The Project Gutenberg eBook of Aus meinem Leben — Erster Teil

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Title: Aus meinem Leben — Erster Teil

Author: August Bebel

Release date: May 1, 2004 [eBook #12267]
Most recently updated: December 14, 2020

Language: German

Credits: Produced by Charles Franks and the DP Team

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS MEINEM LEBEN — ERSTER TEIL ***

Produced by Charles Franks and the DP Team

Aus meinem Leben

Von August Bebel

Erster Teil

1910

Meiner lieben Frau

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Aus der Kinder- und Jugendzeit
Die Lehr- und Wanderjahre
Zurück nach Wetzlar und weiter
Mein Eintritt in die Arbeiterbewegung und das öffentliche Leben
Lassalles Auftreten und dessen Folge
Der Vereinstag der deutschen Arbeitervereine
Friedrich Albert Lange
Neue soziale Erscheinungen
Der Stuttgarter Vereinstag
Wilhelm Liebknecht
Zunehmende Verstimmung in den Arbeitervereinen
Die Katastrophe von 1866
Nach dem Krieg
Die Weiterentwicklung des Verbandes der deutschen Arbeitervereine
Persönliches
Der Marsch nach Nürnberg
Die Gewerkschaftsbewegung
Meine erste Verurteilung
Vor Barmen-Elberfeld

Vorwort.

Der Wunsch vieler meiner Parteigenossen, ich möchte meine Erinnerungen schreiben, trifft mit meinem eigenen Wunsche zusammen. Ist man wie ich durch die Gunst der Verhältnisse in eine einflußreiche Stellung gelangt, dann hat auch die Allgemeinheit ein Recht, die Umstände kennen zu lernen, die dazu führten. Aber auch die Menge falscher Anklagen und schiefer Urteile, mit denen ich so oft überschüttet wurde, lassen es mir gerechtfertigt erscheinen, der Oeffentlichkeit zu zeigen, was daran Wahres ist.

Dazu sind Offenheit und Wahrheit die ersten Erfordernisse, andernfalls hat es keinen Zweck, über sein Leben Veröffentlichungen zu machen. Der Leser meiner Aufzeichnungen, einerlei auf welcher Seite er steht oder zu welcher Partei er sich zählt, wird mir nicht den Vorwurf machen können, ich hätte vertuscht oder schön gefärbt. Ich habe die Wahrheit gesagt auch dort, wo mancher denken wird, ich hätte besser getan, sie zu verschweigen. Diese Ansicht teile ich nicht. Es gibt keinen fehlerlosen Menschen, und manchmal ist es das Bekenntnis eines Fehlers, das den Leser am lebhafteren interessiert und zur richtigen Beurteilung am besten befähigt.

Wollte ich nach Möglichkeit die Wahrheit schreiben, so konnte ich mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen. Nach einer Reihe von Jahren läßt einen das Gedächtnis im Stich, selbst Vorgänge, die sich einem tief einprägten, erlangen im Laufe der Jahre unter allerlei Suggestionen eine ganz andere Gestalt. Ich habe diese Erfahrung häufig nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen gemacht. Ich habe nicht selten im besten Glauben Vorgänge früherer Jahre im Kreise von Bekannten und Freunden erzählt, die sich nachher, zum Beispiel durch aufgefundene Briefe, die unmittelbar unter dem Eindruck der Vorgänge geschrieben wurden, ganz anders darstellten. Das hat mich zu der Ansicht geführt: Kein Richter sollte über wenige Jahre eines Vorfalls hinaus einem Zeugen einen Eid abnehmen. Die Gefahr des Falscheides ist groß.

Um die Richtigkeit meiner Angaben und auch der Auffassungen, wie ich sie zu einer bestimmten Zeit hatte, festzustellen, habe ich nach Möglichkeit Briefe, Notizen, Artikel usw. benutzt.

Aber es gab Abschnitte in meinem Leben, in denen es gefährlich war, Briefe aufzubewahren, wollte ich nicht zum Denunzianten an anderen oder an mir selbst werden. Das war ganz besonders die Zeit unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes, während welcher ich jede Stunde Gefahr lief, einer Haus- und körperlichen Durchsuchung unterworfen zu werden, sei es, um Material für einen Prozeß gegen mich oder gegen andere zu gewinnen. Ich stand lange Zeit bei Polizei und Staatsanwälten in dem Rufe, ein gefährlicher Mensch zu sein, dem man nicht über den Weg trauen dürfe. Vielleicht nicht mit Unrecht. Aus denselben Gründen verbot sich aber auch die Führung eines Tagebuchs.

In der vorliegenden Veröffentlichung ist namentlich in bezug auf die antisozialistischen Arbeitervereine in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Material enthalten, das bisher nur teilweise bekannt war. Nachdem Ende Oktober letzten Jahres in Frankfurt a.M. L. Sonnemann gestorben ist, lebt außer mir keiner mehr, der die Geschichte jener Zeit so kennt und miterlebte wie ich, und dem auch das Material zur Verfügung stand. Ich hoffte, mit der Arbeit weiter zu kommen, als ich gekommen bin. Aber Krankheit, die mich fast zwei Jahre lang zu jeder anstrengenden Geistesarbeit unfähig machte, ließ es nicht zu. Behalte ich die nötige Gesundheit, so soll dem ersten in nicht zu langer Zeit ein zweiter und vielleicht ein dritter Teil folgen.

Schöneberg-Berlin, Neujahr 1910

A. Bebel.

[Illustration: Meine Geburtsstätte. Die Kasematte zu Deutz-Köln.]

Aus der Kinder- und Jugendzeit.

Will man einen Menschen genauer beurteilen, so muß man die Geschichte seiner Kinder- und Jugendjahre kennen. Der Mensch kommt mit einer Anzahl Anlagen und Charaktereigenschaften zur Welt, deren Entwicklung von den ihn umgebenden Zuständen sehr wesentlich abhängt. Anlagen und Charaktereigenschaften können durch Erziehung und Beispiel der Umgebung gefördert oder gehemmt, ja bis zu einem gewissen Grade unterdrückt werden. Es hängt alsdann von den Verhältnissen im späteren Leben, öfter auch von der Energie der betreffenden Persönlichkeit ab, ob und wie fehlerhafte Erziehung oder unterdrückt gewesene Eigenschaften sich Geltung verschaffen. Das kostet oft genug einen schweren Kampf mit sich selbst, denn die Eindrücke, die der Mensch in seiner Kinder- und Jugendzeit empfängt, beeinflussen am meisten sein Fühlen und Denken. Was immer im späteren Leben die Verhältnisse aus dem einzelnen machen, die Eindrücke seiner Jugend wirken im guten wie im schlimmen Sinne auf ihn, und oft bestimmen sie sein Handeln.

Ich wenigstens muß eingestehen, daß die Eindrücke und Erlebnisse in den Kinder- und Jugendjahren mich häufig in einer Weise gefangen nahmen, daß ich Mühe hatte, mich ihrer zu erwehren, und ganz los geworden bin ich sie nie.

Der Mensch ist irgendwo geboren.

Mir wurde dieses Glück zuteil am 22. Februar 1840, an welchem Tage ich
in der Kasematte zu Deutz-Köln das Licht der Welt erblickte. Mein Vater
war der Unteroffizier Johann Gottlob Bebel in der 3. Kompagnie des 25.
Infanterieregiments, meine Mutter Wilhelmine Johanna geborene Simon.
Mein Taufschein weist nicht Deutz — das damals noch eine selbständige
Gemeinde war —, sondern Köln als Geburtsort auf, offenbar weil die
Deutzer Garnison zu jener der Festung Köln und zur gleichen
Kirchengemeinde gehörte.

Das „Licht der Welt“, in das ich nach meiner Geburt blickte, war das trübe Licht einer zinnernen Oellampe, das notdürftig die grauen Wände einer großen Kasemattenstube beleuchtete, die zugleich Schlaf- und Wohnzimmer, Salon, Küche und Wirtschaftsraum war. Nach der Angabe meiner Mutter war es abends Schlag neun Uhr, als ich in die Welt trat, insofern „ein historischer Moment“, als eben draußen vor der Kasematte der Hornist den Zapfenstreich blies, bekanntlich seit „unvordenklichen Zeiten“ das Zeichen, daß die Mannschaften sich zur Ruhe zu begeben haben.

Prophetisch angelegte Naturen könnten aus dieser Tatsache schließen, daß damit schon meine spätere oppositionelle Stellung gegen die bestehende Staatsordnung angekündigt wurde. Denn streng genommen verstieß es wider die militärische Ordnung, daß ich als preußisches Unteroffizierskind in demselben Augenblick die Wände einer königlichen Kasemattenstube beschrie — und ich soll schon bei meiner Geburt eine recht kräftige Stimme gehabt haben —, in dem der Befehl zur Ruhe erlassen wurde.

Aber die so folgerten, täuschten sich. Es hat später noch geraumer Zeit bedurft, ehe ich mich aus den Banden der Vorurteile befreite, in die das Leben in der Kasematte und die späteren Jugendeindrücke mich geschlagen hatten.

Es ist nicht überflüssig, weil für die Beurteilung meiner selbst notwendig, hier einiges über meinen Vater und meine Mutter zu sagen. Mein Vater war in Ostrowo in der Provinz Posen geboren, als der Sohn des Böttchermeisters Johann Bebel. Ich glaube annehmen zu müssen, daß die Bebels aus dem Südwesten Deutschlands (Württemberg) nach dem Osten, etwa um die Reformationszeit, eingewandert sind. Feststellen konnte ich, daß um 1625 schon ein Bebel in Kreuzburg (Schlesien) lebte. Aber zahlreicher sind sie bis heute in Südwestdeutschland vorhanden. Auch kommt der Name Bebel seit der Reformationszeit durch Träger desselben in öffentlichen Stellungen vor. Ich erinnere an den Verfasser der „Facetiae“, den Humanisten Heinrich Bebel, der Professor in Tübingen war und 1518 starb. Ferner gab es einen Buchdrucker Johann Bebel in Basel, der um 1518 die Utopie des Thomas Morus herausgab. Ein Professor Balthasar Bebel lebte um 1669 in Straßburg i.E. und ein Dr. med. Friedrich Wilhelm Bebel um 1792 in Nagold in Württemberg. Der Name Bebel ist auch noch verballhornt als Böbel in Süddeutschland zu finden. Daß mein Vater vom Osten nach dem Westen verschlagen wurde, hatte seinen Grund darin, daß er mit seinem Zwillingsbruder August im Jahre 1828 in ein posensches Infanterieregiment, ich glaube in das 19., eintrat. Als dann im Jahre 1830 der polnische Aufstand ausbrach, hielt es die preußische Regierung für angemessen, die posenschen Regimenter aus der Provinz zu entfernen. Das Regiment, in dem mein Vater diente, wurde als Teil der preußischen Bundesgarnison nach der damaligen Bundesfestung Mainz verlegt. Dieser Umstand veranlaßte, daß mein Vater und meine Mutter sich kennen lernten.

Meine Mutter stammte aus einer alteingesessenen, nicht unbemittelten Kleinbürgerfamilie der ehemaligen freien Reichsstadt Wetzlar. Der Vater war Bäcker und Landwirt. Die Familie war zahlreich, und so trat meine Mutter, dem Beispiel der Töchter anderer Wetzlarer Familien folgend, die Wanderung nach Frankfurt a.M. an, woselbst sie als Dienstmädchen Stellung nahm. Von Frankfurt kam sie nach dem benachbarten Mainz und machte hier die Bekanntschaft meines Vaters. Als dann später das betreffende Infanterieregiment wieder nach der Provinz Posen zurückversetzt wurde, trat mein Vater in Rücksicht auf seine Braut, vielleicht auch, weil es ihm im Rheinland besser gefiel als in seiner Heimat, aus demselben aus und trat in das in Köln-Deutz garnisonierende 25. Infanterieregiment ein. Sein Zwillingsbruder August, mein Taufpate, folgte seinem Beispiel insofern, als dieser in das damals in Mainz garnisonierende 40. Infanterieregiment (8. rheinisches Füsilierregiment) übertrat.

Eine preußische Unteroffiziersfamilie der damaligen Zeit lebte in erbärmlichen Verhältnissen. Das Gehalt war mehr als knapp, wie denn zu jener Zeit überhaupt in der Militär- und Beamtenwelt Preußens Schmalhans Küchenmeister war, und so ziemlich jeder für Gott, König und Vaterland den Schmachtriemen anziehen und hungern mußte. Meine Mutter erhielt die Erlaubnis, eine Art Kantine führen zu dürfen, das heißt sie hatte das Recht, allerlei kleine Bedarfsartikel an die Mannschaften der Kasematten zu verkaufen, was in der einzigen Stube geschah, die wir inne hatten. So sehe ich sie im Geiste noch heute vor mir, wie sie abends bei der mit Rüböl gespeisten Lampe den Soldaten die steinernen Näpfe mit dampfenden Pellkartoffeln füllte, à Portion 6 Pfennig preußisch.

Für uns Kinder — mir war im April 1841 der erste Bruder und im Sommer 1842 der zweite geboren worden — war das Leben in den Kasematten ein Leben voller Wonnen. Wir trieben uns in den Kasemattenstuben umher, verhätschelt oder auch gehänselt von Unteroffizieren und Mannschaften. Waren aber die Stuben leer, weil die Mannschaften zu Uebungen ausgerückt waren, so begab ich mich auf eine derselben und holte die Gitarre des Unteroffiziers Wintermann, der auch mein Taufpate war, von der Wand, auf der ich dann so lange musikalische Uebungen betrieb, bis keine Saite mehr ganz war. Um diesen ungezügelten Musikübungen und ihren bösen Folgen eine entsprechende Ablenkung zu geben, schnitzte er mir aus einem Brett ein gitarreartiges Instrument, das er mit Darmsaiten bezog. Ich saß nunmehr mit diesem in Gesellschaft meines Bruders stundenlang auf der Türschwelle zu einem Hof in der Deutzer Hauptstraße und malträtierte die Saiten, was die beiden Töchter eines gegenüberwohnenden Dragonerrittmeisters so „entzückte“, daß sie uns öfter für meine musikalischen Leistungen mit Kuchen oder Konfekt regalierten. Natürlich litten unter diesen musikalischen nicht die militärischen Uebungen. Der Anreiz dazu lag ja in der ganzen Umgebung, er lag buchstäblich in der Luft. Sobald ich also die ersten Hosen und den ersten Rock anhatte, die selbstverständlich beide aus einem alten Militärmantel des Vaters gezimmert worden waren, stellte ich mich, ausgestattet mit der nötigen Bewaffnung, neben oder hinter die auf dem freien Platz vor der Kasematte übenden Mannschaften und ahmte ihre Bewegungen nach. Wie mir meine Mutter später öfter humorvoll erzählte, soll ich namentlich das rechts und links Aufrücken meisterlich fertig bekommen haben, eine Uebung, die den Mannschaften viel Schweiß verursachte und bei der ich ihnen manchmal von dem kommandierenden Offizier oder Unteroffizier als Muster hingestellt worden sein soll.

Meines Vaters Augen sahen aber allmählich das Kommißleben anders an wie sein Sohn. Er war zwar, wie uns meine Mutter öfter erzählte, gleich seinem Bruder ein außerordentlich gewissenhafter, pünktlicher und adretter Militär — ein sogenannter Mustersoldat —, aber er hatte zu jener Zeit bereits seine zwölf und mehr Jahre Militärdienstzeit auf dem Rücken, und stand ihm das Soldatenleben schließlich, wie man zu sagen pflegt, bis an den Hals. Der Dienst wurde damals wohl auch noch kleinlicher und engherziger betrieben als heute. Der Gamaschendienst feierte zu jener Zeit seine Orgien. An Unabhängigkeits- und Oppositionsgeist hat es meinem Vater offenbar auch nicht gefehlt, für den zu jener Zeit in der Rheinprovinz der rechte Boden war, und so kam er öfter in höchstem Zorn und mit Verwünschungen auf den Lippen vom Exerzierplatz in die düstere Kasemattenstube. Als im Jahre 1840 unter Louis Philipp und seinem Ministerium Thiers ein Krieg zwischen Frankreich und Preußen drohte, soll er eines Tages in höchster Empörung in die Stube getreten sein, weil nach seiner Ansicht ein blutjunger Offizier ihm zu nahe getreten war, und meiner Mutter zugerufen haben: „Frau, wenn es losgeht, die erste Kugel, die ich verschieße, gilt einem preußischen Offizier!“ Der Ausdruck „preußischer Offizier“ im Munde eines preußischen Unteroffiziers befremdet, er erklärt sich aber. Damals und noch viel später wurde von der Bevölkerung des preußischen Rheinlands jeder Offizier und Beamte einfach als „Preuß“ bezeichnet. Die Rheinländer fühlten sich noch nicht als Preußen. Mußte ein junger Mann Soldat werden, hieß es kurz: er muß Preuß (plattdeutsch „Prüß“) werden. Es gab sogar hierfür ein derbes Schimpfwort. Ich hörte noch im Frühjahr 1869, als ich mit Liebknecht in einer politischen Angelegenheit in Elberfeld war, daß in der Wirtsstube des Hotels, in dem wir wohnten, ein Gast zu den anderen sagte: „Was will denn der preußische Offizier hier?“, als er auf der Straße einen Offizier vorübergehen sah. Elberfeld hatte damals wie heute keine Garnison.

Die geschilderte Auffassung war offenbar auch meinem Vater geläufig geworden. Als er dann in den Jahren 1843 und 1844 nach fünfzehnjähriger Dienstzeit als schwer kranker Mann über Jahr und Tag im Militärlazarett verbringen mußte, den Tod und das Elend seiner Familie vor Augen, hat er die Mutter wiederholt in der nachdrücklichsten Weise gebeten, nach seinem Tode uns Jungen ja nicht für das Militärwaisenhaus einzugeben, weil damit die Verpflichtung zu einer späteren neunjährigen Dienstzeit in der Armee verbunden war. Bei dem Gedanken, daß die Mutter dieses dennoch aus Not tun könnte, rief er in seiner durch die Krankheit gesteigerten Erregung wiederholt aus: „Tust du es dennoch, ich erstech' die Jungen vor der Kompagnie.“ In seiner Erregung übersah er, daß er alsdann nicht mehr unter den Lebenden war.

Meinem Vater schlug insofern die Erlösungsstunde, als ihm im Frühjahr 1843 der Posten eines Grenzaufsehers angeboten wurde, für welchen Dienst er sich seit langem gemeldet hatte. Er nahm den Posten an, und so zog die Familie teils zu Fuß, teils auf dem Frachtwagen sitzend, der die Möbel trug — denn eine Eisenbahn gab es zu jener Zeit in jener Gegend noch nicht —, nach Herzogenrad an der belgischen Grenze. Aber unseres Bleibens war hier nicht lange. Noch war die dreimonatige Probezeit nicht zu Ende, so hatte sich mein Vater infolge des anstrengenden Nachtdienstes eine schwere Erkrankung zugezogen. Muskelentzündung nannte es meine Mutter, ich vermute, es war Gelenkrheumatismus, wozu sich die Schwindsucht gesellte. Da durch den Nichtablauf der Probezeit mein Vater noch nicht aus dem Militärverhältnis entlassen war, mußten wir mit dem schwerkranken Manne dieselbe Reise in derselben Weise wieder nach Köln zurücklegen. Ein sehr schweres Stück für meine Mutter. In Köln angekommen, wurde der Vater in das Militärlazarett geschafft, und uns wurde wieder eine Stube in den Deutzer Kasematten, diesmal hinten nach dem Wallgraben hinaus, angewiesen. Nach dreizehnmonatiger Krankheit starb der Vater, 35 Jahre alt, ohne daß die Mutter die Berechtigung zum Bezug einer Pension hatte. Wir mußten kurz nach dem Tode des Vaters die Kasematte verlassen, und die Mutter wäre schon jetzt gezwungen gewesen, nach ihrer Heimat Wetzlar überzusiedeln, wenn nicht der Zwillingsbruder des Vaters, August Bebel, sich der Mutter und unserer annahm. Um diese Pflicht besser erfüllen zu können, entschloß er sich, Herbst 1844, meine Mutter zu heiraten.

Dieser mein Stiefvater war im September 1841 wegen Ganzinvalidität mit einem Gnadengehalt von zwei Talern monatlich aus dem Dienst im 40. Infanterieregiment entlassen worden. Ursache der Invalidität war der Verlust der Kommandostimme infolge einer Kehlkopfentzündung, die später ebenfalls in Schwindsucht ausartete. Er hatte nach Aufgabe seiner Stellung im Regiment nahezu zwei Jahre als Polizeiunteroffizier im Militärlazarett in Mainz fungiert und hatte alsdann provisorisch die Stelle eines Revieraufsehers in der Provinzial-Korrektionsanstalt Brauweiler bei Köln angenommen. Seine eigentliche Absicht war, bei der Post in Dienst zu treten. Aber damals befand sich das Postwesen noch in Stagnation. Sollte eine Stelle besetzt werden, so mußte meist erst ein bisheriger Stelleninhaber sterben oder pensioniert werden, ehe eine solche frei wurde. Bezeichnend für die Art des Postdienstes jener Zeit ist, daß, als mein Stiefvater im Sommer 1844 nach Ostrowo an seinen Bruder schrieb, um eine ihm nötige amtliche Vollmacht für seine Heirat zu erwirken, er auf der Adresse des zufällig in meinen Händen befindlichen Briefes vermerkte: „Absender bittet um baldige Abgabe.“ Die Briefbestellung war also damals offenbar eine seltene und auch säumige. Die gewünschte Stelle bei der Post als Briefträger wurde meinem Stiefvater nach mehrjährigem Warten endlich im Oktober 1846 angetragen, als er eben auf der Totenbahre lag.

Wir siedelten im Spätsommer 1844 nach Brauweiler über. Mein nunmehriger Vater hatte hier in der großen Provinzialanstalt sicher den schwersten Dienst. Er war unter anderem auch Aufseher der Gefangenenanstalt, die sich dort für die Arbeitshäusler befand, die wegen Vergehen in der Anstalt zu Gefängnis verurteilt wurden. Die Anstalt bildete einen großen Komplex von Gebäuden und Höfen und umschloß auch Gartenland. Das alles war mit einer hohen Mauer umzogen. Männer, Frauen und jugendliche Insassen waren voneinander getrennt. Um nach dem Arresthaus zu gelangen, in dem sich auch unsere Wohnung befand, mußte man über mehrere Höfe schreiten, die durch schwere verschlossene Türen voneinander getrennt waren. Das Arresthaus war also von jeder menschlichen Umgebung abgeschieden. Allabendlich, sobald die Dämmerung eintrat, flogen Dutzende von Eulen in allen Größen mit ihrem Gefauche und Gekrächze um das Gebäude und jagten uns Kindern Angst und Schrecken ein. Der Aufenthalt dieser Eulen war der Turm der nahen Kirche. Auch sonst war dieser Aufenthalt für uns Kinder, und vermutlich auch für meine Eltern, kein erfreulicher. Der Dienst meines Vaters, der morgens um 5 Uhr begann und bis zum späten Abend währte, war ein sehr anstrengender und mit viel Aerger verknüpft. Die Art der damaligen Gefangenenbehandlung war eine grausame. Ich habe mehr als einmal mit angesehen, daß junge und ältere Männer, die extra schwer bestraft wurden, sich der scheußlichen Prozedur des Krummschließens unterziehen mußten. Dieses Krummschließen bestand darin, daß der Delinquent sich auf den Boden der Zelle auf den Bauch zu legen hatte. Alsdann bekam er Hand- und Fußschellen angelegt. Darauf wurde ihm die rechte Hand über den Rücken hinweg an den linken Fuß und die linke Hand ebenfalls über den Rücken an den rechten Fuß gefesselt. Damit noch nicht genug, wurde ihm ein leinenes Tuch strickartig um den Körper über Brust und Arme auf dem Rücken scharf zusammengezogen. So als lebendes Knäuel zusammengeschnürt, mußte der Uebeltäter zwei Stunden lang auf dem Bauch liegend aushalten. Alsdann wurden ihm die Fesseln abgenommen, aber nach wenigen Stunden begann die Prozedur von neuem.

Das Gebrülle und Gestöhne der so Mißhandelten durchtönte das ganze
Gebäude und machte natürlich auf uns Kinder einen schauerlichen
Eindruck.

Hier in Brauweiler besuchte ich schon von Herbst 1844 ab, erst vierundeinhalb Jahre alt, die Dorfschule, und zwar wurde ich in diesem jugendlichen Alter als „Freiwilliger“ aufgenommen. Kehrten wir Kinder aus dieser zurück, so mußten wir eines der Anstaltstore passieren, das eine Schildwache zu öffnen hatte. Eines Tages aber waren wir starr vor Ueberraschung, als der Posten die Tür öffnete und wir statt des bisher im Gebrauch gewesenen Tschakos einen glänzenden Helm von sehr bedeutender Höhe auf seinem Haupte thronen sahen. Diese ersten Helme waren im Vergleich zu ihren Nachfolgern in der Jetztzeit wahre Ungetüme und entsprechend schwer. Wir erholten uns von unserer Ueberraschung und unserem Staunen erst, als der Posten uns zuherrschte: „Jungs, macht, daß ihr hereinkommt, oder ich schlage euch die Tür vor der Nase zu!“

Das Leben für uns Kinder war in der Anstalt nicht sehr abwechslungsreich. Es spielte sich in der Hauptsache innerhalb eines Teiles der Anstaltsmauern ab. Auch wurde unser Vater, der ein sehr strenger Mann war und dem es an Aerger nicht fehlte, immer reizbarer, eine Reizbarkeit, die durch die mittlerweile bei ihm zum Ausbruch gekommene Schwindsucht immer mehr zunahm. Die Mutter und wir Kinder hatten darunter viel zu leiden. Mehr als einmal mußte die Mutter dem Vater in die Arme fallen, wenn dieser in maßloser Erregung schwere körperliche Züchtigungen an uns vollzog. Sind Prügel der höchste Ausfluß erzieherischer Weisheit, dann muß ich ein wahrer Mustermensch geworden sein. Aber was ich geworden bin, wurde ich wohl trotz der Prügel.

Andererseits wieder war der Vater aufs emsigste für unser Wohl bemüht, denn er war trotz alledem ein gutherziger Mann. Konnte er uns zum Beispiel zu Weihnachten, Neujahr oder Ostern eine Freude bereiten, so geschah es, soweit es die bescheidenen Mittel erlaubten. Und sehr bescheiden waren diese. Neben freier Wohnung (zwei Stuben), Heizung und Licht empfing der Vater monatlich etwa acht Taler Gehalt. Damit mußten fünf, später vier Menschen auskommen, da mein jüngster Bruder, ein bildhübsches Kind und der Liebling des Vaters, Sommer 1845 starb.

Die Krankheit meines Vaters machte unterdes rapide Fortschritte. Bereits am 19. Oktober 1846 starb er nach etwa zweijähriger Ehe. So war meine Mutter binnen drei Jahren zum zweitenmal Witwe und wir vaterlose Waisen. Auch aus dieser Ehe hatte die Mutter keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. Nunmehr blieb ihr nichts übrig, als nach ihrer Heimat Wetzlar überzusiedeln. Anfang November wurden abermals die Siebensachen auf einen Wagen geladen — die heutigen Möbelwagen gab es wohl zu jener Zeit noch nicht — und wurde die Reise nach Köln angetreten. Das Wetter war häßlich. Es war kalt und regnerisch. In Köln wurde der Hausrat am Rheinufer unter freiem Himmel aufs Pflaster gesetzt, um von dort per Schiff nach Koblenz und von dort wieder per Wagen das Lahntal hinauf nach Wetzlar transportiert zu werden. Als wir abends gegen 10 Uhr die Schiffskajüte zur Fahrt nach Koblenz betraten, war diese mit Menschen überfüllt und herrschte ein Tabaksqualm zum Ersticken. Da uns niemand Platz machte, legten wir zwei Jungen, todmüde wie wir waren, uns dicht an der Tür auf den Fußboden und schliefen, wie nur müde Kinder schlafen können. Den fünften oder sechsten Tag kamen wir endlich in Wetzlar an, in dem damals noch meine Großmutter und vier verheiratete Geschwister — drei Schwestern und ein Bruder — meiner Mutter lebten.

Unsere eigentliche Jugendzeit verlebten wir jetzt hier. Wetzlar, eine kleine, romantisch gelegene Stadt, besaß damals eine ganz vortreffliche Volksschule. Zunächst kamen wir beide in die Armenschule, die sich in einem großen Gebäude, dem Deutschen Haus, das ehemals den deutschen Ordensrittern gehörte, befand. In dem großen Vorhof zu diesem Gebäude steht links das einstöckige Haus, in dem einst Charlotte Buff, die Heldin in Goethes Werther, wohnte. Der Zufall wollte, daß ich später mehreremal in diesem Hause übernachtete, als einer meiner Vettern Cicerone für das Charlotte-Buff-Zimmer wurde. Ich kann mich auch noch der Feier zum hundertsten Geburtstag Goethes (1849) erinnern, die am Wildbacher Brunnen stattfand, woselbst sich die Goethelinde befindet. Der Brunnen heißt seit jener Zeit Goethebrunnen. Zehn Jahre später wohnte ich der Feier zu Schillers hundertstem Geburtstag im Salzburger Stadttheater bei.

Nach einigen Jahren wurde die Armenschule mit der Bürgerschule verschmolzen, wir hießen jetzt Freischüler; die Mädchen erhielten das Deutsche Haus als Schulhaus angewiesen.

Mit der Schule und den Lehrern fand ich mich im ganzen sehr gut ab, nur mit dem Kantor nicht, der mir nicht hold war. Ich gehörte zu den besten Schülern, was namentlich unseren Lehrer der Geometrie, ein kleiner prächtiger Mann, veranlaßte, mich mit noch zwei Kameraden extra vorzunehmen und uns in die Geheimnisse der Mathematik einzuweihen. Wir lernten mit Logarithmen rechnen. Neben Rechnen und Geometrie waren meine Lieblingsfächer Geschichte und Geographie. Religion, für die ich keinen Sinn hatte — und meine Mutter, eine aufgeklärte und freidenkende Frau, quälte uns zu Hause nicht damit —, lernte ich nur, weil ich mußte. Ich war zwar auch hier mit an der ersten Stelle, aber das verhinderte nicht, daß ich namentlich in der Katechumenenstunde dem Oberpfarrer einigemal Antworten gab, die gar nicht ins Schema paßten und mir kleine Strafpredigten eintrugen.

Im übrigen war unser Oberpfarrer ein sehr ehrenwerter Mann und durchaus kein Frömmling, was aber, nebenbei bemerkt, nicht verhinderte, daß man ihm eines Tages, richtiger in einer Nacht, einen losen Streich spielte. In Wetzlar bestand zu jener Zeit die Sitte, sie besteht vielleicht auch heute noch, die im Spätherbst oder Winter geschlachteten Gänse eine Nacht der Durchfrierung auszusetzen, das soll dem Geschmack des Bratens förderlich sein. Die Gans wurde also in respektvoller Höhe, in der Regel vor das Fenster gehängt. So auch bei Oberpfarrers. Aber am nächsten Morgen war die Gans verschwunden. Dagegen hing am darauffolgenden Morgen das fein säuberlich abgenagte Gerippe der Gans am Glockenzug der Haustür und daran befestigt ein Zettel, auf dem das schöne Verslein stand:

  Guten Morgen, Herr Schwager!
  Gestern war ich fett und heut bin ich mager!

Ganz Wetzlar lachte, denn in einer kleinen Stadt sprechen sich derartige Vorkommnisse rasch herum. Ich nehme an, auch der Oberpfarrer lachte.

Wenn ich aber fleißig lernte und überall im Können mit an der Spitze stand, so stand ich auch an der Spitze der meisten losen Streiche, die nun einmal bei Jungen, die ein größeres Maß Bewegungsfreiheit haben, unausbleiblich, ja selbstverständlich sind. Das brachte mich in „sittlicher“ Beziehung in einen üblen Ruf. Namentlich genoß ich diesen bei unserem Kantor, der das Departement des Aeußern zu vertreten hatte, das heißt, der all die bösen Streiche, die der Schule gemeldet wurden, an den Attentätern zu bestrafen hatte. Wieso er, statt des Rektors, zu dieser Rolle kam, weiß ich nicht. Vielleicht daß sein Dienstalter oder seine Körperfülle oder ein Gewohnheitsrecht ihn dazu prädestinierte. Auch wußte er mit unnachahmlicher Grazie und sehr wirksam den Bakel zu schwingen. Weniger schmerzte es, wenn er mit seinen kleinen fetten Händen uns rechts und links ins Gesicht fuhr, daß es nur so klatschte. Aber auch in einem solchen Moment konnte ich nicht unterlassen, die kleinen fetten Hände zu bewundern.

Unsere Haupttummelplätze waren die nächste Umgebung des Domes, das alte Reichskammergerichtsgebäude, dessen große Räume jahrelang als Lagerplatz einem Gastwirt dienten, die große Burgruine Kalsmunt vor der Stadt, die Felsenpartien an der Garbenheimer Chaussee — der Ort Garbenheim besitzt ebenfalls Erinnerungen an Goethe —, auf deren Felsplatten wir unsere „Festungen“ errichteten, die alte Stadtmauer und vor allem die auf einem Hochplateau gelegene Garbenheimer Warte, von der aus wir im Herbste unsere Raubzüge in die Kartoffelfelder unternahmen, um Kartoffeln zum Braten zu holen. Eines Tages mußten wir dafür eine mehrstündige Belagerung durch eine Bauernfamilie aushalten, die wir aber siegreich abschlugen. Die Streifereien durch Wald und Flur, namentlich während der Ferien, waren zahllos.

Auch war das Obststrippen, wie wir es nannten, eine Lieblingsbeschäftigung im Sommer und Herbste, denn die Umgebung Wetzlars ist sehr obstreich. Die Lahn, ein ganz respektabler Fluß, gab im Sommer die gewünschte Badegelegenheit und im Winter die Möglichkeit zum Schlittschuhsport. Bei einer solchen Gelegenheit passierte es, daß mein Bruder hart neben mir in ein leicht zugefrorenes Loch einbrach und unzweifelhaft unter das Eis geraten und ertrunken wäre, breitete er nicht unwillkürlich die Arme aus, die ihn oben hielten. Ein Kamerad und ich zogen ihn aus dem Wasser und brachten ihn auf eine Felsplatte an der Garbenheimer Chaussee. Hier mußte er sich entkleiden, wir borgten ihm einzelne Kleidungsstücke von uns und rangen dann seine Kleider aus, die wir in der ungewöhnlich warmen Februarsonne trockneten. Die Mutter erfuhr erst nach Monaten den Unfall ihres Zweiten, was dadurch ermöglicht wurde, daß wir unsere Kleider selbst reinigten, auch, so gut es ging, selbst flickten, um die Risse dem Auge der Mutter zu verbergen.

Das Jahr darauf half ich einem meiner Vettern, der einige Jahre älter war als ich, bei ähnlicher Gelegenheit das Leben retten. Dieser, ein vorzüglicher Schlittschuhfahrer, kam eines Tages in sausender Fahrt die Lahn herunter und fuhr auf ein Wehr zu, wobei er infolge der spiegelblanken Eisfläche nicht sah, daß vor dem Wehr ein breiter Streifen offenes Wasser war. Voll Schrecken schrie ich ihm zu, umzukehren. Er gehorchte auch. Aber es war zu spät. Als er den Ausweichbogen beschrieb, brach er ein. Krampfhaft hielt er sich am Eis fest, sobald er aber den Versuch machte, ein Bein auf dasselbe zu bringen, brach es von neuem. Rasch riß ich jetzt einen langen gestrickten wollenen Schal, wie sie damals allgemein getragen wurden, vom Hals, nahm einen zweiten von einem neben mir stehenden Kameraden, knüpfte beide zusammen und warf das eine Ende meinem Vetter zu, das er glücklich erhaschte. Jetzt zogen wir ihn langsam auf festes Eis. Er war gerettet.

Mein schlimmer Ruf bei unserem Kantor war allmählich so fest begründet, daß er es als selbstverständlich voraussetzte, daß ich bei jeder Teufelei, die vorkam, beteiligt sei. Versuchte ich einmal einen Kameraden vor ungerechter Strafe zu schützen, indem ich mich für diesen ins Mittel legte, so wurde ich ohne Gnade als Beteiligter angesehen und mitbestraft, auch wenn ich gänzlich unbeteiligt war. Später hat man mir in der Partei die Eigenschaft, um jeden Preis gerecht sein zu wollen, scherzweise als Gerechtigkeitsmeierei angekreidet. Oft genug hatte allerdings unser Kantor berechtigte Ursache, mit mir ins Gericht zu gehen. So als ich eines Tages, dem dunklen Triebe nach „Berühmtheit“ folgend, in die roten Sandsteinstufen zum Eingang in den Dom in lapidaren Buchstaben meinen vollen Namen, Geburtsort und Geburtstag eingemeißelt hatte. Ein starker Nagel als Meißel und ein Stein als Hammer bildeten die Werkzeuge, die ich dazu benutzte. Natürlich wurde die böse Tat am nächsten Sonntag beim Kirchgang allseitig entdeckt, auch von dem Kantor. Endresultat: etwelche Ohrfeigen und dreimal über Mittag bleiben. Das bedeutete, daß ich vom Schluß der Schule am Vormittag bis zum Beginn derselben am Nachmittag im „Karzer“ zubringen mußte, also erst nach dem zweiten Schulschluß nach Hause kam und so mein Mittagessen einbüßte. Zum Glück aber hatte der Kantor eine weichmütige Tochter. Diese beobachtete mich an der Seite ihres Bräutigams, als ich am zweiten Mittag am Karzerfenster stand und philosophische Betrachtungen über die Freiheit der Spatzen anstellte, die auf dem Schulhof in Scharen lärmten. Von meinem Schicksal gerührt, erwirkte sie mir bei ihrem Vater sofort eine vollständige Amnestie und kam selbst, um mir die Freiheit anzukündigen und mich aus der Haft zu entlassen. Es war die erste und einzige Begnadigung, die mir in meinem Leben zuteil geworden ist. Hätte das Ewigweibliche öfter über mein Geschick zu entscheiden gehabt, ich glaube, ich wäre manchmal besser davongekommen.

Indes kam auch für mich der Tag der Erkenntnis, an dem ich mir sagte, jetzt mußt du doch anfangen, ein ordentlicher Kerl zu werden. Dieser Akt vollzog sich also. Der Sohn des Majors des in Wetzlar garnisonierenden Jägerbataillons, Moritz v.G., war mein Kumpan bei vielen losen Streichen gewesen. Da kam das Schulexamen. Der einzige Mensch, der von der Bevölkerung demselben als Zuhörer beiwohnte, war Major v.G., ein Hüne an Gestalt. Die Prüfung war zu Ende, und es wurden die Zensuren verlesen. Merkwürdigerweise wurden diese ausschließlich auf das sittliche Verhalten hin erteilt. Alle Schüler der Klasse hatten bereits ihre Zensur erhalten, nur Moritz v.G. und ich waren übrig. Wir allein erhielten die Zensur fünf, also die schlechteste, die es gab. Der Vater Major verzog keine Miene, aber ich habe Grund, anzunehmen, daß es zu Hause für Moritz nicht glimpflich abging. Ich sah ihn seit jenem Tage nie wieder, er kam unmittelbar nach jenem Vorgang auf die Kadettenschule. In den neunziger Jahren erfuhr ich, daß er in K. eine hohe militärische Stellung bekleidete. Ihm hatte also seine böse Bubennatur so wenig geschadet wie mir. Von jener Stunde an wurde ich ordentlich, das heißt ich tat nichts mehr, was mir Strafen eintrug. So erhielt ich im nächsten Examen die Zensur drei und bei der folgenden und letzten Prüfung, an der ich teilnahm, die Eins. Wäre es damals auf die Stimmung der Klasse angekommen, ich hätte auch eine der beiden zur Verteilung gelangten Prämien erhalten. Als der Rektor den Namen des zweiten Ausgezeichneten nennen wollte, rief die ganze Klasse meinen Namen. Der Rektor aber meinte, ich hätte mich zwar sehr gebessert, aber doch nicht in dem Maße, um mir eine Prämie zu geben. So trat ich prämienlos ins Leben.

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Unsere materiellen Verhältnisse konnten sich in Wetzlar nicht bessern. An Pension konnte meine Mutter keinen Anspruch erheben. Die einzige Unterstützung, die sie später vom Staat erhielt, bestand in 15 Silbergroschen pro Monat und Kopf von uns zwei Jungen. Diese waren ihr gewährt worden, weil sie trotz des Abratens ihres ersten Ehemannes uns beide als Kandidaten für das Militärwaisenhaus in Potsdam angemeldet hatte. Es war die Not, die sie dazu zwang; sie hatte zwar von ihrer mittlerweile gestorbenen Mutter fünf bis sechs Parzellen Land geerbt, die in den verschiedensten Gemarkungen um Wetzlar herum zerstreut lagen. Und sie hatte, der Not gehorchend, auch mehrere davon bereits verkauft, um leben zu können. Aber dieser Verkauf fiel ihr herzlich schwer. Ihr ganzes Dichten und Trachten war darauf gerichtet, uns den noch vorhandenen Besitz zu erhalten, damit wir nicht gänzlich mittellos in der Welt stünden. Was eine Mutter für ihre Kinder opfern kann, habe ich an der eigenen erfahren. Einige Jahre lang hatte meine Mutter für ihren Schwager — einen Handschuhmacher — weiße Militärlederhandschuhe genäht, das Paar für 6 Kreuzer, ungefähr 20 Pfennig. Mehr als ein Paar im Tag konnte sie aber nicht fertigen. Dieser Verdienst war zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Aber auch diese Arbeit mußte sie nach einigen Jahren aufgeben, denn auch sie war mittlerweile von der Schwindsucht ergriffen worden, die ihr in den letzten Lebensjahren jede Arbeit unmöglich machte. Ich als Aeltester mußte die Ordnung des kleinen Hauswesens, Stube und Kammer, übernehmen. Ich hatte Kaffee zu kochen, Stube und Kammer zu reinigen und sie samstäglich zu scheuern; ich mußte das Zinn- und Blechgeschirr putzen, unser Bett machen usw., eine Tätigkeit, die mir nachher als Handwerksbursche und politischer Gefangener sehr zustatten kam. Da es meiner Mutter später aber auch unmöglich wurde, zu kochen, ging jeder von uns beiden zu einer Tante zu Mittagessen, die sich zu diesem Liebesdienst bereit erklärten. Für die Mutter selbst holten wir abwechselnd bei verschiedenen bessersituierten Familien das bißchen Essen, dessen sie benötigte. Um unsere Lage etwas zu verbessern, beschloß ich, als Kegeljunge tätig zu sein. Nach Schluß der Schule ging ich zum Kegelaufsetzen auf die Kegelbahn in einer Gartenwirtschaft. Von dort kam ich in der Regel erst abends gegen zehn Uhr nach Hause, am Sonntag weit später. Aber das fortgesetzte Bücken verursachte mir so heftige Rückenschmerzen, daß ich jeden Abend stöhnend nach Hause kam. Ich mußte diese Beschäftigung einstellen. Eine andere Beschäftigung, an der wir Jungen beide teilnahmen, war im Herbst das Kartoffellesen bei der Ernte auf den Aeckern einer unserer Tanten. Es war, wenn es neblig, naß und kalt war, keine angenehme Beschäftigung, von früh sieben bis zum Dunkelwerden auf den Kartoffelfeldern zu arbeiten, aber es winkte uns als Lohn ein großer Sack Kartoffeln für den Winter, außerdem erhielten wir jeden Morgen, wenn wir mit aufs Feld gingen, zur Anregung ein großes Stück Zwetschgenkuchen, den wir beide leidenschaftlich liebten.

Als ich im dreizehnten und mein Bruder im zwölften Lebensjahr stand, kam vom Militärwaisenhaus die Nachricht, mein Bruder könne einrücken. Ich war auf Grund ärztlicher Untersuchung als körperlich zu schwach dazu erklärt worden. Jetzt sank aber meiner Mutter der Mut; sie fühlte ihr Ende nahen, und so glaubte sie es nicht verantworten zu können, daß mein Bruder für zwei Jahre Militärerziehung nachher zu neun Jahren Militärdienstzeit verpflichtet werde. „Wollt ihr Soldat werden, so geht später freiwillig, ich verantworte es nicht,“ äußerte sie zu uns. So unterblieb der Eintritt meines Bruders in das Militärwaisenhaus, der für mich damals zu meinem Bedauern nicht in Frage kam.

Mein lebhaftes kindliches Interesse weckten die Bewegungsjahre 1848 und 1849. Die Mehrzahl der Wetzlarer Einwohner war entsprechend der Traditionen der Stadt republikanisch gesinnt. Diese Gesinnung übertrug sich auch auf die Schuljugend. Bei einer Disputation über unsere politischen Ansichten, wie sie unter Schuljungen vorzukommen pflegt, stellte sich heraus, daß nur ein Kamerad und ich monarchisch gesinnt waren. Dafür wurden wir beide mit einer Tracht Prügel bedacht. Wenn sich also meine politischen Gegner über meine „antipatriotische“ Gesinnung entrüsten, weil nach ihrer Meinung Monarchie und Vaterland ein und dasselbe sind, so ersehen sie aus der vermeldeten Tatsache, vielleicht zu ihrer Genugtuung, daß ich schon fürs Vaterland gelitten habe, als ihre Väter und Großväter noch in ihrer Maienblüte Unschuld zu den Antipatrioten gehörten. Im Rheinland war wenigstens zu jener Zeit der größere Teil der Bevölkerung republikanisch gesinnt.

Für meine Mutter brachte jene Zeit in ihr tägliches Einerlei insofern eine kurze Abwechslung, als, ich glaube bei dem Rückmarsch aus dem badischen Feldzug, das Bataillon des 25. Infanterieregiments, bei dem mein Vater gedient hatte, kurze Zeit in Wetzlar verblieb. In demselben standen noch eine Anzahl Unteroffiziere, die meine Mutter von früher kannten. Diese besuchten uns jetzt. Auf ihr Drängen ließ sich meine Mutter herbei, einen Mittagstisch für sie einzurichten. Profitiert hat sie wohl nichts. Ich hörte eines Tages, daß zwei der Gäste auf der Treppe beim Fortgehen sich unterhielten und das Essen sehr lobten, sich aber auch wunderten, daß es meine Mutter für so billigen Preis liefern könne.

Sehr amüsant für uns Jungen waren die Bauernrevolten, die sich in jenen Jahren im Wetzlarer Kreise abspielten. Die Bauern mußten damals noch allerlei aus der Feudalzeit übernommene Verpflichtungen erfüllen. Da alles für Freiheit und Gleichheit schwärmte, wollten sie jetzt diese Lasten auch los sein; sie rotteten sich also zu Tausenden zusammen und zogen nach Braunfels vor das Schloß des Fürsten von Solms-Braunfels. An der Spitze des Zuges wurde in der Regel eine große schwarzweiße Fahne getragen, zum Zeichen, daß man allenfalls preußisch, aber nicht braunfelsisch sein wolle. Ein Teil des Haufens trug Flinten vermiedenen Kalibers, die große Mehrzahl aber Sensen, Mist- und Heugabeln, Aexte usw. Hinter dem Zug, der sich mehrfach wiederholte und stets unblutig verlief, marschierte in der Regel die Wetzlarer Garnison, um den Fürsten zu schützen, wenn sie nicht schon vorher ausgerückt war. Ueber die Begegnung der Bauernführer mit dem Fürsten kursierten in Wetzlar sehr amüsante Erzählungen. Die Wetzlarer blieben noch lange in ihrer oppositionellen Stimmung. Als im Jahre 1849 oder 1850 der Prinz von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm I., in Begleitung des Generals v. Hirschfeld, der damals das 8. rheinische Armeekorps kommandierte, auf seiner Inspektionsreise auch nach Wetzlar kam, wurde sein Wagen vor dem Tore mit Schmutz beworfen. Ein Verwandter von mir, der sich bei einer Gelegenheit zum Sturmläuten hatte fortreißen lassen, wurde mit drei Jahren Zuchthaus bestraft. Für die Bürgerwehr, die in den Bewegungsjahren auch in Wetzlar bestand, hatte ich nur ein Gefühl der Geringschätzung, obgleich mehrere meiner Verwandten zu ihr gehörten, und zwar wegen der mangelnden militärischen Haltung, mit der sie ihre Uebungen vornahm. Mit der wiederkehrenden Reaktion verschwand sie.

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Das Jahr 1853 machte meinen Bruder und mich zu Waisen. Anfang Juni starb meine Mutter. Sie sah ihrem Tode mit Heroismus entgegen. Als sie am Nachmittag ihres Todestags ihr letztes Stündlein herannahen fühlte, beauftragte sie uns, ihre Schwestern zu rufen. Einen Grund dafür gab sie nicht an. Als die Schwestern kamen, wurden wir aus der Stube geschickt. In trübseliger Stimmung saßen wir stundenlang auf der Treppe und warteten, was kommen werde. Endlich gegen sieben Uhr traten die Schwestern aus der Stube und teilten uns mit, daß soeben unsere Mutter gestorben sei. Noch an demselben Abend mußten wir unsere Habseligkeiten packen und den Tanten folgen, ohne daß wir die tote Mutter noch zu sehen bekamen. Die Aermste hatte wenig gute Tage in ihrem Ehe- und Witwenleben gesehen. Und doch war sie immer heiter und guten Mutes. Ihr starben binnen drei Jahren zwei Ehemänner, außerdem zwei Kinder, außer meinem jüngsten Bruder eine Schwester, die vor mir geboren worden war, die ich aber nicht gekannt habe. Mit uns zwei Brüdern hatte sie wiederholt schwere Krankheitsfälle durchzumachen. Ich erkrankte 1848 am Nervenfieber und schwebte mehrere Wochen zwischen Leben und Tod. Einige Jahre danach erkrankte ich an der sogenannten freiwilligen Hinke, kam aber mit graden Gliedern davon. Mein Bruder stürzte, neun Jahre alt, beim Spiel in einer Scheune von der obersten Leiterstufe auf die Tenne herab und trug eine schwere Kopfwunde und eine Gehirnerschütterung davon. Auch er entging nur mit genauer Not dem Tode. Meine Mutter selbst litt mindestens sieben Jahre an der Schwindsucht. Mehr Trübsal und Sorge konnten einer Mutter kaum beschieden sein.

Ich kam jetzt zu einer Tante, die eine Wassermühle in Wetzlar in Erbpacht hatte, mein Bruder kam zu einer anderen Tante, deren Mann Bäcker war. Ich mußte jetzt fleißig in der Mühle zugreifen. Besonderes Vergnügen machte es mir, mit den beiden Eseln, die wir besaßen, Mehl aufs Land zu den Bauern zu transportieren und Getreide von ihnen in Empfang zu nehmen. Am liebsten aber war mir, wenn ich nur wenig Getreide zum Rücktransport erhielt, dann konnte ich auf einem der Esel nach der Stadt reiten. Das ließ sich auch unser Schwarzer, der ein geduldiges Tier war, gefallen, aber unser Grauer, der jung und feurig war, dachte anders. Er besaß offenbar so etwas wie Standesbewußtsein, denn außer der gewohnten Last litt er keine fremde auf seinem Rücken. Als ich aber doch eines Tages auf seinem Rücken Platz genommen hatte, setzte er sich sofort in Trab, steckte den Kopf zwischen die Vorderbeine und schlug mit den Hinterbeinen nach Kräften aus. Ehe ich mich's versah, flog ich in einem eleganten Bogen in den Straßengraben. Glücklicherweise ohne mich zu verletzen. Er hatte seinen Zweck erreicht, ich ließ ihn fortan in Ruhe.

Außer den beiden Eseln besaß meine Tante ein Pferd, mehrere Kühe, eine Anzahl Schweine und mehrere Dutzend Hühner. Und da sie auch Landwirtschaft betrieb, fehlte es nicht an Arbeit, obgleich neben ihrem Sohn ein Müllerknecht — wie damals die Gesellen genannt wurden — und eine Magd beschäftigt wurden. Hatte der Knecht keine Zeit, so mußte ich Pferd und Esel putzen und manchmal auch das Pferd in die Schwemme reiten. Die Sorge für den Hühnerhof war mir ganz überlassen. Ich mußte die Fütterung der Hühner besorgen, die Eier aus den Nestern nehmen oder wohin sonst diese gelegt worden waren und den Stall reinigen. Mit diesen Beschäftigungen kam Ostern 1854 heran. Es folgte meine Entlassung aus der Schule, ein Ereignis, dem ich keineswegs freudig entgegensah. Am liebsten wäre ich in der Schule geblieben.

Die Lehr- und Wanderjahre.

Was willst du denn werden? war die Frage, die jetzt mein Vormund, ein
Onkel von mir, an mich stellte. „Ich möchte das Bergfach studieren!“
„Hast du denn zum Studieren Geld?“ Mit dieser Frage war meine Illusion
zu Ende.

Daß ich das Bergfach studieren wollte, war dadurch veranlaßt, daß, nachdem im Anfang der fünfziger Jahre die Lahn bis Wetzlar schiffbar gemacht worden war, in der Wetzlarer Gegend der Eisenerzabbau einen großen Aufschwung genommen hatte. Bis dahin hatten Haufen Eisenerze fast wertlos vor den Stollen gelegen, weil die hohen Transportkosten die Ausnutzung der Erze wenig rentabel machten. Da aus dem Bergstudium nichts werden konnte, entschloß ich mich, Drechsler zu werden. Das Angebot eines Klempnermeisters, bei ihm in die Lehre zu treten, lehnte ich ab, der Mann war mir unsympathisch, auch stand er im Rufe eines Trinkers. Drechsler wurde ich aus dem einfachen Grunde, weil ich annehmen durfte, daß der Mann einer Freundin meiner Mutter, der Drechslermeister war, und der in der Stadt den Ruf eines tüchtigen Mannes genoß, bereit sein werde, mich in die Lehre zu nehmen. Dies geschah auch. Die Begründung, mit der er meine Anfrage bejahte, war wunderlich genug. Er äußerte, seine Frau habe ihm erzählt, ich hätte mein religiöses Examen bei der Konfirmation in der Kirche sehr gut bestanden, er nehme also an, ich sei auch sonst ein brauchbarer Kerl. Nun war ich sicher kein dummer Kerl, aber ich müßte die Unwahrheit sagen, wollte ich behaupten, ich sei in der Drechslerei ein Künstler geworden. Es gab solche, und mein Meister gehörte zu ihnen, aber ich habe es trotz aller Mühe nicht über die Mittelmäßigkeit gebracht, was nicht verhinderte, daß ich drei Jahre später, am Ende meiner Lehrzeit, für mein Gesellenstück die erste Zensur bekam.

Meine physische Leistungsfähigkeit wurde durch meine körperliche Schwäche beeinträchtigt. Ich war ein ungemein schwächlicher Junge, wozu wohl auch mangelhafte Ernährung beitrug. So bestand unser Abendessen viele Jahre täglich nur in einem mäßig großen Stück Brot, das mit Butter oder Obstmus dünn bestrichen war. Beschwerten wir uns, und wir klagten täglich, daß wir noch Hunger hätten, so gab die Mutter regelmäßig zur Antwort: Man muß manchmal den Sack zumachen, auch wenn er noch nicht voll ist. Der Knüppel lag eben beim Hunde. Unter sotanen Umständen war es erklärlich, daß wir uns heimlich ein Stück Brot abschnitten, wenn wir konnten. Aber das entdeckte meine Mutter sofort und die Strafe blieb nicht aus. Eines Tages hatte ich wieder dieses Verbrechen begangen. Trotz aller Mühe, die ich mir gegeben hatte, den glatten Schnitt der Mutter nachzuahmen, wurde am Abend die Tat von ihr entdeckt. Ihr Verdacht fiel, ich weiß nicht warum, auf meinen Bruder, der sofort mit der breiten Seite eines langen Bureaulineals, das aus der Väter Nachlaß stammte, ein paar Schläge erhielt. Mein Bruder protestierte, er sei nicht der Täter gewesen. Das sah aber meine Mutter als Lüge an, und so bekam er eine zweite Portion. Jetzt wollte ich mich als Täter melden, aber da fiel mir ein, daß das töricht wäre; mein Bruder hatte die Schläge weg, und ich hätte wahrscheinlich noch mehr als er bekommen. Damit tröstete ich auch meinen Bruder, als dieser nachher mir Vorwürfe machte, daß ich mich nicht als Täter gemeldet hatte. Es ist begreiflich, wenn jahrelang mein Ideal war, mich einmal an Butterbrot tüchtig satt essen zu können.

Meister und Meisterin waren sehr ordentliche und angesehene Leute. Ich hatte ganze Verpflegung im Hause, das Essen war auch gut, nur nicht allzu reichlich. Meine Lehre war eine strenge und die Arbeit lang. Morgens 5 Uhr begann dieselbe und währte bis abends 7 Uhr ohne eine Pause. Aus der Drehbank ging es zum Essen und vom Essen in die Bank. Sobald ich morgens aufgestanden war, mußte ich der Meisterin viermal je zwei Eimer Wasser von dem fünf Minuten entfernten Brunnen holen, eine Arbeit, für die ich wöchentlich 4 Kreuzer gleich 14 Pfennig bekam. Das war das Taschengeld, das ich während der Lehrzeit besaß. Ausgehen durfte ich selten in der Woche, abends fast gar nicht und nicht ohne besondere Erlaubnis. Ebenso wurde es am Sonntag gehalten, an dem unser Hauptverkaufstag war, weil dann die Landleute zur Stadt kamen und ihre Einkäufe an Tabakpfeifen usw. machten und Reparaturen vornehmen ließen. Gegen Abend oder am Abend durfte ich dann zwei oder drei Stunden ausgehen. Ich war in dieser Beziehung wohl der am strengsten gehaltene Lehrling in ganz Wetzlar, und oftmals weinte ich vor Zorn, wenn ich an schönen Sonntagen sah, wie die Freunde und Kameraden spazieren gingen, während ich im Laden stehen und auf Kundschaft warten und den Bauern ihre schmutzigen Pfeifen säubern mußte. Nur am Sonntag vormittag, nachdem ich die Sonntagsschule nicht mehr besuchte, wurde mir gestattet, zur Kirche zu gehen. Dafür schwärmte ich aber nicht. Ich benützte also die Gelegenheit, die Kirche zu schwänzen. Um aber sicher zu gehen und nicht überrumpelt zu werden, erkundigte ich mich stets erst, welches Lied gesungen werde und welcher Pfarrer predige. Eines Sonntags aber ereilte mich mein Geschick. Beim Abendessen frug der Meister, ob ich in der Kirche gewesen sei? Dreist antwortete ich: Ja! Er frug weiter: was für ein Lied gesungen worden sei? Ich gab die Nummer an, entdeckte aber zu meinem Schrecken, daß die beiden Töchter, die mit am Tische saßen, kaum das Lachen verbeißen konnten. Als ich nun auf die dritte Frage: wer von den Pfarrern predigte denn? auch eine falsche Antwort gab, schlugen diese eine laute Lache auf. Ich war hereingefallen. Ich war zu früh an die Kirchtüre gegangen, noch ehe der Küster die neue Liedernummer aufgesteckt hatte, und in bezug auf den Namen des Pfarrers war ich falsch berichtet worden. Der Meister meinte trocken: es scheine, daß ich mir aus dem Kirchenbesuch nichts machte, ich möchte also künftig zu Hause bleiben. So war ein schönes Stück Freiheit verloren. Ich warf mich nun mit um so größerem Eifer auf das Lesen von Büchern, die ich ohne Wahl las, natürlich meistenteils Romane. Ich hatte schon in der Schule meine Vorzugsstellung gegen Kameraden, denen ich beim Lösen der Aufgaben half oder ihnen das Abschreiben derselben erlaubte, dazu benutzt, sie zu veranlassen, mir zur Belohnung Bücher, die sie hatten, zu leihen. Dadurch kam ich zum Beispiel zum Lesen von Robinson Crusoe und Onkel Toms Hütte. Jetzt verwandte ich meine paar Pfennige, um Bücher aus der Leihbibliothek zu holen. Einer meiner Lieblingsschriftsteller war Hackländer, dessen Soldatenleben im Frieden dazu beitrug, meine Begeisterung für das Militärwesen etwas zu dämpfen. Weiter las ich Walter Scott, die historischen Romane von Ferdinand Stolle, Luise Mühlbach usw. Aus der Väter Nachlaß hatten wir einige Geschichtsbücher gerettet. So ein Buch, das einen ganz vortrefflichen Abriß über die Geschichte Griechenlands und Roms enthielt. Den Verfasser habe ich vergessen. Ferner einige Bücher über preußische Geschichte, natürlich offiziell geeicht, deren Inhalt ich so im Kopfe hatte, daß ich alle Daten in bezug auf brandenburgisch-preußische Fürsten, berühmte Generale, Schlachttage usw. am Schnürchen hersagen konnte. Schmerzlich wartete ich auf das Ende der Lehrzeit, ich hatte Sehnsucht, die ganze Welt zu durchstürmen. Aber so schnell, wie ich wünschte, ging es nicht. An demselben Tage, an dem meine Lehrzeit beendet war, starb mein Meister, und zwar ebenfalls an der Schwindsucht, die damals in Wetzlar förmlich grassierte. So kam ich in die seltsame Lage, an demselben Tage, an dem ich Geselle geworden war, auch Geschäftsführer zu werden. Ein anderer Geselle war nicht vorhanden, ein Sohn, der das Geschäft hätte fortführen können, fehlte; so entschloß sich die Meisterin, allmählich auszuverkaufen und das Geschäft aufzugeben. Für die Meisterin, die eine auffallend hübsche und für ihr Alter ungewöhnlich rüstige Frau war, die mich stets gut behandelte, wäre ich durchs Feuer gegangen. Ich zeigte ihr jetzt meine Hingabe dadurch, daß ich über meine Kräfte arbeitete. Von Mai bis in den August stand ich mit der Sonne auf und arbeitete bis abends 9 Uhr und später. Ende Januar 1858 war das Geschäft liquidiert, und ich rüstete mich zur Wanderschaft. Als ich mich von der Meisterin verabschiedete, gab sie mir außer dem fälligen Lohn noch einen Taler Reisegeld. Am 1. Februar trat ich die Reise zu Fuß bei heftigem Schneetreiben an. Mein Bruder, der das Tischlerhandwerk erlernte, begleitete mich ungefähr eine Stunde Weges. Als wir uns verabschiedeten, brach er in heftiges Weinen aus, eine Gefühlsregung, die ich nie an ihm beobachtet hatte. Ich sollte ihn zum letzten Male gesehen haben. Im Sommer 1859 erhielt ich die Nachricht, daß er binnen drei Tagen einem heftigen Gelenkrheumatismus erlegen sei. So war ich der Letzte von der Familie.

Mein nächstes Ziel war Frankfurt a.M. Von Langgöns aus benutzte ich die Bahn und kam so noch an demselben Tage den Abend in Frankfurt an, wo ich in der Herberge zum Prinz Karl einkehrte. Arbeit wollte ich noch nicht nehmen, so fuhr ich zwei Tage später mit der Bahn nach Heidelberg. Der Zug, auf dem ich fuhr, hatte statt Glasfenster Vorhänge aus Barchent, die zugezogen werden konnten. Damals bestand noch der Paßzwang, das heißt es bestand für die Handwerksburschen die Verpflichtung, ein Wanderbuch zu führen, in das die Strecken, die sie durchwandern wollten, polizeilich eingetragen — visiert — wurden. Wer kein Visum hatte, wurde bestraft. In vielen Städten, darunter auch in Heidelberg, bestand weiter zu jener Zeit die Vorschrift, daß die Handwerksburschen morgens zwischen 8 und 9 Uhr auf das Polizeiamt kommen mußten, um sich ärztlich, namentlich auf ansteckende Hautkrankheiten, untersuchen zu lassen. Wer die Stunde für diese Visitation übersah, mußte mit der Abreise bis zum nächsten Tage warten, er bekam kein Visum. So erging es mir, weil ich die Vorschrift nicht kannte und auf das Polizeiamt zu spät kam. Von Heidelberg wanderte ich zu Fuß nach Mannheim und von dort nach Speier, woselbst ich Arbeit fand. Die Behandlung war gut und das Essen ebenfalls und reichlich, schlafen mußte ich dagegen in der Werkstatt, in der in einer Ecke ein Bett aufgeschlagen war. Das geschah mir später auch in Freiburg i.B. In jener Zeit bestand im Handwerk noch allgemein die Sitte, daß die Gesellen beim Meister in Kost und Wohnung waren, und diese letztere war häufig erbärmlich. Der Lohn war auch niedrig, er betrug in Speier pro Woche 1 Gulden 6 Kreuzer, etwa 2 Mark. Als ich mich darüber beklagte, meinte der Meister: er habe in seiner ersten Arbeitsstelle in der Fremde auch nicht mehr erhalten. Das mochte fünfzehn Jahre früher gewesen sein. Sobald das Frühjahr kam, litt es mich nicht mehr in der Werkstätte. Anfang April ging ich wieder auf die Walze, wie der Kunstausdruck für das Wandern lautet. Ich marschierte durch die Pfalz über Landau nach Germersheim und über den Rhein zurück nach Karlsruhe und landaufwärts über Baden-Baden, Offenburg, Lahr nach Freiburg i.B., woselbst ich wieder Arbeit nahm. In jenem Frühjahr war die Nachfrage nach Schneidergehilfen ungemein stark; und da ich sehr flott marschierte und im Aeußern der Vorstellung, die man sich von einem Schneidergesellen machte, durchaus entsprach, wurde ich auf dieser Reise öfter schon vor den Toren der Städte von Schneidermeistern angesprochen, die in mir ein Objekt für ihre Ausbeutung zu sehen glaubten. Mehrere wollten nicht glauben, daß ich kein Schneider sei, andere wieder entschuldigten sich, daß sie mich für einen solchen gehalten, „weil ich ganz wie ein Schneider aussähe“.

In Freiburg i.B. verlebte ich einen sehr angenehmen Sommer. Freiburg ist nach seiner Lage eine der schönsten Städte Deutschlands; seine Wälder sind bezaubernd, der Schloßberg ist ein herrliches Stückchen Erde, und zu Ausflügen in die Umgegend locken Dutzende prächtig gelegener Orte. Aber was mir fehlte, war entsprechender Anschluß an gleichgesinnte junge Leute. Ein Zusammenhang mit Fachgenossen bestand zu jener Zeit nicht. Die Zunft war aufgehoben, und neue Gewerksorganisationen gab es noch nicht. Politische Vereine, denen man als Arbeiter hätte beitreten können, existierten ebenfalls nicht. Noch herrschte überall in Deutschland die Reaktion. Für reine Vergnügungsvereine hatte ich aber keinen Sinn und auch kein Geld. Da hörte ich von der Existenz des katholischen Gesellenvereins, der am Karlsplatz sein eigenes Vereinshaus hatte. Nachdem ich mich vergewissert, daß auch Andersgläubige Aufnahme fänden, trat ich, obgleich ich damals Protestant war, demselben bei.

Ich habe nachmals, solange ich in Süddeutschland und Oesterreich zubrachte, in Freiburg und Salzburg dem katholischen Gesellenverein als Mitglied angehört und habe es nicht bereut. Der Kulturkampf bestand zum Glück zu jener Zeit noch nicht. In diesen Vereinen herrschte daher auch damals gegen Andersgläubige volle Toleranz. Der Präses des Vereins war stets ein Pfarrer. Der Präses des Freiburger Vereins war der später im Kulturkampf sehr bekannt gewordene Professor Alban Stolz. Die Mitgliedschaft wurde durch den von den Mitgliedern gewählten Altgesellen repräsentiert, der nach dem Präses die wichtigste Person war. Es wurden zeitweilig Vorträge gehalten und Unterricht in verschiedenen Fächern erteilt, so zum Beispiel im Französischen. Die Vereine waren also eine Art Bildungsvereine; wie diese Gesellenvereine später sich gestaltet haben, darüber vermag ich nichts zu sagen. In dem Vereinszimmer fand man eine Anzahl allerdings nur katholischer Zeitungen, aus denen man aber doch erfahren konnte, was in der Welt vorging. Das war für mich, der schon am Ende der Schuljahre und nachher in den Lehrjahren, als der Krimkrieg entbrannt war, sich lebhaft um Politik bekümmerte, eine Hauptsache.

Auch das Bedürfnis nach Umgang mit gleichaltrigen und strebsamen jungen Leuten fand hier seine Befriedigung. Ein eigenartiges Element im Verein waren die Kapläne, die, jung und lebenslustig, froh waren, daß sie gleichaltrigen Elementen sich anschließen konnten. Ich habe einige Male mit solchen jungen Kaplänen die vergnügtesten Abende verlebt. Einen solchen Abend verlebte ich unter anderen in München, indem ich das Gesellenvereinshaus auf der Rückreise von Salzburg besuchte und darin wohnte, und zwar Anfang März 1860. Verließ das Gesellenvereinsmitglied den Ort, so bekam er ein Wanderbuch mit, das ihn in den Gesellenvereinen und bei den Pfarrherren, falls er bei diesen um Unterstützung vorsprechen wollte, legitimierte. Ich bin noch heute Besitzer eines solchen Buches, in dem auf der ersten Seite der heilige Josef mit dem Christkindlein auf dem Arme abgebildet ist. Der heilige Josef ist der Schutzpatron der Gesellenvereine. Den Gründer derselben, Pfarrer Kolping, damals in Köln, der, irre ich nicht, selbst in seiner Jugend Schuhmachergeselle war, lernte ich in Freiburg im Breisgau kennen, woselbst er eines Tages einen Vortrag hielt.

Im September drängte es mich, weiterzuwandern. Ich verließ Freiburg und marschierte bei herrlichstem Wetter durch das Höllental über den Schwarzwald nach Neustadt, Donaueschingen und Schaffhausen. Ein wunderbarer Anblick war es in jenen Tagen, schon am Nachmittag am Firmament einen gewaltigen Kometen — den Donatischen — zu beobachten, der in seltenem Glanze strahlte und einen Schweif von ungewöhnlicher Länge besaß. Zu jener Zeit stand der Schwarzwald noch in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit. Jahrzehnte später haben die Axt und die Säge große Strecken des prächtigsten Waldes gefällt und gelichtet. Die moderne Entwicklung forderte es. In der Schweiz durfte ich nicht bleiben. Der Aufenthalt in der Schweiz war damals den preußischen Handwerksburschen von ihrer Regierung verboten. War doch der Neuenburger Streit das Jahr zuvor erst zuungunsten der preußischen Regierung beendet worden. Außerdem hätten die Handwerksburschen republikanische Ideen in sich aufnehmen können, und das mußte im Interesse der staatlichen Ordnung verhütet werden. Als ich im Frühjahr 1858 auf der preußischen Gesandtschaft in Karlsruhe um die Erlaubnis zum Aufenthalt in der Schweiz anfragte, wurde mir diese mit Hinweis auf das bestehende Verbot verweigert.

So wanderte ich auf der Schweizer Seite nach Konstanz, fuhr zu Schiff über den Bodensee nach Friedrichshafen, wobei ich infolge eines Sturmes seekrank wurde. Von Friedrichshafen ging der Marsch zu Fuß über Ravensburg, Biberach, Ulm, Augsburg nach München. In Württemberg bestand zu jener Zeit in den Städten die Einrichtung, daß die reisenden Handwerksburschen ein sogenanntes Stadtgeschenk in Empfang nehmen konnten, das in der Regel 6 Kreuzer betrug, um sie vom Fechten abzuhalten. Ich habe dieses Geschenk überall gewissenhaft kassiert. Von Ulm aus schloß sich mir ein stämmiger Tiroler an, der wie ein Fleischer aussah, aber ein Schneider war. Statt eines Berliners trug er einen Militärtornister auf dem Rücken, was ihm, da er auch eine leinene Bluse trug, ein seltsames Aussehen gab. Da unser Geld knapp war und Fechten zu keiner Zeit als Schande für einen Handwerksburschen galt, klopften wir ziemlich häufig die Dörfer ab, die wir passierten. Eines Mittags hatten wir wieder in einem Dorfe einen strategischen Plan entworfen. „Du nimmst die rechte Seite, ich die linke!“ hieß es. Als ich in ein Haus kam und ansprach, erhielt ich von der Tochter mit dem Geschenk zugleich die Warnung, mich in acht zu nehmen, der Gendarm sei in der Nähe. Das ließ ich mir gesagt sein und sprach nicht mehr an. Als ich aber außen vor dem Dorfe ein stattliches Haus stehen sah, allerdings auf der anderen Seite, das aber aussah, als könnten seine Bewohner zwei Handwerksburschen unterstützen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und marschierte drauflos. Glücklicherweise betrachtete ich das Haus mir nochmals von außen, ehe ich die sechs oder sieben Steinstufen hinaufstieg, und da entdeckte ich zu meiner Ueberraschung über der Tür ein Schild mit dem Inhalt: Königlich bayerische Gendarmeriestation. Hier ging ich mit Andacht vorbei und legte mich außerhalb des Dorfes im herrlichsten Sonnenschein auf eine Wiese, um meinen Reisegenossen zu erwarten. Dieser kam endlich angetrappt und marschierte direkt auf das Haus los, das ja auf der ihm zugeteilten Seite lag. Ohne es von außen anzusehen, stieg er die Treppe hinauf und ging hinein. Ich gestehe, daß ich in diesem Augenblick von einem wahren Lachkrampf befallen wurde. Nach einigen Sekunden kam aber der Tiroler zum Hause herausgeschossen, sprang mit einem mächtigen Satze über sämtliche Treppenstufen und rannte, was ihn die Beine tragen konnten, davon. Als ich ihn lachend frug, was denn passiert sei, erzählte er: er sei direkt nach der Kuchel (Küche) gegangen, aus der es sehr gut gerochen habe, dort aber habe ein Gendarm in Hemdärmeln gestanden und ihn angeschnauzt, was er wolle. Er habe natürlich die Situation sofort erkannt und sei spornstreichs zum Hause hinaus.

Anderen Nachmittags kamen wir nach Dachau. Hier machte mein Reisekollege den Vorschlag, wir sollten beide bei den Schneidermeistern Umschau halten, was ich ganz gut könnte, da jeder mich für einen Schneider halte. Es sei hier bemerkt, bei einer Umschau bei den Meistern des Gewerbes fielen die Geschenke wesentlich reichlicher aus, als wenn man focht. Gedacht, getan. Vorsichtshalber ließ ich aber dem Tiroler den Vortritt. Daß dieses klug gehandelt war, zeigte sich sofort. Wir stiegen in einem Hause die Treppe hinauf und läuteten den Meister heraus. Sobald der Tiroler sagte: Zwei zugereiste Schneider bitten um ein Geschenk, antwortete der Meister: Sehr erfreut, ich kann Sie beide gut brauchen, geben Sie mir Ihre Wanderbücher. Hatte er das Wanderbuch in der Hand, so war die Sklavenkette geschmiedet, denn alsdann mußte man zu arbeiten anfangen. Während nun der Tiroler zögernd sein Wanderbuch aus der Rocktasche zog, machte ich rechtsumkehrt und sprang in großen Sätzen die Treppe hinunter und zum Städtchen hinaus. Daß ich den Tiroler als Reisegefährten verlor, bedauerte ich, er war ein guter Kamerad und angenehmer Gesellschafter gewesen.

Von Dachau führte zu jener Zeit eine schnurgerade Straße, die rechts und links mit breitgewachsenen Pappeln besetzt war, nach München. Das Bild der Straße wurde abgeschlossen durch die Türme der Münchener Frauenkirche, den Heinrich Heineschen „Stiefelknecht“, die am Ende der meilenlangen Straße zu stehen schienen. Ich wanderte mißmutig meinen Weg, als hinter mir ein Bauer mit einem Korbwagen erschien, der offenbar nach München fuhr. Ueber den Inhalt des Wagens war eine große Plane gedeckt. Der Weg war noch weit und der Spätnachmittag herangekommen. Ich frug höflich an, ob mir das Aufsitzen gestattet sei. Der Bauer antwortete in seinem bayerischen Deutsch, das ich damals noch nicht verstand, aber seine Worte legte ich als Zustimmung aus. Ich stieg also auf den Wagen und rückte mich behaglich auf der Plane zurecht. Der Bauer sah wiederholt hinter sich und rief mir einiges zu, was ich aber ebenfalls nicht verstand. Endlich zogen wir in München ein. Der Wagen hielt am Karlstor vor einem Kaufmannsladen. Ich sprang ab, zog den Hut und dankte höflich für die Freifahrt. In demselben Augenblick hatte der Bauer die Plane zurückgezogen, an der jetzt ein mehrere Pfund schwerer Butterklumpen klebte. Ich hatte, ohne es zu wissen, mit den Stiefelabsätzen in einem nur mit der Plane bedeckten Butterfaß herumgearbeitet. Sobald ich das angerichtete Unheil sah, wurde ich blutrot, bat um Verzeihung und erklärte mich bereit, den Schaden zu ersetzen. In demselben Augenblick erfolgte eine Lachsalve zweier junger Mädchen, die aus einem Fenster der ersten Etage sahen und das Schauspiel beobachtet hatten. Das machte mich noch verlegener. Der Bauer aber half mir rasch aus der Verlegenheit, indem er auf mein Angebot, Schadenersatz zu leisten, grob antwortete: „Mach', daß du fortkommst, du hast a nix!“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen; in wenigen Sätzen war ich um die Ecke in der Neuhauser Straße. So oft ich nach München ans Karlstor komme, fällt mir dieser Vorgang wieder ein.

In München war ich am Tage nach Schluß der siebenhundertjährigen Feier der Gründung der Stadt angekommen, eine Feier, die eine ganze Woche gewährt hatte und an die sich unmittelbar das Oktoberfest anschloß. Die ganze Bevölkerung war noch in dulci jubilo, und auf der Herberge in der Rosengasse, auf der zu jener Zeit noch stark zünftlerische Sitten herrschten, ging es hoch her. Ich wurde freundlich begrüßt und blieb eine volle Woche in München, in dem es mir ausnehmend gefiel. Aber so sehr ich und meine Kollegen sich bemühten, mir Arbeit zu verschaffen, es war vergeblich. Alle Stellen waren besetzt. Keiner wich. So entschloß ich mich, nach Regensburg zu wandern. Mit noch einem Reisegefährten, der ebenfalls nach dort wollte, begab ich mich an die Isar, um zu sehen, ob wir mit einem Floß bis Landshut fahren könnten. Man hatte uns gesagt, daß wenn wir uns auf dem Floß zum Rudern bereit erklärten, wir gratis mitfahren könnten und auch Verpflegung erhielten. Das erste war richtig, das zweite nicht. Die Isar war um jene Zeit wasserarm und hatte zahlreiche Krümmungen. Mein Reisegefährte — ein Trierer —, der vorne steuerte und ich hinten, machte überdies seine Sache sehr ungeschickt, und so fuhren wir einigemal auf den Sand, was den Flößer in Zorn versetzte, wobei es Schimpfworte regnete. Während einer Ablösung ließ ich mich mit den Passagieren, Bauersleuten und einem Pfarrer, in ein politisches Gespräch ein, das von meiner Seite so hitzig geführt wurde, daß der Flößer drohte, „den verdammten Preiß“ in die Isar zu werfen, wenn er nicht aufhöre, zu disputieren. Ich schwieg, denn mit dem Wasser der Isar im Oktober Bekanntschaft zu machen, hatte ich keine Lust. Als wir in Mosburg, einige Stunden vor Landshut, gegen Abend landeten, schlugen wir uns seitwärts in die Büsche. Wir hatten von der Fahrt genug.

In dem Nachtquartier, das wir bei dunkler Nacht, empfangen von wütendem Hundegebell, in einem Dorfwirtshaus fanden, waren alle Räume überfüllt mit Leuten, die am nächsten Morgen zum Jahrmarkt in Landshut sein wollten. Wir mußten in der Scheune Platz nehmen, in der bereits einige Dutzend Männlein und Weiblein durcheinanderliegend Platz genommen hatten. Kaum lagen wir frierend im Halbschlummer, als wir durch Lärm geweckt wurden. Eine der Frauen, die bereits im Stroh lag, war Zeugin, wie ihr Mann der Magd, die ihn mit einer Laterne in der Hand zum Nachtquartier in die Scheune geleitete, mit einigen derben Zärtlichkeiten dankte. Darauf hielt sie ihm eine Strafpredigt im echtesten Bayerisch, die alle Schläfer aufscheuchte und großes Gelächter hervorrief. Morgens, es war noch pechfinster, suchten wir unseren Ausweg aus der Scheune, wobei wir gewahr wurden, daß wir beide, die wir auf der Höhe eines Heuhaufens uns quartiert hatten, während der Nacht auf entgegengesetzten Seiten heruntergerutscht waren.

In Regensburg fand ich mit einem gleichfalls zugereisten Kollegen aus
Breslau in der gleichen Werkstatt Arbeit. Man hatte mir abgeraten,
dieselbe anzunehmen, der Meister sei in ganz Bayern als der größte
Grobian bekannt. Ich ließ mich aber nicht abschrecken.

In Regensburg erlebte ich nicht viel Bemerkenswertes. Im Kreise der Fachgenossen, in dem ich verkehrte, war mit Ausnahme des Breslauers keiner, der höhere geistige Bedürfnisse hatte. Wer am meisten trank, war der Gefeiertste. So gingen wir beide die meisten Sonntagabende ins Theater, in dem wir natürlich auf den Olymp stiegen, auf dem der Platz 9 Kreuzer kostete. Eines Tages wollten wir aber auch in der Woche uns ein bestimmtes Stück ansehen. Das war aber undurchführbar, weil der Schluß unserer Arbeitszeit mit dem Beginn des Theaters zusammenfiel. Wir gaben also unserer Köchin gute Worte, das Abendessen eine halbe Stunde früher anzurichten, wir würden die Uhr in der Stube entsprechend vorrücken. Damals gab es in Süddeutschland und Oesterreich bei den Meistern stets warmes Abendessen. Nach dem Essen kleideten wir uns rasch um und stürmten nach dem Theater. In demselben Augenblick, in dem wir von der einen Seite in dasselbe traten, kam von der anderen Seite der Meister mit seiner Frau, und in demselben Augenblick schlug auch die Uhr auf einer benachbarten Kirche sieben. Jetzt wäre erst unsere Arbeitszeit zu Ende gewesen. Wir waren verraten. Merkwürdigerweise sagte der Meister am nächsten Tage zu uns kein Wort, aber zur Köchin äußerte er: „Hören Sie, Kathi, nehmen Sie sich vor den Preißen in acht, die haben gestern abend die Uhr um eine halbe Stunde vorgerückt.“

Von Regensburg aus stattete ich auch einen Besuch der Walhalla ab, die oberhalb Donaustauf von der Bergeshöhe einen weiten Blick in die Ebene gewährt. Bekanntlich ist Ludwig I. von Bayern, der „Teutsche“, der Erbauer der Walhalla, in der zu jener Zeit unter den aufgestellten Büsten der Berühmtheiten diejenige Luthers fehlte.

Der Winter von 1858 auf 1859 war ein sehr langer und strenger. Hohe Kälte setzte bereits Mitte November ein. Ein Streit mit dem Meister veranlaßte mich, schon am 1. Februar, trotz Kälte und Schnee, auf die Reise zu gehen. Der Breslauer schloß sich mir an. Wir marschierten zunächst nach München, woselbst wir abermals vergeblich um Arbeit anklopften. Nunmehr marschierten wir weiter über Rosenheim nach Kufstein. Der Eintritt nach Oesterreich machte uns Kopfzerbrechen. Damals wurde an der Grenze von jedem Handwerksburschen, der nach Oesterreich wollte, der Nachweis von fünf Gulden Reisegeld verlangt. Diese hatten wir aber nicht. So verfielen wir auf die Idee, von der letzten bayerischen Station die Bahn nach Kufstein zu benützen. Um möglichst als Gentlemen auszusehen, putzten wir extrafein unsere Stiefel und Kleider und steckten einen weißen Kragen auf. Unsere List hatte den gewünschten Erfolg. Unser sauberes Aussehen und die Tatsache, daß wir mit der Bahn ankamen, täuschte die Grenzbeamten; sie ließen uns unbeanstandet passieren. Bei starker Kälte und meterhohem Schnee ging die Reise zu Fuß durch Tirol. Die Kälte und der Schnee trieben die Gemsen aus dem Gebirge herab, deren Lockrufe wir auf dem Marsch in der Abenddämmerung hörten. Sehr verwundert waren wir, beim Fechten reichlich Geld zu erhalten, und zwar Kupferstücke in der Größe unserer heutigen Zweimarkstücke. Als wir am ersten Abend in das Gasthaus traten, trugen wir schwer an der Last der erfochtenen Münzen. Als wir aber am nächsten Morgen unsere kleine Rechnung beglichen, mußten wir den halben Wirtstisch mit diesen Kupfermünzen bedecken. Es stellte sich heraus, daß dieselben in wenig Wochen wertlos wurden, weil die österreichische Regierung neue Münzen herausgegeben hatte. So löste sich das Rätsel von der großen Freigebigkeit, man war froh, das wertlos werdende Geld los zu sein.

Endlich marschierten wir nach einer Reihe Tage über Reichenhall direkt nach Salzburg, das wir an einem Nachmittag bei wundervollem Sonnenschein erreichten. Wir standen wie gebannt, als wir bei dem Marsch um einen niederen Gebirgsrücken (den Mönchsberg) die Stadt mit ihren vielen Kirchen und der italienischen Bauart, überragt von der Feste Salzburg, vor uns liegen sahen.

Was mir im späteren Leben als ein Rätsel erschien, war, daß ich von all den Märschen, bei denen ich oft bis auf die Haut durchnäßt wurde und jämmerlich fror, nie eine ernste Krankheit davontrug. Meine Kleidung war keineswegs solchen Strapazen angepaßt, wollene Unterwäsche war ein unbekannter Luxus und ein Regenschirm wäre für einen wandernden Handwerksburschen ein Gegenstand des Spottes und Hohnes geworden. Oft bin ich morgens in die noch feuchten Kleider geschlüpft, die am Tage vorher durchnäßt wurden und am nächsten Tage das gleiche Schicksal erfuhren. Jugend überwindet viel.

In Salzburg fand ich Arbeit, wohingegen mein Reisegefährte, nachdem ich ihm mit dem Rest meines Geldes nach Kräften ausgeholfen, weiter nach Wien reiste. In Salzburg verblieb ich bis Ende Februar 1860. Bekanntlich ist Salzburg nach seiner Lage eine der schönsten Städte Deutschlands, denn damals gehörte es noch zu Deutschland; aber es steht im Rufe, im Sommer sehr viel Regentage zu haben. Eine Ausnahme machte der Sommer 1859, der wunderbar genannt werden mußte. Der Sommer 1859 war aber auch ein Kriegssommer. Der Krieg zwischen Oesterreich auf der einen und Italien und Frankreich auf der anderen Seite war in Norditalien entbrannt. Dadurch wurde das Leben in Salzburg insofern besonders interessant, als Massen Militär aller Waffengattungen und Nationalitäten singend und jubelnd nach Südtirol zogen. Einige Monate später kamen die Armen niedergedrückt als Besiegte zurück, gefolgt von Hunderten von Wagen mit Verwundeten und Maroden. Zunächst aber herrschte siegesfreudige Zuversicht. Ich war über die politischen Ereignisse so aufgeregt, daß ich an Sonntagen, für andere Tage hatte ich weder Zeit noch Geld, nicht aus dem Café Tomaselli ging, bis ich fast alle Zeitungen gelesen hatte. Als Preuße hatte man zu jener Zeit in Oesterreich einen schweren Stand. Daß Preußen zögerte, Oesterreich zu Hilfe zu kommen, sahen die Oesterreicher als Verrat an. Als guter Preuße, der ich damals noch war, suchte ich die preußische Politik zu verteidigen, kam aber damit übel an. Mehr als einmal mußte ich mich vom Wirtschaftstisch entfernen, wollte ich nicht eine Tracht Prügel einheimsen. Als dann aber die freiwilligen Tiroler Jäger aus Wien, Nieder- und Oberösterreich nach Salzburg kamen und auch dort ihr Werbebureau aufschlugen, packte mich die Abenteurerlust. Mit noch einem Kollegen, einem Ulmer, meldeten wir uns als Freiwillige, erhielten aber die Antwort: daß sie Fremde nicht brauchen könnten, nur Tiroler fänden Aufnahme. War es nun hier nichts mit dem Mitdabeisein, so entschloß ich mich, als jetzt verlautete, daß Preußen mobil mache, mich in der Heimat als Freiwilliger zu melden. Ich schrieb sofort an meinen Vormund: er möge mir zu diesem Zwecke einige Taler Reisegeld senden. Nach einiger Zeit kam auch das Geld — sechs Taler — an, aber jetzt bedurfte ich desselben als Reisegeld nicht mehr, denn mittlerweile war der Friede von Villafranca geschlossen worden. Der Krieg war zu Ende. Dagegen leistete mir das Geld gute Dienste, als ich im nächsten Frühjahr nach Wetzlar reiste.

Die Löhne waren auch in Salzburg — wie überall in der Drechslerei — schlechte. Da war sparen schwer. Ich hatte mir im Spätherbst den ersten Winterrock auf Abzahlung gekauft; und als gewissenhafter Mensch sparte ich nicht nur, ich darbte, um die wöchentlichen Raten zahlen zu können. Dabei drückte mich noch eine große Sorge. Die Arbeit war knapp, und ich fürchtete, als Jüngster in der Werkstatt nach Neujahr die Kündigung zu erhalten. Das hatte die Meisterin durch meinen Kollegen erfahren. Als ich nun ihr und dem Meister am Neujahrstag gratulierte, gab sie mir die tröstliche Versicherung, daß ich bis zu meiner Heimreise in Arbeit bleiben könne. Damit fiel mir ein Stein vom Herzen. Unwillkürlich dachte ich an den Neujahrsempfang, den der österreichische Gesandte, Baron von Hübner, das Jahr zuvor bei der Gratulationscour in den Tuilerien gehabt hatte, bei der die Ansprache Napoleons an Hübner als die Einläutung zum italienischen Krieg angesehen wurde.

In Salzburg bestand ein katholischer Gesellenverein mit über 200 Mitgliedern, unter denen sich nicht weniger als 33 Protestanten, fast alle Norddeutsche, befanden. Ich trat ebenfalls dem Verein bei, aus den schon oben angeführten Gründen. Präses des Vereins war ein Dr. Schöpf, Professor am dortigen Priesterseminar. Schöpf war ein junger, bildschöner Mann mit einem äußerst liebenswürdigen und jovialen Wesen. Er soll dem Jesuitenorden angehört haben. Schöpf wußte natürlich, daß eine Anzahl Protestanten seinem Verein angehörten.

In einer Vereinsversammlung erklärte er eines Tages offen, daß ihm die Protestanten die liebsten seien, weil sie zu den fleißigsten Besuchern des Vereins gehörten. Jeden Sonntag abend hielt er einen stets stark besuchten Vortrag, der ein reiner Moralvortrag war, den jeder, wes Glaubens er immer war, ohne Bedenken besuchen konnte. Ich wurde mit Dr. Schöpf bekannt, und auf seine Einladung besuchte ich ihn öfter Sonntag nachmittag in seiner Wohnung, wo wir uns namentlich über die Zustände in Deutschland und Oesterreich unterhielten, und er überraschend freie Anschauungen äußerte.

Weihnachten rückte heran, und es sollte wie üblich vom Verein eine Weihnachtsfeier veranstaltet werden. Im Verein hatte sich eine kleine Musikkapelle und ein Gesangverein gebildet. Diese sollten bei jener Gelegenheit Vorträge zum besten geben. Außerdem sollten nach Dr. Schöpfs Vorschlag eine Anzahl Mitglieder, die verschiedenen deutschen Volksstämmen angehörten, Deklamationen vortragen. Ich wurde als Repräsentant der Rheinländer hierzu ausersehen. Ich hatte ein Gedicht „Die Zigarren und die Menschen“ vorzutragen. Die Uebungen fanden in Dr. Schöpfs Wohnung statt, wobei er uns mit Bier und Brot regalierte. Bei diesen Uebungen passierte mir, daß ich fast immer einen Fehler im Schlußreim machte, indem ich ein Wort anwandte, das wohl zum Reim, aber nicht zum Sinne des Gedichtes paßte. Dr. Schöpf warnte mich nachdrücklich, doch ja am Festabend den Fehler nicht zu machen. Der Festtag (19. Dezember) kam. Dem Fest wohnte eine illustre Gesellschaft bei! Der Fürstbischof von Salzburg, der Abt von Sankt Peter und eine Anzahl anderer Geistlicher, auch Vertreter der Behörden. Endlich kam auch mein Vortrag an die Reihe. Kurz vor meinem Auftreten ermahnte mich Dr. Schöpf nochmals, mich ja in acht zu nehmen, was ich ihm feierlichst versprach. Aber mit des Geschickes Mächten ist kein ew'ger Bund zu flechten, und das Schicksal eilet schnell. Abermals machte ich den Sprechfehler, worauf im Hintergrund des Saales Dr. Schöpfs Arm auftauchte, der mir mit der Faust drohte. Das Unglück war aber geschehen, ich glaube, die meisten haben es nicht einmal bemerkt. Im übrigen verlief die Feier sehr gemütlich, und ich ging, ohne Schaden an meiner Seele genommen zu haben, vergnügt nach Hause.

Im März ist der St. Josefstag, der in Oesterreich ein hoher Feiertag ist. St. Josef ist, wie ich schon anführte, der Schutzpatron der katholischen Gesellenvereine. Einige Zeit vor diesem Tage hielt Schöpf eine eindringliche Rede an die katholischen Mitglieder des Vereins, daß sie an diesem Tage vollzählig zur Kirche gehen möchten. Er wisse wohl, äußerte er, daß junge Leute sich gern darum drückten, aber diesmal gehe es nicht, man dürfe ihn nicht blamieren, denn die Kaiserin — die Witwe des Kaisers Ferdinand, die in Salzburg wohnte —, die viel für den Verein tue, werde es sicher erfahren. Den Nachmittag, setzte er schmunzelnd hinzu, machen wir dann eine Wallfahrt nach Maria-Plain, ein Wallfahrtsort, dessen Kirche auf einem Hügel mitten in der Ebene, eine gute Stunde von Salzburg, prachtvoll gelegen ist. Dort werde auf Kosten der Kasse ein Faß Bier ausgelegt, das zweite zahle er, er sei sicher, hierbei fehle niemand. Alle lachten. Ich glaube, er behielt recht. Die Wallfahrt fand statt, wir Nichtkatholiken marschierten wohlgemut und vollzählig im Zug, hinter der Fahne, die der Altgeselle trug, auf der der heilige Josef mit dem Christkind auf dem Arme abgebildet war. In Maria-Plain angekommen, besahen wir uns die überreich geschmückte Kirche. Dann ging es zum Trunk. Die Fässer wurden rasch geleert, gar mancher ging wankenden Schrittes nach Salzburg zurück. Der Zug war aufgelöst. Wie die Fahne mit dem heiligen Josef wieder nach Salzburg kam, weiß ich bis heute nicht.

Dr. Schöpf, ich und ein Hannoveraner traten zusammen den Rückweg an. In der Stadt angekommen, führte er uns in ein Café, in dem wir eine Partie Billard spielten. Es war für mich die erste und letzte, die ich in meinem Leben spielte. Natürlich verloren wir zwei, aber Dr. Schöpf zahlte.

Ende Februar 1860 reiste ich nach Hause. Einige dreißig Jahre später schickte mir ein Ritter v. Pfister aus Linz einen Brief nach Berlin, in dem es hieß: er habe nach Berlin reisen wollen und habe bei dieser Gelegenheit mir einen Gruß vom Domherrn Dr. Schöpf in Salzburg überbringen sollen, er sei aber durch Krankheit an der Reise verhindert worden, so schicke er mir brieflich dessen Gruß. Wieso Dr. Schöpf sich meiner erinnerte, ist mir ein Rätsel geblieben. Er konnte unmöglich annehmen, daß der neunzehn- bis zwanzigjährige junge Drechslergeselle — wenn er sich überhaupt dessen entsann — der spätere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete war. Solch tiefen Eindruck hatte ich sicher nicht auf ihn gemacht. Ich nehme vielmehr an, daß Kollegen aus dem Zentrum, denen ich gelegentlich meine Salzburger Erlebnisse erzählte, den Domherrn davon unterrichtet hatten. Als ich Anfang dieses Jahrhunderts nach langer Zeit wieder einmal nach Salzburg kam, war Dr. Schöpf einige Jahre zuvor gestorben. Die joviale, heitere Natur und die volle Lebensfreude soll er sich bis an sein Ende bewahrt haben.

Ich will die Mitteilungen über meinen Salzburger Aufenthalt nicht schließen, ohne noch eines Vorgangs zu erwähnen, der damals unter uns jungen Leuten erzählt und viel belacht wurde. Zu jener Zeit lebte im Sommer König Ludwig I. von Bayern, der bekanntlich wegen der Lola-Montez-Affäre die Regierung niederlegte, in Schloß Leopoldskron, in nächster Nähe Salzburgs. Der König, ein hoch aufgeschossener Herr, der im grauen Sommeranzug, den Kopf mit einem großen, etwas ramponierten Strohhut bedeckt und mit einem starken Krückstock in der Hand, öfter an unserer Werkstatt vorbeipassierte, liebte es, in der Umgebung Salzburgs allein Spaziergänge zu machen. Eines Tages machte er wieder einen solchen und sieht, wie ein Knabe sich abquält, Aepfel von einem Baume herunterzuwerfen. Der König tritt zu dem Knaben und sagt: „Schau, das mußt du so machen!“ und schleudert seinen Krückstock mit bestem Erfolg in die Aeste des Baumes. Das hatte aber aus dem in der Nähe liegenden Hause die Bäuerin beobachtet, die jetzt hochrot vor Zorn in die Tür trat und dem König, den sie nicht kannte, zurief: „Du alter Lackl, schamst di net, den Buam bein Aepflstehln z'helfe!“ Der König nahm seinen Krückstock und trollte sich von dannen. Am nächsten Morgen erschien ein Diener und brachte der Bäuerin einen Gulden mit der Bemerkung: das sei für die Aepfel, die gestern der Herr vom Baum geschlagen habe. Auf ihre Frage, wer denn der Herr gewesen sei, erfolgte die sie höchst überraschende Antwort: der König Ludwig.

Wenn ich hier einen verstorbenen Bayernkönig des Obstfrevels bezichtige, will ich wahrheitsgemäß hinzufügen, daß auch ich in dieser Beziehung nicht ohne Fehl und Sünde war. Es waren die prachtvollen Pfirsiche im Mirabellengarten, der dem Fürstbischof gehörte, die es mir angetan hatten. Ich konnte bei mehreren Spaziergängen in dem Garten der Versuchung nicht widerstehen, einige der Früchte mir anzueignen. Ich nehme an, dem Fürstbischof hat mein Obstfrevel nicht geschadet, und mir bekamen die Früchte vorzüglich. Auch meine Gewissensbisse verschwanden, als ich las, daß der heilige Ambrosius, der gegen Ende des vierten Jahrhunderts Bischof von Mailand gewesen war, geäußert habe:

„Die Natur gibt alle Güter allen Menschen gemeinsam; denn Gott hat alle Dinge geschaffen, damit der Genuß für alle gemeinschaftlich sei. Die Natur hat also das Recht der Gemeinschaft erzeugt, und es ist nur die ungerechte Anmaßung (usurpatio), die das Eigentumsrecht erzeugte.“

Konnte mein Tun glänzender entschuldigt, ja gerechtfertigt werden?

Zurück nach Wetzlar und weiter!

Am 27. Februar 1860 trat ich die Heimreise an. Bahnen gab es zu jener Zeit im südöstlichsten Bayern noch nicht, außerdem reiste damals der Handwerksbursche am billigsten zu Fuß, wenn er sich ein bißchen mit aufs Fechten verlegte. Das Wetter war wieder miserabel. Als ich eines Tages bei stürmischem Schneewetter, das mir ins Gesicht schlug, die Hände in den Hosentaschen, den Stock unter dem Arme und die Hutkrempe ins Gesicht gezogen, auf der Straße über den fränkischen Landrücken stapfte, wurde ich plötzlich am Arm gepackt und in den Straßengraben geschleudert. Als ich verwundert aufschaute, war es das Pferd vor einem mir entgegenkommenden Fuhrwerk, das mich klugerweise am Arme gepackt und beiseite geschleudert hatte. Bei dem stürmischen Wetter hatte ich das herankommende Fuhrwerk weder gesehen noch gehört.

Um Mitte März kam ich nach mehr als zweijähriger Abwesenheit wieder in
Wetzlar an.

Bei der Militäraushebung wurde ich wegen allgemeiner Körperschwäche um ein Jahr zurückgestellt. Dasselbe passierte mir die nächsten Jahre bei der Gestellung in Halle a.S., so daß ich schließlich als militäruntauglich entlassen wurde. Einstweilen trat ich, da eine Arbeitsstelle in Wetzlar nicht zu haben war, bei einem jüdischen Drechslermeister in Butzbach, zwei Meilen von Wetzlar, in Arbeit. Als aber die Jahreszeit immer schöner wurde und eines Tages drei meiner Schulfreunde mit dem Berliner auf dem Rücken in die Werkstatt traten und mir mitteilten, daß sie sich auf der Wanderschaft nach Leipzig befänden, „da zog es mich mächtig hinaus“, wie es im Handwerksburschenlied heißt, und ihnen nach. Ich versprach meinen Freunden, binnen drei Tagen zu folgen, und hoffte sie einzuholen, falls sie nicht zu große Märsche machten. Ich konnte dieses Angebot riskieren, denn im Marschieren war mir zu jener Zeit keiner über.

Ich hatte bisher nicht die geringste Sehnsucht gehabt, Leipzig und Sachsen kennen zu lernen, und wäre es auf mich angekommen, ich hätte damals Leipzig und Sachsen nicht gesehen. Und doch war diese Reise in mehr als einer Richtung entscheidend für meine ganze Zukunft. So entscheidet sehr oft der Zufall über das Schicksal des Menschen.

Ich möchte hier einschalten, daß ich von dem Satze: der Mensch ist seines Glückes Schmied, blutwenig halte. Der Mensch folgt stets nur den Umständen und Verhältnissen, die ihn umgeben und ihn zu seinem Handeln nötigen. Es ist also auch mit der Freiheit seines Handelns sehr windig bestellt. In den meisten Fällen kann der Mensch die Konsequenzen seines momentanen Handelns nicht übersehen; er erkennt erst später, zu was es ihn geführt hat. Ein Schritt nach rechts statt nach links, oder umgekehrt, würde ihn in ganz andere Verhältnisse gebracht haben, die wiederum bessere oder schlechtere sein könnten als jene, in die er auf dem eingeschlagenen Wege gekommen ist. Den klugen wie den falschen Schritt erkennt er in der Regel erst an den Folgen. Oftmals kommt ihm aber auch die richtige oder falsche Natur seines Handelns nicht zum Bewußtsein, weil ihm die Möglichkeit des Vergleichs fehlt. Der Selfmade-man existiert nur in sehr bedingtem Maße. Hundert andere, die weit ausgezeichnetere Eigenschaften haben als der eine, der obenauf gekommen ist, bleiben im verborgenen, leben und gehen zugrunde, weil ungünstige Umstände ihr Emporkommen, das heißt die richtige Anwendung und Ausnutzung ihrer persönlichen Eigenschaften verhinderten. Die „glücklichen Umstände“ geben erst dem einzelnen den richtigen Platz im Leben. Für unendlich viele, die diesen richtigen Platz nicht erhalten, ist des Lebens Tafel nicht gedeckt. Sind aber die Umstände günstig, so muß allerdings die nötige Anpassungsfähigkeit vorhanden sein, sie auszunutzen. Das kann man als das persönliche Verdienst des einzelnen ansehen.

Ich holte die drei Freunde ein, noch ehe sie Thüringen erreicht hatten, und kam gerade recht, um den einen, der bereits wunde Füße hatte, hilfreich unter den Arm zu nehmen, was beim Durchwandern der Orte bei den Bewohnern öfters Heiterkeit erregte. Wir passierten Ruhla, Eisenach, Gotha und kamen nach Erfurt. Hier übernachteten wir zum ersten Male in der Herberge eines christlichen Jünglingsvereins. Aber nur einmal und nicht wieder. Das muckerische, schleichende Wesen des Herbergsvaters widerte mich an. Am Abend mußten wir auf Kommando gemeinsam zu Bett gehen. Als wir die erste Etage erstiegen hatten, öffnete sich die Tür zu einem kleinen Saal, und eine Choralmelodie tönte uns entgegen, die ein glatt gescheitelter, hellblonder Jüngling auf einem Harmonium spielte. Ueberrascht traten wir ein, neugierig auf die Dinge, die da kommen würden. Darauf trat der Herbergsvater auf ein Podium und las aus einem Gesangbuch einen Vers Zeile für Zeile vor. Die zitierte Zeile hatten wir unter Begleitung durch das Harmonium nachzusingen. Aehnliches war mir in einem katholischen Gesellenvereinshaus nicht passiert. In München zum Beispiel war an der Wand der Stube, in der wir zu zweit schliefen, ein gedrucktes Gebet angeschlagen mit dem Ersuchen, es vor dem Zubettgehen zu beten. Von einem moralischen Zwang keine Spur. Ich wiederhole, wie es seitdem in den katholischen Gesellenvereinen geworden ist, weiß ich nicht.

In Erfurt fing der geschilderte Vorgang an, uns zu amüsieren. Wir brüllten wie Löwen die vorgespielte Melodie mit dem zitierten Text. Dann ging's höher hinauf in den Schlafsaal. Nachdem vorschriftsmäßig unsere Hemdkragen auf fremde Bewohner untersucht worden waren, stiegen wir zu Bett. Darauf entfernte sich der Herbergsvater mit dem Licht, und schwarze Dunkelheit herrschte. Jetzt ging aber unter den Dutzenden junger Leute, unter denen fast alle deutschen Landsmannschaften vertreten waren, ein Ulken und Spotten los, wie es mir bisher noch nicht zu Ohren gekommen war. Die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als in der entfernteren Ecke des Saales ein Schlafgenosse aus Württemberg im unverfälschtesten Schwäbisch einige humoristische Bemerkungen machte. Erst spät nahm der Lärm ein Ende. Nächsten Tages marschierten wir nach Weimar. Hier erklärten meine Begleiter, nicht weitergehen zu können, denn alle drei hatten sich die Füße wundgelaufen; sie wollten mit der Bahn nach Leipzig fahren. Ich protestierte dagegen, denn mein Geld war sehr knapp, und was dann, wenn es in Leipzig keine Arbeit gab? Doch mein Protest half nichts, wollte ich nicht allein reisen, so mußte ich mitfahren. Am 7. Mai 1860, abends 11 Uhr, kamen wir in Leipzig an und frugen uns durch nach der Herberge in der Großen Fleischergasse. Als wir nächsten Tages beim herrlichsten Maiwetter die Stadt und die in voller Frühjahrspracht stehenden Promenaden besichtigten, gefiel mir Leipzig ungemein. Ich hatte auch Glück und bekam Arbeit, und zwar in einer Werkstatt, in der ich den Artikel kennen lernte, auf den ich mich später selbständig machte. Traf ich vierundzwanzig Stunden später in Leipzig ein, so wäre die Stelle von einem anderen besetzt worden. So entschied hier wieder „ein Augenblick des Glückes“ über meine Zukunft. Zum zweitenmal arbeitete ich in einer größeren Werkstatt. Es wurden fünf Kollegen und ein Lehrling neben mir beschäftigt. Meister und Kollegen gefielen mir, die Arbeit auch, bei der sich etwas lernen ließ. Was mir aber nicht gefiel, war der schlechte Kaffee, den wir morgens erhielten, und das an Quantität und Qualität äußerst mangelhafte Mittagessen. Frühstück, Vesper und Abendbrot mußten wir uns selbst stellen. Die Schlafstelle war beim Meister; wir schliefen sieben Mann in einer geräumigen Bodenkammer. Ich fing sehr bald an, gegen die Kost zu rebellieren. In einigen Wochen hatte ich die Kollegen so weit, daß sie sich zu einer gemeinsamen Beschwerde bei dem Meister verstanden, wobei wir erklärten, gemeinsam die Arbeit einzustellen, falls unsere Beschwerde keinen Erfolg hätte. Wir drohten also mit Streik, noch ehe einer von uns dieses Wort gehört hatte. Die Form der Abwehr ergab sich eben aus der Sache selbst. Der Meister war äußerst betreten, er erklärte, er verstehe die Klagen nicht, ihm schmecke das Essen ausgezeichnet. Das war natürlich. Er aß mit seiner Familie später als wir und bekam ein anderes Essen. Das wußte er nicht. Nach wiederholten Verhandlungen erreichten wir, daß wir gegen entsprechende Entschädigung von seiner Seite die Selbstbeköstigung durchsetzten, wobei er, wie er behauptete, finanziell noch profitierte. Er hatte seiner Frau mehr für unsere Verpflegung zahlen müssen, als wir forderten. Später erreichten wir durch hartnäckiges Liegenbleiben im Bett, daß der Beginn der Arbeitszeit von morgens 5 Uhr auf 6 Uhr hinausgeschoben wurde. Noch später setzten wir auch die Stückarbeit durch, auf die der Meister nicht eingehen wollte, weil er fürchtete, schlechte Arbeit geliefert zu bekommen, worin er sich täuschte, wie er sich nachher überzeugte. Schließlich erlangten wir auch das Wohnen außer dem Hause.

Mein Eintritt in die Arbeiterbewegung und das öffentliche Leben.

Die Uebernahme der Regentschaft in Preußen durch den Prinzen Wilhelm von Preußen, den Bruder König Friedrich Wilhelms IV., sowie der italienische Krieg hatten das Volk mächtig aufgerüttelt. Der Druck der Reaktionsjahre, der seit 1849 auf dem Volke lastete, war gewichen. Insbesondere war es die liberale Bourgeoisie, die jetzt sich politisch zu regen begann, nachdem sie während der Reaktionsjahre ihre ökonomische Entwicklung nach Kräften gefördert hatte und sehr viel reicher geworden war. Immerhin kann ihre damalige Entwicklung keinen Vergleich aushalten mit der Entwicklung, die ihr Wirtschaftssystem nach 1871 und besonders seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erlangt hat.

Die Bourgeoisie verlangte jetzt ihren Anteil an den Staatsgeschäften, sie wollte nicht nur in Preußen parlamentarisch herrschen, in ihrer großen Mehrheit erstrebte sie auch eine Einheit Deutschlands unter preußischer Spitze, um ganz Deutschland politisch und wirtschaftlich zu einem von einheitlichen Grundsätzen geleiteten Staatswesen zu machen, wie das durch die Revolution von 1848 und 1849 und das damalige deutsche Parlament vergeblich versucht worden war. Dieses Bestreben kam durch die Gründung des Deutschen Nationalvereins im Jahre 1859 zum Ausdruck, dessen Präsident Rudolf v. Bennigsen wurde. Die Berufung des altliberalen Ministeriums Auerswald-Schwerin durch den Prinzregenten schwellte die Hoffnungen des Liberalismus. Das veröffentlichte Programm des Prinzregenten hätte freilich große Hoffnungen nicht gerechtfertigt, wogegen ihn auch seine Vergangenheit und namentlich seine Rolle in den Revolutionsjahren hätte schützen sollen. Aber die liberale Bourgeoisie sah eine neue Aera hereinbrechen.

Der Liberalismus ist stets hoffnungsselig, sobald ihm nur der Schein eines liberalen Regimentes winkt, soviel Enttäuschungen er auch im Laufe der Jahrzehnte erlebte. Weil ihm selbst der Mut und die Energie zu kräftigem Handeln fehlt und er vor jeder wirklichen Volksbewegung Angst hat, setzt er seine Hoffnungen stets auf die Regierenden, die ihm scheinbar oder wirklich etwas entgegenkommen. Durch den Enthusiasmus und das blinde Vertrauen, das er solchen Persönlichkeiten entgegenbringt, hofft er dieselben seinen Interessen dienstbar zu machen. Im vorliegenden Falle wurden die Blüten seiner Hoffnungen bald genug geknickt. Der Prinzregent, vom Scheitel bis zur Sohle Soldat, empfand zunächst das Bedürfnis einer gründlichen Militärreform auf Kosten der bis dahin geltenden Landwehreinrichtungen. Nach seiner Auffassung hatte sich die geltende preußische Heeresorganisation während und nach der Revolution, sowie bei der Mobilmachung im Jahre 1859 nicht bewährt. Die Verwirklichung seiner Pläne kostete aber nicht nur viel mehr Geld, sie verstießen auch gegen die Traditionen, die sich im Volke seit 1813 über die Brauchbarkeit der Landwehr gebildet hatten; außerdem wurde in der neuen Organisation die Verlängerung der Dienstzeit von zwei auf drei Jahre und für die Reserve von zwei auf vier Jahre verlangt.

Die Landwehr hatte allerdings in den Revolutionsjahren hier und da versagt, sie fühlte sich zu sehr eins mit dem Volke und war nicht ohne weiteres für reaktionäre Handstreiche zu haben, und für einen Krieg, der nicht populär war, war sie ebenfalls schwer zu brauchen. Das war es aber, was den Prinzregenten mit bewegte, sie bei der neuen Organisation nach Möglichkeit in den Hintergrund zu drängen. Als aber die Reorganisation ohne die ausdrückliche Zustimmung der Kammer, die, kurzsichtig genug, zunächst die Mittel provisorisch bewilligt hatte, definitiv eingerichtet wurde, begannen die Liberalen, die in der Zweiten Kammer die Mehrheit hatten, aufsässig zu werden. Allein der Prinzregent ließ sich nicht irre machen und reorganisierte weiter. Das rief den Konflikt hervor. Die Wahlen im Dezember 1861 verstärkten die Opposition. Obgleich die Regierung durch Gewährung liberaler Konzessionen (Ministerverantwortlichkeitsgesetz und eine neue Kreisordnung) die Kammer zu gewinnen suchte, lehnte diese jetzt die geforderten Kosten für die Heeresorganisation ab. Darauf erfolgte im März 1862 die Auflösung der Kammer, die aber das Resultat hatte, daß bei den Neuwahlen im Mai dieselbe noch weit radikaler zusammengesetzt wurde. Die Konservativen waren auf elf Mann zusammengeschmolzen.

Der Konflikt spitzte sich immer mehr zu, und der König, der keinen Rat mehr wußte, berief jetzt Herrn v. Bismarck, der preußischer Gesandter bei dem Bundestag in Frankfurt a. M. war — September 1862 —, an die Spitze des mittlerweile konservativ zusammengesetzten Ministeriums. Das war derselbe Bismarck, den schon 1849 Friedrich Wilhelm IV. als roten Reaktionär, der nach Blut rieche, bezeichnet hatte. Der Konflikt zwischen Regierung und Kammer erlangte damit seinen Höhepunkt.

In der deutschen Frage war mittlerweile ebenfalls die Bewegung in ganz Deutschland immer lebendiger geworden und schlug hohe Wogen. Der Nationalverein verlangte die Einberufung eines deutschen Parlamentes auf Grund der Reichsverfassung und des Wahlgesetzes von 1849. Zugleich sollte Preußens Rivale, Oesterreich, in Rücksicht auf seine starken nichtdeutschen Bevölkerungsteile aus diesem neuen Reiche hinausgedrängt werden. Die Mehrheit des Nationalvereins wollte ein Kleindeutschland bilden im Gegensatz zu jenen, die Deutsch-Oesterreich nicht ausgeschlossen sehen wollten und sich deshalb Großdeutsche nannten. Diese Gegensätze beherrschten die Kämpfe für die Lösung der deutschen Frage in der ersten Hälfte der sechziger Jahre. Daneben ging die sogenannte Triasidee, wonach neben Oesterreich und Preußen die Mittel- und Kleinstaaten eine Vertretung in der künftigen Reichsbildung forderten, die aus einem dreiköpfigen Direktorium bestehen sollte.

Den Umfang, den die Bewegung angenommen hatte, und die große Bedeutung, die sie noch erlangen konnte, veranlaßt die weitsichtigeren Liberalen, beizeiten ihr Augenmerk auf die Arbeiter zu richten und diese für ihre politischen Ziele zu gewinnen. Was sich in den letzten fünfzehn Jahren in Frankreich abgespielt hatte, die rapide Entwicklung der sozialistischen Ideen, die Junischlacht, der Staatsstreich Louis Bonapartes und seine demagogische Ausnutzung der Arbeiter gegen die liberale Bourgeoisie, ließ es den Liberalen ratsam erscheinen, womöglich ähnlichen Vorkommnissen in Deutschland vorzubeugen. So benutzten sie vom Jahre 1860 ab den Drang der Arbeiter nach Gründung von Arbeitervereinen und förderten diese, an deren Spitze sie ihnen zuverlässig erscheinende Personen zu bringen suchten.

Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands hatte zwar in jener Zeit erhebliche Fortschritte gemacht, aber immerhin war Deutschland damals noch überwiegend ein kleinbürgerliches und kleinbäuerliches Land. Drei Viertel der gewerblichen Arbeiter gehörten dem Handwerk an. Mit Ausnahme der Arbeit in der eigentlichen schweren Industrie, dem Bergbau, der Eisen- und Maschinenbauindustrie, wurde die Fabrikarbeit von den handwerksmäßig arbeitenden Gesellen mit Geringschätzung angesehen. Die Produkte der Fabrik galten zwar als billig, aber auch als schlecht, ein Stigma, das noch sechzehn Jahre später der Vertreter Deutschlands auf der Weltausstellung in Philadelphia, Geheimrat Reuleaux, der deutschen Fabrikarbeit aufdrückte. Für den Handwerksgesellen galt der Fabrikarbeiter als unterwertig, und als Arbeiter bezeichnet zu werden, statt als Geselle oder Gehilfe, betrachteten viele als eine persönliche Herabsetzung. Zudem hatte die große Mehrzahl dieser Gesellen und Gehilfen noch die Ueberzeugung, eines Tages selbst Meister werden zu können, namentlich als auch in Sachsen und anderen Staaten anfangs der sechziger Jahre die Gewerbefreiheit zur Geltung kam. Die politische Bildung dieser Arbeiter war sehr gering. In den fünfziger Jahren, das heißt in den Jahren der schwärzesten Reaktion groß geworden, in denen alles politische Leben erstorben war, hatten sie keine Gelegenheit gehabt, sich politisch zu bilden. Arbeitervereine oder Handwerkervereine, wie man sie öfter nannte, waren nur ausnahmsweise vorhanden und dienten allem anderen, nur nicht der politischen Aufklärung. Arbeitervereine politischer Natur wurden in den meisten deutschen Staaten nicht einmal geduldet, sie waren sogar auf Grund eines Bundestagsbeschlusses aus dem Jahre 1856 verboten, denn nach Ansicht des Bundestags in Frankfurt a.M. war der Arbeiterverein gleichbedeutend mit Verbreitung von Sozialismus und Kommunismus. Sozialismus und Kommunismus waren aber wieder uns Jüngeren zu jener Zeit vollständig fremde Begriffe, böhmische Dörfer. Wohl waren hier und da, zum Beispiel in Leipzig, vereinzelte Personen, wie Fritzsche, Vahlteich, Schneider Schilling, die vom Weitlingschen Kommunismus gehört, auch Weitlings Schriften gelesen hatten, aber das waren Ausnahmen. Daß es auch Arbeiter gab, die zum Beispiel das Kommunistische Manifest kannten und von Marx' und Engels' Tätigkeit in den Revolutionsjahren im Rheinland etwas wußten, davon habe ich in jener Zeit in Leipzig nichts vernommen.

Aus alledem ergibt sich, daß die Arbeiterschaft damals auf einem Standpunkt stand, von dem aus sie weder ein Klasseninteresse besaß, noch wußte, daß es so etwas wie eine soziale Frage gebe. Daher strömten die Arbeiter in Scharen den Vereinen zu, die die liberalen Wortführer gründen halfen, die den Arbeitern als Ausbund der Volksfreundlichkeit erschienen.

Diese Arbeitervereine schossen nun zu Anfang der sechziger Jahre aus dem
Boden wie die Pilze nach einem warmen Sommerregen. Namentlich in
Sachsen, aber auch im übrigen Deutschland. Es entstanden in Orten
Vereine, in denen es später viele Jahre währte, bis die sozialistische
Bewegung dort einigen Boden fand, obgleich der frühere Arbeiterverein
mittlerweile eingegangen war.

In Leipzig war damals das politische Leben sehr rege. Leipzig galt als einer der Hauptsitze des Liberalismus und der Demokratie. Eines Tages las ich in der demokratischen „Mitteldeutschen Volkszeitung“, auf die ich abonniert war und die der Achtundvierziger Dr. Peters redigierte, der Ehemann der bekannten verstorbenen Vorkämpferin für die Frauenrechte Luise Otto-Peters, die Einladung zu einer Volksversammlung zur Gründung eines Bildungsvereins. Diese Versammlung fand am 19. Februar 1861 im Wiener Saal statt, einem Lokal, das in der Nähe des Rosentals in einem Garten stand. Als ich in das Lokal trat, war dasselbe bereits überfüllt. Mit Mühe fand ich auf der Galerie Platz. Es war die erste öffentliche Versammlung, der ich beiwohnte. Der Präsident der Polytechnischen Gesellschaft, Professor Dr. Hirzel, hatte das Referat, der mitteilte, daß man einen Gewerblichen Bildungsverein als zweite Abteilung der Polytechnischen Gesellschaft gründen wolle, weil Arbeitervereine auf Grund des Bundestagsbeschlusses von 1856 in Sachsen nicht geduldet würden. Dagegen erhob sich Opposition. Neben Professor Roßmäßler, der Mitglied des deutschen Parlaments in Frankfurt a.M. gewesen und von seiner Professur an der Forstakademie zu Tharandt durch Herrn von Beust gemaßregelt worden war, nahmen Vahlteich und Fritzsche das Wort und verlangten volle Selbständigkeit des Vereins, der ein politischer sein müsse. Die Verfolgung von Unterrichtszwecken sei Sache der Schule, nicht eines Vereins für Erwachsene. Ich war zwar mit diesen Rednern nicht einverstanden, aber es imponierte mir, daß Arbeiter den gelehrten Herren so kräftig zu Leibe rückten, und wünschte im stillen, auch so reden zu können.

Der Verein wurde gegründet, und obgleich die Opposition ihren Zweck nicht erreicht hatte, trat sie dem Verein bei. Ich wurde ebenfalls an jenem Abend Mitglied. Der Verein wurde in seiner Art eine Musteranstalt. Vortragende für wissenschaftliche Thematas waren in Menge vorhanden. So neben Professor Roßmäßler, Professor Bock — der Gartenlaube-Bock und Verfasser des Buches vom gesunden und kranken Menschen —, die Professoren Wuttke, Wenck, Marbach, Dr. Lindner, Dr. Reyher, Dr. Burckhardt und andere. Später folgten Professor Biedermann, Dr. Hans Blum, von dem die Sage ging, daß er während seiner Studentenzeit sich auf seiner Visitenkarte als Student der Menschenrechte bezeichnet habe, Dr. Eras, Liebknecht, der im Sommer 1865 nach Leipzig kam, und Robert Schweichel. Einer der fleißigsten Vortragenden im ersten Jahre war Dr. Dammer, der später der erste von Lassalle eingesetzte Vizepräsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wurde. Unterricht wurde erteilt im Englischen, Französischen, in Stenographie, gewerblicher Buchführung, deutscher Sprache und Rechnen. Auch wurde eine Turn- und Gesangabteilung gegründet. Ersterer trat Vahlteich bei, der ein großer Turner vor dem Herrn war und blieb, der Gesangabteilung traten Fritzsche und ich bei. Fritzsche sang vorzüglich zweiten Baß, ich ersten, den bekanntlich jeder singt, der keine Singstimme hat.

An der Spitze des Vereins stand ein vierundzwanzigköpfiger Ausschuß, in dem der Kampf um den Vorsitz entbrannte. Roßmäßler unterlag gegenüber dem Architekten Mothes, aber die Opposition arbeitete planmäßig weiter. Bei dem ersten Stiftungsfest Februar 1862 hielt Vahlteich die Festrede, die ausgeprägt politisch war. Er forderte das allgemeine Stimmrecht. Bei der Neuwahl des Ausschusses wurde auch ich in denselben gewählt. Meine Sehnsucht, öffentlich reden zu können, war bei den häufigen Debatten im Verein rasch befriedigt worden. Ein Freund erzählte mir später, daß, als ich zum ersten Male einige Minuten sprach, um einen Antrag zu begründen, man sich an meinem Tisch gegenseitig angesehen und gefragt habe: Wer ist denn der, der so auftritt. Da im Ausschuß verschiedene Abteilungen für die verschiedenen Verwaltungsfächer gebildet wurden, wurde ich in die Bibliothekabteilung und die Abteilung für Vergnügungen gewählt. In beiden wurde ich Vorsitzender. Die Wahl des Vereinsvorsitzenden, die wieder der Ausschuß vorzunehmen hatte, rief dieses Mal einen heftigen Kampf hervor. Viermal wurde gewählt, ohne für einen Kandidaten ein Mehr erzielen zu können. Stets war Stimmengleichheit vorhanden. Schließlich unterlag wieder Professor Roßmäßler gegen Architekt Mothes mit einer Stimme, weil dieser sich selbst gewählt hatte. Die Opposition trug jetzt den Kampf in die Generalversammlung, die am Karfreitag 1862 stattfand. Der Verein hatte damals über fünfhundert Mitglieder. Die Opposition stellte wieder ihre alte Forderung auf, den Verein zu einem rein politischen zu machen und den Unterricht aus demselben auszuschließen. Nach einem heftigen, vielstündigen Redekampfe, an dem auch ich mich beteiligte, unterlag sie gegen eine Mehrheit von drei Viertel der Stimmen. Hätte die Opposition geschickter operiert, hätte sie verlangt, daß zeitweilig politische Vorträge über Zeitereignisse gehalten und darüber Diskussionen veranstaltet werden sollten, sie hätte glänzend gesiegt. Aber daß man den Unterricht aus dem Verein verbannen wollte, der für die große Mehrheit der jüngeren Mitglieder das größte Interesse hatte, reizte diese zum Widerstand. Ich selbst nahm an der Buchführung und Stenographie teil. Einige Tage vor jener entscheidenden Versammlung hatten sich Fritzsche und Vahlteich eifrig bemüht, mich zu ihnen hinüberzuziehen. Ich konnte ihnen nicht folgen.

Die Opposition schied nunmehr aus und gründete den Verein Vorwärts, der im Hotel de Saxe sein Hauptquartier aufschlug. Der Wirt in diesem Lokal war der in den Reaktionsjahren gemaßregelte ehemalige Pfarrer Würkert. Dieser hatte eine eigene Methode, Aufklärung zu verbreiten und dabei auch sein Geschäft zu machen. Er veranstaltete allwöchentlich Vorträge, die er selbst hielt, über alle möglichen Thematas, wie die Geburts- und Todestage berühmter Männer, politische Tagesereignisse usw. An solchen Abenden war sein Lokal gedrängt voll. Da machte es denn einen eigenartigen Eindruck, wenn Würkert, der soeben noch unter den Gästen sich bewegt und diesem und jenem ein Glas Bier verabreicht hatte, auf dem Treppenpodest Platz nahm, der vom oberen in das untere Lokal führte, und von dort allen sichtbar seinen Vortrag hielt. Nicht im Gegensatz, sondern vielmehr in Ergänzung der Zusammenkünfte im Hotel de Saxe stand die Restauration zur Guten Quelle auf dem Brühl, ein damals eben gebautes großes Kellerlokal, dessen Wirt der Achtundvierziger Grun war. In der einen Ecke jenes Lokals stand ein großer runder Tisch, der der Verbrechertisch hieß. Das besagte, daß hier nur die ehrwürdigen Häupter der Demokratie Platz nehmen durften, die zu Zuchthaus oder Gefängnis verurteilt worden waren oder die man gemaßregelt hatte. Oefter traf beides zu. Da saßen Roßmäßler, Dolge, der wegen seiner Beteiligung am Maiaufstand zum Tode verurteilt worden war, nachher zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt wurde und dann acht Jahre in Waldheim gesessen hatte. Zu den „Verbrechern“ gehörten weiter Dr. Albrecht, der in unserem Verein Stenographie lehrte, Dr. Burckhardt, Dr. Peters, Friedrich Oelkers, Dr. Fritz Hofmann, Gartenlaube-Hofmann genannt, usw. Wir Jungen rechneten es uns zur besonderen Ehre an, wenn wir an diesem Tisch in Gesellschaft der Alten ein Glas Bier trinken durften.

Die Leiter des Vereins Vorwärts begnügten sich aber nicht mit ihren Vereinsversammlungen, sie trugen die Agitation in die Arbeiter- und Volksversammlungen, die sie von Zeit zu Zeit einberiefen, in welchen Arbeiterfragen und Tagesfragen erörtert wurden. Diese Erörterungen waren noch sehr unklar. Man diskutierte über eine Invalidenversicherung der Arbeiter, über die Veranstaltung einer Weltausstellung in Deutschland, über den Eintritt in den Nationalverein, wobei man verlangte, daß dieser den Jahresbeitrag von 3 Mark auch in Monatsraten erhebe, damit die Arbeiter beitreten könnten. Weiter forderte man das allgemeine Stimmrecht für die Landtagswahlen und ein deutsches Parlament, das sich der Arbeiterfrage anzunehmen habe. Ferner wurde die Einberufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses diskutiert, auf dem die aufgetauchten Forderungen debattiert werden sollten. Die Frage der Einberufung eines Arbeiterkongresses tauchte fast gleichzeitig auch in den Berliner und Nürnberger Arbeiterkreisen auf.

Um die Vorbereitungen hierfür zu treffen und weiter nötig werdende Arbeiterversammlungen einzuberufen, wurde ein Komitee niedergesetzt, in das neben Fritzsche, Vahlteich und anderen weniger bekannt gewordenen Arbeitern auch ich gewählt wurde. Neben den Arbeiterversammlungen, die von unserer Seite ausgingen, berief die örtliche Leitung des Deutschen Nationalvereins öfter Volksversammlungen, manchmal mit Rednern von auswärts, Schulze-Delitzsch, Metz-Darmstadt usw., ein, in denen die deutsche Frage, die Gründung einer deutschen Flotte, der mittlerweile sehr akut gewordene preußische Verfassungskonflikt, die schleswig-holsteinsche Frage usw. erörtert wurden. Man ersieht schon aus der Aufzählung dieser Thematas, daß das politische Leben in Leipzig in jener Zeit ein außerordentlich reges war und uns in Atem hielt. Ein sehr beliebtes Thema in den von den Liberalen einberufenen Volksversammlungen waren auch die Erörterungen über die Verfassungszustände in den Einzelstaaten, ganz besonders in Sachsen, Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt. In zweiter Linie folgten Mecklenburg und Bayern. Die Herren v. Beust (Sachsen) und Dalwigk (Hessen-Darmstadt) waren ganz besonders Gegenstand heftiger Angriffe. Zu diesen gesellte sich Herr v. Bismarck, als dieser im September 1862 an die Spitze der preußischen Regierung trat.

Es war richtig, in den erwähnten Klein- und Mittelstaaten waren nach der Niederwerfung der Revolution Verfassungsbrüche und Oktroyierungen aller Art vorgekommen, aber nicht minder in Preußen. Außerdem hatten diese Klein- und Mittelstaaten ihre verbrecherische Tätigkeit nur unter dem Schutze Preußens und Oesterreichs — die hierin ein Herz und eine Seele waren — ausüben können. Gleichwohl behandelten die Liberalen der verschiedenen Schattierungen in ihren öffentlichen Angriffen die Klein- und Mittelstaaten viel schlechter als zum Beispiel Preußen. Und doch war es Preußen gewesen, das die Revolution niedergeworfen und es neben den Oktroyierungen im eigenen Lande an Gewalttaten gegen die Revolutionäre nicht hatte fehlen lassen. Ich erinnere nur an die Verurteilung Gottfried Kinkels zu lebenslänglichem Zuchthaus, an die Erschießung von Adolf v. Trützschler in Mannheim und Max Dortü in Freiburg i.B., an die Erschießungen in den Kasemattengräben in Rastatt, an die furchtbaren Grausamkeiten, die das preußische Militär nach der Niederwerfung des Maiaufstandes in Dresden an den gefangenen Revolutionären begangen hatte. Auch waren die Zustände Preußens in den fünfziger Jahren unter der Herrschaft des Systems Manteuffel so, daß sie jeden halbwegs freidenkenden Mann zur Empörung aufstacheln mußten und Preußen in Deutschland und im Ausland aufs schlimmste diskreditierten. Auch der im Zuge befindliche Verfassungskonflikt suchte seinesgleichen in Deutschland vergeblich. Mir, der ich damals als ein in der Politik noch unerfahrener junger Mann gelten mußte, fiel dieses Messen mit zweierlei Maß bald auf. Und dieses wurde namentlich von den sächsischen Liberalen und Demokraten praktiziert. Allerdings war das System des Herrn v. Beust, das dieser mit Zustimmung des Königs Johann in Sachsen inszeniert hatte, wegen der volksfeindlichen Maßnahmen und Bedrückungen aller Art und insbesondere durch die grausame Behandlung, die die politischen Gefangenen im Zuchthaus zu Waldheim erlitten hatten, ganz besonders und mit Recht verhaßt. Im Waldheimer Zuchthaus waren nicht weniger als 286 Maigefangene, darunter 148 Arbeiter untergebracht worden, von denen schon bis zum Jahre 1854 34, also 12 Prozent, gestorben waren. Ueber 42 der Gefangenen war das Todesurteil ausgesprochen worden, die dann zu lebenslänglichem Zuchthaus „begnadigt“ wurden. In der Strafanstalt Zwickau waren 286 politische Gefangene, darunter 239 Arbeiter, eingesperrt worden; das Landesgefängnis Hubertusburg hatte 70 politische Gefangene beherbergt.

Im Zuchthaus zu Waldheim saß unter anderen auch August Röckel, Musikdirektor in Dresden, ein Freund Richard Wagners und des berühmten Baumeisters Semper, denen beiden die Flucht gelungen war. Röckel war wegen seiner Beteiligung am Maiaufstand zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden. Nach seiner Begnadigung, Anfang 1862, nachdem er 11-1/2 Jahre im Zuchthaus zugebracht — er war mit dem Rechtsanwalt Kirbach in Plauen der letzte der begnadigten Zuchthäusler, weil beide sich weigerten, ein Gnadengesuch einzureichen —, veröffentlichte er 1865 über die Vorkommnisse im Waldheimer Zuchthaus ein Buch, betitelt: Die Erhebung in Sachsen und das Zuchthaus zu Waldheim, dessen Inhalt in Sachsen und Deutschland einen Schrei des Entsetzens hervorrief. Ich war einer der eifrigsten Verbreiter von Röckels Buch, ich setzte über 300 Exemplare ab, selbstverständlich ohne persönlichen Vorteil, was nicht hinderte, daß ich in der Koburger Arbeiterzeitung als Anhänger Beusts verdächtigt wurde.

Unter den in Waldheim Mißhandelten war es Kirbach, den ich zwanzig Jahre später als Kollege im sächsischen Landtag persönlich kennen lernte, wohl mit am schlimmsten ergangen. Er war keiner von denen, die im Zuchthaus zu Kreuze krochen; ihm ließ der Zuchthausdirektor Christ einen sogenannten Springer zwischen den Füßen anbringen. Dieses war eine etwa einen Fuß lange Eisenstange, die mit Fußschellen zwischen den Knöcheln befestigt war. Wollte Kirbach gehen, so mußte er springen, daher der Name Springer. Bei dieser Prozedur wurden Haut und Fleisch an den Knöcheln zerrieben, und da Kirbach nicht nur furchtbare Schmerzen litt, sondern auch gefährlich erkrankte, mußte ihm nach einiger Zeit der Springer wieder abgenommen werden. Politisch entwickelte sich später der ehemalige Revolutionär, wie so viele andere, zum Nationalliberalen, doch hegte er in einem Winkel seines Herzens noch immer demokratische Neigungen. Er war der einzige unter den Nationalliberalen, der im sächsischen Landtag für unsere Anträge auf Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts stimmte.

Eine ganz andere politische Entwicklung nahm Kirbachs Zuchthausgenosse
August Röckel. Als das Jahr 1866 die politische Krise über Deutschland
brachte, stellte sich Röckel auf die Seite seines früheren Feindes v.
Beust und ging, als Beust in Oesterreich Kanzler wurde, mit ihm nach
Wien, um ihm Preßdienste zu leisten.

Was aber immer für Zustände in Preußen herrschten, die Liberalen sahen in ihm den Staat, der allein die deutsche Einheit, wie sie sich dieselbe dachten, durchführen konnte und sie vor einer Herrschaft der Masse zu schützen vermochte. Daher war es ihre Taktik, die Mittel- und Kleinstaaten nach Kräften herunterzureißen, damit der Staat des deutschen Berufs, was in ihren Augen Preußen war, in um so günstigerem Lichte erschien. Die Aera Bismarck stand zwar dieser Mythe sehr im Wege, aber man erklärte sie für eine vorübergehende Erscheinung, und dann werde Preußen erst recht im liberalen Glanze erscheinen. Herr von Bismarck war aber eine Realität ersten Ranges, und er kannte auch die Liberalen, von denen er sagte: Mehr als sie mich hassen, fürchten sie die Revolution, was durchaus richtig war. Indes gerieten die Leidenschaften immer mehr in Glühhitze. Wer in den Versammlungen am heftigsten auf Bismarck losschlug und die bedenklichsten Drohungen laut werden ließ, der konnte auf den stürmischsten Beifall rechnen. Selbst in manchem Liberalen erwachte die alte revolutionäre Leidenschaft, so in Johannes Miquel, der zehn Jahre früher mit Karl Marx in Verbindung gestanden war und selbst in den sechziger Jahren seine Beziehungen zu ihm noch nicht ganz abgebrochen hatte, der sich als Kommunist und Atheist bekannt und seine Hilfe zur Organisierung von Bauernaufständen angeboten hatte. Jetzt drohte er dem König von Preußen mit dem Schicksal der Bourbonen, man werde die Arbeiter gegen die Hohenzollern aufrufen, wenn sie keine Vernunft annehmen wollten. Eine solche Aeußerung fiel von ihm im privaten Kreise gelegentlich der Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins in Leipzig. Nahezu dreißig Jahre später war Johannes Miquel, als Herr von Miquel, Finanzminister eines Hohenzollern und war ihm selbst die mittlerweile sehr zahm gewordene nationalliberale Partei, zu deren Gründern er gehörte, noch zu liberal.

Indes mochten auch an Bismarcks Ohren solche Drohungen gedrungen sein — die blutigsten Drohungen durch anonyme Briefe sind wohl schon Mode gewesen, ehe es sozialdemokratische Führer gab, die solche gelegentlich dutzendweise empfangen haben —, denn er hat später öffentlich zugestanden, daß er nicht für unmöglich gehalten, das Schicksal Straffords zu teilen, der als Minister Karls I. von England hingerichtet worden war. Er habe daher als sorgsamer pater familias auf alle Fälle sein Haus bestellt.

Aber auch vom König ging in jener Zeit das Gerücht, daß er infolge der fortgesetzten Aufregungen an Halluzinationen leide und fürchtete, daß ihn das Schicksal der Bourbonen erreichen werde. Bestätigt wurden jene Gerüchte durch eine spätere Veröffentlichung, die der verstorbene preußische Landtagsabgeordnete von Eynern als persönliche Mitteilung Bismarcks bezeichnete. Danach habe Bismarck ihm erzählt: Als er 1862 zum Minister ernannt worden sei, wäre er dem König bis Jüterbog entgegengefahren und habe denselben in größter Niedergeschlagenheit angetroffen. Die badischen Herrschaften, von denen der König gekommen, hätten den Konflikt mit dem Landtag für unlösbar gehalten und ihn zum Einlenken zu bestimmen gesucht. Der König habe zu ihm gesagt: „Minister sind Sie geworden, aber nur, um das Schafott zu besteigen, was auf dem Opernplatz für Sie errichtet wird; ich selbst, der König, werde nach Ihnen an die Reihe kommen.“ Der König hoffte zweifellos, ich würde ihm diese Dinge ausreden, — sagte Bismarck —, ich tat aber das Gegenteil, weil ich meinen ehrlichen und gegen jede erkennbare Gefahr mutigen Mann kannte. Ich sagte ihm, die beiden Fälle hielte ich augenblicklich vielleicht für nicht ganz ausgeschlossen — aber wenn sie eintreten sollten, was sei dann Großes daran gelegen, sterben müßten wir alle einmal, und es sei gleichgültig, ob ein bißchen früher oder später. Er sterbe dann, wie es seine Pflicht sei, im Dienste seines Königs und Herrn, und der König sterbe dann in Verteidigung seiner heiligen Rechte, was auch seine Pflicht sei gegen sich selbst und gegen sein Volk. Man brauche ja nicht gleich an Ludwig XVI. zu denken, der sei ja unangenehm gestorben, aber Karl I. habe einen höchst anständigen Tod erlitten, einen solchen, der ebenso ehrenvoll gewesen wie der auf dem Schlachtfelde.

„Als ich“ — erzählte Bismarck weiter — „derart den König als Soldaten an sein Portepee faßte, wurde er noch ernster und dann wurde er sicher, und ich reiste mit einem vergnügten, kampfesfrohen Manne nach Berlin hinein.“

Diese Vorgänge zeigen, was die Liberalen hätten erreichen können, wenn sie die Lage auszunützen verstanden. Aber sie fürchteten bereits die hinter ihnen stehenden Arbeiter. Bismarcks Wort: wenn man ihn zum Aeußersten dränge, werde er den Acheron in Bewegung setzen, jagte ihnen einen heillosen Schrecken ein.

In der Tat hat denn auch Bismarck alle Register gezogen, um Herr der Situation zu werden; seine Werkzeuge nahm er, wo er sie fand. Er hätte sich mit dem Teufel und seiner Großmutter verbunden, fand er einen Vorteil dabei. So zog er August Braß, den Chefredakteur der damals großdeutschen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“, in seine Dienste, obgleich dieser früher roter Demokrat gewesen war und das hübsche Lied gedichtet hatte:

  Wir färben rot, wir färben gut,
  Wir färben mit Tyrannenblut!

Er hatte auch nichts dagegen einzuwenden, daß Braß Liebknecht von London und Robert Schweichel von Lausanne als Redakteure an die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ berief. Weiter gelang es Bismarck, neben Braß im Jahre 1864 Lothar Bucher, den alten Demokraten und Steuerverweigerer, zu gewinnen, dessen großes historisches Wissen und gewandte Feder er sich dienstbar machte. Bucher war es auch, der im Auftrag Bismarcks 1865 den Versuch machte, Karl Marx als Mitarbeiter für den preußischen Staatsanzeiger zu gewinnen, wobei er die Freiheit haben sollte, ganz nach Belieben zu schreiben, propagiere er selbst den Kommunismus.

Die Methoden, nach denen Bismarck jetzt zu regieren versuchte, hatte er Louis Napoleon abgeguckt, der es meisterhaft verstanden hatte, die bestehenden Klassengegensätze für sein System auszunutzen, und zwar sogar unter der Herrschaft des allgemeinen Stimmrechts. Es zeigte sich bald, daß auch Bismarck versuchte, die Arbeiterbewegung in seinem Interesse gegen die liberale Bourgeoisie auszunutzen. Sein Helfer in diesen Dingen war der Geheime Oberregierungsrat Hermann Wagener, dessen Kenntnis der sozialen Fragen und seine Schlauheit ihn als den geeigneten Mann erscheinen ließen.

Ende August 1862 hatte eine Arbeiterversammlung in Berlin ebenfalls beschlossen, einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß, und zwar nach Berlin einzuberufen. Das veranlaßte das Leipziger Komitee, sich mit den leitenden Persönlichkeiten der Berliner Bewegung in Verbindung zu setzen, um eine Vereinbarung wegen der Einberufung des Kongresses zu erzielen. Man wünschte der besseren geographischen Lage wegen Leipzig als Kongreßort. Anfangs Oktober kam als Berliner Vertreter der Maler und Lackierer Eichler nach Leipzig zu einer Besprechung, der auch ich als Mitglied des Komitees beiwohnte.

Diese Besprechung fand in der Restauration Zum Joachimstal in der Hainstraße statt. Eichler ging gleich aufs Ganze. Er führte aus, daß die Arbeiter von der Fortschrittspartei und dem Nationalverein nichts zu erwarten hätten. Die Mehrzahl der Komiteemitglieder teilte auf Grund der gemachten Erfahrungen diese Ansicht. Weiter fuhr Eichler fort: er habe die Gewißheit — und damit entpuppte er sich nach unserer Ansicht als Agent Bismarcks —, daß Bismarck für die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu haben sei und auch bereit wäre, die nötigen Mittel (60000 bis 80000 Taler) zur Gründung einer Produktivgenossenschaft der Maschinenbauer herzugeben.

Zu jener Zeit bildeten die Maschinenbauer die Elite der
Berliner Arbeiter und galten als die eigentliche Leibgarde der
Fortschrittspartei. Die Ausführungen Eichlers riefen eine stundenlange
Debatte hervor, deren Endergebnis war, daß das Komitee, mit Ausnahme
Fritzsches, sich gegen Eichler erklärte. Es fällt auf, daß Eichler Ideen
propagierte, wie sie sechs Monate später Lassalle in seinem
Antwortschreiben an das Leipziger Komitee entwickelte, nur daß Lassalle
einen demokratischen Staat als Begründer der Produktivassoziationen mit
Staatshilfe forderte.

In jenen Tagen war der Name Lassalles uns unbekannt, obgleich er schon im April jenes Jahres öffentlich einen Vortrag „Ueber den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes“ gehalten hatte, der später und bis auf den heutigen Tag unter dem Titel „Arbeiterprogramm“ erschienen ist. Auch hatte er in demselben Jahre seine Vorträge über Verfassungswesen gehalten. Daß diese Vorgänge uns unbekannt blieben, lag wohl daran, daß keiner von uns Berliner Zeitungen las. Wir bezogen unsere Kenntnisse über die Tagesereignisse aus der Leipziger Presse, namentlich der demokratischen „Mitteldeutschen Volkszeitung“, und was diese nicht brachte, blieb uns fremd. Es waren eben noch rückständige Zeiten.

Eichler hatte, als er mitteilte, Bismarck sei eventuell für die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu haben, nur einem Gedanken Ausdruck gegeben, der damals schon namentlich von dem Geheimen Oberregierungsrat Hermann Wagener öffentlich propagiert wurde. Man dachte dabei an eine Oktroyierung desselben, von der Auffassung ausgehend: ist das Dreiklassenwahlrecht im Mai 1849 oktroyiert worden, so kann es auch durch eine königliche Verordnung wieder beseitigt und ein neues Wahlrecht oktroyiert werden. Den Liberalen, die in ihrer sehr großen Mehrzahl nicht für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht schwärmten, war diese Aussicht höchst fatal, und Herr v. Unruh, einer ihrer Hauptführer, gab ihrer Besorgnis auch öffentlich Ausdruck. Ihre Abneigung gegen das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht versteckten die Liberalen damals hinter der Erklärung, diese Forderung sei während des Verfassungskampfes nicht opportun, erst müsse der Kampf mit dem Ministerium Bismarck zu Ende sein, ehe man an eine Aenderung des Wahlrechts denken könne. Daß zu jener Zeit die konservativen Demagogen sich für Einführung des demokratischsten aller Wahlrechte ins Zeug legten, wohingegen sie heute die entschiedensten Gegner desselben sind, hatte seinen zulänglichen Grund. Napoleon III., der nach dem Staatsstreich das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht in Frankreich wieder einführte, das die honette Republik nach der Junischlacht durch ein schlechteres Wahlrecht ersetzt hatte, war mit demselben ausgezeichnet gefahren. Natürlich unter obligater Einwirkung durch die Staatsgewalten auf die Wähler. Es gab anfangs unter sechshundert Delegierten nur sieben Oppositionsmänner, alle übrigen waren kaiserliche Mamelucken. Erst 1863 stieg die Opposition auf 38 und 1869 auf 110 Köpfe.

Umgekehrt hatte in Preußen das Dreiklassenwahlrecht, das man geschaffen hatte, um eine gefügige Kammer zu besitzen, jetzt eine scharf oppositionelle geliefert, so kam man auf den Gedanken, das Napoleonische Beispiel nachzuahmen.

Eine andere Frage ist: Wie kam die Idee der Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe in die Kreise der Konservativen? Und da scheint es, daß Lassalle schon im Jahre 1862 diesen Gedanken in seinem Kopfe bearbeitete und seinen Gedanken seiner Freundin und Vertrauten, der Gräfin Hatzfeldt mitteilte, von der dann die Idee in die konservativen Kreise getragen wurde, noch ehe Lassalle sie öffentlich formuliert hatte. Später, als Vahlteich Sekretär Lassalles geworden war, entdeckte dieser, welch zweideutige Elemente Lassalle um sich hatte. Dasselbe nahm Liebknecht wahr, der Lassalle vor seiner Umgebung und speziell vor Bismarck warnte, worauf Lassalle antwortete: Pah, ich esse mit Herrn von Bismarck Kirschen, aber er bekommt die Steine. Es ist höchst wahrscheinlich, daß der Geheimrat Wagener Eichler den Plan mit den Produktivgenossenschaften als Plan Bismarcks suggerierte, noch ehe Bismarck selbst sich damit beschäftigt hatte.[1] Klarheit über die Rolle Eichlers und die Beziehungen Bismarcks zu Lassalle erfolgte im September 1878 bei Beratung des Sozialistengesetzes, als ich auf jene Vorgänge zu sprechen kam. Ich klagte damals Fürst Bismarck an, daß er jetzt die Sozialdemokratie zu vernichten trachte, die er einstmals für seine politischen Zwecke zu benutzen versucht habe. Ich wies zunächst auf den Fall Eichler hin und die Angebote, die dieser in seinem Namen uns im Leipziger Komitee gemacht habe; ich führte weiter an, daß durch Vermittlung eines Hohenzollernprinzen (vermutlich Prinz Albrecht, Bruder des Königs) und der Gräfin Hatzfeldt Lassalle mit ihm (Bismarck) in Verbindung gekommen sei, daß seine Unterhaltungen mit Lassalle öfter stundenlang gedauert und eines Tages sogar der bayerische Gesandte abgewiesen worden wäre, der Bismarck sprechen wollte, als Lassalle bei ihm war.

Fürst Bismarck nahm darauf am folgenden Tage, den 17. September, im Reichstag das Wort. Ich hatte irrtümlich gesagt, daß die Verhandlungen zwischen Eichler und dem Leipziger Komitee schon im September, statt erst im Oktober stattgefunden hätten. Daran knüpfte Bismarck an, um nachzuweisen, daß er solche Aufträge nicht könne gegeben haben, da er erst am 23. September ins Ministerium eingetreten sei. Wohl sei ihm erinnerlich, daß Eichler späterhin Forderungen an ihn gestellt für Dienste, die er ihm nicht geleistet habe. Im weiteren gab er zu, daß Eichler im Dienste der Polizei gestanden und Berichte geliefert habe, von denen einige zu seiner Kenntnis gekommen seien. Diese hätten sich aber nicht auf die sozialdemokratische Partei bezogen, sondern auf intime Verhandlungen der Fortschrittspartei und, wenn er nicht irre, des Nationalvereins.

Damit war erwiesen, wie begründet unser Verdacht im Komitee gegen Eichler gewesen war. Im übrigen bestritt Fürst Bismarck, daß er 60000 bis 80000 Taler für eine Produktivgenossenschaft habe hergeben wollen. Er habe keine geheimen Fonds gehabt, und wo hätte er das Geld hernehmen sollen? Das sagte derselbe Mann, der im April 1863 in der Kammer geäußert hatte: die Regierung werde, wenn es ihr nötig erscheine, mit oder ohne Bewilligung der Volksvertretung Krieg führen und das Geld dazu nehmen, wo sie es finde — und jahrelang die Staatsausgaben ohne Zustimmung der Kammer machte. Auf die ihm von mir vorgehaltenen Beziehungen zu Lassalle äußerte er: Nicht er, sondern Lassalle habe den Wunsch gehabt, mit ihm zu sprechen, und er habe ihm die Erfüllung dieses Wunsches nicht schwer gemacht. Er habe das auch nicht bereut. Verhandlungen hätten zwischen ihnen nicht stattgehabt, was hätte Lassalle als armer Teufel ihm auch bieten können? Lassalle habe ihn aber außerordentlich angezogen, er sei einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen gewesen, mit denen er je verkehrt habe, er sei auch kein Republikaner gewesen: die Idee, der er zustrebte, sei das deutsche Kaisertum gewesen. Darin hätten sie Berührungspunkte gehabt. Lassalle sei in hohem Grade ehrgeizig gewesen, und ob das deutsche Kaisertum mit der Dynastie Hohenzollern oder mit der Dynastie Lassalle abschließen solle, das sei ihm vielleicht zweifelhaft gewesen, aber monarchisch sei er durch und durch gewesen. Dieser Erklärung folgte im Reichstag große Heiterkeit.

Die burschikose Art, wie Bismarck Lassalle zum Monarchisten stempelte, bedarf keiner Widerlegung, sie wird auch durch Lassalles Schriften und Briefe widerlegt. Immerhin war die Rolle Lassalles Bismarck gegenüber eine höchst eigenartige. Gestützt auf sein sehr hohes Selbstgefühl und seine unabhängige soziale Stellung glaubte er, mit Bismarck wie von Macht zu Macht verhandeln zu können, noch ehe er eine Macht hinter sich hatte. Wie das Spiel schließlich ausgegangen wäre, darüber braucht man sich den Kopf nicht zu zerbrechen, da der Tod Lassalles, Ende August 1864, ihn als Partner beseitigte.

Bismarck bestritt ferner in jener Rede, daß zwischen ihm und Lassalle der Gedanke einer Oktroyierung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts erörtert worden sei. Ich konnte ihm das Gegenteil nicht beweisen, glaubte aber den Worten Bismarcks nicht. Hier ist mir Lassalle maßgebend, der in seiner Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof in Berlin, 12. März 1864, öffentlich sagte: „Und so verkünde ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird vielleicht kein Jahr mehr vergehen — und Herr v. Bismarck hat die Rolle Robert Peels gespielt und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert.“ Lassalle konnte ganz unmöglich eine solche Sprache führen, wäre nicht in seinen Unterhaltungen mit Bismarck die Oktroyierung des allgemeinen, direkten Wahlrechts in Betracht gezogen worden. Wie schon angeführt, wurde dieser Gedanke, und zwar immer wieder, in konservativen Kreisen sehr ernst erörtert, und er fand im liberalen Lager vollen Glauben. Außerdem war Bismarck, der gegen die Beschlüsse der Kammer verfassungswidrig regierte und im Juni 1863 wider Recht und Gesetz die berüchtigten Preßordonnanzen erließ, nicht der Mann, der vor einer Oktroyierung eines Wahlsystems zurückgeschreckt wäre, wenn er sich Nutzen davon versprach. Zudem wäre ihm eine solche Oktroyierung von den bisher politisch entrechteten Massen in Preußen nicht übelgenommen worden.

Welchen Charakter die Unterhandlungen Lassalles mit Bismarck angenommen hatten, dafür sprechen zwei Briefe Lassalles, die erst viel später veröffentlicht wurden, hier aber am besten ihren Platz finden.

Lassalle schrieb an Bismarck:

Exzellenz! Vor allem klage ich mich an, gestern vergessen zu haben, Ihnen noch einmal ans Herz zu legen, daß die Wählbarkeit schlechterdings allen Deutschen erteilt werden muß. Ein immenses Machtmittel! Die wirkliche „moralische“ Eroberung Deutschlands! Was die Wahltechnik betrifft, so habe ich noch gestern nacht die gesamte französische Gesetzgebungsgeschichte nachgelesen und da allerdings wenig Zweckmäßiges gefunden. Aber ich habe auch nachgedacht und bin nunmehr allerdings wohl in der Lage, Ew. Exzellenz die gewünschten Zauberrezepte zur Verhütung der Wahlenthaltung wie der Stimmenzerbröckelung vorlegen zu können. An der durchgreifenden Wirkung derselben wäre nicht im geringsten zu zweifeln.

Ich erwarte demnach die Fixierung eines Abends seitens Ew. Exzellenz. Ich bitte aber dringend, den Abend so zu wählen, daß wir nicht gestört werden. Ich habe viel über die Wahltechnik und noch mehr über anderes mit Ew. Exzellenz zu reden, und eine ungestörte und erschöpfende Besprechung ist bei dem drängenden Charakter der Situation wirklich unumgängliches Bedürfnis.

Der Bestimmung Ew. Exzellenz entgegensehend, mit ausgezeichneter
Hochachtung Ew. Exzellenz ergebenster

F. Lassalle.

Berlin, Mittwoch 13.1.64, Potsdamer Straße 13.

Und weiter:

Exzellenz! Ich würde nicht drängen, aber die äußeren Ereignisse drängen gewaltig, und somit bitte ich, mein Drängen zu entschuldigen. Ich schrieb Ihnen bereits Mittwoch, daß ich die gewünschten „Zauberrezepte“ — Zauberrezepte von der durchgreifendsten Wirkung — gefunden habe. Unsere nächste Unterredung wird, wie ich glaube, endlich von entscheidenden Beschlüssen gefolgt sein, und da, wie ich ebenso glaube, diese entscheidenden Entschlüsse unmöglich länger zu verschieben sind, so werde ich mir erlauben, morgen (Sonntag) abend 8-1/2 Uhr bei Ihnen vorzusprechen. Sollten Ew. Exzellenz zu dieser Zeit verhindert sein, so bitte ich, mir eine andere möglichst nahe Zeit bestimmen zu wollen. Mit ausgezeichneter Hochachtung Ew. Exzellenz ergebenster

F. Lassalle.

Sonnabend abend (16.1.64), Potsdamer Straße 13.

* * * * *

Herr v. Keudell, der um jene Zeit im Auswärtigen Amt beschäftigt wurde und von dem Verkehr Bismarcks mit Lassalle wußte, behauptete, Bismarck habe den Verkehr mit Lassalle abgebrochen, weil letzterer immer zudringlicher geworden sei. Der letzte der vorstehend abgedruckten Briefe spricht für eine solche Auffassung. Auf alle Fälle war dieser Verkehr Lassalles mit Bismarck, wie so manche seiner anderen Handlungen im Jahre 1864, sehr bedenklich und konnte nur gewagt werden von einem Manne wie er. Leider hat er mit diesem Verkehr und seinem sonstigen Auftreten gegen das Ende seines Lebens anderen, die keine Lassalles waren, ein Beispiel gegeben, das zum Betreten von Abwegen ermunterte. Darüber später.

Bezeichnend ist in Bismarcks Rede vom 17. September 1878 auch die Art, wie er sich mit den Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe, zum Entsetzen der Liberalen, abfand. Nachdem er zugestanden, daß er öfter stundenlange Unterhaltungen mit Lassalle gehabt und immer bedauert habe, wenn diese zu Ende gewesen seien, fuhr er fort: „Er gebe zu, daß er mit Lassalle auch über die Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften gesprochen, das sei eine Sache, von deren Zweckmäßigkeit er noch heute überzeugt sei.“ Diesen Gedanken spann er dann weiter aus. Die Bewilligung von 6000 Talern aus der Schatulle des Königs an die Weberdeputation aus dem Reichenbach-Neuroder Kreis zwecks Errichtung einer Produktivgenossenschaft spricht auch dafür, daß ihm jedes Mittel recht war, einen Keil zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie zu treiben, um nach dem Grundsatz „teile und herrsche“ sich in der Macht zu halten.

Ich bin in der Schilderung der Ereignisse dem Gange der Dinge etwas vorausgeeilt.

Kurze Zeit nach Eichlers Anwesenheit in Leipzig reisten Fritzsche, Vahlteich und Dolge als Delegierte nach Berlin, um sowohl mit den Führern der Berliner Arbeiter wie mit denen der Fortschrittspartei und des Nationalvereins über die obenerwähnten Punkte zu verhandeln. Daß der deutsche Arbeiterkongreß erst Anfang 1863 und dann nach Leipzig berufen werden sollte, darüber einigte man sich rasch. Ebenso über die Tagesordnung des Kongresses, aus der der Punkt „Abhaltung einer Weltausstellung in Berlin“ gestrichen wurde. Eichler war mit anderen Arbeitern im Sommer 1862 Besucher der Londoner Weltausstellung gewesen, zu der der Nationalverein und eine Anzahl Gemeindevertretungen Arbeiter geschickt hatten. Im ganzen besuchten etwa fünfzig Arbeiter unter Führung von Max Wirth die Londoner Ausstellung. So war die Idee der Berliner Weltausstellung entstanden.

Die Verhandlungen mit den Führern der Liberalen befriedigten die Leipziger Delegierten sehr wenig, wie sie das unverhohlen nach ihrer Rückkunft bei ihrer Berichterstattung mitteilten. Anfang 1863 hielt der Nationalverein seine Generalversammlung in Leipzig ab. In einer preußischen Stadt sie abzuhalten, durfte er nicht wagen, trotzdem er für die preußische Spitze arbeitete. Schulze-Delitzsch sprach am 3. Januar in einer großen Versammlung im Tivoli, im jetzigen Volkshaus der Leipziger Arbeiter, eine Umwandlung, die damals kein Mensch für möglich gehalten hätte. Hier richtete Dr. Dammer an Schulze-Delitzsch das Ersuchen, sich zu äußern über das Verhältnis des Nationalvereins zu den Arbeitern. Schulze antwortete unter anderem, daß die Arbeiter sich allerdings um Politik kümmern sollten, aber, fuhr er fort, der Arbeiter, der so schlecht gestellt ist, daß er von der Hand in den Mund lebt, hat der Zeit und Sinn, sich um öffentliche Angelegenheiten zu bekümmern? Nein, wahrlich nicht! Die Befreiung aus dieser Armseligkeit des Daseins sei für jeden Volksfreund und für Deutschland ganz besonders eine große nationale Aufgabe. Und rechte Arbeiter, die ihre Ersparnisse dazu verwendeten, ihre Lage zu verbessern, „die begrüße ich hiermit im Namen des Ausschusses als geistige Mitglieder, als Ehrenmitglieder des Nationalvereins“.

Diese Rede machte in den Kreisen der radikalen Arbeiter böses Blut, sie zeigte, daß der Nationalverein sich die Arbeiter als Mitglieder fernhalten wollte, darum lehnte er die Zahlung von Monatsbeiträgen ab. Als dann kurz nach jener Versammlung eine neue Deputation nach Berlin ging — Dr. Dammer, Fritzsche, Vahlteich —, blieb diese über die Gesinnung der maßgebenden Persönlichkeiten gegenüber den Arbeitern nicht mehr im Zweifel. Da war es der junge Ludwig Löwe, der Gründer der bekannten Waffenfabrik Ludwig Löwe & Co., der die Deputation zu Lassalle führte. Hier fanden die drei, was sie suchten: Verständnis für ihre Forderungen und bereitwilliges Entgegenkommen. Mit Lassalle wurde verabredet, daß der Arbeiterkongreß weiter hinausgeschoben werden solle, bis er (Lassalle) seine Ansichten über die Stellung der Arbeiter in Staat und Gesellschaft in einer besonderen Broschüre niedergelegt habe, deren Verbreitung das Leipziger Zentralkomitee übernehmen solle.

Ich möchte hier bemerken, daß der Wandel bei den maßgebenden Personen in der Leipziger Bewegung äußerlich sich ziemlich rasch vollzog, und man ihnen deshalb gegnerischerseits den Vorwurf der Wankelmütigkeit und Unklarheit machte. So war noch im November 1862 in einer großen Arbeiterversammlung auf Antrag Fritzsches beschlossen worden, ein Komitee für die Gründung eines Konsumvereins niederzusetzen. Und Anfang Februar 1863, also zu einer Zeit, in der man bereits mit Lassalle in Verbindung stand, berichtete Fritzsche über eine Reise nach Gotha und Erfurt, über die dortigen Konsumvereine und beantragte die Gründung eines solchen für Leipzig. Einen Beschluß hierüber verhinderte Vahlteich, der erklärte, das Zentralkomitee habe die Frage bereits in Erwägung gezogen. Das war von ihm sehr klug gehandelt, denn es hätte sich merkwürdig ausgenommen, einen Konsumverein in Leipzig zu einer Zeit zu gründen, in der Lassalle bereits über seinem Antwortschreiben saß, in dem er bekanntlich die Konsumvereine als vollständig wertlos für die Hebung der Lage der Arbeiter hinstellte.

Auch Vahlteich war um jene Zeit noch in vergleichsweise friedlicher Stimmung. Ende 1862 veröffentlichte er in der Leipziger „Mitteldeutschen Volkszeitung“ einen langen polemischen Artikel gegen Angriffe, die gegen das Zentralkomitee erhoben worden waren, in dem er ausführte: daß die Pflicht gegen die zu erstrebende Zukunft der Arbeiter gebiete, die höchste Mäßigung zu beobachten. Dagegen ging Vahlteich in dieser Erklärung schon über Lassalle, der noch von einem Arbeiterstand sprach, hinaus, indem er den Satz aufstellte: Einen besonderen Stand bilden die Arbeiter nicht, aber eine durch die faktischen Verhältnisse geschaffene Klasse. Mit dem Erscheinen des Lassalleschen Antwortschreibens trat allerdings eine vollständige Frontveränderung der Führer ein. Ihnen daraus einen Vorwurf zu machen, wäre verfehlt. In gärenden Zeiten treten Gesinnungswandlungen rasch ein. Der Denkprozeß wird beschleunigt. Drei Jahre später, als Deutschland der Katastrophe von 1866 entgegeneilte, erging es mir und vielen meiner damaligen Gesinnungsgenossen ganz ähnlich. Die rasche Wandlung von einem Saulus zu einem Paulus vollzieht sich auch ohne Wunder immer wieder.

Ich war Anfang November 1862 aus dem Zentralkomitee ausgeschieden. Meine Stellung im Gewerblichen Bildungsverein nahm meine Zeit, meine Kraft und mein Interesse im höchsten Maße in Anspruch. Da ich Abend für Abend, falls nicht eine Arbeiterversammlung oder eine Komiteesitzung mich abhielt, im Verein zubrachte, lernte ich die Wünsche und Bedürfnisse der Mitglieder besser kennen als die Vorsitzenden des Vereins. So wurde ich bald der fleißigste Antragsteller in den Ausschußsitzungen und Monatsversammlungen. Meine Anträge konnten fast regelmäßig auf Annahme rechnen. Dadurch wurde mein Einfluß ein großer. Zu jener Zeit war ich aber noch Arbeiter, das heißt ich mußte von morgens 6 bis abends 7 Uhr an der Drehbank stehen mit Unterbrechung von im ganzen zwei Stunden für die Einnahme der Mahlzeiten. So wurde meine allzu große Tätigkeit nach verschiedenen Richtungen auch zu einer Geldfrage. Außerdem erschienen mir die im Komitee und in den Versammlungen gepflogenen Debatten sehr unklar und zwecklos, dadurch wurde mir der Austritt aus dem Komitee erleichtert.

Am 6. Februar 1863 hatte ich noch eine Auseinandersetzung mit Vahlteich. Dieser war für den Vorwärts, ich für den Gewerblichen Bildungsverein Delegierter beim Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungsvereins. Bei dem gemeinschaftlichen Essen hielt Vahlteich eine provokatorische Rede, in der er in alter Weise ausführte, daß die Arbeiter wohl politische und humanitäre Bildung sich aneignen, nicht aber auch Elementarbildung pflegen sollten. Diese letztere den Arbeitern zu gewähren sei Sache des Staates. Er brachte auf die erstere ein Hoch aus. Das rief mich auf den Plan. Ich polemisierte gegen ihn und brachte ein Hoch auf die allgemeine Bildung aus. Unser Auftreten machte natürlich keinen erfreulichen Eindruck, aber auf die Vahlteichsche Provokation konnte ich nicht schweigen, um so weniger, da der Dresdener Verein die gleichen Ziele verfolgte wie der unsere.

FUSSNOTEN:

[1] Nachträglich kommen mir die Memoiren des Geheimen Oberregierungsrats Hermann Wagener (Erlebtes) zu Gesicht, in denen er mitteilt, daß er mit Lassalle und der Gräfin Hatzfeldt und anderen Häuptern der Sozialisten (Schweitzer?) in Beziehung gestanden habe. Danach hat er also höchst wahrscheinlich von Lassalle selbst dessen Programmgedanken kennen gelernt und bei Eichler verwendet.

Lassalles Auftreten und dessen Folgen.

Anfang März 1863 erschien Lassalles „Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig“. Wenige Tage vor dieser Veröffentlichung hatte ich auf dem zweiten Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins die Festrede gehalten, in der ich mich gegen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht aussprach, weil die Arbeiter dafür noch nicht reif seien. Ich stieß mit dieser Anschauung selbst bei einigen meiner Freunde im Verein an. Ausnehmend gut gefiel dagegen die Rede meiner späteren Braut und Frau, die mit ihrem Bruder das Fest besuchte. Ich habe aber die begründete Vermutung, daß es mehr die Person des Redners war, die ihr gefiel, als der Inhalt seiner Rede, der ihr damals ziemlich gleichgültig gewesen sein dürfte.

Das Antwortschreiben Lassalles machte auf die Arbeiterwelt nicht entfernt den Eindruck, den in erster Linie Lassalle und nächst ihm der kleine Kreis seiner Anhänger erwartet hatte. Ich selbst verbreitete die Schrift in ungefähr zwei Dutzend Exemplaren im Gewerblichen Bildungsverein, um auch die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. Daß die Schrift auf die Mehrzahl der damals in der Bewegung stehenden Arbeiter so wenig Eindruck machte, mag heute manchem unerklärlich erscheinen. Und doch war es natürlich. Nicht nur die ökonomischen, auch die politischen Zustände waren noch sehr rückständige. Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, Paß- und Wanderfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit waren Forderungen, die dem Arbeiter der damaligen Zeit viel näher standen als Produktivassoziationen, gegründet mit Staatshilfe, von denen er sich keine rechte Vorstellung machen konnte. Der Assoziations- oder sagen wir der Genossenschaftsgedanke war erst im Werden. Auch das allgemeine Stimmrecht schien den meisten kein unentbehrliches Recht zu sein. Einmal war, wie mehrfach hervorgehoben, die politische Bildung noch gering, dann aber erschien der großen Mehrzahl der Kampf des preußischen Abgeordnetenhaus gegen das Ministerium Bismarck als eine tapfere Tat, die Unterstützung und Beifall, aber keinen Tadel und keine Herabsetzung verdiene. Wer politisch regsam war wie ich, verschlang die Kammerverhandlungen und betrachtete sie als Ausfluß politischer Weisheit. Die liberale Presse, die damals die öffentliche Meinung weit mehr beherrschte als heute, sorgte auch dafür, daß dieser Glaube erhalten blieb. Die liberale Presse war es jetzt auch, die mit einem Wut- und Hohngeschrei über Lassalles Auftreten herfiel, wie es bis dahin wohl unerhört war. Die persönlichen Verdächtigungen und Herabsetzungen regneten auf ihn nieder, und daß es vorzugsweise konservative Organe, zum Beispiel die „Kreuzzeitung“, waren, die Lassalle objektiv behandelten — weil ihnen sein Kampf gegen den Liberalismus ungemein gelegen kam —, erhöhte den Kredit Lassalles und seiner Anhänger in unseren Augen nicht. Wenn wir uns endlich vergegenwärtigen, daß es selbst heute, nach einer mehr als fünfundvierzigjährigen intensiven Aufklärungsarbeit, noch Millionen Arbeiter gibt, die den verschiedenen bürgerlichen Parteien nachlaufen, wird man sich nicht wundern, daß die große Mehrheit der Arbeiter der sechziger Jahre der neuen Bewegung skeptisch gegenüberstand. Und damals lagen noch keine sozialpolitischen Erfolge vor, die erst viel später dank der sozialistischen Bewegung erzielt wurden. Pioniere sind immer nur wenige.

Im Leipziger Komitee hatte Lassalles Auftreten die Wirkung, daß dieses sich spaltete und ebenso der Verein Vorwärts, der die Hauptstütze des Komitees war. Professor Roßmäßler, Eisengießereibesitzer Götz, ein Bruder des Turner-Götz in Lindenau-Leipzig, Dolge und eine größere Anzahl Arbeiter im Verein erklärten sich gegen Lassalle. Fritzsche, Vahlteich und Dr. Dammer mit einer Minderheit hinter sich wurden die eigentlichen Träger der neuen Bewegung. In Leipzig fand dieselbe relativ noch am meisten Anhang, Berlin versagte auf lange hinaus fast vollständig. Boden fand sie allmählich in Hamburg-Altona, von wo aus sie sich nach Schleswig-Holstein ausdehnte, dann in Hannover, Kassel, Barmen-Elberfeld, Solingen, Ronsdorf, Düsseldorf, Frankfurt a.M., Mainz, in einigen Städten Thüringens, wie Erfurt und Apolda, in Sachsen außer Leipzig in Dresden, wo der Vorsitzende des Dresdener Arbeiterbildungsvereins, Försterling, sich mit einer kleinen Schar Anhänger Anfang 1864 Lassalle anschloß; ferner in Augsburg.

Aber diese Ausbreitung war, wie gesagt, eine allmähliche und schwache und entsprach sehr wenig den Hoffnungen, die Lassalle und seine Anhänger hegten. Die hunderttausend Mitglieder, die er im Antwortschreiben in dem von ihm zur Gründung vorgeschlagenen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein als eine große politische Macht ansah, hoffte er in nicht ferner Zeit zu sehen. Es hat bekanntlich noch lange gedauert, ehe die sozialistische Bewegung auf diese Zahl organisierter Anhänger rechnen konnte.

Gegen Ende März legte das Leipziger Komitee in einer großen
Arbeiterversammlung sein Mandat nieder und beantragte, ein neues Komitee
zu wählen, das die Gründung des von Lassalle vorgeschlagenen Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins betreiben sollte. Nach einer sehr erregten
Debatte erklärte sich die Mehrheit der Versammlung für diesen Plan. Dr.
Dammer, Fritzsche und Vahlteich wurden mit der neuen Aufgabe betraut.

Am 16. April kam endlich Lassalle selbst nach Leipzig, um in einer großen Versammlung zu sprechen, die wie die meisten großen Versammlungen jener Zeit im Odeon in der Elsterstraße abgehalten wurde. Die Rede ist unter dem Titel „Zur Arbeiterfrage“ erschienen. Die Versammlung war von ungefähr 4000 Personen besucht, von denen aber ein erheblicher Teil noch vor Schluß derselben das Lokal verließ. Die Liberalen waren unter Führung eines Kaufmanns Kohner auf der der Rednertribüne gegenüberliegenden Galerie postiert und unterbrachen den Redner öfter durch Zwischenrufe. Die Vorbereitungen für den Redner waren etwas eigenartige. Der Rand des Katheders, von dem Lassalle sprach, war mit Büchern, darunter schwere Folianten, bepackt, als sollte es zu einer Disputation à la Luther kontra Eck kommen.

Lassalle scheint geglaubt zu haben, daß er eine schwere Opposition finden werde, die er widerlegen müsse, was nicht der Fall war. Sein persönliches Auftreten war nicht jedem sympathisch. Von hoher, schlanker, aber kräftiger Gestalt stand Lassalle sehr herausfordernd auf dem Katheder, wobei er öfter bald eine, bald beide Hände in die Armlöcher seiner Weste steckte. Er sprach fließend, manchmal pathetisch, doch schien es mir, als stoße er leicht mit der Zunge an. Er endete unter stürmischem Beifall eines großen Teiles der Versammlung, dem der andere mit Zischen antwortete.

Nach Lassalle ergriff Professor Roßmäßler das Wort und verlas eine längere Erklärung, in der er ausführte: er wisse, daß er keine Mehrheit in diesem Saale für seine Ansichten habe, aber er hoffe, daß die Einsicht noch kommen werde. Er protestiere gegen die Angriffe, die Lassalle gegen die deutsche Fortschrittspartei erhoben habe, er protestiere weiter gegen das Bestreben, die Arbeiter und die Fortschrittspartei zu trennen und eine besondere Arbeiterpartei zu bilden. Lassalle antwortete kurz und auffallend entgegenkommend. Er meinte, ihm schienen die Differenzen zwischen Roßmäßler und ihm mehr taktischer als prinzipieller Natur zu sein. Man hatte offenbar im Lassalleschen Lager noch Hoffnung, Roßmäßler herüberziehen zu können. Außerdem waren Fritzsche und Vahlteich warme Verehrer Roßmäßlers wegen des Kampfes, den er gegen Kirche und Pfaffentum führte. Beide gehörten mit Roßmäßler der deutsch-katholischen Gemeinde an, die in Leipzig bestand, beiden tat die Trennung von Roßmäßler weh.

Lassalle genügte nicht der Beifall der Masse, er legte großes Gewicht darauf, Männer von Ansehen und Einfluß aus dem bürgerlichen Lager auf seiner Seite zu haben, und er gab sich große Mühe, solche zu gewinnen. Wohl trat in Leipzig Professor Wuttke auf seine Seite, aber mit dessen sonstiger politischer Stellung war das nicht leicht zu vereinbaren. Wuttke war Großdeutscher, und zwar mit starker Neigung für Oesterreich. Als solcher war er auch Mitglied des Parlaments in Frankfurt a.M. gewesen. Er und Roßmäßler waren politische und persönliche Gegner. Außerdem war Wuttke grimmiger Gegner der kleindeutschen Fortschrittspartei und des Nationalvereins — zwei Organisationen, deren Angehörige fast ein und denselben Personenkreis bildeten. Da nun Lassalle gegen die Fortschrittspartei vorging, fand er Wuttkes lebhaftesten Beifall. Ein tieferes soziales Verständnis besaß Wuttke nicht, der nebenbei bemerkt ein glänzender Redner war und ein schönes Organ besaß. Die kleine, gebückte, schwarzhaarige Gestalt hatte etwas Gnomenhaftes. Der Brief Wuttkes an Lassalle, der in der erwähnten Leipziger Versammlung zum Verlesen kam, bestätigt meine Auffassung von Wuttkes Stellung. Zweifellos hat auch Lassalle Wuttke richtig eingeschätzt, aber es genügte ihm, daß Wuttke scheinbar auf seiner Seite stand.

Ich bemerke hier, ich schreibe keine Geschichte der Gesamtbewegung, sondern schildere nur meine persönlichen Erlebnisse und Beziehungen in derselben. Wer sich mit der Geschichte der Gesamtbewegung vertraut machen will, den verweise ich auf Mehrings Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und Bernsteins Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung.

* * * * *

Mit dem Auftreten Lassalles und der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, die am 23. Mai 1863 in Leipzig erfolgte, war das Signal gegeben zu erbitterten Kämpfen innerhalb der Arbeiterwelt, die sich von jetzt ab während einer ganzen Reihe Jahre abspielten und in denen oft Szenen vorkamen, die jeder Beschreibung spotten. Die Erbitterung wuchs mit den Jahren hüben und drüben, und da Arbeiter nicht an den Salonton gewöhnt sind — der übrigens auch bei denen versagt, die stolz auf denselben zu sein pflegen, sobald sie untereinander in starke Meinungsverschiedenheiten geraten —, so flogen die derbsten Grobheiten und Beschuldigungen herüber und hinüber. Nicht selten kam es aber auch zu Raufereien und Gewaltszenen in den Versammlungen, in denen die beiden Gegner aufeinanderplatzten, was zur Folge hatte, daß öfter die Wirte ihre Säle für Versammlungen verweigerten. Ein Hauptstreben jeder Seite war in den Versammlungen, die Leitung in die Hand zu bekommen; es begann also in der Regel schon der Kampf um den Vorsitz. Als ich einmal in einer Chemnitzer Arbeiterversammlung entdeckte, daß die Lassalleaner, um eine Mehrheit zu erlangen, beide Hände in die Höhe hoben, forderte ich auf: es sollten nunmehr beide Parteien beide Hände in die Höhe heben. Unter großem Jubel wurde der Vorschlag angenommen. Jetzt unterlagen die Lassalleaner.

Der einzige Vorteil dieser Meinungskämpfe war, daß beide Teile die größten Anstrengungen machten, ihren Anhang zu vermehren. Das geschah erst recht, als einige Jahre später die Seite, der ich angehörte, sich ebenfalls zum Sozialismus bekehrte, aber ihre eigenen Organisationen schuf und ihre Kämpfe gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein führte, der sich von 1867 an in zwei ungleich starke Fraktionen spaltete. Aber Kraft, Geld und Zeit wurden in jener, fast ein Jahrzehnt dauernden gegenseitigen Bekämpfung in unerhörter Weise verschwendet, zur Freude der Gegner.

In Leipzig hatte das Aufkommen des Lassalleanismus die Wirkung, daß die alten Differenzen zwischen dem Gewerblichen Bildungsverein und dem Verein Vorwärts verschwanden und endlich im Februar 1865 eine Vereinigung unter dem Namen Arbeiterbildungsverein herbeigeführt wurde. Die Polytechnische Gesellschaft hatte längst die Bevormundung des Gewerblichen Bildungsvereins aufgegeben, die sich als eine Sisyphusarbeit erwies. Außerdem erkannte auch die sächsische Regierung, daß es mit dem alten Bundestagsbeschluß von 1856 nicht mehr gehe; sie ließ wohl oder übel die Zügel schleifen. Hatte doch sogar der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein als Sitz Leipzig erkoren, obgleich dessen Tendenz ganz offensichtlich mit dem Bundestagsbeschluß in Widerspruch stand. Die Regierung zog schließlich die Konsequenzen und erklärte am 20. März 1864 jenen Bundestagsbeschluß für aufgehoben.

Es ist eine Erfahrung, die wir seitdem öfter machten, daß alle Gesetze und Unterdrückungsmaßregeln, die eine Bewegung hintanhalten oder unterdrücken sollen, versagen und ihre praktische Wirksamkeit überwunden wird, sobald die Bewegung sich als naturnotwendig und deshalb als unüberwindlich herausstellt. Die Behörden verlieren schließlich selbst den Glauben an ihre Macht und stellen den hoffnungslos gewordenen Kampf ein. So war es zu jener Zeit auch mit den vereinsgesetzlichen Bestimmungen in Sachsen, so war es bald darauf mit den Arbeiterkoalitionsverboten in Preußen und anderen Staaten, die einfach nicht mehr beachtet wurden.

Die Lohnkämpfe durch Arbeitseinstellungen begannen, allen Koalitionsverboten zum Trotz, noch während die weisen Herren in der Regierung darüber berieten: ob man diese Verbote ganz aufheben oder wie weit man sie aufheben solle. Dieselbe Erfahrung machte später die deutsche Sozialdemokratie unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes, unter dem die Behörden schließlich es auch als unmöglich ansehen mußten, die Versammlungs- und Organisationsverbote und die Unterdrückung der Blätter und Literatur in derselben Weise fortzuführen, wie das in den ersten Jahren unter dem Sozialistengesetz geschehen war. Dieselbe Erfahrung hat noch später auch die Frauenbewegung in denjenigen deutschen Staaten gemacht, in denen es den Frauen verboten war, sich in politischen Vereinen zu organisieren oder an politischen Vereinsversammlungen teilzunehmen. Praktisch waren diese Verbote längst überwunden, ehe man sich von seiten der Regierungen endlich entschloß, durch Gesetz zu sanktionieren, was tatsächlich bereits, dem früheren Verbot zum Trotze, bestand. Gesetze hinken stets hinter den Bedürfnissen drein, sie kommen nie einem solchen zuvor.

Im Leipziger Arbeiterbildungsverein wurde ich bei der notwendig gewordenen Neukonstituierung zum zweiten Vorsitzenden gewählt, eine Stellung, die ich bereits in der letzten Zeit im Gewerblichen Bildungsverein innehatte. Und als der erste Vorsitzende Dr. med. Reyher — ein Schüler Professor Bocks — bald darauf sein Amt niederlegte, rückte ich an dessen Stelle, eine Stellung, die ich bis zum Jahre 1872 innehatte, in welchem Jahre ich meine Festungshaft antreten mußte, die mir wegen angeblicher Vorbereitung zum Hochverrat wider das Deutsche Reich zuerkannt worden war.

Der Arbeiterbildungsverein erhielt vom Jahre 1865 ab eine jährliche städtische Unterstützung von 500 Taler, die ihm hauptsächlich für Ermietung besserer Lokalitäten und Aufrechterhaltung des Unterrichts gewährt wurde. Als aber in den nächsten Jahren der Verein, der politischen Mauserung seines Vorsitzenden folgend, ebenfalls immer mehr nach links abschwenkte, wurde dieselbe von der städtischen Vertretung zunächst auf 200 Taler herabgesetzt. Und als der Verein im Jahre 1869 sich für das Programm der zu Eisenach neugegründeten sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands erklärte, eine Entscheidung, die nach einer Redeschlacht, die drei Abende in Anspruch nahm, mit großer Mehrheit getroffen wurde, verlor er im nächsten Jahre den Rest der Subvention. Der Liberalismus unterstützt nur politisch brave und gehorsame Kinder, denn die Unterrichtszwecke des Vereins hatten unter seiner politischen Wandlung nicht im geringsten gelitten.

Der Vereinstag der deutschen Arbeitervereine.

Die Zahl der Arbeitervereine war namentlich in Sachsen erheblich geworden. Außer uns in Leipzig arbeiteten Julius Motteler, den ich 1863 auf dem Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins in Leipzig kennen lernte, und Wilhelm Stolle in Crimmitschau, Kupferschmied Försterling, bevor er zu den Lassalleanern überging, und Schuhmacher A. Knöfel in Dresden, Weber Pils in Frankenberg, die Weber Lippold und Franz in Glauchau, Buchbinder Werner in Lichtenstein-Callnberg, Weber Bohne in Hohenstein-Ernstthal usw. an der Gründung von Arbeitervereinen. Unsere Wirksamkeit dehnten wir auch auf Thüringen aus. Im unteren Erzgebirge waren unter der Wirker- und Weberbevölkerung Dutzende von Arbeiterlesevereinen gegründet worden, in denen ein reges geistiges Leben herrschte. Aehnliche Erscheinungen zeigten sich auch im übrigen Deutschland. Namentlich wurden in Württemberg eine große Zahl Arbeitervereine gegründet, die bereits 1865 sich zu einem Gauverband zusammenschlossen und bald darauf ein eigenes Organ ins Leben riefen. Auch in Baden und dem Königreich Hannover traten viele Arbeitervereine, meist Bildungsvereine, ins Leben.

Die Rührigkeit und Geschlossenheit, mit der andererseits die Lassalleaner arbeiteten, rief auch auf der Gegenseite das Bedürfnis nach Zusammenschluß hervor. Dieser Zusammenschluß konnte aber nur ein loser sein, denn ein gemeinsames festes Ziel, wie es die Lassalleaner hatten, für das sie mit Begeisterung und Opfermut kämpften, fehlte den Vereinen. Das einzige, in dem wir einig waren, war die Gegnerschaft gegen die Lassalleaner, und daß man angeblich keine Politik in den Vereinen treiben wolle. Tatsächlich aber suchten die Leiter der meisten dieser Vereine oder ihre Hintermänner den Verein, auf den sie Einfluß hatten, für ihre Parteipolitik zu gewinnen. Zu diesen Vereinen waren alle Nuancen der bürgerlichen Parteien jener Zeit vertreten. Vom republikanischen Demokraten bis zum rechtsstehenden Nationalvereinler, aus deren Mitte später (1867) die nationalliberale Partei gebildet wurde. Indes lösten sich schon 1865 die radikalen, großdeutsch gesinnten Elemente vom Nationalverein los und bilden die demokratische Volkspartei, deren Organ das in Mannheim erscheinende „Deutsche Wochenblatt“ wurde.

Einstweilen vertrug man sich in den Vereinen so gut es ging. Die politische Situation drängte noch zu keiner klaren Entscheidung, denn der Verfassungskampf gegen das Ministerium Bismarck in Preußen machte ein geschlossenes Zusammengehen nötig. Der Deutsche Reformverein, der sich im Gegensatz zum Nationalverein gebildet hatte und für die Beibehaltung von Gesamtösterreich zum Deutschen Reiche eintrat, war ein Sammelsurium von süddeutsch-partikularistischen und österreichischen Elementen mit stark ultramontanem Einschlag. Dieser hatte für die Arbeiterbewegung keine Bedeutung. Sein Eintreten für die österreichische Bundesreform, die in der Hauptsache in einem deutschen Parlament bestand, das aus den Landtagen der einzelnen Staaten gewählt werden sollte, erweckte nirgends Sympathien. Zu einer klaren Stellungnahme in der deutschen Frage kam man übrigens in den Arbeitervereinen nicht, ebensowenig in der schleswig-holsteinschen Frage, die mit dem Jahre 1864 anfing, sehr aktuell zu werden.

Die Arbeiterbewegung hatte auch im Westen Deutschlands, insbesondere im Maingau, Boden gefaßt. In Frankfurt a.M. kam es gelegentlich eines Arbeitervereinstags, den der Frankfurter Arbeiterbildungsverein, 29. Mai 1862, einberufen hatte, zu scharfen Auseinandersetzungen über die politische Stellung der Arbeiter. Hier trat der Rechtsanwalt J.B.v. Schweitzer — der später eine Hauptrolle in der Bewegung spielte — für eine besondere politische Organisation der Arbeiter ein, offenbar unter dem Einfluß von Lassalles Vortrag: Ueber den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes. Seitdem hörten auch im Maingau die Meinungskämpfe nicht auf. Das Erscheinen von Lassalles Antwortschreiben schürte das Feuer. In Frankfurt machte sich jetzt auch Bernhard Becker bemerklich, in dem ich eine Reihe Jahre später einen mäßig veranlagten und eitlen Menschen kennen lernte, der auch ungelenk in der Rede war. Der Versuch, auf einem Arbeitertag in Rödelheim — 19. April 1863 —, auf dem Professor Louis Büchner einen Vortrag über Lassalles Programm hielt, eine Erklärung gegen Lassalle durchzusetzen, mißglückte. Dagegen erschien Lassalle selbst am 17. Mai in Frankfurt a.M., um seine Sache zu vertreten. Schulze-Delitzsch, der ebenfalls eingeladen war, entschuldigte sein Fernbleiben durch Ueberhäufung mit Geschäften. Er tat wohl daran. Wie ich später Schulze-Delitzsch persönlich kennen lernte, wäre er Lassalle gegenüber in jeder Beziehung unterlegen. Sonnemann, der vor Lassalle sprach, hatte dieses Schicksal.

Die Antwort auf jene Vorgänge im Maingau war ein Ausruf, datiert vom 19.
Mai, durch den die deutschen Arbeitervereine zu einem Vereinstag nach
Frankfurt a.M. für den 7. Juni 1863 eingeladen wurden. Unterzeichnet war
der Aufruf vom Zentralkomitee der Arbeiter des Maingaus, von den
Arbeitervereinen Berlin, Kassel, Chemnitz und Nürnberg und dem
Handwerkerverein zu Düsseldorf.

In dem Aufruf wurde dem Leipziger Zentralkomitee die Schuld beigemessen, die Einberufung eines Arbeiterkongresses auf lange hinaus unmöglich gemacht zu haben. Der Bewegung selbst liege aber „ein so wichtiger und fruchtbarer Gedanke von so weittragender Bedeutung für eine friedliche, glückliche Entwicklung der Wohlfahrt unseres ganzen Volkes und Vaterlandes zugrunde, daß sie durch den Mißgriff einzelner in ihrem gesunden Verlauf nimmermehr gestört werden dürfe. Es sei die Pflicht aller, denen die Sache selbst am Herzen liege, mit allen Kräften zu verhüten, daß nicht das Ende eines durch Verschulden einzelner verfehlten Versuchs der Anfang einer unheilvollen Spaltung und Zersplitterung der ganzen Bewegung werde.“

Diese Spaltung war aber bereits vorhanden, und sie war, wie ich später erkannte, eine historische Notwendigkeit. Auf dem Vereinstag in Frankfurt a.M. waren 54 Vereine aus 48 Städten und einer freien Arbeiterversammlung (Leipzig) durch 110 Delegierte vertreten. Wäre die Einberufung des Vereinstags nicht Hals über Kopf erfolgt, so daß sie einer Ueberrumplung ähnlich sah, was den Einberufern in der Vorversammlung auch vorgehalten wurde, die Vertretung wäre eine erheblich stärkere geworden. Der Leipziger Gewerbliche Bildungsverein wählte mich mit 112 von 127 Stimmen zu seinem Vertreter. Außerdem waren in einer Leipziger Arbeiterversammlung Professor Roßmäßler und der Werkführer Bitter als Delegierte gewählt worden.

Als ich in Frankfurt in der Vorversammlung erschien, wurde ich August Röckel, der Vorsitzender des Lokalkomitees war, vorgestellt, der mich mit den Worten anredete: „Nun, ihr Sachsen, habt ihr endlich ausgeschlafen? Es wird Zeit.“ Etwas geärgert antwortete ich: „Wir sind früher aufgestanden als viele andere!“ Röckel lachte, er habe es nicht bös gemeint.

Unter den Delegierten befanden sich unter anderen Hermann Becker, der rote Becker, der seinerzeit im Kölner Kommunistenprozeß zu langer Festungshaft verurteilt worden war, Eugen Richter, den man kurz zuvor wegen seiner politischen Tätigkeit als Assessor gemaßregelt hatte, ferner Julius Knorr aus München, der Besitzer der „Münchener Neuesten Nachrichten“, die damals als ein kleines Blättchen erschienen, aber ihrem Besitzer ein großes Vermögen einbrachten.

Ob der rote Becker seinen Beinamen seinem roten Haare, das nur noch spärlich den mächtigen Kopf bedeckte, und seinem kurz geschnittenen roten Schnurrbart oder seiner früheren roten Gesinnung verdankte, weiß ich nicht. Becker war ein großer, stattlicher, sehr jovialer Herr, dem man die Freude an einem guten Tropfen und einem guten Bissen vom Gesicht ablesen konnte. Er war auch mitteilsam und gesprächig, im Gegensatz zu Eugen Richter, dessen frostiges, zurückhaltendes Wesen mir schon damals auffiel; Richter machte den Eindruck, als sähe er uns alle mit souveräner Geringschätzung an. Der Zufall wollte, daß ich eines Tages in der Mittagspause mit Becker, Eugen Richter und einigen anderen Delegierten einen Spaziergang um die Stadtpromenade machte. Hierbei kam die Unterhaltung auch auf Lassalle. Becker äußerte, Lassalle habe nur aus verletzter Eitelkeit, weil die Fortschrittspartei ihn nicht auf den Schild gehoben und ihm kein Landtagsmandat verschaffte, sein Pronunziamento gegen sie unternommen. Wie Guido Weiß erzählte, hatte der alte Waldeck geäußert, es sei ein Fehler, daß man Lassalle zurückgestoßen habe. Ferner deutete Becker an, Lassalle habe auch durch allerlei Frauengeschichten „sittliche Bedenken“ in der Fortschrittspartei hervorgerufen, was in Anbetracht der „sittlichen Verfehlungen“, die andere Führer der Fortschrittspartei jener Zeit sich zuschulden kommen ließen, etwas nach Heuchelei aussah. Becker machte seine Aeußerungen, wie ich bemerken will, ohne Animosität gegen Lassalle, wie er sich denn überhaupt nie zu Angriffen gegen seine ehemaligen Parteigenossen hinreißen ließ, im Gegensatz zu Miquel, der später auch für das Sozialistengesetz stimmte.

Die Leitung des Vereinstags wurde Handelsschuldirektor Röhrich-Frankfurt a.M. als erstem und Dittmann-Berlin als zweitem Vorsitzenden übertragen. Als ersten Punkt der Tagesordnung hatte Roßmäßler einen Antrag eingebracht, der fast einstimmige Annahme fand und lautete:

„Der erste Vereinstag deutscher Arbeiter- und Arbeiterbildungsvereine stellt an die Spitze seiner Beratungen und Beschlüsse den Ausspruch, daß er es für erste Pflicht der in ihm vertretenen und aller Arbeitervereine sowohl als überhaupt des gesamten Arbeiterstandes hält, bei der Verfolgung seines Strebens nach geistiger, politischer, bürgerlicher und wirtschaftlicher Hebung des Arbeiterstandes einig unter sich, einig mit allen nach des deutschen Vaterlandes Freiheit und Größe Strebenden, einig und mithelfend zu sein mit allen, welche an der Veredlung der Menschheit arbeiten.“

Diese Resolution drückt mehr als lange Reden den Standpunkt des Vereinstags aus. Obgleich diese Resolution direkt gegen den Lassalleanismus gerichtet war, wie die ganzen Verhandlungen des Vereinstags, wurde, soweit ich mich erinnere, der Name Lassalle nur von einem Redner erwähnt. Diese Ignorierung geschah nicht auf Verabredung; es ist wohl anzunehmen, sie geschah, weil man an die Zukunft der von Lassalle hervorgerufenen Bewegung noch nicht glaubte oder auch, weil man ihm nicht die Ehre antun wollte, seinen Namen zu nennen. Ueber den zweiten Punkt der Tagesordnung: Wesen und Zweck der Arbeiterbildungsvereine, referierte Eichelsdörfer-Mannheim, der auf der linken Seite der Versammlung stand. Ich beteiligte mich ebenfalls an der Debatte. Bemerkenswert ist, daß ein Amendement Dittmanns, das forderte, daß die Vereine auch Lehrkräfte für Ausbildung in der Volkswirtschaftslehre und in der Kenntnis der Landesgesetzgebung zu gewinnen suchen sollten, mit 25 gegen 25 Stimmen abgelehnt wurde. Dem Arbeiter von heute ist diese Rückständigkeit kaum begreiflich.

Ein anderer Punkt der Tagesordnung bildete die Forderung nach Beseitigung der Hemmnisse, die der Freiheit der Arbeit entgegenstünden, über den Dittmann referierte. Seine Resolution forderte Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Beseitigung der Erschwernisse der Eheschließung. Ein weiterer Punkt der Tagesordnung betraf die Stellung der Arbeiter zu den Spar- und Vorschußvereinen, den Konsum- und Produktivgenossenschaften, deren Gründung der Vereinstag den Arbeitern empfahl. Desgleichen empfahl er Gründung von Genossenschaften zur gemeinschaftlichen Benutzung von Werkstätten mit Triebkräften, als das beste Mittel zur Förderung des nationalen Wohles und der bürgerlichen Selbständigkeit der Arbeiter. In dieser Resolution wurde besonders darauf hingewiesen, daß dieses alles nach Schulze-Delitzschen Vorschlägen durchgeführt werden solle. Auch sollten Arbeiter und Arbeitgeber gemeinsam das Zustandekommen solcher Genossenschaften fördern, eine Auffassung, die nur in einer auf kleinbürgerlichem Standpunkt stehenden Versammlung Zustimmung finden konnte. Endlich sprach sich der Vereinstag für Schaffung von Alters- und Invalidenversicherungskassen aus, die geeignet seien, „manche Sorge wenigstens teilweise zu beseitigen“. Hier lag wenigstens keine Ueberschätzung dieser Kassen vor. In der Organisationsfrage wurde die Gründung von Gauverbänden mit monatlichen Zusammenkünften der Delegierten befürwortet, um die Gründung neuer Vereine zu fördern und unter den bestehenden Vereinen den Verkehr zu unterhalten. Ich nahm bei diesem Punkte das zweitemal das Wort, um mich gegen die Zulassung von Vertretern freier Arbeiterversammlungen auszusprechen. Gestützt auf meine damaligen Erfahrungen führte ich aus, daß mir diese Versammlungen bisher nicht imponiert hätten. Es fehle den Teilnehmern die vorbereitende Aufklärung, die in den Vereinen erreicht würde, und so folgten sie dem augenblicklichen Eindruck, den ein gewandter Redner erziele. Die Fußangeln der Vereinsgesetze fürchtete ich einstweilen nicht, bisher hätte man uns wenigstens in Sachsen gewähren lassen, doch könne ein Rückschlag kommen. Gauverbände hielt ich für nützlich. Diese Ausführungen riefen meinen Leipziger Widerpart Bitter auf die Tribüne, der gegen mein Urteil über den Wert der Arbeiterversammlungen protestierte. Diese seien viel besser, als ich sie schilderte, und mit Rücksicht auf die Möglichkeit, daß man das Vereinsgesetz wieder scharf gegen uns anwende, müßten wir uns die Vertretung durch freie Arbeiterversammlungen als Rückendeckung sichern.

Die schließlich angenommene Organisation lautete:

* * * * *

I. Es sollen periodisch, in der Regel alljährlich, freie Vereinigungen von Vertretern der deutschen Arbeitervereine stattfinden, um durch einen lebendigen persönlichen Austausch von Ansichten und Erfahrungen unter den Arbeitern selbst das Verständnis ihrer wahren Interessen zu erweitern und diese Erkenntnisse in immer ausgedehnteren Kreisen zur Anerkennung zu bringen.

II. Gegenstand der Verhandlungen ist alles, was auf die Wohlfahrt der arbeitenden Klassen von Einfluß sein kann.

III. Zutritt zu den Versammlungen haben die Vertreter von deutschen Arbeitervereinen, welche sich als solche auf dem Vereinstag durch schriftliche Vollmacht legitimieren. Ausnahmsweise können auch Vertreter freier Arbeiterversammlungen zugelassen werden, wenn der ständige Ausschuß, dem überhaupt die Prüfung der Vollmachten obliegt, sie zuläßt. Verweigert der Ausschuß die Zulassung, so ist Appellation an den Vereinstag gestattet. Jeder Verein kann einen oder mehrere bis zu fünf Abgeordneten senden, hat aber bei Abstimmungen nur eine Stimme. Jeder Abgeordnete kann nur einen Verein vertreten. Die Vereine, welche an einem Vereinstag teilgenommen haben, werden jedesmal brieflich eingeladen. Gleichzeitig wird die Einladung in möglichst vielen Blättern, jedenfalls aber in der „Deutschen Arbeiterzeitung“ in Koburg und in dem Frankfurter „Arbeitgeber“ veröffentlicht. Jeder Verein, welcher sich auf dem Vereinstag vertreten läßt, hat einen Beitrag von zwei Taler für jeden Vereinstag zu bezahlen. Denselben Beitrag haben diejenigen Vereine zu leisten, welche zwar keinen Vertreter entsenden, doch aber alle Berichte und Drucksachen zugesandt haben wollen.

IV. Jeder Vereinstag wählt einen ständigen Ausschuß von zwölf Mitgliedern, welcher mit der Besorgung nachfolgender Geschäfte beauftragt ist: 1. Der Ausschuß bestimmt Ort und Zeit des nächstfolgenden Vereinstags, sofern darüber von der letzten Versammlung nicht ausdrücklich beschlossen worden ist, und trifft die nötigen Vorbereitungen an dem Orte der Zusammenkunft. 2. Er erläßt die Einladungen und Bekanntmachungen, nimmt die Anmeldungen entgegen, fertigt die Eintrittskarten aus, empfängt die Beiträge, bestreitet die Ausgaben und führt die Rechnungen darüber. 3. Er stellt eine vorläufige Tagesordnung auf und bestellt nach Maßgabe derselben die Berichterstatter und bildet die vorberatenden Kommissionen vorbehaltlich der Bestätigung oder Abänderung der Beschlüsse des Vereinstags. 4. Er sorgt in der Zwischenzeit bis zum nächsten Vereinstag für die Förderung der Zwecke und die Ausführung der Beschlüsse des Vereinstags. 5. Der Ausschuß ernennt seinen Vorsitzenden und bestimmt über die Verteilung der Geschäfte unter seine Mitglieder; er legt dem Vereinstag die Rechnungen zur Prüfung und Genehmigung vor. Die Sitzungen des Ausschusses finden immer am Wohnort des jeweiligen Vorsitzenden statt. Zur Gültigkeit eines Beschlusses ist die Einladung sämtlicher, die Mitwirkung von wenigstens sieben Mitgliedern und die einfache Majorität der Abstimmenden erforderlich. Die Beschlußfassung kann auch auf schriftlichem Wege erfolgen. Eintretende Lücken ergänzt der Ausschuß und wenn die beschlußfähige Anzahl nicht zu erlangen sein sollte, der Präsident.

V. Die Geschäftsordnung für die Verhandlungen des Vereinstags wird von demselben festgesetzt.

VI. Der Vorsitzende des Ausschusses leitet bei den Vereinstagen die
Verhandlungen, bis die Versammlung ihren Präsidenten erwählt hat.

VII. Die Sitzungen des Vereinstags sind öffentlich.

* * * * *

In den ständigen Ausschuß wurden unter anderen gewählt: Sonnemann, Max
Wirth aus Frankfurt a.M., Eichelsdörfer-Mannheim, Dittmann-Berlin usw.
Die Seele dieser neuen Organisation wurde Sonnemann, der die
Sekretärarbeiten und die eigentliche Leitung übernahm.

Die Mittel, die dem Ausschuß aus der Organisation zur Verfügung standen, waren sehr unbedeutend, und selbst den geringen Beitrag von zwei Taler pro Jahr zahlten viele Vereine nicht. Opfer für einen gemeinsamen Zweck zu bringen, dafür waren damals die antisozialistischen Arbeitervereine nicht zu haben, darin unterschieden sie sich sehr unvorteilhaft von den Lassalleanern. Weil die Mittel fehlten, wandte sich der Ausschuß im Laufe des Sommers an den Nationalverein und erhielt von diesem 500 Taler, die auch in den nächsten zwei Jahren gezahlt wurden. Ebenso wandte sich Sonnemann persönlich an eine Reihe großer Unternehmer, um von diesen Mittel zu erhalten. Aber die Abneigung gegen alles, was Arbeiterverein heißt, war schon damals instinktiv bei unseren Bourgeois vorhanden, und so flossen von dieser Seite die Beiträge sehr spärlich.

Hier möchte ich auf einen Vorfall zu sprechen kommen, der sich zwar erst im übernächsten Jahre (Sommer 1865) abspielte, aber vierzig Jahre später in der „Kölnischen Zeitung“ in einer für mich ungünstigen Weise auszunutzen versucht wurde.

In Sachsen war der Kampf gegen die Anhänger Lassalles besonders heftig. Die für jene Zeit hochentwickelten industriellen Verhältnisse in Sachsen schienen für die sozialistischen Ideen einen besonders günstigen Boden zu bieten. Um aber die Agitation betreiben zu können, fehlten uns die Mittel. Was immer wir für Agitation aufbrachten, es langte nicht, obgleich die Redner elend bezahlt wurden. So setzten sich eines Tages Dr. Eras und Schriftsteller Weithmann — ein Württemberger, der eine katilinarische Existenz führte — hin und verfaßten ein überschwenglich gehaltenes Schreiben an den Vorstand des Nationalvereins, in dem sie um Geld für die Agitation gegen die Lassalleaner baten. Ich wurde erst nachträglich von dem Schreiben verständigt und gab auf ihr Ansuchen meine Unterschrift, außerdem unterzeichneten Eras und Weithmann. Die „Kölnische Zeitung“, die dieses Schreiben und mein Dankschreiben für die empfangenen 200 Taler — nicht 300, wie sie behauptete — vor einigen Jahren veröffentlichte, sprach die Vermutung aus, alle drei Unterschriften rührten von mir. Gegen diese Verdächtigung muß ich mich entschieden verwahren. In dem Dankschreiben führte ich aus, daß wir namentlich Literatur für die Vereine zu beschaffen beabsichtigten, und könnte der Vorstand des Nationalvereins in der Beziehung seinen Einfluß bei den Buchhändlern geltend machen, daß sie uns diese billig überließen. Daß er die Unterstützung gewährte, zeige, daß er mehr Interesse für die Bewegung habe, als man ihm verschiedenseitig vorwerfe. Das Geld wurde indes namentlich zu Agitationsreisen verwandt; es wurde aber sehr sparsam ausgegeben, denn als Ende 1866 und Anfang 1867 die Agitation für die Wahlen zum norddeutschen Reichstag einsetzte, waren von den 200 Talern noch 120 vorhanden, die jetzt ihre Verwendung fanden. Das war allerdings eine Verwendung, die nicht vorgesehen war. Aber von 1865 bis 1866 änderte sich eben die Situation, und trat hüben und drüben eine so rasche Wandlung in den Ansichten ein, daß nur noch sehr wenige auf dem alten Standpunkt stehen blieben. Der Nationalverein litt unter dieser Wandlung am allermeisten, der von da ab in rascher Auflösung begriffen und tatsächlich längst tot war, als er im Herbst 1867 offiziell seine Auflösung beschloß. Daß wir die 200 Taler erhalten hatten, ärgerte viele. Es war namentlich Dr. Hans Blum, der das nicht verwinden konnte. Er hielt sich ganz besonders verpflichtet, bei der Wahlagitation mir entgegenzutreten und mir zum Vorwurf zu machen, daß wir jenes Geld angenommen hätten. Er mußte aber die Entdeckung machen, daß all seine Mühe, mir zu schaden, vergeblich war.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich feststellen, daß ich niemals Mitglied des Nationalvereins war, wie mehrfach behauptet worden ist. Damit drücke ich keine Gegnerschaft gegen denselben zu jener Zeit aus, aber neben all den großen materiellen Opfern, die mir meine Stellung und Tätigkeit in der Arbeiterbewegung auferlegten, auch noch einen Beitrag für den Nationalverein zu zahlen, schien mir überflüssig, denn mein Einkommen war ein sehr schmales. Ich begnügte mich, um mit Schulze-Delitzsch zu reden, „geistiges Ehrenmitglied“ des Nationalvereins zu sein.

* * * * *

In Leipzig empfand man das Bedürfnis, als Gegengewicht gegen das Auftreten Lassalles und gegen die Agitation seiner Anhänger einen Hauptschlag zu führen. Ich erhielt also den Auftrag, mich mit Schulze-Delitzsch wegen einer Versammlung in Verbindung zu setzen. Dieser erklärte sich dazu bereit. In seiner Antwort setzte er mir auseinander, daß wir in Sachsen besonders aufpassen müßten, die sächsischen Arbeiter hätten schon 1848 und 1849 Neigung für kommunistische und sozialistische Ideen gehabt. Im Laufe des Januar 1864 kam Schulze-Delitzsch nach Leipzig.

Es war vereinbart worden, daß ich die Versammlung mit einer Begrüßung Schulzes eröffnen und alsdann zum Vorsitzenden gewählt werden sollte. Aber ich hatte Pech. Ich eröffnete die Versammlung, die von 4000 bis 5000 Personen besucht war, blieb aber mitten in der Eröffnungsrede — die ich einstudiert hatte — elend stecken. Mein Temperament war mit meinen Gedanken durchgegangen. Ich hätte vor Scham in den Boden sinken mögen. Das Ende war, daß nicht ich, sondern Dolge zum Vorsitzenden gewählt wurde. Ich gelobte mir jetzt, nie mehr eine Rede einzustudieren, und bin gut damit gefahren. Schulze-Delitzsch besaß kein angenehmes Organ, auch war sein Vortrag trocken und seinem Inhalt nach nicht geeignet, Begeisterung zu erwecken. Er brachte für viele eine Enttäuschung. Die Entwicklung nach links hielt er nicht auf.

Den Beschluß des Frankfurter Vereinstags, die Gründung von Gauverbänden zu betreiben, versuchten wir in Sachsen zu verwirklichen. Da aber die bestehende Gesetzgebung dem im Wege stand, suchten wir bei dem Ministerium Beust um Genehmigung nach. Auf einer Landesversammlung, die im Sommer 1864 unter meinem Vorsitz tagte, kam das Schreiben des Herrn v. Beust zur Verlesung, wonach der Minister den Gauverband gestatten werde, wenn die Vereine sich verpflichteten, sich weder mit politischen und sozialen, noch überhaupt mit öffentlichen Angelegenheiten zu beschäftigen. Darauf beantragte ich folgende Resolution, die einstimmig angenommen wurde:

„Die sächsischen Arbeitervereine danken für das Gnadengeschenk des Herrn v. Beust und ziehen es vor, von der Gründung eines Gauverbandes abzusehen.“ Eine zweite Resolution, lautend: „Die versammelten Deputierten fordern die sächsischen Arbeiter auf, mit aller Energie für die Beseitigung des bestehenden Vereinsgesetzes einzutreten“, wollte der überwachende Polizeibeamte nicht zur Abstimmung kommen lassen, weil dieses eine politische Handlung sei. Ich geriet darüber mit ihm in eine scharfe Auseinandersetzung, fügte mich aber unter Protest, als er mit der Auflösung der Konferenz drohte.

* * * * *

Am 31. August 1864 trug der Telegraph die Kunde durch die Welt, daß Ferdinand Lassalle an den Folgen eines Duells in Genf verschieden sei. Der Eindruck, den diese Nachricht hervorrief, war ein tiefer. Der weitaus größte Teil seiner Gegner atmete auf, als wenn er von einem Alp befreit sei; sie hofften, daß es nunmehr mit der von ihm hervorgerufenen Bewegung zu Ende gehen werde. Und in der Tat schien dieses anfangs so. Nicht nur zählte sein Verein bei seinem Tode trotz riesenhafter Arbeit erst wenige tausend Mitglieder, diese gerieten sich auch alsbald untereinander in die Haare. Dann hatte Lassalle unbegreiflicherweise in dem Schriftsteller Bernhard Becker, den er als seinen Nachfolger im Präsidium des Vereins empfohlen hatte, einen Mann gewählt, der in keiner Richtung seiner Aufgabe gewachsen war.

Daß aber auch manche Gegner der Bedeutung Lassalles gerecht wurden, dafür spricht ein Artikel in der Ende 1862 gegründeten Koburger „Allgemeinen Arbeiterzeitung“, die von dem Rechtsanwalt Dr. Streit in Koburg, dem Geschäftsführer des Nationalvereins, ins Leben gerufen worden war. Dieselbe hatte bisher, wenn auch maßvoll, Lassalle bekämpft, das hielt sie aber nicht ab, ihm einen ehrenvollen Nachruf zu widmen, an dessen Schluß es hieß:

„Ein Teil der liberalen Partei und der liberalen Presse, derselbe Teil, der ihn am bittersten und dennoch mit dem wenigsten Recht angefeindet, eben diejenigen, welche seine Keulenschläge am meisten verdienten, mögen jetzt im stillen seines Todes sich freuen. Wir beklagen den Tod eines Gegners, den nur Ungerechtigkeit oder Beschränktheit sich erlauben mag, mit dem gewöhnlichen Maße zu messen.“

Bekanntlich trieb die Gräfin Hatzfeldt, die langjährige intime Freundin
Lassalles, mit der Leiche des verstorbenen Freundes einen förmlichen
Kultus, indem sie dieselbe zwecks Abhaltung von Totenfeiern durch ganz
Deutschland führen wollte, ein Plan, der ihr, auf Intervention von
Lassalles Angehörigen, behördlicherseits durchkreuzt wurde. Auf die
Nachricht, daß die Leiche Lassalles Mannheim passieren werde, schrieb
Eichelsdörfer an Sonnemann einen Brief, dem ich die folgenden Stellen
entnehme, weil sie zeigen, wie bereits einzelne auf unserer Seite die
Situation ansahen.

Der Brief lautete:

* * * * *

„Lieber Freund Sonnemann!

Die Leiche Lassalles wird am Freitag, wie mir Reusche aus Genf telegraphiert, dahier eintreffen und auf das Dampfboot verbracht. Mögen wir ihm im Leben gegenübergestanden haben, wir waren doch in der Hauptsache einig, der großen Masse unseres Volkes zu helfen, und ich glaube, wir haben inzwischen gelernt, daß ohne allgemeines Stimmrecht und dadurch herbeigeführte Umgestaltung der jetzigen staatlichen Zustände auf eine durchgreifende Hilfe nicht zu rechnen ist. Vielleicht wäre der jetzige Moment ein günstiger, daß von unserer Seite etwas geschähe, um eine Vereinigung der beiden Strömungen auf Grund eines entsprechenden Programms herbeizuführen und damit dem dahingeschiedenen Kämpen ein Denkmal zu setzen. Etwas mehr Mäßigung auf der anderen und etwas mehr Entschlossenheit auf unserer Seite könnte dazu führen und der Sache nur nützen, da die Philisterhaftigkeit des jetzigen tonangebenden Liberalismus doch getrieben werden muß, wenn sie vorwärts dem Ziele entgegengehen soll. Es ist dies eine Ansicht von mir, die ich nicht ermangle, Dir mitzuteilen und Deine Ansicht zu hören, um sodann unsere Freunde vielleicht zu einem Schritte zu veranlassen, der unter Umständen von weittragenden Folgen sein — im gegenteiligen Sinne nichts schaden kann.

Auch habe ich das unbestimmte Gefühl, daß wir in Leipzig[2] doch zu energischen Beschlüssen geführt werden: da einmal alles auf die Prinzipien drängt und wir uns wohl denselben nicht entgegenstellen. Halbheit und Verschwommenheit nützen zu nichts; sie taugen nicht einmal dazu, für die richtige Lösung vorzubereiten…. Ich werde mich der Aufgabe nicht entziehen können, der Leiche Lassalles das Geleite zu geben. Einige Freunde werden dasselbe tun. Ich weiß nicht, ob ich den Verein dazu einladen soll, da es mißverstanden werden könnte, da viele Leute nicht verstehen und noch mehrere nicht verstehen wollen, daß man Lassalle anerkennen kann, ohne vollständig mit ihm einig zu gehen.“ Schließlich bittet er Sonnemann, ihm seine Ansicht mitzuteilen.

In einer Nachschrift heißt es: „Würde es Dir als Präsident der Arbeitervereinigung nicht anstehen, hierher zu kommen und dem Gegner die Ehre zu geben? Wenn Du dieses willst, telegraphiere, worauf ich Dir alsdann die Zeit des Eintreffens der Leiche, sobald ich es weiß, ebenfalls übermitteln werde.“

* * * * *

Was Sonnemann auf diesen Brief antwortete, ist mir nicht bekannt, jedenfalls wurde der Vorschlag Eichelsdörfers nicht berücksichtigt. Es mußte noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen, ehe ähnliches, wie Eichelsdörfer wollte, erfüllt wurde. Nachdem der ständige Ausschuß auf den Antrag des Gewerblichen Bildungsvereins zu Leipzig beschlossen hatte, dort den nächsten Vereinstag abzuhalten, machte die Koburger Arbeiterzeitung dagegen Opposition. Es sei ausgeschlossen, daß in dem von Herrn v. Beust regierten Sachsen die Abhaltung eines Vereinstag möglich sei, und sie eröffnete über den Beschluß die Debatte. Die einzigen Vereine, die sich der Koburger Arbeiterzeitung anschlossen, waren die badischen, die auf ihrem Vereinstag in diesem Sinne votierten. Gewisse Bedenken gegen die Abhaltung eines Vereinstags in Sachsen waren berechtigt, denn die Abhaltung desselben lag auf Grund des sächsischen Vereinsgesetzes ganz in den Händen des Herrn v. Beust, der Regen oder Sonnenschein gewähren konnte.

Um es nicht zum Regnen kommen zu lassen, trugen wir der Situation insoweit Rechnung, daß der ständige Ausschuß sich auf unser Ansuchen bereit erklärte, die Wehrfrage, als eine eminent politische, nicht auf die Tagesordnung des Vereinstags zu setzen. Das Lokalkomitee für die Vorbereitungen wurde durch je zwei Mitglieder des Vereins Vorwärts, des Gewerblichen Bildungsvereins und des Fortbildungsvereins für Buchdrucker, außerdem durch Professor K. Biedermann und ein Ausschußmitglied der Polytechnischen Gesellschaft gebildet. Der Vorsitz wurde mir übertragen. Herr v. Beust ließ lange auf die nachgesuchte Entscheidung warten, endlich erfolgte sie in zustimmendem Sinne. Der Vereinstag wurde nunmehr auf den 23. und 24. Oktober einberufen und als Tagesordnung festgesetzt: 1. Freizügigkeit. 2. Genossenschaftswesen, und zwar a. Konsumvereine, b. Produktivgenossenschaften. 3. Ein gleicher Lehrplan für die Bildungsvereine. 4. Wanderunterstützungskasse, deren Gründung von den vielen jungen Arbeitern in den Vereinen verlangt wurde. 5. Altersversicherung. 6. Lebensversicherung. 7. Regulierung des Arbeitsmarktes, also Arbeitsnachweis. 8. Arbeiterwohnungen. 9. Wahl des ständigen Ausschusses.

Das war für zwei Tage Beratung eine sehr reiche Tagesordnung, deren Erledigung nur dadurch möglich wurde, daß die Berichterstatter vorher Gutachten und Resolutionen veröffentlichten und Berichte und Reden kurz waren. Die Gründlichkeit beider ließ in der Regel viel zu wünschen übrig.

Vertreten waren 47 Vereine, darunter allein 8 aus Leipzig, und 3 Gauverbände: badisches Oberland, Württemberg und Maingau. Es gab damals in Leipzig neben dem Fachverein der Buchdrucker auch noch einen solchen der Maurer und der Zimmerleute. Außerdem hatten die Lassalleaner unter Leitung Fritzsches rasch drei weitere Fachvereine gegründet, und zwar einen Zigarrenarbeiter-, einen Schneider- und einen Schmiedegesellenverein. Unter den Delegierten befanden sich zum erstenmal Dr. Friedrich Albert Lange, Vertreter des Duisburger Konsumsvereins, und Dr. Max Hirsch für den Magdeburger Arbeiterbildungsverein. Ferner war anwesend als Gast Professor V.A. Huber, der konservative Vertreter der Genossenschaftsidee.

Die Versammlung wählte Bandow-Berlin zum ersten Vorsitzenden, Dolge und mich zu seinen Stellvertretern. Im Namen der Stadt begrüßte der Bürgermeister Dr. Koch die Versammlung. Gleich bei dem ersten Punkte der Tagesordnung: Freizügigkeit, kam es zu einem Krach mit Fritzsche und zu tumultuarischen Szenen durch seine Anhänger, die die Tribünen des Saales (Schützenhaus) stark besetzt hatten. Fritzsche erklärte im Sinne Lassalles, daß man über die Freizügigkeit nicht mehr debattiere, sondern sie dekretiere, dagegen müsse man das allgemeine Wahlrecht verlangen. Er sprach sehr provokatorisch und fand damit demonstrativen Beifall bei seinen Anhängern. Gegen diese Methode erhoben die Delegierten lebhafte Proteste. Bei dieser Gelegenheit bewunderte ich Friedrich Albert Langes Vermittlertalent, womit er Erfolg hatte. Ein energisches Eingreifen von meiner Seite, als Vorsitzender des Lokalkomitees, schaffte auch Ruhe auf den Galerien. Am nächsten Tage kam es nochmals zu einer lebhaften Szene, als Fritzsche verlangte, noch zum Worte zugelassen zu werden, nachdem bereits der Schluß der Debatte angenommen worden war. Als ihm das Wort verweigert wurde, protestierte er gegen den herrschenden Terrorismus und legte sein Mandat nieder. Die Beschlüsse des Vereinstags waren von keinem großen Belang. Fr. Albert Lange, der über Konsumvereine referierte, zeigte sich als ein glänzender Redner. In den ständigen Ausschuß wurden gewählt: Bandow, Bebel, Dr. M. Hirsch, Lachmann-Offenbach, Lange, Martens-Hamburg (ein ehemaliger Weitlingianer, von dessen Kommunismus aber nichts mehr zu spüren war), Reinhard-Koburg, ehemaliges Parlamentsmitglied für Mecklenburg, Sonnemann, Staudinger-Nürnberg, Stuttmann-Rüsselsheim, Weithmann-Stuttgart und Max Wirth-Frankfurt a.M.

FUSSNOTEN:

[2] Leipzig war als Ort für den nächsten Vereinstag bestimmt.

Friedrich Albert Lange.

Infolge meiner Mitgliedschaft im ständigen Ausschuß kam ich mit Friedrich Albert Lange in näheren persönlichen und schriftlichen Verkehr. Lange, eine untersetzte und kräftige Figur, war eine äußerst sympathische Erscheinung. Er hatte prächtige Augen und war einer der liebenswürdigsten Menschen, die ich kennen gelernt habe, der auf den ersten Blick die Herzen eroberte. Dabei war er ein Mann von festem Charakter, der aufrecht durchs Leben ging, den Maßregelungen nicht beugten. Und sie blieben ihm nicht erspart, als er offen für die Arbeiter eintrat. Er war sehr bald einer der „Geächteten“ und „Isolierten“ in der Industriestadt Duisburg. Zwischen uns und den Lassalleanern nahm er eine vermittelnde Stellung ein, wie sein Januar 1865 erschienenes Buch „Arbeiterfrage“ zeigt. Wenn in der später erschienenen Auflage desselben sein Standpunkt mehr nach rechts geht, wie ihm auch von Kritikern seiner Geschichte des Materialismus nachgesagt wird, daß er darin zum Metaphysischen neige, so betrachte ich dieses als die Folgen eines langen und schweren körperlichen Leidens, dem er leider zu früh erlag.

Lange stand im ständigen Ausschuß stets auf der linken Seite und drängte nach links. Mir erwies er zu jener Zeit einen großen persönlichen Dienst aus rein fachlichen Gründen. Wir in Leipzig waren, wie ich schon andeutete, mit der „Allgemeinen Deutschen Arbeiterzeitung“ in Konflikt gekommen. Die Stellungnahme des Blattes gegen die Abhaltung des Vereinstags in Leipzig hatte begreiflicherweise bei uns verschnupft.

Bei der Redaktion der „Arbeiterzeitung“ war, wahrscheinlich auf Einbläsereien aus Leipzig, der Glaube entstanden, wir wollten das Blatt untergraben, und ich sei Beustianer. Das war ein starkes Stück. Ich war im Gegenteil stets für das Blatt eingetreten und hatte seine Verbreitung gefördert. Auch im ständigen Ausschuß, in dem Gegner der Koburger Arbeiterzeitung saßen, trat ich für dieselbe ein und befürwortete ein günstiges Abkommen mit dem Verleger. Als aber die Koburger Arbeiterzeitung mit ihren Angriffen gegen mich fortfuhr, sandte ich ihr eine gepfefferte Erklärung, aus der sie nur abdruckte, daß ich mich als einen unerbittlichen Gegner der Beustschen Mißwirtschaft bekannt habe.

Dieser Streit veranlaßte den ständigen Ausschuß, Lange mit der Abfassung eines Berichts zu betrauen, in dem er mich warm verteidigte und meine Haltung rechtfertigte. Immerhin hatte die „Arbeiterzeitung“ erreicht, daß, als wir am 30. Juli 1865 in Glauchau eine Landesversammlung hielten, ich bei der Wahl zum Delegierten für den Stuttgarter Vereinstag mit einer Stimme, die ich weniger hatte als mein Gegenkandidat, unterlag. Als ich nachher meinen Standpunkt in bezug auf die „Arbeiterzeitung“ darlegte, erklärte eine Anzahl Delegierte, daß sie nunmehr die Sache anders ansähen. Die „Arbeiterzeitung“ hat denn auch später mir volle Genugtuung gegeben, sie sei falsch berichtet gewesen. Streit selbst entschuldigte sich auf dem Stuttgarter Vereinstag persönlich bei mir.

Die Ereignisse des Jahres 1866 — auf die ich später zu sprechen komme — und die Stellung, die Lange zu denselben einnahm, machten ihn in Duisburg, wo er Handelskammersekretär war, unmöglich. Er ließ sein Blättchen „Der Bote vom Niederrhein“ eingehen und folgte einer Einladung seines Freundes Bleuler zur Uebersiedlung nach Winterthur in der Schweiz. Dort trat er in die Redaktion von Bleulers Blatt „Der Winterthurer Landbote“ ein. Bleuler war einer der Führer der radikalen Demokratie im Kanton Zürich. Um jene Zeit begann die Agitation für eine Reform der rückständigen Verfassung des Kantons. Bleuler, Lange und der junge Reinhold Rüegg, der spätere Mitbegründer der „Züricher Post“, traten mit Gleichgesinnten in eine umfassende Agitation für eine demokratische Verfassungsreform ein und sahen im Jahre 1868 ihre Arbeit mit Erfolg gekrönt. Langes Einfluß ist es geschuldet, daß in die neue Verfassung folgender Artikel 23 aufgenommen wurde: Der Staat schützt und fördert auf dem Wege der Gesetzgebung das geistige und leibliche Wohl der arbeitenden Klassen und die Entwicklung des Genossenschaftswesens.

Mittlerweile war ich — wie ich vorgreifend bemerken möchte — Vorsitzender im Vorortsvorstand der Arbeitervereine geworden. Es galt nunmehr, die Vereine zum letzten Schritt ins sozialdemokratische Lager zu bestimmen. Daß dieses nicht ohne eine Spaltung abgehen würde, war mir klar. Ich hoffte Langes Hilfe zu diesem Schritte zu erlangen und schrieb an ihn am 22. Juni 1868 einen langen Brief, den sein Biograph, Professor O.A. Ellissen,[3] einen „sehr merkwürdigen Brief“ nennt, in dem ich ihn bat, das Referat über die Wehrfrage für den Nürnberger Vereinstag zu übernehmen. „Neben der Wehrfrage — so schrieb ich nach Ellissen weiter, der fragliche Brief ist leider nicht in meiner Hand — steht noch so mancher andere Punkt auf der Tagesordnung, für den Ihre Anwesenheit und Ihre gewichtige Stimme von der größten Bedeutung ist.“ Ich sprach weiter in dem Briefe von der Programmfrage und der Wahrscheinlichkeit einer Spaltung, „es seien aber zehn sichere Vereine besser als dreißig schwankende“.

Lange antwortete am 5. Juli:

* * * * *

„Lieber Herr Bebel!

Ich bedaure sehr, Sie in Ungewißheit gelassen zu haben, allein meine Existenz war in letzter Woche die, daß ich den Tag über in Zürich war, um aus der Verfassungskommission zu referieren, und in der Nacht hier eine tägliche Zeitung und ein Wochenblatt zu machen hatte. Mein Associé und Kollege hat als Vizepräsident der Verfassungskommission und Mitglied zahlreicher Spezialkommissionen augenblicklich so viel pro patria zu tun, daß ich die Redaktionsarbeit und dabei noch die Sorge für ein ziemlich großes Geschäft allein auf dem Halse habe. Dabei kann ich nur Samstag nachmittag und Sonntag an Korrespondenz denken. Leider kann ich vor Vollendung der neuen Verfassung — wir sind froh, wenn sie noch in diesem Jahre fertig wird — nicht mit Sicherheit über meine Zeit verfügen. Es wird zwar eine mehrmonatige Pause geben; allein ich kann nicht sicher wissen, wann diese fällt, und daher auch zu meinem großen Bedauern das Referat über die Wehrfrage nicht übernehmen. Wenn meine Zeit es irgend erlaubt, komme ich dann noch nach Nürnberg, da ich meinerseits ebenfalls mich danach sehne, so viele wackere Freunde — leider zum Teil in getrennten Lagern — wiederzusehen.“

* * * * *

Der Nürnberger Vereinstag fand ohne Lange statt. Ich sah ihn überhaupt nicht mehr wieder, auch hörten meine brieflichen Beziehungen zu ihm auf. Ende Oktober 1870 wurde Lange zum Professor an der Universität Zürich ernannt. Als ihn dann 1872 der liberale Kultusminister Falk als Professor nach Marburg berief, versuchte Zürich vergeblich, ihn festzuhalten. Der Zug nach dem Heimatland, der namentlich bei seiner Gattin sehr lebhaft war, siegte. Aber bereits am 23. November 1875 erlag er, erst 47 Jahre alt, seinem langjährigen Leiden. Mit Lange hatte einer der Besten aufgehört zu leben.

FUSSNOTEN:

[3] Friedrich Albert Lange. Eine Lebensbeschreibung von O.A. Ellissen. Leipzig 1891. Ein empfehlenswertes Buch.

Neue soziale Erscheinungen.

Im Frühjahr 1865 trat in Leipzig der erste deutsche Frauenkongreß zusammen unter Führung von Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt, der die Gründung eines Allgemeinen Deutschen Frauenvereins zur Folge hatte. Es war der erste Schritt aus der bürgerlichen Frauenwelt, welcher zu einer Frauenorganisation führte. Die „Frauenzeitung“, die damals ein Hauptmann a.D. Korn herausgab, wurde Organ des Vereins, und traten neben Korn Frau Luise Otto-Peters und Fräulein Jenny Heinrichs in die Redaktion ein. Ich wohnte den Verhandlungen als Gast bei. Als dann der Leipziger Frauenbildungsverein, dessen Vorsitzende Luise Otto-Peters war, sich an den Arbeiterbildungsverein wandte, damit dieser an Sonntagen sein Lokal zur Errichtung einer Sonntagsschule für Mädchen hergebe, gaben wir bereitwillig unsere Zustimmung.

* * * * *

Das Jahr 1865, das ein Prosperitätsjahr war, sah eine Menge Lohnkämpfe, die in den verschiedensten Städten ausbrachen. So gab es unter anderen große Arbeitseinstellungen in Hamburg, den Streik der Tuchmacher in Burg bei Magdeburg, die Arbeitseinstellung der Leipziger Buchdrucker, der eine Arbeitseinstellung der Leipziger Schuhmacher und anderer Branchen folgte. Der Leipziger Buchdruckerausstand war hervorgerufen durch die niedrigen Löhne und durch die lange Arbeitszeit. Der höchste Wochenlohn betrug 5-1/4 Taler. Für 1000 n wurden 25 Pfennig sächsisch bezahlt, die Gehilfen verlangten 30 Pfennig und Herabsetzung der Arbeitszeit. Am 24. März kündigten von 800 Mann 545 und traten acht Tage später in den Ausstand. Eine Organisation für Streikunterstützungen bestand nicht. Der Buchdrucker-Fortbildungsverein, dessen Vorsitzender Richard Härtel war, mußte neutral bleiben, bei Strafe der Auflösung. Härtel selbst arbeitete in einer Offizin, der Colditzschen, in der der neue Tarif anerkannt war. Der Buchdruckerverband wurde erst 1866 gegründet, und gab der Leipziger Ausstand die Anregung dazu. Ein Vermittlungsversuch, den der Geheimrat Professor Dr. v. Wächter, einer der ersten Juristen Deutschlands, machte, war erfolglos gewesen.

Sonnemann, der als Buchdruckereibesitzer mit besonderem Interesse die Angelegenheit verfolgte, schrieb an mich, ich möchte beiden Seiten die Vermittlung des ständigen Ausschusses anbieten, und gab mir für diesen Versuch verschiedene Verhaltungsmaßregeln. Da der Briefwechsel, den ich mit ihm über diese Angelegenheit hatte, auch noch heute von Interesse sein dürfte, veröffentliche ich hier denselben.

* * * * *

„Leipzig, den 11. Mai 1865.

Herrn Leopold Sonnemann, Frankfurt a.M.

Durch längeres Unwohlsein abgehalten, bin ich erst heute in der Lage, auf Ihr Wertes vom Ersten dieses Monats zu antworten. Ihren Plan, eine Vermittlerrolle in Sachen des hiesigen Buchdruckerstreiks zu versuchen, muß ich vollkommen billigen. Ich wandte mich daher zunächst brieflich an den Vorsitzenden des hiesigen Buchdruckervereins, um sein Urteil über die Sache zu hören. Derselbe antwortete, daß er selbst in einer Offizin arbeite, in der der Tarif genehmigt sei, er daher der ganzen Angelegenheit ferner stehe. Er riet mir, mich an die Tarifkommission zu wenden.

Am Dienstag nachmittag nahm ich mit dieser Rücksprache und war erfreut über die Bereitwilligkeit, mit der man meinem Vorschlag entgegenkam. Man nannte mir auch einige der Prinzipale, bei denen ich mich zunächst erkundigen sollte, ob man auch von dieser Seite Geneigtheit zu einer Vermittlung zeige. Es waren dies die Herren Giesecke & Devrient und Ackermann (Firma Teubner). Gestern nun ging ich zu den Genannten.

Devrient war verreist, Giesecke nicht zugegen, und bei Ackermann wurde mir der Bescheid, daß ich mich am besten an Stadtrat Härtel (Firma Breitkopf & Härtel) oder an Brockhaus wende, da diese Vorsitzende der Genossenschaft seien. Ich muß hierbei bemerken, daß ich mich absichtlich nicht an die Letztgenannten gewendet hatte, und zwar aus dem Grunde, weil dieselben als die heftigsten Gegner der Arbeiter bekannt sind. Gleichwohl sah ich mich nach dieser Anweisung veranlaßt, dennoch zu Härtel zu gehen. Ich traf beide Brüder zu Hause an und hatte eine ziemlich eine Stunde dauernde Unterhaltung mit ihnen, deren Endresultat war, daß die Prinzipale keinen Schritt zu einer Verständigung mehr tun würden, nachdem die Tarifkommission der Schriftsetzer sich gegenüber den Vermittlungsversuchen des Geheimrats Professor v. Wächter so unnachgiebig gezeigt habe. Ich erwiderte darauf, daß seit jener Zeit (vierzehn Tage) sich die Ansichten doch wohl geändert hätten und man von jener Seite auf eine Verständigung bereitwilligst eingehen werde.

Aber diese und ähnliche Erklärungen von meiner Seite nützten nichts. Ich merkte sehr deutlich aus den Aeußerungen dieser Herren, daß man auf die Tarifkommission aufs äußerste erbittert sei, und eine Verständigung einfach nicht wolle.

So stellte man unter anderem die Behauptung auf, daß diese Kommission kein Mandat habe, namens der Schriftsetzer zu unterhandeln, sondern sie habe sich dasselbe angemaßt. Eine Behauptung, die gegenüber den Tatsachen sich ganz merkwürdig ausnimmt. Dann sagte man wieder: was es denn nützte, wenn die Kommission auch eine Einigung mit den Prinzipalen erzielte und nun die übrigen aber nicht wollten. Ueberhaupt habe man keine Veranlassung, eine andere Vermittlung anzunehmen, da der genannte Geheimrat Professor v. Wächter sich noch bei Abbruch der Verhandlungen bereit erklärt habe, jederzeit dieselben wieder aufzunehmen, und wenn es den Arbeitern mit dem Vorschlag wirklich Ernst sei, sie hierzu Schritte tun möchten.

Nach dieser Erklärung sah ich allerdings ein, wie wenig Erfolg weitere
Verhandlungen haben müßten, und entfernte mich.

Den feiernden Schriftsetzern, welche mittlerweile eine Versammlung im Kolosseum abhielten, ließ ich diese Nachricht sofort zukommen; was man beschlossen hat, ist mir bis zu diesem Augenblick unbekannt.

Es tut mir leid, nicht ein besseres Resultat erzielt zu haben.

Gleichwohl werde ich die Sache genau verfolgen, und wenn sich irgendwie die Sache für uns noch günstig gestalten sollte, Ihnen sofort Mitteilung machen.

Ich bin überzeugt, daß man von seiten der Kommission mit einer Verständigung es wirklich ernst meint, da man wohl nach und nach einzusehen anfängt, wie gefährlich es ist, die Sache aufs Aeußerste zu treiben, und ein ehrenvoller Vergleich das beste ist. Andernteils aber bin ich ebensosehr überzeugt, daß der genannte Herr Härtel keineswegs im Sinne aller Prinzipale mir gegenüber handelte, da es bekannt ist, wie die meisten zu einem Vergleich gern die Hand böten. Indes läßt sich mit den einzelnen nicht unterhandeln, da Härtel als Vorsitzender der Genossenschaft alle derartige Anträge vorzubringen hat. Ich habe die Absicht, die ganze Angelegenheit durch die Presse zu veröffentlichen und abzuwarten, ob nicht darauf einzelne sich herbeilassen, über die Köpfe der extremsten Führer wie Härtel, Brockhaus usw. hinweg die Hand zur Verständigung zu bieten. Noch bemerke ich, daß sechs Druckereien in der Hauptsache die Forderungen der Arbeiter bewilligt haben….“

* * * * *

Auf diesen Brief antwortete postwendend Sonnemann am 12. Mai:

„Ich war erstaunt, so lange ohne alle Nachricht zu bleiben. Meine Anfrage vom 1. ds. Mts. bezüglich der Buchdrucker war nur eine vorläufige. Meine deutlich ausgesprochene Absicht war, daß Sie in der Sache gemeinschaftlich mit Dr. Hirsch und Bandow operieren sollten, und beide hatten sich auch schon mir gegenüber dazu bereit erklärt. Nicht etwa, daß ich nicht zu Ihnen das volle Vertrauen hätte, daß Sie auch allein imstande sind, die Sache zu führen; meine Absicht war, dem Auftreten des Ausschusses dadurch, daß drei seiner Mitglieder als Vertreter kommen, mehr Förmlichkeit und dadurch mehr Gewicht zu geben. Ich rechnete in dieser Beziehung besonders auf Bandow, der als Vorsitzender des Kongresses in Leipzig dort in gutem Andenken steht. Indessen haben Sie ja alles mögliche aufgeboten, und es ist nur zu bedauern, daß der Erfolg Ihrer vielen Bemühungen nicht günstiger war. Ehe Sie etwas veröffentlichen, halte ich für passend, wenn ich nochmals an Brockhaus und Härtel schreibe und diesen Herren wiederholt die Absendung einer Deputation von seiten des Ausschusses anbiete. Als Motiv würde ich angeben, daß die Arbeiter zu ihren gewählten Vertretern doch das meiste Zutrauen haben würden. Vielleicht macht man die Sache so, daß die Buchdrucker unserer Deputation Pleinpouvoir geben. Die Prinzipale mögen ihren Geheimrat von Wächter und noch einige Herren ernennen und diese Kommission dann einen für alle Teile bindenden Spruch fällen. Schreiben Sie mir mit Postwendung, ob Sie damit einverstanden sind, daß ich nochmals an die Herren schreiben soll. Einige Zeilen von Ihnen genügen mir. Ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß ich der Ansicht bin: die Buchdruckergehilfen sind in der Form und in der Sache zu weit gegangen. Sie sind, wie ich vermute, von den Lassalleanern aufgehetzt worden. Wäre das nicht der Fall, dann hätten sie ihre Forderungen durchgesetzt, denn niemals war eine Zeit den Bestrebungen um Lohnerhöhung günstiger als die jetzige; das zeigt sich daran, daß allenthalben die in mäßigen Grenzen gehaltenen und anständig vorgebrachten Forderungen durchgesetzt wurden….“

* * * * *

Die Vermutung Sonnemanns, als hätten die Lassalleaner in diesem Streik ihre Hände gehabt, war vollkommen falsch. Der „Sozialdemokrat“ Schweitzers zeigte zwar ein außerordentlich lebhaftes Interesse für die Arbeitseinstellung der Leipziger Buchdrucker, aber Einfluß auf diese erlangte er nicht.

Am nächsten Tage gab ich folgende Antwort:

„Auf Ihre geehrte Zuschrift vom 12. ds. Mts. habe ich zu erwidern, daß ich Ihre Absicht in dem Schreiben vom 1. ds. Mts. vollständig richtig aufgefaßt habe. Danach aber war es ganz natürlich, zuvor anzufragen und zu hören, ob beide Parteien geneigt seien, eine Vermittlung des ständigen Ausschusses anzunehmen. Daß ich nichts weiter getan habe, werden Sie schon aus der Erklärung Härtels in der gestrigen „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ ersehen haben. Nur muß ich hier zu meiner Rechtfertigung bemerken, daß es mir nach den persönlichen Erklärungen dieses Herrn unmöglich war, offiziell einen derartigen Antrag zu stellen.

Seine Erklärung scheint hauptsächlich hervorgerufen worden zu sein durch verschiedene Anfragen der Prinzipalität auf die Notizen verschiedener Zeitungen, die hiesige Buchdruckergenossenschaft habe die Vermittlung abgelehnt, während man sie in corpore nicht darum gefragt hatte.

Ich bemerke hierüber ausdrücklich, daß die Nachrichten in öffentlichen Blättern, die sich sogar vielfach widersprechen, nicht von mir ausgegangen sind. Das Gute aber haben sie gehabt, daß die öffentliche Meinung aufs neue angeregt wurde und mich unter anderen Geheimrat v. Wächter gestern früh zu sich bescheiden ließ, um mit ihm über die Sache zu konferieren. Er teilte mir mit, daß er bereit sei, jederzeit die Vermittlung wieder zu übernehmen, und er sich hierzu meine Hilfe erbitte. Er schlage mir vor, zunächst nochmals bei der Tarifkommission anzufragen, ob man hierzu geneigt sei und auf welcher Grundlage. Wobei er mir bemerkte, wie er es für unumgänglich notwendig erachte, daß man sich von seiten der Gehilfen zu Konzessionen herbeilasse. Dieser letzteren Ansicht muß ich vollkommen beistimmen, und haben auch Sie vollkommen recht, daß die Form, in welcher man anfangs vorging, nicht die rechte war.

Auf nochmalige Anfrage bei der Tarifkommission erklärte man sich bereit, zu Wächter zu gehen und sich mit ihm zu vereinbaren. Ich erklärte dabei nochmals, daß der ständige Ausschuß sofort bereit sein würde, in Gemeinschaft mit Wächter die Vermittlung zu übernehmen. Man nahm dies dankend an und versprach, nachdem man mit Wächter Rücksprache genommen, mir Antwort zu sagen. Leider war ich gestern nachmittag nicht anwesend, als die Deputation bei mir war. Heute morgen nach Empfang Ihres Briefes begab ich mich sofort in das Sitzungslokal der Tarifkommission, traf aber dort niemand an. Ich werde daher später nochmals hingehen. So weit vormittags 1/2 10 Uhr.

Mittags 1 Uhr. Soeben verließ mich ein Mitglied der Tarifkommission, das mir folgendes mitteilte. Der Vorsitzende der genannten Kommission habe sich gestern auf meinen Wunsch zu Wächter begeben und ihm ihre Bereitwilligkeit, unter Hinzuziehung des ständigen Ausschusses nochmals zu unterhandeln, ausgesprochen. Auf die Frage, auf welcher Grundlage das geschehen solle, habe man den Vorschlag gemacht, eine andere Art der Berechnung aufzustellen, nämlich statt nach 1000 n nach dem Alphabet. Wächter ist damit einverstanden gewesen und hat versprochen, mit einigen Prinzipalen Rücksprache zu nehmen und über den Erfolg Antwort zukommen zu lassen. Bis jetzt ist eine solche nicht erfolgt, und es bleibt uns nach meiner Ansicht für jetzt nichts anderes übrig, als diese abzuwarten; ich werde Ihnen alsdann sofort Nachricht zukommen lassen.

Ihrer Ansicht, an Brockhaus und Härtel zu schreiben, kann ich nicht zustimmen, da diese gerade die größten Gegner der Arbeiter respektive der Arbeitervereine sind und Sie sich durch ein Motiv, wie Sie es in Ihrem Schreiben angeben, aufs schlimmste insinuieren würden. Sagt man doch Härtel nach, daß er beim hiesigen Polizeidirektorium dahin zu wirken versucht habe, daß man die hiesigen Vereine auflöse, weil sie die feiernden Arbeiter zum Teil unterstützt haben, und mußte ich doch auch aus seinem Munde hören, daß die Angelegenheit am besten zu Ende geführt würde, wenn die Arbeiter und Vereine aufhörten, die Buchdrucker mit Geldsammlungen zu unterstützen.

Schließlich muß ich mich gegen den Vorwurf in Ihrem Schreiben verwahren, als wenn ich allein die Vermittlung hätte übernehmen wollen. Es ist mir dies nicht im entferntesten eingefallen, und ich habe ausdrücklich, sowohl bei der Tarifkommission wie bei Härtel, von einer Deputation des ständigen Ausschusses gesprochen und auch ausdrücklich die Namen genannt. Schon wegen einer Besprechung in unseren eigenen Angelegenheiten wäre es mir lieb, Bandow und Hirsch hier zu haben.“

* * * * *

Drei Tage später, den 16. Mai, folgte alsdann von mir ein neuer Brief an
Sonnemann, in dem es hieß:

„Ich bin nunmehr in der Lage, Ihnen endgültig über die
Buchdruckerangelegenheit zu berichten.

Wie ich Ihnen in meinem Schreiben mitteilte, war die Tarifkommission auf meine Veranlassung mit Wächter in Unterhandlung getreten und hatte diesem als Grundlage die neue Berechnungsart vorgeschlagen. Wächter ging darauf ein und berief die frühere Vermittlungskommission der Prinzipale, um ihr diese Proposition der Tarifkommission zu stellen. Man rechnete und rechnete, fand aber schließlich, daß das Resultat dasselbe sei, indem man allerdings oftmals nur 27 bis 28 Pfennig zu zahlen haben würde, aber eben so oft auch 32 und 33 Pfennig. Mitglieder der Tarifkommission versicherten mir selbst, der Preis bleibe nach dieser Berechnung der gleiche und nur die Form sei eine andere. Die Prinzipale lehnten nunmehr die Vermittlung ab, da sie nur im Falle einer Konzession in den Bedingungen der Gehilfen sich zu einer Verständigung herbeilassen wollten.

Als ich nun gestern früh Ihr wertes Schreiben erhielt,[4] trat ich sofort wieder mit der Tarifkommission in Unterhandlung, legte ihr den Frankfurter Tarif, sowie Ihre Berechnung als Basis für eine Vermittlung mit den Prinzipalen vor, nochmals hervorhebend, wie ich es selbst für notwendig hielt, nicht starr an den Forderungen festzuhalten und die Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Der Betreffende erklärte sich mit diesen Ansichten einverstanden, versprach, den Vorschlag seinen Kollegen vorzulegen und mir Bericht zu erstatten.

Gestern abend erhielt ich Antwort. Diese lautete abschlägig. Man motivierte diese Antwort damit, man habe verschiedenes in Aussicht, weshalb man hoffe, dennoch die Forderungen durchzusetzen. Leipzig als Hauptort des Buchdrucks habe vor allem darauf zu sehen, einen möglichst hohen Lohn zu erzielen, da dieses für die anderen Städte von großem Einfluß sei, auch enthalte der von Ihnen aufgestellte Entwurf eine ganze Menge von Bestimmungen, in denen sie den Prinzipalen Konzessionen machen könnten und wollten. Ich war durch diese Antwort überrascht. Ich hatte sicher erwartet, daß man diesen Vorschlag annehmen würde. Nachdem er abgelehnt wurde, habe ich keine Veranlassung, in dieser Angelegenheit noch einen Schritt zu tun, es sei denn, man fordere mich von jener Seite dazu auf.

Mir scheint, daß, wie die Prinzipale von Härtel und Brockhaus sich beeinflussen lassen, auch einige in der Tarifkommission über alle anderen gebieten. Man muß es nun schließlich darauf ankommen lassen, welche von den beiden Parteien mit ihrer Starrköpfigkeit den Sieg davonträgt.

Von seiten der Gehilfen erwartet man von der jetzt im Gange befindlichen Buchhändlerbörse einen günstigen Einfluß für ihre Forderungen; wie weit dies richtig ist, wird sich herausstellen. Tatsache ist auch, daß von auswärts immer noch eine Masse von Zuschriften und Geldsendungen einlaufen, die sie zur Ausdauer anfeuern.

Wie Ihnen bereits bekannt sein dürfte, geht man von seiten der Polizei mit Maßregelungen gegen die feiernden Gehilfen vor, was ich durchaus nicht billige. Es haben infolgedessen am Montag bereits neunzehn Mann die Stadt verlassen. Einer hat wieder zu arbeiten angefangen. Jedenfalls ein klägliches Resultat, wenn man zu diesem Zweck, wie zu vermuten, die Maßregelungen ins Werk gesetzt hat.“

* * * * *

In einem anderen Briefe von mir an Sonnemann vom 28. Mai heißt es in einer Nachschrift lakonisch: In der Buchdruckerangelegenheit steht alles beim alten.

Am 20. Juni schreibt Sonnemann wieder:

„Ich bin nicht wenig erstaunt, daß Sie mein Schreiben vom 17. ds. Mts. gänzlich unbeachtet lassen (dasselbe ist aus dem schon oben angegebenen Grunde nicht mehr zu entziffern, es bezog sich aber auch mit auf die Buchdruckerangelegenheit). Wenn der Mechanismus bei uns nicht besser ineinandergreift, dann wird mir wohl die Herausgabe der Flugblätter sehr schwer werden.“

Hierzu sei bemerkt: Der ständige Ausschuß hatte, weil er mit dem Verleger der „Allgemeinen Arbeiterzeitung“ in Koburg beständig in Konflikt war, die Herausgabe von Flugblättern beschlossen, die womöglich wöchentlich erscheinen sollten. Diese Flugblätter sollten alle auf die Arbeiterbewegung bezüglichen Mitteilungen enthalten und sollten in erster Linie die Mitglieder des ständigen Ausschusses daran mitarbeiten. Meine Antwort auf Sonnemanns Brief ist vom 23. Juni datiert und lautete:

„Die Vorwürfe, die Sie mir in Ihrem letzten Schreiben vom 20. ds. Mts. über meine angebliche Lauheit machen, muß ich zurückweisen. Sie würden dieselben nicht gemacht haben, wenn Sie meine Verhältnisse kennten. Diese aber sind derart, daß ich über meine Zeit nicht so verfügen kann, wie ich möchte. Habe ich auch ein selbständiges Geschäft, so bin ich durch meine Unbemitteltheit gezwungen, durch Arbeit den täglichen Lebensunterhalt zu verdienen; dazu kommt, daß ein guter Teil der Last der Geschäfte im (Arbeiterbildungs-)Verein ebenfalls auf mir liegt und ich auch hier schon gezwungen bin, manche Stunde zu opfern, abgesehen von den Abenden, die gänzlich durch Vereinsangelegenheiten in Anspruch genommen sind. Gleichwohl werde ich, soweit es irgend geht, den an mich gestellten Anforderungen nachzukommen suchen und würde auch auf Ihr erstes Schreiben bereits geantwortet haben, wenn das, was ich zu schreiben hatte, sich der Mühe verlohnte….

Namentlich ist in bezug auf Arbeiten und Lohnfragen eine förmliche Windstille eingetreten, wie das nach der Aufregung und dem Lärm der vorhergehenden Wochen nicht anders zu erwarten war.

Bezüglich der Buchdruckerangelegenheit war ich am Dienstag bei Heinke, dem Redakteur des „Korrespondent“ (der 1863 gegründet worden war). Heinke will Ihnen das Blatt vom 1. Juli ab regelmäßig unter Kreuzband zukommen lassen gegen Eintausch der Flugblätter und von sonstigen Mitteilungen…. Ferner versprach er, mir wichtige Nachrichten über Buchdruckerangelegenheiten, sei es von hier oder auswärts, zukommen zu lassen, und werde ich alsdann Ihnen möglichst schnell referieren.

Betreffs des hiesigen Buchdruckerstreiks teilte er mir mit, daß der größte Teil der Tarifkommission, sowie des Vorstandes des Buchdruckerfortbildungsvereins noch keine Kondition habe und so schnell auch noch keine bekommen werde. Gleichwohl glaubte er, daß man eine Unterstützung von unserer Seite nicht annehmen werde, indem erstens noch Geld vorhanden sei, zweitens die in Arbeit getretenen Gehilfen für die Arbeitslosen wöchentlich steuerten, endlich drittens sie alsdann in die Lage kommen könnten, bei Arbeitseinstellungen anderer Branchen ebenfalls zu steuern, was ihren schon jetzt sehr in Anspruch genommenen Geldbeutel nur noch mehr belasten würde; man habe von allem Anfang an beschlossen, Unterstützung von Nichtbuchdruckern gar nicht oder doch nur im alleräußersten Falle anzunehmen.“[5]

* * * * *

Die Befürchtung der Buchdrucker, daß sie auch für die Streiks anderer Branchen herangezogen werden könnten, hatte insofern eine Berechtigung, als in jenem Frühjahr sowohl die Schneider wie die Arbeiter an dem Bau der städtischen Wasserleitung streikten und die Schuhmacher ebenfalls in den Streik eintraten.

In bezug auf letzteren schrieb ich Sonnemann am 28. Juni:

„Gestern fand im Hotel de Saxe eine Versammlung der Schuhmacher zum Zwecke der Lohnerhöhung statt. Da wir eine dringende Sitzung hatten, konnte ich erst später hingehen. Einen vollständigen Bericht könnte ich deshalb nicht liefern. Dr. Eras, welcher den Verhandlungen von Anfang bis Ende beigewohnt hat, wird Ihnen einen solchen für die „Neue Frankfurter Zeitung“ zugesandt haben, den Sie im Flugblatt mit verwenden können.

Nach dem Geiste zu urteilen, der in jener Versammlung herrschte, werden
die Arbeiter mit ihren sehr gerechten Forderungen nicht durchkommen.
Unklarheit, Uneinigkeit unter ihnen lassen es nicht dazu kommen,
obgleich sie es mehr wie jeder andere Arbeiter bedürften, da ein guter
Arbeiter bei zwölfstündiger Arbeitszeit 2 Taler 20 Neugroschen bis 3
Taler die Woche verdient. Da wir als Unbeteiligte uns nicht in die
Debatten mischen durften, so haben Eras und ich es ihnen später im
Privatzirkel tüchtig gesagt, es wird nur nichts nützen.“

* * * * *

Am 1. Juli antwortete Sonnemann folgendes:

„Ich habe Ihre werten Briefe vom 23. und 28. Juni vor mir. Meine Mahnung an Sie war gewiß nicht so bös gemeint, wie Sie dieselbe vielleicht aufgefaßt haben. Ich weiß sehr gut, wie sehr Sie in Anspruch genommen sind, und wie schwer es Ihnen fällt, unserer Sache noch weiter Zeit zu opfern; ich verlange auch keine langen Briefe; zwei Zeilen genügen jederzeit, um eine Tatsache kurz mitzuteilen. Hätten Sie mir gleich geschrieben, die Buchdrucker bedürfen von uns keiner Unterstützung, so wäre es für den Augenblick genug gewesen.

Was nun den eben erwähnten Gegenstand betrifft, so freut es mich, daß es den Leuten dort vorerst nicht an Geldmitteln fehlt. Ich bitte Sie nur, ihnen wiederholt zu sagen, daß der Ausschuß nötigenfalls bereit sei, für sie einzutreten, und habe mich auch demgemäß in unserem Flugblatt ausgesprochen.“

* * * * *

Damit war unsere Korrespondenz über den Buchdruckerstreik zu Ende. Die Buchdrucker erlangten nur einen teilweisen Erfolg. Die Mehrzahl ihrer Leiter wurde gemaßregelt. Im August beschloß der Buchdruckerverein, die Steuer zu vervierfachen, einmal um die gewährten Darlehen zurückzuzahlen, dann um die noch übriggebliebenen Gemaßregelten entsprechend unterstützen zu können. Die Tarifkommission wurde zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt wegen Verletzung des Streikparagraphen der sächsischen Gewerbeordnung. Auf erhobenen Rekurs wurde das Urteil aufgehoben. Glücklicher waren wider Erwarten die Schuhmacher, die Lohnerhöhungen bis zu 25 Prozent durchsetzten. Was ihnen zustatten kam, war, daß die Meister nicht organisiert und daß es meist Kleinmeister waren, die keinen Widerstand leisten konnten.

Das Verhalten einer Anzahl bekannter Liberaler bei den Leipziger Streiks veranlasste mich, in Nummer 8 der Flugblätter des ständigen Ausschusses auszusprechen, es sei eine Tatsache, daß gerade von jener Seite, auf der man mit dem Volke immerwährend geliebäugelt und sich als Arbeiterfreund dargestellt habe, die Forderungen der Arbeiter den entschiedensten Widerstand gefunden hätten. Es dürfe daher nicht wundernehmen, daß man selbst in Arbeiterkreisen, die mit dem Lassalleanismus nichts zu tun hätten, über das Gebaren eines Teiles der Fortschrittspartei nichts weniger als schmeichelhafte Urteile fällen hörte. Das erhöhe die Sympathie für diese nicht.

In demselben Sommer (Juli) beriefen wir Arbeiterversammlungen ein, um gegen die Beschlüsse der Handels- und Gewerbekammern von Dresden und Zittau zu protestieren, die beschlossen hatten, die neueingeführten Arbeitsbücher sollten entgegen der Gewerbeordnung nicht die Arbeiter, sondern die Arbeitgeber in Verwahrung haben, auch sollten sie ohne Zustimmung des Arbeiters über dessen Verhalten Zeugnisse in das Arbeitsbuch eintragen dürfen. Ein Aufruf, den wir an die sächsischen Arbeiter veröffentlichten, sich unserem Protest anzuschließen, hatte guten Erfolg. Die Lassalleaner machten in diesem Falle mit uns gemeinsame Sache.

FUSSNOTEN:

[4] In diesem (Kopie) ist die Tinte so blaß geworden, daß dasselbe nicht mehr zu entziffern ist.

[5] Gustav Jaeckh behauptet in seinem Buch „Die Internationale“ (Leipzig 1904), die deutschen Buchdrucker hätten sich durch ihren Verbandsvorsitzenden an den Generalrat der Internationale gewandt, um die Internationale, und in erster Linie die Buchdrucker-Union, für den Streik ihrer Brüder in Leipzig zu interessieren. Diese Angaben können unmöglich richtig sein. Erstens gab es zu jener Zeit noch keinen Verband der Buchdrucker, folglich auch keinen Vorsitzenden des Verbandes; zweitens weigerten sich die Buchdrucker, von politischen Organisationen Geld anzunehmen, und nun gar von der Internationale. Wahr kann an der Mitteilung höchstens sein, daß Leipziger Buchdrucker sich an den Generalrat gewendet hatten um Uebermittlung eines Schreibens an die Londoner Buchdrucker-Union. Doch auch das ist mir etwas zweifelhaft.

Der Stuttgarter Vereinstag

Der dritte Vereinstag der Arbeitervereine war vom ständigen Ausschuß auf den 3. bis 5. September 1865 nach Stuttgart berufen worden. Auf demselben waren 60 Vereine und ein Gauverband durch 60 Delegierte vertreten. Unter den Delegierten traten unter anderen hervor: Herm. Greulich-Reutlingen, Professor Eckhardt-Mannheim, Bankier Eduard Pfeiffer-Stuttgart, Julius Motteler-Crimmitschau, der schon 1864 in Leipzig war, Streit-Koburg, Staudinger-Nürnberg, Professor Wundt-Heidelberg, der sich nachmals einen großen Namen als Physiologe erworben hat und gegenwärtig Professor an der Universität Leipzig ist. Von den hier Genannten ging Hermann Greulich kurz nach dem Stuttgarter Vereinstag von Reutlingen nach Zürich, woselbst er fast gleichzeitig mit mir, und zwar als Schüler Karl Bürklis und Jean Philipp Beckers, zum Sozialisten wurde. Julius Motteler machte um dieselbe Zeit die gleiche Entwicklung durch. Professor Eckhardt war Redakteur des 1864 in Mannheim gegründeten „Deutschen Wochenblatts“. Eckhardt stand auf dem äußersten linken Flügel der Demokratie.

Im Lokalkomitee saß neben Bankier Pfeiffer Rechtsanwalt Hölder, später Minister des Innern für Württemberg, der im Namen des Lokalkomitees und der Stadt die Begrüßungsrede hielt. Bandow präsidierte. Die Tagesordnung war wieder überreichlich belastet. Der Punkt „Altersversorgungskassen“ wurde auf Wunsch Sonnemanns abgesetzt; er wollte erst eine Broschüre darüber herausgeben. Ich hatte ein Referat über Speisegenossenschaften, wie solche damals mehrfach in den deutschen Arbeitervereinen der Schweiz für Unverheiratete bestanden. Mein gedruckt erstatteter Bericht war recht dürftig. Meine Rede darüber war die kürzeste von allen. Max Hirsch hatte das Referat über die Eroberung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts. Er befürwortete in der von ihm vorgeschlagenen Resolution, daß die Arbeitervereine sich mit aller Kraft für die Eroberung desselben einsetzen sollten. Diese Resolution rief die Opposition Professor Wundts hervor, der im Namen des Oldenburger und der badischen Vereine, mit Ausnahme von Mannheim, Uebergang zur Tagesordnung beantragte, was einen Sturm des Unwillens hervorrief. Schließlich änderte Hirsch seine Resolution dahin, daß statt deutsche Arbeitervereine deutsche Arbeiter gesetzt wurde, worauf sie einstimmig angenommen wurde. Hirzel-Nürnberg referierte über das Koalitionsrecht; er beantragte die Beseitigung aller Schranken, die der Ausübung dieses Rechtes entgegenstünden, und wurde demgemäß einstimmig beschlossen. Ebenso einstimmig wurde der Antrag Bandows auf Aufhebung der Wanderbücher und des Legitimationszwanges angenommen.

Moritz Müller-Pforzheim, ein etwas eigentümlicher, aber eifriger und in seiner Art wohlwollender Bijouteriefabrikant, hatte das Referat über die Frauenfrage, eine Frage, die er als Spezialität behandelte. In seinem schriftlichen Referat verlangte er die volle soziale Gleichheit der Frau mit dem Manne, die Gründung von Fortbildungsanstalten für Arbeiterinnen und die Gründung von Arbeiterinnenvereinen. Die Debatte über diese Frage nahm die meiste Zeit in Anspruch. Professor Eckhardt erklärte ausdrücklich, daß die soziale Befreiung der Frau auch die Gewährung des Stimmrechtes an die Frauen, wie solches der Vereinstag für die Männer fordere, einschließe. Mit dieser Auslegung wurden die Müllerschen Resolutionen mit erheblicher Mehrheit angenommen.

Die Beschlüsse des Stuttgarter Vereinstags bedeuteten in ihrer Gesamtheit einen entschiedenen Ruck nach links. In allen praktischen Fragen der inneren Politik standen jetzt die sogenannten Selbsthilfler und die Lassalleaner auf ein und demselben Boden. Auch die Organisation erlitt eine kleine Verbesserung. Der Beitrag von 2 Talern pro Jahr von jedem Verein bedeutete die finanzielle Ohnmacht des ständigen Ausschusses. Ich machte also in den Flugblättern des ständigen Ausschusses den Vorschlag, zunächst pro Kopf der Vereinsmitglieder einen Groschen Beitrag pro Jahr zu erheben und den Vorsitzenden des ständigen Ausschusses mit 300 Taler zu remunerieren, damit auch eventuell Personen, die finanziell abhängig waren, die Stellung eines Vorsitzenden bekleiden könnten; auch solle der Vorsitzende vom Vereinstag direkt gewählt werden. Endlich schlug ich vor, der großen Kosten wegen den Vereinstag nur alle zwei Jahre zu berufen — was gerade kein Meistervorschlag von mir war — und damit den Gauverbänden eine bessere Entwicklung zu ermöglichen. Nach lebhafter Debatte wurde der Groschenbeitrag, den auch die Organisationskommission vorschlug, angenommen, die anderen Vorschläge wurden abgelehnt. Ebenso entschied der Vereinstag mit 30 gegen 22 Stimmen, daß ein offizielles Vereinsorgan nicht notwendig sei. Man ging durch diesen Beschluß einem Konflikt mit dem Verleger der Koburger Arbeiterzeitung aus dem Wege, die einen starken Anhang unter den Vereinen besaß. Bemerken möchte ich hier, daß die vorhandenen Berichte über die Vereinstage ungemein kurz und sehr lückenhaft sind. In den ständigen Ausschuß wurden gewählt Bandow, Bebel, Eichelsdörfer, M. Hirsch, Hochberger-Eßlingen, König-Hanau, F.A. Lange, Lippold-Glauchau, Richter-Hamburg, Sauerteig-Gotha, Sonnemann, Staudinger-Nürnberg. Sonnemann, der wieder als Vorsitzender vom Ausschuß gewählt worden war, lehnte die Wahl ab. An seine Stelle trat Staudinger, der, wie die Erfahrung zeigte, seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Staudinger, ein älterer Mann, war seines Zeichens Schneidermeister, ihm sollte Ingenieur Hirzel-Nürnberg als Sekretär an die Hand gehen.

Auf keinem Vereinstag trat das Bestreben der verschiedenen bürgerlichen Parteiführer, entscheidenden Einfluß auf die Vereine zu erlangen, so deutlich in die Erscheinung als in Stuttgart. Alle fühlten, daß man in der deutschen Frage einer Entscheidung entgegengehe. Die Auseinandersetzungen zwischen der Linken und der Rechten wurden immer lebhafter und gereizter. Die Gegensätze zwischen Preußen auf der einen und Oesterreich und der Mehrheit der Mittel- und Kleinstaaten auf der anderen Seite wurden immer schroffer. Die gemeinsame Besetzung der Herzogtümer Schleswig-Holstein durch österreichische und preußische Truppen nach der Niederlage der Dänen und deren Abzug aus den beiden Ländern, die jetzt in deutschen Besitz übergingen, zeitigte immer neue Konfliktsfälle. Das deutsche Volk kam allmählich in einen Zustand hochgradiger Erregung.

Diese Stimmung machte sich auch in den Toasten auf dem Bankett des Vereinstags bemerkbar, das am Sonntag abend im Sitzungslokal des Vereinstags, der Liederhalle, stattfand, in demselben Lokal, in dem 42 Jahre später, August 1907, der erste internationale Arbeiterkongreß auf deutschem Boden tagte. Während die Hölder und Genossen in verblümter Weise sich für die preußische Spitze begeisterten, traten die Demokraten und speziell deren Wortführer Karl Mayer-Stuttgart für eine radikale Lösung ein, die wir Jungen, ohne daß das Wort ausgesprochen wurde, als ein Eintreten für die deutsche Republik ansahen. Karl Mayer, damals der gefeiertste Volksredner Württembergs, dem die Natur eine Stentorstimme verliehen hatte, saß an der Tafel mir schräg gegenüber. Er erhob sich, um mit aller Kraft seiner Lungen und in packenden Bildern gegen den reaktionären Bundestag in Frankfurt loszudonnern, der von seinem Platze müsse, um eine demokratische Einheit Deutschlands zu ermöglichen. Im Eifer der Rede streifte er Rock- und Hemdärmel in die Höhe und zeigte ein paar muskulöse Arme, mit deren Gesten er seine Rede begleitete. Ab und zu schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß Gläser und Teller tanzten. Natürlich fand sein Hoch auf ein freies, demokratisches Deutschland donnernden Beifall. Auch die Stadt Stuttgart hatte sich in Unkosten gestürzt und spendete uns am Montag nachmittag bei einem Spaziergang auf das damalige Schützenhaus einen Trunk schwäbischen Weines mit Vesperbrot.

Bei Streit in Koburg erschien um jene Zeit eine Schrift, betitelt „Deutschlands Befreiung aus tiefster Schmach“, in der offen für die deutsche Republik Propaganda gemacht wurde, was selbstverständlich nicht ohne Revolution möglich gewesen wäre. Aber der Revolutionsgedanke schreckte damals nicht. Die Reminiszenzen aus den Revolutionsjahren waren durch Reden und Schriften von Beteiligten und Unbeteiligten wieder lebendig geworden. Daß eine siegreiche Revolution möglich sei, daran glaubte mit Ausnahme von Ostelbien fast ganz Deutschland. Ich führte schon an, wie Bismarck und Miquel mit dieser Möglichkeit sich abfanden. Aber auch des letzteren Freund, Herr v. Bennigsen, schrieb schon im Jahre 1850 an seine Mutter einen Brief, in dem er nach Erörterung der damaligen Lage Schleswig-Holsteins also fortfuhr:

„Solange die nationale Partei nicht in Preußen regiert — und noch in diesem Augenblick schwanken die Führer, ob sie der jetzigen Regierung überhaupt eine ernsthafte, auf deren Sturz berechnete Opposition für den nächsten Landtag machen sollen! —, ist der heldenmütige Kampf dieses deutschen Landes vergebens. Ich fürchte nur zu bestimmt, daß wir, um das Maß der Schande und Erbitterung übervoll zu machen, für einige Jahre wenigstens die gänzliche Unterwerfung Schleswig-Holsteins erleben werden. Die Ruhe unserer europäischen Königsgeschlechter über so viel Gräbern soll aber nicht durch böse Erinnerungen und Träume allein gestört werden. In höchstens einem Dutzend Jahren wird es ja wohl wieder gewittern und dreinschlagen, und von uns Jüngeren schwören täglich mehrere im stillen, daß man, einerlei, ob Konstitutioneller oder Radikaler, durch elende Versprechungen im Augenblick der Furcht sich nicht wieder täuschen lassen will. Man wird die ganze Gesellschaft nach Amerika schicken und nachher sich zu einigen suchen, ob man sich einen König oder Präsidenten setzen will. Und das werden die Anhänger v. Gagern und Dahlmann schwerlich wieder hindern, noch auch zu lindern Luft haben….“

Zwölf Jahre später gehörte der Schreiber dieses Briefes, als Präsident des Deutschen Nationalvereins, zu den einflußreichsten Personen Deutschlands, ja er war vielleicht die einflußreichste. Aber Herr v. Bennigsen befolgte jetzt dieselbe Politik, die er einst an den Gagern und Dahlmann verurteilt hatte. Der Gedanke an eine Revolution gegen das Bismarcksche Preußen war ihm unfaßbar. Und wie er gegen Ende seines Lebens über die Revolution von 1848 und 1849 dachte, ging aus der aufregenden Debatte hervor, die ich zum fünfzigsten Jahrestag des 18. März, am 18. März 1898, absichtlich im deutschen Reichstag hervorgerufen hatte, und wobei Herr v. Bennigsen mein Hauptgegner war.

Wie Lassalle, Marx und Engels über eine kommende Revolution in Deutschland dachten, geht aus dem Briefwechsel zwischen denselben hervor, den Mehring im Verlag Dietz-Stuttgart erscheinen ließ. Auch der siegreiche Zug Garibaldis nach Neapel und Sizilien (1860), der seinem Urheber eine ungeheure Popularität in der ganzen Kulturwelt eintrug, hatte den Glauben an die Macht revolutionärer Massen befestigt.

Daß man selbst in sehr hochstehenden Kreisen Süddeutschlands an die Wahrscheinlichkeit einer Revolution für eine Einheit Deutschlands dachte, zeigen die Memoiren des Fürsten Hohenlohe, der, nachdem er ausgeführt, daß die Zersplitterung Deutschlands auf die Dauer unerträglich sei, sagt: Hieraus erklärt es sich, daß auch die friedlichen, konservativsten Leute in Deutschland dahin geführt werden, zu erklären: wir müssen durch die Revolution zur Einheit kommen, weil wir auf gesetzlichem Wege nicht das Ziel erreichen können. Und unter dem 23. März 1866 schrieb der Prinz Karl von Bayern an Hohenlohe: Mir dünkt, eine günstigere Gelegenheit, ohne Revolution (auch im Original gesperrt) zu einer Bundesreform zu kommen usw.

Wenn man oben so dachte, warum nicht ebenso unten?

* * * * *

Die Verhandlungen und Beschlüsse des Stuttgarter Vereinstags über die Koalitionsfreiheit waren eine Antwort auf die gleichartigen Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses. Schulze-Delitzsch und Faucher — letzterer auch ein sogenannter Nationalökonom, der in einer Leipziger Volksversammlung im Jahre 1864 ernsthaft nachzuweisen versuchte, die soziale Frage könne am besten gelöst werden, wenn jeder die doppelte Buchführung verstehe und eine richtig gehende Uhr habe, um mit der Zeit zu rechnen — hatten beantragt, die §§ 181 und 182 der Gewerbeordnung von 1845, betreffend die Koalitionsverbote, aufzuheben. Seltsamerweise hatten sie aber unterlassen, auch die Aufhebung der §§ 183 und 184 zu beantragen. Nach § 183 konnte die Bildung von Verbindungen unter Fabrikarbeitern, Gesellen, Gehilfen oder Lehrlingen ohne polizeiliche Erlaubnis bestraft werden, an den Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit Geldstrafe bis zu 50 Talern oder Gefängnis bis zu vier Wochen, an den Mitgliedern mit Geldstrafe bis zu 20 Talern oder Gefängnis bis zu vierzehn Tagen. Nach § 184 war zu bestrafen das eigenmächtige Verlassen der Arbeit oder die Entziehung zur Verrichtung derselben, oder grober Ungehorsam, oder beharrliche Widerspenstigkeit mit Geldstrafe bis zu 20 Talern oder Gefängnis bis zu vierzehn Tagen. Im „Sozialdemokrat“ J.B.v. Schweitzers und in den Versammlungen zur Rede gestellt, ließen die Antragsteller erklären, der § 183 sei bereits seit fünfzehn Jahren durch die preußische Verfassung aufgehoben und der § 184 habe mit dem Koalitionsrecht nichts zu tun. Diese Auffassung machte auch in unseren Reihen böses Blut, und die Koburger Arbeiterzeitung, die immer entschiedener geworden war, griff darauf die Schulze-Delitzsch und Genossen aufs schärfste an.

Das schwächliche Verhalten der Liberalen in dieser Frage suchte der konservative Oberdemagoge Geheimrat Wagener geschickt auszunutzen, indem er die Liberalen übertrumpfte. Er beantragte, den Kommissionsantrag über den Antrag der Liberalen — weil seine Fassung Zweifel zuließen — abzulehnen und die Regierung aufzufordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen nicht allein sämtliche das Vereinsrecht der Arbeiter beschränkenden Ausnahmebestimmungen der Gewerbeordnung aufgehoben, sondern in Verbindung damit auch solche Organisationen angebahnt respektive zur Ausführung gebracht würden, welche es ermöglichten, daß der Arbeiterstand die ihm gebührende Stellung innerhalb des Staates einnehmen und seine eigenen Interessen selbständig zu handhaben und zu vertreten vermöge. Also Zwangsgewerkvereine, begründet durch das Gesetz.

So die Konservativen zu jener Zeit, als es galt, der liberalen
Bourgeoisie das Wasser abzugraben.

Eine andere Angelegenheit, in der die beiden Arbeiterparteien Hand in Hand gingen, war das Kölner Abgeordnetenfest und sein Verlauf. Die Kölner Fortschrittler hatten die fortschrittlichen preußischen Abgeordneten, das heißt also die sehr große Mehrheit der Zweiten Kammer nach Köln zu einem Reformfest für den 22. Juli 1865 geladen, dessen Glanzpunkt ein Bankett im Gürzenich sein sollte. Herr v. Bismarck ließ die Abhaltung des Festes verbieten, und der Kölner Oberbürgermeister Bachem war schwach genug, die Erlaubnis zur Benutzung des Gürzenichsaales zurückzuziehen. Der Vorgang machte gewaltiges Aufsehen. Als die Abgeordneten nach Köln kamen, ließ Herr v. Bismarck ihre Zusammenkünfte durch Polizei und Militär auseinandertreiben. Man dampfte darauf nach Oberlahnstein, um dort auf kleinstaatlich nassauischem Boden zu tun, was im Staate des deutschen Berufs, in Preußen nicht möglich war. Aber auch hier schritt Militär ein und machte eine Versammlung unmöglich.

Gegen diesen Gewaltstreich Bismarcks erhoben sich überall Proteste. In Berlin, in Leipzig und anderwärts gingen Lassalleaner und Arbeitervereinler zusammen, um gegen die Kölner Vorgänge nachdrücklichst zu protestieren und die volle Freiheit der Vereine und Versammlungen zu verlangen. Gleich dem „Sozialdemokrat“ zog die Koburger „Arbeiterzeitung“ gegen die fortschrittlichen Abgeordneten höhnend und spottend zu Felde, die sich nichts weniger als tapfer in dieser Sache benommen hatten.

Diese Vorgänge veranlaßten einen Briefwechsel zwischen Sonnemann und Fr. Alb. Lange. Letzterer war anläßlich des Festes in Köln gewesen. Sonnemann beklagte sich, daß er (Lange) ihm keinen Bericht über die Kölner Vorgänge geschickt, und meinte, die Sozialdemokraten spielten va banque, sie würden aber das Spiel verlieren. Er sende ihm beiliegend einen Brief über die Kölner Vorgänge von Bandow, der leider in dieser wichtigen Zeit krank sei, er möge denselben nach Kenntnisnahme an mich senden, ich solle ihn dann an ihn (Sonnemann) zurückgelangen lassen. Was der Brief enthielt, ist mir nicht mehr erinnerlich. Lange antwortete am 31. Juli 1865:

„Was die Versammlung bei Lantsch (Arbeiterversammlung in Köln)
betrifft, so hielt ich es nicht für zweckmäßig, viel davon zu sagen. Die
Stimmung an sich war vortrefflich. Ich will aber ebensowenig wie Sie die
Verantwortung übernehmen, in der jetzigen Zeit der Gärung auf eigene
Faust Parole auszugeben, und das wäre bei einem Bericht über diese
Versammlung mit ihren interessanten Folgen nötig gewesen….

Ich beurteile die Zeit ganz ähnlich wie Sie, als eine äußerst kritische. Uebrigens glaube ich nicht, daß Schweitzer völlig va banque spielt. Dann wäre das Spiel schon verloren. Es fällt den Arbeitern jetzt, namentlich im Rheinland, gar nicht ein, sich für das Prinzip zu erheben. Ich glaube, man geht darauf aus, den ‚Sozialdemokrat‘ ehrenvoll totschlagen zu lassen und dann, gestützt auf die öffentlich angebahnte Organisation, das System der geheimen Gesellschaften einzuführen. (?! A.B.) Durch den Glanz des Abgeordnetenfestes lasse ich mich nicht blenden. Ich habe niemals deutlicher gefühlt, daß es mit der bisherigen Fortschrittspartei vorbei ist, aber unsere Zeit ist noch nicht gekommen.

Beobachten und die Fäden in der Hand behalten, Verbindungen erweitern, Freunde sammeln; aber keine Parole ausgeben. Ob wir, falls es Zeit dazu ist, zusammengehen können, wird sich finden. Lassen Sie uns einstweilen den Zusammenhang pflegen….

Zurückkommend auf die Haltung unseres Blattes (der Flugblätter) und die politisch-soziale Krisis, empfehle ich nochmals, den sozialen Teil ausführlich und interessant, aber objektiv zu halten; den politischen Teil aber scharf, so offen gegen die gesamten Fürsten als nur möglich. Man kann in den Händeln dieser Menschen keine andere Partei ergreifen als gegen alle, und zwar unveränderlich und gegen diejenigen, welche momentan liberal flöten, erst recht.“

In einer Nachschrift schreibt Lange: „Ich sehe soeben, daß der Anfang meines Briefes unnütz mysteriös ist. Ueber die Versammlung bei Lantsch sind die Berichte sämtlicher liberaler Blätter total aus der Luft gegriffen. Es war außer W. Angerstein kein Berichterstatter da. Nach der Versammlung organisierte sich ein freiwilliger Zug durch die Stadt zur Begrüßung der Abgeordneten. Vor der Hauptwache Hochrufe auf das Vereinsrecht usw. Die Bewegung war den Lassalleanern ebenso vollständig aus der Hand genommen, wie sie den Liberalen quer ging. Das Volk suchte nach Führern. Es hätte auf einen Wink von Angerstein und mir getan, was wir wollten…. Die ganze Sache machte sich übrigens ganz von selbst. Niemand leitete. Man sah aber, was kommen kann, wenn die Regierung so fortfährt.“

* * * * *

In dem zitierten Schreiben deutet Lange an, daß es später zu einer
Spaltung im ständigen Ausschuß und zwischen den Vereinen kommen dürfte.
Darüber sprach er sich noch deutlicher aus in einem Brief vom 10.
Februar 1865 an Sonnemann. Darin hieß es:

„Meine Stellung zur Arbeiterfrage anlangend, hatte ich anfangs den Plan, mein Verbleiben im Ausschuß von der Aufnahme meines Schriftchens (Die Arbeiterfrage) abhängig zu machen; es scheint mir jetzt jedoch in jeder Beziehung zweckmäßiger, meine Stellung zu behaupten, auch falls ich mit der Mehrheit in etwas schärfere Opposition geraten sollte. Die Geister müssen ja aufeinanderplatzen.“

In den Jahren 1865 und Anfang 1866 schien es eine Zeitlang, als sollten die streitenden Brüder in der Arbeiterbewegung sich zusammenfinden. Abgesehen von den schon erwähnten Fällen, in denen Lassalleaner und Arbeitervereinler gemeinsame Sache machten und gemeinsame Forderungen erhoben, sprach sich am 17. Juli 1865 eine Versammlung des Maingaues, in der als Redner vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Lauer und Welcker aus Frankfurt a.M. auftraten, folgendermaßen aus:

Der Arbeitertag erklärt, daß er im Interesse der guten Sache des
Arbeiterstandes die Spaltung in der Arbeiterbewegung für schädlich und
nachteilig hält, und erklärt sich die aus Mitgliedern der
Arbeiterbildungsvereine des Maingaus und aus Mitgliedern des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins bestehende Versammlung bereit, allen
Schritten zur Vereinigung die Hand zu bieten.

Hauptredner in jener Versammlung war Professor Eckhardt, der seiner Rede das Thema „Staatshilfe und Selbsthilfe“ zugrunde gelegt hatte. Ein ähnlicher Versuch zur Einigung, der Mitte Januar 1866 in Leipzig gemacht wurde, scheiterte; dagegen kam man überein, gemeinsam für die Eroberung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zu kämpfen. Der Hauptredner in dieser Versammlung war Professor Wuttke.

Weiter forderte eine andere Volksversammlung kurz danach in Dresden, bei deren Einberufung wieder beide Arbeiterparteien beteiligt waren, ein konstituierendes Parlament auf Grund des allgemeinen Wahlrechts und zu dessen Schutz und Unterstützung die Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung. Die gleichen Forderungen erhob in Berlin eine große Volksversammlung unter Bandows Vorsitz.

Zu Weihnachten 1865 wurde infolge eines Aufrufs von Fritzsche ein Allgemeiner Deutscher Zigarrenarbeiterkongreß nach Leipzig einberufen, auf dem die Gründung eines Verbandes für ganz Deutschland beschlossen wurde. Im folgenden Frühjahr erschien als Organ des Verbandes „Der Botschafter“, dessen Redakteur Fritzsche wurde. Damit war die erste zentralorganisierte Gewerkschaft Deutschlands gegründet. An der Spitze stand ein dreiköpfiges Direktorium, dessen Vorsitzender Fritzsche war. Lokale Gewerkschaften bestanden um diese Zeit bereits in erheblicher Anzahl, sowohl in Leipzig wie anderwärts. Auch wurde bereits im Sommer 1864 in Zwickau ein Bergknappenverein gegründet, dessen Mitglieder sich über das Zwickau-Lugau-Stollberger Kohlenrevier verbreiteten. Es war dieses die erste deutsche moderne Bergarbeiterorganisation. Der Gründer und Leiter derselben war ein gemaßregelter Bergmann mit Namen Dinter, dessen Bestrebungen von Motteler, W. Stolle und mir, später auch von Liebknecht, lebhaft unterstützt wurden.

Auf einer Landesversammlung im Juli in Glauchau hatte ich den Vorschlag gemacht, dem Ministerium zum Trotz einen Gauverband zu gründen, und es auf dessen Unterdrückung und unsere Bestrafung ankommen zu lassen. Für diesen Vorschlag war aber keine Stimmung vorhanden. So zog ich meinen Antrag zurück. Statt dessen wurde beschlossen, einen Verein zur Förderung und Unterstützung der geistigen und materiellen Interessen der Arbeitervereine zu gründen, dessen Vorsitzender ich wurde. Beschlossen wurde weiter, daß jedes Mitglied pro Jahr einen Groschen Beitrag leisten solle. Der neuen Verbindung traten 29 Vereine mit 4600 Mitgliedern bei. Dieser Vereinigung legten die Behörden kein Hindernis in den Weg.

Als ich zwanzig Jahre später als Mitglied des sächsischen Landtags dem Nachfolger des Herrn v. Beust, Herrn v. Nostitz-Wallwitz, in der schärfsten Weise zu Leibe rückte wegen der schamlosen Auslegung, die das sächsische Vereins- und Versammlungsgesetz unter ihm gegen uns fand, und dabei erklärte, daß gegenüber seinem Regiment das Regiment des Herrn v. Beust noch ein Ausbund von Liberalismus gewesen sei, beeilte sich Herr v. Beust, diesen Ausspruch zu seiner Rechtfertigung in seine Memoiren aufzunehmen. Er hatte in gewissen Grenzen ein Recht dazu. Was nachher in Sachsen jahrzehntelang an Schikanen und kühnsten Auslegungen auf Grund des Vereins- und Versammlungsgesetzes geleistet wurde, überstieg alle Begriffe. Erklärten doch vom Ministertisch sowohl Herr v. Nostitz-Wallwitz wie sein Nachfolger Herr v. Metzsch wiederholt, die Sozialdemokratie müsse mit anderem Maße gemessen werden wie jede andere Partei. Das hieß also, an Stelle des Rechts tritt die Willkür der Beamten. Und diese haben denn auch an Willkür das Menschenmögliche geleistet.

Im August 1865 hatte Bismarck die Koburger Arbeiterzeitung für Preußen verboten. Unter den Personen, die seinem Regiment ebenfalls zum Opfer fielen, weil sie seiner Politik Widerstand entgegensetzten und den Arbeitern ihren wahren Charakter denunzierten, stand an erster Stelle Liebknecht.

Wilhelm Liebknecht.

Liebknecht und ebenso Bernhard Becker wurden im Juli 1865 aus Preußen ausgewiesen. Liebknecht war nach dreizehnjährigem Exil im Sommer 1862 nach Berlin zurückgekehrt. Die Amnestie von 1860 ermöglichte ihm dieses. Er folgte dem Rufe des alten Revolutionärs August Braß, den er gleich Engels in der Schweiz kennen gelernt, und der, wie bereits mitgeteilt, im Sommer 1862 in Berlin ein großdeutsch demokratisches Blatt, die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ gegründet hatte. Liebknecht war neben Robert Schweichel für die Redaktion gewonnen worden, und zwar Liebknecht für die auswärtige Politik. In den Charakter von Braß setzte keiner von beiden den geringsten Zweifel, hatte er doch zu den radikalsten Revolutionären gehört. Als aber Ende September 1862 Bismarck das Ministerium übernahm, entdeckten beide bald nachher, daß etwas nicht stimmte. Der Verdacht bestätigte sich, als eines Tages der Zufall wollte, daß Schweichel von einem Boten des Ministeriums ein Schreiben für Braß in Empfang nahm, dessen Inhalt, wie der Bote bemerkte, sofort veröffentlicht werden sollte. Beide kündigten und traten aus der Redaktion. Wie Liebknecht gelegentlich öffentlich erklärte, hat ihm Lassalle noch ein Jahr nach seinem Austritt aus der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ einen Vorwurf daraus gemacht, daß er seine Stellung aufgab. Liebknecht, der damals Frau und zwei Kinder besaß, die er von London nach Berlin hatte kommen lassen, erwarb sich jetzt den Unterhalt mit Korrespondenzen für verschiedene Zeitungen. Als ich ihn kennen lernte, schrieb er unter anderen für den „Oberrheinischen Kurier“ in Freiburg in Baden, für die Rechbauersche demokratische „Tagespost“ in Graz und das „Deutsche Wochenblatt“ in Mannheim, von dem er aber wohl kaum Honorar bezog. Später schrieb er auch einige Jahre für die „Frankfurter Zeitung“. Oeffentliche Vorträge hielt er namentlich im Berliner Buchdrucker- und im Schneiderverein, aber auch in Arbeiter- und Volksversammlungen, in denen er die Bismarcksche Politik bekämpfte, als deren Schildknappen er J.B.v. Schweitzer, den Redakteur des „Sozialdemokrat“, ansah.

Nach seiner Ausweisung reiste er zunächst nach Hannover, wo Schweichel am dortigen „Anzeiger“ eine Redakteurstelle gefunden hatte. Da aber hier sich für ihn nichts fand, kam er nach Leipzig, woselbst er eines Tages, Anfang August, durch Dr. Eras, der damals Redakteur der „Mitteldeutschen Volkszeitung“ war, bei mir eingeführt wurde. Liebknecht, dessen Wirken und Ausweisung ich durch die Zeitungen kannte, interessierte mich natürlich sehr lebhaft. Er stand damals im vierzigsten Lebensjahr, besaß aber das Feuer und die Lebendigkeit eines Zwanzigjährigen. Sofort nach der Begrüßung kamen wir in ein politisches Gespräch, in dem er mit einer Vehemenz und Rücksichtslosigkeit die Fortschrittspartei und namentlich ihre Führer angriff und charakterisierte, daß ich, der ich damals doch auch keine Heiligen mehr in denselben sah, ganz betroffen war. Indes er war ein erstklassiger Mensch, und sein schroffes Wesen verhinderte nicht, daß wir uns bald befreundeten.

Liebknecht kam uns in Sachsen wie gerufen. Im Juli hatten wir auf der Landeskonferenz in Glauchau die Sendung von Reisepredigern beschlossen. Das war aber leichter beschlossen als durchgeführt, denn es fehlten die passenden Persönlichkeiten, deren Lebensstellung eine solche Tätigkeit erlaubte. Liebknecht stellte sich für diese Vortragsreisen bereitwillig zur Verfügung. Auch im Arbeiterbildungsverein war er als Vortragender willkommen, und bald waren seine Vorträge die besuchtesten von allen. Weiter übernahm er im Arbeiterbildungsverein den Unterricht in der englischen und französischen Sprache. So erlangte er allmählich eine allerdings sehr bescheidene Existenz. Dennoch war er gezwungen, was ich später erfuhr, manches gute Buch zum Antiquar zu tragen. Seine Lage wurde dadurch noch verschlimmert, daß seine (erste) Frau brustkrank war und einer kräftigen Pflege bedurft hätte. Aeußerlich sah man Liebknecht seine Sorgen nicht an, wer ihn sah und hörte, mußte glauben, er befinde sich in zufriedenstellenden Verhältnissen.

Die erste Agitationstour unternahm er ins untere Erzgebirge, speziell in die Arbeiterdörfer des Mülsengrundes, womit er sich den Weg zu seiner späteren Kandidatur für den norddeutschen Reichstag bahnte. Da auch ich öfter Agitationsreisen unternahm, und wir von da ab in allen politischen Fragen meist gemeinsam handelten, wurden unsere Namen immer mehr in der Oeffentlichkeit genannt, bis wir schließlich dieser gegenüber als zwei Unzertrennliche erschienen. Das ging so weit, daß, als in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sich ein Parteigenosse mit mir associerte, ab und zu Geschäftsbriefe ankamen, die statt der Adresse Ißleib & Bebel die Namen Liebknecht & Bebel trugen, ein Vorgang, der jedesmal unsere Heiterkeit erregte.

Ich habe Liebknecht in diesen Blättern noch öfter zu erwähnen, aber eine Beschreibung seines Lebenslaufs kann ich hier nicht geben. Wer sich für denselben interessiert, findet das Nähere in dem Buch „Der Leipziger Hochverratsprozeß gegen Liebknecht, Bebel und Hepner“ und in der Schrift von Kurt Eisner „Wilhelm Liebknecht“. Beide Publikationen sind in der Buchhandlung Vorwärts erschienen.

Liebknechts echte Kampfnatur wurde von einem unerschütterlichen Optimismus getragen, ohne den sich kein großes Ziel erreichen läßt. Kein noch so harter Schlag, ob er ihn persönlich oder die Partei traf, konnte ihn nur einen Augenblick mutlos machen oder aus der Fassung bringen. Nichts verblüffte ihn, stets wußte er einen Ausweg. Gegen die Angriffe der Gegner war seine Losung: Auf einen Schelmen anderthalbe. Den Gegnern gegenüber schroff und rücksichtslos, war er den Freunden und Genossen gegenüber allezeit ein guter Kamerad, der vorhandene Gegensätze auszugleichen suchte.

In seinem Privatleben war Liebknecht ein sorgender Ehemann und Familienvater, der mit großer Liebe an den Seinen hing. Auch war er ein großer Naturfreund. Ein paar schöne Bäume in einer sonst reizlosen Gegend konnten ihn enthusiasmieren und verleiten, die Gegend schön zu finden. In seinen Bedürfnissen war er einfach und anspruchslos. Eine vorzügliche Suppe, die ihm meine junge Frau kurz nach unserer Verheiratung, Frühjahr 1866, eines Tages vorsetzte, begeisterte ihn so, daß er ihr diese sein Leben lang nicht vergaß. Ein gutes Glas Bier oder ein gutes Glas Wein und eine gute Zigarre liebte er, aber größere Aufwendungen machte er dafür nicht. Hatte er mal ein neues Kleidungsstück an, was nicht häufig vorkam, und hatte ich das nicht sofort wahrgenommen und meine Anerkennung darüber ausgesprochen, so konnte ich sicher sein, daß er, ehe viele Minuten verflossen waren, mich darauf aufmerksam machte und mein Urteil verlangte. Er war ein Mann von Eisen mit einem Kindergemüt. Als Liebknecht am 7. August 1900 starb, waren es auf den Tag fünfunddreißig Jahre, daß wir unsere erste Bekanntschaft gemacht hatten.

In seiner Parteitätigkeit liebte es Liebknecht, fertige Tatsachen zu schaffen, wenn er annahm, daß ein Plan von ihm Widerstand finden würde. Unter dieser Eigenschaft litt ich anfangs schwer, denn ich bekam in der Regel die Suppe auszuessen, die er eingebrockt hatte. Bei seinem Mangel an praktischem Geschick mußten andere die Durchführung von ihm getroffener Maßnahmen übernehmen. Endlich aber fand ich den Mut, mich von dem Einfluß seines apodiktischen Wesens zu befreien, und nun gerieten wir manchmal hart aneinander, ohne daß die Oeffentlichkeit es merkte und ohne daß unser Verhältnis dadurch dauernd getrübt worden wäre.

Man hat viel geschrieben über den Einfluß, den Liebknecht auf mich gehabt habe; man behauptete zum Beispiel, daß nur seinem Einfluß es zu danken gewesen sei, daß ich Sozialist wurde. In einer bei Langen in München im Jahre 1908 erschienenen Broschüre wird weiter gesagt, Liebknecht habe mich zum Marxisten gemacht, als welchen ich mich im September 1868 auf dem Nürnberger Vereinstag bekannt habe. Liebknecht hätte hiernach volle drei Jahre gebraucht, um aus dem Saulus einen Paulus zu machen.

Liebknecht war vierzehn Jahre älter als ich, er hatte also, als wir uns kennen lernten, eine lange politische Erfahrung vor mir voraus. Liebknecht war ein wissenschaftlich gebildeter Mann, der fleißig studiert hatte; diese wissenschaftliche Bildung fehlte mir. Liebknecht war endlich in England zwölf Jahre lang mit Männern wie Marx und Engels in intimem Verkehr gestanden und hatte dabei viel gelernt, ein Umgang, der mir ebenfalls fehlte. Daß Liebknecht unter solchen Umständen erheblichen Einfluß auf mich ausüben mußte, war ganz selbstverständlich. Andernfalls wäre es eine Blamage für ihn gewesen, daß er diesen Einfluß nicht auszuüben verstand, oder eine Blamage für mich, daß ich aus dem Umgang mit ihm nichts zu profitieren wußte. Einer meiner Bekannten aus jener Zeit schrieb vor einigen Jahren in der „Leipziger Volkszeitung“, er habe (1865) gehört, wie ich im kleinen Kreise von meiner Bekanntschaft mit Liebknecht erzählt und dazu bemerkt hätte: „Donnerwetter, von dem kann man was lernen.“ Das dürfte stimmen. Aber Sozialist wäre ich auch ohne ihn geworden, denn dazu war ich auf dem Wege, als ich ihn kennen lernte. Im beständigen Kampfe mit den Lassalleanern, mußte ich Lassalles Schriften lesen, um zu wissen, was sie wollten, und damit vollzog sich in Bälde eine Wandlung in mir. Die Haltung der liberalen Wortführer in und außerhalb des Parlamentes hatte allmählich auch bei uns Unzufriedenheit erregt, und ihr Nimbus war im Schwinden begriffen. Besonders war es die Haltung der liberalen Wortführer in den Arbeiterfragen, die Mißstimmung erzeugte. Mein Umgang mit Liebknecht hat meine Mauserung zum Sozialisten beschleunigt. Dieses Verdienst hat er. Aehnlich ist es mit der Behauptung, Liebknecht habe mich zum Marxisten gemacht. Ich habe in jenen Jahren viele sehr gute Vorträge und Reden von ihm gehört. Er sprach über das englische Gewerkvereinswesen, die englischen und französischen Revolutionen, die deutschen Volksbewegungen, über politische Tagesfragen usw. Kam er auf Marx und Lassalle zu sprechen, dann stets polemisch, längere theoretische Auseinandersetzungen hörte ich meiner Erinnerung nach nicht von ihm. Zu privaten Unterweisungen hatte aber weder er noch ich Zeit, die Tageskämpfe und was damit zusammenhing ließen uns zu privaten theoretischen Erörterungen nicht kommen. Auch war Liebknecht nach seiner ganzen Veranlagung weit mehr großzügiger Politiker als Theoretiker. Die große Politik war seine Lieblingsbeschäftigung.

Ich bin vielmehr, wie fast alle, die damals Sozialisten wurden, über Lassalle zu Marx gekommen. Lassalles Schriften waren in unseren Händen, noch ehe wir eine Schrift von Marx und Engels kannten. Wie ich von Lassalle beeinflußt worden war, zeigt noch deutlich meine erste Broschüre „Unsere Ziele“, die Ende 1869 erschien. Gegen Ende 1869 fand ich aber auch erst auskömmlich die Zeit und Ruhe, den im Spätsommer 1867 erschienenen ersten Band „Das Kapital“ von Marx gründlich zu lesen, und zwar im Gefängnis. Fünf Jahre früher hatte ich versucht, die 1859 erschienene Schrift von Marx „Zur politischen Oekonomie“ zu studieren, aber es blieb bei dem Versuch. Ueberarbeit und der Kampf um die Existenz gewährten mir nicht die nötige Muße, die schwere Schrift geistig zu verdauen. Das Kommunistische Manifest und die anderen Schriften von Marx und Engels wurden aber der Partei erst gegen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre bekannt. Die erste Schrift, die mir von Marx in die Hände kam und die ich mit Genuß las, war seine Inauguraladresse für die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation. Diese Schrift lernte ich Anfang 1865 kennen. Ende 1866 trat ich der Internationale bei.

Zunehmende Verstimmung in den Arbeitervereinen.

Die unerquicklichen öffentlichen Zustände, die den Arbeitern immer mehr zum Bewußtsein kamen, wirkten naturgemäß auch auf deren Stimmung. Alle verlangten nach Aenderung. Aber da keine klare und zielbewußte Führung vorhanden war, zu der man Vertrauen hatte, auch keine mächtige Organisation bestand, die die Kräfte zusammenfaßte, verpuffte die Stimmung. Nie verlief resultatloser eine im Kern vortreffliche Bewegung. Alle Versammlungen waren überfüllt, und wer am schärfsten sprach, war der Mann des Tages. Diese Stimmung herrschte vor allem im Leipziger Arbeiterbildungsverein. Gegen Ende Oktober veranlaßte ich Professor Eckhardt aus Mannheim — der einer der glänzendsten Redner jener Zeit war —, nachdem er in einer Volksversammlung in Leipzig gesprochen hatte, auch im Arbeiterbildungsverein einen Vortrag zu halten. In diesem behandelte er die Stellung des Arbeiters in der damals gegebenen Situation, namentlich in bezug auf seine sozialen Forderungen. In letzterer Beziehung sprach er sich entschieden für das Eingreifen des Staates aus. Er hatte auch gegen die Lassallesche Idee der Staatshilfe nichts einzuwenden, wenn diese von einem demokratischen Staate ausgehe. Der Redner erntete stürmischen Beifall und fand keinerlei Widerspruch.

Ungeachtet der wiederholten Abweisungen hatten wir uns Ende 1865 abermals an die sächsische Regierung um die Genehmigung eines Gauverbandes gewendet. Häufiger Austausch der politischen Ansichten war zum Bedürfnis geworden. Das Ministerium stellte wiederum Bedingungen, die wir nicht annehmen konnten. Doch beschlossen wir im Vorstand des Vereins für Förderung der geistigen und materiellen Interessen der Arbeitervereine, den Vereinen die Entscheidung zu überlassen, und beriefen eine Landesversammlung für den 28. Januar 1866 nach Zwickau, deren Tagesordnung wir festsetzten, als gäbe es kein gesetzliches Hindernis. Danach sollte nach dem Bericht über die Verwaltung die Antwort des Ministeriums besprochen werden. Weiter sollten beraten werden: Petitionen für volle Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, für die Förderung eines freisinnigen Vereinsgesetzes, die Aufhebung der Arbeits- und Dienstbücher und aller Paßbeschränkungen. Nach diesem sollten die Anträge der Vereine beraten und die Wahl des Vorstandes vorgenommen werden. Wegen Erlangung des allgemeinen Wahlrechtes wollten wir uns in einer Privatbesprechung verständigen.

Unsere Tagesordnung ging dem Leipziger Polizeidirektorium zu weit. Unser Schriftführer Germann und ich wurden vorgeladen und ersucht, dieselbe zu ändern, widrigenfalls die Konferenz nicht stattfinden dürfe und die Vereine für politische erklärt würden, was eine Verbindung unter denselben unmöglich gemacht hätte. Polizeidirektor in Leipzig war damals ein Dr. Rüder, ein ehemaliger demokratischer Achtundvierziger, der aber das Vereins- und Versammlungsgesetz in einer Weise handhabte, daß es kein Konservativer hätte strenger handhaben können. Wir setzten nunmehr nur die Besprechung der Ministerialverordnung auf die Tagesordnung, unterrichteten aber unter der Hand die Vereine, sie möchten sich gut vertreten lassen, wir würden versuchen, auf der Konferenz durchzusetzen, was möglich sei. Es waren von 24 Vereinen 31 Vertreter anwesend. Sonntag vormittag begannen die Verhandlungen. Als ein Vertreter für Werdau den Antrag stellte, die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit auf die Tagesordnung zu setzen, widersprach dem der anwesende Polizeikommissar. Ueber die Verordnung des Ministeriums (Beust) machte ich der Versammlung den Vorschlag zu erklären:

„In Anbetracht, daß die Verordnung des Ministeriums des Innern den Arbeitervereinen Sachsens die Gründung eines Gauverbandes nur unter der Bedingung gestattet, daß dieselben sich nicht mit politischen, sozialen oder öffentlichen Angelegenheiten befassen, durch diese Beschränkung aber die Tätigkeit der Vereine auf Null reduziert wird, beschließt die Versammlung, von der Gründung eines Gauverbandes abzusehen, und überläßt es jedem Verein, wie er seiner Aufgabe nachkommen will.“

Die Folge jener Zwickauer Vorgänge war, daß das Leipziger Polizeidirektorium den Arbeiterbildungsverein unter das Vereinsgesetz stellte, das heißt, ihn von nun an als politischen Verein behandelte.

Große Mißstimmung hatte im Leipziger Arbeiterbildungsverein seit langem die Haltung der „Berliner Volkszeitung“ erregt, die im Lesezimmer auslag, und zwar sowohl wegen ihrer undemokratischen Haltung als auch wegen der Feindseligkeit, mit der sie die weitergehenden Arbeiterforderungen bekämpfte. In der Generalversammlung des Vereins (März 1866) stellte ich im Auftrag des Vorstandes den Antrag, die „Berliner Volkszeitung“ abzuschaffen und dafür die „Rheinische Zeitung“ in Köln zu abonnieren. Der Antrag gab Anlaß zu einer erregten Debatte, er wurde aber schließlich mit 160 gegen 17 Stimmen angenommen. Dieser Beschluß führte in der liberalen Presse zu heftigen Angriffen gegen den Verein und mich persönlich. Man sah mich als den Urheber des Antrags an.

Die im Jahre 1863 in Sachsen eingeführte Gewerbefreiheit setzte voraus, daß wer sich selbständig machen wollte, erst das Gemeindebürgerrecht erlangen mußte. Das kostete aber namentlich in den größeren Städten viel Geld. Es begann nunmehr im Winter von 1865 auf 1866 in Leipzig eine Bewegung, die auf Beseitigung beziehungsweise Herabsetzung der Bürgerrechtsgebühren und eine radikale Umgestaltung der sächsischen Städteordnung abzielte. Liberale Führer standen damals an der Spitze dieser Bewegung. Ich besuchte ebenfalls die betreffenden Versammlungen und soll, so wurde mir mehrfach versichert, die besten Reden gehalten haben. Nachdem ein Programm aufgestellt worden war, wurde ein Komitee niedergesetzt, dem auch ich angehörte, das die Agitation über ganz Sachsen in die Wege leiten sollte. Aber unsere Arbeit erwies sich bald als zwecklos. Als wir im Frühjahr 1866 so weit waren, die Agitation beginnen zu können, war die Zuspitzung der Gegensätze zwischen Preußen und Oesterreich und die Erörterungen über die Lösung der deutschen Frage so weit gediehen, daß sie jedes andere Interesse in den Hintergrund drängten. Das gleiche Schicksal hatte unsere Agitation für eine Umgestaltung der sächsischen Gewerbeordnung. Dagegen traten jetzt die politischen Forderungen in den Vordergrund.

Den 25. und 26. März fanden hierfür mehrere Versammlungen in Dresden statt, zu denen ich von Leipzig delegiert wurde, auf deren Tagesordnung auch die Einigungsfrage stand. Ich sprach mich als Delegierter für Leipzig für ein gemeinsames Zusammengehen aus, dagegen machte Vahlteich den Fehler, daß er die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins scharf angriff und mit Vorwürfen überhäufte, was einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Vahlteich konnte die ihm als einstigem Sekretär Lassalles im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein widerfahrene Behandlung nicht vergessen — er war auf Antrag Lassalles, der keinen Widerspruch vertragen konnte, ausgestoßen worden —, und so schlug er auf den Verein los, wo er immer dazu Gelegenheit fand. Dennoch kam es nach Schluß jener Versammlungen zu einer gemeinsamen Konferenz, an der die Arbeiterbildungsvereine Leipzig, Dresden, Chemnitz, Glauchau und Görlitz, die Mitgliedschaften des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu Dresden, Plauenscher Grund, Chemnitz und Glauchau, der Altgesellenverein und die Typographia zu Dresden durch 20 Delegierte teilnahmen. Man beschloß gemeinsame Agitation für das allgemeine Wahlrecht, für ein demokratisches Vereins- und Versammlungsrecht, für Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Aufhebung der Paßbeschränkungen, Einführung einer Schulreform, Erhaltung der Schulen durch den Staat, Regelung der Lohnfrage, der Kranken- und Unterstützungskassen- und der Assoziationsfrage. Die Anwesenden konstituierten sich als Komitee. Försterling wurde dessen Vorsitzender.

Bei der Einberufung von Versammlungen beteiligten sich jetzt alle in Dresden bestehenden Arbeiterorganisationen, einschließlich des Buchdruckergehilfenverbandes. Man handelte, als gäbe es kein sächsisches Vereinsgesetz mehr, das die Verbindung von Vereinen für politische Zwecke verbot. Auch wurde von allen Seiten ein dauerndes Zusammengehen der Arbeiterorganisationen verlangt. Die Parlamentsfrage wurde von jetzt ab Gegenstand lebhaftester Agitation in den Arbeiterkreisen. Wir forderten ein konstituierendes Parlament für Gesamtdeutschland und die Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung zum Schutze des Parlaments, eine Forderung, die damals in den demokratischen Kreisen als selbstverständlich galt, weil ohne einen solchen Schutz das Parlament Gegenstand eines Staatsstreichs werden könne.

Dagegen faßte eine Versammlung, die am 7. Mai in Dresden tagte und von 2000 Personen besucht war, Beschlüsse, die teilweise recht seltsam lauteten. Darin hieß es:

1. Wir verdammen jede Politik, welche die Kraft des Volkes lähmt und ihm nicht die Garantien seiner Freiheit und seines Wohlstandes gibt. 2. Wir erklären die Abtretung von nur einem Fußbreit deutschen Landes als Verrat am Vaterland. 3. Wir verlangen, daß Seine Majestät der König und die Regierung ihren Pflichten gegen das Vaterland und das Volk nachkommen, und daß deshalb diejenigen Männer, welche diesen Pflichten entgegen die Energie des Widerstandes lähmen, durch solche ersetzt werden, welche energisch und im volkstümlichen Sinne handeln. 4. Wir verlangen, daß die Interessenherrschaft, deren landesverderbliche Resultate jetzt offen zutage treten, durch Wiederherstellung des allgemeinen, gleichen und direkten Stimmrechtes mit geheimer Abstimmung und unbeschränkter Wählbarkeit ersetzt wird. 5. Wir verlangen, daß die Regierung Seiner Majestät den Entschluß kund gebe, auf Grund der Bundesbeschlüsse vom 30. März und 9. April 1848 das Parlament einzuberufen und in die Lösung der deutschen Verfassungsfrage im Sinne der im Februar 1849 der deutschen Nationalversammlung ausgesprochenen Geneigtheit einzutreten. 6. Wir verlangen sofortige Wiederherstellung der deutschen Grundrechte und allgemeine Volksbewaffnung.

Es wurde alsdann eine Deputation gewählt, zu der Försterling, Knöfel und
Rechtsanwalt Schraps gehörten, die dem König die Wünsche der
Versammlung vortragen sollten. Selbstverständlich wurde der Empfang
dieser Deputation abgelehnt.

Schließlich mußte wohl oder übel auch die sächsische Regierung, gedrängt durch die Stimmung im Lande und den mittlerweile einberufenen Landtag, Stellung zur Bundesreformfrage nehmen. Herr v. Beust, der bisher Anhänger des unmöglichen österreichischen Reformprojektes gewesen war und auch der Triasidee warm das Wort geredet hatte, kam jetzt ins Gedränge. Von der Deputation der Zweiten Kammer des Landtags befragt, wie nunmehr die Regierung zu dem österreichischen Reformprojekt stehe, erklärte er: es sei nicht ihre Absicht, auf das Delegiertenprojekt zurückzukommen; sie sei bereit, für eine Bundesreform zu wirken und für ein Parlament, das auf Grund des Wahlgesetzes von 1849 zu wählen sei. Gegenüber dem preußischen Reformentwurf machte er allerlei unklare Vorbehalte. Die Deputation der Zweiten Kammer beantragte im Verein mit der Deputation der Ersten Kammer, an die Regierung den Antrag zu richten:

„Die Regierung möge mit aller Energie dahin wirken, daß die Anordnung
der Wahlen zum deutschen Parlament auf Grund allgemeiner und direkter
Wahl, womöglich nach dem Reichswahlgesetz vom 27. März 1849, in ganz
Deutschland noch im Laufe dieses Monats (Juni) erfolge und die
Einberufung des Parlaments in möglichst kurzer Frist geschehe.“

Aber die Kugel war bereits im Rollen und lief nach einer anderen
Richtung, als man erwartete.

Die Katastrophe von 1866.

Es ist für die Beurteilung der kommenden Ereignisse und unsere Stellung zu denselben notwendig, eine summarische Uebersicht der Vorgänge zu geben, die schließlich die langen diplomatischen Kämpfe, die Oesterreich und Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland führten, auf dem Schlachtfeld zur Entscheidung brachten.

Durch den Tod des Dänenkönigs Friedrich VII., November 1863, tauchte von neuem die schleswig-holsteinsche Frage auf, da mit dem Tode des Königs die Oldenburger Linie erloschen war. Den neuen Dänenkönig Christian IX. erkannten die Schleswig-Holsteiner als erbberechtigten Herzog nicht an, sondern entschieden sich für den Prinzen Friedrich von Augustenburg, der denn auch seinen Regierungsantritt als Herzog Friedrich VIII. verkündete. Damit war die Zugehörigkeit der beiden Herzogtümer zu Deutschland ausgesprochen, was allgemein große Genugtuung hervorrief. Dänemark widerstand dieser Lösung. Der Bundestag mußte sich also für die Bundesexekution gegen Dänemark entscheiden, deren Ausführung er Sachsen und Hannover übertrug. Aber sie paßte nicht in Bismarcks Pläne. Er ließ durch seine Kronjuristen nachweisen, daß der Augustenburger nicht erbberechtigt sei, eine Entscheidung, die die öffentliche Meinung gegen die Bismarcksche Politik aufs äußerste erregte. Man sah in Bismarck, dem Manne des preußischen Verfassungsbruchs, nicht denjenigen, der die Frage im Sinne der Bevölkerung von Schleswig-Holstein lösen würde, man erinnerte sich auch wieder, daß es Preußen war, das an dem schmählichen Ausgang des ersten Schleswig-Holsteinschen Krieges gegen Dänemark, 1851, die Hauptschuld trug.

Der Vorstand des Nationalvereins fand daher lebhafte Zustimmung, als er bereits im Spätherbst 1863 in einem Aufruf, unterzeichnet von Rudolf v. Bennigsen als Präsident, das Volk zur Selbsthilfe aufrief. In dem betreffenden Aufruf hieß es: „Der Nationalverein fordert alle Gemeinden, Korporationen, Vereine, Genossenschaften, fordert alle Vaterlandsfreunde, die sich mit ihm zu dem großen Werke verbinden wollen, auf, ungesäumt Geld herbeizuschaffen — und Mannschaften, Waffen und alle Mittel bereitzuhalten, die zur Befreiung unserer Brüder in Schleswig-Holstein erforderlich sein werden.“

Dieser Aufruf verstieß zweifellos gegen eine Reihe Gesetze in den
Einzelstaaten, aber kein öffentlicher Ankläger rührte sich. Die
Volksstimmung sympathisierte mit diesem Vorgehen.

Kurz nachher veröffentlichte der Ausschuß des Nationalvereins für
Schleswig-Holstein einen Aufruf, in dem es hieß:

„Wohlan! rüsten wir uns, auf daß, wenn der Augenblick zum Handeln gekommen ist, die deutsche Jugend kampfbereit zu den Waffen greifen kann…. Die vielleicht nur sehr kurze Zwischenzeit möge sie benutzen zur Uebung in den Waffen und zur taktischen Ausbildung.“

Man sieht, wie damals die liberalen Wortführer die Durchführung der
Volksbewaffnung in kurzer Zeit für möglich hielten. Wehe dem
Sozialdemokraten, der heute einen ähnlichen Aufruf erlassen wollte. Das
ist der Fortschritt seit jener Zeit! —

Hier möchte ich einfügen, daß mit Beginn der sechziger Jahre neben der massenhaften Gründung von Arbeitervereinen auch die massenhafte Gründung von Turn- und Schützenvereinen vorgenommen wurde, die in der nationalen Bewegung jener Tage eine große Rolle spielten. Bismarck sah diesem Treiben sehr mißmutig zu. Die großen Feste, die jene Vereinigungen für ganz Deutschland abwechselnd veranstalteten, waren Massenvereinigungen, die sich in der Hauptsache mit der deutschen Frage beschäftigten. In Leipzig fand im August 1863 das allgemeine deutsche Turnfest statt, dem selbst Herr v. Beust seine Reverenz machte. Aber während dieser eine patriotische Rede auf dem Turnplatz hielt, verbot die Leipziger Polizei den Verkauf der Reichsverfassungsurkunde von 1849 an öffentlichen Orten. Ich nahm ebenfalls insofern an jenem Feste teil, als unsere Sängerabteilung, deren Vorsitzender ich nach dem Austritt Fritzsches geworden war, mit den übrigen Gesangvereinen Leipzigs die Gesangsaufführungen in der Festhalle ausführte. Im Oktober desselben Jahres fand auch die fünfzigjährige Feier der Schlacht bei Leipzig statt. Dieses Fest war in seiner Art noch weit großartiger als das Turnfest. Es wurde ebenfalls zu großen politischen Demonstrationen benutzt. Ich wirkte hier gleichfalls als Angehöriger unserer Sängerschar mit.

Es wurden von jetzt ab in ganz Deutschland Versammlungen zugunsten der Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins veranstaltet. In Leipzig beschloß eine Arbeiterversammlung, in der alle Richtungen vertreten waren: „sie betrachte es als die Pflicht der deutschen Arbeiter, der Ehre, dem Rechte und der Freiheit des Vaterlandes in allen Fällen, wo diese bedroht seien, ihren Arm zur Verfügung zu stellen“. Im gleichen Sinne wurde in anderen Städten resolviert. Der in Frankfurt a. M. Ende 1863 abgehaltene Abgeordnetentag, der von 500 Abgeordneten besucht war, erklärte sich gegen die Annexion von Schleswig-Holstein an irgend einen deutschen Staat. Der Beschluß zielte gegen Preußen und Bismarck, für dessen Politik damals selbst diejenigen Liberalen nicht einzutreten wagten, die innerlich für eine Annexion an Preußen waren.

Natürlich war Bismarck über diese seiner Politik bereiteten Hindernisse aufs höchste aufgebracht. Er verlangte vom Frankfurter Senat die Auflösung des Sechsunddreißiger-Ausschusses des Abgeordnetentags, dessen Vorsitzender der Stadtrat Siegmund Müller in Frankfurt war. Ferner verlangte er vom Senat das Verbot der Wehrübungen der Frankfurter Jugend. Mit beiden Anträgen fiel er ab. Aber er vergaß dieses Frankfurt nicht. 1866 mußte das „Demokratennest“ dafür büßen, indem er es erst drangsalierte und dann annektierte. Schließlich fand die schleswig-holsteinsche Frage doch die von Bismarck geplante Lösung. Es gelang ihm, den Leiter der österreichischen Politik, Graf Rechberg, gründlich einzuseifen und für seine nächsten Pläne zu gewinnen. Statt der Bundestruppen, die mittlerweile in Schleswig-Holstein eingerückt waren, führten jetzt Preußen und Oesterreich den Krieg gegen die Dänen, die ihnen gegenüber bald unterlagen und genötigt wurden, im Friedensschluß Schleswig-Holstein und Lauenburg an Preußen und Oesterreich abzutreten. Oesterreich machte schließlich mit Preußen noch ein Handelsgeschäft, indem es seinen Anteil an Lauenburg für 2-1/2 Millionen Taler an Preußen verkaufte. Der Krieg war von Bismarck gegen den Willen der Abgeordnetenkammer geführt worden, die mit 275 gegen 80 Stimmen die geforderte Kriegsanleihe verweigert hatte. Man kann sich vorstellen, daß diese Art zu regieren die Stimmung für Preußen nicht stärkte, die im übrigen Deutschland noch verschlimmert wurde, als nach langen Verhandlungen zwischen Preußen und Oesterreich der Vertrag von Gastein, 14. August 1865, bekannt wurde, nach dem die Verwaltung von Schleswig an Preußen und jene von Holstein an Oesterreich fiel. Das war der zweite Meisterstreich Bismarcks, der damit den Keil zwischen Oesterreich und dem Bunde immer tiefer trieb. Allerdings bot sich jetzt der Welt das heitere Schauspiel, daß die Preußen unter Manteuffel alle Demonstrationen zugunsten des Augustenburgers in Schleswig rücksichtslos unterdrückten und überhaupt ein sehr strenges Regiment führten, wohingegen die Oesterreicher unter dem General v. Gablenz in Holstein allem freien Lauf ließen. Wie Gablenz seine Aufgabe auffaßte, zeigt seine Aeußerung: „Ich werde die bestehenden Landesgesetze beachten, damit kein Holsteiner bei meinem eventuellen Wegziehen von hier sagen kann, ich habe rechtlos regiert. Ich will hier im Lande nicht als türkischer Pascha regieren.“ Das war eine moralische Ohrfeige für Herrn v. Manteuffel.

Daß die neue Ordnung in den Herzogtümern nur ein Provisorium sein konnte, war klar. Diese Lösung war keine. Schließlich mußte die Auseinandersetzung zwischen Preußen und Oesterreich kommen, und die konnte, nachdem alle übrigen Faktoren ausgeschaltet waren, nach Bismarcks Ansicht nur durch einen Krieg erfolgen. Auf diesen arbeitete er nun systematisch hin. Auf der einen Seite suchte er sich durch dilatorische Verhandlungen, wie er sie später nannte, Napoleons Neutralität durch Versprechungen auf eventuelle Abtretung deutschen Gebiets an Frankreich zu sichern — die Rheinpfalz und das preußische Saarrevier standen bei den Unterhandlungen in Frage —, andererseits schloß er mit Italien ein Abkommen, wonach es im gegebenen Falle Oesterreich im Süden angreifen sollte, sobald Preußen von Norden losschlagen würde. Bezeichnend für die Art, wie Bismarck seine „nationale“ Politik durchzusetzen suchte, sind die Verhandlungen mit den italienischen Staatsmännern, die später der italienische Ministerpräsident La Marmora in seinem Buche „Mehr Licht“ veröffentlichte. Im März äußerte Bismarck gegen den italienischen außerordentlichen Militärbevollmächtigten in Berlin: der König habe die allzu ängstlichen legitimistischen Skrupel aufgegeben. Er hatte Bedenken, sich mit dem durch Kronenraub und Annexionen groß gewordenen Italien zu verbinden, auch wollte er aus legitimistischen Bedenken keinen Krieg gegen Oesterreich führen. In einigen Monaten, so fuhr Bismarck fort, werde er die Frage der deutschen Reform, verziert mit einem Parlament, aufs Tapet bringen, mit diesem Vorschlag Wirren hervorrufen, die dann Preußen in Gegnerschaft mit Oesterreich bringen würden, worauf es zwischen beiden zum Kriege kommen werde.

Dieses Programm wurde prompt ausgeführt.

Am 3. Juni berichtete der italienische Gesandte in Berlin, Govone, seiner Regierung, Bismarck habe ihm gegenüber geäußert: „Ich bin viel weniger Deutscher als Preuße und würde kein Bedenken tragen, die Abtretung des ganzen Landes zwischen dem Rheinufer und der Mosel an Frankreich zu unterschreiben: Pfalz, Oldenburg, einen Teil des preußischen Gebiets.“ … „Sorge mache ihm der König, der das religiöse, ja abergläubische Bedenken habe, er dürfe die Verantwortung für einen europäischen Krieg nicht auf sich laden.“

Die Darlegung der Zettelungen, die Bismarck mit Italien führte, um durch Anstiftung revolutionärer Erhebungen in Ungarn und Kroatien Oesterreich zu schwächen und die Heeresteile aus den erwähnten Ländern zum Abfall von der österreichischen Armee zu bringen, will ich im einzelnen nicht schildern. Diese Vorgänge zeigen, daß hoch- und landesverräterische Unternehmungen gerade gut genug waren, um Bismarck zum Ziele zu führen, und Hoch- und Landesverrat nur dann Verbrechen sind, wenn sie von unten ausgehen. Preußen und Italien verständigten sich, daß die Kosten für diese revolutionären Erhebungen von ihnen gemeinsam getragen werden sollten. Ueberflüssig zu sagen, daß Oesterreich nunmehr seine Lage erkannt hatte und Gegenmaßregeln traf. Gegen Ende März begann das diplomatische Spiel lebhaft zu werden. Man begann sich beiderseitig mit Vorwürfen zu traktieren und — rüstete. Am 9. April stellte Preußen seinen Bundesreformantrag in Frankfurt a.M. Es beantragte, die Bundesversammlung wolle beschließen, eine aus direkten Wahlen und allgemeinem Stimmrecht der ganzen Nation hervorgegangene Versammlung für einen näher zu bestimmenden Tag einzuberufen, in der Zwischenzeit aber, bis zum Zusammentritt derselben, sollten die Regierungen die Vorlagen für eine Reform der Bundesverfassung untereinander feststellen.

Diesem Reformvorschlag wurde erklärlicherweise in weiten Kreisen mit intensivem Mißtrauen begegnet. Man sagte sich: Wie kommt Bismarck dazu, sich für ein deutsches Parlament auf Grund des allgemeinen, direkten Wahlrechts zu erklären und sich als radikalen Reformator aufzuspielen, er, der in Preußen im Widerspruch gegen die klaren Bestimmungen der Verfassung regiert, der die berüchtigten Preßordonnanzen, die Führung des Schleswig-Holsteinschen Krieges wider den Willen der Kammer, die eben erst getroffene Entscheidung des Obertribunals über den Artikel 84 der Verfassung, betreffend die Redefreiheit der Abgeordneten, und vieles andere auf dem Gewissen habe? Der Widerstand, den der preußische Reformvorschlag fand, veranlaßte im April die „Kreuzzeitung“, zu erklären, es bleibe nur eine Alternative: Bundesreform oder Revolution. In Wahrheit war es Bismarck mit seinem Vorschlag eines gesamtdeutschen Parlaments nicht Ernst, wie das sein späterer Parlamentsvorschlag an den Bundestag zeigte. Aber er dachte auch nicht einmal daran, die südwestdeutschen Staaten darin aufzunehmen, wie sich nachher herausstellte, als es sich um die Gründung des Norddeutschen Bundes handelte.

Zum Ueberfluß ist dieses durch die Denkwürdigkeiten des Fürsten Hohenlohe bestätigt worden. Bismarck sah damals in der großen Mehrzahl der Süddeutschen heterogene Elemente, die ihm seine Zirkel stören könnten. Erst die Wahlen zum Zollparlament und die Aufnahme, die der Krieg von 1870/71 in Süddeutschland fand, beseitigten seine Befürchtungen.

Das Vorgehen Bismarcks in der schleswig-holsteinschen und der deutschen Frage wirkte auf die Liberalen zersetzend; sie wurden in zwei Lager getrennt. Die einen sympathisierten mit seinem Vorgehen, die anderen konnten ihm seinen inneren Konflikt in Preußen nicht verzeihen und opponierten. Twesten schrieb Anfang Oktober 1865 an den Vorsitzenden des Sechsunddreißiger-Ausschusses: „Wir — er sprach also im Namen von mehreren — ziehen jede Alternative einer Niederlage des preußischen Staates vor.“ Das hieß also: Siegt Preußen im Kampfe um die Vorherrschaft in Deutschland selbst mit Hilfe des Auslandes und unter Preisgabe deutschen Gebiets, wir stehen zu Preußen. Das war das Bismarcksche: „Ich bin mehr Preuße als Deutscher!“ Mommsen meinte: Die Differenzen in Freiheitsfragen seien kein Grund, daß man Bismarck nicht in seiner auswärtigen Politik unterstütze. Und Ziegler, der Steuerverweigerer von 1848, der des Hochverrats angeklagt, zu Festung verurteilt und als Oberbürgermeister von Brandenburg gemaßregelt worden war, erklärte kurz vor Ausbruch des Krieges vor seinen Breslauer Wählern: Das Herz der preußischen Demokratie ist, wo die Landesfahnen wehen. Ziegler war ein merkwürdiger Herr. So hatte er einige Monate zuvor in einer Rede im preußischen Abgeordnetenhaus seinen Parteigenossen ein drastisches Zitat aus einer Rede Marrasts, der im Februar 1848 Mitglied der provisorischen Regierung in Paris wurde, an den Kopf geworfen, indem er ihnen zurief: Die Perversität ist euch vom Unterleib ins Gehirn gestiegen, ihr könnt nicht mehr denken.

Der Nationalverein suchte durch eine Generalversammlung, die er für Ende Oktober 1865 nach Frankfurt a.M. berief, in seiner Art ebenfalls der Bismarckschen Politik zu Hilfe zu kommen. Er erntete freilich keinen Dank. Bismarck war über diese Absicht so aufgebracht, daß er die österreichische Regierung veranlaßte, mit ihm eine Note an den Frankfurter Senat zu schicken, in der beide das Verbot der Generalversammlung forderten, ein Schritt, den nur ein Mann unternehmen konnte, der nicht mehr Herr über seine Nerven war. Der Senat lehnte auch diese Forderung ab, und die Generalversammlung fand statt. Die Beschlüsse besagten: Der Nationalverein bestätige seine früheren Beschlüsse, wonach er eine Zentralgewalt und ein Parlament mit der Reichsverfassung von 1849 als Ziel erstrebe und die Zentralgewalt an Preußen übertragen sehen wolle. Für Schleswig-Holstein fordere er das Selbstbestimmungsrecht mit der Einschränkung, daß, solange keine deutsche Zentralgewalt vorhanden sei, es die für eine Zentralgewalt notwendigen Attribute an Preußen übertrage. Ferner solle eine Landesvertretung der Herzogtümer einberufen werden. Nach heftigen Debatten wurden diese Anträge mit großer Mehrheit angenommen. Jedenfalls lag in diesen Beschlüssen ein großes Entgegenkommen gegen Preußen. Weiter konnte vorerst der Nationalverein nicht gehen.

Als dann die Möglichkeit eines Krieges zwischen Oesterreich und Preußen immer mehr in den Vordergrund rückte, ging das Bestreben der Liberalen dahin, die Neutralität der Mittel- und Kleinstaaten durchzusetzen, denn sie sagten sich, daß diese im Kriegsfall wohl in ihrer großen Mehrheit auf österreichischer Seite stehen würden.

In Sachsen drehten die Liberalen sogar den Spieß um und machten die sächsische Regierung für den eventuellen Ausbruch eines Krieges verantwortlich; sie verlangten Abrüstung und Anschluß an Preußen. Die Leipziger städtischen Behörden schlossen sich durch Beschluß vom 5. Mai dieser Auffassung an. Dagegen protestierte eine von 5000 Personen besuchte Volksversammlung, die Professor Wuttke und seine nächsten politischen Freunde, unterstützt von den Lassalleanern Fritzsche usw., für den 8. Mai einberufen hatten, eine Einberufung, der wir uns anschlossen. Der Lassalleaner Steinert präsidierte. Wuttke hielt die erste Rede. Er protestierte gegen das Vorgehen von Stadtrat und Stadtverordneten und forderte in einer Resolution die Regierung auf, die Verteidigungsmaßregeln auszudehnen und allgemeine Volksbewaffnung zum Schutze des Landes einzuführen; ferner solle die Regierung sich schleunigst der Hilfe ihrer Bundesgenossen versichern und beharrlich jeder Sonderstellung Preußens in Schleswig-Holstein wie im übrigen Deutschland entgegentreten.

Diese Resolution war uns zu schwächlich. Ich nahm also das Wort und begründete folgende von Liebknecht und mir vereinbarte Resolution:

1. Die gegenwärtige drohende Lage Deutschlands ist durch die Haltung und das Vorgehen der preußischen Regierung in der schleswig-holsteinschen Frage provoziert, zugleich aber auch die natürliche Konsequenz der Politik des Nationalvereins und der Gothaer für die preußische Spitze. 2. Eine direkte oder indirekte Unterstützung dieser undeutschen Politik betrachten wir als eine Schädigung der Interessen des deutschen Volkes. 3. Dieses Interesse kann nur gewahrt werden durch ein aus allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervorgegangenes Parlament, unterstützt durch allgemeine Volkswehr. 4. Wir erwarten, daß das deutsche Volk nur solche Männer zu seinen Vertretern erwählt, die jede erbliche Zentralgewalt verwerfen. 5. Wir erwarten, daß im Falle eines deutschen Bruderkriegs, der nur dazu dienen kann, deutsches Gebiet dem Ausland in die Hände zu spielen, das deutsche Volk wie ein Mann sich erhebt, um mit den Waffen in der Hand sein Eigentum und seine Ehre zu vertreten.

Der Stadtverordnetenvorsteher Dr. Joseph versuchte Stadtrat und
Stadtverordnete zu rechtfertigen, ihm antworteten scharf Liebknecht und
Fritzsche. Die Wuttkesche Resolution wurde gegen eine Minorität, die
meinige einstimmig angenommen.

Die Leipziger liberale Presse brachte die verlogensten Berichte über jene Versammlung, was die Arbeiter der Offizin von Giesecke & Devrient so empörte, daß sie die betreffende Nummer der „Mitteldeutschen Volkszeitung“ feierlich verbrannten. Das Leipziger Beispiel fand vielfach Nachfolge. So sprach sich unter anderem der Arbeitertag des Maingauverbandes, der am 13. Mai unter Professor Louis Büchners Vorsitz tagte, im gleichen Sinne aus.

In dieser Situation glaubte man im Sechsunddreißiger-Ausschuß des Abgeordnetentages Preußen zu Hilfe kommen zu müssen. Derselbe berief auf den ersten Pfingstfeiertag einen Abgeordnetentag nach Frankfurt a.M. Die Frankfurter Demokratie beschloß, auf denselben Tag eine Gegendemonstration zu veranstalten, zu der aus Sachsen Wuttke und ich eingeladen wurden. Der Abgeordnetentag, von zirka 250 Abgeordneten besucht, wurde vom Vorsitzenden des Sechsunddreißiger-Ausschusses eröffnet. Herr v. Bennigsen wurde Präsident. Unter den Anwesenden war auch Bluntschli, der durch sein Vorgehen in den vierziger Jahren in der Schweiz gegen Weitling keinen guten Namen hatte. Ferner war anwesend der alte Geheimrat Welcker, der, obgleich er für die preußische Spitze schwärmte, über die Bismarcksche Politik so erbittert war, daß er, wie damals die Zeitungen meldeten, die sonderbare Preisfrage gestellt hatte, wie eine verderbliche Regierung ohne das Mittel der Revolution entfernt werden könnte? Die bekannte Frage: Wie wäscht man den Pelz, ohne ihn naß zu machen?

Unter den Zuhörern der Verhandlungen befanden sich unter anderen die
Achtundvierziger Amand Goegg, August Ladendorf und Gustav Struve.
Letzterer war eine hagere, hoch aufgeschossene Gestalt mit einer
Fistelstimme und einer merkwürdig roten Nase, obgleich er ein Gegner des
Alkohols war. Ich hatte mir den ehemaligen Führer aus der badischen
Revolution etwas anders vorgestellt, machte aber bald die Entdeckung,
daß wie es mir mit Struve, es anderen Leuten mit mir erging, die auch
ganz andere Vorstellungen von meiner Person hatten.

Dr. Völck-Augsburg, der später den Spitznamen die Frühlingslerche
erhielt, weil er im Zollparlament jubilierend verkündete: es will in
Deutschland Frühling werden, war Referent. Er begründete folgende
Resolution der Mehrheit des Sechsunddreißiger-Ausschusses:

* * * * *

Der Sieg der Waffen hat uns unsere Nordmarken zurückgegeben. Ein solcher Sieg würde in jedem wohlgeordneten Reiche zur Erhöhung des Nationalgefühls gedient haben. In Deutschland führte er durch die Mißachtung des Rechts der wiedergewonnenen Länder, durch das Streben der preußischen Regierung nach gewaltsamer Annexion und infolge der unheilvollen Eifersucht der beiden Großmächte zu einem Zwiespalt, dessen Dimensionen weit über den ursprünglichen Gegenstand des Streites hinausreichen.

Wir verdammen den drohenden Krieg als einen nur dynastischen Zwecken dienenden Kabinettskrieg. Er ist einer zivilisierten Nation unwürdig, gefährdet alle Güter, welche wir in fünfzig Jahren des Friedens errungen haben, und nährt die Gelüste des Auslandes.

Fürsten und Minister, welche diesen unnatürlichen Krieg verschulden oder aus Sonderinteressen die Gefahren desselben erweitern, machen sich eines schweren Verbrechens an der Nation schuldig.

Mit ihrem Fluche und der Strafe des Landesverrats wird die Nation diejenigen treffen, welche in Verhandlungen mit ausländischen Mächten deutsches Gebiet preisgeben.

Sollte es nicht gelingen, den Krieg selbst durch den einmütig ausgesprochenen Willen des Volkes noch in der letzten Stunde zu verhindern, so ist wenigstens dahin zu trachten, daß er nicht ganz Deutschland in zwei große Lager teile, sondern auf den engsten Raum beschränkt werde.

Wir erblicken hierin das wirksamste Mittel, um die Wiederherstellung des Friedens zu beschleunigen, die Einmischung des Auslandes abzuhalten, durch die Heeresmacht der nichtbeteiligten Staaten die Grenzen zu decken und, im Falle der Krieg einen europäischen Charakter annehmen sollte, mit noch frischen Kräften dem äußeren Feind entgegenzutreten.

Diese Staaten haben also die Pflicht, solange ihre Stellung geachtet wird, nicht ohne Not in den Krieg der beiden Großmächte sich zu stürzen. Insbesondere liegt es den Staaten der südwestdeutschen Gruppe ob, ihre Kraft ungeschwächt zu erhalten, um gegebenen Falles für die Integrität des deutschen Gebiets einzustehen.

Es wird Sache der Landesvertretungen sein, wenn sie über Anforderungen zu militärischen Zwecken zu entscheiden haben, diejenigen Garantien von ihren Regierungen zu fordern, welche die Verwendung in der oben ausgesprochenen Richtung und im wahren Interesse des Vaterlandes sichern. Nur hierdurch wird sich die Gefahr abwenden lassen, aus den jetzigen Verwicklungen eine neue Aera allgemeiner deutscher Reaktion entspringen zu sehen.

Wie ein deutsches Parlament allein die Behörde ist, welche über die deutschen Interessen in Schleswig-Holstein zu entscheiden vermag, so ist auch die Erledigung der deutschen Verfassungsfrage durch eine freigewählte deutsche Volksvertretung allein imstande, der Wiederkehr solcher unheilvollen Zustände wirksam zu begegnen. Die schleunige Einberufung eines nach dem Reichswahlgesetz vom 14. April 1849 gewählten Parlaments muß daher von allen Landesvertretungen und von der ganzen Nation gefordert werden.

* * * * *

Der Schwerpunkt dieser Resolution lag in den Abschnitten 5, 6 und 7, nach denen man die Mittel- und Kleinstaaten zur Neutralität in dem Kampfe zwischen Oesterreich und Preußen verpflichten wollte. In einer sehr wirkungsvollen Rede ging der preußische Abgeordnete Julius Freese der Resolution des Ausschusses und den Rednern, die sie verteidigt hatten, zu Leibe, häufig von stürmischem Beifall der Minorität und der Zuhörerschaft im Saale unterbrochen. Ueber die den Mittel- und Kleinstaaten zugemutete Rolle äußerte er:

„Und was würde die Folge sein, wenn die beiden Staaten sich nun gepackt hätten? Wie zwei Hirsche um eine Hirschkuh kämpfen, und die Hirschkuh waffenlos und ruhig dabeisteht, so sollen Oesterreich und Preußen miteinander kämpfen, und das dritte Deutschland soll die milde, sanfte Hirschkuh sein, die dann abwartet, welchem Sieger das Ende des Kampfes sie überweist…. Und er schloß: Nur dann wird Preußen frei, wenn es in Deutschlands Dienste tritt; wenn Sie aber Deutschland in Großpreußen aufgehen lassen, dann sei Gott denen gnädig, die das Regiment sehen, welches dann über Preußen und Deutschland ergehen wird.

Diese Worte lösten langanhaltenden Beifall aus.

Aber neben der Tragik kam auch die Komik zu ihrem Rechte. Mitten in der Rede Völcks donnerten mehrere Kanonenschläge durch den Saal, so daß alles entsetzt aufsprang und nach der Decke schaute, deren Einsturz man befürchtete. Völck selbst schien zu glauben, es handle sich um ein Attentat auf ihn. Mit einem mächtigen Satze sprang er rückwärts von der Tribüne an die Wand, begleitet von einem lauten Gejohle und Händeklatschen auf der obersten Galerie. Die Frankfurter und Offenbacher Lassalleaner hatten unter Führung Oberwinders die Kanonenschläge gelegt, um auf diese Weise ihre Visitenkarte beim Abgeordnetentag abzugeben. Dem Schrecken folgte allgemeine Heiterkeit.

Selbstverständlich wurden die Resolutionen des Ausschusses mit großer
Mehrheit angenommen gegen einen Antrag Müller-Passavant.

Am Nachmittag desselben Tages fand dann im Zirkus die von demokratischer Seite einberufene, von etwa 3000 Personen besuchte Volksversammlung statt. Neben anderen Rednern nahm auch ich das Wort.

In der von uns vorgeschlagenen Resolution wurde gefordert:

1. Gegen die friedensbrecherische Politik Preußens den bewaffneten Widerstand, Neutralität ist Feigheit oder Verrat. 2. Schleswig-Holstein solle auf Grund des bestehenden Rechtes seine Selbständigkeit erlangen. 3. Der preußische Parlamentsvorschlag sei unbedingt zu verwerfen, dagegen solle eine konstituierende, mit der nötigen Macht ausgestattete Volksvertretung über die Verfassung Gesamtdeutschlands entscheiden. 4. Einführung der Grundrechte und gesetzliche Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung. 5. Das Volk solle überall in Stadt und Land in politischen Vereinen zusammentreten.

Nach Annahme dieser Vorschläge wurde ein Ausschuß niedergesetzt, der ein
Programm entwerfen und eine Delegiertenversammlung nach Frankfurt
einberufen solle, um endgültig das Programm zu beraten. In den Ausschuß
wurden auf Vorschlag von Haußmann-Stuttgart, dem Vater des
Reichstagsabgeordneten Konrad Haußmann, gewählt: Bebel,
Eichelsdörfer-Mannheim, Goegg-Offenburg, K. Grün-Heidelberg,
Kolb-Speier, K. Mayer-Stuttgart, Dr. Morgenstern-Fürth, v.
Neergardt-Kiel, Aug. Röckel und Gustav Struve-Frankfurt, Trabert-Hanau,
Krämer von Doos, Bayern. Von diesen zwölf bin ich der einzige noch
Lebende, allerdings war ich auch der Benjamin der Korona.

Der Ausschuß verfaßte folgendes Programm:

A. 1. Demokratische Grundlage der Verfassung und Verwaltung der deutschen Staaten. 2. Föderative Verbindung derselben auf Grund der Selbstbestimmung. 3. Herstellung einer über den Regierungen der Einzelstaaten stehende Bundesgewalt und Volksvertretung. Keine preußische, keine österreichische Spitze.

B. 1. Wir fordern die Erhaltung des Friedens in Deutschland. Die Kriegsgefahr ist aus der schleswig-holsteinschen Sache entsprungen; beseitigt kann sie nur werden durch die sofortige Konstituierung der Herzogtümer als eines selbständigen Staates auf Grund des Rechtes und des Volkswillens. Die Stimme Holsteins im Bunde muß ohne weiteres in Kraft treten, seine Wehrkraft aufgeboten werden. Keine Verfügung über die Herzogtümer wider den Willen der Bevölkerung; keine Teilung Schleswigs. 2. Gegen die preußische Kriegspolitik ist der Widerstand Deutschlands geboten. Neutralität wäre Feigheit oder Verrat. 3. Kein Fußbreit deutscher Erde darf an das Ausland abgetreten werden. Die Gefahr des Verlustes von deutschem Gebiet und die Schmach einer Einmischung des Auslandes in deutsche Angelegenheiten werden nur dann von uns abgewendet, der Widerstand wird nur dann erfolgreich, die Gefahr eines Sieges an der Seite Oesterreichs nur dann beseitigt sein, wenn die Bundesgenossen im Kampfe keine dynastische, sondern eine nationale Politik verfolgen und ihren Bund auf die volle Wehrkraft, sowie auf die parlamentarische Mitwirkung des Volkes stützen. Die gesetzliche Einführung des Milizsystems ist vor allen Dingen zu verlangen. 4. Der preußische Parlamentsvorschlag ist zu verwerfen; nur eine aus dem Volke hervorgegangene, in voller Freiheit gewählte Nationalversammlung mit entscheidender Stimme und ausgestattet mit der nötigen Macht kann über die Verfassung des Vaterlandes endgültig entscheiden.

Die Einberufung einer Delegiertenversammlung, der dieses Programm zur
Beratung unterbreitet werden sollte, mußte unterbleiben, weil
mittlerweile der Krieg ausbrach. Nunmehr erließ der Ausschuß folgende
Proklamation:

* * * * *

An das deutsche Volk!

Der deutsche Bruderkrieg ist entbrannt. In die Zeit des rohen Faustrechtes ist Deutschland zurückgeworfen. Dies schwerste Verbrechen an der Nation fällt jener Partei in Preußen zur Last, die ruchlos genug ist, den Bruch des preußischen Volksrechtes und des schleswig-holsteinschen Landesrechtes mit der Vergewaltigung von ganz Deutschland krönen zu wollen. In dem Augenblick, wo die staatliche Zukunft Schleswig-Holsteins endlich auf dem friedlichen Wege deutschen Rechtes und deutscher Ehre entschieden werden sollte, ist diese Partei zum Aeußersten geschritten, den ewigen Bund deutscher Stämme zu sprengen und an die Stelle des öffentlichen Rechtes und des Willens der Gesamtheit das Machtgebot des einzelnen zu setzen. In die deutschen Länder Hannover, Kurhessen, Sachsen ist sie eingebrochen wie in Feindesland, und alle deutschen Staaten, die sich ihr nicht fügen, bedroht sie mit gleicher Gewalt. In Preußen selbst stachelt sie das Volk zum Haß gegen Deutschland und spricht ihm von erdichteten Gefahren, von Demütigung, Erniedrigung, Zerstücklung, womit es von Deutschland bedroht sei.

Noch drohte Preußen keine Gefahr der Erniedrigung, als die es in seinem Innern birgt. Der Sturz der Kriegspartei wäre für Preußen selbst der schönste Sieg. Die Gefahr der Zerstücklung ist gerade durch diese Partei über ganz Deutschland gebracht. Im Süden ist durch ihr Bündnis mit Italien deutsches Bundesland gefährdet. Im Westen hat sie die alte Gefahr heraufbeschworen, die jedesmal droht, wenn Deutschland uneinig ist.

Die deutschen Stämme, welche die Berliner Gewaltpolitik gegen sich in Waffen gerufen hat, ziehen nicht gegen das Volk in Preußen, ziehen nicht für habsburgische Hauspolitik ins Feld; die Nation will so wenig Oesterreich wie Preußen dienen. Frei will sie sein, selbst Herr im eigenen Hause. Gegen ihren Willen verstrickt in das jetzige Unglück, darf und will sie nicht die Folgen desselben untätig abwarten. Wie sie mit richtigem vaterländischen Gefühl die ihr angesonnene Neutralität im Bruderkrieg von sich gewiesen hat, so ist es jetzt ihre Pflicht, mit voller Kraft und einmütiger Entschlossenheit sich die Mitwirkung an der Entscheidung ihrer Geschicke zu sichern durch allgemeine Volksbewaffnung und gemeinsame Volksvertretung.

Auf diese beiden Forderungen ist sofort und allerorten die Tätigkeit des deutschen Volkes zu richten; eine allgemeine Agitation in öffentlichen Volksversammlungen muß schleunigst dafür organisiert werden. Das deutsche Volk allein kann noch das deutsche Vaterland retten.

Frankfurt, 1. Juli 1866.

Der Ausschuß der Frankfurter Volksversammlung vom 20. Mai.

I.d.N.: G.F. Kolb. Aug. Röckel.

* * * * *

Der Aufruf war gut gemeint, aber er kam zu spät. Und was ihm einzig hätte Nachdruck geben können, eine große, geschlossene Organisation, fehlte. —

Den Tag nach den erwähnten Frankfurter Vorgängen, am zweiten Pfingstfeiertag, war ich mit einer Anzahl Herren bei Siegmund Müller zu Tisch geladen. Nach beendetem Essen traten wir an die weit geöffneten Fenster, um den herrlichen Maitag zu genießen. Wie auf Kommando erhoben wir ein homerisches Gelächter. Aus Müllers Wohnung sah man auf den Main und die alte Mainbrücke, auf der in ihren weißen Uniformen Scharen österreichischer Soldaten herüber- und hinüberspazierten, fast ein jeder ein Mädchen am Arme. Dieser Anblick hatte unsere Lachlust erregt. Unser Gastgeber sah die Sache ernster an, in seinem Frankfurter Hochdeutsch äußerte er: „Meine Herrn! Sie hawwe gut lache, die Mädercher krieche alle Kinner, und die misse dann von der Stadt erhalte werrn!“ Eine zweite Lachsalve war unsere Antwort. Kurze Zeit nachher, am 10. Juni, verließen die Preußen, die zur Bundesgarnison in Frankfurt gehörten, mit „klingendem Spiel“ die Stadt, am 11. folgten in gleicher Weise die Oesterreicher. Diese auf Nimmerwiedersehen. Gar mancher der lustigen Burschen, die an jenem Pfingstfeiertag fröhlich über die Mainbrücke zogen, dürfte später mit seinem Blute das Schlachtfeld gedüngt haben. —

Den 10. Juni trat auch der ständige Ausschuß der Arbeitervereine zu einer Sitzung in Mannheim zusammen, um Stellung zu dem vorhandenen politischen Konflikt zu nehmen. Mit Ausnahme von M. Hirsch war der ganze Ausschuß anwesend, ebenso auf besondere Einladung Streit-Koburg.

In der deutschen Frage kam es zu erregten Auseinandersetzungen. Ein preußisches Mitglied bestritt, daß im preußischen Volke Sympathien für Annexionen vorhanden seien, worin er sich, wie die Folge lehrte, gründlich irrte. Die große Mehrheit des Ausschusses war gegen eine Neutralität der Mittelstaaten. Von einer Seite wurde hervorgehoben, die preußische Hegemonie werde der industriellen Entwicklung förderlich sein, von anderer Seite wurde bestritten, daß die preußische Spitze dazu nötig wäre. Schließlich wurde einstimmig beschlossen, sich der bereits bestehenden Volkspartei und dem von dem Frankfurter Ausschuß aufgestellten Programm anzuschließen. Auch wurde empfohlen, folgenden Kompromißantrag in das Programm der Volkspartei aufzunehmen: Jede volkstümliche Regierung muß die allmähliche Ausgleichung der Klassengegensätze so weit zu fördern suchen, als es irgend mit der Schonung der individuellen Freiheit und den volkswirtschaftlichen Gesamtinteressen vereinbar ist. Die materielle und moralische Hebung des Arbeiterstandes ist ein gemeinsames Interesse aller Klassen, ist eine unentbehrliche Stütze der bürgerlichen Freiheit.

Da die politischen Wirren bereits große Arbeitslosigkeit zur Folge hatten, kam man überein, die Unternehmer aufzufordern, während der Dauer der Arbeitsstockung eine entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit eintreten zu lassen, statt Arbeiter zu entlassen; ferner sollten die Staats- und Gemeindebehörden die begonnenen Bauten weiterführen und bereits geplante zur Ausführung bringen. Unerfreulich war der Kassenbericht, nicht minder unerfreulich, was Streit über den Stand der „Arbeiterzeitung“ zu berichten hatte. Das Verbot der Zeitung in Preußen, die politischen Differenzen in vielen Vereinen, die Feindseligkeit und die Hindernisse, die der Buchhändlerverband dem Blatte entgegenstellte, hatten den Abonnentenstand sehr herabgedrückt, und der passive Widerstand, den einzelne Mitglieder im Ausschuß Streit und seinem Blatte entgegenstellten, verhinderte, von unserer Seite entsprechende Hilfe zu bringen. Streit sah sich gezwungen, am 8. August das Weitererscheinen des Blattes einzustellen.

Meine erneut eingebrachten Reorganisationsanträge wurden wiederum abgelehnt, dagegen wurde beschlossen, dem Vorsitzenden ein Fixum von 200 Taler im Jahr als Vergütung für Arbeiten zu gewähren. Man verhandelte auch über den Ort des nächsten Vereinstags, für den Chemnitz oder Gera in Aussicht genommen wurde. Der Gang der Ereignisse zwang aber, denselben für 1866 ausfallen zu lassen. Die Verhandlungen wurden alsdann auf einige Stunden unterbrochen, um eine Volksversammlung abzuhalten, die sich mit den alles Interesse beherrschenden politischen Vorgängen beschäftigte.

Von jetzt ab überstürzten sich die Ereignisse und trieben zur Katastrophe. Am 9. Mai hatte Bismarck den Landtag aufgelöst, um durch dessen Opposition nicht in seinen politischen Maßnahmen gestört zu werden. Im Gegensatz zu Preußen beriefen die Mittelstaaten ihre Landtage ein. Am 1. Juni übergab Oesterreich die schleswig-holsteinsche Sache dem Bundestag. Es hatte zu spät den Fehler eingesehen, den es gemacht, als es sich in dieser Angelegenheit von Preußen ins Schlepptau nehmen ließ. Zwei Tage später, am 3. Juni, erklärte Preußen, daß durch den Schritt Oesterreichs der Gasteiner Vertrag hinfällig geworden sei. Am 11. Juni sprengte Preußen mit Militärgewalt die Versammlung der nach Itzehoe einberufenen holsteinschen Stände. Darauf räumten am 12. Juni die Oesterreicher Holstein. Am gleichen Tage rief Oesterreich seinen Gesandten von Berlin ab und stellte dem preußischen Gesandten in Wien seine Pässe zu. Am 14. Juni entschied sich der Bundestag gegen Preußen, worauf der preußische Gesandte den Verfassungsentwurf für einen neuen Bund auf den Tisch des Bundestags niederlegte, dessen erster Artikel lautete:

Das Bundesgebiet besteht aus den seitherigen Staaten, mit Ausnahme der kaiserlich österreichischen und der königlich niederländischen Landesteile (Luxemburg und Limburg).

Also Kleindeutschland. Der Krieg war erklärt. Dieser nahm wider Erwarten vieler einen für Preußen ausnehmend günstigen Verlauf. Binnen wenig Wochen war die österreichische Armee in Böhmen aus allen ihren Positionen geworfen und standen die Preußen vor den Toren Wiens. Die mittelstaatlichen Armeen, mit Ausnahme der sächsischen, die in Böhmen focht, und der hannoverschen, die nach zähem Widerstand den Preußen bei Langensalza erlag, spielten eine klägliche Rolle. Ihr Widerstand war gebrochen, ohne daß es zu einer wirklichen Schlacht kam. In Italien entwickelte sich der Krieg etwas anders. Bismarck war anfangs mißtrauisch, daß Italien den Krieg gegen Oesterreich ernsthaft führen werde. In einer Depesche vom 13. Juni an den preußischen Gesandten v. Usedom empfahl er, energisch darauf zu bestehen, daß sich die italienische Regierung mit dem ungarischen Komitee ins Einvernehmen setze. Die Weigerung La Marmoras könnte bei Preußen den Verdacht erregen, daß Italien nicht die Absicht habe, einen ernsten Krieg gegen Oesterreich zu führen. Er solle mitteilen, daß Preußen nächste Woche die Feindseligkeiten beginne. Aber ein fruchtloser Krieg Italiens im Festungsviereck werde Argwohn erregen. Am 17. Juni sandte Usedom an La Marmora eine lange Depesche, in der er diesem im Namen seiner Regierung Vorschläge über die Kriegführung machte. Der Krieg müsse bis zur Vernichtung des Gegners geführt werden. Ohne Rücksicht auf die zukünftige Gestaltung der Territorien müßten beide Mächte den Krieg endgültig, entscheidend, vollständig und unwiderruflich zu machen suchen. Italien dürfe sich nicht damit begnügen, bis an die nördlichen Grenzen Venetiens vorzudringen: es müsse sich mit Preußen an dem Mittelpunkt der Monarchie selbst begegnen. Um sich den dauernden Besitz Venetiens zu sichern, müsse es die österreichische Monarchie ins Herz treffen.

Das war die berüchtigte Stoß-ins-Herz-Depesche, die, als sie 1868 bekannt wurde, große Aufregung hervorrief. Die Dinge liefen aber anders. Nicht die Italiener, sondern die Oesterreicher siegten. Die Italiener wurden zu Lande in der Schlacht von Custozza und zu Wasser in der Seeschlacht von Lissa besiegt. Trotz dieser Siege trat jetzt Oesterreich Venetien an Napoleon ab, also nicht an Italien, da die Dinge im Norden der Monarchie höchst ungünstig standen. Es hoffte auf eine Intervention Napoleons. Diese neue Situation veranlaßte nunmehr Bismarck, trotz dem großen Unmut, der darüber im Hauptquartier entstand, Oesterreich einen Waffenstillstand zu gewähren, der in Nikolsburg abgeschlossen wurde und an dessen Schluß, 27. Juli, es zu Friedenspräliminarien kam. Im definitiven Friedensvertrag, abgeschlossen in Prag, erhielt Preußen Schleswig-Holstein, Hannover, Nassau, Kurhessen und Frankfurt zugebilligt. Oesterreich selbst kam mit einer mäßigen Kriegsentschädigung davon. Politische Gründe bestimmten Bismarck, Oesterreich glimpflich zu behandeln. Die südwestdeutschen Staaten sollten einen besonderen Bund bilden. Venetien wurde von Napoleon an Italien abgetreten.

Daß Oesterreich Venetien an Napoleon abgetreten hatte, rief bei den deutschen Liberalen einen Sturm der Entrüstung hervor. Das sei Vaterlandsverrat. Eine Anklage, die Preußen mindestens ebenso traf wie Oesterreich. Vertuscht wurde nach Möglichkeit, daß Preußen sich mit Italien, also dem Ausland, zur Vernichtung eines deutschen Staates verbunden hatte; vertuscht wurde, daß Bismarck mit Klapka in Verbindung getreten war, um Ungarn zu insurgieren, der infolgedessen folgenden Ausruf veröffentlicht hatte:

* * * * *

An die ungarischen Soldaten!

Durch das Vertrauen meiner Mitbürger übernehme ich das Oberkommando der gesamten ungarischen Streitkräfte; als Führer spreche ich also zu euch.

Preußens und Italiens mächtige Könige sind unsere Verbündeten. Aus Italien eilt Garibaldi herbei, von der Donau her Türr, aus Siebenbürgen Bethlen, um das Vaterland zu befreien; von hier führe ich die tapfere ungarische Schar ins Land. Ludwig Kossuth wird mit uns sein; so vereint jagen wir die Oesterreicher, die unseres Landes Gut und Blut rauben, hinaus. Wir erobern zurück, was unser ist: den Boden Arpáds; in den Jahren 1848 und 1849 ernteten wir ewigen Ruhm, nun wartet unser der Lorbeer- und der Friedenskranz, wenn wir das Vaterland befreien. Vorwärts also, folget dem ungarischen Banner. Unseres Vaterlandes heilige Erde ist nur wenige Tage weit, dorthin führe ich euch; kommet denn nach Hause, wo Mutter, Geschwister und Braut euch mit offenen Armen erwarten.

Wählet. Wollt ihr erbärmliche Gefangene bleiben oder ruhmvolle
Vaterlandsverteidiger werden?

Es lebe hoch das Vaterland!

Klapka m.p., ungarischer General.

* * * * *

Auch daran wollte man nicht erinnern, daß aus dem preußischen Hauptquartier beim Einrücken in Böhmen ein Ausruf „An die Einwohner des glorreichen Königreichs Böhmen“ veröffentlicht worden war, der Stellen enthielt wie die folgende:

„Sollte unsere gerechte Sache obsiegen, dann dürfte sich vielleicht auch den Böhmen und Mähren der Augenblick darbieten, in dem sie ihre nationalen Wünsche gleich den Ungarn verwirklichen können. Möge dann ein günstiger Stern ihr Glück auf immerdar begründen!“

Es war das alte Lied von dem Messen mit zweierlei Maß. Wenn zwei dasselben tun, ist es nicht dasselbe. Beging Preußen die größten Niederträchtigkeiten — und als eine loyale Kriegführung konnte man doch die Vorgänge in Böhmen und Ungarn nicht ansehen —, sie wurden entschuldigt, ja gerechtfertigt. Aber wehe seinen Gegnern, die seine Beispiele nachahmten. Was würde man zum Beispiel heute sagen, wenn eine auswärtige Macht eines Tages in die Provinz Posen mit einer ähnlichen Proklamation an die Polen einrückte wie die der Preußen in Böhmen?

Dem Landesverrat im großen, der in den österreichischen Ländern begünstigt wurde, schloß sich der Landesverrat im kleinen in Deutschland an. Anfang August 1866 beschlossen die sächsischen Liberalen unter Führung von Professor Biedermann, Dr. Hans Blum usw. in einer Landesversammlung in Leipzig eine Resolution, in der es hieß: Wir halten die deutschen und sächsischen Interessen am besten gewahrt durch die Einverleibung Sachsens in Preußen. Und noch nachdrücklicher sprach sich Herr v. Treitschke, ein geborener Sachse, aus, der als Redakteur der „Preußischen Jahrbücher“ Bismarck aufforderte, die oppositionellen Staaten — Sachsen, Hannover, Kurhessen — zu vernichten:

„Jene drei Dynastien sind reif, überreif für die verdiente Vernichtung; ihre Wiedereinsetzung wäre eine Gefahr für die Sicherheit des neuen deutschen Bundes, eine Versündigung an der Sittlichkeit der Nation…. Nächst dem Hause Habsburg hat kein anderes Fürstengeschlecht die Jahrhunderte hindurch sich schwerer versündigt an der deutschen Nation als das Haus der Albertiner…. König Johann ist unzweifelhaft der achtungswerteste Mann unter den vertriebenen deutschen Fürsten, doch mit einer Fülle gelehrter Kenntnisse ist er ein gewöhnlicher Mensch geblieben, engen Herzens, unfrei, philisterhaft in seinem Urteil über Welt und Zeit. Der Kronprinz, ein Mann nicht ohne derbe Gutmütigkeit, aber roh und jeder politischen Einsicht bar, war von jeher eine Stütze der österreichischen Partei, und von dem Prinzen Georg, dessen Hochmut und Bigotterie selbst in dem zahmen Dresden Anstoß erregen, ist noch weniger zu erwarten…. Vor allem fürchten wir von einer Restauration die Entsittlichung des Volkes durch den Geist der Lüge, durch die Gleißnerei einer Loyalität, welche nach den Ereignissen des Sommers mindestens von dem jüngeren Geschlecht gar nicht mehr gehegt werden kann. Man male sich die Szene aus, wie König Johann einzieht in seine Hauptstadt, wie der allezeit getreue Stadtrat von Dresden den Landverderber mit Worten des Dankes und der Verehrung empfängt, rautenbekränzte weiß und grüne Jungfrauen sich neigen vor der befleckten und entweihten Krone — wahrhaftig, schon der Gedanke ist ekelerregend.“

Und er schloß: „In Tagen wie diesen soll man das Herz haben, die Paragraphen des Albertinischen Strafgesetzbuchs zu mißachten…. Wir wollen nicht, daß ein von Gott und den Menschen gerichtetes Haus zurückkehrt auf den Thron.“

Bismarck sorgte dafür, daß seinen glühenden Verehrern kein Haar gekrümmt wurde. Im Artikel 19 des Friedensvertrags mußte der König von Sachsen zusichern, „daß keiner seiner Untertanen oder wer sonst den sächsischen Gesetzen unterworfen ist, wegen eines in bezug auf die Verhältnisse zwischen Preußen und Sachsen während der Dauer des Kriegszustandes begangenen Vergehens oder Verbrechens gegen die Person Seiner Majestät oder wegen Hochverrats, Staatsverrats oder endlich wegen seines politischen Verhaltens während jener Zeit überhaupt strafrechtlich, polizeilich oder disziplinarisch zur Verantwortung gezogen oder in seinen Ehrenrechten beeinträchtigt werden soll“.

Man hat Liebknecht und mir später öfter die Frage gestellt, was geworden wäre, wenn statt Preußen Oesterreich siegte. Traurig genug, daß nach den damaligen Verhältnissen nur noch diese Alternative vorhanden war, und eine Parteinahme gegen den einen als Parteinahme für den anderen angesehen wurde. Aber die Dinge lagen so. Meine Ansicht ist, daß für ein Volk, das sich in einem unfreien Zustand befindet, eine kriegerische Niederlage seiner inneren Entwicklung eher förderlich als hinderlich ist. Siege machen eine dem Volke gegenüberstehende Regierung hochmütig und anspruchsvoll, Niederlagen zwingen sie, sich dem Volke zu nähern und seine Sympathie zu gewinnen. Das lehrt uns 1806/07 für Preußen, 1866 für Oesterreich, 1870 für Frankreich, die Niederlage Rußlands im Kriege mit Japan 1904. Die russische Revolution wäre ohne jene Niederlage nicht gekommen, ja sie wäre durch einen Sieg des Zarentums auf lange Jahre unmöglich gewesen. Und ist die Revolution auch niederschlagen worden, das alte Rußland ist nicht mehr, sowenig wie das alte Preußen von 1847 noch nach 1849 bestand. Umgekehrt zeigt uns die Geschichte, daß, als das preußische Volk unter Darbringung gewaltiger Opfer an Gut und Blut Napoleons Fremdherrschaft gestürzt und die Dynastie aus der Patsche gerettet, letztere alle schönen Versprechungen vergessen hatte, die sie in der Stunde der Gefahr dem Volke gemacht. Es mußte erst nach langer Reaktionszeit das Jahr 1848 kommen, damit das Volk sich eroberte, was man ihm jahrzehntelang vorenthalten hatte. Und wie hat Bismarck nachher im norddeutschen Reichstag jede wirklich liberale Forderung zurückgewiesen. Er trat als Diktator auf.

Einmal angenommen, Preußen wäre 1866 unterlegen, so wäre das Ministerium Bismarck und die Junkerherrschaft, die noch bis heute wie ein Alp auf Deutschland lastet, fortgefegt worden. Das wußte niemand besser als Bismarck. Die österreichische Regierung wäre nach einem Siege nie so stark geworden, wie das bei der preußischen der Fall war. Oesterreich war und ist nach seiner ganzen Struktur ein innerlich schwacher Staat, ganz anders Preußen. Aber die Regierung eines starken Staates ist für dessen demokratische Entwicklung gefährlicher. In keinem demokratischen Staate gibt es eine sogenannte starke Regierung. Dem Volke gegenüber ist sie ohnmächtig. Höchstwahrscheinlich hätte die österreichische Regierung nach einem Siege versucht, in Deutschland reaktionär zu regieren. Aber sie hätte alsdann nicht nur das gesamte preußische Volk, sondern auch den größten Teil der übrigen Nation, einschließlich eines guten Teiles der österreichischen Bevölkerung, gegen sich gehabt. Wenn eine Revolution sicher war und Aussicht auf Erfolg hatte, so gegen Oesterreich. Die demokratische Einigung des Reiches wäre die Folge gewesen. Der Sieg Preußens schloß das aus. Und noch ein anderes. Der Ausschluß Deutsch-Oesterreichs aus der Reichsgemeinschaft — von der Preisgabe Luxemburgs nicht zu reden — hat zehn Millionen Deutsche in eine fast trostlose Lage versetzt. Unsere „Patrioten“ geraten in nationale Raserei, wird irgendwo im Ausland ein Deutscher mißhandelt, aber an dem Stück kulturellen Mords, der an den zehn Millionen Deutschen in Oesterreich begangen wurde, nehmen sie keinen Anstoß.

Uebrigens hatten wenige Jahre vor 1866 ähnliche Erörterungen unter unseren Großen stattgefunden, was erst später zu meiner Kenntnis kam.

In einem Briefe an Lassalle vom 19. Januar 1862 schrieb Lothar Bucher —
also zwei Jahre vor seinem Eintritt in Bismarcks Dienste — über den
Fall eines Krieges mit Frankreich, in dem Preußen siege: „Ein Sieg der
Militärs, das heißt der preußischen Regierung, wäre ein Uebel.“

Mitte Juni 1859 schrieb Lassalle an Marx: „Nur in dem populären Krieg gegen Frankreich … sehe ich ein Unglück. In dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein immenses Glück für die Revolution….“ Lassalle ging noch weiter und führte aus: „Eine Besiegung Frankreichs wäre auf lange Zeit das konterrevolutionäre Ereignis par excellence. Noch immer steht es so, daß Frankreich, trotz aller Napoleons, Europa gegenüber die Revolution, Frankreichs Besiegung ihre Besiegung darstellt.“ Und Ende März 1860 schrieb Lassalle an Engels: „Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen muß ich bemerken, daß ich übrigens auch im vorigen Jahre, als ich meine Broschüre schrieb (Der italienische Krieg), sehnlichst wünschte, daß Preußen den Krieg gegen Napoleon mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung, daß die Regierung ihn mache, er aber beim Volke unpopulär und so verhaßt wie möglich sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück gewesen.“[6] (Zugunsten der Revolution.)

Und in seinem Vortrag: Was nun?, den Lassalle im Oktober 1862 hielt, sagt er in der ersten Auflage auf Seite 33 bis 34: „Endlich aber ist die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die Existenz der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine Herren, die Geschichte genau und mit innerem Verständnis betrachten, so werden Sie sehen, daß die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa vorleuchtende sind, daß an der Notwendigkeit und Unveräußerlichkeit unserer nationalen Existenz gar nicht gezweifelt werden kann. Geraten wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in demselben wohl unsere einzelnen Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische, zusammenbrechen, aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche derselben unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein ankommen kann — das deutsche Volk.“ —

Der Ausgang des Krieges schien uns einen unerwarteten Erfolg in den Schoß werfen zu sollen. Eines Tages erschien Liebknecht freudestrahlend in meiner Werkstatt und teilte mir mit, er habe die „Mitteldeutsche Volkszeitung“ gekauft, die die Leipziger Liberalen preisgegeben hatten, weil das Defizit der Zeitung täglich größer wurde. Der Abonnentenstand des Blattes war in wenig Wochen von 2800 auf 1200 gefallen. Mich erschreckte diese Nachricht, denn wir hatten keinen Pfennig Geld, und es war ganz ausgeschlossen, daß wir unter den damaligen Verhältnissen das Blatt in die Höhe bringen konnten. Außerdem hatten wir mit der preußischen Okkupation zu rechnen. Liebknecht suchte mich zu trösten. Geld verlange der Verleger zunächst nicht, und was sonst nötig sei, würden wir schaffen. Er war glücklich, Besitzer eines Blattes zu sein, in dem er seine Ansichten vertreten konnte. Und das tat er weidlich und so gründlich, daß man glauben konnte, nicht die Preußen, sondern er sei Herr in Sachsen. Natürlich dauerte die Freude nicht lange. Das Blatt wurde unterdrückt. Ich war über diese Maßregel nicht erbost, obgleich ich mich hütete, ihm das zu sagen. Wir waren aus einer großen Verlegenheit gerettet worden, denn der kühne Plan, den wir gefaßt hatten, 5000 Anteilscheine à 1 Taler in den deutschen Arbeitervereinen unterzubringen, hätte ein großes Fiasko erlebt.

FUSSNOTEN:

[6] Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels. Stuttgart 1902.

Nach dem Krieg.

Die Folge des Krieges war bekanntlich die Schaffung des Norddeutschen Bundes, in dem der Riese Preußen neben lauter staatlichen Zwergen die Führung hatte. Da nunmehr auch der Zusammentritt eines norddeutschen Reichstags auf Grund des allgemeinen Wahlrechts in Aussicht stand, war für uns eine festere politische Organisation geboten und ein Programm nötig, um das die neue Partei sich scharte. Daß das Programm offen sozialdemokratisch sein konnte, war angesichts der Stellung, die ein Teil der führenden Elemente, Professor Roßmäßler und andere, einnahm, ausgeschlossen, auch war noch ein Teil der Arbeitervereine politisch zu rückständig, als daß wir einen solchen Schritt wagen konnten. Es wäre zu einer Spaltung gekommen, und die mußte in diesem Stadium der Entwicklung vermieden werden. Endlich war auch die Ansicht maßgebend, daß bei der Stimmung, die damals noch erhebliche Teile des Bürgertums wegen der eben stattgehabten kriegerischen Ereignisse und der Zerreißung Deutschlands in drei Teile beherrschte, es nötig sei, alle Kräfte für eine Demokratisierung Deutschlands zusammenzufassen.

Auf den 19. August beriefen wir nach Chemnitz eine Landesversammlung, an der auch Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (Fritzsche, Försterling, Röthing und andere) teilnahmen, um die neue demokratische Partei zu gründen. Das angenommene Programm lautete:

Forderungen der Demokratie.

1. Unbeschränktes Selbstbestimmungsrecht des Volkes. Allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht mit geheimer Abstimmung auf allen Gebieten des staatlichen Lebens (das Parlament, die Kammern der Einzelstaaten, die Gemeinden usf.). Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Ein mit größter Machtvollkommenheit ausgestattetes Parlament, welches namentlich auch über Krieg und Frieden zu entscheiden hat.

2. Einigung Deutschlands in einer demokratischen Staatsform. Keine erbliche Zentralgewalt. — Kein Kleindeutschland unter preußischer Führung, kein durch Annexion vergrößertes Preußen, kein Großdeutschland unter österreichischer Führung, keine Trias. Diese und ähnliche dynastisch-partikularistischen Bestrebungen, welche nur zur Unfreiheit, Zersplitterung und Fremdherrschaft führen, sind von der demokratischen Partei auf das entschiedenste zu bekämpfen.

3. Aufhebung aller Vorrechte des Standes, der Geburt und Konfession.

4. Hebung der leiblichen, geistigen und sittlichen Volksbildung. Trennung der Schule von der Kirche, Trennung der Kirche vom Staat und des Staates von der Kirche, Hebung der Lehrerbildungsanstalten und würdige Stellung der Lehrer, Erhebung der Volksschule zu einer aus der Staatskasse zu erhaltenden Staatsanstalt mit unentgeltlichem Unterricht. Herbeischaffung von Mitteln und Gründung von Anstalten zur Weiterbildung der der Volksschule Entwachsenen.

5. Förderung des allgemeinen Wohlstandes und Befreiung der Arbeit und der Arbeiter von jeglichem Druck und jeglicher Fessel. Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse. Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, allgemeines deutsches Heimatsrecht, Förderung und Unterstützung des Genossenschaftswesens, namentlich der Produktivgenossenschaften, damit der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ausgeglichen werde.

6. Selbstverwaltung der Gemeinden.

7. Hebung des Rechtsbewußtseins im Volke. Durch Unabhängigkeit der Gerichte, Geschworenengerichte, namentlich auch in politischen und Preßprozessen; öffentliches und mündliches Gerichtsverfahren.

8. Förderung der politischen und sozialen Bildung des Volkes durch freie Presse, freies Versammlungs- und Vereinsrecht, Koalitionsrecht.

Dieses Programm ließ an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig. Die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins hatten demselben ebenfalls zugestimmt, sie wurden aber durch v. Schweitzer genötigt, sich von der neuen Parteibildung fernzuhalten. Mißtrauisch und unzufrieden war auch Roßmäßler, dem die sozialen Forderungen zu weit gingen und der in dem Programm den sozialistischen Pferdefuß entdeckte. Als ich kurz nach der Landesversammlung ihn besuchte, machte er aus seiner Mißstimmung kein Hehl. Er glaubte mich nachdrücklich vor Liebknecht warnen zu sollen, der ein gefährlicher Mensch, ein verkappter Kommunist sei. Ich suchte ihn zu beruhigen, konnte aber nicht verhindern, daß er bis zu seinem Tode im nächsten Frühjahr noch manche Enttäuschung erlebte. So schmerzte es ihn, daß, als er es ablehnte, eine Reichstagskandidatur für Leipzig zu übernehmen, sein persönlicher Gegner Wuttke von uns aufgestellt wurde. Roßmäßler hatte die merkwürdige Idee, das Parlament von 1849 bestehe noch zu Recht, und so müßte Löwe-Calbe, der der letzte Präsident jenes Parlaments gewesen war — weshalb er sich gern den letzten Präsidenten des ersten deutschen Parlaments nennen hörte —, dasselbe einberufen. In der Tat hatte Löwe-Calbe einige Jahre zuvor auf einem Abgeordnetentag erklärt, er betrachte sich als den legitimen Erben des Parlaments von 1849 und werde gegebenenfalls dasselbe wieder einberufen. Er hat sich aber nachher gehütet, sich gründlich lächerlich zu machen.

* * * * *

Unter dem 7. November 1866 veröffentlichte der Vorsitzende des ständigen Ausschusses, Staudinger, ein Flugblatt, in dem er sich über die mittlerweile in Deutschland eingetretenen Veränderungen aussprach. Das Flugblatt unterzog die durch den Prager Frieden geschaffene Lage einer absprechenden Kritik. Für die Volksfreiheit und die Volksrechte sei wenig zu hoffen, dagegen sei das System der stehenden Heere, wenigstens im Norden Deutschlands, auf lange Jahre festgelegt. An eine Verminderung der Staatsausgaben und namentlich an eine Herabsetzung oder Aufhebung der indirekten Steuern sei gegenwärtig weniger zu denken als je. Es stehe vielmehr eine Vergrößerung dieser Lasten in sicherer Aussicht.

Weniger glücklich war das Flugblatt in der Kritik der herrschenden sozialen Zustände, wobei es die in den Einzelstaaten noch vielfach bestehenden rückständigen wirtschaftlichen Einrichtungen im Auge hatte, deren Beseitigung gerade in erster Linie die neue Ordnung der Dinge herbeiführen mußte, sollte sie überhaupt einen Sinn haben. Es galt vor allem, die Bedürfnisse der Bourgeoisie nach freier Entfaltung ihrer Kräfte zu befriedigen.

Neben den Schattenseiten, die nach Staudingers Ansicht die Katastrophe der letzten Monate erzeugte, seien indes auch einzelne Lichtseiten, wenigstens negativer Art, vorhanden. Zwei Erscheinungen seien insbesondere für den Arbeiterstand von großer Bedeutung. Einmal, daß die große Mehrheit der Fortschrittspartei sich als vollständig unfähig zur politischen und sozialen Neugestaltung des Vaterlandes gezeigt habe, was der Verfasser näher ausführte. Die zweite erfreuliche Erscheinung sei, daß die Arbeiter in ganz Deutschland sich für die allgemeine Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes und eine freie Sozialgesetzgebung ausgesprochen hätten.

Das Flugblatt meinte schließlich, die Erfahrungen des Jahres 1866 hätten gezeigt, daß zur Spaltung innerhalb des Arbeiterstandes kein Anlaß vorhanden sei, vielmehr sei gegenüber der durch die Fortschrittspartei verstärkten Gegnerschaft Einigkeit und Einmütigkeit mehr als je not.

„Die wichtige Forderung des allgemeinen und direkten Stimmrechtes ist gemeinsames Losungswort der beiden Richtungen. Beide verlangen ferner gänzliche Umgestaltung der die Arbeit ausbeutenden Steuersysteme, Aenderung des den Bürger zum Hörigen erniedrigenden Heerwesens. Die große Bedeutung der Koalitionen und Genossenschaften und damit die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Produktionsverhältnisse wird von keiner Seite in Abrede gestellt. Der Streit aber um den geringeren oder höheren Grad von Pflichten des Staates gegen den einzelnen (auch im Original gesperrt) ist vorerst ein müßiger, solange die Staatsgewalt, an den feudalen Traditionen festhaltend, über die Bürger wie über eine willenlose Herde verfügt, und solange das Schwert die politische Umgestaltung des Vaterlandes diktiert, das Schwert, das, wenn es statt der Freiheit nur verhaßten Zwang schafft, uns allen Boden für unsere Bestrebungen zu einer friedlichen Lösung der sozialen Fragen zu entziehen droht.“

Zum Schlusse forderte der Aufruf die Arbeiter auf, frisch ans Werk zu gehen und allen Hader schwinden zu lassen.

Dieser Aufruf war von Staudinger persönlich veröffentlicht worden. Der ständige Ausschuß war um seine Meinung nicht befragt worden. Wir wurden durch das Flugblatt überrascht. Ich, der ich Staudinger näher kannte, war der Ansicht, daß es Staudingers Anschauungen nicht entsprechen könne. Und meine Vermutung bestätigte sich. Von seinen fortschrittlichen Nürnberger Freunden über das Flugblatt zur Rede gestellt, gestand er, daß Sonnemann der Verfasser desselben sei und er es nur unterschrieben habe.

Die in greifbare Nähe gerückten Wahlen zum norddeutschen Reichstag nötigten uns zu einer intensiven Agitations- und Organisationsarbeit, die jedem von uns schwere Opfer auferlegte. In den Augen unserer bürgerlichen Gegner sind die sozialdemokratischen Agitatoren Leute, die sich von den Arbeitergroschen mästen. Hatte eine solche Anschuldigung nie Berechtigung, so am wenigsten in jener Zeit, von der ich eben spreche. Es gehörte ein großes Maß von Begeisterung, Ausdauer und Opfermut für die Sache dazu, um die Agitationsarbeit zu übernehmen. Der Agitator mußte froh sein, wenn er seine baren Auslagen ersetzt erhielt, und um diese möglichst herabzudrücken, betrachtete man es als selbstverständlich, daß er jede Einladung, bei einem Parteigenossen zu wohnen, annahm. Hier erlebte man aber manchmal merkwürdige Dinge. Mehr als einmal geschah es, daß ich mit den Eheleuten in demselben Raume schlafen mußte; ein andermal passierte es, daß unter dem Sofa, auf dem ich meine Nachtruhe hielt, die Hauskatze ihre Jungen zur Welt brachte, was nicht ohne Geräusch und Miauen abging. Wieder ein andermal wurde ich mit meinem Freunde Motteler in später Nacht auf dem Boden eines Hauses einquartiert, der mit Garnsträhnen angefüllt war, die der Faktor an die Hausweber abzugeben hatte. Als ich früh am Morgen durch die Sonne, deren Strahlen durch eine Dachluke mir ins Gesicht fielen, geweckt wurde, entdeckte ich, daß ich in einem Quantum gelber Garne und Mottelers schwarzlockiger Kopf in einem Haufen purpurroter Garne lagerte, ein Anblick, der mich dermaßen zum Lachen reizte, daß Motteler erwachte und verwundert fragte, was los sei! Aehnliche Erlebnisse hatte zu jener Zeit und auch noch später jeder durchzumachen, der für die Partei agitatorisch arbeitete. Liebknecht war damals in der Agitation besonders tätig. Unerwarteterweise wurde er in dieser Tätigkeit auf Monate lahmgelegt. In Preußen war nach dem Kriege eine umfassende Amnestie erlassen worden. Liebknecht, im Glauben, seine Ausweisung aus Preußen sei damit ebenfalls hinfällig geworden, ging Anfang Oktober nach Berlin und hielt im Buchdruckerverein einen Vortrag. Er wurde noch an demselben Abend festgenommen und nachher wegen Bannbruch zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, die er in der Stadtvogtei verbüßte, behandelt wie ein gemeiner Verbrecher. So wurde ihm zum Beispiel bereits abends 6 Uhr das Licht entzogen, was er besonders hart empfand. Seinem Widerpart J.B.v. Schweitzer erging es darin weit besser. Diesem wurden in seiner Haft Freiheiten und Annehmlichkeiten gestattet, die seitdem nie wieder ein politischer Gefangener in einem preußischen Gefängnis genossen hat.

Die Wahlen zum konstituierenden norddeutschen Reichstag waren für Anfang Februar 1867 angesetzt worden. Das veranlaßte uns, zu Weihnachten 1866 nach Glauchau eine Landesversammlung zu berufen, um die Kandidaten aufzustellen. Die materiellen Mittel und die agitatorischen Kräfte nötigten uns, auf solche Wahlkreise uns zu beschränken, in denen die Organisation eine gute war. Das war in erster Linie der 17. Wahlkreis, Glauchau-Meerane, in dem ich als Kandidat aufgestellt wurde, der 18. Wahlkreis, Crimmitschau-Zwickau, in dem Rechtsanwalt Schraps kandidierte, und der 19. Wahlkreis, Stollberg-Lugau-Schneeberg, den Liebknecht zugewiesen erhielt. Da dieser aus seiner Haft in Berlin erst in der zweiten Hälfte des Januar frei kam, konnte er seinen Wahlkreis nur ungenügend bearbeiten, und so fiel er durch. Schraps und ich siegten. Ich hatte vier Gegenkandidaten, darunter Fritzsche als Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der aber nur gegen 400 Stimmen erhielt. In einer großen Wählerversammlung in Glauchau trat er mir gegenüber, zog aber entschieden den kürzeren. Politisch war ich ihm voraus, und in sozialistischer Beziehung blieb ich nicht hinter ihm zurück. Ich kam mit 4600 Stimmen erheblich in Vorsprung über meinen nächsten Gegner und siegte in der engeren Wahl mit 7922 Stimmen. Auf meinen Gegner fielen 4281 Stimmen.

Der Wahlkampf wurde schon damals oft in sehr unehrlicher Weise geführt. So hörte ich eines Tages, als ich in den Wahlkreis reiste, in einem Nebenabteil des Bahnwagens einen Herrn gewaltig über mich losziehen. Ich hätte in Glauchau den Webern doppelten Lohn und achtstündige Arbeitszeit in Aussicht gestellt, falls sie mich wählten. Diese Lügen wurmten mich. Ich stand auf und frug den Ankläger, ob er das, was er soeben erzählt, von Bebel selbst gehört habe. Das bejahte er. Darauf nannte ich ihn einen unverschämten Lügner, und als er gegen mich auffahren wollte, nannte ich meinen Namen. Nun wurde er sehr kleinlaut und erntete von den Passagieren Hohn und Spott. Auf der nächsten Station verließ er eiligst den Wagen.

Das Jahr 1867 brachte zwei allgemeine Reichstagswahlen. In der ersten Wahl im Februar wurde die konstituierende Versammlung gewählt, die die künftige Verfassung zu beraten hatte und nach Erledigung dieser Mission aufhörte zu existieren. Die Wahlen für die erste Legislaturperiode, die Ende August stattfanden, ergaben von unserer Seite die Wahl von Liebknecht, Schraps, Dr. Götz-Lindenau — der Turnergötz, der damals ein roter Republikaner war — und mir. Von den Lassalleanern wurde J.B.v. Schweizer und Dr. Reincke — der, als er später sein Mandat niederlegte, durch Fritzsche ersetzt wurde — und in einer Nachwahl Hasenclever gewählt. Da mittlerweile vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sich ein Teil unter der Patronage der Freundin Lassalles, der Gräfin v. Hatzfeldt, losgelöst und einen Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gebildet hatte, erhielt auch diese Fraktion einen Vertreter in der Person Försterlings und später einen zweiten in der Person Mendes, der Försterlings Nachfolger im Präsidium wurde. Mende war ein Hohlkopf, der sich in den Diensten der Gräfin physisch so heruntergebracht hatte, daß er ohne eine Morphiuminjektion nicht zu reden wagte und seine Reden in der Regel mit den Worten schloß: ich habe gesprochen, was jedesmal große Heiterkeit im Reichstag erregte.

Ueber meine Stellung und Tätigkeit im Reichstag später.

Die Weiterentwicklung.

In der Sitzung des ständigen Ausschusses, die Ende März 1867 in Kassel abgehalten wurde, aber nur von wenigen Mitgliedern besucht war, mußte festgestellt werden, daß die politischen Ereignisse des letzten Jahres eine geradezu verheerende Wirkung auf die Vereine ausgeübt hatten. Die Kasse war leer, das Organ des Verbandes, die „Allgemeine Arbeiterzeitung“, war, wie schon mitgeteilt, eingegangen, eine Monatsschrift, „Die Arbeit“, die Dr. Pfeiffer-Stuttgart herausgegeben und Sonnemann gedruckt hatte, war ebenfalls nach kurzer Lebensdauer wieder verschwunden. Dazu kam, daß die Leitung des Verbandes nicht in den rechten Händen war. Der Ausschuß beschloß, ein neues Verbandsorgan herauszugeben, das unter dem Titel „Arbeiterhalle“ von Eichelsdörfer-Mannheim redigiert werden und alle vierzehn Tage erscheinen sollte. Ich wurde sein eifrigster Mitarbeiter. Das Blatt erschien vom 1. Juni 1867 bis zum 4. Dezember 1868, an welchem Tage es einging zugunsten des Anfang Januar 1868 von uns in Leipzig gegründeten und von Liebknecht redigierten „Demokratischen Wochenblattes“. Endlich wurde beschlossen, zum Herbst wieder einen Vereinstag einzuberufen.

Mit der Gründung des „Demokratischen Wochenblattes“ war einem von uns allen tief empfundenen Bedürfnis Genüge geleistet. Wir hatten bis dahin kein Organ zur Verfügung gehabt, in dem wir unsere Ansichten vertreten konnten, damit war auch keine Möglichkeit gegeben, die politische und soziale Aufklärung unserer Anhänger genügend zu betreiben, und das tat vor allem not. Auch waren wir den Angriffen unserer Gegner gegenüber waffenlos. Freilich legte uns das Blatt große Opfer auf, aber sie wurden gern gebracht, denn es war das wichtigste Kampfmittel, das wir hatten.

Die Lauheit in der Leitung des Verbandes der Arbeitervereine veranlaßte mich, in häufigen Briefen Staudinger vorwärts zu schieben. Ende Mai 1867 schrieb ich ihm, ich schätzte nach allem, was uns der Norddeutsche Bund bis jetzt gebracht habe und noch bringen werde, als den größten Vorteil, daß die Massen in einer Weise aufgeregt wurden wie seit dem Jahre 1848 nicht, und daß wir dadurch zu vielen neuen Verbindungen gekommen seien, die wir im Interesse der Bewegung ausnutzen müßten. Er solle Verbindung mit der Internationale anknüpfen. Ich protestierte dagegen, daß immer noch Versuche gemacht würden, die Arbeitervereine von der Politik fernzuhalten. Auch sei eine neue Organisation zu erwägen, die Luft im Norddeutschen Bund lasse befürchten, daß man gegen die Arbeitervereine losgehe.

In Sachsen war das politische Leben in den Vereinen besonders rege, ununterbrochen agitierten wir, um die Massen zu gewinnen. Pfingsten 1867 hatten wir wieder einen Arbeitertag nach Frankenberg einberufen, dem ich präsidierte, der sich in erster Linie mit einer Petition zur Reform des sächsischen Gewerbegesetzes befaßte. Wir verlangten zehnstündigen Normalarbeitstag, Abschaffung der Sonntagsarbeit, Abschaffung des Koalitionsverbots, Abschaffung der Kinderarbeit in Fabriken und Werkstätten, Vertretung der Arbeiter in den Gewerbekammern und Gewerbegerichten, Selbstverwaltung der Arbeiterkassen, Vereinbarung der Fabrik- und Werkstättenordnungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber. Vahlteich als Referent über die Frage: Wie haben sich die Arbeitervereine den politischen Parteien gegenüber zu verhalten und wie gegenüber der sächsischen Regierung? schlug als Resolution vor: Die Versammlung möge die von Schulze-Delitzsch zur Lösung der sozialen Frage vorgeschlagenen Mittel als unzureichend verwerfen und erklären, daß diese Frage nur in einem demokratischen Staat unter Intervention der Gesamtheit gelöst werden könne. Weiter empfahl er das Lesen sozialistischer Schriften und Zeitungen. Die Resolution rief ziemliche Erregung bei einer Minderheit hervor, und so glaubte ich durch eine vermittelnde Resolution die erregten Gemüter beschwichtigen zu sollen. Darin hatte ich mich getäuscht. Die Vahlteichsche Resolution wurde gegen 7, die meine gegen 9 Stimmen angenommen. Als Ort für den nächsten deutschen Vereinstag wählte die Versammlung Gera, für das sich auch der ständige Ausschuß erklärte.

Dieser Vereinstag — der vierte — wurde am 6. und 7. Oktober abgehalten. Vertreten waren 37 Vereine und 3 Gauverbände durch 36 Delegierte. Ein Neuling unter den letzteren war der freireligiöse Prediger Uhlig aus Magdeburg, ein über mittelgroßer Mann mit langem weißem Haar. Unglücklicherweise hatte die Natur ihm in das nicht unsympathische Gesicht eine ungeheure Nase gesetzt, die sehr störend wirkte. Zum Vorsitzenden des Vereinstags wurde durch das Los unter den drei Kandidaten, die gleiche Stimmenzahl hatten, der Schriftsteller Wartenburg-Gera bestimmt. Im Laufe seiner Verhandlungen ehrte der Vereinstag das Andenken Bandows-Berlin, der im Hochsommer 1866, und Professor Roßmäßlers, der im April 1867 gestorben war. Ueber die Schulfrage referierte Uhlig in einem etwas schwammigen Referat, das in sechzehn Postulaten gipfelte. Der Vereinstag erledigte dasselbe, indem er in einer Resolution erklärte, ihm „im allgemeinen“ seine Zustimmung zu geben. In der Organisationsfrage, über die Hochberger und Motteler referierten, gelang es endlich, im wesentlichen die Anschauungen zur Geltung zu bringen, die ich seit Jahren vertreten hatte. Nach Artikel IV wählte der Vereinstag einen Präsidenten, der an der Spitze eines weitere sechs Mitglieder umfassenden Vorstandes stehen sollte. Letzterer wurde von dem Verein gewählt, dem der Präsident angehörte. Der Sitz dieses Vereins war der Vorort des Verbandes. Ferner wurde bestimmt, daß der Vorortsvorstand für seine Mühewaltung jährlich 300 Taler beziehen solle. Neben dem Vorstand sollten 16 Vertrauensmänner, die über Deutschland verteilt sein sollten, gewählt werden, die die Geschäftsführung des Vorstandes kontrollieren und in wichtigen Angelegenheiten zu Rate gezogen werden sollten. Bei der Wahl des Präsidenten fielen von 33 Stimmen 19 auf mich, 13 auf Dr. Max Hirsch, 1 auf Krebs-Berlin. Damit war Leipzig Vorort. Die neue Richtung hatte gesiegt. Es war erreicht, was lange von mir erstrebt worden war. Der Verband wurde jetzt einigermaßen aktionsfähig.

Einen anderen Punkt der Tagesordnung bildete ein Referat von mir über die Lage der Bergarbeiter. Dasselbe war veranlaßt durch ein großes Unglück im Lugauer Kohlenrevier im Sommer 1867, bei dem 101 Arbeiter getötet wurden, die 50 Witwen und zirka 150 Kinder hinterließen. Ich hatte im Auftrag des Arbeiterbildungsvereins eine Sammlung veranstaltet, die an 1400 Taler ergab. Die vereinbarte und angenommene Resolution besagte:

„Die in letzter Zeit im Bergbau vorgekommenen Unglücksfälle machen es den Arbeitern zur Pflicht, die Landesregierungen zu veranlassen, daß Gesetze geschaffen werden, wonach jeder Arbeitgeber oder Unternehmer eines industriellen Etablissements die Verpflichtung hat, für jeden Schaden, den der Arbeiter während der Verrichtung seiner Tätigkeit erleidet und durch Fahrlässigkeit seitens des ersteren entstanden ist, einzutreten. Insbesondere wird bezüglich der Bergarbeiter als notwendig erkannt: 1. Strengste Kontrolle des Staates über die Bergwerksgesellschaften. 2. Gesetzliche Einführung des Zweischachtsystems, bestehend in einem Förder- und einem Sicherheitsschacht. 3. Einführung des Entschädigungsprinzips an die Verunglückten und deren Hinterlassenen auf Grund eines zu erlassenden Gesetzes, sowie strengste Handhabung der Bestimmungen in bezug auf Tötung oder Beschädigung aus Fahrlässigkeit. 4. Entschiedene Bekämpfung der einseitigen Einführung sogenannter Knappschaftsordnungen (Geldstrafen, Gedingwesen, Knappschaftskassen betreffend) durch Werkbesitzer und Werkgenossenschaften ohne Vereinbarung und Zustimmung der Arbeiter. 5. Verwaltung der Knappschaftskassen durch die Arbeiter.“

* * * * *

Es war das erste Mal, daß ein deutscher Arbeitertag den Erlaß eines Haftpflichtgesetzes forderte, ein Verlangen, das dann im Jahre 1872 durch die Reichsgesetzgebung, allerdings in ungenügender Weise, erfüllt wurde.

In der Wehrfrage wurde von einem Referat wegen Mangel an Zeit Abstand genommen, doch entschloß man sich zu einer Resolution, die bei den vorhandenen widersprechenden Ansichten ein faules Kompromiß darstellte, was veranlaßte, daß die Frage abermals auf dem nächsten Vereinstag in Nürnberg verhandelt wurde.

Mit der neuen Organisation zog auch ein neuer Geist in den Verband ein. Es galt vor allem, die Mehrzahl der Vereine aus ihrer bisherigen Gleichgültigkeit zu reißen und sie zu tatkräftigem Handeln anzuregen. Das konnte nur geschehen, indem man ihnen Aufgaben stellte und deren Erfüllung von ihnen forderte. Von jetzt ab erschien fast keine Nummer der „Arbeiterhalle“, an deren Spitze nicht ein von mir verfaßter Aufruf des Vorortsvorstandes stand, der die Tätigkeit der Vereine für die verschiedensten Angelegenheiten in Anspruch nahm. Der Erfolg blieb nicht aus. Allmählich kam Leben in die Vereine. Nun wurden auch die mäßigen Verbandssteuern mit bisher nicht gekannter Pünktlichkeit bezahlt. In der Vorortsverwaltung gestalteten sich aber die Dinge so, daß fast die ganze Last der Geschäfte auf mich fiel. Ich war Vorsitzender, Schriftführer und Kassierer in einer Person. Nur die Protokolle der Sitzungen des Vorortsvorstandes und die Ordnung der Akten führte der gewählte Schriftführer. Im Vorortsvorstand saß unter anderen auch Rechtsanwalt Otto Freytag, der aber bald seine Stelle niederlegte, ferner Chr. Hadlich und P. Ulrich. Der Verkehr und die daraus entstehende Korrespondenz mit den Vereinen wuchs allmählich ins Riesenhafte. Am Schlusse des ersten Geschäftsjahres — Ende August 1868 — betrug die Zahl der Eingänge nur 253, die der Ausgänge nur 543, immerhin erheblich mehr als bisher. Aber vom Nürnberger Vereinstag, Anfang September 1868, bis zum Eisenacher Kongreß, Anfang August 1869, erreichten die Eingänge die Zahl 907, die Ausgänge die Zahl 4484, darunter die größere Hälfte Streifbandsendungen, alles übrige waren Briefe und oft lange Briefe von mir.

Zu dieser Arbeit kamen die Sitzungen der Vorortsverwaltung, die Leitung des Arbeiterbildungsvereins, die Tätigkeit im norddeutschen Reichstag und Zollparlament, zahlreiche Agitationsreisen und vom Herbst 1868 ab die ständige Mitarbeiterschaft am „Demokratischen Wochenblatt“, dessen ganzen Arbeiterteil ich schrieb. Daß ich bei einer solchen Tätigkeit meine junge Frau und mein kleines Geschäft in unverantwortlicher Weise vernachlässigte, ist naheliegend, und so war es nur erklärlich, daß mir in finanzieller Beziehung öfter das Wasser bis an den Hals stand und ich manchmal kaum ein und aus wußte.

Da ich eine ähnliche Tätigkeit, wie ich sie entfaltete, auch von anderen forderte, hatte ich wiederholt an Vahlteich geschrieben und ihn gedrängt, rühriger zu sein. Dafür wusch er mir in einem Briefe vom 25. Mai 1869 den Kopf. Darin hieß es:

„Lieber Freund. Vor Monaten schriebst Du mir einen ähnlichen aufmunternden Brief wie den vom vorgestrigen Tage. Meine Antwort darauf machte aber auf Dich einen ‚kläglichen‘ Eindruck. Das glaube ich nun wohl, ich will Dich aber doch bitten, dem, was ich Dir schreibe, den Wert der Wahrheit beizulegen, indem ich daran erinnere, wie ich in ähnlicher Situation wie Du, in ähnlicher Weise mit fieberhafter, aufopfernder Ungeduld gearbeitet habe.

Wenn ich jetzt vom ‚Erzwingen wollen‘ abgekommen bin, so ist nicht die Faulheit die Ursache, sondern die mühsam genug errungene Ueberzeugung, daß sich gewisse Dinge mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln einfach nicht erzwingen lassen; ich bin dafür, daß man immer für unsere Grundsätze arbeitet, daß man sich aber nicht für diese aufreiben müsse.

Von diesem Gesichtspunkt muß ich offen aussprechen: Ich fürchte, Du richtest Dich zugrunde nach mehr als einer Richtung hin. Irre ich mich, so ist das im Interesse der Sache sehr gut, und mir soll es lieb sein; soweit ich aber die Dinge beurteilen kann, begreife ich zurzeit nicht, wie Du Deine agitatorische, überhaupt öffentliche Tätigkeit auf die Dauer fortführen willst….“

Schließlich erklärte er, für ihn stehe die Sache so, daß er entweder seine agitatorische Tätigkeit oder seine geschäftliche Stellung aufgeben müsse.

Auf die letztere Bemerkung möchte ich anführen, daß in dieselbe Lage wie Vahlteich im Laufe der Jahre eine große Zahl von Parteigenossen kam. Wenn unsere Gegner noch heute gern darauf hinweisen, daß zum Beispiel in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion kein wirklicher Arbeiter sitze, so aus dem einfachen Grunde, weil jeder Arbeiter, der für die Sozialdemokratie öffentlich tätig ist, sofort aufs Pflaster fliegt. Entweder er schweigt, oder die Partei, die Agitatoren, Redakteure, Verwaltungsleute nötig hat, gibt ihm eine Stelle. Noch schlimmer erging es von jeher den selbständigen Gewerbetreibenden in der Partei. Da schreien unsere Gegner über den Terrorismus der Sozialdemokratie. O, diese Heuchler. Niemand treibt schlimmeren Terrorismus als sie. Wieviel brave Parteigenossen habe ich im Laufe der Jahrzehnte am Terrorismus der Gegner verbluten sehen.

Da war zum Beispiel Jul. Motteler, ein Mann von hohem Idealismus, der, als er sich 1867 an der Wahlagitation beteiligte, seine Stelle in einem Fabrikkontor gekündigt bekam. Um den Gegnern nicht den Gefallen zu tun und das Feld zu räumen, gründete er eine Spinn- und Webgenossenschaft mit beschränkter Haftung in Crimmitschau. Dieselbe gedieh auch einige Jahre. Als aber der Krieg von 1870/71 kam und die Liberalen über unsere Haltung wütend waren, kündigte man der Genossenschaft den Bankkredit; sie wurde zur Zahlungseinstellung gezwungen. Jetzt opferte Motteler sein ganzes Vermögen, um die Gläubiger nach Möglichkeit zu befriedigen. Er trat nunmehr in die Leitung der Leipziger Buchdruckereigenossenschaft ein. Aus ähnlichen Vorkommnissen erklärt sich auch die Erscheinung, daß, wenn es unter den sozialistischen Abgeordneten und der Führerschaft überhaupt so viele Tabak- und Zigarrenhändler und Restaurateure gibt, diese Berufe ergriffen werden mußten, weil sie fast die einzigen sind, in denen die Gemaßregelten von der Parteigenossenschaft gehalten werden können. Und was habe ich selbst in fünfundzwanzigjähriger gewerblicher Tätigkeit unter Entziehung der Kundschaft und dem Widerstreit der Interessen zwischen öffentlicher Tätigkeit und Geschäft zu leiden gehabt.

Wiederholt meinten Freunde in bürgerlichen Stellungen, die meine Tätigkeit in der Arbeiterbewegung nicht begreifen konnten, ich sei ein dummer Kerl, daß ich mich für die Arbeiter opfere. Ich solle für das Bürgertum tätig sein und mich um die Gemeindeangelegenheiten bekümmern, ich machte ein glänzendes Geschäft und würde bald Stadtrat sein. Das erschien ihnen das Höchste. Ich lachte sie aus, danach strebe mein Ehrgeiz nicht.

Wie ich die Arbeitslast — und die Jahre 1867 bis 1872 waren die arbeitsreichsten meines Lebens, obgleich es mir bis heute nie an Arbeit fehlte — bewältigen konnte, mochte manchem als Rätsel erscheinen. In gewissem Sinne mir selbst, denn ich hatte auch mehrere Male mit Krankheit zu kämpfen. Ich war zu jener Zeit ein Mann von schmaler Statur mit hohlen Wangen und bleicher Gesichtsfarbe, was Freundinnen meiner Frau, die unserer Verehelichung beiwohnten, zu der Aeußerung veranlaßte: „Die Arme, den wird sie nicht lange haben!“

Zum Glück kam es anders.

Persönliches.

Für einen Mann, der im öffentlichen Leben mit einer Welt von Gegnern im Kampfe liegt, ist es nicht gleichgültig, wes Geistes Kind die Frau ist, die an seiner Seite steht. Je nachdem kann sie eine Stütze und eine Förderin seiner Bestrebungen oder ein Bleigewicht und ein Hemmnis für denselben sein. Ich bin glücklich, sagen zu können, die meine gehörte zu der ersteren Klasse. Meine Frau ist die Tochter eines Bodenarbeiters an der Leipzig-Magdeburger Bahn, der schon gestorben war, als ich sie kennen lernte. Meine Braut war Arbeiterin in einem Leipziger Putzwarengeschäft. Wir verlobten uns im Herbst 1864, kurz vor dem Tode ihrer braven Mutter, und heirateten im Frühjahr 1866. Ich habe meine Ehe nie zu bereuen gehabt. Eine liebevollere, hingebendere, allezeit opferbereitere Frau hätte ich nicht finden können. Leistete ich, was ich geleistet habe, so war dieses in erster Linie nur durch ihre unermüdliche Pflege und Hilfsbereitschaft möglich. Und sie hat viele schwere Tage, Monate und Jahre zu durchkosten gehabt, bis ihr endlich die Sonne ruhigerer Zeiten schien.

Eine Quelle des Glückes und ein Trost in ihren schweren Stunden wurde ihr unsere im Januar 1869 geborene Tochter, mit deren Geburt ein amüsanter Vorgang verknüpft ist. Am Vormittag des betreffenden Tages saß ich in der Stube vor meinem Schreibtisch und wartete in großer Aufregung auf das erhoffte Ereignis, als an die Tür geklopft wurde und auf meinen Hereinruf ein Herr in die Stube trat, der sich als Rechtsanwalt Albert Träger vorstellte. Trägers Name war mir bereits durch seine in der Gartenlaube veröffentlichten Gedichte und seine öffentliche Tätigkeit bekannt. Nach unserer Begrüßung äußerte Träger verwundert: „Sie sind ja noch ein junger Mann, ich glaubte, Sie seien ein älterer, behäbiger Herr, der sein Geschäft an den Nagel gehangen hat und die Politik zu seinem Vergnügen treibt.“ Ich stand in der üblichen grünen Drechslerschürze vor ihm und antwortete lächelnd: „Wie Sie sehen, sind Sie im Irrtum!“ Wir unterhielten uns dann, bis ich in der Nebenstube den erwarteten Kinderschrei hörte. Jetzt gab's für mich kein Halten mehr. Mit wenigen Worten klärte ich Träger über die Situation auf, worauf er mir herzlich gratulierte und sich entfernte. Einige Jahre später wurden wir Kollegen im deutschen Reichstag und blieben bis heute, trotz unserer prinzipiell verschiedenen Standpunkte, gute Freunde.

Meine Stellung in der Arbeiterbewegung wie meine Verlobung ließen mir meine dauernde Niederlassung in Leipzig wünschbar erscheinen. Sachsen hatte zwar im Jahre 1863 die Gewerbefreiheit eingeführt, aber wer als „Ausländer“ sie benutzen wollte, und das war jeder Nichtsachse, mußte die sächsische Naturalisation erwerben. Das kostete damals viel Geld, denn gleichzeitig mußte man sich auch in einer Gemeinde einbürgern lassen. Zur Selbständigmachung und zur Naturalisation fehlten mir aber die Mittel. Die letztere erforderte mit dem Bürgerwerden in Leipzig zirka 150 Taler, und was ich von Hause erwarten konnte, waren zirka 350 Taler. Unerwarteterweise wurde ich zur Selbständigmachung gezwungen, indem mir mein Meister Ende 1863 unter der Vorgabe, er habe keine Arbeit mehr für mich, kündigte. In Wahrheit kündigte er mir, weil er gehört, ich wolle mich selbständig machen. Er wollte sich also einen Konkurrenten vom Halse halten. Ich reiste darauf nach Wetzlar und holte, was an Geld flüssig zu machen war. Ich mietete dann ein Werkstattlokal mitten in der Stadt, im Hofe eines Kaufhauses, das eben aus einem Pferdestall in einen Arbeitsraum umgewandelt worden war. Das Lokal war so primitiv, daß es noch keine Kaminanlage hatte, und ich bis zur Fertigstellung derselben, wider alle polizeiliche Vorschrift, mein Ofenrohr durch das Fenster in den Hof leiten mußte. Dasselbe Lokal mußte mir auch, da meine geringen Mittel wie Butter an der Sonne zusammengeschmolzen waren, als Schlafraum dienen, wobei ich in den kalten Winternächten jämmerlich fror. Um die Naturalisation einstweilen zu umgehen, hatte ich mein Geschäft unter der Firma eines befreundeten Bürgers eröffnet, bis ich im Frühjahr 1866, um heiraten zu können, auch die Naturalisation mit Schuldenmachen unternahm. Zwei Jahre später wären mir viele Kosten infolge der Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes erspart geblieben.

Ich begann mein Geschäft im kleinsten Maßstab, mit Hilfe eines Lehrlings. Nach einigen Monaten konnte ich einen Gehilfen einstellen. Als ich aber im Februar 1867 in den Reichstag gewählt worden war und nun während meiner Abwesenheit meinem Gehilfen Einblicke in das Geschäft gewähren mußte, die er sonst nicht erlangte, kündigte er mir nach meiner Rückkunft und machte sich selbständig. Als ich diesen Vorgang später einem ehemaligen Kollegen erzählte, meinte dieser trocken: „Das geschieht dir recht, warum zahltest du einen Lohn, bei dem er sich Geld sparen konnte.“ Dieser „horrende Lohn“ betrug damals 4-1/2 Taler pro Woche, er war um einen halben Taler höher als in jeder anderen Werkstatt, auch währte bei mir die Arbeitszeit täglich zehn Stunden, anderwärts elf.

Im übrigen lernte ich das Elend des Kleinmeisters gründlich kennen. Die gelieferten Waren mußten auf längeren Kredit gegeben werden, Lohn für das Personal, Spesen und der eigene Lebensunterhalt erforderten aber täglich und wöchentlich Ausgaben. Woher das Geld nehmen? Ich lieferte also einem Kaufmann meine Ware gegen Barzahlung zu einem Preis, der nur wenig höher als die Selbstkosten war. Holte ich mir aber am Samstag mein Geld, so erhielt ich lauter schmutzige Papierscheine, von denen damals Leipzig durch seinen Verkehr mit den thüringischen Kleinstaaten überflutet wurde. Jeder dieser kleinen Staaten nutzte sein Münzrecht gründlich aus und überschwemmte mit Papiergeld den Markt. Aber dasselbe wurde allgemein gegeben und genommen und galt als Verkehrsgeld. Daneben erhielt ich aber auch öfter Coupons irgend eines industriellen Unternehmens, die noch nicht fällig waren, oder Dukaten, die der Manichäer derart beschnitten hatte, daß ich statt 3 Taler 5 Groschen, wie sie mir angerechnet wurden, beim Bankier, bei dem ich sie wechseln mußte, oft nur 3 Taler und weniger erhielt. Aehnlich ging es mit den Coupons. Ich war über diese Zahlungsweise wütend, aber was wollte ich machen? Ich ballte die Faust in der Tasche und lieferte die nächste Woche wieder Ware und holte mir die gleiche Zahlung.

Meine öffentliche Tätigkeit brachte allmählich das Unternehmertum gegen mich auf. Man verweigerte, mir Aufträge zu geben. Das war der Boykott. Wäre es mir nicht gelungen, außerhalb Leipzigs in anderen Städten einen kleinen Kundenkreis auf meine Artikel (Tür- und Fenstergriffe aus Büffelhorn) zu erwerben, ich wäre Ende der sechziger Jahre zum Bankrott gezwungen worden. Schlimm erging es mir während der Kriegszeit 1870/71, in der an sich schon die Arbeit stockte. Als ich dann im Winter 1870/71 mit Liebknecht und Hepner in eine hundertzweitägige Untersuchungshaft genommen wurde, mußte mir meine Frau eines Tages die Mitteilung zugehen lassen, daß kein Stück Arbeit mehr verlangt werde, wohl aber mußten wöchentlich Gehilfe und Lehrling bezahlt werden. Das war eine bitterböse Situation. Doch sie wendete sich bald zum Besseren. Mit dem Friedensschluß begann die Prosperitätsepoche, die bis zum Jahre 1874 währte. Die Bestellungen kamen jetzt ungerufen ins Haus, die Kunden waren froh, wenn sie bedient wurden. Als ich daher im Frühjahr 1872 mit Liebknecht meine zweiundzwanzigmonatige Festungshaft in Hubertusburg antrat, der für mich noch neun Monate Gefängnis folgten, konnte ich das Geschäft mit einem Werkführer, sechs Gehilfen und zwei Lehrlingen zurücklassen. Seide gesponnen wurde freilich nicht, obgleich meine Frau tüchtig auf dem Posten war. Die Geschäftskorrespondenz führte ich von der Festung beziehungsweise aus dem Gefängnis. Schlimm wurde es wieder, als 1874 mit dem Krach gleichzeitig mein Artikel durch Konkurrenten der fabrikmäßigen Herstellung verfiel, und zwar zu Preisen, bei denen ich mit dem Handbetrieb unmöglich mehr konkurrieren konnte. Ich dachte schon daran, das Geschäft aufzugeben und in eine Parteistellung zu treten, da wollte der Zufall, daß ich in der Person eines Parteigenossen, des Kaufmanns Ferd. Ißleib in Berka a.W., einen Associé fand, der neben den materiellen Mitteln die nötigen kaufmännischen Kenntnisse besaß und sehr bald auch die nötigen technischen Kenntnisse in anerkennenswerter Weise sich aneignete. Im Herbst 1876 bezogen wir eine kleine Fabrik mit Dampfbetrieb, in der jetzt auch die Herstellung der betreffenden Artikel aus Bronze vorgenommen wurde, in denen wir bald einen guten Ruf erlangten. Anfangs hatten wir schwer zu kämpfen, denn noch wütete die Krise. Meine Haupttätigkeit wurde nunmehr, die Kunden aufzusuchen und die Geschäftsreisen zu unternehmen, durch die ich später, unter dem Sozialistengesetz, der Partei die größten Dienste leisten konnte. Nachdem ich dann 1881 auf Grund des sogenannten kleinen Belagerungszustandes aus Leipzig ausgewiesen worden war, und diese Ausweisung von Jahr zu Jahr erneuert wurde, ich auch zwischendurch wieder Bekanntschaft mit den Gefängnissen gemacht hatte, löste ich im Herbst 1884 das Associéverhältnis und trat in die Stellung eines Reisenden für das Geschäft. Ich glaubte es meinem stets opferbereiten Associé gegenüber nicht mehr verantworten zu können, an dem mäßigen Nutzen eines Unternehmens teilzunehmen, für das er die Sorge und die Hauptarbeit zu tragen hatte. Außerdem wurde ich durch meine dauernde Entfernung von Leipzig dem inneren Gange des Geschäfts immer mehr entfremdet. So legte ich 1889 auch die Stelle des Reisenden nieder und widmete mich von jetzt ab ganz der Schriftstellerei, durch die ich in dauernde geschäftliche Beziehungen zu meinem Freunde Heinrich Dietz in Stuttgart kam.

Ich habe weiter oben bemerkt, daß man sich öfter ein ganz anderes Bild von meiner Persönlichkeit machte. Darüber amüsierten wir — mein Associé und ich — uns wiederholt. Jener entsprach im äußeren ganz der Vorstellung, die man sich von mir machte. Er war ein großer, starker Mann, der rotes Haar und einen roten Bart hatte, der bis auf die Brust wallte. Da kam es denn vor, daß wenn jemand aufs Kontor kam, um mich zu sprechen, mich aber nicht persönlich kannte, er sich an meinen Associé wandte. Diese Verwechslung machte uns stets großes Vergnügen. Sehr heiter stimmte mich auch, als ich eines Tages auf einer Geschäftsreise in Tübingen war und ich mich in einer Weinwirtschaft von einigen Bekannten verabschiedete, hinter mir ein Tübinger Bürger im reinsten Schwäbisch verwundert äußerte: „Was? Der kloine Ma ischt d'r Bebel?“ — Aehnliches erlebte ich öfter. Auch kam es in früheren Jahren nicht selten vor, daß auf der Eisenbahn Reisegefährten sich über mich unterhielten, ohne zu ahnen, daß ich mitten unter ihnen saß und still zuhörte. Es waren manchmal rechte Räubergeschichten, die ich anzuhören bekam.

Der Marsch nach Nürnberg

Im Juli 1867 war nach langen Verhandlungen zwischen Norddeutschland und den süddeutschen Staaten ein Vertrag zustande gekommen, wonach die Regelung der Zoll- und indirekten Steuerverhältnisse den Beratungen eines sogenannten Zollparlaments unterworfen werden sollte, das aus den Mitgliedern des norddeutschen Reichstags und eigens dazu gewählten Vertretern der vier süddeutschen Staaten zusammengesetzt war. Bismarck hatte es abgelehnt, den Wünschen der badischen Regierung wie der süddeutschen Liberalen nach voller Aufnahme in den Norddeutschen Bund nachzukommen. Die preußische Regierung werde durch den Eintritt von achtzig süddeutschen Abgeordneten in den Reichstag nur in Verlegenheit geraten. Das Wahlrecht für die Vertreter in dem Zollparlament war dasselbe wie für den norddeutschen Reichstag. Gleichwohl lehnte ein großer Teil der süddeutschen Volkspartei, namentlich in Württemberg, die Wahlbeteiligung ab, obgleich Liebknecht und ich auf einer Konferenz in Bamberg, Februar 1868, uns alle Mühe gaben, einen solch unsinnigen Beschluß zu verhindern, der nichts anderes bedeutete als Fahnenflucht vor dem Feinde. Auch ein größerer Teil der Arbeitervereine in Württemberg folgte der Parole der Volkspartei. Ein anderer Teil wählte, und da auch die Volkspartei gespalten war, gelang es, mehrere Demokraten für das Zollparlament durchzubringen. Anders in Hessen, das in jener Zeit politisch in zwei Hälften geteilt war. Oberhessen gehörte zum Nordbund, Rheinhessen und Starkenburg waren selbständig und wählten jetzt in das Zollparlament. Liebknecht und ich unterstützten die demokratischen Kandidaten in Südhessen bei der Wahlagitation und hielten Wahlversammlungen für dieselben ab. Bei einer dieser Versammlungen kamen wir auch nach Darmstadt in das Haus von Louis Büchner (des Kraft- und Stoff-Büchner), woselbst Liebknecht die Bekanntschaft seiner späteren zweiten Frau machte. Die erste war das Jahr zuvor gestorben. Liebknecht machte in diesem Wahlfeldzug die einzige Eroberung, eben seine zweite Frau; im übrigen zogen wir als die Geschlagenen nach Hause. Die demokratischen Kandidaten in Mainz und Darmstadt waren unterlegen.

In Bayern und Württemberg agitierten um jene Zeit ein großer Teil der Arbeitervereine in Gemeinschaft mit der Volkspartei für die Einführung des Milizsystems, da es sich in beiden Staaten um eine neue Militärorganisation handelte. Es wurde insofern auch ein Erfolg erzielt, als die württembergische Regierung sich mit der Kammer auf eine siebzehnmonatige Dienstzeit verständigte. In Bayern hatte sich der Militärgesetzausschuß der Kammer, unter dem Einfluß des bekannten Statistikers Kolb, für eine gar nur neunmonatige Dienstzeit erklärt und die Aufhebung von vier Kavallerieregimentern beschlossen. Diese Errungenschaften wurden durch den Deutsch-Französischen Krieg und den Eintritt der süddeutschen Staaten in das Reich zu Fall gebracht.

In Sachsen agitierten wir, da ein neues Wahlgesetz eingeführt werden sollte, für das gleiche Wahlrecht wie zum Reichstag. Weiter animierte der Vorort die Arbeitervereine zur Stellungnahme gegen den im norddeutschen Reichstag von Schulze-Delitzsch eingebrachten Gesetzentwurf, betreffend die privatrechtliche Stellung der Genossenschaften, der weit hinter dem in Sachsen geltenden Genossenschaftsgesetz zurückstand. Andere Agitationen richteten sich gegen die im Zollparlament geplante Tabak- und Petroleumsteuer und gegen eine ganze Reihe reaktionärer Bestimmungen in dem dem norddeutschen Reichstag vorgelegten Gesetzentwurf einer Gewerbeordnung, die ich in einem Artikel in der „Arbeiterhalle“ beleuchtete.

Daß die politische Zwieschlächtigkeit im Verband der Arbeitervereine auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden konnte, war uns im Vorort klar. Nachdem wir in Gera das Heft in die Hand bekommen hatten, mußte die Situation ausgenutzt werden. Es mußte ein festes Programm geschaffen werden, mochten die Folgen für den Verband sein, welche sie wollten. Unserer eigenen Auffassung kam der Arbeiterbildungsverein Dresden, in dem seit September 1867 Vahlteich Vorsitzender geworden war, entgegen, indem er einen dahingehenden Antrag stellte. Aus Süddeutschland regte Eichelsdörfer den gleichen Gedanken an.

Diesem antwortete ich unter dem 18. April 1868, die Programmfrage sei von uns diskutiert und zustimmend beschlossen worden, es werde aber dabei zum Bruch im Verband kommen. Zunächst wurde bei Sonnemann angefragt, ob er einen Programmentwurf vorlegen wolle; er lehnte ab. Darauf ersuchten wir Robert Schweichel, der von Hannover nach Leipzig übergesiedelt war und Liebknecht bei der Redaktion des „Demokratischen Wochenblatts“ unterstützte, einen Entwurf auszuarbeiten und das Referat über denselben auf dem nächsten Vereinstag zu übernehmen. Wir wählten Schweichel im Einverständnis mit Liebknecht. Schweichels konziliantes Wesen war für diesen Fall, in dem es galt, die noch zögernden Vereinsvertreter zu gewinnen, besser als Liebknechts Draufgängernatur.

Sobald bekannt wurde, der Vorort wolle dem nächsten Vereinstag ein Programm vorlegen, gab es in den von den Liberalen geleiteten Vereinen eine gewaltige Aufregung. Die liberale Presse schlug in Nord und Süd gegen uns los und suchte die Vereine gegen uns aufzuhetzen. Von den verschiedensten Seiten kamen an mich Briefe mit Protesten und Warnungen. Der Vorsitzende des Nürnberger Arbeitervereins, ein Oberlehrer Rögner, unterstellte unserem Vorgehen alle möglichen Motive. Wir wollten unsere „Mißerfolge“ im Reichstag und Zollparlament mit unserem Vorgehen auf dem Vereinstag auszugleichen suchen, Preußenhaß leite unser Handeln usw. Wir würden uns aber täuschen, wir würden eine Niederlage erleiden. Ich antwortete, gerade die bisherigen Verhandlungen im norddeutschen Reichstag und Zollparlament zeigten, welch großen Wert die Arbeiter auf nachdrückliche Beteiligung an der Politik in einer ihren Interessen entsprechenden Weise legen müßten. Soziales und Politisches ließe sich nicht voneinander trennen, eines ergänze das andere…. Der Arbeiter müsse vom Standpunkt seiner Interessen demokratisch sein…. Die bisherige Unklarheit im Verband könne nicht mehr weitergehen…. Er (Rögner) sage, es sei unrecht, jetzt, wo die scharfen Gegensätze zwischen Staatshilfe und Selbsthilfe sich verlieren und eine Annäherung beider Parteien stattgefunden habe, einen neuen Erisapfel dazwischen zu werfen. Ich antworte, gerade dieser Annäherung Ausdruck zu geben, sei der Zweck des Programms…. Die Gegensätze würden nicht durch Totschweigen, sondern durch offene Aussprache ausgeglichen…. Möglich, daß wir auf dem Parteitag eine Niederlage erleiden würden, aber das könne mich nicht von dem geplanten Schritte abhalten. Es sei nicht das erstemal, daß ich in der Minderheit geblieben sei und nach erneuten Versuchen in die Mehrheit kam. Ich erinnere nur an meinen Antrag der direkten Wahl des Präsidenten und eines Vororts, der seit 1865 bekämpft, 1867 siegte…. Auch mit dem Vorsitzenden des Oldenburger Arbeiterbildungsvereins hatte ich eine lange Auseinandersetzung. Ich erklärte ihm, wir hielten ein Programm für notwendig, damit jedermann wisse, wo der Verband stehe, und namentlich Vorort und Redaktion wüßten, wie die Mehrheit regiert sehen wollte. Wir hätten den Mangel eines klaren Standpunktes häufig empfunden. Der einen Seite gingen wir zu weit, der anderen nicht weit genug. Ich wolle allerdings bekennen, daß wenn die Mehrheit der Vereine ein sozialdemokratisches Programm ablehne, der Vorort und die Mehrheit der sächsischen Vereine sich alsdann fragen würden, ob sie dem Verband noch angehören könnten.

Dazwischen befürwortete Moritz Müller in Pforzheim die Gründung von Gewerkschaften und empfahl, dahin zu wirken, daß die Leitung der Vereine durch Doktoren und Professoren beseitigt werde. Ich antwortete ihm am 16. Juli, daß ich mit seinen Ideen über Berufsorganisationen einig ginge. Die Buchdrucker und Zigarrenarbeiter Deutschlands seien bereits dem Beispiel der englischen Arbeiter gefolgt, jetzt folgten die Schuhmacher in Leipzig und die Buchbinder in Dresden. Auch sei ich mit ihm darin der gleichen Meinung, daß die Arbeitervereine ihre Leiter aus ihren eigenen Reihen wählen müßten. Die Doktoren- und Professorenleitung tauge in der Regel nichts, das wüßten wir aus eigener Erfahrung.

Wie zu erwarten, war der Vereinstag, für den die große Mehrheit der Vereine Nürnberg als Verhandlungsort gewählt hatte, ungewöhnlich stark besucht. Es waren 93 Organisationen durch 115 Delegierte vertreten. Außerdem befanden sich unter den geladenen Gästen Eccarius-London als Vertreter des Generalrats der Internationale,[7] Oberwinder und Hartung als Vertreter des Wiener Arbeiterbildungsvereins, Quick und Greulich als Vertreter der deutschen Arbeitervereine der Schweiz, Dr. Ladendorf-Zürich, der ehemalige Berliner Zuchthäusler, als Vertreter des deutsch-republikanischen Vereins in Zürich, Dr. Heger-Bamberg als Vertreter der deutschen Abteilung der Internationale in Genf, Bütter als Vertreter der französischen Abteilung der Internationale in Genf, Brückmann und Niethammer-Stuttgart als Vertreter des Ausschusses der deutschen Volkspartei. Unter den Vereinstagsdelegierten befand sich als Vertreter eines badischen Vereins Jakob Venedey, der durch Heinrich Heine als Kobes von Köln eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Auch war ein Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Dr. Kirchner, zugegen, der ein Mandat des Hildesheimer Webervereins zu vertreten hatte. Kirchner war sozusagen die erste Schwalbe, die es wagte, aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zu uns herüberzufliegen. Das war in den Augen J.B.v. Schweitzers ein Verbrechen. Kirchner wurde nachher auch als Vertrauensmann gewählt. Die Hauptverhandlungen des Vereinstags fanden im großen historischen Rathaussaal statt, den der Nürnberger Magistrat in der Hoffnung hergegeben hatte, daß die liberale Richtung siegen werde. Diese Hoffnung wurde zu Wasser. Mit einer Begrüßung der fremden Vertreter eröffnete ich die Versammlung und ließ das Präsidium wählen. Von 94 abgegebenen Stimmen fielen 69 auf mich und 21 auf Rögner-Nürnberg, 4 Stimmen zersplitterten. Damit war die Entscheidung über den Geist, der den Vereinstag beherrschen werde, gefallen. Als erster Vizevorsitzender wurde Löwenstein-Fürth mit 62 Stimmen, als zweiter Vizevorsitzender Bürger-Göppingen mit 59 Stimmen gewählt. Die Gegenpartei unterlag auf der ganzen Linie. Letztere suchte nun bei Feststellung der Tagesordnung zu retten, was zu retten möglich; sie verlangte die Absetzung der Programmfrage von der Tagesordnung. Darüber kam es zu scharfen Auseinandersetzungen. „Keine Kompromisse“ rief es von den verschiedensten Seiten, und so wurde die _en bloc-_Annahme der Tagesordnung mit großer Mehrheit beschlossen.

Die Verhandlungen des Vereinstags nahmen einen vorzüglichen Verlauf. Die Nürnberger Tagung war eine der schönsten, denen ich beigewohnt. Als Berichterstatter für die Vorortverwaltung konnte ich mitteilen, daß die neue Organisation sich vortrefflich bewährt und der Verband im Vergleich zu früher glanzvoll dastehe. Die zum Verband gehörigen Vereine zählten zirka 13000 Mitglieder. Ein Versuch Venedeys, die Programmfrage durch eine motivierte Tagesordnung zu beseitigen, mißlang. Die Programmdebatte wurde vom allgemeinsten Interesse begleitet. Das Endresultat war, daß das Programm mit 69 Stimmen, die 61 Vereine hinter sich hatten, gegen 46 Stimmen, die 32 Vereine vertraten, angenommen wurde. Gegen diesen Beschluß erhob die Minderheit Protest, sie verließ den Saal und beteiligte sich nicht mehr an den Debatten. Ihr Versuch, unter dem Namen Deutscher Arbeiterbund eine neue Organisation zu schaffen, versagte. Die betreffenden Vereine verloren jede politische Bedeutung und betätigten sich von jetzt ab nur noch als Anhängsel der verschiedenen liberalen Parteien.

* * * * *

Das angenommene Programm lautete:

„Der zu Nürnberg versammelte fünfte Vereinstag deutscher Arbeitervereine erklärt in nachstehenden Punkten seine Uebereinstimmung mit dem Programm der Internationalen Arbeiterassoziation:

1. Die Emanzipation (Befreiung) der arbeitenden Klassen muß durch die arbeitenden Klassen selbst erobert werden. Der Kampf für die Emanzipation der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Monopole, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.

2. Die ökonomische Abhängigkeit des Mannes der Arbeit von dem Monopolisten (dem ausschließlichen Besitzer) der Arbeitswerkzeuge bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, des sozialen Elends, der geistigen Herabwürdigung und politischen Abhängigkeit.

3. Die politische Freiheit ist das unentbehrliche Hilfsmittel zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.

Ferner in Erwägung, daß alle auf die ökonomische Befreiung der Arbeiter gerichteten Anstrengungen bisher an dem Mangel der Solidarität zwischen den vielfachen Zweigen der Arbeit jeden Landes und dem Nichtvorhandensein eines brüderlichen Bandes der Einheit zwischen den arbeitenden Klassen der verschiedenen Länder gescheitert sind; daß die Befreiung der Arbeit weder ein lokales noch nationales, sondern ein soziales Problem (Aufgabe) ist, das alle Länder umfaßt, in denen es moderne Gesellschaften gibt, und dessen Lösung von der praktischen und theoretischen Mitwirkung der vorgeschrittensten Länder abhängt, beschließt der fünfte deutsche Arbeitervereinstag seinen Anschluß an die Bestrebungen der Internationalen Arbeiterassoziation.“

* * * * *

Die Beschlüsse des Nürnberger Arbeitervereinstags über das Programm ließen keinen Zweifel mehr zu, in welchem Lager die Vereine nunmehr standen. Gleichwohl tat die Mehrheit auf der Generalversammlung der Volkspartei am 19. und 20. September in Stuttgart, als sei eine Aenderung in der gegenseitigen Stellung nicht eingetreten; sie erklärte sich sogar mit den in Nürnberg gefaßten Beschlüssen über das Programm einverstanden, indem erläuternd bemerkt wurde, daß die staatlichen und gesellschaftlichen Fragen untrennbar seien und daß namentlich die ökonomische Befreiung der arbeitenden Klassen und die Verwirklichung der politischen Freiheit sich gegenseitig bedingten. Auch mit der von Johann Jacoby am 24. Mai 1868 in Berlin gehaltenen Programmrede erklärte sie sich einverstanden.

Das war ein Maß von Einsicht, das nachmals den Nachfolgern der Volksparteiler von 1868 vollständig abhanden gekommen ist. Es war insbesondere der in Nürnberg anwesend gewesene Rechtsanwalt Niethammer-Stuttgart, der für ein weiteres Zusammengehen wirkte. Er vertrat die Ansicht, die Demokratie müsse sich zur Sozialdemokratie erheben, wolle sie ihre Aufgabe erfüllen. Er wäre wahrscheinlich später ganz in unsere Reihen getreten, hätte nicht ein jäher Tod (Herzschlag) frühzeitig seinem Leben ein Ende gemacht.

Neben Niethammer war es aber vorzugsweise Sonnemann, der für diese
Beschlüsse wirkte. Sonnemann, der um keinen Preis eine Lösung des
Verhältnisses zwischen Arbeitervereinen und Volkspartei wollte, hatte in
Nürnberg dem Programm zugestimmt, für das er nicht begeistert war. Es
mußte ihm jetzt alles daranliegen, daß die Generalversammlung der
Volkspartei seinen Schritt in Nürnberg sanktionierte.

Der Austritt der Minderheit hatte die Tagesordnung des Vereinstags zerstört, denn für verschiedene Fragen waren mehrere Referenten unter den Ausgeschiedenen. Ein Referat Sonnemanns über die Gründung einer Altersversorgungskasse, die unter staatlicher Aufsicht stehen sollte, fand insofern Widerspruch, als sämtliche Redner, insbesondere Vahlteich, sich dahin aussprachen, daß das gesamte Arbeiterunterstützungswesen durch die in zentralisierten Gewerkschaften vereinigten Arbeiter verwaltet werden solle.

Die hierauf bezügliche Resolution, die Vahlteich und H. Greulich vorschlugen und einstimmig angenommen wurde, lautete:

„In Erwägung, daß das Anheimgeben der Verwaltung einer allgemeinen
Altersversorgungskasse für Arbeiter an den bestehenden Staat den
Arbeiter unbewußt zu einem konservativen Interesse an den bestehenden
Staatsformen bringt, denen er keineswegs Vertrauen schenken kann;[8]

In Erwägung, daß Kranken- und Sterbeunterstützungs- sowie Altersversorgungskassen erfahrungsgemäß am besten durch Gewerksgenossenschaften ins Leben gerufen und erhalten werden können, beschließt der fünfte Vereinstag, den Mitgliedern des Verbandes und speziell dem Vorort aufzugeben, für Vereinigung der Arbeiter in zentralisierten Gewerksgenossenschaften tatkräftig zu wirken.“ Germann-Leipzig sprach über Krankenunterstützungskassen; sein Referat faßte er in folgender Resolution zusammen: Der Vereinstag wolle den Verbandsangehörigen empfehlen, durch Deputierte des Orts ein Kollegium zu bilden, das erstens eine gute Organisation der Kassen, volle Selbstverwaltung, Vereinigung derselben nach Gewerken in Verbände und Besprechung der Kasseninteressen in einem geeigneten Organ; zweitens Freizügigkeit innerhalb der Gewerkskassen und bankmäßige Bewirtschaftung des Krankenkassenkapitals anstrebt, außerdem aber auch drittens die Gründung solcher Kassen veranlaßt, an denen bis jetzt noch Mangel ist, für Dienstboten und Arbeiterinnen.

Im weiteren Verlauf der Verhandlungen referierte Schweichel über die indirekten Steuern, Liebknecht über die Wehrfrage. Die Kommission, die zur Prüfung der Geschäftsführung des Vororts niedergesetzt worden war, zollte demselben hohes Lob. Bücher und Akten befanden sich in schönster Ordnung, obgleich die Arbeitslast ganz bedeutend gestiegen sei, dem Vorort gebühre wärmste Anerkennung. Die materielle Entschädigung für die geleistete Arbeit betrug für das Geschäftsjahr 57 Taler 4 Neugroschen. Bei der Wahl zum Vorsitzenden erhielt ich von 59 abgegebenen Stimmen 57. Damit hatte Leipzig wieder die Leitung für das nächste Jahr in der Hand.

Als Vertrauensmänner wurden gewählt: Bürger-Göppingen, Notz-Stuttgart,
Eichelsdörfer-Mannheim, Günzel-Speier, Sonnemann-Frankfurt a.M.,
Stuttmann-Rüsselsheim, Dr. Kirchner-Hildesheim, Heymann-Koburg,
Motteler-Crimmitschau, Krause-Mülsen (St. Jakob), Bremer-Magdeburg,
Vahlteich-Maxen (bei Dresden), Kobitzsch-Dresden, Oberwinder-Wien,
Löwenstein-Fürth. Die geringe Vertretung Norddeutschlands unter den
Vertrauensmännern war dadurch verursacht, daß die Vertreter der
norddeutschen Vereine mit wenigen Ausnahmen zur Opposition gehörten und
den Austritt ihrer Vereine aus dem Verband erklärt hatten.

Der Arbeiterbund veröffentlichte nach seiner Konstituierung einen Aufruf, worin er heftige Anklagen gegen den Nürnberger Vereinstag erhob und es auch an Unwahrheiten und Entstellungen nicht fehlen ließ. Darauf antwortete ich in Nr. 46 des „Demokratischen Wochenblatts“ unter dem 23. September 1868 in einer langen Erklärung, in der ich die Angriffe zurückwies. Unter anderem war in dem gegnerischen Aufruf gesagt worden, wir wollten die Arbeiter auf einen „sozial-kommunistischen Standpunkt“ locken. Darauf bemerkte ich: Ein sonderbarer Standpunkt der „sozial-kommunistische“; es sind nur zwei Worte, und doch enthalten diese erstens eine Dummheit, zweitens eine Lüge, drittens eine Denunziation. Die letztere sah ich darin, daß man durch das Wort Kommunismus nicht bloß die Besitzenden, sondern auch die Arbeiter vor uns kopfscheu machen wolle. Die Worte „Sozialist“ und „Sozialismus“ reichten nicht mehr aus, daran seien Arbeiter und Arbeitgeber bereits gewöhnt. Diese fänden immer mehr, daß der Sozialismus gar nichts so Schreckliches sei, da müsse das Wort Kommunismus herhalten, um dem Philister Angst in die Glieder zu jagen.

Die Beschlüsse des Nürnberger Vereinstags schufen für die Bewegung eine neue Lage. Jetzt konnte nicht mehr, wie das bisher Schweitzer in seinem Moniteur, dem „Sozialdemokrat“, den Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins immer wieder verkündet hatte, von einer kleinbürgerlichen Bourgeoispartei, als die er namentlich die sächsische Volkspartei zu bezeichnen beliebte, die Rede sein, obgleich er genau wußte, daß die bürgerlichen Elemente in derselben in verschwindender Minderheit waren. Jedenfalls waren sie nicht stärker als im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, wie Liebknecht ihm im nächsten Frühjahr auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Elberfeld ins Gesicht sagte, was er durch zustimmendes Kopfnicken bejahte. Das erfuhren auch die Agitatoren, die er uns einige Monate später zu unserer Bekämpfung nach Sachsen schickte. Einer derselben — L. Sch., der später zu den Zünftlern überging und heute wohlbestallter Obermeister einer Schuhmacherinnung ist — äußerte nachher: „Schweitzer hat uns bös hereingelegt, in den überfüllten Versammlungen, die wir abhielten, haben wir nichts als Arbeiter und wieder Arbeiter gesehen.“ Er hätte hinzufügen können: und unser Erfolg war Null. Liebknecht und ich folgten ihnen fast in alle Versammlungen, die sie abhielten, und brachten ihnen eine Niederlage nach der anderen bei.

Nun konnte auch nicht mehr bestritten werden, daß in der sächsischen Volkspartei und dem Verband der Arbeitervereine jetzt eine sozialistische Partei vorhanden war, die auf dem Boden der Internationale stand. Die Nürnberger Tagung und ihre Resultate machten deshalb auch im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Eindruck, in dem bereits gegen Schweitzer ein tiefes Mißtrauen vorhanden war. Die Wirkung zeigte sich im Laufe des folgenden Jahres. Hätte damals an der Spitze des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins der rechte Mann gestanden, die Einigung der sozialistisch denkenden Arbeiter wäre jetzt eine Tatsache geworden. Sieben Jahre schädigender gegenseitiger Bekämpfung wären der Bewegung erspart geblieben.

Kurz nach dem Nürnberger Vereinstag kam es im Berliner Arbeiterverein, dessen Vorsitzender Krebs in dem ganzen Streit im Verband eine zweideutige Haltung eingenommen hatte, zu lebhaften Auseinandersetzungen, die damit endeten, daß eine starke Minderheit aus dem Verein austrat und einen demokratischen Arbeiterverein ins Leben rief, der sich für das Nürnberger Programm erklärte. Unter den Gründern des neuen Vereins befanden sich unter anderen G. Boas, Havenith, Karl Hirsch, Jonas, Paul Singer, O. Wenzel. Später traten demselben Th. Metzner, Milke und Heinrich Vogel bei, die aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ausgetreten oder wie Vogel ausgeschlossen worden waren. Der Verein hatte in Berlin gegen die Lassalleaner einen schweren Stand; sie höhnten, es sei ein Verein von Offizieren ohne Armee, was nicht so ganz falsch war. Aber die Offiziere leisteten etwas und schafften sich allmählich die fehlende Armee.

Die Achillesferse des Arbeitervereinsverbandes waren die schwachen Finanzen. Mit dem jährlichen Groschenbeitrag ließ sich nicht viel anfangen, obgleich der Verband 10000 Mitglieder hatte. Neben den Steuern für lokale Zwecke vergaß man, größere Opfer für den Verband zu bringen. Hier war uns der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein weit über. Wir im Vorort dachten daher ernstlich auf Abhilfe durch Aenderung der Organisation. Die Lage wurde für uns noch unangenehmer, als Schweitzer große Agitationstouren durch Sachsen und Süddeutschland ankündigte, für die er eine Anzahl Agitatoren bestimmt hatte. Die Abwehr erforderte unsererseits vor allem Geld, das wir nicht hatten. Erhebliche Geldzuschüsse erforderte auch das „Demokratische Wochenblatt“, das vom Dezember 1868 ab Verbandsorgan wurde. Wir hatten dasselbe mit ganzen 10 Talern in der Tasche gegründet, zu denen noch weitere kleine Beträge kamen. Auf ähnlicher „finanzieller Grundlage“ wurden später öfter Parteiorgane gegründet. Rechnerisch waren sie schon mit der ersten Nummer bankrott. Aber die Opferwilligkeit und Begeisterung für ein Blatt kannte kaum Grenzen. Die leitenden Persönlichkeiten mußten sich freilich mit lächerlich geringen Summen für ihre Arbeitsleistung begnügen, und sie taten es. Die heutige Generation in der Partei hat keine Vorstellung von der Armseligkeit der damaligen Zustände und von den Ansprüchen an Unentgeltlichkeit der Leistungen. So erhielt zum Beispiel Liebknecht als Redakteur des „Demokratischen Wochenblatts“ monatlich nur 40 Taler, später als Redakteur des „Volksstaat“ monatlich 65 Taler. Hepner wurde 1869 mit monatlich 25 Taler angestellt; den Arbeiterteil im „Demokratischen Wochenblatt“ schrieb ich unentgeltlich, für die Leitung der Expedition erhielt ich monatlich 12 Taler, dafür mußte ich auch die Räume hergeben. Als 1870 der Krieg ausbrach, verzichtete ich auf dieses horrende Gehalt. Gehaltserhöhungen kannte man damals nicht. Als zum Beispiel 1878 der „Vorwärts“, der Nachfolger des „Volksstaat“, auf Grund des Sozialistengesetzes totgeschlagen wurde, hatte Liebknecht noch dasselbe Gehalt wie neun Jahre zuvor. Aber mittlerweile hatte er aus der zweiten Ehe fünf Kinder mehr, von denen damals das älteste keine zehn Jahre zählte. In finanzieller Beziehung sind wir im Vergleich zu früher — denn was ich hier vom Verband der Arbeitervereine sage, galt auch für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein — eine Bourgeoispartei geworden.

Doch die Partei hat immer „Schwein“ gehabt. Ich habe deshalb manchmal zu meinen Freunden scherzhaft gesagt: Gibt es einen Gott, so muß er die Sozialdemokratie sehr lieb haben, denn wenn die Not am größten, ist die Hilfe am nächsten. Im vorliegenden Falle kam die Hilfe von einer Seite, von der wir sie nicht erwarten konnten. Eben klagte ich einem unserer auswärtigen Vertrauensmänner, der mich besuchte, unsere Verlegenheit, als der Briefträger einen eingeschriebenen Brief brachte. Absender war Dr. Ladendorf in Zürich, den ich 1866 in Frankfurt kennen gelernt und mit dem ich auf dem Nürnberger Parteitag die Bekanntschaft erneuert hatte. Er schrieb, daß er mir aus einem ihm und seinen Freunden zur Verwaltung anvertrauten Fonds, dem sogenannten Revolutionsfonds, 3000 Franken zur Verfügung stelle, die ich in drei Raten in Empfang nehmen und über deren Verwendung ich ihm Rechnung ablegen solle. Wer war glücklicher als ich? Ich machte vor Freude einen Luftsprung und teilte meinem verdutzt dreinschauenden Freunde die gute Botschaft mit. Der Revolutionsfonds, der später auch im Leipziger Hochverratsprozeß eine Rolle spielte, über dessen Entstehung in den Verhandlungen jenes Prozesses das Nötige nachgelesen werden kann, half uns noch mehrmals aus der Patsche. Aber als wir infolge unserer Stellungnahme zu den Beschlüssen des Baseler internationalen Arbeiterkongresses über die Grund- und Bodenfrage und zu den kriegerischen Ereignissen des Jahres 1870 mit Ladendorf und Genossen in Konflikt kamen, versiegte diese Quelle.

Die von Schweitzer angeordnete Agitation gegen uns in Sachsen war erfolglos; in Süddeutschland war sie nur von geringem Erfolg begleitet gewesen. Wider Erwarten hatten sich auch in Süddeutschland aus unseren Vereinen Kräfte gefunden, die seinen Agitatoren die Spitze boten. Es lag aber auf der Hand, daß durch diese gegenseitige Bekämpfung die Stimmung in beiden Parteien immer erbitterter wurde.

FUSSNOTEN:

[7] Mein Einladungsschreiben an den Generalrat lautete:

An den Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation zu London.

Geehrte Herren! Ein wichtiger Vorgang, der in einem großen Teil der deutschen Arbeitervereine bevorsteht, veranlaßt mich, diese Zeilen an Sie zu richten.

Am 5., 6. und 7. September hält der Verband Deutscher Arbeitervereine in Nürnberg seinen Vereinstag ab. Unter den wichtigen Fragen, welche die Tagesordnung enthält, steht als die wichtigste „Die Programmfrage“ obenan, das heißt, es soll sich entscheiden, ob der Verband noch ferner in dem jetzigen prinzip- und planlosen Arbeiten beharren oder nach festen Grundsätzen und bestimmter Richtung wirken soll.

Wir haben uns für das letztere entschieden und sind gesonnen, das Programm der Internationalen Arbeiterassoziation, wie es die erste Nummer des „Vorboten“ enthält, zur Annahme vorzuschlagen, respektive den Anschluß an die Internationale Arbeiterassoziation zu beantragen. Die Majorität für diesen Antrag ist bereits gesichert, der Erfolg also zweifellos. Wir glauben aber, daß es einen sehr guten Eindruck machen würde, wenn bei diesen Ihr Interesse auf das lebhafteste in Anspruch nehmenden Verhandlungen die Internationale Arbeiterassoziation durch einen Deputierten vertreten wäre, und beehren uns deshalb, an Sie den Wunsch und die dringende Einladung auszusprechen, zum Vereinstag in Nürnberg einen oder mehrere Deputierte als Vertreter der Internationalen Arbeiterassoziation zu entsenden.

Wir geben uns der angenehmen Hoffnung hin, daß Sie unsere Bitte erfüllen und uns bald geneigte Antwort zukommen lassen werden. Einer freundlichen Aufnahme können Ihre Herren Deputierte sich versichert halten.

Mit Gruß und Handschlag

Der Vorort des Verbandes Deutscher Arbeitervereine. Aug. Bebel,
Vorsitzender.

Leipzig, den 23. Juli 1868.

[8] Viel später erklärte auch Bismarck, daß kleine Pensionen auch für den Arbeiter das beste Mittel seien, ihn für die bestehende Staatsordnung günstig zu stimmen, daher der Gedanke der Invaliden- und Altersversicherung.

Die Gewerkschaftsbewegung.

Ich beschäftige mich mit der Gewerkschaftsbewegung nur insoweit, als ich glaube, mich zu ihren Geburtshelfern zählen zu dürfen. Man könnte das Jahr 1868 das Geburtsjahr der deutschen Gewerkschaften nennen, aber nur mit Einschränkung. Ich habe schon oben mitgeteilt, daß das Prosperitätsjahr 1865 eine große Anzahl Arbeitseinstellungen in den verschiedensten Städten sah, die zu einem guten Teil versagten, weil die Arbeiter nicht organisiert waren und keine Fonds besaßen. Daß beides notwendig vorhanden sein müsse, darauf wurden sie jetzt sozusagen mit der Nase gestoßen. Es wurden nunmehr eine Menge zumeist lokaler Fachvereine gebildet, aber daß diese auch nicht genügten, erkannte man sehr bald. Wie zu Weihnachten 1865 auf Fritzsches Anregung der Allgemeine Deutsche Zigarrenarbeiterverein gegründet wurde, so folgten im Jahre 1866 die Buchdrucker, die von vornherein sich den politischen Arbeiterparteien gegenüber streng neutral verhielten, was indes Richard Härtel im Oktober 1873 nicht abhielt, in einer Versammlung der Berliner Buchdrucker zu erklären: In seiner Eigenschaft als Verbandspräsident halte er es für das beste, sich formell keiner Partei anzuschließen, „im Geiste gehören wir jedoch der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Eisenacher Programms an“. Streng genommen konnte er das nicht für alle Buchdrucker erklären, viele gehörten auch dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein an. Weiter bestand schon vor 1868 der Goldarbeiterverband mit einem eigenen Organ und der Allgemeine Deutsche Schneiderverein. Im großen und ganzen war von den Führern der politischen Bewegung bis dahin für die Organisation von Gewerkschaften sehr wenig geschehen. Es war hauptsächlich Liebknecht, der durch seine Vorträge im Leipziger Arbeiterbildungsverein und in Leipziger und auswärtigen Volksversammlungen über den englischen Trades Unionismus für gewerkschaftliche Organisation Verständnis schaffte. Im Mai 1868 hatten wir auch bereits im Vorortsvorstand die Gründung von Gewerkschaften erörtert, aber die Menge der laufenden Arbeiten und vor allen Dingen die Notwendigkeit, erst einmal im Verband durch ein Programm Klarheit zu schaffen, verhinderten, daß wir uns sofort mit der Ausführung des Planes beschäftigten. Im Sommer 1868 war Max Hirsch nach England gereist zwecks Studien über die dortigen Trades Unions, worüber er in der Berliner „Volkszeitung“ berichtete. Dieses mochte Schweitzer und Fritzsche veranlassen, Hirsch, der durch die Gründung von Gewerkvereinen die Arbeiter an die Fortschrittspartei zu fesseln hoffte, zuvorzukommen. Beide schritten jetzt rasch zur Tat, wie ich glaube annehmen zu sollen, auf Anregung Fritzsches, der die Bedeutung der Gewerkschaften voll erkannte, aber auch die Organisation der neuen Gründung wohl anders gestaltet haben würde, hätte er Schweitzer gegenüber freie Hand gehabt. Die Braunschweiger Mitglieder beantragten durch Fritzsche, der den Antrag im Einverständnis mit Schweitzer angeregt hatte und auch Brackes Zustimmung fand, auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu Hamburg am 25. August 1868:

Die Generalversammlung erklärt: 1. Die Streiks sind kein Mittel, die Grundlagen der heutigen Produktion zu ändern und somit die Lage der Arbeiterklasse durchgreifend zu verbessern; allein sie sind ein Mittel, das Klassenbewußtsein der Arbeiter zu fördern, die Polizeibevormundung zu durchbrechen und unter Voraussetzung richtiger Organisation einzelne Mißstände drückender Art, wie zum Beispiel übermäßig lange Arbeitszeit, Kinderarbeit und dergleichen, aus der heutigen Gesellschaft zu entfernen. 2. Die Generalversammlung beauftragt den Vereinspräsidenten, einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß zur Begründung von allgemeinen Gewerkschaften zu berufen, die in diesem Sinne wirken.

Der erste Teil der Resolution wurde angenommen, der zweite abgelehnt. Dagegen beschloß, wie bekannt, wenige Tage nachher der Arbeitervereinstag zu Nürnberg ohne große Debatte, den Vorort mit der Gründung von Gewerkschaften zu beauftragen. Das war die gegenteilige Auffassung von jener, die bei der Mehrheit im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein herrschte. Nach jener Abstimmung in Hamburg erklärten Schweitzer und Fritzsche, sie würden als Reichstagsabgeordnete einen Arbeiterkongreß für Gründung von Gewerkschaften einberufen. Als aber auch hiergegen Opposition laut wurde, drohte Schweitzer, daß, wenn man ihm dieses verbiete, er sofort sein Amt niederlegen und aus dem Verein ausscheiden würde. Diese Drohung hatte die gewünschte Wirkung. Der Kongreß fand denn auch am 27. September und folgende Tage in Berlin statt. Es waren nicht weniger als 206 Delegierte anwesend, die meist in Arbeiterversammlungen gewählt worden waren und 140000 Arbeiter vertraten. Bemerkenswert sind folgende Aeußerungen Schweitzers aus der Rede, mit der er den Kongreß eröffnete:

„England ist weitaus das kapitalreichste Land der Erde, und wenn dennoch die ausländische Industrie über die englische Herr geworden ist, so ist das geschehen, weil die englischen Arbeiter den dortigen Kapitalisten so viel Schwierigkeiten machten. Dasselbe kann in Deutschland geschehen, und leichter. Die deutschen Arbeiter können geradezu die deutsche Industrie ruinieren, wenn sie wollen, und sie haben kein Interesse daran, sie zu halten, solange ihnen diese den erbärmlichsten Lohn zukommen läßt…. Die Arbeiter können, wenn sie fest organisiert sind, die deutsche Industrie konkurrenzunfähig machen, und wenn die Herren Kapitalisten das nicht wollen, so mögen sie höhere Arbeitslöhne zahlen.“ Geschickt war diese Begründung nicht, aber vielleicht sollte sie es nicht sein.

Der Kongreß gründete sogenannte Arbeiterschaften, die unter einer
Zentralleitung standen, die Schweitzer, Fritzsche und Karl
Klein-Elberfeld, Präsident und zwei Vizepräsidenten, bildeten. Die
Organisationsform war nicht besonders glücklich gewählt und nur
Schweitzer zu danken, der unter keinen Umständen auch nur einem Teile
der Bewegung, auf den er Einfluß hatte, Unabhängigkeit einräumen wollte.

Schweitzer hatte, da es ihm sehr darum zu tun war, von Marx eine
günstige Antwort für sein Unternehmen zu bekommen, diesem am 13.
September einen Brief geschrieben und seinen Statutenentwurf beigefügt.
Marx, der den Brief mißverstanden hatte, gab erst auf einen zweiten
Brief Schweitzers eine Antwort, in der die auf die Schweitzersche
Organisation bezüglichen Stellen lauten:

* * * * *

„Was den Berliner Kongreß betrifft, so war d'abord (zunächst) die Zeit nicht drängend, da das Koalitionsgesetz noch nicht votiert ist. Sie mußten sich also mit den Führern außerhalb des Lassalleschen Kreises verständigen, gemeinsam mit ihnen den Plan ausarbeiten und den Kongreß berufen. Statt dessen ließen Sie nur die Alternative, sich Ihnen anzuschließen oder Front gegen Sie zu machen. Der Kongreß erschien selbst nur als erweiterte Auflage des Hamburger Kongresses (der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins). Was den Statutenentwurf betrifft, so halte ich ihn für prinzipiell verfehlt, und ich glaube so viel Erfahrung als irgend ein Zeitgenosse auf dem Gebiet der Trades Unions zu haben. Ohne hier weiter auf Details einzugehen, bemerke ich nur, daß die Organisation, so sehr sie für geheime Gesellschaften und Sektenbewegungen taugt, dem Wesen der Trades Unions widerspricht. Wäre sie möglich — ich erkläre sie tout bonnement (aufrichtig gestanden) für unmöglich —, so wäre sie nicht wünschenswert, am wenigsten in Deutschland. Hier, wo der Arbeiter von Kindesbeinen an bureaukratisch gemaßregelt wird und an die Autorität, an die vorgesetzte Behörde glaubt, gilt es vor allem, ihn selbständig gehen zu lehren.

Ihr Plan ist auch sonst unpraktisch. Im Verband drei unabhängige Mächte verschiedenen Ursprungs: 1. der Ausschuß, gewählt von den Gewerken; 2. der Präsident — eine ganz überflüssige Person —, gewählt durch allgemeines Stimmrecht;[9] 3. Kongreß, gewählt durch die Lokalitäten. Also überall Kollisionen, und das soll rasche Aktion befördern. Lassalle beging großen Mißgriff, als er den élu du suffrage universel (den Gewählten des allgemeinen Stimmrechts) der französischen Konstitution von 1852 entlehnte. Nun gar in einer Trades Unionsbewegung! Diese dreht sich großenteils um Geldfragen, und Sie werden bald entdecken, daß hier alles Diktatorentum aufhört.

Indes, welches immer die Fehler der Organisation, sie können vielleicht durch rationelle Praxis mehr oder minder ausgemerzt werden. Ich bin bereit, als Sekretär der Internationale den Vermittler zwischen Ihnen und der Nürnberger Majorität, die sich direkt der Internationale angeschlossen hat, zu spielen — auf rationeller Grundlage versteht sich. Ich habe deshalb nach Leipzig geschrieben. Ich verkenne die Schwierigkeiten Ihrer Stellung nicht und vergesse nie, daß jeder von uns mehr von den Umständen als seinem Willen abhängt.

Ich verspreche Ihnen unter allen Umständen die Unparteilichkeit, die meine Pflicht ist. Andererseits kann ich aber nicht versprechen, daß ich eines Tages als Privatschriftsteller — sobald ich es für absolut durch das Interesse der Arbeiterbewegung diktiert halte — offene Kritik an dem Lassalleschen Aberglauben üben werde, wie ich es seinerzeit an dem Proudhonschen getan habe.

Indem ich Sie persönlich meines besten Willens für Sie versichere

Ihr ergebener K. Marx.“

Die geschaffene Organisation paßte aber Schweitzer nicht lange. Wie vorauszusehen war, machten sich bald gewisse Selbständigkeitsbestrebungen in den Arbeiterfragen bemerkbar. Diesen trat Schweitzer im „Sozialdemokrat“ vom 15. September 1869 entschieden entgegen: man strebe den Arbeiterschaftsverband vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zu trennen und unter eine selbständige Leitung zu stellen; davor warne er. Drei Monate später ging er weiter. In Nr. 152 des „Sozialdemokrat“ kündigte er unter dem 29. Dezember an, daß von den verschiedensten Seiten Wünsche laut geworden seien, die verschiedenen Gewerkschaften in eine einzige allgemeine Gewerkschaft zu verschmelzen. Er habe dementsprechend einen Entwurf ausgearbeitet, den er in derselben Nummer veröffentlichte. Vorher schon hatte Fritzsche sich vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und vom Arbeiterschaftsverband losgesagt und sein Amt als erster Vizepräsident niedergelegt. Ebenso hatten sich von Schweitzer losgesagt Louis Schumann, Präsident des Allgemeinen Deutschen Schuhmachervereins, Bork, Präsident des Allgemeinen Deutschen Holzarbeitervereins, und Schob, Präsident des Allgemeinen Deutschen Schneidervereins.

Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, die Anfang Januar 1870 in Berlin tagte, kam Schweitzers Wunsch entgegen und beschloß, daß die Gewerkschaften bis zum 1. Juli zu verschmelzen seien und ein neuer Verein gegründet werden solle unter dem Namen Allgemeiner Deutscher Gewerkverein. Unmittelbar hinter der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins fand die des Allgemeinen Deutschen Arbeiterschaftsverbandes statt. Die Mehrzahl der Delegierten erklärte sich ebenfalls für Schweitzers Vorschlag. Lübkert, Präsident des Allgemeinen Deutschen Zimmerervereins, meinte, die Gewerkschaften seien doch im Grunde nichts weiter als eine Vorschule für die politische Heranziehung der Arbeiter. Zilowsky war ebenfalls für die Verschmelzung, damit werde der Präsidentenkitzel aus der Welt geschafft, der zumeist an der Zersplitterung in viele Gewerkschaften schuld sei. Hartmann, Schallmeyer und Vater aus Hamburg sprachen ebenfalls für die Verschmelzung, aus ähnlichen Gründen wie die der vorhergehenden Redner.

Für die Verschmelzung stimmten Delegierte, die 12500 Stimmen, gegen solche, die 9000 Stimmen hinter sich hatten. Obgleich damit die statutenmäßige Zweidrittelmehrheit für die Auflösung des Verbandes nicht vorhanden war, wurde dennoch beschlossen, einen neuen Verein, der den Namen Allgemeiner Deutscher Arbeiterunterstützungsverband erhalten sollte, am 1. Juli an Stelle der Arbeiterschaften ins Leben treten zu lassen.

Diesem Beschluß wurde von einer Anzahl Arbeiterschaften keine Folge geleistet. Immerhin blieb die Gegnerschaft gegen die gewerkschaftlichen Organisationen unter einem Teil der einflußreichsten Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bestehen, so daß sogar noch 1872 auf dessen Generalversammlung Tölcke den Antrag stellte: Die Versammlung solle beschließen, alle innerhalb der Partei neben dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein bestehenden Verbindungen, namentlich der Allgemeine Deutsche Arbeiterunterstützungsverband, der Berliner Arbeiterbund, der Allgemeine Deutsche Maurerverein, der Allgemeine Deutsche Zimmererverein und sämtliche zu denselben gehörende Mitgliedschaften seien aufzulösen, ihre Bestände dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein einzuverleiben und sollten deren Mitglieder dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein beitreten. Sein Antrag konnte aber nicht angenommen werden, weil die Generalversammlung keine Macht hatte, außerhalb des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bestehende Organisationen aufzulösen.

Wie aber auch noch andere Führer als Tölcke dachten, zeigen zum Beispiel die Aeußerungen von Hasenclever: „Wenn der Bund (Berliner Arbeiterbund) seinen Zweck erfüllt hat, dann werden wir schon von selbst dafür sorgen, daß er wieder verschwindet.“ Hasselmann äußerte: „Wir haben nur deshalb den Bund gegründet, um diese Gewerke zu uns herüberzuziehen, was uns auch ganz gut gelungen ist. Wir haben also mit dem Bunde nichts Besonderes schaffen wollen, er war nur ein Mittel zum Zweck.“ Aehnlich sprachen Grottkau und andere. Schließlich wurde noch folgender Antrag angenommen: „Die Generalversammlung möge den Wunsch aussprechen, daß sobald wie möglich die innerhalb unserer Partei bestehenden gewerkschaftlichen Verbindungen aufgelöst und die Mitglieder dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zugeführt werden. Es ist Pflicht der Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, in diesem Sinne zu wirken.“

Kann man Mende trauen — und seine Angabe ist meines Wissens unwidersprochen geblieben —, so hatte auch Schweitzer gegenüber Mende und der Gräfin Hatzfeldt bei ihrem im Frühjahr 1869 abgeschlossenen Pakt — ich komme später darauf — versprochen, die Gewerkschaftsorganisation als im Widerspruch mit Lassalles Ansichten stehend mehr und mehr in den Hintergrund treten zu lassen. Später änderten sich die Ansichten im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zugunsten der Gewerkschaften.

* * * * *

Der dem Vorort Leipzig vom Nürnberger Vereinstag zugeteilten
Aufgabe kamen wir nach und entwarfen ein Normalstatut für
Gewerksgenossenschaften, dessen Verfasserschaft mir zufiel.
Sobald dasselbe fertiggestellt war, ging es in Massen an die
Organisationen mit der Aufforderung, für die Gründung internationaler
Gewerksgenossenschaften — welchen Titel wir gewählt hatten — tätig zu
sein. Ich selbst legte Hand mit an. Der Titel ging eigentlich etwas
weit, denn wir konnten doch nur darauf rechnen, die Deutsch sprechenden
Länder in die Organisation zu ziehen. In der Hauptsache sollte mit dem
Namen die Tendenz ausgedrückt werden. Es kamen denn auch eine
Anzahl solcher Organisationen zustande, so die Internationale
Gewerksgenossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter, der
Maurer und Zimmerer, der Metallarbeiter, der Holzarbeiter, der
Schneider, Kürschner und Kappenmacher, der Schuhmacher, der Buchbinder,
der Berg- und Hüttenarbeiter.

Es war klar, daß, wenn schon die politische Bewegung unter der Spaltung litt, die Gewerkschaftsbewegung in noch viel höherem Maße darunter leiden mußte. Das bekam Fritzsche im folgenden Jahre am eigenen Leibe zu spüren, in dem infolge der heftigen Parteikämpfe die Mitgliedschaft seines Verbandes von ungefähr 9000 Mitgliedern auf etwas über 2000 sank. Allerdings war an diesem Sturze teilweise der Bankrott der Berliner und der Leipziger Produktivgenossenschaften der Tabakarbeiter schuld, die nach einem verlorenen Streik gegründet worden waren.

Wir in Leipzig suchten den Zerwürfnissen in der Gewerkschaftsbewegung möglichst vorzubeugen. Wir beriefen Ende Oktober 1868 im Verein mit Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins eine stark besuchte Arbeiterversammlung mit der Tagesordnung ein: Die Gewerksgenossenschaften, in der Liebknecht referierte und folgende Resolution empfahl:

„In Erwägung, daß die Gründung von Gewerksgenossenschaften nach dem
Muster der englischen Trades Unions behufs Organisierung der
Arbeiterklasse zur Wahrung und Förderung ihrer Interessen und zur
Stärkung ihres Klassenbewußtseins notwendig ist;

in Erwägung ferner, daß durch die Beschlüsse der verschiedenen Arbeiterkongresse bereits die Anregung gegeben und der Anfang zur Gründung von Gewerksgenossenschaften gemacht worden ist, beschließt die heutige Arbeiterversammlung, energisch vorzugehen zur Bildung solcher Genossenschaften, und beauftragt ein zu diesem Zwecke zu wählendes Komitee, die dazu nötigen Schritte zu tun und namentlich mit den Verwaltungen der Arbeiterkassen usw. in Verbindung zu treten.“

Es wurde alsdann ein Komitee gewählt, in dem vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein unter anderen Seyferth und Taute neben Liebknecht und mir saßen. Das Komitee lud Angehörige aller Gewerke ein, um mit diesen die Organisation von Gewerkschaften zu besprechen. Diese Zusammenkunft fand unter meinem Vorsitz statt und wurde folgende von Liebknecht und mir verfaßte Resolution einstimmig angenommen:

„Die Versammlung beschließt: Die von der Mehrheit des Nürnberger Arbeitervereinstags und der Mehrheit des Berliner Arbeiterkongresses gegründeten respektive zu gründenden Gewerksgenossenschaften haben darauf hinzuwirken:

1. daß von beiden Seiten nach gegenseitiger Verabredung eine gemeinschaftliche Generalversammlung zum Behuf der Einigung und Verschmelzung berufen werde;

2. daß, bis eine Einigung und Verschmelzung zustande kommt, die beiderseitigen Gewerksgenossenschaften in ein Vertragsverhältnis zueinander treten, sich namentlich mit ihren Kassen gegenseitig unterstützen und womöglich einen gemeinsamen provisorischen Ausschuß wählen;

3. daß beide Teile unter allen Umständen jede Gemeinschaft mit den
Hirsch-Dunckerschen Gewerksgenossenschaften zurückweisen, die, von
Feinden der Arbeiter gestiftet, keinen anderen Zweck haben, als die
Organisation der Arbeiter zu hintertreiben und die Arbeiter zu
Werkzeugen der Bourgeoisie herabzuwürdigen.“

Dieses Verlangen fand auf der anderen Seite kein Entgegenkommen. In Nr. 141 des „Sozialdemokrat“ vom 2. Dezember 1868 veröffentlichte Schweitzer eine Resolution, wonach das Präsidium und der Zentralausschuß des Allgemeinen Deutschen Arbeiterschaftsverbandes unsere Anträge zurückgewiesen hatten und aufforderten, „jedem Versuch, die Bewegung zugunsten der persönlichen Zwecke einzelner zu zersplittern, mit allem Nachdruck entgegenzuarbeiten“.

Damit war der Versuch, zu einer Verständigung zu gelangen, bis auf weiteres hinfällig geworden.

Die Gewerkschaftsfrage kam unsererseits wieder auf dem Eisenacher Kongreß im August 1869 zur Erörterung. Man mißbilligte namentlich, daß die Aufnahme von Mitgliedern von einem politischen Glaubensbekenntnis abhängig gemacht würde, wie das von Schweitzer verlangt wurde. Greulich sprach sich für eine internationale Organisation aus, es gelte die Massen in die Gewerkschaften zu bringen. Vor diesen habe der Kapitalist Angst, nicht vor unseren paar elenden Pfennigen. Zuletzt wurde auf Antrag Yorks eine Resolution zugunsten der Einigung der Gewerkschaften angenommen. Ein Antrag Mottelers, der verlangte, daß die Gewerkschaften den Abschluß von Rückversicherungen (Kartellen) betreiben sollen, fand ebenfalls Zustimmung. Auf dem Parteikongreß zu Stuttgart — Juni 1870 — stand abermals die Gewerkschaftsfrage auf der Tagesordnung. Die Verhandlungen bewegten sich im alten Geleise. Die Frage der Einigung spielte wieder die Hauptrolle. Von 1871 ab begannen die Gewerkschaften unter der Gunst der Prosperitätsepoche sich besser zu entwickeln und traten selbständiger auf. Die Prosperitätsepoche, die bis zu Beginn des Jahres 1874 währte, hatte eine ungezählte Zahl Arbeitseinstellungen in allen Branchen im Gefolge. Diese Erscheinung veranlaßte schon Ende Mai 1871 den sozialdemokratischen Arbeiterverein in Leipzig nach längerer Diskussion, folgende Resolutionen zu beschließen und zu veröffentlichen:

„1. Daß Arbeitseinstellungen nur eines der Palliativmittel sind, die für die Dauer nicht helfen; 2. daß das Ziel der Sozialdemokratie nicht bloß dahin geht, innerhalb der heutigen Produktionsweise höhere Löhne zu erstreben, sondern die kapitalistische Produktionsweise überhaupt abzuschaffen; 3. daß bei der heutigen bürgerlichen Produktionsweise die Höhe der Löhne sich nach Angebot und Nachfrage richtet und auch durch die erfolgreichsten Streiks über diese Höhe nicht dauernd emporgehoben werden können; 4. daß in letzter Zeit mehrere Streiks nachweisbar von den Fabrikanten veranstaltet worden sind, um einen plausiblen Grund für die Erhöhung der Warenpreise während der Messe zu haben, und daß solche Streiks nicht den Arbeitern, sondern nur den Fabrikanten zugute kommen, die den Preis der Waren ungleich mehr erhöhen als den Arbeitslohn; 5. daß verunglückte Streiks die Fabrikanten ermutigen und die Arbeiter entmutigen — also unserer Partei doppelten Schaden verursachen; 6. daß die großen Fabrikanten sogar bisweilen einen Extravorteil von den Streiks haben, indem sie, während die kleinen Fabrikanten nicht arbeiten lasen, ihre Vorräte mit erhöhtem Gewinn absetzen; 7. daß unsere Partei augenblicklich nicht imstande ist, so viele Streiks materiell zu unterstützen.

Aus allen diesen Gründen wird den Parteigenossen dringend empfohlen, einen Streik nur dann zu beginnen, wenn eine gebieterische Notwendigkeit vorliegt und man über die dazu erforderlichen Mittel verfügen kann; ferner: nicht so planlos zu verfahren wie bisher, sondern nach einem ganz Deutschland umfassenden Organisationsplan. Als bester Weg, Geldmittel und Organisation zu beschaffen, wird die Gründung und Pflege der Gewerksgenossenschaften empfohlen.“

In Wien erging sich das Zentralorgan der österreichischen
Parteigenossen, der „Volkswille“, in ähnlichen Betrachtungen und
Ratschlägen, da auch dort das Streikfieber immer mehr um sich griff. Die
Ratschläge waren gut, aber befolgt wurden sie in den seltensten Fällen.
Immerhin nahmen in jenen Jahren die Gewerkschaften eine erfreuliche
Entwicklung.

Mitte Juni 1872 trat in Erfurt ein Gewerkschaftskongreß zusammen, auf dem namentlich die Frage nach einer zentralen Leitung für die Gewerkschaften (Union) und die Gründung eines besonderen Gewerkschaftsorgans erörtert wurde. In einem Artikel, den ich am 8. Juni im „Volksstaat“ veröffentlichte, entwickelte ich mein Programm für den Kongreß und verbreitete mich über die nach meiner Ansicht beste Art einer Verbindung der Gewerkschaften unter sich. Ich führte unter anderem aus: Es ließe sich nicht leugnen, daß die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland noch ziemlich im argen liege. Schuld sei die Spaltung der Arbeiter in verschiedene Fraktionen, die sich aufs bitterste bekämpften. Sei es schon schlimm, wenn sich die Arbeiter in verschiedenen sozialpolitischen Organisationen gegenüberstünden, so sei es erst recht schlimm, wenn die Arbeiter der einzelnen Gewerke in jeder Fabrik, ja in jeder Werkstätte sich gespalten gegenüberstünden. Und zwar nicht wegen des Prinzips, sondern wegen der Organisationsform, die doch veränderlich sei und sich den Verhältnissen anpassen müsse. Das sei der Fluch, unter dem die Bewegung leide. Traurig sei auch, daß die Massen sich von gewissenlosen Menschen fanatisieren ließen, was beweise, daß ein Teil der Arbeiter an Beschränktheit leide. Man spöttele über die Verknöcherung des Christentums, das aber doch immerhin achtzehn Jahrhunderte hinter sich habe, also ein Alter, das zum Verknöchern angetan sei. Aber die neuere soziale Bewegung sei erst zehn Jahre alt, und schon zeigten sich in ihr Verknöcherungssymptome. Diese würden zwar überwunden, aber vorläufig hinderten sie die Entwicklung…. In der Gewerksgenossenschaft beruhe die Zukunft der Arbeiterklasse; sie sei es, in der die Massen zum Klassenbewußtsein kämen, den Kampf mit der Kapitalmacht führen lernten und so, naturgemäß, die Arbeiter zu Sozialisten machten. Dann setzte ich ausführlich meine Organisationsvorschläge auseinander.

Auf dem Erfurter Gewerkschaftskongreß, auf dem sechs
Gewerkschaftsorganisationen, die der Manufaktur- und Fabrikarbeiter, der
Metallarbeiter, der Holzarbeiter, der Schneider, der Schuhmacher, der
Maurer und verschiedene Fachvereine vertreten waren, wurde eine
Gewerkschaftsunion und die Herausgabe eines Gewerkschaftsorgans, „Die
Union“, beschlossen. Auf Antrag Yorks wurde folgende Resolution
einstimmig angenommen:

„In Erwägung, daß die Kapitalmacht alle Arbeiter, gleichviel, ob sie konservativ, fortschrittlich, liberal oder Sozialdemokraten sind, gleich sehr bedrückt und ausbeutet, erklärt der Kongreß es für die heiligste Pflicht der Arbeiter, allen Parteihader beiseite zu setzen, um auf dem neutralen Boden einer einheitlichen Gewerkschaftsorganisation die Vorbedingung eines erfolgreichen kräftigen Widerstandes zu schaffen, die bedrohte Existenz sicherzustellen und eine Verbesserung ihrer Klassenlage zu erkämpfen. Insbesondere aber haben die verschiedenen Fraktionen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei die Gewerkschaftsbewegung nach Kräften zu fördern, und spricht der Kongreß sein Bedauern darüber aus, daß die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (in Berlin) einen gegenteiligen Beschluß gefaßt hat.“

Als ich nach langer Festungs- und Gefängnishaft im Frühjahr 1875 wieder frei war, machte mir August Geib den Vorschlag, an Stelle des braven York, der leider in der Neujahrsnacht auf 1875 gestorben war, die Redaktion des Zentral-Gewerkschaftsblattes „Die Union“ zu übernehmen. Er stellte 50 Taler monatliches Gehalt in Aussicht. Partei und Gewerkschaften waren mittlerweile finanziell stärker geworden. Geib meinte, ich könne die Redaktion ganz gut neben meinem Geschäft übernehmen. Ich lehnte ab. Ich konnte unmöglich neben meinem Geschäft und meiner Tätigkeit für die Partei auch noch dauernd gewerkschaftlich tätig sein.

Mittlerweile hatte die preußische Regierung sowohl gegen die sozialdemokratischen Parteien wie gegen die Gewerkschaften die Verfolgungen aufgenommen. Der Staatsanwalt Tessendorf, der sich auf diesem Gebiet schon in Magdeburg die Sporen verdient hatte, war 1874 nach Berlin berufen worden, um hier auf größerer Stufenleiter die Verfolgung fortzusetzen. Tessendorf entsprach den in ihn gesetzten Erwartungen. Er erreichte durch seine Anklagen nicht nur die Unterdrückung der Parteiorganisationen, auch verschiedene Gewerkschaften fielen diesen zum Opfer. Dann kam das Attentatsjahr 1878 mit dem Sozialistengesetz, und nun wurde mit einem Schlage zerstört, was in mehr als zehnjähriger Arbeit unter unendlichen Opfern an Zeit, Geld, Kraft und Gesundheit geschaffen worden war.

FUSSNOTEN:

[9] Hier machte Marx folgende Zwischenbemerkung: „In den Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation figuriert auch ein Präsident der Assoziation. Er hatte jedoch in Wirklichkeit nie eine andere Funktion, als den Sitzungen des Generalrats zu präsidieren. Auf meinen Vorschlag schaffte man 1867 die Würde, die ich 1866 ausschlug, ganz ab und ersetzte sie durch einen Vorsitzenden, der in jeder Wochensitzung des Generalrats gewählt wird. Der Londoner Trades Council hat ebenfalls nur einen Vorsitzenden. Sein stehender Beamter ist nur der Sekretär, weil dieser eine kontinuierliche Geschäftsfunktion verrichtet.“

So der „Diktator“ der Internationale. Ich muß meinerseits konstatieren, daß Marx und Engels auch in ihrem Briefwechsel mit mir sich nie anders denn als Ratgebende gezeigt haben, und ihr Rat wurde in mehreren sehr wichtigen Fällen nicht befolgt, weil ich mir aus der Lage der Dinge heraus die bessere Einsicht zuschrieb. Ernste Differenzen habe ich trotzdem nie mit ihnen gehabt.

A.B.

Meine erste Verurteilung.

Die Miß- und Günstlingswirtschaft, die unter der Regierung der Königin Isabella von Spanien eingerissen war, vereinigte die Oppositionsparteien zu einer gewaltsamen Erhebung, die die Flucht Isabellas — Ende September 1868 — zur Folge hatte. Die Unentschiedenheit, mit der die aus den Führern der Oppositionsparteien zusammengesetzte provisorische Regierung die Frage nach der neuen Staatsform behandelte, veranlaßte die Demokratie der verschiedenen Länder, in Resolutionen und Adressen dem spanischen Volke die Gründung der Republik zu empfehlen. Natürlich glaubten wir noch ein übriges tun zu müssen und den Spaniern die Gründung einer sozialdemokratischen Republik anraten zu sollen, wozu nicht weniger als alle Bedingungen fehlten. Von den mehr als sechzigtausend Mitgliedern, die nach Zeitungsnachrichten sich der Internationale angeschlossen haben sollten, standen wohl mehr als fünfzigtausend nicht einmal auf dem Papier, sie waren ein Produkt der Phantasie. Es war damals die Periode der Uebertreibungen, die namentlich der Internationale zugute kamen. Hörte man die bürgerlichen Zeitungen, so besaß die Internationale in Europa Millionen Mitglieder, und dementsprechend waren ihre Geldmittel ungeheure. Der gute Bürger geriet in Angst und Schrecken, las er in seiner Zeitung, der Kassierer der Internationale brauche nur den großen Geldschrank zu öffnen, um für jeden Streik Millionen zur Verfügung zu haben. Ich selbst war eines Abends Augen- und Ohrenzeuge, wie Prince Smith, der mir bei einer geselligen Zusammenkunft im Verein der Berliner Presse gegenübersaß, seinem Nachbar vertraulich erzählte: er habe heute einen Brief aus Brüssel erhalten, wonach der Generalrat der Internationale für den Streik der Kohlengräber in der Borinage (Belgien) zwei Millionen Franken zur Verfügung gestellt habe. Ich hatte Mühe, das Lachen zu unterdrücken. Der Generalrat wäre froh gewesen, wenn er zwei Millionen Centimes gleich zwanzigtausend Franken in der Kasse gehabt hätte. Der Generalrat hatte einen sehr großen moralischen Einfluß, aber Geld war immer seine schwächste Seite.

Diesen Uebertreibungen von der Macht der Internationale fiel einige Jahre später nach dem Aufstand der Kommune auch Bismarck zum Opfer. Er wollte eine internationale Konferenz zur Bekämpfung der Internationale veranstalten, wobei ihm der österreichische Kanzler, Herr v. Beust, bereitwillig an die Hand ging, obwohl nach dessen eigenem Geständnis die Internationale für Oesterreich nicht in Betracht kam. Die Durchführung des schönen Planes durchkreuzte die englische Regierung. Und nicht bloß Bismarck, auch ein so gewandter Diplomat und Unterhändler wie Oberst v. Bernhardi ließ sich über die Internationale die größten Bären aufbinden. So teilt er in „Aus dem Leben Theodors v. Bernhardi“ den Bericht eines seiner Vertrauensleute mit, in dem es heißt:

„Vor allem werden die sozialistischen Wühlereien von London und Genf aus eifrig fortgesetzt, um ganz Europa zu revolutionieren, und zwar, um nicht bloß eine politische, sondern auch eine soziale Revolution hervorzurufen. Sie werden von den beiden Comités internationaux in London und in Genf geleitet. Das Komitee in London präsidiert Louis Blanc, das Komitee in Genf Philipp Becker. Die Revolution soll zuerst in Paris ausbrechen, und wenn sie dort siegreich ist, sich zunächst auf Italien und dann auf das südliche Deutschland ausdehnen, wo viel Zündstoff ist; sie soll dann aber auch das nördliche Deutschland erfassen, wo man ebenfalls zahlreiche Verbindungen hat, und überhaupt ganz Europa umgestalten. Zunächst ist man überall bemüht, das städtische Proletariat vermittels des Koalitionsrechts militärisch zu organisieren.“

Nach Bernhardi waren alle Hauptstädte Deutschlands bereits insurgiert.
Häupter der Bewegung seien namentlich Schweitzer und Bebel. Solcher
Unsinn wurde also von sehr ernst zu nehmenden Leuten verzapft.

Die erwähnte Adresse „An das spanische Volk“, die Liebknecht in einer Versammlung begründete und ich, als Vorsitzender der Versammlung, vorgelesen und zur Abstimmung gebracht hatte, führte uns vor den Kadi. Wir wurden schließlich jeder zu drei Wochen Gefängnis wegen Verbreitung staatsgefährlicher Lehren verurteilt, die wir gegen Ende 1869 — so lange hatte der Instanzenzug gedauert — im Leipziger Bezirksgerichtsgefängnis verbüßten.

Daß die spanische Revolution in ihrem weiteren Verlauf indirekt Anlaß zum Kriege zwischen Frankreich und Deutschland geben würde, ahnte damals niemand.

Vor Barmen-Elberfeld.

Die Kämpfe mit den Lassalleanern beider Linien wurden mit dem Jahre 1868 immer heftiger. Daran änderte auch nichts, daß wir für die Wahl Hasenclevers im Wahlkreis Duisburg — Herbst 1868 — eine Geldsammlung veranstalteten und die engere Wahl Yorks gegen den nationalliberalen Professor Planck — der später Hauptmitarbeiter am Bürgerlichen Gesetzbuch wurde, zu dem er einen Kommentar schrieb — im Wahlkreis Celle unterstützten. Beide Schritte sollten beweisen, daß wir einen Unterschied zwischen den Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und ihrem Präsidenten machten. Für Anfang März 1869 hatten wir einen allgemeinen sächsischen Arbeitertag nach Hohenstein-Ernstthal ausgeschrieben, mit der Tagesordnung: Reform des sächsischen Vereinsrechts und Wahlrechts. Die Einladung hatten auch die sächsischen Führer der beiden Richtungen der Lassalleaner unterzeichnet. Den Tag vor dem Arbeitertag sollte unsere Partei eine Landesversammlung abhalten, mit der Tagesordnung: die Gewerksgenossenschaften. Im Rate der Mende-Hatzfeldt war es anders beschlossen.

Als ich Sonntag früh von einer Versammlung aus Mittweida nach Hohenstein kam, sah ich, daß viele Arbeiter, die übernächtig und mit Schmutz bedeckt waren, auf den Bahnhof eilten. Ich erfuhr jetzt, daß diese, Anhänger der Mende-Hatzfeldt, den Abend zuvor 80 bis 100 Mann stark aus Chemnitz in das Versammlungslokal gedrungen seien, um die Landesversammlung zu sprengen. Es war zu einem großen Tumult und schließlich zu Gewalttätigkeiten gekommen, worauf der Bürgermeister die Feuerwehr requiriert hatte, weil die Polizei sich als machtlos erwies, die Ruhe herzustellen. Vahlteich war verhaftet worden, weil er einen Stockdegen gezogen hatte. Nach wenigen Tagen kam er wieder frei. Die furchtbare Erregung, die diese Vorgänge in der ganzen Bevölkerung hervorriefen, hatten weiter dazu geführt, daß man die Landesversammlung absagte, was ich für einen Fehler hielt. Von verschiedenen Seiten wurde mir gratuliert, daß ich bei jenem Tumult nicht zugegen gewesen sei; die Tumultuanten hätten besonders nach mir verlangt und mich niederzuschlagen gedroht.

Sechs Monate später — der Eisenacher Kongreß war vorüber — hielt ich in Chemnitz mit durchschlagendem Erfolg eine Riesenversammlung ab. Nach der Versammlung kamen eine Anzahl Arbeiter zu mir, die sich an jenem Tumult in Hohenstein beteiligt hatten, und baten mich um Verzeihung; sie begriffen selbst nicht mehr, wie sie damals der Verhetzung hätten Folge leisten können.

Liebknechts und mein Wunsch war lange, mit J.B.v. Schweitzer eine persönliche Begegnung und Auseinandersetzung zu haben. Der Wunsch wurde rascher erfüllt, als wir hofften. Am 14. Februar beschloß eine von den Lassalleanern einberufene Versammlung in Leipzig, in der weder Liebknecht noch ich zugegen waren, Schweitzer und Liebknecht einzuladen, sich in einer öffentlichen Versammlung gegenüberzutreten und gegenseitig ihre Anschuldigungen vorzubringen. Liebknecht erklärte sofort im „Demokratischen Wochenblatt“, daß er diesen Beschluß mit Freuden annehme und bereit sei, in einer Volksversammlung Schweitzer entgegenzutreten und zu beweisen, daß Schweitzer — sei es für Geld oder aus Neigung — seit Ende des Jahres 1864 systematisch die Organisation der Arbeiterpartei zu hintertreiben suchte und das Spiel des Bismarckschen Cäsarismus spiele. Sollte Schweitzer, wie er schon einmal getan, ihm ausweichen wollen, so sei er bereit — allein oder mit mir —, in Gegenwart von Schweitzers Bevollmächtigten und der Arbeiterschaftspräsidenten ihm entgegenzutreten, oder — allein oder mit mir — auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu erscheinen und seine Anklagen zu begründen. Weiter machte er den Vorschlag, den Generalrat der Internationale als Schiedsrichter zwischen Schweitzer und sich anzurufen.

Nachdem der „Sozialdemokrat“ festgestellt, daß Schweitzer auf der letzten Generalversammlung nahezu einstimmig zum Präsidenten gewählt worden sei, also das volle Vertrauen des Vereins besitze, erwiderte er: Nach der Organisation sei der Präsident über sein Tun und Lassen nur der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins verantwortlich. Schweitzer sei in Haft; seinen Entschließungen könne er, der „Sozialdemokrat“, nicht vorgreifen, er glaube aber versichern zu können, daß er jedem, also auch den Herren Liebknecht und Bebel, auf der Generalversammlung in Barmen-Elberfeld Rede und Antwort stehen werde. Liebknecht werde also beim Wort genommen. Auf ein Schiedsgericht in Sachen seines Präsidenten könne sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein nicht einlassen.

Wir waren von dieser Antwort, die offenbar Schweitzer selbst verfaßt hatte, sehr befriedigt. Bei dem Verlauf, den die Angelegenheit genommen, und bei dem Aufsehen, das sie in beiden Lagern gemacht hatte, konnte Schweitzer nicht ausweichen. Daß er sich für unsere Zulassung zur Generalversammlung entschied, war uns recht, obgleich wir, streng genommen, dorthin nicht gehörten, da wir nicht Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins waren. Offenbar nahm Schweitzer an, daß er inmitten der Delegierten zur Generalversammlung am ehesten Deckung finden würde und eine Verhandlung hinter verschlossenen Türen ihn am wenigsten kompromittiere.

Merkwürdigerweise erklärte der „Sozialdemokrat“ drei Tage später, Schweitzer werde sich uns nicht stellen, wir hätten kein Recht, auf der Generalversammlung zu erscheinen. In der nächsten Nummer des „Sozialdemokrat“ wurde aber diese Notiz widerrufen. Wir sollten kommen, Schweitzer werde sogar auf der Generalversammlung seinen Einfluß ausüben, daß wir zugelassen würden. In Barmen-Elberfeld las man's später anders.

Nachdem wir die offizielle Einladung zur Generalversammlung erhalten hatten, dampften wir ab. In Kassel stieg ein Herr in unser Abteil, den wir für einen Delegierten zur Generalversammlung hielten. Unsere Vermutung stellte sich als begründet heraus. In der Unterhaltung erfuhren wir, daß unser Reisegefährte Wilhelm Pfannkuch war, der gleich geahnt hatte, wer wir waren. Wir fuhren zusammen nach dem Wuppertal.

Die Vorgänge auf der Generalversammlung in Barmen-Elberfeld und was dann weiter folgte zu schildern, behalte ich mir vor für den nächsten Teil meiner Erinnerungen; vor allem sollen dann auch die Gründe dargelegt werden, die J.B.v. Schweitzer und uns zu Gegnern gemacht hatten.

Zum Schluß möchte ich noch bemerken, daß das Jahr 1869 für die deutsche Arbeiterbewegung von schwerwiegender Bedeutung geworden ist. Während desselben wurden, wenn auch erst nach heftigen Kämpfen und Beseitigung mancher Mißverständnisse, die Richtlinien festgelegt, die für die weitere Entwicklung sich als ausschlaggebend erwiesen. Der Eisenacher Kongreß, Anfang August, auf dem die sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands gegründet wurde, bildete den Höhepunkt in dieser Entwicklung. Auch politisch war die Situation eine gänzlich andere gegen wenige Jahre früher. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes war dem Schöpfer desselben, Bismarck, wie auf den Leib geschnitten, wobei natürlich die liberalen Forderungen, von demokratischen zu schweigen, sehr übel gefahren waren. Die Hoffnungen und Erwartungen, die nach dieser Richtung in den Kreisen der Liberalen vorhanden waren, erwiesen sich als eitel. Bismarck war nicht der Mann, der eine ihm günstige Situation ungenutzt vorübergehen ließ. Vorgänge, wie er sie in der Konfliktszeit erlebte, suchte er jetzt ein für allemal unmöglich zu machen. Und der größte Teil der Liberalen kam ihm darin entgegen. Es war ihnen vor ihrer eigenen Gottähnlichkeit, als Männer der starren Opposition, bange geworden. Das preußische Militärsystem wurde in Bausch und Bogen und unter entsprechender Erweiterung auf den Norddeutschen Bund übertragen. Für die Marine wurden die ersten Keime gelegt. Ministerverantwortlichkeit und Diäten für die Abgeordneten flogen ins alte Eisen. Bismarck war unumschränkter Beherrscher der inneren Situation.

Dafür, daß die liberale Bourgeoisie in allen wichtigen politischen Fragen Bismarck das weiteste Entgegenkommen zeigte, ein Entgegenkommen, das bis zur Entmannung ging, erlangte sie die volle Befriedigung ihrer wirtschaftlichen Forderungen, die nach ihrer Natur auch eine Anzahl Forderungen der Arbeiterklasse erfüllten. Freizügigkeit, Aufhebung der Paßbeschränkungen, Erleichterung der Eheschließung und Niederlassung, denen im Jahre 1869 der Entwurf einer Gewerbeordnung folgte, hatten mittlerweile Gesetzeskraft erlangt. Mit der Schaffung des Zollparlaments war unter Teilnahme der süddeutschen Staaten die Zoll-, Handels- und indirekte Steuergesetzgebung ebenfalls in den Kreis der parlamentarischen Beratungen gezogen. Damit war ein Tätigkeitsfeld eröffnet, das ich nach meinen Kräften beackern half. Wie und mit welchem Erfolg, soll mit Gegenstand der Darlegung im zweiten Teile werden.

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