brunnen, alles gefroren in Ruhe. Er schlich um das Wirtshaus St. Sebald herum, erkletterte das Weinlaubgerüst, stand oben vor einem vergitterten Fenster, preßte sich mit seltsamer Geschicklichkeit durch und hüpfte durch die geöffneten Fenster in Sürich Sperlings Schlafgemach. Es war vollkommen finster, doch sah er jeden Gegenstand, auch den verstecktesten, mit brennender Deutlichkeit. Sürich Sperling lag nicht im Bett, sondern saß auf einem Stuhl, starrte in den leeren Ofen und sagte: „Ja, mein Junge, in der Hölle haben sie auch nicht immer Vorrat an Feuer; mich friert.“ – „Soll ich einschüren?“ fragte Agathon sanft. – „Ja, ja, aber findest du nicht, daß es hier nach angebranntem Kaffee riecht?“ Agathon kniete hin und heizte. Das Material, das er dazu gebrauchte, fühlte sich an wie Wolle, und schließlich wurde es naß und er sah, daß er mit Blut geheizt hatte. Dann öffnete sich die Thür und von den flackernden Flammen beleuchtet, kam Stefan Gudstikker herein. Er führte an einer Leine zwei Hunde, zwei Katzen und zwei weiße Mäuse, die alle gehorsam hinter ihm her schritten. Er ging auf Agathon zu und reichte ihm einen Brief, über den Agathon in große Bestürzung geriet und dann sah er plötzlich seine Mutter, die mit rollenden Augen irgend etwas Unverständliches sagte. Jetzt stand Sürich Sperling auf und sagte: „Es lebe das Kapital. Es lebe die Schnaps- und Fuselbrennerei. Es lebe der Bankrott. Es lebe die Bürgerschaft, die überm Pulverfaß schnarcht. Es lebe die Revolution. Ich bin Robespierre. Ich bin der ewige Jude. Es lebe der Tod.“ Plötzlich wurde es hell im Zimmer, Agathon wußte nicht, ob durch die Flammen im Zimmer oder durch ein Feuer, das draußen war. Da begann das Kruzifix an der Wand lebendig zu werden, und Agathon sah nichts mehr, als ein Männergesicht von erhabener Schönheit und kniete nieder. Doch als er wieder aufschaute, sah er statt dessen eine nackte Frau. Es war Jeanette. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn fort, durch das leere Dorf, durch die Stadt, durch Wiesen und Wälder und Felder, dann kam eine öde Strecke, dann eine Brücke, die über einen grauenhaften Schlund hinweg führte, und endlich kam ein Garten auf einem Hügel, und in der Tiefe erwachte der Morgen, die Sonne: rot, schwer und langsam. Alles war zerstoben, glänzend kam der Tag. –
Frau Jette blieb, als die Männer morgens zur Schul gingen, im Bett liegen. Die Morgenzeitung brachte die Nachricht von dem Bankrott von Wassertrüdinger & Co. in Nürnberg. Darüber war alles erregt im Dorf. Aber der Putz, in dem die Weiber zur Synagoge eilten, war darum um nichts weniger prächtig. In Sammt und Seite rauschten sie einher, mit kostbaren Hüten und gelben Schuhen, was im Rahmen des schmutzigen Dorfes mit seinen Düngerhaufen ziemlich komisch war. Hinter den Frauen schritten ernster und stiller die jungen Mädchen. Es waren Mädchen mit schönen zarten Gesichtern dabei, voll von jener grundlosen Schwermut, die nur den Juden eigen ist, mit jenen schwarzen Augen, die keine Tiefe haben, mit jenen breiten Hüften, die später Geist und Feinheit gänzlich verdrängen müssen.
Die Männer schalten und disputierten lauter als je. Sie gingen in Haufen und kamen kaum vorwärts. Isidor Rosenau, Samuel Bergmann, Max Lippmann, David Krailsheimer, alle redeten mit den Händen, fochten mit den Armen in der Luft umher: man danke für die „Kovet“ einen halben Goij zum Chassan zu haben; man wisse wohl nicht, daß Elkan Geyer kein geborener Zirndorfer sei –? So? das sei gleichgültig? wenn er nur ein guter Jüd sei –? Er sei aber kein guter Jüd. Schicke er nicht seinen Sohn in die Christenschule nach „Ferth“ –? Das thaten andere auch –? Gut, dann seien andere auch Chasserem, Schweine, Goijem, Schabbesgoijem. Kämme er sich nicht am heiligen Schabbes mit einem Kamm? Sogar rasieren habe er sich früher einmal lassen.
Die schwarzen Cylinder fuhren ruh- und ratlos hin und her.
Weit hinter ihnen schritt Agathon, unschlüssig, ob er dem Gottesdienst beiwohnen solle. Da gesellte sich ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren zu ihm. Es war Monika Olifat, die Tochter einer jüngst aus Polen eingewanderten Frau. Sie kam ganz aus freien Stücken zu ihm, der vor ihrer Schönheit errötete, vor ihrer Unbefangenheit.
„Sie sind Agathon Geyer?“ redete sie ihn in einem reinen Deutsch an, mit einer glockenhellen, melodischen Stimme.
Er nickte langsam.
„Ich habe viel von Ihnen gehört. Ihr Vater will Vorbeter werden?“
Er nickte wieder.
„Aber warum wollen das die Leute da nicht?“
„Ich weiß es nicht. Sie sind neidische, erbärmliche Menschen.“
„Braucht ihr es denn so nötig?“
„Ja, meine Eltern sind sehr arm. Wenn sie nicht die Zinsen von dem Geld hätten, das für uns Kinder bei Baron Löwengard deponiert ist, hätten sie gar nichts.“ Er sprach etwas wirr und stockend und war ärgerlich über seine ungewohnte Mitteilfreude.
„Wissen Sie was,“ sagte Monika Olifat, „wir wollen Freunde werden. Vorausgesetzt, daß Sie es wollen.“ Agathon sah sie an und jetzt errötete sie. „Ich suche einen Freund,“ fuhr sie etwas verwirrt und wie entschuldigend fort. „Also wollen Sie?“ Sie hielt ihm schüchtern die Hand entgegen und schüchtern legte er die seine hinein.
„Freunde sind Verbündete,“ sagte Monika Olifat. „Sie dürfen nichts voneinander verraten und nichts voreinander verschweigen. Und jetzt sagen wir uns Du.“ Sie nickte ihm vertraulich zu und verschwand in dem für die Frauen bestimmten Aufgang der Synagoge.
Der Tempel war ein kalter, kahler Raum mit hohen, farblosen Fenstern, alten Gebetspulten, moderiger Luft, einem Balkon für die Frauen und dem Altar. Während des ganzen Gottesdienstes herrschte derselbe Lärm wie vorher auf der Straße. Erst als ein Rabbiner aus Fürth die Kanzel betrat, um zu predigen, wurde es ruhig. Diese Predigt war anfangs reichlich mit gelehrten und biblischen Citaten geschmückt, erging sich dann in pathetischen Äußerungen über die Heiden, befaßte sich des Weiteren mit der Untersuchung eines spitzfindigen Satzes aus der Mischna, empfahl „die Fahne des Glaubens hochzuhalten“ und schloß mit einem Preis des Vaterlandes und des Kaisers. Da erschallte ein grelles, erschreckendes Gelächter im Hintergrund, gerade als der Gottesdienst mit dem Kaddisch endigen sollte. Alles wandte sich mit aufgerissenen Augen um, und man sah einen alten Mann sich krümmen und verbeugen wie eine Katze und einem unsichtbaren Etwas in der Luft zugrinsen. Es war Gedalja; Enoch Karkau ging hin, um ihn hinauszuführen. Tuschelnd verließ die Gemeinde das Haus.
Als Agathon nach Haus kam, saß Gedalja fröstelnd am Ofen, und neben ihm stand Enoch in finsterem Schweigen. Elkan Geyer hockte auf der Bank am Tisch und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt. Der Pausbäckige trippelte auf dem Polster eines Stuhls herum und leckte behaglich summend an der Zinneinfassung der Fensterscheibe. Der Himmel war grau und regnerisch.
„Es nützt nix, Enoch,“ sagte Gedalja. „Ich waaß, daß de hast vergraben dein Geld im Garten oder im Hof, viel Geld. Aber mir brauchste ja nix zu geben dervon.“
„Schweig still, du versündigst dich,“ erwiderte Enoch durch die Zähne.
Der andere Greis schien es nicht zu hören. „Es nützt nix,“ sagte er eintönig und bekümmert. „Wucher treibste aach und ich seh dich noch kommen ins Zuchthaus mit aller deiner Frommheit. Ich seh dich noch kommen ins Zuchthaus, so wahr ich leb un so wahr ich da sitz.“
„Gedalja!“ murmelte Elkan Geyer gequält.
„Was soll ich thun? Kann ich mer helfen? Er kann helfen. Wenn er ausleiht Geld zu fufzig Prozent, soll ich halten mei Maul? Ich habs gehört von en redlichen Mann, von en bedauernswerten Mann, Enoch, den de hast gericht zu Grund. Soll kommen sein Wohlstand über dich. Soll kommen sein Ansehn über dich. Aber haste zu Grund gericht den Bäcker, wirste aach zu Grund richten den Schuster. Un endlich wird kommen der Zugrundrichter über dich un werd haben kein Erbarmen, wie du hast gehabt kein Erbarmen, Enoch. Dann is geschändet dein Name un deine Familie un is geschändet der Jud. Haste nicht mir geliehen dreißig Thaler, Enoch, voriges Jahr Pesach zu gutem un ich hab d’r zurückgegeben fufzig Thaler um Schues? Die Welt is groß und dreht sich, ich waaß und mancher verschlupft in en Winkel vor der Vergeltung, aber manchen packts aach und er muß lassen Ruh un Frieden for sein Alter. Ich hab gesprochen und bin stumm.“
Isidor Rosenau kam „auf einen Sprung“ und wurde sehr lau begrüßt. Er, der bisweilen kleine, atheistische Anwandlungen verspürte, begann einen etwas gedehnten Vortrag über Widersprüche in der Bibel zu halten. Er hatte da irgend etwas irgendwo aufgeschnappt und glaubte damit die ganze Schöpfungsgeschichte um ihre Vernunft gebracht zu haben. „Wenn Adam und Eva und Kain und Abel allein in der Welt waren und Abel ging hin und nahm sich ein Weib aus der Fremde, so waren sie doch nicht allein!“ So rief er begeistert und brachte noch ein Vierteldutzend ähnlicher Dinge aus der Tiefe seiner Erkenntnis ans Licht.
Erst antwortete ihm niemand, dann sagte Gedalja mit einer Geste, deren Stolz und Vornehmheit Agathon unvergleichlich schienen: „Junger Mann, die Schrift is nit geschrieben, daß se wird gelesen mit die leiblichen Augen, sondern mit die geistigen. Sie soll nicht werden studiert, sondern sie soll werden getrunken wie Wein. Sie hat Symbole, daß wir können messen daran unser eigenes Leben. Un wir sollen nicht messen daran mit der Schneiderelle, sondern mit unserm Gewissen.“
Agathon fühlte seine Augen feucht werden. Er erhob sich, ging zu dem Greis und küßte ihm rasch und errötend die Hand.
Doktor Schreigemut kam, den man für Frau Jette bestellt hatte. Er war gewiß eine merkwürdige Art Doktor. Er brachte eine Gemütlichkeit zum Krankenlager mit, als sei der Tod eine eitle Illusion, eine Schrulle, und sein weinrotes Gesicht glänzte, als ob Kranksein den erstrebenswertesten Zustand bedeute. Er sagte, daß „so weit“ alles in Ordnung wäre, nur dürfe man nichts „übertreiben“, müsse fleißig lüften, Fleischsuppe kochen und hier sei eine harmlose „Pillule“. Darauf verbreitete sich der Mann eingehend über die politische Lage, über den neuen Besitzer der Ziegelei, kniff Mirjam in die Wange und schob befriedigt ab, um sich zu dem unterbrochnen Tarock in die gläserne Burg zu begeben. Darauf gab Isidor Rosenau noch einige sehr fascinierende Witze über das Wetter im allgemeinen zum besten; es lachte aber außer ihm selbst nur der kleine Pausback am Fenster, der damit Isidor einen unermeßlichen Dienst zu erweisen glaubte. Es läutete draußen und ein Bauer verlangte Tabak zu kaufen. Elkan Geyer rief ziemlich energisch hinaus, heute sei Feiertag und der Laden geschlossen. Er schlug die Thüre zu, gleich darauf ging er aber hinaus. Agathon wußte, daß er in die Küche ging, um Kathrin zu bitten, daß sie den Tabak verkaufe.
Der Tag ging hin. Aber diese Herbsttage sind gar nicht; sie sterben langsam, sind bloß ein Vergehen. Sie fallen kraftlos in die Arme der heraufsteigenden Nacht, und die Nacht nimmt sie dann auf den starken Arm wie die Mutter ein Kind nimmt und es einlullt mit hingesummten Liedern. Am Nachmittag half Agathon ein Zimmer für Gedalja in stand setzen; für die nächsten Wochen war ihm eine elende Kammer zwischen Hof und Hühnerstall überlassen worden. Dann ging er spazieren. Über seinem Thun und Denken war eine leidenschaftliche Unruhe gebreitet. Sein Weg führte ihn an das Haus, wo Monika Olifat wohnte. Sie sah aus dem Fenster und winkte ihn freudig hinauf. Sie war allein; die Mutter und die kleinere Schwester machten Besuche. Es war ein hübsches Zimmer, in das Agathon trat. Das Haus lag etwas außerhalb des Dorfes und hatte einen villenartigen Charakter.
„Ich freue mich, daß du gekommen bist,“ sagte Monika sanft; sie hatte eine Puppe in der Hand, die sie schon seit zehn Jahren besaß, wie sie sagte. „Aber das ist dumm von mir, nicht?“ fragte sie, indem sie sich niederbeugte und nach einem Blick von ihm haschte. Sie erschien Agathon anders als am Morgen: weicher und fast furchtsam. Nun brachte sie ein Buch, woraus sie ihm polnische Gedichte vorlas. Er hatte sie darum gebeten, obwohl er die Sprache nicht verstand. Es war ihm genug, ihre Stimme zu hören, die rein und hell dahinfloß, ein ungetrübter Strom. Die Stimme machte gleichsam alles heiter um ihn, und er hatte ein unbezwingliches Verlangen nach Heiterkeit und Freude in sich, ein Verlangen, das täglich wuchs und ungestümer wurde. So kam es ihm vor, daß in diesen mysteriös klingenden Versen das Herrlichste und Sonnigste stehe, das je ein menschliches Ohr vernommen und daß man sie nur zu verstehen brauchte, um von allen Sorgen erlöst zu sein.
Sie klappte das Buch zu und sagte entschieden: „So, jetzt wollen wir uns unterhalten. Jeder erzählt dem andern, was er überhaupt weiß.“
Das war nun wohl gesagt, aber dabei blieb es auch. Denn Agathon war still und Monika auch. Wer konnte denn da reden, wenn es draußen dämmerte! Der müde Himmel schien herunterzusinken, daß man es kaum merkte, und die Bäume weit im Osten bogen sich, verschwammen, wollten fast in die Erde fallen, bis man sie gar nicht mehr sehen konnte. Das Wasser auf den Wiesen spiegelte den Himmel wieder, stets matter und matter, wie Glas, das überhaucht wird. Agathon sah nur noch die zarten Linien eines Profils, eine leicht gebogene Nase, eine schmale Stirnlinie, zuckende Lider, hinter denen dunkle Augen gleich lebenden Kugeln strahlten und ein Kinn, das ihn an die Puppe von vorhin erinnerte. Widerspenstige Haare kräuselten sich im Nacken: ein Zeichen von Leidenschaft und spielender Anmut.
„Du sprichst ja gar nichts,“ flüsterte Monika befangen.
„Laß uns nicht sprechen,“ erwiderte Agathon mit bebender Stimme.
„Ja, was soll man auch sagen,“ gab Monika zu. Sie ergriff seine Hand und streichelte sie vorsichtig. „Warum zitterst du denn so, Agathon?“
Agathon sprang auf, ergriff seinen Hut und rannte fort, – hinaus, und ging erst wieder langsam, als er in der Hauptstraße des Dorfes war. Er lächelte voll Scham und Reue.
Den Kopf voll marternder Gedanken, ging er vom Flur in den Hof, vom Hof in den Flur. Dann stieg er die Treppe hinauf, wie unwillkürlich aus dem Bedürfnis nach der Höhe. An ihrer Kammerthür stand Kathrin, mit nichts bekleidet, als mit einem Unterrock und einem Hemd. Ihr Haar war lose, ihre festen Schultern waren nackt wie auch die Hälfte der Brust. So stand sie vor der halboffenen Thür, schwankend beleuchtet von dem Kerzenlicht in der Kammer und lächelte halb blöde, halb begehrlich Agathon zu. Er war völlig erstarrt. Seine Zähne schlugen aneinander, er wollte nach einem Halt greifen, er wollte etwas sagen, doch sogleich legte es sich wie eine Kette um seinen Hals und es wurde ihm so unerträglich heiß, daß er den ganzen Körper feucht werden fühlte. Mit einem dumpfen Schrei floh er.
Noch ganz besinnungslos stürzte er in die Kammer des alten Gedalja, kniete vor ihn nieder, nahm dessen Hand und flüsterte, wirr, bleich im Gesicht. Der Greis fragte und konnte zuerst nichts erfahren, doch bald bekam er auf Umwegen Klarheit. Er nickte ein paarmal wissend vor sich hin. „Setz dich her, mein Jung, und ich will dir sagen was for dein Herz un wie de sollst sein gegen die Weiber. Bin ich worn gestraft un hab gehabt zwaa Weiber nebbich un war keine Broche un kein Segen dabei. Das Weib is gut für die Stund, wenn se hat keine Sanftheit for den Mann. Sie mag sein e Chuchem, sie mag haben Geld, sie mag sein sparsam, sie mag sein gottesfürchtig; wenn se nicht is weich wie lehmige Erd, daß de kannst formen das Bild wo de willst, taugt se nix for dich. Un wenn de hast eine große Begehr, dann gehste hin, sonst wird verstopft dein Geist un dein Gemüt un du siehst Gespenster beim hellichten Tag. Laß d’r nit einjagen Angst durch die falschen Lehren: es is ka Unglück un ka Verbrechen, es is menschlich un du sollst bloß schweigen davon. Un wenn de eines Tags fühlst mehr un dein Herz werd sein voll Liebe, dann gehste hin und siehst, ob se gefällt deinen Sinnen. Un wenn se gefällt deinen Sinnen, gefällt se aach deinem Haus un deine Kinder. Das wirste nit verstehn heut, aber de wirst es verstehn bald un wirst gedenken an meine Worte.“
Agathon war nicht beruhigt. Im Gegenteil, er war noch erregter als vorher. Es wurde Abend und er fühlte sich förmlich gefangen in einem verworrenen Knäuel von Rätseln. Er stand in dem schmalen Vorplatz, der zur Küche führte und wo es stockfinster war. Er drückte sich krampfhaft an die Holzplatten der Rückwand und sah in das winzige Lämpchen, das auf dem Anricht in der Küche stand. Er hörte nahende Schritte, und erschrak wie ein Verbrecher. Es waren trippelnde, tastende, gleichsam spionierende Schritte und endlich kam die geduckte, spähende Gestalt Enoch Karkaus zum Vorschein. Er lispelte unhörbar, seine Augen stierten in die matt erhellte Küche, es war, als ob sie ihm vorauseilten, um die Küche abzusuchen, dann tappte er hastig auf den Blechkorb am Vorhang zu, wo das Hausbrot aufbewahrt wurde, nahm das Brot, riß die Anrichteschublade auf, packte mit schlotternden Händen ein Messer und schnitt ein großes Stück Brot herab, immer angstvoll lauernd in die Richtung des Flurs blickend. Dann klappte er den Blechkorb vorsichtig zu, legte das Messer wieder an seinen Platz, biß hungrig in das erbeutete Stück Brot hinein und schluckte den Bissen gierig hinunter. Das andere verbarg er in seinem Wams. Schleichend wie er gekommen, entfernte er sich wieder.
Agathon hatte alles gesehen. Er wankte und mit einem Aufschrei brach er zusammen. Lange kauerte er so, und niemals war in seiner Seele das inbrünstige Verlangen so stark gewesen, dieser dunklen Welt um sich her Freude zu bringen. Freude! Als er aufsah und sich entfernen wollte, erblickte er seinen Vater, der unbeweglich vor ihm stand und die Hand schwer auf seine Schulter legte.
Als Frau Gudstikker am Morgen das Frühstück bereitete, mußte sie zum Brunnen, und als sie zurückkam, waren Sema und Wendelin verschwunden. Sie hatte nun wieder Grund zu jenen stoischen und schwarzsichtigen Betrachtungen, die ihr ein hartes Leben und ihre im Grund zarte und stolze Natur nahe legten. Ihre Gedanken nahmen stets einen erbarmungslosen Gang und dabei schonte sie nicht, was ihr teuer war. Als Stefan Gudstikker spät nachmittags nach Hause kam, fragte sie ihn, wo er herumgestreunt sei.
„Du weißt, ich streune nicht, Mutter,“ entgegnete er mit blitzenden Augen, den Kopf hoch aufrichtend.
„Ja, ich weiß es,“ entgegnete sie wie nachdenklich und blickte ironisch auf seine staubbedeckten Stiefel.
„Wo sind die Knaben?“
„Fort.“
„Wie. Fort –?“
„Ich habe sie heimgeschickt.“
„Was heißt das? Du weißt doch, daß ich sie nötig hatte? Daß ich den interessanten, psychologischen Fall untersuchen wollte?“
„Es ist nicht nötig, daß du mit Menschen spielst. Spiele mit deinen Ideen. Darüber bist du Herr.“
Gudstikker atmete schwer. „Mutter, ich betrete dein Haus nicht mehr,“ preßte er endlich hervor, nahm seinen Hut und stürzte fort. Sie lächelte gutmütig hinter ihm her, öffnete das Fenster und schaute ihm lange Zeit nach.
Stefan Gudstikker ging zum Friseur, wo er über eine halbe Stunde saß, um sich Haar und Bart verschönen zu lassen, und bei Anbruch der Dämmerung erwartete er vor den Anlagen seine Verlobte.
„Sie haben mich fast geschlagen,“ waren Käthes erste Worte. „Ich sei heimlich mit dir zusammengetroffen. Du sollst zu uns ins Haus kommen.“
„So.“ Er nahm heftig ihren Arm und schritt weiter.
„Nein, nein,“ wehrte sie angstvoll. „Nicht hingehen jetzt. Du darfst nicht aufbrausen.“
„Ich schlag alles kurz und klein.“
„Nein! bitte, nicht!“
Er machte eine verzweifelte Gebärde der Auflehnung.
„Ach Stefan, warum ist das alles so! Warum hast du nicht viel Geld! Bei deinem Genie! Warum ist alles so traurig in der Welt!“
„Es wird anders, Liebchen, es wird anders! Ich werde Geld haben, Macht haben, alles was du willst. Ich werde die Welt aus den Angeln heben! Ich habe ein großes Werk vor! Du wirst sehen.“
„Ich glaube ja so gern daran. Nur ist die Zeit so lang. Jeder Tag ist ein Jahr.“
„Nur Geduld. Du wirst sehen. Glaubst du, daß ihr ein Abendessen für mich übrig habt?“
„Willst du kommen? Wirklich? Wie herrlich!“
„Mach nur um Gotteswillen nicht so viel Ausrufezeichen in deine Rede! Das macht mich nervös! Ich hasse alle Ausrufezeichen!“
„Was hast du denn? Du bist so verbissen seit einigen Tagen.“
„Verbissen? Nein. Nachdenklich, ja. Ich verkehre da mit einem jungen Menschen, Agathon Geyer, einem Juden. Ich bin nicht sentimental, aber, – na, du müßtest ihn sehen. Er sieht aus, wie, es klingt läppisch, aber ich muß es sagen, ich muß immer an Aladdin mit der Wunderlampe denken. Nun, das ist verrückt. Man muß nicht Litteratur reden, wenn man’s vermeiden kann. Was die Hauptsache ist, unter den Papieren meines Vaters hab ich Briefe von seiner Mutter gefunden. Sie sind mit Jette Pohl unterzeichnet. Sie war noch Mädchen damals. Schön, gescheit, liebenswürdig vielleicht. Etwas Merkwürdiges liegt in den Briefen. Dasselbe was in Agathons Augen liegt. Manchmal möchte man seine Hand nehmen und ihn versichern, daß man glücklich ist. Aber du schläfst ja?“
„Nein, ich bin nur sehr müde.“
Familie Estrich war sehr liebenswürdig gegen Gudstikker und Gudstikker war sehr liebenswürdig gegen Familie Estrich. Er küßte seine künftige Schwiegermutter auf die Stirn, fragte Herrn Estrich nach dem Gang der Ziegelei-Angelegenheit, sang nach dem Abendessen Lieder zur Guitarre, Volkslieder, die von treuer Liebe handelten und vom Kampf des Mannes um seinen Herd. Um elf Uhr ging er. Auf der Straße wurde sein Gesicht plötzlich finster, herb und verzerrt. Er schlug sich an die Stirn, sprach zu sich selbst und lachte kurz auf.
Er suchte ein Café auf, und in dem Augenblick, wo er den Raum betrat, erhielt sein Gesicht wieder den gleichmäßigen, aufmerksamen und übertrieben stolzen Ausdruck. Er begrüßte Erich Bojesen, den Lehrer, und setzte sich zu ihm an den Tisch, rieb sich fröhlich die Hände und erzählte eine heitere Schnurre von einem Soldaten und einem Fuhrmann, deren Verlauf er soeben beigewohnt hätte. „Also wie geht es Ihnen, lieber Bojesen?“ fragte er darauf und rieb sich wieder die Hände. „Gut?“
„Ja. Sie sind sehr aufgelegt, scheint mir.“
„Sehr aufgelegt, das ist wahr; man kann schon sagen froh.“ Er lachte herzlich, denn er hielt dafür, daß dies „man kann schon sagen“ eine witzige Wendung sei. „Aber Ihnen? Sie sind immer allein. Ich habe Sie noch nicht anders als allein gesehen.“
„Nun, das ist so Gelehrten-Art,“ erwiderte Bojesen mit einer sanften Selbstironie. „Ich muß Ihnen sagen, diese Stadt, diese Menschen hier, sie liegen nicht innerhalb der Welt. Es ist etwas Verlorenes und Verkommenes daran; etwas gänzlich, wie soll ich sagen, Zerstörtes, nein Stillstehendes, Sumpfiges.“
Es war unbegreiflich, aber eine Thatsache, daß alle Menschen mit denen Gudstikker in Berührung kam, ihm alsbald ihr Herz eröffneten und sich mitteilten wie Kinder.
„Kein Wunder,“ sagte Gudstikker, „wie leben wir auch. Wir haben ja gar kein Nationalgefühl mehr. Man kann nicht sagen, daß hier die Juden in der Herrschaft sind, nein, man kann es nur rätselhaft finden, wenn man einen Christen findet in der ganzen Provinz, ich meine einen anständig gekleideten, der den Kopf auf eigene Rechnung zu tragen wagt.“
„Ach, das meine ich eigentlich nicht,“ entgegnete Bojesen leicht errötend. „Es ist freilich ein Kardinalthema. Die Juden bringen ja das ganze geistige Leben in eine wogende Bewegung. Überall sind sie gleichsam die Kohlensäure des öffentlichen Lebens, wenn der Vergleich geht (er lächelte). Sehen Sie doch um sich, die ganze Presse liegt in ihren Händen; ich will nicht erörtern, ob das ein Unglück ist oder nicht. Natürlich haben sie auch den Handel inne, aber, was die Hauptsache ist, auch die Litteratur. Alles andere ist kein Unglück, sehen Sie. Die Presse bedarf des jüdischen Geistes, ja, da mögen Sie den Kopf schütteln, sie braucht diese scharfen, eindringlichen Reagentien, dieser Gewandtheit und Schlüpfrigkeit, mit einem Wort, der Kohlensäure. Der Handel, – nun, wo ist die Quelle des großen industriellen Aufschwungs, der großen Kapitalswerke? Davon will ich gar nicht reden. Aber die Kunst, sehen Sie, das ist ein schmerzliches Thema.“
„Ich verstehe. Sie haben Recht; sie machen uns zu vielseitig.“
„Vielleicht. Aber das ist es nicht. O, wie viel habe ich nachgedacht darüber.“ Der Ton des jungen Lehrers wurde plötzlich innig. „Nein, das ist es nicht. Sehen Sie sich um, früher hatten die Juden genug zu thun, sich die Gebiete zu erobern, die ihnen nahe standen. Aber nun nahmen sie Teil an der reichen und feinen Kultur, die sie selbst mitschaffen halfen, und infolgedessen wuchsen sie in die Kunst hinein. Es war eine notwendige, unausbleibliche Verbindung. Jetzt sehen Sie überall jüdische Künstler, erschreckend viele, erschreckend gute. Was sie schaffen, wohlverstanden, ich spreche nicht von denen aus vergangenen Jahrzehnten, das ist keine Frage mehr; das hat auch mit der Kunst, wie ich sie meine, nichts zu thun. Von den heutigen will ich reden. Sie sind Künstler, echte Künstler, daran ist nicht zu zweifeln. Aber sie richten uns zu Grunde. Sehen Sie, das sag ich Ihnen aus meiner Seele heraus: sie richten uns zu Grunde. Alles was wir erworben haben, lang und mühselig, damit können sie hantieren; alles, wonach wir ringen, das haben sie und wenn wir unser Blut hingeben für eine Sache, stecken sie dieselbe Sache schon lachend in ihre Tasche. Es fließt ihnen so zu, sie haben keinerlei Kampf damit zu bestehen. Und ich will Ihnen sagen, woran es liegt, daß sie uns überall das Brot wegnehmen: sie haben keine Tiefe. Nur in die Breite gehen sie und wenn sie tief scheinen, ist es eine Lüge. Sie kommen ja aus dem Schoß eines wunderbaren Volkes. Urteilen Sie selbst, welche Verfolgungen! welche Unterdrückungen! Aber wie ein Wurm krümmt sich dieser Volkskörper durch die Zeiten, unerschöpflich an Lebenskraft. Aber jetzt naht die Krisis. Sie nehmen uns die Wahrheit und die Aufrichtigkeit in der Kunst, das ist alles, was ich sagen kann, und das ist wichtiger als alles andere. Sie ersetzen es unbewußt mit dem Schein von Wahrheit, dem Schein von Aufrichtigkeit; sie bringen uns eine neue Art von Sentimentalität, die sich als Naivetät giebt und mit grüblerischer Wehmut nach den Gründen der Dinge schreit. Ich schwöre Ihnen, mein Lieber, das ist eines von diesen Dingen, die das Schicksal und das Leben ganzer Jahrhunderte verdüstern. Darin liegt die „Judenfrage“, wie man das Ding läppisch nennt. Darum müssen die Juden fort und tausendmal fort. Was ist alles andere, eine lokale Sache, arm und still! Religion! Was kann uns das heute sein! Nichts. Sie sollen sich ein Land suchen, wo es auch immer sei, sie sollen einen König über sich setzen wie in den alten Zeiten, sollen ihren Weizen bauen und ihr Gras mähen und ihre Häuser aufrichten, sagen wir, in Australien oder wo. Nicht bei uns mehr! Nein, nicht bei uns! Sonst geht der Verfall weiter und weiter und wir werden sitzen, wie der Frosch an der Mergelgrube. Das Christentum hätte schon längst ausgeatmet, wenn das Judentum nicht wäre, abgesehen davon, daß es gar nicht gekommen wäre und die germanischen Völker sich einen Gott nach ihrem Blut geschaffen hätten.“
Gudstikker hatte erstaunt und erstaunter zugehört und vermochte nichts zu sagen. Bojesen lächelte schwermütig. „Aber ich bin ganz abgeschweift von meinem Thema,“ bemerkte er mit einer Miene, die gleichsam um Verzeihung bat, für das Feuer und die Leidenschaft seiner Worte. „Ich meinte, wie man hier lebt, darin sei etwas Unwürdiges, etwas Zeitloses und Teilnahmloses für die Zeit. Hier wird man entweder zum Fanatiker oder zum zufriedenen Dummkopf. Und man kann nicht Einfluß haben auf die Jugend, nein, das ist unmöglich, sehen Sie. Es klingt erstaunlich, aber es ist so, Sie dürfen mir glauben. Mein Gott, was ist das für eine Jugend! Sie hat nichts, als was man ihr schenkt. Sie ist so arm und man macht sie noch ärmer dadurch, wie man den Unterricht betreibt. Doch davon darf ich gar nicht reden.“
„Sie haben wohl viel Schlimmes hinter sich?“ fragte Gudstikker, der sich völlig bewußt war, eine banale Frage zu thun. Aber er empfand deutlich, daß ihm dieser Mann heute nichts geheimhalten würde, daß er sich förmlich betäubte durch das Mitteilenkönnen, und daß er sich jedem Fremden ebenso eröffnet hätte.
„Schlimmes? Nein. Es ist so gewöhnlich. Es ist eigentlich zu gewöhnlich, um viel Aufhebens davon zu machen. Mein Vater war reich und hat mich enterbt, weil ich zur Wissenschaft ging. Ich sollte Soldat werden. Nun, dann hat mich die Wissenschaft verstoßen, und da bin ich Lehrer geworden. Ich hätte schon ausgeharrt, aber da traf mich das Unglück, daß ich mich verliebte. Und jetzt kann ich gern den Bankrott meines Lebens erklären. Die Frauen wollen nicht mitthun, wenn der Mann nach den Sternen klettert. Die Toilette kann ja dabei Schaden leiden.“
Bojesen schwieg und sah sich mit träumenden Augen rings um. Der Raum leerte sich; die Kellner säuberten die Tische, die Lichter wurden zum Teil verlöscht, die weißen Marmorplatten starrten seltsam heraus aus den dunklen Teilen des Saales. Die Uhr schien stillzustehn; die Zeit schien stillzustehn.
„Und nun wundern Sie sich jedenfalls, daß ich hier sitze,“ begann Lehrer Bojesen wieder mit gedämpfter Stimme, „und nicht daheim bei dieser Frau, in die ich mich verliebt habe –? Nicht wahr, Sie wundern sich? Jeden Abend bin ich hier zu treffen im Kreis meiner sublimen Gedanken, denen ich Audienz gebe. Dann mögen sie zusehen, was sie anfangen. Aber ich weiß nicht, welcher Geist uns immer noch mit der Ehe foltert, uns, die wir mit frischgewaschenen Manschetten ins zwanzigste Jahrhundert treten sollen. An die Harmonie der Flitterwochen bin ich ja bereit zu glauben, vielleicht noch ein Jahr länger, aber dann! Ach sagen Sie mir, lieber Freund, was soll man thun mit einer Frau, die so schön ist, wie sie jung ist, wie sie anmutig ist, und die nicht hungrig wird an ihrem Körper? Verstehen Sie mich? Sie hat kein Verlangen, liebt seelisch und wie die schönen Dinge alle heißen, nennt es Schmutz, wenn sich die Leiber vereinigen, wie es die Natur sanktioniert hat. Vielleicht ist das auch eine Zeitkrankheit, eine Frauenkrankheit, aber was soll man thun mit einem solchen Weib? Man kann ihr nichts mehr geben, nichts. Sie wird uns zum Stein!“
Gudstikker nickte und spielte peinlich berührt mit einem Streichholz.
„Ja,“ fuhr Bojesen mit einer offenbaren und immer steigenden Lust, sich selbst zu zerfleischen, fort, „wenn sonst etwas wäre. Ich wünsche Ihnen niemals, Lehrer zu sein. Was sind das für Herren, auf deren Freundschaft man da angewiesen ist! Davon will ich schon gar nicht reden. Nein, lassen Sie mich aufhören zu reden, erzählen Sie mir etwas. Ich werde Ihnen dankbar dafür sein.“
Gudstikker fragte Bojesen, ob er Agathon Geyer kenne, und Bojesen bejahte. Er scheine ihm ein ziemlich talentloser Schüler zu sein, wie alle. Er meine, Talent im höheren Sinn, so daß das Bewußtsein eines Zieles dabei sei, ein um der Sache willen Schaffen. Das könne er bei keinem Schüler finden, die die ganze Schule als eine Art Strafarbeit oder Hindernisrennen betrachten. „Aber das kommt von oben und geht durch bis zum Pedell. Arbeitergeist. In wessen Augen ein Evangelium glänzt, der ist gebrandmarkt. Drei Stützen hat die Schule heutzutage: Religion, Patriotismus und Strafzettel. Nun malen Sie sich das aus.“
Die beiden Männer zahlten ihre Zeche. Wie Wellen schwankten die Nebel auf der Straße. Am Bahnhof verabschiedete sich Gudstikker und ging heim, – in dasselbe Haus, das er nie mehr hatte betreten wollen.
Bojesen empfand jenes Grauen vor den eignen vier Wänden, das den energielosen Naturen oft eigen ist, und er fürchtete die stumme Sprache seiner Bücher, seiner Spiegel, seiner Kerze. Ein warmer Wind erhob sich, der allmählich zum Sturm anwuchs, und seinen Hut mit beiden Händen festhaltend, schritt er langsam dahin, froh des Kampfes mit dem Element. Er achtete nicht des Weges, den er schritt, er war froh, allein zu sein, er hatte eine jener Stimmungen, in denen man ganz einsam zu sein glaubt auf dem Erdball. In einem bergigen Viertel am Fluß kam Bojesen an ein Haus, dessen erleuchtete Fenster mit den Worten: „Zum siebenten Himmel“ geschmückt waren. An der Thüre hing ein pomphaftes Plakat, das halb zerfetzt war vom Wind.
Bojesen ging hinein. Vor dichtem Rauch sah er zuerst überhaupt nichts. Ein säuerlicher Geruch von abgestandenem Bier drang auf ihn ein. Dann sah er im Hintergrund neben dem Büffet das Podium mit einem verwahrlosten Vorhang. Die Tische starrten von verschütteten Getränken und Speiseresten. Die Stühle lagen teils auf der Erde, teils standen sie auf einem Haufen; einer stand auf dem Tisch. In einer Nische standen die Ruine eines Billards und die Ruine eines Klaviers. Eine sehr verblühte Dame brachte Bojesen das Verlangte. Sie fand sich veranlaßt, zu erklären, daß die heutige Galavorstellung unterblieben sei, weil das Publikum sich schlecht betragen habe. Eine Dienstmagd, drei Soldaten, ein Fuhrmann und ein Schauspieler aus Preußen seien hinausgeworfen worden. Bojesen lachte leise, fast lautlos. Er sah in die Höhe, in irgend eine sonnige Ferne und murmelte: „Geliebt und verloren.“ Er dachte, wenn einer der ehrwürdigen Kollegen ihn hier sähe, wäre noch mehr verloren. So saß er vielleicht eine Stunde lang, ohne sich zu rühren, ohne etwas Planhaftes zu denken. Da schob sich der Vorhang des Podiums zur Seite, und der Kopf eines jungen Weibes mit nackten Schultern guckte heraus. Dieses Gesicht war leuchtend bleich, mit einer niederen Stirn, mit Augen von einem ruhigen, leidenschaftlichen Feuer, mit einem trotzigen Mund. „Holla Luisina! Es lebe das Proletariat!“ rief eine Stimme im Hintergrund, eine heisere, aber jugendliche Stimme. Bojesen blickte hin, sah jedoch niemand. Das junge Mädchen nickte lächelnd zurück, sah Bojesen flüchtig an und verschwand. Bojesen vergaß niemals den Ausdruck des Gesichts in jener Sekunde, da sie ihn angeschaut. Wieder saß er lange, ohne zu wissen, was er thun oder denken sollte. Dann stand er auf, ging zum Podium, schlug den Vorhang zurück, und sah eine sehr armselige Bühne vor sich, mit zerrissenen Coulissen an der Seite. In einer Ecke saß Luisina und lächelte ihn spöttisch an, als er auf sie zukam. „Sie wollen wohl spionieren? O ich fürchte mich nicht. Thun Sie es nur. Sie sehen auch nicht aus, als ob Sie verstünden, weshalb Sie in der Welt herumlaufen. Nun, weshalb kommen Sie? Ich kenne zwar Ihren Namen nicht, aber Ihr Gesicht, – hierzuland giebt es nur zwei Arten von Gesichtern, müde und stupide. Nun, was wollen Sie?“
„Es lebe die Anarchie!“ rief die exaltierte Stimme wieder. „Morgenröte! Fackeltanz! Meine Seele ist wie ein Lamm am Ostertag. Es lebe der kommende Messias der Freude!“
„Hören Sie? Das ist der Glühende,“ sagte Luisina, Bojesen zunickend. „Hat es nicht etwas Fanfarenhaftes, ihm so zu lauschen?“ Sie lachte, dies Lachen hatte etwas Schrilles, wie wenn Glasscheiben klirren. Sie bog sich dabei vor, und blieb so lange gebeugt, als sie lachte. Dann wurde sie wieder ernst, drohend und verächtlich ernst. „Ja“, sagte sie mit dem Wesen einer Frau, die ihre Worte fast als zu wertvoll erachtet, um gesprochen zu werden, „ich bin aus der Art geschlagen, ungeraten. Ich lebe nun das Leben, wie ich es will, auf eigene Faust, auf eigene Thaler, mit der Erlaubnis zu jauchzen, wenn ich will, zu lieben, wenn ich will und wen ich will, aber das ist unmoralisch. Ist es nicht unmoralisch, Sie gelehrter Herr? Sie sehen nämlich aus wie ein Pfund Zahlen.“
„Ich bin der tanzende Stern des Chaos!“ erschallte die Stimme des Glühenden, und eine fette Stimme brummte befriedigt bravo.
Bojesen hatte sich an eine Coulisse gelehnt und sah sie mit halbgeschlossenen Lidern unverwandt an. „Glauben Sie an Zufälle?“ fragte er endlich. „Nun, ich bin hier hereingekommen, mit dem Bewußtsein, daß ich Ihnen begegnen würde. Meine Seele wußte davon. Nein, ich kenne Sie nicht, wer Sie auch sein mögen, ich will Sie nicht kennen. Nur wünschte ich einen andern Rahmen für dies Bild. Denn es ist ein Bild, – nun ja, was sag ich, Sie spotten meiner. Mit Recht.“
„Ach!“ Luisina sprang überrascht und stirnrunzelnd auf. In ihrem Wesen war etwas so Fischhaftes, beunruhigend Lebendiges, daß Bojesen mit Angst auf jedes ihrer Worte, jede ihrer Gebärden harrte. Sie kam auf ihn zu, lauernd wie ein Tiger, bohrte den Blick ihrer blauen Augen fest in den seinen und sagte: „Kommen Sie, um den müden Mann zu spielen? Auf diesem Theater, wo man nur tanzt und lacht und singt? Wo man eure Welt vergißt? Schlecht haben Sie die Zeit gewählt, Verehrtester; ich empfehle mich gehorsamst.“ Damit ging sie graziös und schnell.
Und Bojesen ging auch, legte sein Geld auf den Tisch und ging. Er verlor gleichsam sich selbst in der Nacht. Er zählte die Laternen in den Straßen. Dann stand er auf der Brücke und starrte in den Fluß und dachte nach, woher all das Wasser kam, wohin es ging; warum fließt es in weiten Streifen und Falten dahin, nicht glatt wie ein Glas? Was rauscht es leise, was schlägt es an den steinernen Pfeiler?
Es fließt der Fluß und stehet nicht
Und Gott ist und vergehet nicht
murmelte er vor sich hin. Er suchte ein Gasthaus auf, irgend ein kleines in einer kleinen Gasse, wo er in einem harten Bett, in einer feuchten Kammer den Rest der Nacht schlaflos zubrachte, von irgend einem Bild gepeinigt, das die wachen Glieder zittern ließ, bis der Leib unwillig zurückkehrte in die Finsternis der Kammer mit dem Lichtfleck von Fenster.
Als er am Morgen dem Schulhaus zuschritt, dachte er an seine Frau daheim. Aber sie rückte ihm noch ferner in diesen Gedanken, als da er ihrer vergessen hatte; sie verschwand in dem Nebel, der die Gassen näßte und emporstieg zum Himmel, um selber während des Tages Himmel zu sein.
Im Laboratorium lärmten schon die Schüler. Bei seinem Eintritt wurde es still, und die Schüler erhoben sich. Die Bänke waren amphitheatralisch aufgebaut, Schränke mit Mineralien klebten an den Wänden. Auf dem langen Tisch standen und lagen Retorten, Brennapparate, Röhren, Schmelztiegel, Drahtnetze, Flaschen und Schachteln. Bald nach Beginn des Unterrichts kam der Rektor; er übergab Bojesen ein kleines Schreibheft und sagte ernst: „Sie sind Ordinarius von Agathon Geyer. Lesen Sie dies und kommen Sie in einer Stunde aufs Rektorat.“ Gnädig nickend verschwand er.
Bojesen suchte sein Privatzimmer auf, wo ein starker Chlorgeruch herrschte. Auf dem Heft stand: Deutsche Aufsätze von Agathon Geyer. Bojesen blätterte bis zu dem letzten, vom Rektor signierten Thema: Was soll uns die Schule sein? und las zuerst ziemlich gleichgültig. Die Schrift war schlecht, schattenhaft, fieberhaft; die Buchstaben schienen aufeinander loszustürzen, schienen besinnungslos hinzutaumeln, dann schien ein H oder ein I plötzlich steif zu stehen, Halt zu gebieten, aber nichts konnte die allgemeine Flucht und Verwirrung hemmen. Bojesen las mit wachsendem Erstaunen, erst kopfschüttelnd, dann errötend, dann erblassend, und als er am Schluß angelangt war, stützte er den Kopf in die Hand, nickte trostlos vor sich hin und begann das Stück des Schülers noch einmal zu lesen, bedächtiger und immer mehr verwundert, welch klare und fast dichterische Form die glühende Seele des Unmündigen gefunden hatte.
Die Schule, so lautete der Aufsatz, sollte uns das Thor zum Leben aufmachen. Sie sollte uns erwachsen machen, mutig und gefahrenkundig. Sie sollte uns zu tüchtigen, edlen Menschen machen. Sie sollte uns die Lehrer lieben lehren und die Lehrer sollten uns lehren, das Leben zu lieben, den künftigen Beruf, die Menschen, die großen Männer der Vergangenheit, die großen Ideen, die Freude an der Freundschaft, an der Natur. Sie sollten uns überlegen sein. Sie sollten uns liebevoll entgegenkommen, damit wir froh würden. Aber ist das alles wahr? Bereitet uns die Schule für den Beruf vor? Wenn wir sie verlassen, wissen wir vielleicht was wir werden sollen, aber das ist kein Beruf. Die Schule speichert nur Kenntnisse in uns auf, die tot bleiben. Wir werden in unserer Seele nicht harmonisch. Die Natur bleibt uns tot wie das Leben. Niemals werden wir ihre Sprache verstehen. Daran seid ihr Schuld und ich muß euch anklagen. Warum kümmern sich die Lehrer nicht um die Seele der Schüler und bloß um das, was sie gelernt haben? Warum bleiben wir wie Stopfgänse, die ihr ausschimpft, wenn sie nicht immerfort fressen wollen? Warum fürchtet man den Lehrer oder verachtet ihn, statt ihn zu lieben? Ihr seid die Feinde der Schüler, darum spionieren sie nach euren Schwächen; ihr sitzt auf dem Pult und seid wie ein Buch statt wie ein Mensch. Alles was ihr sagt, ist euch so leblos geworden wie ein Brett, weil es euch langweilt. Warum seid ihr so hochmütig? seht auf uns herunter von einem Turm, daß wir ganz klein sind? zu hochmütig sogar, um uns über das Allerwichtigste im Leben aufzuklären? Warum eröffnet ihr uns nicht das Geheimnis der Geburt? Warum thut das die Schule nicht, trotzdem sich so oft Gelegenheit bietet? Wie viel reiner bliebe dann die Phantasie der Knaben. Jetzt machen sie lauter Schmutz daraus und kichern, blinzeln, erröten bei jedem Gedicht eines Dichters, durchsuchen sogar die Bibel nach jenen Stellen, haben immerfort schmierige Heimlichkeiten. Ist das nicht schrecklich? Sie haben deshalb keine Ehrfurcht; vor keinem Menschen und keinem Ding und die ganze Welt ist ihnen etwas Klebrig-Unanständiges. Sie treiben Dinge, an die man nicht denken darf, ohne ganz verrückt zu werden. Warum bemerken das die Lehrer nicht? Warum verhindern es die Lehrer nicht? Warum? Warum sitzt ihr auf eurem Pult und seid durch eine Mauer von uns getrennt? Niemals können eure Schüler glückliche Menschen werden, und daran seid ihr Schuld mit eurem kalten, eisigen Herzen. Jeder, der ins Leben tritt, muß erst euch und eure Schule und eure Lieblosigkeit vergessen; vielleicht kann er dann Festigkeit erlangen. Aber glücklich wird er nie. Thut mit mir, was ihr wollt, es ist mir gleich. Was ich geschrieben habe, mußte ich schreiben und jetzt ist mir leicht. Eine unwiderstehliche Stimme im Innern hat mir befohlen.
Bojesens Lippen zitterten und seine Arme; sein Leib zitterte. Es war etwas aufgewühlt in ihm, dessen er sich schämte: der Neid um diesen großen und ahnungslosen Wahrheitsmut. Er war so tief erschüttert, daß er den Raum, in dem er sich befand, nur wie durch Schleier sehen konnte. Im Treppenhaus läutete die Zehnuhrglocke, und er ging, seine Schüler zu entlassen. Dann schritt er selbst hinaus, durch die Korridore, trat an das hohe Fenster und sah in den Hof hinab, der auf allen Seiten von Mauern und Häusern eingeschlossen war. Er sah ins Gewühl der Knaben, die mit wildem Geschrei umhertollten, aber darin war nichts von Freiheitsgefühl und frischer Jugendlichkeit. Ja er sah es mit seinen eigenen Augen: dies war das Jauchzen des Sträflings, dem die Kette gelockert wird, das krampfhafte, unwahrscheinliche Jauchzen des Rekruten am Sonntag, wenn er Heimat und Heimweh und Kaserne vergißt. Das war keine Jugend für den Gebrauch der kommenden Zeit, diese Jugend da mit den umränderten Augen und hervorstehenden Backenknochen, dem cynischen, brutalen schreiähnlichen freudlosen Lachen, den häßlichen Bewegungen und dem lichtlosen Blick. Das war eine vergängliche Sorte von Menschen, er sah es selbst.
Und als er weiterging, erblickte er Agathon, an einen Pfeiler gelehnt, allein. Als jener den Lehrer gewahrte, wandte er sich und ging langsam in das Klassenzimmer. Bojesen folgte ihm, (der Saal war leer) und machte die Thüre zu. Agathon wurde leichenblaß und schloß wie im Schmerz die Augen. Bojesen nahm seine Hand, legte seine rechte Hand auf Agathons Schulter und sah ihn durchdringend an. Dann strich er mit der Hand über Agathons Haar, schmeichelnd und liebkosend, und niemals zuvor oder nachher hatte dieser ein solches Glücksgefühl gehabt, so unirdisch, grenzenlos und heiter. Der Kampf des Lebens lag vor ihm wie ein leicht lösbares Rätsel, dies Haus, diese Schulbänke schienen mit Glück verbrämt. Er verstand seinen Lehrer; er wußte, was die Berührung seiner Hand zu bedeuten hatte.
Eine Viertelstunde später wurde Agathon zum Rektor gerufen.
Die Lehrer der Anstalt waren in dem großen, fünfeckigen Raum versammelt. Alle hatten ein ernstes und feierliches Gesicht, und ihr Wesen war das von Leuten, die sich ihres Amtes und ihrer Verantwortung völlig bewußt sind. Sie starrten Agathon an mit höhnischen oder mit vorwurfsvollen oder mit hochmütigen oder mit verwunderten Augen. Der jüdische Kantor Kronacher machte ein so finsteres und empörtes Gesicht, daß man ihn gar nicht ansehen konnte, ohne sich als Verbrecher zu fühlen.
Der Rektor wandte sich auf seinem Drehsessel langsam um und bohrte den kalten, grausamen Blick seiner tiefliegenden Augen in die Agathons. „Wie sind Sie dazu gekommen, Geyer, diesen äh, – sagen wir impertinenten Artikel zu schreiben, dieses Pamphlet, wenn ich mich so ausdrücken darf?“
Der Kantor wollte reden, doch der Rektor winkte vornehm ab und fuhr mit erhöhter Stimme fort: „Ich frage, wie Sie dazu gekommen sind, die schuldige Ehrfurcht gegen Ihre Lehrer in so ungeheurer Weise zu verletzen? Ich glaube, meine Herren, wir haben hier einen Fall von geradezu typischer Bosheit vor uns. Dieser junge Mensch, der da vor Ihnen steht, befindet sich auf einer Bahn, die dahin führt, wohin sie führen muß. Er ist das bedauerliche Beispiel für das sittliche Niveau, auf dem unsere Schuljugend steht, und ich sage Ihnen, in einem solchen Falle muß mit aller verfügbaren Strenge vorgegangen werden; ein solcher Fall muß geradezu exemplarisch bestraft werden.“
Der Rektor hatte sich erhoben; seine schmetternde Stimme ließ den Raum erbeben; Agathon war es, als dringe sie durch Mauern, in alle Häuser der Stadt.
Wiederum wollte der Kantor reden und abermals winkte ihm der Rektor zu, zu schweigen. Er selbst fuhr fort: „Ich gestehe, daß mir ein ähnlicher Fall von sittlicher Verworfenheit überhaupt noch nicht vorgekommen ist, und, hoffen wir zur Ehre unserer Anstalt, auch nicht mehr vorkommen wird. Geyer, wann haben Sie Ihr niedriges Skriptum verfaßt?“
„Gestern, Herr Rektor.“
„Lauter!“
Agathon schwieg.
„Lauter.“
„Gestern. Ich habe es laut gesagt, Herr Rektor.“
„Gemeinheit!“ murmelte Doktor Rosenblatt.
„In welcher Absicht?“ fragte der Rektor, fast berstend vor Wut.
„In der Absicht, die Schüler glücklicher zu machen, besser.“
„Das ist eine infame Lüge!“ Der Rektor schrie wie außer sich.
„Es ist wahr,“ erwiderte Agathon ruhig.
„Kreatur!“ knirschte der Rektor, in dessen Mund das Wort eine wahrhaft zermalmende Bedeutung hatte.
Nun konnte sich der Kantor nicht länger bezähmen. Er trat vor, kreuzte die Arme über der Brust, beugte sich zurück und den Oberkörper beständig schaukelnd, sagte er mit scharfer, salbungsvoller Stimme: „Wer bist du? Hast du den Namen des Herrn Zebaoth vergessen? Hast du die Ehre deines frommen Vaters vergessen? Bist du beschnitten zum Zeichen des Bundes, oder bist du’s nicht? Bist du dir nicht selbst zur Last? Bist du Jude oder bist du’s nicht? Ich habe gesprochen, Amen.“ Somit trat er wieder auf seinen Platz, nahm seine Dose und schnupfte bedachtsam und befriedigt.
„Nein, ich bin kein Jude mehr,“ sagte Agathon mit seltsamem Lächeln, ohne die klare Ruhe zu verlieren, die ihn bis jetzt erfüllt hatte. Die Lehrer sahen auf: bestürzt und kopfschüttelnd. Bojesens Gesicht war weit niedergebeugt. Er hatte sich gesetzt; die blassen, schmalen Hände lagen regungslos auf den Knieen.
„Nun haben Sie den vollgültigen Beweis seiner Bösartigkeit und Gefährlichkeit, meine Herren,“ sagte der Rektor verächtlich. „Der Fall ist ganz e–xem–plarisch zu behandeln. Geyer kann abtreten.“
Agathon ging. Draußen überfiel ihn plötzlich große Schwäche und er sank auf die Treppe. Er hörte eine leise aber feste Stimme in dem Raum, wo man Gericht über ihn hielt, – Bojesens Stimme. Lange redete diese Stimme, bis auf einmal der Rektor zu schreien anfing, wilder als ihn Agathon je gehört. Gleich darauf öffnete sich die Thüre und Bojesen kam allein heraus. Er sah Agathon und bedeutete ihm, daß er ihm folge.
Als sie im Privatlaboratorium des Chemikers angelangt waren, verschloß Bojesen die Thüre. „Ich verstehe das, was Sie geschrieben haben,“ sagte er etwas gequält, „ich verstehe es vollkommen. Ich möchte nur wissen, wie Sie dazu gekommen sind?“
Agathon saß auf dem Rand eines Stuhls und fror. Er blickte ins Kohlenfeuer, wo sich wunderliche Ruinen türmten aus der scharlachroten Glut. Dann fing er fast willenlos an zu sprechen, nicht ohne Furcht vor den eigenen Worten: „Ich weiß eigentlich wirklich nicht. Aber es ist schon lange her, daß ich daran dachte. Ich dachte auch immer, viele Menschen könnten leicht zu dem gelangen, was ihnen zum Glück fehlt. Ich habe nie die jüdische Religion geliebt. Oft war mir, als müsse ich allen Juden ein Wort sagen, das sie befreien könnte. Aber das war alles viel mehr wie ein Traum, bis die Geschichte mit Sürich Sperling kam.“
„Und was war das?“
„Mein Vater fürchtete ihn so, daß er schon zitterte, wenn er seinen Namen hörte. Und alle Juden. Er kam mir vor, wie alles Böse zusammen, was den Juden jemals in diesem Land widerfahren ist. Er hatte einen Schuldschein meines Vaters an sich gebracht und damit quälte er ihn. Als wir einmal bei der Überschwemmung nach Altenberg fuhren, kam er in einem anderen Boot und stieß mit Absicht an unseres und ich stürzte ins Wasser. Da dachte ich mir schon, es könne keine Sünde sein, ihn zu töten. Es wäre auch keine Sünde gewesen, den Nero zu töten. Abends mißhandelte er den Lämelche Erdmann, da ging ich hin und spie ihm ins Gesicht. Er schleppte mich in sein Zimmer, zog mich nackt aus, nahm Stricke und band mich an ein schwarzes Kreuz an der Wand, neben dem Jesus Christus hing. Dann schlug er mich und fügte mir Wunden zu, daß ich fühlte, wie mein Blut floß. Alles das sag ich nur Ihnen, weil ich weiß, daß Sie sehr verschwiegen sind und es tief in Ihre Seele schließen.“
Agathon schlug die Hände vors Gesicht und Erich Bojesen hörte mit aufgerissenen Augen zu. Agathon fuhr fort, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. „Da sagte ich zu ihm: Sürich Sperling, das ist Ihr Tod. Da lachte er und sagte: „sprich, du Aas, habt ihr nicht den Heiland gekreuzigt? Das ist eure Schuld. Deswegen sind wir lauter Schnapssäufer, weil er Mönche aus uns gemacht hat, Jesus von Nazareth. Er hat einen großen Sarg aus der Welt gemacht. Merk dir’s. Da ist meine Seele, da ist Sürich Sperlings Seele, da liegt sie. Stecht hinein Jud oder Christ.“ So sagte er, dann kam etwas, das will ich nie vergessen.
„Er nimmt eine Schüssel, dahinein hat er mein Blut fließen lassen, stellt sie zu Füßen des Heilands hin und sagt: „Da hast du dein Blut wieder. Bist du jetzt zufrieden?“ Da geht die Thür auf und Lämelche Erdmann kommt herein, setzt sich und lächelt und nickt. Er hat ein ganz anderes Gesicht als sonst. „O, Sürich Sperling,“ sagt er, „das ist eine Handlung voll Bedeutung, denn von jetzt an sind die Juden frei. Nimmer die Milde wird regieren, sondern die Kraft. Wir werden hassen unsere Feinde, hassen, hassen! Der ewige Jud ist jetzt erlöst und du, Sürich Sperling, wirst werden der ewige Christ. Denn die Welt wird neu. Sie wird sich häuten gleich einer Schlange, so wahr ich Lämelche heiß. Dann wirst du sein der ewige Christ. Und du wirst sein verurteilt, zu trinken all das Blut, was geflossen ist durch christliche Feindesliebe.“ So sagte Lämelche; jedes Wort ist wie eingebrannt in meinem Gedächtnis. Dann lachte er und band mich los und Sürich Sperling saß auf dem Bettrand wie aus Stein. So war es.“
Bojesen sah lange Zeit auf die Straße, wo die Menschen gingen, einzeln oder zu zweien und mit Schirmen, denn es begann zu regnen. Ihm kam alles unwirklich vor; als ob das ganze Leben nur ein flüchtiges Bild sei, der Traum eines Traumes in uns selbst, wobei man nah ist, zu erwachen, es wünscht oder fürchtet. Er ging hin, nahm Agathons Kopf zwischen beide Hände, richtete ihn mit einem Ruck empor, schaute ihm in die Augen und machte die Wahrnehmung, daß es die seltsamsten Augen waren, die er je gesehen: schwarz und tief, von einem mühlos lodernden, und doch verhaltenen Feuer, voll von der Gabe der Vision. Wenn sie ihn anblickten, war es, als ob der Blick aus weiter Ferne besinnend zurückkehrte und erst lange zaudernd Klarheit und Festigkeit gewänne. Dann stand Agathon auf (er war etwas größer als Bojesen), und sein Gesicht hatte sich mit schrecklicher Blässe bedeckt. Er deutete vor sich hin, sank auf die Knie und blieb so einige Sekunden.
„Was haben Sie denn?“ fragte Bojesen bestürzt.
„Haben Sie nicht gesehen? Christus ging durch das Zimmer. Er winkte mir zu. Er hat Abschied von mir genommen. Adieu, Herr Bojesen.“
Als er fort war, ging der junge Lehrer erregt auf und ab.
Agathon wollte das Schulhaus verlassen und geriet in den Tumult der Schüler; der Unterricht war eben zu Ende. Im Nu war er umringt, Jubelrufe tönten ihm zu, hundert Hände streckten sich ihm entgegen, viele riefen: hoch Geyer! manche wollten ihn tragen und durch die Gassen im Triumphzug schleppen. Er sah begeisterte, leuchtende Augen und selbst die Blödesten und Hinterlistigsten wurden plötzlich ganz andere Menschen. Mit vieler Mühe gelang es Agathon, sich loszumachen, und er war verwundert über die Knaben.
Dann irrte er planlos durch die Gassen und kam endlich an den Palast des Baron Löwengard. Hausflur und Vestibül waren voll von Menschen, die sich aufgeregt gebärdeten, bleich waren und Aller Erregung hatte offenbar ein und dieselbe Ursache. Auch vor dem Haus stand eine Menge von Gaffenden, darunter viele Arbeiter mit drohender Miene. Agathon ging hinauf, fand den Gesellschaftssaal angefüllt mit schreienden Leuten, ging in die Küche, aber die Küche war leer und der Herd kalt. Im oberen Stockwerk war niemand zu sehen. Ungehindert konnte er durch alle Thüren, durch alle Räume wandern, aber diese Räume in ihrer schweren Pracht schienen ein Unglück zu verkünden, das rasch ihre Ordnung stören, ihren Frieden vernichten würde.
Bald machte er sich auf den Heimweg, ohne daß er all diese Dinge eines besonderen Nachdenkens gewürdigt hätte. Sie bereicherten nur seine Seele um das wunderliche Gefühl, daß etwas Entscheidendes in der Welt vorging und er selbst sei die Ursache und sei berufen, die Umwandlung herbeizuführen. Während des ganzen Weges, vorbei am Wald und an den Feldern hatte er die bestimmte Vorempfindung von etwas Schönem, Angenehmem, und wie wenn er einen lange vermißten Freund aufsuchte, schritt er gegen das Dorf hinab. Wirklich stand Monika Olifat am Weg und begrüßte ihn, indem sie ihm beide Hände entgegenstreckte. „Wie geht es dir, Agathon? Ach, warum bist du denn fortgerannt neulich? Du bist so eigen; dich kann ich gar nicht verstehen, Agathon. Wie das lautet: Agathon!“ sagte sie nachdenklich, lächelte kindlich froh und sah ihm in die Augen.
„Es ist ein griechischer Name und bedeutet: der Gute,“ entgegnete Agathon mit demselben innerlich frohen Lächeln.
„Bist du denn auch gut?“
„Nein. Ich weiß es jedenfalls nicht. Niemand kann es von sich wissen und wer es weiß, ist es nicht mehr.“
„Es nützt auch nichts, gut in der Welt zu sein,“ erwiderte das Mädchen, so klug es immer konnte. „Ich muß dir erzählen, erstens, daß ich eine neue Freundin habe, Käthe Estrich. Sie ist hübsch und sanft; ihre Eltern ziehen hierher. Sie haben die Ziegelei, hörst du die Maschinen rollen? Alles ist schon wieder in Gang.“
„Zweitens?“
„Zweitens ist sie verlobt und ich kenne auch ihren Verlobten. Er ist ein schöner Mann.“
„Stefan Gudstikker?“
„Du kennst ihn? Er hat mich erschreckt durch sein Wesen. Er hat mir ein Gedicht gezeigt, das er gemacht hat. Eine Stelle weiß ich noch:
Es ist so still, daß alle Wandrer staunen.
Wenn solche wundervolle Nacht aufziehet,
Hört man die Elfen und die Blumen raunen.
Die Wünsche schlafen und kein Feuer glühet,
Du spürst nicht Duft von Myrten und Cypressen;
Die Welle ruht im Strom, kein Vogel fliehet.“
„Das ist schön!“ rief Agathon aus, blieb stehen und erblaßte. „Du hast es gelernt?“
„Nein, ich hab es so behalten. Aber ich fürchte mich vor ihm.“
„Weshalb fürchten?“
„Ach Agathon, ich mag dich so gern leiden,“ sagte Monika erglühend. „Du bist so still und so gut, und alles, was du sagst, ist so warm! Ich glaube, dich könnte ich nicht weinen sehen.“
„Ich hab auch noch nie geweint,“ erwiderte Agathon, den Kopf senkend.
Monika nahm seine bebende Hand und küßte sie. Dann gingen sie weiter wie zwei Schlafwandler, bis sie sich trennten.
Auch im Dorf sah Agathon viele erregte, finstere, zornige Gesichter. Er wurde unruhig. Als er die Schwelle des Hauses überschritt, überfiel ihn ein stechender Schrecken; er sah jene Frau im Flur stehen, die ihm einige Zeit hindurch allmorgendlich begegnet war. Da er sie fassungslos anstarrte, klärte sie ihn auf: „Ich bin zur Pflege Ihrer Mutter da, junger Herr. Sie ist sehr krank. Sei ruhig, Sema!“ herrschte sie den Knaben an, der zu ihr reden wollte. Spöttisch lächelnd zog sie, Frau Hellmut, ihren Knaben hinter sich in die Küche.
Als Agathon ins Zimmer kam, sah er zunächst seine beiden Geschwister, die wie Wachspuppen auf der Bank saßen und sich nicht rührten. Elkan Geyer starrte mit roten Augen vor sich hin. Bisweilen erwachte er wie aus einer Betäubung und rang stumm die Hände. Enoch saß schweigend am Ofen. Agathon wollte nicht fragen. Voll Besorgnis schritt er die Stufen hinauf, die vom Wohn- ins Schlafzimmer führten und fand seine Mutter allein. Sie lächelte ihm zu. Ihr Gesicht war von einem grauenhaften Gelb. Sie lächelte so matt und gezwungen, daß Agathon nach einer geflüsterten Frage, die Frau Jette nur mit einem Zudrücken ihrer Augenlider beantwortete, wieder hinausging.
Mit einer blauen Schürze, mit schmutzigen Händen kam Bärman Schrot, – geradewegs von seinem Acker. Er deutete mit ängstlichen Bewegungen hinter sich: der Schuster Garneelen, sowie der Schmied folgten ihm auf dem Fuß. Sie kamen herein, der Schmied mit einem Hammer, der Schuster mit aufgestreiften Ärmeln, beide mit Gesichtern, die wie von Trunkenheit gerötet waren, und der Schmied schlug mit dem Hammer auf die Lehne eines Stuhls, daß sie krachend brach. Mit schrillen Schreien flüchteten die zwei Kinder in das Zimmer der Mutter, und gleich darauf erschien Frau Jette selbst im Bettgewand auf der Schwelle, einer Leiche gleich und mußte sich am Pfosten aufrecht halten. Der Schuster schrie von seinen Ersparnissen, die ihm gestohlen seien, und er werde dafür sorgen, daß in drei Tagen kein Jud mehr im Dorf sei, dafür werde er sorgen, man könne sich darauf verlassen. Er würgte die Worte nur so hervor. Der Schmied heulte mehr, als er redete, schlug mit dem Hammer blind um sich, wollte seine zweitausend Mark haben, oder er haue das Haus zusammen vom Dach bis zum Keller. Auf ein paar Jahre Zuchthaus käme es ihm nicht an, ihm nicht, das sei wahr. So schrien sie beide. Auf der Gasse sammelten sich die Menschen, drückten die Gesichter an die Fensterscheiben, drängten sich in den Flur, standen unter der Thüre, und endlich entschlossen sich ein paar ältere Männer, den zwei Wütenden zuzureden und sie langsam und durch Übermacht hinauszuschieben. Sie thaten es jedoch sichtlich mit Widerwillen, nur aus einem gewissen Mitleid mit dem entsetzlichen Bild dieser Frau, die steif und regungslos an der Schwelle ihres Krankenzimmers stand, hinter sich zwei bleiche, zitternde Kinder.
Als der Raum wieder leer von Menschen war, versperrte Agathon die Thür und sah seinen Vater prüfend an, der ganz in sich zusammengesunken, mit blauen Lippen auf jener Ruine von Stuhl hockte und ein Gebet murmelte. Enoch Karkau sagte nichts; seine Züge waren unbewegt. Er ging hinauf, brachte seine Tochter ins Bett zurück, puffte die Kinder die Stufen hinunter und stellte sich dann wieder mit dem Rücken gegen den Ofen.
Es klopfte an die Thüre, erst leiser, dann stärker. Agathon fragte, wer da sei; Gedalja sei da. Dann ging Agathon hinaus, schloß den Laden ab, rief der Magd, sie solle den Arzt zur Mutter holen. Aber die Stimme der Frau Hellmut, die sich mit Kathrin eingeschlossen hatte, antwortete, sie mache nicht auf. Sie könne nicht ihr Leben riskieren bei diesen Zuständen. Nach einigem Verhandeln war sie indes doch zu bewegen.
„Ich habs vorausgesehen,“ sagte Gedalja, beständig nickend, während er redete. „Werd ihn Gott beglücken dafor. Sin user fufzig Leit im Dorf, die so um all ihr Geld kommen, Juden un Gojim. Werd wachsen das Risches, daß mer nit habn e friedliche Stund. Mich dauert nor sei Kind, nebbich. Is as wie e Rose zwischen die Dorner, die sticht sich stets un bleibt dennoch in ihrer Farb. Elkan, du dauerst mich aach. Hast dich abgeschunden ’s ganze Leben, hast gesammelt en übrigen Heller für die Kinder un jetz is es weg. Du bist der beste Mensch, den ich kenn, aber Mark haste kaans in die Knochen. Da sitzte jetz un starrst. Zu was? Bin ich worn gestraft un hab verloren alles, was der Mensch nötig hat for sein Alter. Sitz ich da un starr? Ball is es aus, das Töpfche Leben, ausgeleert un ausgeschütt, nachher gitts nix mehr zum Starren.“
Am Nachmittag kam Pavlovsky der Gendarm und ein Gerichtsschreiber. Alle erschraken. „Enoch Karkau!“ rief der dicke Pavlovsky und erhob die Augen nicht von dem Papier in seiner Hand. Ein Todesschweigen folgte, worauf der Gendarm einen Verhaftsbefehl wegen betrügerischen Wuchers verlas. Pavlovsky war noch nicht zu Ende, als Elkan Geyer von seinem Sitz auf die Erde sank und, wie ein Wurm sich windend, hilflos zu schluchzen begann. Agathon konnte es nicht sehen und wandte sich ab. Seine Geschwister stürzten sich über den Vater und begannen jämmerlich zu heulen; Frau Hellmut kam in diesem Augenblick herein und schrie laut auf, Sema faltete stumm die Hände und seine Augen waren für einige Sekunden förmlich gebrochen. „Mutter“, murmelte Agathon verstört, als er vom Krankenzimmer her ein beängstigendes Stöhnen vernahm. Er sah hinaus auf die Gasse, wie ein gefangenes Tier in den Wald sieht; er sah den grauen, wolkenvollen Himmel und die Häuser, die unbeweglich standen und wunderte sich, daß die Welt noch dasselbe Bild der Ruhe und Herrlichkeit bot. Pavlovsky hatte die Blicke noch nicht von seinem Dokument erhoben; der Gerichtsschreiber nahm seine große Brille ab und musterte Raum und Menschen mit großen, verwunderten, wässerigen Augen.
Gedalja, der sich zusammengekrümmt hatte, daß sein Kinn die Kniee berührte, richtete sich plötzlich straff empor und rief: „Hab ichs nicht gesehen kommen? Elkan, hab ichs nicht gesagt zum voraus? Hab ich nicht gesagt, der Zugrundrichter werd kommen über ihn? Nu is geschändet die Kille un Haus un Hof; un die Kinder wern habn zu tragen an deiner Gutthat, Enoch. Was is Vernunft, daß se könnt bestehn vorm schlechten Gemüt? Haste abgestreift die Ehrfurcht wo d’r habn deine grauen Haare gegeben un mußt hinwandeln in Nefehre, in Sünd und Schand. O Enoch, Enoch, hättste gehabt Erbarmen mit Andere, hätteste aach gehabt Erbarmen mit dir selber.“
Der Gendarm führte Enoch ab. Agathon sah, daß er keine Miene verzog. Etwas Starkes lag in seinem Wesen, das die Furcht nicht kannte.
Die Dämmerung brach herein. Agathon mochte nicht zu bleiben. Er ging auf die Straße und wollte gegen den Wald hinauf, als er Gudstikker begegnete. Dieser zog ihn in den Schein einer Hauslaterne und gab ihm einen Brief, mit der stummen Aufforderung, ihn zu lesen. Agathon erbleichte und legte die Hand vor die Augen: das hatte er schon irgend einmal erlebt, daß ihm dieser Mann einen Brief gab, vielleicht in einem vergangenen Leben ... Oder war es ein Traum?
Langsam entfaltete er das vergilbte Papier und las beim rötlichen Schein des armseligen Lichtes: „Mein Liebster, das kann ich nicht, was du von mir forderst. Ich bin keine freie Frau, kein freies Mädchen. Ich bin nicht geboren, daß ich so hoch fliegen kann, bis zu dir. Aber meine Liebe ist in mir und will nicht vergessen, dich nie vergessen. Doch muß ich dich lassen, denn ich kann nicht, was du willst. Ich weiß nicht, welches Leben noch vor mir liegt, aber kann es nicht sein, daß das Kind, dessen Seele noch in meinem Leib schläft, mich deshalb anklagen würde? Das ist wahr und drum Adieu. Glaube mir. Deine Jette Pohl.“
Agathon wußte zuerst nichts anzufangen mit diesen Worten. Dann zuckte er zusammen wie unter einem Schlag und flüsterte: „Meine Mutter?“
Gudstikker nickte und erwiderte: „An meinen Vater.“
„Und warum zeigen Sie mir das!“ rief Agathon voll Kummer.
„Warum? Das weiß ich selbst nicht. Ich mußte wohl. Jetzt können Sie sehen, wie das Leben ist. Wie ein Schauspiel geht alles. Ein Kobold hält uns an einem Faden und läßt uns genau so weit tanzen, als er will.“
Agathon hörte das nicht. Er sah verloren in die breite Mauer der aufgeschichteten Ziegelsteine, die sich für seine Blicke öffnete wie ein Sesam und ihn Jahre und Jahrzehnte zurückschauen ließ. Das war seine Mutter! Und wozu hatte sie das Leben gemacht! Hatte seine Mutter das empfinden können? Und wo war es nun hingeschwunden, das alles, wohin? Er begriff es nicht.
„Ich weiß was Sie denken,“ sagte Gudstikker und fuhr mit seiner Lust an banalen Weisheiten fort: „Es giebt nur zwei Wege für einen Menschen, – in die Berge, oder ins Thal. Droben ist er allein, im Thal wird er gewöhnlich. Ach das ist auch falsch. Worte! Ich bin jetzt Ziegeleiverwalter, Aufseher oder dergleichen.“ Er lachte bissig. „Wissen Sie, daß die Untersuchung über den Mord vorerst eingestellt ist? Man hat absolut keine Spur. Ja, die Herren da oben sind schlau. Einmal hatten sie sogar den armen Lämelche Erdmann in Verdacht. Dann auch Ihren Vater.“
„Was –?“
„Ja. Das ist nicht minder komisch. Er ist sogar verhört worden. Wissen Sie das nicht? Irgendwer hat mir gesagt, daß er seitdem von Furcht gepeinigt würde. Er ängstigt sich vor allen Gedanken, die er früher einmal gegen Sürich Sperling hatte.“
„Mein Vater? Das sagen Sie wirklich? Und das ist wahr?“
„Wahr.“
„Nein nein, das ist nicht möglich.“
„Weshalb regen Sie sich auf? Ich kenne da einen Fall, er ist ziemlich sonderbar. In einer Familie kam ein Ring abhanden. Ich kenne die Familie, es sind Juden. Ein Verwandter, den ich auch kenne, Edward Nieberding, war zu Gast. Als nun alle den goldnen Ring suchten, wurde Nieberding völlig gelähmt. Denn er war vorher allein in jenem Zimmer gewesen, wo der Ring gelegen war. Beachten Sie wohl, es konnte nicht der Schatten eines Verdachtes auf ihn fallen, er ist ja selbst ein reicher Mensch, aber er suchte gar nicht mit, damit man nicht glaube, er suche nur deshalb, um zu zeigen, daß er den Ring nicht habe. Er wähnte sich beargwohnt, und er bildete sich schließlich so fest ein, jeder vermute ihn als den Dieb, daß er fürchtete, man könne den Ring in seiner Tasche finden, wenn man ihn nur durchsuchte. Er hat mir später alles erzählt. Schließlich ergab es sich, daß die kleine Katze den Ring fortgeschleppt hatte. Aber Sie sehen daraus, wie verwickelt das alles ist. Unsere Seele, sie glaubt oft nicht, was die Hand thut.“
Als Agathon dem Haus zuschritt, sah er auf einmal den Sema Hellmut neben sich gehen. Er sah dessen große, fragende Augen auf sich gerichtet mit einem Blick voll Ergebenheit und Hingabe. Der Knabe sah aus, als sei er bekümmert über sein Unvermögen, die trübe Stimmung Agathons zu verscheuchen. Es war etwas selten Reines und Anbetendes in jenem flüchtigen Blick, der auch die Bitte auszudrücken schien: Darf ich mit dir gehn?
„Kennst du Wendelin?“ fragte Sema unter dem Zwang, etwas zu sagen, was ihn nicht als dumm erscheinen ließ. „Es ist ein guter Kerl. Er hat keine Mutter und keinen Vater und gar, gar kein Geld.“
Agathon schwieg. Er wunderte und freute sich über das bedürftige Anschmiegen des Knaben. Aber er dachte daran nur halb. Der andere Teil seines Nachdenkens war der Ringgeschichte gewidmet, seinem Vater, seiner Mutter, dem Schicksal, das über ihm hing wie die Wolken und das alles dunkel machte, gleichwie die sich mehrende Finsternis des Abends von den Wolken auszufließen schien.
„Du bist schön, Agathon,“ sagte Sema unsicher und schwieg betrübt, als er keine Antwort bekam.
Daheim fand Agathon alles friedlich, – von einem unheilvollen Frieden erfüllt. Müßig wandelte er in den Garten. Ein kalter und feuchter Wind ging. Er hörte es rascheln wie vom Graben eines Spatens. Plötzlich sah er seinen Vater im Garten schaufeln. Er keuchte dabei und grub ruhelos, bald hier, bald dort, – ein Schatzgräber. Es war unheimlich anzusehen. „Was thust du, Vater?“ fragte er.
Elkan ließ den Spaten sinken, stützte sich darauf und Agathon sah trotz der Dunkelheit sein fahles Gesicht leuchten. „Du bist jetzt so alt, um alles zu verstehen, Agathon. Gott hat seine Hand abgezogen von uns und sein Antlitz verhüllt. Aber wir dürfen nicht murren. Gepriesen seist du, Ewiger, der du des Vergessenen gedenkst.“ Elkan betete ein Lobgebet.
„Vater,“ sagte Agathon „ich kann nicht mehr in die Schule und darf es auch nicht. Ich werde davon gejagt, obwohl es recht und gut war, was ich gethan habe.“
Elkan Geyer warf den Spaten weg und lehnte sich an den Zaun. Nach einem langen, schweren Schweigen ging er mit suchenden Schritten ins Haus. Agathon blieb, nahm seine Mütze ab und gab das Haar den Winden preis. Die Nacht öffnete sich ihm mit einer Reihe schwüler Wunder, unvorhanden für fremde Augen. Er glaubte in einem Tempel zu sein, doch erkannte er den Gott nicht.
Gegen acht Uhr kam Doktor Schreigemut und erklärte sanft, daß man nichts „übereilen“ müsse. Es sei alles beim Alten und hier sei eine „Pillule“. Doch war sein Gesicht sorgenvoller als sonst. Agathon sah die Augen Semas beständig auf sich gerichtet; sie folgten jeder seiner Bewegungen.
„Gepriesen seist du Ewiger, der du des Vergessenen gedenkst,“ murmelte Elkan.
„Die Welt ist gar groß und hat viele Sterne und viele Erden, Elkan,“ sagte Gedalja. „Worum soll er nit vergessen an den Gedalja, nit vergessen an den Elkan? Elkan is brav, ich waaß, aber worum soll er nit vergessen an die Braven, wenn er hat so viel zu bessern an die Sünder? Wenn de tot bist, waaßt de nix dervon und denkst in deiner Sterbestund, du hast gelebt e großes Leben, e reiches Leben un nit e Elkanleben. E Chillik! Gehängt is gehängt, mit’n Strick oder mit’n Goldfaden hat mei seliger Onkel g’sagt. E weiser Mann.“
Agathon schlief nicht in der Nacht. Seine Seele war heiter, und erregt sah er in die Finsternis. Er hatte ein Gefühl, wie oft, wenn er ein Geschenk erwarten konnte und ungeduldig war, es zu sehen. Die Nacht war unbewegt, nur selten gestört durch das Heulen eines Hundes. Als es drei Uhr schlug, kam der Mond und warf ruhige Lichtflecke in den Raum. Mit diesen Strahlen wurden die Figuren in Agathons Sinnen lebendiger und verklärter. Sie brachten ihm Reichtümer, von denen er nicht begriff, daß er sie je hatte entbehren können, er fühlte sich wachsen und es war, als hörte er einen Ruf über die Felder hinhallen, der ihm galt: lang und eindringlich.
Am folgenden Vormittag brachte der Pedell Dunkelschott ein Schreiben des Rektorats und des Kantors der Schule für Elkan Geyer. Er verlangte den Weglohn und trollte ins nächste Wirtshaus. Elkan setzte sich an den Tisch und las. Kaum war er damit zu Ende, als er aufschrie wie ein Gefolterter. Gedalja ging zu ihm, aber Elkan ließ sich nicht halten, sein Gesicht wurde plötzlich blaurot, er fiel über Agathon her, preßte die Hände um seinen Hals und hätte ihn erdrosselt, wenn nicht ein furchtbarer Angstruf aus dem Krankenzimmer ihn zur Besinnung gebracht hätte. „Aus meinem Haus, du Christ!“ röchelte er und stieg schwer und schwankend die Stufen zum Schlafgemach hinauf, begleitet von der händeringenden Frau Hellmut.
Gedalja strich Agathons Haar langsam und nachdenklich mit der Hand. „Was haste gethan?“ murmelte er. „Der sanfte Mann, der sanfte Elkan is geworden e wildes Tier. Die Welt is nimmer ganz. Es is was los in der Welt un mer stehn da wie die hilflosen Kinder, user.“ Er nickte; Agathon lehnte die Stirn an seine Schulter.
„Zum Doktor! Zum Doktor!“ kreischte die Pflegerin und rannte selbst fort. Elkan stand gebrochen auf der Schwelle und sagte: „Sie stirbt. Schemaa Jisroel adonai elohim adonai echot.“ Seine Augen waren glanzlos, die Arme hingen schlaff.
Agathon richtete sich auf. Sein bleiches Gesicht war plötzlich von einem überirdischen Feuer erfüllt, das alle mit Bestürzung und Scheu gewahrten. Die heulenden Kinder sahen ihn an und waren auf einmal ganz ruhig. Er ging ins Zimmer der Mutter, an Elkan vorbei, der sich zusammenduckte wie vor einem Pestkranken, und trat an das Lager der Kranken. Ihr Gesicht war gelb wie altes Pergament, – es war grausig. Ihre Augen blickten matt, leblos, stumpf, gleichsam den Tod suchend. Agathon sah nicht dies Bild. Er sah die jüngere Mutter, die entsagt hatte, geliebt, verloren hatte und nun unter der schweren Bürde der Tage erlegen war. Und dann war auch dies alles tot für Agathon. Er nahm ihre Hand und begegnete ihren Augen. Er legte seine Hand auf ihre verfallene Brust, gegen die das Herz verlöschend klopfte. Er wünschte, das Fenster möge offen sein und da öffnete es jemand, als ob es eine unsichtbare Hand wäre. Seine Brust war zum Springen voll, er wußte nicht ob vor Schmerz oder vor verhaltenem Jauchzen. „Werde gesund, Mutter, wache, Mutter, du bist nicht krank, du darfst nicht sterben.“ Er kannte seine Stimme nicht mehr, sie war ihm etwas Neues; die Kraft, die seinen Körper aufatmen ließ, sich aufrichten ließ als wäre eine unerhörte Last von ihm genommen, erhellte seine Augen mit einem himmlischen Glanz. Und das Feuer schien in den Körper der Kranken überzuströmen; sie lächelte plötzlich unter seiner bebenden Hand, sie seufzte erleichtert auf, sie drückte mit den schwachen, fleischlosen Fingern seine Hand und rief seinen Namen. Und je länger er die erloschenen Züge ansah, je mehr belebten sie sich in einer geheimnisvollen Weise, – bis sie ganz frei, mild und hoffnungsvoll schienen. Und als der Arzt kam, hereingeleitet von der Pflegerin, richtete sie sich zu dessen Erstaunen empor, legte den Kopf auf den aufgestützten Arm und lächelte dem Doktor und ihren Kindern mit einem Lächeln zu, das eine eigene Mischung von Schalkhaftigkeit und Inbrunst war.
Novemberstürme!
Bojesen schritt durch die leeren Gassen mit den flackernden Lichtern und der Umhang seines Mantels wehte hoch empor. Sein Hut flog vom Kopf, rollte hin über die Steine und blieb vor dem Eingang des „siebenten Himmels“ ruhig liegen, wie ein Pferd, das seine Station kennt. Bojesen hob ihn gemächlich auf und trat in das Lokal, das voll von Menschen war, meist sehr seltsamen Existenzen. Er nahm Platz, bestellte Bier und wandte bald keinen Blick mehr vom Podium, wo die Schaustellung stattfand. Über eine nächtige Landschaft schien ein kunstloser Mond, und ein Ritter wandelte an einem primitiven Wasser und streckte bisweilen den Arm aus. Da öffneten sich die unglaubwürdigen Wolken und eine Erscheinung stand zwischen ihnen: Luisina. Der Ritter verzweifelte, diesem geliebten Bilde jemals nahe zu kommen, warf sich auf die Erde und gab vor, zu weinen. Da erhob sich ein Zauberer aus einer mangelhaft funktionierenden Versenkung, oder es war Satan selbst, wies ein Pergamentum vor und machte die Gebärde des Sichverschreibens. Das that der Ritter, darauf fiel die schöne Luisina aus den Wolken, die Nacht war beendet, das primitive Wasser und der komische Mond verschwunden und die Pantomime ward zum Bacchanal. Wilde Mädchen mit wilden Haaren stürzten auf die Scene und zerrten junge Männer hinter sich nach. In diesem köstlichsten Theater spielte das Publikum die Orgien, die man ihm vorspielte, selbst mit. Ein langhaariger Mensch, eine Art von Künstler, saß am Klavier und entlockte dem unwilligen Instrumente eine Folge von schrillen Harpeggien im Walzertempo. Der Glühende erschien mit emporgehobenen Armen und ekstatischen Begeisterungsausbrüchen, die Köchin kam und schrie, sie könne das Wasser zum Punsch nicht kochen, denn der Wind fahre stets in den Schlot und lösche das Feuer aus. „Nimm das Feuer meiner Brust, Aglaia!“ heulte der Glühende. „Kein Orkan des Universums vermag es zu löschen!“ Ein Mann mit glattem, langem Haupthaar war da, den man Barbin nannte und der sich sehr ängstlich gebärdete, obwohl er sehr laut den Übermütigen zu spielen versuchte. Sein Äußeres wie sein Wesen deuteten auf eine jener zwecklosen Existenzen, wie sie die Städte hervorbringen, eines jener unglücklichen Geschöpfe, für die die Zeit eine käufliche Dirne ist, da sie ihnen ohne Münze nichts giebt, womit sie ihr Leben verkürzen können. Dieser Barbin wandte sich sehr oft an den Glühenden, als flehe er ihn um seinen Schutz an, und er suchte dies durch ironische Worte zu bemänteln, die aber von dem tollen Jauchzen auf der Bühne verschlungen wurden. Luisina schien alle Ruhe und Besinnung verloren zu haben. Sie befahl dem Glühenden, sich zum Schemel ihrer Füße zu machen, und er legte sich platt auf die Erde. Die andern Mädchen tranken Wein in Strömen. „Wann wird denn nun der Böse seine Urkunde geltend machen?“ fragte Bojesen eine Brünhilde, die neben ihm saß, in einer männlichen Pose, das Schnapsglas in der Hand. Sie erwiderte: „Ja, das ist nichts für Pfaffen und Professoren hier im siebenten Himmel.“ Alsbald begann der Tanz mit Jubel und Singen und auf einmal war alles still. Einige Burschen in Tricots mit prachtvoll gebauten Körpern machten halsbrecherische Kunststücke. Barbin machte vergebliche Versuche, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, bis es ihm gelang, den Pianisten vom Klavier zu vertreiben. Er setzte sich hin und spielte mit grotesken, schlangenhaften Windungen seines Körpers irgend eine tolle Phantasie.
Plötzlich sah Bojesen sich gegenüber Luisina sitzen. „Nun, da sind Sie ja wieder“ redete sie ihn spöttisch an. „Was wissen Sie Neues? Eigentlich ist mir Ihr Anblick verhaßt. Warum sind Sie so finster, nachdenklich, schwermütig? Wer sind Sie? Was wollen Sie? Hier giebt es kein Amt für Sie. Höchstens eines. Wenn der Tag anbricht kommt nämlich der Teufel wieder, um mir meinen Ritter zu holen. Er kommt in Gestalt eines Polizisten. Das ist ein Amt für Sie.“
„Warum sagen Sie mir das alles?“
„Das will ich Ihnen erklären. Mir ist, als spräche ich in Ihrer Person zur ganzen sogenannten guten Gesellschaft. Ich habe auch dazu gehört. Aber so ist es um unsere Zeit bestellt, daß wer sich freuen will, sich von ganzem Herzen ausleben will, all sein Heil und seine Seligkeit im Lachen sucht, daß der zu solchen Dingen kommt. Da wo sonst das Niedrigste und Schmutzigste zu treffen ist, da muß er sein Höchstes suchen und finden, denn überall sonst ist es zu anständig dazu. Und für ein Weib! Was soll ein armes Weib thun in eurem Kreis von schalen Vergnügungen, von ekeln und zehnmal wiedergekäuten Genüssen? Was soll sie thun, da sie erst anfängt, unter Menschen zu zählen, wenn sie heiratet. Was kann sie dafür, wenn sie in einer Welt lebt, wo jeder darauf stolz ist, wenn er ein wenig unglücklich ist? wo die Lebensfreude bei der Prostitution anfängt? Sagen Sie selbst! reden Sie doch! Ach, Sie haben ein Gesicht, dem ich eigentlich viel vertrauen könnte. Glauben Sie mir, nicht die Not allein ist Schuld an dem „Fall“, wie man es nennt, so vieler Menschen, sondern die Sehnsucht nach, – ja, wonach sag ich doch gleich, – die Sehnsucht nach, – es ist zu schwer, ich kann es nicht sagen.“
Sie schwieg. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah lächelnd hinein in den Taumel, der sich rings um sie gestaltete. Der Glühende sprach nur noch in Versen, Barbin hieb wie besessen auf das arme Instrument ein und gab seinem Körper stets einen erschreckenden Ruck, wenn er vom Fortissimo in ein effektvolles Piano heruntersprang. Viele tanzten, schnell und feurig, oder leise sich wiegend und träumerisch, allein oder zu zweien. Die Brünhilde neben Bojesen war selig, wie aufgelöst vor Weichheit und nippte gerührt von ihrem Glas. Auf einmal war in einem Nu das Podium leer, die Gaslichter zu halber Höhe herabgedreht; auf einmal war auch Barbin still und ließ die Hände auf den Tasten ruhen. Die Tanzenden hielten ein und flüsterten: „Die Dämonen“.
Auf der Bühne erschienen in einem matten, grünen Licht vier Männer mit düstergrünen Gewändern, so enganschließend, daß sie wie nackt aussahen, grünen Gesichtern und begannen ein phantastisches, unheimliches, aufregendes Spiel. Wie Fische im Wasser, so bewegten sie sich in der Luft; ihre Füße schienen des festen Grundes nicht zu bedürfen, ihre Glieder schienen an kein anatomisches Gesetz gebunden. Bald schienen sie alle ein einziger Leib zu sein, der sich in entsetzlichen Krümmungen wand, bald war der eine einem leblosen Klumpen gleich, wurde von unsichtbaren Händen in die Luft geschleudert und fiel krachend auf die Bretter zurück. Bald waren sie wie eine Meute von Hunden, denen der Jäger aus der Ferne pfeift, bald glichen sie Würmern und krochen auf unbegreifliche Art an den Seidenwänden empor, alles blitzschnell, fischhaft, dämonisch. Jeder sah zu, als ob sich ein spannendes Drama entwickeln würde. Als Bojesen den Blick abwandte, sah er in geringer Entfernung, im Dämmerlicht fast unmerklich, Luisina. Sie schien ihn lange beobachtet zu haben. Nun winkte sie ihm zu und wandte sich dann nach der Thüre, als sie sah, daß er ihr folgen würde. Sie hatte einen Pelzmantel um den Körper gelegt und ein blaues, seidenes Tuch um den Kopf und ihre großen Augen sahen mit einem ungewissen, zitternden Glanz, aber doch voll Entschlossenheit in eine weite Ferne. Draußen sprach sie kein Wort; sondern stumm forderte sie Bojesen auf mit ihr zu gehen. So wanderte er schweigend an ihrer Seite weiter.
Welch eine Nacht ist das! dachte Bojesen. Es herrschte nicht eigentlich Dunkelheit und auch nicht Helligkeit, – eine jener seltsamen Herbstnächte, in denen sich alles Leben der Natur verinnerlicht zu haben scheint. Es fehlen auch jene Stimmen, jenes unklare, unbestimmte Geräusch, das wie ein aufbewahrtes fernes Echo des Tages ist. Der Wind hatte sich gelegt. Der Mond, eine unvollendete Scheibe lag in einem graugelb geschimmerten Flaum von Wolken. Er sah ganz verquollen aus, wie Farbe auf feinem Fliespapier. Das Leben war von den Straßen wie fortgeblasen. Die Häuser mit den dunklen Fenstern und den weißen Gardinen sahen aus, als ob sie schliefen; Bojesen konnte die Straße entlang blicken bis an die Grenzen des Horizonts, und diese lange, unbewegte Linie hatte etwas Beruhigendes.
Luisina schritt rasch dahin, hastig atmend, offenbar noch mit ihren Entschlüssen ringend. Bojesen folgte ihr, mehr gezogen durch die intime Macht, die sie auf ihn ausübte, als freiwillig. An einem einzelnen und sehr vornehmen Haus jenseits des Bahndammes machte sie endlich Halt, drückte dreimal wie in verabredeten Pausen auf den elektrischen Knopf und ging dann die teppichbelegte Steintreppe empor, hastig, atemlos. Aus einer Thüre kam ein junges Mädchen, dessen Gesicht alsbald das größte Erstaunen ausdrückte. „Jeanette!“ rief sie aus. „Ist Nieberding zu Hause?“ fragte Jeanette-Luisina bebend. – „Nein, Edward ist noch nicht da“, entgegnete das Mädchen bestürzt und schüchtern und blickte furchtsam auf Bojesen, der nichts zu sagen, ja nicht einmal sich zu bewegen wußte.
„Ach Cornely!“ rief Jeanette und faßte mit beiden Händen nach der dargebotenen Hand des Mädchens.
„Was, meine Gute? Komm doch herein. Willst du warten auf Edward? Es ist alles so sonderbar, was du thust“, sagte Cornely mit ihrer leisen, kindlichen und zutraulichen Stimme. Sie hatte stets ein schwaches und undeutbares Lächeln auf den Lippen; aber hätte man ein Tuch über den Mund gebreitet, so wäre auf dem übrigen Gesicht ein Ausdruck von Schwermut, mehr wie von Schwermut geblieben. Sie machte den Eindruck eines Geschöpfs, das durch irgend eine Situation vollständig betäubt ist und sich nur bestrebt, ihre Gedanken geheim zu halten. Ihr Haar war von einem dunklen Gelb, wie es etwa das Stroh hat, wenn es lange in Scheunen gelegen und verstaubt ist. Ihr Gesicht war von Sommersprossen bedeckt; ihre vollen Lippen waren trocken und aufgesprungen und erinnerten in der Farbe an ein Stück verwaschenen roten Kattuns.
Dann saßen sie im Salon, bei dunklem Licht, das durch gelbrote Seidenschirme schimmerte und in den Ecken förmlich zu verfließen schien, als ob es hinstrebte zu der allgemeinen Nacht draußen.
„Ich habe diesen Herrn mitgebracht, Cornely, – es ist Herr –“
„Bojesen.“
„Ja; Herr Bojesen hatte also die Güte, mich zu begleiten, weil ich nicht allein gehen konnte, zweitens weil er ein Freund von mir ist und dabei sein muß bei dem, was ich jetzt vorhabe.“
Bojesen befand sich in einem Zustand fast zorniger Erwartung. Er konnte sich dem vibrierenden Wesen des jungen Weibes nicht eine Sekunde lang entziehen. Er dachte wieder an sein eignes Weib, die, er wußte es, zu Hause in kurzen Zwischenräumen zur Treppe lief, mit der kleinen Lampe hinunterleuchtete, von jedem Schritt auf der Gasse aufgescheucht wurde wie ein Vögelchen und auf ihn wartete, wartete.
Als Jeanette den Mantel abwarf, weil es ihr zu heiß wurde, stand sie da in ihrem Theaterkostüm, sah ins Kaminfeuer und ihre Nasenflügel blähten sich seltsam. Cornely stieß einen leisen Schrei aus und faltete die Hände.
„Wie lange willst du noch so bleiben, meine arme, kleine Cornely?“ sagte Jeanette. „Soll ich recht behalten von damals her, als ich dich beim Pfänderspiel zur alten Jungfer machte?“ Etwas Triumphierendes lag in ihrem Gesicht. Das Kostüm schillerte zauberhaft im matten Lampenlicht.
„Selbstüberwindung ist die größte Freiheit,“ erwiderte die Bleiche mit ihrem sanften Lächeln.
Die Hausthüre wurde zugeworfen, schlürfende Schritte wurden laut, und Bojesen glaubte eine heiße, zitternde Erregung in Jeanette mitzufühlen. Ein junger Mann trat ins Zimmer und blieb wie versteinert stehen, weiß wie Leinwand. Er war schlank, groß und bartlos, hatte dicke Lippen und eine dicke Nase, tiefliegende, etwas gerötete Augen und einen eigenen Zug von Adel und Feinheit im Gesicht. Das feinste waren seine Hände. Sie waren lang, zartlinig wie ein gotischer Bogen und bewegungslos: müde Hände. Cornely schlich geräuschlos und etwas bestürzt davon, als er kam.
„Du bist erstaunt, wie ich sehe,“ flüsterte Jeanette. „Aber willst du dich nicht erholen? Dieser Herr hier darf dich nicht stören. Ich will, daß er bleibt, und ich will, daß du so bist, als ob er nicht da wäre. Verstehst du?“
Edward Nieberding senkte den Kopf und ließ sich in ein Fauteuil fallen. „Rede! Was willst du? Ich begreife nichts von alledem.“
„Wie solltest du auch das begreifen!“ erwiderte Jeanette leidenschaftlich erregt. „Wie könnte ich das vermuten! Du, der eher begreift, was auf dem Mond vorgeht, als in der Seele einer Frau! Du! Bist du es nicht, der das erfunden hat von der keuschen Liebe? Der das alles gepachtet hat, diese eisigen Dinge von Resignation und kühler Anbetung und von der unsinnlichen Macht des Schönen oder wie du es nennst? Rede du! Rede! Hast du mich nicht irre gemacht an allem was strahlt in dieser Welt und was warm ist?“
„Verschone mich, Jeanette! Wie thöricht von dir! Warum in der Gegenwart eines Fremden? Was thust du!“
„Ich will es dir sagen. Hier ist ein Mann. Ich glaube, Bojesen, Sie sind ein Mann. Ich frage Sie nun, – und dazu sind Sie hier, daß Sie mir auf Ihr Gewissen antworten, denn Sie sehen ehrlich aus, – ich frage Sie nun: kann ein Mann ein Weib lieben, wenn er sie bittet, gehe fort von mir, gehe weit fort, denn dann wird meine Liebe zu dir immer größer und mein Gefühl reiner –? Der sie bittet, küsse mich nicht, denn sonst begehre ich dich und das würde meine Liebe verringern –? Ich will von dir träumen, genau so redet er, ich will träumen, wie du bei Mondschein am Seeufer wandelst, weit von mir, wie du den Elfen gleichst, die ungesehen um dich huschen, – dann liebe ich dich wild, unfaßbar. Was sagen Sie dazu? Oder nein, antworten Sie noch nicht, erst dies –“
„Jeanette!“
„Still! Dies: was sagen Sie dazu, wenn ein Mann sagt, erst dann werde ich eine Frau wahrhaft lieben, wenn Sie einen Andern geheiratet hat und von diesem Andern ein Kind gehabt hat –? Und nicht genug mit diesen Worten, – der mich hinschickt, und mir rät, den andern zu nehmen, der mich bethörte, mich alles vergessen läßt, was ich mir schuldig wäre! Was sagen Sie dazu, Herr? Nun? urteilen Sie! Schweigen Sie nicht, sonst war es überflüssig, daß Sie kamen.“
Eine lange Pause entstand.
„Wenn ich nun reden muß, und wenn dies alles vorgefallen ist,“ sagte Bojesen langsam und betrachtete mit Trauer die schwammigen, nervösen Züge des jungen Mannes, „dann ist es erstaunlich, aber doch zu erklären. Es liegt in der Zeit. Ich wette, Herr Nieberding, Sie können den Anblick eines nackten Menschen nicht ertragen? Ich nehme auch an, daß Sie nie trinken, nie spielen, nicht mit Kindern spielen können? Ich bin ja nicht als Arzt hier, aber weil ich nun doch in dieser Lage bin, will ich sagen, was ich denke. Ja, es liegt in der Zeit. Mit welchem Wort Sie es nennen wollen, ist gleichgültig. Es ist all dies Mystische und Schwächliche, das über uns gekommen ist wie eine Krankheit, daß wir nicht mehr wissen, was Kraft oder Rohheit oder wahrhafte Scham oder Unnatur ist. Sie sind Jude, Herr Nieberding, wie? Ich weiß es, ich hatte auch schon einiges über Sie gehört. Nun, Ihr Volk ist es, das uns dies Geschenk gemacht hat, Ihr arbeitsames, intelligentes, stets an Extremen bauendes Volk. Sie lieben nicht das Weib, sondern Sie lieben die Liebe, nicht mehr die Selbstbetrachtung und Selbstvervollkommnung, sondern das Quälerische, Zerstörende, Erniedrigende, alles was Sie zum Märtyrer macht. Glauben Sie mir, glauben Sie einem der viel erfahren und vielleicht ein wenig gedacht hat, es giebt viele von Ihrer Art. Es sind Flagellanten, unsere Flagellanten, und der Gott, vor dem sie sich geißeln, ist dieses wohlbekannte Ich, diese Phrase von der Individualität, vor der jetzt alles auf den Knieen rutscht. Und wenn ich sage, die Juden sind Schuld, so ist das keine gedankenlose Anschuldigung von mir. Nicht jene alten Juden, die noch fromm sind, sie sind entweder ehrwürdig oder komisch; nein die neuen, die sogenannten modernen Juden, die vollgesogen sind mit dem ganzen Geist und der Überkultur des Jahrhunderts, sie sind es, die mit ihrer menschlichen Düsterkeit und ihrer geistigen Schärfe kommen, und ein Pseudochristentum aufrichten mit Gefühlskasteiungen, fleckenloser Liebe und dergleichen. Ich weiß es nur zu gut, es ist ein altes Erbe Ihres Volks. Auch Christus war ja ein Jude.“
Nieberding erhob sich, schwankend und zitternd trat er auf Bojesen zu und flüsterte: „Herr –!“
Bojesen hielt seinen Blick ruhig aus und schwieg.
„Ich habe ihn geliebt,“ sagte Jeanette leise und sah gedankenvoll vor sich hin. „Weißt du, wozu ich nun geworden bin?“ fragte sie laut und fest.
Edward Nieberding, der am Fenster gestanden und unbeweglich hinausgesehen hatte, wandte sich um und sagte: „Jeanette, du hast niemals eine Schätzung gehabt für das edle Gestein und für seltene Menschen. Aber daß du zu solchen Mitteln greifen mußt! Ich denke, das war unnötig. Ich denke, das ist alles zu theatralisch. Seine einleuchtenden Erläuterungen mag sich dieser Herr für den Hörsaal sparen. Mag ich sein, was ich will, ein Flagellant oder ein Bacchus, damit die Ausdrucksweise des Herrn zu Ehren kommt, du hattest gegen meine Gefühle gewisse Pflichten, mehr will ich nicht sagen. Du durftest nicht kommen und mir ein Schauspiel vorspielen. Ich trinke das Leben aus den Tiefen, wo andere Leute nur Finsternis gewahren, ich finde Genüsse, wo andere nur Narrheiten sehen, – gut, laß mich so sein. Geh’ jetzt fort, wenn du barmherzig bist, und laß mich allein. Ich werde dich lieben bis ich sterbe.“
Jeanette hatte kein Auge von ihm gewandt. Nun ging sie hin, legte ihren Mund auf den seinen, und so blieben sie, in diesem traumhaften Kuß, minutenlang. „Und nun leb wohl,“ sagte Jeanette, „wer weiß, wo wir uns wieder finden.“
„Im Kot oder bei den Sternen,“ entgegnete Nieberding, trübe lächelnd. Er stieß ein wenig mit der Zunge an, was seinen Worten oft etwas Herzliches und Kindliches gab.
An der Treppe stand Cornely. Sie stieß einen dumpfen Schrei aus, als sie Jeanette fest anblickte. „Was war es?“ fragte sie hastig, mit einem scheuen Seitenblick auf Bojesen.
Jeanette schüttelte den Kopf; ihre Augen standen voll Thränen. Deshalb lächelte sie in einem wunderlichen, frauenhaften Trotz. „Du weißt alles, was geschehen ist, gute Cornely. Du ahnst es. Du weißt, was mein Vater gethan hat, daß er zahllose Familien um ihr Brot gebracht hat. Siehst du, Cornely, arme, ich habe eine so komische Moral in mir, bei der du staunst. Was ihr Niedrigkeit nennt, nenne ich vielleicht Ehre, und was dir die Selbstüberwindung ist, ist mir die Feigheit und Furcht. So sind einmal die Menschen. Gute Nacht, Liebe.“
Bojesen folgte ihr und ihm war, wie wenn er durch die Luft hinschwebte, wie wenn nichts mehr an der Erde wäre, was ihn festhalten könnte.
„Bojesen,“ sagte das junge Mädchen, als sie das Thor hinter sich geschlossen hatten, und nahm seine Hand, „in dieser Stunde sind Sie ein guter Freund von mir geworden.“
Es schneite. Große Flocken fielen hernieder, die alsbald hinschmolzen im Schein der Laternen. Es war ein friedliches Fallen, ein lautloses und märchenhaftes Herabgleiten der schimmernden, zitternden Krystalle. Einige Zeit gingen beide schweigend. Plötzlich sagte Jeanette, indem sie ihre Schritte hemmte: „Wissen Sie, woran ich denke? An die Dämonen von heute abend. Ich denke mir, so ist die Welt, so sind die Menschen; ein zielloses Hin- und Hergleiten, so daß es einen beängstigt, daß man fürchtet, jeder muß den Hals brechen und jeder wird doch wieder durch den andern getragen und beschützt. Und dann das, was ich nicht so recht ausdrücken kann; es ist vielleicht dies Spielen auf die Wirkung oder so ... Meinen Sie nicht, daß wir lauter solche grüne Dämonen sind?“
„Ja, eigentlich ist das ganze Leben bloß ein Symbol, und wir können nichts anderes thun, als alles, was uns zustößt, symbolisch zu betrachten. Darum sind auch die Dichter am größten, die das Leben möglichst vereinfachen.“
Wieder entstand ein Schweigen. „Ach, die Dichter,“ sagte Jeanette dann nachdenklich und traurig. „Sehn Sie, ich habe so viele kennen gelernt von den berühmten, denn ich war mit meinem Vater in Berlin und in andern großen Städten und mein Vater war ganz versessen auf die berühmten Leute. Da hab ich Dichter kennen gelernt und manchen, bei dem mir vorher wirklich das Herz geklopft hat. Aber wie schrecklich bin ich immer enttäuscht worden! Ich habe mich nur immer gefragt: du lieber Gott, wie konnten diese Leute das oder das schreiben. Sie hatten doch so große Gedanken und so große Gefühle in ihren Büchern und waren nun Menschen, vor denen man auch nicht so viel Ehrfurcht haben konnte. Und Ehrfurcht will ich haben vor einem wirklichen Dichter, ob er jung oder alt ist. Lachen Sie mich nur aus. Aber diese Leute hatten alle so nachlässige Gesichter, so unneugierig, was sie sagten, waren so vorbereitet und sie liebten es so sehr, geistreich zu sein oder auch vornehm zu schweigen. O nein, ich hasse die Dichter.“
Bojesen ging still dahin und lauschte mit glänzenden Augen. Alles was sie sagte, kann gar nicht so wiedergegeben werden, weil der warme Laut fehlt, das Eindringliche, Natürliche und Graziöse ihres Wesens.
„Sie wundern sich ein wenig über mich,“ fuhr sie fort und schlug den Mantel fröstelnd zusammen. „Ich auch. Ich habe stets geglaubt, wahnsinnig zu werden bei dem Gedanken, daß ich vielleicht auch eine von diesen Jüdinnen sein könnte, – ja, schauen Sie nur, – die mit zwanzig anfangen, fett zu werden, heiraten, französische Romane lesen, Kinder bekommen, Migräne haben und immer fetter und dümmer werden. Nein so bin ich nicht. Es hat große Jüdinnen gegeben und ich habe mein Vorbild. Später, später einmal sollen Sie es erfahren. Auch ich bin ein Symbol.“ Der junge Mann sah sie lächeln. Er fragte, ob sie nicht seinen Arm nehmen wolle und wo er sie hinführen solle.
Sie nahm den Arm. „Wohin? Ach, irgend wohin. Nein, fragen Sie nicht wohin, jetzt. Sagen Sie mir eins, Bojesen. Sind Sie nicht ein wenig Dichter?“
„Ich? Nein, ganz und gar nicht. Ich bin ein Mann der Wissenschaft.“
„Das sagen Sie so pedantisch. Ich denke, man kann dadurch ein so stolzer Dichter werden, – so daß man zu stolz ist, um zu schreiben.“
„Welch ein schönes Wort sprechen Sie da aus!“ rief Bojesen.
Sie waren an einer Allee. Beschneite Bäume, beschneite Wege blickten ihnen entgegen. Hinter einem halbzerstörten Staket lagen Steine in großem Wirrsal, Mörtelbehälter, Schaufeln, aufgeschichtete Ziegel und dahinter war der unfertige Bau mit öden, schwarzen Fensterhöhlen. Daneben war ein Haus schon fertig gebaut, aber es war noch unbewohnt. Im Erdgeschoß brannte einer jener Trockenöfen, die bei feuchter Jahreszeit tagelang in den Räumen der Neubauten aufgestellt werden. Eine düstere Röte ging von dort aus, strahlte durch die Fensterscheiben, fiel auf die blätterlosen Sträucher und Bäume bis über die Straße. Der Raum selbst erschien wie das Innere eines Kamins. Die beiden gingen an den Fenstern vorbei, guckten neugierig hinein, und sie sahen vier Knaben um den Glühofen kauern und mit den geröteten Gesichtern emporschauen zu einem jungen Menschen, der mit dem Rücken gegen das Fenster stand und zu ihnen redete. „Agathon Geyer!“ flüsterte Bojesen erschrocken und aufs höchste erstaunt und Jeanette stieß einen leisen Schrei aus. Bojesen hatte ihn sofort erkannt an Gestalt und Bewegung. Als Agathon ein wenig seitwärts trat, konnten sie beide sein Profil sehen; gedankenvoll und entschlossen sah er ins Feuer. Die Knaben schienen ganz versunken zu sein, schienen Agathons Worte zu trinken, und es lag etwas Gläubiges und Ergebenes in ihren Gesichtern, vom ältesten, der etwa sechzehn Jahr alt war und die Kappe der Waisenhauszöglinge trug, bis zum jüngsten, der etwa dreizehn Jahre alt war.
„Wir wollen gehen,“ sagte Bojesen leise, „es ist kalt.“ Jeanette riß sich los und sagte im Weitergehen langsam: „Hat er nicht etwas von einem jungen Christus?“
„Ja, es ist etwas Außerordentliches in ihm. Aber Sie kennen ihn?“
Jeanette nickte. Sie blieb stehen, schaute hilflos umher und schien nachzusinnen. „Wohin? wohin?“ murmelte sie beklommen.
In diesem Augenblick ging eine in einen dicken Mantel vermummte Gestalt vorüber. Nur die Augen waren sichtbar, die boshaft funkelnd denen Bojesens begegneten. Bojesen kannte diese Augen und wußte, was er von der Begegnung zu halten habe. Er lächelte resigniert.
Jeanette eilte rasch weiter und Bojesen hatte Mühe, ihr zu folgen. Bald standen sie vor dem „siebenten Himmel“. Sie traten ein; schwüler Dunst schlug ihnen entgegen. Sie sahen ein wüstes Durcheinander im Schein der heruntergebrannten Lichter. Barbin schlief auf dem Billard; die Brünhilde schlief auf der Erde, die jungen Männer in Tricot schliefen auf dem Podium, Liebespaare saßen flüsternd oder stumpfsinnig in finstern Ecken, der Glühende allein war noch völlig wach. Er hockte an der Rampe mit weit von sich gestreckten Beinen, die Stirn leicht und nachlässig in die geründete Hand gestützt, den Blick verloren, mit stillem Triumph in der Ferne weilen lassend. Eine Schnapsflasche stand vor ihm auf dem Boden.
„Was sinnst du, Liebling der Götter?“ fragte Jeanette, seine Schulter leicht mit den Fingern berührend.
„Auf daß sie ewig fern und heißbegehrt,
Die Sterne, unerreichbar für mich bleiben.
Wer seinen Idealen jemals naht,
Kann sich getrost zu den Verlorenen schreiben.“
Jeanette lachte. „Solches Blech!“
Bojesen sah Jeanette an, die in großen Zügen Wein trank und sein Gesicht wurde finster.
Der Glühende stand auf und begann wieder zu recitieren:
Dann zog er eine Mundharmonika aus der Tasche und begann ein Menuett zu spielen. Jeanette erhob sich, faßte den Rock mit den Fingerspitzen beider Hände, so daß die seidnen Strümpfe sichtbar wurden, und tanzte: lächelnd, berückend. Bojesen stand auf, ging hinab vom Podium in die Dämmerung des übrigen Raumes, und stellte sich unter die Schläfer, betrachtete das jünglinghafte Gesicht Barbins, sah den aufgesperrten Mund des hageren Pianisten und die schnarchende Brünhilde. In ihm erwachte eine heiße Leidenschaft und das Menuett, wie er es jetzt vernahm, fast wie hinter Mauern, hätte ihn beinahe aufschluchzen lassen. Er glaubte kaum, daß ihn mit diesen Gefühlen der Erdboden würde tragen können, so schwer war seine Seele von ihnen.
Er wandte zufällig den Kopf nach rückwärts und sah Jeanette hinter sich stehen. Er war wie gelähmt. Sie blickte ihn verträumt und selbstvergessen an; ihre Augen waren jetzt von einem dunklen, undurchdringlichen Grün, und die roten Lippen gaben dem überaus bleichen Gesicht etwas von dem Wesen einer Fabelwelt, etwas Vampyrhaftes. Langsam nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn fort, hinaus in den finstern Gang und weiter.
Die strahlende Mittagssonne leuchtete, als Agathon von der Höhe herabstieg ins Dorf. Zu beiden Seiten des Wegs standen die Bäume im Schnee, spärlich behangen mit braunroten Blättern. Weithin leuchtete die Schneedecke der Landschaft, und bisweilen lag ein dunkles, mürbes Blatt auf diesem Weiß gleich einem großen Blutstropfen. Wenn Agathon durchs Dorf ging, grüßten ihn viele Christen, – scheu, fast ehrerbietig. Rasch hatte sich die Kunde verbreitet, daß Frau Jette durch seine wunderbare Berührung gesundet war, und alle suchten in seinem Gesicht, an seinem Wesen nach einem äußeren Zeichen dieser inneren Kraft. Er fühlte sich Herr über diese Kraft, gehoben, emporgetragen; alles was rein in ihm war, hatte sich mit diesen Gefühlen vereinigt, und alles Düstere und Kleinliche seiner Seele war abgestreift wie verbrauchtes Gewand. Er hatte ein altes Buch aufgefunden und fand darin die Geschichte des Sabbatai Zewi. Mit durstigen Augen las er sie. Wie wußte er gut zu scheiden unter dem Wahren und Erlogenen, dem Phantastischen und Tiefsinnigen! Wie sah er durch die Person des seltsamen Propheten in die Seelen der Menschen, die nicht dem beharrlichen Ernst sich beugen, nicht der beweglichen Stimme des mitleidenden Beraters, sondern dem prunk- und goldstrotzenden Worthelden, dem Halboffenbarer, dem, der mit ihrer Begeisterung spielt und dann achtlos über ihre Leichen schreitet. Aber noch fehlte an allen diesen Dingen der innere Bezug auf sein eigenes Thun, und er fand sich in der Welt mit einer Binde vor den Augen, des gütigen Lösers harrend. Es war nichts von Prophetentum oder Prophetenwollen in ihm. Das reiche innere Leben verlieh seinen Zügen etwas Übermenschliches, dem schwer jemand zu widerstehen vermochte. Mehr als sonst waren seine Nächte belebt von schwülen Bildern: nackte Frauen, die ihn neckten, die ihn zu sich zogen, ihn umarmten, ihn verlachten. Wie oft sprang er auf vom Bett und trat ans Fenster, um durch die Kälte sein Blut zur Ruhe zu bringen. Wie oft schaute er bittend in den schwarzen Nachthimmel mit den klaren Wintersternen und erwartete, daß das Gewölbe des Himmels sich zu einer freundlichen Vision öffne. Dann legte er sich wieder hin, und die Bilder kamen von Neuem, zudringlicher und feuriger. Dann suchte er seine Gedanken abzulenken, dachte an die Welt und an die Buntheit der Ereignisse in ihr, die nur wie ferner Marktlärm hereinklangen in das kleine Leben, das er selbst noch lebte.
Es gab zwei Wesen im Hause, die ihn oft und viel beschäftigten. Das eine war Frau Thella Hellmut, das andere Sema. Jene hatte das Schreckhafte, das sie anfangs für ihn gehabt, verloren. Doch ihre ganze Art hatte etwas von einem Irrlicht. Ruhelos, beständig redend, beständig geschäftig ging sie umher, und obwohl schon lange nichts mehr für sie zu thun war, obwohl sie nicht bezahlt wurde und auch gar kein Geld dazu dagewesen wäre, ging sie nicht. Das war ja schließlich zu erklären, denn bevor sie nicht zu andern Leuten gerufen wurde, lebte sie hier billig und „ein Maul mehr macht die Kille nicht arm“, sagte Gedalja. Oft saß sie dann wieder und sprach kein Wort, besonders wenn die Nacht im Nahen war. Dann quollen ihre Augen ein wenig hervor unter den entzündeten Lidern, sie lächelte in wahnsinniger Weise vor sich hin, nickte und atmete wie beglückt tief auf. Wenn sie dann jemand anredete, sagte sie leise und entschieden: „Stören Sie mich nicht! stören Sie meine Erinnerungen nicht!“ Agathon pflegte sie dann wohl genau anzublicken, und es wollte ihm scheinen, als ob diese Frau einmal sehr schön gewesen wäre: vielleicht nur einen Tag lang wahrhaft schön, in der Seele und am Körper, um sich dann wegzuwerfen für eine vorüberrauschende Stunde. So dachte Agathon oft über die Menschen, indem er sie in der Vergangenheit wirken, oder in einer bestimmten, von ihm selbst erfundenen Situation handeln sah.
Was Sema anbetrifft, so wußte Agathon nicht, was er mit ihm beginnen sollte. Mit ängstlicher Fürsorge achtete er auf alles, was Agathon that, suchte ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen, schleppte einen Stuhl herbei, wenn Agathon stand, brachte ihm den Löffel, der bei der Suppe fehlte, schlich in eine Ecke, um zu weinen, wenn ihm jener etwas abschlug, und als Gedalja und Frau Jette einmal in Agathons Abwesenheit ernstlich über seinen Lebensberuf beratschlagten, hörte Sema, immer bleicher werdend, zu und fing auf einmal ohne jede Veranlassung an, laut zu schluchzen. Es war mehr wie eifersüchtige Verliebtheit, es war eine völlige Anbetung, ein Sichverlieren und Sichauflösen, der Wunsch, nichts zu sein, und den vergötterten Freund wachsen zu sehen.
So vergingen Tage. Einmal wanderten beide in die Stadt, als ihnen am Frommüllersteg der Hund Faust begegnete, der einsam und schwermütig umherstreifte. Er gewahrte kaum Sema, als er mit kurzem, dumpfem Bellen seine Freude zu erkennen gab und sich so fest an den Knaben drängte, daß dieser beinahe gefallen wäre. Auch Sema schien erfreut und folgte dem großen Hund, der bald voraussprang, bald keuchend zurückkehrte und sich erst beruhigte, als die beiden vor Gudstikkers Haus angelangt waren. Es dämmerte schon; ein Sturmwind fegte über das Land, der Fluß rauschte bedrohlich. Agathon wollte sich verabschieden, aber Sema bat ihn herzlich und bewegt, mit hinaufzugehn. Frau Gudstikker schien etwas erstaunt; sie lachte in ihrer halb spöttischen, halb freundlichen Art und legte ein philosophisches Werk, in dem sie gelesen, zur Seite.
Hier war es nun, wo Sema wieder die Geige zur Hand nahm und spielte. Es schien nicht, als ob er sich dabei Mühe gäbe, als ob er dabei ein Können zeigen wolle. Er schien jetzt zu reden. Doch war etwas von jenen Träumen in seinem Spiel, in die unsere Seele das Kostbarste und Reinste legt, was sie selbst besitzt. Von dieser Stunde an war Sema etwas mehr, als der kleine, liebebedürftige Knabe in Agathons Augen. Niemals hatte er so deutlich wie in jenem engen, dunklen Zimmer gefühlt, wo das Glück wohnte, das er suchte. Er sah den klugen Kopf der alternden Frau sich gegen den bläulichen Abendhimmel abzeichnen, er sah das leuchtende, entflammte Gesicht des Spielers und den klaren, kräftigen Funken, der seine Augen verschönte, aber er sah außerdem noch mehr. Die Töne wurden gleichsam zu Fäden und die Fäden zu einem Schleier, der alle Vergangenheit bedeckte, und eine geisterhafte Hand schien darauf mit goldenen Lettern die Losungsworte der kommenden Zeit zu schreiben.
Als Sema aufgehört hatte zu spielen, öffnete sich plötzlich die Thüre, der kleine Wendelin schob sich herein und stürzte mit einem wahren Freudejauchzen auf seinen Freund zu. Es blieb unerklärlich, woher er kam und wie er von Semas Anwesenheit gewußt hatte.
Später gingen die drei zusammen fort, nachdem Agathon noch einige ironische Fragen Frau Gudstikkers beantwortet hatte. Aber er glaubte zu fühlen, daß diese Ironie nur der Mantel wäre, um eine Bewegung zu verbergen, deren sie sich schämte.
„Wo hast du das Spielen gelernt?“ fragte Agathon.
„Ich hab es nicht gelernt.“
„Aber du mußt doch die Noten gelernt haben.“
„Es sind keine Noten.“
„Nein, es sind keine Noten,“ betätigte Wendelin treuherzig.
„Wieso kannst du dann spielen?“
„Ich weiß es nicht.“
Agathon schüttelte den Kopf. „Es ist wunderbar,“ sagte er sinnend.
„Ich habe oft in der Waisenschule gespielt,“ erwiderte Sema schüchtern. „Dann hat es der Direktor verboten. Es regt die Knaben auf, sagte er, es macht sie rebellisch. Mein Spiel sei heidnisch, sagte er.“
„Ist er so streng?“
„Es ist schrecklich dort.“
„Furchtbar!“ rief Wendelin mit aufgerissenen Augen.
„Aber es sind doch viele Knaben dort.“
„Sie sind alle sehr unglücklich. Alle haben sie so bleiche Gesichter und müssen immer beten und beten.“
„Werden sie denn hart bestraft?“
„Ach nein, aber keiner liebt sie. Im Winter sind die Zimmer kalt. Das Essen ist auch nicht so viel. Und so früh muß man aufstehen. Die Lehrer haben so finstere Gesichter. Manchmal kommt Herr Porkes und examiniert. Das ist schrecklich.“
„Und das ist wahr?“
„O, sehr wahr.“
„Und der Kleine, war er auch dort?“
„Nein. Er ist ja Christ. Er läuft mir immer nach, – gerade wie ich dir,“ sagte Sema mit Thränen in den Augen. „Er bettelt und wohnt bei einer alten Frau. Ist es deine Großmutter, Wendl?“
„Groß –? ja, sie ist bö–ös!“
Ein langes Schweigen entstand. Plötzlich sagte Agathon: „Glaubst du an einen Gott, Sema?“
Der Knabe blickte bestürzt in den Abendhimmel. „Ich habe noch nicht darüber nachgedacht,“ erwiderte er bedächtig. „Meine Mutter spricht nie davon.“
„Hast du mich ein wenig lieb, Sema?“
Sema beugte sich herab, suchte Agathons Hand und küßte die Finger. Agathon erschrak. „Kannst du verschweigen, was ich dir sage? Und du auch Wendelin? Gut. Wir wollen die Waisenknaben herausführen aus diesem dunklen Haus. Was können die Lehrer machen, wenn sie alle zusammen fortgehen, eine Nacht lang? Am Morgen können sie ja wiederkommen. Ich will dir dann auch sagen, weshalb. O, ich wußte schon früher, daß sie unglücklich sein müssen. Kennst du den Ältesten der Knaben?“
„Ja, er heißt Martin Ohlik. Sie merken alle viel auf ihn, und er ist gescheit.“
„Kannst du es möglich machen, daß er in der Nacht kommt, wenn alle schlafen? Daß er zu uns kommt und mit uns spricht?“
„Ist das nicht gefährlich, Agathon?“
„Nein. Bei Tag ist es doch nicht möglich.“
„Nein, bei Tag werden sie bewacht.“
„Also, willst du es thun?“
„Ja, alles!“
„Gut. Erst wollen wir sehen, wo wir uns treffen. Im Freien ist es zu kalt. Ich weiß ein leeres Haus am Engelhardtspark. Dort wird seit acht Tagen ein Trockenofen gebrannt.“
Sema entfernte sich und kam nach einer Stunde mit Martin Ohlik wieder, der ein feuriger Bursche war und der seine Mission wie eine Lebensaufgabe empfand, die ihn bis in den Tod erfüllen könnte. In schwerer Finsternis wandelten Agathon und Sema nach Zirndorf, während Wendelin in einem Faß unter der Güterhalle Unterschlupf fand.
Es war eine solche Unordnung und vielleicht ahnungsvolle Unruhe im Geyerschen Hauswesen, daß am Morgen die Abwesenheit Agathons nur ganz flüchtig zur Sprache kam. Nur Sema wurde gezüchtigt. Aber er litt es stumm. Er schien einen Triumph dabei zu empfinden, für Agathon Schmerzen zu erdulden.
Die Juden im Dorf waren nicht gut zu sprechen auf die Geyerschen. Man redete schlimm über Elkan; nicht nur des verhafteten Enoch wegen, nicht nur des heidnischen Agathon wegen. Denn Elkan Geyer mußte ein wahnwitziger Mann sein, daß er solche Worte im Mund führen konnte; Elkan Geyer mußte etwas Unauslöschliches in der Brust tragen, daß er tagelang in den Wirtshäusern saß, sein Geschäft gehen ließ, wie es ging und die Frau für sieben Mäuler allein sorgen ließ. Elkan mußte ein verkommener Mann sein, daß er sich dem Schnapsgenuß ergab: ein Jude, der Schnaps trank! Niemand hatte je so etwas gehört.
Währenddem geschahen auch in der Welt allerlei Dinge, die besser nicht geschehen wären. Es waren da Gärungen, die das Problem mit den Juden an die Oberfläche der brodelnden Zeit brachte, und man sprach allenthalben von einer Juden-„Frage“, als ob das eine Frage wäre, die zu beantworten ist. In Rußland und Österreich trieben sie es schlimm, und in Deutschland glaubte sich ein oder der andere Schuhmacher müßiger Weise zum Messias geboren und erhob seine giftschwärende Zunge gegen den mehrbesitzenden Judenmann. Dabei schrieen die am Ruder Zeter und Mordio gegen ein rotes oder schwarzes Fähnchen, das in irgend einem Winkel auftauchte, die Waffe forderte Menschen und immer mehr Menschen, so daß sogar der geduldige Bauer den Kopf zu schütteln begann und an ein gemeinsames Vorgehen seines Standes dachte. In den Künsten schrieen sie auch nach dem Erlöser, dem erwählten Großen, und wie dergleichen Redewendungen fließen, und jeder, der etwa die Hosen auszog, oder Pflanzen statt des Fleisches aß oder auf peinliche Art die Armut der Armen bewies, war ein Genie. Es war eine große Zeit, in der es wohl wert erschien, zu leben. Thron und Hütte waren in gleicher Weise von dem Bewußtsein persönlicher Machtlosigkeit durchdrungen und vor lauter Stimmen hörte niemand eine Stimme.
Wenn Agathon im Kreis seiner Angehörigen um sich blickte, waren es die kleineren Geschwister, die sehr gedrückt schienen von all den Vorgängen, bei denen ihnen Ursache und Urteil fehlte. Da war die kleine Mirjam. Sie war ein Mädchen von blühender, dunkler Schönheit, von einfachem, nachdenksamem Wesen, und sie hatte den herrlichsten Mund, der sich denken läßt. Darin lag eine magdhafte Ergebenheit, etwas von jener biblischen Treue, wie sie in der Geschichte des Jephta eine Rolle spielt. Und doch erwuchs sie schon langsam zu jenem Hausfrauentypus, der, nüchtern und resigniert, in allem, was das weite Leben betrifft, stumpf und tot ist und all sein Ideal im Geld und im Reinwaschen der Dielen sucht. Gedalja ging eines Tages über Land und kam nicht wieder. Er ging hausieren und wollte offenbar dem Hausstand einen Brotesser beseitigen. Oftmals sehnte sich Agathon nach ihm und vermutete nicht, ihn unter so tragischen Umständen wiedersehen zu müssen.
Agathon gab an einem der späten Novembertage eine überraschende Probe von der Macht, die er im Innern fühlte. Die Estrichsche Ziegelei wurde vergrößert. Trockenhäuser sollten gebaut werden und der Grund wurde bis an die Grenze des Geyerschen Anwesens ausgegraben. Als dann die Mauern aufgeführt wurden, nahmen die Arbeiter nicht die geringste Rücksicht auf den Garten, sondern demolierten den Zaun, warfen die schadhaften Ziegelsteine herüber, und als Frau Jette eines Morgens mit gellendem Geschimpfe unter sie fuhr, wurde sie ausgelacht, und nun entstand unter den Arbeitern ein förmlicher Feldzug gegen die jüdische Familie und jeder Angriff von Frau Jette wurde mit Hohn und Gelächter begrüßt, mit Spott und Haßreden gegen das Judenpack. Sie ging zu Estrich selbst, aber das half so gut wie nichts und sie schien gänzlich verzweifelt, fast mehr aus Eigensinn, als aus Sorge um den Besitz. Da trat eines Morgens, als sie sich wieder zur Zielscheibe des Spotts machte und blindlings drauflos schrie, Agathon an ihre Seite, verschloß ihr den Mund mit der Hand, während die Maurer mit cynischer Neugier oder mit verstecktem Ernst ihm ins Gesicht sahen. Er trat zu einem jungen Menschen, der beim Kalklöschen beschäftigt war und fragte ihn: „Hast du eine Mutter daheim?“ Das Du und Agathons fester, fast trauriger Blick verwirrte den Andern, der unter den Lärmendsten gewesen war. Er schlug die Augen nieder und sagte nichts. Seine Kameraden kicherten. „So sag doch,“ fuhr Agathon fort, „mir darfst du’s schon sagen.“ Der Maurer lachte und wußte nicht, wohin er den Blick wenden sollte. Endlich schüttelte er in unbestimmter Weise den Kopf. „Aber wenn du eine hättest, würdest du sie doch nicht beschimpfen lassen,“ sagte Agathon, eindringlich und gütig lächelnd; „nimm mal an, du hast daheim einen Garten, und der Garten ist fast alles, was ihr habt, denk’ dir das aus, und es kommen solche Leute, die sich ein Vergnügen daraus machen, den Garten zu ruinieren, den Zaun umzureißen, die Beete mit Steinen zu bewerfen, auf denen ihr im Sommer euer Gemüs’ wachsen laßt, und davon habt ihr viele Tage zu essen, mußt du wissen. Ich glaube, du thätst unmäßig zornig werden, wie?“ Und Agathon legte seine Hand auf die schwielige Hand des Maurers, der betreten die Zähne zeigte und mit einigen Zweigen des verdorrten Buschwerks spielte. Die andern hatten alles gehört und waren nach und nach still geworden. Doch war es ein sehr mißtrauisches Schweigen. Deshalb trat Agathon zu dem nächsten, der ein älterer Mann war mit mächtigem Bart. „Denkst du, Herr Gevatter, ich bin reicher als du?“ fragte er kühn. „Sieh doch her, was ich am Leib hab! Und mein Hemd, ob’s von besserm Stoff ist, als deines. Im Gegenteil, deins ist von besserem Stoff, der Stoff kostet mehr, das kannst du getrost glauben.“ Damit zog er seinen Rock aus und hielt dem Alten seinen Hemdärmel zum Anfühlen hin, was dieser auch that, fast mechanisch und dabei nachdenklich aus seiner Pfeife paffte und dem jungen Mann, der so unbekümmert vor ihm stand, prüfend ins Gesicht sah. Jetzt lachten die andern wieder, aber diesmal gutmütig, einige murmelten sogar Beifall. „Ihr denkt wohl, es giebt lauter reiche Juden?“ fragte Agathon, sich aufs Geratewohl an ein paar andere wendend und wieder in seinen Rock schlüpfend. „Das ist nicht wahr. Mein Vater muß sich mehr plagen wie ihr und hat weniger Lohn. Da ist kein Baumeister, der ihm am Samstag was auszahlt. Also gelt, das thut ihr nicht wieder mit den Steinen.“ Damit nickte er freundlich und ging langsam ins Haus. „A sakrischer Kerl,“ sagte der alte Maurer paffend und sah ihm nach. „’s Dunerwetter soll mi derschlog’n, aber öitz maan i, mer thenna die Staaner raus.“
So geschah es. Am Abend waren die Steine aus dem Garten verschwunden.
Frau Jette stand im Flur, als Agathon zurückkam und blickte ihn starr an, nicht fähig, ein Wort hervorzubringen. Sie standen da in einer dunklen Ecke und ehe sichs Agathon versah, war sie auf einen Holzblock gesunken und schluchzte herzbrechend. „Ach Aga!“ flüsterte sie, „ach Aga!“ Er schwieg und blickte trüb herunter auf ihre kümmerliche Gestalt; er fühlte wohl, was sie beweinte, und daß es sich nicht auf diesen Tag und nicht auf die letztvergangenen Tage bezog.
Gegen Abend, bei klarem Himmel und hindämmerndem Untergangsrot der Sonne ging Agathon fort. Als er in die Nähe von Frau Olifats Haus kam, sah er Stefan Gudstikker aus der Gartenthüre kommen, hastig über die Straße eilen und mit schnellen Schritten in der Richtung der Ziegelei verschwinden. Agathon erschrak, und obwohl er sonst nicht unaufgefordert zu Monika kam, entschloß er sich heute doch dazu. Er klopfte an und auf ein leises Herein öffnete er die Thür und sah sie allein im Zimmer, am Fenster sitzen, in der Dämmerung. Ihre Mutter und Schwester waren wie gewöhnlich um diese Zeit in der Stadt. Monika erwiderte freundlich Agathons Gruß und drückte seine Hand.
„Bist du bös, daß ich gekommen bin?“ fragte Agathon beklommen.
„Ich? nein, ich freue mich. Immer bin ich froh, dich zu sehen, Agathon.“
„Wirklich?“
Monika nickte eifrig, dann sah sie wieder in verlorener Träumerei auf die Felder. „Ich muß dir etwas vorlesen,“ sagte sie nach einer Weile.
Während sie das Papier aus der Tasche zog und entfaltete, sagte Agathon: „Du spielst ja gar nicht mehr mit deiner Puppe?“
„O nein,“ erwiderte sie überrascht lächelnd, – wie erstaunt darüber, daß sie je mit Puppen zu spielen vermocht hatte.
„Du weißt doch, daß Gudstikker verlobt ist,“ platzt Agathon auf einmal heraus.
„Ja das weiß ich,“ entgegnete sie, wiederum lächelnd: ruhig und wissend. „Aber höre zu:
Wir küssen uns bei Kerzenlicht,
Sonst sehn wir uns vor Thränen nicht.
Sonst ist uns gar zu still die Stund’,
Zu schweigsam der beklommene Mund.
Wir küssen uns in finsterer Nacht,
Weil sie die Zukunft schöner macht.
Wir sehn das goldne Haus am Meer
Von Schätzen voll, von Sorgen leer.
Was spricht der Vogel Zeitvorbei?
Daß alles dies vergänglich sei?
Was spricht die Mutter Zweifelschwer?
Ein Schattenbild das Haus am Meer?
Der Vogel hat die Nacht vertrieben,
Die Mutter ist bei uns geblieben.
Den blassen Traum an jener Wand
Hat sie verblasen und verbrannt.“
Es entstand eine lange Pause.
„Wie konntest du es denn lesen,“ fragte Agathon endlich bedrückt, „da es doch schon dunkel ist?“
„Ich kenne es auswendig,“ flüsterte Monika, ganz in sich versunken. „Es ist schön, es ist schöner als schön.“
„Aber weshalb nimmst du denn das Papier, wenn du es auswendig weißt? Nur damit du es sehen kannst? Nur damit du die Schrift sehen kannst? O wie rot wirst du, Monika! Du bist glühend rot.“ Agathons Stimme zitterte. „Monika!“ rief er dann.
„Was?“
„Es ist ein unwahres Gedicht. Es ist schön, aber unwahr. Alles was darin steht ist schön, und nur, weil es schön ist, steht’s da, aber es ist erlogen. Ich weiß, wer es gemacht hat. Aber er ist kein wahrhaftiger Mensch. Nur ein wahrhafter Mensch kann wirklich ein Kunstwerk machen. Ich meine nicht so, daß er im Leben nicht lügen darf, aber mit seiner Seele darf er nicht spielen. Er aber spielt, Monika. Verzeih’ mir, daß ich es gesagt habe.“
Monika hatte den Freund noch nie so erregt gesehen, und es war auch, als ob ein anderer, ein offenbarender Mund ihr das zugerufen hätte. Als er fort war, saß sie im Finstern bis ihre Mutter kam.
Agathon traf Stefan Gudstikker wie schon einmal, unter einem Laternchen am Ziegeleigebäude stehend. Nach einigem Hin- und Herreden lud er Agathon ein, mit ihm ins Haus zu kommen. Agathon folgte ihm. Der alte Estrich, brummig und knurrig, wenn er liebenswürdig war, beinahe komisch, erfüllte das Zimmer mit dem Rauch seiner Pfeife und ging bald fort. Käthe erschien still, scheu und gedrückt. Sie hatte bisweilen ein ergebenes Lächeln für ihren Verlobten, jedes Stirnrunzeln von ihm schien sie zu beeinflussen, jedem halben Wort schien sie nachzusinnen. Ihr Wesen war fast zu kindlich, bisweilen ein wenig dumm. Sicherlich war sie über die wichtigsten Dinge des Lebens noch im Unklaren. Gudstikker strich ihr oft über die Haare; er schien sich der grenzenlosen Macht über das einfache Kind zu freuen; ja, er schien damit zu prahlen. Oft wenn sie etwas sagte, lachte Gudstikker, – es war nur ein Stoß, wie der Ton aus einer Trompete, und Agathon dachte wie in einer Erleuchtung: er hat ihr den Glauben geraubt. Was hat er ihr dafür gegeben? Seine eigene Person. Jeder Tag lehrte Agathon mit unabweisbarer Stimme das Leben wie es wirklich war, wie es nicht aus einem göttlichen Wesen floß, sondern aus dunklen, unterirdischen Quellen, vielgestaltig, mit Trübsand vermischt, nur selten Gold im Grunde führend, selten im geraden Strom, klar und kraftvoll rauschend.
Sie sprachen von dem Mord. Käthe fand es gräßlich, daß man den Thäter nicht erwischt habe. Sie fürchte sich jede Nacht.
Agathon lächelte seltsam. „Vielleicht ist es kein so schrecklicher Mensch, Fräulein Käthe. Vielleicht betrachtet er es wie eine große That. Vielleicht hat er sich dadurch befreit von allem Schmutz seiner Seele. Und er fühlt auch gar keine Gewissensbisse, im Gegenteil. Er hat sich vielleicht geopfert, für ein ganzes Volk, nicht? Ist denn ein solcher Mord wirklich so schrecklich? Es giebt auch keine böse Vergeltung für einen so guten Mord. Das ist unmöglich.“
Gudstikker sprang auf und blickte Agathon durchdringend an. Dann schüttelte er den Kopf, lachte, ging ans Fenster. Die Scheiben waren mit Eisblumen bemalt, und das Mondlicht zitterte daran. „Aber was für ein Mensch muß das gewesen sein!“ rief er aus. „Ein Ungeheuer!“
„Nein, vielleicht nur ein Mensch ohne ‚Nerven‘. Giebt es nicht solche Menschen, die wie ein Stück Ackererde sind?“
Plötzlich hörte man draußen das ängstliche und fortgesetzte Miauen einer Katze. Alle lauschten. Gudstikker und Agathon gingen hinaus.
Der Mond stand hoch und rein am Himmel. Der Schnee blitzte und funkelte weit umher. Auf den Feldern lag der Rauhreif, schimmernd wie Silberstaub. Vor dem Thor lag ein Kätzchen in seinem Blut. Gudstikker kniete hin und streichelte das Tier zärtlich, redete ihm zu wie einem kranken Kind. Dann gebärdete er sich wie rasend, drohte den Kerl zu erdrosseln und schien sich gar nicht mehr beruhigen zu können. Agathon wollte ihn trösten, obwohl er etwas Gekünsteltes in diesem Zorn fühlte, als er einen Schatten gewahrte und Käthe neben sich sah. Sie hatte einen Shawl um den Kopf. Ihre Lippen, deren Rot durch eine scharfe und runde Linie von der blassen Haut abgegrenzt war, waren ein wenig geöffnet. „Ist das Kätzchen tot?“ fragte sie.
Gudstikker nickte.
„Wer hat es gethan? Vielleicht der Vater, Stefan. Er stellt immer den Katzen nach. Ich hab’ das alles vergangene Nacht geträumt. Kannst du’s glauben? Auch Herrn Agathon hab’ ich gesehn.“ Sie drückte flüchtig Agathons Hand, der sie beständig ansah.
„Dein Vater, sagst du!“ fuhr Gudstikker auf. „Weißt du, daß es mir jetzt zu bunt wird? Weißt du’s nicht. Nun, dann will ich dir’s sagen. Ich bin mir zu gut dazu. So!“
Wieder fühlte Agathon das Künstliche dieses Wutausbruches und fragte sich vergeblich nach Gründen.
„Stefan,“ flüsterte Käthe und legte ihre beiden Hände um seinen Arm, „ich will thun, was du immer von mir verlangt hast. Ich will mit dir fliehn, wohin du willst.“
Es entstand eine peinliche Pause. „Es ist kalt, Herzchen,“ erwiderte Gudstikker endlich und streichelte tröstend ihre Hand. „Geh nur und leg dich schlafen. Du wirst ja krank!“
Bald darauf gingen Agathon und Gudstikker zusammen gegen den Pfarrhof, wo dieser wohnte. „Sehen Sie,“ sagte Gudstikker, „da haben Sie ein Opfer unserer Kultur. In dem Mädchen steckt ein prachtvoller Kern. Aber sie ist gänzlich unsinnlich. Ja, das erscheint ihr schrecklich, was ein Mann unter Liebe versteht. So sind viele. Ich habe vielleicht hundert Mädchen kennen gelernt, auch durch andere, die dem Mann nur aus Mitleid gestattet haben, wozu sie die Natur drängen sollte. Es ist eine Krankheit heutzutage. Sowie ein Weib an der Kultur teilnimmt, wird sie blutlos.“
Agathon hörte gespannt und beunruhigt zu. In seinem stillen Sinn dachte er, Gudstikker wolle sich in einen Rausch reden. Schließlich sagte er ihm etwas hastig gute Nacht.
Als er heimging, hatte er eine seltsame Hallucination. Aus einem dunklen Thorweg trat Käthe Estrich auf ihn zu und hob flehend die Hände. Als er weiterging und sich die Erscheinung vor seinen Blicken in den Winternebel auflöste, dachte er mit hilfsbereitem Herzen an sie. Wie groß war sein Erstaunen und sein Schrecken, als er sie auf einmal wirklich sah! Raschen Schritts kam sie und lächelte matt, als sie vor ihm stehen blieb. Sie wolle zu Stefan, sagte sie. Und auf sein Gegenbitten schüttelte sie unentschlossen den Kopf.
„Was wollen Sie denn bei ihm?“
„Ich weiß nicht. Ich will ihn nur sehen. Wenn ich noch einmal in sein Gesicht sehe, weiß ich alles.“
„Was? Was denn?“ Agathon zitterte.
„Ach, – nichts.“
In diesem Augenblick ging viel vor in Agathons Seele. Er sah dieses zarte Geschöpf vor sich, wie sie in jeder Stunde mehr hinwelkte. Er sah die kleinen, mondlichtübergossenen Häuser, die dunkle Unendlichkeit des Nachthimmels, zage Sterne, glänzende Fensterscheiben, – dies alles im Gegensatz zu der komischen Unruhe der Menschen, ihrer Lust an der Lüge, ihrer Furcht vor dem Kampf, und zum erstenmal sprach heute die Natur ein lautes Wort zu ihm, und er konnte die gärende Inbrunst seiner Seele nicht mehr mißverstehen. Da stand nun dies stille, wortkarge Geschöpf vor ihm mit dem treuherzigen Blick, dem hilflosen Zucken um die Lippen und sie sah ihn ratlos an, als Agathon wie erleuchtet lächelte.
„Sie sind immer so traurig, Fräulein Käthe,“ sagte er.
Sie nickte.
„Sie müssen sich einmal recht von Herzen freuen.“
„Aber wie kann ich das,“ erwiderte sie seufzend.
„Ich kann es, ich will Sie froh machen,“ sagte Agathon.
Sie blickte ihn ungläubig an, als sie auf dem knarrenden Schnee weitergingen. Agathon mußte jetzt wunderlicherweise an Gudstikkers ewig-schmutzige Fingernägel denken, und er raisonnierte, daß ein Mensch mit schmutzigen Nägeln niemals ein solches Mädchen küssen dürfte, selbst wenn er ein Dichter ist, den es nach Reinheit und Verehrung dürstet. Er dachte an Monika und eine Glut stieg in ihm auf, daß sein Blick förmlich verhängt wurde. Dann liefen seine Gedanken weit fort zu Sabbatai Zewi und seinen Freudenfesten, und er zweifelte nicht an der Ehrlichkeit des Propheten, der das Leben in so großen Linien gelebt und alle Mitlebenden beglückt hatte.
„Ein Wort, Fräulein Käthe, – vertrauen Sie mir?“
„Sie sind so merkwürdig, Agathon. Man muß Ihnen vertrauen, auch wenn man nicht will.“
„Und Sie wollen alles thun, – von jetzt bis Mitternacht, alles was ich will. Es ist nichts Böses.“
„Aber es ist spät.“
„Eben hat es acht Uhr geschlagen.“
„Was soll ich denn thun?“
„Nichts als das: in unserem Hof steht ein Schlitten. Da sollen Sie sich hineinsetzen. Ich fahre Sie.“
„Jetzt? Um Gotteswillen, jetzt! Ich kann nicht. Meine Mutter läßt mich nicht fort.“
„Ach, wie das Aschenbrödel sind Sie! Aber heute dürfen Sie den Prinzen sehn.“
„Den Prinzen?“
„Gewiß. Ich ziehe meine Schlittschuhe an und wir fahren bis zum See bei Weinzierlein.“
„Bis –? Nein Agathon, das ist zu weit.“
„Jetzt dürfen Sie nicht kleinlich und nicht furchtsam sein. Ich hab’ auch noch ein dickeres Tuch für Sie und einen Mantel meiner Mutter.“
„Sie sind so jung, Agathon, und das vergißt man ganz, wenn man Sie hört.“
Eine Viertelstunde später flog der Schlitten die Landstraße hinaus und Agathon auf Stahlschuhen hinterher. Rechts lag der Wald, dann lag er links; das Mondlicht wohnte in ihm, die braunen Blätter glänzten silbern, die Birkenrinde strahlte wie Gold, der Schnee lag wie ein faltenloses, frischgewaschenes Tuch da, der Himmel wölbte sich in stillem, matten, kalten Licht und der Frieden, der mit den beiden gleichsam Seite an Seite zog, breitete sich aus, herrlich und rein. „Sehen Sie nur die Elfen,“ sagte Agathon, „sie freuen sich, daß wir kommen. Wenn wir auf dem See sind, werden sie Leuchtfeuer anzünden, Bewillkommnungsfeuer. Die Irrlichter zeigen uns den Weg. Sehen Sie dort! Ein Irrlicht, blau und grün –! Ist Ihnen warm? Das ist gut. Mir ist auch warm. Das nächste Mal müssen wir Mirjam mitnehmen. Sie kann lachen, daß es meilenweit hinausjubelt, besonders wenn es so kalt ist, wie heute.“
„Wer ist Mirjam?“
„Meine kleine Schwester.“
„Ein schöner Name.“
„Er ist hebräisch und heißt: die Widerspenstige.“
„So?“
„Ja. Auch Maria heißt die Widerspenstige. Aber Mirjam ist gut und lustig, und sie stellt Fragen wie eine alte Frau.“
Dies alles wurde im vollen Lauf hin- und hergesprochen, auf der klirrenden Schneebahn. Und endlich kam der See. Zauberhaft! Glattgefroren war die weite, breite Fläche, Schimmer auf Schimmer, golden und silbern, schwebte daher, tausend hellblitzende Funken besäten den Schlittenpfad und Agathon flog hin wie der Wind, wie ein Pfeil! „Jetzt beginnt das Märchen,“ rief er aus. „Jetzt kommen Feen und Geister.“
„Und der Prinz?“
„Der kommt zuletzt.“
„Nein, zuerst, – wie’s versprochen war!“
„Haia! juchhaia!
Mein Waidruf schallt.
Auf! Mir zur Frohnde,
Wiesen und Wald!
Haia, juchhaia!
Elfisches Reich,
Wo ist die Königin,
Blitzend und bleich.“
Vom Ufer erhob sich die Gnomenschar, lachend, echoend, tanzte mit weiten Sprüngen um das Gefährt. „Mir ist heiß!“ rief Käthe lachend und schlug voll Entzücken die Hände zusammen, denn die Landschaft war zum Zauberreich geworden. Man sah Lichter blitzen wie in einem Saal; bisweilen tönte es aus der Ferne wie Gesang von hellen Mädchenstimmen, bisweilen wie Glockenklang; Ritter und Knappen und edle Damen stiegen aus der Tiefe zum Tanz gekleidet; denn hier war einst eine mächtige Burg versunken. Käthes Blut floß rasch und stürmisch. Sie jubelte und klatschte in die Hände wie ein Kind. Sie erinnerte sich nicht, je so glücklich gewesen zu sein, sie war wie berauscht und Agathon lächelte sie an, seltsam, träumerisch. Wie ein Sturm fuhr die Sehnsucht in seine Brust, ein ganzes Land, ein ganzes Volk so glücklich zu machen. Es ist eine dunkle Zeit, dachte Agathon, und wer ihr die Freude bringt, kommt mit einer flammenden Fackel zu ihr.
Heimwärts flog der Schlitten, dem sinkenden Mond entgegen.
In heiterer Stimmung verließ Bojesen seine Wohnung an der Luisenstraße, und der kalte, neblige Dezembermorgen trübte nicht die Klarheit seines Innern. Da begegnete ihm ein Bote und händigte ihm ein Schreiben ein. Er riß den Brief auf und las:
Kommen Sie nicht wieder. Lassen Sie mir die Freiheit ganz, die ich einmal erwählt habe. Ich könnte ja fordern, aber ich bitte nur. Fragen Sie nicht, warum. Haben Sie nie bemerkt, daß, wenn zwei Schicksale sich verketten, der Weg zum Glück doppelt so schmal wird? Das Leben ist so klein und kann nicht durch einen großen Sinn regiert werden. Können Sie sich denken, daß man nicht mehr an all die schönen Worte glaubt, von Freiheit u. s. w. Sondern nur an das taube, blinde Ungefähr –? Der eine sucht sein Schicksal, den andern findet es. Was rede ich da! Gestern traf ich meinen Großvater, und ich will nicht sagen, in welcher Verfassung. Kommen Sie nicht wieder!
Bojesen war nicht genug Frauenkenner, um die matte Energie dieses gequälten Schreibens zu durchschauen. Er nahm sich den Brief zu Herzen, sah auf seine Uhr, kehrte hastig in seine Wohnung zurück, setzte sich an den Schreibtisch, kaute einige Zeit beklommen am Federhalter und begann:
Ich dachte eine starke Frau zu finden und fand eine schwache. Oder wie ist es? Was soll ich davon denken? Bedeutet das die Schrankenlosigkeit der Leidenschaft, von der du geträumt hast? Ist es die gewöhnliche, banale Roman-Reue? Muß ich das glauben? Nie. Das Schicksal ist ungewöhnlich mit uns verfahren, und wir müssen uns ungewöhnlich an ihm revanchieren. Ich sehe dich noch in deiner Glut, in deinem Lächeln, in deiner Hinreißendheit. Und nun?
So weit war er gekommen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Zurückschauend gewahrte er seine Gattin und zuckte zusammen. „Erich, du schreibst an eine Frau,“ sagte sie langsam und betont.
„Fanny, du phantasierst.“
„Erich, du schreibst an eine Frau.“ Sie war leichenblaß und hatte mit der Hand krampfhaft die Stuhllehne gefaßt.
In einem solchen Fall erfindet ein Mann entweder eine zärtliche Lüge, oder er wird brutal. Bojesen lachte, schlug das angefangene Schreiben zusammen und zerfetzte es. Dann setzte er seinen Hut auf, um zu gehen.
„Schön,“ sagte Fanny Bojesen, „damit bekennst du dich ja schuldig. Ich verbittere dir das Leben. Ich bin nüchtern und kalt. Ich bin verständnislos, ich bin dumm. Ich bin ungeduldig und nervös. Das hast du doch alles geschrieben dieser, – dieser Dame?“
„Du hast sonderbare Vorstellungen von einem Liebesbrief, mein Schatz.“
„Nun ja, freilich, Erich, ich kenne sie nicht, diese Frau, aber sie wird dich zu Grund richten. Ich will mich nicht vor dich hinstellen mit Verzweiflungsausbrüchen. Ich bin mir zu gut dazu, mit einem Wort, obwohl ich zu vielen Dingen nicht zu gut bin, wie das einmal geht. Aber ich will nur auf das Ende warten.“
„Aber du phantasierst ja, du träumst,“ rief Bojesen, erschrocken und gespannt.
„Wir schlafen immer noch Bett an Bett und auch du träumst.“
„Was soll das heißen?“
„Ich kann nachts nicht schlafen, und ich höre dich, wenn du überhaupt zu Hause schläfst. Die Ampel bescheint dein Gesicht und mit diesem Gesicht bist du dann bei ihr, verstehst du?“
Bojesen nagte an seinen Lippen. Er ging und war beschämt. Er kaufte Cigarren und begann zu rauchen, was er sonst des Vormittags nie zu thun pflegte. In den düsteren Korridoren des Schulgebäudes traf er die Herren, die, das akademische Viertel benutzend, gravitätisch oder tiefsinnig umherstolzierten, die Hand auf dem Rücken oder zwischen dem zweiten und dritten Knopf der Rockbrust. Es ist nicht leicht zu sagen, worüber sie nachdachten, und es ist unwahrscheinlich anzunehmen, daß sie über des Lebens Alltäglichkeiten nachdachten. Denn so wichtige Herren, wie sie waren, mußten sie auch über Gegenstände versonnen sein, die dem Gepräge ihrer Persönlichkeit entsprechen konnten. Doktor Rosenblatt (es ist die Eigentümlichkeit und das Martyrium dieses Standes, daß er sich stets mit einem imaginären Doktor- oder Professortitel schmücken muß, damit die Würde des Standes in den Augen der profanen Welt gewinne), Doktor Rosenblatt also hatte, um seinerseits eine Ausnahme zu dokumentiren, beide Hände auf dem Rücken. Er pflegte jedes Klassenzimmer mit der Konstatierung der Thatsache zu betreten, daß es stinke. Er pflegte dies in einem heftigen Schrei zu behaupten und pflegte dann die Fenster aufzureißen. Zugegeben, daß dies eine Unklugheit von ihm war, ein Pfeil, der auf ihn selbst zurückgehen konnte, so ist doch andererseits anzuerkennen, daß diese kategorische Erklärung von seiten des Trefflichen wiederum als ein Beweis seines fortgeschrittenen Reinlichkeitssinnes gelten konnte. Dieses Zeugnis war zum Exempel Herrn Professor Schachno mit nichten zu erteilen. Denn auf den glänzenden Flächen seines Rockes wäre es der Analyse Bojesens leicht gewesen, den Speisezettel des Ehrenwerten für die Frist des abgelaufenen Semesters zu geben. Aber Professor Schachno war ein Stoiker; dies erklärt alles; ein liebenswürdiger, standesbewußter Mann, der sein Erziehungsideal, die Strafarbeit, stets in Gedanken zu vervollkommnen bestrebt war.
Bojesen sah die finstern Mienen seiner Kollegen nicht, oder gab vor, sie nicht zu sehen. Doch fühlte er wohl, daß etwas in der Luft lag. Als er später eine der unteren Klassen in den Anfangsgründen der anorganischen Chemie unterrichtete, bemerkte er, daß er innerlich mit ganz anderen Dingen so intensiv beschäftigt war, daß Scenen und Bilder in seinem Geist entstanden, und sein Bewußtsein bei dem, was er lehrte, ganz verdunkelt war.
Nach Ablauf der Stunde kam der Pedell und bat ihn zum Rektor. Bojesen lächelte, entließ seine Schüler, schritt bedächtig die Stufen hinan und stand alsbald vor dem Herrscher des Schulreichs. Und nicht nur vor ihm allein. Fünf der ältesten Herren bildeten gleichsam seine Garde, – eine Hochburg unbestechlicher Rechtlichkeit, unwandelbarer Sittlichkeit, unerschütterlichen Ernstes.
„Herr Bojesen,“ begann der Rektor feierlich mit einer fast unmerklichen Mischung von Sarkasmus und Schadenfreude, „Sie sind uns als Kollege lieb gewesen und als Lehrer wertvoll. Wir konnten uns täglich von der strengen Thatkraft überzeugen, mit der Sie Ihr Pensum durchführten, – glaubten wir. Wir glaubten, in Ihnen dereinst eine stolze Säule unserer Anstalt zu besitzen, einen verehrten und geachteten Mitbürger, einen tadellosen Erzieher. Vaterlandsliebe, einwandsfreier, sittlicher Wandel, Religiosität, das sind Orden, die die Brust eines Beraters der Jugend mehr schmücken, als königliche Orden. Wir müssen bekennen, daß wir uns in Ihnen getäuscht haben.“
Ein undefinierbares Murmeln der Garde begleitete diese Worte, die an Hoheit, Einsicht und Milde als gleich vollendet bezeichnet werden müssen.
„Was wollen Sie damit sagen, Herr Rektor?“ entgegnete Bojesen ruhig.
„Damit soll gesagt sein, daß Sie, wie unsere gewissenhaften Nachforschungen zweifellos ergeben haben, in Bezug auf Ihre moralische Führung nicht geeignet sind, einen günstigen Einfluß auf die Schüler zu üben, Herr Bojesen, – kurz, daß Sie sich auf Abwegen befinden. Als Mensch kommt es mir lediglich zu, Sie zu warnen, Sie kraft meines Alters aus tiefstem Herzen zu warnen. Als Vorstand dieses Instituts dagegen ist es meine Pflicht, Sie zu bitten, von Ihrer Lehrtätigkeit Abstand nehmen zu wollen, bis wir die Sachlage an das Ministerium berichtet und weiteren Bescheid empfangen haben.“
Bojesens Wangen und Stirn röteten sich und seine Hand zitterte. Doch der Rektor richtete sich straff empor und fuhr fort:
„Verteidigen Sie sich nicht. Suchen Sie uns nicht zu überzeugen, wovon es auch sei. Wir waren vorsichtig in Bezug auf unsere Schritte. Sie verkehren in einer verrufenen Spelunke mit verrufenen Subjekten und verrufenen Frauenzimmern. Es ist schändlich und für mich als Haupt einer Anstalt, an deren Ruf kein Flecken haftet, deren pädagogischer Ruhm weit über die Grenzen unseres engeren Vaterlandes gedrungen ist, ich sage, es ist beschämend für mich, einen solchen Vorfall so deutlich konstatieren zu müssen. Aber Sie zwingen mich dazu, Herr. Ihr unverzeihlicher Fehltritt fällt um so schwerer ins Gewicht, als Sie verehelicht sind und trotzdem nicht Ehrgefühl genug besaßen, sich als Pädagog zu zügeln. Aber nicht einmal das allein war maßgebend für mich. Nur aus wenigen Andeutungen, die sich scharf in den Geist jugendlicher Zuhörer graben können, das werden Sie selbst gut genug wissen, ist erwiesen, daß Sie es im Unterricht, – meine Herren geben Sie wohl acht, aber mäßigen Sie Ihre edle Entrüstung, daß Sie es sogar nicht verschmähten, skeptische Worte fallen zu lassen, die die Religiosität der Schüler gefährden konnten, und daß Sie so auf dem verbrecherischen Wege sind, die scheußliche Zeitkrankheit des Atheismus und der Pietätlosigkeit mitverbreiten zu helfen. Wir wissen, daß Sie sich mit dem dimittirten Schüler Agathon Geyer auch nach seinem Vergehen noch liebevoll befaßt haben, und jetzt wird mir auch vieles von der unerhörten That dieses unglückseligen und irregeleiteten Jünglings klar. Und nun noch zur schwersten Anklage, der gegenüber nichts, aber auch n–nichts Sie rechtfertigen kann. Sie haben in einem öffentlichen Lokal, in der Unterredung mit einem Ihrer auserwählten Freunde, Reden von einer wahrhaft, – kurz, von einer wahrhaft socialdemokratischen Tendenz geführt, so daß Ihre Worte an Nebentischen gehört wurden. Ich hoffe, Sie bereuen dies alles und werden ein besserer Mensch. Für die unschuldigen Blüten, die man Ihnen anvertraut hat, ist ein anderer Gärtner von nöten. Und jetzt bitte ich Sie, uns zu verlassen. Oder haben Sie noch etwas einzuwenden? Aber ich mache Sie aufmerksam, daß unsere Zeit kurz bemessen ist.“
Bojesen rührte sich nicht. Seine Hand zitterte immer noch leise. Seine Augen schauten unverwandt ins Weite, als suchten sie sich mit den kommenden Stunden der Entbehrung und der Brotlosigkeit schon jetzt vertraut zu machen. Um seine Lippen spielte ein halb mitleidiges, halb trauriges Lächeln. Der Rektor blickte ratlos die fünf Gardeherren der Reihe nach an, die dann in derselben Reihenfolge schweigend die Köpfe schüttelten. Endlich sagte Bojesen: „Meine Verbrechen sind Verbrechen. Für Sie müssen es solche sein, natürlich. Ich kann also nichts dagegen einwenden. Aber was die ‚unschuldigen Blüten‘ betrifft, darüber möchte ich noch ein paar Worte sagen. Das was ich immer wollte, was aber ein Unding ist, ein Windmühlenkampf, ist, daß ich die Schüler veranlassen wollte, selber zu denken, aus Andeutungen, aus Anschauungen ein Gesetz zu konstruieren. Ich habe ihnen aus der Wissenschaft immer ein schmackhaftes Stück Brot gemacht, nicht ein Pensum für das Gedächtnis. Aber Sie, meine Herren, arbeiten nur für ein totgeborenes Kind. Was Sie thun, ist immer aussichtslos. Als unverdauliche Speise bleibt es im Magen Ihrer Pfleglinge liegen. Sie geben sich nie die Mühe, herunterzusteigen, sondern bleiben hochmütig auf dem Katheder und auf dem Lehrbuch sitzen. So wie Sie es treiben, ist die Schule eine Verdummungsanstalt, und kein munter fließendes Wasser wird aus diesem Sumpf herauskommen. Alle bleiben unglückselige Marionetten, oder wie Sie es nennen, faule Schüler. Aber faul sind nur Ihre Institutionen, das mögen Sie wissen. Wer dem Geist der Jugend etwas nahe bringen will, muß es mit dem Herzen thun, nicht mit dem Vocabulaire. Ich möchte sagen, er muß ein wenig spielen dabei, Sie müßten beinahe ein wenig Künstler sein. Aber wie soll der Staat das aufbringen. Sie, Herr Horamus, der Sie dastehen als Lehrer der Geschichte, seien Sie aufrichtig, haben Sie jemals daran gedacht, den Schüler mit den großen, menschlichen Dingen der Geschichte vertraut zu machen? Haben Sie jemals den Geist des grandiosen Zusammenhangs zu erklären versucht? Haben Sie jemals ein farbenreiches Bild daraus gemacht, und das wäre von mehr sittlichem Wert, als hunderttausend Jahreszahlen und Dynastien-Namen, glauben Sie mir. Aber davon haben Sie ja selbst keine Ahnung, wie sollten Sie mir Antwort geben können. Ein null-ouvert im Skat ist Ihnen weit interessanter. Und was Religiosität und Vaterlandsliebe betrifft, Herr Rektor, so haben Sie keine Angst. Beide zeigen sich nicht im Götzendienst. Was Sie mit diesen schönen Worten meinen, ist Duckmäuserei und Frömmelei. Beruhigen Sie sich nur, ich gehe schon. Vielleicht kommt die Zeit selbst für Sie noch, der Sie graue Haare haben, wo Sie mit Angst an das denken werden, was ich Ihnen eben gesagt habe. Ich empfehle mich den Herren.“
Er eilte hinaus und ließ die sechs würdigen Schulmänner in unbeschreiblicher Verblüffung zurück. „Gehen Sie hinunter, Schachno, und verhindern Sie, daß er mit den Schülern spricht,“ sagte der Rektor erregt.
Daran dachte Bojesen nicht. Er hatte bereits das Schulhaus verlassen und ging die Mathildenstraße entlang, bis die Häuser zu Ende waren, bis die Ebene vor ihm lag, – anscheinend grenzenlos. Und wie er weiter und immer weiter ging, vergaß er auch mehr und mehr seinen persönlichen Schmerz, und all das Drückende und Gedrücktsein, das in ihm war, löste sich auf in eine große allgemeine Wehmut um etwas unbestimmtes Verlorenes, in eine wie hingehauchte Traurigkeit um vergebliches Ringen. Er empfand jene Müdigkeit zu denken, die uns mit einem unsicheren und seltsamen Stolz erfüllt, uns zu vagen, aber tröstlichen Bildern führt, bis an die Thüre jener Schwermut, die sich mit liebevoller Innigkeit an alle Gegenstände der Natur hängt und auch dem zufälligen Flug eines Vogels eine tiefe, vorbedeutungsvolle Wichtigkeit verleiht.
Still und neblig, wie erfroren lag da oder dort ein Dorf. Gleich einer Wand von Schleiern erhob sich bisweilen in der Ferne ein Gehölz. Der Himmel war unbeweglich; keine einzelne Wolke war zu sehen: nur eine schwerhingezogene Decke. Dornenhecken standen am Weg und vermehrten das Grüblerische, Insichgekehrte dieser Landschaft. Raben flogen lautlos über die Äcker, setzten sich majestätisch auf schwarze Erdschollen, die aus dem Schnee ragten und guckten furchtlos mit den schlauen und boshaften Augen auf den Wanderer.
Bojesen nahm in einem Dorfwirtshaus ein kärgliches Mittagsmahl ein, unterhielt sich mit den Bauern und machte zum erstenmal die Beobachtung, daß der fränkische Bauer ein intelligenter, ernster und gutherziger Menschenschlag ist, der nichts von der tückischen Pfiffigkeit und von dem versteckten Städterhaß vieler andern Bauern besitzt.
Als es schon dunkelte, kam er zurück in die Stadt, und es war ihm, als ob er ein Jahr lang fortgewesen wäre. Fast mechanisch, als wäre es die Folge eines weit zurückliegenden Entschlusses, wandte er sich nach der Richtung von Jeanettens Wohnung, und er fand sie allein.
Sie war nicht erstaunt, ihn zu sehen und reichte ihm ruhig die Hand.
„Du bist so froh,“ sagte sie und blickte bang nach der Thür. Doch gleich darauf sprang sie empor und tanzte trällernd im Zimmer umher. Nichts lächelte in ihrem Gesicht. Der Mund war geöffnet und ließ die kleinen Zähne sehen. Die Augenlider waren gesenkt, mühevoll sinnend. So tanzte sie.
„Man weiß natürlich schon in der ganzen Stadt, wo ich bin,“ sagte sie verächtlich. „Die Herren der Gesellschaft werden zum ‚siebenten Himmel‘ kommen, und ich werde die Sensation sein, der Stadtklatsch. Das ist mir zu widerlich. In acht Tagen gehe ich fort, oder in vierzehn Tagen, wenn ich mit meinen Vorübungen fertig bin. Ich gehe nach Paris. Ich brauche anderes Leben. Es wird auch ein anderer Tod sein, wenn es so kommt.“ Sie lachte mit ihrem harten, stoßweisen Lachen.
„Fort gehst du? Und was für Vorbereitungen meinst du?“
„Tanz! Die menschlichen Leidenschaften im Tanz. Der Tanz soll wieder Kunst werden. Sieh her, den Tanz der Liebe. Alles ist Feuer, hinneigende und doch verborgene Glut. Jede Linie andächtig und verzückt und schließlich die unterdrückte Erregtheit. Dann der Haß. Offene Glut, wildes Gebärdenspiel, wildes Spiel aller Linien. Dann viele andere. Ich denk’ es mir wundervoll. Eure andern Künste haben alle abgewirtschaftet. Sie beruhen auf der Eitelkeit. Es giebt nur noch Wissenschaft und Tanz in der Zukunft.“
Bojesen sah hilflos vor sich hin.
„Was machst du denn für ein Gesicht? Wie ein melancholischer Briefträger,“ sagte sie.
Bojesen hatte so vieles sagen wollen. Jetzt erinnerte er sich an nichts, oder es erschien ihm zu düster. „Jedesmal, wenn ich komme, bist du anders,“ bemerkte er mit etwas jugendlicher Verzweiflung.
Jeanette lachte spöttisch und begann wieder zu tanzen: auf den Zehen, den Körper in vornehmen, wellenhaften Bewegungen vor- und zurückbiegend und mit schwärmerischem Gesicht und weitgeöffneten Augen in den Spiegel schauend. Dann holte sie Wein, dessen Purpur in den dunklen Gläsern und in der beginnenden Dämmerung ganz schwarz erschien.
Währenddem öffnete sich die Thür und Bojesen sah einen alten, sehr gebückten Mann mit einem Hausierkasten sich mühselig hereinschleppen. Es war Gedalja. Er setzte keuchend den Kasten am Ofen nieder und trocknete sich die Stirn mit dem Rockärmel. Bojesen schaute Jeanette an, begriff und wollte gehen. Aber sie befahl ihm durch einen Blick, zu bleiben und zündete die Lampe an. „Hast du was verkauft, Großvaterle?“ fragte sie, die Hand in die des Alten legend.
Gedalja verneinte. „Se welln nix haben. Se sin alle versehen. Se welln bloß ihrn Spaß haben mit em alten Jüden. Ich will nit klagen, Enkelin, nit klagen. Aber was for Gesichter wer ich sehn, wenn ich sterb’? Wer wird reden zu mir in die lange Nächte? Hast de schon gesehn en alten Mann über neunzig, wo hat kein Haus un kein Hof un kein Bett? Bin ich nit gewesen e Beheema, e Vieh, daß ich nit gewesen bin e Wucherer un e Betrüger? Wo soll ich haben en neuen Rock, wenn der wird sein zu Fetzen? Wo sin meine Kinder, daß se sitzen zu meine Füße und lauschen meine Worte? O Enkelin, es is gut, e Chalef zu nehmen, e Schwert und zu zerreißen sein eignes Herz.“
Danach war es lange Zeit still im Zimmer. Bojesen hatte nicht vom Boden aufgeblickt. Gedalja begann wieder. „Ich waaß nit, was de hast gethan un was de hast vor im Leben, Jeanette. Aber ich seh d’rs an an deine Stirn und deine Augen, daß de willst hoch naus, daß de hast überspannte Gedanken vom Leben un von die Menschen. Es giebt im Jüdischen e Sprichwort un haaßt: wenn Schabbes-Nachme afn Mittwoch fallt, kriegt die Schmue e Ponim. So is es mit deine Pläne. Schabbes-Nachme fallt alleweil afn Schabbes, natürlicherweis. Sei vernünftig! Sei immer bei dir un hab gut acht auf deine Handlungen. Schlaf nit ein in der Nacht, wenn de nit hast ausgelöscht ’s Licht; nor die Thoren scheuen den Schlaf beim Finstern. Bleib’ e gute Jüdin, wenn de aach nit glaubst, denn wir sin e großes Volk mit bedeutende Gelehrte. Merk d’r was ich hab’ gesagt. Haste vielleicht was z’essen? Hunger hab’ ich aach. Bin in ganzen Tag rumgeloffen, bis nach Burgfarrnbach nüber.“
Bojesen, dem es schwer ums Herz war, schickte sich zum Aufbruch an. Jeanette begleitete ihn liebenswürdig hinaus, sagte aber nichts. Er haßte diese Liebenswürdigkeit an ihr, die undurchdringlich war wie ein Panzer.
Er irrte lange Zeit durch die Straßen, aß gegen sieben Uhr irgendwo zu Nacht, setzte seine ruhelose Wanderung fort und kam endlich wieder vor Jeanettens Wohnung an, wo immer noch die Fenster erleuchtet waren. Am gegenüberliegenden Haus sah er einen jungen Mann im Schnee stehen. Er glaubte, diese blassen, unbestimmten Züge zu erkennen, ging hinüber und stand vor Nieberding, der den Blick nicht von Jeanettens Fenstern wandte. Bojesen lächelte ironisch. Der andere gewahrte ihn, und eine Zeitlang standen sie Auge in Auge, ohne eine Bewegung. „Wie lange stehen Sie schon?“ fragte endlich Bojesen mit schlecht verhehltem Spott. Aber Nieberding überraschte ihn, indem er ihm die Hand bot und sagte: „Thun Sie das nicht. Weshalb wollen Sie mich verhöhnen? Was würden Sie sagen, wenn ich bissige Reden führte, weil ich Sie etwa am Grab Ihrer Mutter sähe? Ich stehe am Grab meiner Liebe. Es ist mehr als eine pathetische Phrase.“ Er schob seinen Arm unter den Bojesens und zog ihn mit sich fort.
„Aber sind Sie jetzt nicht glücklich?“ fragte Bojesen, noch immer sarkastisch.
„Glücklich? weil ich leide? Allerdings in gewissem Grad.“
„Verzeihen Sie, – ein Wort: kommen Sie eben von ihr?“
„Nein.“
„Ob ich Arzt bin? Nein. Ich war es.“
„Ein schöner Beruf.“
„J–Ja!“
„Aber er macht hart, grausam.“
„Im Gegenteil. Aber Sie spotten immer noch.“
„Im Gegenteil –?“
„Er hebt uns. Macht weich, bereichert die Gefühlsnüancen.“
„Das sind Worte. Es giebt solche und solche Ärzte.“
„Allerdings.“
Darauf schwiegen sie. „Verzeihen Sie,“ sagte Nieberding, „darf ich Sie zu einem Abendessen einladen?“
„Danke, ich habe schon gegessen.“
„Aber dann kommen Sie auf ein Glas Wein zu mir.“
„Wenn es Ihnen nicht unbequem ist –.“ Nieberdings offene Herzlichkeit und seine kindlich-schüchterne Art, zu fragen, beschämten Bojesen ein wenig. Bald saßen sie in Nieberdings kleinem Salon, wo ein behagliches Feuer brannte. Bojesen sah hier Jeanettens Schatten weilen und empfand eine nagende Unruhe. Cornely kam mit ihrem rätselhaften Lächeln und für Bojesen war es seltsam zu sehen, wie sie den Bruder küßte, mit einer verhaltenen und stolzen Leidenschaft, und wieder ging.
Nach einem schier endlosen Schweigen fragte Nieberding hastig: „Was halten Sie von Jeanette Löwengard?“
Bojesen schwieg und zuckte die Achseln. „Sie ist ein feines Tier,“ sagte er endlich leise mit einem lauernden Zucken der Mundwinkel.
Nieberding blickte verletzt auf. Aber im Nu unterwarf er sich Bojesen wieder.
„Und Sie,“ fuhr Bojesen fort, „welche Art von Frauen lieben Sie? Sagen Sie nicht, daß es diese Luisina sei, denn das steht Ihnen fern. Sie lieben die schlanken, überzarten Formen, Sie lieben Frauen, die größer sind als Sie, die präraphaelitischen Gestalten, hab’ ich nicht recht?“
Nieberding blickte furchtsam sein Gegenüber an. Er wagte nicht zu widersprechen und in seinen Sinnen wurde es ganz dunkel. Bojesens weit aufgerissene Augen schienen etwas anderes zu sagen, als was er jetzt sprach. Sein Mund war ein wenig geöffnet, und seine Haltung glich der einer Katze. Er war wie verwandelt.
Nach einer Weile begann Edward Nieberding: „Etwas muß ich Ihnen noch sagen. Sie haben beliebt, mich als den Typus des modernen decadenten Juden hinzustellen. So war es doch, nicht? Ich habe viel darüber nachgedacht. Wenn etwas daran wahr ist, ist es dies: wir wirklich modernen Juden haben aufgehört, Juden zu sein. Wir sind in unserer Seele Christen geworden. Nicht Christen nach der Form, sondern nach dem Geist.“
Bojesen sprang mit leidenschaftlich-erregtem Gesicht auf und schlug mit der platten Hand auf den Tisch. „Zum Teufel, Herr, wiederholen Sie dies! Wiederholen Sie dies! Das ist es, was ich sagen wollte. Das ist es, was uns ins Unglück stürzen wird. Ja, Sie werden das Christentum aufbauen! Wir sollen wieder Mumien werden, da wir angefangen haben, die Fenster zu öffnen und die Moderluft zu vertreiben. Es ist gut, daß Sie das sagen, der Sie an Leib und Seele schon zu den Toten gehören. Sind wir nicht ein krankes Geschlecht bis ins Mark? Sehen Sie her (Bojesen machte eine erschreckende Gebärde), sehen Sie her, was ich bin! Heute bin ich neunundzwanzig! Was werde ich mit vierzig sein! Geben Sie uns nur dies geistige Christentum wieder, endlich, das unsere starke, säftereiche Rasse aufgelöst und vernichtet hat binnen sechzehnhundert oder weniger Jahren. Was ist schuld, wenn wir den natürlichsten und erhabensten Vorgang unseres Lebens zu einem Akt der Lüsternheit machen? Wenn wir in den Schulen Maschinen züchten, statt Menschen? Wenn Tausende von wahrhaft großen Weibern auf der Gasse und in Spezialitätentheatern lungern und eine anämische Herde tummelt sich im Salon? Wenn wir nicht hinauskommen über die niedrigen Begriffe von Ehre und Nächstenliebe, wenn unsere Dichter Hysterie für Tragik nehmen? Sie, moderner Jude, sind daran schuld mit Ihrem Mystizismus und Ihrem asketischen Verlangen, der Sie im Schnee stehen und Ihre Geliebte nur seelisch begehren, der Sie das frevelhafte Wort von der Selbstüberwindung neuprägen werden. Ja, ja! richten Sie nur das neue Christentum wieder auf! Hauen Sie nur die Renaissance, von der große Menschen geträumt haben, in Stücke, bevor sie geboren ist! Nur zu!“
„Mit all dem sagen Sie eigentlich nichts Neues,“ erwiderte Nieberding traurig und mit gesenkter Stimme. „Aber das ist ja gleich, wenn Sie es fühlen. Ist es denn so schlimm? Wieviel Poesie und Verklärung hat uns nur allein die katholische Kirche gegeben.“
„Lassen Sie uns hier nicht von Poesie reden. Lassen wir die Poesie beiseite, samt der Verklärung, ich bitte Sie. Das sind traurige Dinge, zu deren Verteidigung die Poesie nötig ist. Und reden Sie niemals per ‚uns‘, wenn Sie so etwas sagen, denn das ist direkt komisch. Sie sind ein Emigrant, und es giebt kein Bindeglied zwischen Ihnen und uns. Beachten Sie die Zeichen der Zeit. Rekrutieren Sie sich, seien Sie nicht blind. Hören Sie auf, an das geistige Christentum zu denken. Wir haben genug an dem greisenhaften Gewimmer dieses Tolstoi da drüben. Sie können ja schlimmstenfalls in die Gesellschaft für ethische Kultur eintreten, oder in den christlichen Verein junger Männer. Es ist ein eigenes Schicksal, daß gerade das Judentum ein Christentum gebären mußte, und daß die Mutter jetzt absolut zum Kind werden will. Alle Religionen von dort drüben entbehren der Freude. Wie traurig, daß der menschliche Geist durch Jahrtausende sein seelisches Heil von Epileptikern empfangen mußte. Wir wären schon längst zu Grund gerichtet, wenn nicht die großen Fontänen Shakespeare und Goethe und anderen den trockenen Boden ernährt hätten. Aber sie waren so hoch, daß ihre Spitzen noch von der untergegangenen Sonne des Griechentums vergoldet wurden. Und jetzt? Jetzt sind wir im Begriff, eine Nation von Säufern und Phlegmatikern zu werden. Ich kann jetzt ganz ruhig darüber reden, ich ärgere mich, daß ich mich erregt habe. Sie sehen, daß ich nicht etwa so borniert bin, ein Judenfeind zu sein. Im Gegenteil. Der wirkliche Antisemit müßte ein noch feurigerer Antichrist sein.“
„Ich weiß nicht, ich weiß nicht,“ sagte Nieberding fast verzweifelt, „das ist alles nicht klar. Es ist so schematisch. Und das Leben ist doch so vielgestaltig. Sie preisen die Juden, um damit einen Schlag gegen die Juden führen zu können. Das leuchtet mir sehr ein. Aber haben Sie nicht einmal gesagt, die Juden trinken nicht? Das ist nicht wahr. Der russische Jude ist ein großer Trunkenbold und meist ein übler, verwerflicher Charakter. Die Galizier sind scheußliche Mädchenhändler, und was sie sonst noch treiben, weiß Gott. Also sittlich und geistig haben wir nichts voraus. Aber der Jude hat stets am meisten gelitten, wenn er Stärke und Energie genug besaß, sich aus der Dumpfheit seiner religiösen Schranken zu heben, wenn er, der ewig Wandernde, Heimatlose, endlich Dach und Heimat fand. Aber was soll ich da sagen. Man wird so leicht sentimental. Das alles läuft darauf hinaus, – ach, ich weiß nicht.“
„Ich weiß schon. Daß wir am Ende einer Kulturepoche stehen und niemand weiß, was werden soll. Unsere ganze Gesellschaft verstopft sich Geist und Ohren mit Musik. Niemals war ein blödsinniger Musikkultus zu solchen Ehren gelangt. Die Sonne läuft von Osten nach Westen und die Kultur hat es stets gethan. Amerika ist das Land der Zukunft. Eine alte Geschichte, das. Es mutet mich so kindisch an, wenn in Paris die Gräfin Rothschild ihre Hündin mit dem Hund eines Marquis oder Lords öffentlich und feierlich verlobt und unter großem Gepränge Hochzeit halten läßt. In Rom war das alles seinerzeit viel großartiger. Wir können nicht einmal eine anständige Decadence inscenieren. Unsere gute Gesellschaft ist ausschließlich auf das Vertreiben der Langeweile angewiesen und diese sogenannten heiligsten Güter der Nation u. s. w., dann Socialdemokratie, Frauenemanzipation, Militarismus, der Kultus mit den Erfindungen, das alles kommt mir vor wie ein Kindertrompetenkonzert. Letzte Zuckungen. In ein paar Jahrzehnten fallen die morschen Dielen unseres Kinderspielzimmers auseinander, und es wird uns grausen. Haben Sie noch ein Glas Wein? – Danke.
„Es kann gar nicht geleugnet werden, daß wir viel schneller dem Abgrund zurutschen, seit die Juden emanzipiert sind, wie das schöne Wort nun einmal heißt. Ach bitte, lassen Sie mich reden, ich bin einmal so schön drin. Nehmen Sie an, daß ich mich betäuben will. Die Juden sind bis zu dem Punkt ungefährlich, als sie nicht an der Kultur eines Volkes teilnehmen. Sobald das kommt, sind alle prägnanten Linien verwischt, das Bild wird unruhig, die Gärung beginnt. Es ist, als ob diese Nation eine Art giftiger Sauerteig wäre. Nun, ich kenne so viele gebildete Juden, wahrhaft gebildete Menschen, Künstler oder Männer der Wissenschaft oder auch Kaufleute, aber ich muß sagen, so sympathisch und lieb mir die meisten sind, sie haben alle einen seelischen Defekt, einen sittlichen Krankheitsstoff, der ihre andersblütige Umgebung alsbald ansteckt. Worin das besteht, ist mir wahrhaftig ein Rätsel. Aber da sind die Wohlthätigen. Sie sind mir in tiefster Seele verhaßt. Es ist, als hätten sie eine Firmentafel auf der Stirn: Salomon Bär, Wohlthäter. Da sind die Künstler: bedeutende Menschen oft, aber seelisch gänzlich verwachsen, Krüppel. Oder ihre Künstlerschaft ist so aufdringlich, verbreitet förmlich einen penetranten Geruch. Da haben Sie die Frauen, guter Gott, welch ein Thema! Ein Buch! Das ist auserwählter Morast.“
Eine Zeitlang war es still im Zimmer. Beide schauten finster sinnend in ihre Gläser. Dann begann Bojesen von neuem:
„Und doch! und doch! Ich weiß nicht, welcher Dämon mir diesen Gedanken eingegeben hat: es ist mir, als müsse gerade aus den Juden noch einmal ein großer Prophet aufstehen, der alles wieder zusammenleimt. Es ist selten, aber bisweilen trifft man einen Juden, der das herrlichste Menschenexemplar ist, das man finden kann, um und um. Alle reinen Glieder der Rasse scheinen sich vereinigt zu haben, ihn hervorzubringen, ihn mit allen köstlichen Eigenschaften auszustatten, die die Nation je besessen hat: Kraft und Tiefe, sittliche Größe und Freiheit, kurz, alles und alles, ausgenommen den Humor. In seinem Kopf sitzen ein paar Augen voll Mildheit und Güte, man möchte sagen Frommheit in einem neuen Sinn, feurig und doch wieder schüchtern, phantasievoll und nach keiner Seite hin borniert, – kurz, wundervoll.“
Nieberding spielte mit einer Aschenschale, die in Form einer Ampel an einem Traggestell hing. Er drehte das mattbraune Gefäß um die eigene Achse, wobei die Kettchen klapperten. „Es ist sonderbar,“ sagte er, „wie alles, auch das Bedeutende und Wichtige, gering erscheint, wenn man es mit dem eigentlichen Sinn des Lebens vergleicht.“
„Ja, aber was ist der eigentliche Sinn? Hoffentlich antworten Sie nicht, wie der gelehrte Mann, den ich einmal fragte, was er für einen Zweck habe, da er die Welt schrecklich vernünftig fand. Ich bin eine Verdichtungsmaschine, sagte er pathetisch.“
„Ach, ich meine nur alles zusammengenommen gegen das Unendliche betrachtet. Das ist ja trivial. Aber daß wir hier sitzen und uns über Christentum und Judentum echauffieren, ist auch trivial. Symbol, Symbol, alles nur Symbol. Kennen Sie dieses Experiment der Fakire: sie bezeichnen einen Kreis im Zimmer, dessen Peripherie niemand überschreiten darf. Dann schauen sie, es ist helllichter Tag, fest auf eine Kerze und plötzlich, der Fakir selbst steht am andern Ende des Zimmers, plötzlich brennt die Kerze, ohne daß jemand daran gerührt. Nun ist aber das Seltsame, sowie einer die vorgeschriebene Kreislinie überschreitet, ist das Licht für ihn verschwunden. Das enthält für mich ein Stück Lösung des ganzen Lebensrätsels.“
„Hm,“ machte Bojesen. „Hm. – Wer singt denn da?“
„Meine Schwester.“
„Sie singt sehr schön.“
„Ja, dabei wird sie lebendig. Sie sollten sie sehen dabei.“
„Ich muß gehn,“ sagte Bojesen, „es ist spät.“
„Wieviel –?“
„Zwölf.“
„Schon! Darf ich Sie begleiten?“
Bojesen sah rasch auf, lächelte flüchtig ironisch, da aber Nieberding ernst und unbefangen blieb, sagte er: „Gewiß, wenn es Ihnen Spaß macht.“
Sie gingen. Kalt und klar war die Nacht, bis an die fernsten Grenzen lichtlos und still. Nieberding murmelte:
„Mühsam ist der Pfad und lang,
Und kein fetter Pfaffe schreit
Ein versöhnliches Gebenedeit,
Wenn dein Fuß im Dunkel vorwärts drang.“
„Von wem ist das?“ fragte Bojesen.
„Von Gudstikker. Es sind wunderschöne Verse, die ich gelesen habe. Ich muß ihn aufsuchen, muß ihn sehen, mit ihm sprechen.“
„Was sehen Sie denn da?“
„O, ein großes Talent.“
„Kein Charakter, doch ein Genie,“ sagte Bojesen bitter.
„Nun, dieses große Talent, – ich kenne es genau und schon lange. Er ist ein kleiner, niedriger Schleicher, eine Intrigantenseele, ein verwickelter Lügenkomplex. Was soll man dazu sagen. Die Kunst eines solchen Menschen ist vergänglich, selbst wenn sie für den Augenblick noch so sehr blendet.“
Sie gingen vorbei an Bojesens Wohnung und wanderten weiter in die Stadt hinein. Ihr Schweigen war nicht das von vertrauten Menschen, sondern ein beunruhigtes und mißtrauisches. Selten waren noch Fenster erleuchtet, selten begegnete ihnen ein Mensch. In den Wirtschaften war es still. Die Polizisten an den Straßenecken regten sich nicht. Der Turm einer Kirche erhob sich plötzlich auf einem Platz und dann gab dies der ganzen Umgebung einen solchen Ausdruck stummer Majestät, daß Bojesen glaubte, mit verschärften Ohren könne man die Orgel klingen hören. Aber es ist bisweilen nicht unser leibliches Ohr, das hört, sondern ein innerliches, der Vergangenheit zulauschendes. Zwischen zwei Häusern der breiten Königsstraße ist ein Ausblick hügelabwärts auf den Weg und die Wiesen, und daneben steht ein Gasthaus. Es heißt vielleicht: zur Krone. Durch die grünverhängten Fenster drang nun trotz der späten Stunde die Fistelstimme einer Soubrette, die irgend ein lascives Lied mit entschiedener Betonung einzelner Wichtigkeiten zum Besten gab. Die Stimme war so, daß man die Haltung des Körpers danach beurteilen konnte; ja, man glaubte die stereotyp lächelnden Lippen und die gezierten Gesten zu sehen. Wütendes Händeklatschen belohnte die Leistung, und der Klavierspieler gab einen Tusch. Da sah Bojesen, wie sich Nieberding an den Kopf schlug, auflachte und wieder auflachte und dann davonstürzte. Bojesen sah ihm kopfschüttelnd nach und setzte seinen Weg allein fort.
Bald zeigte sich der viereckige und so charakteristische Rathausturm. Ein Symbol des Spießbürgertums, dachte Bojesen. Er betrat die Rosengasse, und sah das jüdische Waisenhaus vor sich liegen. Auf einmal sah er eine Schar von Knaben, zwanzig bis fünfundzwanzig Knaben auf der Straße stehen, sich lautlos um einen Mittelpunkt scharen, sich lautlos ordnen und dann ebenso geheimnißvoll die Straße hinaufmarschieren. Sie trugen die schwarze Mütze mit dem Lederschirm, bis auf zwei, die an der Spitze gingen. In dem einen erkannte Bojesen sofort Agathon Geyer. Hintennach trippelte ein komisches kleines Kerlchen, das bisweilen weinerlich seufzte, wenn es ihm zu schnell ging.
Bojesen, zu erstaunt, um nach Gründen zu raten, beschloß, dem Zug zu folgen. Er empfand eine unerklärliche Scheu, die ihn hinderte, Agathon kurzweg anzureden. Die Wanderung ging über die schlechten und winkeligen Gassen des Altstadtviertels, durch den Schießanger und Bojesen wurde so begierig, zu erfahren, was all dies bedeute, daß er seine Vorsicht vergaß und sich den Knaben zu sehr näherte. Einige standen still und wandten sich ihm zu. Agathon kam, stutzte, erkannte ihn, ließ den Kopf sinken und schwieg. Da außen war es heller. Der Himmel schien von einem gutverborgenen und weit entfernten Licht innerlich erleuchtet, und Bojesen konnte jeden Zug in Agathons Gesicht erkennen.
„Thun Sie es nicht! Folgen Sie uns nicht!“ sagte Agathon endlich flehend.
„Was geschieht hier, Agathon?“ fragte Bojesen, und er war seltsam bewegt, aus einem Grund, der ihm noch viel zu denken gab. Er war matt und feig geworden diesem jungen Menschen gegenüber.
„Nichts Unrechtes, Herr Bojesen,“ entgegnete Agathon und heftete den Blick fest in den des Lehrers. „Diese alle sind sehr unglückliche, verlassene Knaben. Sie gehen mit mir und ehe es Tag wird, kehren sie zurück.“
„Und wenn es entdeckt wird –?“
Agathon lächelte so, daß Bojesen ihm die Hand hinstreckte. Er nickte ihm flüchtig zu und machte sich auf den Rückweg, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. „Wie romantisch,“ murmelte er und suchte sich über das alles zu stellen; aber sein Herz war beklommen und in einer feierlichen Stimmung, die seiner Natur sonst fremd war, kam er nach Hause.
Am andern Tag, als er über die Wiesen spazieren ging, sah er Agathon von ferne. Er hatte nicht das Verlangen, ihn anzureden; er empfand ein Vertrauen zu ihm, das ihm Neugierde als etwas Verächtliches erscheinen ließ. Agathon ging langsam, mit insichgekehrtem Blick; seine Kleider waren etwas beschmutzt. Noch nie hatte Bojesen den Ausdruck einer solch gespannten Erwartung, eines fast atemlosen Lauschens in einem Gesicht erblickt. Am Eingang des Nadelwäldchens entschwand er seinen Blicken.
Gegen drei Uhr kam Agathon ins Dorf zurück. Er begegnete Frau Olifat, die aus ihrem Haus kam. Sie bemerkte seinen Gruß nicht. Auf ihrem Gesicht lag etwas so finster Drohendes neben einer bangen Ratlosigkeit, ja Verzweiflung, daß Agathon ihr erschreckt nachsah, dann eilends ins Haus ging und am Wohnzimmer pochte. Das kleine Mädchen öffnete, legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete dann wortlos auf den Diwan, wo Monika lag. Agathon ging auf den Fußspitzen hin und sah sie. Sie schien zu schlafen. Ihre Wangen glühten. Durch die geschlossenen Lider und die langen Wimpern schimmerte es wie von aufbewahrten Thränen. Der Körper war in einer gequälten Lage, der Kopf und die Beine weit nach rückwärts gebogen. Die Finger waren in den Stoff des Polsters eingekrampft, die Lippen waren in leiser Bewegung. Agathon ging es wie ein Stich von der Stirn bis zum Knie. Nicht nur Angst und Schrecken waren es, sondern er hatte plötzlich die unwiderstehliche Begierde, diese offenbar so sehr heißen Lippen zu küssen. Und dann im Nu verlangte seine Phantasie mehr, etwas, das wie ein schwüles Rätsel vor ihm aufstieg. Die wogende Brust des jungen Mädchen, die offene und leidenschaftliche Glut, in der sie lag, hilflos einer Wucht von Träumen überliefert, der schwach geöffnete Mund mit den begehrlich blitzenden Zähnen, – das ließ Agathon schaudern, und er verdeckte die Augen mit der Hand. Aber noch deutlicher sah er so das Bild, und er seufzte schwer, streichelte flüchtig, wie huschend, das glatte Haar der kleinen Esther und ging. Alles Klare, Gute, Getröstete seines Innern war wie verblasen. Er ging heim, und da dunkelte es schon, und er war so erregt, daß er wie blind umhertappte. Das Haus war wie ausgestorben; doch als er in den Corridor kam, um in seine Kammer zu gehen, stand wieder wie damals die Magd unter ihrer Thüre. Wieder wie damals stand sie breit und gleichsam wartend vor dem düstern Kerzenschein. Ein trotziges und sinnliches Lächeln umspielte ihre dicken, feuchten Lippen und Agathon starrte sie furchtsam an, wie ein Schicksal, dem er niemals entrinnen konnte. Sie sprach ihn an, aber er hörte es nicht; sie tätschelte seine Hand, und er fühlte es nicht. Sie nahm sein Gesicht mit grober Zärtlichkeit zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer Linken und lachte; er war wie versteinert. Begierde, Trotz und Scham wollten fast seine Brust sprengen. Endlich machte er sich keuchend los und stürzte mit drei Sätzen die morsche Treppe hinab.
Die Finsternis des Hofes empfing ihn, – es wurde ihm zu eng da. Er ging hinaus, bis in die Felder und über den Kirchhof heimwärts und wußte nicht, wieviel Zeit verronnen war, als er wieder vor Olifats Haus stand und hinaufschaute. Da öffnete sich jedoch die Gartenthür; Monikas Gesicht schaute heraus. Sie blickte hinauf und hinunter, und als sie keine Menschenseele gewahrte, kam sie schnell auf Agathon zu, stockte, machte wieder ein paar Schritte, stockte wieder und fiel endlich nieder, umklammerte fest Agathons Kniee und begann in einer klagenden und kummervollen Weise zu schluchzen.
Agathon wurde bis in die Lippen bleich. „Was ist denn nur!“ stammelte er. Aber nichts antwortete ihm, und er sah Monikas Schultern beständig zucken, und ihr Weinen wurde immer verstörter, fassungsloser. Es schien aus einer Tiefe zu kommen, wohin sonst nicht leicht ein menschlicher Schmerz gelangt. Es klang dumpf und erstickt. Agathon wollte sie emporziehen, doch sie wehrte ihm heftig, fast zornig. Endlich und ganz unerwartet war sie still geworden, hielt die Schläfe mit beiden Händen und sah zu ihm auf mit einem gebrochenen Blick, in dem etwas Böses und Schuldiges war und der von einer andern zu kommen schien, als jener Monika, die Agathon bisher gekannt. Er wagte nichts zu sagen.
„Ach, Agathon,“ flüsterte endlich Monika mit einer gleichsam weitentfernten Stimme, „dich hab’ ich erwartet, so lange, so lange. Denke nicht schlecht von mir, bitte dich, thu’s nicht. Höre mich immer an, wenn du kannst und verstoße mich nicht. Es hat Gott gewollt, daß ich hier so werden sollte, wie ich bin. O Agathon! Agathon!“ Und sie blickte mit dem Ausdruck einer vollkommen tierischen Verzweiflung in sein Gesicht. Da stieg in Agathon eine Angst vor ihr auf, wie sie oft in einer finstern Landschaft kommt, wenn uns vor einem unsichtbaren Begleiter graut. Er machte sich los von ihr; aus irgend einem Grunde erschien sie ihm niedrig, und wenn er später über diese Stunde nachdachte, verlor er sich in Staunen über jenes zweite Selbst, das mit uns herumzugehen scheint und einen prophetischen Geist und eine viel tiefere, wenn auch flüchtige Einsicht in die Dinge zu haben scheint, als unser unmittelbares Ich.
Er drückte ihr unentschlossen die Hand und sagte beklommen gute Nacht. Kaum war er fort, so bereute er tief, was er gethan, doch die Stimme des Lämelche Erdmann schreckte ihn empor aus seinem Brüten. Lämelche Erdmann stand vor dem Wirtshaus, focht ratlos mit den Armen durch die Luft, und schrie Agathon zu, den er im Schein des Laternenlichts erkannte:
„He! Agathon! schnell! Dei Vatter, dei Vatter! Schlemassel, Schlemassel!“
Links in dem dumpferhellten Vorflur der Schenke, die Agathon betrat, standen drei Stühle, und auf jedem saß mit aufgerissenen Augen einer von den jüdischen Händlern, die um diese Zeit zu einem Glas zu gehen pflegten. Sie starrten nach der Thüre des Wirtszimmers, auf welche mit plumpen, schwarzen Lettern: Gastlokal gemalt war. Doch drinnen war es ruhig. Im Flur stand außerdem noch eine dicke, alte Magd mit schwimmenden, kleinen Augen, ein Bauer Jochen Gensfleisch, ein anderer Bauer Jochen Wässerlein, Lämelche Erdmann, Pavlovsky, wie immer schnaufend und wild um sich blickend, als wünsche er einen Widersetzlichen sofort zu zermalmen, der Wirt selbst mit einem Gesicht, wie es alte Komödianten haben, und außerdem Doktor Schreigemut, wohlwollend und zugleich besorgt lächelnd.
Folgendes war geschehen.
Nachdem Jochen Gensfleisch gekommen war, setzte er sich an den Ofen zur schnurrenden Katze, stopfte seine Pfeife und begann mit dem Wirt ein Gespräch:
„Schwere Zeiten, Martin, schwere Zeiten.“
„’s Geld is rar und was der Jüd is, dou haaßts, mer nemma die Bauern die Schlappen, deï kenna barfes laafen.“
„No, no, Jochen; fangst öitz schon wieder oo zon schimpfen. Ge zou, halt dei Maul.“
„Naa, Martin, mei Maul halt i niet, mei Maul hot kan Balken. I ho fufzehundert Märkli verlorn dei den Saujuden. Dou mouß ma si abrackern und Blout schwitzen fer die Saujuden. Naa, Martin, mir kummst grod reecht. Mei Maul halt i niet. Naa, Martin, naa.“
„No ja, öitz sei nor still, mer mou si ja schäma.“
Indes kamen Jochen Wässerlein und sein Großknecht, dann der Schmied. Und hintennach trippelte Lämelche Erdmann. Die drei Händler: David Krailsheimer, Bärmann Schrot und Max Lippmann saßen eifrig plaudernd in der andern Ecke.
„Lämelche!“ schrie der Schmied, „dou kummst her.“
„Gimm an a Gackala[1], Martin, daß er kan Rausch kreïgt,“ höhnte der Großknecht.
[1] Ei.
„Dou steigst afn Schemel, Erdmännla, oder i zeïg di bei dein Krägala nauf.“
Lämelche sah alle der Reihe nach ängstlich an, lächelte blöd und versuchte auf den Stuhl zu steigen. Jochen Gensfleisch gab ihm einen Stoß auf den Rücken, und mit einer verzweifelten Anstrengung gelang es dem kleinen Mann, den Stuhl zu erklimmen.
„Öitz packst die Katz bein Schwanz,“ gebot der Schmied.
„Aber glei, sunst gitts a Tracht,“ setzte Jochen Gensfleisch hinzu und schmunzelte.
Lämelche blickte schaudernd auf den schnurrenden Kater und rieb die Finger aneinander.
„Obst glei die Katz packst –!“
„Dees es d’r überhaupt a Schiekleter[2], der hots dick hinter die Ohren. I glaab alleweil, do is nit ganz sauber in der Gschicht mit ’n Sürich Sperling. Alli Tag und alli Tag is er dreïbnghockt.“
[2] Schielender.
„Erdmännla, hast’n Sürich Sperling derstochn? Wennst es nit hast, no konst aa die Katz bein Schwanz packen.“
Lämelche blickte, bebend am ganzen Körper, um sich. Alle wußten, daß er einen namenlosen Abscheu vor Katzen hatte. Er wich jeder Katze in weitem Bogen aus. Ja, er schloß sogar die Augen, und wenn die Katzen des Nachts vor seinem Hause schrieen, verstopfte er sich die Ohren und lag dennnoch in unbeschreiblicher Furcht in seinem Bett.
Die drei Juden im andern Winkel hatten davon gesprochen, wie Isidor Rosenau, der doch Vermögen und ein gutes Einkommen habe, am besten zu verschadchene, zu verheiraten sei. David Krailsheimer, der berühmteste und geschickteste Schadchen in der Gegend, machte entsprechende Vorschläge.
„Jou, kaane isn recht,“ schimpfte er. „Er will Geld, Geld. Er nemmt vom Misbeach. Viermal bin ich hiegeloffen wegn der Rahel Rosenstein ... No, Isidor, nix mitn Schiddich? Wie viel hat se? sagt er. Dreißig Mill, sag ich. Verzig kann ich verlange, ich maan, verzig is nit zoviel, sagt er. Wie haißt verzig, sag ich, sie is a scheens Madla. Was thu’ ich mit der Schönheit, sagt er, fer die Schönheit kann ich mer kaafen, waaßt was? an Hutzelstiel. Etz waaßt es. No, sie is brav, sag ich. Ich pfeif d’r auf die Bravheit, sagt er. Wenn se hat verzig Mill, braucht se nit zu sein brav. No, was sagst de daderzu? Is es nit himmelschreiend? Geh ich noch amal zon alten Rosenstein. No, sagt er, will ich geben fünfunddreißig, kaan Heller mehr. Püh, wie haißt, sagt der Isidor, wenn ihm nit wert es der Name Rosenau fünf Mill, soll er aach behalten sei Tochter. Soll se eimachen, süß oder sauer. No, was sagste daderzu! Chuzpe vorn Dohle!“
„E Beheeme,“ pflichtete Lippmann bei.
„Hillels Geduld ghert derzu, wahrhaftik,“ konstatierte Bärmann Schrot.
„No, was is dermehr mitn?“ begann David Krailsheimer wieder mit seiner Fistelstimme und grinste (dieses Grinsen hatte nicht einmal den Anschein eines Lachens). „Was is dermehr? Wenn er so alt wird wie Mesuschelach, ich laaf nemmer nachra Fraa fer’n. Lehachlesponim! – Da sich! ’s Erdmännla! – Also, wie gsagt, ich bin joze. Der Silbermann in Ferth is aach a ganz gute Partie fer die Rosensteini.“
„Jou! Chalomes mit Backfisch! Der Silbermann is e Phantast. Red in aaner Tour von Neigung. Wenn ka Neigung do is, is ka Massel do, sagt er. A Narr!“
„Bei den haaßts aach: viel Schmerchel, weng Serchel, – wenn mern sicht, lacht er!“ bemerkte Max Lippmann, um gleich darauf die andern anzustoßen und sie auf Lämelche Erdmann aufmerksam zu machen. Sie drehten sich um, hörten die letzten Worte des Schmieds, wurden blaß und stierten halb furchtsam, halb entrüstet hinüber. Martin Ambrunn war betreten, suchte sich ins Mittel zu legen, aber der Schmied blinzelte ihm bedeutungsvoll zu und so nahm die Scene ihren Fortgang. Doktor Schreigemut und der Apotheker betraten den Raum und lachten, als sie sahen, wie Jochen Wässerlein die Katze nahm und sie wie einen Pelz Lämelche Erdmann um den Nacken legte und wie der Unglückliche dann dastand mit einem Gesicht, das nicht mehr Angst, nicht mehr Schrecken ausdrückte, sondern etwas, das jenseits aller menschlichen Empfindungen liegt. Das Tier, das nicht scheu war, blieb faul sitzen, blinzelte, schloß die Augen und fuhr behaglich fort zu schnurren.
Jetzt erhoben sich die drei im Winkel, ihre Bierkrüge in der Faust als Waffe, begannen ein Geschrei, als ob dem Lämelche mit Schreien geholfen wäre, aber näher als auf vier Schritte kamen sie nicht an den Tisch der Bauern heran, – bis der Schmied einen zinnernen Teller ergriff, worin sich zwei Wecken befanden, und ihn dem Bärmann Schrot so heftig an die Nase warf, daß dieser Körperteil sofort blutete und sein Besitzer in ein Hilfegeschrei ausbrach. Die andern zwei, insonderheit der rotbärtige Krailsheimer, hatten beständig hinter dem breiten Rücken des Schrot Deckung gesucht, jetzt sahen sie sich schutzlos. Die Bauern brüllten, der Schmied brüllte, der Wirt brüllte als Vermittler, die Magd jammerte, der Doktor blickte besorgt um sich, der Apotheker hielt dem Schrot ein blaues Tuch vor die Nase, die zwei Händler thaten ihr bestes, um den Lärm zu vermehren, die Katze sprang mit einem Satz auf den Ofen, ein kleiner Junge lief fort, den Gendarm zu holen, und mitten in dem unsinnigen Lärm und Getöse ging die Thüre auf und Elkan Geyer kam herein.
Sein Erscheinen bewirkte eine augenblickliche, totenhafte Stille, denn alle zusammen hatten den Blick auf ihn geheftet, als die Thür aufgegangen war. Er war vollständig, von oben bis unten, Kopf, Gesicht und Hände und Kleider, mit Kot bedeckt, was um so merkwürdiger war, als die Landschaft voll Schnee und alles im Umkreis gefroren war. Seine Haare hingen steif, in drei oder vier Strähne verteilt, auf die Augenbrauen herab, und den Hut schien er irgendwo verloren zu haben. Sein Gesicht war weiß wie Kalk, eingefallen und verzerrt, in seinen Augen flackerte ein unstetes und beängstigendes Feuer, sein Mund war nicht geschlossen. Sobald er eingetreten war, machte er eine weitausholende Gebärde wie ein Betrunkener, stützte sich mit beiden Händen auf eine Stuhllehne und sein Kopf sank tief zwischen die Schultern.
„Allmächtiger Gott, was haste denn, Elkan?“ raunte ihm Krailsheimer zu. „Biste schikker?“
Elkan schüttelte den Kopf. „Lämelche, komm her zu mir,“ lallte er. „Bist du nicht jeden Tag in der Woch beim Sürich Sperling gewesen?“
„Nein, nein,“ wehrte sich Lämelche Erdmann mit gilfender Stimme, „weißt denn nicht, Elkanleben, Schoode, der de bist, weißt denn nicht, daß meine Schwester oben wohnt im Dachstübche?“
„Ich weiß gar nicht, was mit mir ist,“ sagte Elkan langsam, legte die Hand über die Augen und sah dann alle, die sich um ihn herumgestellt hatten, mit leerem Ausdruck an. „Ich war bei ihm in der Nacht,“ murmelte er, dicht an den Apotheker herantretend. „Und wie alles still war, rief er nimmer nach mir, daß ich an sein Bett kommen sollte, sondern fing an, im Zimmer Gesichter zu sehen, die von Hause kamen. Er sagte, sie lächelten.“
„Ruf mir meinen Sohn, Krailsheimer!“ schrie er plötzlich, streckte beide Hände vor sich aus und drehte sich ganz um sich selbst. Er fiel hin wie ein Stock, sein Hinterkopf stieß mit einem dumpfen Krach an das Tischeck und alle wandten sich schaudernd ab. Der Wirt schrie nach Wasser. Pavlovsky kam, von dem Müllerburschen begleitet, Lämelche lief fort, um Agathon zu holen, der Doktor drängte die müßigen Zuschauer in den Flur und ging dann selbst ratlos hinaus, da der Unglückliche sich von niemand berühren ließ.
Als Agathon zu seinem Vater trat, nahm ihn der mit beiden Händen beim Kopf, zog ihn zu sich herunter und flüsterte: „Aga, ich will dir was sagen, aber sei still in die Ewigkeit. Ich habe Sürich Sperling umgebracht. Bin ich herumgegangen wie ein Geschlagener vor dem Herrn und hab’s auf meinem Herzen lasten gefühlt, daß ich sterben muß, weil meine schuldige Hand befleckt ist. Sag nichts, bin ich tot, so hab ich gebüßt und der jüdische Name braucht nicht verunreinigt zu werden. Ich wollte mir das Leben nehmen und hab mich hinuntergestürzt in den Steinbruch, daß es aussehen sollte wie ein Unglück. Aber die Decke vom gefrorenen Wasser ist durchgebrochen und da hab ich mich ins Dorf geschleppt. Was schaust so? Gell, ich atme schwer und rede schwer. Hol jüdische Männer, daß sie mich heimtragen.“
Während Agathon hinter dem Handwagen herschritt, womit der Vater nach Haus gefahren wurde, während er angstvoll nach einer Aufklärung suchte, die ihm seine Vernunft verweigerte, stieg seine innere Erregung mehr und mehr. Er fühlte sich wie zerrissen. Und während der nächsten Stunden kam ein Nachdenken über ihn, so wie es selten einem Menschen vergönnt ist, in sich die Dinge der Welt zu sehen. Er war nicht mehr jung; eine Einsicht, eine Inspiration, hatte seine Jahre weit überflogen. Er hatte eine That begangen, für die andere sühnen und leiden müssen. Er jedoch hatte sich gereinigt und erhoben gefühlt dadurch; es war ihm damit geschehen, als hätte man seine Hände entfesselt zu freiem Gebrauch. Er war sehend geworden durch diese That und alles um ihn herum, Menschen und Dinge und Fügungen, hatten förmlich einen Bund geschlossen, ihn zu schützen. Er hatte sich keiner irdischen Obrigkeit unterworfen gefühlt, doch auch keiner von jenen göttlichen Mächten, die er bisher verehrt. Eine Stimme in ihm, die ihm aber fremd war und ihn schaudern ließ, so oft er sie vernahm, rief ihn zu etwas ganz Neuem. Und er wußte jetzt, worin dies Neue bestand!
Daheim waren überall bestürzte und erschrockene Gesichter. Die Kinder waren nicht zu Bett. Die Kartoffeln standen unberührt und erkaltet auf dem Tisch. Die Petroleumlampe war ausgelöscht worden, und die Talgkerze stand auf dem Kommode-Eck in einem dicht mit Grünspan überzogenen Leuchter. Mirjam saß auf der Bank und hielt den Kopf in den Händen. Die schweren Sorgen um das Brot waren nicht nur auf den Stirnen zu lesen, sondern auch auf Tellern und in Schränken. Joelsohn war auch wieder da. Agathon ging dem finstern, schleichenden Beter aus dem Weg.
Vor seines Vaters Bett in der Kammer stehend, rief er den bleich, mit geschlossenen Augen Daliegenden an. Elkan öffnete die Lider mit einem entsetzten Starrblick. Eine tiefe Furche lief auf beiden Seiten seines Gesichts bis zu den Mundwinkeln herab und erinnerte an die übertriebenen Falten eines grotesken Schnitzwerks.
Agathon stieß mit einer ungeschickten Bewegung an das wackelige Tischchen vor dem Bett, der Leuchter fiel um und es war ganz finster. Unwillkürlich atmete er auf, als ob er gewünscht hätte, es möge finster sein. Doch erblickte er an der Wand, die nur durch einen Bretterverschlag gebildet wurde und einen ursprünglich größeren Raum in zwei erbärmliche Löcher teilte, ein glühendes Schimmern, und als er näher trat, sah er im andern Gemach seine Mutter sitzen, die den Oberkörper über den Tisch gelegt hatte. Das Gesicht war verdeckt durch die verschränkten Arme. Vor ihr saß Joelsohn mit seinem Asketengesicht, den dünnen Lippen, den kaltfunkelnden Augen, den gebogenen, hageren Mönchsfingern. Finster starrte er vor sich hin, als ob er in ein Grab schaute. Und er schaute in ein Grab. Er selbst hatte es gegraben mit seinesgleichen zusammen, um darin alles zu verscharren, was frei und schön ist, seit Jahrtausenden. Und da saß er und murmelte das Schemenesre: Sochrenu lachajim melech chofes bachajim; gedenke unser, o Herr, zum Leben, der du Wohlgefallen hast am Leben.
„Vater!“ flüsterte Agathon leidenschaftlich. „Vater, hör mich an.“
„Licht, Licht!“ erwiderte Elkan dumpf.
„Ich hab keine Streichhölzer da. Hör nur erst. Es ist nicht wahr, daß du Sürich Sperling getötet hast. Ich hab’s gethan.“
„Nein, Aga, du willst eine Wohlthat an mir thun, aber es ist umsonst.“
„Weißt du denn noch genau, wie es war? Bist du ins Haus und hast es gethan, während er schlief?“
„So war’s. Oft wenn er hereinkam ins Haus, hab ich ihm das böseste gewünscht, was man einem Menschen zudenken kann. Ich bin auf den Knieen vor ihm gelegen und hab geschluchzt wie ein Kind, aber er hat kein Erbarmen mit mir und meinen Kindern gehabt. Seine Augen leuchteten vor Haß; etwas Überirdisches von Haß und Vernichtungsfreude lag darin. Wie ein Narr bin ich nach Geld gelaufen und ging über Land und dachte mir, wenn er doch tot wäre. Und immer war der Gedanke in mir, bis die Nacht kam, wo ich mich hinlegte zum Schlafen. Aber ich schlief nicht, sondern ging hin ...“
„Es war ein Traum, Vater!“ rief Agathon und preßte seine Finger um den Arm Elkans.
„Erst hab ich’s auch gedacht, aber wenn man solche Dinge durchmacht, giebt es solche Träume. Aber an einem Tag, es war, wie deine Mutter so wunderbar gesund wurde, an diesem Tage fiel’s auf mich herunter wie Centnerlast: Ich hab’s gethan. Wenn sich auch die ganze Seele in mir dagegen aufbäumt, so ist die That doch da wie schwarzes Gewand, wie die Finsternis selber.“
„Es war ein Traum, Vater,“ begann Agathon mit seltsamer Freudigkeit und jene hinreißende Inspiration kam wieder über ihn. „Ich war es, ich hab es gethan. Das weiß ich und kann es verantworten. Ich bin kein Jude mehr und auch kein Christ mehr und ich habe nicht euer Schuldfühlen in mir. So ist meine That über dich gekommen, weil du ein Jude bist und ich von deinem Blut. Weil dein Haus, deine Wände, deine Kleider, deine Messer und dein Gebet es nicht dulden dürfen, und sie mußten alles das an dich heften, wovon ich frei war und frei sein mußte. Denn ich weiß, was bevorsteht, Vater, und meine Hände sind schon ausgestreckt für die künftige Arbeit. Ich weiß, daß mir genau so ist, als ob mit Sürich Sperling die ganze christliche Religion gestorben wäre, oder vielleicht nur der christliche Geist in diesem Volk, durch den es hassen mußte und Blut vergießen und wußte nicht warum und war selber gequält dadurch. Vielleicht hab auch ich nicht die That begangen, sondern der neue, fremde Geist, der jetzt kommt, – ach, mir schwindelt, ich kann gar nicht weiter denken.“
Elkan Geyer hatte sich erschrocken aufgerichtet und ihm war, als sähe er seines Sohnes Gesicht in der Dunkelheit leuchten. Dann ächzte er plötzlich schwach auf und verlor das Bewußtsein. Agathon rief nach Licht.
In stetem, ruhigem Fall sank der Schnee, bisweilen glitzernd und gleißend im Lichtstrom eines Fensters. Am Abend noch wanderte Agathon umher und sah Gudstikker von ferne. Doch in weitem Bogen wich er ihm aus. Er hatte keine Sympathien mehr für Stefan Gudstikker, der zu den Menschen gehörte, die bei ihren Versicherungen stets die Hand auf das Herz legen. Auch hatte er die Gewohnheit, wenn er mit einem Menschen in Streit gelegen, heimzugehen und dem andern einen langen Brief zu schreiben, voll von advokatischen Wendungen und rätselhaften Andeutungen auf Ewiges, Zukünftiges und Unveränderliches, – große Worte, Verlegenheitsworte. Er liebte die melancholischen und resignierten Töne, prahlte gern vor Unkundigen, sagte die Pläne zu seinen Arbeiten jedermann in überschwenglichen Phrasen voraus, indem er ihn in eine abgelegene Kneipe zog, schimpfte über alles Große und Anerkannte, erhorchte aber dabei stets des Zuhörers Meinung vorher, der er entweder, wenn es sein Vorteil heischte, beipflichtete, oder sie in einem hinterlistigen Feldzug besiegte. All das wußte Agathon, wenn er auch neben all diesem Neid, dieser Verbitterung und Großmannssucht einen hohen Zug gewahrte, durch den Gudstikker fähig war, das wirklich Große zu verstehen und sich ihm hinzugeben.
Als Agathon am Haus der Estrichs vorbeiging, sah er einen helleren Lichtschimmer als sonst aus den Fenstern strahlen. Drinnen erblickte er ein Bild voll Frieden. Der Weihnachtsbaum stand in der Ecke und seine Spitze bog sich unter der Decke. Käthe saß am Klavier in einem alten, blauen Kleid, das die Arme entblößt ließ, und sie spielte in einer schweren, langsamen, trägen Art, das Gesicht nach oben gewendet, wie wenn sie einer oft gehörten und nun vergessenen Melodie nachhinge. Ihre sonst so geschwätzige Mutter schien stumm und der Alte sah aus, als ob er heute sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen ließe. Agathon wandte sich ab und blickte in die finstere Landschaft. Er war bewegt. Ziellos ging er weiter, – zur Höhe. In der Luft hing es wie eine Fülle feinen Schneestaubs. Bald kamen die Tannen und eine furchtbare Finsternis brütete zwischen ihnen. Fern im Norden sah er den Lichtschein über Nürnberg. Als er dann wieder umkehrte, gewahrte er den Kirchturm des Dorfes wie eine drohende Nachtgestalt. Da das Dorf im Thal liegt, sah er nur den Turm; er schien auf den Feldern der Nähe zu stehen und zeichnete sich schroff und rätselhaft klar gegen den Himmel ab.
Hier traf er nun doch auf einmal Stefan Gudstikker, der wie aus der Erde emportauchte.
„Wo kommen Sie denn her?“ fragte Agathon.
„Von Nürnberg,“ erwiderte Gudstikker unwirsch.
Agathon wußte, daß er log und fragte sich vergeblich nach dem Grund der Lüge.
„Man läßt mir keinen Frieden,“ polterte Gudstikker. „Gesellschaften, Huldigungen, Damen, Stammbuchverse, zum Teufel damit.“
„Und was machen Sie sonst?“ fragte Agathon unmutig.
„Ich? Ich versumpfe. Ich sterbe in Caféchantant-Luft mit angehenden Genies, wie Sie. Ja, Sie sind auch so einer, so ein Weltverbesserer. Himmlischer Himmel, welch ein Quark! Das Leben ist rauh und nüchtern geworden und die Paulusse werden verlacht. Prophet sein, ja, gut, ich habe nichts dagegen, wenn ihr euch auf betrunkene Hausierer und reiche Morphinistinnen beschränkt. Im übrigen: es lebe der Storch und die Gemütlichkeit.“
„Sie sind sonderbar,“ sagte Agathon zerstreut.
„Ich will Ihnen etwas sagen, das sollten Sie sich merken,“ fuhr Gudstikker fort, „unserm Leben fehlt der Erdgeruch. Das ist es, was wir brauchen. Und nun leben Sie wohl. Ich muß der Sippschaft da drinnen die üblichen Geschenke bringen.“ Gudstikkers feines Seelenleben pflegte sich oft in Geschmacklosigkeiten zu manifestieren.
Agathon hielt ihn am Ärmel zurück und fragte ihn ernst, ob er nicht wisse, was mit Monika Olifat vorgegangen sei.
„Ich?“ machte Gudstikker. „Vorgegangen? Nein, ich weiß nichts, auf Ehre nichts!“ Und er legte die Hand auf die Brust. Dann ging er, nickend, den Hutrand berührend.
Agathon ging in Olifats Garten und starrte zu den Fenstern empor. Die Gardinen hingen unbeweglich hinter den Scheiben, und kein Schatten glitt an ihnen vorbei. Agathon ging hinauf. Frau Olifat lag auf dem Diwan und las in einem abgegriffenen Band. Sie war eine unansehnliche Dame, die beständig etwas einfältig lächelte und es liebte, von ihrer großen Vergangenheit zu erzählen. Sie war schwach und von einem falschen Gefühl der Noblesse bis ins Lächerliche durchdrungen. Als Agathon kam, spielte Monika mit ihrer kleinen Schwester Ball. Das Kind war voll Begeisterung dabei. Sein goldblondes Haar fiel zu beiden Seiten des Halses bis auf die Brust und bei jeder Bewegung flogen die Haare über Stirn und Wangen. Monika saß auf einem niederen Schemel und fing den Ball oder warf ihn fort, ohne die Richtung ihres Blicks zu ändern. Und wenn ihr der Ball entwischte, ließ sie Esther danach suchen.
Agathon setzte sich zu ihr auf einen zweiten Schemel, stützte den Kopf in die Hand und den Arm aufs Knie und betrachtete Monikas Hände, die weiß und fein waren, mit schlanken Fingern und blassen Nägeln. An der Linken trug sie einen spiralförmig gewundenen Ring, der nur locker saß, und den sie bei jeder Bewegung fast mechanisch zurückschob. Jede Bewegung selbst schien nur mechanisch, oft sanken die Hände matt in den Schoß und blieben müßig liegen, selbst wenn der Ball schon durch die Luft flog; dann legte sie den Kopf zur Seite und ließ ihn an sich vorbeisausen. Esther konnte dann gar nicht begreifen, wie man so dumm sein konnte. Nachher kam ein anderes Spiel, das Agathon noch nie gesehen hatte. Monika setzte sich dazu ganz auf die Erde und legte zwanzig Spielkarten rund um sich herum. Nun sollte Esther mit verbundenen Augen die Herz-Dame suchen. Ein seltsames Spiel, umsomehr, als Monika dabei fortwährend lächelte und gespannt auf die Karten sah; und ihr Lächeln hatte etwas von dem einer Wahnsinnigen.
„Warum bist du so eifrig beim Spiel, Monika?“ fragte Agathon, eigentümlich bewegt.
Sie richtete ihre Augen trotzig und verwundert auf ihn. Dann sagte sie: „Also jetzt, wenn du den Buben erwischst, darfst du mich schlagen, Esther.“
„Fest?“
„Fest schlagen, ja. So fest du willst.“
„Den Herzbuben?“
„Ja.“ Monika legte sich nun mit dem ganzen Körper auf die Dielen, streckte die Arme über sich hinaus und schloß die Augen.
„Du bist unanständig, ma fille,“ sagte ihre Mutter flötend. „Il faut avoir plus de dignité chez ce jeune homme.“ Es gab nichts Komischeres, als die Gravität, womit sie ihr merkwürdiges Französisch sprach.
Als Agathon sich verabschiedete, folgte ihm Monika mit einem kleinen Lämpchen in den Flur. Doch ein starker Zugwind schlug ihnen entgegen und löschte das Licht aus. Eine kurze Zeit lang standen sie unschlüssig im Dunkeln, noch geblendet vom Licht des Zimmers, dann konnten sie einander sehen und fanden, daß es gar nicht finster sei. Als Agathon an der Treppe gute Nacht sagen wollte, lehnte sich Monika weit über die Brüstung und er sah ihre wilden Augen leuchten. Er streckte beide Hände nach ihr aus und wußte nicht, wie er sie plötzlich ganz in den Armen hielt und seine Lippen behutsam und voll Innigkeit auf ihre beiden Augen drückte. Sie lag wie eine leblose Masse an seiner Brust, und obwohl sie weder weinte noch sprach, zuckten ihre Lippen unaufhörlich.
Dann stand Agathon vor dem Gartenthor und träumte, sah über das weite, nachtdunkle, schneeblaue Land, und nun fühlte er, wie sehr er dies Land liebte, das ihm Heimat war und ihm so vertraut war in jedem Tannengehölz, in jeder Hecke.
Als er am nächsten Morgen, dem Feiertag, der vielleicht der friedlichste Tag des Jahres ist, weil der Schnee selbst die Schritte der Kirchenbesucher leiser macht, weil er einen Ring von Glockenmelodien um die ganze Erde flicht, als er da an Estrichs Zaun vorbeikam, hörte er lautes, grimmiges Schelten im Hause. Er lauschte. Es war die wetternde, böse Stimme des Alten. Er traf dann Gudstikker, der ihm in einer wahrhaft kindlichen Erzählerfreude alles berichtete. Der Bruder des Alten sei ein heruntergekommener Mensch, der nichts mehr besitze, als ein altes, ererbtes Patrizierhaus in Nürnberg, das er nicht verkaufen dürfe. Er sei vollkommen Alchymist, suche schon seit zwanzig Jahren den Stein der Weisen und habe dabei ein großes Vermögen verschwendet. Nun sei er zum Bruder betteln gekommen. Gudstikker machte sich noch lustig über die „echt deutsche“ Sentimentalität, daß dies gerade am Weihnachtstag hatte sein müssen und schob dann in seiner überstürzten Art davon, weil er den König sehen müsse, der heute von der Residenz in Nürnberg eintreffen solle. Trotzdem hatte er noch etwas auf dem Herzen, kehrte um und fragte Agathon, ob es nicht merkwürdig sei, daß seine Braut Käthe an diesem verrückten Onkel Goldmacher mit überschwänglicher Zärtlichkeit hinge. Onkel Baldewin komme bei ihr gleich neben der Bibel. „Wie glücklich sich doch manches trifft in der Welt,“ schloß er in philosophischer Art seine Ausführungen, „daß solch ein närrischer Karpfen auch noch Baldewin heißen muß. Ausgerechnet Baldewin! Zu dumm!“ Er schüttelte sich vor Lachen, schaute auf seine Uhr, die er dann ans Ohr legte und sprang davon.
Daheim angelangt, sah Agathon einen Postboten, der für die Feiertagsarbeit von Frau Jette ein Trinkgeld erbat. Er hatte die Zeugenvorladung für die Verhandlung gegen Enoch Karkau gebracht. Frau Jette vermochte kaum ihren Namen unter den Empfangszettel zu setzen. Elkan Geyer würde gut Zeugnis ablegen – im Himmel. Er lag in Krämpfen und Fieberträumen und Frau Jette hatte niemand, der ihr beistehen konnte. Die Magd hatte sie gestern schon fortgeschickt, sie könne keine Magd ernähren, sie, die jeden Pfennig bewachen müsse. Heute mußte Frau Hellmut klar gemacht werden, daß sie gehen müsse; und schon am Nachmittag kam Sema zu Agathon, um ihn auf den Abschied vorzubereiten.
„Heute schon?“ fragte Agathon.
„Ja, heute.“
„Ich werde mit dir gehen, Sema kleiner.“
Eine lähmende Freude war auf dem Antlitz des Knaben sichtbar.
„Aber ich werde weiter gehen, als du,“ fuhr Agathon fort. „Weiter als du vermagst.“
„Weiter als ich vermag, gewiß nicht. Wohin denn?“
„Wohin! Wenn ich das wüßte. Ins Ziellose. Ach, Sema, wie schön war es in jener Nacht ... Die Waisenknaben waren mehr als froh, mehr als glücklich. Sie haben all ihr Unglück vergessen in der Nacht. Es war göttlich von dir, Sema.“
„Aber du hast es doch ausgedacht, Agathon. Ich liebe dich so sehr, Agathon.“
„Ja, du kleiner Sema. Wenn ich denke, wie du dort gesessen bist auf der zerbrochenen Bank, oder was es war. Nein, es war wundervoll! Alles in mir hat gezittert. Ich dachte, die Nacht selbst müsse sich bewegen und niedersinken wie ein altes Kleid und es müßte hell werden. Erinnerst du dich an den Knaben, der zunächst bei dir kauerte? In einem fort liefen ihm Thränen herunter und doch lachten seine Augen. Woher hast du nur all die Kunst, du Zwerg, sag’ doch?“
Sema näherte seinen Mund Agathons Ohr und flüsterte geheimnisvoll: „Die Mutter sagt, ich bin ein Fürstenkind.“
„Wie?“
„Das Kind des Königs, sagt sie.“
„Des, – welches Königs –? Unseres Königs, Sema?“
Sema nickte stumm.
Eine Stunde später führte Agathon eine viel wunderlichere Unterhaltung mit Frau Hellmut. Er sagte ihr, was Sema gesagt, und sie erschrak. Nach einer Weile begann sie: „Aber bewahren Sie es als ein tiefes Geheimnis, Agathon. Jetzt reden sie hier im Dorf davon und auch in den Zeitungen steht es, daß der König in die Stadt käme. Aber das ist nicht wahr. Was soll der König in der Stadt? Soll er sich anschreien lassen mit Hoch und Hurra? Dazu ist er viel zu stolz und zu herrlich, Agathon. Früher hat er es gethan, um die Minister zufrieden zu stellen. Jetzt verachtet er die Hochs und die Hurras.“
„Und das wissen Sie alles so gut? Und sitzen da bei uns in einem Scheuerkleid?“ fragte Agathon, erstaunt über die Ausdrucksweise dieser Frau.
„Ob ich es weiß? Niemand weiß es so wie ich. Sein junger Kopf ist in meinem Schoß gelegen. Das klingt Ihnen nach Roman, aber es ist wahr, wahr. Sein Geist hat geträumt in meinem Schoß, Agathon, und sein königlicher Leib hat Frucht getragen bei einer solchen Magd wie ich bin.“
„Aber wie ist er so, als Mensch?“
„Niemand kann mehr König sein. Niemand kann mehr Mensch sein, Agathon, und doch beides wie durch Zauberei verschmelzen. So ist er beschaffen. Voll Majestät, voll Güte, aber einsam wie der Tod selbst.“
„Und er ist in der That ein solch wunderbarer Mensch?“
„Er ist es. Er steht über allen Menschen, weit, hoch! Es ist noch nicht fünfzehn Jahre her, Agathon, daß ich ein schönes Weib war, ich habe manchen Triumph gefeiert auf der Bühne. Und mein ganzes Wesen war in ihm aufgelöst. Jetzt bin ich alt, lächerlich, tief gesunken, aber das wollte ich. Ich wollte tief sinken, um ihn immer höher und ferner zu sehen. Er ist ein Gott. Vor seinem Blick demütigt sich alles mit Freuden. Aber er ist zu groß für die Zeit. Er ist nicht ein Mensch, wie wir da. Er ist zum König geboren und das sind wenige. Aber er darf nicht König sein wie er will. Sie lassen’s nicht zu.“
Frau Hellmut sprach ihre kurzen Sätze stoßweise, mit langen Pausen. Als sie geendet, erhob sie sich hastig, wie beschämt und schlappte fort, Agathon in einem Zustand erregten Nachdenkens zurücklassend. Erst ein wirres Schreien und Durcheinanderreden vor den Fenstern störte ihn auf. Er blickte hinaus. Die beiden Rosenaus Mädchen verkündeten lebhaft, mit roten Gesichtern, irgend einen aufregenden Vorfall und sie deuteten gegen das Ende des Dorfes. Agathon hätte es kaum beachtet, da die beiden zum Zeitvertreib jede unbedeutende Sache zur Katastrophe aufbauschten, aber als Sema ihm winkte, hinauszukommen, folgte er und erfuhr, daß sich eine von den vertriebenen, russischen Judenfamilien auf der Altenberger Landstraße befinde und vor Elend und Hunger nicht weiter könne.
Die Unglücksstätte war nur eine Viertelstunde vom Dorf entfernt, und als Agathon dort war, bot sich ihm dieser Anblick. Ein Mann, oder nur noch der Schatten eines Mannes, lag auf der Erde, und seine erloschenen Blicke hafteten stier am Himmel. Die Frau, ein Weib von etwa dreißig Jahren, das vielleicht noch vor Wochen schön gewesen war, jetzt aber das Aussehn einer Greisin hatte, kniete vor ihm und wimmerte in der Art eines geschlagenen Hundes. Ihre Finger schienen ganz erfroren. Sie trug in Tüchern ein Kind auf dem Rücken, ein Säugling lag neben ihr im Schnee gebettet, ein Knabe von nicht mehr als sechs Jahren stand zusammengekrümmt, mit verweintem, schmierigem Gesicht neben ihr, klammerte sich, schlotternd vor Frost, an ihren Rock und richtete zuweilen in den fremdländischen Lauten eine verzweifelte Frage an seine Mutter.
Agathon, nicht geneigt zu träumen, unterbrach das Fragen und Gaffen der andern, schickte Sema zurück um einen Wagen, und da sich die Rosenaus zur Beherbergung der Unglücklichen erboten, leitete er selbst den Transport. Erst in der Nacht, die nun folgte (Sema und seine Mutter waren schon fort und Agathon hatte dem Freund versprochen, morgen zu kommen), kamen die Gedanken. Er empfand eine eherne Zusammengehörigkeit zwischen sich und seinem Volk, und doch haßte er dies Volk, – jetzt mehr als je. Und alle die haßte er, die sich des religiösen Gewands entäußert hatten und wie Trümmer eines großen Baues verloren auf dem Ozean des Lebens trieben, verachtet oder mächtig, doch auf jeden Fall Schmarotzer auf einem fremden Stamm. Inmitten deutschen Lebens ein fremdes Volk, voll gezwungener Fröhlichkeit, in einem unsichtbaren Ghetto. Der alte Herrlichkeitsgedanke ist verrauscht und mit den Spuren zweitausendjährigen Elends am Leibe spielen sie die Herren. Witzelnde Herren, scharfsinnige Herren, wedelnd unterwürfig oder voll schnöder Anmaßung, doch stets von unbändigem Ehrgeiz. Doch Agathon haßte auch diese von tausend Kämpfen durchrüttelte Zeit, diese atemlose, sinnlose, von Lügen schwangere, von geistiger Pestilenz durchsickerte. Und doch erfüllte ihn ganz die Sehnsucht, sich in den großen Strudel des Lebens zu stürzen, auszugehen wie einst David in jenen einfacheren Zeiten, um sich ein Königreich zu suchen. Und als er in den Morgenstunden zu schlummern begann, hatte sein Entschluß Festigkeit gewonnen und in seinen Träumen erschien jener König, der seinem Volk nun schon zum Mysterium geworden ist.
Am Vormittag packte Agathon ein schmales Bündel und reichte seiner Mutter die Hand zum Abschied. Frau Jette war so erschrocken, daß sie sich nicht gleich fassen konnte. Sie konnte den Entschluß des Sohnes nicht mißbilligen, nur fragte sie, weshalb er gerade jetzt fort wolle, da der Vater so krank sei.
Agathon schüttelte den Kopf. Zwischen ihm und seinem Vater durfte kein Band mehr sein. Gewaltsam und unerbittlich drängte es ihn fort, und er ließ sich durch nichts bestimmen, zu sagen, wohin er sich wenden würde. Er nahm auch die paar Groschen, die ihm die Mutter bot, nicht an, sondern versicherte lächelnd, daß er kein Geld brauche. Er steckte ein Dutzend Äpfel in das Bündel, Käse und Brot, küßte die Mutter und die Geschwister und ging in den klaren, kalten Wintertag hinein.
An Bojesen konnte man jenen leise fortschreitenden Verfall gewahren, der sich in einer mehr und mehr glänzenden Rocknaht offenbart; in jener gleichgültigen Vernachlässigung des äußeren Menschen, die sich bis zum Trotz steigert; in der Verringerung des Trinkgeldes für Kellner und Oberkellner: in der beflisseneren Art, vornehme, wenn auch sonst ganz geringfügige Menschen zu grüßen; in der erkünstelten Ruhe, womit man in den Läden nach dem Preis der Waren fragt, – kurz, in all jenen Dingen, die so tief gehen, wie sie unbedeutend scheinen und mehr verwunden, als das offene Geständnis der Not. Die Behaglichkeit gesicherter Zustände ist dann das einzig Wünschens- und Ersehnenswerte, und wenn es zuhause kalt ist, träumt man lange und hingebend den Traum vom offenen Kaminfeuer mit fallenden Glutkohlen, und man giebt sich dann gern den Anschein, in alle Tiefen der Metaphysik versunken zu sein.
Er war verlassen, und er überredete sich, daß er in seiner Einsamkeit glücklich sei. Eine befremdliche Ruhelosigkeit war über ihn gekommen, die ihn von Rast zu Rast und von Arbeit zu Arbeit trieb; aber die Rast war ohne Frieden und die Arbeit ohne Frucht. Die Häuser, die eingefrorenen Parkanlagen vor seinem Haus, die vorbeisausenden Züge der Ludwigsbahn, Menschen, Hunde und Karossen, alles hatte sich verändert, hatte in seinen Augen gleichsam etwas Ephemeres erhalten und schien schon allein durch die unlösbare Kette der Teilnahmlosigkeit, die sie umfangen hielt, verächtlich. Oft wenn der Sturm bei Nacht um die Mauern fuhr, daß es schien, als koche die ganze Atmosphäre, kam sich Bojesen als ein unermeßlich einsames Wesen vor im weiten Universum, das sich im Zustand des Wartens befand auf irgend einen magischen Befehl jener geschickten Dame, die unsere Lebensfäden so kühn und unberechenbar ineinanderstickt. Wie leer erfand sich schließlich die Wissenschaft vor seinem Nachdenken. Selbst die Lampe auf seinem Tisch, die Stühle, die Bücher im Regal, – sie hatten etwas Komisches für ihn.
Um etwas zu verdienen, suchte er Stunden zu geben. Es gelang ihm, die zwei Söhne des Witwers Salomon Hecht zum Privatunterricht zu bekommen. Salomon Hecht setzte einen eigenen Ehrgeiz darein, mit Bojesen gelehrte Gespräche zu führen. Ja, er überfiel den Armen oft auf öffentlichen Plätzen, in der Trambahn damit, wobei er so laut schrie in seinem abscheulichen Jargon, daß es möglichst viele Passanten hören konnten. Sie sollten nämlich hören, die Passanten, und es weitersagen, daß er, Salomon Hecht, ein entschiedener Materialist sei, – zunächst. Ferner ein Freidenker, ein Freigeist, ein Atheist, der jetzt einen „Freidenkerverein“ ins Leben zu rufen beabsichtige. Denn nichts erschien Salomon Hecht als ein so erhabenes geistiges Prestige, als das, ein Atheist zu sein. Er fand es edel und vollkommen; jeder Atheist war gleichsam a priori sein Freund; er suchte Korpsgeist unter die Atheisten zu bringen und sie zu organisieren.
In diesen Tagen hörte Bojesen, Gudstikker habe ein Buch veröffentlicht, und dieses Buch habe großes Aufsehen gemacht. Er unterwerfe darin das Militärwesen einer bitteren und vernichtenden Satire, und die Leiden seines Helden, eines tragisch endenden Offiziers, seien „erschütternd treu“ und „realistisch fein“ und „psychologisch tief“ geschildert. Die Zeitungen bemächtigten sich der Sache und machten sie in dieser oder jener Weise zu der ihren, d. h. sie modelten solange daran herum, bis sie mit Not ein grelles, politisches Kleid bekam. Er bat Salomon Hecht, ihm das Buch zu borgen. Herr Hecht hatte die Ränder des Buches dazu benutzt, um seinen Bleistift in kritischen und philosophischen Aphorismen schwelgen zu lassen. Daher konnte sich Bojesen lange Zeit nicht entschließen, den Roman zu lesen, denn wenn er ein solches Buch zur Hand nahm, hatte er dasselbe Gefühl, als solle er sich in ein Bett legen, das noch warm war vom Schlaf eines Fremden. Schließlich las er es doch, und er fand viel Virtuosität der Schilderung darin, viel Seiltänzerkunst, viel blendendes Detail, viel Flittertand in Attributen; denn mit den heutigen Fachlitteraten ist es so, daß ihnen ein gutes Attribut mehr gilt, als ein guter Gedanke. Und was die realistischen Feinheiten betrifft, so muß es zutreffen, daß vieles zu fein sein mag, um haltbar zu sein und vieles zu wahr, um Kunst zu sein. Bojesen sah, daß viel Wollen in diesem Buch steckte, das nicht zur Kraft entwickelt war und mehr solches, das erheuchelt war; er beobachtete darin jenes wunderbare Spielen mit der Natürlichkeit, jene leicht überspannte kokette Romantik der Gefühle, die so gefährlich ist, als sie realistisch scheint. Doch dachte er an all dies nicht mehr einen Tag später, denn viel bedeutsamere Dinge drängten sich vor ihn hin.
Eines davon allerdings, wofür er gar keine Augen hatte. Wenn er heim kam und sich in seinem Zimmer verschloß, wurde oft vor der Thüre ein schwaches Knistern hörbar. Dies Knistern stammte von einem Kleide, und die dies Kleid trug, war Fanny Bojesen. Und selbe Fanny Bojesen schlich über die sich krümmenden Dielen dahin, schreckte bei jedem Laut zusammen und legte ihr Ohr an die Thüre des Gemachs, hinter dem sich Bojesen verschanzt hatte, um gestorben zu sein für Leben und Liebe. Sie wurde nicht müde, zu lauern und zu lauschen, und nicht einmal ein Seufzen von drinnen belohnte ihre Mühe. Was sie oft nach solch fruchtlosem Spionieren that, war dies: sie setzte sich in ihrem Zimmer an den Tisch und schrieb, schrieb, schrieb ... die lange, klagende Epistel des unglücklichen Weibes, und diese Epistel erfuhr am folgenden Morgen stets das Schicksal des Verbrennens. Wenn Bojesen ausging, versteckte sie sich; wenn er kam, versteckte sie sich; aber nie war ihr Gehör feiner und wachsamer gewesen für jedes Geräusch, das auf sein Kommen oder Gehen deutete; wenn sie sich zufällig begegneten, wußte sie ihr Gesicht von Gleichgültigkeit förmlich strotzen zu lassen, und war sie dann allein, so weinte sie stundenlang. Als später das Dienstmädchen abgeschafft wurde, war es an ihr, ihm die nicht allzu reichlichen Mahlzeiten zu servieren. Keine Regung ihres Innern war dann auf ihrem Antlitz zu gewahren, kein Erblassen, kein Zittern ihrer Hand zu sehen. Trotzdem mag Erich Bojesen in dieser Zeit manche Thräne ahnungslos mitgegessen haben, die ohne sein Wissen die Speisen gewürzt hatte.
Er ergab sich jetzt den stillen Studien, die an der Grenze der Wissenschaft liegen und den Ausblick gestatten auf ein unermeßliches Reich von Hypothesen, auf die schrankenlose Nutznießung phantastischer Probleme. Es schien ihm oft, als ob sein kühler Verstand dabei in die Brüche gehen müsse, aber all dies gefährliche Balancieren im Reich unumstößlicher Gesetze entzog ihn der Welt und seinen eigenen Sorgen, und wenn er spät, spät in der Nacht in irgend einer ungeheuerlichen Formel den Boden neuer Entdeckungen zu sehen glaubte, konnte er in eine erhitzte Wonne gerathen, wie ein Wirt über das Bier, das er selbst gebraut und konnte vergessen, wie nahe ihm die Forderung praktischer und lohnender Arbeit gerückt sei.
Eines Tages, der Schnee war im Schmelzen und laue Winde kamen, fühlte er sich gänzlich abgespannt, fühlte er sich alt. Es ist jener wissende Zustand, in den wir geraten, wenn wir über unsere Berufssphäre hinausspähen und zugleich das Gefühl von Wichtigkeit verlieren, das die Quelle unserer Leistungen ist. Da wurde ein Brief in sein Zimmer geworfen, der den Poststempel Paris trug und so lautete:
„Eines Wortes bist Du noch wert. Ich erfülle Deine Bitte: hier hast du ein Lebenszeichen. Ich kann es Dir mit Recht senden, denn ich lebe hier. Hier hört man das Herz der Menschheit schlagen. Hier bin ich, die ich stets gewesen bin, nur unentdeckt gewesen bin, hier trinkst Du Dich wahnsinnig am immergefüllten Lebensbecher. Tausende purzeln, hunderte steigen, tausende jubeln und sterben zugleich. Aber es ist vielleicht nicht das Echte; nicht Nektar, sondern Haschich. Nichts für Deinesgleichen! Nichts für gute Charaktere, für Euch Perlen am alternden Hals Europas. Ich komme vielleicht zurück, weil es mich reizt, Euch dort ein wenig toll zu machen. Ich habe hier von einem König gehört, der bei Euch leben soll, – ein Heliogabal, unerkannt, ein Sonnenfürst. Wie ist es? Für den seid ihr ja viel zu stumpfsinnig.“
Dies der Brief. Bojesen warf ihn in eine Ecke, hob ihn jedoch wieder auf, legte ihn mit etwas feierlichen Gebärden zusammen und zerriß ihn dann in lauter quadratische kleine Stückchen. In diesem Augenblick kam ihm alles, was er trieb, so erbärmlich vor, und alles, was er wußte, so oberflächlich, daß er in einer schmerzlichen Apathie die Augen schloß. Dann nahm er eine Feder zur Hand und schrieb auf das nächste Stück Papier: Wissenschaft.
Es war ein Mann, ich weiß nicht wie er hieß,
Den das Geschick im tiefen Schoß der Erde
Vor langer Zeit zum Leben kommen ließ,
Und Finsternis war Mutter, die ihn nährte.
Doch Bojesen vermochte nicht zu reimen; auch fühlte er, daß sein Gedanke dabei die Klarheit verlor. Deshalb fuhr er in Prosa fort: Schweigen erfüllte sein Leben und nichts störte die Ruhe um ihn her, als ein beständiges dumpfes Summen und Dröhnen über ihm. Der Unterirdische setzte jedoch sein ganzes Sinnen und Wachen daran, den Grund dieses ewigen, drohenden, geheimnisvollen Dröhnens zu erforschen. Er glaubte nicht an ein Wunder; er teilte auch den Glauben von dem göttlichen Ursprung des Dröhnens nicht, wie er in überlieferten Dokumenten las, sondern forschte, erfand Meßapparate und andere Instrumente, stellte Gesetze und Regeln auf, berechnete die Stärke des Dröhnens und die Zeit, die verging, bis der Schall an sein Ohr kam und viele andere Dinge mehr, die ihn zu stolzen, gigantischen Hypothesen führten. Und nach langer, langer Zeit begann er zu graben, emporzugraben, und je mehr er grub, je vernehmlicher wurde das Dröhnen, bis endlich die letzte Schicht Erde von selbst fiel und der Sohn der Finsternis geblendet in die Höhe starrte, – ins Licht! Da kehrte er zurück in seinen unterirdischen Wohnsitz und war beglückt, als er sah, daß das Licht die Ursache des Dröhnens war. Doch wie andere Dinge hätte er sehen können, wenn er noch hundert Meter emporgekrabbelt wäre! Wie hätte das Surren und Brausen von tausend irdischen Dampfmaschinen sein einsamkeitgewöhntes Ohr betäubt! Wie wäre er entsetzt gewesen von dem endlosen Krieg, der über ihm tobte, von den Schicksalen, die in das Stampfen der Motore verwoben waren! Dabei hatte er vielleicht nicht einmal das wirkliche Licht erblickt, sondern nur das künstliche einer Maschinenhalle.
„Albern,“ flüsterte Bojesen und warf das Schriftstück in ein Fach. Jetzt erst empfand er den nagenden Schmerz, den ihm jener Brief zugefügt hatte. Jeanettens Bild stieg herauf. Nun wußte er sein ruheloses Forschen zu deuten, und er blickte im Zimmer umher, als ob er sich vor den Möbeln schäme, daß er sie je getäuscht und hintergangen mit seinem nächtlichen Wachen. Er sah Jeanette unbeweglich stehen, wohin er auch blicken mochte: in einem dunkelgrünen Kleid, das rote Haar gelöst, in den Augen eine melancholische Vertieftheit, die er in Wirklichkeit nie bei ihr bemerkt. Er ging im Zimmer umher und dachte an nichts anderes, als daran, wie er sie wieder gewinnen könne, und der thörichteste Ausweg erschien ihm schließlich als der beste. Er kleidete sich an, um zu Baron Löwengard zu gehen. Sein wahnsinniges Verlangen redete ihm ein, daß jener die Macht besitzen könne, sie zurückzurufen oder auf seine Bitte eine List zu ihrer Rückkehr gebrauchen würde. Er wußte nicht mehr, was er that.
Der Löwengardsche Palast hatte sich in nichts verändert. Noch immer trugen die Karyatiden geduldig die Last des Balkons, noch immer besann sich Merkur auf dem Dache, ob er fliegen solle oder nicht. Außerdem tropfte das Schneewasser von den Rinnen und Brüstungen, so daß die Balkonträger zu schwitzen schienen, und die Sonne vergoldete die ganze Fassade, – eine ahnungsvolle, milde, belebende Sonne. Auch im Innern des Hauses hatte sich nichts verändert. Die alte Pracht bestand noch; nicht, als ob der Besitzer dieser Reichtümer kürzlich zu Fall gekommen wäre und hunderte in Not gerissen hätte, sondern als ob irgend ein hochgeborener Gast die Ursache der vornehmen Stille des Vestibüls sei. Aber es scheint, als ob solch ein Unglück nur dazu diente, seinen Urheber zu erhöhen; wenigstens verschiebt sich nichts in seinen Lebensgewohnheiten, und wenn die Gläubiger sich über die Prozente geeinigt haben, ist das Schild seiner Ehre um nichts fleckenreicher als vorher.
Bojesen wurde angemeldet und vorgelassen. Mit zusammengepreßten Lippen stand er vor dem Kaufmann, der ihn einige Zeit unbekümmert musterte und sich dann entschloß, ihm einen Sitz anzubieten. Er ließ die Berloques an seiner schweren Uhrkette klappern, beugte sich gönnerhaft vor und fragte, womit er dienen könne.
„Ich komme wegen Ihrer Tochter,“ erwiderte Bojesen kühl.
Das Gesicht des Bankiers veränderte sich im Nu. Er richtete sich straff empor, schob seine Hand in die Rockbrust und sein Gesicht wurde förmlich steinern, als er sagte: „Meine Tochter hat mit der Firma Löwengard nichts zu thun. Wenn dies also der einzige Zweck Ihrer Anwesenheit ist, muß ich bedauern. Wenn meine Tochter in Not ist, hat die Firma keinen Grund, diesem Umstand ihre Aufmerksamkeit zu schenken.“ Es war klar, daß Herr Löwengard nur redete, um die Meinung der „Firma“ zu offenbaren; alles was ihn betraf, kam auch in höherem Maß der „Firma“ zu; außerhalb der „Firma“ gab es nichts, das so wertvoll gewesen wäre, um nur fünf Worte aneinander zu heften oder fünf Sekunden zu verschwenden.
„Ihre Tochter ist nicht in Not,“ entgegnete Bojesen stirnrunzelnd. „Ich wollte nur fragen, ob Sie nicht wünschen, Sie zurückzurufen. Ich bin in diesem Fall –“
„Verehrter Herr, ich sagte Ihnen schon, daß meine Tochter mit den Angelegenheiten der Firma nichts zu thun hat. Sie ist tot für das Haus Löwengard. Ich sehe außerdem keinen Anlaß, dies Gespräch fortzusetzen. Sie sind mir unbekannt.“
Das war ein deutlicher Wink; aber Bojesen blieb ruhig sitzen und folgte mit finsterem Blick dem Auf- und Abgehen des Bankiers, der die Hände auf dem Rücken hielt und mit den Fingern ein Geräusch machte, wie wenn man den Pfropfen aus einer Flasche reißt. „Vatergefühle und dergleichen kennen Sie wohl nicht?“ sagte er, empfand jedoch zugleich das Selbstsüchtige seiner Bitterkeit und errötete flüchtig.
„Vatergefühle setzen Tochtergefühle voraus,“ erwiderte der Bankier hochmütig und pathetisch.
„Und Sohnesgefühle!“ fügte Bojesen verächtlich hinzu, indem er an Gedaljas Schicksal dachte. „In Ihrem Haus scheint das erblich zu sein. Wo ist da der berühmte jüdische Familiensinn? Wenn Ihre Tochter ein Schuldschein wäre, hätte die Firma freilich mehr Grund, sich zu erhitzen.“
„Mein Herr!“ rief der Bankier, feig werdend. Seine tückischen Augen blickten unsicher nach der Thüre.
Als Bojesen ging, war die Sonne im Sinken begriffen. Sie ergoß Ströme purpurroten Lichts auf die tauenden Schneeflächen. Der Himmel, wie ein Teppich, war mit seltsam regulären Wolkenmustern besät, und in der Tiefe des westlichen Horizonts stand ein Rest der Sonne als glühendes Segment und war bald verschwunden, eine breite, gleichmäßige, brennende Röte hinter sich lassend. Bojesen schritt vorbei an den Bureaux der „Firma“, wo seit einigen Tagen wieder gearbeitet wurde, und sah durch die mit grünen Gittern versehenen Fenster. Pult an Pult; Commis neben Commis: bleiche, langnasige Menschen mit trüben Augen, mit Augengläsern, mit beschäftigten, sorgenvollen Mienen, – freudlose Rechenmaschinen. Staub!
Die Landschaft breitete sich flach und trostlos aus, nicht anziehender geworden durch die blendenden Abendgluten. Eisenbahnremisen, ein abgebrochener Zaun, durcheinanderlaufende Schienen, rötlich schimmernd im Widerschein des westlichen Feuers, einzelne Güterwagen, eine Lokomotive, stumm und kalt, ein Lastwagen, Bahnwärter- und Signalhäuschen, Telegraphenstangen, Güterhallen und weit drüben ein schüchternes Etwas von Wald, mit letztem Schnee behangen, und das erste oder vielleicht vorjährige blasse Grün eines Wiesenfragments. Und vieles von diesem weckte auf wunderbare Art Erinnerungen an die Kindheit in ihm, ließ Bilder der Heimat in ihm wachsen, und er hatte fast Heimweh. Er begegnete Leuten, meist Arbeitern, auch Spaziergängern, die die kohlendampferfüllte Gegend als „frische Luft“ betrachteten, und Bojesen fragte sich wie ein Kind, dem alles neu und absurd ist: was wollen sie? woher kommen und wohin gehen sie?
Gleichwohl sehnte er sich nach Gesellschaft, und da er nicht sehr weit von Nieberdings Villa entfernt war, wandte er sich dorthin. Er schritt oben an den Hängen hin, zwischen den Gesträuchen, zur Rechten die Mauer des Kirchhofs, tief unten schimmerte das Wasser des Flusses und drüben lag das ebene Thal, das vom Horizont verschlungen wurde.
Er fand die Thüre der Villa offen, und während er die Stufen hinaufging, fand er, daß es komisch genug sei, zu einem Mann zu gehen, den man im eigentlichen Sinn brutalisiert hat, und ihn um seine Gesellschaft zu betteln.
Da er niemand sah, klopfte er an die nächste Thür und als niemand antwortete, ging er hinein. Das Zimmer war leer; er schlug an der Seitenwand eine Portiere zurück und stand betroffen still.
An einem Diwan kniete, ganz in sich zusammengeschrumpft und -gekauert, Cornely Nieberding und richtete sich erst auf, als sich Bojesen verlegen räusperte. Sie warf mit einem energischen Schütteln das Haar zurück und rief angstvoll: „Was ist? Ist er tot?“
Als Bojesen sie erschreckt anstarrte, trat sie auf ihn zu, bot ihm schüchtern die Hand und flehte: „Bringen Sie ihn zurück! Sagen Sie mir, wo er ist! Ich weiß nicht, was ich thun soll, guter Gott, schon seit zwei Tagen! Wo mag er sein?“
Bojesen sah gespannt in ihr blasses Gesicht, das unaufhörlichen Zuckungen unterworfen war und von Schlaflosigkeit und Sorgen seltsam alt war. Als sie sich so schweigend betrachtet sah, ließ sie den Kopf sinken und ihre Ohren wurden glühend rot, während Stirn und Wangen nichts von ihrer leblosen Farbe verloren. Sie setzte sich auf einen kleinen Sessel, ließ die Arme schlaff hängen und sagte: „Ich kenne Sie ja gar nicht und Sie kennen mich auch nicht und wissen nicht, was mit mir ist.“
Bojesen wußte es in der That nicht. Er setzte sich ihr gegenüber, spielte mit dem Hut in seiner Hand und suchte nach Worten.
„Er ist ja mein Bruder,“ fuhr Cornely mit einer krankhaften Versunkenheit fort und lächelte, daß es Bojesen wie ein Stich traf.
„Aber zwei Tage, Fräulein! Wie oft bleiben junge Männer zwei Tage aus!“
„Haben Sie einmal Manfred gelesen?“ fragte Cornely, als hätte sie seine Worte nicht gehört. Doch sie selbst schien über das, was sie sagte, so entsetzt, daß ihr Gesicht eine aschengraue Färbung erhielt.
Auch Bojesen war erschrocken und schaute sie mit großen Augen an. Er fühlte, wie sein Herz langsamer schlug, als müsse es erst neue Kraft sammeln. Er nagte heftig mit den Zähnen an der Unterlippe.
„Es ist seltsam mit uns jungen Mädchen,“ sagte sie wieder mit ihrer singenden und gleichsam entfernten Stimme, und sah hinaus an den kahlen Himmel, gegen den sich die kahlen Äste naher Bäume wie feine Filigran-Arbeit abzeichneten. „Seltsam. Immer bleiben wir die ahnungsvollen Engel. Und was erleiden wir alles, wenn ihr glaubt, wir schlafen. Die Männer mögen nur das Süße an uns. Aber all das ist ja sinnlos. Finden Sie nicht, daß ich wie im Fieber rede?“ Sie lachte und Bojesen fühlte wiederum jenen Stich. Er war noch niemals so befangen gewesen, seine Unterlippe wurde ganz wund.
„Warum kommt er denn nicht!“ rief sie plötzlich, rang die Hände und legte sie dann, wie vor Schmerz, an die Schläfen. Ihr ganzer Schmerz hatte etwas so Unterdrücktes und Gepreßtes, daß Bojesen ganz ungeduldig wurde, ihr zu helfen. „Ach bitte, Herr – ich weiß Ihren Namen nicht mehr – gehen Sie ins Café National nach Nürnberg; heute ist doch Mittwoch? er soll dort einen Freund treffen, Estrich heißt er, glaub’ ich, Theobald oder Balduin, ich weiß nicht. Sagen Sie ihm, wie Sie mich gesehen haben. Seien Sie mir nicht böse, ich weiß nicht, was ich sonst thun soll. O, ich ahne, ich ahne wieder, was gekommen ist.“
Bojesen ging, schaudernd und fröstelnd. Er sprang, als er die Hauptstraße erreicht hatte, auf die Plattform der Pferdebahn und sah im trüben Licht, das die Gegenstände mehr zu verfinstern, als zu verdeutlichen schien, einige bärtige und monotone Gesichter. Es ereignete sich eine Episode während der Fahrt, die die heiße Bitterkeit in seinem Innern bis ins Unerträgliche aufwühlte. Der Wagen fuhr ziemlich rasch auf der Straße dahin, die nun schon Landstraße geworden war. Rechts und links standen vereinzelte Häuser, arme Mietskasernen, traurige Gärten, sandige Bauplätze, Hecken, leere Wirtschaftsgärten. Am „oberen Kreuzweg“ kam ein Dienstmann aus einem Thor gelaufen und rannte in einer Entfernung von über hundert Metern dem Wagen nach. Der Schaffner befand sich im Innern des Wagens und die Leute neben Bojesen lachten und schienen sehr gespannt, ob der Dienstmann den Wagen erreichen werde, aber ihre Freude über das atemlose Humpeln des Menschen war noch größer als ihre Spannung. Bojesen zitterte vor Scham und Zorn und griff an die Schnur, um dem Kutscher das Haltesignal zu geben. Als der Müdgelaufene kam, wurden die Mienen der so froh Gelaunten plötzlich ernst und sinnend und sie hörten den neuen Passagier so heftig atmen, daß es klang wie bei einem Kind, das sich verschnauft, wenn es geweint hat. Dabei rann ihm der Schweiß aus allen Poren, und er begann nun noch zu reden, suchte seine Eile gleichsam zu entschuldigen. Bojesen erschien das Ganze wie ein böser Traum und er dachte haßerfüllt an die prahlerische Verkündigung christlicher Tugenden.
Im Café war seine Frage nach Nieberding umsonst. Er fragte nach diesem unbestimmten Herrn Estrich; der Kellner schien selbst erstaunt, ihn zu vermissen. Er komme seit Jahr und Tag täglich um sieben Uhr. Es müsse sich etwas mit ihm begeben haben.
Als Bojesen durch die schiefen, bergigen Gassen zum Bahnhof schritt, geriet er durch den Hauch des Mittelalters, der ihn aus den stillen Bauten anwehte, in einige Verwirrung. Harlekine eilten an ihm vorbei, Damen im Domino, die schäkernd und kichernd zum Maskenball trippelten; überall machte sich der Karneval breit. Plötzlich stand Bojesen, totenbleich werdend, still. Er lehnte sich an einen Laternenpfahl, packte ihn mit den Händen und starrte mit bebenden Lippen einer Frau nach, in deren Gesicht er nur einen einzigen flüchtigen Blick geworfen und das ihm, wie in einer Hallucination, Jeanettens Züge gezeigt hatte.
Am nächsten Tag fand er Nieberding zu Hause. Cornely war wie sonst, still und verschlossen, mit dem wunderlichen, scheuen Lächeln um die Lippen. Ein Blick, der ihn traf, schien um Verzeihung zu bitten und Bojesen nickte ihr kaum merklich zu. In Nieberdings Wesen lag eine leidenschaftliche Abgekehrtheit; sein Gesicht war farbloser und seine Augen mehr gerötet als sonst.
Bojesen schloß sich wieder in sein Studierzimmer ein, für Tage. Er that oft nichts anderes, als stundenlang vor sich hinbrüten. Draußen war Sturm. Die Straße war mit Schiefer- und Ziegelsteinen besät, die Pappelbäume der Allee bogen sich wie Reiser. Die Hüte armer Unvorsichtiger flogen auf Dächer und in abgelegene Remisen. Beständig pfiff und jauchzte und heulte und wühlte es um die Mauern wie bei einem Wrack, das hülflos auf Felsenboden sitzt. Es sang und brummte und brodelte in den Lüften, und der ganze Himmel mit Wolken glich einer hurtig fahrenden Maschinerie, indes der Mond in der Nacht schreckhaft und fahl von Wolkenloch zu Wolkenloch stürzte.
An einem solchen Abend ging Bojesen aus. Er fühlte sich erschüttert im Sturm und sein Herz wurde weit. Er sah Blitze leuchten im Osten und hörte den entfernten Donner eines Februargewitters. Als er in die Gegend des Marktes kam, hörte er eine Stimme hinter sich, die den Wind laut übertönte. Er glaubte die Stimme zu kennen, verzögerte seinen Schritt und lauschte.
„No sag’ selber, hab’ ich geschlafen sitter ach Täg? Haste geschlossen gesehn meine Augen? Bin ich gewesen in schlechter Chafruse, daß se mer gemacht hat e schlechtes Gewissen? Haste schon emol son Sturmwind derlebt? Hu–uch! wirbel wirbel bl bll bll–!“
Bojesen war so entsetzt, daß er keinen Schritt mehr machen konnte.
„Holla! aach e Mann, den ich kenn!“ rief Gedalja und lachte unbändig. „Komm mit, Mann, komm mitle! Ich, – ich kenn’ die Welt, ich kenn’ se, ich bin der Chuchem von der Mannischtanna. Ich bin e Gelehrter vom Himmel, hä!“
Bojesen wich instinktiv zurück und packte Frau Hellmut, die den Greis begleitete, fest beim Arm. „Ist er betrunken?“ flüsterte er ihr zu.
Sie schüttelte den Kopf. „Mein Sema hat ihn gebracht, so wie er ist.“
„Und was führen Sie ihn denn herum?“
„Er ist uns fortgerannt. He, halt! halt!“ Und sie rannte ihm, in die Hände schlagend, nach, während er in der Mitte der Straße umhertanzte. Der Mond beschien ihn kalt und unheimlich. Bojesen empfand einen kühlen Schauder. Es war ihm, als sähe er hier den Zusammenbruch eines Volkes.
Auf einmal wurde der Greis still und ließ sich führen wie ein Kind. Bojesen ging an Frau Hellmuts Seite, die sich in seiner Gesellschaft unbehaglich fühlte und ihm zweifelnde Seitenblicke zuwarf.
„Ich kenne ihn,“ sagte Bojesen. „Es erschreckt mich sehr, das alles.“
„Wer sind Sie denn?“
„Bojesen.“
„So? Der Lehrer?“
„Gewesen, ja.“
„Sema spricht oft von Ihnen. Er geht seit vier Wochen in die Schule dort, wo Sie waren. Vorher war er krank. Da ließ ich ihn daheim. Er spricht fast so oft von Ihnen, als von Agathon Geyer.“
„So? Wo ist Agathon?“
„Das weiß kein Mensch. Sein Vater ist tot. Die Mutter bekommt von der Gemeinde Almosen. Der alte Karkau wird nächste Woch verhandelt. Es is traurig mit der Familie.“
„Kann ich einmal mit Ihrem Sohn reden? Er ist ein Freund von Agathon?“
„Ja. Er ist ja viel jünger. Ja, Sie können schon reden mit ihm. Marsch, hopp, Gedalja!“
Bojesen wußte nicht, weshalb er mit Sema reden wollte und was er sagen wollte. Aber alles was mit Agathon zusammenhing, erschien ihm rein und der Mühe des Forschens wert.
Der Mond verschwand wieder. Die Straße war leer. Hohl brauste der Sturm, wie wenn er aus den fernsten Winkeln des Weltalls käme und den Erdball vor sich hertriebe wie die Hüte der Knaben.
Sie kamen in den Schindelhof, einen engen, finstern Durchgang. Am Abhang, gegen den Fluß zu, lag Frau Hellmuts Wohnung in einem kleinen, einstöckigen, alten, verfallenen Hause. Gedalja kauerte sich nieder und weigerte sich, hinaufzugehen. Er stierte vor sich hin und lachte boshaft und trotzig.
„Wissen Sie, sein eigener Sohn hat ihn aus dem Haus gejagt,“ sagte Frau Hellmut. „Mein Sema hat ihn gefunden. Er ist auf der Brücke gestanden und hat unaufhörlich ins Wasser gestarrt.“
Sema kam herunter; ihm gelang es, den Greis hinaufzubringen. Droben kroch er auf allen Vieren, lachte, äffte den Wind, hockte sich auf einen Schemel, lachte.
„Jeanetterl, kumm her! kumm her, Jeanetterl! Ich muß d’r was sagn!“ flüsterte er kaum hörbar. „Ich hab’ d’rs ja gleich g’sagt. Geld will ich kaans. Ich pfeif d’r af dei Geld.“ Plötzlich fuhr er wie toll auf und stieß Sema mit voller Kraft weit von sich, daß er gegen den Ofen taumelte. „Dei Geld? Naa! Dei Geld? Da klebt Schweiß draa un Blut, Samuel! Es rollt – tief! Komm herla, Eisenhäärla! Chomezfresserla! Chuzpeponim! Ach, was haste gemacht mit en alten Mann!“
„Warum thun Sie ihn nicht fort?“ fragte Bojesen erschüttert.
„Morgen, Herr Bojesen.“ Bei dem Namen blickte Sema hastig auf und blickte Bojesen an. Dann stand er auf, trat zu Bojesen und fragte flehend: „Wo ist Agathon?“
Bojesen war erstaunt. Er schüttelte den Kopf, nahm Semas Hand und streichelte sie. Dann erschrak er, weil er etwas von dem Ausdruck von Jeanettens Augen in den seinen gewahrte. Eine Zeitlang war es still. Bojesen war versunken in den Anblick des langsam einschlummernden Greises, dessen Rücken steif an die Wand gepreßt war. Sema saß vor Gedalja auf der Erde.
Als Bojesen die finstern Treppen hinabsteigen wollte, eilte ihm Sema nach. „Herr Bojesen,“ rief er leise, „die Schüler!“ In abgerissenen Worten, atemlos, ganz von dem Bestreben beseelt, ein Unglück abzuwenden, erzählte er, daß viele Schüler der obersten Klasse morgen Nacht den Rektor überfallen wollten, wenn er vom Wirtshaus heimgehen würde; sie wollten sich in Clowns-Kostüme kleiden; sie thäten es aus lauter Begeisterung für Bojesen, aber es würde ihnen doch schlecht gehen, wenn es herauskäme, meinte Sema. Auch würden sie vielleicht den Rektor schlagen, denn sie seien ganz außer Rand und Band, darum habe er, Sema, Angst. Und am andern Morgen wollten sie dann alle zu Bojesen kommen und ihm ein Geschenk bringen.
Bojesen sah nachdenklich ins Finstere. Er legte seine Hand beschwichtigend auf Semas Haupt, drückte ihm dann schweigend die Hand und ging, während ihm der Knabe lange Zeit hülflos und verlassen die schmale, dunkle Gasse nachschaute. Nebenan wohnte ein Firmenmaler, der in nächtlichen Mußestunden klassische Monologe einübte und Sema hörte ihn brüllen, während er bang in die Nacht sah.
Indes wurde Bojesen nicht müde, gegen den Sturm anzukämpfen. Er ging über die Felder; die Landschaft schien zu wogen wie aufgewühlte See, der Fluß stürzte rauschend einher und war bis zum Rand angeschwollen. Bojesen empfand ein Grauen davor, heimzukehren und sann darüber nach, wie er die Nacht zubringen könne. Darum verfiel er darauf, den „siebenten Himmel“ aufzusuchen.
Der Innenraum war raucherfüllt. Neben dem Glühenden bemerkte der erstaunte Bojesen Herrn Salomon Hecht, der sich sogleich ängstlich erhob. „Äch kann doch nächt in solche Lokale verhandeln,“ sagte er. „Kommens in mei Wohnung. Äch hab a prachtvolles Haus da draußen un a große Bibliothek hab ich aach. Komme’s amal in Fraidenkerverain, da bän äch Vorstand. Ham Se atheistische Gedichte aach gemacht? Die missen Se machen. Gestern hab äch gschprochen übern moderne Materialismus. Der Doktor Gudstikker war aach dabai. Kenne Se ’n Doktor Gudstikker? Also wenn Se was wolln, komme Se zo mir. Äch gäb Ihne Empfehlunge, so viel Se wolln.“
Der Glühende sah aus, als ob ihm mit Empfehlungen nicht ganz gedient sei und blickte neidisch auf den Pelzmantel des reichen Gelehrten, dessen Benehmen Bojesen sehr erheiterte, besonders als er die lüsternen Blicke sah, die Jener hinter den Vorhang des Podiums warf.
„Ach, da is ja der Herr Doktor Bojesen,“ sagte Herr Hecht plötzlich, als ob er ihn jetzt erst bemerkte. „Apropos, ham Se gehärt von den Goldmacher in Närnberg? Se ham en jetzt verhaft’, glaab ich. Un von den Agathon Geyer, wo se hier verjagt ham? Ham Se nix ghärt? Heit Abend war’s. Es soll e gräßliches Gewitter gewesen sei un gebrannt hat’s aach, mer waaß aber noch nix bestimmtes. Ham S’n das nit ghärt? No gut Nacht!“ Schnell schritt er davon. Bojesen, tief erschreckt, eilte ihm nach, rief ihm nach, aber Herr Hecht sah und hörte nichts mehr. Auch der Glühende, sein Schützling, eilte ihm nach, um ihm seine Gedichte zu geben, doch der Mäcen war verschwunden. Bojesen war unruhig, mochte aber nicht weiter nach Agathons Schicksal fragen, nicht aus Furcht, Schlechtes zu hören, sondern vielleicht eher aus dem gegenteiligen Grund; gerade das drückte ihn nieder und machte ihn völlig mutlos. Er verwickelte sich in eine ziemlich blödsinnige Unterhaltung mit dem Glühenden, während der Anblick des Ortes, seiner gleichsam gestorbenen Buntheit, seines völlig erfrorenen Frohsinns, seiner Fülle an umgestürzten Stühlen, Käserinden, Wursthäuten, Bierresten und geflickten Vorhängen ihn düster und verschlossen machte. Später taute die vermoderte Fröhlichkeit wieder auf. Junge Damen von unbekannter Herkunft wurden sichtbar; sie hatten Larven vor den Gesichtern, was sie wahrlich nicht häßlicher machte; dann junge Männer mit gespreizter, wollüstiger, berauschter Ausgelassenheit; Rauch, Weingerüche, das Geräusch von Küssen, zuletzt Barbin mit einer Menge seiner verschnörkelten Weisheit und dem letzten Aufgebot seiner kindlichen Eleganz. Und hier hatte Bojesen vordem eine frische, glanzvolle, jubelnde Welt erblickt.
Zwei bewußtlose Damen schliefen schon auf dem Billard, zwei wenig schamhafte Paare hielten sich unter den Coulissen umschlungen. Die Büffetdame ließ sich in einer großmütigen Apathie vom Glühenden küssen; eine Art von Kellner stieg auf den Tisch und hielt eine Rede für sich allein und für seine Brüder im Himmel; ein pockennarbiges Fräulein kletterte in einem Anfall von Weltschmerz auf den Schenktisch und langte nach der Rumflasche. Ein offenbar schwachherziges und geistesarmes Individuum vergab aller Welt alle möglichen Unthaten und schluchzte in einem anarchischen Gefühl von Solidarität vor sich hin und Barbin, dessen edlere Abstammung durch jede Linie seines Körpers dokumentiert war, vermachte dem Glühenden einen mündlichen Traktat zur Erlangung der Klassikerwürde und ließ sich bald darauf herab, die pockennarbige Dame um die Taille zu fassen und zärtlich nach ihrem Wohlsein zu forschen.
So verging die Nacht und verbrauste mit ihrem Sturm: – eine Nacht für alle und dann den Tod in den Wellen sterben, ein Wort des Glühenden, hier zu versuchsweiser Illustration gelangt. Bojesen verließ erst das Haus, als der milde Februartag schon lange angebrochen war. Er hatte geschlummert dort oder nicht geschlummert, es war ihm unklar. Er hatte auch nicht Lust, darüber klar zu werden. Oder war es kein Traum, daß ein weißer, schmeichelnder Arm seinen Hals umschlungen hatte? Ein Arm, der kalt war wie Schlangenhaut? Oder war es vor langer Zeit gewesen, in einer weit früheren Epoche? Im Café sprachen Leute von Agathon Geyer. Was kümmerte ihn, Bojesen, Agathon Geyer? Von vielen anderen aufregenden Dingen sprachen sie. Wie, der König selbst habe ein Machtwort gesprochen? Na, gleichviel. Bojesens Augenlider sind schwer. War es dann weiter ein Traum, daß er wieder im Schindelhof war bei Frau Hellmut? Daß sie allein war und daß sie lange zu ihm redete, daß sie einen alten, vergilbten Brief brachte und daraus vorlas? Ich bin kein König wie eure Könige sonst sind. Aber ich konnte kein königliches Wort aufbieten, so stark, daß es mich befreite von der Knechtschaft der müßigen Gesetze. Die Mißkönige haben es vermocht, daß die Völker Sklaven aus ihren Herren gemacht haben. Was könnte ich dir sein, mein Volk, wenn du mich nicht nur König nennen wolltest, sondern auch sein ließest.
Es war offenbar ein Traum und Bojesens Hände waren müd.
Die Straßen reingefegt, reingeleckt vom Sturm. Die Sonne dumpf, dunstig, bei verhängtem Himmel. Einem Entschluß folgend, den er schon gestern bis in die Einzelheiten gefaßt und erwogen und der ihn jetzt mechanisch vorwärts trieb, ging er ins Schulhaus, um dort die sechste Klasse zur Vernunft zu bringen und von knabenhaften Streichen abzuhalten, die ihm selbst nur schaden konnten. Er that es widerwillig, denn er hatte sich gesagt, laß diese Jugend revoltieren.
Noch immer war es düster und kalt in den steinernen Räumen. Herr Dunkelschott fühlte sich sehr bedeutend, als er sich bei Bojesens Anblick ostentativ abwandte. Die Uhr schlug acht, – so schrill, wie wenn die Glocke genau wüßte, welche Sklaverei sie vorbereite für viele jugendliche Seelen, – als Bojesen die Klasse betrat. Es brannte kein Licht, deshalb sah alles grau aus, auch die Gesichter der Knaben, auch die Straße. Sobald die Knaben ihn gewahrten, entstand ein feierliches Schweigen, sie rührten sich nicht. Dann kam einer, wohl der Mutigste, ein junger Mensch mit offenem, liebenswürdigem Gesicht, das ein wenig an die Züge Agathon Geyers erinnerte, und reichte Bojesen die Hand. Bojesen drückte sie. Dann erhoben sich auf einmal alle in blinder, sorgloser Erregung, mit einem mühsam verhaltenem Jubel, mit erstickten Ausrufen, stürmten auf den verstoßenen Lehrer ein, drückten und schüttelten seine Hände, sahen mit leuchtenden Augen zu ihm auf und die Boshaften, die Dummen und Launischen verloren alles, was sie abstoßend machte. Bojesen, in seiner Ergriffenheit, vermochte anfangs nicht zu reden; doch bald bemerkten sie seine Absicht und schwiegen bereitwillig still. Er sagte ihnen, was er sagen wollte: ernst, verständlich und verständig, und alle schienen beschämt. In ihren Blicken war das offene Versprechen des Gehorsams zu lesen.
In diesem Augenblick wurde die Thüre aufgerissen und der Rektor trat ein. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, ging eine förmliche Versteinerung mit ihm vor. Er lallte, und seine Brille fiel von der Stirn auf die Nase. Er ließ einen eisigen Blick auf Bojesen fallen und einen finsterdrohenden auf die Schüler, die trotzig stehen blieben. Bojesen wollte nicht die Scene zu einer theatralischen Auseinandersetzung führen. Er fühlte sich zu froh und zu bewegt. Er entfernte sich mit einer sarkastischen Verbeugung gegen den Rektor, der, Gott weiß es, noch lange brauchte, um wieder in die natürliche Herrschaft seiner Muskeln zu gelangen.
Stunden vergingen für Bojesen in einer Reihe luftiger und beglückender Visionen: von einer neuen Zeit; von dem Wachsen verborgener Keime, von denen die Welt ein großes, paradieshaftes Blühen erwarten konnte. Doch als der Abend kam, wurde es wieder dunkel in ihm. Er ging über den Kohlmarkt nach der Wohnung, die Jeanette innegehabt und die noch leer stand. Die alte Dame, die hier wohnte, ließ Bojesen ungehindert eintreten. Durch ihr Lächeln leuchtete auf eigene Art ein menschliches Verstehen, als sie ihn allein ließ in Jeanettens Zimmer.
So blieb er, legte sich auf die Ottomane und ließ den gefürchteten Schatten kommen. Er dachte, daß er sie küssen könne, dann ging sie hastig, ohne zu sehen oder zu hören, an ihm vorbei. Dann kamen andere, – geschwätzige Gestalten. Alle hatten etwas zu erzählen, wobei sie auf den Zehen leicht dahinhuschten, sich ein Tuch umnahmen, es wieder liegen ließen und sie sahen aus, als hätten sie dreißig Tage lang unter der Erde gelegen.
Es war sehr spät, als er ging. Die Gassen waren leer und still. Er wußte gar nicht, wie er heim gelangte. In seiner Wohnung war alles finster. Lange stand er auf dem Korridor in quälerischem Besinnen, dann begab er sich vorsichtig und leise in das Zimmer, wo Fanny seit Wochen allein schlief, zündete eine Kerze an und setzte sich auf den Rand ihres Bettes. Er sah sie friedlich schlummern und nahm ihre rundliche Hand. Die Kerze warf tiefe Schatten auf eine Seite ihres Gesichts. Plötzlich erwachte sie. Sie fuhr jäh empor, schrie auf, streckte die Hände aus und schlug sie dann vor das Gesicht. Bojesen hielt den Blick auf die Dielen geheftet und atmete tief auf.
Am andern Morgen nahm Bojesen eine Zeitung zur Hand, die erste seit langer Zeit und las sonderbare Berichte und viele Phrasen eines Reporters über Agathon Geyer.
Im kleinen Schustergäßchen in Nürnberg, welches vom großen Schustergäßchen gegen Burg und Weinmarkt läuft, steht ein altes, graues, düsteres Gebäude, das schwer in seinen Formen ist und gleichsam etwas Unnahbares und Zurückhaltendes an sich hat. Selten sah man zur Tageszeit das Thor sich öffnen, das von schwerem Eichenholz war und jene bewunderungswürdige Schmiedearbeit in Schloß, Angel und Glockenzug aufwies, durch die unsere alten Häuser so merkwürdig sind. Niemals hatte man des Abends oder auch zu nachtschlafender Zeit die vor Staub und Bejahrtheit gänzlich blinden Fenster erleuchtet gesehen, – kurz, dies Haus glich in allem dem übriggebliebenen Block aus einer abgestorbenen Kulturepoche, und hätte jemand das Stiegenhaus betreten können, so würde es ihm zweifellos nicht verwunderlich gewesen sein, wenn ihm vertrocknete, mürrische Ratsherren in Perrücke, Wadenstrümpfen und Schnallenschuhen, oder ein Student mit Barett und Degen begegnet wären, gerade als seien sie ohne weiteres aus einem der verblaßten Gemälde des Rathaussaales gestiegen, wo sie ein wahres Märchenleben an unaufhörlich besetzten Tafeln führen.
Das Haus war von Baldewin Estrich bewohnt. Nicht in allen seinen Räumen, sondern vornehmlich in einer großen, hohen, mit Steinen gepflasterten Küche, die ein Fenster nach dem einsamen, stillen Hof hatte mit seinen Holzgalerien und wunderlichen Säulen und Schnitzwerken. Hier verbrachte Baldewin Estrich seit ungezählten Jahren seinen Tag und einen großen Teil der Nacht, um zu experimentieren, zu analysieren, in Retorten dickliche Flüssigkeiten zu kochen, auf seltsamfarbenen Flammen noch seltsamere Körper bis zur Weißglut zu erhitzen, und was er auf diese Art suchte und erfinden wollte, war nichts mehr und nichts weniger als die Kunst des „Goldmachens.“
Wer nun annehmen würde, daß Baldewin Estrich aus gemeiner Habsucht oder aus dem Drang, reich zu werden, dies unternommen hatte, würde sehr irren. Auch war er weit davon entfernt, der Wissenschaft einen Dienst leisten zu wollen. Ja, er war sogar überzeugt, daß sein Weg von dem der Wissenschaft weit, weitab lag, und daß er ein Gespött der Fachgelehrten bilden müsse, als ein Mensch aus vergangenen Jahrhunderten, wo Wunder und Traktätchen, Zauberei und Hexenkunst die Brücke zwischen Sehnsucht und Besitz schlagen sollten. Er war nicht bethört durch jene uralten Bücher der schwarzen Kunst, jene dunklen und verschwommenen Nachrichten über rätselhafte Magier und über den verlorenen Schlüssel zu dem großen Geheimnis. Nein. Er war mit der Wissenschaft der Zeit gegangen, eifrig, unermüdet, hatte in ihre verstecktesten Winkel geschaut, ihre vergessenen Dokumente durchstöbert, war an ihr verzweifelt und in dieser Verzweiflung zusammengebrochen wie ein Kind. Denn was sie ihm bot, war nicht das, was er darin suchte, – ein Mittel, die Menschheit glücklicher zu machen, ihren wahnsinnigen Wettlauf nach Phantomen aufzuhalten. Er war eine sattsam bekannte Erscheinung in unserer Provinz und je weniger man über sein Thun wußte, je mehr wurde ihm aus Kräften der Fama zugelegt. Dann, nach seiner großen Niederlage vor sich selbst und jenen sonderbaren Idealen, begann er aus eigenen Mitteln hinauszubauen über das Vorhandene, stellte ungeheuerliche und gefährliche Experimente an, um den chemischen Urstoff zu finden, jenes vage Etwas, Äther oder sonstwie genannt, das jetzt dem Geist der modernen Forscher, lange nach Baldewin Estrich wieder so nahe gerückt ist. So kam er, wohl auf vielen, wirren Umwegen zu seiner tiefsten und wunderlichsten Lebensaufgabe, – eine für den Fremdling in diesen Gebieten erstaunliche Gedankenkette, für die aber der Gelehrte unserer Zeit ein Begreifen hat, weil ihm das Element, sei es nun Gold oder Eisen, Schwefel oder Chlor, nicht mehr ein untrennbares Eins bedeutet. Freilich wollte Baldewin Estrich mit der Praktik nichts gemein haben, und so baute er weiter, kühn und mutig, wie ein Mann, der in der Wüste wohnt und dort Städte gründet für jene späten Geschlechter, die da wohnen werden, wenn all das Meer von Sand fruchtbares Erdreich geworden ist. Durch nichts glaubte er die Menschen mehr glücklich zu machen, als durch Gold; er glaubte, ihnen den Frieden zu bringen, wenn er die heißeste Begierde stillen konnte, die sie erfüllte, oder vielmehr, wenn er ihnen so viel des Begehrten gab, daß sie der Überfluß gleichgültig machte. Die Überzeugung durchdrang mit Glut sein ganzes Innere, gab seinen Augen einen prophetischen Glanz und seinem Wesen das Gepräge der Versunkenheit und stillen Größe. Nur wenigen war er bekannt als der Auffinder aller Höhlen des Elends in der Stadt; er wußte Bescheid in jenen anrüchigen Kneipen, in denen der werdende Verbrecher Unterschlupf findet, ebenso wie der gewordene; in jenen Herbergen, wo der reisende Bettler ein Nachtquartier findet, in all den Schlupfwinkeln unter Brückenbögen, in den abgelegenen Gassen der Vorstadt, in den Remisen der Eisenbahn, an Kirchenmauern, in Kellern und übelberufenen Höfen, – kurz, an jenen Orten, wo sich das menschliche Elend beständig oder vorübergehend ein trauriges Asyl sichert, und es war, als ob er sich durch den Anblick von Schmutz und Verkommenheit in seinem Vorsatz und Eifer stärken wolle.
Er lebte ganz allein. Das weite, düstere Haus, das ihm selbst nicht einmal in seinen letzten Winkeln bekannt war, sah nur zwei Besucher von Zeit zu Zeit: seine Nichte Käthe und Frau Gudstikker. Diese kam nur, um den Kopf zu schütteln und alles, was Estrich that oder sagte, unbegreiflich zu finden; Käthe kam, um begeistert den dürftigen Reden des Oheims zu lauschen und ihm zu erkennen zu geben, daß sie an ihn und sein Werk glaube. Aber er konnte es nicht ertragen, Menschen um sich zu sehen, und oft bat er die beiden, wieder zu gehen, obwohl er, was Käthe betrifft, wußte, wie viel List und Schleichwege sie gebrauchen mußte, um zu ihm zu gelangen.
Im Laufe von neunundzwanzig Jahren hatte er sein ganzes Vermögen an seine Träume gesetzt. Nun war er arm und litt tief darunter. Er konnte einen, wie er glaubte, letzten und entscheidenden Versuch nicht ausführen, weil ihm das Kapital zur Anschaffung eines seltenen und teuren Apparates fehlte. Alles was er an Barem aufbringen konnte, betrug nicht mehr als zweitausend Mark. Er wandte sich an seinen Bruder in Zirndorf, im voraus überzeugt von der Fruchtlosigkeit dieses Schrittes, denn dieser Mann, der ihn verachtete und verspottete, würde eher eine Hand hingegeben haben, als Geld zu solch lächerlichen und frevelhaften Zwecken. Da trug es sich zu, daß Baldewin Estrich mit Nieberding bekannt wurde, – auf eigentümliche Art.
Es war in der Nacht ziemlich weit draußen in einer der Anlagen, von denen die Villen des Marienviertels umgeben sind. Estrich, gebückter als sonst, in schmerzliches Träumen verloren, schritt gleichgültig gegen Menschen und Dinge seines Wegs, als etwa hundert Schritte seitwärts, gegen den Tunnel, mehrere durchdringende Schreie hörbar wurden. Am hohen Bahndamm zog ein offenbar betrunkener Kerl ein Frauenzimmer an den Haaren nach sich. Sie lag auf der Erde, und so schleifte er sie weiter wie ein Bündel Holz und erwiderte jeden ihrer Schreie mit einem Schlag seines dicken Spazierstocks. Fast in demselben Augenblick, als Estrich dies gewahrte, sprang ein Mann aus dem Schatten eines Hausthors, stellte sich erregt vor den Burschen und forderte ihn auf, das Frauenzimmer los zu lassen, worauf ihm jener eine Flut von Beschimpfungen zubrüllte. Nieberding (dies war der junge Mann) wiederholte seine etwas pathetische Aufforderung. Der Bursche schlug ihn mit dem Ende seines Prügels vor die Brust, daß er zurücktaumelte. Aber Nieberding wiederholte in denselben Worten seine Aufforderung und fügte hinzu: „Schlagen Sie mich nur. Sie müssen sich ja schämen.“ Nichts konnte charakteristischer für ihn sein, als dieses Verhalten. Jetzt mischte sich Estrich darein. Sein grauer Bart, eine gewisse Feierlichkeit seines Wesens und ein tiefer Zorn, der nur seine Stimme vibrieren ließ, mochten Eindruck auf den Burschen machen, denn er befahl der Dirne, aufzustehen und sie gingen weiter, er fluchend, sie heulend.
Nieberding und Estrich waren fast die ganze Nacht zusammen. Nieberding nahm gierig all die Thesen des Greises in sich auf. Seine an Idealen so armen und ihrer so bedürftigen Sinne berauschten sich an dieser willkürlichen Umwertung der Materie, an diesem alten und nun wieder neu gewordenen Glauben vom Urstoff. Die ganze, fremde mittelalterlich-romantische Welt dieser Versuchsküche, das überzeugte und überzeugende Wesen des alten Mannes, der wie ein Magier sich inmitten seines Reiches bewegte, um beim leisesten Wunsch die Geister der Luft zu bannen, daß sie den leblosen Stoff durchdrangen und beseelten, all dies machte Nieberding zum Spielball einer aufregenden Vision. Und dann kam er Tag für Tag, blieb oft eine Nacht und einmal sogar zwei Nächte hindurch in dem alten düstern Bau, wo er in einem riesengroßen, halbvermoderten Patrizierzimmer übernachtete. Und nach zehn Tagen kam er und brachte Baldewin Estrich fünftausend Mark zum Ankauf des elektrischen Apparats. Ernst, mit feierlichem Schweigen nahm der Greis das Geld; dann bat er den jungen Mann, ihn allein zu lassen. Und Nieberding ging, um teilzunehmen an der Flut des Frohsinns, die der Karneval durch die Gassen schickte.
Baldewin Estrich saß wie im Fieber vor seinem Versuchstisch, die fünf braunen Banknoten neben der Hand. Er konnte die ersehnten Apparate anschaffen und die Mischung, die jetzt im Thongefäß vor ihm stand, mußte ihm zeigen, ob sein Leben ein fantastisches Irrwandeln oder ein Schicksalspfad war. Sein Arm zitterte, als er die Hand vor die Augen legte; gleich Feuerkugeln perlte es hin vor den verfinsterten Blicken. Tiefes Schweigen herrschte in dem verödeten Haus. Die Galerien des Hofes versanken mehr und mehr in die Dämmerung und eine blitzende Scheibe sah bisweilen aus dem Grund der Wandelgänge. Der Kater Marius, Estrichs einziger Gefährte während der langen, schweigenden Nächte, saß schnurrend an der heißen Glut des Kamins, und ein fernes, unaufhörliches Wagengerassel ließ die Fenster leise klirren.
Plötzlich schreckte der Alte auf, machte Licht, – eine hektische Röte war auf seine Wangen getreten, – nahm das Thongefäß, betrachtete die weiße schillernde Mischung, entzündete ein Drummondsches Kalklicht, hielt den Topf darüber und schüttete eine Säure in die dicklich kochende Masse, daß ein übelriechender Qualm den weiten Raum erfüllte und den Chemiker in einer Wolke versteckte. Dann nahm er eine pulverisierte Masse von einer sanften, violetten Färbung und schüttete eine Messerspitze voll in das Gefäß, das er dann hermetisch verschloß. Hierauf verlöschte er die Flamme, stellte den Topf ins Wasser, um ihn einem plötzlichen Erkaltungsprozeß auszusetzen und schritt dann unruhig, mit zusammengepreßten Lippen auf und ab. Als er dann das Gefäß zertrümmerte und den erstarrten Inhalt prüfte, fand er ihn unverändert, außer daß die Farbe statt des reinen Weiß in ein bräunliches Gelb spielte. Mutlos ließ er die Arme sinken. Schließlich ist die ungeheure Hitze, die ich durch den elektrischen Apparat erzeugen will, gar nicht nötig, dachte er. Aber auch so sah er kein Ziel mehr. All die Säuren und Basen, Metalle und Metalloide nahmen für ihn das Wesen von persönlichen Feinden an, mit einer ausdauernden Bösartigkeit begabt. Er zündete die Lampe an und sah in ihrem Schein das Zimmer noch erfüllt von dem unerträglichen Dunst. Er nahm ein Fläschchen vom Sims, das eine blauschwarze Flüssigkeit enthielt, die beim Licht herrliche Reflexe warf. Er öffnete das Glas, ging zum offenen Kohlenfeuer (immer noch hielt er fast krampfhaft das erkaltete Metall in der Hand) und wollte einige Tropfen auf die hochrot glühenden Kohlen gießen, um den schlechten Geruch zu vertreiben, als die Masse samt dem Glas seiner bebenden Hand entsank; auf den Kohlen zersprang das Glas und erschrocken bebte Estrich zurück, ging ans Fenster, öffnete es, und die milde Luft des Februarabends floß herein und streifte seine heiße Stirn. In tiefen Gedanken saß er am Fenster, fast zwei Stunden lang. Dann stand er schwerfällig und leise stöhnend auf, um die Lampe zu füllen, die heruntergebrannt war. Seine Blicke hefteten sich auf die halbverglommenen Kohlen im Kamin und unter all den schwarzgewordenen oder ganz düsterroten Stücken erblickte er einen großen, schwach glänzenden Gegenstand. Und je mehr er hinschaute, je mehr nahm der Glanz dieses Gegenstands zu. Seiner Wahrnehmung fast mißtrauisch gesinnt, hörte er nicht auf, starr in den Kamin zu blicken, bis ihn plötzliche Ungeduld und Erwartung näher treten ließen. Er zündete eine Kerze an, holte das gleißende Stück mit dem Feuerhaken heraus, nahm es in die Hand, schrie laut und durchdringend auf, daß es in allen Teilen des Hauses widerhallte und sank vor Schwäche auf die Kniee ...
Gold!
Er hielt Gold in den Händen.
Es konnte ihn nicht täuschen in Form und Farbe. Er wog es in der Hand, und es war schwer. Er hielt es zitternd, mit überquellenden Augen zum Licht und sein Glanz schien den ganzen Raum auszufüllen.
Gold!
Die Sehnsucht des Mittelalters war gestillt. Der Traum des modernen Forschers in Erfüllung gegangen durch die Hand eines Blinden, der nun auf dem Thron der Welt saß und die Menschheit seinen Knecht nannte. Der jeglichen Hunger stillen, jeden Durst befriedigen konnte; für den es nichts Unerreichbares mehr gab im Reich der Träume. Welcher Zufall hatte es ihm geschenkt, das edle Geheimnis? Ein langsam glühender Kohlenhaufen, eine harmlose Tinktur, – bedeuteten sie mehr als jene teuren Vorrichtungen?
Baldewin Estrich sank zusammen und weinte. Dann hielt es ihn nicht länger in dem öden Haus. Er nahm Hut und Mantel und stürzte fort. Schon war er durch viele Gassen geeilt, als er innehielt, die Hand an die Stirn legte, zurückkehrte, die eiserne Truhe aufschloß und alles was er noch an barem Geld besaß, in Gold und in Banknoten, zu sich steckte. Damit eilte er den Stadtteilen des Elends zu, den Herbergen für Handwerksburschen, den dachlosen Nachtquartieren im äußersten Norden. Und keine Stunde war verstrichen, als er zurückkehrte, – nicht allein. Eine Armee schreiender Männer und Frauen waren um ihn und hinter ihm, verkommene Gestalten, die den Tod auf den Wangen trugen oder das Verbrechen auf der Stirn, Gesellen in Lumpen, barfuß, mit bloßer Brust, keifende Weiber aller Lebensalter und aller Abstufungen des Lasters, Kinder mit den frühblassen Wangen der Not, – und diese ganze tolle, entfesselte Schar in stetem lawinenartigem Anschwellen. Wo Baldewin Estrich die Ersten aufgetrieben hatte, er würde kaum mehr fähig gewesen sein, darüber Rechenschaft zu geben, denn er handelte wie im Traum, in einer Trunkenheit, die nach Thaten verlangte. Er hatte Gold, Gold unter sie verteilt, immer mehr, und die Kunde davon ging wie ein Lauffeuer von Straße zu Straße, so daß der Haufen mehr und mehr anschwoll und zuletzt die ganze Breitegasse, so lang sie sich streckte, ausfüllte. In den Häusern wurden die Fenster aufgerissen, und lachende, winkende oder furchtsame Menschen schauten herab; die Polizei erschien in den Nebengassen und schickte sich an, das Militär zu alarmieren, aber das Ungestüm des Pöbels stieg ums Hundertfache und war durch nichts mehr in der Welt zu ersticken in dieser Stunde. In den Annalen unserer Stadt steht dieser Februar-Abend mit großen Lettern verzeichnet.
Am weißen Turm tauchte eine Abteilung des Reiter-Regiments auf mit blankgezogenen Säbeln, aber eher hätte sie eine Felsenmauer durchbrechen können, als die dicht gestaute Volksmenge, die Kopf an Kopf stand, über die es hinwogte von Schreien und Zurufen und Hilferufen und Anfeuerungen und trunkenen Lauten der Begierde. Und alles drängte nach oben, wo Baldewin Estrich totenbleich in einem engen Kreis finsterer Burschen stand, die ihm näher und näher rückten, förmlich tobsüchtig gemacht durch den Geruch des Goldes. Mit den wildesten Drohungen drangen sie auf den Greis ein, der kein Glied zu rühren vermochte. Es war, als könne er nicht glauben, was um ihn her vorging. Ihm war, als seien dies alles fürchterliche Traumbilder, diese von den scheußlichsten Instinkten bewegte Masse, die um ihn wogte, die ihn haßerfüllt anstierte, die den kleinen Kreis um ihn verengerte und verengerte, als ob sie ihn erdrücken und ersticken wollte, die nach Geld schrie und heulte, nach Geld und nach sonst nichts. Ein stürmischer und geheimnisvoller Schmerz erfüllte seine Brust, und er erschien sich wie mitten ins große Meer verschlagen, schiffbrüchig, hoffnungslos dem Tod geweiht. Da nahm er all die Banknoten in seiner Tasche mit einer leidenschaftlich verächtlichen Bewegung und schleuderte sie fort, hinein in das brodelnde Meer, den ausgestreckten Händen, den funkelnden Augen entgegen. Heisere, wahnsinnige Schreie erschallten, er fühlte sich fortgerissen wie in einem Strudel, dahingeschleudert, dorthingeschleudert, fühlte Stoß auf Stoß an seiner Brust, sah hundert andere Arme hoffnungslos ausgestreckt, und wieder die ersten, die mehr Geld wollten, mehr, da wollten ihm fast die Sinne schwinden. Er erhielt einen schrecklichen Schlag an die Stirn, sank zusammen, wurde mit Füßen getreten, fühlte Blut an sich herabströmen, und doch schlossen sich seine Augen nicht, als wolle seine Seele gewaltsam wach bleiben und alles sehend erdulden.
Und der Strom, der nun einmal in Bewegung geraten war, wälzte sich weiter. Diejenigen, die Gold erhalten hatten, waren noch unersättlicher, als die andern. Ihr Geist befand sich in einer völligen Raserei, und diese Raserei war ansteckend. Alle unterdrückten Lüste des Pöbels kamen im Verlauf von Minuten zum Vorschein. Viele zertrümmerten die Fensterscheiben der Bürgerhäuser, Steine flogen in die Stockwerke hinauf; viele Weiber benutzten ihre Schuhe oder Stiefel als Wurfgeschosse. Die Rufe: Blut! Rache! Tod! Nieder! donnerten oder kreischten durch die Luft. Die Verkaufsläden wurden eingeschlagen und mit dem Schrei: nieder mit den Juden! erstürmten entfesselte Scharen die verschlossenen Räume, demolierten Tische, Fenster, Verkaufsgegenstände und manche reizten zu Brandlegung und Plünderung. An vielen Punkten gelang es dem Militär durchzudringen; einzelne Schüsse wurden abgefeuert, denen höhnisches Gebrüll folgte. Die Infanterie war mit gefällten Bajonnetten im Anmarsch und trieb eine Horde wild kreischender Weiber und Kinder vor sich her und alles deutete auf einen blutigen Ausgang.
Während all dieser Vorgänge war ein eigentümlich schwüler Wind durch die Gassen gefahren; schwere, erschreckend schwarze Wolken waren heraufgezogen und hatten sich im Norden getürmt, während ihnen gegenüber ein Stück fast reinen Himmels lag, auf dem der klare Mond schwamm. Dann fingen aus dieser Wolkenwand, deren beängstigendes Dunkel die Firste der Häuser seltsam bleich erscheinen ließ, Blitze an zu zucken, leiser Donner rollte über die Dächer hin, allmählich anschwellend; die Blitze wurden fahler, zackiger, breiter, gleichsam schneidender und tiefer, der Donner weniger schwerfällig, und das Februargewitter hatte sich drohend angesammelt, ohne daß in dem bunten Tumult irgend jemand darauf geachtet hätte.
Die Soldaten, anscheinend nicht ohne Freude, begannen erregte Massen von Männern und Weibern vor sich her zu treiben, und einige junge Offiziere suchten einen Ehrgeiz darin, sich durch besonders kriegerisches Vorgehen auszuzeichnen. Ein vor Haß wütender Haufe von Männern stellte sich gegen eine ganze Kompagnie; die Leute an den Fenstern stießen Angstrufe aus; eine zügellose Erbitterung ergriff den Pöbelhaufen; Steine flogen unter die Soldaten, Schuhe, aufgestellte Messer, Glasscherben von eingedrückten Fenstern, ja ganze Holzklötze, bis endlich der Hauptmann Ulrichs, ein kleiner Wüterich der Garnison, unbarmherzig zu entschiedenem, offenem Angriff überging. Die wenigen, die dem Militär Trotz geboten hatten wandten sich, als sie einige Kameraden im Blut liegen sahen, zur Flucht. Alles wandte sich zur Flucht; ein panischer Schrecken verbreitete sich; nur noch verzerrte Gesichter waren zu erblicken; die Weiber stürzten hin und waren vor Entsetzen gelähmt, die Männer nahmen Kinder unter den Arm und eilten davon wie gejagt. Schreien und Weinen schallte von den Häusern herab und aus den ferner liegenden Straßen kamen Zuschauer herbei, – zahllos; bald mitergriffen von dem furchtbaren Schauspiel, schrien sie entweder so viel sie konnten, ergriffen nach dieser oder jener Seite hin Partei, folgten förmlich entflammt den immer noch thätlich vorgehenden Soldaten, wurden jedoch von der nachkommenden Eskadron Kavallerie in die Seitenstraßen vertrieben. Währenddem floh und floh der geängstigte Volkshaufen in immer mehr überhand nehmender Angst und Verwirrung und gelangte auf den Lorenzerplatz, wo die Thore der Kirche weit offen standen. Aus dem Grunde, wie aus einer endlosen dunklen Höhle schimmerte das glührote, ewige Licht und die ganze verfolgte von den Soldaten wie Gänse oder Hühner einhergetriebene Menge flüchtete sich in die Kirche, drängte sich unter heiseren Schreien hinein, zum Teil mit emporgehobenen Händen, als ob sie beten wollten, was jedoch nur deshalb geschah, weil das unbeschreibliche Gedränge sie dazu nötigte. Zornige Rufe erschallten aus dem seitab sich schiebenden Publikum; Polizisten und Gendarmen versuchten umsonst sich Bahn zu machen. Die Soldaten schienen wie trunken von blödsinniger Kampf- und Verfolgungsbegier und vernahmen die Befehle ihrer Vorgesetzten gar nicht mehr. Die ersten Reihen wollten eben durch das Thor des Domes eindringen, als eine Gestalt vor ihnen in Wahrheit förmlich aufwuchs. Die Soldaten wagten nicht vorwärts zu gehen. Sie sahen in das Gesicht dieses Menschen, Agathon Geyers, halb voll blöder Neugier, halb staunend. Die Hintersten schoben nach vorn, der Lieutenant schrie, was los sei, aber es war, als ob Agathon für sie eine Mauer darstellte. Er hielt die Arme ausgebreitet und obwohl zu beiden Seiten noch ein breiter Raum blieb, durch den viele bequem hätten in die Kirche dringen können, wagte doch keiner, sich zu rühren.
Auf einmal fuhr einer jener entsetzlichen Blitze herab, die den ganzen Himmel in Stücke zu reißen scheinen. Ein fürchterlicher Schlag folgte, der kaum fünf Sekunden andauerte. Die Häusermauern zitterten bis zu den Giebeln hinauf. Eine Totenstille trat im ganzen Umkreis ein. Mittlerweile erschallte aus einer engen Nebengasse (der Brunnengasse) ein langgezogener Schrei. Mehrere Schreie folgten. Die Leute an den Fenstern deuteten angstvoll in die Höhe und wandten die Blicke von dem Schauspiel auf der Gasse ab. Zugleich mit dem Blitz waren die großen, elektrischen Bogenlampen an der Straßenkreuzung erloschen, so daß einen Augenblick lang eine fast drückende Dämmerung den Platz füllte, die durch den Wind förmlich auf- und abbewegt zu werden schien. Dann fiel eine lange, schmale Feuergarbe aus der Höhe herab, ähnlich dem plötzlichen Aufflackern eines Strohfeuers, nur dunkler, purpurner, und zugleich wurde das Horn des Wächters auf dem Henkerturm hörbar; die Menschen fingen an zu schreien, zu heulen, mit den Händen zu deuten, liefen dahin, dorthin, die Offiziere schrien, die Pferde der ausgerückten Eskadron begannen scheu zu werden und der Chevauxlegerhauptmann rief, ohne sich um die brennende Kirche zu kümmern, man solle den Kerl, – er meinte Agathon Geyer, – augenblicklich niederschießen. Eine grauenhafte Verwirrung entstand. Im Innern der Kirche hatte sich ein ganzer Knäuel von Menschen um den Altar gedrängt und starrte empor. Der Blitz war durch die Kirche gefahren und mehrere leblose Körper lagen auf den Steinfließen ausgestreckt. Das mystische Halbdunkel des Raumes begann allmählich einer satten Helligkeit zu weichen mit unruhigen, gespenstisch flackernden Schatten. Dabei blieben die bemalten Glasfenster dunkel, hinter ihnen lag graue Nacht, denn die Brandflut kam aus der Höhe. Viele zwängten sich mit Schreien und Rufen herein, heulten nach der Feuerwehr; von draußen war ein förmliches Wogen eines fast verzweiflungsvollen Getöses vernehmlich. Dazu tönte schauerlich die Glocke vom Turm, dem brennenden; es schien, daß der Glöckner, der keinen Ausweg sah, dessen Weg nach unten in Flammen stand, es schien, daß er mit der Anstrengung der Todesangst am Glockenstrang riß, während rote und trübe Flammen, Rauch und Funken um ihn emporschlugen und einen Schein weit hinauswarfen auf öde Felder.
Agathon stand bleich wie ein Leintuch. Er streckte die dünnen Hände empor und von den weißen, mageren Armen glitt der Rockärmel zurück. Die am Altar gestanden, scharten sich bang um ihn, und jetzt kamen drohende oder warnende Stimmen, die Zurück und Hinaus riefen, auch hörte man das Gerassel auffahrender Feuerwagen, während die Glocke im Turm ganz rasend wurde und lauter hell gellende Hilfeschreie von sich gab. Agathon blickte in das versteinerte Gesicht eines der Leblosen unter ihm und der Kampf der vergangenen Wochen wurde ihm in diesem Augenblick leuchtend gegenwärtig. Wie er in Winkeln und Verstecken die Nächte hingebracht; wie er einsam auf den Landstraßen geirrt, trank- und speiselos; wie er die kalten und stürmischen Tage an sich hatte vorbeisausen lassen, wie trotzdem in einer unbezähmbaren Kraft seine Liebe zum Leben gewachsen war; wie seine Vergangenheit lautlos und stimmenlos versunken war, ein Nichts; wie sein Auge schärfer wurde für die Zeit und für die Menschen; wie er überall Geducktheit und Unfrohheit gewahrte, Hangen und Kämpfen mit einer langsam erstarrenden Religion, deren reine Züge längst verwischt waren, Unoffenheit, Duckmäuserei, geheime Empörungslust. Und je einsamer er ward da draußen, je feuriger wurden seine Phantasien von einer gewaltsamen Wandlung, und er dachte, daß nicht nur das Alte stürzen müsse, damit das Neue komme, sondern daß es gestürzt werden müsse. Er dachte, daß die Städte zerstört, niedergerissen werden, verlassen werden müßten, damit der Mensch wieder sich selbst finde, und je mehr Agathon sein ganzes Selbst aufgab in den beengenden Träumen, je mehr wurde ihm auch der Geist des Christentums zur lebenden Gestalt, die mit feindseligem Arme stand und ihm den Weg versperrte; und dahinter, einem Gespenst gleich, klein und zäh, heuchlerisch und gewandt, der Jude, jetzt mehr als je bereit, den alttestamentarischen Mantel abzuwerfen und in das neuere Kleid des ehedem geächteten Nazareners zu schlüpfen. Aber Agathon dachte dies nicht eigentlich, sondern schwelgte in glühenden Träumen, seine jugendliche Phantasie saugte sich fest an den Brüsten des Lebens. Und wie er sich Herr über die Kräfte der Natur fühlte, empfand er auch Macht über die Menschen. Er dachte, als er jetzt eine bebende Menge sich um ihn drängen sah, daran, wie die Kinder ihm gefolgt, als wären sie durch einen Zauberruf angelockt, wie ihm die Bauern Essen und Trank gegeben, ohne daß er darum gebeten. So berührte er mit der Hand den Körper eines der vom Blitz Hingestreckten, während die Kommandorufe der Feuerwehrleute erschallten, das Militär dem fessellosen Zudrang Neugieriger Einhalt that, das Dach eines benachbarten Hauses vom Feuer ergriffen wurde, die Glocke des Turmes schwächer, gleichsam hinsterbend erschallte, die Dämmerung in der Kirche einer hellen Brunst wich und ein halb wahnsinniger junger Priester in die Flammen stürzte, die auf den Altar herabgefallen waren, um das Allerheiligste zu retten. In diesem Moment bewegte der leblos Daliegende die Hand; Agathon, selbst bestürzt, wich zurück, Rufe wurden laut, die Kirche müsse geräumt werden; vor dem Portal stand ein Dekan und hob beschwörend die Hände, Gebrause und Zischen der Spritzen erschallte; da stieg Agathon auf eine Bank und gellte hinaus in den Raum mit einer Stimme, als ob es gälte, über den ganzen Erdkreis hinzuschreien:
„Laßt sie brennen, die Kirche!“
Er sah viele Gesichter unter sich verzerrt und lauernd zu ihm aufblicken, elende, sorgenvolle Stirnen, Munde mit kriechendem, fast flehentlichem Ausdruck, Kinder sogar, deren kranke Glieder er zu empfinden glaubte, und es war, als könne er durch das ganze Elend der Welt hindurchblicken, über die ganze reich verknotete Schnur des Daseins, die in die Abgründe Geburt und Tod verläuft, und er schrie noch einmal: „Laßt sie brennen, die Kirche!“ Er hatte das Gefühl, als sähe er alle Menschen sterbend nach ihm schauen, und er dünkte sich wie der Vater eines neuen, freien, Gott-losen Geschlechts. Der fanatische Priester stürzte auf ihn zu und wollte ihn herunterreißen; seine fahlen, asketischen Wangen zitterten vor Gier, aber die Menge schützte Agathon. Die Gefahr nahm zu; Agathon riß eine brennende Leiste vom Altar, hielt sie hoch wie eine Fackel und wandte sich dem Thore zu, gefolgt, umringt von einem erregten Schwarm.
Die Glocke hatte aufgehört zu läuten.
Agathon verlor sich bald unter der vor Erregtheit wie wahnsinnigen Volksmenge. Obwohl viele ihm nachstürzten, obwohl ein Offizier mit dem Säbel nach ihm deutete und ein berittener Gendarm das Pferd nach ihm lenkte, verlor er sich bald in fernere Gassen. Sinnend ging er weiter, den Blick stets ins Unbestimmte geheftet, wie von einem Räderwerk fortbewegt, durch Gassen, die er nicht kannte, die leer waren, in denen die Schritte hallten, an Häusern vorbei, die zu zucken schienen, sich zu besinnen schienen, ob sie ihm den Weg versperren sollten. Der Himmel war licht geworden, – ungewöhnlich licht, schien es Agathon; flimmerlose Sterne waren angeheftet wie Perlen, die Milchstraße war wie der Rauch aus einem Bäckerschlot, die Bäume der Alleen standen wie Lanzen am Weg, erleuchtete Fenster im Weiten waren wie große Blutstropfen, durch die ganze Natur ging es wie ein Recken, Sichaufrichten. Dann lag die Stadt im Rücken, eine vielgezackte Silhouette, ein Knäuel Unglück, schwarz, ungeheuerlich starr, still, greifbar deutlich, in der Mitte ein glühender Fleck, eine beginnende Säule: der Brand, der im Verlöschen war, da oder dort ein Loch, da oder dort ein Fabrikschlot wie ein riesenhafter Finger. Dann nahm ihn der Wald auf; groß, dicht, leer von allen Geräuschen der Welt, eine drückende, zentnerschwere Finsternis. Hier atmete Agathon auf. Er legte sich aufs Geradewohl hin; obwohl es sehr kühl war, mehr als kühl, verfiel er sofort in einen bleiernen Schlaf, schlief weiter, als der Tag graute, weiter als es Abend wurde und wiederum Nacht und that erst die Augen auf, als ein klares, kleines Stück Mond im Hinabsinken begriffen war. Er preßte die Hände gegen die Schläfen und meinte, vierzehn Jahre lang geschlafen zu haben, fühlte sich freier, mutiger, reicher an Hilfskräften, an Vertrauen, an Überzeugung. Er starrte eine Weile hinein in den Wald, empfand dann Hunger, erhob sich, erblickte bald das freie Feld, sah den Schmausenbuk unweit im bläulichen Nachtdunst und die Burg sich erheben über der Stadt.
Er hatte kein Geld, um in einer Schenke etwas zu sich nehmen zu können. Er hatte auch bisher kein Geld gehabt. Die Leute hatten ihm gegeben, mehr als er gebraucht, um satt zu werden. Sie wurden durch seine Person und sein Wesen in hohem Grade für ihn eingenommen. Er hatte eine außerordentliche Milde, zu lächeln. Er war sehr schön und sehr groß. Auch der einfachste Mann konnte seine tiefen Leidenschaften, sein mächtiges Herz, seinen überlegenen Mut, die Wildheit seiner Wünsche ahnen. Seine saft- und kraftvolle Jugend sehnte sich nach Thaten. Seine Seele war nicht mehr niedergedrückt durch den Gedanken einer einzigen, furchtbaren Macht im Himmel. Dadurch erklärten sich seine kühnen Wünsche, seine stolze Haltung. Nie grübelte er, sondern träumte nur. Sein Blick hatte etwas von dem unbestimmten Blick eines Pferdes edler Rasse.
Er kam in die Stadt zurück. Wieder leere Gassen, dunkle Fenster, diese kaum wahrnehmbare Traurigkeit gleich feinem Reif über dem Ganzen. Säulen mit Plakaten, verschlafene Schutzleute, hallende Stundenschläge, hallende Schritte. Eine Stadt ohne König, ohne Wille, ohne Kraft, ohne Leben dachte Agathon, und er fühlte sich einsam. Er dachte an die Menschen hinter all den Fenstern, an die Art ihres Schlafes, ihrer Träume, an die Stärke ihrer Todesfurcht, an ihre Krankheiten, ihre Sorgen. Er kam in eine breite Straße außerhalb des Weichbildes, wo in einem Erdgeschoß drei Fenster erleuchtet waren. Gegenüber befand sich eine Allee, und am Wege war eine Bank. Agathon setzte sich, müde vom Schlaf, hungrig, durstig und doch erwartungsvoll, als ob er jetzt in ein neues Leben träte nach diesem vierzehnjährigen Schlaf. Die gelbe Portiere des einen erleuchteten Fensters färbte sich mit Bildern, schwankend und gleitend, die dahinglitten wie Wolken am blauen Himmel. Nebenan hinter dem Busch rieselte das Wasser eines Brunnens vertraulich und leise. Plötzlich erschien unter den unwirklichen, hingeträumten Bildern des Vorhangs ein Schatten, dann wurde der Vorhang aufgezogen, das Fenster geöffnet, und eine weibliche Gestalt erschien in seinem Rahmen. Dann knirschte das Thor, die Gartenthüre kreischte und ein Offizier, fest umhüllt mit dem Mantel, schritt über die Straße. Agathon hatte sofort die Gestalt am Fenster erkannt.
Die Luft war lau, klar und unbewegt. Sie verkündete den Frühling. Sie schien aufzusteigen aus dem Erdboden wie ein warmer Brodem, umwand Baum und Stein, kroch an Häusermauern empor bis zum Mond. Agathon ging hinüber gegen das Fenster, das bei seinem Nahen geschlossen wurde, – langsamer als es geöffnet worden war. In diesem Augenblick fühlte sich Agathon verlassen. Das Schließen des Fensters glich für ihn einem höhnischen Zurückweisen. Er blickte an seinen Kleidern herab, sie waren in schlechtem Stand; seine Stiefel waren zerrissen. Aber dennoch waren die Frühlingslüfte in der Welt und außerdem hatte man den Karneval mit seiner freilich etwas hilflosen Lustigkeit.
Er ging weiter und die Nacht erschien ihm starrer, so daß selbst das ferne, ununterbrochene Bellen der Hunde nicht mehr in ihr widerhallte. Nach einer Stunde vielleicht kam er wieder an dasselbe vornehme Haus, vor dasselbe Fenster, und wieder war das Fenster geöffnet und Jeanette lehnte weit heraus, den Kopf auf beide Arme gestützt, spähte hinein ins Finstere, war unbeweglich, und ihr Gesicht erschien bleicher als selbst die bleiche Mauer des Hauses. Agathon blieb stehen und grüßte hinauf. Sie fuhr zusammen, veränderte ihre sphinxhafte Haltung und stieß einen dumpfen Schrei aus. Dann schlug sie die Hände zusammen und rief Agathons Namen.
Einige Minuten später war er im Zimmer. Sie selbst hatte ihm geöffnet und saß nun vor ihm, während er stand, seine Blicke in einen Spiegel geheftet hielt und über sein eigenes Gesicht erstaunt war. Jeanette blickte ihn forschend, überrascht, beinahe unterwürfig an.
„Ich weiß alles,“ sagte sie. „Wie hast du das wagen können? Hattest du nicht Furcht?“
„Was weißt du?“ erwiderte Agathon befremdet.
„Und wie wagst du es, Agathon, noch in der Stadt zu sein? Sie suchten dich ja. In den Zeitungen steht es, alle Welt spricht davon. Alle möglichen Verbrechen sollst du begangen haben. Ein ganz gefährlicher Mensch sollst du sein.“
„Aber wie konnten sie meinen Namen wissen?“ fragte Agathon nachdenklich.
„Ich weiß nicht. Es wollen dich einige erkannt haben. Darunter auch ein gewisser ... Goldsticker, ein Schriftsteller oder ... Ja, der Schriftsteller hat deinen Namen genannt.“
„Ach, Gudstikker! Natürlich, es war eine That für ihn. Aber wie geht’s dir?“
„Nein, dir. Was hast du getrieben? Mein Gott, wie siehst du aus! Ich muß dich jedenfalls bei mir verbergen. Nun erzähle.“
Agathon wußte nichts zu erzählen. Er berichtete flüchtig, wie von gleichgültigen Dingen und wurde allmählich unruhig.
Jeanette brachte ihm zu essen. Es war schon spät in der Nacht. Schweigend blickte sie ihn an. Agathon fragte noch einmal, wie es ihr gehe, aber sie schüttelte den Kopf. Sie trug ein Nachtgewand aus blauer Seide mit Spitzen um den Hals und an den Handgelenken. Dies gab ihrer ganzen Erscheinung etwas Ruhiges und Vornehmes und ihrem Gesicht einen friedlichen, kindlichen Ausdruck. Sie wandte den Blick nicht von Agathon, der plötzlich unter der Glut ihrer Augen erblaßte und das Glas, das er in der Hand hielt, sinken ließ. Dies schien sie aufzurütteln. Sie lachte und erzählte das und das, von ihrem Leben in Paris; daß sie nächstens in die Residenz gehen würde, weil der König sie zu sehen wünsche; daß sie inzwischen zu Ruf und Ruhm gekommen sei; sie erzählte Episoden, schien begeistert von dem heitern, bunten Leben, das sie führte, das sich ihr täglich in neuen vergnüglichen Bissen darbot. Es war zuletzt, als ob sie phantasiere, so sehr geriet sie in Hitze über das freudig Schäumende, Wohlschmeckende dieses Daseins. Dann ging sie plötzlich zum Klavier und begann zu spielen, trotz der tiefen Nacht, gleichsam zum Trutz der ganzen Bürgerschaft, spielte leicht, duftig, aber auch leichtfertig, endigte mit Mißtönen, die klangen, als ob sich jemand auf die Tasten setzte, schlug krachend den Deckel zu, lachte mit ihrem knirschenden Lachen in die Richtung des Fensters, nachdem sie sich auf dem Sessel umgedreht hatte. Ganz unmotiviert spielte sie nun auf ihre pikanten Abenteuer an, und als sie schwieg, machte sie den Eindruck einer abgehetzten Läuferin. Ihr Kopf war nach hinten gebeugt, ihre Lippen ein wenig geöffnet, die Adern des Halses klopften stürmisch, so lehnte sie gegen das mattglänzende Ebenholz des Klaviers, die Ellbogen nach rückwärts auf den Deckel gestemmt und sah in die Höhe. „Bist du müd?“ wandte sie sich zu Agathon. „Wenn du müd bist, kannst du in dein Zimmer gehen.“ Sie schaute ihm fremd und befangen ins Gesicht. Agathon mußte aufstehen. Sein Herz wurde weit und weiter, hatte nicht Raum mehr.
„Ich liebe nämlich die Nacht,“ sagte Jeanette leise. „So sitzt man da und denkt aller seiner Sünden. Liebst du nicht deine Sünden, Agathon?“ Wieder traf ihn dieser Blick, der gleichsam aus ihrer geöffneten und flammenden Seele zu kommen schien. „Weißt du, ich möchte dumm sein,“ fuhr sie fort. „So dumm, daß ich nicht wüßte, wie man lügt; so dumm, daß ich Respekt vor den Männern hätte, so dumm, daß ich fromm wäre. Dann würde ich beten. Ich würde beten ... na, das ist gleich. Nun will ich tanzen. Setze dich dort in die Ecke. Das Licht müssen wir dämpfen. So.“
Sie tanzte, indem sie leise dazu sang oder vielmehr summte. Sie tanzte mit schwermütigen Bewegungen, die unwillkürlich an das Hingleiten eines Körpers auf ruhigem Wasserspiegel erinnerten. Aller Spott war aus ihrem Gesicht gewichen, die Augen waren halbgeschlossen, beschattet durch die langen, roten Wimpern, die Arme hatten das Kleid gefaßt. Agathon schaute lange hin, und es war so, daß er bald meinte, das Blut müsse aus ihrer Brust sickern bei diesem schmerzlichen und düstern Ringen ihres Körpers. Plötzlich, der Übergang war so grell wie der von der Dunkelheit zur Feuerhelle, reckte sie sich auf; ihr Gesicht erhielt ein frivoles Leben und nun tanzte sie den goignade, einen altfranzösischen Tanz voll wollüstiger Exstase. Agathon biß die Lippen zusammen, ihm schwindelte. Sie war völlig entfesselt, jauchzte dabei und schwang die Röcke. Als sie fertig war, lächelte sie flüchtig, nickte und sagte kühl, Agathon solle in das Zimmer nebenan, das für ihn gehöre. Damit ging sie. Agathon wartete lange Zeit, aber sie kam nicht wieder. Er betrat das Nebenzimmer, ließ aber die Thüre offen, damit er das Licht sehen könne, legte sich in den Kleidern aufs Bett, faltete die Hände unter dem Hinterhaupt und verblieb so mit offenen Augen, bis der Morgen anbrach.
Dann erhob er sich und trat zum Fenster. Er war beunruhigt, erregt, und mit dem Wachsen des Tages nahm seine Erregung zu. Er fand nicht Ruhe in diesen kostbar ausgestatteten Räumen; es schien ihm, als sei seine Seele zusammengeschrumpft. Als Jeanette spät am Vormittag erschien, erstaunte er über die Veränderung an ihr. Sie war müde; die Haut ihrer Wangen war etwas schlaff, der Blick hart, ihre Bewegung mühsam, ihre Worte kalt. Bisweilen brach die Erstarrung in einer heftigen Geste, in einem circenhaften Blick. „Hast du geschlafen?“ fragte sie.
„Wessen Blut steckt eigentlich in dir?“ fuhr sie unvermittelt fort. „Ich kenne keinen von den Leuten, bei denen du aufgewachsen bist, der mit dir zu vergleichen wäre. Und auch sonst –“. Sie stand auf, stellte sich hinter seinen Stuhl, legte beide Hände auf seine Schultern, so daß er den Kopf zurückbog, um sie zu sehen, und sie fragte, indem sie ihre Augen tief in die seinen bohrte: „Hast du die Kirche in Brand gesteckt, Agathon?“
Agathon machte sich los von ihr und entgegnete langsam: „Wolltest du, daß ich es gethan hätte?“
Sie schwieg finster. „Es ist wahrscheinlich, daß es der Blitz gethan hat,“ sagte sie dann mit einem seltsam boshaften Ausdruck. Sie standen sich eine Weile stumm gegenüber, endlich meinte sie spöttisch lächelnd: „Aber du mußt andere Kleider bekommen, trotzalledem. Bist du zornig?“ fügte sie erschrocken und demütig hinzu, als sie die Röte auf seiner Stirn gewahrte. „Ich will dir etwas sagen. Ich werde alle Thüren zusperren, meine Dienstboten fortschicken, die Rollläden schließen und Nacht sein lassen.“ Alles dies sagte sie fast kühl, hinwerfend. Agathon vermochte kaum klar zu werden.
„Daß wir beide Juden sein müssen!“ rief sie aus, als sie sich in einen Winkel gesetzt hatte. „Ich fühle das ganze Alter des Judentums auf meinen Schultern und alle seine Verbrechen, alle seine Leiden. Ich habe alle seine Fehler in mir; ich bin der pure Verstand und die pure Schwäche. Ich bin grüblerisch und scheu, feig und frech, ich liebe die Nacht und das Orgelspiel und bin gern geistreich, wie du siehst. Und du, was bist du eigentlich? Wie kommst du zu uns mit deiner reinen Stirn? Du sollst ja auch ein Wunderthäter sein. Ja, ich spüre es. Wenn du willst, bin ich deine Magd. Das habe ich dir schon einmal versprochen. So werden alle Worte wahr. Mein Gott, mein Gott, wie kann man so viel reden! Der reine Brunnen Versiegenicht.“
Agathon lächelte. „Brunnen Versiegenicht. Ein Lieblingswort von Bojesen.“
„Bojesen ... lieber Gott, ja.“
„Du kennst ihn?“
„Ja doch. Warum soll ich Bojesen nicht kennen.“
„Er ist sehr interessant.“
„Gewiß, sehr. Alle Männer sind interessant. Vor der That.“ Sie lachte. Plötzlich ging sie, nahm Agathons Kopf zwischen beide Hände, zog ihn mit einem gewaltsamen Ruck herab und küßte ihn auf die Lippen. Fast zugleich aber ließ sie ihn wieder los und starrte ihn an, bleich, mit weiten Augen. „Diese Lippen!“ flüsterte sie bewegt. „Du hast noch nie ein Weib geküßt?“ Langsam ergriff sie seine Hand, beugte sich und küßte auch sie. Agathon dachte an Monika, die einst ein gleiches gethan. Warum?
„Was bist du? Was willst du?“ fragte sie ihn nach einem langen Schweigen.
„Was ich will, das ist zu schwer für Worte. Was ich will ... Den Menschen den Himmel nehmen und ihnen die Erde geben, Jeanette, das ist alles, was ich will. Freilich, viele haben schon die Erde, aber nur die Erde ohne den Himmel, sie wissen, daß der Himmel fehlt. Verstehst du? Sie müssen die reine Erde haben, ohne Kreuz, ohne Abfall, ohne Verzicht, ohne Abrechnung mit einem Droben. Ja, es ist mir jetzt klar. Sie haben bloß Genüsse und Schmerzen. Aber es ist wie mit dem Vogel im Käfig. Er hat keine Freude, auch beim schönsten Futter nicht und wenn es der bequemste, vergoldetste, mildeste Käfig von der Welt ist. So ist der Himmel ein Käfig für die Menschheit geworden. Und das ist so lang her, daß sie gar nicht mehr das Gitter gewahren und meinen, sie könnten fliegen. Aber solange ein einziges Gebet auf der Welt ist, können sie nicht fliegen. Ich will die Stäbe zerbrechen, Jeanette, oder nur einen, ein anderer nach mir zerbricht vielleicht mehr. Und wenn auch dann das Dach herunterstürzen und viele zermalmen wird, das schadet nichts. Nur die Großen, die Unterdrücker werden dann zermalmt, Simson der Thäter und die Philister werden zermalmt, aber die Gefangenen werden frei und werden ein neues Geschlecht gründen.“
Sein bleiches Gesicht spiegelte sich strahlend in den Bewegungen der Seele. Jeanette sah ihn an und vergaß seine Jugend, wie alle, die mit ihm sprachen. Ein reiner Strom umfloß sie, der Strom reiner Gefühle. „Und was willst du thun für diese Idee?“ fragte sie, mühsam lächelnd. „Sterben natürlich, wie alle diese Schwärmer.“
„Sterben? Nein, leben.“
Ihre Augen trafen sich. Agathon wandte sich ab vor ihrem Blick.
„Schwärmer! Schwärmer! Gütiger Himmel, wohin träumst du? Aber ich liebe dich, Agathon; ich liebe dich seltsam. Und was denkst du dir unter dieser ‚Freude‘ da? Auch so ein Wort wie viele Worte. Nicht?“
„Es müßte so ein griechischer Glanz sein, der von einem zum andern strahlt. Man dürfte nichts mehr verehren, nicht mehr die Natur, weil man selbst die Natur, selbst ein Stück Wald, ein Stück Meer ist, der Lehrer müßte Freund sein und vieles andere. Alles ohne Trunkenheit, verstehst du, Jeanette, ohne Gelehrsamkeit, jedes Ding eine Welt und die Welt ein Ding. Alle Juden müßten ausgerottet werden, nicht der Körper, aber der Geist, denn aller Glaube ist Judentum. Immer werden die Juden, auch die Christen sind Juden, immer werden sie neue Götter bringen. Immer werden sie eine neue Art von Heiland bringen. Warum lächelst du? Ja, es ist wahr. Siehst du, jetzt kann die Menschheit ihre Kinderschuhe verlassen und der liebe Gott kann eine andere Erde großsäugen. Dann ist das Leben nicht mehr wie ein unverdientes Geschenk oder wie eine unverdiente Strafe. Dann giebt es keine Todesfurcht mehr, keine Verbrechen mehr, dann wird alles größer, unermeßlich größer. Aber ich kann nicht das Eigentliche sagen, ich kann dir nicht das Bild schenken, Jeanette.“
Ein langes Schweigen entstand.
„Du meinst vielleicht, es ist dieser Atheismus,“ begann Agathon wieder. „Nein, das wäre ja borniert. Die Atheisten sind bloß ungezogene Kinder und sie wollen selber Papa spielen, wenn der Vater ausgegangen ist. Du weißt ja, wie ichs meine, drum lachst du so verschmitzt. Aber siehst du, Jeanette,“ fügte Agathon etwas schüchtern hinzu und leiser als bisher, „eins fehlt mir noch und ich weiß nicht was es ist. Es macht mich unruhig in der Nacht und quält mich bei Tag und es ist mir, als stünde ich vor einer dicken Mauer. Dann bin ich wie ein Kind.“
Jeanette lag mit aufgestütztem Ellbogen auf dem Diwan, während ihre Füße den Boden berührten. Die Linien der Beine zeichneten sich durch den Stoff hindurch ab, und Agathon blickte wie gebannt auf diese etwas gewaltsam geschwungene Kurve, während ihn Jeanette mit einem heißen, träumerischen Blick gleichsam suchte.
Am Nachmittag wurden Kleider gebracht für Agathon, sowie ein Domino, denn Jeanette wollte, daß er abends mit zum Fest ginge. Er wunderte sich über ihr Wesen, das so sehr an Grellheit abgenommen hatte, über ihren Gang, der etwas Wiegendes, Zögerndes, Erwartendes hatte, über ihre Worte, die bald kühn, bald zaghaft, bald heftig, bald gedrückt waren.
Der Festsaal war groß und reich. Die Mitte des Raumes, der die Höhe einer Kirche hatte, war von bläulich-grünem Licht erfüllt. Die Galerien und Wandelgänge waren durch Glühlampen erleuchtet und glichen einem breiten, düstern Feuerband, das um diese milde Dämmerung geschlungen war, in der die Säulen traumhaft glänzten, die Guirlanden wie aus dem schwülen Duft herausgewachsen schienen, die künstlichen Rosen wie Blut schimmerten und der goldverbrämte Plafond einem glühenden Abendhimmel glich. Das bunte Treiben erweckte Agathon den Eindruck des Geräuschlosen, Zauberspielhaften; alle Farben flossen in ein Bild, alle Töne in einen Ton, alle Heiterkeit hatte ein Ziel, und dies wogende Murmeln war wie das ferne Branden eines Meeres, über dem der Tag aufgehen will.
Aber plötzlich, ganz mit einem Male, auf einen Anstoß, wurde Agathon sehend. Und zwar in solchem Maß, daß er vor Grauen, Scham und Beleidigung wie verwundet war. Er schritt einen etwas abseits gelegenen Wandelgang dahin, als er einen alten und ziemlich zerlumpten Mann am Seitenausgang stehen sah. Der Alte spähte lauernd und unruhig in den Saal, legte die Hand wie einen Schirm gegen die Augen und murmelte. Bald darauf kam ein junges Mädchen, deren Bewegungen graziös und fast kindlich waren, auf den Alten zu, und ihr Mund unter der Maske verlor sein Lächeln. Sie reichte dem Alten Geld; mit unbeschreiblicher Gier riß er ihr die Münzen aus der Hand und flüsterte ihr etwas zu, wobei seine Augen fast aus den Höhlen traten. Das Mädchen nickte und der Alte humpelte hinaus. Das Mädchen setzte sich auf eine Bank, drückte beide Hände gegen die Brust und atmete auf, dann warf sie beide Arme in die Luft, als wolle sie den Wirbelwind von Gedanken beschwichtigen und sprang wieder mit dem kindlichen Gebahren, das sie forcierte, davon. Agathon suchte ihr zu folgen, verlor sie aber aus den Augen. Er sah statt ihrer einen befrackten Herrn, der zu Komplimenten verbogen war wie ein Fragezeichen, einen andern, der übernächtig fahl, von Säule zu Säule schlich in der Art eines Gewürms, lichtscheu, träg, voll Verachtung, Müdigkeit, Hinfälligkeit; einen dritten, dessen Lachen wie ein Schuß war, der abgefeuert wird, eine nahende, nagende Angst, das fletschende Gespenst seiner Sorgen wieder zu verscheuchen; einen vierten, der, künstlich und aufgeregt, geschäftig herumeilte und dessen Züge durch eine Aufgabe von eingebildeter Wichtigkeit bis zur wilden Erregung zerwühlt waren; einen fünften, der grinsend und nickend durch die Reihen strolchte, der Cynismus in Person, mit einem von Lastern aufgepflügten, vom Unglück mit Narben gezeichneten Gesicht; einen sechsten, der voll Anstand, Schüchternheit und Zuvorkommenheit sich allenthalben überflüssig schien, um dessen Mund eine wachsende Bitterkeit lag, während in seinen Augen fast greifbar der Entschluß zu einem Verbrechen zu lesen war; ein Weib, das kichernd, sich drehend, mit erlogenem Lächeln, mit erstohlener Anmut, von einem Chor befrackter Bettler bezaubernd genannt wurde; ein zweites, das mit allen Kräften heimisch zu werden suchte in diesem Haus zusammengetragener Lustbarkeit; ein drittes, das mit geheimer Angst die Maskengarderobe aus dem Gewölbe des Verleihers einer öfteren Musterung unterzog und heftige Bewegungen zu vermeiden suchte; ein viertes, das mit erhitzten Blicken und eisiger Seele dasaß, während die Sorge um die Haltbarkeit der Schminke sie im Innern beschäftigte. Und hinter der Buntheit der Gewänder, der Höflichkeit der Worte, hinter den ziehenden Blicken, den vom Wein geröteten Stirnen und benetzten Lippen, was lag da? Agathon sah es. Hundert Schicksale öffneten sich ihm wie auf einen Schlag; auf einen Schlag wurde der Vorhang von hundert Bühnen, von hundert Augenpaaren gezogen, daß es vor seinen Blicken dalag wie ein schwärender Knäuel Jammer, ein ungesichtet zusammengeworfener Haufen Schmerzen, ein Mischmasch von Betrübnissen, Verbrechen, Betrug und Lügen. Jener dicke Herr mit dem gütigen, ehrenhaften Gesicht hält das Glück von Hunderten wie an einer Schnur, und er wird all dies Glück, das ihm anvertraut ist, morgen getrost an der Börse verspielen; den ungünstigen Fall erwägend, hat er bereits eine Schiffskarte im Portefeuille. Dieser unwiderstehliche Stutzer, der so diskret lächelt, ist ein Arzt, der durch schmutzige Manipulationen in seiner eigenen Meinung längst der Schatten eines anständigen Menschen ist. Jene bleiche Dame mit dem schwermütigen Blick lebt nur, sich zu amüsieren, und es amüsiert sie, die Schwermütige zu sein; ihr Haus ist ein finsteres Bild der Verkommenheit, der Vernachlässigung, der Sittenlosigkeit, des geraubten, erborgten Prunkes, des versteckten Hungers; jener wohlwollende Graubart ist ein unentdeckter Bankdieb; jene pastorenhafte Gestalt schachert mit jungen Mädchen; jener imposante Schwarzbärtige ist ein nichtswürdiger Wucherer; jener behäbige und joviale Greis ist ein gefürchteter Verleumder ... Und hinter ihnen, welch ein Chaos: verödete Stuben, thränennasse Betten, von Lastern befleckte Hände, das wahnsinnige Geheul Unterliegender, Gefesselter, das verschwiegene Lächeln der Sieger, die erheuchelte Trauer, der verstellte Hochmut, der Hunger, die Schande, die Raserei der Liebe, Krankheit und Tod, eine Armee bis zur Tollheit verzerrter Gesichter, die im Geschwindmarsch dem Abgrund zueilten, eine ganze fallende, stürzende, vermorschte Gesellschaft und darüber, darunter – nichts.
Es war Agathon, als ob sein Körper durch die zermalmende Wucht der Visionen zusammengepreßt würde. Es war ihm, als dränge sich die gärende Masse des Unglücks, ein schreiender Haufen Verfolgter an ihn, erflehe Hilfe, Rettung, und gepeinigt floh er, erreichte die Straße, eilte weiter, ohne sich umzublicken und wußte kaum, wie er in Jeanettens Wohnung kam. Er hatte sie selbst, seit beide den Saal betreten hatten, nicht wieder gesehen. Das Dienstmädchen öffnete ihm, wollte Licht machen, aber er bat sie, ihn im Finstern zu lassen, fiel wie vernichtet aufs Sofa und krampfte sich zusammen wie ein Sterbender.
Lange mochte er so gelegen sein, als er einen Hauch an seiner Stirn verspürte. Er schlug die Augen auf; die Nacht kam ihm doppelt so finster vor. Hierauf bemerkte er einen schwarzen Schatten, der sich nah an seinem Körper gegen das unsicher verfließende Licht des Fensters abhob. Erschrocken tastete er mit den Händen vor sich und tastete in knisterndes Haar. „Jeanette,“ flüsterte er dumpf. Sie kniete bei ihm. Er glaubte, ihre Augen flammen zu sehen; es entstand eine Hitze um ihn, die aus diesen Augen zu kommen schien. Er wurde starr am Körper und seine Sinne badeten sich in einer Erregung, die seine Brust zusammenschnürte gleich einem Strick. „Jeanette,“ flüsterte er wieder. Diesmal war es fast ein Hilferuf.
Jeanette zündete eine Kerze an und legte eine große, blutrote Orange neben den Leuchter. Ihr Gesicht war um vieles bleicher als sonst, aber von einem zitternden Leben erfüllt. Sie stand an der mit purpurfarbenem Tuch verhangenen Wand und das meergrüne Kleid, das sie trug, warf förmlich Strahlen gegen diese dunkle Farbe. Ihr Hals, entblößt, leuchtete im Rahmen der Haare, und ihre Brust hob sich schwer. Einer warmen Welle gleich lief es von ihr zu Agathon. Er saß und blickte sie unverwandt an und glaubte, eine Stimme zu hören, welche ihn rief: wo bist du, Agathon?
Jeanette lächelte und trat an den Tisch. Er setzte sich zu ihr, so nahe, daß ihre Körper sich streiften, und Agathon wurde völlig ausgefüllt von dem Bewußtsein dieser großen, und wie ihm vorkam, unverdienten Nähe; die Welt rückte für ihn plötzlich in eine maßlose Ferne; versank in einen Abgrund. Jeanette schälte und zerlegte die Orange und Agathon erlebte jede ihrer Bewegungen mit, ja, es war ihm, als ob er selbst die Frucht zerteilte. Dann reichte sie ihm ein Stück und er aß. Er fühlte nicht die Süßigkeit der Frucht, es wurde ihm kaum bewußt, daß er aß. Sie beschäftigten sich damit, die ätherischen Öle der saftreichen Schale in die Flamme zu spritzen; es knallte und zischte, beide lächelten. Agathon lächelte aber wie über etwas Fernes, in einem andern Leben Erlebtes, er lächelte Jeanettens Lächeln mit, vielleicht aus Furcht, daß sie aufhören könne zu lächeln. Plötzlich machte Jeanette eine halbe Drehung gegen ihn; ihr Gesicht wurde beinahe steinern, ihr Blick verschlingend groß, unbarmherzig wild, und er sah ihre Zähne schimmern. Sie stand auf.
Die Kerze war erloschen. Agathon fühlte zwei Arme um sich geschlungen und an seinem Halse die kalte, feuchte Berührung eines Mundes. All seine Sinne schmerzten, daß er glaubte, es müsse mit ihm zu Ende gehen, daß er die Nacht schier verwünschte. Was er dann empfand, war eine sich ausbreitende Angst, das Gefühl, als ob das Zimmer luftleer sei, und endlich eine verzweifelte, brennende Begierde.
„Was zitterst du so?“ fragte Jeanette leise. Dann knisterten wieder ihre Kleider; es fielen ihre Haare herab und hüllten seine Hände ein. Er lag mit offenen Augen, die wie erblindet waren und fühlte die warme Haut ihres Körpers, und ihn schauerte bis ins innerste Mark seiner Knochen. Sie küßte ihn; er dachte, daß sie ihn besser hätte nicht küssen sollen, denn er glaubte, zu ertrinken in einer heißen Gischt, sein ganzer Leib war ein zuckender Schmerz, der alles in einen übermäßigen Rausch versetzte, dann kam ein bewußtloses Versinken, – aus einer großen Höhe, tiefer und tiefer; das anfänglich blendende Licht verlor sich, und plötzlich fiel er wie zerschmettert nieder auf Steine und blieb liegen, voll von einem grenzenlosen, vorher nie erfaßten, noch geahnten Jammer.
Er wußte nicht mehr, wie er sich erhob, in die Kleider kam, wie er das Zimmer verließ, auf der Straße stand, die sich breit hindehnte in einem mühsam aufquellenden Morgennebel. Er sah einen Garten vor sich und sah das Thor offen; er streckte sich hin auf den Sockel eines Brunnens, der noch mit Stroh umwunden war; er streckte sich hin und legte den Kopf auf die Arme und begann bitterlich zu weinen. Nicht mühselig flossen seine Thränen, sondern reich.
Als er aufsah, war die Sonne emporgegangen aus glühenden Dünsten, aus der Umarmung riesenhafter Wolken. Ein Hahn krähte. Kräftige Frische war in der Luft. Die Nebel der vergangenen Nacht hatten den Karneval mitgenommen. Die Sonne des Aschermittwochs vergoldete manchen Garderobefetzen im Kehricht.
Jeanette lag noch da, wie er sie verlassen. Sie schlief. Ihr Gesicht hatte etwas so Eisiges und Totes, als ob das Leben nie wieder in die Züge zurückkehren sollte. Die geschlossenen Lider hatten eine Müdigkeit, die an den vollen Tafeln des Lebens entstanden und genährt worden war. Das über und über wirre und krause Haar zeugte von einer leidenschaftlichen Gutmütigkeit. Durch die Spalten der Gardinen fiel ein schmales Sonnenband auf ihre schneeweiße Brust.
Als sie zusammen frühstückten, blickte ihn Jeanette scharf an und sagte: „Nun, du siehst wohl, daß die Welt aus Schmutz besteht.“
Agathon schwieg.
„Du siehst, was ich bin,“ fuhr sie fort. „Und du kommst und verlangst, daß wir nicht mehr glauben sollen. Das ist ja ohnehin unsere Krankheit. Ja, ja, rede nicht, ich weiß schon, weil wir schwach sind, müssen wir stärker werden und so weiter. Aber jetzt ist deine Mauer gefallen, Agathon, und du hast nicht gedacht, was für eine schmutzige Sache sie verdeckt.“
„Ist es nicht vielleicht deswegen Schmutz, weil wir es so wollen? Weil du es willst?“ fragte Agathon. „Oder deswegen, weil Christus es gewollt hat? Weil wir uns der Genüsse schämen? Könnte es das nicht sein, Jeanette? Liegt nicht in der Vereinigung von Mann und Weib Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit? Und nur darin? Wozu Götter? Ein Gott ist schon Götzendienst. Warum sollte das Schmutz sein, was so erhaben sein kann? Du mußt nicht lachen.“
„Wirklich? Kann es das? Nein, so was! Kann es so erhaben sein? Köstlich. Ihr Männer seid unverbesserliche Trunkenbolde.“
„Was hast du nur, Jeanette?“
Sie sprach mit starrem Blick vor sich hin: „Auch du, auch du, Agathon, mußtest fallen. Niemals hätte ich es geglaubt. Es ist mir ganz klar, wozu es dich treibt, klarer wie dir. Du willst die Sinnlichkeit wieder auf den Thron setzen, den sie seit zweitausend Jahren verlassen hat. Das liegt in dir, spricht aus deinen Worten, strahlt aus deinen Augen. Ja, eher kannst du dein Hirn verbrennen, oder du mußt neue Menschen formen. Das ist alles unanständig, was du willst, verstehst du, unanständig; das ist das Wort, das dich erdrosselt. Wenn du es aus der Welt schaffst, dann glaube ich an dich. Ist es nicht unanständig, wenn wir die Kleider abnehmen und uns sehen? Ist es nicht unanständig, Kleider zu haben und an Liebe zu denken? Ach, nur die Kleider sind schuld, daß wir so krank lieben. Und dann bedenke, eine Religion, die nicht die Sinnlichkeit erstickt, schleudert die Könige vom Thron. Gott, ich bin so klug. Ich freue mich so, daß ich klug bin. Pfui, ich mag nicht mehr leben.“
Eine Zeitlang schwieg sie, dann stand sie so heftig auf, daß der Stuhl hinter ihr auf den Teppich zurückfiel. „Nun sollst du alles wissen. Damit wenigstens ein Mensch weiß, was ich leide. Nicht mich ruft der König, sondern ich habe alles daran gesetzt, um zu ihm zu kommen. Keinen Schleichweg, keine Hinterlist habe ich gescheut. Er soll mein letztes Medikament sein. Vielleicht finde ich dort Heilung. Es geht ein Stolz und eine Hoheit von ihm aus wie ein Sturm übers ganze Land. Denn siehst du, ich langweile mich. Ich langweile mich, seit ich auf der Welt bin. Ich langweile mich bei Putz und Schmuck und beim schönsten Sonnenaufgang und beim schönsten Gemälde. Versteh mich recht, es ist mehr als die Langweile, aus der müßige Frauen Ehebruch begehen, Dummköpfe zu Verbrechern werden, aus der die Hälfte alles Übels in der Welt geschieht. Nein, ich habe noch keinen einzigen Menschen kennen gelernt. Ich war in Paris am Herzen der Erde gelegen und habe gezittert mit den Pulsschlägen der Nacht, ich habe den vornehmsten Pöbel rasend gemacht mit tanzen, ich habe jubelnd sämtliche Tugend zum Teufel gehen lassen, – nein, ich habe mich gelangweilt. Ich habe mich in den Betten gewälzt, die Kissen zernagt und jeden Tag verflucht; ich habe um Krieg gebetet und ein grauenhaftes Kanonenmodell konstruiert, ich bin in die Berge gegangen und einsam geblieben; ich habe die berühmten Männer aufgesucht und fand sie so öde, daß mir war, als müßte ich sie in den Arm zwicken, damit sie wenigstens einmal schreien möchten, – alles war umsonst. Und was willst du, armer Agathon, hier! Geh fort, auch ich packe heut mein Bündel und fahre. Geh, aber sei vorsichtig, denn du bist ja ein gefährlicher Mensch.“ Sie ging zum Fenster, riß es auf und sog mit geblähten Nasenflügeln die Luft ein. Als Agathon nicht ging, stampfte sie mit dem Fuß auf und knirschte mit den Zähnen wie ein bösartiger Hund.
Ein leises, aber bald anschwellendes, helles Gemurmel wurde hörbar. Eine lange Prozession von Kindern zog die Straße herab. Die zuerst Kommenden beteten, wodurch das silberhelle, monoton gleitende Murmeln entstand; die letzte Schar sang. Alle Gesichter hatten eine so abenteuerliche Gleichgültigkeit, eine solch dumme und gequälte Feierlichkeit, daß es zugleich lächerlich und schrecklich war. Den Nachtrab bildeten sechs Ministranten in weißen Gewändern; zwei trugen ein ungeheures schwarzes Kreuz. Jeanette sah darauf, und ihr Blick war gänzlich fasziniert. Sie schauderte.
Agathon wich zurück vor ihr und ging. Ihm war, als ob er eine Tote verließe, deren Seele man da draußen schon zum Grabe geleitete.
Auf der Straße folgte er dem Leichenzug in der Nähe des Wagens, der den Sarg trug, – einen kleinen, schmalen Kindersarg, der nicht schwarz und nicht anders war, obwohl er vielleicht hatte schwarz sein sollen. Es war ein blasses und gebrechliches Häuschen und der Tod hockte mit einem Kranze darauf und sang im Chor. Agathon meinte, er müsse den Tod um die Zukunft fragen, da das Leben so schweigsam war.
Nach dem unerwarteten Erfolg seines Buches hatte sich Stefan Gudstikker beeilt, die vornehme Bel-Etage eines vornehmen Hauses zu mieten. Seine stolze Mutter hatte es verschmäht, bei ihm zu wohnen, und sie hatte gelacht, als er ihr Geld anbieten wollte. Er betrieb eine eigene Art von Leutseligkeit gegen seine Bekannten, die darin bestand, daß er seinen berühmten Namen, auf Visitenkarten gedruckt, häufig in ihre Briefkasten schob; er ließ das Haar ein wenig länger wachsen, den Bart ein wenig imposanter stutzen, kaufte einen Brillantring, der beim Schreiben ein schwüles Feuerwerk von Strahlen gab, ließ sich photographieren, und zwar in einem Smoking, in einer Kravatte von durchbrochenem Rips, den Cylinder in der Hand, mit fest nach vorwärts gerichtetem, gleichsam unparteiischem Blick und etwas mitleidig verzogenem Mund. Nach solchen Vorbereitungen beschloß er, seinen Kollegen in der Hauptstadt ein Rendez-vous zu geben und sprach gegen seine vertrauten Freunde stirnrunzelnd von den Kniffen, die er werde anwenden müssen, um gewissen Festlichkeiten zu entgehen. Seine Gewohnheit, einsam zu sein, lasse ihn diesen Schritt nur mit großer Überwindung thun.
Kisten und Koffer waren gepackt. Die Fenster standen offen, und ein würziger Strom Vorfrühlingsluft floß herein. Gudstikker war beschäftigt, seine Reiselektüre zu sichten, als sich die Thüre öffnete und Monika Olifat hereinkam. Sie öffnete die Thüre nur wenig und schob sich furchtsam durch den Spalt. Sie hatte mit einem großen Shawl den Kopf verhüllt. Gudstikker war so überrascht, daß er die brennende Cigarre fallen ließ. Doch dies dauerte nur einen Augenblick; dann war er völlig gefaßt, ja, er schien sich sogar zu freuen. Er ging hin und bot ihr die Hand.
Monika sah nicht, daß er ihr die Hand gab. Sie setzte sich oder sie sank vielmehr auf einen der herumstehenden Koffer, ließ den Blick unsicher umherschweifen und murmelte: „Du gehst fort, Stefan?“
„Aber natürlich, Närrchen, ich muß doch,“ erwiderte Gudstikker. „Begreifst du denn nicht, daß ich muß? Am fünften führt man mein Stück auf und heute, – na ja, noch drei Tage. Willst du dich nicht lieber auf den Stuhl da setzen?“
„Also du gehst fort,“ wiederholte Monika mechanisch. „Du gehst fort.“ Und sie wollte die Hand an die Stirn heben, ließ sie aber im Schoß ruhen. Beide Hände lagen da, schwer, aneinandergepreßt.
Gudstikker lächelte schnell unter seinem schwarzen, koketten Bart hervor. Dann nahm er ihre Hand und sagte: „Liebes Kind, die Pflicht ruft. Da ist nichts auszurichten. Wer aber sagt denn, daß ich nicht wieder komme, nicht wieder zu dir komme? Wer kann es wagen, dies zu behaupten? Sieh doch selbst; angenommen, wir könnten uns nicht wieder treffen, selbst diesen Fall angenommen sage ich, bliebe uns nicht die köstliche Erinnerung übrig, dir und mir? Flammen in der Vergangenheit wärmen selbst die Zukunft, sagt irgendwo ein großer Dichter. Du wirst das verstehen, denn du bist ja so klug wie wenig Weiber. Ist es denn ein so großes Unglück, einmal an dem vollen Becher des Lebens getrunken zu haben? Die Hauptsache ist, daß man satt ist, verstehst du. Ich behandle ein solches Thema in meiner neuen Arbeit. Es ist außerordentlich interessant, sie werden Gift und Galle spritzen, die Herren Kritiker, aber das macht Spaß. Ich habe den Plan meiner Mutter erzählt; sie meint sogar, daß es eine ganz philosophische Färbung hat. Sie hat ihr eigenes Urteil in derlei Sachen, weißt du. Mein Gott, was hat sie aber auch durchgemacht! Da ist es leicht, Philosophie zu haben. Nach dem Tod meines Vaters ist es ihr verdammt schlecht gegangen. So schlecht, daß sie ihr Brautkleid, eigentlich das Theuerste, was sie besitzt, ins Pfandhaus tragen mußte. Und bis heute hat sie es nicht wieder einlösen können. Man kann getrost sagen, daß es ihre Lebensaufgabe geworden ist, ihr Brautkleid wieder einzulösen. Trotz alledem hat sie sich nie von ihrem Hund trennen wollen. Ein prickelnder Stoff, was? Da kann sich ein Balzac die Zähne ausbeißen. In letzter Zeit kränkelte sie übrigens. Du könntest einmal hingehen. Aber rege sie nicht auf. Nur keine Scenen, mein liebes Kind, nur keine Scenen, und vor allem keine Dummheiten. Noch etwas, – daß du mir eine ordentliche Hebamme nimmst, und wenn möglich einen geschickten Arzt dazu. Deine Mutter hat ja keinen Dunst von solchen Sachen, ta chère maman hehe. Ich muß sagen, ich freue mich außerordentlich. Es ist eigentlich ein erhebendes Gefühl. Wie? Was sagst du?“
Monika hatte sich erhoben und starrte hinaus gegen den Himmel, in eine lange Linie rosenroter Wölkchen. „Nun ja,“ sagte sie gepreßt. Das war alles. Ihre beiden einst so frohen, einst so frischen Augen glänzten verräterisch, und als sie mit kurzem Nicken sich zum Gehen wandte, perlte Thräne auf Thräne herab, ohne daß sie es zu hindern vermochte. Im Treppengang lehnte sie sich an einen Pfeiler und hielt ihre Stirn mit beiden Händen.
Es zeigt sich, daß zweihundert Jahre das Gemüt der Menschen nicht verändern, daß dies nur eine winzige Phase ist im Prozeß der Umwandlungen. Es scheint, als ob Charaktere oder Seelen über Jahrhunderte hinweg in einer neuen Kette von Erscheinungen und Ereignissen zu neuem Dasein erwachen müssen. Es ist dann gleichgültig, ob dieser Wiedergekehrte Thomas Peter Hummel oder Stefan Gudstikker heißt.
Gudstikker stand am Fenster, pfiff eine Arie und betrachtete ebenfalls die rosige Wolkenkette. Und in den Pausen seiner Kunstausübung murmelte er: „Jaja, die Weiber, die Weiber.“ Dann dachte er daran, sich von seiner Mutter zu verabschieden und er machte sich auf den Weg.
Als er in die Stadt ging (seine Wohnung lag am Engelhardtspark in der Nähe derjenigen Nieberdings), dunkelte es schon. Gudstikker fand sich unvermittelt aus seiner siegesgewissen Stimmung gehoben. Er ging am Redaktionshaus des „Tagblatts“ vorbei, als ein schriller Lärm ihn aufmerksam machte. Seine zu jeder Zeit wache und geschäftige Neugier hieß ihn stillstehn und lauschen. Er vernahm ein immer zunehmendes Keifen, Brüllen, Schimpfen und Fluchen. Dazwischen wurde eine klagende oder mahnende Stimme laut, und endlich wurde eine Thüre mit aller Wucht zugeworfen; dann war es still. Gudstikker wollte seinen Weg fortsetzen, als unter dem Thor des Hauses die Gestalt eines Greises erschien. Gudstikker erkannte Baldewin Estrich und lachte. Eigentlich war es ihm kaum klar, weshalb er lachte, denn der Alte bot bei den zahlreichen, halbgeheilten Narben an Gesicht, Hals und Händen einen ziemlich jämmerlichen Anblick; aber das hielt ihn nicht ab. Er raisonnierte dabei: Gold machen allein wäre ja nicht so schlimm, das thun wir ja alle auf unsere Art; aber Baldewin heißen außerdem –!
Indessen kam Estrich auf ihn zu und erkannte ihn, obwohl er ihn erst einmal in Zirndorf gesehen hatte, obwohl es dunkel war und obwohl er erregt schien von dem Streit.
„Was haben Sie denn dort drin gemacht?“ fragte Gudstikker lustig, jedoch, wie ihm schien, sehr menschenfreundlich. Er gedachte, sich auf eine Seelen-Analyse dieses „Originals“ vorzubereiten.
Der Alte blieb stehen und sah unsicher umher. „Wo kann man trinken?“ murmelte er. „Ich habe Durst!“
Gudstikker führte ihn in eine nahe Kneipe, wo als einziger Gast ein jüdischer Hausierer saß, mit seiner Tagesbilanz beschäftigt, ein Glas Zuckerwasser vor sich.
Baldewin Estrich bestellte Schnaps. Gudstikker, der sich immer noch als der Mann über einer komischen Situation fühlte, lächelte die Tischplatte und demnächst seine etwas besser gepflegten Fingernägel wohlgefällig an.
In der Schenke qualmte nur eine einzige Lampe. Die Fenster waren geschlossen und schienen auch seit Jahrzehnten geschlossen zu sein, der Atmosphäre nach zu schließen. Draußen war es noch nicht finster; die Tiefe des Himmels war noch gelb. Estrich schaute in sein Glas und sagte: „Junger Mann, ich habe abgerechnet. Ich bin leergepumpt, hohl, ein hohles Faß. Ich habe gelebt, jawohl; aber für was? Für einen Fußtritt, da haben Sie’s. Jetzt bin ich an der Reihe, Fußtritte zu geben. Also aufgepaßt, da sind Zündhölzer: zwanzigtausend Gulden, achtzigtausend Mark, sechsunddreißigtausend Mark, fünftausend Mark und daneben ein kleines Loch und daneben ein kleiner Mann und daneben ein kleines Schnapsglas ... hihihihi! Jetzt kommen meine Fußtritte. Meine Katze erbt mein Haus, punktum. Meine Katze erbt mein Gold. So. Und wenn ich auch noch keinen Notar und keine Zeitung für mich hab’, ich setz’ es durch. Kein Mensch soll über meine Schwelle, so lang sie noch Schwelle, so lang mein Haus Haus bleibt. Jetzt kommen meine Fußtritte, ihr satansträchtige Brut, ihr Wanzenfutter, ihr Christen und Juden. He du! He! He Jud!“
Der Hausierer hob den Kopf. Als er das funkelnde Metall in Estrichs Hand gewahrte, kam er näher. Vor dem Tisch schnappte er jäh zusammen wie ein Messer, und seine Augen schienen herauszufallen. „Gott der Gerechte, was ham Se da in der Hand? Werd’s doch user nit sein Gold? Is es? Is es wahrhaftik? Odder welln Se machn zon Schoode en arme Jüd? Es is, schemaa Jisroel, es is! Gott was e scheener Glanz! Gott was e scheenes Gold! Chutzpeponim, was haste zum Narrn en arme Meschofesjüd! Gott, was e scheenes, was e faines Gold!“
Gudstikker hatte nicht mehr Lust zu lachen. Im Gegenteil. Furcht und Scham malten sich auf seinem Gesicht. Vielleicht seit seiner Kindheit zum erstenmal vergaß er seine Rolle als Redner. Vielleicht zum erstenmal wurde er erschüttert durch ein Bild der großartigen und bejammernswerten Lebensschlacht. Der Hausierer stand da mit ein wenig vorgestreckten Händen, und eine verschlingende Habgier brannte in seinem Gesicht, grub neue Furchen und Runzeln hinein; seine Glieder bebten, sein Kopf schaukelte mechanisch mit einer leisen Bewegung hin und her, seine Finger krallten sich allmählich einwärts und seine feuchten Lippen lallten. Baldewin Estrich schien sich nicht sättigen zu können an diesem Anblick. Er streichelte das Metall, und halb scherzend, halb schmeichelnd trällerte er eine Cadenz. Dann erhob er sich. Sein Gesicht nahm einen überaus düstern und feindseligen Ausdruck an. Er spie aus, schleuderte sein Glas gegen die Dielen, daß es zerschmetterte, warf Geld auf den Tisch und verließ mit kräftigem Schritt und erhobenem Kopf den Raum, wobei seine langen Haare flatterten.
Während Gudstikker die Stufen hinunterschritt, die von der Kneipe auf die Straße führten, stieß er so heftig mit einem Menschen zusammen, daß ihm der Hut vom Kopf in die Gosse flog. Als er sich umsah, empört und bereit zu schimpfen, war es Nieberding, den er in der letzten Zeit näher kennen gelernt hatte. Nieberding schien nicht allein zerstreut und abwesend, sondern auf seinem Gesicht spiegelten sich auch die Bilder aufregender Sorgen. Auf seinem Gesicht lag jener leise Ekel, in den sich bei schwachen Naturen so schnell jede Mißstimmung verwandelt, und ohne sich zu entschuldigen, man hätte glauben können, ohne den Stoß gefühlt zu haben, eilte er seinem Hause zu.
Er war in fieberhafter Ungeduld, das was er gehört, der Schwester mitzuteilen. Er klopfte an ihre Thüre, doch sie antwortete nicht. Er drückte auf die Klinke, doch sie war versperrt. Er pochte stärker und rief ihren Namen, umsonst. Er ging wieder in den Salon zurück und schritt unruhig umher. Seine matten Augen lagen viel tiefer als sonst; der suchende, krankhafte Glanz in ihnen teilte sich bei längerer Betrachtung dem ganzen Gesicht mit. Seine Hände schienen ein eigenes Leben für sich zu führen, schienen stets mit einander im Kampf zu liegen, sich gegenseitig aufzureiben, worauf sie dann wieder lange Zeit bewegungslos und müde herabhingen. Sie schienen begierig danach, sich im Gebet zu falten, begierig nach einem Leiden.
Nieberding hatte seltsame Gerüchte vernommen über Jeanette, die sich in einem der königlichen Schlösser aufhalten sollte. Überall im Volk gärte eine gewisse Erregung über das Schicksal des Königs, eine Unruhe, die täglich zunahm, ein wachsender Haß gegen die Minister, gegen den Hof, gegen die Familie des Fürsten, eine nahezu thatbereite Neugier. Leute, die den König einmal gesehen, hatten ihn nie wieder vergessen. Der Eindruck seiner Person war so tief, daß, wer ihn sah, selbst ein Stück Vornehmheit und Adel in seiner Seele davontrug. Er stand so außerhalb alles Gewöhnlichen, Menschlich-Alltäglichen, daß der Nimbus, der seine Handlungen umgab, fortwährend blendender und hinreißender wurde.
Als Cornely noch nicht kam, rief Nieberding die beiden Dienstboten. Sie wußten nichts bestimmtes. Da pochte Nieberding, von einer schmerzlichen Ahnung erfaßt, noch einmal so heftig er konnte an die Thüre. Dann lauschte er und glaubte nichts zu vernehmen als einen Seufzer, der wie durch viele Tücher gedämpft herausklang. Nun erbrach er mit Hilfe des Dieners die Thüre.
Es bot sich ihm dieser Anblick: Seine Schwester lag mit nacktem Oberkörper vor einem großen Christusbild, das sie sich heimlich verschafft haben mußte, denn Nieberding hatte nichts von seinem Vorhandensein gewußt. Ihr unglücklicher Körper war mit Striemen bedeckt. Ihr Gesicht war entstellt, die Lippen zu einer schmalen Linie verzogen, die Brauen bogen sich angestrengt über den Lidern. Nieberding schob den Diener ungestüm hinaus und kniete nieder zu ihr; hob sie auf und legte sie aufs Bett. Statt sie wiederzubeleben, starrte er sie an, während sein Herz langsamer schlug.
„Cornely,“ flüsterte er an ihrem Ohr.
Sie schlug die Augen auf. Dann zog sie bebend die Decke bis an den Hals hinauf.
„Was hast du gethan, Cornely?“ sagte Nieberding, in dessen Gesicht eine zunehmende Furcht sichtbar war.
Cornely richtete sich verstört empor und griff nach der Hand des Bruders. „Geh nie mehr fort,“ stammelte sie. „Ich kann nicht mehr schweigen. Ich habe dich geliebt, liebe dich Edward, es ist entsetzlich. Drücke meine Hand nicht so. Dafür büße ich vor Jesus Christus, denn schon lange bin ich keine Jüdin mehr. Ich denke genau so wie du.“
„Schwester!“ rief Nieberding und wich zurück.
„Versteh’ mich recht,“ fuhr Cornely fort, allmählich in einen fieberhaften Ton verfallend, „nicht als Bruder habe ich dich geliebt. Nein, so, daß ich keinen Schlaf, keine Ruh’ mehr hatte von der Stund’ an.“
Die Furcht in Nieberdings Gesicht nahm beständig zu. Einmal blickte er um sich, als erhoffe er durch irgend einen Zwischenfall Befreiung von dem Gequälten der Situation. Wirklich erschien gleich darauf die Gestalt Bojesens vor der Schwelle und hinter ihm eine Sekunde lang das neugierig grinsende Gesicht des Dieners.
Bojesen war erstaunt; doch es schien, als ob er sich nur mit Mühe in dies Erstaunen finden könne, gegenüber einem Gegenstand, der ihn bis jetzt gänzlich in Anspruch genommen hatte. Seine Kleidung wies solche Spuren geheimer und mühselig verborgener Vernachlässigung auf, daß, wer ihn früher gekannt, nunmehr Mitleid fühlte und noch mehr als das. Obwohl Nieberding erleichtert aufatmete, als er den Eindringling gewahrte, wandte er sich ihm doch mit einem ungeduldigen und unwilligen Stirnrunzeln zu.
„Sie wissen nicht, wo Agathon Geyer ist?“ begann Bojesen ohne weitere Einleitung als einen flüchtigen, mürrischen Gruß.
Nieberding antwortete verwundert, er kenne Agathon Geyer gar nicht. Er wurde immer mehr verwundert durch Bojesens nervöses, förmlich zuckendes Wesen. Er fuhr sich zahllose Male mit der flachen Hand über die Stirn und lächelte verstört in sich hinein.
„Ich habe ja gar nicht gefragt, ob sie ihn kennen,“ sagte Bojesen und blickte sich mit leeren Augen im Korridor um, wohin ihn Nieberding geführt hatte.
„Aber was giebt es denn? Was haben Sie?“
„Entschuldigen Sie, daß ich komme,“ murmelte Bojesen. „Entschuldigen Sie nur. Natürlich können Sie nichts wissen. Aber seit heute morgen renne ich bei allen möglichen Leuten herum, hier und in Nürnberg. Deswegen komme ich auch zu Ihnen. Kennen Sie die Schrift?“ Er hatte einen verschlossenen Brief aus der Brusttasche gezogen, dessen Adresse er Nieberding hinhielt.
Nieberding erbleichte. „Es ist Jeanettens Hand.“
„Jeanettens Hand, sehr richtig,“ erwiderte Bojesen mit einem hämischen Zucken der Mundwinkel. „Jeanettens Hand, die in meinem Haushalt alles Geschirr auf die Dielen wirft, sehr richtig. Ich glaubte schon Ruhe zu haben vor Jeanettens Hand. Aber das braucht Sie ja gar nicht zu interessieren. Es ist nur ein Fingerzeig für meinen Biographen. Er kann dann meiner Lebensbeschreibung den Titel geben: ‚Jeanettens Hand‘.“
Nieberding, der feige vor den Herzensqualen seiner Schwester zurückgewichen war, sah sich hier einer neuen Verwicklung von Schmerzen gegenüber. Auch ihn hatte der Gedanke an Jeanette erregt, doch Bojesen erschien ihm so überlegen an Leidenschaft, daß er Angst hatte, ihn zu einem gewaltsamen Ausbruch zu reizen. „Und was will sie? Weshalb schreibt sie an diesen Agathon?“ wagte er endlich zu forschen.
„Ach fragen Sie nicht so frisiert. Sie schreibt an ihn. Punktum. Ich wußte es stets. Sie hat auch mir geschrieben. Sie bittet mich bei allem, was mir heilig sei, als ob’s dergleichen noch gäbe, ja, also ich solle Agathon suchen und ihm den Brief geben. Sie wisse niemand, an den sie sonst schreiben könne. Ich solle keinen Schritt scheuen, ihn zu finden. Nun, da dieser Agathon auch von der Polizei gesucht wird, ist die Sache schwierig. Sie wissen ja, was man sich von dem merkwürdigen Menschen erzählt. Der Brief, den sie mir schreibt, ist auf seltsames Papier gekritzelt. Schwarz mit grüner Tinte. Der Poststempel ist von irgend einem Dorf da im Hochgebirg. Gehen Sie mit mir nach Zirndorf. Das wollt’ ich Sie bitten. Ich kann nicht allein. Es sind so öde Strecken. Oder wir wollen einen Wagen nehmen. Bezahlen müssen Sie.“
Wie gebannt starrte Nieberding in das leidenschaftlich erregte Gesicht des Lehrers, auf dem die trübe Korridor-Ampel ein unruhiges Schattenspiel veranstaltete. Fast willenlos nahm er den Hut vom Kleiderstock und ging, sich von der Schwester zu verabschieden. Er fand sie am Fenster stehend. Befangen und schuldbewußt reichte er ihr die Hand; er komme bald wieder.
Sie schien zuerst nicht verstehen zu können. Dann nickte sie. Ihr Blick wandte sich fremd auf die dunkle Landschaft. Als Nieberding die aufgebrochene Thür von draußen angelehnt hatte (er that dies mit einem gewissen Eifer, als könne er dadurch die Schwester für sich günstig stimmen), nahm Cornely einen Shawl, hüllte den Kopf damit ein, strich die wirrgewordenen Haare flüchtig zurück, schlug mit einer krampfhaften Gebärde die Hände zusammen, dann legte sie einen Schlüsselbund und ihre Geldbörse auf das Bett und kurze Zeit darauf stand sie unter den noch kahlen Bäumen der abschüssigen Wasseranlagen. Sie beschleunigte ihren Schritt nicht. Sie ging immer langsamer, oft mit geschlossenen Lidern, mit einem Ausdruck im Gesicht, der ein Gemisch von müder Erwartung und furchtsamem Horchen war. So glich sie einer fast verwelkten Pflanze.
Sie hatte geglaubt, als sie von Hause ging, sie suche den Tod; aber jetzt bemerkte sie, daß es nicht der Tod war, den sie suchte. Das wurde ihr so jähe klar, daß sie fröstelnd stillstand und überlegte. In der einen Straße befand sich ein Lastwagen, und auf ihm waren, trotz der Abendstunde, noch Leute damit beschäftigt, dicke massive Eisenschienen auf Strohbolzen herabfallen zu lassen. Es gab ein hallendes Getöse, ein schrilles wuchtiges Klingen, das dem Geschrei einer fernen Volksmenge glich; in einer andern Straße spielten Kinder, so als ob die Nacht gar keine Unterbrechung für ihr Spiel bringen würde; in einer andern Straße rauften zwei Dienstmänner und brachten ein Droschkenpferd zum Durchgehen. Das war gewöhnlich, aber für Cornely war es Leben. Sie kannte solches Leben nicht; jetzt jedoch sah sie das Leben über die Schürzen der Mädchen huschen, die über die Straße liefen; sie sah es tropfen von den Balkonen, wo man die Zimmerpalmen begoß; es kletterte in Gestalt einer Katze über die Zäune, es bellte als Hund, es läutete als Abendgeläut.
Mit jedem Schritt klammerte sie sich fester an diese neuen Vorstellungen. Sie dachte an Jeanette, an das Pfänderspiel von einst und bekam plötzlich Sehnsucht, Jeanette zu sehen. Sie vergaß, daß Jahre hingegangen waren seit der Stunde jenes Pfänderspiels und es kam ihr vor, als könne sie Jeanette treffen wie damals, wenn sie nur das Haus des Barons betrete. Als sie aber wirklich vor dem Gebäude stand, schämte sie sich und kehrte seufzend um.
Sie kehrte um, nach Hause, setzte sich an den Rand ihres Bettes nieder und dachte nach. Sie grübelte über sich selbst und durch welche Umstände und Fügungen sie zu dem geworden, was sie eben war. Es schien ihr, als ruhte die Lügenlast von Jahrhunderten auf ihr und drücke sie nieder, ersticke jede Freiheit, jeden Willen zur Freiheit. Unter all diesen Gedanken war auch einer, der sie zittern ließ. Zittern vor dem Reichtum, vor der Fülle, die sie jetzt umgaben. Ihr Vater war Sklavenhändler in Amerika gewesen. Dies war genug für sie, daß sie die Seelen Hingepeitschter in den Polstern versteckt sah, daß die Luft um sie herum erfüllt schien von aufbewahrten Rufen des Jammers und des Schreckens. Unwillkürlich erhob sie sich, als fürchte sie, die Berührung mit dem Holz des Bettes könne sie beschmutzen und ihre Bedrücktheit stieg bis zu einem kaum erträglichen Grad. Von einem Abgrund zum andern getrieben, haltlos, voll mystischer Sehnsucht und sinnlicher Begierde, glaubte sie, das Herz springe ihr unter dem wachsenden Druck entzwei. Fast mechanisch, wie ein Fallender nach einem Halt greift, nahm sie Bleistift und Papier und schrieb, ohne auszusetzen, fast ohne sich zu besinnen, mit glühenden Augen und in völliger Selbstvergessenheit:
Sag’ mir an, du trübes Gespenst,
Was du Wissen und Leiden nennst?
Sag’ mir, du ruhige Finsternis,
Warum Gott seinen Sohn verließ?
Sprich, du Himmel ohne Gnaden,
Weshalb hat mich der Freund verraten?
O sprich, du lange Einsamkeit,
Was ist Tod und was ist Zeit?
Da begann das trübe Gespenst:
Was du Wissen und Leiden nennst,
Das ist kraft eines deutlichen Traumes;
Das ist Spiel jenes bunten Saumes,
Saum vom Kleide der Ewigkeit,
Kraft eines langerloschenen Lichts,
Dies ist Wissen, dies ist Leid
Und sonst nichts.
Sprach die ruhige Finsternis:
Warum Gott seinen Sohn verließ,
Das ist kraft seiner Lust zur Freude;
Das ist Kampfspiel, das stets erneute
Hangen und Bangen am Lebensbaum.
Gott wünschte einen Sohn des Lichts;
Seine Vaterliebe, sie ist nur ein Traum
Und sonst nichts.
Sprach der Himmel ohne Gnaden:
Mit Recht hat dich der Freund verraten.
Freundschaft ist zärtliches Betrügen,
Kopfnicken und Rückenbiegen.
Umklammert deine Faust das Schwert,
Freue dich des Verrätergerichts;
Entbehren ist, was dich der Freund gelehrt,
Und sonst nichts.
Sprach die lange Einsamkeit:
Frage nicht, was Tod und Zeit.
Tod bist du und Zeit bist du,
Rast und Flucht und Kampf und Ruh.
Aus dem Knäuel der Wirklichkeiten
Wirst du am Tage des großen Verzichts
Hin vor meine Füße gleiten,
Und sonst nichts.
Als Cornely dies geschrieben, schaute sie geraume Zeit mit staunenden Augen ins Lampenlicht. Dann erhob sie sich, packte das schwere Kreuz an der Wand und trug es mit ihren schwachen Armen hinaus in den Korridor. Hierauf suchte sie die Thüre zu schließen, da aber das Schloß nicht fungierte, verrammelte sie sie mit einem Stuhl und einem Tischchen und begann sich mit einer träumerischen Ruhe zu entkleiden. Die Ruhe, die sie erfüllte, war so frauenhaft und ausgeglichen, daß sie sich ganz neubelebt fühlte. Sie entfernte auch das Hemd vom Körper und trat vor den Spiegel, um sich mit dem gleichen verträumten, etwas staunenden und verlornen Blick zu betrachten. Diese Empfindung des Losgelöstseins und der Leichtigkeit hatte sie wünschen lassen, nackt zu sein. Doch sah sie nicht den eigenen Körper, sondern freundliche Gestalten umschwebten sie, deren Nähe ihr beglückend dünkte.
Bald darauf ging sie zu Bett.
Der flüchtige Traum von Frühling war schon wieder vorbei, als Agathon an einem kalten Spätnachmittag nach Fürth kam. Er war schon ziemlich lange umhergewandert, ohne daß er sich entschließen konnte, jemand von den Menschen aufzusuchen, die er kannte. Es dunkelte schon, als er aus dem ersten Stock eines Hauses der Schwabacherstraße zu seinem großen Erstaunen den wolligen Kopf der Frau Olifat gewahrte. Im Nu hatte diese lebhafte Dame auch ihn erblickt und erkannt. „Ah, monsieur Geyer!“ schrie sie und gestikulierte mit beängstigender Heftigkeit. „Ah, monsieur Geyer! entrez, je vous prie! Consolez une misérable femme!“ Agathon lächelte und ging hinauf.
Monika saß in einem Lehnstuhl und schaute mit einem haßerfüllten Blick auf ihn, als er eintrat. Sie wehrte ihre Mutter von sich ab, die mit einer schmeichlerischen Geschwätzigkeit auf polnisch in sie hineinredete und schlang beide Arme um den Hals der verängstigt dabei stehenden kleinen Esther. Frau Olifat stürzte sich sogleich über Agathon her, erklärte ihm mit einer betäubenden Beredsamkeit halb deutsch, halb französisch, daß sie für ein paar Wochen nach der Stadt gezogen sei, der Gesellschaft halber, daß sie die „Supposition“ habe, im Sommer nach den Seen zu reisen; es blieb unerklärt, welche Seen sie dabei im Sinne habe. Sodann klagte sie in leidenschaftlichen Worten über Monikas Benehmen, die den ganzen Tag dasitze, ohne sich zu rühren, ohne zu essen, ohne zu sprechen, ohne zu lachen, „tout comme une morte“. Dann setzte sich die gute Matrone hin und begann aus vollen Kräften zu schluchzen. Esther lief zu ihr, kletterte auf ihren Schoß, schmiegte sich an ihre Brust und blickte feindselig ihre Schwester Monika an, die während alledem keine Miene verzog. Bald sprang Frau Olifat wieder auf, ergriff Monikas Hände und begann von neuem in sie hineinzureden. Doch das Mädchen wandte mit einer affektierten, bösartigen Gleichgültigkeit, als sei sie taub, das Gesicht nach einer andern Richtung. Die gequälte Mutter wurde zornig; unerschöpflich entfloß ein Strom von Schmähungen ihren Lippen, und einmal erhob sie den Arm wie zum Schlag. Darauf packte sie Esther, riß und schleppte das Kind durchs Zimmer zur Thüre und dröhnend fiel die Thür hinter ihr ins Schloß.
Agathon sah sich mit Monika allein. Wieder fühlte er eine atemraubende Beklemmung ihr gegenüber. Er vermochte nichts zu reden. Ihre Wangen hatten sich, kaum daß die Mutter das Zimmer verlassen, mit einem brennenden Rot bedeckt, und ihre Augen glänzten feucht, – vor Scham und Verzweiflung. „Ich kann ja gehen, Agathon, wenn Sie nicht wollen, daß ich bleibe,“ sagte sie mit einer eigentümlich brüchigen Stimme, und um ihre Lippen spielte ein sinnloses Lächeln.
Gern wäre Agathon hingegangen und hätte ihre Hand ergriffen, nur vielleicht um sie zu bitten, sie möge wieder du sagen. Aber er konnte nicht. Diese unüberwindliche Scheu fesselte ihn an den Platz, wo er war. „Was hast du nun eigentlich, Monika?“ fragte er ruhig.
Ihre Blicke begegneten sich zum erstenmal. Agathon hatte dabei das Gefühl, als blicke er in einen Raum mit kahlen Wänden, während vorher der intime Zauber der Behaglichkeit diesen selben Raum erfüllt hatte. Etwas Zerflossenes, ja etwas Hündisches war in Monikas Augen.
„Ich weiß es, du hast Gudstikker geliebt,“ sagte nun Agathon wieder, „aber deshalb mußt du doch nicht so am Leben verzweifeln, Monika. Du warst doch sonst so froh und immer voll Hoffnung; du hast einen immer ausgelacht, wenn man traurig war, Monika. Und jetzt? Was ist mit dir? Ist denn das Leben für dich weniger groß und gut geworden? Viele haben geliebt und entbehren müssen, das ist gewiß wahr, Monika. Aber sieh, nun kommt bald der Frühling, und du wirst dich freuen, wenn die warme Sonne auf dich scheint, und du wirst mit Esther in den Wald gehen und deine Wangen werden wieder rot sein. Und wenn der Herbst kommt, wirst du alles vergessen haben, Monika, diesen ganzen elenden Winter für dich wirst du vergessen haben.“
Da richtete sich Monika auf, und über ihre Züge ging eine zuckende Bewegung. „O Agathon,“ rief sie aus, „nie mehr können meine Wangen rot werden, nie mehr, nie mehr. Nie mehr kann ich in den Wald und die Sonne sehen, nie mehr kann ich vergessen, Agathon, nie mehr, nie mehr.“
Agathon näherte sich ihr und beugte sich herab zu ihr, ergriff ihre Hand und schaute sie an. „Was hast du gethan, Monika? Sprich! Warum schweigst du? Warum verschweigst du mir’s?“
Monika erhob beide Arme und legte die Hände um Agathons Nacken. So sah sie zu ihm empor mit einem feierlichen Blick, der etwas Drohendes in der Ferne zu erblicken schien und sagte, jede Silbe betonend: „Er hat mich betrogen. Geh’ hin und räche mich.“
„Monika!“ schrie Agathon auf und machte sich los von ihr.
„Es ist so finster,“ flüsterte Monika verstört und schauerte zusammen. „Es wird schon Nacht. Ja, ich habe mich ihm hingegeben mit allem, was ich bin. Aber denke nicht schlecht von mir, Agathon, bitte dich, thu’s nicht. Geh’ nicht fort jetzt, nicht fort. Du hättest es doch wissen müssen, schon lange. Geh’ nicht fort jetzt.“ Als die Thüre sich hinter Agathon geschlossen hatte, warf sie sich jammernd zu Boden. Aber bald darauf kam er wieder und fragte sie, die hilflos vor ihm lag. „Wo wohnt er?“
Monika, das Gesicht gegen die Dielen gewandt nannte die Straße und das Haus.
Gudstikker war daheim, als Agathon bei ihm anklopfte. Er zeigte ein überraschtes und freudiges Gesicht bei seinem Anblick und ging mit ausgestreckten Händen auf ihn zu, um aber auf halbem Wege wie angewurzelt stehen zu bleiben. „Na, was machen Sie denn für ein Gesicht, Verehrungswürdiger,“ sagte er erblassend, halb scherzhaft, halb trotzig.
Agathon stand ihm gegenüber, und er fühlte plötzlich all seine Kraft wie verblasen. Voll von brennendem Zorn, der sein Herz zusammenzog, war er noch die Treppe heraufgekommen, aber sobald er in dies lügnerische Gesicht geblickt, war er wie entwaffnet. Es war die Lüge selbst, die ihm in ihrer ganzen brutalen Unbekümmertheit entgegentrat. Glätte und Spitzigkeit, Zähigkeit, scheinheiliger Ernst, – Agathon fand kein anderes Wort dafür, als das Wort jüdisch, in seinem häßlichsten Sinn. Gudstikker schien ihm die jüdischeste Natur, die er je getroffen.
Gudstikker war indes das lange Schweigen unbehaglich. Er bemerkte eine gewisse Veränderung in Agathons Wesen, seit dieser bei ihm eingetreten war. „Ach, Sie kommen wohl wegen der kleinen Monika,“ sagte er nachlässig, in dem sichtlichen Bestreben, Agathon zu verletzen. „Ich sah es Ihnen gleich an. Bischen verliebt, was? Aber das geht schon vorüber. Trösten Sie sich nur und legen Sie vor allem Ihre Berserkermiene ab. Unsereins kann sich nicht bei dem schönen Geschlecht aufhalten. Was für so ein Weib der Lebensinhalt, ist für uns eben nur ein Episödchen. Ja ja. Eben bin ich im Begriff, mein Verhältnis mit der kleinen Käthe in Ordnung zu bringen, d. h. wohlverstanden, zu lösen, hehe. Deswegen habe ich meine Abreise verschoben und das Vergnügen genießen können, Sie noch zu sehen. Die kleine Estrich muß sich eben auch trösten. Sie ist mir doch zu sehr kleines Bürgermädchen. Mein Gott, man verlangt doch ein bischen Kultur. Und dann, der schaffende Mensch muß frei sein. Rücksichtslos muß er alles zur Seite schieben, was im Wege steht, und wenn es nicht anders geht – zerstampfen. So. Nun haben Sie meine Lebensanschauung.“
Erstaunt blickte Agathon auf diese redseligen Lippen, aus denen mühelos Phrase um Phrase quoll. Er schwieg.
„Ich will Ihnen etwas sagen,“ meinte Gudstikker nach einer peinlichen Pause und in etwas prahlerischem Ton, der noch unangenehmer berührte durch das Hingeworfene, anscheinend Leichte und Elastische seiner Redeweise. „Ich will Ihnen sagen, Sie sind ein Idealist. Was sag’ ich, Idealist! Ein verschwommener Träumer, ein unverbesserlicher Hanshasenfuß. Der moderne Mann muß grausam sein, rachsüchtig, blind für die Krüppel und Lahmen und Bettler. Sie kommen daher als Ritter eines kleinen Mädchens, das in leichter Stunde vom Piedestal der Tugend stieg. Was macht das? Leben wir etwa, um tugendhaft zu sein? he? Oder leben wir, um zu leben? Was Sie wollen, ist ja alles ganz schön und grün, aber es verrät keinen großen Geist, keinen starken Geist. (Wie kann er wissen, was ich will, dachte Agathon.) Kennen Sie das wahre Elend der Welt? Nein. Kommen daher mit prophetischen Gelüsten und haben keine Augen für die wahre Not der Zeit. Soll ich einen Abend lang Ihren Asmodai machen? Soll ich? Mein Weg führt mich ohnedies dorthin, wohin ich Sie führen will, – Studien halber natürlich. Allons, kommen Sie.“
Wie gebannt folgte Agathon jeder Bewegung, jeder Geste Gudstikkers. Zugleich empfand er ein fast unheimliches Grauen vor seiner Zunge, die bisweilen hinter dem schwarzen Schnurrbart hervorblitzte wie ein Flämmchen. Er suchte sich allem diesen zu entziehen, aber umsonst. Er folgte Gudstikker, der mehrmals kurz und herausfordernd vor sich hinlachte, auf die Straße.
Der Weg führte sie durch dunkle Gassen in die Vorstadt, wo die verrufenen Häuser standen; wo wenige Laternen ein dürftiges Licht spendeten, und wo die Schutzleute zu zweien und dreien gingen, streng, finster, sorgsam spähend.
Sie kamen zunächst an ein kleines, einstöckiges Haus, über dessen Portal eine grüne Lampe brannte. Die Fenster waren mit Jalousien dicht verhängt.
Als Gudstikker das Thor geöffnet hatte und zur linken Seite in einen mit verblichener, gleichsam abgesessener Pracht ausstatteten Salon getreten war, kam den Beiden eine Schar von geschminkten Mädchen entgegengesprungen, die mit Gudstikker sehr vertraut thaten, sich an seinen Arm hingen, lachten, trällerten, scherzten, nach Wein riefen und sich auf jede Weise und aufs äußerste bemerkbar zu machen suchten. Sie waren mit nichts bekleidet als mit einem Hemd und langen Strümpfen; ihre Augen glänzten krankhaft oder schienen müde, ihre Bewegungen waren geziert, ihr Lachen übertrieben, ihre Scherze frivol. Ihr Gang hatte etwas Schwankendes, das Spiel ihrer Hände und Finger etwas Gieriges, Abenteuerliches. Seltsamerweise beachteten sie Agathon gar nicht: manche blickten scheu nach ihm hin, aber thaten dann wieder, als sähen sie ihn nicht. Bisweilen erschien eine ältere Dame und führte anzügliche Reden, die nach ihrer Absicht etwas Anfeuerndes haben sollten; bisweilen auch läutete die Portalglocke, dann verschwand eines der Mädchen, lächelnd und nickend, gleichsam voll Versprechungen, und die Andern sahen teilnahmlos ins Leere, immer dieselbe auffordernde Miene beibehaltend.
Gudstikker benahm sich wie zu Hause. Gönnerhaft verabreichte er seine Worte, lehnte sich breit und behaglich auf den verschabten Polstern zurück, klatschte leutselig auf nackte Arme, schlug ein paar Takte auf einem schrillklingenden Klavier an, tauschte heitere Reminiscenzen mit der Dame des Hauses, lächelte nachsichtig, wenn ihn die Mädchen neckten und ihn den „schwarzen Doktor“ nannten, und bei alledem schwand eine gewisse ernste Falte nicht von seinem Gesicht und ein stechender Blick nicht aus seinen Augen. Bald ging er weiter mit Agathon in ein daneben befindliches Gebäude, und Agathon folgte wie gezogen, halb betäubt durch eine beengende Erwartung, die er nicht deuten konnte. Wiederum sah er den verkommenen Putz erbärmlicher Prunkstuben, halberblindete Spiegel, matte, von Staub zerfressene Goldrahmen; wieder sah er die für den Gebrauch der Nacht überschminkten Frauengesichter, in denen jedes Leiden, jeder Schmerz, jedes Nachdenken, jede Erinnerung, jede Feinheit verschwunden war, wiederum roch er die abgelagerte Luft von gestern, atmete den Rauch der Cigaretten, den Dunst der Weine und wurde behandelt wie einer, der nicht da ist oder den man nicht sieht. Er sah in dunkle Nebenkammern, wie man wohl auf einer längstverödeten Straße Wagenspuren verfolgt: auch dort hatte das heimische Laster seine Spuren selbst in die Finsternis gegraben. Er sah in andern Stuben junge Männer lungern und sich erhitzen um einen Kuß, von dem sie vergessen wollten, wie feil er war und wie jedem er gewährt worden war. Er sah Spielkarten fliegen und hörte rohe Scherze durch die Wände dringen, Pfropfen knallen, Goldstücke rollen und glaubte zu erkennen, wie mancher seine Ohren verschloß gegen Stimmen, die er nicht hören wollte, nie hören durfte, ohne den Verstand zu verlieren. Er erblickte die Kammern dieser Frauen und Mädchen, die von einem überhäuften und unsinnigen Pomp starrten, worin sie sich bei Tag einem bleiernen Schlaf überließen, worin ein rotes oder grünes Licht eine künstliche Schwülnis hervorbrachte und selbst den abgeschabten Stellen der Tapete etwas Absichtsvolles und Dekoratives verlieh, gleich dem Märchen von der ersten Sünde und der poetischen Verführung, das die Bewohnerin in seinem matten Schein ersinnt und dem sentimental gewordenen Besucher verabreicht. Er sah die verschnörkelten, steilen Treppen, auf denen die Mädchen hinauf- und hinabeilten und dabei berechneten, wie viel sie noch verdienen müßten, um sich bezahlt zu machen dafür, daß sie hier in Hemd und Strümpfen sich mästen durften, ohne daß man mehr von ihnen verlangte, als daß sie lachten, lachten, immer lachten. Mochten sie fett oder mager sein, blond oder schwarz, alt oder jung, sie hatten keine Aufgabe, als die, zu lachen. Und jedes neue Läuten der Portalglocke brachte einen neuen Gast in diese besuchteste Krämerei der Stadt: Junge Leute, die mit zitternden Lippen und studiertem Gleichmut unter der Schwelle standen, um zu warten, was man mit ihnen beginnen würde; schiefe Greise, die hier einen letzten Funken ihres vergehenden Lebens anzufachen bemüht waren; Männer, von Langeweile und Gewohnheit hergetrieben, Knaben sogar mit den erschreckenden Zeichen vorzeitiger Fehltritte in den Augen, die sie wissend einem alles verschlingenden Abgrund zueilen ließen, junge Bräutigame, die hier ein Mittel fanden, die ideale Schwärmerei des Brautstandes zu überdauern, geachtete Bürger, die liebenswürdige und gute Frauen besaßen, Lehrer, Beamte, Studenten, Handwerker ... Wie um Erbarmen flehend, suchten Agathons Augen diejenigen Gudstikkers und diese antworteten: ‚Hier giebt es kein Erbarmen; wer hier eintritt, für den ist keine Hoffnung. So ist unsre Welt.‘ Und er tändelte weiter mit den Mädchen, während Agathon Ruhe, Kraft und Besinnung verlor und Bild auf Bild in stummer Reihenfolge ihn bedrängte. Oft war es auch ein leidendes Gesicht, das er gewahrte, das mit hineingerissen wurde in den Strudel und versank. Erschüttert wollte Agathon fliehen, doch schon war Gudstikker neben ihm, der ihn führte, – durch die menschenleeren Gassen der Stadt.
Warum, warum ist das alles? fragte Agathon flüsternd. Aber nichts gab ihm Antwort, während Gudstikkers Nähe mehr und mehr beklemmend auf ihn wirkte. Und er sah durch die Mauern der Häuser, armer und reicher Häuser, und er hatte auch deutliche Hallucinationen, die wie Angstrufe waren, Hilfeschreie einer versinkenden Gesellschaft, eines Staates, der wie ein Schiff sich langsam mit Wasser füllt, um unrettbar in den Abgrund zu tauchen. Bis jetzt war es nur das offene Spiel gewesen, das lediglich zum Schein den Stempel der Heimlichkeit trägt, und um jenen öffentlichen Anstand zu wahren, der noch die letzte Klammer der berstenden Wände bildet. Er sah, daß jedes Haus eine Wunde hatte, die unheilbar war; daß jede Thüre eines jeden Zimmers mit unverlöschlichen Lettern das Gedächtnis eines schweren Makels aufbewahrte; daß jedes Glas eines jeden Fensters auf Dinge geschaut, die besser in dichtem Dunkel begangen worden wären; daß kein Schläfer unter allen so ruhig schlief, daß selbst seine reinsten Träume nicht durch den Nachhauch eines begangenen Frevels getrübt wurden, daß die Bereitwilligkeit, sich zu verkaufen, in keinem verschlossenen Haus geringer war, als in jenen öffentlichen; daß das Glück und die Ruhe aus den Zügen des Lebens verwischt waren und daß der Weinende wie der Lachende eine Maske trägt; daß die Prostitution bei Tag und Nacht, jahraus, jahrein durch die Gassen geht und harmlos scherzend Gift sät; daß die Kaserne und das Spital, der Palast und das Gefängnis, die Kirche und das Wirtshaus, das Theater und die Schule von einem Schmerz gepeinigt, von einer Lüge erhalten, von einer Hoffnung betrogen werden. Und Agathon sah das Ziel in der Ferne zerstäuben zu nichts, die Fackel, die seinen Weg erleuchtet, langsam vergehen und erkannte, daß er gegen die gigantische Masse des Elends nichts war als ein Kind, das mit seinen Händchen Gebirge abtragen will. Und Jude oder Christ, was bedeutete ihm das noch gegenüber diesem heimlichen und lautlosen Kampf, der hier zwischen schlafenden Mauern geführt wurde? Jude und Christ hatten in gleicher Weise dazu beigetragen, das Jahrhundert dorthin zu führen, wo es stand und ihre ergraute, blinde, lahme und taube Moral, halbverreckt an Altersschwäche, konnte nicht den Tod finden, wenn man ihr Leben in angestrengtem Bemühen durch Kunstmittel verlängerte.
„Gute Nacht, Bester,“ sagte Gudstikker jovial, als sie vor seinem Haus standen. „Ich denke, meine Dienste haben Ihnen gut gethan. Die Welt ist viel größer, als Sie glauben. Setzen Sie sich auseinander mit ihr, gute Nacht.“
Agathon nahm den Gruß verständnislos hin und blieb, als er sich allein sah, lange Zeit an derselben Stelle stehen. Mit dem Verschwinden Gudstikkers waren alle diese Bilder und Gesichte vorbei, förmlich schwarz gemacht durch die Nacht. Er hatte kein Bett, keinen Zufluchtsort, begehrte keinen Zufluchtsort, begehrte keine Ruhe. Betrunkene taumelten an ihm vorbei, betrunkene Männer und ganz junge Leute, gröhlend oder still, begeistert oder trübsinnig. Alles was noch lebendig war auf den Straßen, wurde durch diesen Geist der Besoffenheit bewegt, der einen übelriechenden Dunst erzeugte. Dieser Geruch wird auch morgen das öffentliche Leben durchdringen und die Seelen der Besseren unmutig machen; er wird diese Frau, die schlaflos an dem Lager ihrer Kinder brütet, den Mann und die Liebe verachten lassen und wird das Bild einer morschen Indolenz bis zur Greifbarkeit verdeutlichen, alle Gefühle der Anmut und Frische zerstören, jede Vereinigung von Kräften unterwühlen.
Agathon war im tiefsten Herzen verzweifelt.
Vielleicht gab es noch eines, was ihn aufrichten konnte. Die Gestalt Bojesens erhob sich plötzlich aus der Vergangenheit, von einem übertriebenen Nimbus verklärt. Agathon blickte auf sie hin, wie auf eine tröstende Gestalt. Ehe er es überlegte, befand er sich schon vor dem Haus, in dem der Lehrer wohnte. Da das Thor bei der späten Stunde schon geschlossen war, ließ sich Agathon kraftlos auf die feuchten Steinfließen nieder, umschloß die Kniee mit den Armen und wartete. Er wartete ohne Empfindung für das Vorbeifließen der Zeit. Im dritten Stock, wo Bojesen wohnte, öffnete sich bisweilen ein Fenster. Das Vorbeidefilieren der Betrunkenen minderte sich. Die Uhren schlugen eins, zwei, schlugen drei. Die Finsternis der Gasse schien klebriger zu werden, körperlicher. Und Agathon saß und wartete auf Bojesen wie auf eine Lichtgestalt. Wenn es Morgen war, würde man das Thor öffnen, und Agathon konnte dann zu ihm gehen. Was er dort wollte, daran dachte er kaum.
Aber war dies nun nicht Bojesen, der vor ihm stand? Diese etwas zusammengekrümmte Figur, die den Hut schief auf dem Kopf sitzen, die Hände tief in den Taschen vergraben hatte? Waren das nicht Bojesens Züge? Agathon mußte unwillkürlich lächeln, daß dies seltsam schiefe Bild eines Menschen, diese schwankende Nachtgestalt eine solche Ähnlichkeit aufwies. Aber warum starrte nun dieser Schein-Bojesen so? suchte in seinen Taschen nach Schlüsseln –? brummte, als er sie nicht fand –?
Es erwies sich, daß es mehr als eine bloße Ähnlichkeit gab zwischen dem falschen Bojesen und Bojesen, der Lichtgestalt. Und schließlich erhob Agathon in einem stechenden Schrecken die Hände und öffnete den Mund zu einem Schrei, den seine Kehle ihm nicht bewilligte. Dann fuhr Bojesen, der seine Schlüssel noch immer nicht hatte finden können, zurück und lehnte sich stammelnd an den Laternenpfahl. „Ich – suchte – Sie – sch– schon – l– lange genug – Ag– Agathon,“ sagte er.
Agathon stand auf und trat dicht vor ihn hin.
Bojesen zog den Brief aus seiner Brusttasche mit einer völlig mechanischen Bewegung. „Da lesen Sie ihn gleich,“ sagte er und war plötzlich wieder im Besitz seiner Sprache. „Sagen Sie mir, was es ist. Sagen Sie es mir. Ich vergehe sonst. Ja, ja, ich liebe dieses Weib, kann mich nicht losreißen, verbrenne mir das Herz dabei, verliere mein Seelenheil, mein Geistesheil, alles, alles. Ich bin hin, eine Null, ein hohler Stamm, ein mürbes Blatt, ausgeblasen, bankrott. Was weichen Sie zurück vor mir? Agathon, haben Sie Mitleid! Oder sind Sie die Tugend selbst, daß Sie mich verachten dürfen? Was weichen Sie zurück mit diesen entsetzten Augen?“
Agathon wich zurück vor dem Schnapsgeruch, der von Bojesen auf ihn einströmte. Bojesen hatte wie ein Fiebernder geredet, mit überstürzten Sätzen, purzelnden Worten und grotesken Armbewegungen.
„Nein, nein, ich bin nicht betrunken,“ fuhr er fort, als fühle er plötzlich den Grund; „nur ein paar Gläser Grog, das ist alles für einen Bankrotteur. Agathon, lesen Sie den Brief (seine Stimme wurde heiser, sein Gang schwerfälliger) und seien Sie aufrichtig mit Ihrem Freund – –“
Da wandte sich Agathon, nachdem er den Brief an sich genommen und ging fort, so schnell er immer konnte. Und hinter sich hörte er den verzweifelten, gleichsam ersterbenden Ruf in die Nacht verhallen: Agathon! Agathon! Als er die Wasseralleen erreicht hatte und den Fluß neben sich dumpf rauschen hörte, vernahm er es immer noch, dies: Agathon, als ob es aus dem Bett des Stromes käme.
Der Tag war für ihn beschlossen und das Jahr. Und viele Bauten, die unlängst noch prächtige Pforten vor ihm aufgethan hatten, schlossen diese Pforten von selbst wieder. Über der schier mit Händen zugreifenden Finsternis der Allee sah er eine brennende Stadt, ein brennendes Land. Erst brannte es sichtbar, lichterloh, dann war das Feuer unterirdisch und man hörte keinen Hilferuf.
Er kam an die Stelle, wo die Neubauten waren. Das Haus, in dem damals der Trockenofen gebrannt, war schon bewohnt. Aber daneben war noch ein anderer Neubau und heute brannte in diesem der Trockenofen und verbreitete seine düstere Röte in dem Gebäude und in dem Buschwerk der Umgebung. Nach einiger Mühe gelang es Agathon, sich durch das verrammelte Thor zu zwängen. Er legte sich vor den Ofen und bemerkte, daß seine Kniee vor Kälte schlotterten. Doch er empfand es kaum. Sein überaus bleiches Gesicht zuckte nur bisweilen unter der ungeheuren Bewegung seines Innern.
Schließlich, Stunden mochten verronnen sein, und die Hähne begannen schon zu krähen, erinnerte er sich des Briefes. Er sah ihn an und erkannte Jeanettens Schriftzüge. Er riß ihn auf, und eine Banknote fiel heraus. Auf dem Papier stand mit gleichsam entsetzten und befehlenden Lettern nichts als eine Adresse der Hauptstadt und die Worte: Komme sogleich hierher.
Bevor noch der Morgen graute, stand Agathon auf dem öden Bahnhof und erfragte die Abfahrtszeit des nächsten Zuges nach der Residenz. Um ein Viertel nach acht Uhr saß er in einem Coupé, sah sich durch die Ebenen Frankens rasen, über denen ein lichter und milder Nebel lag, sah Flüsse unter sich und neben sich verschwinden, tauchte den Blick in die flüchtige Nacht raschverfliegender Wälder, suchte das Bild von Dörfern festzuhalten, die sich ängstlich an sanftansteigende Höhen klammerten, von Städten, die erst aufzuwachen schienen, und er glaubte, dies alles sei vorher gar nicht dagewesen, sondern sei um dieses Tages willen eigens für ihn gemacht. Dann kamen die Mittelgebirgsländer mit der idyllischen Ruhe dicht zusammenliegender Marktflecken, mit alten Steinbrüchen, tiefen Thälern, kahlen Hügelketten, vergoldet von der Morgensonne, die sich gleichsam schlaftrunken aus umlagernden Wolken löste, dann ein Strom, breit und grün, dann wieder eine weite, endlose, dürre Ebene, über der es zu regnen anfing, alles eine Folge von sich jagenden Bildern wie in einem Scheindasein.
In der Residenz angelangt, suchte er sogleich die Straße, die ihm Jeanette angegeben. Betäubt von Lärm und Getöse, aber ganz ohne Aufnahmefähigkeit für die Dinge um sich her, gelangte er endlich vor das Haus. Eine sehr alte Frau öffnete ihm. Auf sein Fragen wies sie ihn ohne weiteres in ein längliches, etwas dumpfes und schwüles Zimmer. Sie wisse schon, sagte sie in karger, mißtrauischer Weise; er möge warten.
So wartete er. Er hatte sich auf einen niedrigen Sessel gesetzt und blickte mit unbewegtem Gesicht vor sich hin. Er konnte kaum begreifen, wie er hierhergelangt war. Seine Wangen waren fahl, seine Augen erloschen, seine Haltung zeugte von einem mühselig sich verkriechenden Schmerz. So war alles um ihn her eine mehr oder minder leblose Täuschung.
Plötzlich ging die Thür auf. Herein trat Jeanette. Sie warf einen Shawl, den sie über den Schultern gehabt, achtlos in eine Ecke. Sie schien gänzlich außer Atem, ihr Blick abgehetzt wie so oft und von trügerischem Feuer erfüllt. Sie hatte Agathon kaum begrüßt, als sie auf den nächsten Sitz sank, die Hände vor das Gesicht schlug und laut aufstöhnte.
„Warum bist du nicht früher gekommen, Agathon?“ murmelte sie nach einer Weile. „Ich habe dich erwartet. Doch, es war vielleicht besser. Gestern hättest du mich doch nicht hier in der Stadtwohnung getroffen.“
Agathon stand auf und trat zu ihr. Als er sie berührte, sah sie zu ihm empor. Seine Berührung schien sie zu trösten, auch das Beruhigende, Klärende, Wärmende seines Blicks. Sie drückte ihm die Hand, und Agathon dachte, daß sie sehr verändert sei. „Ich glaubte, ich hätte den Verstand verloren,“ sagte sie und strich sich über die Stirn. „Setz dich zu mir, Agathon, ich will dir erzählen. Wie köstlich, wie gut ist es, daß du da bist und ich zu dir reden kann!“
Und sie erzählte.
Sie war, wie schon vorher verabredet, auf eines der königlichen Schlösser gebracht worden, in dem sich der König gerade aufhielt. Es war ein unerhörter Glanz, der sie mitten im Hochwald empfing, aber ihre Erregung hatte den Blick dafür gänzlich verschleiert. Sie mußte ihre Kleider entfernen und in einem seltsamen Phantasiegewand vor dem König erscheinen. Sie hatte den Eindruck, als verfolge man mit ihrer Person irgend eine Absicht bei dem Monarchen, der doch seit Jahren sich von allen Frauen ferngehalten. Er verachtete und geringschätzte die Frauen und war hart und brutal gegen sie. Sie sah also den König. Jene ganze Leidenschaft, deren Gefäß sie von da ab war, erfüllte sie sogleich bei jenem ersten Anblick. Er war von ziemlich fetter, aber zugleich riesenhafter Gestalt. Seine Schultern waren so breit und mächtig, daß sie für jeden, über den sie sich beugten etwas Zermalmendes hatten. Sein Gesicht war außergewöhnlich bleich, sein Haar glanzlos, tiefschwarz und es stand so dicht wie das Gras vor dem Mähen. Doch alles das wurde in Wahrheit belanglos durch die Augen. Tiefblau wie die Gebirgsseen, waren sie von einem hinreißenden Ausdruck, von einem lodernden Feuer erfüllt. Es schien, daß ihnen keine Qual erspart geblieben, daß sie keine Schönheit unwiderstrahlt gelassen. Niemand konnte ertragen, furchtlos in sie zu schauen. Seine Kleidung war die eines einfachen Bürgers. In seinem Wesen war wenig von Majestät. Ruhelosigkeit, die Angst des Verfolgten, machtloser Zorn, tiefe Bitterkeit beherrschten ihn.
„Es schien etwas Schreckliches im Werk zu sein,“ fuhr Jeanette fort. „Das ganze Schloß, die Dienerschaft, die Offiziere, alles war in Bewegung, in Hast, in Erwartung. In der Nacht fuhr der König in einer mit sechs Pferden bespannten Karosse in die Residenz und Vorreiter mit Fackeln beleuchteten den Weg. Er verschmäht es, die Bahn zu benutzen. Es ist alles von einer bestrickenden Pracht, was er unternimmt. Am Morgen, ich hatte nicht schlafen können, sondern war am Fenster gelegen und hatte in den Wald gestiert, am Morgen kam er wieder und die Unruhe, die ich an ihm bemerkt, hatte sich verzehnfacht. Ich beobachtete ihn, wie sein gewaltiger Körper sich fröstelnd schüttelte, als er den Wagen verließ. Einen Augenblick lang kam es mir vor, als wolle er zusammenbrechen unter einer Last. Die Diener gingen hin und her, ich glaube, sie wußten nicht warum. Bald nach seiner Ankunft führte mich der Adjutant, der sein Freund und Vertrauter war, zu ihm, und ließ mich mit ihm allein.“
Jeanette schwieg lange. Dann begann sie mit etwas erhobener Stimme wieder. „Ich werde mein Lebelang diese Stunde nicht vergessen, Agathon, und wenn ich so alt würde, wie die Erde selbst. Als ich hineintrat in den Saal, der von Licht und Gold strahlte, wußte ich, daß meine Seele diesem Mann unwiderruflich angehöre, und ich küßte in Gedanken die geheimnisvolle Hand des Schicksals, das mich zu ihm geführt. Wundere dich nicht über meine Worte, Agathon, aber sie sind mir im Augenblick die natürlichsten Worte von der Welt. Ich wußte, daß ich für ihn sterben könnte und sterben würde und sterben müßte und daß Sterben nichts bedeute gegenüber dem Glück, seine Magd zu sein. „„Wer hat dich hereingelassen?““ fragte er mich. Ich fand keine Antwort. Meine Zunge gehorchte mir nicht. Indem ich ihn anschaute, zitterte ich am ganzen Körper. „„Du bist Tänzerin?““ – ‚Ja, Majestät.‘ – „„Dann tanze.““ Er stand auf und drückte auf einen elektrischen Knopf, und eine Musik ertönte, ebenso zauberhaft wie die Art, durch die sie hervorgebracht war. Es war, wie wenn ein ganzer Wald mit allen seinen Mysterien sich in die Höhe hebt und zu singen und zu jauchzen anfängt. Du lachst vielleicht darüber, aber ich habe dergleichen noch nicht gehört. Ich tanzte also. Anfangs kam es mir vor, als ob ich mein Bewußtsein verloren hätte und ganz leblos hinschwebte, aber dann ging eine außerordentliche Verwandlung mit mir vor. Ich spürte den Boden nicht mehr und nicht mehr die Luft, und obwohl es eine Musik war, nach der vielleicht niemand in der Welt sonst zu tanzen vermocht hätte, fühlte ich doch, daß alles was Nerv und Bewegung heißt, gerade in ihr lag. Der König schien überrascht. Das Höhnische, Verächtliche, Finstere verschwand von seinem Gesicht; zuletzt versank er in tiefes Träumen und seine Augen schauten schmerzlich verloren in die weite Ferne. Als die Musik schwieg, stand er auf und reichte mir die Hand, die ich küßte. „„Wer bist du?““ fragte er. ‚Alles was Majestät aus mir machen will,‘ erwiderte ich. Er zuckte zusammen. „„Majestät, Majestät,““ murmelte er. „„Bald nicht mehr Majestät. Bald nur noch Hund vor dem Thor, bettelnder Hund. Majestät! Jedes Glied einzeln gebunden, jeden Finger verschnürt, jedes Wort beschmutzt, jede That bekläfft, das nennst du Majestät. Anfangs hab’ ich dem Volk vertraut. Aber jetzt weiß ich etwas anderes; die Seele des Volkes ist so tief, daß man sie auf den Knieen suchen muß. Ich habe mir den Kopf zerschunden an den Mauern dieses Landes. Alle diese Hände, die du um dich siehst, haben die Zeit wohl benutzt, mich zu verunreinigen. Um Land und Volk und um den Freund bin ich betrogen worden und dazu muß ich schweigen. Und dazu darf ich nicht einmal Frieden haben in der Einsamkeit. Ich bin um meine Würde betrogen worden und du nennst mich ahnungslos Majestät. Was ist Majestät heute, daß sie sich beugen muß vor einem Krämer, der in einer guten Stunde unter Beihilfe seiner Schwäger und Tanten Minister wurde und zufrieden das christliche Hausbrot ißt? Eine schöne Majestät, die sich der Kirche opfern soll und keine Hand rühren darf ohne den Pfaffen. Wäre ich doch jung gestorben, damals als ich noch glaubte, König zu sein, ein Volk zu besitzen. Wäre ich doch gestorben! Geh’ fort, Weib, verlasse mich.““ Das waren seine Worte, Agathon. Zuletzt war seine Stimme heiser geworden vor Zorn und Scham. Seine Augen hatten sich noch vergrößert und die Brust arbeitete so heftig wie unter anstürmendem Wind. Ich konnte nicht mehr hören, nicht mehr sehen, ich folgte seinem Wink und eilte hinaus.
„Ich sah im Saal, der gegen den linken Flügel führte und als Audienzraum benutzt wurde, sechs bis acht vornehme Herren mit feierlichen Gesichtern, auch einige Offiziere. Sie betrachteten mich voll Staunen. Es war die Deputation des Adels, die Abgesandten vom Hof. Sie wollten den König ‚zur Vernunft‘ bringen, Agathon. Bald darauf geschah etwas Schreckliches. Der Adjutant erhielt den Befehl, niemand vorzulassen und stand mit gezogenem Seitengewehr vor der Flügelthür. Er verweigerte der Deputation den Eintritt. Mitten in dem heftigen und lauten Hin- und Herreden erschien der König unter der Thüre. Er hatte die Schloßwache und alle Diener herbeigerufen. Ein Diener sagte mir, daß der Ausdruck seines Gesichts so schrecklich gewesen sei, daß niemand mehr zu atmen, geschweige denn zu sprechen gewagt habe. Mit vernehmlichen Worten befahl der König den Soldaten, die Abgesandten zu binden und ihnen die Augen auszustechen. „„Noch bin ich der König!““ rief er aus und erhob die Hand. Die Abgesandten wurden von unbeschreiblicher Furcht gepackt. Die Soldaten wagten sich dem Befehl nicht zu widersetzen und wagten nicht, zu gehorchen. Der König war seiner nicht mehr mächtig. Er lief auf und ab wie ein wildes Tier, erhitzt und schnaufend, ballte die Fäuste, rollte die Augen, bis es seinem Adjutanten gelang, ihn in eines der Seitengemächer zu führen. Aber der König ließ die drei Saalthüren versperren und ließ vor jeder Thüre zwei Posten mit aufgepflanztem Bajonett patrouillieren. Die Deputierten schwebten in Todesangst.
„Nun verfloß der ganze Nachmittag, ohne daß irgend etwas sich ereignete. Man sagte mir, der König liege wie gebrochen auf einem Ruhebett. Das war vorgestern. Gestern nun kam eine berittene militärische Abteilung mit einem Oberst, der in Paradeuniform war. Er hatte ein Dekret, das ihm Zugang zum König verschaffen mußte. Ein Arzt begleitete ihn. Die Abgesandten wurden befreit. Kurze Zeit darauf bestieg der König den Wagen, und in Begleitung der Berittenen wurde er fortgebracht. Sie haben ihn als gefangen erklärt. Alle Diener weinten. So ist es zugegangen, Agathon, das ist heilige Wahrheit. Das Volk in der ganzen Stadt ist erregt, hast du es nicht bemerkt? Noch ärger ist es bei den Bauern draußen. Ich bin nicht mehr, was ich gewesen bin, ich habe mich verloren. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, was ich thun soll, mein Hirn ist wie zerfressen. Denke dir, dieser hohe Mann ist oft bei einer einfachen Bäuerin da draußen gewesen und hat gefragt, was er thun solle. Ich habe einen furchtbaren Schmerz in mir, daß dieser Mann verbluten muß. Er war für die Freude geboren.“
Agathon starrte in das dunkler werdende Zimmer. Auf einmal trat er einen Schritt zurück, streckte die Hände aus und lispelte verstört. So stand er und seine Gestalt schwankte. Er sah den König vor sich stehen und erkannte ihn, obwohl er ihn noch nie gesehen, außer auf schlechten Bildern. Agathon wollte reden, doch er kam nicht dazu. Jeanette stürzte auf ihn zu, packte seine Hände, erhaschte seinen Blick und wie durch ein wunderbares Zeichen verstand sie alles. „Er ist tot“, schrie sie entsetzt auf und fiel bewußtlos zu Boden.
Agathon faßte sich, seufzte tief auf, rief die Aufwärterin und ging, als er sah, daß keine Gefahr vorhanden war. In der That gewahrte er jetzt die nervöse Unruhe, von der die Bevölkerung ergriffen war. Überall standen Gruppen und flüsterten und beratschlagten. Die Gendarmerie war verstärkt worden. Vor den Zeitungsredaktionen standen Hunderte spähend und wartend und achteten nicht den Regen, der sie durchnäßte. Viele Tausende von Menschen standen dichtgedrängt vor der Residenz und keiner von ihnen wich nur eine Sekunde lang von seinem mühsam eroberten Platz. Dabei wußten alle, daß der König gar nicht in der Stadt war, sondern in einem kleinen Lustschloß an einem nahgelegenen See. Die Behörde hatte bekannt gemacht, der König habe seines Amtes entkleidet werden müssen, da er bedeutsame und zweifellose Symptome der Geistesstörung gezeigt habe. Aber das Volk glaubte es nicht. Agathon erfuhr bald alles, und ein wilder und phantastischer Entschluß erwachte in ihm. Er ließ sich von Arbeitern den Weg erklären, der zu jenem See hinausführte und machte sich ohne Zögern, obwohl er an diesem Tag noch keinen Bissen Nahrung zu sich genommen hatte, auf die Wanderung. Er dachte nicht daran, die Eisenbahn zu benutzen oder ein anderes Beförderungsmittel. Er hatte das Gefühl, als müßten ihn seine Füße viel schneller dorthintragen, als jede Dampfmaschine es vermocht hätte. Außerhalb der Stadt fragte er noch Handwerksburschen oder Bauern nach der Wegrichtung und erschrak nicht vor der Nachricht, daß es mehr als fünf Stunden zu gehen seien, obgleich die Nacht schon angebrochen war. In diesen Stunden fühlte Agathon eine göttliche Macht in sich; das Mühsame des Marsches kam ihm nicht zu Bewußtsein, er wurde nicht müde. Die Kraft und Einsicht der Besten im Lande war zusammengeflossen in ihm, und es giebt keinen Vergleich für die Glut seiner Sehnsucht in dieser Stunde. An der Grenze alles Denkens und aller Überlegung angelangt, beherrschten ihn nur noch Gefühle, dumpfe, doch gewaltige Regungen. Sein eigner Ruf: ‚Laßt sie verbrennen, die Kirche‘ lag wie ein Erlösungswort in seinem Ohr, klang in seiner Seele wider. Er wollte die Bauern führen am Morgen und den König befreien; nie zuvor hatte er zweifelloser die Fähigkeit empfunden, alle, die sich ihm nahten, von einem Trieb entflammen zu lassen.
Die dunkle Nacht ringsum nährte seine Phantasien. Nirgends war ein Licht. Die Landstraße war nur durch einen schwachen Schein kenntlich. Der Regen plätscherte unaufhörlich herab. Schweigend lagen Felder und Wälder, und kaum vermochten sich die Höhenzüge gegen den Himmel abzuheben. Oft gelangte Agathon an einen Kreuzweg, aber kühn und unbesorgt schritt er weiter. Er wußte, daß er nicht fehlgehen würde. Stundenlang wanderte er durch einen Wildpark, wo oft ein geheimnisvolles Murren und Rascheln hörbar wurde, aber nichts konnte ihn ablenken oder ängstigen.
Endlich tauchte in der Tiefe ein, freilich oft unterbrochener, Kranz von Lichtern auf: die Seeufer. Agathons Augen wurden naß vor Freude. In kurzer Zeit war er im Thal angelangt. Alle Bewohner des Dorfes, das er betrat, waren in Bewegung. In jedem Haus brannte noch Licht. Er betrat die nächste Schenke, die fast einer Höhle glich, die gestopft voll war von leidenschaftlich disputierenden Bauern, während Weiber und sogar Kinder auf der Straße standen. Beim Anblick der vielen Menschen, der sich anscheinend zwecklos drehenden und windenden Körper, des Rauches, der aus Pfeifen quoll, der gleichsam von der Zeit gerösteten Bilder und Wände, fühlte Agathon plötzlich die Übermüdung seines Körpers in einer schrecklichen Weise. Es war ihm, als ob sich seine Haut löste. Dabei glaubte er fortwährend zu sinken, zu fallen, durch zahllose Wiederholungen desselben Raumes.
Die Bauern wurden aufmerksam. Sein Gesicht von geradezu phantastischer Blässe übte auf sie den Zauber einer Erscheinung. Sie standen alsbald um ihn her, und einige, die frech oder höhnisch gelächelt hatten, lächelten nicht mehr, als Agathon zu sprechen begann. Seine hohle und erschöpfte Stimme klang gedämpft und füllte trotzdem den Raum, sie hatte etwas Klingendes, Messerscharfes, unmittelbar Überzeugendes. Seine Rede schien von einem unsichtbaren Wesen zu kommen, das ihn umfangen hielt, denn er blieb so bewegungslos, als ob seine Glieder gefesselt seien. Es war ein Sturm sich überstürzender Worte, es war der Schmerz und der Zorn des Königs selbst, der in geheimnisvollem Bündnis mit dem Redner zu stehen schien, dieses Königs, der ein Märtyrer seines Amtes und dessen Geist nicht, aber dessen Herz wahnsinnig war.
Die Wirkung von Agathons Worten, die für ihn selbst einem Fiebertraum glichen, war auf die Bauern eine wahrhaft beängstigende. Sie schrien, tobten, stiegen auf Tische und Bänke, fuchtelten mit den Händen umher, zerbrachen Gläser und Fensterscheiben, hoben Agathon auf ihre Schultern, daß sein Kopf an die Decke stieß, schlugen den Wirt nieder, der sie besänftigen wollte, und in kurzer Zeit hatte sich dieser Zustand eines tierischen Rausches durch das ganze Dorf verbreitet. Ein alter Bauer, dessen eines Auge verklebt war, fluchte und heulte beständig, eine Art Hausierer oder Kärrner schwang eine Sense, versammelte die jungen Leute um sich und wollte mit ihnen über den See nach dem Schlosse fahren. Agathon saß mit leeren Augen in einem Winkel der Schenke. Er war verwundert und hatte fast Angst wegen dieser grundlosen Verwunderung. Er starrte hinüber ans andere Ufer, das weit entfernt war und von dem spärliche Lichter durch den allmählich aufdämmernden Morgen flimmerten. Er sah auch Lichter, die in beständiger Bewegung von Punkt zu Punkt huschten wie Fackeln, die man hin und her trägt. Da erschallten im Innern des Dorfes durchdringende Schreie, die sich wiederholten und fortpflanzten und an Stärke zunahmen. „Der König ist tot!“ gellte plötzlich eine Stimme dicht vor dem Fenster, an dem Agathon saß. „Er ist ertrunken!“ schrie eine andere, und „Im See ertrunken!“ eine dritte Stimme. „Er hat sich hineingestürzt!“ – „Nein, nein, nicht wahr!“ Und vieler solcher Rufe. Agathon erhob sich, fiel aber gleich darauf wie ein Stock zu Boden.
Der angebrochene Morgen sah nun das Landvolk in hellen Scharen gegen das königliche Lustschlößchen ziehen, und man erfuhr, daß die Leiche des Königs erst vor einer Stunde im See aufgefunden worden war. In allen Dörfern der Umgegend läuteten die Glocken. Tausende von Bauern standen am Seeufer und vor dem Schloßpark. Viele schrien um Einlaß, und als niemand erschien, erbrachen sie das Thor. Eine beispiellose Erregung hatte alle Gemüter ergriffen; mit Sensen, Knütteln, Schaufeln und Hacken organisierten sich ganze Haufen, um nach der Hauptstadt zu ziehen und die Residenz zu stürmen. Am Mittag rückten ganze Regimenter Infanterie aus der Stadt, um die Ordnung herzustellen. Ein hünenhaft gebauter Kerl, der sich auf eine unerklärliche Weise den Wortlaut einer „Proklamation an mein Volk“ verschafft hatte, die des Königs letzte Niederschrift war, lief damit von Dorf zu Dorf, von Weiler zu Weiler, von einem Wirtshaus ins andere, und wurde nicht müde, sie aus der Kopie immer wieder in einer schlichten und rührenden Weise vorzulesen und jedem, der sie hörte, gleichviel ob Mann oder Weib, stürzten dabei die Thränen aus den Augen. Denn diese Proklamation war das Glänzendste und Bewegteste, was jemals die verzweifelte Seele eines Fürsten geschaffen. Sie ist unbekannt geblieben, und es gab Gründe, ihre Verbreitung nicht zu wünschen. Ihre Sprache war einfach und klar, jedes Wort ein tiefes Bekenntnis, eine Klage, eine Anklage. Sie war von einer bitteren Ruhe diktiert, und ein kraftvoll gebändigtes Feuer war in ihr und niemals ward dem Thron ein besserer Dienst geleistet, als durch die Verheimlichung dieses gefährlichen Dokuments, das auf dem Thron entstanden war.
In der Stadt war aller Verkehr, waren alle Beziehungen der Gewerbe und des Handels ertötet. Kaufhäuser und Schulen, Krämereien und Fabriken, alle waren geschlossen. Trauerfahnen wehten, vierundzwanzig Stunden lang tönten ununterbrochen die Glocken in einem dumpfen und niederdrückenden Konzert. Aufgeregte Menschenmassen füllten Plätze und Straßen und Kirchen; an den Fenstern sah man heulende Weiber; aber auch Männer schämten sich nicht zu weinen. Der König, der seit fünfzehn Jahren sich nicht mehr öffentlich gezeigt, dessen Leben für alle ein Geheimnis war, dessen Stolz bis zur Schroffheit ging, dessen Menschenverachtung am Hof gefürchtet war, er genoß die Liebe seines Volkes in unvergleichlichem Maß. Selten wohl war ein ganzes Land von einem Gefühl solcher Trauer durchbebt wie in jenen Tagen.
Agathon ging durch die Straßen der Stadt, einsam und verlassen. Er fühlte sich krank und wund. Er mochte nicht zu Jeanette gehen, weil er Furcht davor hatte, reden zu müssen. Es war etwas so Vergebliches für ihn, jetzt noch zu leben. Er sah lauter trauernde Menschen um sich und seine früheren Wünsche waren erstickt.
Da ging er an einem Haus vorbei, in dessen Erdgeschoß ein Fenster offen stand. Verdrossen und trotzig blieb er stehen, und nach einer Weile blickte er hinein in ein ärmliches Zimmer. Drei Kinder saßen darin und spielten, drei schöne Kinder mit frischroten Wangen. Sie spielten ein gewöhnliches Spiel und waren ganz allein. Aber wie sie sich dabei benahmen, wie sie nicht etwa jauchzten, sondern innig froh waren, wie ihre Augen glänzten, wie sie mit einander und mit sich selbst zufrieden und befriedigt waren von dem Gang des Spiels, das sich doch wenig unterschied von allen Spielen aller andern Kinder, darin lag etwas so Warmes, Gutes, Befreiendes, es stand in so grellem Gegensatz zu der Stimmung auf der Straße, daß es wie ein Stück Zukunft in der Gegenwart berührte.
Daher atmete Agathon tief und lange auf; sein Körper begann zu zittern wie unter Wellenschlägen neuen Lebens, und lächelnd setzte er seinen Weg fort.
Sommer und Sommerwinde! Blüten an allen Ecken der Welt! Ein tiefes Grün auf den Feldern, die schmeichlerische Stille der Wohnlichkeit unter den Bäumen des Waldes! Flockige Wolken, die wie Schiffe über den strahlenden Himmel ziehen und Rosen an den Gärten und Wicken in den Hecken!
„Ich wußte wohl, daß der kleine Sema dem Tod entgegenging,“ sagte Agathon zu Monika, als sie vom Vestnerwald gegen das Dorf zuschritten. „Oder ich fühlte es vielleicht nur. Aber vielleicht ist er doch noch zu retten. Die Leute sind nur so schrecklich arm.“
„Aber warum fühltest du es denn?“ fragte Monika, die stets ein wenig neugierig war.
„Ach, er ist heimatlos. Seine Seele ist deshalb zerrissen. Er hat nichts Biegsames in sich. Alles bricht bei der ersten Berührung. Und er ist so alt. Er hat Jahrtausende gelebt. Solche Kinder giebt es viele bei uns Juden.“
Dann schwiegen sie lange Zeit. Plötzlich an einer einsamen Stelle beim kleinen Pulvermagazin, blieb Monika stehen, umarmte Agathon mit einer leidenschaftlichen Bewegung und stammelte: „Wie dank’ ich dir, daß du mich liebst. Du hast mir das Leben wiedergeschenkt, Agathon. Alles, was ich bin, gehört dir. Du hast es nicht geachtet, daß ich gesündigt habe, du bist groß, Agathon, und schön, das weiß nur ich.“
„Es ist kein Zufall, daß alles so gekommen ist, Monika. Nun bist du eine Kämpferin geworden. Die Zeit geht nicht mehr über dich hinweg, sondern du gehst vor der Zeit einher.“
„Und was willst du thun jetzt, Agathon?“
„Warten. Ich will den Acker meines Vaters bestellen. Für mich und dich wird es Brot geben. Und die Mutter hat ja das Vermögen des alten Enoch.“
„Warten, Agathon? Worauf?“
Agathon schüttelte lächelnd den Kopf.
Und als es Abend war, standen sie in Frau Olifats Garten und bewunderten die farbigen Gluten des Himmels. Monika stand unter einem Apfelbaum und wiegte ihr Kind im Arm. Esther saß singend mit Mirjam vor dem Thor, Frau Olifat und Frau Jette unterhielten sich auf einer morschen Gartenbank nahe der Laube, und sie sprachen insbesondere davon, daß die kleine Käthe Estrich ins Kloster gegangen sei und den Schleier genommen habe. Darüber konnten die beiden Frauen kaum zur Ruhe kommen.
Die Vögel sangen, eine Amsel schlug und ein Zeisig lockte. Das schrille Geschrei spielender Kinder drang aus dem Dorf. In der gläsernen Burg sangen die Zecher wieder und Mirjam erklärte der Freundin wichtig, daß es das Lied: ‚spinn’ spinne, Töchterlein‘ sei.
Monika blickte hinauf in die Äste des Baumes, wo die Äpfel hingen, seltsam vergoldet vom Rot der Sonne. Sie kniff die Augen zusammen und sagte begehrlich: „Ich möchte so gern einen haben, Agathon, einen Apfel von da droben.“
„Du mußt warten, Monika.“
„Immer warten! Worauf denn?“
„Sie sind noch nicht reif, Liebste.“
„Das dauert aber noch so lange ...“
„O nein, zwei gute Sommerwochen und sie sind reif. Laß sie erst reif sein, Monika.“
Und Agathon küßte die junge Mutter auf die Stirn.
Ende.
Druck von Hesse & Becker in Leipzig.
Verlag von Albert Langen, Paris, Leipzig, München.
Jakob Wassermann
Melusine
Ein Liebesroman
Preis 2 Mark 50 Pf.
Der Liebesroman von Jakob Wassermann „Melusine“ ist ein schweres und trauriges Buch. Von der ersten Seite des Buches an fühlt man sich seltsam und unwiderstehlich festgehalten. Man ahnt bereits das Ende der Geschichte, wenn man den Anfang liest. Man merkt schon an dem Ton, an der Vortragsart des Verfassers, daß er uns Verhältnisse schildert, aus denen es kein Entrinnen giebt, bange, zerrüttete, trostlose Verhältnisse, in denen die Gefangenen nur stumm, eintönig, unaufhörlich weinen, ohne etwas ändern zu können an ihrem Geschick. Ein kindhaft scheues und schwermütiges weibliches Wesen mit großer Hingebung und einem bösen Geheimnis treibt in dem Buche ihr Spiel. Sie ist leidend, die rätselhafte, weltfremde Melusine, die, jung und elternlos, von ihrem Vormund verführt wurde und seitdem heimlich seine Geliebte ist. Sie haßt, verachtet ihn, sie hat schon unzähligemal mit ihm gebrochen, aber sie ist arm und hilflos und so muß sie sich von ihm brutalisieren lassen. In der Familienpension lernt sie einen jungen Studenten kennen, und ein leidenschaftliches Verhältnis entspinnt sich bald zwischen den beiden. Aber das Geheimnis liegt zwischen ihnen und dann die Armut. Mit Ekel vor der Liebe erfüllt, hat das Mädchen nicht den Mut, nicht die Kraft, der Lüge zu entrinnen, ihr Schicksal zu ändern. Und so entschwindet sie dem jungen Mann plötzlich und wie ihm, so auch dem Leser. Man vernimmt nichts mehr von ihr und es bedarf auch dessen nicht. Ihr Bild ist vollendet, ihr Wesen steht klar vor unserer Seele. Eine große Sehnsucht weht durch das Buch, das ganz in Moll klingt und das ein eigenartiges und dichterisches genannt werden darf.
(Frankfurter Zeitung, 29. VI. 96.)
Kleine Bibliothek Langen.

Band I
Jakob Wassermann, Schläfst Du Mutter?
„Schläfst Du Mutter?“ ist die rührende Geschichte eines Knaben. Ohne Sentimentalität und ohne gesuchte Naivität vorgetragen, bringt die Novelle eine Reihe feiner Seelenmalereien aus dem Leben des Kindes, bis es gleichsam aufwachend in die Wirklichkeit hineinsieht. Es träumt von der Zeit, wo es kein Träumer mehr sein wird. Aufgerüttelt von den dunklen Mächten der Natur steht der Knabe am Totenbett der Mutter und weiß nicht, was das ist: tot sein.
Band II
Marcel Prévost, Julchens Heirat
„Julchens Heirat“ enthält die Gedanken und Betrachtungen einer kleinen Pariserin beim Herannahen ihrer Hochzeit und die Erfahrungen, die sie in der ersten Zeit ihrer Ehe macht. Es ist durchaus kein naives Buch, aber geistreich und graziös. Man muß bei diesem Buch in Prévost wieder den Meister der feinen Form bewundern.
Band III
Amalie Skram, Verraten
„Verraten“ ist die Geschichte von einem jungen Mädchen, das nach altem Muster, in Unkenntnis mit den natürlichsten Dingen, erzogen, an einen braven und lebensfrohen Schiffskapitän verheiratet wird. Das Resultat ist eine unglückliche Ehe, indem die junge Frau, in der Überzeugung ihrer eigenen Vortrefflichkeit und der Schlechtigkeit ihres Mannes, diesem, der sie aufrichtig liebt, das Leben so traurig macht, daß er sich zuletzt aus Verzweiflung in die Wellen stürzt.
Björnstjerne Björnson schreibt über dieses Buch: „Verraten“ ist an psychologischer Tiefe und Macht der Darstellung ein Meisterwerk, das uns den Eindruck hinterläßt, als wären wir draußen auf dem Meere, als schauten wir in die Wassertiefe hinab und als leuchtete uns daraus ein Paar großer Augen entgegen. Den Kopf kann man nicht erkennen, aber man sieht, wie die Augen sich öffnen und schließen ... kalt wie das Meer.
Band IV
Heinrich Mann, Das Wunderbare u. a. Novellen.
Der Verfasser dieser Erzählungen ist seit Jahren ein häufiger Gast in unseren besten illustrierten Blättern, hier tritt er zum ersten Male mit einem gesammelten Werk vor das Publikum. Die wunderlichen Ereignisse und die eigentümlichen Menschen, die er mit Vorliebe schildert, bedeuten für ihn nicht allein Mittel, um seine Leser zu unterhalten, er wählt sie auch, weil die stark bewegten Schicksale ihn am tiefsten in die geheimnisvolle Welt blicken lassen, die hinter dem zufälligen Leben der Menschen liegt: die Natur.
Band V
Guy de Maupassant, Pariser Abenteuer.
Maupassant ist als Dichter wohl auch in Deutschland zu bekannt, als daß er besonderer Empfehlungen bedürfte. Die Genialität, die ihn stets gleichsam den seelischen Kern einer Handlung finden läßt, die spielende Anmut, womit er oft selbst das bitterste sagt, setzen stets aufs neue, auch bei diesen Novellen, in Erstaunen.

Band VI
Hermann Bang, Fräulein Caja.
Mit einer zauberhaften Kunst vermag es der Verfasser, die grauen und alltäglichen Menschen, von denen er uns erzählt, in das schärfste Licht hervor zu heben. Der Blick des Lesers wird unaufhörlich gefesselt von den dargestellten Einzelheiten, die er alle aus eigenen Beobachtungen wiedererkennt, und die sich hier zu ergreifenden Menschenschilderungen und tief wirkenden Interieurs vereinigen. Mit Recht gilt Hermann Bang für den eigentümlichsten und bedeutendsten Erzähler Skandinaviens.
Jeder Band ist mit einem künstlerischen Titelbild versehen und kostet elegant broschiert 1 Mark, gebunden in Leder 2 Mark.
Verlag von Albert Langen, Paris, Leipzig, München.

SIMPLICISSIMUS
ILLUSTRIERTE WOCHENSCHRIFT
Preis 10 Pf.
Albert Langen’s Verlag. München.
Abonnement vierteljährlich 1.25 Mk.
I. Jahrgang
(1896-97) elegant gebunden 7.50 Mk.
Hesse & Becker, Leipzig
Anmerkungen zur Transkription
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