The Project Gutenberg eBook of Auf Gottes Wegen

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Title: Auf Gottes Wegen

Author: Bjørnstjerne Bjørnson

Editor: Julius Elias

Release date: November 11, 2006 [eBook #19760]

Language: German

Credits: Produced by Ralph Janke, Juliet Sutherland and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUF GOTTES WEGEN ***


BJÖRNSTJERNE BJÖRNSON

AUF GOTTES WEGEN

ROMAN


S. FISCHER, VERLAG, BERLIN

1911


Alle Rechte vorbehalten


AUF GOTTES WEGEN

ROMAN


Inhaltsverzeichnis

Schultage

Jugend

Mannesalter


Meinem besten Freunde,

dem Staatsrat Frederik Hegel,

zur Erinnerung

Aulestad, 11. September 1889.

Nie warst Du hier; doch fast beständig
Auf Schritt und Tritt begegn' ich Dir.
Es ist kein Weg, kein Zimmer hier,
Wo Dein Gedächtnis nicht lebendig
Und mich umhegt seit jenen Jahren,
Da Deine Treue, Deine Tat
In meinem Kampf mir Heimat waren.
Wie oft, als ich dies Buch geschrieben,
Sah mir Dein warmes Auge zu;
Da waren eins wir, ich und Du
Und das, was still zum Licht getrieben.
Weil drum im Buch sich vielfach spiegelt
Dein frischer Glaub' und echter Sinn, —
Mit Deinem Namen sei's besiegelt.

Schultage

1

Im Tauwetter, auf der Felsenkuppe nach der See zu, stand im letzten Sonnenglanz ein vierzehnjähriger Junge, ganz in sich versunken. Er blickte gen Westen übers Meer hinaus, er blickte gen Osten, auf die Stadt, den Strand, die mächtigen Berge, hinter denen noch höhere Felsengipfel emporragten. Alles in klarer Luft.

Der Sturm hatte lange und furchtbarer gewütet, als die ältesten Leute sich entsinnen konnten. Trotz der neuen Mole hatten sich Schiffe im Hafen losgerissen und waren untergegangen. Der Telegraph meldete von Schiffbrüchen die Küste entlang; in der ganzen Umgegend gab es nichts als zerrissene Netze, fortgeschwemmte Fischreusen, verschwundene Bootstege. Und immer noch hatten die Leute Angst, das Schlimmste komme noch erst.

Jetzt endlich — seit ein paar Stunden — war es vorüber; der Sturm hatte sich gelegt, die Windstöße, die ruckweise aufeinander gefolgt waren, hörten auf; kaum noch ein letzter Nachhall war zu spüren.

Nur das Meer wollte nicht gehorchen. Die Tiefen aufrühren und dann einfach davonlaufen — das geht doch nicht! Wellenzüge, soweit das Auge reichte, höher als haushoch, kamen in endlosen Reihen, mit schaumweißen Kronen und donnerndem Fall. Über Stadt und Strand hin dröhnte ihr Tosen, gewaltig, dumpfrollend, wie Bergrutsche in der Ferne.

Jedesmal, wenn die Wogen in voller Höhe gegen die Klippen stürmten, spritzte der Gischt meterhoch empor; von weitem sah es aus, wie wenn weiße Meeresungeheuer der alten Sagen hier ans Land emporzuklimmen versuchten. Aber nur vereinzelte salzige Spritzer gelangten an ihr Ziel. Sie brannten dem Knaben, der da stand, auf der Wange; doch er rührte sich nicht vom Fleck.

Gewöhnlich sagten die Leute, nur der tollste Weststurm vermöchte den Wellenschaum so hoch emporzuschleudern; heute kam er bei stiller Luft. Das hatte nur einer erlebt; und das war der Junge!

Weit draußen im Westen verflossen Himmel und Meer in der Glut der untertauchenden Sonne. Etwas wie ein goldenes Friedensreich breitete sich da hinten aus. Alle die meerschwarzen, weißköpfigen Wellen, die sich, soweit der Blick reichte, von dort heranwälzten, waren vertriebene Aufrührer. Reihe auf Reihe kamen sie daher, unter millionenstimmigem Protest.

Eben jetzt hatte der Farbenkontrast seinen Höhepunkt erreicht. Keine Vermittelung mehr. Nicht der leiseste rote Schimmer drang mehr bis herüber. Dort die warme Glut, hier das kalte Schwarzblau über dem Meer und dem Schneemorast am Land. Was man hoch droben von der Stadt sah, kroch in sich zusammen und ward immer kleiner mit jedem Male. Der Junge wandte den Blick vom Meere landwärts. Und immer unruhiger wurde er. Das kündete Unheil. Sollte wirklich noch mehr kommen? Seine Phantasie war aufgeschreckt und, übernächtig wie er war, hatte er keine Widerstandskraft.

Draußen die Pracht begann zu erlöschen; alle Farben verblichen gleichzeitig. Das Brüllen von unten, wo die Ungeheuer heraufwollten, klang stärker; oder war er nur hellhöriger geworden? Galt ihm das? Ihm? Was hatte er denn wieder getan? Oder würde er vielleicht bald irgend etwas anstellen? Schon öfter war diese unklare Angst eine böse Vorbedeutung gewesen!

Nicht der Sturm allein hatte ihn geschreckt. Vor kurzem hatte ein Laienprediger geweissagt, die Welt werde untergehen. Alle Anzeichen der Bibel täten genau stimmen, und die Zahlen bei Jeremias und Daniel seien nicht mehr zu mißdeuten. Der Prediger erregte solches Aufsehen, daß die Zeitungen sich der Sache bemächtigten und erklären mußten, ganz dasselbe sei schon unendlich oft prophezeit worden, und die Zahlen bei Jeremias und Daniel hätten immer gestimmt. Aber als der Orkan losbrach, entsetzlicher denn seit Menschengedenken, als Schiffe sich losrissen und gegen die Brücken geschleudert wurden, zerschmettert und zerschmetternd, und zumal als die Finsternis der Nacht das Erdreich bedeckte, und sämtliche Lichter in den Laternen erloschen ... als man die Brandung bloß noch hörte, ohne sie mehr zu sehen ... dazwischen Kommandorufe, Getöse, Gekreische, langgedehntes Jammergeschrei ... und dabei in den Straßen das Entsetzen, wenn ganze Dächer abgehoben wurden, die Häuser erbebten, Scheiben klirrten, Steine durch die Luft flogen, Menschen flüchteten, ferne Rufe die Angst erhöhten ... ja, da gedachten wohl manche der Worte des Laienpredigers: So helf uns Gott! Dies ist der jüngste Tag! Bald werden die Sterne fallen! Besonders die Kinder waren in einer Todesangst. Die Eltern hatten keine Zeit, bei ihnen zu bleiben. Denn noch in der letzten Stunde war man einigermaßen im Zweifel, ob es auch wirklich die letzte Stunde war, und nach alter Gewohnheit behielt die Sorge um den irdischen Besitz doch die Oberhand. Man mußte verstecken und abschließen und eilen, und nach dem Feuer sehen und an allen Ecken und Enden sein. Den Kindern aber steckte man Gebet- und Gesangbücher in die Hände und hieß sie lesen, was da von Erdbeben und anderen Plagen und vom jüngsten Tage stand; man schlug ihnen rasch die Stellen auf und stürzte davon. Als ob die Kinder jetzt hätten lesen können!

Sie verkrochen sich lieber im Bett und zogen die Decke über den Kopf; manche nahmen den Hund mit oder die Katze; sie fühlten sich geborgener so; sie wollten zusammen sterben! Aber oft wollten Hund und Katze nicht unter der Decke sterben, und dann setzte es einen Kampf.

Der Junge, der oben auf der höchsten Felsenkuppe stand, war vor Schreck überhaupt rein von Sinnen gewesen. Aber er war einer von denen, die das Entsetzen von einem Ort zum anderen hetzte, vom Haus auf die Straße, von der Straße nach dem Hafen, vom Hafen wieder nach Hause. Nicht weniger als dreimal war sein Vater hinter ihm her gewesen, hatte ihn eingefangen, ja, sämtliche Türen hinter ihm verrammelt; aber entwischt war er doch. So etwas blieb doch sonst nicht unbestraft; kein Junge wurde strenger gehalten und so reichlich mit Prügel bedacht wie Edvard Kallem. Aber ein Gutes hatte der Sturm doch gehabt: Prügel setzte es nicht in dieser Nacht.

Die Nacht verging, und noch standen die Sterne am Himmel; der Tag kam, und die Sonne schien hell wie immer. Auch der Sturm ging vorüber, und mit ihm der letzte Rest von Angst.

Doch hat die Angst einmal ein Menschengemüt so grenzenlos beherrscht, da bleibt der Schrecken vor dem Schrecken zurück. Nicht allein in bösen Träumen, nein, auch am Tage, wenn man sich am allersichersten wähnt, lauert sie in unserer Phantasie, um beim geringsten Außergewöhnlichen über uns herzufallen, uns mit tückischen Augen und Nebelodem zu verschlingen, uns bisweilen in den Wahnsinn zu treiben ...

Da stand der Knabe; es war ihm unbehaglich zu Mut in der sinkenden Sonne und beim Toben der Brandung, — und da war auch schon die Höllenangst wieder über ihm; die Schrecken des jüngsten Tages umbrausten ihn. Er begriff nicht, wie er sich so gefährlich weit hier herauf hatte wagen können, und noch dazu allein! Wie gelähmt fühlte er sich; er wagte nicht, den Fuß zu heben — wer weiß, ob er nicht beobachtet wurde; Feindesmächte waren um ihn her. Er betete heimlich zu seiner verstorbenen Mutter: wenn das wirklich das Ende sei, und die Auferstehung sie befreie, so möge sie hier heraufkommen zu ihm; nicht zu seiner Schwester — die hatte ja Rektors; er aber hatte niemand.

Doch alles blieb beim alten. Nur der Schimmer im Westen verblich, und im Osten dunkelte es; der Geist der Kälte schritt unerbittlich weiter und wurde Alleinherrscher; das gab eine gleichmäßige Größe und die Sicherheit der Einheit. Nach und nach schöpfte Edvard wieder soviel Mut, daß er freier zu atmen wagte — erst versuchsweise, dann ganz tief, viele Male. Jetzt fing er an, sich zu bewegen, leise, unmerklich und nicht ohne Angst, daß die Unsichtbaren hier oben Verdacht schöpfen könnten, — denn sie wollten ihn doch haben. Behutsam glitt er dem Abstieg zu und fort vom Felshang. Keine Flucht, behüte! Er wußte gar nicht einmal, ob er überhaupt gehen wollte; er wollte es nur versuchen, — konnte ja schließlich zurückkommen. Aber der Abstieg hier war nicht leicht und mußte eigentlich vor Einbruch der Dunkelheit gemacht werden; und es wurde so furchtbar schnell dunkel jetzt. Wenn er nur so weit wäre, daß er den Fußweg, der vom Fischerdorf drunten über den Berg heraufführte, wieder erreicht hätte, ja, dann war alle Gefahr überstanden; aber hier — nur vorsichtig, vorsichtig, ein ganz kleinwinziger Schritt, und noch einer, und noch ein kleiner! Nur zum Versuch; er würde schon wiederkommen!

Doch kaum hatte er auf solche Art den obersten und schwierigsten Teil der Kuppe zurückgelegt und fühlte sich sicher vor den Mächten da oben, mit denen er feilschte, so schlug er ihnen auch gründlich ein Schnippchen; in großen Sätzen gings abwärts; wie ein Gummiball sprang er von einem Felsvorsprung auf den andern, bis er plötzlich unten eine Zipfelmütze auftauchen sah — so weit, weit unten, daß er sie nur eben erkennen konnte. Augenblicklich blieb er stehen. Seine Flucht, sein ganzes Entsetzen, all das eben Erlebte war wie weggeblasen; nicht der leiseste Gedanke mehr daran. Jetzt wollte er Angst einjagen; auf den dort hatte er schon die ganze Zeit gelauert! Bewegung, Augen, Haltung, alles zeigte, wie er sich über die Gewißheit freute, ihn nun bald in Schußweite zu haben. Der sollte es kriegen!

Der andere kam einhergeschlendert, ohne zu ahnen, welcher Gefahr er entgegenging, langsam, als ob er seine Freiheit und Einsamkeit genösse; bald hörte man seine schweren Stiefel, den Klang der eisenbeschlagenen Absätze gegen die Steine.

Ein gutgewachsener Knabe, hellblond und vielleicht ein Jahr älter als der andere, der ihm auflauerte; mit einem losen Friesanzug bekleidet, einen wollenen Schal um den Hals, und große Fausthandschuhe an den Händen; er trug einen ländlichen Korb — blaugemalt, mit gelb-weißen Rosen.

Ein großes Geheimnis ging endlich seiner Offenbarung entgegen; seit Tagen war die ganze Schule darauf gespannt gewesen, wie, wo und mit wem der Zusammenstoß erfolgen werde, der jetzt drohte, wann der feierliche Moment der Abrechnung komme, in dem Ole Tuft vor einem Mitglied der gestrengen Schulpolizei endlich eingestehen mußte, wo er sich nachmittags und abends herumtrieb und was er da anstellte.

Ole Tuft war der Sohn eines wohlhabenden Bauern vom Strande draußen — das einzige Kind. Sein Vater, der vor einem Jahr gestorben, war der angesehenste Laienprediger der westlichen Lande gewesen und hatte schon frühzeitig seinen Sohn zum Geistlichen bestimmt, weshalb dieser jetzt das Gymnasium besuchte. Ole war begabt, fleißig und seinen Lehrern gegenüber von einer Ehrerbietung, die ihn zu ihrem erklärten Liebling machte.

Aber die Haare allein machen noch nicht den Hund (trau', schau', wem?). Dieser treuherzige, höchst ehrerbietige Junge blieb plötzlich den Nachmittagsspielen der Kameraden fern; zu Hause war er nicht (er wohnte bei einer Tante); bei Schultzes, wo er den Kindern Nachhilfstunde gab, war er auch nicht — das erledigte er gleich nach Tisch; auch nicht bei Rektors, d. h. bei Rektors Pflegetochter, Josefine Kallem, Edvards Schwester; Ole und sie waren dicke Freunde. Zuweilen sahen die Knaben ihn dort ins Haus gehen, aber nicht wieder herauskommen; und trotzdem war Josefine immer allein, wenn sie ihm nachgingen, um zu inspizieren; sie hatten nämlich Wachen ausgestellt — die Untersuchung wurde systematisch betrieben. Bis zum Schulhaus konnten sie seine Spur verfolgen; dort aber verschwand sie. Die Erde konnte ihn doch nicht verschlungen haben! Das Haus wurde durchschnüffelt von unten bis oben, jede Ecke, jedes Schlupfloch wieder und wieder durchstöbert. Josefine selbst führte die Jungens herum, bis hinauf unters Dach, bis hinunter in den Keller, in sämtliche Räume, wo nicht gerade die Familie selber sich aufhielt, versicherte auch auf Ehre und Gewissen, dort sei er nicht; sie könnten selbst nachsehen. Wo in aller Welt steckte er nur?

Der Primus gewann in diesen Tagen bei einer Lotterie "Les trois mousquetaires" von Alexandre Dumas dem Älteren, ein Prachtwerk mit Illustrationen; da er aber bald heraus hatte, daß das kein Buch für einen Gelehrten war, setzte er es als Prämie aus für den Kameraden, der entdecken würde, wo Ole Tuft seine Nachmittage und Abende zubrachte, und was er da trieb. Dies Angebot warf den zündenden Funken in Edvard Kallems Phantasie; er hatte nämlich bis vor einem Jahr in Spanien gelebt, er las Französisch wie seine Muttersprache, und "Les trois mousquetaires" war der wundervollste Roman auf der ganzen Welt — das hatte er immer gehört. Jetzt stand er hier auf der Lauer, für "Les trois mousquetaires"! Hurra, alle Drei sollen leben! Jetzt hatte er sie!

Leise, leise schlich er weiter, bis er den Fußweg erreicht hatte. Der Sünder war dicht vor ihm.

Edvard Kallems Kopf hatte etwas, das an einen Raubvogel gemahnte — die Nase wie ein Schnabel — die Augen wild, schon an und für sich und noch mehr dadurch, daß sie ein ganz klein wenig schielten. Die Stirn scharf und niedrig, von lichtbraunem, kurzgeschorenem Haar umrahmt. Eine auffallende Beweglichkeit ließ ahnen, wie geschmeidig er war. Eben jetzt wollte er ganz still stehen, aber der Körper bog sich, die Füße bewegten sich, die Arme hoben sich, als wolle er im nächsten Augenblick durch die Lüfte stoßen. "Bäh!" schrie er aus aller Kraft seiner Lungen. Der Ankömmling fuhr zusammen — fast hätte er seinen Korb fallen lassen. "So — jetzt hab' ich Dich! Jetzt hilft Dir keine Verstocktheit mehr!"

Ole Tuft wurde zu Stein. "Jawohl — jetzt stehst Du da! Hoho! Was hast Du in Deinem Korb?" Und er stürzte auf Ole los. Der aber nahm blitzschnell seinen Korb aus der rechten Hand in die linke und hielt ihn auf den Rücken; es war Edvard nicht möglich, ihn hervorzuzerren.

"Was denkst Du Dir denn, Mensch! Glaubst etwa, Du könntst mir noch entwischen? Her mit dem Korb!" — "Du kriegst ihn nicht." — "Wirst Du wohl gehorchen? So geh ich einfach hinunter und frag'!" — "Nein, nein!" — "Doch! Zum Kuckuck, wenn ich's nicht tu!" — "Du tust's nicht!" — "Ich tu's!" — Und schon drängte er an Ole vorüber, den Berg hinab.

"Ich will's ja sagen — versprich mir bloß, daß Du's nicht weiter sagst!" — "Nicht weiter sagen? Du bist wohl nicht bei Trost?" — "Doch! Du darfst nicht!" — "Blödsinn! was denkst Du Dir denn? Her mit dem Korb — oder ich geh'!" schrie Edvard. — "Wenn Du's nicht weiter sagst — —". Die Tränen traten Ole in die Augen. "Ich verspreche gar nichts!" — "Nichts sagen, Edvard! Nein?" — "Ich verspreche gar nichts. Den Korb her! Fix!" — "Es ist nichts dabei, Du!" — "Wenn nichts dabei ist, kannst Du's doch sagen! Fix!" Ole nahm das, nach Knabenmanier, für ein halbes Versprechen; flehend blickte er den andern an und faßte sich ein Herz: "Ich geh' dort hinunter, weil ich ... weil ich ... ach, Du weißt ja selber ... auf Gottes Wegen!" Das Letzte sagte er sehr verlegen und brach in Tränen aus. — "Auf Gottes Wegen?" fragte Edvard, ziemlich unsicher. Er war aufs höchste verwundert.

Er erinnerte sich, wie der Geographielehrer in einer schläfrigen Stunde einmal die Frage gestellt hatte: "Welche Wege sind die besten?" Im Lehrbuch stand: "Für den Warentransport sind noch immer die Seewege die besten." — "Na — also welche Wege sind die besten? Du, Tuft?" — "Gottes Wege!" antwortete Tuft. Die ganze Klasse war mit einemmal munter; ein brüllendes Gelächter verkündete das.

Aber bei alledem — Edvard Kallem wußte wirklich nicht recht, was "Gottes Wege" bedeute. Ole — drunten im Fischerdorf — auf Gottes Wegen? Vor lauter Neugier vergaß er ganz, daß er Sittenpolizei war! Gradheraus, wie jeder andere Junge, sagte er: "Ich versteh' nicht, was Du damit meinst! Gottes Wege — sagst Du?" Der andere bemerkte sogleich die Veränderung. Die eben noch so scharfen Augen blickten freundlich; nur der seltsame Glanz, der nie aus ihnen wich, lag noch darin. Unter allen Schulkameraden bewunderte Ole in aller Stille keinen so sehr wie den Edvard Kallem. Der Bauernjunge litt entsetzlich unter dem überlegenen Scharfsinn und der Gewandtheit der Stadtjungen, und der vornehmste Repräsentant dieser Eigenschaften war Edvard Kallem. Und noch ein Glorienschein umgab sein Haupt ... er war der Bruder seiner braunlockigen Schwester.

Einen unerträglichen Fehler hatte er: er war ein Erzspottvogel. Alle Augenblicke setzte es deswegen Haue — mal von den Lehrern, dann vom Vater oder von den Kameraden. Und in der nächsten Minute fing er schon wieder an. Das ging über den Verstand des Bauernjungen. Und darum wirkte auch ein freundliches Wort, ein Lächeln von Edvard weit mehr, als es eigentlich sagen wollte. Es hatte den Sonnenglanz der Gnade, der Vornehmheit. Diese einschmeichelnden, milden Fragen, die der gewesene Raubvogel (von dem jetzt bloß noch der Schnabel übrig war) stellte, verflossen in eins mit dem Leuchten der Augen. Und Ole streckte die Waffen. Sowie Edvard seine Taktik änderte und treuherzig bat, den Korb sehen zu dürfen, lieferte Ole ihn aus und fühlte sich völlig beruhigt und kampfunfähig; er trocknete sich die Augen mit seinen großen Fausthandschuhen, zog den einen aus und schneuzte sich in die Finger — besann sich auf einmal, daß er zu diesem Zweck ein karriertes Sacktuch besaß, suchte darnach und fand es nicht ...

Edvard hatte den Korbdeckel aufgemacht; ehe er ihn zurückschlug, blickte er auf: "Du möchtest vielleicht lieber nicht — —?" — "Doch, gern!" — Edvard schob den Deckel zur Seite. Ein großes Buch lag darunter — die Bibel. Er wurde starr, beinah ehrfürchtig. Unter der Bibel lagen verschiedene ungebundene Hefte. Er nahm ein paar heraus, drehte sie um und legte sie wieder hinein. Es waren Traktate. Die Bibel legte er behutsam wieder an ihren Platz, breitete das Tuch darüber und machte den Deckel zu. Im Grunde war er so klug wie zuvor, oder vielmehr nur noch neugieriger.

"Du liest doch nicht etwa den Leuten da unten aus der Bibel vor?" fragte er. Ole Tuft errötete. "Doch — manchmal —" — "Wem denn?" — "Ach, den Kranken. Aber oft komm' ich ja nicht dazu —" — "Zu den Kranken gehst Du?" — "Ja — zu den Kranken geh' ich eben." — "Zu den Kranken? Du? Aber lieber Gott, — was tust Du denn da?" — "Oh, ihnen helfen — so gut ich eben kann!" — "Du?" fragte Edvard mit allem Erstaunen, dessen er fähig war. Und nach einer Pause fügte er hinzu: "Mit was denn? Mit Essen?" — "Das auch. Ich helf' ihnen eben mit allem, was sie brauchen. Umbetten — —" — "Umbetten?" — "Ja! Sie liegen doch auf Stroh. Und darin liegen sie, bis es stinkt, weißt Du. Manchmal machen sie's auch noch schmutzig, wenn sie krank sind, und sich nicht selber helfen können; tagsüber ist ja oft kein Mensch bei ihnen. Die Leute sind bei der Arbeit, und die Kinder in der Schule. Und wenn ich dann nachmittags hinkomme, geh' ich hinunter zu den Böten, die mit Stroh fahren; das kauf' ich und trag's hinauf und nehm' das alte weg." — "Wo kriegst Du denn das Geld her?" fragte Edvard. — "Tante spart es mir zusammen, und auch Josefine." — "Josefine?" rief der Bruder. — "Ja! Aber vielleicht hätt' ich das nicht sagen sollen."

"Von wem kriegt denn Josefine das Geld?" fragte Edvard mit der wachsamen Strenge des älteren Bruders. Ole überlegte einen Augenblick und erwiderte dann fest und bestimmt: "Von Deinem Vater." — "Von Vater?" — —

Edvard wußte, selbst wenn Josefine ihn darum bäte, so würde der Vater niemals Geld unnütz ausgeben; erst mußte er wissen, wozu er es gab. Der Vater hatte also gebilligt, was Ole tat. Und damit war die Sache in Edvards Augen über jeden Zweifel erhaben. Ole fühlte augenblicklich diesen völligen Umschlag; er sah ihn auch Edvards Augen an. Jetzt kam ihm die Lust, noch mehr zu erzählen, und das tat er auch. Er berichtete, er habe oft furchtbar viel Arbeit, wenn er komme. Feuer müsse er machen, das Essen aufsetzen, kochen ... — "Kannst Du kochen?" — "Freilich! Und Reinmachen, und Einkaufen, und sehen, ob nicht irgend jemand hinüberrudert, den ich nach der Apotheke schicken kann; denn oft hat der Doktor irgend was verschrieben, aber sie haben es nicht geholt." — "Und zu alledem hast Du Zeit?" — "Ja. Bei Schultzes mach' ich's gleich nach Tisch ab, und meine eigenen Schularbeiten mach' ich nachts." Und so erzählte er, des längeren und breiteren, bis ihm selber einfiel, daß sie noch vor Einbruch der Dunkelheit unten sein müßten.

In tiefen Gedanken ging Edvard voran; der andere mit dem Korb hinterdrein.

Hier, wo die Klippe abfiel, hörte man das Tosen des Meers, als komme es aus der Luft, wie das Sausen eines vorüberziehenden Vogelschwarms — hoch, hoch oben. Es wurde kalt; man sah den Mond; aber die Sterne noch nicht. Doch — einen einzigen. "Wie bist Du denn eigentlich darauf gekommen?" fragte Edvard und wandte sich um. Ole blieb gleichfalls stehen. Er nahm seinen Korb aus einer Hand in die andere. Ob er's wagen, ob er alles sagen sollte? Edvard merkte sofort — da steckte noch mehr dahinter — und zwar war das das Wichtigste. "Kannst Du's nicht sagen?" fragte er, als wenn es ihm ganz gleichgültig sei. — "Oh doch — ich kann schon!" Aber Ole fuhr fort, den Korb von einer Hand in die andere zu nehmen, und sagte nichts weiter. Jetzt konnte Edvard nicht länger an sich halten; er fing an, Ole ordentlich deswegen zu quälen, was diesem auch ganz lieb war — doch immer noch überlegte er. "Es ist doch nichts Böses?" — "Nein, etwas Böses ist es nicht." Nach einer Pause fügte er hinzu: "Im Gegenteil — eher was Großes — etwas wirklich Großes sogar!" — "Etwas wirklich Großes?" — "Eigentlich das Größte in der Welt!" — "Nanu!" — "Wenn Du's bloß nicht weitersagen wolltest! Keiner Menschenseele! Hörst Du? Dann wollt' ich Dir's schon erzählen!" — "Also — Du — was denn?" — "Ich will Missionär werden!" — "Missionär?" — "Ja — Heidenmissionär! Ein richtiger, für die Wilden, weißt Du, die Menschen fressen!" Er sah — viel mehr konnte Edvard nicht ertragen; deshalb beeilte er sich, rasch noch etwas über Zyklone, wilde Raubtiere und giftige Schlangen hinzuzufügen: "Auf so was muß man sich einüben, siehst Du!" — "Einüben? Gegen reißende Tiere und giftige Schlangen?" Edvard fing an, das Unglaubliche glaublich zu finden. — "Das Schlimmste sind die Menschen!" sagte Ole, die Tiere umgehend. "Das sind nämlich ganz fürchterliche Heiden, diese Kerle, und wild, und bös, und grausam. So ohne weiteres hinrennen — das hat keinen Sinn. Man muß Übung haben." — "Aber wieso kommst Du zu denen unten? Das sind doch keine Heiden — die im Dorf?" — "Das nicht. Aber man lernt doch allerhand auch bei ihnen. Zimperlich darf man nicht bei ihnen sein — im Gegenteil, die ärgsten Schweinereien muten sie einem zu. Wenn einer krank ist und querköpfig, so ist er meist auch voller Mißtrauen; manche sind geradezu bösartig. Denk bloß, neulich abends hat ein Weib mich sogar hauen wollen." — "Hauen?" — "Da hab' ich zu Gott gebetet, sie sollte es tun; aber sie hat bloß geflucht." Oles Augen glühten; sein Gesicht war verzückt. "Hier, in einem Traktat, den ich in meinem Korbe hab', steht, es sei der Fehler unserer Missionäre, daß sie hinausgingen, ohne sich erst zu üben. Denn es sei eine große Kunst, Menschen zu gewinnen, steht da. Sie zu gewinnen für das Reich Gottes, das sei die schwerste aller Künste. Und eigentlich müßten wir uns von Jugend, ja von Kindesbeinen an darauf einüben; so steht geschrieben, und das will ich tun. Denn Missionär sein — siehst Du — das ist doch das Höchste auf Erden. Das ist mehr als König sein, mehr als Kaiser und Papst sein; das steht in dem Traktat. Und es steht auch darin, ein Missionär habe gesagt: Und hätte ich zehn Leben, ich gäbe sie alle zehn hin für die Mission ... Und das will ich auch."

Sie gingen jetzt Seite an Seite. Ole hatte sich, ohne es zu wissen, den aufleuchtenden Sternen zugekehrt. Beide standen eine Weile so und starrten in die Luft. Unter ihnen der Hafen mit den Schiffen in verschwommenen Umrissen, die Brücken, niedrig, schwer; die Stadt mit ihren verstreuten Lichtern; weiter draußen der Strand, wollgrau von Schnee, und daneben das schwarze Meer; hier unten hörte man es wieder, wenn auch schwächer; das einförmige Tosen verfloß mit dem sternbesäten Halbdunkel. Zwischen den Knaben zitterten unsichtbare Fäden hin und her; Gefühle knüpften sich an. Von keinem andern wünschte Ole so sehnlich, gut beurteilt zu werden, wie von dem, der in seiner leichten Pelzmütze vor ihm stand; und Edvard dachte, wie viel besser doch Ole sei als er. Denn daß er selber gräßlich war, das wußte er; das hörte er ja alle Tage. Er sah seitwärts auf den Bauernjungen; — die tief über die Ohren gezogene Zipfelmütze, die großen Fausthandschuhe, der plumpe Schal, die weite Friesjacke, die breiten Hosen, die schweren, eisenbeschlagenen Stiefel — nur — die Augen wogen das alles auf, und das treuherzige Gesicht, wenn es auch ein bißchen altklug war ... Ole wird einmal ein großer Mann werden!

Sie trabten weiter, Edvard voran, Ole hinterher, hinunter zur "Vorstadt". So hieß der Stadtteil, der an den "Berg" stieß und im wesentlichen aus Arbeiterhäusern, Werkstätten und kleineren Fabriken bestand. Ordentliche Straßenanlagen oder Beleuchtung gab es hier noch nicht; es war jetzt, beim Tauwetter, ein entsetzlicher Morast, der in der Abendkälte gerade zu gefrieren begann. Die paar Laternen, die vorhanden waren, hingen an Stricken, die vom einen Haus zum andern quer über die Gasse gespannt waren, und hinauf- und hinuntergezogen werden konnten. Sie waren schwarz von Qualm und daher äußerst schlechter Laune. Hier und dort hatte eine kleine Werkstatt ihre eigene kleine Laterne, die über der Haustreppe hing. Unter einer solchen Laterne blieb Edvard stehen. Er mußte wieder etwas fragen. Nämlich — wer es eigentlich sei, dessen Ole sich dort unten annahm? Einer, den sie beide kannten? Frohgemut setzte Ole seinen Korb auf die Treppe und stützte sich mit der Hand darauf. Er lächelte: "Du kennst doch die Marte von der Werft?" Ja, die kannte die ganze Stadt; eine tüchtige Frau; aber sie trank; und oft hatten die Schuljungen am Samstagabend ihren Jux mit ihr, wenn sie, an eine Mauer gelehnt, dastand und sie ausschimpfte und sich schließlich umdrehte und zum Zeichen ihrer Hochachtung — na ja, wie das Zeichen aussah, läßt sich nicht gut beschreiben! Aber die Bengels warteten bloß darauf; und die Sache wurde stets mit Jubelgeheul begrüßt.

"Die Marte von der Werft!" rief Edvard. "Die willst Du bekehren?" — "Still doch! Nicht so laut!" bat Ole. Er war flammend rot geworden und sah sich erschrocken um. Edvard wiederholte flüsternd: "Glaubst Du, irgend ein Mensch könnte die bekehren?" — "Ich glaube, ich bin auf dem besten Wege!" flüsterte der andere geheimnisvoll. — "Du mußt schon entschuldigen — aber ich glaub' es nicht!" Die Augen schielten, der Mund verzog sich zu einem Lächeln. — "Wart' nur erst und hör' mich an! Du weißt doch, im Winter ist sie auf dem Glatteis hingefallen und hat sich bösen Schaden getan?" Jawohl, das wußte er. — "Seitdem liegt sie im Bett, und kein Mensch hat Lust, ihr zu helfen. Sie ist doch so bösartig und kratzbürstig. Gegen mich war sie anfangs widerwärtig — kaum zum Aushalten war's. Aber ich achtete einfach nicht darauf, und jetzt heißt es nur noch 'mein Gottesengelchen', 'mein Lämmeken', 'mein Goldsöhnchen', 'mein gutes Kind'. Denn ich habe sie umgebettet und Kleider und Essen und Bettzeug für sie gesammelt, und die ärgsten Dinge für sie getan, siehst Du. Und doch hat sie eines Abends Miene gemacht, mich zu schlagen, wie ich ihr aufhelfen wollte, und ihr krankes Bein ihr dabei wehtat. Sie schrie wie besessen und hob ihren Stock gegen mich; aber dann nahm sie sich zusammen und fluchte nur ganz fürchterlich und warf mir Schimpfworte an den Kopf. Jetzt ist sie wieder ganz sanft, und neulich hab' ich's sogar gewagt, ihr aus der Bibel vorzulesen." — "Der Marte von der Werft?" — "Die Bergpredigt. Und daß Du's nur weißt — sie hat geweint." — "Geweint? Hat sie's denn verstanden?" — "Nee, sie hat so geweint, daß sie nicht viel davon gehört hat, glaub' ich. Aber die Bibel war es doch, siehst Du. Sie fing schon an zu weinen, als ich das Buch nur herauszog."

Die Knaben sahen einander an; vom Hof her klangen Hammerschläge und in der Ferne eine Dampfpfeife; dann von der Gasse gegenüber das leise Weinen eines Kindes. — "Hat sie was gesagt?" — "Sie sagte, sie sei viel zu schlecht, um so was anzuhören, hat sie gesagt. Und ich erklärte ihr, daß dem lieben Gott gerade die Geringsten die liebsten wären. Sie tat aber, als höre sie das nicht, sondern sagte nur, ich solle doch einmal beim Wäscher-Lars nachsehen, ob er daheim sei." — "Beim Wäscher-Lars?" schrie Edvard, und Ole mußte wieder "Psst!" sagen; der Wäscher-Lars war nämlich ihr guter Freund. — "Du kannst mir's glauben, der ist die ganze Zeit über furchtbar nett gewesen. Im Wäscher-Lars steckt viel Gutes, das sagen alle. Jeden Abend kommt er und hilft ihr. Heut Abend ist er früher gekommen als sonst, darum konnt' ich gehen; sonst bleib' ich viel länger." — "Hast Du ihr noch öfter vorgelesen?" — "Ja, heute wieder. Gleich fing sie wieder zu weinen an; aber heute, glaub' ich, hat sie was gehört. Denn wie ich ihr das vom verlorenen Sohn vorlas, sagte sie: ich bin ja woll eins von seinen Schweinen!" — Beide Jungens lachten. "Da sagt' ich denn, das glaubte ich doch nicht. Dann wollte ich versuchen, zu beten. Ach, das nützt ja doch alles nichts! sagte sie. Aber als ich dann das Vaterunser anfing, wurde sie ganz verdreht, weißt Du, gerad' als ob sie sich fürchte, und sie richtete sich auf und schrie, davon wolle sie nichts wissen — unter keinen Umständen! Und dann legte sie sich wieder hin und heulte." — "Es wurde also nichts?" — "Nein, und dann kam der Wäscher-Lars, und sie sagte, ich solle gehen. Aber siehst Du, wie es gewirkt hat? Glaubst Du nicht, daß ich auf dem besten Wege bin?" — Edvard war nicht so ganz sicher.

Seine Bewunderung hatte augenscheinlich einen kleinen Knax bekommen.

Bald darauf trennten sie sich.

2

In den höheren Schulen herrscht bisweilen ein Geist, der dem Geist der Stadt, in der die Schule liegt, völlig entgegengesetzt ist; ja, in der Regel steht die Schule in gewissen Stücken unter ganz selbständigen Einwirkungen. Ein einziger Lehrer vermag die Schüler in seinem Bann zu halten, ebenso wie es oft von einem Kameraden oder von ein paar abhängt, ob unter den Knaben ein Geist der Ritterlichkeit oder das Gegenteil, ein Geist des Gehorsams oder das Gegenteil herrscht. In der Regel übernimmt irgend ein einzelner die Führung. Auch in sittlicher Hinsicht ist das so. Die Knaben arten ihrem Vorbild nach, und meist hat einer oder haben mehrere die Macht, als Vorbild zu wirken.

Gegenwärtig hatte der Primus Anders Hegge teilweise die Oberleitung in Händen. Einen so gelehrten Schüler hatte die Schule seit ihrer Gründung nicht gesehen; er war ein Jahr länger geblieben als nötig, nur um der Schule den Glanz eines unzweifelhaften prae ceteris zu verschaffen. Die Knaben waren unglaublich stolz auf ihn. Bewundernd erzählten sie, wie er die Lehrer in der Gewalt habe, und daß er seine Stunden nach eigenem Belieben wählen und kommen und gehen könne, wie es ihm gerade passe. Meist arbeitete er für sich. Er besaß eine Bibliothek, deren Regale längst die Wände so angefüllt hatten, daß sie jetzt den Fußboden entlang krochen. Ein langer Bücherständer stand auf jeder Seite des Sofas. Es gingen solche Wundergeschichten darüber um, daß sogar die kleinsten Jungens ihn besuchen und mit eigenen Augen sehen mußten. Und mitten drin, am Fenster, saß er selber und rauchte, in einem bis auf die Füße reichenden Schlafrock, dem Geschenk einer verheirateten Schwester, auf dem Kopf eine Samtmütze mit Goldquaste, das Geschenk einer Tante, an den Füßen gestickte Pantoffeln, das Geschenk einer Patin. Er war ein Damenprodukt — wohnte bei seiner verwitweten Mutter, und fünf ältliche Verwandte bezahlten seine Bücher, kleideten ihn und versahen ihn mit Taschengeld.

Ein großer, kräftiger Bursche mit einem regelmäßigen, feingeschnittenen Gesicht, dem Gesicht eines alten Geschlechts. Es wäre schön gewesen, wenn es nicht Glotzaugen und einen gierigen und lauernden Ausdruck gehabt hätte. Ähnlich sein wohlgebauter Körper: er hätte einen stattlichen Eindruck gemacht, wenn er nicht vornüber gebückt gegangen wäre, als drücke eine Last seinen Rücken, und einen ungleichmäßigen Gang gehabt hätte. Hände und Füße waren zierlich; er konnte nicht leiden, wenn man ihn anrührte, war verfroren und zimperlich und hatte einen durchaus weiblichen Geschmack.

Alles, was ihm einmal gesagt worden war, behielt er, Großes und Kleines, ohne Unterschied; oder wenn ein Unterschied war, so bestand er darin, daß das Kleine ihm das wichtigste war. Wenige Dinge entgingen ihm; sachte und nicht ohne eine Art Kunst stahl er sich in das Vertrauen eines Menschen. Er kannte die Familiengeschichten aus dem ganzen Land, auch solche aus fremden Ländern kannte er. Diese Geschichten zu erzählen — am liebsten Skandalgeschichten — und in aller Stille noch andere einzuheimsen — das war ihm des Daseins größte Wonne! Hätten die Lehrer geahnt, wie diese bewundernswerte Schubladeneinrichtung mit all ihrem Inhalt die Luft der Schule verdarb — sie hätten ihn schwerlich noch ein Jahr dabehalten. Die ganze Schule war nichts als Kritik und Zweifel; Klatsch und Spott waren Hoftugenden, die am ehesten zu Gunst führten; schlüpfrige Geschichten waren die Festunterhaltung. Gierig nach Neuem saß er inmitten seines Rauchgespinstes zwischen seinen Bücherregalen, wenn jemand ihn besuchte. Und als Edvard an diesem Abend kam und erzählte, nun wisse er, wohin Ole gehe und was er treibe, und nun wolle er seine Prämie, da stand Anders auf und bat ihn, doch einen Augenblick zu warten; er wolle nur schnell etwas Bier holen; dann wollten sie sich einen vergnügten Abend machen.

Das erste Glas schmeckte vortrefflich, ein anderes halbes ebenso; und dann erzählte Edvard. Erst, daß Ole unten im Fischerdorf Kranke pflege.

Anders war ungefähr ebenso paff, wie Edvard vorhin, als er die Bibel sah. Edvard lachte herzlich. Aber es dauerte nicht lange, so äußerte Anders einen leisen Zweifel. Ole habe ihm wahrscheinlich nur etwas weismachen wollen, um sich leichter aus der Patsche zu ziehen; dahinter stecke etwas. Bauernjungen seien immer Heimlichtuer. Und zum Beweis erzählte er ein paar ganz amüsante Geschichtchen aus der Schule. Edvard gefiel dieses ewige Zweifeln nicht recht, und um ein Ende zu machen (er war im Grunde furchtbar müde), berichtete er, sein Vater wisse alles, er sei damit einverstanden und unterstütze Ole mit Geld. Jetzt zweifelte natürlich auch Anders nicht länger. Aber trotz allem — es konnte etwas dahinterstecken; Bauernjungens seien nun mal solche Heimlichtuer.

Das wurde Edvard denn doch zu viel; er sprang von seinem Sitz auf und fragte, ob Anders etwa glaube, daß einer von ihnen lüge.

Anders trank ruhig einen Schluck Bier und ließ vorsichtig seine Glotzaugen rollen. "Lügen" — hm — ein sonderbarer Ausdruck. Durfte man vielleicht wissen, was das für Kranke waren, mit denen Ole sich beschäftigte?

Darauf war Edvard nicht gefaßt. Er hatte sich vorgenommen, gerade soviel zu sagen, als nötig war, um die Prämie zu bekommen, und kein Wort darüber. Er stand wieder auf. Wenn Anders es nicht glauben wolle, so möge er's bleiben lassen; aber seine Prämie wolle er.

Es war nicht Anders Hegges Art, mit jemand zu brechen, was Edvard auch recht gut wußte. Natürlich sollte Edvard das Buch haben. Aber nun müsse er erst mal eine amüsante Geschichte hören, wie sich die Kranken draußen im Fischerdorf aufführten. Der Armenarzt und seine Frau seien gestern bei seiner Mutter gewesen, und da habe jemand nach der Marte von der Werft gefragt, die man schon so lange nicht mehr gesehen habe. Ob sie noch immer von ihrem Fall im Winter bettlägrig sei? Ja freilich; und sie litte keine Not; denn die Leute schickten ihr unbegreiflicherweise alles, was sie brauche, und der Wäscher-Lars bringe ihr Abend für Abend Schnaps, so daß sie sich manch liebes Mal einen recht fidelen Schwips ansäuselten. So bald stehe die gewiß nicht wieder auf.

Edvard wurde feuerrot, was Anders wohl bemerkte. War etwa die Marte von der Werft eine von denen, denen Ole "half"? Ja, es ließ sich nicht leugnen.

Die Glotzaugen weiteten sich ordentlich, um diese Beute aufzunehmen. Edvard sah, wie sie eingesogen und verschlungen wurde, und ihm war, als sinke er selber mit hinein und werde zerrissen und aufgefressen. Aber wenn es etwas gibt, was ein Schuljunge nicht verträgt, so ist es, sich gefangen zu sehen in seiner eigenen Arglosigkeit. Er beeilte sich, den ehrenrührigen Verdacht, als ob er das Lächerliche an Ole Tufts Vorhaben nicht durchschaue, von sich abzuwälzen. "Und denk Dir — aus der Bibel hat er der Marte vorgelesen!" — Ihr aus der Bibel vorgelesen? Wieder wurden die Glotzaugen ganz groß, um zu schlingen; aber schnell zogen sie sich wieder zusammen. Anders kam ins Lachen; er schüttelte sich geradezu; und Edvard mit.

Ja, er las der Marte aus der Bibel vor, die Geschichte vom verlorenen Sohn; und Edvard erzählte, was Marte gesagt hatte. Sie lachten um die Wette und tranken den Rest des Biers aus. Alles, was an Anders liebenswürdig und amüsant war, kam zum Vorschein, wenn er lachte. Das Lachen selbst hatte einen leichten Beiklang, wie wenn man jemand am Hals kitzelt — — es forderte zu immer neuer Heiterkeit heraus — zu endlos neuer Heiterkeit. Und Edvard mußte alles erzählen — und noch ein bißchen mehr.

Als er später mit dem Prachtband unterm Arm nach Hause lief, hatte er ein scheußliches Gefühl. Der Bierdunst war verflogen; das Lachen reizte ihn nicht mehr, und der gekränkten Eitelkeit war Genüge getan. Aber kaum war er an der frischen Luft, da glaubte er auch schon Oles gute Augen vor sich zu sehen. Er wollte das Gefühl abschütteln; er war so entsetzlich müde; heut abend konnte er nicht mehr denken. Aber morgen — ja, morgen wollte er Anders bitten, zu schweigen.

Doch am nächsten Morgen verschlief er die Zeit; er konnte nur gerade noch in die Kleider springen — und davonrasen — mit einer Buttersemmel im Mund und einem flüchtigen Gedanken an "Les trois mousquetaires", die jetzt ihm gehörten; heut nachmittag würde er sie lesen. In der Schule schlug er sich mit Hängen und Würgen von einer Stunde zur andern durch; er konnte keine seiner Aufgaben, und Sonnabends war gerade immer so viel. Bis auf die beiden letzten Stunden vor Schulschluß war er vollauf in Anspruch genommen; dann kam Französisch und Naturgeschichte; von den beiden Fächern war er dispensiert. Und nun ging's die Treppe hinunter, vor allen andern.

Wie er vor der Tür des Schulhauses stand, kam eben Anders von der andern Seite her. Der hatte jetzt eine Stunde in der obersten Klasse. Augenblicklich fiel Edvard der gestrige Abend ein, und es packte ihn ein Schrecken, was Anders jetzt wohl erzählen würde. Fast in derselben Sekunde aber erblickte er zwischen zwei Landungsbrücken ein Ungetüm von einem Dampfer, einen Havaristen, der sich langsam dem Hafen näherte. Solch ein Riesenschiff war noch nie im Hafen gewesen, sagten die Leute, die vorüberliefen. Mastlos, mit zerbrochener Schanzverkleidung, mit gestützten Schornsteinen, bis oben voll gespritzt von weißem Gischt, nur eben noch fähig, sich fortzubewegen — so kam es angezogen. Vielleicht im Schlepptau eines andern Dampfers — Edvard konnte der Brücken wegen nichts sehen. Alles rannte hinunter; und er mit.

Unterdessen schritt Anders durch das Schultor. Eben als er öffnete, leerten sich die Klassen; ihr ganzer Inhalt stürzte die Treppe hinunter in den Hof — wie durch einen langen Trichter. Ein Orkan in einem Riesenbauch —. Das Haus erdröhnte. Zuerst ein vereinzelter scharfer Schrei — die jubelnde Ichverkündigung des Ersten — dann ein Gemisch von Diskant- und Altstimmen — dann gebrochene Übergangsstimmen, die in einer etwas dunkleren Klangfarbe darüber hinwischten — dann ein gemeinsames Emporsprühen wie von einem gen Himmel flammenden Feuermeer, bald ein halbes Erlöschen hier — bald eine freudig aufschießende Feuersäule dort; dann wieder ein einheitlicher, breiter Glanz über dem ganzen Hofe.

Ruhig kam Anders dahergegangen. Nicht wie in einem Feuermeer, mehr wie durch gefahrvolle Brandungen getragen, gewiegt — hin und her gespült — von einem Ufer zum andern. Aber sein Ziel hatte er vor Augen. Er wollte sich vorsichtig durchschlagen bis zu dem Bretterhaufen am Zaun des Nachbars; dort war es still; und dort konnte er, gegen das Holz gelehnt, sich's ein bißchen bequem machen.

Nachdem er sich diese Rückenstütze gesichert und mit seinen Glotzaugen vorsichtig ausgespäht hatte, ob die Luft auch rein sei, glitt sein Blick zufrieden über die Menge hin; er genoß das reizvolle Gefühl der Gewißheit, diesen ganzen Aufruhr durch bloße drei, vier Worte — seinem Nachbar ins Ohr geflüstert — dämpfen zu können. Wie Öl auf eine tobende See würden sie wirken, und der Lärm würde verstummen, sobald die paar Worte über ihn hinflossen. Wo war Ole? Da — ein großer Junge hielt ihn gerade gepackt; sie hatten sich gegenseitig am Rockkragen und wirbelten im Kreis herum; der Große versuchte den Kleinen zu Fall zu bringen und half mit dem Fuß nach. Oles schwere Stiefel zappelten in der Luft; die eisenbeschlagenen Absätze blinkten; er lachte aus vollem Halse; denn der andere wurde immer wütender und aufgeregter, ohne ihn doch werfen zu können.

Da beugte Anders sich zu dem ihm Zunächststehenden herab: "Jetzt weiß ich, was Ole Tuft jeden Abend treibt." — "Ach, Quatsch!" — "Doch, ich weiß es." — "Wer hat's denn 'rausgekriegt?" — "Edvard Kallem." — "Edvard Kallem? Hat der das Buch bekommen?" — "Freilich." — "Nee — so was! Edvard Kallem!"

"Edvard Kallem? Was ist mit Edvard Kallem?" fragte jetzt ein Dritter. Und der Zweite, der es eben gehört hatte, berichtete sofort. Ein Vierter, ein Fünfter, ein Sechster schoß fort: "Edvard Kallem hat die Prämie gewonnen! Anders Hegge weiß jetzt, was Ole Tuft jeden Abend treibt!" Und überall, wo die Worte erklangen, verstummte der Lärm; alles wollte hören, alles stürzte auf Anders Hegge zu.

Kaum war ein Viertel der Jungens zusammengelaufen, so wurden auch die andern drei Viertel aufmerksam. Was in aller Welt mochte dort an dem Bretterhaufen los sein? Warum liefen denn alle dorthin? Sie scharten sich um Anders, sie kletterten auf den Holzstoß, so viel ihrer überhaupt Platz hatten. "Was ist los?" — "Edvard Kallem hat die Prämie gewonnen!" — "Edvard Kallem?" Wieder loderte es auf. Alle fragten — alle antworteten — alle, außer Ole Tuft; der blieb stehen, wo der Kamerad ihn losgelassen hatte.

Dann wurde es mäuschenstill. Anders Hegge erzählte. Das war sein gutes Recht; er hatte dafür bezahlt. Er erzählte gut, in einer klaren, trockenen Art, die allem einen Schimmer von Doppelsinnigkeit verlieh. Erst erzählte er, wo Ole sei und was er da treibe — daß er die Werft-Marte umbette, sie herumschleppe und trage, ihr das Essen koche und nach der Arznei in die Apotheke laufe; dann — weshalb er das tue; er wolle Missionär werden und wolle sich an der Werft-Marte drunten üben; er lese ihr aus der Bibel vor, und Marte heule, und wenn dann Ole fort sei, komme der Wäscher-Lars mit Schnaps, und dann tränken sich die beiden, Marte und Lars, auf das Bibellesen hin einen ordentlichen Schwips an. Zuerst standen die Jungens ganz starr — so was war ihnen noch nie vorgekommen! Sie faßten es in der Hauptsache als eine Art Zeitvertreib auf, und so, wie es erzählt wurde, konnte es gar nicht anders aufgefaßt werden. Aber Missionär und Bibelvorleser spielen? Das hatten sie noch nie gehört. Es war lustig, aber zugleich auch noch etwas anderes; was? — darüber waren sie sich im Augenblick nicht klar. Da niemand lachte, ging Anders weiter. Weshalb war Ole auf diesen Einfall gekommen? Ganz einfach, weil er ehrgeizig war und ein Apostel werden wollte; und das war viel, viel mehr als König werden, oder Kaiser, oder Papst; das hatte Ole selber zu Edvard Kallem gesagt. Aber um das zu werden, mußte er "Gottes Wege" finden, und Gottes Wege — nun ja, die begannen dort unten bei der Marte von der Werft. Dort wollte er sich üben, Wunder zu tun, sich mit Heiden und wilden Tieren und giftigen Schlangen herumzuschlagen und Zyklonen Einhalt zu gebieten. Jetzt brach das Gebrülle los. Doch gerade in diesem Augenblick läutete es; die Jungens konnten nur eben noch, sich vor Lachen schüttelnd, an Ole vorüberstürmen.

Schon einmal in seinem jungen Leben hatte Ole Tuft in einen bodenlosen Abgrund geblickt; das war an dem Wintertag, als er am Grabe seines Vaters stand und die ersten gefrorenen Erdschollen auf den Sarg poltern hörte. Die Luft war voll treibenden Nebels, und das Meer wie Blei. Alles, was er an Leid kannte, führte dorthin zurück; auch jetzt stand er wieder dort; auch jetzt hörte er wieder die Kirchenglocke von damals. Gerade als das hohle Dröhnen auf den Treppen und Gängen verhallt, der letzte Nachzügler verschwunden, die letzte Tür geschlossen und mit einemmal alles so still war — da, durch das Schweigen, durch die Leere, vernahm er eine Glocke — bimbam, dingdang — und plötzlich war er auch schon draußen, vor der geteerten Holzkirche am Strand; die langarmigen, alten laublosen Birken an der Mauer und die ehrwürdige Tanne vor dem Portal rauschten; Glockenklänge, schrill, dünn, kamen dahergewankt, und die scharfen Erdschollen auf dem Sarg schlugen ihm Wunden fürs ganze Leben. Das unaufhaltsame Weinen der Mutter — sie hatte es zurückgehalten bis jetzt — keinen Laut bis dahin — nicht am Bett, nicht, als sie ihn hinaustrugen; aber jetzt, mit einemmal — ach, nicht einzudämmen mehr! ... O Vater, Mutter, Mutter, Vater! ... Und auch er brach in Tränen aus.

Schon aus dem Grunde konnte er den Kameraden nicht folgen; und er wollte überhaupt nicht mehr in die Schule. Auf das hin konnte er keinem von ihnen mehr begegnen, konnte nicht einmal mehr in der Stadt bleiben. In zwei Stunden würde jedermann es wissen und gaffen und fragen und grinsen. Und das, was er vorhatte, war ja jetzt auch entweiht für ihn; wozu noch studieren! In eine andere Stadt wollte er auch nicht. Nein — nur heim, heim, heim!

Aber wenn er länger hier stehen bliebe, so würden sie bald einen aus der Klasse herunterschicken, um ihn zu holen; er mußte gleich fort —. Nicht erst nach Hause zur Tante; dort hätte er erzählen müssen. Nicht durch das große Tor und über die Hauptstraße; die war immer so voll von Menschen, und er sah so verheult aus! Nein, er mußte durch das kleine Schlupfloch fort, das Josefine ihm zurechtgemacht hatte, und durch das sie ihm jeden Nachmittag hinaushalf, ohne daß die Jungens es sahen.

Das Holz war gegen des Nachbars Bretterzaun aufgestapelt; aber zur Rechten lehnte der Stapel an einem Schuppen, und dorthin lief jetzt Ole. Er löste zwei Planken in der Wand, die nach dem Holzhaufen ging, kroch hindurch und machte hinter sich wieder zu. Dieses Kunststück wäre unmöglich auszuführen gewesen, wenn nicht zwischen Schuppen und Bretterstapel ein freier Raum gewesen wäre; und ein solcher befand sich dort, dank einem Naturhindernis in Gestalt eines großen Steines, der höher war als der Knabe und ein Stück von der Wand weg stand. Wäre der Stein nicht gewesen, so hätte die zweite Holzschicht sich an die erste angelehnt und ganz abgeschlossen; so aber blieb zu beiden Seiten des Steins und darüber ein freier Raum. Und hier hatten die Kinder sich Stuben eingerichtet, eine auf jeder Seite und eine auf dem Stein selbst. Die hintere war die bequemste; dort war ein Brett zum Sitzen, und wenn es auf beiden Seiten in den Holzstapeln festgemacht war, so konnten die Kinder zur Not sogar aneinander vorüber. Oben drüber hatten sie Bretter gelegt, und darauf wieder Holz, damit niemand Verdacht schöpfe; es war ein tüchtiges Stück Arbeit gewesen für die zwei. Allzu hell war es ja nicht gerade; aber das trug just dazu bei, es recht gemütlich zu machen. Hier erzählte sie ihm von Spanien und er ihr von den Abenteuern der Missionäre, sie von Stiergefechten, er von Kämpfen mit Tigern und Löwen und Schlangen, von furchtbaren Zyklonen und Windhosen, von wilden Affen und Menschenfressern. Seine Erzählungen hatten nach und nach die ihren übertrumpft; sie waren reicher und sie hatten ein bestimmtes Ziel. Sie lebte von Erinnerungen, er von allem, was seine Phantasie nur zu ergattern vermochte, und bei allem war er selber im Mittelpunkt der Dinge. So lange schilderte er, und so glühend, bis auch in ihr die Sehnsucht erwachte, im Mittelpunkt dieser Dinge zu sein! Erst schickte sie ein paar vorsichtige Fragen voraus: ob es auch angehe, daß Frauen Missionäre würden? Das wußte er nun zwar nicht; es war sicherlich doch bloß Männerarbeit, das Missionieren; aber Frauen von Missionären konnten sie werden. Ob denn die Missionäre verheiratet seien, fragte sie. Er nahm das zunächst als dogmatische Frage. Einmal habe er seinen Vater darüber in einer Versammlung reden hören; irgendeiner habe Zweifel darüber geäußert; denn Paulus, den man ja doch den ersten und größten Missionär nennen müsse, sei nicht verheiratet gewesen, ja, er habe sich dessen sogar gerühmt. Aber der Vater habe erwidert, Paulus habe geglaubt, Jesus werde bald wiederkommen, und darum habe er sich beeilen müssen, überall umherzuwandern und das zu verkündigen, auf das die Menschen sich bereithalten sollten. Die Missionäre von heute dagegen müßten im Gegenteil auf einem und demselben Fleck Erde leben, und dazu gehörten doch wohl auch Frauen. Er habe selber von Missionärsfrauen gelesen, die Schule für kleine Negerkinder hielten.

Weiter war keins von den beiden gegangen; aber daß sie doch ganz im geheimen daran dachte, ging deutlich aus einigen Fragen hervor, wie z. B., ob es wahr sei, daß die Negerkinder Schnecken äßen? Das behagte ihr nicht.

Und inmitten dieses Halbdunkels — ihr brauner und sein blonder Kopf dicht zusammengesteckt über atembeklemmenden Abenteuern — hatten sie unter Palmen gesessen; es wimmelte von kleinen Schwarzen, und alle waren sie artig und bekehrt, und zahme junge Tiger gab es da, die sich dicht vor ihren Füßen im Sand wälzten; gutmütige Affen bedienten sie, Elefanten trugen sie behutsam, die Bäume hingen voll der Nahrung, deren sie bedurften.

Und jetzt kam Ole, um dies Eden zum letztenmal zu sehen und Abschied davon zu nehmen.

Eben hatte er sich aufgerichtet, um über den Stein zu klettern, als ihm einfiel, heut sei Samstag. Samstag von elf Uhr ab hatte sie frei (sie hatte Privatunterricht), und da setzte sie sich oft während der großen Pause der Knaben hinter die Holzstapel.

Wenn sie jetzt eben dort säße! Wenn sie alles gehört hätte! Schnell hinauf auf den Stein, und richtig — da saß sie unten auf dem Brett und sah zu ihm hinauf.

Ihr bloßer Anblick und mehr noch die Art, wie sie seinem Blick begegnete, ließ ihn von neuem in helle Tränen ausbrechen. "Ich — will — heim!" schluchzte er, "und nie — nie wiederkommen!" Und er ließ sich zu ihr hinuntergleiten. Sofort nahm sie sich seiner an, gab ihm schleunigst ihr Taschentuch, damit er es sich vor den Mund halte, um sich durch sein Weinen nicht zu verraten. Sie kannte den Schulhof, und sie wußte, man suche ihn jetzt auf dem Hof. Und er gehorchte, wie immer, ihrer überlegenen Führung in den Dingen, die zur guten Erziehung gehören; nur daß er glaubte, es handle sich einmal wieder um das ewige Geschnäuze, und so schnäuzte er sich denn und weinte, und weinte und schnäuzte sich. Da packte sie ihn hurtig mit ihrer derben Kleinmädelfaust im Nacken, mit der andern umspannte sie mit festem Griff seine Hände mitsamt dem Taschentuch und preßte ihm das in den Mund; während sie gleichzeitig ihren dunkelhaarigen Kopf unheilverkündend dicht vor seinem Gesicht schüttelte. Jetzt begriff er! Es war auch die höchste Zeit; denn schon rief man auf dem Schulhof seinen Namen, wieder und wieder, in Zwischenräumen und aus verschiedenen Richtungen. Es fiel ihm entsetzlich schwer, das Weinen zu unterdrücken, so daß er am ganzen Körper zitterte; aber er hielt es zurück. Hielt es zurück, bis sie den Kameraden, den man nach ihm ausgeschickt hatte, wieder hinaufstürmen hörten. "Ich — will — heim!" fing er dann gleich wieder an und heulte von neuem drauflos — er konnte nicht anders. Dann gab er ihr das Taschentuch zurück, nickte, stand auf und zog die Planken in des Nachbars Bretterwand weg — immerzu laut schluchzend und in tiefstem Entsetzen. Kaum waren die Planken weg, so war er auch im Loch; das auf der Schulbank blank gescheuerte Hinterteil und die glänzenden, eisenbeschlagenen Absätze schoben sich weiter und weiter hinein, bis sie verschwanden. Auf der andern Seite stand er auf, drängelte sich zwischen der Bretterwand und einem Holzhaufen durch, bis zu ein paar alten Balken, die da lagen und vermorschten; von dort eilte er zur Hintertür, und erst, als er draußen, auf freiem Grund und Boden, in einem engen Gäßchen stand, fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, Josefine Lebewohl zu sagen; ja, daß er sich nicht einmal bei ihr bedankt hatte. Auch das noch, zu all dem andern Unglück! Nun erst recht trieb es ihn im Galopp zur Stadt hinaus, und er machte nicht eher halt, als bis er auf Umwegen die Landstraße erreicht hatte. Der gehörte so gewissermaßen zu seinen Schildknappen, der alte Strandweg.

Josefine stand eine Weile da und blickte auf die Stelle, wo die Absatzeisen verschwunden waren; aber nicht lange. Sie sprang auf den Stein, glitt an der Wand wieder herab, schob die Bretter beiseite, kroch hindurch und schob sie vorsorglich hinter sich zu. Gleich darauf erschien sie ohne Hut in der Apotheke und fragte nach ihrem Bruder; erst in der Apotheke selbst, wo er sich am liebsten aufhielt; aber da war er nicht; er hatte nicht einmal seine Schulbücher abgegeben. Dann durchsuchte sie oben alle Zimmer; dort war er ebenfalls nicht; aber vom Fenster aus sah sie den großen fremden Dampfer, umringt von zehn, zwölf Booten; natürlich, da war er! Also rasch hinunter zur Brücke. Sie machte ihr eigenes kleines weißgestrichenes Boot los und schoß hinaus.

Sie ruderte, daß ihr der Schweiß von der Stirn lief, ruderte und blickte sich um, bis sie das schwere Wrack erreicht hatte, das grüne Ungeheuer, das dort lag und unter den Pumpen stöhnte. Weit draußen sah sie Edvard, die Schulbücher unterm Arm, oben auf der Kommandobrücke stehen, im Gespräch mit seinem Freund Rojert Mo.

Sobald sie nahe genug war, rief sie seinen Namen. Er und sämtliche Umstehenden hörten es. Die letzteren sahen ein braunhaariges Mädel, die Ruder in der Hand, glühend rot vor Anstrengung, aufrecht dastehen und nach der Kommandobrücke starren; sie besannen sich einen Augenblick, was das wohl bedeuten könne, und vergaßen es dann wieder; Edvard aber gab es einen Stich: da war irgend etwas Unangenehmes geschehen; und wie der Wind war er von der Kommandobrücke herunter, auf Deck, darüber weg, an der andern Seite des Dampfers hinab — und über die andern Boote in ihres geturnt, das er gleichzeitig abstieß. "Was ist los?" Die Bücher legte er hinter sich ins Boot, nahm ihr die Ruder aus der Hand und setzte sich. "Was ist los?"

Rot und atemlos, mit fliegenden Haaren, stand sie da und sah ihn an, während er das Boot drehte. Dann stieg sie über das mittlere Sitzbrett, machte das zweite paar Ruder los und setzte sich ihm gegenüber auf die hinterste Ruderbank. Er hatte keine Lust, ein drittes Mal zu fragen, und ruderte drauflos; und nun fing sie, die Ruder über Wasser haltend, an:

"Was hast Du Ole Tuft getan?" Er wurde blaß und rot; auch er hielt jetzt die Ruder hoch.

"Es ist aus mit ihm in der Schule. Er ist nach Hause und kommt nicht wieder."

"Ach was, Du lügst!" Aber seine eigene Stimme widersprach ihm. Er ahnte, — sie redete die Wahrheit. Er schlug aus Leibeskräften die Ruder ins Wasser und ruderte, als wolle er hinter ihm drein.

"Jawohl, es ist schon das beste, Du ruderst drauflos!" Sie selber fing an, nachzulassen. "Das beste, Du rennst ihm gleich nach, und wenn's bis nach Store-Tuft ist! Sonst geht Dir's schlecht! Beim Vater und auch in der Schule! So ein Jammerkerl, wie Du bist!" — "Halt's Maul, Du!" — "Wart' Du nur! Wenn Du ihm nicht augenblicklich nachsetzt und ihn wieder mit nach Hause bringst, sag' ich's dem Vater und dem Rektor, — verlaß Dich drauf!"

"Bist selber ein Jammerkerl, und eine Petze bist Du, daß Du's nur weißt!" — "Hättest bloß hören sollen, wie Anders Hegge und die ganze Schule sich aufführten; alle haben sie Ole ausgelacht, alle, alle — und wie der arme Bengel geweint hat, als würde er ausgepeitscht — und dann schnurstracks heimrannte! Pfui, schäm' Dich! Wenn Du ihn nicht wieder mitbringst, so wirst Du mal was erleben!" — "Schafskopf! Siehst Du denn nicht, daß ich schon rudere, was ich nur kann!" — Seine Nägel wurden weiß, sein Gesicht quoll auf, er beugte sich jedesmal fast bis auf den Boden, um möglichst weit auszuholen. Ohne ein Wort weiter zu verlieren, setzte sie sich auf die Bank dicht vor seiner und legte sich gleichfalls tüchtig in die Stangen.

Als er an der Brücke aufstand, um anzulegen, sagte er: "Heut morgen hab' ich nicht mehr frühstücken können, und jetzt krieg' ich auch kein Mittagessen. Hast Du Geld bei Dir, daß ich mir ein paar Brezeln kaufen kann?" — "Ja, ein paar Pfennige hab' ich", und sie zog die Ruder ein und holte das Geld heraus. "Nimm meine Bücher!" rief er und sprang davon. Bald darauf war auch er draußen auf der Landstraße.

3

Der Tag war nicht ganz klar gewesen; eine Unruhe war in der Luft, die Wolken jagten in anderer Richtung als der leichte Südwind. Es war mild und taute wieder. Die Wege waren jämmerlich, voll Schneeschlamm und Schmutz, besonders hier, in der Nähe der Stadt, war alles zu einem Brei zusammengetrampelt und -getreten.

Der Junge war noch nicht zehn Minuten unterwegs, als seine etwas dünnen Stiefel auch schon von Wasser vollgesogen waren. Na, das machte nichts! Schlimmer war es mit der letzten Brezel; denn satt war er nicht, nicht im entferntesten! Aber auch das machte nichts. Er würde Ole schon bald einholen; er war schneller zu Fuß, war beweglicher, und er legte ganz gehörig los. Wenn er ihn nur erst eingeholt hatte — in Ordnung bringen würde er die Sache schon, daran zweifelte er keinen Augenblick. Ole war verträglich, und er, Edvard, würde bei den Jungens für ihn eintreten; das zum mindesten war er ihm schuldig. Und ihm selber machte es überdies Spaß; er würde schon noch ein paar von den andern auf seine Seite bringen, und dann sollte es eine Schlacht setzen!

Doch als er eine ganze Viertelmeile gegangen war, ohne in diesem Matsch auch nur eine Spur von Oles Stiefeln, geschweige denn von ihm selber zu entdecken, als er sich gar eine halbe Meile vorwärts geschleppt hatte, durch die scheußlichste Unwegsamkeit, mit patschnassen Füßen, abwechselnd schweißtriefend und eiskalt, dann wieder halbtrocken und wieder schweißtriefend — dazu drohte Regen und Sturm, und die Landschaft war schauerlich einsam mit ihren langen öden Bergrücken und den dazwischenliegenden Wäldern — da sank sein Mut bedeutend.

Und dann — sonderbar! Nach der ersten Viertelmeile begegnete er keiner Menschenseele mehr. Spuren sah er genug auf dem Wege, von Pferden und Menschen und Hunden; alle liefen sie in derselben Richtung wie er, und die meisten waren frisch. Aber keine Menschenseele war zu erblicken, nicht einmal in den Gehöften; keinen Hund hörte er bellen, keinen Schornstein sah er rauchen; wie ausgestorben war alles. Eine leere Bucht nach der andern; vorspringende Bergrücken, durch Geröll oder Erdrutsche gebildet, trennten sie; immer wieder eine Bucht, und an jeder Bucht ein Gehöft oder mehrere, und ein Fluß oder ein Bach; aber nirgends ein Mensch. Ach, wie oft war der Junge schon einen kahlen Hang hinangeklettert und oben weitergewandert, bis er die nächste Senkung überschauen konnte, ohne Ole auf der Landstraße zu erblicken, ohne überhaupt eine Menschenseele zu erblicken! Er merkte wohl, er würde, ausgehungert und müde, bis hinaus nach Store-Tuft traben müssen. Das war fast eine Meile. Dann blieb er zu lange aus, der Vater würde es erfahren, es setzte dann doch Hausarrest und Verhör und Schelte und Schläge, vielleicht kam's auch gar noch vor den Rektor, und die ganze Geschichte ging noch einmal von vorn los ... Er war dem Weinen nahe. Dieser verdammte Anders Hegge mit seinen lüsternen Fischaugen und seinem fetten Lächeln bei allem, was ihm behagte! Und die lauernde Freundlichkeit, das kitzliche Lachen, das Geklatsche — o pfui! So ein Scheusal! Und dafür mußte er hier mit schmerzenden Füßen, müde und verzweifelt, durch den Schmutz stapfen! Das also hatte seine entsetzliche Angst gestern abend bedeutet! Das war's gewesen!

Ach was, zum Teufel mit dem Geflenne und der Kopfhängerei! Einmal mußt du ja hinkommen, und Schläge hast du schon mehr als einmal gekriegt! Trallalla! Und er fing an, ein lustiges spanisches Lied zu singen, sang Vers für Vers — kam außer Atem — mußte langsam gehen, und erschrak doch, als er seine eigene Stimme nicht mehr hörte. Also ein neues Lied — und wieder einmal hinauf — den ganzen langen Steinhang.

Auch da kein Mensch, bloß Wagenspuren und Fußspuren von Erwachsenen und Kindern und Pferden und Hunden aus den Gehöften drunten. Alle vorwärts laufend. Was war denn los? Eine Feuersbrunst? Auktion? Dazu hätten sie nicht das Fuhrwerk mitgenommen. Vielleicht irgendwo ein Bergsturz? Oder ein großes Schiffsunglück gestern? Ach, ihm konnte das eigentlich gleich sein! Gerade, als er über den nächsten Bergrücken klettern wollte, der eine lange Nase in den Fjord hinausstreckte, sah er zum erstenmal Oles Spuren; da war er am Wegrand entlang gegangen; er kannte die eisenbeschlagenen Absätze, ebenso die Holzflecken unter jedem Fuß. Die Spuren waren ganz frisch; jetzt konnte Ole nicht mehr weit sein! Das gab ihm neue Kraft. Er lief wacker drauflos.

Ein hoher Tannenwald umfing ihn; alles war still. Als er beim Steigen mit Singen aufhören mußte, wurde ihm ganz unheimlich zumute. Je höher er kam, desto dichter wurde der Wald; der Schnee lag fester, Steine und Heidekrautbüschel guckten neugierig daraus hervor wie Tiere. Und dann raschelte es hier und knisterte es dort, und irgendwo schrie es; ein großer aufgescheuchter Vogel flog mit entsetzlichem Flügelschlag auf; der Junge suchte schweißtriefend nach Oles Fußtapfen, um sie nicht zu verlieren; die Angst von gestern war plötzlich wieder über ihm. Wenn er's doch über sich brachte, recht draufloszurennen! Wenn der Wald doch ein Ende nehmen wollte! Während der unverantwortlich langen Stille nach dem Auffliegen des Vogels hatte er schließlich das Gefühl: wenn jetzt bloß noch das winzigste Bißchen dazu komme, so würde er verrückt! Und der Hohlweg, durch den er mußte! Schon ganz von weitem starrte er hinein, zwischen die hohen, schwarzen Wände; als ob sie über ihm zusammenklappen wollten — sahen sie aus; von oben hingen ein paar unheimliche Bäume darüber und spähten lauernd hernieder. Als er endlich drin war, kam er sich wie die allerwinzigste kleine Ameise im Walde vor: wenn sie bloß stillständen, bis er vorüber war — wenn bloß keiner sich auf einmal von oben herunterbeugte und ihn beim Kragen packte, oder dicht vor ihm oder dicht hinter ihm sich fallen ließ — oder ihn anwehte ... Er ging mit starren Augen — wie ein Nachtwandler; die Kiefernwurzeln zogen sich krumm und verwittert über den lehmigen Pfad hin ... und alle lebten sie ... Aber nein ... Er tat, als merke er nichts ...

Ganz fern, hoch oben in der Luft, flog ein Vogel nach der Stadt, aus der er kam ... Ach! Wer auf seinem Rücken säße! So deutlich sah er die Stadt, die Schiffe im Hafen, hörte die frohen Weisen, das helle Ankerrasseln ... das Dröhnen an den Brücken ... den herzensfrohen Lärm und Spektakel ... die Kommandorufe ... Nanu ... da hörte er ja wirklich Kommandorufe ... Und eine Schiffspfeife ... und noch eine ... eine ganz derbe ... Und Stimmen! ... Jawohl ... Stimmen ... und dazu Pferdegewieher! Und Hundegekläff! Und wieder Stimmen und Stimmen! Er war aus dem Hohlweg heraus, — ganz kurz war der gewesen! — und zwischen den Bäumen hindurch schimmerte die See ... und Schiffe ... Was war denn das? War er denn wieder in der Stadt? War er im Ring herumgelaufen? Er war doch immer am Strand entlang gegangen! Er fing an zu rennen, in Sätzen — — Freilich, jetzt kannte er sich wieder aus! Ja, wahrhaftig, er war immer nur geradaus gelaufen! Und da öffnete sich der Wald ... und die Bucht ... die hatte er doch schon einmal gesehen? Und auch die Inseln erkannte er wieder ... Er war auf dem richtigen Weg ... nun war's nicht mehr weit bis Store-Tuft! ... Aber was taten denn diese Boote da? Was bedeutete dies gleichmäßige, ununterbrochene Gelärm? Ein Fischzug! Hurra! Ein Fischzug! Mitten in einen Fischzug war er hineingeraten! Hurra! Hurra! Vorbei aller Hunger, alle Müdigkeit, alle Furcht! In langen Sprüngen setzte der Junge den Hügel hinunter.

Eins der Netze war eben an Land gezogen, eins stand ausgespannt im Wasser, eins wurde eben eingeholt. Von allen Seiten strömte es herbei. Aber es war Samstagabend, es hieß warten, bis zum Sonntagabend, um die unzähligen gefangenen Fische auszunehmen. Auf den ersten Blick hatte er das begriffen.

Der ganze Strand war voll Menschen, bis hinauf zur Straße, zu beiden Seiten, Leute überall, immer mehr Leute. Wagen und Schlitten durcheinander standen da, mit und ohne Fässer und Tonnen, Pferde vor- oder ausgespannt — Hunde zu Haufen; überall junges Volk, und Lachen und Lärm ... Und draußen, in der Bucht, Boote um die Netze ... die Netze, die eingeholt werden mußten, und ein Geschrei und ein Spektakel, und hoch in den Lüften ein Vogelschwarm, naseweise, kreischend, flügelflatternd — bis weit hinaus.

Der Himmel ward dunkler, der Dampferqualm machte die Luft noch düsterer und drohender, die nackten Inseln paßten zu dem heraufziehenden Unwetter: sie sahen aus, als seien sie eben erst emporgestiegen; die bewaldete Klippe weit draußen ragte geheimnisvoll, einsam im Regenschauer empor; die Dampfer rauchten und kreischten und fauchten und pfiffen um die Wette um sie her; die reinen Konkurrenten.

Die Männer stampften in Flößerstiefeln umher, Ölmäntel über ihrem gewöhnlichen Anzug; andere trugen — mehr nach Bauernart — Frieswams und Pelzmütze. Die Weiber, dicke Tücher über der gewohnten Kleidung oder in Männerröcke eingemummt, arbeiteten mit den Männern um die Wette beim Ausnehmen der Fische; der gewohnte stille Verkehrston war wie ausgewechselt.

Schon fielen vereinzelte schwere Regentropfen, die dichter und dichter wurden. Fast alle Gesichter, in die Edvard sah, waren durch und durch naß. Er wurde ordentlich begafft: ein schmächtiges Stadtjüngelchen, — in solch einem Treiben — leicht gekleidet — mit triefendem Gesicht — außer Atem, die dünne Pelzmütze platt an den Kopf angeklebt!

Aber wen sah er da vor sich? War das nicht Ingebret Syvertsen, der lange, schwarze Kerl, der mit Vater Kallem Geschäfte machte? Dort stand er nun und feilschte — lang und hager — in Öltuch gewickelt von Kopf bis zu Füßen. Der war tüchtig mit dabei gewesen! Wie Silberschimmer lag noch der Gischt über ihm! "Grüß Gott, Ingebret!" rief der Knabe froh. Der lange Kerl mit dem nassen Gesicht unter dem Südwester, einen großen herabhängenden Tropfen an der Nase, mit seinem dünnen schwarzen Bart und den drei Zahnlücken im Oberkiefer, erkannte ihn auch sofort und lachte; dann rief er: "Dein Vater ist auch unterwegs, Jung'! Zu Pferde!" — Irgend jemand sprach in diesem Augenblick Ingebret an; er drehte sich um, wurde ärgerlich und verwickelte sich in viele Worte; und als er sich wieder dem Jungen zuwandte, sah er ihn schon weit draußen, hinter dem ganzen Fischertreiben, auf der Straße.

Edvard war in hellem Schreck davongelaufen ... und erst jetzt, auf der Straße, fiel's ihm ein — er lief ja dem Vater geradenwegs in die Arme. Ob er überhaupt Store-Tuft noch erreichen konnte, bevor er den Vater traf?

Aber — was sollte er tun? Gesehen hatten sie ihn, alle diese Menschen; und sie hatten ihn derart angestarrt, — sie würden's schon herauskriegen, wer er war! Und wenn der Vater vorüberkam, würde er's auch erfahren! Wozu also noch lange durchbrennen! Haue jetzt gleich — oder Haue später — das kam auf eins heraus. Fast wollte er wieder anfangen zu singen. Denn ärger als es war, konnte es doch nicht werden. Und wirklich — er setzte auch ein, und zwar die Marseillaise auf Französisch — die paßte just für einen, den Schläge erwarteten ...! Hurra! Aber er war noch nicht mit dem ersten Vers zu Ende, als ihm auch schon das Herz in die Hosen sank. Die Stimme versagte, und auch der Takt, und alles hatte auf einmal eine ganz andere Farbe. Ach, und wie sauer ihm das Gehen wurde! Es regnete jetzt tüchtig. Der Gesang wurde zu abgerissenen Strophen, bis er ganz aufhörte. Die Gedanken des Knaben hatten sich verfangen in etwas, das er kürzlich in der Zeitung gelesen hatte: die Überschwemmung einer großen Kohlengrube in England. Die Menschen waren davongestürzt, so schnell sie nur konnten, und die Pferde hinter den Menschen her; dort unten wußten sie sich nicht selber zu helfen. Die armen Tiere! Ein Junge hatte sich retten können, und der erzählte, wie ein Pferd hinter ihm hergekeucht war; der Junge war hinaufgeklettert, das Pferd konnte nicht mit ... Edvard sah das Tier ganz deutlich vor sich, den Kopf, die schönen glänzenden Augen, er hörte das Schnauben und Wiehern, und jedesmal machte es ihn ganz krank. In solchem Entsetzen sterben — das war etwas! Und all das sollte am jüngsten Tag wieder auferstehen! Was da wohl alles aus den Eingeweiden der Gruben und Eingeweiden der Erde hervorkommen würde! Weshalb sollten die Tiere nicht auch mit dabei sein? Sicher traten sie auch vor und wieherten und klagten die Menschen an! Du großer Gott, mußten das Anklagen werden! Und so viele — wenn man bedachte — von der Erschaffung der Welt an! Und wo waren sie alle zu finden? Auf der Erde und unter der Erde und — und die Wesen, die im Meer lagen, auf dem Grunde der See? Und die Geschöpfe, die wieder unter ihnen lagen? Denn an vielen Stellen war ja Land gewesen, wo jetzt See war. Ach ja!

Wie hungrig er war! Und nun fror ihn; er konnte nicht länger schnell gehen, und er war durch und durch naß.

Viel Ursache, sich nach dem Ziel seiner Wanderung zu sehnen, hatte er ja auch gerade nicht. Er kannte die neue Reitpeitsche nur zu gut; die alte hatte er selber aus der Welt spediert; aber hätte er gewußt, daß die neue noch schlimmer ausfallen würde — er hätte die alte vermutlich noch ein paar Jahre länger leben lassen. Au! Jetzt kribbelte es ihn auch noch unter den Nägeln, und seine Finger wurden steif. Und die Füße! An die durfte er gar nicht erst denken; dann würden sie nämlich noch schlimmer; horch, wie es in den Stiefeln klatschte! Er machte sich den Spaß, die Füße kreuzweise voreinander zu setzen; er wechselte von rechts nach links und von links nach rechts; aber es machte ihn nur müde. Immer zäher und zäher ging's, immer mühseliger wurde es; jetzt kam wieder eine Steigung. Himmel, war das nicht die letzte? Lag nicht Store-Tuft in der nächsten Senkung? Dicht am Fuß der Anhöhe? Natürlich, das war die Tuft-Niederung! Vielleicht kam er doch noch vor dem Vater hin? Und wenn es auch nur ein Aufschub war — es war doch immerhin etwas! Donnerwetter! Es war schon der Mühe wert, sich zu beeilen! In den Jungen kam neues Leben. Frisch drauflos!

Übrigens — der Vater war nicht bloß streng! Er war auch gut. Besonders, wenn Josefine zu Edvard hielt und ein gutes Wort für ihn einlegte. Und das würde sie schon, wenn Ole wiederkam; dann hielt sie sicher zu ihm. Sie würden versuchen, auch den Apotheker zu gewinnen. Er war furchtbar nett, der Apotheker, und es war auf alle Fälle gut, Hilfstruppen zu haben, so viel wie möglich. Herrgott, gab es denn nicht noch mehr ...?

Da tauchte der rote Pferdekopf über der Hügellinie auf! Die großen Strohschuhe, die der Vater im Winter als Steigbügel benützte, standen zu beiden Seiten des Fuchsen ab wie die Tatzen eines Raubtieres. Der Junge wurde zu Stein und stand still.

"Rauen", der Fuchs, glotzte aus dem schweren, spanischen Sattelzeug heraus Edvard an; er traute seinen eigenen klugen Augen nicht. Dem Vater erging es augenscheinlich ebenso; denn sein runder Kopf in der grauen Wollmütze streckte sich weiter und weiter über den Pferdehals vor, bis er sich mit beiden Händen auf den Sattelknopf stützen mußte. Dieser pudelnasse Bursche mit dem Pelzklex auf dem Kopf — der dort, blaß und erschrocken, wie ein Gespenst mitten auf der Straße stand — war das der Junge, der um diese Zeit zu Hause sitzen und seine Aufgaben machen sollte, bevor er sich überhaupt rühren durfte? Am Samstag nachmittag? In solchem Wetter, bei solchem Schmutz, und so leicht gekleidet — hier draußen auf dem Weg nach Store-Tuft? Und das ohne Erlaubnis? "Hölle und Teufel, was treibst Du hier?"

Das Pferd blieb stehen; der warme Atem füllte die Luft rings um den Jungen und hüllte ihn in Nebel und einen unangenehmen Schweißgeruch. Edvard vermochte sich nicht zu rühren, wagte nicht zu antworten. Er starrte bloß durch den Nebel blöd und dumm zum Vater auf; zuletzt wußte er gar nichts mehr von sich.

Unverzüglich stieg der Vater ab, und gleich darauf stand er, die Zügel um den linken Arm, die Peitsche in der rechten Hand, vor ihm. "Was gibts, he? Woher kommst Du? Hölle und Teufel, wirst Du wohl antworten!"

Edvard glitt mechanisch weiter und weiter zurück; der Vater ihm nach; und ebenso mechanisch hob der Junge den rechten Arm, um das Gesicht zu schützen; den linken hielt er abwehrend vor sich ausgestreckt. "Wo willst Du hin?" — "Zu Ole Tuft." — "Was willst Du da? He? Ist Ole Tuft zu Hause?" — "Ja." — "Was willst Du bei ihm?" — "Ich will — ich will — —" — "He?" — "— ihn um Verzeihung bitten." — "Um Verzeihung? Nanu? Na? He?" — Und die Peitsche fuhr in die Höhe. Der Junge beeilte sich: "Er will nicht mehr in die Schule kommen." — "So? Eklig gegen ihn gewesen? He? Und Du an der Spitze? He?" — "Ja." — "Also Deine Schuld, was? He?" Er kreischte. — "Ich hab' 'rausgekriegt —" Der Junge stockte. — "Was?" — "— — daß er ... daß er ..." Er fing an zu weinen. "— He?" — "... daß er Kranke pflegt." — "Und hast's weitergesagt, he? Gepetzt? He?" Edvard getraute sich nicht zu antworten, und nun begann die Peitsche eklig zu werden. Beide Arme des Jungen gingen im Takt mit der Peitsche auf und nieder, unsicher, wohin sie zielte. Er wich immer weiter zurück. "Stillgestanden!", schnarrte es. Statt dessen sprang der Junge mit einem Satz bis unmittelbar an den Rand des Straßengrabens. Zornig hob der Vater die Peitsche; das Pferd hinter ihm erhielt, ohne daß er es wußte, einen tüchtigen Hieb und zerrte so heftig, daß der Vater fast umgerissen wurde. Edvard vermochte beim besten Willen der überwältigenden Komik dieser erlösenden Unterbrechung nicht zu widerstehen; er fing schallend zu lachen an, erschrak aber gleich, als er es selber hörte, so unsinnig, daß er über den Graben wegsprang und in den Wald hineinrannte. Sobald er dem Vater den Rücken gedreht hatte, konnte er sich nicht mehr halten, er mußte wieder lachen, und wußte das durch nichts Besseres zu verdecken als durch ein lautes Geheul.

Die Verachtung des Vaters für den Jungen war grenzenlos. Er selber wurde dadurch ganz kaltblütig, brachte das Pferd zum Stehen und schwang sich in den Sattel. "Komm!" sagte er ruhig und wies mit der Peitsche nach Store-Tuft. Weitere Abrechnung folgt, wenn wir dort sind! dachte der Junge.

Er gehorchte selbstverständlich und kam eiligst — bis auf einen gemessenen Abstand vom Pferd. — Und diesen Abstand hielt er auch unverändert ein. Das Pferd schritt schnell aus, so daß es nicht ganz leicht war.

Und nun jagte der graue Mann auf dem roten Pferd den Sohn erbarmungslos vor sich her durch den Schneeschlamm, trotzdem die Füße des Jungen wundgelaufen waren — man sah es an der Art, wie er sie setzte; trotzdem er erfrorene Hände hatte — er steckte sie ab und zu in den Mund; trotzdem er bis auf die Haut durchnäßt sein mußte — die Pelzmütze klebte am Kopf wie ein Waschlappen! Der graue Mann selber saß trocken, in warmen, wasserdichten Kleidern, da, in der Hand die Peitsche, mitten im Gesicht den großen Riecher, daneben zwei funkelnde Augen. Niemand, der den Aufzug gesehen, hätte ahnen können, daß dieser gestrenge Herr keinen höheren Wunsch hegte, als den Jungen, den er da so wütend vor sich hertrieb, lieben zu können.

Aber um einen Menschen lieben zu können — dazu gehört, daß er so ist, wie wir wolle — nicht wahr? Und wenn nun das der Junge nicht wollte? Und wenn Kallem an Mißgeschick nicht gewöhnt war? Das erste ernstliche Mißgeschick, das ihn betroffen hatte, war der Tod seiner Frau gewesen, und ganz kurze Zeit darauf kam das mit dem Jungen. Bis dahin hatten sie alle im Ausland gelebt, Kallem in Frieden mit seiner Frau, seinem Geschäft und seinem Sport und seinen stillen Büchern — er war nämlich ein eifriger Leser; nichts hatte ihn je gestört oder geplagt. Das Geschäft besorgte der Bruder seiner Frau; es ging ausgezeichnet; das Haus besorgte seine Frau, ebenfalls ausgezeichnet. Alles ging ohne Störung oder Sorge, genau so, wie es gehen sollte — bis zum Tode der Frau.

Aber dann!

Weder er noch andere konnten anfänglich die unerwartete Veränderung begreifen, die mit ihm vorging. Manche meinten, der Verlust seiner Frau habe ihn verrückt gemacht; er selber meinte, das spanische Klima sei zu warm für ihn; er müsse fort, er müsse nach Hause. Der spanische Geschäftsführer stimmte sofort bei; es war nämlich eine ganz ausgezeichnete Spekulation, das Hauptgeschäft nach Norwegen zu verlegen und in Spanien eine Filiale zu unterhalten. So brachen sie denn auf — vor nunmehr etwa einem Jahr.

Aber der Junge, der schon in Spanien schuld war, daß der Vater das erstemal sich vergaß — übrigens auch ein zweites, und unglücklicherweise ein drittes, viertes, fünftes, sechstes Mal — immer war's der Junge!— brachte ihn leider auch in Norwegen aus dem Gleichgewicht. Im warmen wie im kalten Klima — der Junge war immer gleich eklig!

Bald kamen auch aus der Schule Klagen über ihn; dann aus der Apotheke, wo sie bei Kallems altem Freund zur Miete wohnten; dann von den Leuten, von den Nachbarn, von den Landungsbrücken. Vielleicht mußten auch andere Eltern Klagen anhören über ihre Jungens; vielleicht waren die Leute in dieser Gegend überhaupt schnell mit Klagen bei der Hand; davon wußte Kallem nichts; er war eine Einsiedlernatur. Soviel aber wußte er: sein Sohn war der begabteste Junge in der Schule; das versicherte ihn ein Lehrer nach dem andern; er wußte ferner, daß es dem Sohn auch im übrigen an nichts fehle, weder an Gemüt noch an Willen; nur — er war so gleichgültig und selbstzufrieden, mochte sich immer nur amüsieren, mochte in alles, was ihn nichts anging, seine Nase stecken, war gleichzeitig dreist und doch feig, ein schändlicher Spottvogel und grenzenlos unartig. Einen Engel im Himmel konnte es um die Geduld bringen; und nun gar Kallem, der überhaupt keine Geduld hatte.

Dieser schmächtige, geschmeidige Krabat, der da mit feigen Seitenblicken auf das Pferd und die Peitsche vor ihm herhinkte, hatte den Unfrieden in seines Vaters Leben gebracht. Nicht allein, daß er ihn im tiefsten Innern unsicher gemacht hatte, nein, er hatte ihn bisweilen seine Ohnmacht fühlen lassen — bis zur Hilflosigkeit; in solchen Augenblicken hätte er den Jungen am liebsten in Stücke geschlagen.

Dann wieder konnte er ihn vornehmen, konnte drohen, flehen. Noch in dieser letzten Sturmnacht hatte er ihn ins Gebet genommen, hatte mit den eindringlichsten Worten die schmähliche Angst des Knaben zu bannen versucht, hatte ihn ermahnt, ihm durch Erzählungen aus der Naturgeschichte erklärt, wie alle Prophezeiungen vom Untergang der Welt nur Erfindungen seien, Lügen... Der Junge antwortete: "Hm" und "Ja" — und glaubte kein Wort von allem, was der Vater sagte! Sobald das Unwetter losbrach, war er wie verrückt gewesen — und auf und davon in der jammervollsten Todesangst! Und heute trifft er ihn hier, auf offener Landstraße, eine Meile vor der Stadt, in Regen und Wind und Schmutz — selbstverständlich ohne Erlaubnis! Erst verunglimpft er den bravsten Jungen der ganzen Schule, einen kleinen Kerl, über den Kallem sich manch liebes Mal gefreut und den er oft mit ein paar Groschen bei seiner kleinen Mission unterstützt hatte, wenn Josefine ihm davon erzählte; — und obendrein...

"Sieh mal an! Hölle und Teufel! Ob er nicht zu allem hin noch lacht!" dachte er, während er dabei tat, als sehe er es nicht. Und worüber eigentlich? Na ja, über das Pferd da hinter ihm, mit "Hölle und Teufel" auf dem Rücken — und die Peitsche — und die gleichmäßigen schweren Tritte im Schneeschmutz: schwapp-schwapp — — schwapp-schwapp — — schwapp-schwapp! Und das alles wuchs nach und nach ins Maßlose, wuchs an, bis es zu einem ungeheuren, formlosen, verzerrten Etwas wurde ... Der Junge versuchte hastig, an etwas anderes zu denken, — er stürzte sich kopfüber in die englische Steinkohlengrube, die sich mit Wasser füllte — er suchte das Pferd, das hinter dem Jungen herkeuchte. Aber er kam nicht bis zur Grube hinunter; nichts als die helle Landstraße und "schwapp-schwapp — schwapp-schwapp" — und Hölle und Teufel, und die Peitsche, und er selber an der Spitze, auf anderthalb Beinen — hi-hi-hi!

"He?" schrie es hinter ihm.

Der Laut rieselte dem Jungen den Rücken hinunter wie ein spitzes Stück Eis. Unfern sah man jetzt Store-Tuft.

Dicht am Fuß der Böschung lag es, die sie eben hinab mußten. Es bestand aus ziemlich vielen Gebäuden, deren Mehrzahl im Viereck den Hof umgab. Auf der andern Seite lärmte der Fluß, mit Mühle und Sägwerk. Die Inseln draußen und die Landspitzen zu beiden Seiten schlossen die Bucht so völlig ab, daß das Meer ganz still lag, wie ein Teich mit vereisten Rändern. Am Strand lag eine Reihe von Bootsschuppen. Um sämtliche Gebäude Obstgärten, zum Teil recht ansehnliche.

Aus dem Wohnhaus von Store-Tuft stieg Rauch auf — endlich! Dort kochte die Mutter das Mittagmahl für Ole. Und Hunger und Kummer und Entbehren wurden übermächtig in dem Knaben, und vor lauter Sehnsucht nach einer warmen Stube und trockenen Kleidern und Heimweh nach seiner Mutter und der Heimat in Spanien hätte er fast wieder zu weinen angefangen. Aber dann dachte er daran, wie der Vater wieder sagen würde: "Hölle und Teufel! Jetzt flennt er!" Und da bezwang er sich.

Ängstlich blickte er nach dem Hof.

Das Wohnhaus lag mit der Langseite nach dem Garten zu — ein rot angestrichener, zweistöckiger Holzbau mit weißen Fensterrahmen. Dahin steuerten sie, der Knabe immer voran, der Vater hinterdrein.

An der Giebelseite vorbei gelangten sie in den Hof; gegenüber lagen die Ställe für das Vieh — Schafstall, Kuhstall, Pferdestall — alles unter einem Dach. Die Gebäude waren ganz neu und lagen rechtwinklig zur Scheune; gegenüber der Holzschuppen und die anderen Wirtschaftsgebäude. Auf dem Hof standen Ziegen und knabberten Tannennadeln, umschwärmt von Spatzen in unglaublichen Mengen; die Versammlung fand unmittelbar vor der Kornscheuer statt.

Jetzt erblickten die Ziegen die Ankömmlinge. Sie hoben die Köpfe und streckten die Hälse, alle auf einmal, Augen gespannt, Ohren gespitzt, starr, den letzten Bissen unbeweglich im Maul, neugierig bis aufs äußerste. Bloß der Bock kaute weiter, während er den beiden schwerfällig und gleichmütig entgegensah. Der Spatzenschwarm schwirrte geräuschvoll davon.

Zwischen der Giebelseite des Hauptgebäudes und dem Stall hielt der Vater und stieg ab. Der Junge war schon drin und begaffte das Scheunendach, das beschädigt war und eben ausgebessert wurde; Arbeiter waren jedoch nicht zu sehen. Wahrscheinlich waren sie kurz vorher mit auf den Fischzug gegangen; die Leiter stand noch auf ihrem Gestell gegen die Scheune gelehnt. "Halt!" rief der Vater. Und der Junge blieb stehen und wandte sich um. Der Vater war dabei, "Rauen" an einem Schleifstein festzubinden, der an der Giebelwand des Hauptgebäudes lehnte. Der Junge sah zu. "Merkwürdig, wie ruhig er jetzt ist!" dachte der Vater. Er trat vor und deutete mit der Peitsche nach der großen Steinschwelle vor dem Hauseingang; dahin sollte der Junge vorangehen. Das tat er denn auch. Erst kam er an einem Gitterschlitten vorbei; zwei Kätzchen spielten zwischen den Sprossen, eins innen, das andere außen. Die Fenster, an denen sie vorbeikamen, gingen so tief herunter, daß sie durch die ganze Schlafstube, die auf der andern Seite ebenfalls Fenster hatte, und dann ebenso in die Wohnstube sehen konnten. Da saß Ole, in einem weißen Hemd, das ihm bis auf die Füße reichte, am Herd mit hochgezogenen Beinen; neben ihm stand, über ein paar Töpfe gebeugt, die Mutter. Mehr zu sehen hatte Edvard nicht Zeit. Er stieg über die Schwelle und hinein in den Flur, aus dem ihm ein herber Fischgeruch, alter und frischer, und ein Geruch von etwas, was er nicht kannte, entgegenströmte. Wieder deutete der Vater voran — nach rechts; auch links war eine Tür, eine feingemalte mit einer Messingklinke; da sollte er nicht hinein. Na, dachte der Junge, soviel hätt' ich auch gewußt, daß wir irgendwohinein wollen, wo Menschen sind, und nicht in die kalte Gaststube! Er legte seine steifen Finger auf die Klinke und drückte.

Der Herd war in der Ecke links, dicht an der Tür. Und große Augen machten sie, die zwei, die da saßen! Oles Krauskopf guckte nur eben aus Vaters blauweißem Leinenhemd heraus. Die Mutter war ziemlich hochgewachsen und hatte feine Züge. Sie trug eine schwarze Haube. Das blonde, mit Wasser glattgekämmte Haar schmiegte sich um die Wangen, wodurch ihr Gesicht lang erschien. Sie richtete sich von ihren Töpfen auf und wandte sich den Eintretenden zu, die sie alle beide kannte. Ihr Gesicht war ernst, doch freundlich; ein bißchen ängstlich schien sie, oder unsicher; die Augen wollten anfangs auf keinem der beiden so richtig ruhen. Oles Stiefel standen am Herd; seine Kleider samt Hemd und Strümpfen hingen an einer Stange, die zwischen den Dachbalken befestigt war, zum Trocknen; auf dem andern Gestänge lag Holz und allerlei sonst. Ringsumher Hausgerät und Geschirr, wie immer am Werktag.

Die Stube war nicht gemalt, sondern vertäfelt; unter den Fenstern zu beiden Seiten liefen rotgestrichene Bänke entlang; in der Ecke links, auf der andern Seite des Fensters, stand ein Tisch mit einem Bücherregal darüber; am Tischende, gleich neben der Kammertür, hing die Schlaguhr; sie ging so gleichmäßig und unbekümmert, als sei der Unfriede niemals über diese Schwelle gekommen. Draußen sah Edvard die Kätzchen im Schlitten; das eine mit der Pfote von innen durchs Gitter heraus-, das andere von außen hineingreifend. Und unmittelbar vor sich Oles Gesicht. Ole lächelte; denn auch ihm war bang zumute. Aber die Töpfe!

Die Töpfe, die waren doch das Allerbeste, dachte der verhungerte und durchfrorene Edvard. In dem einen kleinen waren Kartoffeln; die waren schon fertig. Aber zwei hingen noch überm Feuer. Ob Fisch war in dem einen? Und im andern — —?

Die Mutter war verlegen; sie wußte nicht, was anfangen. Da standen sie, unbeweglich, der barsche Mann und der Junge. Gerade als sie die beiden zum Sitzen auffordern oder irgend sonst etwas sagen wollte, da ergriff der Vater das Wort. Sie werde ja wohl wissen, was geschehen sei — he? Der Bengel komme und wolle um Verzeihung bitten und sich seine Strafe holen. Das sei notwendig; denn er sei ein böser Junge, bei dem nichts nütze, als Strafe; im Guten sei bei ihm nichts auszurichten.

"Ach — aber — so schlimm ist es doch nicht!" sagte die Mutter mild. Ihr war ganz angst, und Ole wurde so bläulich bleich wie sein Hemd. — "Doch! Er soll seine Haue haben! Aber erst bittest Du um Verzeihung! Und zwar auf der Stelle — das rat' ich Dir!" — Ole fing zu weinen an. Edvard nicht. Ole konnte nicht mehr sitzen bleiben. Er stand auf und sah die Mutter an. "Da — —" sagte er. Weiter brachte er nichts heraus. Aber man sah, was er meinte: sie sollte sich ins Mittel legen.

"Bitt' um Verzeihung!" knirschte es. Die Peitsche zuckte. "Mutter!" schrie Ole. Edvard mußte vor. Ole hatte sich abgewendet; er wollte nicht mehr sehen. So etwas war er nicht gewöhnt. Edvard wich zurück; der Vater hinterdrein, daß die Sporen klirrten. Edvard lief, in seiner Not, mit ausgestreckten Händen auf Oles Mutter zu; sie nahm sie nicht, und Ole fing an, aus vollem Hals zu schreien. So großes Mitgefühl war zuviel für den armen Edvard; auch er heulte los, während er rund um die Mutter herumlief. Ein solcher Lärm war es, daß die Ziegen wieder, mit dem Futter im Maul, dastanden und glotzten und aufhorchten; die Spatzen, die zurückgekommen waren, schwirrten husch-husch aufs Dach.

Und was geschieht? Die Spatzen wiesen dem Jungen den Weg. Mit einem blitzschnellen Satz war er am Vater vorbei, zur Tür hinaus, die weitoffen hinter ihm stehen blieb. Die Ziegen stoben nach allen Seiten auseinander. Und der Junge — die Leiter hinauf — und aufs Dach. Sobald er oben stand, fing er an, die Leiter nachzuziehen. — "So ein Bengel! So ein Bengel!" schrie der Vater, der am Fenster stand. "He?" — Und fort war er.

Sobald der Sohn ihn kommen sah, ließ er die Leiter fahren, daß sie polternd herunterfiel. Der Junge selber lief wie eine Katze das Dach hinauf, bis zum First, guckte sich um und balancierte da, als hätt' er sein Lebtag nichts anderes getrieben. Jetzt fühlte er augenscheinlich keine Schmerzen mehr in den Füßen!

Des Vaters Angst überstieg alle Grenzen. "So pass' doch auf, Du! Pass' auf, sag' ich! Pass' auf! Willst Du wohl machen, daß Du 'runterkommst! Und zwar auf der Stelle! Mach', daß Du 'runterkommst, Du Lümmel!" Und er rannte in seinen Reitstiefeln im Hof herum und drohte hinauf.

"Fällt mir gar nicht ein! Ich spring' auf den Hof hinunter! Jawohl!"

"Bengel! Bist Du toll? Hölle und Teufel! Willst Du's wohl bleiben lassen!"

"Ja, wenn Du mich nicht haust!" — "Ich verspreche gar nichts!" — "So? Du versprichst gar nichts?" Und der Junge kletterte noch ein bißchen höher hinauf.

— "Doch! doch! Du Spitzbub! Du Lump!" — "Also Du versprichst es?" — "Ich versprech's ja — zum Teufel! Willst Du machen, daß Du 'runterkommst?" — "Auch nicht an den Haaren reißen — und nicht hauen — und nichts?" — "Ja doch, ja! Mach', daß Du 'runterkommst! Herrgott — Du rutschst ja aus! Edvard!" — Er kreischte. — "Also es gilt —? Du hast's versprochen?" — "Junge, wenn ich Dich hier hätte — Du solltest — —" er drohte mit der Peitsche hinauf. "Ja doch — ich hab's versprochen! Ich versprech' alles! Pass' auf!" — "Darf ich bis morgen hier bleiben?" sagte jetzt der Junge, "bei Ole? Darf ich?" — "Ich antworte überhaupt nicht mehr, bis Du herunterkommst!" — "Also nicht? Na denn — —" — "Du Starrkopf! Du miserabler Bengel!" — "Also Du sagst ja?" — "Ja doch, zum Teufel! Aber pack' Dich wenigstens fort vom Dachrand, Du Satanslümmel!" — "Du, Vater, eigentlich wär' mir's lieber, wenn Du zuerst weggingst!" — "O nein! Das schlag Dir nur aus dem Kopf! Mach' was Du willst. Erst will ich Dich wieder hier unten sehen!" — Schließlich war das dem Jungen auch recht. Der Vater legte die Leiter an, und der Junge kletterte langsam herunter; immerhin nicht eher, als bis der Vater ein Stück weit auf den Hof hinaus gegangen war. Und er hielt sich in gemessenem Abstand, trotzdem der Vater gern mit ihm geredet hätte und beteuerte, er werde ihm nichts tun. Er ging auch nicht ins Haus, solang der Vater da war, trotzdem er so naß war, und zwang den Vater dadurch, zu gehen.

Fünf, sechs Minuten darauf lagen beide Jungen strampelnd auf der Diele — Edvard in einem gleichgroßen Hemd wie Ole und im übrigen ebenso unbekleidet; beide waren dabei, ein paar dicke wollene Strümpfe anzuziehen, von der Art, wie die Bauern sie tragen, und die weit hinauf bis an den Schenkel reichen. Sie fanden es am bequemsten, das Geschäft auf dem sandbestreuten Fußboden vorzunehmen. Sie pufften einander in die Seiten und den Rücken und lachten, als sei all das, was wir soeben miterlebt haben, schon vor wer weiß wie langer Zeit geschehen. Ole machte alles nach, was Edvard vormachte; und sie lachten so, daß zuletzt auch die Mutter mitlachen mußte; dieser Edvard hatte auch die unglaublichsten Einfälle! Die Strümpfe mußten sie anziehen, damit sie nicht froren, wenn sie beim Essen am Tisch saßen; denn da gab's keinen Herd für die Beine. Und endlich waren sie denn auch so weit fertig, daß sie aufstehen konnten. Nun zeigte es sich, was das andere Gericht war; es war Rahmbrei. Das hatte Edvard noch nie gegessen. Ole sollte ein bißchen vergnügter werden, als er bei seiner Ankunft war; darum hatte die Mutter den Brei noch zugegeben. Edvard klatschte in die Hände und lachte das Essen an.

Aber Ole saß mit einemmal so ernst und still da! Nanu, was jetzt? Die Hände gefaltet, die Augen niedergeschlagen? Und die Mutter stand vor ihnen — auch sie ernst, die Hände gefaltet, die Augen niedergeschlagen. Ihr Gesicht neigte sich; es war, als glitte es weiter und weiter weg, oder als schöben sich Nebel davor und löschten alles Licht darin aus. Und dann begann sie, wie aus weiter, weiter Ferne, mit einem langen, langen Tischgebet, in einem einförmigen, leisen Ton, als rede sie still mit jemand anderm, an einem andern Ort als hier. Edvard fühlte sich wie ausgestoßen. Die Verlassenheit, die Angst kamen wieder über ihn, die alten Bilder, die alte Sehnsucht nach der Mutter. Dann war es weg, zusammengerollt wie Nebel, die am Gebirg herunter sinken.

Edvard hatte noch nie an einem Tischgebet teilgenommen, und die Art und das Wesen der Mutter waren für ihn etwas ganz, ganz Neues; und er verstand sie nicht, wenn sie so murmelte. Noch lange nachher saß er still da. Ole sprach ebenfalls nicht; die ganze Zeit, solange sie aßen, war er einsilbig; kaum daß er einmal lächelte. Das Essen war eine Gottesgabe; deshalb mußte Ernst herrschen.

Aber sie aßen denn auch mit Ernst! Die Mutter fragte schließlich, ob es nicht besser sei, ein bißchen für den Abend aufzuheben. Nein, meinten sie, dies sei ja doch gleichzeitig auch Abendbrot. Sie durften zusammen in der Altenteilstube schlafen, die als Gastzimmer diente; es war dort schon alles zurecht gemacht; und jetzt wollten sie noch ein Stündchen am Herd sitzen, dann aber zu Bett gehen.

Die Mutter merkte, daß sie am liebsten allein sein mochten und ließ sie denn auch allein.

Und dann später in der Schlafstube! Erst der entsetzlichste Spektakel! Die Pelzdecken und Federbetten stoben nur so um sie herum; dann wurde es allmählich ruhiger, und endlich kam es zu einem Gespräch. Ole erzählte, wie die Jungens sich benommen hatten, und Edvard versprach, er wolle den und jenen dafür durchhauen, und wenn es Anders Hegge selber wäre; wenn der nicht den Mund halte von "Gottes Wegen" und all dem, so würde er, Edvard, ihn ordentlich durchwichsen. Anders Hegge sei feig. Er wisse schon, wer ihm dabei helfen würde; das reine Kinderspiel!

Als sie müder wurden, kam die Sentimentalität; Ole sprach von Josefine, und Edvard ging auf seinen Ton ein und versicherte, sie sei unvergleichlich gewesen heute; er beschrieb, wie sie ihm nachgerudert war. Und Ole fand das groß. Ja, Josefine hatte etwas Großes; darin stimmten sie beide überein.

Edvard konnte nicht begreifen, weswegen Ole Missionär werden wollte. Was zum Kuckuck hatte es denn für einen Sinn, auf wilde Abenteuer auszuziehen, wo es doch hier in der Heimat genug zu tun gab? Ole sollte Pastor werden, und er Arzt, und beide würden sie im selben Kirchspiel leben. Wäre das nicht famos?

Edvard malte das immer weiter aus; sie würden Hof an Hof wohnen und oft zusammenkommen, besonders abends zu einem Glase Punsch, wie jetzt der Vater und der Apotheker, und Schach spielen wie sie. Dann wollten sie sich einen flotten Wagen kaufen, und jeder ein Pferd dazu halten, und zusammen ausfahren; das war gemütlicher als allein. Oder sie konnten am Strand wohnen und gemeinsam ein großes Boot haben — alles gemeinsam.

Ole war es, als sei bei allem Josefine mit, wenn auch Edvard davon nichts sagte. Aber es war klar, daß sie mit dabei war. Und Ole fand das so zart von Edvard, und war ihm so ungeheuer dankbar; und das gab den Ausschlag. Josefine als Pfarrfrau, die auf dem Hof waltete und schaltete ...

Also schließlich war er einverstanden; es wurde bestimmt, der eine sollte Pastor werden und der andere Doktor, und sie wollten zusammenwohnen. Das letzte, wovon sie sprachen, waren Fischzüge.

Sie hörten noch gewissermaßen die schweren Schritte und die Reden der Männer, die vom Fischzug heimkehrten, aber sie waren so müde.


Jugend

1

Erstes Paar vor!

Auf dem Land draußen, etwa fünf Kilometer von der Stadt entfernt, hatte sich das junge Volk versammelt. Der Hügel, auf dessen nach der Bucht zu abfallendem Teil sie saßen, war lustig bunt von Sommerkleidern, besonders von Mädchenkleidern:

"Gelbe, schwarze, braune, weiße,
Grün und violett und blau —"

— manche einfarbig, viele gesprenkelt, gewürfelt, gestreift; Filzhüte, Strohhüte, Tüllhüte, Mützen, unbedeckte Köpfe, Sonnenschirme. Eben stieg ein harmonischer Gesang aus diesem Farbenmischmasch empor, Klänge eines vereinten Männer- und Frauenchors, in langen, farbenvollen Bogen. Kein eigentlicher Vorsänger; ein junges, brünettes Mädchen in braunkariertem Kleide lag in der Mitte der Schar, auf den einen Ellbogen gestützt, und führte mit einem Sopran an, der klarer und freier als die Stimmen der andern war; und ihr folgten sie. Sie waren gut aufeinander eingesungen. In der Bucht unter ihnen lag ein frischgestrichenes Deckboot mit neuen, zur Hälfte gerefften Segeln; und das Wasser spiegelglatt.

Gesang und Boot vereinten sich zu einem lichten Bündnis unten in der schwarzen, von nackten, im Hintergrund immer höher ansteigenden Klippen überschatteten und eingeklemmten Bucht. Die Bucht selbst glich einem Bergsee, der sich dereinst beim Schneegang gebildet hat und vergessen worden ist. Die Berge — wie schwer und stumpf in Linien und Farben — holperig und bleiern; die letzten da hinten schwarzblau, mit Kappen schmutzigen Schnees, — Ungeheuer einer wie der andere.

In dem schwarzen Wasser lag das Boot, bereit zum Tanz; das war in fröhlicherem Verband daheim, als die Gesellschaft jener hohen Beisitzer des Natur- und Menschenlebens es ist, Gesang und Boot waren ein Protest gegen alles überragend Herrschsüchtige, alles unverschämt Stumpfe und Rohe — ein freischwebender Protest voll stolzer Farbenfreude!

Im übrigen merkten die Berge so wenig etwas von diesem Protest, wie das junge Volk begriff, daß er von ihm ausging. Das "Hochgeborene", das darin liegt, in einer Natur wie dem westlichen Norwegen zur Welt gekommen und aufgewachsen zu sein, besteht eben darin, daß die Natur den Menschen zwingt, ihr Trotz zu bieten, wenn er nicht unterjocht sein will; unter oder oben — entweder — oder! Und sie waren oben; denn das Volk des Westlandes ist das lebhafteste, am reichsten begabte Skandinaviens. In so hohem Grad sind sie die Herren der Natur, in der sie leben, daß auch nicht einer unter all diesen jungen Menschen jene Berge als schwer oder farbenkalt empfand; die ganze Natur hier erschien ihnen so stark und frisch wie nirgends sonst in der Welt.

Denn nicht nur die lichten Halden und das weite Meer hatten die Menschen, die hier saßen und sangen, geboren und aufgezogen; nein, ebensogut waren sie Kinder der Berge, der Vorberge und der tiefer landeinwärts gelegenen Höhen. Kurz vor dem Gesang noch war ein Wortgefecht gewesen zwischen ihnen, so unerbittlich hart, so bleigrau wie der grauste Berg. Und just um dies unheimlich Felsenharte in ihrem eigenen Innern zu überwinden, hatten sie den harmonischen Gesang lange, strahlende Bogen zwischen die Gipfel über den Abgründen spannen lassen. Der Sommertag war an sich ziemlich grau; aber bisweilen, wie eben jetzt, brach die Sonne mitten in Sang und Segel und Landschaft hinein.

Zwei waren da, an die war Sonne und Sang weggeworfen. Seht dort, den — wie er da unten rechts, ein bißchen abseits, auf seinen Ellbogen gestützt, im Gras liegt! Ein langer Bursch im hellen Sommeranzug, ohne Hut. Ein runder, kurzgeschorener Kopf, eine breite, niedere Stirn, die aussieht, als sei sie hieb- und kugelfest; die Stirn muß gute Stöße ausgeteilt haben in seinen Knabenjahren! Unter der Stirn eine Nase wie ein Schnabel und ein paar scharfe Augen, die gerade jetzt beinah ein bißchen schielen; aber entweder verdeckten es die Brillengläser, oder es war an sich unbedeutend. Das ganze Gesicht hatte etwas Strenges, der Mund war straff, das Kinn scharf. Doch wenn man es näher betrachtete, so wechselte der Eindruck; das Scharfgeschnittene wurde eher Energie als Strenge, und der Wille, der seinen Sitz in dieser Gebirgsgegend aufgeschlagen hatte, konnte sicherlich auch gar freundlich und schalkhaft sein. Selbst jetzt, wie er so dasaß, voll Ingrimm, und sich den Teufel um Gesang und Sonnenschein scherte, — — viel lieber hätte er sich eine Keilerei gewünscht! — selbst jetzt flog ein Schimmer von Humor über die finsteren Brauen. Er war offenbar der Sieger.

Wer etwa zweifelte, der brauchte bloß einen Blick auf die andere Seite der Gruppe zu werfen, auf den, der dort links, ein bißchen weiter oben, an einen Baum gelehnt saß. Das Bild eines verwundeten Kriegers! Und noch in den Zügen die zitternde Unruhe der Schlacht. Ein langes, blondes Gesicht, das nicht an der Westküste daheim war, sondern im Gebirg oder im Oberland. Entweder war er fremd hier oder von einer eingewanderten Familie. Er ähnelte auffallend den herkömmlichen Abbildungen von Melanchthon; nur daß vielleicht der Blick schmachtender, die Augenbrauen ein bißchen zu hoch geschürzt waren. Die Ähnlichkeit im ganzen — besonders in Stirn, Augenstellung und Mund — war so groß, daß er unter seinen Studienkameraden auch tatsächlich den Namen Melanchthon führte. Das war Ole Tuft, jetzt noch Student der Theologie, bald ausstudiert; und der andere, der Sieger mit dem Adlerschnabel, der eben noch recht kräftig zugehauen haben mochte, war sein Jugendkamerad, der Mediziner Edvard Kallem.

Vor mehreren Jahren schon waren ihre Wege auseinandergegangen, ohne daß es darum zu einem Zusammenstoß gekommen wäre; heute aber war etwas geschehen, das zu einer Entscheidung führen sollte.

Mitten zwischen ihnen, also in der Mitte des Hügels, im Kreis der Singenden, saß eine hochgewachsene Mädchengestalt in dotterfarbenem seidenen Kleid, um den Hals eine breite, gelbe Spitze, die in tiefen Falten bis an den Gürtel hinabreichte. Sie sang nicht mit, sondern reihte einen ganzen Berg Feldblumen und Gräser zum Kranze. Man konnte sofort erkennen, daß sie die Schwester des Siegers sein mußte, nur dunkler von Haut und Haarfarbe. Dieselbe Kopfform — wenn auch ihre Stirn verhältnismäßig höher war, überhaupt das ganze Gesicht verhältnismäßig größer — zweifellos zu groß. Die scharfe Familiennase war sanfter gebogen in ihrem regelmäßigen Gesicht; seine schmalen Lippen waren hier voll, sein Kinn gerundet, seine unebenen Brauen ebenmäßig, die Augen größer —. Und doch war es dasselbe Gesicht. Der Ausdruck bei beiden verschieden; bei ihr — wenn nicht kalt, so doch verschlossen und ruhig; niemand hätte so leicht diese tiefen Augen ergründet. Und doch war auch der Ausdruck bei beiden merkwürdig verwandt. Der Kopf saß auf einem starken, von kräftig ausgebildeten Schultern getragenen Hals; auch die Büste war recht üppig. Das dunkle Haar war zu einem eigenartigen Knoten verschlungen. Den Hals trug sie frei; aber das gelbe Kleid mit der gelben Spitze schmiegte sich eng an den sammetbraunen Körper, wie überhaupt der ganze Anzug den Eindruck von etwas fest Zugeknöpftem machte; und ebenso ihr Wesen. Sie flocht, wie gesagt, einen Kranz und wandte den Blick weder nach dem einen noch nach dem andern der zwei, die da miteinander gefochten hatten.

Hervorgerufen war der Kampf durch einen großen, schwarzen Hund; der lag jetzt da und tat, als ob er schliefe. Sein nasser, schwerer Pelz glänzte in der Sonne. Ein paar junge Leute hatten Stöcke ins Meer geworfen und den Hund hinterher gehetzt; und dabei hatten sie jedesmal gerufen: "Samson! Samson!" — das war der Name des Hundes. Da sagte Edvard Kallem zu einigen Umstehenden: "Samson — das bedeutet Sonnengott". — "Was?" fragte ein junges Mädchen, "Samson bedeutet Sonnengott?" — "Gewiß. Wenn auch die Theologen sich schwer hüten, das zu sagen." Er sagte es ganz jugendlich leichthin, gar nicht um jemand zu ärgern oder um daran weiterzuspinnen. Aber Ole Tuft hörte es zufällig und fragte etwas überlegen: "Weshalb sollten denn die Geistlichen den Kindern nicht sagen, daß Samson Sonnengott bedeutet?" — "Weil dann die ganze Samsonerzählung nicht mehr als Vorbild für den Christusmythus zu brauchen wäre." Das Wort saß; und das sollte es auch. Lächelnd, überlegen sagte Ole: "Samson läßt sich wohl trotzdem als Vorbild gebrauchen — ob er nun Sonnengott heißt oder nicht!" — "Ja — ob er Sonnengott heißt oder nicht; wenn er aber der Sonnengott war?" — "So? Also er war der Sonnengott?" rief Ole lachend. — "Das sagt doch der Name." — "Der Name? Sind wir etwa Bären oder Wölfe, weil wir nach Bären und Wölfen heißen? Oder Götter, weil wir nach Göttern heißen." Verschiedene aus der Gesellschaft hörten das mit an; jetzt kamen auch andere hinzu, unter ihnen Josefine. Und beide wandten sich sofort an sie.

"Der Fehler ist," sagte Edvard, "daß in die Geschichten, die von Samson handeln, überhaupt erst Sinn kommt, wenn man weiß, daß er der Sonnengott war." — "Ach! Heutzutag müssen ja sämtliche Ahnen und Urgeschichten aller Völker irgendwie auf die Sonnensage Bezug haben!" Und Ole gab ein paar amüsante Parodien auf diese wissenschaftliche Mode zum besten. Allgemeine Heiterkeit; auch Josefine lachte. Sofort geriet Edvard in Eifer und begann auseinanderzusetzen: als sich bei uns eine neue Religion bildete, da wurden unsere eigenen Götter, die ursprünglich indische Sonnengötter waren, zu Stammvätern; ihre Altäre, an denen das Volk geopfert hatte, wurden in Grabstätten umgewandelt. Auf diese Weise wurden auch die alten Sonnengötter der Juden umgewandelt in Stammväter, als der Jahvekultus sie als Götter verdrängte. — "So? Und woher will man denn das wissen?" — "Wissen? Mach' doch die Probe mit Samson! Wie sinnlos, zu glauben, daß die Stärke eines Menschen in seinen Haaren liegen kann! Sobald wir aber davon ausgehen, daß es die Sonnenstrahlen sind — zur Sommerzeit lang, im Schoß des Winters kurz geschnitten — kommt Sinn in die Sache. Und wenn die Strahlen gegen das Frühjahr hin wieder wuchsen — nicht wahr? — da konnte der Sonnengott wiederum die Säulen der Welt umfassen!... Nie haben Bienen Honig gesammelt in einem Aas; wenn wir aber hören, daß es — so oft die Sonne durch ein Himmelszeichen ging, z. B. durch den Löwen, — hieß: die Sonne schlug den Löwen — ja, dann verstehen wir, daß die Bienen Honig im Aas des erschlagenen Löwen sammelten, d. h. in der wärmsten Zeit des Sommers."

Jetzt waren alle ganz Ohr, und Josefine war im höchsten Grade verwundert. Sie sah nicht zu ihrem Bruder auf, denn sie merkte, daß er sie ansah; aber es war nicht mißzuverstehen: was Edvard anfänglich ohne jeden andern Gedanken als den, ein bißchen zu protzen, begonnen hatte, das erhielt eine bestimmte Bedeutung dadurch, daß Josefine zwischen ihnen stand. "Bei den Ägyptern", erzählte er, "begann der Frühling, wenn die Sonne das Lamm schlachtete, d. h. durch das Zeichen des Lammes ging, und aus Freude über die Erneuerung schlachteten alle ägyptischen Familien an diesem Tag ein Lamm. Von ihnen haben es die Juden. Wenn die Juden dies später zu etwas umgewandelt haben, das sie von den Ägyptern unterscheiden sollte, so ist das eine Fälschung. Gerade wie mit der Beschneidung; auch die haben sie aus Ägypten. Aber so was verschweigen die Herren Pfaffen."

Von all dem wußte Ole Tuft wenig oder nichts. Sein eifriges Studium hatte sich streng auf die Theologie beschränkt; er hatte auch gar keine Zeit zu anderen Dingen und sein Glaube war altes Bauernerbe und in sich selbst viel zu gefestigt, um sich mit wissenschaftlichen Zweifeln abzugeben. Hätte er das nun geradeheraus gesagt, so wäre kaum weiter etwas daraus entstanden. Aber auch er fühlte, daß Josefine zwischen ihnen stand und sich bestechen ließ. So begann er voll Hohn alles als bloße Erdichtung zu bezeichnen, die heute glänzt und morgen zergeht.

Das ertrug die Eitelkeit des andern nicht! "Den Theologen fehlt es ganz einfach an der primitivsten Ehrlichkeit", schrie er. "Sie verschweigen, daß die wichtigsten Teile ihres Glaubens nicht den Juden offenbart, sondern einfach irgendwo anders hergenommen sind. So der Unsterblichkeitsglaube. Der stammt aus Ägypten. Ebenso die Gebote. Kein Mensch klettert einen hohen Berg hinauf, um sich unter Donner und Blitz offenbaren zu lassen, was die Leute schon tausend Jahre lang gewußt haben. Woher stammt der Teufel? Woher die Strafen der Hölle? Woher der jüngste Tag und das Gericht? Woher die Engel? Die Juden haben von all dem nichts gewußt. Die Pfaffen sind — na, einfach Leute, die nicht ehrlich nachforschen und dem Volk derartiges weismachen!" Josefine senkte den Kopf; die Jugend, besonders die männliche, war offenbar auf Kallems Seite. Freidenkertum war Mode; und sich ein bißchen über den angestammten Glauben lustig machen, war ganz vergnüglich.

Ein junger Mann ergoß seinen Spott über die Schöpfungsgeschichte; Kallem besaß geologische und paläontologische Kenntnisse und wußte sie gut anzubringen. Dabei konnte Ole Tuft noch weniger mit; er erwähnte bloß ein paar Versuche, die hier und dort gemacht worden waren, die Bibellehre mit gewissen neueren Entdeckungen in Einklang zu bringen. Aber er kam schlecht weg dabei. Und nun ging's, Trumpf über Trumpf, von einem Dogma zum andern; am längsten stritten sie sich über die Lehre von der Versöhnung; die stamme aus einer Zeit, so uralt, so roh, daß noch nicht einmal die persönliche Verantwortlichkeit des Individuums existierte, bloß die des Stammes und der Familie. Tuft war verzweifelt; jetzt galt es! Mit lauter Stimme, bewegt und kraftvoll, fing er an, seinen Glauben zu bekennen. Als ob das was helfen konnte! Behauptungen — Behauptungen! Bring uns die Beweise! Zu spät erkannte Ole Tuft, daß er zu viel verteidigt und darum alles verloren hatte. Er empfand ein tiefes Weh; er kämpfte ohne Hoffnung, aber er kämpfte dennoch und rief es laut in alle Welt hinaus: wenn auch nur eine dieser Wahrheiten zweifelhaft erscheine, so trage allein er die Schuld; er sei zu schwach, sie zu verteidigen. Aber Gottes Wort bleibe unangetastet bestehen, bis ans Ende der Welt! — Ja, aber was denn eigentlich Gottes Wort sei? — Gottes Wort — das sei die Bibel, in ihrer Ganzheit und ihrem Geist, die Schöpfung (oho!), der Sündenfall (hört! hört!), der Erlösungstod (hört! hört! hört!) — — — Er schrie, die andern schrien, Tränen traten ihm in die Augen; seine Stimme zitterte; er war bleich und schön.

Ganz so unbarmherzig wie Kinder sind junge Leute nicht; aber doch auf dieselbe Art. Einigen tat Ole leid; andere wollten ihn jetzt erst recht "reinlegen" — und vor allen Edvard Kallem.

Josefine aber machte sich heimlich zu der Brünette mit der Sopranstimme. Und augenblicklich stimmte diese eins ihrer Lieder an, und die andern fielen nach und nach ein — die Herren ein bißchen später als die Damen. Die Gesellschaft bestand zufällig — bis auf wenige Ausnahmen — aus einem Damen- und Herrenchor, die in den drei letzten Wintern mit einem Fleiß und einer Eintracht geübt hatten, wie das nur in einer kleinen Stadt möglich ist.

Josefine setzte sich mitten auf den Hügel; die anderen um sie herum. Sie sang nicht mit; sie war mit ihren Blumen beschäftigt.

Die ganze Gesellschaft war mit dem Schiff hergekommen, das dort unten so heiter in der Sonne lag. Josefine, Edvard und Ole hatten dicht beieinander gesessen; denn viel Platz war nicht. Keiner hätte nach ihrer heiteren, meist im Flüsterton geführten Unterhaltung ahnen können, daß nicht alles zwischen ihnen die lautere Freundschaft und Güte war. Und jetzt, kaum drei Stunden später, saß Ole Tuft da als Ausgestoßener. Wie weh das tat! Ein plötzlicher Angriff auf seinen Beruf, seinen Glauben — vor aller Augen! Und gerade von Edvard! Und so grausam! So erbarmungslos höhnisch! Und Josefine! Kein Wort der Teilnahme von ihr — keinen Blick!

Von Kindheit an hatten sie zusammengehalten, Ole und sie, hatten einander geschrieben, als er in Kristiania war — er alle vierzehn Tage; sie, sooft sie etwas zu schreiben hatte. Wenn er in den Ferien zu Hause war, kamen sie täglich zusammen. In den zwei Jahren, als sie in der französischen Pension und in Spanien war, wurde der Briefwechsel eifriger geführt, auch ihrerseits, — und als sie wieder nach Hause kam — so sehr sie sich auch sonst verändert hatte — im Verhältnis zu ihm war sie dieselbe geblieben! Ihr Vater unterstützte ihn bei seinen Studien, so daß er sich mit voller Hingabe ihnen widmen konnte; zu Weihnachten sollte er sein letztes Examen machen; und jedermann prophezeite ihm, es würde ganz glänzend ausfallen. Daß man ihn so unterstützt hatte, das verdankte er ohne Zweifel ihr, vielleicht auch ihrem Bruder. Beide hatten ihn seinerzeit bei ihrem Vater, beim Rektor, beim Apotheker und auch sonst eingeführt; auch jetzt verschaffte sie ihm Zutritt überall. Für gewöhnlich war sie wortkarg und manchmal recht schwierig; aber in ihrem Freundschaftsverhältnis von unverbrüchlicher Treue. Sie konnte ihn auszanken (er war gar nicht immer so, wie's ihr paßte); aber das gehörte zu ihrem Verkehr; er nahm das weiter nicht schwer, und sie erst recht nicht. Sie war ja vom ersten Tag an sein Vormund gewesen. Noch hatte er nicht gewagt, ihr zu sagen, daß er sie liebe; es hatte ja auch keine Eile; und im Grunde war es viel zu heilig. Er war ja ihrer so sicher wie seines Glaubens. Er war ein Bauer; sein Wesen war Einheit, sein Grundton Gefestigtheit. Für seinen Glauben sorgte Gott. Für sein Wohlergehen und seine Zukunft sorgte selbstverständlich auch Gott — aber durch Josefine. Sie war in seinen Augen das schönste, gesundeste, tüchtigste Mädchen im ganzen Land — und sehr reich. Das zählte auch mit; er war von kleinauf ein ehrgeiziger Träumer gewesen. Nur daß die Träume jetzt nach einer andern Richtung gingen.

Seine Studienkameraden wußten das recht wohl; sie nannten ihn, außer "Melanchthon", den "Bischofprätendenten der Fjorde" oder auch den "Fjordbischof". Ihm selber war es geradezu ein Bedürfnis geworden, als solcher betrachtet zu werden; und weil etwas Kindliches darin lag, stand ihm diese lächelnde Überzeugtheit ganz gut. Außerdem — er sah so gut aus — hatte ein so hübsches, offenes, rosiges Gesicht —; da wirkt der Ehrgeiz nicht leicht abstoßend.

Und jetzt fühlte er — er war abgestürzt von seiner ruhigen, lächelnden Höhe! Jeder, der sich immer sicher gefühlt hat und zum erstenmal eine gründliche Niederlage erleidet, wird dadurch aus allen Fugen geraten! Das Schlimmste war — Josefine verleugnete ihn. Wieder und wieder blickte er zu ihr hin; aber sie ordnete ihre Blumen und Gräser, als sei er überhaupt nicht vorhanden.

Zuletzt war es wirklich, als rückten alle von ihm ab, oder als sei er tatsächlich nicht mehr da. Er saß, ohne zu sitzen, hörte, ohne zu hören, sah, ohne zu sehen. Droben vor dem Haus deckte man den Tisch zum Abendbrot. Sobald es fertig war, ging man hinauf, aß, trank, schwatzte, lachte; bloß er war nicht mit dabei; er stand und starrte hinaus — nach dem jenseitigen Ufer der Bucht — oder in weite, weite Fernen ... Ein junger Kaufmann redete zu ihm über Dampferlinien — daß sie so gar nicht günstig lägen. — — Ein Mädchen mit schrägstehenden Zähnen, roten Zöpfen und Sommersprossen — er hatte ihr einmal Unterricht gegeben — versicherte ihm, die Seeleute seien gar nicht so gebildet, wie man das von so weitgereisten Menschen erwarten sollte. Die Wirtin kam und fragte, warum er denn nichts esse, und der Wirt stieß mit ihm an; sie erwiesen ihm dadurch etwas vom alten Respekt; aber sie warfen beide einen hastigen Blick auf seine Augen, vor dem er erbebte: er fühlte den Zweifel. In seinem nagenden, immer mehr zunehmenden Schmerz sah er überall Zweifel und Hohn, selbst in der Fröhlichkeit der andern. Edvard war lustig bis zur Ausgelassenheit, und alles drängte sich um ihn. Ihm zu Ehren — er war vor etwa vierzehn Tagen heimgekehrt — war ja auch der ganze Ausflug unternommen. Ole sah wie im Traum, daß Josefines Blumen jetzt auf dem Tisch standen, und hörte, wie die Zusammenstellung der Farben gerühmt wurde. Sie selber hatte mit zwei Freundinnen an einem kleinen steinernen Tischchen Platz genommen, an dem niemand weiter sitzen konnte. Vielleicht, damit er sich nicht anschließen sollte? Ganz drüben, auf der andern Seite war es. Er sah sie plaudern und lachen; sämtliche junge Herren bedienten sie. Edvard war auch ein paarmal dort, und brachte sie zum Lachen. Und das alles beobachtete er mit einem sonderbaren Gefühl von Angst. Der Lärm tat ihm weh, das Lachen war wie ein Hohn, das Essen blieb ihm im Halse stecken, das Getränk brannte, die Menschen waren wie Automaten — das Haus, die Bucht, das Boot, die Berge so erdrückend nahe.

Da Windstille eingetreten war, mußte die Gesellschaft zu Fuß nach der Stadt zurückgehen. In geschlossener Kolonne, singend, begann man zu marschieren; aber bald kamen aus den umliegenden Gehöften Sommergäste herzu, und da es Bekannte waren, machte man halt. Die Neuhinzugekommenen schlossen sich ein Stück Wegs an; dann kamen weitere; und jedesmal gab es einen Aufenthalt, und jedesmal lösten sich einzelne Gruppen los. Dadurch gelang es Ole, unbemerkt zurückzubleiben. Er konnte die Gesellschaft und ihre Lustigkeit nicht mehr ertragen.

Denn jetzt erst konzentrierte alles sich um Josefine. Edvards plötzliches Umschwenken, sein Angriff, die Schmach der Niederlage, das verletzte religiöse Empfinden ... alles verfloß in dem einen Gedanken, daß sie nicht zu ihm gestanden war, mit keinem Wort, mit keinem Blick; daß sie ihm erst ausgewichen war und ihn jetzt ganz im Stich ließ. Das ertrug er nicht; denn sie war ihm viel zu teuer geworden. Er wußte es und er schämte sich dessen nicht. Sein früherer höchster Erdenwunsch
— Missionär zu werden — war von ihm abgefallen
wie eine Haut, als Josefine keinen Wert mehr darauf legte. Jedesmal, wenn die Mutter ihm gesagt hatte, er möge doch nur nicht Missionär werden, hatte er erwidert: man solle Gott mehr gehorchen als den Menschen. Aber als Josefine, in ihrer kraftvollen Art, in eine nähere Wirklichkeit hineinwuchs, da gab er es auf, ohne daß sie auch nur ein Wort darüber zu verlieren brauchte. Daß es sich strafen müsse, wenn man einen Menschen so liebe, das sagte er sich selber. Aber er konnte nicht anders.

Unter solchen und tausend ähnlichen Gedanken blieb er nach und nach zurück und bog vom Weg ab in ein Wäldchen ein; dort warf er sich nieder und wartete, bis die Sommergäste zurück- und vorbeikommen würden. Er drehte sein Gesicht der Erde zu. Das kühle Gras, das ihm Wangen und Stirn kitzelte, und die feuchte Erde, die er einatmete, redeten zu ihm ... Solch dürftiges, im Schatten wachsendes Gras hat keinen Duft; und so war es auch mit ihm; durch sie hatte auch er die Sonnenseite kennen gelernt; ohne sie war nichts als Schatten.

Und der Bruder hatte sie ihm genommen! schrie es in ihm.

Dieser Bruder, der sich bis vor wenigen Tagen nicht um sie gekümmert hatte, während er, Ole, von Kind auf um sie gewesen war, mit ihr gerudert hatte, ihr vorgelesen, ihr Bruder und Schwester zugleich gewesen war und ihr geschrieben hatte, wenn sie fern voneinander waren! Hatte ihr Bruder das je getan? Selbst seine Niederlage durfte er sich zugute schreiben! Denn hätte er's — ihretwillen — nicht so gewissenhaft genommen mit dem Examen, zu dem ihr Vater ihm verholfen hatte — so hätte er mehr gewußt von den Dingen, um die sich's handelte — hätte vielleicht keinen solchen Abfall erlitten. Auch das mußte er um seiner Treue willen erdulden.

Edvard war, in Josefines Kinder- und Backfischzeit, selten mit ihr zusammen gewesen, ohne sie zu necken. Sie war immer ein hageres Ding gewesen, mit großen schwarzen Augen, meist sehr zerzaustem Haar, roten Händen und einer "schlottrigen" Figur. Er hatte sie nur das "Entenküken" genannt, und als sie einmal gefallen war und hinkte, "das lahme Entenküken". Er konnte nie so recht klug aus ihr werden; sie war so herb und trotzig und immer — drei Schritt vom Leibe. Und dann — sie war so oft der Anlaß, daß er Schläge bekam. Sie hielt es für "gerecht", zu erzählen, wenn er etwas Dummes angestellt hatte. Und wenn er sie dafür verprügelte, so war es "gerecht", auch das wieder zu erzählen. Das empörte ihn gegen sie. Bald kamen sie auch dadurch auseinander, daß er das väterliche Haus verließ. Nach jenem unglückseligen Tag, an dem Vater und Sohn auf dem Weg nach Store-Tuft zusammengetroffen waren, erbarmte sich der Apotheker seines alten Freundes und nahm den Jungen ganz regelrecht als seinen eigenen Sohn zu sich. Und was dem Vater nicht geglückt war, das glückte ihm. Der Junge wurde sofort aus der Schule genommen und durfte seinem Hauptinteresse, den Naturwissenschaften, leben. Chemische und physikalische Analysen oder botanische Ausflüge waren sein Höchstes, und zwei Jahre lang trieb er ausschließlich derartige Studien. Die zum Abiturientenexamen notwendigen Fächer eignete er sich dann durch Privatunterricht so rasch wie möglich an, und nach der Prüfung begann er sein medizinisches Studium. So lange er daheim war, sah er seine Schwester nur, wenn sie ihn in der Apotheke besuchte, und da ihre Interessen auseinandergingen, war der Verkehr eigentlich gleich Null. Später nahm ihn der Apotheker fast in jeder Vakanz mit ins Ausland; Edvard hatte gute Sprachkenntnisse, und die gingen dem Apotheker ab. Also kamen auch während der Ferien Bruder und Schwester nur selten zusammen. Aber seit er als Student mit dem Apotheker seine erste Reise ins Ausland gemacht und sie den heimgekehrten, erwachsenen Bruder gesehen und gehört hatte — modern in Kleidung und Gedanken, feurig, kraftvoll, das Ideal der gesamten Jugend, besonders der weiblichen — hatte sie ihn heimlich bewundert. Er seinerseits übersah sie einfach; oder er zog sie auf; das kostete sie Stunden der Qual; aber sie schluckte es tapfer hinunter, nur damit sie sein konnte, wo er war — wenn auch nur ganz still in einer Ecke.

Ole verstand sie, trotzdem sie sich nie verriet. Auch ihm gegenüber sprach sie selten anders von Edvard als von einem "Ekel", einem "Wicht", einer "Plappermühle" usw. Aber durch die treuen Dienste, die er ihr erwies, so oft sie vom Bruder übersehen oder gekränkt dasaß, sammelte Ole sich Schätze in ihrem Herzen.

Mit Edvard war eine große Veränderung vorgegangen; seine Neugierde war zur Wißbegier, seine Unruhe zu Energie geworden. Aber gleichzeitig durchlief auch die Schwester verschiedene Stufen der Entwicklung, von denen er nichts ahnte. Zweiundeinhalbes Jahr waren jetzt verflossen, seitdem er sie zum letztenmal gesehen hatte; sie war zwei Jahre in Frankreich und Spanien gewesen, und in den letzten Ferien, als sie zu Hause war, hatte er mit dem Apotheker eine Reise nach England gemacht; auch in diesem Jahr waren sie ein paar Monate zusammen fort gewesen. Die Schwester, die er jetzt sah, die kannte er nicht. Nach der ersten Begegnung war er ganz von ihr erfüllt.

Schön sei sie nicht, sagte er zu Ole (zu dessen größter Verwunderung), sobald die beiden sich trafen. Aber er wurde nicht müde, von dem neuen und eigenartigen Eindruck zu sprechen, den sie hier unter all den andern mache. Ihre Mutter müsse sich an einer Spanierin versehen haben, als sie mit ihr schwanger ging. Wäre nicht dieses Unnennbare — die Augen gewesen, was auf der ganzen Welt Volk von Volk unterscheidet — wären nicht die Augen gewesen, sie hätte unter Spaniern ruhig für eine Landsmännin gelten können. Wie das in einem norwegischen Hause wirkte! Sie sprach gut — lebendig und rasch — war aber eigentlich wortkarg, und hielt sich zurück. Kühn in ihrer Kleidung, mit einer Vorliebe für starke Farben, ganz modern, fast herausfordernd, aber in jeder andern Hinsicht eher scheu.

Fortan war Edvard ihr Bruder. Der Vater war verreist, und während der Zeit wohnte sie bei Rektors und war nicht immer zu haben; aber so oft es sich machen ließ, waren sie zusammen. Sie hatte die Empfindung, als ob er sie gern "entdeckt" hätte, und war auf ihrer Hut; aber es schmeichelte ihr, daß er in Gesellschaft seine Worte an sie richtete und daß seine Augen stets die ihren suchten.


Während Ole, tief unglücklich, sein Gesicht ins Gras des Waldbodens preßte, standen sie alle vor ihm, die Stunden, da sie auf dem Ball den Bruder hatte tanzen sehen — mit der und mit jener — manchmal mehrere Tänze mit einer und derselben — und mit ihr bloß eine "Pflichttour".

Und jetzt?

Jetzt war sie Edvards Schwester — seine geliebte Schwester — und Oles und ihre Wege gingen auseinander ...

Weshalb mußte Edvard sich in ein Verhältnis eindrängen, von dem er doch gar nichts wußte? Sich Rechte anmaßen, die er sich durch nichts verdient hatte? Nach ein paar Tagen des Zusammenseins einfach entscheiden, wer für sie passe — und wer nicht?

Weshalb vor aller Augen ihn angreifen und ihn verhöhnen in dem, was ihm Lebenssache war? Und nicht allein ihn — sondern Gott selber.

Und wie Ole Tuft diesem Gedanken nachhing, verbreitete sich um ihn ein seltsam heller Lichtschimmer — und in diesem Schimmer stieg etwas Großes empor über den Bergen jenseits des Fjords ... Er fühlte, wie es ihn im Nacken packte, während er so dalag, das Antlitz tief in den Rasen gedrückt. Und es flüsterte, und das Flüstern erfüllte den ganzen Raum — von dort bis hier —: "Was hast Du aus mir gemacht?"

Ah — wie plattgedrückt kam er sich vor — wie in die Erde hineingepreßt! Und er begriff jetzt, weshalb der Schmerz wie mit einem Schermesser das Kranke aus seinem Fleische schnitt. Er hatte verloren heute, weil er als Lügner dastand. "Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!" "Gott, Gott! Vergib mir! Schone meiner! — Und Deine fleischlichen, Deine eitlen Träume!... Nimm, gleich Israel, der Nacht wahr, um zu ringen mit mir!... Wurm, der Du Dich krümmst!" — — —

Über ihm den Raum durchbrauste der Klang von tausend Schwingen.

Es war nicht das erstemal, daß der Ernst des Alten Testaments von den Höhen auf ihn herniederstürzte und seine Wohnstatt aufschlug in ihm. All diese Fragen — ob "groß" — oder "klein" — ob er das "Höchste" wagen oder sich, wie die andern, mit dem Mittelmäßigen begnügen sollte — sie waren ihm nichts Neues.

Doch wenn er dann Josefine wieder traf — bei guter Laune — so waren diese Fragen wie weggeblasen. Mit einem einzigen guten Händedruck schob sie sie beiseite. Auch jetzt war es wieder so. Ohne jeden Übergang strömte von ihr ein gesunder Protest in ihn über. Nimmermehr hätte Josefine sich heut von ihm abgewandt, bloß weil der Bruder es wünschte! Nimmermehr! Wenn sie es so aufgefaßt hätte, dann hätte sie gerade entgegengesetzt gehandelt. Nein — weil er ein Schwächling war, wandte sie sich von ihm ab, einzig deswegen. Vielleicht auch, weil sie sich nicht gern in einen Streit mischen mochte; sie war so scheu. Sie wandte sich ja eigentlich auch nicht dem Bruder zu. Sie hatte mitten unter den andern auf dem Hügel gesessen und später, beim Essen, mit einigen Freundinnen an einem besonderen Tisch. Und auch beim Aufbruch hatte sie sich nicht an den Bruder gehalten, der doch fast alle um sich sammelte.... Warum hatte er denn daran nicht eher gedacht? Sie war ja doch treu.... Ganz gewiß! Sie war treu! Er stand auf. Wieso in aller Welt hatte er das nicht gleich gesehen?

Er hätte gern gehabt, daß sie ihm auf eine oder die andere Weise geholfen oder ihn wenigstens getröstet hätte, ihm gezeigt hätte, wie leid er ihr tat. Aber dergleichen lag nicht in Josefines Natur. Was fiel ihm denn nur ein? Besonders, wenn irgendwie ein Aufsehen entstanden war, und die Leute sie beobachteten.

Ein rechter Schafskopf war er gewesen. Und im Bewußtsein dieser erfreulichen Entdeckung sprang er das Gehölz hinab über den Straßengraben und machte sich ebenfalls auf den Heimweg.

Großer Gott im Himmel, wie er sie liebte! Er sah sie vor sich, wie sie sein konnte, wenn er ihr zu kindisch war; er sah den guten, großen Blick, bei all ihrer Majestät!...

Der späte Sonnenuntergang hinterließ keine Röte am Himmel; die Nacht war grau und schlaff, der Weg, am Fuß einer kahlen Anhöhe entlang, anmutlos; zu beiden Seiten kleine Anwesen, die Häuser auf der Anhöhe, ärmlicher Kleinbetrieb, da und dort ein paar dürftige Sommervillen, niedrige Bäume und vereinzelte Büsche.

Er sah es und sah es nicht, während er seinen eigenen Gedanken nachhing. Keine Seele unterwegs; ja, doch, ganz da vorn ein einzelner Mensch, der auf die Stadt zuging. Ole mäßigte seine Schritte, um diesen einen nicht einzuholen, und merkte gar nicht, daß vor dem, der dort ging, einer war, der kam. Jetzt konnte er auf einmal beide unterscheiden. Himmel!... War das nicht...? Oder täuschte er sich?... Nein, er kannte den Hut, und nun auch den Gang, die Figur! Es gab nur eine solche! Josefine kam zurück, um ihn zu holen! Das sah ihr ähnlich.

"Aber wo steckst Du denn?" sagte sie. Ihr großes Gesicht war gerötet, ihr Busen wogte, die Stimme klang gedämpft, der Sonnenschirm, den sie in der linken Hand trug, war nicht ganz ruhig. Ole antwortete nicht; er sah ihr Gesicht, ihr Kleid, die Hutfeder, die stolze Gestalt an, bis sie unwillkürlich lächelte; so viel stumme Bewunderung und Dankbarkeit durchbricht am Ende jeden Panzer. "Josefine, ach, Josefine!" Von seinem flachen Strohhut bis zu den Stiefeln herab war alles ein einziger Widerschein von Glück und Bewunderung. Da kam sie heiter heran, legte ihre rechte Hand auf seinen linken Arm und schob ihn sachte vorwärts: er solle gehen.

Sein Gesicht trug die Spuren des Grases, in das er sich geworfen hatte; sie glaubte, er habe geweint. "Du bist zu dumm, Ole!" flüsterte sie.

Die graue Sommernacht, die nicht schlafen kann und auch nicht wachen, erweckt leicht das Gefühl von etwas Halberreichtem, — für die beiden wurde sie, was ein halbdunkles Zimmer für zwei heimlich Verlobte ist. Sie ließ ihre Hand auf seinem Arm liegen, und als seine Augen den ihren begegneten, sah sie ihn an, wie wenn man ein Kind zudeckt. "Siehst Du, ich dachte," sagte er, "ich glaubte, ja, denk' nur, ich glaubte ..." Tränen standen ihm in den Augen. "Du bist zu dumm, Ole!" flüsterte sie wieder. Und damit waren die Stürme des Tages abgetan.

Ihre Hand blieb auf seinem Arm liegen; es sah aus, als führe sie einen Arrestanten. Er fühlte kaum den Druck, aber es rieselte ihm durch Mark und Bein. Ab und zu streifte ihr seidenes Kleid sein Bein; sie gingen im Takt, der elektrische Strom ihrer Nähe trug ihn. Sie waren ganz allein, und es war ganz still; sie hörten ihre eigenen Schritte und das Rascheln des seidenen Kleides. Er hielt den Arm, auf dem ihre Hand lag, ängstlich still, als könne sonst die Hand hinunterfallen und entzweigehen. Das einzige Unvollkommene war — denn etwas Unvollkommenes muß ja immer sein — daß er eine steigende Lust verspürte, die Hand zu nehmen und sie in seinen Arm zu stecken — auf die allgemein übliche Weise; dann konnte er sie drücken. Aber er wagte es nicht.

Sie gingen und gingen. Er sah vor sich hin und entdeckte, daß kein Mondschein war. "Es ist kein Mondschein!" sagte er. — "Sonst wäre es heller", erwiderte sie lächelnd. "Viel heller!" Die Stimmen waren zusammengetroffen, die Klänge hatten sich vermischt und spielten noch lange miteinander wie Vögel in der Luft.

Aber gerade darum war es schwer, weitere folgen zu lassen. Während Ole darüber nachsann, was er das nächste Mal sagen solle, wurde er gerührt und stolz. Er dachte an jenen Samstagabend im schmutzigen Schnee, als sie auf dem Schulhof so schlimm gegen ihn gewesen waren, und er davongelaufen war nach Store-Tuft; er gedachte seines damaligen Elends; aber von diesem Elend schrieb sich seine Erhöhung von heute her, heute, da er von der andern Seite in die Stadt kam und sie am Arm führte.... Nein, doch nicht ganz! Das war das Unvollkommene dabei.

Sollte er es sagen? Würde sie es zu dreist finden? "Wir sind wohl ganz allein jetzt, wir zwei beiden?" — auf schlauen Umwegen wollte er darauf zugehen; aber seine Stimme war nicht sicher; sie verriet ihn. Und so antwortete Josefine gar nicht. Es wurde still zwischen ihnen, ganz still. Und plötzlich glitt ihre Hand von selbst in seinen Arm, so, wie es bei Verlobten Sitte ist. Ein Beben ging durch sein ganzes Wesen, und mutig gab er ihr einen leisen Druck, wagte aber nicht, sie dabei anzusehen. Sie gingen weiter.

Bald lag die Stadt, in Schleier gehüllt, vor ihnen; das Takelwerk der Schiffe floß zu Türmen zusammen; es sah aus, wie die zusammengelaufenen Maste von Zuckerwerkschiffen. Die Häuser in flaumigen Umrissen, fast farblos; alles wohl eingepackt und verwahrt; die Berge standen und hielten Wacht. Ein einziger, schwacher, unbestimmbarer, langgezogener Laut, ein matter Streifen durch das lichtgraue Schweigen. "Möchtest Du mir nicht etwas erzählen?" fragte sie schnell, als könne sie es nicht mehr aushalten. Er fühlte sich wie erlöst und fragte, ob er vom — Licht erzählen solle. "Ja, vom Licht!" erwiderte sie. War es Ironie?

Er fing an; aber er wußte es nicht klarzumachen. Beim erstenmal, als sie eine rasche Frage stellte, um die Sache bestimmter zu gestalten, fühlte er — er konnte nicht weiter; er war nicht genügend daheim in diesem Stoff. "Ich will Dir lieber das Ende von Jeanne d'Arc erzählen!" sagte er. "Du weißt, — wo wir gestern unterbrochen wurden." — "Also nehmen wir Jeanne d'Arc!" sagte sie immer lustiger; sie lachte. — "Du magst nicht?" — "Doch, doch!" Das sagte sie sanfter, als wolle sie das Vorhergehende wieder gutmachen. So erzählte er denn den Schluß der Geschichte von Jeanne d'Arc, nach einem vor kurzem erschienenen Werk, das er in diesen Ferien von ihrem Vater entlehnt hatte. Der Stoff lag ihm; seine westländische, singende Stimme gab dem Ganzen etwas Schwebendes, die streng schulgemäße Behandlung des Wortes, die den ehemaligen Bauern kennzeichnete, getragen vom gemilderten Tonfall des Dialekts, paßten dazu wie alte Schrift. Sein weiches, lichtes Melanchthonantlitz schwärmte; sie blickte zu ihm auf, und blickte jedesmal in sein reines Herz.

So kamen sie in die Stadt. Die Erzählung ergriff sie, und beide waren so eifrig geworden, daß sie gar nicht darauf achteten, ob ihnen jemand begegnen könne, oder daß zu beiden Seiten Häuser standen; er redete nur ein bißchen leiser, und sprach weiter.

Aber als sie sich der Straße näherten, wo seine Tante wohnte, und wo er hinein mußte, hielt er inne, trotzdem seine Erzählung noch nicht zu Ende war. Ob er sie wohl nach Hause begleiten durfte? Rektors wohnten ein paar Häuser weiter. Wenn er nicht mit durfte, so mußte er sich hier von ihr trennen. Dies Dilemma war übrigens nicht neu.

Gerade deshalb meldete es sich jetzt auch bei ihr. Sie hatte dies "Aneinanderkleben" — daß einer mitging bis an die Haustür des andern, wenn doch sein eigener Weg in ganz anderer Richtung lag — nie leiden mögen. Schon seit ihrer Kinderzeit — weil man sie immer mit ihm geneckt hatte. Aber sie wußte — er legte hohen Wert darauf.

Während des kurzen Stück Wegs, das sie beide noch gemeinsam hatten, wurde diese Frage in ihnen beiden geradezu brennend. Sollen wir uns hier verabschieden —? Oder —? Ursprünglich etwas ganz Kindisches, war es — durch die Wiederholung — etwas Großes geworden. Sie war sich selber nicht klar über den Grund; aber als sie am Kreuzweg standen, zog sie sachte ihre handschuhlose Hand aus seinem Arm und bot sie ihm zum Abschied. Sie sah, wie enttäuscht er war. Und um es gleich wieder gutzumachen, strahlte sie ihn aus ihren großen Augen an, drückte ihm fest die Hand, und ihr "Danke, Du! Und auf Wiedersehen!" war von ganz anderer Art und Farbe als sonst alle diese Jahre her. Wie ein Gelübde fürs Leben sprangen die Worte von Herz zu Herzen, und so waren sie auch gemeint. Für seine Treue dankte sie ihm, für seine Liebe jetzt und immerdar. Er war bleich geworden. Sie sah es und überlegte einen Augenblick. Dann zog sie die Hand zurück und ging. Unten wandte sie sich noch einmal nach ihm um — dankbar, daß er weder in Wort noch Tat ihrem Willen widerstrebt hatte. Sie nickte zu ihm hinauf; er zog den Hut.

Wenige Minuten später stand sie in ihrem Zimmer, viel zu erhitzt, um sich zu Bett zu legen, und überhaupt hellwach. Sie hatte nicht die geringste Lust, zu schlafen; sie wollte zum mindesten erst die Sonne auf den Dächern — oder gar den lichten Tag sehen! Ihr Zimmer ging auf den Hof hinaus, den großen Schulhof, dessen Abschluß die Turnhalle bildete; einige Turnapparate standen auch draußen. Von der Straße aus lag das Zimmer im ersten Stockwerk — von der Hofseite im Erdgeschoß; hundertmal war sie als Kind zum Fenster hinausgesprungen, statt die Tür zu benützen. Sie öffnete das Fenster und verspürte fast Lust, auch heute wieder hinauszuspringen und auf dem Hof spazierenzugehen. Am liebsten wäre sie die ganze Nacht mit Ole umhergestreift; aber so etwas verstand er nicht. Vielleicht hatte sie ihn bloß deswegen schon oben verabschiedet, weil er es nicht vorgeschlagen hatte.

Bei näherem Überlegen getraute sie sich aber doch nicht auf den Hof hinaus. Es geschah nicht selten, daß junge Leute, wenn sie von einer Land- oder Bootpartie oder aus einer Gesellschaft heimkehrten und dabei an dem alten Schulhof vorbeikamen, auf den Einfall gerieten, den alten Spielplatz ihrer Knabenjahre wieder aufzusuchen und sich ein paarmal am Reck zu schwingen; und von halbbetrunkenen jungen Leuten gesehen werden — das wollte sie nicht. Sie nahm ihren Hut ab und blieb — vornübergebeugt — am offenen Fenster stehen — — sah vor sich, was eben geschehen war, und was auch jetzt sie noch hinauszog.

Da hörte sie draußen Schritte — erst auf der Treppe, dann auf dem Sandweg, der hierherführte. Sollte das Ole sein —? War er so sentimental, daß es ihn trieb, unter ihrem Fenster zu schmachten? Wenn er es wirklich wäre! Gott gnade ihm, wenn er's war! — Sie lauschte in höchster Spannung. Nein — die Schritte waren zu rasch. Das war — — sie fühlte es — — dort stand — — ihr Bruder ...

Ja, es war Edvard. Er war gar nicht verwundert, sie zu sehen; er kam direkt auf sie zu. Als er unter dem offenen Fenster angelangt war, streckte er seine rechte Hand hinauf; und sie nahm sie. Seine Augen schielten ein bißchen — das sicherste Zeichen, daß er erregt war. "Gut, daß Du noch wach bist; ich hätte sonst geklopft." Forschend suchte sein Blick den ihren; er ließ ihre Hand nicht los. "Bist Du eben erst gekommen?" — "Ja, eben erst," — Sie war plötzlich ganz in seiner Gewalt; und hätte er sie um das Unmöglichste befragt — sie hätte antworten müssen, solange diese Augen so in die ihren schauten. "Wie ich Dich unter den Letzten nicht gefunden habe, dachte ich mir, Du wärst zurückgegangen zu Ole." — "Ja." — Er hielt inne; seine Stimme zitterte. "Ich war ein rechter Narr! Ihr seid wohl verlobt jetzt?" — Es dauerte eine Weile, obwohl die Antwort sofort in ihren Augen aufsprühte. "Ich glaube!" sagte sie.

Voll Liebe, aber auch voll Kummer sah er sie an. Sie hätte am liebsten laut hinausgeweint. War es so töricht, was sie getan hatte? Eine entsetzliche Angst überfiel sie. Da faßte er mit beiden Händen ihren Kopf, zog ihn zu sich nieder und küßte sie auf die Stirn. Sie brach in Tränen aus und legte beide Arme fest um seinen Hals. So lagen sie — Wange an Wange.

"Na ja — wenn es nun einmal so ist — so wünsch' ich Dir alles Gute, Josefine, liebe Josefine!" Sie umschlangen sich noch fester. Dann ließen sie einander los.

"Ich geh' heute fort!" flüsterte er und ergriff ihre Hand. Sie reichte ihm alle beide. — "Heut, Edvard?" — " — Ich war ein Narr! Leb' wohl, Josefine!" Sie machte ihre Hände frei, um ihr Taschentuch herauszuziehen und an die Augen zu pressen. "Ich komm' noch und sag' Dir Adieu!" schluchzte sie. "Nein, nein! Du mußt nicht!... Noch einmal!" — Und um ein Ende zu machen, preßte er sie wieder in seine Arme, küßte sie und ging davon, ohne sich umzusehen.

2

Zweites Paar vor!

Im März des folgenden Jahres, just als Edvard Kallem vor seinem zweiten medizinischen Examen stand, kamen plötzlich Dinge, die ihn auf ganz andere Art in Anspruch nahmen.

Und das müssen wir jetzt berichten.

In der Zeit, als seine zusammenhangslosen naturgeschichtlichen Studien mehr und mehr sich um die Physiologie kristallisierten, war unter allen Physiologen der tüchtigste ein junger Student der exakten Wissenschaften, Tomas Rendalen. Er war etwas älter als Edvard Kallem, und weil es an und für sich merkwürdig war, daß ein Nicht-Mediziner in diesem Fach Hervorragendes leistete, fiel er allen auf, und somit auch Edvard Kallem, ohne daß dieser sich darum näher an ihn angeschlossen hätte. Rendalen gehörte auch keineswegs zu denen, die für den ersten besten zu haben sind.

Erst später, eigentlich erst jetzt, nach Neujahr, als sie mit demselben Dampfer aus den Weihnachtsferien nach Kristiania zurückfuhren, kam es zu einer Art Annäherung. Aber das erstemal, als Kallem Tomas Rendalen in seiner Wohnung aufsuchte, blieb er auch gleich die Nacht über. Und ein paar Abende darauf, als Rendalen ihn besuchte, wanderten sie zwischen ihren beiden Wohnungen, die übrigens ganz nah beieinanderlagen, auf und ab, bis morgens gegen drei oder vier. Ein so genialer Mensch war Edvard Kallem seiner Lebtag noch nicht unter die Finger gekommen; und Rendalen seinerseits kam eines Morgens, noch ehe Kallem nach der Klinik gegangen war, dahergestürzt, bloß um zu erklären, von all seinen Freunden und Bekannten sei Kallem ihm der liebste.

Rendalen war eine ursprünglichere, kraftvollere Natur als Kallem; er war eine Mischung von Zahm und Wild, von Leidenschaft, Schwermut, Musik, voll hoher Mitteilungsfähigkeit, aber mit verschlossenen Kammern, die sich selten oder nie öffneten. Eine grenzenlose Energie — und dabei manchmal so von aller Kraft verlassen, daß er überhaupt nicht mehr weiter konnte; die ganze Maschinerie in Unordnung, als wenn ein Rad gesprungen wäre. In der ganzen Charakterlandschaft nicht eine gerade Linie — lauter Unebenheiten, und doch über allem das Licht eines großen Geistes. So unberechenbar die Schwankungen waren, so unangenehm die Enttäuschungen — die ganze Persönlichkeit war in ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Geradheit so gewinnend, daß man ihn lieben mußte.

Sein ganzes Denken ging auf Schulwesen und Erziehung, und darin wiederum auf den einen Kern: jedes Kind über das "gefährliche Alter" wegzubringen, das auf so ganz ungleiche Art sich äußere. Manche gingen daran zugrunde; manche trügen Wunden davon, die erst spät heilten; die mit gesundem Geblüt, unter besseren Verhältnissen Aufgewachsenen, könnten heil ausgehen; aber jedenfalls seien sie in der Minderzahl. Alle Erziehung, aller Unterricht müsse sich auf das eine Ziel konzentrieren: einen sittlichen Menschen zu schaffen. Das war sein A und O.

Unermüdlich war er im Vortrag seines Unterrichtplans, seiner Behandlungsweise; im Beschreiben der Schuleinrichtung und des Zusammenarbeitens mit der Familie. Seine Mutter war Vorsteherin einer weithin bekannten Mädchenschule an der Westküste, und die wollte er übernehmen, um seine Pläne ins Werk zu setzen. Sein großes Ziel war die Simultanschule — Knaben und Mädchen zusammen. Aber erst hieß es, den Unterricht in allen Hauptfächern reformieren, und zwar so, daß die Fächer leichter gemacht wurden, und nicht bloß zugänglich für die Begabtesten. Und das wollte er an der Mädchenschule ausprobieren.

Er besaß eine nicht unbedeutende Sammlung von Schulmaterial aus Amerika und vielen europäischen Ländern, einen Schatz, den er unablässig vermehrte. Auch eine ganze Bibliothek von Schulliteratur nannte er sein eigen. Er wohnte mit einem Kandidaten der Theologie, Vangen, zusammen, der zu Weihnachten fertig geworden war und sich jetzt auf das praktische Examen vorbereitete. Alle drei Zimmer, die sie gemeinsam bewohnten, waren angefüllt mit Rendalens Sammlungen und Bibliothek.

Sein Äußeres war auffallend. Rotes, ins Blonde hinüberspielendes Haar, das starr in die Höhe stand, Sommersprossen, blinzelnde graue Augen unter weißen, kurzhaarigen Brauen, die kaum zu sehen waren, die Nase breit und leise aufwärts strebend, der Mund zusammengekniffen; kurze, sommersprossige Hände, jeder Finger voll Energie; nicht groß, aber vorzüglich gebaut; sein Gang, auf auswärts gerichteten Füßen, war leicht, als gehe er auf Tasten. Er war der erste Turner, wohin er auch kam, und bei jeder Gelegenheit hing er an den Turnseilen. Auch Edvard, der immer gern geturnt hatte, wurde durch ihn zu dreifachem Eifer angespornt; denn Rendalen besaß, wie kein zweiter, die Fähigkeit, andere für das, was er selbst liebte, zu gewinnen. Seine Hauptleidenschaft in dieser Zeit war, auf den Händen zu gehen; und gerade das konnte Kallem zum Entzücken; dies setzte vielleicht der Achtung, die Rendalen vor ihm hatte, die Krone auf.

Sie hatten viele Berührungspunkte. Beide waren Spezialisten, beide bedeutend in dem, was sie sich als Ziel gesteckt hatten; modern in ihrem Denken, voll reformatorischen Mutes, beide zum äußersten auf ihre Person bedacht; beide kleideten sich mit Geschmack, — Rendalen legte sogar übertriebenen Wert darauf. Beide hatten jenes lebhaft-wechselnde Spiel der Gedanken, das schon errät, wenn erst die Hälfte gesagt ist. Beide ergänzten sich gegenseitig in ihrem Wissen. Rendalen war musikalisch, war ein Meister auf dem Klavier und sang recht gut. Kallem sang noch besser, und Rendalen feuerte ihn immer mehr an.

So herzlich sich auch Rendalen im einzelnen und dem einzelnen hingab — er hielt sich gleichzeitig immer in einer gewissen Distanz, über die niemand hinwegkam. Er liebte seinen Pflegebruder Vangen; aber gerade an Vangen sah man recht eigentlich, daß immer eine bestimmte Scheidewand da war. Auch darin begegnete Kallem Rendalens Bedürfnis; er hatte ebenfalls diese Unnahbarkeit, bei aller Hingabe.

Daneben gab es aber auch genug Ungleichheiten, die das Verhältnis einerseits frisch erhielten, andrerseits erschwerten. Die Schwierigkeiten kamen fast alle auf Rendalens Konto; Kallem war geschmeidiger und fügsamer. Wenn Rendalen gerade einmal Lust hatte, so spielte er stundenlang Klavier, spielte, als ob überhaupt niemand im Zimmer sei; man konnte ebensogut gleich gehen. Überhaupt war er es, der bei jedem Zusammensein den Ton angab. Er war launisch und hatte lange Schwermutsperioden, wo nur selten jemand ein Wort aus ihm herausbrachte. Eine ungeheure Arbeitskraft, wenn er mit etwas beschäftigt war, das seine Seele gefangen nahm, und dann gab er allen den Laufpaß. War er aber in der mitteilsamen Laune und so recht "in Stimmung", so war die ganze Luft um ihn herum mit Elektrizität geladen.

Das medizinische Studium war für Kallem jeden Tag eine neue Entdeckung, und bei ihren gemeinsamen physiologischen Studien trugen sie einander getreulich alles zu — jeder von seiner Seite. Im Januar und Februar waren sie fast jeden Abend zusammen, wenn nicht sonst, so doch sicher von sechs bis sieben in der Turnhalle. Meist aßen sie hinterher zusammen, am liebsten bei Rendalen, der ein Klavier hatte.

Anfang März kam Rendalens Mutter auf Besuch. Sie wohnte bei den Wirtsleuten des Sohnes, die vor kurzem erst nach der Stadt gezogen waren: ein blinder Mann aus Nordland, der noch dazu auf einer Seite gelähmt war, und eine außerordentlich musikalische Frau, ganz jung, fast noch ein Kind — die seltsamste Ehe, die man sich denken konnte. Rendalen sprach oft von ihnen. Solange die Mutter des Kameraden in der Stadt war, hielt Kallem sich fern. Jedesmal, wenn sie vom Turnen kamen, merkte er, daß Rendalen seine Begleitung nicht wünsche. Aber auch, als die Mutter nach acht Tagen abgereist war, blieb es dabei; entweder turnte Rendalen länger als Kallem, oder er ging nach den ersten paar Übungen gleich wieder weg; er wünschte offenbar nicht, daß Kallem ihn begleiten solle. Wahrscheinlich hat er wieder seinen Schwermutsrappel! dachte Edvard.

Aber eines Vormittags, als Kallem etwas früher als gewöhnlich nach Hause gekommen war — in der Regel war er den ganzen Vormittag fort — hörte er draußen läuten. Das Mädchen öffnete, und Rendalens Schritt erklang im Vorzimmer. Er trat hastig ein, — finster, wortkarg. Er habe ein Anliegen: ob Kallem nicht die Wohnung mit ihm tauschen wolle.

Kallem kannte ihn zu genau und war zu gutmütig, um sich irgendwelche Verwunderung anmerken zu lassen; er fragte auch gar nicht nach dem Grund, sondern sagte bloß, seine beiden kleinen Zimmer würden wohl schwerlich für Rendalens Sammlungen und sein Klavier ausreichen. Und Vangen? Oder wolle er nicht länger mit Vangen zusammenwohnen? Doch, freilich! Aber neben Kallems zwei Stuben sei ein großer Saal, auf den er, Rendalen, es schon längst abgesehen habe; die Wirtin würde ihn gern vermieten. Und ihm passe er gerade. Allein schon Klavier zu spielen in diesem Saal! — "Hast Du bereits mit der Wirtin darüber gesprochen?" — "Nein; das will ich jetzt." Und damit war er hinaus. Dann kamen beide, er und die Wirtin, wieder herein. Und wenige Minuten später war alles abgemacht. Schon am Nachmittag wurde der Umzug bewerkstelligt. Als der wackere Vangen auf seinen langen Beinen vom Mittagessen nach Hause kam, saß Kallem im ersten Zimmer rechts neben der Korridortür in Schlafrock und Pantoffeln und erzählte ihm, Rendalen wohne jetzt in der Sehestedsstraße, in Kallems früherer Wohnung; sie hätten getauscht. Beide lachten.

"Und dabei gefiel es ihm hier so gut!" sagte Vangen. Das war aber auch das einzige, was er sagte.

Kallem dachte natürlich über die Ursache dieses hastigen Umzugs nach und hatte auch die Absicht, sich jedesmal einen ausführlichen Schwatz mit dem Mädchen zu leisten, wenn es kam, um nach dem Ofen zu sehen oder ihm Frühstück und Abendbrot zu bringen, das er im Hause einnahm. Sie sah aus, als wisse sie etwas. Marie hatte ein eigentümliches Lächeln, ungefähr als wenn sie sagen wollte: "O — ich durchschau' Euch alle miteinander — auch Dich, Du Schlauberger!" Gleich als sie ihm zum erstenmal die Tür aufmachte, hatte sie dieses Lächeln. Ihre Augen waren bis über die Hälfte verhüllt von den Lidern, die in einer hängenden Falte darüber lagen. Die Nase war platt und aufgestülpt und zog beim Lachen den Mund wie an zwei straffen Bändern in die Höhe, daß die Oberlippe vorstand und eine Reihe Zähne zeigte, die sich um den Platz zu streiten schienen; sie blitzten mit dem Lächeln um die Wette. Alles, was sie sagte, hatte einen Unterton von Schelmerei und Spottlust; unter den Lidern schoß es hervor, in den Mundwinkeln spielte es. Dabei eine weiche Stimme. Im übrigen ein kerniges Mädel, gut gebaut, klug wie der Teufel und trotz ihrer lachlustigen Kritik zurückhaltend und vorsichtig in Worten und Benehmen. Aber das Lachen lag immer auf der Lauer. Als er sagte: "Mein Name ist Edvard Kallem — ich werde in Herrn Rendalens Zimmern wohnen!" antwortete sie lächelnd: "Oh!" — als kenne sie alle seine Geheimnisse von Kindesbeinen an. Erwähnte er Rendalen irgendwie, so sah sie aus, als wisse sie einen ganzen Haufen lustiger Geschichten von ihm; aber trotzdem — zum besten gab sie nichts.

Das Haus, in dem er jetzt wohnte, war ein Eckgebäude, schräg gegenüber der Universität. Die Haustür ging auf die Straße, an der auch Kallems Zimmer gelegen waren. Sie lagen im zweiten Stock, auf demselben Korridor wie die Wohnung der Wirtsleute, d. h. das eine Zimmer — das andere, sein Schlafzimmer, lag außerhalb mit eigenem Eingang. Rendalen hatte noch ein drittes Zimmer gehabt, das Eckzimmer weiter drinnen. An der Korridortür befestigte Kallem seine Visitenkarte, unter einem großen Schild, auf dem "Sören Kule" stand; das war der Name des Wirts. Tags darauf, an einem Sonntag, machte er seinen Antrittsbesuch.

Der blinde, gelähmte Mann saß in einem großen Rollstuhl. Er war noch jung, der Unglückliche, kaum über dreißig, von übermäßig dicker Gestalt, mit schweren Gesichtszügen und schwerer Zunge. Schon sein: "Herein!" auf Kallems Klopfen klang schwerfällig. Kallem nannte seinen Namen. Der andere saß da, ohne sich zu rühren und antwortete langsam: "So, so! — Ich bin nämlich blind. — Und kann mich auch nur wenig bewegen." Er sagte es mit nordländischem Tonfall. Die einzelnen Silben kamen wie das plumpe Trotten von Londoner Bierbrauerpferden heraus. Die Gesichtszüge waren, trotz ihrer Fülle, scharf geschnitten und klar; es war augenscheinlich Rasse in dem Mann. Kallem war Mediziner genug, um auf der Stelle zu erkennen, was die Ursache seiner Blindheit und Gelähmtheit war. Verschiedene Stahlstiche, Holzschnitte und Photographien von Spanien an den Wänden brachten ihn auf den Gedanken, daß er vielleicht von dort das Geschenk mitgebracht hatte, mit dem das galante Völkchen da unten so freigebig ist.

"Bitte, nehmen Sie Platz!" ertönte es endlich wieder. In die bewegliche Seite des Körpers schien eine Art Leben zu kommen, während er den Kopf nach einer Tür links wandte. "Ragni!" Niemand antwortete; niemand kam. Die Stille färbte sich grau vor seiner Stimme, seinem gleichgültigen Wesen, seiner schwerfälligen Ruhe. Kallem sah sich um. Wahrhaftig — da lagen Kinderspielsachen! War es ihm nicht, als habe er Kinderstimmen gehört? Hier waren Kinder? "Ragni!" dröhnte es noch einmal, langsam. Dann — leiser: "Sie wird in der Küche sein und das Essen richten!" Wieder dieselbe graue Stille. Schellengeläut von der Straße her zerriß sie einen Augenblick; dann zog sie sich um so lastender wieder zusammen. Die Möbel waren — für eine kleine norwegische Stube im Winter — zu schwer und zu dunkel; auch waren sie zerschlissen und verblichen. Die Kupferstiche und Photographien hingen in großen Rahmen, die nicht dicht schlossen, so daß Staub und teilweise Feuchtigkeit das Papier verdorben hatten. Nur das Kinderspielzeug und der Flügel hoben sich von dem andern ab; der Flügel schien ganz neu zu sein und stammte von der besten Pariser Firma — augenscheinlich ein Konzertflügel. "Die gnädige Frau spielt so gut — habe ich gehört?" — "Ja." — Kallem wußte, daß sie sich von Kind auf für die Musik ausgebildet hatte, und — um etwas zu sagen — griff er dies Thema auf. "Sie hat auf dem Konservatorium in Berlin studiert, nicht wahr?" — "Ja!" — Im Zimmer rechts, das an das Eckzimmer stieß, wurden Stühle gerückt. Kallem griff dies Thema auf. — "Ich bekomme im Eckzimmer einen Nachbarn, wie ich höre?" — "Ja." — "Ein Verwandter von Ihnen?" — "Ja, eine Tante." — Wieder wandte Sören Kule den Kopf nach links und rief gleichgültig: "Ragni!" Niemand antwortete, niemand kam. "Mir war, als hörte ich draußen jemand gehen", sagte er, wie um sich zu entschuldigen, daß er gerufen hatte. Kallem stand auf und verabschiedete sich.

Einige Tage später gab er Rendalen eine humoristische Schilderung dieses Besuchs. Rendalen lachte. Er selber sei nur selten dort gewesen; aber er habe viel gehört von "Sören Kule". Er versicherte, seinetwegen möge den Kerl der Teufel holen — er habe nicht die geringste Lust, über ihn zu sprechen. Und er setzte sich ans Klavier und spielte.

Wieder einige Tage später — wem begegnete Kallem draußen im Korridor? Wem anders, als seinem zukünftigen Schwager, Herrn Ole Tuft — Kandidaten der Theologie und zurzeit in Kristiania, um sein Schlußexamen zu machen. Große Wiedersehensszene! Der eine hatte keine Ahnung von Kallems Umzug, der andere keine, daß Ole Tuft im Hause verkehre. Kallem lud ihn ein, mit ihm auf sein Zimmer zu kommen und erfuhr nun, daß Ole heute zum erstenmal hier war. Er verkehrte bei der Tante der Wirtsleute, die gestern hier eingezogen war. Edvard Kallem wußte jetzt gleich, zu welcher Art Menschen sie gehöre, und ließ das Thema augenblicklich fallen. Er fragte, ob Ole den Sören Kule kenne. Nein, nur durch die Tante. Die ganze Familie stamme aus Nordland. Wer eigentlich dieser Sören Kule sei? Ein wohlhabender Fischhändler, der blind und lahm geworden sei; er habe sein Geschäft verkaufen müssen und dies Haus in Kristiania erstanden; davon und von seinen Zinsen lebe er. Sie hätten Verwandte in der Stadt und seien erst im Oktober hergekommen. — Ob Ole Tuft wisse, was die Ursache seiner Blindheit und Gelähmtheit sei? — Nein. — Kallem erklärte, wie darüber eigentlich kein Zweifel sein könne. Ole Tuft war ganz entsetzt! "Wie darf er's dann wagen, zu heiraten! Und dazu zweimal!" — "Er ist zum zweitenmal verheiratet?" — "Ja! Seit etwa einem halben Jahr — oder auch vielleicht einem Jahr. — Mit der Schwester seiner verstorbenen Frau." — "So stammen die Kinder aus seiner ersten Ehe?" — "Ja. Sie selber ist ja noch ein Kind. Denk doch — achtzehn Jahre! Und bald ein Jahr verheiratet!" — "War er schon so, wie er sich zum zweitenmal verheiratete?" — "Nein, das glaub' ich doch nicht. Kränklich, ja — aber nicht so. Die wenigsten werden es ja begreifen können." — "Hast Du sie gesehen?" — "Nein. Aber sie soll ein 'feines' kleines Geschöpf sein, sagt die Tante, und musikalisch. Sie hat schon öffentlich gespielt." — "In Nordland wahrscheinlich?" — "Sie sollen ungeheuer kritisch sein da oben." — Er kam wieder auf die Ehe zurück. "Vielleicht haben die Eltern sie zustande gebracht — der Kinder wegen." — "Also Pfarrersleute?" — hätte Kallem fast gesagt; aber er besann sich beizeiten. "Wählerisch ist sie jedenfalls nicht — bei Gott!" — sagte er statt dessen. Sie sprachen dann noch ein bißchen über gleichgültige Dinge. Die Schwester wurde nicht erwähnt. Eine Weile später ging Ole zur Tante hinein, die er hatte besuchen wollen. Kallem war diesen Vormittag zufällig daheim und hörte die Frau des Hauses spielen. Erst Tonleitern, nichts als Tonleitern; dann aber ein Stück, so meisterhaft vorgetragen, daß er einen Spalt seiner Tür öffnete, um besser zu hören. Sie spielte vor allem so gesangvoll! Wie in aller Welt konnte ein Weib, so jung, von diesem Kunstverstand und dieser Lyrik, solch einen verfaulten Fleischklumpen heiraten? Es war ein Rätsel. Er ging damit zu Rendalen; aber Rendalen wußte gar nichts. Immerhin war er just bei guter Laune und äußerte sich voller Begeisterung über ihr Spiel; wenig Kühnheit war darin, aber ein Gesang, ein erotischer Farbenreiz, die ihresgleichen suchten. Er spielte ein russisches Stück — wie sie — oder doch — wie er hinzufügte — so ungefähr; er spielte es ausgezeichnet. Kallem wollte wissen, wie sie aussehe. "Dumm sieht sie aus!" schrie Rendalen. "Einfach dumm! Die Stirn könnte ihre Rettung sein; aber da zerrt sie die Haare darüber. Auch die Augen könnten sie retten. Aber mein Lebtag hab' ich noch kein Wesen gesehen, das so blödsinnig schüchtern gewesen wäre mit seinen Augen!" — "Hat sie denn Augen?" — "Herrgott! Und was für vieltönige! Die meisten singen glatt unisono — wenn's hoch kommt zweistimmig! Aber manche — ganz wenige — singen strahlende Akkorde! Wenn sie beim Spiel aufblickt, dann fühlst Du's. Aber für gewöhnlich kleben sie an den Tischbeinen oder bohren Löcher in die Ecken — oder zünden das Feuer im Ofen an. Manchmal fahren sie ein Stück an der Wand hinauf, wie eine Ratte, die keinen Ausweg findet." Er war ganz belustigt über seine eigenen Bilder und setzte sich an's Klavier, um einen raschen Tanz zu spielen. — "Ist das nun nicht des Teufels, daß solch ein musikalisches Geschöpf — ach was! Bloß nicht sentimental werden, Alter!" Er wollte in's Theater, und Kallem mußte mit.

Acht Tage waren vergangen, und noch hatte Kallem sie nicht gesehen, wie sehr er sich auch bemühte hatte. Dann machte er einen Familienball mit, — der Sohn des Hauses war sein Studienfreund — und bei einer Kotillontour kam der Freund mit zwei Damen und fragte, was er wählen wolle — "Nußkern" — oder "Heckenröschen"? Besonders geistvoll war es ja nicht; aber Edvard wählte die "Heckenrose". Die Heckenrose hatte eine Musikerstirn und reizende, gewölbte Augenbrauen; im übrigen war sie schweigsam und unbedeutend. Ziemlich groß, abfallende Schultern, schöne Arme, nicht voll, aber wohlgeformt; gerade eigentlich wie der ganze Mensch. Sie tanzte gut; aber es hatte den Anschein, als möchte sie so rasch wie möglich von ihm loskommen; und wie er sie an ihren Platz zurückführte, hatte sie ihn kaum angesehen. Er war höchst erstaunt, als sie ihn bei der nächsten Tour holte. Vielleicht kannte sie nicht viele Menschen, und ihre Bekannten waren gerade nicht frei. Sie sah sich scheu um, kam dann mit kleinen, zaghaften Schritten auf ihn zu und verbeugte sich, ohne jedoch aufzublicken. Es schien fast, als fürchte sie sich, und darum wollte er ganz besonders freundlich zu ihr sein und setzte sich neben sie. Aber als sie auf alles, was er auch sagen mochte, nur mit "Ja" oder "Nein" oder "Vielleicht" antwortete, wurde das einem so gefeierten Kavalier doch zu viel; er stand auf und verließ sie. Kurz darauf hatte er wieder die Wahl zwischen dem "Nußkern", den er vorhin verschmäht hatte, und einem "Bonbon", und jetzt nahm er den "Nußkern". Die gefiel ihm besser; ein rundliches, bewegliches Ding, das eine Mischung von nordländischem und Bergener Dialekt sprach. Sie erzählte ihm, ihr Vater stamme aus Bergen und sei jetzt Pastor in Nordland. Sie sei hier bei ihrer Schwester zu Besuch und mache viele Bälle mit; sie hätten so viele Verwandte in der Stadt. Alles das singend — echt nordländisch. Leider müsse sie bald wieder nach Hause; sie bangten sich so nach ihr daheim, und die alten Leute möchten nicht gern allein sein. Kallem war natürlich der galante Mann und tat, als interessiere ihn das alles sehr; sie waren bald dicke Freunde. Sie plapperte wie ein Mühlrad; sie sei hierhergekommen, um ihrer Schwester beim Umzug zu helfen. Die Schwester sei so unpraktisch — ganz im Gegensatz zu ihr; sie könne überhaupt nichts als Klavierspielen. Von kindauf habe sie gespielt, und sie sei zwei Jahre in Berlin gewesen. Jetzt begann Kallem die Ohren zu spitzen. Und wirklich — die Schwester war seine Tänzerin von vorhin, die er so langweilig gefunden hatte — seine Hauswirtin, Frau Ragni Kule. Der "Nußkern" war übrigens gar nicht ihre Schwester; sie waren Stiefschwestern. Und der "Nußkern" war auch nicht, wie er glaubte, die ältere; im Gegenteil — die Schwester war bald neunzehn und sie knapp siebzehn.

Sofort engagierte er Frau Kule und sagte ihr ganz erstaunt, sie sei ja seine Wirtin? Ob sie das wisse? Ob sie ihn darum vorhin geholt habe? Sie sah aus, als fühle sie sich auf einer Sünde ertappt und wußte nichts zu ihrer Entschuldigung vorzubringen. "Aber warum haben Sie mir denn das nicht gesagt?" fragte er eifrig und eindringlich. Über diese neue Sünde — daß sie es verschwiegen hatte — wurde sie noch viel zerknirschter; sie wußte keine Silbe zu erwidern. Da sagte er — übermütig und ungeduldig: "Das Sprechen fällt Ihnen wohl schwer, gnädige Frau?" Sie wurde sehr blaß. In ihr Gesicht trat zu dem Schrecken etwas herzzerreißend Unglückliches. Seine ganze Ungezogenheit kam natürlich daher, daß er von vornherein wegwerfend von einem Geschöpf dachte, das sich dazu hergegeben hatte, solch einen Klumpen verdorbenen Fleisches zu heiraten. Aber ihre blasse Hilflosigkeit erweckte so unmittelbar sein Mitgefühl, daß er rasch hinzufügte: "Ich weiß ja, Sie verfügen über eine Sprache, die Ihnen leichter fällt, als den meisten andern." Und nun ging er ganz natürlich auf ihre Musik über, führte sie zu einem Platz, erzählte, er habe sie spielen hören, und erwähnte Rendalens kompetentes Urteil. Dann lenkte er die Unterhaltung auf allerhand berühmte Virtuosen, die er selber gehört hatte und fesselte sie auf diese Art; denn auch sie hatte viele von ihnen gehört. Nach und nach faßte sie soviel Zutrauen, daß sie nach Rendalen zu fragen wagte; sie habe ihn nicht wiedergesehen, seitdem er ausgezogen sei. — Es gehe ihm recht gut. — Und nun schilderte er Rendalens Eigenheiten so, daß sie lachen mußte. Sie sah nicht dumm aus, wenn sie lachte; ganz und gar nicht. Einen Augenblick konnte dann auch das "Vielstrahlige" in ihre Augen kommen. "Weshalb ist Herr Rendalen ausgezogen?" fragte sie. Es klang ebenfalls ein bißchen singend nordländisch; aber weniger als bei der Schwester. Die Stimme war in all dem Lärm ziemlich schwach, aber sehr süß. Er antwortete mit einer Gegenfrage. Nein; sie wisse nichts; und dabei sah sie ihn an. Waren das Augen! "Ob es wegen des Zimmers war?" — "Des Zimmers?" fragte er zurück. — "Ja — daß er vielleicht gehört hat, die Tante möchte es gern — die Tante meines Mannes!" berichtigte sie und war schon wieder ganz verlegen. — Ob sie ihm denn gekündigt hätten? — Keineswegs! — "Na, dann konnte er sich doch auch nicht gekränkt fühlen!" — Nein, das meinte sie auch. Aber Rendalen sei nicht einmal gekommen, um sich zu verabschieden. Die Verlegenheit verließ sie nie ganz; sie stand ihr gut, wie ein Schleier bisweilen kleiden kann. "Waren Sie oft mit seiner Mutter zusammen?" — "Ja!" sagte sie und lächelte. — "Weshalb lächeln Sie?" — "Ach — es ist vielleicht nicht ganz recht — aber sie war wie ein Mann." — Kaum hatte sie das gesagt, so wurde sie verlegen und wollte es zurücknehmen; sie habe bloß gemeint, Frau Rendalen sei so tüchtig. Kallem hielt sie aber dabei fest und trieb Ulk damit; sie mußte wieder lachen, und wie gesagt, wenn sie lachte, war sie süß. "Aber Sie können ja sprechen?" Sie sah ihn verstohlen an; machte er sich lustig über sie? Dann erinnerte er sich, daß Rendalen ihr gesagt hatte, sie solle die Stirn frei tragen; und heute abend trug sie die Stirn frei. Schau', schau'!

Wie schön sie tatsächlich war! Daß er das nicht gleich gesehen hatte! Daß andere es nicht sahen und davon sprachen! Das Gesicht freilich kindlich, unentwickelt, und die schlanke Figur ein bißchen schmächtig. Ihre Stirn war entzückend; die Brauen waren fein gebogen, aber hell und nicht stark. Die Augen bekam man auch jetzt nur schwer zu sehen; aber er wußte nun, daß sie in ihrer graublauen Scheuheit treuherzig und daß sie reich waren. Weich und unbestimmt waren Wange, Kinn und Mund; — der Mund stand ein bißchen offen; er war klein, und wirkte dadurch ganz besonders "süß". Die Nase war unbedeutend, und auch etwas schief. Das Haar nicht stark, jedoch mit einem rötlichen Schimmer über dem Blond. Aber die Hautfarbe! Vom reinsten zartesten Weiß. — Man konnte den Blick nicht mehr davon wenden, wenn man es einmal entdeckt hatte! Man sah es freilich nicht gleich, wenn die Farbe des Kleides sie nicht hob und die Beleuchtung schlecht war. Sie trug keinen Schmuck, nicht einmal ein Armband. Die Handgelenke ließen eine lange, schmale Hand ahnen, die er gern gesehen hätte. "Sie lieben also die Musik über alles?" — "Ja," erwiderte sie; "es ist ja das einzige, was ich kann!" Sie blickte vor sich nieder. Er überlegte, ob er eigentlich nichts fragen könne, was sie nicht als Schande empfinden konnte. Aber vor allem mußte er sich selber in acht nehmen; war er nicht auf dem besten Weg, sich zu verlieben? Leider müsse er jetzt weiter, um mit andern zu tanzen und sich zu unterhalten. Sobald er sie verlassen hatte, war ihm, als finde er sie nicht wieder; aus der Entfernung wurde sie gewissermaßen unsichtbar. Sobald es der Anstand erlaubte, war er wieder bei ihr. Sie hatte augenscheinlich nichts dagegen. Diesmal war sie ein bißchen zutraulicher, ja, sie sah ihn sogar ein paarmal an und lächelte ihm gerade in die Augen. Ei, ei! Das war mehr, als Rendalen erreicht hatte! Seine Verliebtheit hatte begonnen durch ihre Verlegenheit und wuchs durch ihre Zutraulichkeit. Er fragte, ob er die Damen nach Hause begleiten dürfe. Er habe doch ein größeres Anrecht darauf als andere, weil sie seine Wirtin sei. Das wurde sofort angenommen; sie überlegte gar nicht. Allerdings, sagte sie, ihr Neffe, der vorhin Kallem zwischen "Nußkern" und "Heckenrose" hatte wählen lassen, würde sie begleiten; aber sie könnten ja beide mitkommen. — "Natürlich!" sagte er munter; heimlich dachte er: "der Neffe" kann dann den "Nußkern" nehmen!

Eine feuchte Nacht mit leisem Schneefall. Die Schneesterne sanken vereinzelt und bedächtig, als wähle jeder sich seinen Platz und habe jeder sein Geschäft. Kein Windhauch mischte sich darein. Die beiden Damen erschienen, wohl eingemummt, mit Finnen-Schuhen[1] an den Füßen. Drinnen waren Musik und Tanz noch in vollem Gang; im Vorsaal und auf der Treppe klang helles, junges Lachen und von draußen das Schellengeläut der zum Abholen bestellten Schlitten. Der "Neffe" konnte so früh nicht fort, da er Wirt war; aber er schaffte einen Stellvertreter herbei, der auch sofort seine Dame unter den Arm nahm und in großen Sätzen mit ihr den Hügel hinabjagte. Als jedoch Kallem es mit der seinen ebenso machen wollte, wurde sie ängstlich, klammerte sich fest an ihn, während sie mitrennen mußte, rannte atemlos und bat, er möge das doch lassen. Sie benahm sich, als wenn sie nicht gut sähe. Er blieb stehen und fragte, ob das der Fall sei. Nein, aber sie habe eine Todesangst, sie könne fallen. "Sie sind wohl überhaupt sehr ängstlicher Natur, wie?" — "Ja, das bin ich", sagte sie treuherzig. Süß war sie ja; aber im Grunde doch eine rechte Zimperliese. Sie gingen nun ein Stück weit, ohne zu sprechen; die beiden andern waren nicht zu sehen. Bah, dachte er, es ist nicht der Mühe wert, sich darüber zu ärgern; sie wird eben nicht anders können. "Es ist noch nicht einmal ein Uhr", sagte er. — "Nein, aber das jüngere von den Kindern ist nicht wohl; das Mädchen wacht bei ihm, und die muß morgen wieder früh heraus." Der nordländische Singsang ihrer Stimme versetzte ihn ans Meer. "Ich vermisse jetzt im Winter das offene Meer so", sagte er. "Hier ist nichts als Eis. Es wird wohl allen Westländern so gehen!" Sie antwortete, in Berlin habe sie oft, besonders beim Spielen, das Meer geradezu gehört. "Aber ist es nicht wunderbar, daß das Meer einen immer frisch macht, wenn man in seiner Nähe ist, und schwermütig, wenn man daran denkt?" — — Ein paar Schlitten kamen rasch von oben herunter; die beiden mußten ausweichen, und sie zog ihn mit sich bis an den äußersten Rand des Wegs, während es vorübersauste, drei Schlitten hintereinander, in rasendem Tempo.

Sie gingen weiter und lauschten dem Schellengeläut, bis es sich verlor; wieder trat die Stille ein, deren die Schneeflocken bedurften, um sich bemerkbar zu machen.

"Man sollte eigentlich nicht reden, wenn Schnee fällt", sagte sie.

Jetzt warteten die beiden andern auf sie, und das Gespräch ging eine Zeitlang zwischen dem "Nußkern" und den Herren hin und her, bis wieder ein Hügel kam, den das erste Paar im Sturm nahm. Die andern sahen sie nur noch durch den Schneeschleier, ohne sie zu hören. Aber sobald die Straße dichter bebaut war und der Verkehr lebhafter wurde, schlossen sich die Paare wieder zusammen, und damit war auch der angenehmere Teil der Wanderung zu Ende.

Hinterher verwuchsen die Eindrücke mit dem Naturbild: sie — mitten unter den Schneesternen — das Weißeste, Feinste, was er je gesehen hatte. Was sie vom Meer und vom Schneefall gesagt hatte, war voll musikalischer Phantasie; zuletzt schwebte die ganze Gestalt in weicher Unbestimmtheit. Allmählich, während alle diese Eindrucksperlen vom Grunde seiner Seele aufstiegen, gerieten seine Sinne in wirren Liebestaumel. Sie war in diesen Zimmern; so oft eine Tür zum Vorsaal sich öffnete, gab es einen Widerhall in ihm; ging ein leichter Schritt über den Gang, so war sie es; er hatte fast ein Gefühl, als ginge es über ihn selber hinweg. Im Grunde fürchtete er sich davor, ihr wieder zu begegnen; da schwand wohl alles wieder in nichts zusammen. Jetzt war das Bild so schön. Und wirklich, so geschah es auch ... Als er fünf oder sechs Tage später von der Universität kam, begegnete er ihr und ihrer Schwester mit zwei kleinen Kindern. Es gingen viele Menschen auf dem Fußsteig zwischen ihnen, so daß er sie erst erkannte, als sie einander gegenüberstanden. Er grüßte; der "Nußkern" lächelte und grüßte auch; aber die andere wurde rot und vergaß zu grüßen, und jetzt sah sie nichts weniger als talentvoll aus. Er hielt sie an, erkundigte sich, wie ihnen der Abend bekommen sei, und begann ein Gespräch mit der Schwester. Die andere beugte sich über die Kinder, — zwei reizende kleine Mädchen, angezogen wie Puppen, das eine drei, das andere etwa vier Jahre alt. Er lud die Gesellschaft in die Konditorei ein, was nach einigem Schwanken angenommen wurde. Aber die junge Frau blickte nicht mehr auf, und im Lokal konnte er sie kaum dazu bewegen, sich zu setzen. In ihrer Verlegenheit und vor lauter Unruhe begann sie an den Kindern herumzubasteln, bis die Kleinen ungeduldig wurden. Er bot ihnen Wein und Kuchen an, aber sie wußte nicht, was sie nehmen sollte; zuletzt überließ sie die Wahl der Schwester. Ihr Gesicht war heute von einer Mütze mit Ohrenklappen eingerahmt, unter der die Stirn völlig verschwand, wodurch das Gesicht rund und nichtssagend wurde. Ihre Figur steckte in Kleidern, die ihr alle zu weit waren — später hörte er, daß sie von ihrer verstorbenen Schwester sie geerbt habe. Erst als er selber sich mit den Kindern beschäftigte, wozu er — als großer Kinderfreund — ein auffallendes Geschick hatte, kamen sie sich wieder näher; noch dazu unten auf dem Fußboden. Das Kleinste hatte sich mit dem Schlagsahnekuchen beschmiert, den die Frau in ihrer Ungeschicklichkeit für das Kind gewählt hatte, und als sie es, jedes mit seinem Taschentuch, abwischten, zerfloß sie im demütigen Gefühl ihres Vergehens und konnte nicht aufhören zu danken. Nun wollte die Kleine, die sich so wundervoll beschweint hatte, noch einen Kuchen von derselben Sorte, beileibe keinen andern, und Kallem war — obgleich er wußte, daß allzuviel nicht gut war für das Kind — natürlich völlig damit einverstanden. Aber er nahm es auf den Schoß, ließ sich eine Serviette geben und paßte auf, bis der letzte Bissen verspeist war. Die junge Frau stand daneben und ließ sich voll Demut belehren. Jetzt wollte die Kleine noch einen dritten Kuchen, und auch damit war Kallem einverstanden. Die Ältere, die bis dahin geduldig zugesehen hatte, wie ihre Schwester aß, wagte nun auch zu bitten; da nahm er sie auf sein zweites Knie und fütterte alle beide. Alle Teile amüsierten sich während dieser wichtigen Handlung, sogar Frau Ragni fand den Mut, zu lachen. Und wie gesagt, wenn sie lachte, war sie "süß". Die Erwachsenen tranken noch ein Glas Wein. Auf dem Heimweg trug Kallem das kleinste Mädelchen auf dem Arm. Sie waren bald dicke Freunde, er und die Kleine; ihre Stiefmutter war auf den Wein hin mutiger geworden und sagte: "Ist sie nicht süß, die kleine Juanita?" Sie reichte ihre Hand hinauf, und die Kleine patschte mit ihrem Fausthandschuh hinein; die junge Frau hielt ihn im Gehen eine Weile fest.

Kallem trug das Kind die Treppe hinauf und versäumte nicht, ihm sein Zimmer zu zeigen und beide einzuladen, ihn am nächsten Vormittag zu besuchen. Es war ein Sonntag. Gleich nach Tisch kaufte er Apfelsinen, Äpfel, Feigen und kandierte Früchte, um etwas zu haben, wenn sie kämen.

"Ist sie nicht süß, die kleine Juanita?" — mit ihrem leisen nordländischen Tonfall! Er setzte es in Musik und summte es vor sich hin, so oft er an sie dachte. Dann hörte er die Stimme, sah die Augen, wie sie zu dem Kind aufblickte, die ausgestreckte Hand. "Ist sie nicht süß, die kleine Juanita?" wurde eine Lieblingsstrophe, die er auch Rendalen lehrte; sie begrüßten sich damit abends beim Turnen. Aber daß sie verlegen geworden war, als sie ihn wiedersah — vielleicht, weil es heller Tag war —, das behielt Kallem für sich. Er erzählte, wie putzig sie gewesen war in ihren zu großen Kleidern, die aussahen, als seien sie für einen Backfisch gemacht, der noch wächst. Aber daß sie in der Konditorei unruhig geworden war, als er sie ansah, davon sagte er keinen Ton.

Die Kinder waren oft bei ihm. Er schenkte ihnen Apfelsinen und süße Früchte, lief vor ihnen auf den Händen und sprang über die Stühle, und sie waren unbändig vergnügt! Bloß das Mädchen verdarb ihm allen Spaß; er las in ihrem Lächeln nur zu deutlich: "Du bist ein Schelm! Du tust ja doch alles nur der Mutter wegen!"

Er war feig genug, ihr zu sagen, die Kinder dürften jetzt eine Zeitlang nicht mehr kommen. Es schnitt ihm ins Herz, als er am nächsten Abend hörte, wie die Ältere die Tür aufmachte und schon auf dem Korridor war, um zu ihm herüberzulaufen, und dann zu weinen anfing, als man sie zurückholte. Er klingelte nach dem Mädchen und befahl ihr, den Kindern den Rest von dem, was er für sie gekauft hatte, zu bringen. Sie nahm es. "Das ist aber zu viel!" sagte sie und sah ihn verschmitzt lächelnd an; prügeln hätte er sie können. Aber dann dachte er: "Zum Kuckuck auch, wenn sie doch Verdacht hat bei allem, was ich tue, dann können auch die Kinder wiederkommen!" Und am nächsten Abend holte er sie selber aus der Küche zu sich herein.

Eines Tags begegnete er der Schwester, die eben ausgehen wollte. Sie grüßte fröhlich und sagte: "Gut bekommen neulich?" "Denken Sie nur," fügte sie hinzu, "in ein paar Tagen reise ich nach Hause." Er meinte, da gehöre es sich doch, daß sie Abschied feierten, etwa in der Konditorei. Das fand sie auch, und sie verabredeten, sie wollten sich am nächsten Tag treffen, ganz wie neulich, auch die Kinder mit dabei, und alles sollte wiederholt werden. So geschah es auch. Frau Ragni war nicht ganz so verlegen wie das letzte Mal, er noch munterer, die Kinder ausgelassen. Die ganze Tollheit des Verliebten war über ihm, als sie voll Fröhlichkeit nach Hause zurückkehrten. Er tanzte, Juanita auf dem Kopf, voraus und lehrte die Schwestern singen: "Ist sie nicht süß, die kleine Juanita?"

Als die Schwester abreiste, kam er auf den Bahnhof. Eine Menge Verwandte und andere Menschen waren da, um Abschied zu nehmen. Beide Schwestern waren tief unglücklich, am unglücklichsten wohl die zurückbleibende. Sie weinte unaufhörlich, auch nachdem der Zug schon fort war. Einen Augenblick dachte er daran, sich zurückzuziehen und sie mit den Verwandten allein zu lassen; aber sie sagte: "Ach bitte, gehen Sie nicht!" Dabei wollte sie eigentlich gar nichts von ihm; sie ging neben ihm her wie neben den andern und weinte den ganzen Weg über; auch als die andern gegangen waren, und er und sie vor der Haustür standen, wußte sie nichts zu sagen, sondern ging ohne weiteres hinauf. Auf der Treppe fragte er, ob sie und die Kinder nicht ein bißchen mit ihm spazieren fahren wollten; das würde sie zerstreuen. Sie schüttelte nur den Kopf. "Aber morgen vielleicht?" fragte er ehrerbietig, während er ihr die Tür öffnete. Sie ging hinein, kam jedoch wieder zurück. "Danke, morgen vielleicht!" sagte sie, gab ihm die Hand und sah ihn mit ihren guten, tränenvollen Augen an.

Aus diesem tiefen Schmerz glaubte er schließen zu können, daß sie sich verlassen fühlte. Im Alltagsleben vielleicht nicht; denn da füllte sie die Zeit mit ihrer Phantasie aus; wenn aber etwas geschah, das sie aus dem Traum herausriß, so wachte sie auf, blickte um sich und fand sich einsam.

Am nächsten Tag saß sie mit den Kindern in einem Schlitten, den er selber fuhr. Nach der Fahrt ging er mit hinein zu Kule, der sich auf seine schwerfällige Art dafür bedankte, daß er so freundlich gegen die Kinder sei. Kallem ließ sich alle ihre Spielsachen zeigen, und Kule bat seine Frau, etwas Musik zu machen. Die Kinder wurden hinausgeschickt; er selber saß dabei und paffte aus einer langen Pfeife, die ihm seine Frau hatte stopfen sollen, was Kallem ihr jedoch abgenommen hatte. Heute sah Kallem auch zum erstenmal die Köchin, ein derbes, ältliches Mannsweib, deren nordländischer Singsang wie Vogelgeschrei über der Meeresbrandung klang. Sie war in der Küche und hatte zugleich Kule zu bedienen. Die Frau des Hauses widmete sich augenscheinlich nur ihren eigenen Angelegenheiten, d. h. den Kindern und ihrer Musik. Sie spielte in diesem Augenblick dasselbe russische Stück, das Kallem von seinem Zimmer aus gehört hatte; vielleicht noch besser. Nicht, daß er besonders aufmerksam zugehört hätte; er sah nur sie selbst an. Die obere Partie des Gesichts, das jetzt über Notenblatt und Tasten leuchtete, war eine ganz andere, als die, die er kannte. Das war wohl, was Rendalen gesehen hatte. Welche Entwicklung müßte sie erst durchmachen, damit auch die untere Hälfte dazu stimmte! Vor einigen Tagen hatte er einen Brief von einem Vetter aus Madison in Wiskonsin erhalten, der zum Professor an der dortigen Universität ernannt worden war; seine Frau, eine Norwegerin, studierte bei ihm. So etwas war nötig, um diese matte Wange und dieses schlaffe Kinn, den willenlosen Mund mit der spröden Haut auf den Lippen zu wecken und zu formen. Aber wie rührend war dabei diese ganze kindliche Unmündigkeit! Dicht daneben sah er die ungeheure Faust des Mannes auf der Stuhllehne — der ganze Kerl lag im Stuhl wie ein toter Flußgott in Hosen! Während des Spiels öffnete sich die Tür rechts, und herein trat ein drittes überlebensgroßes Nordlandwesen, eine alte Dame mit weißen Haaren, einem großen vollen Gesicht und einer Hornbrille. Das war die Tante. Sie war größer als Kallem und entsprechend stark. Die junge Frau kreuzte zwischen ihnen wie eine Lustjacht zwischen schwerbefrachteten Ozeandampfern. Eben blickte sie zu Kallem hin wie zu einem Vertrauten. Sie hatte ihm freilich nichts anvertraut; aber ihre gemeinsame Jugend fand sich zusammen gegen all das, was so unbegreiflich schwerfällig und hinderlich war. Seine Liebe verlangte ungeduldig, sie frei zu machen; daß er es nicht konnte, lastete wie eine Schwüle in der ganzen Stube. Es quälte ihn, dieses unfaßbare Verhältnis.

Der Eindruck, den er von dem Besuch mitnahm, störte ihn bei den Vorarbeiten zum Examen, die er bis zu diesem Tag regelmäßig betrieben hatte. Er entwarf die wildesten Pläne, ja, er schrieb sogar an seinen Vetter in Amerika und fragte an, ob sie geneigt seien, eine junge Dame bei sich aufzunehmen. Er vertraute sich Rendalen an, der anfänglich voll Ingrimm dagegen protestierte, sich aber später doch gewinnen ließ. Das Gefühl ihrer Verantwortung sich selbst gegenüber mußte geweckt werden; sie mußte die Gefahren eines fortgesetzten Zusammenlebens kennen lernen; vor allem mußte sie fort, weit fort, damit sie geistige Freiheit zu ihrer Entwicklung habe. Kallem wurde kraft dieser selbst übernommenen Fürsorge immer sicherer und seine Liebe immer mächtiger. Jede Begegnung mit ihr, wie kurz sie auch war, ja, nur ein Gruß auf der Straße oder im Korridor bestärkte ihn in dem Gefühl, daß sie ihm und keinem andern gehöre, und daß sie befreit werden müsse!

Und das alles, eh' er ein einziges Wort zu ihr selbst gesagt hatte.

Er war schon oft verliebt gewesen, hatte sich schon oft hingegeben, auch ohne es zu sein. Aber dieses zarte und unvollkommene, dieses begabte und verlassene Wesen begehrte er zu retten und zu formen; das lag in seiner Natur, und darum gab er sich mit ganzer Seele hin. Sie ihrerseits verlor mit jeder Begegnung ein bißchen von ihrer Scheu; es war, als vermöge er sie zu trösten über die Abreise der Schwester, ja, wenn er sich nicht täuschte, so war er ihr mehr als ein Ersatz. Ein untrügliches Zeichen hatte er jedenfalls. Er hatte ihr gesagt, daß er abends zu Hause bleibe, hauptsächlich, um sie spielen zu hören, und daß er immer einen Spalt seiner Tür öffne; und seitdem spielte sie jeden Abend, oft lange.

Wenn er ihr mit den Kindern begegnete und sie mit in die Konditorei nahm, hatte er die größte Lust, sich auszusprechen; aber ihr Wesen war nicht darnach. Besonders ihre Treuherzigkeit war im Wege; er durfte sie nicht erschrecken. Seine eigene Energie drängte zu einer Lösung; aber seine Liebe beugte sich vor ihrem Bedürfnis nach poetischem Spiel, bei dem die Liebe nicht bei Namen genannt wurde, und doch alles zu ihrer Bilderschrift wurde. Das gab dem Verhältnis eine Süßigkeit, der nichts, was er bisher kennen gelernt hatte, gleich kam.

Einen Abend in der Woche nahm sie teil an einer Art Privatkonzert, oder wie man es nennen wollte, das bei Verwandten ihres Mannes stattfand, denselben Leuten, wo sie damals getanzt hatte. Dazu verschaffte sich Kallem durch seinen Studiengenossen, ihren Neffen, Zutritt. Natürlich bloß, um sie nach Hause begleiten zu können. Es war um die Zeit der Schneeschmelze, und die Straßen waren voll Eis. Als er ihr sagte, daß er auch hinkäme, und bat, sie nach Hause bringen zu dürfen, — worüber sie sehr erfreut war — nahm sie als selbstverständlich an, daß er im Schlitten oder Wagen kommen werde.

Nach einem langen Abend mit zuviel Musik in zu engen Räumen brachen sie endlich auf. Sie zog rasch ihren Mantel an und eilte mit ihm hinaus. Draußen nahm er ihren Arm. "Das trifft sich gut," sagte er — "eben geht der Mond auf." Sie dachte, sie würden einen von den Schlitten nehmen, die da standen, oder den Wagen, der eben kam. Es war Glatteis gleich vor der Haustür, und sie stieß einen kleinen Schrei aus, schritt aber tapfer aus. Inzwischen fuhr ein Schlitten nach dem andern davon und zuletzt auch der Wagen. "Fahren wir nicht?" fragte sie. Der Schelm lachte; er habe es sich gerade so hübsch gedacht, zu gehen. Sie versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen; aber nach einigen verzweifelten Versuchen bat sie ganz rührend, sie wollten doch fahren. Ihm fiel ein, wie ängstlich sie das erste Mal gewesen war, und unter Gewissensbissen versicherte er, sie würden nur bis zum nächsten Halteplatz gehen, der nicht weit entfernt war. Der Weg war nicht so besonders glatt, aber abschüssig; sie klammerte sich an seinen Arm, starrte geradeaus und stieß leise Schreie aus; etwas weiter wurde es schlimmer; die ganze Breite des Wegs war manchmal von Eis bedeckt, trotzdem auch hier einzelne sichere Stellen waren. Jetzt verlor er ein bißchen den Mut, besonders, da er sie nicht dazu bewegen konnte, zu schlittern. Etwas so Furchtsames war ihm doch noch nie vorgekommen. Natürlich ging es nur Schritt für Schritt vorwärts, mit vielen langen Pausen.

Die umliegenden Gärten und Felder waren teils nackt, teils mit Schnee oder Eis bedeckt; dorthinaus wollte sie. Aber er zeigte ihr, daß bald ein Haus, bald ein geschlossener Garten den Weg versperrte; es war nicht wie auf dem Lande. Die Felder sahen zerrissen aus, ebenso der Himmel. Lange Wolkenherden zogen durch das schwarze Blau dort oben, genau wie das Eis zwischen den kahlen Stellen hier unten lag. Der Mond schien in rasender Hast hinter den Wolken herzujagen, sie einzuholen, durch sie hindurch und weiter zu fahren. Da droben mußte ein Orkan toben; hier unten war es still. Kallem fühlte sich unglücklich und unsicher seines Fehlgriffs wegen. Das unstäte Licht über der Landschaft mit ihren zerrissenen Farben erhöhte diese Stimmung noch; ganz gewiß würde etwas Schlimmes geschehen. Und wie immer, wenn dieses Gefühl über ihn kam, zog jene Schreckensnacht aus seiner Kindheit mit allen Konsequenzen an seiner Seele vorüber. Sollte denn dies angstvolle Vorgefühl eigener Fehlgriffe sein ganzes Leben verfolgen? Er spannte alle seine Sinne an: sie durfte nicht hinfallen. Ohne ihre Hasenherzigkeit wären die Hügel eine einzige lustige Schlitterbahn gewesen; nun machte sie auch ihn ängstlich. Jede glatte Stelle wurde zu einer wirklichen Gefahr, und die Errettung aus der einen brachte nur eine neue Gefahr, in die sie gerieten. Sie sprachen nicht, sahen sich nicht an, beide ängstlich und ungeduldig. Minuten brauchten sie, wo Sekunden genügt hätten; der eine schob im Stillen die Schuld auf den andern, während sie kämpften, als gelte es das Leben. Nur ein atemloses: "O Gott!" oder "Nehmen Sie sich ja in acht hier!" oder ein hoffnungsloses: "Nein, es geht ja nicht!" und ein "Versuchen Sie's noch einmal! Kommen Sie!" Zuletzt nicht einmal mehr das. Sie mochte jammern, verzweifeln, beinahe weinen — er antwortete nicht mehr. Und so sehr war sie von ihrer Angst erfüllt, daß sie den Übergang nicht einmal merkte.

Da sahen sie in der Ferne die Rettung, nämlich zu beiden Seiten hohe Häuser, die Schutz boten gegen die Sonne, so daß der Schnee nicht geschmolzen war. Dorthin galt es zu kommen, dort war auch ganz in der Nähe ein Schlittenhalteplatz. Endlich war es geglückt. Sie blieb stehen, holte tief Atem und versuchte zu lachen; aber es ging nicht. "Wir wollen einen Augenblick stehen bleiben!" bat sie aufs neue tief aufatmend. Sie ließen einander los; weiter unten hörte man Schellengeklingel; beide lauschten. "Wenn nur nicht der letzte. Schlitten gerade wegfährt!" sagte sie. "Es ist spät." Sie nahm seinen Arm und sie gingen weiter. Ganz leicht war es auch hier nicht, der Schnee war festgetreten, aber auf dem Fußweg war gestreut. Sie gingen jetzt schneller und allmählich sicherer. "Gott sei Dank!" sagte sie erleichtert, als komme sie vom Eismeer zurück. Aber kaum hatte sie es gesagt, so lag sie auch schon am Boden. Sie waren an eine tückische Stelle geraten, wo ausgegossenes Wasser gefroren war und sich später mit einer Reifschicht überzogen hatte. Sie glitt aus und zwar gerade über einen seiner Füße, so daß auch er ausglitt und fiel — der eine über den andern. Er machte seinem übervollen Herzen in einem Fluch Luft und war sofort wieder auf den Beinen, um ihr zu helfen. Aber sie lag regungslos, mit geschlossenen Augen da.

Es überlief ihn eisig. Eine Gehirnerschütterung? Er hob sie auf und legte sie über sein Knie, zog mit den Zähnen seinen rechten Handschuh aus und machte ihr den Kragen auf. Ihr Arm hing herunter, ihr Gesicht war totenblaß. Er öffnete ihren Mantel, um ihr Luft zu schaffen. Jetzt rührte sie sich. "Ragni!" flüsterte er. "Ragni!" und beugte sich tiefer auf sie herab, "süße, süße Ragni! Verzeih mir!" Sie schlug die Augen auf. "Verzeih mir, hörst Du!" In ihren Wangen stieg die Röte auf, ihre Hand griff nach dem Mantel, der offen war; sie hatte es also gefühlt, nur in der Betäubung des Schreckens gelegen. Er konnte seine Freude nicht mehr zügeln, — er zog ihren Kopf zu sich empor und küßte sie ein-, zwei-, dreimal. "O Du — wie ich Dich liebe!" flüsterte er und küßte sie wieder. Sie wollte sich aufrichten; er merkte es, stand sofort auf und zog sie mit empor. Aber sie konnte nicht allein stehen, sondern taumelte, so daß er sie an den Gartenzaun gerade vor dem Hause lehnen mußte. Daran hielt sie sich und neigte sich darüber, als könne sie allein sich nicht tragen. Er ließ sie los, um zu sehen, ob sie sich aufrecht halten konnte; ja, es ging. "Ich laufe nach einem Wagen!" sagte er, und fort war er. Im Laufen fiel ihm ein, daß er das von Anfang an hätte tun können, dann hätte sich alles das vermeiden lassen. Ob noch ein Wagen zu haben war? Wenn nicht, so rannte er eben weiter. Wenn sie nur stehen konnte! Wenn nur niemand kam ... Er sprang, er glitschte, und als er einen Schlitten stehen sah, sprang er hinein und befahl dem Kutscher, draufloszufahren, was das Pferd nur laufen könne, ohne ihm zu sagen, wohin. Erst als dies erledigt war und der Schlitten davonsauste, kam ihm zum Bewußtsein, was er gesagt und getan hatte, während er sie in seinen Armen hielt. Es hatte wohl in ihm fortgetönt, aber jetzt erst brach es in voller Melodie hervor.

"Fahren Sie zu! Dort steht sie, dort rechts! Wir sind gefallen, und sie hat sich wehgetan. Ja, dort!" Er sprang heraus und eilte zu ihr hin, während der Kutscher umwendete und dicht heranfuhr. Sie lehnte noch immer am Zaun, aber jetzt halb mit dem Rücken und halb von der Seite. Den Mantel hatte sie wieder zugeknöpft und den Schleier herabgezogen. Als er kam, streckte sie die Hand aus, um sich zu stützen; er nahm sie, legte aber seinen andern Arm um ihren Leib, um sie vor sich herzuführen; er wollte nicht noch einmal riskieren, daß sie ihm ein Bein stelle. Es ging gut, er hob sie in den Schlitten, packte sie ein, bezahlte den Kutscher und nannte die Adresse. Sie bat ihn, nicht mitzufahren. Sie sagte nicht gute Nacht, sie blickte nicht auf. Und der Schlitten fuhr ab.

Er fühlte sofort — jetzt ging sie von ihm. — — —

Nichts macht einem wackern Burschen soviel zu schaffen wie seine eigene Dummheit und Ungebärdigkeit. Stundenlang strich er diese Nacht durch die Straßen und schlich dann nach Hause wie ein geprügelter Hund. Am nächsten Morgen wagte er nicht, das Mädchen zu fragen. Aber abends erzählte sie ungefragt, die gnädige Frau sei nicht wohl gewesen; sie habe Erbrechen gehabt und liege zu Bett; immerhin gehe es besser. Maries mitwissendes Lächeln versetzte ihn in ohnmächtige Wut. Sie hatte noch obendrein die Unverschämtheit, in seinem Gesicht zu forschen. Trotzdem mußte er sich den Tag darauf bequemen, zu fragen. Ja, die gnädige Frau sei auf, und es gehe ihr ganz gut. Aber weder diesen, noch den nächsten Tag bekam er einen Schimmer von ihr zu sehen; auch von den Kindern hörte er keinen Ton. Sie spielte auch nicht am Abend; er blieb eigens zu Hause, um zu horchen. Weder sie selbst, noch die Kinder kamen den gewohnten Weg an seiner Tür vorbei, wenn sie ausgingen; sie gingen die Hintertreppe hinunter. Nie traf er sie mehr. Sie wählte neue Wege.

Bisher war seine Liebe ein heimliches Glück voll von Plänen gewesen. Jetzt war er gewaltsam ins Heiligtum eingebrochen, und ein endloser Traum, ein fruchtloses Grübeln löste seine klaren Tage und seine gesunden Nächte ab. Er ging alles durch, was geschehen war, jedesmal mit brennender Selbstquälerei. Er verachtete sich selbst, ließ sich zu Kneipereien mitschleppen und verachtete sich noch mehr. Seitdem er ihre Lippen berührt, ihr Ohr beleidigt hatte, war ihr Bild wie mit einem Schleier überzogen; er sah nicht das reine Taubenweiße, das von Musik Getragene in all seiner Anmut und Hilflosigkeit; er sah ein Weib, das er begehrte. Aber er hatte Sinn für Humor und eine gesunde Natur; er wollte sich nicht in Selbstquälerei und törichter Begierde verzehren. Er wollte sogleich ausziehen, und zwar unter dem Vorwand einer Reise. Damit glaubte er über alle Schwierigkeiten hinwegzukommen wie über einen Zaun. Er hielt es nicht aus, daß ihm das Haus verschlossen war; er hielt nicht einmal das unverschämte Lächeln des Mädchens mehr aus.

Auf einmal frappierte ihn die Ähnlichkeit, die sein Umzug mit dem Aufbruch Rendalens hatte. Auch Rendalen hatte kurzen Prozeß gemacht. Es war doch nicht etwa aus demselben Grund gewesen — —? Er schlug eine Lache auf. Natürlich — genau dasselbe war auch dem widerfahren!

Rendalens Mutter war in der Stadt gewesen und hatte hier gewohnt; während der Zeit war Ragni viel mit den beiden zusammen gewesen; Rendalen und sie hatten vierhändig gespielt. Das hatten sie auch nach der Abreise der Mutter fortgesetzt — und immer auf seinem Flügel, das wußte er ... Er empfand dieses Zusammentreffen wie eine Demütigung.

Eine feinere, edlere Natur als Rendalen kannte Kallem überhaupt nicht; der hatte sich auch nicht das Geringste erlaubt. Aber daß sie auch ihn so unruhig machte, daß er auszog! Sie mußte also etwas derartiges an sich haben? Das redete er sich zu seiner Entschuldigung ein. Ja, noch mehr, er empfand es als eine gesteigerte Versuchung. Am selben Abend noch sagte er Marie, er müsse verreisen, entweder morgen oder den Tag darauf, das wisse er noch nicht; jedenfalls solle sie um die Rechnung bitten; selbstverständlich bezahle er das volle Quartal. Das Mädchen sah ihn an; sie erriet sofort den tieferen Zusammenhang. Weidete sie sich daran, — hatte sie etwas zu erzählen? Sie fragte in ihrer bescheidenen Art, ob er die Rechnung sogleich wünsche. Nein.

Am nächsten Tag kam es nicht zum Umzug; aber am folgenden sollte er vor sich gehen. Er wollte ein paar Tage verreisen, sich aber zuerst eine neue Wohnung suchen und seine Sachen hinbringen lassen. Nachmittags ging er aus und mietete — und zwar in einem ganz andern Teil der Stadt. Dann überlegte er eine Weile, was er als Grund angeben solle, namentlich Rendalen gegenüber. Er beschloß, ihm die volle Wahrheit zu sagen, den andern einfach, er sei in seiner jetzigen Wohnung mehrfach gestört worden; es war ja auch wahr. Gegen fünf Uhr kam er wieder nach Hause, ging ins Schlafzimmer, zog Schlafrock und Pantoffel an, ging dann wieder ins Nebenzimmer und legte sich aufs Sofa, wo er in einen tiefen Schlaf fiel; den hatte er auch nötig. Gegen sieben kam das Mädchen und heizte ein, ohne daß er es merkte. Etwas später erwachte er, hörte das Prasseln und sah die Helle und schloß daraus, daß es über sieben sein müsse. Seine Gedanken waren sofort drüben bei ihr. Er hoffte ganz heimlich, wenn sie erführe, daß er fortziehe, so würde er sie noch einmal spielen hören. Bisher hatte er sich hierin getäuscht; aber trotzdem konnte er den Glauben, daß seine Abreise ihr naheging, nicht aufgeben. Er lag auf dem Bett und lauschte. Sollte er ohne weiteres zu ihr hineingehen und Abschied nehmen? Sollte er Licht anzünden? Sollte er wieder ausgehen? Er stand auf und starrte ins Ofenfeuer. Da hörte er im Vorsaal eine Tür gehen und mehrere Stimmen — ein paar Damenstimmen mit stark nordländischem Tonfall. Er dachte, es seien wohl neu angekommene Verwandte, die zum Besuch dagewesen waren. Die Damen wurden bis zur Tür begleitet; er hörte die langsame Sprechweise der Tante, auch eine Männerstimme hörte er — war das Ole Tuft? Nur die, nach der er lauschte, hörte er nicht. Allgemeines Abschiednehmen, die Tür wurde zugemacht. Dann die Stimme der Tante und Ole Tufts — wirklich, es war seine Stimme. Er mußte also eben gekommen sein, als die andern gingen. Beide verschwanden im Zimmer der Tante, die Tür schloß sich hinter ihnen, gleichzeitig wurde weiter hinten eine Tür geschlossen. Wieder klingelt es, wieder geht eine Tür auf und herausstürmen jubelnd die zwei Kinder; sie wollen die Gelegenheit benützen und zu Kallem hinein; aber sie dürfen nicht. Unter Gelächter wird im Korridor Jagd auf sie gemacht; sie werden eingefangen, und eine Tür wird hinter ihnen zugeschlagen; gleichzeitig öffnet sich die Entreetür; eine der Damen hatte ihre Überschuhe vergessen. Und jetzt hörte er Ragnis Stimme: sie wolle Licht holen, es sei ja ganz dunkel hier. Im Singsang der nordländischen Schifferlieder wurde das abgelehnt. Hier waren die Gummischuhe, gleich an der Tür; sie seien nur nicht leicht anzuziehen — es seien ganz "neue"! So! Nun saßen sie. Wieder ein zärtliches "Adieu, adieu!" und als Antwort ein "Auf Wiedersehen am Freitag!" Das letzte sagte Ragni. Täuschte er sich — oder klang es wirklich wie die Stimme eines Menschen, der sich in der Nähe einer Gefahr glaubt? Nicht so recht ihre gewohnte Stimme? Sprach sie, ohne es zu wollen, von ihm? Er schnellte auf und war an der Tür, noch ehe sie draußen zugemacht hatte. Wenn er öffnete, standen sie sich Auge in Auge gegenüber. Sollte er —? Er lauschte wie auf ein Zeichen. Er hörte sie nicht gehen; vielleicht stand sie draußen? Sein Herz schlug Sturm, während die Hand leise, leise auf die Türklinke drückte und lautlos öffnete. Vor seinen Augen, die in das Ofenfeuer gestarrt hatten, lag der Gang draußen im Stockfinstern. Er tastete sich nach der Entreetür, fühlte das Schloß, tastete sich weiter vor; aber es war niemand da. Sollte sie mit hinausgegangen sein? Nein, sie hatte sich ja verabschiedet und von Wiederkommen am Freitag gesprochen. Weshalb hatte er sie dann nicht gehen, keine Tür hinten öffnen hören? Sie mußte hier im Flur sein. — Er hörte sein eigenes Herz schlagen; aber vorwärts mußte er. Jetzt fühlte er Kleider zwischen den Fingern; eisig durchrieselte es ihn; aber gleich kam ihm die Besinnung wieder — die Kleider waren kalt und leer. Dann räusperte sich drinnen jemand — das war Kule. Von der Küche oder vom Eßzimmer her tönte Geplauder — das waren die Kinder. Bei diesen freundlichen Lauten aus einer Welt des Guten stand er still wie ein Verbrecher. Er hätte das nicht tun sollen. Nun hörte er die langgezogenen Fragen der Tante und Oles klare Antworten, d. h. die Töne, nicht die Worte. War Ragni im Korridor? Sie konnte ja etwas gesucht haben und, erschrocken über sein Auftauchen, stehen geblieben sein. Wenn er weiter ging, konnte er sie erschrecken, so daß sie geradenwegs auf eine Tür zustürzte und sie öffnete. Dann stand er im vollen Lichte da! — — —

Nein, dazu war sie zu furchtsam. Wieder ein paar Schritte vorwärts. Er hatte Pantoffel an; man hörte ihn kaum; aber er wünschte, sie möchte nicht da sein. Die Kinder plauderten gerade am andern Ende des Korridors; je näher er kam, desto deutlicher hörte er es; er sah sie im Geist auf ihren Stühlchen knien und Häuser auf dem Tisch bauen. Er schämte sich. Was wollte er eigentlich? Aber während er sich das fragte, ging er weiter; er tastete von einer Seite zur andern, von einem Mantel zu einem Schal, vom Rahmen einer Tür nach den Vorsaalfenstern, von denen er einen Schimmer sah. Ein Wagen rumpelte vorbei, gleich darauf erklang gedämpftes, ungleiches Schellengeläut; bei diesem Übergangswetter benützte man beides, Wagen und Schlitten. In der Küche fiel etwas zu Boden; Kule räusperte sich wieder; die Zeit mußte ihm lang werden; vielleicht brauchte er Licht? Zwischen dem Kinderzimmer und der Küche stand anscheinend die Tür offen, denn auf einmal waren die Kinder draußen und fragten, was hinuntergefallen sei. Das Nordlandmädchen antwortete schwerfällig, in langgezogener, süßlicher Freundlichkeit, eine Un-ter-tas-se wäre hinuntergefallen, sie sei vom Bo-rt heruntergerutscht. Weiter! War Ragni überhaupt hier, so stand sie in der hintersten Ecke. Wie sie sich ängstigen mußte! Was mochte sie von ihm denken! Und wenn er umkehrte, nahm er sich aus wie ein ertappter Dieb. Jetzt vermochte er am Fenster ein klein wenig zu sehen; aber weiter hinten wieder nichts, kein Lichtschimmer unten oder oben an den Türen, auch aus den Schlüssellöchern nicht; nicht einmal geradeaus vor dem Kinderzimmer. Ob sie vielleicht dort stand? Er bildete sich ein, daß er sie dann sehen müsse.

War sie vielleicht zur Tante hineingegangen — dicht neben seiner Tür? Oder hatte sie ganz einfach die Tür zur Stube der Kinder oder zum Zimmer Kules hinter sich offen stehen lassen, als sie herauskam, und sie im selben Moment geschlossen, als er seine öffnete? Und saß nun drinnen und träumte? Das nahm er jetzt als ganz sicher an; denn er wünschte, es möchte so sein. Dennoch ging er weiter. Endlich stand er ganz hinten an der Tür; er hörte die Kinder und links die Köchin, die in ihrer Küche rumorte und ab- und zuging. Jetzt kehrte er um und fühlte sich gleich freier. Mit ausgestreckten Händen ging er zurück, diesmal schneller. Da faßte er einen warmen, festen Arm. Er erbebte, erschauerte, Funken sprühten vor seinen Augen; er blieb stehen. Aber der Arm regte sich kaum, und er faßte wieder Mut. Langsam ließ er die Hand vom Arm um ihren Leib gleiten und umschlang sie behutsam. Warm und weich fühlte es sich an; sie stand ganz still, aber ein Zittern ging durch ihren Körper. Er zog sie leise an sich. Mit der andern Hand faßte er die ihre und drückte sie; auch diese zitterte. Er drückte sie wieder — und nun glitten sie langsam, Schritt für Schritt vorwärts — sie ohne Widerstreben, aber auch nicht freiwillig. Er hörte kaum seine eigenen Schritte, die ihrigen gar nicht. Die Kinder plauderten leise. Aus den Zimmern Kules und der Tante kam jetzt kein Laut; vor ihnen ein schwacher Schimmer aus seiner eigenen Tür. Jetzt waren sie dort; er stieß die Tür behutsam auf und wollte sie hineinführen. Aber nun blieb sie stehen und wollte ihm ihre Hand entziehen. Er hörte ihr Atmen, fühlte ihren Hauch, sah das blasse Gesicht, während er sie sachte bis zur Schwelle schob — dann hinüber — und die Tür hinter ihnen anlehnte. Drinnen ließ er sie los, um so leise wie möglich ganz zuzumachen. Sie blieb stehen, wie er sie verlassen hatte, mit dem Rücken gegen ihn, beide Hände vors Gesicht gepreßt. Als er kam, fing sie zu weinen an. Er umschlang sie, um sie an sich zu drücken, und jetzt ging ihr Weinen in Schluchzen über. Sie schluchzte so schmerzlich, so unglücklich, daß sein Blut nüchtern wurde, und er auf ganz andere Gedanken kam. Willenlos ließ sie sich nach dem Sofa führen; sie weinte so verzweifelt, daß ihn plötzlich nach Licht verlangte, wie wenn jemand krank wird. Darum machte er hastig die Lampe zurecht; dann fiel ihm ein, daß er erst die Gardinen zuziehen mußte; und nun erst zündete er an.

Nur ein Mensch, der sein Leid Tage und Nächte lang in seinem Innern verschlossen hat, kann so weinen. Der Tisch zitterte, an den sie sich lehnte.

Hundertmal hatte er über Liebhaber in Romanen und Theaterstücken gespottet, die auf die Knie sinken. Jetzt schob er das eine Tischende beiseite und ließ sich vor ihr aufs Knie gleiten wie der demütigste Sünder. Er suchte ihr Gesicht; aber sie hielt mit beiden Händen ihr Taschentuch vor. Kopf, Brust, Schultern bewegten sich stoßweise unter ihrem heftigen Schluchzen. Er fühlte jeden Ruck und bat und bat, sie möge ihm doch vergeben! Er sei nicht Herr seiner selbst gewesen, als er damals, auf dem Eis, so zu ihr gesprochen habe. Er liebe sie, sie gehörten zusammen. "So weine doch nicht so!" bat er, "das halt' ich nicht aus!" Er nahm sie bei den Händen, zog sie neben sich aufs Sofa, lehnte ihren Kopf an seine Brust und schlang die Arme um sie; er küßte ihr Haar, er lehnte ihre feuchte Wange an seine. Was er auch begann — sie weinte. Er wollte ihr Wein zu trinken geben. Nein, nein! Aber dieses Schluchzen war zu entsetzlich! War der Grund, weil er sie mit zu sich hereingenommen hatte? Er habe sich so nach ihr gesehnt, daß er nicht habe widerstehen können, als er sie draußen im Gang gehört habe. Sie könne doch nicht wollen, daß er ohne Abschied weggehen solle? Und sie nie wieder sehen? Sie schüttelte den Kopf, machte sich von ihm los, legte das Gesicht auf den Tisch und weinte in ihr Taschentuch hinein, noch heftiger als zuvor. "Soll ich nicht fort?" fragte er. Doch sie hörte es gar nicht. Da ließ er sie ruhig weinen; erst nach einer langen Pause beugte er sich zu ihr nieder und sagte: "Ich tue alles, was Du willst." Da hob sie sich und all ihr Weinen vom Tisch und schmiegte sich an seine Brust. Er umschlang sie mit beiden Armen, und während er sie so hielt, fühlte er — sie faßte es schöner und tiefer auf als er.

Ein Geräusch wurde an der Tür hörbar und gleich darauf wurde sie geöffnet. Das Mädchen kam mit dem Abendessen. Erschrocken ließ er die Frau los und stand auf. Ragni aber legte sich einfach wieder über den Tisch und schluchzte. Das Mädchen setzte das Brett behutsam auf die Ecke des Tisches, die frei war, stellte ebenso behutsam die Lampe weg und schob das Brett nach. Sie war rot und sah keins von den beiden an; aber das Lächeln war da und sagte deutlich: "Das hab' ich schon längst erwartet!" So wunderbar verschieden kann man eine und dieselbe Sache sehen, daß Kallem jetzt fand, es liege eine verschwiegene, schalkhafte Freude darin. Still war das Mädchen gekommen, still ging es wieder hinaus und schloß die Tür hinter sich, so leise wie er selber vorhin.

"Gott im Himmel, Ragni!" rief er. Sie antwortete nicht; ihr schien das alles viel zu klein; das Leid, das sie bedrückte, überwog alles. Er kam zurück und preßte sie wieder an sich; da sagte sie: "O Gott, was bin ich unglücklich!" — und das war eigentlich das einzige, was sie sagte, solange sie da war. Er konnte nichts erwidern; alles was ihm einfiel, kam ihm dumm vor. Er machte wohl einen leisen Versuch, und half mit Liebkosungen nach; aber sie wehrte das eine wie das andere ab; sie stand auf — sie wollte fort. Er fühlte sich außerstande, sie zurückzuhalten, sondern geleitete sie zur Tür. Ehe sie öffnete, wandte sie sich nach ihm um, voll schmerzlicher Hingebung, wie in der Todesstunde. Er löschte die Lampe, und sie glitt hinaus.

Aber im selben Augenblick, als sie die Tür hinter sich schloß, fiel ein schwacher Lichtschein auf sie; er kam aus der Vertiefung, die zum Zimmer der Tante führte; dort wurde eben die Tür geöffnet, und sie selbst stand davor — in Ragnis aufgescheuchter Phantasie groß wie ein aufgerichteter Walfisch. Natürlich — die Tante hatte Ragni im Zimmer des Mieters schluchzen hören und sofort erfaßt, was Ragnis seltsames Wesen in all den Tagen zu bedeuten hatte. Nun stand sie vor ihrer Tür Wache, und im selben Moment, als Ragni aus Kallems Zimmer kam, stieß die Tante ihre Tür auf, so daß der Lichtschein auf die Kommende fiel. Die Tante streckte die Hand aus; das hieß so viel als: "Hier herein, mein Kind!" Und Ragni kam. Die Tante ließ sie an sich vorüber. Sie war nicht allein. An der Wand gegen das Zimmer hin, das Ragni eben verlassen hatte, stand ein Sofa, und aus der Sofaecke erhob sich ein hochgewachsener blonder Mann mit mildem Antlitz — Ole Tuft. Er war zuerst auf ihr Weinen aufmerksam geworden und war sogar an Kallems Tür gewesen. Ragni sank auf einen Stuhl zwischen Sofa und Tür.


Tags darauf lag sie zu Bett. Aber bevor Kallem ausging, schickte sie ihm einen Zettel, auf dem sie schrieb, die Tante habe gehört, wie sie bei ihm geweint habe, ebenso Herr Tuft; er sei sogar an der Tür gewesen. Weiter kein Wort; doch — ganz unten, fast unleserlich: "Nie wieder!"

Mitten in der Angst, die auch ihn jetzt befiel, fand Kallem diese beiden armen Wörtchen: "Nie wieder!" doch so beredt, daß sich seine Augen mit Tränen füllten; aber auch sein Herz mit Mut. Jetzt mußte etwas geschehen! Die Tante und Ole Tuft hatten sie ins Gebet genommen! Er hatte nichts gehört; es mußte sehr still zugegangen sein, oder sie waren nicht im anstoßenden Zimmer gewesen. Arme, arme Ragni!

Tiefstes Mitleid ergriff ihn und heftigster Ingrimm, Furcht, Rachelust, grenzenlose Liebe, Enttäuschung, Wut!

Er kleidete sich an und eilte auf die Straße. Wohin? Richtig! Zu Ole Tuft, diesem verdammten Duckmäuser, der sich in seine Angelegenheiten mischen wollte! Spion und Angeber also? Was zum Teufel wollte er denn eigentlich? Was beabsichtigte er? Waren das vielleicht auch "Gottes Wege"? Durch Schlüssellöcher gucken und an den Türen horchen? Dieser Kerl, der ihm "auf Gottes Wegen" seine prächtige Schwester genommen hatte — wollte der ihm nun auch seine Liebe nehmen? Weshalb kam er nicht zu ihm selber? Weshalb es der Tante sagen?

Er hatte die größte Lust, ihn aufzusuchen und ihn tüchtig durchzubläuen, ihn halbtot zu schlagen! Verdient hätte ers, weiß Gott! Er schlug wirklich die Richtung nach Ole Tufts Wohnung ein; aber da stiegen die großen Augen seiner Schwester vor ihm auf und sahen ihn fest an. Er konnte sich wenden und drehen, wie er wollte — sie waren da, die tiefen Augen. Und dann fühlte er ihre Wange an der seinen, wie an jenem letzten Abend. Das Ende vom Liede war, daß er vorbeiging. Aber damit war er in die Nähe seiner früheren Wohnung gelangt, und da fiel ihm Rendalen ein. Zu dem wollte er! Kein Tüttelchen wollte er ihm verheimlichen; es war ja allein schon ein Glück, sich aussprechen zu können. Als er sich Rendalens Haustür näherte, sah er jemand herauskommen. War das nicht — —? Ole Tuft! Ole Tuft in eigener Person! Der Schurke! ... In Kallem kochte es; aber Tuft ging nach einer andern Richtung und sah den Schwager nicht.

Kallem kannte Tuft, so wie er jetzt war, nicht. Hätte er ihn gekannt, so hätte er begriffen, daß es ihm nur galt, zwei Seelen vom Untergang zu retten. Um dieser beiden teuren Seelen willen lebte er in einem schlaflosen Fieberzustand; ihretwillen rief er andere zu Hilfe. Eher konnte er sich weder Rast noch Ruhe gönnen. Selbst zu Kallem zu gehen — das hatte seine Gefahren, wäre auch sicherlich zwecklos gewesen. Hier mußten andere einschreiten. Hätte Kallem das geahnt, er wäre — anstatt zu Rendalen zu gehen — Tuft nachgelaufen und hätte ihn durchgeprügelt, bis er kein Glied mehr hätte rühren können.

Glücklicherweise ahnte er jedoch nichts und klingelte bei Rendalen, ganz erfüllt von dem, was er mitzuteilen hatte. Rendalen öffnete selbst, und zwar sofort; er stand zum Ausgehen gerüstet da, hatte den Hut auf und den Überzieher überm Arm und war aufs sorgfältigste gekleidet und geschniegelt. Kaum erblickte er Kallem, so warf er den Kopf zurück wie ein Pferd, das einen Feind vor sich sieht. "Du!" rief er. Kallem trat, aufs äußerste erstaunt, rasch ein. Rendalen machte die Tür zu, schloß sogar ab, und schleuderte Hut und Überzieher hin. "Zu Dir wollte ich eben!" zischte er. Er war ganz weiß zwischen seinen Sommersprossen, die schmalen Lippen waren zusammengepreßt, die grauen Augen sprühten. Und nun ballte er seine breiten, kurzen Hände, diese Hände eines Hünen, bis sie ganz weiß wurden. Sein aufrechtstehendes rotes Haar schien mit den Augen um die Wette Funken zu sprühen; die ungeheure persönliche Macht, die dem Mann eignete, beunruhigte und erschreckte Kallem. "Was zum Henker ist denn los?" Der andere antwortete in höchster Wut, aber doch gedämpft: "Tuft ist hier gewesen und hat mir alles erzählt. Aha! Jetzt wirst Du bleich!" Er kam noch dichter heran: "Sie war das Unschuldigste unter der Sonne — Du Schurke!" Seine Stimme zitterte.

"Na, hör mal!" sagte Kallem. Ihm wurde eiskalt. Der andere aber war ganz von Sinnen und unterbrach ihn: "Du meinst wohl, das ginge mich nichts an? Alle Menschen geht so etwas an! Und weißt Du, warum ich ausgezogen bin? Glaubst Du, ich hätte weniger Macht über ein Menschenkind als Du? Du feiger, verfluchter Schurke!" Gleich wilden Schreien entrangen sich die dickunterstrichenen Worte seinem wilden Sinn, obwohl sie noch leiser gesprochen waren als die vorhergehenden. Eine derartige Wut und ein derartiger Hohn wirken ansteckend.

"Na, na, nur nicht eifersüchtig werden, mein Junge!" rief Kallem. Wenn man eine Bütte mit Blut über ihn ausgegossen hätte, Rendalen hätte nicht röter werden können. Gleich darauf wurde er wieder weiß. Vergebens versuchte er zu sprechen, und da es ihm nicht gelang, so ging er geradenwegs auf Kallem zu, die Augen in seine gebohrt, daß sie tatsächlich brannten. "Ich hätte die größte Lust, Dich ... Dich zu schlagen!" brachte er nur heraus. "Bitte!" sagte Kallem und nahm Stellung. Kaum hatte er es voller Hohn herausgestoßen, als auch schon Rendalens rechte Hand niedersauste. Kallem bückte sich und stand unverletzt, mit spöttischer Miene da. Rendalen nahm einen zweiten Anlauf, Kallem wich abermals behende aus. "Bist Du denn ganz verrückt?" rief er, so laut er konnte.

Als wenn einer ihn von hinten gepackt hätte und festhielte, stand Rendalen plötzlich da, und nach und nach kam es über ihn wie eine Art Ohnmacht. Bleich, steif starrte er vor sich hin, bis er mit dem Aufgebot seiner ganzen Willenskraft vermochte, sich umzuwenden, langsam nach dem Fenster zu gehen und still, mit leerem Blick hinauszusehen. Sein Atem ging so heftig, daß Kallem glaubte, der Schlag müsse Rendalen treffen. Kallem selbst stand, ohne sich zu rühren, da; denn immerhin war er selber doch auch so wütend, daß er es nicht über sich brachte, zu ihm hinzugehen. Rendalen war ihm ein Rätsel — eben noch der wildeste Ausbruch von Leidenschaft, und jetzt wie gelähmt! Nichts als sein heftiges Atmen war zu hören. Und dabei dieses unglückliche Gesicht — so über alle Beschreibung unglücklich! Was in aller Welt bedeutete denn das? Er blickte auf den Freund, bis die alte Wärme für ihn wieder erwachte, und ohne weiteren Übergang trat auch er ans Fenster und stellte sich neben ihn. "Du brauchst es Dir nicht so zu Herzen zu nehmen", sagte er. "So schlimm, wie Du vielleicht glaubst, ist es nicht." Der andere antwortete nicht; vielleicht hörte er es nicht; er sah noch immer zum Fenster hinaus. Oder glaubte er ihm nicht — meinte, es sei Spott? Da lächelte Kallem ihn an — und dies Lächeln war nicht zu verkennen; es war gut und aufrichtig. In Rendalens Gesicht kam wieder Bewegung und Farbe; er wandte den Kopf. Voll froher Eile sagte Kallem: "Nicht ein Haar habe ich ihr gekrümmt, weiß Gott, alter Junge!" Rendalen begriff den Sinn der Worte nicht gleich; er vermochte nicht, das Ganze so plötzlich am andern Ende zu fassen. Aber als Kallem seinen Kopf noch dichter zu ihm hinüberbeugte und sagte: "Ich gebe Dir mein Ehrenwort — ich habe ihr nichts getan!" da jubelte es in Rendalen auf, und er schlang die Arme um des Freundes Hals.

Sie waren beide zu tief ergriffen, als daß das gegenseitige Vertrauen hinterher nicht unbedingt gewesen wäre. Rendalen erfuhr alles, genau, wie es zugegangen, wie in den beiden Menschen die Liebe erwacht war. Es machte einen tiefen Eindruck auf ihn, was er auch gar nicht verbergen wollte oder konnte. Kallem fragte nun offen, ob auch er sie liebe? Da aber wurde Rendalen wieder blaß und zornig, und Kallem war unglücklich über seine Unbedachtsamkeit; aber sie war nicht wieder gutzumachen. Das Gespräch stockte; Rendalens Augen wichen den seinen aus. Endlich, als er die Form gefunden hatte für das, was er antworten wollte, sagte er: "Ich habe kein Recht, zu lieben. Darum bin ich ausgezogen."

Es ging Kallem durch Mark und Bein. Rendalen hatte die Arme auf den Tisch gestützt, zwischen den Händen hielt er ein Buch, das er unaufhörlich hin- und herdrehte und von außen und innen besah. "In unserer Familie ist der Wahnsinn erblich ... durch lange Generationen. Mein Vater war geisteskrank. In mir — ja, Du kennst ja das Unbändige in mir ... ist es hart an der Grenze. Geradeso war mein Vater. Darum, als Du das sagtest ... Du weißt schon ... vom Verrücktsein ... das traf! Es sind die Worte meiner Mutter. Ich darf mir nicht nachgeben. Also auch nicht in der Liebe. Trotzdem hab' ich's nicht immer können. Nein — beichten kann ich nicht. Die Musik ist mein Betäubungsmittel. Aber hier hat auch sie mich im Stich gelassen. Wie auch schon früher." — Er legte das Buch weg, nahm ein anderes, legte es auf das erste und wirbelte beide auf dem Tisch herum. Da hörte er Kallem halb lachend sagen: "Und da hast Du mich zum Stellvertreter gewählt?" — "Was Teufel sollt' ich denn sonst machen? Ich hab' Dich für einen anständigen Kerl gehalten."


Am Nachmittag verfaßte Kallem im Schweiß seines Angesichtes einen Brief an den Apotheker, der ihm helfen sollte. Je mehr er schrieb, desto unmöglicher schien es ihm, dem alten Hagestolz und grilligen Naturforscher verständlich zu machen, was Liebe ist, und was für tiefe Not das Wesen litt, für das er um Hilfe bat. Er zerriß den Brief. Rasch entschlossen schrieb er seinem Vater. Dieser brauchte ja jetzt Ole Tuft nicht mehr zu unterstützen; ob er vielleicht einem andern helfen würde? Sein Vater war ein Sonderling, aber ein warmherziger Mensch, der alle Ungerechtigkeit haßte. Und etwas Ungerechteres als Ragnis selbstgewähltes Geschick kannte Kallem nicht; er war fast überzeugt, daß sein Vater dasselbe fühlen mußte. So erzählte er ihm denn von ihrer Liebe — ganz ohne Vorbehalt; er gelobte, wenn der Vater ihr helfen würde, so wolle er diesen Bund heilig halten. Von jetzt ab wolle er seine Studien ernsthafter betreiben als je; er wolle versuchen, das Höchste zu erreichen, was zu erreichen sei. Und wenn es auch seiner und ihrer Ausbildung wegen lange dauern würde, bis sie sich heiraten könnten — er wolle ebenso treulich auf sie warten, wie sie auf ihn; das sei sein feierliches Gelöbnis. Er hoffe, der Vater habe keinen Grund, zu glauben, daß er es brechen würde, sondern werde ihn vielmehr beim Wort nehmen und ihr helfen.

Und er hatte sich nicht getäuscht. Drei Tage darauf hatte er die telegraphische Antwort, daß alles nach seinem Wunsche geordnet sei, und daß das Nötige mit der ersten Post eintreffe. Mit diesem Siegestelegramm bewaffnet, begann er nun seinen und Rendalens gemeinschaftlichen Plan — sie zu seinem Vetter in Madison hinüberzuschaffen — ins Werk zu setzen. Er schrieb sogleich an den Vetter und bat um Kabelantwort: "Ja" oder "Nein".

Das Mädchen, das sich als Ragni völlig ergeben erwies, vermittelte ihre erste Zusammenkunft. Sie fand auf der Straße statt und außerhalb der Stadt, und war nur kurz; das Mädchen begleitete sie. Er teilte ihr sofort mit, um was es sich handle, wie alles geordnet werden könne, und wer dabei beteiligt sei. Sie erschrak so, daß er es für unmöglich hielt, weiter zu gehen. Unter keinen Umständen wollte sie die Kinder verlassen. Er war ganz verzweifelt nach dieser Begegnung und ging zu Rendalen, um ihm sein Herz auszuschütten. Dieser schlug sogleich vor, die Kinder zu seiner Mutter zu schicken; er würde ihr darüber schreiben. Als Kallem dies bei der nächsten Begegnung Ragni mitteilte, schien sie immerhin zu überlegen; sie gab demütig zu, so gut könne sie selber sie nicht erziehen. Aber immer, wenn sie an einem Tag so halbwegs auf etwas eingegangen war, nahm sie es am andern wieder zurück; jedesmal, wenn sie wieder mit den Kindern zusammengewesen war, erschien es ihr als Unmöglichkeit. Und da sie jedesmal dermaßen aufgeregt wurde, daß alle Vorübergehenden sie anstarrten, konnten sie sich nicht länger auf der Straße treffen. Nun kam kein anderer Ort in Frage als Rendalens oder seine Wohnung; aber Ragni war wieder so scheu geworden, daß er an ihrer Einwilligung zweifelte. Er bereitete sie in Briefen darauf vor und bat Marie, sie ebenfalls zu überreden und selbst mitzukommen. Hierauf waren sie ein paarmal ganz kurze Zeit auf seinem Zimmer, ein einziges Mal auch bei Rendalen zusammen; aber immer war es ein unbestimmtes Hin und Her. Nie wußte sie, was sie tun solle, und immer war sie voll Verzweiflung. Sie fürchtete sich auch vor der Reise selber. So ganz allein nach Amerika! Und von New-York allein nach Madison — das war noch das Allerschlimmste! Unmöglich, ganz unmöglich! Marie erbot sich, mitzugehen, und Kallem versprach, auch ihre Überfahrt zu bezahlen. Aber beide die Kinder verlassen — das konnten sie unter gar keinen Umständen; der bloße Gedanke schon war ein Unrecht! Marie mußte also bleiben, bis die Kinder gut versorgt waren.

Wenn sie selber wirklich reiste, so mußte sie an Bord gebracht werden, ohne daß jemand davon erfuhr. Also mußte das Nötigste für die Reise gekauft werden; das mußte selbstverständlich umsichtig vorbereitet werden. Hier erwartete er abermals Widerstand; aber so kindlich war sie noch, daß sie sich, noch ehe etwas Bestimmtes über die Reise selbst ausgemacht war, verführen ließ, die Reisegarderobe einzukaufen; das machte ihr Spaß. Wenn er nur einmal länger mit ihr hätte sprechen können, oder wenigstens eine Weile täglich; aber sie war vorsichtig bis aufs äußerste. So schrieb er denn ellenlange Briefe; zu antworten wagte sie nicht, da sie sich von der Tante und von der Köchin überwacht glaubte. Aber weil die Briefe mit aller Macht der Liebe zu ihr sprachen, und da sie auch alle List der Liebe anwandten, indem sie auf ihre Phantasie einzuwirken suchten, so richteten sie mehr aus als die Zusammenkünfte. Daß die Briefe an ihr Ziel gelangten, verdankten sie der schlauen Marie, die sowohl der Tante als der Nordlandköchin über war. Kallem lebte, solange diese Unterhandlungen andauerten und seine ganzen Kräfte in Spannung erhielten, für nichts anderes. Beharrlichkeit erhöht den Mut; und als endlich das Kabeltelegramm die Antwort "Ja" brachte, wagte er es, einen kühnen Plan zu entwerfen. Dieser bestand darin, bis zur nächsten Abfahrt des großen englischen Dampfers alles fertig zu machen, Ragni selbst kein Wort zu sagen, sondern sich nur zu vergewissern, daß sie an dem Tage einen Vorwand hatte, frühzeitig auszugehen und lange fortzubleiben, und endlich es so einzurichten, daß auch Marie frei war. Auf zwei Stunden vor der Abfahrt des Dampfers war Ragni in seine Wohnung bestellt; Gepäck und Billet waren längst dort.

Am bestimmten Tage und zur bestimmten Stunde kamen Marie und sie. Ragnis Gepäck war schon früh am Morgen an Bord gebracht worden, auch der Wagen, der sie abholen sollte, bestellt und bezahlt. Nichts im Zimmer erinnerte an eine Abreise; aber die Art, wie er sie empfing, erweckte in ihr die Furcht, daß etwas im Werke sei. Sonst war er immer sehr zurückhaltend gewesen, schon weil Marie dabei war; heute umarmte er Ragni mit all der Innigkeit, die er für sie empfand, und schien sie kaum lassen zu können. Sein Schmerz nahm keine Rücksicht und kannte keine Umwege mehr; er nahm ihre beiden Hände in seine, und Auge in Auge erzählte er ihr hastig, alles sei an Bord gebracht; in zwei Stunden gehe der Dampfer; und hier sei das Billet.

Sie begriff sofort: jetzt mußte sie wählen zwischen ihm und allem übrigen — ohne Bedenkzeit. Und das brachte ihm den Sieg. Erst stand sie in stummer Hilflosigkeit da; dann schmiegte sie sich still an ihn und verharrte so. Er küßte sie — wie zum Willkommen — sie hielten sich eng umschlungen und weinten. Das Mädchen sah draußen vor den Fenstern jemand vorbeikommen und ließ die Gardinen herunter; es wurde halbdunkel, und in diesem Halbdunkel hörten sie auch Marie im Nebenzimmer weinen. Ihre Umarmung ging endlich in ein Flüstern über, erst abgerissen, dann von gedämpftem Schluchzen begleitet, das verstummte und wiederkehrte wie Sordinespiel. Und das Flüstern sprach von dem Tag, an dem er ihr nachreisen würde, um sich nie wieder von ihr zu trennen; welch ein treuer Freund er ihr sein würde, und wie die Zukunft, die ihnen winke, wohl all dieser Opfer wert sei; wie ihre Briefe Tagebücher sein sollten — seine und ihre. Kurze, hastige Worte von grenzenloser Liebe — und all die Worte waren seine; von ihr nur das sordinierte Schluchzen.

Trotzdem die Stunde, die sie jetzt zusammen verlebten, die Abschiedsstunde war, so war es doch die erste Stunde ungestörter Hingabe, die sie verbrachten. Das Neue, das hierin lag, leuchtete so in den Schmerz hinein, daß er wie zu einem Sonnennebel um sie her ward. Ihr leises Schluchzen ging bald in Flüstern über; bei den ersten Worten, die sie sprach, wollte er sie ansehen; aber sie ließ es nicht zu. Wenn er ganz still sitzen und sie nicht ansehen wolle, so würde sie ihm etwas sagen. Er sei der weiße Pascha! Sie wollte nicht recht mit der Sprache heraus, was sie damit meine; das würde zu lang werden. Von Kind auf habe sie auf den weißen Pascha gewartet, d. h. seit ihres Vaters Tode; damals sei sie zwölf Jahr alt gewesen. Es sei ihr immer traurig ergangen, am traurigsten, als sie von Berlin heimgekommen sei und nicht den Mut gehabt habe, öffentlich zu spielen. Aber davon wolle sie auch nicht weiter erzählen; es würde zu lange dauern. Die ganze Zeit habe sie von dem weißen Pascha geträumt — wenn er doch nur kommen wolle! Daß er kommen würde, das wußte sie ganz sicher. Sogar als sie zu den "Walfischen" hinunterstieg, wußte sie, er würde ihr nachkommen; er fand schon den Weg. Einmal hatte sie geglaubt, Rendalen sei der weiße Pascha; aber da er's nicht war, mußte er ausziehen, damit der richtige kommen konnte. — Am ersten Abend hatten sie sich mitten in dem leisen Schneefall getroffen. Weshalb mußten sie sich gerade da treffen? Da hatte sie ihn angesehen und gedacht: ob er wohl der weiße Pascha sei? Das nächste Mal, als sie sich trafen, hatte er die kleine Juanita getragen; da war sie schon beinah sicher, daß dies keinem andern habe einfallen können. Aber dann war alles so überstürzt gekommen, und so ganz anders, als sie sich's gedacht hatte. — Er fragte, ebenfalls flüsternd, ob sie ihm nicht erzählen wolle, was sie damals, vor einem Jahr, veranlaßt habe, zu den "Walfischen" hinunterzusteigen. Ein Schauder durchflog sie bei seiner Frage. — Und trotzdem — obgleich sie verheiratet gewesen sei, habe sie noch immer auf den weißen Pascha warten können? — Mehr als je. — Ob sie denn nicht gewußt habe, was Ehe ist? — Sie schmiegte sich enger an ihn und schwieg.

Obgleich er nun bei dem angelangt war, was er am liebsten hätte wissen mögen, brach er dennoch ab.

Er erzählte ihr, es sei verabredet, daß Rendalen sie an Bord erwarte; dieser wolle gleichzeitig auf ein paar Tage nach Hause reisen und werde für sie sorgen. Sie standen beide auf.

Ob Kallem sie denn nicht aufs Schiff begleite? Er umfaßte sie, barg seinen Kopf an ihrer Brust und sagte, es sei besser, nicht. Das war das Schwerste. Einen Augenblick lang war sie ganz außer sich; sie setzten sich aufs neue und nun kam ein langes, aufreibendes Abschiednehmen. Marie stand wie auf Kohlen. Bis an den Wagen wollte er sie wenigstens begleiten. Aber Marie untersagte es ganz bestimmt; niemand dürfe sie zusammen sehen.

Er hörte den Wagen davonfahren, ohne ihn zu sehen, und in all den folgenden Jahren erschien ihm dieser Augenblick als das Grausamste, was er je durchgemacht hatte.

Er ging nicht hinunter, um das Schiff noch von fern zu sehen; erst nachmittags ging er zu der Stelle, wo es gelegen hatte.

Von dort machte er einen weiten Spaziergang, und zwar so, daß die Tante ihn sehen mußte. Damit verfolgte er eine bestimmte Absicht.

Das lenkte eine Zeitlang den Verdacht von ihm ab. Man konnte sich nicht denken, daß der Mann zurückblieb, der Ragnis Flucht ins Werk gesetzt hatte, um dessentwillen es geschah.

Jeder, der sich der Begebenheit erinnert, wird sich entsinnen, wie streng Ragni verurteilt wurde. Fremd, ohne Verkehr, scheu, hatte sie nur die Erinnerung an ein erotisch-gesangvolles Klavierspiel zurückgelassen; und das konnte sie hier nicht verteidigen. Vor einem Jahr hatte sie es übernommen, für die Kinder ihrer verstorbenen Schwester zu leben; und jetzt lief sie davon. Der blinde Mann, den sie geheiratet hatte, war ihre eigene Wahl gewesen; sie hatte keinerlei Beschwerden durch ihn gehabt.

Wenn sie es jetzt bereute — warum hatte sie es nicht gesagt? Weshalb sich so hinterlistig benehmen?

Für Kallem war es nicht leicht, das mitanzuhören; hatte er ihren Ruf zugrunde gerichtet? Schon jetzt nahmen alle als sicher an, daß sie ein Verhältnis mit einem andern gehabt habe; und die Stunde war nicht fern, da alle wissen würden, daß er der Schuldige war.

Eines Tages traf er die Kinder mit Marie vor der Universität, und beide steuerten sofort auf ihn zu. Was hätte er nicht darum gegeben, wenn Ragni lächelnd hinter ihnen hergekommen wäre! Natürlich nahm er die Kinder mit in die Konditorei und hörte, wie sie erzählten, daß "Mama" auf einem großen Schiff fortgereist sei; "Mama" komme aber zu Weihnachten wieder und bringe ihnen neue Kleider und neue Puppen mit.

Auf dem Tisch lag eine illustrierte Zeitschrift; Juanita kam auf den Einfall, alle Damen auf den Bildern seien "Mama"; wenn die ältere Schwester das bestritt, rückte sie bloß ihren kleinen Finger auf eine andere: "Das ist Mama."

Kallem hatte am selben Tage einer verunglückten Operation beigewohnt; infolge eines bösen Mißgeschicks hatte der Patient sich verblutet. Bei seiner gegenwärtigen Nervosität hatte das großen Eindruck auf ihn gemacht. Und als er die Kinder verlassen hatte und zum Mittagessen ging, kam es ihm vor, als sei er selber der unglückliche Operateur. Er hatte Ragni retten wollen, und hatte es nur schlimmer gemacht; jetzt verblutete ihr guter Name. Und das Gesellschaftsleben ist ein Gewebe von Muskeln, Sehnen und Adern ...

Einige Tage später saß er auf der Universitätsbibliothek und studierte in einem Kartenwerk, als plötzlich lächelnd und frisch Ole Tuft vor ihm stand. Er wisse nicht, wo Kallem jetzt wohne, und habe ihn darum hier aufgesucht. Kallem stand auf und setzte sich zu ihm.

Der Schwager hatte jetzt nichts mehr von Kallems Wildheit zu fürchten; Kallem hatte kein Verlangen mehr, ihn "halbtot" zu schlagen, nicht einmal mehr, ihn vorwurfsvoll anzusehen; er war sehr zufrieden, wenn Ole ihn nicht vorwurfsvoll ansah. Ole wußte wahrscheinlich, was bald alle, die der Sache näherstanden, erfahren mußten — daß Edvard Kallem der Sünder war, wußten es von Josefine, die es vom Vater gehört hatte. Oder irrte er sich? Versteckte sich hinter Oles Freundlichkeit nicht Zweifel, Verdacht an seiner vollen Ehrenhaftigkeit — die Prophezeiung, daß ein solcher Anfang nie zum Siege führen würde? War diese Herzlichkeit echte, ungemischte "Brüderlichkeit", verdünnt mit dem Gehorsam eines jungen Theologen gegen das Gebot: "Liebet alle Menschen"?

Ole war gekommen, um ihm mitzuteilen, daß er fertig sei und nach Hause zurückkehre; das Glück strahlte ihm aus den Augen. Er fragte, ob er Grüße bestellen solle, und erzählte, er habe Hoffnung, bald zu Amt und Würden zu gelangen. Er ließ durchblicken, was dann geschehen würde; der Weg lag gebahnt vor ihm, und seine Ziele waren zweifellos keine geringen. Der stattliche Bursch erregte Aufmerksamkeit bei allen, die in der Bibliothek aus- und eingingen.

Edvard blieb mit unbedecktem Kopf oben auf der Bibliothekstreppe stehen, während Ole Tuft in seiner etwas schwerfälligen Art über den Platz schritt. Wahrlich — da ging einer, der sicher war in sich selbst; sein Anfang war ganz, so wie seine Natur ganz war.


Mannesalter

1

"— — Die Rechtfertigung hat ihren Ursprung in der göttlichen Gnade. Sie kann ihn nicht im Sünder, in seiner sittlichen Arbeit an sich selbst haben; denn dieser ist ein Ungerechter. Als solcher verdient er sie auch nicht, ebensowenig wie er Rechtsanspruch darauf erheben kann. Nur Gottes erhabener Wille kann ihn rechtfertigen."

Der Pastor ging auf und ab, ein Heft in der Hand, aus dem er flüsternd auswendig lernte. Die Sonne schien hell durch die beiden Fenster, die nach Südwesten lagen und weit offen standen; durch das hintere ergoß sich milchweißer Glanz über den graugestrichenen Fußboden; das unruhige Laub junger Espen zeichnete sich auf den Scheiben ab; die Espen mit ihren zitternden Blättern standen draußen am Staket. Aus dem Garten strömte der Duft von Aurikeln, Flieder und Goldregen herein; der Pastor unterschied jede Mischung in den Luftströmungen; er hatte die Bäume und Blumen selbst gepflanzt; sie liebkosten ihn geradezu. Sobald der Luftzug nur um ein Winziges stärker wurde, so sandten die sprossenden Birken und die frischen Triebe der Tannen, die außerhalb seines Pfarrhofs standen, eine scharfe Welle herein, die rücksichtslos die Strömung des Gartens wegspülte, und jedesmal flutete eine ganze Gesellschaft verschiedenartiger Gerüche vom offenen Feld nach. Es roch nach Wachstum.

Psst!

"— — Was kann Gott dazu bewegen, so gnädig zu sein gegen den armen Sünder, der aus sich selbst nicht das Geringste vermag? Seine unbegreifliche Liebe zum Sünder, seine unverdiente Barmherzigkeit kann ihn dazu bewegen."

Jetzt pfiff das Dampfschiff zum drittenmal. Nein — da konnte er nicht widerstehen — er mußte den Dampfer sehen, wie er in großem Bogen von der Brücke weg über die Bucht fuhr und den Wasserspiegel in zwei Hälften teilte; der größere fiel der Insel draußen zu, der kleinere dem Strand vor der Stadt. Der Pastor nahm sein Fernrohr vom Pult. Die Brücke unten war voll bunter Sonnenschirme; dazwischen Männerhüte, meist in dunklen Farben; hie und da leinene Hauben und Kopftücher, gewöhnlich mehrere beieinander.

Jetzt hörte man von rechts Schritte im Sand; sie kamen aus dem Garten seiner Mutter und lenkten auf den seinen zu — Schritte eines Erwachsenen, und auf jeden Schritt des Erwachsenen zwei Kinderschritte. "Du, Mutter, was hat das Dampfschiff im Bauch?" — "Haha!" — Die Gestalt einer Frau tauchte auf, die den Eindruck von Kraft hervorrief. Ein starker Hals und eine volle Brust, der ganze Wuchs ungewöhnlich schön; das Gesicht dunkel, ziemlich groß, mit gebogener Nase; das Haar fast schwarz. Sie trug ein cremefarbenes, mit hochroten Blumen gemustertes Musselinkleid mit einer Passe von hochroter Seide, um den Leib einen seidenen Gürtel von gleicher Farbe. Zu ihrer dunkeln Haut, dem schwarzen Haar und den tiefen Augen bildete das einen bezaubernden Gegensatz; sie pries den warmen Frühlingstag mit kundiger Farbenpracht. Aber sobald sie in das lächelnde Melanchthonantlitz am Fenster sah, senkte sich der rote Sonnenschirm zwischen sie und ihn. An der Hand führte sie ihren vierjährigen Knaben, ein hübsches Kerlchen mit blondem Haar und einem Gesicht wie das Antlitz des Mannes im Fenster. Der Junge ließ die Hand der Mutter fahren, öffnete die Tür zwischen den beiden Gärten und sprang vorbei, um die nächste Tür, auf den Weg hinaus, zu öffnen. Als die Frau vorüberkam, flüsterte der Pastor: "Ich gratuliere! Du siehst ja reizend aus!" Es klang bittersüß. Wie konnte eine Pastorsfrau sich so kleiden!

Ohne den Sonnenschirm zu senken schritt sie nach der offenen Gartentür und weiter auf dem Weg nach der Stadt zu. "Wohin?" — "Zum Schiff, und zusehen!" rief der Junge, davonspringend. Ihr Nacken unter dem Hut, ihre Figur im Sonnenlicht, der Gang, die Farben ... der Pastor lag im Fenster, trommelte auf den Fenstersims und pfiff lautlos. Die warmen Augen flogen ihr nach, bis er sich mit einem kräftigen Aufstemmen aller fünf Finger von der Fensterbank erhob.

"— — Gott straft nicht, er erbarmt sich unser. Doch nicht wie ein Heerführer einen Waffenstillstand gewährt oder ein König eine Amnestie erläßt (nein, 'Amnestie', das verstehen vielleicht nicht alle; wie sag' ich gleich — Erlaß? ... Nein, das genügt nicht. 'Gnadenerlaß'! Also:) Doch nicht, wie ein Heerführer Waffenstillstand gewährt oder ein König einen Gnadenerlaß, ist die göttliche Rechtfertigung; nein, das widerspräche der Allheiligkeit Gottes. Die Rechtfertigung ist allerdings eine Gnade; aber sie ist auch eine Gerichtshandlung. Sie muß eine rechtliche Grundlage haben, d. h. den Forderungen des Gesetzes, die Gottes eigene sind, muß Genüge geschehen."

Eigentlich ist das doch sehr juristisch.

Der Pastor sah in das Heft, das aufgeschlagen auf dem Pult zwischen den zwei Fenstern lag; er verglich es mit dem, was er in der Hand hielt. Dabei hörte er das laute Getöse des Dampfers, der jetzt gerade auf der Bucht unten vorüberfuhr. Er mußte aus dem Fenster spähen, und die Folge davon war, daß er, ohne es zu wissen, sich behaglich hinauslehnte. Die Sonne schien auf das weiße Leinwanddach des Dampfers, die Schaumlinie zwischen Land und Insel war wie eine straffe Schnur; am Himmel kein Wolkenstreifen, so daß der Rauch sich vom freien Grund abhob; ebenso ungedämpft hörte man den Lärm. Der Pastor ließ den Blick vom Dampfer nach der Stadt, zum Strand, über die Bucht hin schweifen, bis zu den Bergen auf der andern Seite der Bucht; die ganz hinten, die blauen drüben waren noch nicht frei von Schnee. Das Getöse des Dampfers hallte über die weite Landschaft hin wie eine Predigt, die seine eigene ablöste. Ein bescheidener Duft aus dem Garten lenkte sein Auge vom Großen aufs Kleine. Das alles hatten er und Klein-Edvard miteinander geschafft, oder vielmehr, er hatte gearbeitet und der Kleine hatte sich unnütz gemacht. Der Pastor besah sich namentlich die Beete, auf denen bis jetzt noch nichts kam; dann die ersten, die schon ganz fertig waren und leider auch schon gejätet werden mußten. Dabei konnte Edvard auch helfen. Langweilig war es ja; aber er hatte sich nun einmal vorgenommen, in diesem Jahre solle kein anderer den Garten anrühren; außerdem war das Bücken gesund, da mischte sich die Galle mit dem Blut. Ohne es zu wollen dachte er daran, wie ihm seine Frau dann manchmal ein Glas Wein und ein Stückchen Kuchen brachte; es liegt in der Natur des Weibes, unsere Schwächen zu ahnen und schwach gegen sie zu sein. Er blickte hinüber auf den Weg, wo sie verschwunden war, und richtete sich straff in die Höhe:

"— — Den Forderungen des Gesetzes, die Gottes sind, muß Genüge geschehen. Könnte das durch den Sünder selbst geschehen, so wäre die Rechtfertigung keine Gnade; folglich muß es durch den Geist geschehen.

Aber auch diese Erfüllung des Gesetzes durch einen andern muß aus Gottes erlösender Gnade kommen, wenn sie nicht die Rechtfertigung (hu, wie juristisch!) aufheben soll. Und soll ferner diese neue Gnadenhandlung allen zugute kommen, so muß die Gesetzerfüllung für das ganze sündige Menschengeschlecht gelten. Einzig Gott selbst kann eine solche Erfüllung, einen solchen 'Vergleich', eine solche, 'Sühne' zustandebringen.

Für den Christen ist es eine Tatsache des Glaubens, daß diese Grundlage für eine Weltsühne, diese Auslösung der Schuld des ganzen Menschengeschlechts ein für allemal durch Jesum Christum geschaffen worden ist, und daß sie jedem einzelnen Sünder zugute kommen kann."

Der Pastor blickte auf. Wie weit wohl das Dampfschiff ...? Was, nirgends mehr? Er ging ans Fenster und blieb dort stehen. In einer geraden Linie schoß jetzt das Boot auf die Landspitze zu, die so weit hinausragte, daß sie fast bis an die Insel stieß. Das große Kirchdorf drüben rechts auf der Höhe, deren Ende die Landspitze bildete, schaute vom Hang herüber. Die Bucht lag dazwischen. Hof an Hof sonnte sich dort, grün und fruchtbar; stolze Besitztümer — das sah man an der Entfernung zwischen den einzelnen Gehöften. Die Seite des Hügels, die sich nach der Insel erstreckte, hatte die Form einer flachen Zange; und dort, durch den Sund, mußte das Dampfschiff in den großen Fjord verschwinden.

Dies dumpfe Dröhnen des Dampfers! Ist es nicht, als habe die Natur Sprache bekommen? Die ganze Landschaft, nicht nur ein Teil. Wenn z. B. über die ganze Landschaft eine Saite gespannt wäre, und ein Bogen striche darüber, dann müßte das klingen wie das Dröhnen des Dampfers. — —

Psst!

"— — Gott hat gewollt und bewirkt, daß ein Sünder gerechtfertigt werden kann durch Gottes Gnade, und zwar dadurch, daß Christus dem Gesetz Genüge getan hat. Christi Verdienst, Christi Gerechtigkeit haben die Schuld bezahlt. Jeder kann sich sozusagen sein Stück von der Gerechtigkeit abschneiden, die Christus für die Welt gewonnen hat. — Nein — das klingt vielleicht zu weltlich. Wenn es auch der Sinn ist."

Bald darauf lag er wieder im Fenster, breit auf beide Ellbogen gestützt, als wolle er überhaupt nicht mehr aufstehen. Er sah den Weg hinunter, auf dem Josefine mit dem Kleinen verschwunden war; er blickte über die Bucht weg nach der Insel, und dachte an das Inselkindchen, das dort drüben links spielte; von hier aus konnte er es nicht sehen, aber er wußte, daß es dort spiele, und wie niedlich es sei. Von den Bergen wieder geschwind zum Dampfer, der auf den Sund lossteuerte. Dort draußen hatte die Insel einen Waldhut auf, dem der Rauch des Dampfers eben einen Flor umlegte. Der Wind ging dort anscheinend in anderer Richtung? Nein, jetzt ging er auch hier in der gleichen. Um diese Zeit schlägt er so oft um. Jetzt duftete es nicht mehr vom Garten und von den Bäumen und Feldern herein; bald wird wohl ein Flügelschlag schwarze Streifen ins Wasser ritzen! Eine Dampfpfeife stöhnte und keuchte links unten an der Bucht; da ging ein Zug ab, oder ein Güterzug rangierte.

Wie still es sonst war! Er hörte in weiter Ferne ein paar Kinderstimmen, jede Schwingung darin. Ab und zu klopfte und hämmerte es in dem neuen Haus drunten an der Ecke der Strandstraße und des Wegs, der hier heraufführte. Es klang, wie es in leeren Räumen zu klingen pflegt. In der Ferne immer noch gedämpfte Staccatotöne des Dampfergedröhns. Das Haus, in dem er wohnte, lag frei, und diesem Umstand war es zu verdanken, daß er einen so weiten Blick und einen so hellhörigen Standort hatte. Aber wenn die Felder in Grundstücke parzelliert wurden, so war es damit vorbei.

Darüber verfiel er in Nachdenken; sollte er nicht selber aufkaufen? Er hätte es gern getan; aber Haus und Grundbesitz und alles, was sie hatten, gehörte seiner Frau. Der Rest seines eigenen kleinen Vermögens steckte in dem kleinen Haus mit Garten rechts nebenan, in dem seine Mutter wohnte.

Es hat mancherlei Vorteile, mit einer reichen Frau verheiratet zu sein, selbst wenn im Ehekontrakt steht, daß sie allein das Verfügungsrecht über ihr Vermögen hat; manche Bequemlichkeiten fallen ab, die das Leben freundlicher und die Arbeitsbedingungen leichter gestalten; es ist auch meist der Schlüssel zu einer gewissen Macht — namentlich für einen Pastor. Viel Gutes läßt sich damit tun, was andere sich versagen müssen, und das setzt sich um in Macht. Er hatte das empfunden, und hatte es mit Behagen empfunden. Das paßte ihm.

Aber. — Ja, alle "Aber" wurzeln in dem einen Punkt: wie die Frau ist, die über das Vermögen zu verfügen hat. "Aber wie nun die Gemeinde ist Christo Untertan —."

Psst! — Er begann wieder zu lesen, diesmal laut: "Die äußere Grundlage für die Rechtfertigung war also, daß Jesus dem Gesetz Genüge getan hat; die innere Bedingung ist, daß der Sünder das glaubt. Wie versöhnt auch Gott mit der Welt sein mag, er kann einzig dem Sünder seine Gnade schenken, der in Gemeinschaft steht mit Christus, 'weil er an ihn als seinen Erlöser glaubt'."

Das Heft sank; der Pastor wußte selber nicht, was er las. Denn die Stelle im Epheserbrief hielt seine Gedanken gefangen. Ist das Weib nicht Untertan in allen Dingen,... ja, dann sät eben der Umstand, daß die Frau das Verfügungsrecht über das Vermögen hat, eine Saat der Ungleichheit.

So tief war er hiervon überzeugt, so stark waren die Beweise, die er sich dafür zurechtlegte, daß er fern und nah nichts mehr sah und hörte, — es nur noch wie die Erzählung eines andern in sich aufnahm. Er trommelte auf die Fensterbank und blickte auf den Weg hinunter. Die beiden eben ausgekrochenen Schmetterlinge, die in endlosen Schwingungen sich über und unter seinem Fenster umkreisten, hatten keine Ahnung von all den Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, wenn man ein Vermögen besitzt, über das man nicht verfügen kann. Etwas weiter drüben, hinter dem Schemel des Jungen, der seit ein paar Tagen vergessen dalag, läutete eine anmutige Declytera mit langem Blütenstengel voll roter Glöckchen zur Hochzeit — zur Hochzeit — ohne das geringste Verständnis für Epheser 5 Vers 24. Der Pastor übersah sie darum auch. Ja, nicht einmal Gärtner Nergaards Bienen, die jedenfalls dieses Jahr zum erstenmal hier oben waren (wahrhaftig! sie kannten den Weg wieder, seit der Wind umgeschlagen war und der Duft lockte!) — nicht einmal die Bienen hörte er, wie sie um die frischen Triebe hinter dem Haus surrten. Eheliche Kümmernisse im Sinne Epheser 5 Vers 24 ziehen einem eine Kappe über den Kopf, und wenn auch die Sonnenstrahlen aufs Haar brennen! Über das sanft abfallende Kirchdorf drüben zur Rechten mit seinen drei Schattierungen von Grün: Wiesen, Äcker und Wald, — glitten seine Augen so blind hin wie der Wind. Eben jetzt zog sich ein Streifen Schwarz über die Bucht, wie versuchsweise, — ein paar vereinzelte Furchen; er war mitten drin und sah es nicht. Irgendwo von oben muhte eine angepflockte Kuh sehnsuchtsvoll nach: Wasser — Wasser! Alles um ihn her ein Warten — und ungesehen ..., bis ein verzweifelter Kinderschrei die warme Blütenduftluft zerriß ... ein einziger, langgezogener Schrei. In diesem Schrei hörte er jede Schwingung; der packte ihn an der Brust wie eine erbarmungslose Hand. Er fuhr auf und stand mit angehaltenem Atem still und wartete auf den nächsten. Aber er kam nicht, der nächste ... es mußte schon beim ersten sich vollständig erschöpft haben ... nein! da gellte es wieder! War der erste Schrei verzweifelt gewesen, so war dieser die Todesangst selbst ... und wieder einer ... und noch einer! Der Pastor stand blaß — alle Sinne gespannt — da. Da erklangen von rechts rasche Schritte im Sand. Es war seine Mutter, die an dem Türchen zwischen den beiden Gärten zum Vorschein kam, eine alte, hagere Frau mit schwarzer Haube über dem schneeweißen Haar, das an den Wangen herabgekämmt war und einen steifen Rahmen um das vorsichtige, ein bißchen trockene Gesicht bildete.

"Nein!" stieß der Pastor hervor, "nein, Gott sei Dank, Edvard ist das nicht! Solches Getue leistet sich der nicht, wenn er weint! Mein Bengel macht kein solches Geschnörkel! Der heult schlankweg drauf los!"

"Schlimm genug ist's — einerlei, wer's ist!" antwortete sie.

"Hast recht, Mutter!" Und er betete im Herzen sogleich für den armen Knirps, der da so jammervoll schrie. Aber nachdem das erledigt war, dankte er doch Gott, daß es nicht sein Junge war. Das mußte man ihm schon erlauben!

Währenddessen kam ein hochgewachsener Mann in hellem Anzug und Panamahut den Weg herauf. Die ganze Zeit über blickte er nach dem Haus und dem Garten. Der Pastor sah auch ihn an, erkannte ihn aber nicht. Der Fremde kam über die Straße herüber und geradenwegs auf die Treppe zu. Ein hochgewachsener Mann mit kurzem, sonnverbranntem Gesicht, einer Brille, und eigentümlich raschem Gang. Wer in aller Welt...? — Der Pastor trat vom Fenster zurück, eben als der Fremde die Treppe erreichte. Er mußte sie in zwei Sätzen genommen haben, denn schon erklangen Schritte im Gang. Es klopfte.

"Herein!"

Die Tür wurde geöffnet; doch der Fremde blieb draußen stehen.

"Edvard!"

Der andere antwortete nicht. "Aber, Edvard! Du hier! Und ohne Dich anzumelden? Bist Du's denn wirklich?" Und der Pastor lief auf ihn zu, streckte ihm beide Hände entgegen und zog ihn herein. "Willkommen! Herzlich willkommen, alter lieber Kerl!" Sein Gesicht strahlte vor Freude.

Edvards sonnverbrannte Hände drückten zur Antwort des Schwagers Hände, seine Augen glänzten hinter der Brille; gesprochen hatte er noch nicht.

"Warum redest Du denn kein Wort, Alter?" rief der Pastor und legte beide Hände auf Edvards Schultern. "Bist Du denn Deiner Schwester nicht begegnet?" — "Doch! Von ihr hab' ich erfahren, wo ihr wohnt." — "Und Du bist ihr davongelaufen? Wolltest wohl eher hier sein? Es ging Dir wohl zu langsam mit dem Jungen, was?" fragte der Pastor. Seine warmen Augen blickten voll ungeteilter Freude in die Augen des andern. — "Nicht nur deswegen. Du wohnst hübsch hier."

"Ja, nicht wahr? Und Du sollst gerade so hübsch wohnen, wenn ich auch unseren Stadtteil im Norden dem Zentrum vorgezogen hätte." — "Ich hatte ja wohl keine Wahl." — "Nein, das ist wahr. Wenn Du das Krankenhaus übernehmen wolltest, so mußtest Du auch die Doktorwohnung dazu nehmen; die beiden gehören zusammen. Übrigens nicht zu teuer — das sagen alle. Und sehr bequem — und eine Menge Grundbesitz dabei. Na, jetzt hast Du Dich aber auch lang genug draußen herumgetrieben. Wahrhaftig — mehr als lang — so in einer Tour. Aber warum hast Du denn nicht geschrieben? Warum Dich nicht angemeldet? Herrgott — ich hab' Dich ja nicht einmal gleich erkannt! Und dabei hast Du Dich eigentlich gar nicht verändert!" Er betrachtete das hagere Gesicht des Schwagers, das ihm nur weicher im Ausdruck erschien als früher. Dabei plauderte er unaufhörlich weiter, während sie auf und ab gingen oder am Fenster standen. Jetzt wandte Edvard sich zu ihm: "Aber Du, Ole — Du hast Dich verändert!" — "Wirklich? Das hätt' ich nicht gedacht. Die andern finden das nicht." — "Doch — Du hast so einen geistlichen Anstrich bekommen." — "Geistlich? Haha! Du meinst, ich bin ein bißchen dicker geworden? Ich kann Dir versichern, ich tue alles, was ein Mensch tun kann, um dem abzuhelfen; ich arbeite im Garten, ich mache weite Spaziergänge; aber — — — siehst Du, meine Frau pflegt mich eben zu gut. Und die Menschen hier sind zu liebenswürdig zu mir." — "Du solltest es machen wie ich." — "Wie machst Du's denn?" — "Ich lauf' auf den Händen!" — "Hahaha! auf den Händen? In meiner Stellung?" — "In Deiner Stellung? Wenn Du einmal durch das ganze Kirchenschiff auf den Händen liefest — das wäre eine Predigt!" — "Hahaha! Und Du kannst wirklich noch auf den Händen laufen?" — "Und ob!" — Und im selben Augenblick lief er auch schon. Die lose, kurze, rohseidene Jacke hing ihm dabei über den Kopf, der Pastor betrachtete sie, das Rückenteil der Weste, das Hemd zwischen Weste und Hosenbund, ein Stück von den Hosenträgern, die Hosen, die Strümpfe, die braunen Segeltuchschuhe mit den dicken Gummisohlen. Kallem hatte mittlerweile schon fast die Runde um das Zimmer gemacht. Der Pastor wußte nicht recht, wie er sich dazu verhalten solle. Kallem stand tiefatmend und erhitzt auf, nahm seine Brille ab, putzte sie und begann kurzsichtig die Bücherregale zu betrachten.

Nun fühlte der Pastor, daß irgend etwas vorgefallen war — etwas, worüber der Schwager sich ärgerte. Hatte die Schwester etwas gesagt, das ihn verstimmen konnte? Doch nein — was hätte das wohl sein sollen! Bei ihrer Bewunderung für ihn! Das beste war — gleich ehrlich und offen fragen; warum nicht lieber gleich Klarheit schaffen? Kallem hatte die Brille wieder aufgesetzt und ging an ihm vorbei, zum Pult; darüber hing ein Christus von Michelangelo — ein Holzschnitt. Er sah flüchtig zu ihm auf, dann auf das Heft, das aufgeschlagen auf dem Pult lag. Und ehe der Pastor noch eine Frage tun konnte, sagte Kallem: "Johnsons systematische Theologie? Die hab' ich mir gleich in Kristianssand gekauft." — "Die? Du?" — "Ja. Ich hab' sie seither nie bekommen können. Dort lag sie im Schaufenster aus. Es war wie ein Wahrzeichen der Heimat." — "Nein! Das ist nicht Norwegen!" sagte der Pastor. "Das ist in der Hauptsache nichts als unhaltbare Juristerei." Verwundert über diese Antwort des Pastors und den Ton, in dem sie vorgebracht wurde, wandte Kallem sich um: "Ist diese Denkweise unter den jüngeren norwegischen Theologen allgemein?" — "Ja. Ich habe mir das alles wieder zusammengesucht, um morgen die verschiedenen Ansichten über die Versöhnungslehre genau auseinandersetzen zu können." — "Aha! Na ja — eine ganz gute Manier!" — Kallem sah zum Fenster hinaus. Zum vierten oder fünften Male schon. Sicher — da stimmte irgend etwas nicht. "Da sind sie!" sagte er. Er stand am hinteren Fenster, der Pastor am vorderen, von wo aus er jetzt den roten Sonnenschirm seiner Frau über dem Musselinkleid auftauchen sah. Sie ging langsam und hielt den Jungen an der Hand, der anscheinend unaufhörlich plapperte, denn sein kleines Gesicht war fortwährend zu ihr emporgewandt, während er den unebenen Weg entlang stolperte. Die beiden gingen drüben auf der andern Seite. Aber hier unmittelbar am Zaun ging eine Dame ... Eben hob sie ihren grünen Sonnenschirm in die Höhe (wie hübsch der war!) — eine Dame, nicht so groß wie Josefine, aber schlanker; sie sah sich um; ihre Bewegungen waren merkwürdig leicht; ihr Haar war rotblond, und sie trug ein schottisches Reisekostüm von fremdartigem Schnitt; es mußte eine Ausländerin sein. Freilich, jetzt erklärte es sich, weshalb Edvard vorausgegangen war; er hatte allein sein und die beiden allein lassen wollen. "Wer ist denn die Dame, die da neben Josefine geht? Sie muß mit demselben Dampfer gekommen sein wie Du?" — "Ja." — "Du kennst sie?" — "Ja. Es ist meine Frau." — "Deine ... Du bist verheiratet?" Er sagte es so laut, daß beide Damen heraufsahen. Er zog den Kopf zurück und wandte sich um. Aber er sprach ins Leere. Der Doktor sah noch immer zum Fenster hinaus. Die Antwort kam auch von draußen: "Ja, seit sechs Jahren." — "Seit sechs —?" Des Pastors Kopf fuhr wieder zum Fenster hinaus; ein aufs höchste verwundertes Gesicht starrte Kallem an. Seit sechs Jahren! dachte er. Wie lang ist es doch her, daß ...? Mein Gott, es ist ja knapp sechs Jahre her, daß ...

Die Damen waren mittlerweile vor dem Garten angelangt, die Fremde dicht am Zaun, während Josefine und der Junge jetzt herüberkamen. "Du, Mutter, warum fallen denn kleine Jungs immer grad' auf den Kopf?" Keine Antwort. "Mutter, warum fallen sie denn nicht auf die Beine?" Keine Antwort. "Weil der Oberkörper schwerer ist, mein Junge!" Kallem sagte es. Alle drei sahen hinauf.

Im selben Augenblick verließ er das Fenster, um ihnen entgegenzugehen; der Pastor hinterdrein; aber er blieb auf der untersten Treppenstufe stehen.

Die Augen der Dame füllten sich mit Tränen, während Kallem auf sie zukam; vergebens versuchte sie, es zu verbergen, indem sie bald nach rechts, bald nach links blickte. Josefines Augen waren kalt. Der kleine Edvard war auf seinen Vater zugelaufen und erzählte ihm, Nicolai Andersen sei auf "die Leiter" hinaufgeklettert (er deutete dabei nach dem neuen Haus hinunter) "und 'runtergepurzelt". Und "die neue Dame" habe ihm ihr Taschentuch um den Kopf gebunden. Das schien den Pastor gerade jetzt nicht so stark zu interessieren, als der Junge erwartet hatte; deshalb lief er ums Haus herum zur Großmutter, um es der zu erzählen.

"Ich brauche sie Dir wohl nicht vorzustellen?" sagte Edvard Kallem, während er die Hand seiner Frau faßte und dem Pastor in die Augen sah. Dieser suchte nach Worten, fand keine und schielte zu Josefine hinüber, die jedoch keine Miene machte, ihm zu helfen.

Vor kaum acht Tagen hatte der eifrige Geistliche gegen die vielen Scheidungen mit darauffolgender neuer Ehe im "Morgenblatt" einen Artikel geschrieben mit der Überschrift: "Ehe oder Hurerei?" Und hatte darin mit unwiderleglichen Beweisen dargetan, daß nach der heiligen Schrift kein anderer Scheidungsgrund gelte als Untreue. Wer seinen Ehegenossen beim Ehebruch betreffe, sei frei und könne sich wieder verheiraten; wenn jedoch ein Mensch sich aus anderen Gründen scheiden lasse und sich wieder verheirate, während sein Ehegenosse noch lebe, so bestehe die erste Ehe fort und die zweite sei Hurerei. Vor noch nicht acht Tagen hatte er unter voller Zustimmung seiner Frau das geschrieben. Und eben, weil jene Begebenheit mit Kallem und Ragni Kule ihm noch frisch im Gedächtnis stand, erzählte er in diesem Artikel, wie die Frau eines kranken Mannes der Stellung, die Gott ihr zuerteilt hatte, überdrüssig geworden sei und heimlich ein Liebesverhältnis mit einem andern unterhalten habe, wie sie dann gleich nach der Entdeckung geflüchtet sei und sich habe scheiden lassen. "Gesetzt nun den Fall," schrieb er, "daß eine solche Frau sich wieder verheiratet und noch dazu mit dem, der ihr geholfen hatte, ihren Mann zu betrügen? Wer könnte eine solche Ehe anders nennen als fortgesetzten Ehebruch?"

Wort für Wort hatte er so geschrieben. Seine Frau stimmte völlig mit ihm überein; sie haßte die Frau, die ihren Bruder verführt hatte, im voraus. Und nun standen beide vor ihr. Und Ragni war des Bruders Frau.

Etwas Undenkbareres hätte das Wiedersehen gar nicht bringen können! Und dabei waren sie so sicher gewesen, daß der Bruder all solche Leichtfertigkeit von sich abgetan hatte! Er war ja jetzt ein Mann der Wissenschaft, dem schon eine Professur angetragen war, unter sämtlichen jüngeren Ärzten vielleicht der Mann, von dem die Kollegen am meisten erwarteten.

Das war eine Enttäuschung, die nicht zu verwinden war! Und der Gedanke, daß sie nun mit diesen beiden an einem und demselben Ort leben, sie ihren Bekannten in der Gemeinde als Herr und Frau Kallem vorstellen sollten! Nachdem Tuft unter seinem vollen Namen ihr Zusammenleben für Ehebruch erklärt hatte!

Natürlich hatte Kallem es gelesen, er, der so eifrig nach der Wesenseigentümlichkeit des zeitgenössischen Norwegens forschte, daß er sogar Johnsons Dogmatik las! Natürlich las er vor allem die Zeitungen. Er hatte es gelesen, und das erklärte alles! Sie stand da und wußte nicht wohin, klammerte sich bloß an ihn an. Und er? Sein rechter Arm umschlang sie jetzt, als wollte er sich laut zu ihr bekennen. Sie hielt mit ihrer Rechten hartnäckig den Sonnenschirm über sich, als könne der sie schützen; aber auf die Dauer ging das nicht, das Taschentuch mußte heraus, und weil sie ihr eigenes nicht hatte, nahm sie verstohlen das ihres Mannes.

"Wollen wir nicht hineingehen?" sagte der Pastor mechanisch. Das geschah. Er führte sie im Haus umher, während Josefine sich entfernte, um für Erfrischungen zu sorgen. Vom Studierzimmer, das nach dem Garten zu gelegen war, kamen sie ins Wohnzimmer, das nach der Straße ging, dann in die dahinter liegende Eßstube, von dort in die Küche, die an der Nordseite des Hauses lag und einen besonderen Eingang hatte. Auf derselben Seite lag noch die Speisekammer und ein Fremdenzimmer, das an das Studierzimmer stieß und eine Altane hatte, die mit der Treppe am anderen Ende der Fassade korrespondierte. Im Oberstock verschiedene Schlafzimmer usw. Das Herumführen dauerte kaum fünf Minuten. Von Seiten des Pastors nur die allernotwendigsten Worte; von Seiten Kallems ein paar spöttische Bemerkungen, erst als er aus mehreren Anzeichen ersah, daß der Pastor zurzeit im Fremdenzimmer schlief und Josefine mit ihrem kleinen Sohn oben, und dann, als er die seltene Sammlung von Bildern berühmter Theologen sah, die, um Luthers Bild gruppiert, an der großen Wand des Wohnzimmers hingen. Die Erfrischungen, die Josefine anbot, lehnte er ab, verabschiedete sich und ging.

Ragni war wie eine Unsichtbare nebenher gegangen. Jetzt, zum Schluß, glitt ihre lange, schmale Hand durch die Hände des Schwagers und der Schwägerin wie ein Hermelinschwänzchen durch ein Mauerloch. Die Augen huschten scheu über sie hinweg wie der Schatten eines Flügels. Der Pastor gab bis an die Treppe das Geleite; Josefine blieb an dem großen Fenster stehen.

Kallem ging so rasch, daß Ragni alle drei Schritt einen kleinen Sprung machen mußte. Der Pastor stand noch draußen und sah es. Diese Hast steigerte die Erregung, in der sie sich befand, und als sie ungefähr in der Mitte zwischen der Strandstraße und dem Pfarrhof waren, bat sie ihn, stehen zu bleiben, und fing zu weinen an.

Kallem stutzte über diese von der seinen so verschiedene Gefühlsskala; er war empört. Aber bald merkte er, daß sie wahrscheinlich gerade über seine eigene Art sich zu benehmen weinte. Er zog sie mit sich an den Zaun, und stellte sich mit dem Rücken dagegen: "Hab' ich mich nicht richtig benommen?" — "Du warst so böse — hu, so böse, und nicht bloß gegen sie und ihn, sondern auch gegen mich; ja, Du, — ganz besonders gegen mich! — Nicht angesehen hast Du mich — überhaupt nicht die geringste Rücksicht darauf genommen, daß ich dabei war!" — "Aber, liebes Herz, das hab' ich doch gerade Deinetwegen getan!" — "Dann laß mich lieber gleich wieder fort! Das halt' ich nicht aus!" Und sie warf sich an seine Brust. — "Aber, Kind, — hast Du denn nicht gesehen, wie Josefine war?" — "Ja doch!" erwiderte Ragni, und hob den Kopf; der Hut saß im Nacken, das Haar war zerzaust. "Sie wird mich noch einmal töten!" Und wieder flüchtete sie an seine Brust. — "Na, na!" sagte er, "sie soll Dir schon kein Härchen krümmen. Aber verteidigen werd' ich Dich wohl noch dürfen!" — Sofort tauchte ihr Kopf wieder auf. "Nicht so! Ich hätt' überhaupt nie geglaubt, daß Du so sein könntest! Es war so ... so unvornehm, Edvard!" Und sie faßte ihn am Rockkragen und zupfte daran. — "Nun hör' einmal", sagte er ruhig, — "das, was der Kerl über uns geschrieben hat, das war unvornehm! Und ihr Schweigen? Ich finde, das war noch schlimmer als alles, was er geschrieben hat." Hierauf erwiderte sie nichts. Nach einer Weile hörte er ein leises: "Ich passe nicht da hinein!" Er beugte sich über ihren Kopf; der Hut fiel zu Boden; keins von beiden achtete darauf. Leise redete er in ihr rotblondes Haar hinein: sie müsse nicht gleich so verzweifelt sein, nicht gleich von Sterben oder Fortgehen sprechen. "Wir müssen das mannhafter nehmen, verstehst Du, Schatz?" — "Ja." Ihr zerzauster Kopf richtete sich wieder auf. "Aber Du mußt nicht vergessen, daß ich jetzt dabei bin; Du kannst nicht so sein, als wenn Du allein wärst!" — Nein, das merkte er denn auch, und hatte ein recht böses Gewissen.


Zur selben Zeit war Josefine wieder in dem Zimmer, das nach der Straße hinausging; es hatte ein einziges Fenster, das größer als zwei gewöhnliche war, und da stand sie und lehnte den Kopf ans Fensterkreuz. Der Pastor stand hinter ihr. Er nannte es einen bösen Zufall, daß er das im "Morgenblatt" geschrieben hatte. "Dein Bruder hat mir erzählt, er sei schon seit sechs Jahren verheiratet." Josefine fuhr hastig herum. Aber nach einer Weile des Nachdenkens sagte sie nur: "Unsinn!" und wandte sich wieder zum Fenster zurück. Der Pastor meinte auch, das könne nur ein schlechter Witz sein. Sie hätten sich doch nicht trauen lassen können, ehe sie gesetzlich geschieden war. — "Ganz merkwürdig war er — auf einmal fing er an, auf den Händen zu laufen!" Wieder wandte sie sich nach ihm um, mit ihren größten Augen. "Jawohl, auf den Händen ist er gelaufen", versicherte der Pastor. "Ums ganze Studierzimmer herum. Er behauptete, so sollte ich einmal zum Altar gehen. Wenn er Luther verhöhnt, so muß ich mich ja wohl damit abfinden, daß er auch mich verhöhnt!"

Sie wünschte offenbar nicht, daß er gerade jetzt über diese Begegnung sprechen sollte; es tat ihr zu weh. Er zog sich ins Studierzimmer zurück; aber er sah keineswegs bloß mißvergnügt aus, während er sich seine Pfeife stopfte.

Josefine hatte sich so unendlich viel von dem Wiedersehen und dem Zusammenleben mit dem Bruder versprochen. Sie hatte nicht die leiseste Andeutung hören wollen, daß es möglicherweise anders kommen könne, als sie erwartete. Wer weiß — was sie jetzt litt, war ihr vielleicht ganz gesund!

Aber war er denn selber heut so gewesen, wie er hätte sein sollen? O ja, er glaubte doch wohl. Gebe Gott, daß er es nur immer so sanftmütig ertrug! Denn bei dem einen Mal blieb es nicht; das ahnte er wohl.

Die Pfeife schmeckte, und das Predigtheft wurde wieder zur Hand genommen; aber der Gedanke an Josefine drängte sich dazwischen. Nie hatte er in ihrem ehelichen Verhältnis die Sicherheit gefühlt, deren andere sich erfreuten. Sie hatte ihre schwierigen Zeiten — und dies letztemal war es schlimm gewesen. Zweifellos, weil alle ihre Gedanken sich mit dem einen beschäftigten, der nun bald zurückkehren würde ...

"Psst!"

"— Die Rechtfertigung ist eine Tat des Augenblicks in uns, ein Vorgang ein für allemal. Alle Sünden sind ausgelöscht; in Gottes Augen sind wir ebenso rein und heilig wie Christus."

2

Die beiden, die dort unten auf der Straße Frieden geschlossen hatten, wanderten Arm in Arm weiter. An der Ecke der Strandstraße stand auf einem Gerüst Maurer Andersen, ein vierschrötiger Mensch mit langem, braunem Bart und einer Schutzbrille — der ganze Mann weiß von Kalk. Er erkannte die hellgekleidete Dame wieder, die seinem Jungen beigesprungen war, und da sie jetzt Arm in Arm mit dem Brillenmann einherkam, den er vorher hatte hinaufgehen sehen, dachte er sich, das müsse der neue Doktor sein. Der Pastor war ja sein Schwager; von dem kamen sie jetzt jedenfalls zurück. Andersen hielt mit der Arbeit inne und grüßte; Ragni hielt ihren Mann an und sagte etwas — das sah Andersen. Er rief den Arbeitern, die da hämmerten, zu, sie möchten einen Augenblick still sein, und fragte dann, was sie gesagt habe. Sie wollte wissen, ob der Junge jetzt schlafe. Jawohl; aber sie möchten doch recht gern, der Herr Doktor solle nach ihm sehen, wenn er wieder wach sei; "Sie sind ja doch wohl der neue Herr Doktor?" — "Richtig geraten!" Jetzt kamen sofort die Leute im Haus drinnen an die Fenster, ebenso die im nächsten Haus; ein Vorübergehender blieb stehen, guckte die beiden an, ging weiter und erzählte es der ganzen Straße. Andersen benützte die Gelegenheit, auch gleich mit seinen schwachen Augen zu kommen. Jawohl, die würde sich der Doktor nächstdem einmal ansehen. Aus den Fenstern und auf der Straße sahen ihnen die Leute nach. Sie waren jung, was brauchte es weiter? Bald hatten sie vergessen, was kürzlich vorgefallen war, und fühlten — hier konnten sie heimisch werden!

Unter denen, die unwillkürlich grüßten, befand sich ein junger Mann mit fast zu üppigem Haarwuchs, blassem, merkwürdig gewölbtem Gesicht, schmächtig gebaut und hoch aufgeschossen; etwas Feines, Befangenes lag über ihm. Als sie ihn ansahen, errötete er. "Da hast Du wahrhaftig schon eine Eroberung gemacht!" flüsterte Kallem. Kurz darauf kam ein sonderbarer Gesell ihnen entgegen, lang, vornübergebeugt, in Bluse und Schurzfell. Schwarzes, verstaubtes Haar, das Gesicht ungewaschen, fast rußig. Er trug allerlei Handwerkszeug in seinen schmalfingrigen Händen; die hingen an außergewöhnlich langen Armen, die im Bogen hinter ihm herschlenkerten. Hätten sie im Takt geschwungen, sie hätten zusammenstoßen müssen. Eine Mütze trug er nicht; das kurzgeschnittene Haar ließ die ganze Kopfform erkennen. Die Stirn war weder breit noch hoch, aber ungewöhnlich fein gebaut. Die Wangenpartie länglich, mit vortretenden Backenknochen. In den kleinen, eiskalten Augen und um den zusammengekniffenen Mund etwas Höhnisches. Die Nase klein und flach, das Kinn ziemlich lang. "Du, sieh doch den!" flüsterte Kallem. "Pfui!" antwortete sie. Jetzt strich der Mensch mit forschendem Blick an ihnen vorüber. Kallem blickte ihn ebenfalls an, und als sie aneinander vorbei waren, drehten sich beide um. Eine alte Frau kam gewatschelt. "Wer ist der Mann da?", fragte Kallem. Sie sah erst Kallem an, und dann den andern. "Das ist Kristen Larssen." — "Ein Feinschmied?" — "Was für'n Ding?" — "Feinschmied." — "O ja. Aber Uhrmacher ist er auch. Und Büchsenmacher. Alles mögliche."

Der Strandweg war gegen die Bucht hin offen, ohne Steindamm. Im Wasser lag allerhand verfaultes Zeug, ebenso am Lande. Die ganze Stadt hatte etwas Unfertiges. Ein großes Haus neben einem kleinen; einmal ein steinernes Haus, dann ein hölzernes; und alles wie in der Eile und mit geringen Mitteln errichtet. Die Häuser lagen nicht einmal in einer geraden Linie, und die Straße war kaum eine Straße zu nennen. Die Leute, denen sie begegneten, noch nicht Städter, und doch auch nicht mehr Landleute. Durchgehends "mißtrauisch und freundlich", wie Kallem sagte. "Mischware".

Jetzt waren sie auf dem Marktplatz angelangt, von wo der Weg zur Kirche hinaufführte. Diese lag frei, hoch und schlank auf der Höhe. Hier waren sie Josefine begegnet, eben als sie hatten hinaufgehen wollen; denn dort oben, rechts von der Kirche, frei, in einem Park mit einem Garten vorn, lag ihr Haus. Von hier aus konnte man es nicht sehen.

Die Straße gabelte sich unmittelbar vor der Kirche und führte nach zwei Seiten weiter. An dem Weg rechts mußte ihr Heim liegen. Als sie sich der Kirche näherten, sahen sie den Park hinter ihrem Haus und darin das Dach des großen Krankenhauses. Endlich — sie gingen ganz langsam, voller Spannung, ohne ein Wort zu reden — endlich der große Garten, und darin ihr Haus! Ein Holzbau im Schweizerstil, etwas zu breit, die Fenster groß und alle weit offen. Eine Veranda auf einen sandbestreuten Platz hinaus, zu dem eine Treppe hinunterführte. Daneben der Blumengarten, weiterhin der Gemüsegarten, und zu beiden Seiten, der Stadt zu, ein ziemlich großer Obstgarten. Die beiden nahmen alles gleichzeitig in sich auf. Das also war es! Sechs lange Jahre hatten sie — jedes für sich — dafür gearbeitet, es erträumt in wer weiß wie vielen Formen — nur nicht in dieser! Es hinverlegt nach wer weiß wie vielen Orten — bloß nicht hierher! All die geträumten Bilder waren ausgelöscht von dem, was sie hier vor sich sahen! Beide wandten sich um, maßen Weite und Leuchtkraft der Landschaft, und wandten sich dann lächelnd einander wieder zu. Seltsam — gerade in diesem Augenblick kein Mensch zu sehen — kein Laut, kein Geräusch, das an etwas — nah oder fern — erinnerte! Sie und ihr Heim! Das eine von ihnen sah, was das andere sah; des einen Sehen und Fühlen wurde geschärft durch das Bewußtsein, daß das andere ebenso sah und fühlte. Ragni löste ihren Arm aus Kallems Arm, ging nach dem Zaun hinüber — er war aus Wachholderstäben —, faßte durch die Stäbe, und pflückte ein paar Gräser und einen grünen Zweig; damit kam sie zurück und befestigte es an seinem Rock. Er sah etwas weiter oben einen Büschel Glockenblumen, ging hin, griff durchs Gitter darnach und kam damit zurück; sie nahm sie und sammelte noch mehr dazu; als es schließlich viele waren, sah es hübsch aus.

Neben dem Haus und auf dem Hof lagen Kisten, unausgepackte Möbel, Stroh, Sägespäne, Matten. Ragnis großen Flügel hatte man augenscheinlich soeben ausgepackt und die Beine daran geschraubt; aber kein Mensch war zu sehen.

Ein großer, freistehender Taubenschlag war da. "Denk doch, wenn jetzt Tauben angeflogen kämen? Tauben müssen wir uns halten!" — "Aber denk erst, wenn ein Hund gesprungen käme! Einen Hund müssen wir uns halten!" — Von hier aus führte keine Tür ins Haus; erst vom Weg aus, der Park und Garten trennte. Hier blieben sie stehen und wandten sich noch einmal um, der weiten Landschaft zu.

In der reichsten Gegend vielleicht, die das Land besaß, der sonnenfreudigsten, da lag den beiden das eigene Heim, die Mitte des Kompasses. Ragni lugte seitwärts, ob das Pfarrhaus zu sehen sei. Keine Spur! Kallem ahnte, nach was sie sah, und lächelte. Sie hörten durch die offenen Fenster drin die Arbeiter; jetzt hörte man sie mit Radau und Gelächter die Verandatreppe herunterkommen; sie gingen auf den Flügel los, ohne die beiden zu beachten, die weiter oben standen. Sie schwatzten, probierten, mühten sich ab, unter all dem überflüssigen Gelärme, das eine Arbeit, an die die Leute nicht gewöhnt sind, zu begleiten pflegt. Dann zogen sie mit dem Flügel zur Veranda ab, und bald hörte man sie wieder auf der Treppe trampeln. Kallem und Ragni blickten in den Park; hohe, schöne Bäume und hinten zwischen den Stämmen das Krankenhaus, ein mächtiger Holzbau auf Steinfundament, mit großen, kleinscheibigen Fenstern. Dann gingen sie durch die Tür in den Garten und auf ihr eigenes Haus zu.

Zuerst ein kleines Wirtschaftsgebäude; sonst aber lag das Hauptgebäude nach allen Seiten frei.

Die Obstbäume fingen schon zu blühen an; es mußte warm sein hier oben. Und der Garten! Ragni dachte mit keinem Gedanken daran, daß der wohlbestellte Garten Josefines Werk war; sie freute sich darauf, selbst zuzugreifen. Das Haus mußte neu gestrichen werden; es sollte auch eine andere Farbe bekommen, nicht diese ärmliche gelbe. Ihr Haus, ihr Heim! Kallem trat dreimal fest auf die Erde; der Boden war sein! Er wollte gleich von hier ins Haus; aber nein, sie wollte zum Vordereingang hinein, die Verandatreppe hinauf. So gingen sie zwischen den Kisten und dem Stroh hindurch und guckten zu den Fenstern hinein. Das Haus war im Verhältnis zu seiner Länge und Breite niedrig, das Dach ragte weit vor und lag schwer darauf. Aber es war gut.

Auch die Veranda hatte keine Verhältnisse; sie war breit und die Treppe bequem.

Arm in Arm gingen die beiden hinauf; das erste, was ihnen in die Augen fiel, war eine Enttäuschung; die Eingangstür, eine Glastür, befand sich nicht in der Mitte des Zimmers, sondern ganz unten in der südlichen Wand. Sie sahen bald, daß es nicht anders möglich war, wenn die Veranda in der Mitte des Hauses liegen sollte; rechts lagen nämlich noch zwei Zimmer in einer Flucht mit dem Verandazimmer. Jetzt kamen die Männer, die den Flügel hineingetragen hatten, alle wieder heraus; sie dachten sich gleich, wer die beiden waren, und als sie Ragni erblickten, nahm erst der eine, dann nahmen alle andern Hut oder Mütze ab. Kallem grüßte, Ragni schlüpfte zu ihrem Flügel hinein, der mitten im Zimmer stand, holte den Schlüssel hervor und öffnete ihn, als müsse sie ihn gleich auf der Stelle genau prüfen; sie konnte nicht anders, sie mußte hören, ob er noch gestimmt war. Mit den Handschuhen an den Händen schlug sie Longfellows "Sweet home" an. Bei den ersten Klängen dieser Hymne an die Heimat nahm Kallem den Hut ab. Die andern sahen das, glaubten wohl, es sei ein Choral, und folgten seinem Beispiel.

Ragni hatte ihnen den Rücken zugewandt und bemerkte daher nicht, daß nun von rechts noch zwei Leute zum Vorschein kamen, ein Mann mit rundem, glänzendem Gesicht, und hinter ihm ein kleines Weibchen, das gern hereingeguckt hätte und doch auch nicht gern gesehen sein wollte. Aber jetzt öffnete sich auch die Tür gerade vor ihr, und ein Bauernmädchen spähte bescheiden herein, was das wohl für seltsame Töne sein mochten. Ragni dachte sich gleich, daß es ihr Dienstmädchen sei, das aus der Küche kam, und ging ihr entgegen. "Du bist Sigrid?" — Ja, freilich, es war Sigrid. — "Und wir sind Doktors." — "Kann mirs denken!" sagte sie und kam jetzt ganz herein, ein kräftiges, anmutiges Geschöpf. "Ist es das erstemal, daß Du bei fremden Leuten bist?" fragte Kallem. — Jawohl, es sei das erstemal. — "Und bei uns ist es das erstemal, daß wir haushalten," sagte Kallem; "das wird ganz famos gehen!"

Ragni ging mit hinaus in die Küche. Dort fiel ihr sofort ihr neues Tischservice in die Augen, das eben ausgepackt und abgewaschen war. Jetzt aber konnte sie es nicht mehr aushalten; sie ging hinaus in den Korridor und die Treppe hinauf; sie mußte allein sein. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand gerade vor ihr offen; sie ging hinein und trat auf die Altane, die über der Veranda lag. Womit hatte sie solch großes Glück verdient? Was wog ihre Arbeit, ihre Sehnsucht im Vergleich zu dem, was hier in dem Haus eines reichen Mannes für sie bereit stand? Und doch — in diesem großen, unverdienten Glück war eine Angst ... Auch von hier spähte sie hinüber — gen Norden. Ob das Pfarrhaus zu sehen war? Nein, es war nicht zu sehen.

Josefine hegte einen Groll gegen sie; das hatte sie sogleich gefühlt. Und ob der Bruder das auch häßlich fand — er hing doch an seiner Schwester; ja, etwas war an ihr, das er ganz besonders liebte; in solchen Dingen täuschte sie sich nie.

Kallem besah sich die Räume unten. Das Paar an der Tür rechts hatte sich wieder zurückgezogen, und die Männer waren bei der Arbeit. Das Verandazimmer war groß; die Fenster gingen auf einer Seite nach der Kirche, auf der andern nach dem Garten; aber er würde Ragni vorschlagen, jene zu verhängen. Einfarbige, hellgraue Wände, die Decke hellblau mit goldenen Sternen; die Farben waren alt; nur der Fußboden war neu gestrichen, ebenfalls hellgrau. Im Zimmer links waren sie noch dabei, frisch zu tapezieren. Was, immer noch nicht fertig? Und auch im nächsten Zimmer noch nicht? Zwei waren dort an der Arbeit, der Mann und die kleine Frau, die vorhin in der Tür aufgetaucht waren. "Guten Tag!" grüßte Kallem. "Guten Tag!" erwiderte das runde, glänzende Gesicht mit dänischem Tonfall. Kallem trat näher an den Tisch heran, vor dem der Mann stand und die Tapeten zurecht schnitt. Die Frau hielt sich dicht an seiner Seite; jetzt verkroch sie sich ganz hinter ihm. "Ist das Ihre Frau?" — "Jawohl, meine Frau; und außerdem mein Gesell; Gesell und Frau; aber meine Gesellenfrau ist sie darum doch nicht!" Das kleine Weibchen hinter ihm kicherte, wenn auch fast unhörbar. Der Mann hatte hervorstehende rollende Augen, in denen ein Schelm saß. "Ich dachte, Ihr wärt fertig." — "Man arbeitet unter Hindernissen, Herr Doktor!" Sie gluckste vor Lachen, aber immer wie aus einem dicken Pack heraus. — "Ist Ihre Frau auch Dänin?" — "Nein, Norwegerin; aber wir passen trotzdem gut zueinander." Sie duckte sich, fortwährend kichernd, noch tiefer hinunter.

Der Raum, in dem sie standen, war lang und schmal; Kallem sah sofort, daß es das Eßzimmer werden mußte, wahrscheinlich auch das Wartezimmer für die Kranken. Das dahinter, mit den Fenstern nach vornheraus und nach Südost, war selbstverständlich sein Arbeitszimmer, in dem er Patienten empfing, wenn er nicht im Krankenhaus war. Er ging gar nicht erst hinein, sondern vom Eßzimmer gleich hinaus auf den Gang. Da war rechts die Küchentür. Auf dem Küchentisch sah er eine Reihe Bierflaschen stehen; einige leer, andere noch voll. "Wem gehören die Flaschen?" — "Dem Sattler." — "Sie meinen dem Tapezierer?" — Kallem begriff mit einemmal, was da für "Hindernisse" vorgelegen hatten, und daß der Mann betrunken war, und die Frau noch mehr. Darum waren die Männer so lang im Hause geblieben, bis sie den Flügel geholt hatten! Sie waren mit Bier traktiert worden. "Bitte, rufen Sie mir den Dänen mal heraus!" Das Mädchen ging, und sofort kam auch das runde, glänzende Gesicht mit hundert Schelmen in den Augen zum Vorschein und dahinter die Frau, die einmal rechts und einmal links davon hervorguckte.

"Die Flaschen da gehören Ihnen?" — "Nicht so ganz!" — "Ihr seid also mehrere?" — "Ja — beim Trinken!" — "Aber Sie haben sie bezahlt?" — "Das Bier, ja; aber nicht die Flaschen; die muß man zurückgeben." Die Frau kicherte.

"Darf ich fragen, wie Sie heißen?" — "Sören Pedersen heiss' ich, jawohl, Sören Pedersen!" — "Also hören Sie mal, Sören Pedersen, wollen Sie mir die Flaschen da verkaufen?" — "Das Bier, meinen Sie?" — "Das Bier." — "Aber gern!" — "Dann haben wir heut Nacht doch was zu trinken; wir müssen nämlich durcharbeiten heut Nacht; wir möchten morgen fertig sein. Wir arbeiten mit. Wollen Sie?" — "Wenn der Herr Doktor befehlen." — "Und dann darf ich Sie wohl bitten, heute mit uns zu Abend zu essen?"

In drei, vier Sätzen sprang Kallem jetzt die Treppe hinauf. Ragni stand im Sonnenglanz draußen auf der Altane. Sie wandte sich nach ihm um. Er fragte, ob sie ihr Gebet verrichtet habe. Ja; sie sei fertig.

Auch er blieb ein Weilchen auf der Altane stehen und sah nach dem Inselkindchen hinaus, das da vor seiner Mutter spielte — von hier aus konnte man es sehen — auf die Bucht mit den Wasserfurchen, auf die Berge dahinter in ihrer vornehmen Ferne. Er blickte hinüber, nach rechts, wo Pastors wohnten; sie merkte es wohl. "Sie können uns doch zum Donnerwetter nicht behandeln, als ob wir nicht verheiratet wären? Nicht? Das wollen wir doch sehen!"

Sie zog ihn ins Zimmer und wies auf die Farbe der Wände in ihrem Schlafzimmer; mattweißer Ölanstrich, wie sie es sich gewünscht hatte. Alles sollte weiß sein hier oben, mit Ausnahme der langen Gardinen und Portieren, die von der Decke herab über den beiden Betten, dem Altanfenster und der Tür hängen sollten. Die waren blau in Farbe und Muster, zu den Ornamenten an den Betten und übrigen Möbeln passend. Sie wurde ganz gesprächig; aber Kallem mußte das Krankenhaus besehen; und da wollte sie mit.

Das erste, was er auszusetzen hatte, als sie im Park davor standen, waren ein paar alte schöne Bäume: die standen viel zu nah — die mußten weg. Statt ihrer sah er im Geist schon einen großen freien Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte, von dem nach allen Seiten hin Wege in den Park führten. Das Krankenhaus war zweistöckig, gelb gestrichen, mit ungewöhnlich großen Fenstern, aber sehr kleinen Scheiben. Im Unterbau, einem mächtigen Steinsockel, war die Wohnung für die Dienerschaft und den Verwalter eingerichtet. Es sah sehr behaglich aus; Gardinen an allen Fenstern, und Blumen davor. Der Eingang befand sich an der linken Seite des Hauses; ein dichtes, hohes Gitter hegte einen sehr großen Hofraum ein. Kallem freute sich, als er längs des Gitters Ahornbäume stehen sah; er wußte, in vierzehn Tagen konnten hier amerikanische Zelte für die Kranken aufgeschlagen sein — den ganzen Sommer über.

Die Haustür war offen; kein Portier. Im Fenster der Portierloge lagen fromme Schriften und Traktate zum Verkauf aus. Kein Anschlag an der Tür, der angab, wann Besuchszeit sei für die Kranken. Den Portier sahen sie dann im inneren Hof; ein älterer Mann mit ernsten, forschenden Augen; er trug eine Brille, über die er hinwegblickte, und die er abnahm, als er merkte, wen er vor sich hatte. "Sie sind der neue Herr Doktor?" — "Ja." Jetzt nahm er auch seine Mütze ab: "Willkommen!" Der Patient, mit dem er sich eben unterhalten hatte, schlich davon; er war bleich und trug — trotz des sommerlich warmen Tags einen dicken wollenen Schal um den Hals; er hielt sich in der Entfernung, grüßte auch nicht. Der Portier ging mit ihnen.

Das Haus hatte — zu beiden Seiten eines hellen Korridors — je eine Reihe Zimmer, die nach vorn groß, die nach dem Hof zu kleiner; in beiden Stockwerken gleich. Der Portier war nicht nur Portier, sondern auch Verwalter und ältester Aufseher des Hauses. Als solcher stellte er die übrigen Beamten vor, wie sie ihnen gerade in den Weg liefen. Ganz nette Leute, Männer wie Frauen; unter den letzten zwei Diakonissinnen, — die waren die allerfreundlichsten.

Das erste, was Kallem notwendig erschien, war, das Haus von den alten, verpesteten Typhusstuben zu reinigen und einen besonderen Typhuspavillon für den Winter zu errichten. Der Operationssaal war recht hell; aber ein neuer, gebohnter Fußboden mußte sogleich gelegt werden. Der Ventilationsapparat war miserabel. Mit Ausnahme dieser und noch einiger geringerer Mängel — z.~B. die kleinscheibigen Fenster — war das Haus gut; die Zimmer hoch, die Gänge geräumig; das Ganze machte den Eindruck von Helle; es gefiel ihm sehr.

Der Krankenbestand war in Anbetracht der Jahreszeit gar nicht gering. Sein Spezialstudium, die Tuberkulose, war durch drei Patienten vertreten — zwei Knaben und ein etwa zehnjähriges Mädchen, magere, wachsbleiche, armselige Geschöpfe. Er freute sich darauf, sie bald in seine amerikanischen Zelte legen zu können. Der frühere Besitzer des Krankenhauses, der alte Doktor Kule — ein Onkel von Ragnis erstem Mann —, war gestorben. Kallem hatte es sehr billig erstanden, da sich im Augenblick niemand anders fand, der es übernehmen wollte. Hier konnte er sich einrichten und seine Zeit einteilen, ganz wie er wollte; er hatte freie Hand. Der Bezirk gab einen Beitrag; ein Komitee, bestehend aus dem Distriktsarzt und einem zweiten Arzt, führte die Oberaufsicht; aber er war ganz sein eigener Herr. Dieser erste Besuch machte ihnen beiden Freude. Sie kehrten in ihre Wohnung zurück, guten Muts und fürchterlich hungrig, nahmen in der Küche eine kleine Vespermahlzeit zu sich, tranken ein Glas Wein dazu, und dann noch eins auf das große Ereignis: daß sie zum erstenmal im eigenen Hause aßen.

Im Wohnzimmer stand noch alles bunt durcheinander. Trotzdem ging Ragni an den Flügel. Sie hatte sich — seit fünf oder sechs Jahren — ganz heimlich an Übersetzungen aus der englischen Literatur, besonders der Versliteratur versucht. Ein bißchen warm vom Wein — ein bißchen verlegen — schlug sie ein paar Akkorde an — bat ihn, sich nicht vor sie hin zu stellen — schlug wieder Akkorde an und sang mit einer kleinen, weichen Stimme, die mehr rezitierte als sang:

Wir sind daheim!
Unser Wesen und Sein
Soll hier blühn und gedeihn
Aus zartestem Keim!
In Dingen, Gedanken,
In Stimmen, in Blumen,
Soll alles sich ranken
Um uns.
Hier wird mein Sinn
Durch dich offenbart.
Und du, der nun sehend ward,
Sieh, wer ich bin,
Die sündig und selig-fröhlich,
Beglückt dich und kränkt,
Und stets sich versenkt
Harmonisch und selig
In dich!

3

Den nächsten Morgen wachten sie durch ein lautes, anhaltendes Dröhnen auf. Als sie ganz munter wurden, merkten sie, daß es die Kirchenglocken waren, die zum Kirchgang läuteten; beide hatten lang geschlafen; aber sie hatten auch bis gegen drei Uhr, also bis in den hellen Morgen hinein, gearbeitet.

Eins, zwei, drei war Kallem aus dem Bett und im Badezimmer nebenan, wo er sich mächtig abduschte. Dafür hatte der alte Doktor also doch Sinn gehabt! Und kaum war er halb angezogen, so lief er auch schon hinaus auf die Altane, zu der herrlichen Aussicht. Er rief Ragni zu, sie solle ebenfalls duschen und sich ankleiden und herauskommen; aber sie hatte schon gestern gemerkt, wie gräßlich kalt das Wasser war und lag nun mit großen, offenen Augen da und überlegte, ob sie mogeln oder es wirklich wagen solle. Sie zog es vor, zu mogeln und stand gleich darauf in einem allerliebsten Morgenkleid neben ihm. Aber wie unschuldsvoll sie ihn auch anblickte, und wie eifrig sie die wundervolle Aussicht, den köstlichen Tag rühmte — er vergaß die Dusche nicht. Sie hatte gestern feierlichst gelobt, sie gleich vom ersten Tag an zu nehmen; eben weil sie sich so leicht erkältete, sollte sie sich's zum täglichen Brot machen, und ganz besonders hier, wo Wärme und Kälte so schroff wechselten. Also —! Sie setzte ihr kläglichstes Frätzchen auf — sie versuchte, darüber wegzuscherzen; aber er deutete unbeirrt auf das Badezimmer. Wollte sie ihr Gelübde brechen? Wenn sie's ein erstes Mal tat, so tat sie's später noch oft. Sie küßte ihn und sagte, er sei ein Scheusal; er küßte sie, und sagte, sie sei ein süßes Ding. Aber die Dusche! Sie rannte hinein, streifte ihren Morgenrock ab, als wolle sie unter die Dusche gehen ... Aber husch! lag sie wieder unter der Decke. Als er kam, zog sie die Decke über den Kopf. Da nahm er ohne weiteres Decke samt Inhalt und trug beides nach der Tür; und jetzt bat sie so rührend um Gnade, und das klang so verängstigt, daß er alles beides wieder zurücktrug. Sie schlang die Arme um ihn und zog ihn zu sich nieder; und vor ihren warmen Gliedern zerschellte alle Logik.

Die Glocken läuteten und läuteten. Wagen rollten vorüber, alle von der Stadt her. Kaum war der eine vorbei, so kam schon ein anderer. Die Tür stand offen. Sooft die Glocken nach ihren drei bekannten Schlägen aussetzten, hörte man im Zimmer das Surren der Fliegen, und von draußen die Vögel. Jetzt vernahmen sie auch von der Bucht her das Schnauben eines kleinen Dampfers; sie hatten ihn vorhin vom jenseitigen Ufer abstoßen sehen, vermutlich mit Ausflüglern an Bord. Irgendwo mußte ein Fest sein, zu dem die Leute strömten.

Von Südwest wehte eine leichte Brise, und bei jedem Windstoß füllte sich das Zimmer mit Wohlgeruch; es strömte förmlich von Bäumen und Wiesen herein. Zwischen dem Glockenklang flüsterte es und wisperte; die Luft war trunken.

Eine Weile später standen sie wieder auf der Altane und sahen die Leute zur Kirche gehen. Aber fortwährend zogen daneben mit Menschen vollgepfropfte Wagen an der Kirche vorüber und weiter. Der Dampfer war schon ganz nahe; da pfiff es auch von der Eisenbahn her. Beide verfolgten nun mit den Augen zwei Schwalben, die offenbar mit ihrem eigenen Schatten auf dem Sand vor der Veranda spielten. Über- und nebeneinandervorbei flogen sie — die Schatten auf dem Sand machten die Schwingungen nach; die Vögel waren bald ganz unten, dann wieder höher; wenn sie zu hoch geflogen waren und die Schatten verloren hatten, senkten sie sich wieder und suchten nach ihnen. "Nächstes Jahr", sagte sie flüsternd, "wollen wir Nistkästen anbringen!"

Sie kleideten sich völlig an, gingen hinunter und frühstückten. Sören Pedersen und seine Frau waren längst da und hatten längst gefrühstückt; sie waren schon in voller Tätigkeit.

Sie erfuhren jetzt, daß fast alle Leute in das benachbarte Kirchspiel fuhren, wo der Bezirkspfarrer Meek sein fünfzigjähriges Jubiläum feierte und zugleich seine Abschiedspredigt hielt. Seit heut früh seien schon die Fußgänger unterwegs; jetzt kämen die zu Wagen, und außerdem noch ein ganzes Schiff voll Menschen vom andern Ufer. Meek sei die ganzen fünfzig Jahre in einer und derselben Gemeinde gewesen — "ein ganz absonderlicher Mann". Kallem und Ragni frühstückten im Verandazimmer. Aber das Frühstück wurde unterbrochen. Es klopfte, und herein trat lächelnd, bescheiden, ein älterer hagerer Mann mit einer Hornbrille; es war Doktor Kent, der zeitweilige Leiter des Krankenhauses. Er kam eben von dort. Kallem und Ragni standen beide auf. Doktor Kent hatte eine angenehme, leise Stimme und ein ruhiges Lächeln bei allem, was er sagte. Er setzte sich etwas abseits, während sie weiter aßen, und machte einige kurze Angaben über die Kranken in der "Anstalt" und über den allgemeinen Gesundheitszustand in Stadt und Umgegend. Auf Befragen erteilte er bündigen Bescheid, welchen von den Beamten Kallem seine Aufwartung machen müsse, welches die Stadtverordneten, Gemeindevorsteher und Mitglieder des Amtsgerichts waren, deren Bekanntschaft wünschenswert sei. Selbst das rein Geschäftsmäßige klang freundlich in Doktor Kents Mund. Als sein leichter Einspänner vorfuhr — er hatte einen Krankenbesuch auf dem Lande zu machen — bat Kallem, er möge ihn mitnehmen; sofort war auch Ragni dabei, und so bestellten sie denn einen größeren Wagen und saßen bald alle drei darin. Als sie eben abfahren wollten, fiel Ragni ein, daß der Flügel leicht übergestimmt werden mußte, und sie fragte Sören Pedersen, ob er jemand wisse, der stimmen könne, wenigstens einmal fürs erste. Freilich — Kristen Larssen. So kam es, daß die Fahrt mit Mitteilungen über Kristen Larssen begann. Kent erzählte, er sei in einer der abgelegensten, elendesten Gemeinden aufgewachsen, und dereinst einer Lappalie wegen mit dem Gesetz in Konflikt geraten — Kent hatte eine schwache Erinnerung, als sei es geschehen, weil er einen Tanz, den er spielte, die "Vergebung der Sünden" betitelt hatte. Kristen Larssen sei Erfinder; eine jetzt ganz allgemein verbreitete Strickmaschine und verschiedenes Handwerksgeräte stammten von ihm. Er sei ein kalter Mensch — kalt, wie Eisen im Winter, und Sören Pedersen und seine Frau seien sein einziger Umgang. Was denn das eigentlich für Leutchen seien? — Ihre Antezedentien kenne er nicht; sie stamme aus hiesiger Gegend, er von Fünen. Beide tüchtig in der Arbeit; aber man habe bald gemerkt, daß sie tranken. Der Pastor hatte dem abzuhelfen versucht; er hatte sie liebgewonnen, während sie bei ihm in seinem Haus arbeiteten. Merkwürdigerweise glückte es; sie hörten nicht allein auf zu trinken, sondern Sören Pedersen wurde ein überaus eifriger Temperenzler und äußerst fromm; er konnte schließlich die ganze Bibel auswendig. Buchstäblich wahr — ganz auswendig! Er erzählte selber oft, daß es sein größtes Vergnügen sei, wenn Aase ihm zuhöre, und in kleineren Versammlungen trug er ganze Kapitel aus der Bibel aus dem Kopfe vor, während die Leute dabei saßen und nachlasen. Der Pastor meldete ihn in einer Bibelschule an, und er selbst hatte keinen höheren Wunsch, als dahin zu kommen; aber Aase mußte auch mit! Da man ihm hierin nicht willfahren konnte, verzichtete er auf die Bibelschule und wurde an allem irre.

So traf er mit dem Tausendkünstler Larssen zusammen, der sich gerade damals hier in der Stadt niederließ. Kristen Larssen hatte von Sören Pedersens Gabe zum Auswendiglernen gehört und versuchte, hinter den Mechanismus der Sache zu kommen. Aber da war keinerlei Mechanismus; "alles ist eine Gnadengabe Gottes; denn bei Gott ist kein Ding unmöglich."

"Das steht in Matthäus", antwortete Kristen Larssen; "aber im Buch der Richter steht, daß der Herr mit Juda war, aber Juda vermochte nicht den Feind aus dem Tal zu vertreiben, weil der Feind eiserne Wagen hatte!"

Der ehrliche Sören Pedersen erschrak aufs tiefste darüber, daß der Gott der Juden die eisernen Wagen nicht besiegen konnte. — "In einem und demselben Buch Mosis", fuhr Kristen Larssen fort, "steht ferner geschrieben: Du sollst nicht töten! — und gleichzeitig auch, daß der Herr unablässig gebot, zu töten. Also sind da Widersprüche."

Das war für Sören Pedersen etwas ganz Neues, trotzdem er die Bibel auswendig konnte. Er wollte wissen, wie das zusammenhänge, und verlangte nun in jeder religiösen Versammlung Auskunft darüber. Schließlich hatte er mindestens hundert Widersprüche herausgefunden, nach denen er fragte; es war nicht mehr auszuhalten. Die einen lachten sich halb krank, die anderen nahmen Ärgernis daran. Zuletzt wurden er und Aase von den Zusammenkünften ausgeschlossen. "Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen erzählen darf" — sagte Doktor Kent — "aber Ihr Schwager hat Sören Pedersen und Frau Aase eigenhändig hinausgeworfen — zum Betsaal hinaus! Sie waren früher als die andern gekommen und wollten nicht gehen. Ihr Schwager ist sehr stark; aber Sören Pedersen behauptete sich, bis der Pastor auf den Gedanken kam, erst Aase vorzunehmen, und nun rissen sie sich um die Frau, als sei sie ein Stück Holz." Kallem und Ragni lachten ausgelassen. "Ich habe selber einen andern Zusammenstoß miterlebt", fuhr Doktor Kent fort. "Der Pastor hielt Prüfung ab in der Schule; ich gehöre zur Schulkommission. Sören Pedersen und Frau Aase waren auch da und allen ahnte Unheil. "Gott kann nicht lügen!" sagte unter anderem der Pastor. Da stand Sören Pedersen auf: "Es steht geschrieben: Siehe der Herr hat einen falschen Geist gegeben in aller dieser seiner Propheten Mund." Wieder wurde Sören Pedersen hinausbefördert."

Die Landschaft, durch die sie unter solchen schnurrigen Histörchen fuhren, war eine hochgelegene, frühlingshelle freie Ebene, unterbrochen von größeren oder kleineren Stücken Waldes, oder besser gesagt — eines Waldes, der von bebauten Feldern durchzogen war. Die Gehöfte stattlich, die Felder fruchtbar, der Weg führte in Windungen abwechselnd durch Wälder und Felder, über Hügel und Bäche. Steingehege, wo man's am wenigsten vermutete, und Wege und Stege die Kreuz und die Quer. Wer von den Prärien Amerikas und dem Flachland Mitteleuropas kam, den mußte all diese Unruhe in gute Laune versetzen. Derselbe flimmernde Sonnenschein wie gestern, der gleiche kräftige Duft von Wiese und Wald — und dazu eine Blumenpracht und ein Vogelsang! Da rief der Kuckuck!

Es war kurz vor Johannis mit seiner üppigen Flora. Ragni freute sich über den Reichtum ringsumher. Von allen Fächern war ihr Botanik das liebste, und der Gegensatz zwischen der Flora, die sie studiert hatte, und dieser hier interessierte sie lebhaft. Sie fragte, ob in vielen Gegenden Norwegens Berberitze und Akelei wild wüchsen? Doktor Kent meinte, sie müßten vor langer Zeit einmal eingeführt worden sein, vielleicht von den Mönchen aus dem Kloster drunten.

Als sie aus den Wiesen wieder in einen kleinen Streifen Wald, größtenteils Tannenwald, kamen, sah sie zum drittenmal Linnäa; da hielt es sie nicht länger im Wagen; alle drei stiegen aus.

Die Linnäa hatte eben angefangen ihre glockenförmigen lichtroten Blüten zu öffnen. Ragni und sie begannen sogleich miteinander zu wispern und zu tuscheln: ach, wenn sie nur einmal miteinander allein sein könnten! Sechs Jahre lang hatten sie sich nicht mehr gesehen — nein, sie war ja im Frühling abgereist — also sechseinhalb Jahre! Sie hob einige zu sich empor; und da entdeckte sie auch die Pyrola uniflora[2] — einsam, mit wehmütig gesenktem Köpfchen. Kallem hatte gerade auch eine gefunden; sie fragte, wie sie auf norwegisch heiße. Er fragte Kent, ob man sie nicht den "Leuchter des heiligen Olaf" nenne. Er fragte wie ein Apotheker und erhielt Antwort wie aus einem Herbarium. Ragni verlor sich immer weiter von den beiden weg. Der Duft, der ihr aus dem Blütenkelch entgegenströmte, mahnte sie, weiter vorzudringen; die Blume war ja gesandt, um sie immer tiefer hineinzulocken. Tiefer hinein und ein bißchen weiter zurück — fort von den andern. Sie hörte sie plaudern; im Wald klingt jeder Laut so deutlich; sie hörte ein paar aufgescheuchte Vögel. Doch jetzt, nur ein Stückchen weiter weg, hörte sie bloß noch das Knistern ihrer eigenen Schritte auf dem Waldboden. Eine einzige kleine Sauerkleeblüte fand sie noch, einen kleinen Nachzügler. Verstimmt lugte sie aus ihren vielen kleeartigen Blättchen hervor; — ob sie wußte, daß sie ihre Genossen verloren hatte?

"Weiter, weiter!" sagten sie alle; ja, dort hinein lockten sie alle, die Linnäen und die heiligen Leuchter und der Sauerklee; bloß deswegen war der eine, letzte noch zurückgeblieben. Und jetzt war Ragni bei den Siebensternen[3], die große Familienzusammenkunft abhielten. Alle warteten darauf, sie zu sehen; kein Fuß noch war hier geschritten in diesem Jahr. Ragni kniete zwischen ihnen nieder und erzählte, daß sie von weit, weit hergekommen sei — erzählte ohne Worte; die waren unter ihnen nicht nötig: Tür um Tür hatte sie aufgeschlossen, um in Norwegen einzudringen; kaum hatte sie die eine geöffnet, so lag dahinter eine andere ... bis Ragni jetzt endlich zu ihnen kam. Gleich, als sie die Linnäa sah, wußte sie — jetzt stand sie vor der letzten Tür. Und hier war das Innerste. All das Große, Gefahrvolle draußen — vom Meer an — all das Mächtige und Böse, das Bunte und Geschäftige, all die Herrlichkeit und all die Schrecken,.. sie wiesen nur tiefer hier herein; hier herein müssen wir, um zu verstehen, weshalb nicht alles in tausend Stücke bricht. Ihr hier drinnen, ihr sitzt am Steuer.

"Auch wir haben auf Dich gewartet. Hier ist das innerste Geheimnis." — "Ach! Sagt es mir!" — "Gut sein!" — "Ach ja, ich glaube, das ist auch das einzige, wozu ich wirklich Anlage habe. Wenn nun aber die andern nicht — —?" — "Laß die andern sein, wie sie wollen. Du aber sei gut!"

Und sie verstand jetzt, denn sie war ja ins Innerste gedrungen. Sie verstand jetzt, was das Stärkste war. Die Sternblumen.

"Ragni!" rief Kallem aus weiter Ferne; der Wald hallte wieder von seiner klaren Stimme. "Ja!" — Ein paar von der Familie wollten gern mit; sie hob sie zu sich empor. Dann eilte sie wieder dem Wege zu. Am Waldrand stand eine Actaea[4] — die stand dort, damit sie ihr den Weg ins Innere hätte weisen können, falls sie hier ausgestiegen wäre. Jetzt wollte sie mit. Und dicht am Weg stand ein Busch und darunter, wohlverborgen, eine ganze Gesellschaft Maiglöckchen; wo hatte sie nur ihre Augen gehabt? Sie wußten, woher sie kam; auch sie waren als Wachen ausgestellt, um ihr den Weg ins Innere zu zeigen. Sobald sie einander sahen, verstanden sie sich. Das ist so bei allen, die "von einem Stamme sind". Einige wollten mit.

"Ragni!" rief Kallem. "Ja, ja!" Und sie trat auf den Fahrweg hinaus. Jetzt sah sie, wie weit zurück sie war. Die beiden Männer standen am Wagen und unterhielten sich; sie waren ganz oben auf der Höhe. Die schlanke Gestalt Kallems und die kleine, schmächtige Figur des Doktors hoben sich scharf ab. Beide hatten alle Hände voll. Sie kam eilig heran und hörte schon von weitem Kallem Vortrag halten über einen jungen Sturmhut, den er in der Hand hielt und hin und herschwenkte; er gab, auf Deutsch, die begeisterten Worte eines deutschen Botanikers über diese prachtvolle Giftpflanze wieder, die er in Norwegen gefunden hatte. Doktor Kent überreichte ihr liebenswürdig eine Pelygala amara[5]; er wußte, daß ihr, die von Amerika kam, diese blaue Blume neu war. Sie bedankte sich herzlich. Sie stiegen in den Wagen und fingen gleich an, ihre Ausbeute zu ordnen. Die Herren baten Ragni, sich auszusuchen, was ihr gefiel. Sie kamen von einem kleinen Moor; Kent hatte die Blüte einer Moortanne im Knopfloch stecken; sie hatten überhaupt alles mitgenommen, sogar ein Schmerkraut. — "Das Raubtier!" sagte Ragni. Das wollte sie nicht haben; es sei auch so "schmierig"! — "Du bist doch in allem Ästhetiker!" bemerkte Kallem. Sie warf ihm einen gewürzten Blick zu, etwa wie der Duft ihrer Linnäen. "Ist Ihnen aufgefallen, daß wir ganz allein unterwegs sind?" fragte Doktor Kent. Er erzählte, alle Leute seien in der Kirche: der alte Meek halte heute, an seinem fünfzigjährigen Jubiläum, seine Abschiedspredigt. Mit zwanzig Jahren war er bei seinem Vater Vikar gewesen — wie das damals so Sitte war — und hatte nach ihm das Amt geerbt. Jetzt war er siebzig, und wollte mit seiner Enkelin eine Reise ins Ausland unternehmen! — "Also ein rüstiger Herr?" — "Ja, und lebt gesund. Immer unterwegs, und immer zu Fuß. Er war unser Zwischenhändler." — "Zwischenhändler?" — "Nun ja, jeder Bezirk hier hat so eine Art Vermittler zwischen Wissenschaft und Praxis. Ihm hat die Gemeinde viel von ihrem Wohlstande zu verdanken, und durch die eine Gemeinde auch die andern." — "Er ist also beliebt?" — "Er ist der beliebteste Mann weit und breit in der ganzen Umgegend." — "Wie ist er denn auf der Kanzel?" — "Na ja, er hat fünfzig Jahre lang von seiner Kanzel herunter Geschichtchen erzählt. Seinerzeit wurde viel darüber gespottet; manche fanden es auch profan; aber jetzt machen es ihm verschiedene nach." — "Was für Geschichten denn?" — Also — die letzte, die Kent gehört hatte, handelte von einer Frau in St. Louis in Amerika, die dreißig Jahre lang im Gefängnis gesessen hatte und trotz ihrer siebzig Jahre noch immer die unbotmäßigste Gefangene war. Da sollten die Gefangenen in ein anderes Haus überführt werden, dessen Vorsteherin Quäkerin war. Die Alte wollte sich nicht wegschaffen lassen; sie setzte sich aus Leibeskräften zur Wehr, so daß man sie binden und auf einem Stuhl forttragen mußte. Als sie mit ihr ankamen, stand die Leiterin des Gefängnisses in der Tür und nahm das rasende Weib in Empfang. "Bindet sie los!" sagte sie. — "Aber wird das auch gehen?" — "Bindet sie los!" Man tat es. Sobald die Alte frei war, beugte ihre neue Oberin sich über sie, umarmte sie und gab ihr einen Willkommenkuß, wie eine Schwester der Schwester. Da fiel die alte Frau auf die Knie und sagte: "Kannst Du wirklich glauben, daß an mir noch was Gutes ist?" Und von Stund an gehorchte sie ihr.

Jetzt stiegen Kallem und Kent aus; sie bogen in einen Bauernhof ein, der ein Stück oberhalb des Weges lag. Vor der Altane sprang ein großer schwarzer Hund auf; er sah den Wagen und bellte ihn an, aber bloß ein paarmal; dann lief er den beiden einige Schritte entgegen, beschnupperte sie, lief zurück und legte sich wieder.

Sonst war niemand zu sehen. Der Junge lenkte die Pferde um und fuhr ein bißchen zur Seite. Die beiden Ärzte gingen zu dem Kranken hinein, Ragni wanderte auf dem Hof auf und ab. Durch das Fenster sah sie einen Alten im Bett liegen; seine Frau saß neben ihm; sie sang mit zitteriger Stimme dem Kranken etwas vor und fuhr auch, als die Tür sich hinter ihr öffnete, ruhig fort.

Ragni sah sich auf dem Hof um; dann setzte sie sich auf die Scheunentreppe.

Nichts, was in uns alles so in Stille einwiegen könnte, wie ein ruhender Bauernhof! Nicht der Wald, denn irgendwo raschelt und raunt es da immer; man muß lauschen oder Umschau halten; nicht das Meer, selbst wenn es schweigt; völlig in Frieden ist es nie. Nicht die Wiese; denn da wimmelt es von Leben. Und so überall. Aber in einem abgeschlossenen Bauernhof —. Das Hühnervolk umpickt und umgackert dich so anheimelnd, der Hund liegt ganz still und die Katze geht ein paar Schritte, und bleibt stehen, und geht wieder ein paar Schritte; die Pflugschar lehnt neben der Egge, der Schleifstein ist trocken, die Wagen lassen die Deichsel hängen, die Gesindeglocke schweigt; alles, was sonst da lebt, ruht wie du; und was sich etwa noch regt, erhöht nur den Frieden. Das Schwein, das du ganz dort hinten wühlen siehst, ist nur mit sich selber beschäftigt; das Pferd, das kaut und die Fliegen wegwedelt, kennt nur sein eigenes Behagen; die Vögel, die kommen und dich grüßen, tragen dir die Sorglosigkeit zu, die in allem Frieden liegt.

Doch mitten in der Ruhe schoß in Ragni wieder die Angst auf, die sie seit der Begegnung mit Josefine verfolgte. War etwas in ihrem eigenen Gewissen, das sie anklagte? Nein, und tausendmal nein! Nicht einmal die Kinder ihrer Schwester? — Nein! Denn unter solchen Verhältnissen hätte sie nicht einmal denen etwas sein können. Also, was denn? Was hatte sie getan? Ihn geliebt. Weshalb sollte sie das nicht dürfen?

Die Stille war weg. Ragni ging hinter den Hofgebäuden herum, und da fand sie zwei Arten Orobus[6], nicht weit voneinander — erst draußen auf der Wiese die Vogelerbse, und dann noch eine andere Art im Gebüsch; auf den Namen der letzteren konnte sie sich nicht besinnen. Als sie zurückging, fand sie einen prächtigen Hahnenkamm und eine dritte Art Veilchen; zwei hatten die andern ihr schon gegeben. War das eine Flora! Und da! Da wieder! Die entzückendste Veronica; o weh, die Krone fiel ab; aber da ist wieder eine; die hält. Später hörte sie, daß in dieser Gegend die spröde Blume auch "Männertreu" genannt wurde.

Und jetzt wieder auf den Hof. Durch die Fenster sah sie, wie Kallem, tief über den Kranken gebückt, dessen Brust behorchte. Bald darauf kam Kent heraus, neben ihm die alte Frau. Er schrie, so laut er konnte, aber sie schien trotzdem fast nichts zu verstehen. Jetzt stand Kallems hohe Gestalt in der Tür; er kam auf sie zu. Wie sie ihn liebte!


Nachmittags saßen sie zusammen in dem nach Südosten gelegenen Arbeitszimmer des Doktors. Bis auf die Bücher war jetzt alles in Ordnung. Sören Pedersen kam, begleitet von Aase, zur Eßzimmertür herein; er pfiffig, sie verschüchtert. Eben kämen der Herr Pastor und seine Frau durch den Garten.

Kallem sah, wie Ragni bleich wurde. In Gegenwart der beiden begnügte er sich damit, frischweg zu sagen: "Komm, Ragni!" und ging dann ins Verandazimmer und von dort auf den Korridor, um die Gäste zu empfangen.

Die Begrüßung war steif. Der Pastor bat, die ungelegene Besuchszeit zu entschuldigen; ihm passe es so am besten, da er gerade vom Abendgottesdienst komme. Sie hätten überhaupt bloß anfragen wollen, ob Schwager und Schwägerin nicht heute bei ihnen zu Abend essen wollten? Sonntags sei ja ein Geistlicher erst abends so recht sein eigener Herr. — Die Stimme hatte noch etwas von dem feierlichen Predigerton, und Gesicht und Wesen trugen einen Abglanz der Kirche. Josefine stand ganz still und sah sich im Zimmer um; und bald ging auch der Pastor dazu über.

Er fand es "zu gemütlich" hier! Der Flügel war ein "Prachtstück". Während sie ihn betrachteten, wandte sich Josefine zu Ragni; es waren die ersten Worte, die sie sprach: "Sie spielen ja so schön?" — "O— —" — n"Wollen Sie uns nicht etwas vorspielen?" Und der Pastor fügte hinzu: "Ach ja, bitte!"

Ragni sah ihren Mann an — wie ein Ertrinkender, der nach Hilfe ausschaut. "Ragni muß in Stimmung sein, um spielen zu können!" sagte er. "Natürlich — Sie werden müde sein!" entschuldigte der Pastor. Man setzte sich; Kallem und der Pastor einander gegenüber, Josefine ein bißchen abseits; Ragni blieb stehen.

"Natürlich — Ihr müßt beide müde sein!" fuhr der Pastor fort. "Die lange Reise — — und jetzt das ganze Einrichten hier! Wie ich von Doktor Kent höre, seid Ihr bald fertig?" — Ja. Sie hätten aber auch eine ganz ausgezeichnete Hilfe gehabt an Sören Pedersen und seiner Frau. Ragni fürchtete auf einmal, die beiden könnten noch im Eßzimmer sein und lief hinein; nein, sie waren fort. Auch im Zimmer des Doktors waren sie nicht.

Das Gesicht des Pastors hatte einen ganz eigenen väterlichen Ausdruck angenommen. "Wir haben Sören Pedersen und seine Frau für Euch nehmen müssen, weil sonst niemand zu haben war. Aber eigentlich müßte man solchen Leuten überhaupt keine Arbeit geben." — "So?" -— "Tüchtige Arbeiter; aber sie vertrinken alles, was sie verdienen, und bleiben tagelang von der Arbeit weg, wie auch hier. Sie erregen großes Ärgernis in der Gemeinde." — "Alle Wetter!" Ragni strich dicht an Kallem vorbei und fuhr ihm leicht mit der Hand über den Kopf; sie tat, als wolle sie etwas vom Flügel holen. Der Pastor ließ sich durch den leichtfertigen Ton des Doktors nicht abschrecken. "Wir haben alles versucht bei den beiden, was wir nur konnten — sie trinkt geradeso wie er. Ihr würdet Euch wundern, wenn Ihr wüßtet, wie gut alle Leute gegen sie gewesen sind. Aber alles vergebens — ja, schlimmer als vergebens! Nun, ich will nicht näher auf die Sache eingehen." Und er blickte hinüber zu seiner Frau, die in ihrem enganschließenden Kleid dasaß, kraftvoll, undurchdringlich, aus einem Guß und tadellos vom Scheitel bis zur Sohle. Die Augen mit dem wohlgeschulten Blick, der alles sieht, ohne bestimmtes eigentliches "Sehen". Kallem wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie angeschrien. Aber Ragni stand, im Hintergrund, unbemerkt von den andern, ihm gerade gegenüber.

"Zu dumm," sagte er, "daß der alte Doktor ein Haus dicht neben das Krankenhaus gebaut hat. Daß man fremde Menschen immer so dicht auf dem Leibe haben muß!" — "Der Alte hat es für seinen Schwager gebaut. Und nun ist der auch tot." — "Ja, das hab' ich gehört. Wenn ich in der Lage wäre, noch mehr Geld in Häuser zu stecken, so würd' ich es kaufen, trotzdem ich keine Verwendung dafür habe." Josefine wandte sich kaum merkbar um, vermutlich um zu sehen, ob Ragni noch da war. "Ich glaube nicht, daß es zu verkaufen ist!" sagte sie. "Ich kenne die Erben." Eine Weile war es still.

Der Pastor schlug ein neues Thema an. Er hatte heut vormittag im "Morgenblatt" einen Artikel über die Unsicherheit der amerikanischen Verhältnisse im einzelnen und allgemeinen gelesen. Er sprach wie einer, der die Sache kennt, und wandte sich dabei stets an seine Frau. Wenn er einmal jemand anders ansah — wie eben Ragni, die ja aus Amerika kam — so war das nur vorübergehend; gleich wandte er sich wieder seiner Frau zu.

Pastor Tuft war ein recht stattlicher, hübscher Mann, besonders seit eine gewisse Behäbigkeit den knochigen Untergrund des Gesichts ausgefüllt hatte; die Stimme klang frisch, und die Melanchthonaugen strahlten warm in alles, was er sagte. Seine Worte und sein ganzes Auftreten hatten etwas Mildüberredendes; aber man fühlte hinter der Milde die Kraft!

Ganz unerwartet machte Josefine eine aufwärtsdeutende Bewegung mit dem Kopf. "Ja, natürlich, es ist Zeit, daß wir gehen!" sagte Tuft und stand auf. "Ich verschwatze mich immer. — Also, Ihr kommt mit, nicht?" Josefine stand auf, und ebenso Kallem. Aber der hatte auch noch eine Frau, die ihm Blicke zuwarf — graue — und sehr weiche. "Danke! Aber wir sind zu müde. Ein andermal!"

Damit geleiteten sie die beiden hinaus. Kallem trat dann ans Fenster und sah ihnen nach, wie sie hoch und stattlich davonschritten. Bald lag die Kirche hinter ihnen. Alle Vorübergehenden grüßten ehrerbietig. Als sie schon nicht mehr zu sehen waren, stand er noch da. Dann schlenderte er ein paarmal durchs Zimmer und schlug plötzlich einen Purzelbaum. "Du, hol mir doch Sören Pedersen und Frau Aase!" und gleich darauf war er draußen, um sie zu suchen. Aber sie waren nirgends zu finden. Sigrid berichtete, sie seien gleich gegangen, als Pastors erschienen. "Schockschwerenot! Pass' auf, jetzt trinken sie sich einen an! Lauf schnell und lade sie zum Nachtessen ein! Sag' ihnen, wir seien allein!" Das Mädchen rannte davon. "Laß nicht locker!" rief Kallem ihr nach. "Ob sie wollen oder nicht!"

"Hören Sie mal, Herr Sattlermeister!" sagte der Doktor, als die beiden wieder im Wohnzimmer standen, sie natürlich hinter ihm — "Hören Sie mal, der Herr Pastor sagt, Sie trinken, Sie und Ihre Frau, und er habe Sie nicht davon abbringen können?" — "Da sagt der Herr Pastor bloß, was wahr ist." — "Aber das ist eine böse Krankheit, Pedersen!" — "O ja — hinterher!" — "Wollen Sie es mir überlassen, Sie zu kurieren?" — "I, warum denn nicht, Herr Doktor! Aber im Ernst — es wird lange dauern." — "Zwei Minuten." — "Zwei Minuten?" Er lächelte. Aber bevor er ausgelächelt hatte, hatte Kallem ihn schon in der Gewalt seiner Augen, die einen mächtigen, verwirrenden Ausdruck haben konnten. Der Sattler wechselte die Farbe und wich zurück. Der Doktor ging ihm nach und hieß ihn sich setzen. Er gehorchte augenblicklich. "Sehen Sie mich an!" Aase wurde es fast übel. "Sie setzen sich ebenfalls!" sagte der Doktor über die Achsel zu ihr, und wie hingeweht saß sie auf einem Stuhl. Der Doktor hatte gestern sofort erkannt, wen er da vor sich hatte; es dauerte keine zwei Minuten, so war Sören Pedersen weg und ebenso Frau Aase, trotzdem diese nur zugesehen hatte. Der Doktor befahl ihnen, die Augen wieder zu öffnen; beide gehorchten sofort. "Nun hören Sie mich an, Pedersen: von jetzt ab hören Sie auf, Branntwein oder Spiritus in irgendwelcher Form zu trinken; auch keinen Wein, kein starkes Bier — eineneinen ganzen Monat lang! Hören Sie? Wenn der Monat vorbei ist — es ist jetzt halb sieben — so kommen Sie wieder hierher — auf die Minute!"

"Und Sie auch, Aase. So oft er trinken will, schreien Sie. Und hinterher singt Ihr beide." — "Wir können nicht singen." — "Einerlei? Ihr singt!"

4

Josefine verließ die Stadt. Sie nahm ihren Jungen mit nach der Westküste, wo er Seebäder nehmen sollte. Der Pastor wollte etwas später nachkommen; er hatte, seit er Pastor war, noch keinen Urlaub gehabt. Gleich nach dem Examen war er als Hilfsprediger hierher gekommen und hatte das Zutrauen der Gemeinde in so hohem Maße gewonnen, daß sie, als vor zwei Jahren die Stadt aus der Diözese ausgepfarrt wurde, einstimmig um seine Berufung einkam; und er erhielt das Amt. Fast sechs Jahre lang hatte er nun streng gearbeitet und konnte ein paar Wochen Ferien wohl gebrauchen. Josefine ging eines Tages zu ihrem Bruder hinauf, als er nicht zu Hause war, erzählte Ragni, daß sie verreise, verabschiedete sich und bat, den Bruder zu grüßen.

Ragni war sich sofort klar darüber, daß diese Reise nur ein Vorwand war, um sie nicht in die Gesellschaft einführen zu müssen; sie wollten nicht für sie eintreten. Zu Kallem, der weniger mißtrauisch war, sagte sie jedoch nichts davon. Er vergaß bald die ganze Geschichte; denn er hatte ungeheuer viel zu tun. Doktor Kent wollte ins Ausland, und Kallem mußte seine Praxis übernehmen zum Dank dafür, daß Kent vor Kallems Ankunft das Krankenhaus beaufsichtigt hatte. Der dritte Arzt am Ort war ein junger Militärarzt und augenblicklich bei den Übungen. Er hieß Arentz und zeichnete sich durch überaus breite, tadellos geplättete Vorhemden aus. Kallem erkannte in seinem korrekten Wissen Wort für Wort das Lehrbuch wieder — er mußte sich anfangs Mühe geben, ihn nicht "Niemeyer"[7] zu nennen; aber er mochte ihn seiner unbedingten Ehrenhaftigkeit wegen gern leiden. Da das Herumliegen auf Landwegen und Straßen Kallem unerträglich wurde, dachte er daran, Arentz zum Assistenten zu nehmen; wollte er selber ein freier Mann sein, so mußte er sich anders einrichten.

Ragni sah ihn nur mittags das Essen hinunterschlingen und spät abends heimkommen. Vielleicht saß er einmal ein Weilchen bei ihr auf der Veranda, oder ging im Garten umher und half ihr, wenn sie gerade bei der Arbeit war; aber selten. Er mußte wieder hinein, zu seinen Büchern. Anders gestaltete es sich, als sein Kollege wieder zurückkam; er glaubte, die versäumte Zeit nachholen zu müssen und fortan saß er beständig im Laboratorium oder in seinem Arbeitszimmer. Schließlich siedelte auch Ragni dahin über; sie bekam ihren eigenen Stuhl und ihre eigenen Bücherfächer; das Studierzimmer wurde zur Wohnstube.

Stundenlang lasen sie, jedes für sich, und wechselten kaum zehn Worte. Er versenkte sich immer mehr in ein langes, einsames Studium und ahnte nicht, was für einen Eindruck es machte, wenn er sich in einer Pause aufs Sofa warf, so lang er war, und sie ansah, ohne ein Wort zu reden, oder — wie es meist der Fall war — am Fenster stand und hinausstarrte. Kam er ins Zimmer zurück, so war es nur, um sich wieder ans Fenster zu begeben. Er behauptete, nirgends könne er so gut denken, wie da; das habe er von seinem Vater.

An seinem Heim hatte er eine große Freude; selten kam er nach Hause, ohne es zu rühmen, und dann wanderte er umher, sorglos und munter wie eine Schwalbe. Nach Tisch hörte er gern Musik, doch achtete er nicht immer darauf, was sie spielte.

Und sie? Von Tag zu Tag fühlte sie sich inniger in Wesen und Dinge ihres Heims ein. Ihn nannte sie wieder ihren "weißen Pascha", den Flügel "das Märchen". "Jetzt ein Märchen!" sagte sie, wenn sie spielen wollte, und gewöhnte es ihm ebenfalls an. Das Schlafzimmer nannte sie "zwischen den Sternen", die Tauben, die sie zu Pfingsten bekommen hatte, "meine Pfingstlilien", Sigrid "die Siebenarmige". Wenn sie und Kallem im Arbeitszimmer saßen und lasen, hatte sie das Gefühl, als segelten sie beide fort, jedes in seinem Boot, jedes nach seinem Land. "Wollen wir jetzt hinein und segeln?" sagte sie.

Er kannte dies Bedürfnis nach Bildern aus ihren amerikanischen Briefen. "Wir arbeiten uns jeder von einem Ende eines Welttunnels langsam zueinander hin", schrieb sie; und auf dies Bild vom Tunnel kam sie immer wieder zurück; zuletzt "waren sie einander so nahe, daß sie ihn sprechen hören konnte." Von den Dampfern, die "droben, über ihnen, aneinander vorbeischwammen mit ihren Briefen", schrieb sie: "die Sehnsucht des einen zieht und die des andern schiebt nach."

Eines Abends auf der Veranda — es regnete, aber sie selber saßen trocken unter dem vorstehenden Dach — sagte sie: "Solche Häuser müßten einen Kopf haben." — "Einen Kopf?" — "Ja, zwischen den Flügeln, wie jedes andere brave Huhn." — "Ach, so meinst Du's!" — "Ich habe immer das Gefühl, als säße ich unter Flügeln und würde bebrütet." — "Sag' mal, wie kommt es, daß Du in Deiner Kindheit nicht in den Bildern der Bibel heimisch geworden bist?" — "Weil ich einen Vater hatte, der mir, als ich zehn Jahr alt war, vom Ursprung der Arten erzählte; Pflanzen, Tiere und Menschen wurden zu einer Familie. Das war so etwas für mich. Als ich dann einen Stiefvater bekam, der Geistlicher war und behauptete, Erde und Menschen seien gleich bei der Erschaffung vollkommen gewesen und alles sei nur um der Menschen willen da, da glaubte ich das nicht. Außerdem war mein Vater ein stiller, kränklicher Mann, den ich lieb hatte, und mein Stiefvater ein starker, jähzorniger Mensch, den ich fürchtete."

Kallem fragte, ob sie ihm nicht einmal ihre Kindheit und Entwicklung schildern wolle. Aber darauf antwortete sie bestimmt: "Nein!"


Kristen Larssen arbeitete hin und wieder beim Doktor, — so bei der Einrichtung des Laboratoriums, des Ventilationsapparates usw. Mit einem schweigsameren, mißtrauischeren Menschen hatte Kallem es noch nie zu tun gehabt, aber auch noch nie mit einem klügeren. Eines Sonntags, Anfang August, kam er herauf, in seinem höchsten Staat — einem langschößigen, braunen Rock mit außerordentlich engen Ärmeln, einer karierten, zu kurzen Weste und einer grauen Hose von sogenanntem englischen Leder. Alltags trug er meist keine Kopfbedeckung; Sonntags, wenn er Staat machen wollte, trug er den Hut in der Hand; er konnte nichts auf dem Kopf ertragen, wenn es nicht ganz besonders kalt war. Jetzt stand er da im Studierzimmer, lang, hager, kurzgeschoren, reingewaschen, mit schwarzen Bartstoppeln. Das einzige halbwegs Freundliche an der ganzen Erscheinung war der über ein rotgewürfeltes Halstuch heruntergeklappte weiße Hemdenbund. Der Doktor bat ihn, Platz zu nehmen und fragte, was ihm fehle. Als Antwort kam erst ein forschender Blick, dann die Erklärung, er habe ja gar nicht gesagt, daß ihm etwas fehle.

Kallem merkte, daß es Larssen nach dieser Antwort nicht leicht fallen würde, mit seinem Anliegen herauszurücken; aber er dachte: Geschieht dir ganz recht!

Na ja, endlich sagte er denn, er wisse, die "Frau Doktern" sei fünf oder sechs Jahre in Amerika gewesen; ob sie ihm vielleicht ein paar englische Bücher leihen könne? Vielleicht würde sie ihm auch sagen, wie er sich am besten weiterhelfen könne; er habe auf eigene Hand ein bißchen Englisch gelernt.

Ob er denn ans Auswandern denke? — Ja, könnte schon sein; "aber hinübergehen, und drüben auch für die Norweger schuften ... dazu hab' ich keine Lust." — "Wie alt sind Sie?" — "O, so reichlich an die Vierzig!" Er sah aus, als sei er schon fünfzig. "Da fällt mir ein, Larssen, — meine Frau wird Sie sicher gern Englisch lehren, etwa abends." Nein, das wollte er unter gar keinen Umständen. Aber Kallem machte ihm begreiflich, daß man die Aussprache nur durch mündlichen Unterricht lernen könne. Im selben Augenblick kam Ragni herein, und der Doktor erklärte ihr, daß für Kristen Larssen die englische Sprache gleichbedeutend sei mit einem paar Flügel. Erst wurde sie ein bißchen rot; es war keineswegs die einzige unangenehme Aufgabe, die Kallem ihr aufbürdete; er schien wirklich der Ansicht zu sein, sie habe nicht genug zu tun. Sie selber war der Ansicht, daß sie gern möglichst frei sein wollte. Aber während sie so stand und Kristen Larssen ansah, und daran dachte, wie Kallem gesagt hatte, er habe noch nie einen klügeren Menschen getroffen, wurde sie von Mitleid erfaßt. Eben vertiefte er sich in ein englisches Buch; er verstand zur Not, wovon es handelte. Und da erbot sie sich nicht nur, ihm zu helfen, sie nötigte ihm ihre Hilfe geradezu auf. Schon am selben Nachmittag um fünf Uhr kam er, und sie saßen zusammen am Tisch und buchstabierten sich durch einen leichten Text durch. Kallem kam nach Hause und sah die beiden Köpfe über dasselbe Buch gebeugt, der eine lang, dunkel und eckig, der andere klein, feingeformt, rötlich; ein eiskaltes, dunkles Gesicht, durchfurcht, verkniffen — ein warmes Frühlingsauge, eine blendende Haut, eine sonnige Laune. Sie hielt ihr Taschentuch vor den Mund und mußte sich offenbar zwingen, neben ihm zu sitzen. Kallem erinnerte sich jetzt, daß auch ihm schon Kristen Larssens unangenehmer Atem aufgefallen war. Er sorgte sogleich dafür, daß sie zwei Bücher bekamen und daß jedes an einer Seite des Tisches saß. Sobald sie konnte, machte sie sich davon. Um das wieder gut zu machen, lud Kallem Larssen zum Abendessen ein und versuchte, ihn zum Auftauen zu bringen; aber als er ging, war er noch ebenso kalt und vorsichtig wie beim Kommen. Jetzt begann dieser Mann ihn zu beschäftigen. Was in aller Welt war das für ein Mensch, und wie war er so geworden?

Bei Gelegenheit suchte er ihn unter einem Vorwand in seinem Hause auf. Hier traf er die Frau, ein mageres, dürres Frauenzimmer, dessen Kopf dicht in ein großes Tuch eingewickelt war; was der Mann zu wenig auf dem Kopf hatte, das hatte sie zu viel. Kein Kind. Kein Feuer auf dem Herd; sie koche immer gleich auf mehrere Tage, sagte sie. Vorsichtig und mißtrauisch ging sie ab und zu und strickte. Kallem dachte sich, sie müßten wohl übereingekommen sein, so dürftig zu leben, damit sie für die Reise zurücklegen konnten. Nur um einen Vorwand zu haben, hatte er einen Revolver mitgenommen, der nicht richtig funktionierte; die Waffe lag in einem Kasten, und er hatte den ganzen Kasten mitgenommen, dachte aber jetzt erst daran, daß auch die Munition darin lag. Er zeigte es ihr. "Ach, bei uns liegt viel solches Zeugs herum!" sagte sie und nahm den Revolver ohne eine Spur von Furcht in die Hand. "Der ist aber fein!" Und sie legte ihn in den Kasten zurück, schloß ihn zu und stellte ihn auf ein Wandbrett über der Werkzeugbank des Mannes. Brett und Bank lagen voll Sachen zum Reparieren; "er hat jetzt zu viel außer dem Haus zu tun," sagte sie, "das Kleinzeug da muß warten!" Der eine Raum diente als Werkstatt, Küche und Schlafstube. Eine Uhr an der Wand, ein Tisch, ein Bett, eine Schlafbank, drei hölzerne Stühle; sonst alles kahl; und überall ein scharfer, übler Geruch.

Den Rückweg nahm er am Sattlerladen von Sören Pedersen vorbei, dem er bei der Etablierung eines Geschäfts geholfen hatte, das recht gut ging. Da stand Kristen Larssen; in der einen Hand hielt er ein Glas, in der andern eine Flasche, und Sören Pedersen und seine Frau schrien oder sangen Glas und Flasche an; es klang wie ein langgezogenes, klägliches Hundegeheul. Kristen Larssen lachte — ein Lachen, wie es nur aus den tiefsten Tiefen des Menschen kommt. Eine breite Seligkeit lag in diesem weitaufgerissenen Maul — die innerste Offenbarung eines bosheitsvollen Herzens, das wildeste Freudenhalleluja des Entdeckers. Vielleicht auch ein Interesse für die beiden — wer weiß? Ob er das Tag für Tag so trieb?


Das Talent Kallems, andere in Arbeit zu setzen, sollte Ragni noch in höherem Grade kennen lernen.

In einer kleineren Gesellschaft bei Doktor Kent sollten sie den alten Pastor Meek und seine Enkelin, Tilla Kraby, kennen lernen; die beiden waren von ihrer Reise ins Ausland zurückgekehrt, wollten aber bald wieder von hier weg. Während ihres kurzen und wahrscheinlich letzten Aufenthalts in der Gegend wurden sie sehr gefeiert; auch diese Gesellschaft wurde ihnen zu Ehren gegeben, und Kallem und seine Frau, die sonst ganz zurückgezogen lebten, gingen heute nur hin, um sie doch wenigstens einmal gesehen zu haben. Die Ehrengäste ließen auf sich warten; und unterdessen wurde Ragni eine ungewöhnlich starke Dame vorgestellt, kaum dreißig, lebhaft und hübsch; gleich ihre ersten Worte jagten der jungen Frau einen Schreck ein. "Ich weiß nicht, ob es Ihnen unangenehm ist," sagte sie — — "ich bin nämlich die Schwester von Sören Kule." Als sie Ragnis tiefe Verlegenheit bemerkte, zog sie sie schnell beiseite: "Denken Sie nur ja nicht, daß ich es nicht ganz genau ebenso gemacht hätte, wie Sie!" flüsterte sie. "Noch dazu, wenn man einen Mann findet, wie Ihren!" — — und sie drückte Ragnis Arm. Sie war sehr gewandt und fesch und hatte keine Ahnung, wie sie das feine Geschöpf peinigte, das sie da am Arm hielt. Schon daß ihr Gesicht und ihre Figur von der "Walfischart" waren, war ja genug; Ragni kannte das alles so gut — bis auf die eigentümliche Bewegung der "Flossen"; sie mußte an Tran denken. Jetzt sah man den alten Pastor Meek und seine Enkelin eintreten; der Gastgeber und seine Schwester — Dr. Kent war nicht verheiratet — gingen ihnen entgegen — auch die übrigen fast alle. Zwischen das "Guten Tag!" und "Willkommen!" der Vordersten klang das: "Nein! wie prächtig er aussieht!" und "Was diese Tilla für Reisen macht!" der Fernerstehenden. Und während der ganzen Szene fragten Kallem und Ragni sich, wem die beiden ähnlich sähen; diese Gesichter hatten sie schon irgendwo erblickt.

Pastor Meek war über mittelgroß, breitschulterig, ein bißchen wohlbeleibt. Den Kopf, der breit und leuchtend war, trug er stark zurückgeworfen; dichtes, weißes Haar umrahmte das Gesicht. "Jetzt weiß ich's!" flüsterte Ragni. "Sie müssen verwandt sein mit dem jungen Menschen, dem wir am ersten Tag begegnet sind. Du weißt doch — der so schön war?" — "Ja, richtig! Dasselbe gewölbte Antlitz! Man könnte glauben, sie gehörten zu den Bourbonen." — Der Alte dankte für die Willkommgrüße mit einer tiefen, wohlklingenden, langsamen Stimme. Die Augen waren nicht unbefangen — eher forschend und resigniert. Kein Eindruck von Sicherheit, wohl aber von großem Wohlwollen und von Nachdenklichkeit. Jedesmal, wenn einer der höheren Beamten ihn anredete, kam etwas altmodisch Zeremonielles, Reserviertes über ihn. Der "neue Doktor" wurde vorgestellt, und Frau Lili Bing sagte, wie aus einer inneren Eingebung heraus zu Ragni: "Sie beide müssen zueinander passen! Darf ich vorstellen: Frau Kallem — Fräulein Kraby." Ein bißchen schüchtern begrüßten sie einander und sprachen bald darauf von dem jungen Mann, der ihr so ähnlich sah. Es war ihr Vetter, und er war sehr musikalisch. Dadurch kamen sie auf Musik zu sprechen und gingen den ganzen Abend überhaupt nicht mehr voneinander.

Selten — ja, Kallem ausgenommen, vielleicht niemals — hatte Ragni jemand gefunden, zu dem sie sich gleich so hingezogen gefühlt hatte. Dies stille und zugleich so lebhafte blonde Wesen hatte eine so liebenswürdige Art, und alles, was sie sagte, war so ganz ihr eigenstes Denken. Und in wenigen Tagen verließ sie die Stadt für immer! Es gab ihrem Zusammensein einen eigenen, wehmütigen Reiz, daß sie sich heute wahrscheinlich zum ersten- und letztenmal sahen. Es bewirkte auch, daß Ragni später, als der Gastgeber sie in seiner schalkhaften Weise bat, etwas zu spielen, gleich bereit war. Sie wollte der neuen Freundin soviel von sich geben, als sie konnte.

"Bitte," flüsterte sie ihr zu, "stellen Sie sich so, daß ich ein vertrautes Gesicht vor mir habe!" Dann stimmte sie "Solvejgs Lied" aus "Peer Gynt" an. Man hatte ein Bravourstück erwartet, nicht ein einfaches Lied; aber als sie es auf dem Flügel zu Ende "gesungen" hatte, waren alle so hingerissen, daß der Bürgermeister, der bei solchen Gelegenheiten gern das große Wort führte, um Wiederholung bat. Sie spielte es noch einmal. Darnach den unvergleichlichen, humpelnden Gnomenmarsch aus derselben Suite; und gleich darauf Seimers "Kinderspiel" — der feinste, anmutigste Gegensatz. Sie spielte es mit derselben tiefeindringenden Interpretation des kleinsten Details. Dann eine Weise von Sinding — im alten Stil — jeder Ton ein Wort für sich; dann eine heitere, kernfrische Melodie von Svendsen; zum Schluß den Festmarsch von Seimers. Heute hatte sie keine Angst; ihre Augen wanderten mit reicher Botschaft zu Tilla, von ihr zu den anderen — — reine Märchenbotschaft! Die Gesellschaft war ganz hingerissen; der Bürgermeister wanderte durch die Zimmer wie eine schmetternde Trompete. Der alte Meek kam voll altfränkischer Ehrerbietung; "Großvater ist so musikalisch!" flüsterte Tilla.

Eine Stunde darauf verabschiedete sich der alte Meek; er blieb nie länger in Gesellschaft. Seine Enkelin begleitete ihn; Kallem und Ragni schlossen sich an.

Der Abend war milde, trotzdem es Ende August war, Tage, an denen die Übergänge in der Temperatur nach Sonnenuntergang meist schroff sind; immerhin nicht so mild, daß Sommermäntel und Überzieher überflüssig gewesen wären. Überall Spaziergänger. Als man beim Doktorhaus angelangt war, fragte Ragni, die sonst so zurückhaltend war, ob sie nicht mit hinein kommen wollten. Und der alte Pastor erwiderte voll Galanterie, wenn sie die Hoffnung hegen dürften, noch ein bißchen Musik zu hören, so sei ihnen die Einladung nur zu willkommen. Die Lampen im Verandazimmer wurden angezündet, der Flügel wurde geöffnet, und eine italienische Barkarole ruderte zu den offenen Fenstern hinaus. Der alte Meek war ganz beglückt und wagte sich mit der Frage heraus, ob nicht sein Enkel, der hier die Schule besuche, einmal kommen dürfe, um die Frau Doktor spielen zu hören — natürlich bloß, wenn es ihnen nicht ungelegen sei. Er sei leider ein solcher Musiknarr, daß er mit neunzehn Jahren noch nicht einmal sein Abiturium gemacht habe. Aber weil man das Unglück nun eben nicht ändern könne, so sei es immerhin das Beste, wenn er nur gute Musik höre. Ragni erwiderte, es würde ihr ein Vergnügen sein. Kallem fragte, ob er den jungen Mann aufsuchen und es ihm sagen solle. Dafür war der Alte ungeheuer dankbar und sagte, er wäre dem Doktor noch dankbarer, wenn er ihn auch gleich untersuchen wolle; denn irgend etwas sei da nicht in Ordnung. Kallem sagte, er habe das schon gemerkt; er glaube auch zu wissen, was es sei.

Jetzt setzte sich der Alte an den Flügel.

"Da sollen Sie eins von seinen Liedern hören!" sagte er. Und mit Fingern — viel weniger steif, als man es ihm zugetraut hätte — und einer Stimme, so leise, als ob man mit dem Finger an eine Kirchenglocke rühre — vor allem mit einer ganz eigentümlichen Anwendung der Fistel, summte er:

Wann wird es wirklich Morgen?
Wenn goldner Strahlenglanz
Über Firnen hüpft im Tanz,
Tief in den Abgrund dringend,
Beschwingend
Den zum Lichte kletternden Stengel,
Daß er sich träumt als seligen Engel.
Dann ist es Morgen,
Wirklich, wirklich Morgen.
Doch wenn's wettert und sprüht,
Und krank mein Gemüt,
Kann das Morgen sein?
Nein.
Wohl ist es wirklich Morgen,
Wenn Blümlein im Frühlicht blinken,
Und Vöglein Tautropfen trinken
Und zwitschernd dem Baum zum Lohne
Eine Krone
Von jungfrischem Grün versprechen,
Vom Meere erzählen den sehnenden Bächen.
Dann ist es Morgen,
Wirklich, wirklich Morgen.
Doch wenn's wettert und sprüht
Und krank mein Gemüt,
Kann das Morgen sein?
Nein.
Wann wird es wirklich Morgen?
Wenn die Kraft, die das Leid durchdringt,
Sonne der Seele bringt,
Wenn in deinen Armen
Erwarmen
Alle die Menschen, groß und klein,
Dann gegen alle nur gut zu sein.
Dann ist es Morgen,
Wirklich, wirklich Morgen,
Die gefährliche Kraft,
Die das Höchste schafft,
Ist sie's, die dir nah?
Ja.

Melodie wie Begleitung waren ganz eigenartig. "Wie das sich Hals über Kopf hinauswirft!" sagte Ragni. Kallem fragte, was das für ein Frauenzimmertext sei. Tilla erwiderte, er habe in irgendeiner Zeitung gestanden; wahrscheinlich eine Übersetzung. Als aber die andern gegangen waren, vertraute Ragni ihrem Mann an, der "Frauenzimmertext" sei eine von ihren Übersetzungen. Sein Vetter habe sie an ein norwegisch-amerikanisches Blatt eingeschickt, und von da sei sie weitergegangen. Dies Zusammentreffen bewirkte, daß Kallem schon am nächsten Tag Karl Meek aufsuchte, und daß dieser drei Tage darauf samt Klavier, Büchern und Kleidern in dem großen Giebelzimmer in Kallems Haus installiert war — in der Stube, die nach dem Park hinausging. Kallem hatte auch den stärksten Widerstand von seiten Ragnis überwunden.

5

Fortan saß ein langhaariger, aufgeschossener Mensch mit am Tisch, — die Beine um die Stuhlbeine geschlungen — und mit schmalen, roten Fingern, die voller Frostbeulen waren und so feucht, daß Ragni es nicht über sich brachte, sie zu berühren. Auch reden konnte sie nicht mit ihm, nach dem, was Kallem ihr von ihm gesagt hatte; all das Schöne, das sie bei der ersten Begegnung an ihm gesehen hatte, war durch diese Worte wie ausgelöscht. Er trat hastig ein, als habe er es sich eingeübt; und regelmäßig blieb dann sein Rock oder sein Ärmel an der Türklinke hängen, oder die Tür wollte nicht beim ersten Versuch zugehen — oder er verhedderte sich mit den Beinen, oder er riß einen Stuhl um oder rannte mit dem Mädchen zusammen, die etwas hereingebracht hatte und wieder hinausging. Er sah den Menschen nie ins Gesicht; die schönen Augen waren schläfrig und erloschen, die Gesichtsfarbe aschgrau; er studierte das Muster auf dem Teller und dem porzellanenen Brotkorb, die vor ihm standen. Nie redete er ein Wort. Wenn jemand ihn ansprach, fuhr er auf, und antwortete "Ja" oder "Nein" — als habe er glühende Kohlen im Mund. Aber fressen tat er — nach Ragnis Ausdruck — wie ein Scheunendrescher. Und wenn er dann mit den feuchtkalten Händen an seinen Hosen herunterstrich oder sich durch das dicke, fettige Haar fuhr, dann war er noch schlimmer als Kristen Larssen!

Jeden und jeden Tag diesen ekligen Bengel am Tisch! Und abends Kristen Larssen! Dazu noch die vielen alten Weiber, die Kallem ihr schickte, damit Ragni sie mit wollenem Zeug versehe! Kinder, die sie oft von Kopf bis zu Fuß neu kleiden mußte, — alle seine Tuberkulosefreunde!

Nicht nur, daß die Menschen an sich ihr unangenehm waren; sondern daß alle Türen offenstanden —! Sie hatte keine Freistatt mehr, war nicht mehr Herr ihrer Zeit! Mit ihm darüber zu sprechen, — was hatte das für einen Zweck? Wenn das, was ihr die tiefste Qual bereitete, seine höchste Freude war? Ein bißchen Eifersucht war auch dabei: er hatte überhaupt keinen Blick mehr für sie und das, was ihr lieb war! Die Sache mit seiner Schwester ließ er auch einfach so hängen. Pastors waren schon längst wieder da. Josefine hatte eines Morgens einen flüchtigen Besuch gemacht — im Garten — und hatte Blumen vom Grab des alten Kallem gebracht; die beiden Schwäger trafen sich auf der Straße und an den Krankenbetten; auch seine Schwester traf Kallem bisweilen dort; sie tat viel für die Armen. Aber weder kam sie zu ihm, noch er zu ihr; Pastors gaben auch keine Gesellschaft für sie, wie jedermann doch erwartet hatte; sie gaben überhaupt keine Gesellschaften mehr. Ragni war sich keinen Augenblick unklar über den Grund. Kallem merkte nicht, wie dies Unausgesprochene sie peinigte, auch nicht, daß es ihr in gewisser Art die Stadt verschloß. Und sie mochte ihn damit nicht quälen. Er hatte die ganze Freiheit des vielbeschäftigten Mannes, der über alles hinweggeht, was ihm nicht "bequem" ist. Bei seiner täglichen Jagd auf Tuberkulose waren ihm die alten Weiber und die Kinder, die er angeschleppt brachte, weit wichtiger als "diese ganzen religiösen Katzbalgereien", — leider auch wichtiger als die Anmut und Traulichkeit, die ihr ein Lebensbedürfnis waren.

Ganz hinten in dem großen Krankenhausgebäude war ein langgestrecktes Vorratshaus, mit Holzschuppen usw. Dort richtete Kallem einen Turnsaal ein, und dorthin ging's in Gesellschaft des aschgrauen Burschen jeden Abend von sechs Uhr an. Solange das dauerte, kam er pünktlich nach Hause, machte selber seine Turnübungen, forderte seinen Begleiter zu einem Wettstreit heraus und brachte Ordnung und Schwung in die Sache. Der verschüchterte Junge hatte, seitdem er ins Haus gekommen war, sein Klavier kaum angerührt; er war zu befangen der Hausfrau gegenüber. Deshalb setzte sich Kallem täglich gegen Abend eine halbe Stunde mit einem Buch zu ihm aufs Zimmer; und während der Zeit mußte Karl spielen. Als Arzt hatte er sich sein Vertrauen erzwungen und war nun mit immer wacher Freundlichkeit auf dem Posten, und bald kam der Junge wirklich schon viel sicherer ins Wohnzimmer und schlich auch nicht gleich wieder heimlich hinaus. Schließlich — auf eindringliches Zureden Kallems — faßte sie sich ein Herz und sagte eines Sonntagmorgens zu Karl: "Gehen Sie nicht auf Ihr Zimmer, bitte! Wollen wir nicht einmal ein bißchen vierhändig spielen? Wir nehmen etwas ganz Leichtes!" fügte sie hinzu. Verzweiflung erfaßte ihn; aber das Glück wollte, daß er fast seinen Klaviersessel umriß, als er sich setzen wollte, und beim Rettungsversuch beinah auch ihren umwarf — und darüber kamen sie beide ins Lachen, und das half über das Schlimmste hinweg.

Da saß sie nun — frisch und schlank, in einem rotseidenen Kleid, um Hals und Handgelenk Spitzen, die weißen langen Spielfinger neben seinen schmalen, roten; ihr geistvolles Gesicht oft ihm zugewandt; ein Resedaparfüm entströmte ihrem Kleid — ein Duft ihrem Haar ... Er zitterte vor Verlegenheit. Wie häßlich er sich selber vorkam! Und wie sein eigenes Haar roch! Er strengte sich so an beim Spielen, daß er bald ganz müde war und lauter Dummheiten machte. "Sie sind gewiß nicht recht aufgelegt heute!" sagte sie und stand auf.

Wie ein begossener Pudel zog er ab; er wand und krümmte sich — er wollte davonlaufen — zum neunundneunzigstenmal. Mittags kam er nicht zum Essen, war überhaupt im ganzen Hause nicht zu finden. Kallem fragte nach ihm. Da erzählte Ragni, wie kläglich es gegangen sei; schon nach einer halben Stunde sei er müde gewesen. Ein junger Mensch, der so wenig leisten könne — das sei ihr einfach widerlich! "Ach, Du mit Deiner ewigen Ästhetik!" Und er machte sich auf die Suche nach dem Jungen, opferte seinen ganzen schönen Sonntagnachmittag und kam endlich, gegen Abend, mit ihm zurück. Drinnen, im Studierzimmer, beteuerte sie flüsternd, sie wolle lieb sein jetzt. Und Kristen Larssen kam, und geduldig wie ein geprügelter Hund setzte sie sich zu ihm und las mit ihm Englisch.

Anfangs hatte sie mit diesem wunderlichen Menschen Mitleid gehabt; aber in seiner Gesellschaft, unter dem Hauch seines Atems gefror sie zu Eis. Eben darum fand sie es selber gräßlich feig, daß sie weitermachte, ohne zu mucksen; aus Mitleid geschah es ganz gewiß nicht! Zäh, — pünktlich auf den Glockenschlag, erschien er in seinem langen, braunen, engärmeligen Rock, mit dem unerträglichen, jahrealten Schweißgeruch des Arbeiters, der aus Kleidern und Körper aufstieg. Der Atem drang über den ganzen Tisch herüber; sie fühlte ihn, sogar wenn er nicht bis zu ihr drang. Kristen Larssen zog den Stuhl vor, setzte sich, schlug sein Buch auf, und wenn er die Stelle gefunden hatte, bohrte er seine kalten, fürchterlichen Augen in ihre warmen, angstvollen Taubenblicke, die furchtsam im ganzen Zimmer umherflatterten. Seine langen, dunkeln Finger, schwarz behaart wie die ganze Hand, griffen fest zu; die Finger der Linken um das Buch, die Rechte fuhr nach. Dann räusperte er sich; und endlich begann er; in der Regel mit irgendeiner Frage, die noch auf die vorige Lektion Bezug hatte, immer klug, — immer mißtrauisch auf irgendeinen Irrtum, einen Mangel an Verständnis oder Logik bei ihr lauernd. Er machte sie unsicher, selbst in den sichersten Dingen.

Wenn er so dasaß und langsam, wohlüberlegt sich Wort für Wort durcharbeitete, und sie sich einmal unterstand, ihn zu unterbrechen, weil er einen Fehler gemacht hatte, so setzte er seine Finger nur um so fester auf, um ja die Stelle zu behalten, wo sie ihn unterbrochen hatte; und dann blickte er auf — unwillig, mißtrauisch. Sie wiederholte ihre Korrektur — unsicher, bang; aber nie konnte sie es ihm klar genug machen; immer mußte er um eine noch deutlichere Erklärung bitten. Also sagte sie es zum drittenmal, und endlich war er so gnädig, es hingehen zu lassen — auf ihre Verantwortung! Und sooft sie unterbrach, wußte sie es — wußte, was jetzt kommen würde, wußte, daß der böse Atemhauch sie überfluten würde, Welle um Welle.

Was es diesen Mann kostete an Arbeit, daß er so sicher aufzutreten vermochte, niemals einen Fehler, der einmal berichtigt worden war, wieder machte, was für Fähigkeiten in ihm steckten, daß er diese vielen seltsamen Fragen, die jedem Philologen Ehre gemacht hätten, überhaupt stellen konnte — das übersah sie keineswegs. Aber immer war er ihr fürchterlich — von innen heraus fürchterlich. Er war so ganz und gar wie ein alter Affe, den sie einmal gesehen hatte, der ehrbar mit einem silbernen Löffel speiste. Und dieses Bild umschwebte ihn verzerrend, wie zur Rache.

Ein sehr angenehmes Verhältnis entwickelte sich daneben in ihrem täglichen Leben: das Zusammenarbeiten mit dem Mädchen. Sie freundeten sich an. Beide gleich geschickt — Ragni im Anordnen, das Mädchen im Ausführen. Ragni arbeitete gern und rasch; das Mädchen war klug und wißbegierig. Eins freute sich am andern.

Vierzehn Tage nach dem mißglückten Versuch mit dem Vierhändigspielen sagte sie zu Karl Meek: "Was meinen Sie? Wollen wir's noch einmal versuchen?" — "Danke, nein ... es geht doch nicht!" erwiderte er entsetzt. — "Ich habe schon etwas Vierhändiges hervorgesucht, das Ihnen sicher nicht zu schwer ist!" — Und sie legte es aufs Klavier, während er — auf zwei Meter Abstand — stehen blieb und herüberschielte, rot und immer röter wurde und sich mit den Händen durchs Haar fuhr. "Kennen Sie das?" Er antwortete nicht; das war ja eins von seinen Stücken! "Bergbach" hatte er es betitelt; er hatte es oben auf seinem Zimmer Kallem öfters vorgespielt. Da stand es — für vier Hände gesetzt; sie wollte auf diese Weise alles wieder gut machen.

"Also, kommen Sie!" Dasselbe rotseidene Kleid, dieselben Spitzen um die langen Spielfinger — dieselbe Büste — dieselben seltsam traumvollen Augen, die ihn manchmal anblickten, daß er erschauerte. Aber er selber war heut auch neu gekleidet, und sein Haar und seine ganze Person zurechtgestutzt und gestriegelt. Und nun hüpfte unter ihren geschmeidigen Fingern der "Bergbach" hervor; wo Karl nicht folgen konnte, wartete sie, und nahm ihn dann wieder mit. Zuletzt ging es, wenn auch nicht gut, so doch immerhin nicht schlechter als das letztemal, und sie versprach gnädigst, nach diesem Anfang noch häufiger mit ihm zu spielen.

Er verbeugte sich und wollte gehen. "Heut ist Sonntag", sagte sie. "Sie haben doch nichts zu tun?" — "Nein." — "Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?" — "Gewiß ... wenn Frau Doktor ... ja, gern!"

Wie der Blitz war er wieder da in Überzieher und Pelzmütze, sie wartete schon in ihrem hübschen Kragen und flotten, amerikanischen Federbarett.

"Wir wollen meinem Mann entgegengehen." Und sie gingen. Sie fühlte, sie allein müsse die ganze Zeit über reden; und so schilderte sie denn die Schneestürme auf den amerikanischen Prärien, und was für Folgen sie für Menschen und Vieh hätten. Er sah, wie ihre Wangen sich nach und nach röteten, wie ihre kleinen Füße spielend ausschritten. Der Oktobertag war sonnenlos, aber nicht kalt. Die Felder dunkel, müde; der Laubwald im Entblättern. Aber er sah nichts von alledem; er war wie im Rausch: sie ging neben ihm her, sie, die feinste, die musikalischste Frau, die er kannte! Er hätte sich freudig für sie in den Straßenstaub werfen, sich erschießen, ins Wasser springen können! Und das war keine erdichtete Frauengestalt — sondern Frau Ragni Kallem, in ihrem roten Seidenkleid unter dem weichen Umhang und dem amerikanischen Federbarett, die Frau, für die alle seine Kameraden schwärmten. Ihre Augen sahen ihn an, und er wagte es nicht, ihnen auf den Grund zu schauen. Vor aller Blicken ging sie da neben ihm, unterhielt sich mit ihm. Und auch er fing an, zu erzählen, als sie vom amerikanischen Winter auf den Winter in den heimischen Wäldern zu sprechen kam. Sein Vater, der Sohn des alten Pastor Meek, war Arzt, hatte aber in ein großes Bauerngut des Waldbezirks hineingeheiratet und lebte nun dort als Bauer. Karl war oft mit ihm hinaufgewandert über das Flußeis — in die unendliche Einsamkeit der Waldberge; war mitgewesen beim Holzfällen, beim Fallenstellen, auf der Jagd. Er schilderte Landschaften und Eindrücke, von denen sie keine Ahnung hatte; schilderte das Aussehen eines Birkhahns, sein Werben und Spielen, seinen Flügelschlag, sein Geschrei so lebendig, daß sie ihn fortan nur noch "den Birkhahn" nannte.

Sie trafen Kallem nicht und gingen deshalb denselben Weg zurück. Noch einmal spielten sie das vierhändige Stück, und viel besser. Sie wollten es gut einüben und es eines Abends Kallem vorspielen, wenn er in seinem Arbeitszimmer saß. Kallem — das war für ihn das Höchste, was er kannte.

Nach und nach erlangte sie eine Art Herrschaft über den "Birkhahn"; sie gewöhnte sich an sein ovales Gesicht, sein ungleiches Wesen, — bald übermütig heiter, bald voll Mißmut, ungeduldig und auffahrend, demütig-unterwürfig -— mit kurzen Anfällen von Fleiß und langem Dolce far niente; ungeheuer geschniegelt und dabei mehr als schlampig; sie fing an, ihn wieder fast schön zu finden, und überwand sich sogar, ihm die Hand zu geben. Sie half ihm bei seinen Schularbeiten, besonders beim Englischen. Seine Kenntnisse waren so ungleich, daß Kallem ihm vorschlug, lieber die Schule zu verlassen und in Privatstunden das nachzuholen, was ihm fehlte; er schrieb auch in dieser Angelegenheit an Karls Vater. Seitdem saß Karl oft mit seinen Büchern und Aufsätzen im Wohnzimmer, lernte, spielte Klavier, spielte Klavier oder lernte — für sich oder mit ihr.

Nachmittags konnte man ihnen auf langen Spaziergängen begegnen. Sobald der erste Schnee gefallen war, — er kam schon Anfang November — gingen sie Kallem entgegen und fuhren mit ihm heim — jedes auf einer Schlittenkufe. Als die Bucht zufror, gehörten sie draußen auf dem Eis zu den Allereifrigsten. Nur einen Sport betrieben Kallem und Karl für sich allein: Karl sollte auf den Händen laufen lernen. Mit ungeheurem Ernst hob der Doktor die langen Beine des andern in die Höhe und hielt sie fest, während Karl zu gehen versuchte, bis er nicht mehr konnte. Anfangs nur im Turnsaal, bald aber auch im Zimmer, auf dem Flur, auf der Treppe, vor dem Mittagessen, vor dem Abendbrot. "Beine hoch, Junge!" Wie Ragni lachte, wenn sie immer wieder herunterpurzelten! Nach und nach aber wurde er eifrig. Einmal mußte es ja doch gelingen! Es gelang nämlich nie — — er war "zu lappig"! Schließlich wurde es für ihn eine Ehrensache; und für sie im Grunde ebenfalls. Es war ihr ganz ernstlich darum zu tun, daß er ein "ganzer Kerl" wurde; sein weiches Wesen, sein Hang zum Träumen, zum "die Zeit verquasen", verdroß sie; und das sagte sie ihm auch. Aber Vorwürfe vertrug er nicht und wurde fast ungezogen. Dann strafte sie ihn durch kühle Zurückhaltung. Es half ihm nichts, daß er zerknirscht war, daß er hundert Annäherungsversuche machte, daß er sogar weinte, — sie ließ ihn in der tödlichen Angst, daß sie ihn bei Kallem verklagen werde; sie half ihm ohne eine Miene, ohne ein Wort, das nicht zur Sache gehörte; sie ging nicht mit ihm spazieren, sie sah ihn überhaupt nicht — bis sie in Kallems Gegenwart wieder redete, als wenn nichts geschehen sei. Von dieser Schattenseite ihres Zusammenlebens hatte Kallem keine Ahnung.

Kallem hatte keinerlei Verkehr; er hatte keine Zeit dazu. Seine Praxis mußte er einschränken, weshalb er auch mit seiner Absicht, Doktor Arentz, den jungen Militärarzt, zu seiner Hilfe heranzuziehen, Ernst machte. Ende November wurde das geordnet, und fortan nahm er mehr teil an dem Zusammenleben und dem Unterricht, die dadurch festeren Halt gewannen.

Karl Meeks Vater kam eigens zu dem Zweck in die Stadt, um ihnen beiden zu danken und sie zu bitten, zu Weihnachten mit seinem Sohn in ihr Waldnest hinaufzukommen. Otto Meek war größer und stärker als sein Vater, sein Gesicht großzügiger — mehr "bourbonisch"; aber es hatte etwas Schwermütiges oder besser gesagt Schweres. Kallem nahm die Einladung an und traf sofort die nötigen Verabredungen mit seinen Kollegen, damit er abkommen könne. Aber als die Zeit herankam, wurde Doktor Kent krank, und Ragni mußte, so ungern sie es auch tat, mit Karl allein reisen; Kallem wollte nachkommen. Ein Reisepelz wurde für sie gekauft, pelzgefütterte Stiefel und ein Fußsack, auch eine kostbare Pelzmütze, ein Geschenk Karls. Wie eine Grönländerin sah sie aus, als sie alles anhatte.

Kallem begleitete sie zur Bahn; Ragni hatte ein bißchen geweint — es war die erste Trennung, seit sie verheiratet waren. Als sie schon im Zug saß und Kallem noch vor dem Wagen stand, wollte sie wieder heraus; Kallem mußte einsteigen und schelten. Sobald der Kummer gestillt war, stieg er wieder aus und blickte Karl an, der frisch und fröhlich dasaß. "Hör' mal, lieber Birkhahn, von heut ab sag ich Du und Karl zu Dir! Du bist ein braver Junge!" Karl aber sprang heraus und fiel ihm um den Hals.

Dann fuhren sie davon.

Kallem arbeitete und fand es gar nicht so übel, daß er einmal völlig Frieden hatte; sie hatten ihn in der letzten Zeit doch recht gestört. Aber schon am dritten Tage, dem heiligen Abend, war es ihm langweilig. Er nahm sich vor, sie zu überraschen; Doktor Kent ging es besser.

Am heiligen Abend, als er eben von Kent kam und ins Krankenhaus wollte, sah er von fern eine Menge Menschen vor dem Tor stehen. Ein Langschlitten mit einem Pferd davor fuhr gerade heraus; im Schlitten lagen Stroh und Betten — man mußte einen Kranken gebracht haben. Er hörte Kinder weinen. Wer war da verunglückt? Maurer Andersen war's — der Mann, der Kallem und Ragni an ihrem Ankunftstag in der Stadt oben vor dem neuen Haus begrüßt hatte. Im Winter, während das Handwerk brach lag, zog Maurer Andersen als Hausierer umher, und auf einem steilen Waldweg hatte er sich verirrt, war abgestürzt und nur durch einen Zufall hatte man ihn gefunden. Drinnen bei den Krankenschwestern traf Kallem die untröstliche Frau, die erzählte, wie der unermüdliche Mann noch bis Weihnachten herumgewandert sei; damit er zum heiligen Abend daheim wäre, habe er einen abkürzenden Weg eingeschlagen — er sei nun mal so ein "Haushammel". Aber er habe schwache Augen und sei auf seinen Finnenschuhen abgerutscht und gestürzt und habe das Bein gebrochen. Und da liege er nun, und könne sich nicht rühren. Das sei nun sein Weihnachten! "Und wir haben gewartet und gewartet!" schloß sie. "Und erst die Kinder!"

Kallem eilte zu dem Kranken, der schon im warmen Zimmer im Bett lag. Der starke Mann mit dem großen braunen Bart, der über das Hemd wallte, war nicht wiederzuerkennen. Die Augen zusammengedrückt, die Lider geschwollen, starr. Die Schleimhaut des Auges ganz entzündet, die Hornhaut bedroht, und da ihn der geringste Lichtschimmer schmerzte, war vielleicht noch größere Gefahr im Anzug. Das Gesicht aufgedunsen, mit bläulichroten Flecken; die Finger an beiden Händen weiß und gefühllos; die Handrücken noch einmal so groß wie sonst und mit Wasserblasen bedeckt. Das rechte Bein war am oberen Ende der Wade gebrochen, und der Bruch ging bis ins Kniegelenk; die Wunde war so groß wie ein Markstück; ein Knochensplitter ragte daraus hervor — wie ein Finger. Dem gegenüber war die ganze übrige Verletzung des Beins überhaupt nicht von Bedeutung.

Andersen konnte kaum sprechen, und lallte nur dann und wann, das Bein dürfe nicht abgenommen werden. Das könne man erst am andern Morgen entscheiden, wenn es hell sei, beruhigte Kallem ihn immer wieder, während er ihn zurecht legte. Er ließ das Zimmer sofort halbdunkel machen, ließ Borwasserumschläge über die Augen legen und beorderte eine regelmäßige Aufsicht zum Wechseln der Kompressen. Das Gesicht des Kranken wurde mit Öl bestrichen und mit einer dünnen Watteschicht bedeckt; ebenso verfuhr man mit den Händen. Die Beinwunde wurde mit Karbolwasser ausgespritzt und eine kleine blutende Ader unterbunden; die Wunde dann mit Jodoform bestrichen, mit Watte umwickelt und in eine Drahtbandage gelegt. Wenn er aufwachte und sich schwach fühlte, sollte er alle zwei Stunden Naphtha bekommen — bei zu großen Schmerzen eine Morphiumeinspritzung.

Daraufhin schlief der Kranke ein, klagte jedesmal, wenn er erwachte, über unleidliche Schmerzen, weniger an der Bruchstelle als hauptsächlich im Schienbein, in der Nähe des Spanns; beständig quälte ihn die Angst, daß ihm der Fuß abgenommen würde.

Am nächsten Tag um neun Uhr fand Kallem ihn viel wohler, in jeder Beziehung. Auch die Gedanken waren klarer; aber fortwährend drehten sie sich um den Fuß, der erhalten bleiben sollte. Er äußerte den Wunsch, den Pastor, der sein guter Freund war, zu sehen; seine Frau, die eben da war, machte sich sofort auf den Weg, um den Pastor zu bitten, vor der Kirche bei ihm vorzusprechen. Unterdessen wurden die Augen des Kranken untersucht; sie waren weniger geschwollen, aber äußerst lichtscheu; man wandte Atropin an, und die Umschläge wurden durch eine leichte Binde ersetzt. Kallem war gerade im Krankenzimmer, als die Frau mit dem Pastor kam; er ging den beiden entgegen. Nach seiner Ansicht mußte Andersens rechtes Bein exartikuliert, d. h. unter dem Kniegelenk abgenommen werden. Aber das durfte der Kranke vorläufig noch nicht erfahren. Da brach die Frau, die bisher ihr Schicksal mit Fassung ertragen hatte, zusammen, so daß Kallem sie gar nicht hineinlassen durfte; der Pastor ging mit.

Es machte einen tiefen Eindruck auf ihn, als er in dem großen halbdunkeln Zimmer neben seinem kranken Freund stand und ihn daliegen sah, diesen Riesen, mit verbundenen Augen, unkenntlichem Gesicht, umwickelten Händen, und ihn klagen hörte. Aber bald fühlte er nur noch Bewunderung — so stark, so sicher war der Kranke im Glauben. Er äußerte den Wunsch, man möge heut in der Kirche für ihn beten; "Sie kennen mich ja alle!" sagte er. Der Pastor versprach ihm das. Dann aber betete er noch von Herzen am Schmerzenslager für den Kranken und seine Angehörigen. Das Gebet wirkte belebend auf den Kranken; er flüsterte: "Ich habe einen Bund geschlossen mit Gott, des Fußes wegen!" und lag dann ganz still, während der Pastor den Segen Paulus' sprach. Kaum eine Stunde darauf kam Doktor Arentz, und Andersen wurde in den Operationssaal geschafft. Man sagte ihm, er solle chloroformiert werden, damit man den Schaden gründlich untersuchen könne, und da die Schmerzen noch immer unerträglich waren, willigte er sogleich ein; "aber der Fuß darf nicht abgenommen werden!"

Die genauere Untersuchung ergab, daß das obere Ende des Wadenbeins bis schräg an das Kniegelenk hinauf zersplittert war, leider auch, daß eine größere Blutader zwischen den Bruchenden so eingeklemmt lag, daß sie mit einer großen Blutpfropfthrombe, die sich einige Zoll den Schenkel hinauf erstreckte, gefüllt war.

Das Bein wurde selbstverständlich abgenommen; in einer Viertelstunde war es geschehen.

Alle, die mit ihm zu tun hatten, erhielten strengste Anweisung, ihn in dem Glauben zu lassen, daß das Bein ihm erhalten sei. Man mußte ihn vor jeder Gemütsbewegung schützen, damit er ja nicht in Versuchung komme, sich aufzurichten, den Fuß zu bewegen oder seine Lage zu ändern; wenn ein Blutspfropfen sich von der Thrombe löste, konnte es mit ihm zu Ende sein. Er wurde in eine Stahldrahtbandage gelegt, die vom Hüftgelenk bis an das Bettende herunterreichte; der Stumpf wurde mit Karbolgaze und Jute verbunden und mit der Außenseite an einen langen Klotz festgebunden.

Jetzt wurde Andersen wieder geweckt, und man bedeutete ihm, sich ganz ruhig zu verhalten. Er bekam Wein, aber löffelweise, damit er sich nicht rührte, ebenso Fleischbrühe mit Eigelb; bald fiel er in Schlaf.

Sowie Kallem sich umgezogen hatte, ging er hinunter in das Zimmer der Pflegerinnen, wo die Frau wartete, und erzählte ihr den ganzen Hergang, wies sie auch auf die Gefahr hin, die drohte, wenn Andersen sich bewege. Er gewann ihr breites, kluges Gesicht mit der Adlernase geradezu lieb; eine reinere Seelenstärke hatte er kaum je gesehen. "Sollte es schlimm ablaufen," schloß er, "so haben Sie viele Freunde!" — "Gott lebt noch!" flüsterte sie.

Zwischen drei und vier Uhr erwachte Andersen, und bekam wieder löffelweise Wein, Brühe mit Eigelb, Milch; er versicherte, er fühle sich wohl, nur sein Schienbein tue ihm weh; manchmal fühle er Schmerzen in der Ferse. Im Lauf des Nachmittags stärkten sich seine Lebensgeister, und er wünschte, der Pastor möge wiederkommen. Gerade als die Frau ihn holen wollte, kam er von selbst. Kallem hatte ihn gebeten, zu tun, als ob der Fuß noch nicht abgenommen sei.

Es zeigte sich gleich, daß Andersen keinen anderen Gedanken hatte, als seinen Fuß. "Ich glaube, ich darf jetzt wohl sagen, daß Gott mich erhört hat!" sagte er; "dafür müssen wir ihm auch gebührend danken!"

Das rührte den Pastor, und er schickte sich an, ein warmes Dankgebet dafür emporzusenden, daß der Fuß dem Kranken ein Pfand der göttlichen Gnade geworden sei und ihn noch inniger mit seinem Erlöser verbunden habe. Andersen schien darüber nachzusinnen; endlich sagte er: "Jetzt müssen Sie noch beten, daß er mir auch später den Fuß nicht nimmt!" — Wie er darauf komme? — "Weil ich solche Schmerzen drin habe." — Aber eben habe er doch geglaubt, daß Gott ihn erhört habe? "Ja, aber man muß beten ohne Unterlaß!" Der Pastor weigerte sich; sofort wurde der hartnäckige Mann unruhig, und die Frau flüsterte flehend, der Herr Pastor möge Andersen doch den Willen tun. Da tat er's; aber er tat es mehr auf ihre Verantwortung hin als auf seine eigene, und es wirkte in ihm nach. Kallem war eben nach Hause gekommen, als der Pastor ganz blaß bei ihm erschien und erzählte, was vorgefallen war. "Das tu' ich nicht noch einmal!" schloß er. "Ich kann Dir versichern, Du hast ein gutes Werk getan!" Der Pastor stand in Überzieher und Mütze, die Hand auf der Türklinke, da; Kallems Worte und der Ton, in dem sie gesagt wurden, verletzten ihn. "Nur in der Wahrheit können wir uns dem Gott der Wahrheit nähern! Adieu." Der Doktor kam ihm nach: "Du glaubst also, wenn Du Andersen jetzt sagst, daß das Bein abgenommen ist, so kann ihn Gott erretten?"

"Ja!" antwortete der Pastor ärgerlich, ohne sich umzuwenden.

Kallem wagte unter diesen Umständen nicht, zu verreisen. Er schrieb ausführlich an Ragni und versprach, zu kommen, sobald er könne.

Am nächsten Morgen fand er alles in gewünschter Ordnung, betonte aber wieder, der Kranke müsse völlig still auf dem Rücken liegen, dürfe auch nicht so viel sprechen. Am Nachmittag verlangte Andersen das heilige Abendmahl, doch die Pflegerin entgegnete, er könne keine Gemütsbewegung vertragen. "Ich will meinen Bund mit Gott erneuern!" gab Andersen zurück.

Das wagten sie ihm nicht abzuschlagen; aber sie wagten es auch nicht zuzulassen, ohne vorher den Doktor zu fragen, und dieser war am Vormittag an ein Wochenbett gerufen worden. Die Krankenschwester beriet sich also mit dem Hausmeister, der von altersher allmächtig war im Hause. Auch ihm gegenüber wiederholte Andersen seinen Wunsch aufs bestimmteste, und der Hausmeister glaubte, man müsse ihm willfahren; er wolle die Verantwortung auf sich nehmen. Eine Weile darauf war der Pastor bei ihm in der Portierstube, um den Wein anzuwärmen; das Wetter war umgeschlagen, und es war ein bitterkalter Abend. Dann gingen die beiden hinauf. Andersen freute sich, als er hörte, wer kam. "Das wußt' ich!" sagte er.

Der Pastor fragte, ob er einen besonderen Wunsch habe.

"Jawohl."

Die ändern gingen hinaus. Jetzt erzählte Andersen, daß er in seiner Kindheit einmal einem Jungen ein Bein gestellt habe mit eben dem Fuß, der jetzt krank sei. Gott werde ihn doch nicht etwa dafür jetzt strafen wollen? "Nein, nein!" — Er sei nun aber einmal auf den Gedanken gekommen, und fühle das Bedürfnis, das heilige Abendmahl zu nehmen. — Weiter liege nichts Besonderes vor? — Nein. — Der Pastor bat ihn, sich zu sammeln; sie wollten miteinander beten. Andersen schwieg und sie beteten. Nach dem Gebet erteilte ihm der Pastor die Vergebung der Sünden und wollte ihm das Brot und den Wein reichen. — "Nein, warten Sie noch ein bißchen! Vergebung der Sünde habe ich nun; jetzt ist die Tafel blank. Jetzt schreiben wir den Fuß darauf, damit man's im Himmel lesen kann. Ich fühle mich so froh, so von Herzen froh!"

"Der ganze Mensch ist mit in den Bund einbegriffen, lieber Andersen." — "Ja, aber diesmal verspricht unser Herrgott meiner Frau und meinen Kindern, daß mein Fuß wieder gesund wird. Jetzt kommen Sie!" Und er streckte die erfrorenen Hände aus.

Dem Pastor trat der Schweiß auf die Stirn. "Das kann ich nicht!" flüsterte er, völlig ohne Bewußtsein dessen, was er sagte.

Andersens Lippen bebten, die umwickelten Hände tasteten umher; er wollte sich damit in die Augen fahren, stieß jedoch auf den Verband. "Wir können nicht in Gottes Ratschluß eindringen!" sagte der Pastor. "Gesetzt, — das, was wir wollen, wäre unmöglich?" War es ein Etwas in des Pastors Stimme, oder war es der Widerstand an sich, was Andersen mißtrauisch machte?

Ohne zu antworten riß er sich den Verband von den Augen, richtete sich auf, ganz rasch, warf die Decke zur Seite und fiel wieder auf das Kassen zurück. Er faßte nach seiner Brust, schrie, er müsse ersticken, und fing an zu keuchen und zu röcheln; ein Blutstropfen war in die Lunge gedrungen.

Der Pastor hatte das, was er in Händen hielt, weggestellt und eilte nach der Tür, vor der der Hausmeister und die andern warteten; sie rannten zu Doktor Arentz und Doktor Kent; aber noch eh einer von ihnen kam, war Kallem zurück. Der Pastor war schon fort. In der Nacht starb Andersen.

6

Der Hausmeister war der erste, der es büßen mußte. Noch am selben Tag mußte er aus dem Hause.

Sodann ging Kallem hinunter zu Andersens Witwe. "Sie sind eine außergewöhnlich tüchtige Frau. Wenn Sie wollen, können Sie den Hausmeister- und Verwalterposten am Krankenhaus haben. Greifen Sie zu, packen Sie gleich morgen Ihre Sachen zusammen und ziehen Sie mit den Kindern hinauf. Dann denken Sie weniger an Ihren Kummer! Haben Sie ein gutes Dienstmädchen?" — "Ja." — "Nehmen Sie die mit. Mehr ist nicht nötig. Alles andere finden Sie dort oben, und die Schwestern werden Ihnen helfen."

Die Oberschwester erhielt eine scharfe Zurechtweisung; aber dabei ließ es Kallem bewenden. Ihr Versehen konnte sie am besten dadurch wieder gut machen, daß sie Mutter Andersen nach besten Kräften unterstützte.

Den Pastor suchte er nicht auf; ebensowenig der Pastor ihn. Von andern hörte er, daß er erkrankt sei, und fand es auch ganz erklärlich. Josefine begegnete Kallem ein paar Tage später auf der Straße; sie tat, als sähe sie ihn nicht.

Wie dieser Vorfall wirkte, ist gar nicht zu beschreiben. Die ganze Stadt geriet in Aufruhr. War es nicht etwas Seltsames um den Glauben, wenn sogar der Glaube an eine Lüge einen Menschen vom sichern Tod hätte retten können?

Der Hausmeister und seine große Familie fielen natürlich dem Pastor und seiner Frau zur Last. Josefine mußte Geld herausrücken zu einer Buchhandlung — und zwar weit mehr, als ihr lieb war.

An diesem Mann hatte Kallem seitdem einen treuen und aufrichtigen Feind. —

Unmittelbar darauf fuhr Kallem nach dem Walddorf hinauf. Er meldete sich nicht an; er kam abends bei Mondschein vom Bahnhof her auf dem Gut angefahren, just als der Gutshof und die Landstraße draußen von angespannten Schlitten, vollen und leeren, wimmelten. Alt und jung wollte eine Schlittenpartie machen; von hier sollte die Fahrt ausgehen, und hierher wollte man am Schluß zurückkehren und noch tanzen.

Man beachtete den Ankömmling nicht weiter; man glaubte, er gehöre zur Gesellschaft. Erst als er im Flur stand, wo die Hausbewohner und Gäste sich eben anzogen, bemerkten einige, daß er fremd war; aber sie dachten nicht weiter darüber nach; es trotteten ja so viele pelzvermummte Gestalten aus und ein. Ragni hatte gerade ihren Pelz angezogen, als sie sich von rückwärts her umschlungen fühlte. Sie stieß einen Schrei aus und sah auf. Nein, war das eine Freude! Karl, der abseits in einer Ecke stand und sich gerade in seine Pelzstiefel hineinquälte, zog sie, ohne ein Wort zu sagen, wieder aus, ebenso Mantel und Mütze, schmiß die Beine in die Luft und lief Kallem auf den Händen entgegen; jetzt war die Kunst erlernt! Der Vater mit seinem mächtigen Haar und schwermütigen Gesicht stand daneben; er stellte Kallem seiner Frau vor, einem blassen, stillen Geschöpf; sie sprach den Dialekt der Gegend und hatte eine zarte Stimme — das war so ziemlich alles, was Kallem bemerkte. Es blieb ihm zu nichts anderem Zeit; er mußte einfach mitfahren.

Pferdegewieher und laute Rufe, Gekreisch und Gelächter, bis die Meldung kam, auf der ganzen Linie sei alles bereit; der erste Schlitten mit einer Dame und einem Pelzmann hintenauf, sauste davon; und ihm nach Schlitten auf Schlitten, breite und schmale, einspännige und zweispännige. Eine lange, wellenförmige Schnur mit grauschwarzen Knoten — im Mondschein — über das Schneefeld, dem Wald zu, in dem es bald zwischen den Stämmen widerhallte von Schellen, Hundegebell, Lachen und Geschwätz. Einige fingen zu singen an, andere fielen ein; aber es war unmöglich, Takt zu halten; zusammen stimmte es nie. Kallem saß mit seiner Frau in einem Breitschlitten; sie sah so reizend aus in ihrem vielen Pelzwerk, daß er nicht anders konnte — er mußte ihr ab und zu einen Kuß geben. Eine schwierige Aufgabe! Ach, und was sie alles erlebt hatte! Während er ihr zuhörte, wurde ihm klar, daß sie erst jetzt ihre Jugend erlebte! Nie hatte er etwas so Fröhliches gesehen! Nie hatte er gewußt, daß sie diesen Drang nach Freude in sich trug! Derselbe Gedanke kam ihm, später am Abend, als alles tanzte, spielte, lachte, schwatzte, tollte, aß: sie holte die Fröhlichkeit vieler Jahre nach. Ob ein dicker Waldbesitzer ihre zarte Gestalt umfaßt hielt und sie dahintrug, daß sie kaum mit den äußersten Zehenspitzen den Boden berührte; ob sie sich eins der Kinder geholt hatte und mit dem loswalzte, oder ob Karl oder irgendein anderer Gymnasiast oder Student sie links herumschwenkte wie einen Kreisel — immer dasselbe strahlende Gesicht, derselbe heilige Eifer. Tanz und Spiel gingen in einer Eckstube vor sich, die die ganze Breite des Hauses einnahm; aber oft flutete der Tanz auch in die anderen Zimmer, sogar bis in die Küche auf der andern Seite des Hauses hinüber. Die Küchentür stand offen. Ein paar ältere Herren versuchten, in einer Ecke ein Spielchen zu machen; aber sie mußten es aufgeben. In einemfort wurden sie zum Tanz geholt. Alt und jung — alles war gleich fröhlich.

Am andern Morgen um elf Uhr schlief Ragni noch, und als sie gegen Mittag hinunterkam, ein bißchen müde und taumelig und sehr verwundert, daß sie gar nicht gehört hatte, wie Kallem aufgestanden war, erfuhr sie, daß er abgereist sei. Ein Telegramm von Kent, dem es wieder schlechter ging, hatte ihn heimgerufen. Ein kurzer Brief, den er beim Frühstück noch hingekritzelt hatte, tröstete sie ein bißchen. Er schrieb, er habe sie nach der durchtollten Nacht nicht wecken, noch weniger sie mitnehmen mögen; aber eine größere Freude habe er noch nie erlebt, als sie so fröhlich zu sehen.

Das erste, was Kallem bei seiner Rückkehr vorfand, war eine Balleinladung vom "Verein". Die wollte er annehmen. Die Einladung war von der Hand seiner Schwester geschrieben (sie war im Vorstand) und lautete auf "Doktor Kallem und Frau". Sieh mal an!

Ob er an Ragni telegraphierte? Nein, er ließ sie lieber, wo sie war; besser konnte sie es ja nicht haben.

Indessen kam er selber in eine recht ernste Sache hinein. Sein erster Krankenbesuch noch am selben Abend galt einer armen Mutter mit vielen Kindern, Sissel Aune, einer Waschfrau unten in der Stadt, die an einer Lungenentzündung darniederlag. Hauptsächlich um ihretwillen hatte Kent telegraphiert. Der siebente Tag war ohne Krisis hingegangen, und wenn nun die kommende Nacht halb vorüber war, so war auch der neunte Tag vorbei. Würde sie ihn überleben? Der obere und der untere Lungenflügel waren angegriffen, das Herz begann auszusetzen, der Puls war sehr schwach — dazu noch andere schlimme Zeichen — sollte er dem Herzen in dem letzten Kampf mit Atropin nachhelfen? In einem solchen Fall war das Mittel noch nicht erprobt; aber immerhin — rationell war es. Wo er ging und stand, was er auch vornahm — überall verfolgte ihn diese Frage. Die fünf Kinder der Kranken waren bei Sören Pedersen und Aase untergebracht; in solchen Fällen waren die Zwei unbezahlbar.

Als er zum zweitenmal hinging, blieb er gleich da; es war ein Ringkampf — Aug' in Auge mit dem Tod.

Eine kleine, sehr saubere Stube mit drei Betten. Im Fenster ein kümmerlicher Geraniumstock, und an der Wand ein Bild von König Karl XV. zu Pferd — unter Glas und Rahmen —, ein paar mit Stecknadeln befestigte Photographien und eine Geige mit drei Saiten, die vierte hing herab. Die dalag, war dereinst eine schöne Frau gewesen, war sicher auch jetzt noch stark und kernig, wenn sie wieder gesund wurde. Jetzt lag sie da, abgemagert bis auf die Knochen, die zerschundenen Arbeitshände auf einer zerlumpten Decke. Aber der Mann, der neben ihr saß, der war nicht stark, wie sie — ach nein — der war ein rechter Schwächling! Ein gutes Gesicht, und verwandt mit der Geige an der Wand insofern, als vielleicht auch in ihm eine Saite gesprungen war, bis die dort an der Wand so verwahrloste. Müde, abgezehrt von Nachtwachen saß er da — allein —, nicht weil die Nachbarn ihm nicht geholfen hätten, sondern weil die Hilfe, die zuletzt am Bett gesessen hatte, eben ausruhte, bis das Schwerste beginnen würde. Es hatte Kallem gerührt, zu sehen, wie die Nachbarn zu beiden Seiten des Hauses Wache standen; sie wollten verhindern, daß allzu fröhliche Weihnachtsgäste hier vorbeizögen; nachts lösten sich die Wachen ab. Er hörte das von der Frau, die gegen elf Uhr wiederkam, um zu helfen. Es war nicht viel zu tun — außer für den Doktor, und der wußte nicht, ob er wagen dürfe, etwas zu tun.

Zuerst machte er eine Einspritzung von ein Drittel Milligramm; darnach wurde der Puls kräftiger. Kallem faßte Hoffnung, wagte aber nicht, sie den flehenden Augen des Mannes zu übermitteln. Sie konnte trügen. Ein paar Stunden lang hielt sich der Puls; dann sank er wieder. Wieder eine Dosis; und wieder hob er sich. In größter Spannung saß er da und beobachtete. Er hatte sich ein Buch mitgebracht, versuchte es, unter die Lampe zu halten, brachte auch dann und wann einmal Sinn in einen Satz, vergaß ihn aber sofort wieder. Gesprochen wurde gar nichts, nur gestöhnt und geseufzt. Der letzte Ruf aus der Ferne, das letzte Schellengeläute war längst verklungen, die letzte Tür geschlossen — die Nacht leer und grau. Fünf Kinder — das älteste zehn Jahre — konnten in jeder Sekunde ihre Versorgerin verlieren; und der Mann, der dort saß und bald nickte, bald sich über die Knie strich, bald die Ellbogen darauf legte und die Hände faltete — und von der Frau hinüberstierte zum Arzt — auch der verlor seine Versorgerin.

Sowie der Puls nachließ, eine neue Dosis; und immer wurde er wieder kräftiger; es schien also wirklich richtig, was er tat. Aber die Krise wollte nicht eintreten; es war Mitternacht vorüber, der neunte Tag war — demnach, was die Leute sagten — abgelaufen — und noch immer derselbe aufreibende Kampf. Kallem stand auf, zwischen Furcht und Hoffnung schwankend, nahm sein Buch, hielt es gegen das Licht, legte es wieder weg, und ging wieder ans Bett, um zu messen. Ja — jetzt war es bald zu Ende mit den Kräften. Der Mann sah es ihm an und kämpfte, um nicht laut aufzuweinen. Der Doktor gebot ihm Schweigen. Wieder ein Versuch; und bald darauf schlief sie ein. War es denn wirklich Schlaf? Die andern sahen ihn an und er sie. Er ging auf ein Weilchen vom Bett weg, um mit frischen Sinnen aufs neue zu horchen. Sie schlief! Einen ruhigen, echten Schlaf! Er wandte sich dem Manne zu, der es seinem Gesicht ablas; und ein Widerschein vom Licht des Lebens sprang von des Arztes Gesicht über auf seines. Der Mann stand auf — wieder krampfte alles in ihm sich zusammen — gleich würde es ausbrechen. "Gehen Sie zu Bett!" flüsterte der Doktor. Der Mann warf sich über eins der drei Betten, preßte das Gesicht in die Kissen, — und jetzt brach es los.

Flüsternd erteilte Kallem der Frau, die am Kochherd saß und sich jetzt erhob, seine Anweisungen. Er versprach, am Vormittag wiederzukommen. Sie half ihm in seinen Mantel; leise öffnete er die Tür und zog sie hinter sich zu. Aus dem trüben Wetter war starker Schneefall geworden; nirgends Licht, in keinem Fenster, nur das eine, das über dem neuentzündeten Lebensfunken wachte. Kallem konnte es sich nicht versagen, als er am Sattlerladen vorbeikam, anzuklopfen; aber die da drinnen schliefen fest. Er klopfte noch einmal; denn er wußte ganz sicher — die beiden hatten ihr Bett und ihre kleine warme Stube den Kindern überlassen und übernachteten selber im Laden. So war es auch! "Wer ist da?" fragte Sören Pedersens fünische Stimme. "Sagen Sie den Kindern, wenn sie aufwachen, daß ihre Mutter wieder gesund wird." — "Das ist aber ein Segen!" antwortete der Füne, und hinter ihm hörte man Aases hochländisches: "Ach nee — ist's denn die Möglichkeit?" — "Kommt morgen mit den Kindern zum Mittagessen zu mir!" rief Kallem.

7

Die ganze Nacht und den ganzen Tag ein unglaublicher Schneefall, und gegen Abend Sturm, der den frischgefallenen Schnee zu großen Wehen zusammenfegte. Der Sturm ging vorüber, doch der Schneefall dauerte mit ungeschwächter Kraft fort. Alles vom Lande, was auf den Ball wollte, mußte bis zur Stadt mit dem Schneepflug fahren; in der Stadt selber ging er heut schon zum zweitenmal. Zum Ball! Zum Ball! Der erste große Weihnachtsball!

Zum Ball! Zum Ball! In den größeren Städten, wo der Tanz ein Geschäft ist, das die Jugend abwechselnd in den verschiedenen Vereinen und Familien betreibt, hat man keine Vorstellung davon, was in der Kleinstadt alles von der Aussicht auf den ersten Weihnachtsball aufgewirbelt wird, besonders auch unter der ländlichen Jugend, die mit dicken Pelzen über dem Ballstaat zur Stadt fährt. Aber wie der Schneepflug gutmütig den überflüssigen Schnee beiseite fegt, so fegt die bestehende Sitte, die natürliche Schüchternheit mehr als die Hälfte von dem weg, was man sich zusammenphantasiert hat. Und was zusammenkommt, ist eine sittsame, ehrbare Gesellschaft, die sich anfangs gegenseitig kaum zu kennen scheint.

Kallem lag auf dem Sofa. Er war in bester Stimmung. Die prächtige Sissel Aune erholte sich; der Mann war heute ganz berauscht von Lebenslust und Branntwein, den die Nachbarn ihm eingegossen hatten. Die Kinder waren zum Mittagessen dagewesen, obgleich das Mädchen keineswegs davon erbaut war; in solchen Sachen war sie genau wie Ragni; die beiden waren sich überhaupt ähnlich.

Die Kinder von Sissel Aune waren nicht ganz so verlegen gewesen, wie die von Maurer Andersen, die auch dabei waren. Kallem hatte ihnen schlecht Klavier vorgespielt und war ihnen prachtvoll auf den Händen vorgelaufen, und der Sattler hatte unaufhörlich von Maurer Andersens Tod geredet: Maurer Andersen sei an der Wahrheit gestorben. "Und es gibt gerade genug, die von der Lüge leben, daß es wirklich einmal nottut, daß einer an der Wahrheit stirbt" — und ähnliches Gewäsch, das Aase höchst bedeutend fand.

Ein langer, strahlend vergnügter Brief von Ragni lag auf Kallems Bauch. Er hatte ihn schon zum zweitenmal gelesen. Karl hatte einen Bericht über ihr Befinden seit des Doktors Abreise beigelegt; ganz witzig — namentlich eine Beschreibung ihrer ersten Skitour (die auch ihre letzte war). Er hatte ihre tiefinnerlichste Feigheit gut gezeichnet.

Und jetzt mußte er also auf einen Ball, an dessen Spitze eine Pastorsfrau stand. Sie und ihre fesche Freundin, Frau Lilli Bing! Ob Josefine das wohl gegen den Willen ihres Mannes tat? Es war übrigens ein öffentliches Geheimnis; Lilli Bing hatte es ihm verraten. Die Pastorin war die gefeiertste Tänzerin der Stadt. Die Herren wetteiferten miteinander, nur um im Kotillon einmal mit ihr herumtanzen zu dürfen. Er sah sie vor sich — hochgewachsen, mit bloßem Hals, dunkeläugig, glühend vom Tanz. Ja, er wollte mit ihr tanzen! Er sehnte sich nach ihr — er verhehlte es sich nicht. Ragnis Brief legte er beiseite, ebenso den von Karl und das Buch, in dem er gelesen hatte; dann stand er auf, schraubte die Lampe nieder, sagte dem Mädchen Bescheid und ging hinauf, um sich umzukleiden!

Merkwürdig, wie das schneite! Nicht in Flocken, sondern in großen Fetzen, die einander jagten. Wäre es nicht windstill gewesen, man hätte überhaupt nicht den Weg gefunden. Die Laternen verdrossen; kaum daß ihr Schein über den Lichtkern hinausreichte; ringsum kein Laut. Der Regen hat Klang und Landschaft; der Schnee verdeckt alles; nie ist der Mensch so einsam, wie im Schnee. Nicht einmal einen Zaun hatte Kallem zur Begleitung; kein Stein am Weg, der ihn begrüßt hätte; kein Baum im Garten beugte sich vor ihm; er sah sie überhaupt nicht mehr; sie waren weg — eingehüllt — fort. Die Kirche stand noch da; aber umgewandelt in einen weißen Steinhaufen, mit einem weißen Stab darüber. Er und die Kirche — die Kirche und er; und sonst nichts! Die Häuser unten in der Straße wichen zurück; sie spielten Versteckens — mit ausgestreckten Pranken; die Pranken waren einmal Treppen gewesen. Und unten am Strandweg lagen ein paar umgestürzte Boote; sie sahen aus wie weiße Elefanten, die schliefen. Die Bucht ein Schneemeer; sonderbar — die Insel hatte sich losgerissen und war davongeschwommen; man sah sie nirgends mehr. Nach dem Kalender war Vollmond; und es war nicht ganz finster; obgleich auch der Mond weggeschneit war aus dieser verwunschenen Welt.

Kallem stapfte vorwärts wie ein umgestülpter Zuckerhut. Er und der Schnee, der fiel — das war das einzige, was sich regte. Nicht einmal aus dem Häuschen glommen Feueraugen, obgleich es kaum zehn Uhr war. Erloschen und zugeschlossen und zugeschneit. Nur die verdrossenen Lichtkerne in den Laternen bezeugten, daß hier zu Zeiten eine lebendige Stadt war.

Jetzt hörte er eine Klarinette dudeln und einen Baß rumpeln — Fuchs und Eisbär, die irgendwo miteinander hopsten. Es trippelte und es humpelte, die Schneeflocken rieselten herab, und die Häuser standen und faulenzten.

Endlich war er so weit gekommen, daß er inmitten eines qualmigen Feuernebels ein großes Haus erblickte; da drin war's — da dudelte es und stampfte. Und er steuerte drauf los.

War er fehlgegangen? Er platzte in eine Art Kneipe oder etwas ähnliches — mitten in Tabaksqualm, Punschdampf und Speisendunst hinein. Dort sah er ein paar dicke Herren wie Schweine in ihrem Fett hocken. Sie waren nicht im Ballanzug; wohl aber die andern, die eben hereinkamen. Und als er sich endlich zur richtigen Treppe durchgefunden hatte, begegneten ihm noch mehrere Herren im Frack, die an ihm vorbeistürmten, dem Tabak und dem Punsch zu. Kallem haßte und verachtete Tabak und Punsch und Wirtshausleben, und vor allem die Herren, die nicht tanzen konnten, ohne sich zu "stärken".

Man sollte nie zu spät auf einen Ball kommen. Er sah auf die Uhr — es war elf und nicht erst zehn, wie er geglaubt hatte — entweder war er zu spät nach Hause gekommen, oder er hatte zu lange gelesen. Ein paar glühende, schwitzende junge Leute, die eben aus dem Qualm auftauchten — jedesmal, wenn die Tür aufging, drang ein qualmiger Nebel heraus — begrüßten ihn und bestätigten dadurch sein Kommen; so ging er denn mechanisch weiter und zog seinen Überzieher aus. Im Flur noch weitere solcher überhitzten, schwitzenden Menschen. Der eine schien nur hinunterzulaufen, weil der andere lief; nichtssagende Worte — unstete Augen — ihr Lachen wie hohle Trommelwirbel. Auch Damen kamen, immer drei oder vier zusammen, wie aufgeblühte Rosen sahen sie aus; sie lachten — über nichts, schwatzten — von nichts, stets auf dem Sprung, daß man sie wieder in Musik und Geplapper hineinführen sollte. Die Musik schrill, die Gasflammen in einem Flor von Qualm, die Kronleuchter in gelbrotem Dunst.

Ein überfüllter Ballsaal; man hatte Mühe, sich durch die vielen Kavaliere hindurchzuwinden, die müßig, in Klumpen zusammengedrängt, an der Tür herumstanden. Eine Mischung von fein und grob — eine echt norwegische Mischung.

Es wurde gerade der Walzer im Kotillon getanzt. Kallems Brillengläser waren jetzt wieder trocken, und bei seiner Länge sah er bald, daß seine Schwester nicht unter den Tanzenden, augenscheinlich überhaupt nicht im Saal war. Doch er vergaß sie; denn der Anblick hier war in gewisser Art neu für ihn; er kannte von Norwegen nur die Westküste und Kristiania. Ein Ball in einer kleinen norwegischen Binnenstadt ist etwas ganz Eigenartiges. Damen und Herren, die einem eleganten Pariser Ball Ehre machen würden, gleiten leicht dahin zwischen jungen Menschen, die einen schweren Alltagsschritt, die niemals die Kunst des Tanzes erlernt haben, sondern ehrlich und unverdrossen wie Taglöhner, den Takt treten. Herren im Gehrock, Herren im Frack, Damen in ausgeschnittener Balltoilette, Damen in biederen, dunkeln, hohen Kleidern, manche älter, manche blutjung, und jeder auf seine Weise und für sich vergnügt.

Von dem Augenblick an, als Kallem das Pech hatte, in die Restauration zu geraten oder vielmehr nur in ihre Nähe — mit ihrem Punschgeruch und Tabaksqualm, die er haßte, war er übellaunig und verdrossen gewesen. Aber hier im Ballsaal, angesichts so viel genußfroher Selbstverständlichkeit verzog sich das. Da walzten zwei vorüber — er im Frack, sie im dunkeln Wollkleid, wie mit einem Schloß zugeschlossen; sie hielten sich so treulich umschlungen, machten keine Pause, drehten sich nur unablässig, ernsthaft und bedächtig. Dort streifte ein langer, blonder Bursch in kurzer Jacke, wahrscheinlich ein junger Seemann, der zu Weihnachten nach Hause gekommen war, an ihnen vorbei; er tanzte mit einer Frau von mindestens vierzig Jahren, — zweifellos seine eigene Mutter; wenn die nicht so aussah, als könne sie noch eine tüchtige Marssegelkühlte bestehen! Dort ein bekannter Eisenbahnbeamter, das Gesicht in die Höhe gewandt, ein dünnes Kerlchen im schwarzen Frack, das unter fortwährenden Körperverrenkungen herumhüpfte; trat er auf den rechten Fuß, so neigte er sich nach rechts — trat er auf den linken Fuß, beugte er sich nach links — immer ganz gewissenhaft im Takt, und dabei so vergnügt, so lokomotivenpfeifenvergnügt! Seine Tänzerin lachte nur immerzu, aber gar nicht etwa verlegen, im Gegenteil — sie amüsierte sich! Und sie tanzten und tanzten, und wenn sie sich eben erst gesetzt hatten, standen sie auch schon wieder auf. Da fegte ein junger Kaufmann vorüber, und dicht hinterdrein ein junger Offizier, beide tadellos, mit frischen, jungen ballmäßig gekleideten Tänzerinnen; darnach ein ganz verrückter Kerl mit einer hohen Haartolle und einem großen, schwarzen Frauenzimmer. Sie rasten durch die Mitte des langen Ballsaals hin und zurück, daß alles erschrak und auswich wie vor Pferden. Da wirbelte ein Turm vorbei — ein dicker, hoher, runder Turm, mit einer kleinen, schmächtigen Dame, die an ihm lehnte wie eine Leiter. Nach oben zu rührte sich der Turm überhaupt nicht; er drehte sich nur; hätte man ihm einen Teller Suppe auf den Kopf gesetzt, es wäre auch kein Tropfen übergeschwappt. Da kamen zwei, die die Hände von sich streckten wie Segel, zwei große Menschen, die Platz für drei normale Paare wegnahmen. Aber es schien althergebrachtes Ballgesetz zu sein, daß jeder Recht hatte auf soviel Platz, wie ihm paßte, auf soviel Gerase und Getolle, wie ihm beliebte, überhaupt das Recht, ganz nach seiner eigenen Fasson selig zu sein! Hier tanzte jeder einfach für sich, und keiner, um zu tanzen, sondern alle, um sich zu amüsieren.

Aber — Donnerwetter — da kamen zwei, die konnten tanzen! Sie kamen aus einem Nebenzimmer — ein flotter, bartloser Kavallerieleutnant und eine hohe, ... Josefine! Sie war in roter Seide, mit Schwarz; der feste Hals, die gedrechselten Arme in ihrer warmen Farbe — das üppige Haar, in den gewohnten Knoten gebunden — die wilden Augen — ja, wild waren sie! — und die Figur! Ja, sie war die Ballkönigin! Wie sie tanzte! Jetzt sah man erst die ganze Kraft und Geschmeidigkeit ihres Körpers! Und jetzt blitzte das irische Blut auf! Das war sie! Der Bruder drängte sich weiter vor; es war, als versage ihm der Atem. Ihm war, als ob alles nur auf diese beiden starrte, die sich bald rechts-, bald linksherumschwenkten, bald auf einem Fleck wirbelnd, bald den ganzen Saal umkreisend. Kein neues Paar kam hinzu; alle schauten und schauten, und nach und nach hielten die meisten der Tänzer inne; sie wollten zusehen. Der Kavallerist hatte nur den einen Fehler, daß er nicht größer war als seine Dame; aber er war ein kraftvoller, männlicher Kerl, der vorzüglich führte. Der Tanz war diesen beiden kerngesunden Menschen Leidenschaft und Rausch; das sah man. Und wie ein Rausch wirkte es auch. Kallem konnte nicht widerstehen; auch er mußte tanzen — und zwar mit ihr — und auf der Stelle! Als sie das nächstemal in einem glänzenden Bogen vorbeikamen, sah er sie an — sah sie so an, daß er wußte, sie mußte dahin blicken, wo er stand. Und so war es auch. Als ob jemand sie umfaßt und zum Stehen gebracht hätte, stand sie still. "Vielen Dank!" sagte sie zu ihrem Herrn. Und schon war auch der Bruder an ihrer Seite; ebenso schnell aber auch ihre Freundin Lilli Bing. "Komm, setz' Dich zu mir!" sagte sie, und gleich darauf, zu Kallem gewandt: "Wie nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind!" — "Ich habe zu danken — für die Einladung!" erwiderte er sich an beide wendend. "Aber ich hab' eine solche Lust, mit Dir zu tanzen, Josefine —" er zog seine Handschuhe an — "Sie gestatten?" Und er verbeugte sich vor dem Leutnant, der sich höflich wieder verbeugte. "Hast Du auch Lust?" wandte er sich zu Josefine. Sie war vom raschen Tanzen außer Atem; aber ihre dunkeln Augen strahlten. "Ja!" antwortete sie leise. Der Saal hatte sich inzwischen wieder mit Tänzern gefüllt; deshalb warteten sie ein Weilchen. Aber als das Gedränge nicht abnehmen wollte, umfaßte er sie, um zu beginnen. "Es geht nicht!" flüsterte sie. "Doch es geht!" sagte er und schwenkte sie an den andern vorüber, ohne anzustoßen, ohne sich aufhalten zu lassen; wurde es gefährlich, so trug er sie mehr, als daß er sie führte. Aber bald merkte er, wie unnötig das war; sie bog sich und schmiegte sich in seinem Arm dem leisesten Druck. Sie waren sich nicht so gleich, daß es "klebrig" wirkte, und doch auch nicht so ungleich, daß es abstieß; sie wurden sich gegenseitig interessant und genossen diesen Augenblick der Versöhnung vor neuem Kampf. Ab und zu sahen sie einander an, immer gleichzeitig — er sehr rot, sie sehr bleich.

Jetzt strahlten die Lampen hell, die Musik war heiter, die Menschen fröhlich und natürlich, der Ballsaal prächtig! Sie hatten nicht miteinander getanzt, seit er Balllöwe und sie ein unausstehlicher Backfisch war, mit dem er aus Gnade ein paarmal herumwalzte. Aber in Haltung, Rhythmus, in ihrer ganzen Art zu tanzen waren sie wie aufeinander eingespielt; sie tanzten so leicht — sie waren glücklich. Während sie sich umfangen hielten, konnten sich ihre Gedanken nicht voneinander lösen; sie hatten sich ineinander verschlungen. Sie gehörten zueinander in starkem Naturzusammenhang, nun sie bis auf den Urgrund der Natur gedrungen waren. Und weil das, was sie gemeinsam erlebt hatten, eigentlich in ihrer Kindheit lag, in einem fernen Land, so flüchteten sie beide dorthin. In die brennendheiße Luft, Seite an Seite auf ihren kleinen Ponys, zwischen ihnen der wunderliche Vater; er war so schön zu Pferde!

Der Bruder, der die Schwester überragte, blickte hinab auf ihre breite Kopfform; daran erkannte er den Vater wieder. Sie dachte ebenfalls an den Vater, während sie in sein scharfgeschnittenes Gesicht emporblickte; und trotzdem ähnelte er der Mutter, mehr als sie. Sie erkannte im Bruder das Gütige und Kluge der Mutter, wenn auch die Gewitterzüge des Vaters dazwischen kreuzten. Sie hätte sich an ihn schmiegen mögen wie an ihre Mutter, in dem Gefühl tiefster Geborgenheit — wie an jenem letzten Abend in ihrer Fjordstadt. Und eine größere Sehnsucht kannte sie nicht auf Erden.

Da hörte die Musik auf.

Arm in Arm gingen sie zu dem Platz zurück, den Lilli ihr angeboten hatte — voll Wärme und Dankbarkeit. Sie trafen dort Lilli und den Kavallerieleutnant — sie in ihrer Üppigkeit ganz außer Rand und Band, er, wie immer, korrekt und ehrerbietig.

Bald darauf war Kallem in Überzieher und Seehundsstiefeln, die Hände tief in die weiten Taschen vergraben, wieder draußen im Schneegestöber.

Entweder hätten die beiden Geschwister jetzt allein sein müssen, oder er mußte gehen. Es hatte ihn zu gewaltig gepackt. Er hatte sie unendlich lieb, und sie ihn vielleicht noch mehr. In solchen Augenblicken — wenn ihr Wesen sich ganz mit dem seinen verschmolz, da formte es sich so, wie es wollte und konnte; für gewöhnlich hielt etwas sie gebunden; das Christentum war es kaum — was aber war es? Sie tat alles, was sie wollte, bis zur Rücksichtslosigkeit; und dennoch war sie gebundener als die meisten.

Es schneite und schneite; die Luft war mondhell, trotzdem man den Mond nicht sah. Und vor sich in der Luft sah er seine Schwester, barhaupt, mit nackten Armen, mit Glutaugen, und in der Ferne Musik!

Als er aber in sein weißes Schlafzimmer trat, in dem das aufmerksame Mädchen eingeheizt hatte, da sah er die droben im Walddorf tanzen — Ragni, getragen von einem dicken Waldbesitzer, daß sie den Boden kaum mit den äußersten Zehenspitzen berührte; — sie wirbelte mit den kleinen Kindern im Kreis herum, sie hüpfte mit dem "Birkhahn" oder einem schneidigen Jungen aus der Hauptstadt davon; er sah ihre Glückseligkeit nach jedem Tanz, er hörte ihr: "Nein, wie ich mich amüsiere, Edvard!" — und damit schlief er ein.

Und am andern Tag — er hatte eben sein einsames Mittagessen beendet und war gewohnheitsmäßig in die Wohnstube gegangen — denn da pflegte Ragni ihm vorzuspielen — da öffnete sich die Tür und — er traute seinen eigenen Augen kaum — ja, wirklich, in dieser Pelzvermummung steckte Ragni! Er rief sie herbei, so, wie sie war, weiß und rosig und mollig und zärtlich — und hob sie in die Höhe.

"Ach nein," sagte sie, als sie ein Weilchen nachher friedlich beisammensaßen — "weißt Du, es war doch immer wieder dasselbe, und dann — ich hatte Sehnsucht." — "Du hast eine schiefe Nase!" — "Und Du — na, warte nur — auf dem Ball bist Du gewesen!" — "Du hast eine schiefe Nase!" — "Das sieht man fast gar nicht. Du, aber weißt Du — Karl ist gar nicht immer lieb. Das will ich Dir nur sagen!" — "Karl?" — "Gegen mich, ja! Gegen mich ist er riesig nett — man kann sich gar nicht vorstellen, wie nett. Aber gegen meine Geschwister ist er ganz anders — heftig — furchtbar heftig, und launisch, ein Starrkopf." — "O, das kann ich mir ganz gut denken." — "Und weißt auch Du, warum ich abgereist bin? Wir wollen einmal allein sein. Nicht? Wir haben ihn ja immer um uns." — "Du lieber Gott — hast Du den nun auch schon wieder satt?" — "Das hab' ich doch gar nicht gesagt; aber so immer um einen — — — das wird —" — "Langweilig?"
— "Na ja, meinetwegen langweilig; aber es
ist so. Ich bin gräßlich, ich weiß! Du, und um noch was möcht' ich Dich bitten; aber sei gut und sag' nicht gleich Ästhetiker!" — "Nun, und —?" — "Sag' Kristen Larssen nicht, daß ich wieder da bin! Bitte, bitte nicht! Wir wollen einmal ganz ungestört sein, ja?" — "Aber ich hab' eben jetzt ein paar Kinder, die — —" — "Nein, nein! Auch keine Kinder! Ach nein!" Und sie fing zu weinen an.

"Aber liebste, süßeste Ragni —!" — "Ach Gott, ich weiß ja, es ist schrecklich egoistisch; aber ich kann ganz einfach nicht! Ich bin für so was nicht geschaffen!"

Eine Weile später sang der Flügel in seinen vollsten Akkorden die Jubelhymne ihrer Heimkehr! Die Geister der Schönheit nahmen Besitz vom Haus. Sie flogen aufs Dach, zu den Fenstern und Türen hinaus, ins Schlafzimmer hinauf, in die Küche, ins Studierzimmer hinüber. Sie sangen, sangen, sangen, daß die Tuberkelbazillen, die der Doktor eben untersuchte, geradenwegs lostanzten auf das, was sie vernichten sollte; sie sangen die Küchentür auf, daß der ganze Aufwaschtisch tanzte und der Kaffeekessel überkochte; und das neue Kleid, das Sigrid zu Weihnachten von Frau Doktor bekommen hatte, fix und fertig, mit Sammetbesatz und Jakett, mit Schnüren und Quasten besetzt, hoch oben auf dem Dachboden, zu alleroberst im ganzen Haus, auf Ballgedanken verfiel.

8

Tags darauf kam Kallem von Sissel Aune, der Waschfrau. Er hatte sich über den Mann geärgert, der in übermäßiger Freude seine Geige hatte herrichten lassen und jetzt bei allen möglichen Gelagen aufspielte und sich volltrank. Er wollte mit ihm denselben Versuch machen wie mit Sören Pedersen und Aase, und ging deshalb zu ihnen, um mit ihrer Hilfe dem lyrischen Aune beizukommen. Aber er fand die "Gattin Aase" allein im Laden, wo sie eben einem von Sissels Kindern auf einen Sattel half; vier hatte sie bei sich im Laden, das fünfte lag daneben in der Stube. Sören Pedersen sei nicht zu Hause, er sei bei Kristen Larssen, der krank sei. Kristen Larssen? — Ja, er habe fürchterliches Erbrechen gehabt, zuletzt das reine Blut; aber dem Doktor wolle er nichts sagen. Kallem wollte sofort zu ihm, aber erst wollte er noch einen kleinen Beitrag zum Unterhalt der Kinder geben; das wurde jedoch nicht angenommen. Aase hatte heute zwei Sättel und eine Sprungfedermatratze verkauft; eine Nichte von ihr arbeitete jetzt mit in der Werkstatt; eine Frau, die ebenfalls Aase hieß; um die zwei voneinander zu unterscheiden, nannte Sören die Nichte: "Aases Aase".

Kallem fand Kristen Larssen im Bett. In seinen langbehaarten Fingern hielt er eine Arbeit; Sören Pedersen las ihm vor. In der Ecke zwischen Fenster und Tisch, ganz eingeklemmt in einen Winkel, saß die Frau und strickte; das Kopftuch hatte sie so tief hereingezogen, daß das Gesicht ganz im Schatten lag. Eine entsetzlich schlechte Luft war in der Stube. Als Kallem den Kranken sah, erschrak er; noch schmutzig-grauer, noch hagerer als sonst sah er aus. "Haben Sie etwas Fettes gegessen in den Weihnachtstagen?" — "Hm ... Sülze haben wir gehabt." — "Haben Sie schon früher solche Anfälle gehabt?" — "O ja ... ab und zu." — "Aber nicht so schlimm, wie diesmal!" sagte sie, und strickte. — "Haben Sie Schmerzen jetzt?" — "Jetzt nicht. Aber manchmal ..." — "Unter der Brust und im Magen?" — "Ja." — "Und die Schmerzen kommen häufig wieder?" — "O ja." — "Mit jedem Tag öfter!" sagte die Stimme aus der Ecke. Kallem begann sofort mit der Untersuchung und fand in der Magengrube eine Geschwulst von der Größe einer Wallnuß. Kristen Larssen wußte schon lange davon. — "Ist sie gewachsen?" — "O ja." — "Jeden Tag mehr!" sagte die Stimme in der Ecke. Kallem ward es heiß und heißer. Weshalb hatte er sich bei Larssens abweisender Art beruhigt? Die Augen der Frau folgten ihm — ihre Stricknadeln gingen immer langsamer — es war, als erstarre sie nach und nach; der Doktor versuchte, seine ruhige Miene zu bewahren; aber sie ließ sich nicht täuschen — er merkte es. Und Kristen Larssens kalte Augen folgten ihm — forschend. Kallem hieß sie die Herdklappe öffnen und sie offen lassen — Tag und Nacht — wieviel Holz es auch kostete. Sören Pedersen stand auf, voller Eifer, und öffnete das Ventil. Kristen Larssen und seine Frau verfolgten sein Tun mit mißbilligenden Blicken; sein Holz war es freilich nicht! Um Zeit und Ruhe zu gewinnen, blätterte Kallem in den Büchern, die herumlagen. Es waren seine eigenen englischen, und ein Buch über Mechanik. Dann sah er das Schiffchen an, das der Kranke zwischen den Fingern hielt. "Was ist denn das?" Und Sören Pedersen erklärte, es sei eine Verbesserung der von Kristen Larssen erfundenen Strickmaschine. Und während er das erklärte, handhabten Larssens Finger die Räder und Nadeln so zart, so behende, daß seine ganze Gedankenkraft, seine ganze Liebe zur Sache dabei deutlich zum Vorschein kam.

Die ganze Stube, die Arbeitsbank, der Fußboden, der Tisch — alles lag wieder voll von Sachen, die neu hergerichtet werden sollten — Gewehre, Uhren, Nähmaschinen, Kaffeemühlen, Schlösser, zerbrochene Werkzeuge. Kallems Revolver lag neben dem Kasten, und Kallem hörte, das sei das einzige, was Larssen über die Weihnachtszeit fertiggemacht habe. Während Sören Pedersens Wortschwall hatte Kallem überlegen können; jetzt wußte er, wie er's anzugreifen hatte. Er sprach von Diät und schmerzstillenden Mitteln und forderte dann Sören Pedersen auf, mitzukommen.

Sowie sie auf der Straße waren, sagte ihm Kallem, daß es mit Kristen Larssen zu Ende gehe. Es sei ohne Zweifel ein weitvorgeschrittener Magenkrebs.

Die selbstzufriedene Pfiffigkeit in Sören Pedersens runder, glänzender Fratze stahl sich plötzlich auf allerhand Schleichwegen fort; das Gesicht blieb ganz leer — mit offenen Türen und Fenstern — zurück.

"Ich werde Ihnen bald Bestimmtes sagen; und dann müssen Sie, der ihn besser kennt als ich, es ihm sagen." Aune, über die er eigentlich hatte sprechen wollen, vergaß Kallem ganz und gar.

Innerhalb weniger Tage wußte die ganze Stadt, daß der Tausendkünstler Kristen Larssen an Magenkrebs hoffnungslos darniederlag; sogar ins Blatt kam es. Er wurde darin als "ein in der ganzen Umgegend wohlbekannter Mechaniker und Erfinder" erwähnt. Kein Haus, in das Kallem kam, kein Bekannter, den er auf der Straße traf, ohne daß man sich nach Kristen Larssen erkundigt hätte. Das nächste Mal, als er den Kranken besuchte, — nachdem Sören Pedersen sich seiner Mission entledigt hatte — wurde die Sache mit keinem Wort erwähnt. Larssen lag da, wie immer, zwischen den Fingern seine Erfindung — ein bißchen matt, nach einem fürchterlichen Anfall von Schmerzen. Der Bart war gewachsen; er sah abschreckend häßlich aus. Die Frau strickte; nur daß sie ein bißchen näher am Bett saß. Die englischen Bücher lagen nicht mehr da; und das war das einzige äußere Zeichen, daß die Zukunft aufgegeben war.

Kallem ging von da zu Sören Pedersen, der ihm erzählte, der frühere Hausmeister des Krankenhauses sei bei Larssen gewesen und habe versucht, ihn zu bekehren; damit er doch nicht geradenwegs in die Hölle käme. Larssen hatte bloß geantwortet, man möge ihn doch nicht aufhalten; er habe eben eine Arbeit vor, die beinahe fertig sei. Dann war der Pastor gekommen; der ging taktvoller und behutsamer zu Werke; aber vielleicht gerade darum hatte Larssen diesmal die Geduld verloren; seine aufgespeicherte Bitterkeit machte sich in flammenden Worten Luft, und die Frau mit dem vorgezogenen Kopftuch und den ewigen Stricknadeln hatte sich dicht neben die Tür gestellt. Der Pastor hatte verstanden — und entfernte sich geduldig; seit der Geschichte mit Maurer Andersen war er nicht mehr der Alte. In der Gemeinde freilich erregte das verschiedentlich Ärgernis.

Nach einer Sitzung im Jünglingsverein versammelte sich der Jünglingschor vor Kristen Larssens Haus und stimmte gedämpft einen Choral an. Andere kamen dazu, in aller Stille. Es traf sich, daß der Kranke eben einen Anfall hatte. Er sagte, es sei, als ob Tausende von Stecknadeln ihn unablässig stächen — und bei seinen Leiden reizte der Gesang ihn so, daß Kallem einschreiten und alle derartigen Demonstrationen untersagen mußte. Zwei Laienprediger, der ehemalige Hausmeister und noch einer suchten den Doktor im Krankenhaus auf und erklärten, wie alles bloß in bester Absicht geschehen sei, und wie man doch unmöglich einem Sterbenden Gottes Wort vorenthalten dürfe. Kallem wurde heftig und antwortete grob.

Als er abends zur gewöhnlichen Zeit bei Kristen Larssen war, glaubte er ganz bestimmt, durch das Fenster ein Gesicht hereinschauen zu sehen. Der Kranke fragte eben, wie lange er überhaupt noch zu leben habe, und ob die Schmerzen immer zunehmen würden. Und Kallem kümmerte sich darum weiter nicht um die Sache draußen; er bat nur, man möchte die Fenster verhängen. Er erwog, ob er Larssen die reine Wahrheit sagen könne, und kam zum Schluß: ja, es ist das beste. Also erklärte er ihm, es könne noch zwei bis drei Monate dauern — die Schmerzen würden sich immer häufiger einstellen — wenn auch nicht alle Tage gleich oft und gleich heftig. Die Frau hörte es mit an.

Niemand war am Fenster, als Kallem herauskam; aber auf der Straße — in einiger Entfernung — ging eine Dame, langsam, als warte sie auf jemand. Als sie ihn erblickte, kam sie sogleich auf ihn zu. Es war seine Schwester. "Hast Du vorhin bei Kristen Larssen zum Fenster hereingesehen?" — "Ich —," und er sah, wie ihr Gesicht rot wurde unter der Kapuze — "ich bin nicht der Mensch, der andern in die Fenster sieht!" — "Entschuldige! Aber ich hab' wirklich jemand vor dem Fenster gesehen. Und Du weißt, wer es war?" — "Ja. Aber ich bin gekommen, um mit Dir zu sprechen, Edvard. Ich weiß, wann Du gewöhnlich hier bist." — "Was soll ich?" Und nun erst bemerkte er, daß sie in voller Aufregung war.

"Ist es wahr, daß Du gesagt hast, Du nähmest die Verantwortung auf Dich, wenn Larssen in die Hölle komme?" — "Ich glaube überhaupt an keine Hölle!" — "Und das hast Du ausgesprochen?" — "Ich weiß nicht. Ich glaube nicht." — "Es gibt nämlich Menschen, die sind anderer Ansicht als Du, und die sind empört über derartige Aussprüche. Durch dergleichen verlierst Du alles, was Du Dir hier erarbeitet hast; das kann ich Dir nur sagen." — Kallem kannte sie so ganz wieder in diesen Worten. "Ja, natürlich ist es dumm, so etwas auszusprechen. Aber ist es nicht ebenso verrückt, einen Mann wie Kristen Larssen so zu plagen! Solang er noch bei Verstand ist, bestimmt niemand ihn, an eine Hölle zu glauben. Also sollen sie ihn doch in Ruhe lassen!" — "Das verlangen sie doch auch gar nicht von ihm!" — "So? Und was denn?" — "Das weißt Du so gut wie ich, Edvard. Und ich bitte Dich um Deiner selbst willen — verhöhne nicht ernste und wohlmeinende Menschen!" — "Ich habe nicht höhnen wollen. Ich sage bloß — sie können sich und ihm die Mühe sparen." — "Ist er denn so kalt?" — "Kalt oder warm — das kommt lediglich auf die Veranlassung an, und darauf, wie ein Mensch sein Leben gelebt hat!" — "Aber der Mensch kann sich eine Seelenkälte anleben; und ganz gewiß — so ist es bei ihm gewesen!" — "Vielleicht. Aber ich kenne jemand, der recht warm ist, und der doch genau so denkt wie Kristen Larssen. Also das ist es nicht!" — "Ja, was ist es dann?" — "Tausenderlei. Die, die ich meine, denkt fast immer in Bildern, und seitdem sie einmal ein uraltes Bild der Dreieinigkeit gesehen hat — ein mächtiger Körper mit drei Köpfen darauf — und hörte, daß der Kopf in der Mitte der Sohn der beiden an der Seite — Vater und Mutter — sei (Du weißt doch, der heilige Geist war im Anfang weiblichen Geschlechts —) konnte sie nicht mehr an die Dreieinigkeit glauben. Sie lachte darüber. Und wie gesagt — sie ist recht warm!" — "Pfui!" stieß Josefine in tiefstem Zorn heraus; "warm mag sie ja sein; aber jedenfalls ist sie unrein!" — Kallem fühlte im Herzen einen Stich; das ging auf Ragni! Die Schwester war böse und sah böse aus, wie in ihren Backfischtagen! Und sofort wurde er auch wieder der Junge von damals: klatsch! Da hatte sie eine Ohrfeige! Sie traf nur die Kapuze; aber sie kam von Herzen.

Mit blitzenden Augen sprang sie auf ihn los, wie in den Tagen, als sie sich noch prügelten. "Ich glaube beinah, Du", — zischte sie! Und sprühte vor Hohn und Wut. — — Und wandte sich voll Verachtung ab — und ging.

Ob jemand sie beide gesehen hatte? Sie waren allein auf der Straße. Aber er empfand eine unbestimmte Angst. Vielleicht mußte Ragni es entgelten!

Das Wort "unrein" in Josefines Mund — meinte Kallem — sei auf die Vergangenheit gemünzt. Und darum war er empört. Wieviel größer wäre erst seine Empörung gewesen, wenn er gewußt hätte, daß es eigentlich auf die Gegenwart ging? Daß Pastors sich nach ihrer Heimkehr zurückhielten, hatte auch darin seinen Grund, daß der Gotteslästerer Larssen Liebkind war in Kallems Haus, daß Ragni Englisch mit ihm trieb, daß Kallem wie ein Kamerad mit ihm verkehrte. Kristen Larssen war für den größten Teil der Gemeinde eine Art Teufel, und wenn diese Ankömmlinge, Mann und Frau, Gemeinschaft hielten mit ihm (wie früher mit Sören Pedersen und seiner Frau) — so war das eine Herausforderung. Kurz darauf war Karl Meek ins Haus gekommen, und seitdem sah man Ragni nie anders als in seiner Begleitung. Schließlich reisten sie sogar zusammen in das Walddorf hinauf — so viel war gar nicht einmal nötig, wo es sich um eine geschiedene Frau handelte, die "freie" Ansichten hatte und schon einmal beim Ehebruch ertappt worden war.

Josefine war in der aufrichtigen Absicht gekommen, ihren Bruder zu warnen. Hätte sie in Ruhe sprechen können, so hätte sie ihm das alles gesagt; sie war unerschrocken, und sie hatte ihn lieb. Jetzt ging sie mit dem Brandmal seiner Verachtung nach Hause zurück.

Und nun brach ihre zurückgedrängte Leidenschaft sich Bahn; zuerst in bitterem Haß auf die Leute, die Bruder und Schwester auseinandergebracht hatte, allmählich aber auf alles, was zwischen ihnen stand: Maurer Andersens Tod — je tiefer er ihren Gatten bewegte, desto schärfer trat der Gegensatz zwischen ihnen zutage, und das zur ungünstigsten Zeit. Alles, dessen Tuft sich selbst anklagte, waren ja Zugeständnisse, die er ihr gemacht hatte; und gerade jetzt wollte er damit aufräumen. Schlimmer konnt' es sich gar nicht treffen.

Im Haus nebenan wohnte eine vertrocknete Alte, des Pastors Mutter; sie lebte in ständigem Protest gegen das Vorderhaus. Nie setzte sie einen Fuß über die Schwelle, wenn Besuch da war, auch sonst nur selten, außer zu den Hausandachten und an kirchlichen Festtagen zum Mittagessen. Das ganze Wesen der Schwiegertochter, ihr Tanzen, ihre Toilette, ihre Freundinnen waren ihr ein Ärgernis, — des Pastors ständiges Werben um sie ein Frevel. Der kleine Junge wurde ihr Spion. An einem Sommertag hatte Josefine auf der andern Seite der offenen Tür gesessen und gehört, wie sie ihn ausfragte, wer am Tag vorher dagewesen sei, was sie gegessen hätten, ob sie Wein getrunken hätten und wievielerlei Sorten. "Großmutter hat gefragt, ob Mutter heut schon wieder aus ist!" sagte er ein andermal. "Und sie hat gefragt, was Vater zu Mutter sagt, wenn Mutter nach Hause kommt, und ob Vater oben bei uns geschlafen hat!"

Josefine ertrug das mit Ruhe. Aber daß sie wußte — hinter den christlichen Ermahnungen des Pastors steckte die Schwiegermutter, — das machte sie nicht gerade nachgiebiger. Sie gedachte ihr Leben zu führen, wie es ihr paßte — mochte er dasselbe tun.

Für ihn war es immer derselbe Kampf, von Jugend an, von der Zeit, da er um ihretwillen den Missionsgedanken aufgegeben hatte; und immer mit demselben Ausgang: er unterlag seiner Verliebtheit. Nicht daß sie ihn dazu verlockt hätte — im Gegenteil! Wenn sie ihn bisweilen genug hatte — sie hatte immer rasch alles genug — starke Strömungen gingen in ihr — dann erschien sie ihm am schönsten, am begehrenswertesten, wie die Frauen der alten Sagazeit. Dann vermochte er nicht zu widerstehen.

Aber die große Aufgabe, vor die Gott ihn am Krankenbett seines Freundes gestellt hatte, die zeigte ihm, was er in seinem Leben versäumt hatte. Das war die Frucht der Nachgiebigkeit!

Als er in seiner Selbstprüfung so weit gekommen war, daß er mit seiner Frau darüber hätte sprechen können — da war sie stumm — in ihrem eigenen Kampf. Nach dem Schlag, den sie erlitten hatte, war sie sich sofort klar über das, was jetzt die Gerechtigkeit erfordere — sich rächen nannte sie's immer —, aber bald auch darüber, daß ihr Bruder ihr eigenes unklares Verhältnis durchschaut hatte. Seit sie mit ihm getanzt hatte, wußte sie, daß niemand sie so verstand wie er; seit ihrer letzten Begegnung wußte sie, daß er ihre Einmischung in Glaubenssachen verachtete; und darin hatte er recht. Nie hatte sie endgültig abgerechnet; immer nur sich damit begnügt, ihres Gatten Glaube und Handeln geachtet zu sehen, und selber ihren Frieden zu haben. So konnte es nicht länger bleiben; ihres Bruders Verachtung ertrug sie nicht.

Im Pastorhause war morgens und abends Andacht; dazu kam regelmäßig die Großmutter, nach ihr die Mädchen und gleich darauf der Pastor. Zur Morgenandacht kam Josefine nicht immer, und die Abendandacht fiel aus, wenn Gäste da waren. Der Pastor sprach zur Einleitung und zum Schluß ein Gebet, wie es sich eben für die Gelegenheit schickte. In dieser Zeit waren diese Gebete lang und inbrünstig — und Josefine blieb weg.

Diese feierlichen "Abrechnungen" waren ihr ein Greuel — die öffentlichen noch mehr als die privaten. Die letzten fanden meist abends statt, wenn es Schlafenszeit war, und der Junge zu Bette und die Hausandacht beendet war. Wenn Josefine es voraussah, hinauf — zu Bett; da kam er ihr meist nicht nach. Der Boden da oben war schlüpfrig! Aber heut Abend kam er. Sie hatte es an den Schritten unten im Studierzimmer gehört, und jetzt vernahm sie ihn auf der Treppe. Sie riegelte nicht ab, und ließ die große Lampe brennen. Aber als er draußen an die Türklinke faßte, sagte sie: "Du darfst nicht herein." — "Doch!" — "Nicht, solang ich beim Auskleiden bin!" — "Ich werde warten." — Er ging wieder hinunter, und sie machte sich langsam fertig.

Die Schlafstube lag nach dem Garten zu, über dem Studierzimmer; rechts, durch eine Portiere getrennt, das Ankleidezimmer, über dem Fremdenzimmer; links eine Tür zur Garderobe. Dicht daneben führte eine Korridortreppe vom Arbeitszimmer herauf. Und da hörte sie ihn jetzt kommen — zum zweitenmal — mit festem Schritt. Sie lag schon zu Bett. Die Zimmertür lag in der Mitte, den Fenstern gegenüber; die Betten standen rechts von der Tür; das ihre zunächst. Der Junge schlief auf der andern Seite, nach der Garderobe zu.

Er fragte nicht mehr, ob er eintreten dürfe; er öffnete einfach die Tür. Sie lag da, in ihrem weißen Nachtkleid, das schwarze Haar in einem Knoten, wie immer, den Kopf in die linke Hand gestützt, wie auf dem Sprung, sich aufzurichten.

Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Sofort rückte sie etwas von ihm ab, als sei ihr die Berührung unangenehm. Er sah finster drein. — "Josefine, Du weichst mir aus. Das ist nicht recht von Dir. Ich brauche Trost und Rat. Die alte Pein ist wieder über mir. — Und wir dürfen die Abrechnung nicht länger hinausschieben!" — Er sah sie an — voll Schmerz. Sie sah ihn an — stumm. — "Du weißt, was es ist. Ich lebe hier, bei Dir in Wohlsein und Genuß und draußen in der Gemeinde allgemein verehrt. Aber in einem solchen Leben wächst sich der Gottesmensch nicht zu seiner natürlichen Entwicklung aus! Und vor kurzem wurde ich gewogen — und zu leicht befunden!" — Er barg sein Antlitz in den Händen und saß lange ganz still, als bete er. "Liebe, liebste Josefine!" Und er blickte auf. — "Hilf mir! Ich muß alles anders machen um mich her! Ich muß mein ganzes Leben anders gestalten!" — "Wieso?" — "Ach — ich bin kein Pfarrer, und Du bist keine Pfarrersfrau! Wir gehen beide zugrund — an unserem Eigenwillen!" — "Alle die — die Versuche, die Du machst, Ole, anders zu leben, fangen immer bei mir und meinem Haus an! Fang einmal bei Dir selber an! Ich bin, wie's mir paßt. Sei Du, wie's Dir paßt! Und unser Haushalt — nun ja, der ist einfach nicht anders, als eine Familie von Geschmack und Vermögen ihn erfordert; behagt es Dir nicht, so hast Du ja Deine eigenen Zimmer; richte Dich ein, wie Du magst. Wünscht Du eine getrennte Lebensweise — bitte! Sag' es nur!" — "Ach!" erwiderte er, "Du degradierst das Ganze zu einem Umzug im Haus oder einem veränderten Küchenzettel!" — "Immer dieselben allgemeinen Anklagen! Keinen Pfifferling Respekt hab' ich vor ihnen!" — "Weil Du den geistigen Grund in ihnen nicht erfaßt!" — Sie wurde blaß. — "Soviel ich weiß", sagte sie hart, "paßte es mir nicht, so fleischlich zu sein wie Du. Und damit hat es angefangen!" — "Das lässest Du mich jedesmal wieder hören. Aber ich schäme mich nicht, daß die erste Krise von meiner allzu heißen fleischlichen Begierde und von Deinem Widerstande kam; das hat mich geweckt. Nein, ich schäme mich dessen nicht. Denn als ich die Absicht äußerte, einmal von Grund aus zu reformieren —" — "Hab' ich Dir das etwa verboten?" unterbrach sie ihn. "Ja, bei mir anzufangen, das hab' ich Dir verboten! Fang bei Dir selber an, Ole!" — Er stand auf. "Du verstehst mich nicht! Du verstehst nicht, was Gott von uns will! Ich bleibe dabei — es ist etwas Ungeistliches an Dir, Josefine! Nie bist Du aufgegangen in Reue und Gebet! Nie hast Du Dich hingegeben in inbrünstiger Andacht! Du kennst nicht die Sehnsucht nach dem Unendlichen — sondern nur nach dem Irdischen. Den Willen, Christin zu sein, hast Du wohl; aber etwas dafür tun magst Du nicht! — Du antwortest nicht? Möchtest Du's nicht wenigstens versuchen? Jetzt — zusammen mit mir? Ach, Josefine, wie ich leide — auch um Deinetwillen!" Er setzte sich demütig wieder zu ihr hin. "Meinst Du damit, ich solle Dir zu den Zulukaffern folgen?" entgegnete sie kalt. — "Ich meine, wir sollen uns gemeinsam in allem Guten vervollkommnen, liebe Josefine, dann wird Gott uns weiterhelfen." — "Leeres Geschwätz versteh' ich nicht!" erwiderte sie. "Sag' gerad' heraus, was wir tun sollen!" — "Wir sollen im Glauben an Jesum Christum mit den Geringen und für sie leben." —" Mein lieber Ole, das kann ich besser als Du! Du wachst niemals eine Nacht am Krankenbett in einem armen Haus; ich tu' es oft. Und ich habe auch die 'Gegenseitigkeit' gegründet" (so nannte sich ein Verein von besser situierten Frauen der Stadt, deren jede ihre Armen hatte, denen sie Arbeit und Unterstützung verschaffte. Josefine war Vorsitzende der Gesellschaft und verteilte die Arbeit). — "Ja," antwortete ihr Mann zustimmend, "administratives Talent hast Du wie Dein Bruder. Aber darin besteht es nicht — selbst als große Dame zu leben und dann und wann einmal sich zu den Geringen herabzulassen; nein — man muß mitten unter ihnen und ganz für sie leben!" — "Sollen wir das Haus verkaufen? In die Vorstadt ziehen? Sag', was Du willst!" — "Wenn Gott uns dazu treibt — ja! Aber es muß in und aus Glauben geschehen, um Jesu willen. Sonst hat es keinen Wert." — Sie antwortete mit keiner Silbe.

"Was meinst Du, Josefine? Wollen wir nicht versuchen, ein echtes Christenleben zu führen?" Seine Augen flehten; seine Hand suchte die ihre: "Josefine!" Sie zog ihre Hand weg. "Nein! Du weißt ja, ich sehe nicht ein, warum ich mir mein eigenes Leben unbehaglich machen soll; das würde keinem nützen, und mir würde es schaden." — "Sag' das nicht! Wenn wir es nun einmal versuchten? Im Glauben an Jesu miteinander ganz dafür leben, andern Gutes zu tun?" — "Ach was, Unsinn! Und wenn es Dich auch verletzt — einerlei! Aber daß ich an Jesus glauben muß, um den Armen zu helfen, ist Unsinn! Es hilft nichts, ich rede wie ich denke." — "Wenn Du an Jesus glaubtest, so würdest Du den Grund erfassen." — "Ich habe nie gesagt, daß ich nicht an Jesus glaube." — "Ach, Josefine, das ist kein Glauben! So verstehst Du also nicht einmal, was Glauben ist! Diesen schweren Schaden an Deiner Seele habe ich zu verantworten! Ich, der jahraus, jahrein mit Dir lebt und nichts weiter erreicht hat!" Er beugte sich über sie; Tränen standen in seinen Augen. "Wie herrlich könnten wir miteinander leben, wenn Du Dich vor Gott beugen wolltest — bei den Gaben, die Du hast — und bei meiner Liebe zu Dir!" Er wollte sie zärtlich umfassen. — "Weg!" sagte sie und setzte sich auf.

Er fuhr auf, wie von einer Natter gestochen. Sie legte sich wieder zurück, beide Hände unter dem Kopf; ihre Brust wogte; sie war in vollem Aufruhr. "Ich weiß nicht, ob wir es vor Gott verantworten können, unter diesen Umständen zusammenzubleiben", sagte er. — "Gut! Tu, was Du willst!"

Er wandte sich ab; er fand es unter seiner Würde zu antworten. Der Kleine stöhnte im Schlaf und wälzte sich herum, als beunruhige ihn etwas. Tuft sah ihn an; mit halboffenem Mund lag das Kind auf dem einen Arm. Tuft kannte diese Stirn, er hatte sie bei seinem Vater gesehen, es war auch seine eigene, ebenso das Haar, der Bau der kleinen Hand, die Finger, ja sogar die Nagelstellung. Aber er sah den Tag kommen, da auch der Junge nicht mehr sein eigen sein würde, wenn es so weiterging.

"Nein, Josefine, es soll auch nicht so weitergehen! Gott helfe uns beiden! Aber fortan ruht der Kampf nimmermehr!"

Das Breite und Mächtige in ihm, das hinter der Herzensgüte lag, war am Hervorbrechen; sie fühlte es. Und auch in ihr quoll es empor. Sie hörte ihn im Studierzimmer auf- und abgehen, ohne Ruhe, aber auch ohne Zweifel. Sie konnte nicht schlafen.


Am Tag, nachdem Kristen Larssen die volle Wahrheit über seine Krankheit erfahren hatte, erschoß er sich. Das jagte den Leuten einen furchtbaren Schreck ein; etwas Gruseliges ging von ihm aus; man wagte kaum, am Haus vorbeizugehen. Es verbreitete sich ein Gerücht, Kallem habe Larssen seinen Revolver zu diesem Zweck überlassen; doch wurde das von der Frau selbst, von Sören Pedersen und durch Kallems eigene Aussage widerlegt.

Kristen Larssen hatte sich gedrückt, ohne Ankündigung, ohne Dank. Zu seiner Frau hatte er gesagt, ein rascher Tod sei für ihn das beste. Aber auch zwischen ihnen beiden war nichts weiter besprochen worden, keinerlei Abschluß, kein Abschied hatte stattgefunden. Er hatte sie gebeten, zu Sören Pedersen zu gehen, und während der Zeit war er aus dem Bett gekrochen und mit der ihm eigenen überlegenen Gründlichkeit hatte er die Tat vollbracht.

Das herkömmliche Begräbnis wurde verweigert und eine Ecke an der nördlichen Mauer angewiesen. Dort arbeiteten drei Männer stramm, um ein Grab zu graben. Es war ein bitterkalter Tag, der Tag, an dem man ihn in die Erde bettete; und es gab Leute, die auch darin eine Fügung Gottes sahen. Zu einer ungewöhnlichen Zeit, nämlich nachmittags, ohne Glockenläuten, ohne Pfarrer und ohne Gesang wurde Kristen Larssen hinabgesenkt. Unter den wenigen, die zugegen waren, fiel am meisten Aune auf; er war betrunken und machte sich fortwährend bemerkbar; dabei war er so dünn gekleidet, daß man fror, wenn man den blaugefrorenen Kerl nur ansah. Sören Pedersen bat ihn mehrere Male, sich ruhig zu verhalten; aber vergebens. Von Sörens blankem Gesicht sah man nur die Augen, die Nase und etwas von den Backen; das übrige war von unten durch einen mächtigen, mehrmals um den Hals geschlungenen wollenen Schal und von oben durch eine bis in die Augen gezogene Pelzmütze verdeckt. Die Hände staken in nordländischen Handschuhen, — einem Paar von jenen Ungeheuern, wie sie die Leute dort zum Fischfang tragen — und die Füße in Pelzschlurren. Sören Pedersen war in die Breite gegangen; der Überzieher war ihm zu eng geworden; mit diesen Auswüchsen sah er wie ein Hummer aus. Aase in kurzem Mantel und Baschlik hielt sich an der rechten Seite der Witwe, die lang und hager dastand, in Finnenschuhen und einem bis an die Füße gehenden, oben und unten gleich weiten Sack, um den Kopf ein dickes wollenes Umschlagtuch; sie hatte es offenbar darauf angelegt, ihr Gesicht zu verbergen. Aune schwankte umher und erzählte, er habe ihr geholfen, ihre Sachen nach der Bahn zu schaffen. Jetzt hatte er das Haus abgeschlossen; den Schlüssel trüge er in der Tasche. Und er zog ihn hervor. Die Witwe wollte von hier aus gleich auf den Bahnhof und bei Verwandten — ein paar Meilen von hier — bleiben; später wollte sie dann weiter nach ihrem Heimatort. Außer diesen vieren waren nur noch zwei Männer da, die das Grab gegraben hatten; der eine stand auf sein Grabscheit gelehnt, trug Rock und Fausthandschuhe und kaute ohne Unterlaß Tabak. Der andere hauste hinter einem braunen Bart und war verwachsen und triefäugig.

Etwas abseits an der Mauer war ein festgestampfter Schneehügel; Karl Meek und Ragni, die eben zusammen anlangten, stellten sich dorthin. Alle warteten auf Kallem, dem eine Abhaltung dazwischen gekommen war, und der jetzt eilends herbeistürzte. Er nahm vor der Witwe seine Mütze ab, die andern grüßten ihn; dann trat er ans Grab. Er wollte gern einige Worte sprechen, wartete aber, ob nicht vorher sonst etwas geschehen würde. Als nichts geschah, sagte er:

"Ich kenne die Vergangenheit des Mannes, den wir hier begraben, nicht; ich kannte auch ihn selbst nicht. Er hat in religiösen Dingen anders gedacht als die Menschen, unter denen er lebte, und er hat dafür büßen müssen. Sein und seiner Frau Lebensziel war, hinüberzugelangen nach dem freien Amerika." (Bei dem Wort Amerika begann hinter den Taschentüchern ein Keuchen und Schneuzen). "Er versuchte, allein Englisch zu lernen; das war für ihn, als schüfe er sich Flügel damit. Wenn ich jedoch dies gesagt und noch hinzugefügt habe, daß er der begabteste Mensch war, dem ich hier begegnet bin, so habe ich ungefähr alles gesagt, was ich von ihm weiß.

Darum will ich auch nicht von denen sein, die ihn verurteilen. Oft, wenn wir zusammen waren, hatte ich den Eindruck, als ob ihn fröre. Die Kälte, die ihn rings umgab, war in sein Inneres gedrungen.

Es hat sich so gefügt, daß nur wir fünf oder sechs ihm Lebewohl sagen. Aber alle, denen seine sinnreiche Arbeit von Nutzen war, und besonders alle die Tausende, denen seine Erfindungen das Leben erleichtert und damit mehr Freude geschaffen haben, worauf es doch ankommt — alle die schulden ihm Dank; und den bringe ich ihm dar!"

Es wurde still. Der kalte Schnee knirschte, wenn einer oder der andere sich rührte; aber keiner machte Anstalt zum Gehen. Da schwankte Aune an das Grab. "Na ja, und nun will ich Dir man auch noch für die Violine danken! Und — und — vergib uns unsre Schuld! Und — und — leb' wohl!" Beinah wäre er hineingetaumelt. Sören Pedersen packte ihn ärgerlich am Arm, wandte sich zu seiner Frau und sagte: "Hör' mal, Aasechen, Du betest das Vaterunser so schön! Sag' es doch einmal!" Und sie trat einen Schritt vor, zog die Handschuhe aus und faltete die Hände. Die Männer nahmen die Mützen ab und alle senkten den Kopf; dann betete Aase das Vaterunser.

Darauf fielen die ersten schweren Schollen auf den Sarg; es klang, als wolle er in Stücke gehen.

Die Frau trat auf Kallem zu. Erst jetzt konnte er sie in der Nähe sehen, in Tränen aufgelöst, erschöpft von Nachtwachen, fast all ihrer Kraft und ihrer letzten Hoffnung beraubt. Aber mit festem Griff nahm sie Kallems Hand, mit starkem, tiefem Blick sah sie ihm in die Augen, in grenzenlosem Schmerz, in verhaltener Bewegung nickte sie nur; sprechen konnte sie nicht. Nie ist einem Menschen wärmer gedankt worden. Ebenso nahm sie die Hand Ragnis; und Ragni erschrak; denn sie wußte in ihrem Innern, daß sie es nicht verdiene. Die Witwe eilte an den andern vorbei, der Stadt zu; Sören Pedersen und Aase hatten Mühe ihr zu folgen. Ragni aber nahm Kallems Arm; sie hätte sich ihm an die Brust werfen und laut weinen mögen.

9

Kristen Larssens Haus stand leer; kein Käufer oder Mieter fand sich. Das Unheimliche, das ihm anhaftete, fiel auch auf die zurück, die seine Freunde gewesen waren. Hätte Sören Pedersen nicht größere Kundschaft auf dem Land als in der Stadt gehabt, es wäre ihm schlecht ergangen. Ragni merkte nicht, daß man sie in dieser Zeit noch mehr beobachtete, noch mehr über sie sprach, als vorher; sie war nicht im mindesten vorsichtig. Schon daß Pastors nicht mit ihnen verkehrten, machte sie zur Zielscheibe des Klatsches; etwas Neues durfte nicht mehr hinzukommen.

Gegen das, worauf man jetzt verfiel, war sie wehrlos, weil sie nichts davon ahnte. Wenn sie und Karl Meek Hand in Hand Schlittschuh liefen, wenn er sie zum Lachen brachte, während er ihr die Schlittschuhe anzog, oder wenn sie versuchte, ihn hinunterzupuffen, während sie, jeder auf einer Kufe, auf des Doktors Schlitten standen; oder wenn sie zusammen Kjaelke[8] fuhren oder, — war Besuch da — vierhändig spielten: immer hatte man einen Blick aufgefangen, der nicht mißzuverstehen war, oder ein Wort gehört, das eine Nebenbedeutung hatte, oder Freiheiten beobachtet, die nur möglich waren zwischen Menschen, die an noch größere gewöhnt waren. Das erste Mal mit einem Zimmerherrn, nun wieder mit einem — was konnte Kallem anders erwarten? Das war nur seine gerechte Strafe.

Sören Kules Familie stand an der Spitze; es war eine im ganzen Oberland verbreitete Familie, die eine blühende Phantasie hatte, besonders in sinnlichen Dingen.

Man mußte nur Lilli Bing loslegen hören, wie Ragni Kule seinerzeit "Abend für Abend" zu dem Studenten Kallem auf sein Zimmer ging; es lag ja auf demselben Flur. "Mein Gott, was war denn Schlimmes dabei, wenn sie sich liebten? Wer konnte es auch mit dem widerwärtigen Sören aushalten!"

Daß die jetzige Frau Kallem nicht einmal über den Korridor zu gehen brauchte, ließ sie immer dabei durchblicken. Einmal sagte sie: "Wenn sie keine Kinder kriegt, was schadet's denn eigentlich!" Daß keiner von denen, über die es herging, etwas davon hörte?

Daß nicht einer von den üblichen anonymen Briefen hereinplatzte! Das eine läßt sich nur damit erklären, daß sie fast keinen Umgang hatten, das andere damit, daß man vielleicht glaubte, Kallem würde sich nicht darum kümmern; Freidenker haben ja meist lockere Begriffe in sittlicher Beziehung! Im Frühjahr sah man Kallem seine Frau und Karl Meek zum Dampfschiff begleiten; sie fuhren hinüber zum anderen Ufer; Montag früh sah man, wie er sie an der Brücke wieder abholte. Man wußte, daß er selbst den ganzen Tag auswärts war und die beiden den ganzen Tag in Haus und Garten zusammen steckten.

Karl bestand sein Examen recht gut, wenn auch unter allseitiger Spannung; der Tag nahte, an dem er seine Freunde verlassen mußte. Ragni hatte im ganzen Freude an dem Zusammensein mit ihm gehabt; aber sein unsteter Fleiß hatte ihr Mühe verursacht, und sein leidenschaftliches Wesen nahm mit der Körperkraft noch zu. Seine tiefe Ergebenheit für sie dämpfte es; aber auch die Form dieser Ergebenheit peinigte sie oft; sie liebte Gleichmäßigkeit und Frieden. Sie prophezeite ihm, es werde ihm einmal schlimm ergehen; er führe viel zu große Segel.

Sie sehnte sich nach dem Alleinsein. Als sie es Kallem sagte, neckte er sie: nach drei Wochen werde sie Karl vermissen. Karl wollte jetzt, in den Sommerferien, zu Hause sein, dann aber nach Deutschland gehen, um sich der Musik zu widmen. Obgleich er sich daran gewöhnt hatte, unter Ragnis Augen zu denken und zu leben, — im Kampf mit ihr, im Gehorsam gegen sie, und immer voll Anbetung für sie, so freute er sich doch darauf, selbständig zu werden. Die Trennung würde keine Schwierigkeiten machen.

Da geschah es, daß er an einem der letzten Tage bei einem Freund war, dem einzigen, mit dem er dann und wann noch zusammenkam, seit er in Kallems Hause wohnte; und als er von seiner Abreise sprach, sagte der Freund: "Was ist denn eigentlich mit Dir und Frau Kallem?" Karl verstand nicht, was er meinte, und floß über von Lobpreisungen und Bewunderung für sie. Der andere unterbrach ihn. "Ja, ja, das weiß ich alles! Aber — offen gesagt — hast Du nicht ein Verhältnis mit ihr? Die Leute sagen es." Karl fuhr auf! Was unterstand er sich? Er solle Rechenschaft ablegen für seine Worte! Aber es war des Freundes ernstliche Absicht, Karl zu warnen; er habe selber erst kürzlich von dem Gerücht erfahren; allgemein verbreitet sei es noch nicht. Geduldig ertrug er Karls Raserei und machte ihm klar: er könne es nicht anders erwarten, als daß die Leute sich — bei ihrer beiderseitigen Unvorsichtigkeit — allerhand dächten. — —

Zu Haus bei Kallem begriff man nicht, was auf einmal in Karl gefahren war. Die paar letzten Tage kam er nie zu ihnen herein, war selten daheim, und war wieder ebenso stumm, scheu und finster wie damals, als er ins Haus zog. Der nächstliegende Gedanke war ja, daß er unglücklich war über die Trennung, besonders von Ragni; aber es war doch merkwürdig, daß die Verzweiflung genau zwischen drei und fünf Uhr am Mittwoch Nachmittag begonnen hatte! Um drei hatten sie in heiterster Stimmung miteinander vierhändig gespielt; um fünf wollte sie etwas aus seinem letzten Examenfach mit ihm durchnehmen; und da war er so sinnlos geistesabwesend nach Hause gekommen, daß sie es aufgeben mußte. Und so war er seitdem immer. Kallem neckte Ragni damit, daß der Junge verliebt sei; eben vor des "Abschieds bittrer Stunde" sei es in ihm aufgeblüht. Und er sang: "Zwei Drosseln saßen im Buchenlaub" und prophezeite, daß sie in allernächster Zeit eine Liebeserklärung bekommen würde, wahrscheinlich in Versen — er habe selbst seinerzeit mehrere verbrochen. Vielleicht würde Karl sich auch erschießen. Sie solle sich nur ja nicht einbilden, daß jemand in dem Alter billiger von ihrer schiefen Nase als mit einem kleinen Herzensschnupfen loskomme.

Wenn der Junge dasaß und sie in fürchterlichem Schweigen anstarrte, nicht aß, nicht sprach; wenn er den Schwermütigen spielte und sich von ihnen in die Einsamkeit zurückzog, sagte Kallem: "Hu! Das Leben ist schwarz!" Er ahmte den Jungen nach, sah sie mit ersterbenden Augen an, seufzte über drei Treppenstufen herauf, durchwühlte mit beiden Händen sein Haar und heulte. Gegen Karl selbst jedoch war er die Herzlichkeit selbst.

In der Stunde der Trennung aber hörte aller Spaß auf; denn Karl war so verzweifelt vor Schmerz, daß man überhaupt nicht mit ihm sprechen konnte und den Abschied nur möglichst beschleunigen mußte. Ragni wollte nicht mit zum Bahnhof fahren; sie fürchtete sich vor seinen Überschwenglichkeiten. Aber als Karl sah, daß sie auf der Treppe stehen blieb, sprang er aus dem Wagen und noch einmal zu ihr hinauf. Sie wich zurück, er kam ihr nach, sah sie an und weinte so, daß das Mädchen, das etwas weiter hinten stand, wirkliches Mitleid mit ihm empfand und ebenfalls zu weinen anfing. Ragni wurde kalt und stumm; sie konnte nicht ahnen, daß Karl in diesem Augenblick das Schönste tat, was er je getan, das Tiefste fühlte, was er je gefühlt hatte.

Auf dem Bahnhof bemerkten verschiedene Leute seine Verzweiflung, sowie Kallems Ernst. Besonders aber auch, daß Ragni nicht mitgekommen war. Ob Kallem es nun erfahren hatte?


Dieser Abschluß ihres Zusammenlebens mit Karl Meek hinterließ einen unangenehmen Nachgeschmack. Sie sprachen nicht gern von ihm, ja, sie machten sich beide Gedanken darüber, ob sie sich eigentlich auf einen solchen Versuch hätten einlassen sollen; sie hätten vielleicht voraussehen müssen, daß es so enden würde. Doch davon sagte keines etwas zum andern. Ihr eigenes Zusammenleben wurde inniger; nie war Kallem soviel zu Hause gewesen wie jetzt, noch nie hatte er ein solches Verständnis für alles gehabt, was sie anging.

Der Sommer wurde ganz dem "Fieberpavillon" gewidmet; sie konnten sich beide nicht satt daran sehen, wie er gebaut wurde, wie man ihn einrichtete, wie man alles zum Gebrauch fertig machte. Jetzt, seit alle Sommerzelte aufgeschlagen waren, war die gute Einrichtung und Ordnung des Krankenhauses in aller Munde.

Aber während sie so allein waren und ihre Zeit zwischen dem Krankenhaus, ihren Studien, dem Garten und dem Klavier teilten, drängte sich, gerade weil sie allein waren, zwischen alle ihre Interessen ein Gedanke, den sie beide längst gedacht hatten, und der immer mehr wuchs, eben weil er nie ausgesprochen wurde. Bald konnten sie nicht mehr Zusammensein, ohne daß der eine etwas davon in den Augen des andern zu lesen glaubte.

Weshalb hatten sie kein Kind? Lag der Fehler an Ragni? Wollte sie nichts dafür tun?

Er hatte sich nach und nach davon überzeugt, sie sei zu scheu, als daß er den Anfang hätte machen dürfen. Warum wagte sie nicht selbst davon zu sprechen? Warum wagte sie nicht einmal den Wunsch zu verraten, davon zu sprechen, damit er ihr hätte weiterhelfen können? Was war der Grund? Die Angst vor der Untersuchung — vor der Operation? Er sah sie selten, ohne daß er fühlte: jetzt dachte sie daran. Und sie wieder fühlte: er entbehrt das Kind. —

Ende August erhielt Ragni einen dicken Brief aus Berlin — von Karl Meek! Er war ihnen beiden willkommen, ja, mehr als sie sich zuerst eingestehen mochten.

Karl hatte die Festspiele in Bayreuth besucht und schilderte nun seine Eindrücke in glühenden Farben und mit überschwenglichen Worten. Der ganze Brief handelte nur davon, zuletzt vier bis fünf Zeilen des Dankes, Grüße, und schließlich die Frage: "Darf ich Ihnen öfter schreiben?" Beide merkten sofort, daß die vier oder fünf Zeilen den eigentlichen Brief bildeten, und alles andere nur geistreiche Einkleidung war. Gerade das gefiel Kallem, und er äußerte den Wunsch, daß sie mit ihm in Briefwechsel treten solle. Das könne ihm in mehr als einer Hinsicht während seines Aufenthaltes im Ausland von Nutzen sein.

Ohne besondere Lust, wie oft in der Zeit, als sie noch mit Karl gearbeitet hatte, mehr aus Gehorsam und Güte setzte sie sich hin, schrieb — humoristisch — weil sie so am besten damit fertig wurde, und erhielt Antwort — erst eine, dann noch eine, lange Antworten, ganze Tagebücher.

An einem der ersten Oktobertage war Ragni im Garten, um Obst und Gemüse zu ernten. Sie ging gerade auf den Zaun am Kirchweg zu, als ein Wagen langsam vorüberfuhr. Darin saß ein vierschrötiger Kerl, der sich vom Rumpeln des Wagens hin- und herwerfen ließ, wie Milch in einem Butterfaß. Ragnis Tauben schwirrten eben vom Kirchendach über den Wagen weg aufs Haus zu; bei dem eigentümlichen Laut des Flügelrauschens wandte der Fremde den Kopf nach der Richtung, in der sie flogen. "Waren das nicht Tauben?" fragte er, und der Kutscher antwortete.

Ragni wollte eben auf eine Leiter steigen, um Äpfel zu brechen; aber sie mußte sich festhalten. Diese schwere Stimme, dieser langsame Takt, diese nordländische Einförmigkeit — das war Sören Kule! Seine blinden Augen waren halb nach der Richtung der Tauben gewandt, halb dahin, von wo die Antwort kam, während der Wagen schlottrig weiterrumpelte.

Sören Kule hier? Ein blinder, halbgelähmter Mann ist nicht auf Reisen! Ob ihn die doppelte Erbschaft, die ihm zugefallen war, hierhergeführt hatte?

Bald darauf kam Kallem. Auch er war Kule begegnet; sie sah es ihm sofort an — und er sah sofort, daß sie in die Wohnstube geflüchtet war, um sich zu verbergen. Da trafen sie einander; sie preßte ihren Kopf an seine Brust; sie witterte böse Geister in der Luft.

Kallem sagte sich: falls Sören Kule eine von den Besitzungen übernimmt, die den Geschwistern zugefallen sind, also hierherzieht, dann hat Josefine ihre Hand dabei im Spiel; da ist ihr "Gerechtigkeitsgefühl" bei der Arbeit gewesen!

Denn er empfand: der einzige Mensch auf Erden, gegen den er unrecht gehandelt hatte, ohne es wieder gutzumachen, war dieser blinde Mann.

Ich will ihn aufsuchen, dachte er. Ich will offen und ehrlich mit ihm reden. Dann kann ich ihm zugleich begreiflich machen, daß er um Ragnis willen nicht seinen Wohnsitz hier haben darf.

Er erfuhr bald, wo Kule wohnte: in dem Haus gleich hinter ihnen; im Park neben dem Krankenhaus!

Dieser Teil der Erbschaft also war ihm zugefallen! Und in solcher Nähe sollten sie ihn jetzt täglich haben! Lange ging er umher, um seine Selbstbeherrschung wieder zu gewinnen; aber noch als er vor dem Haus stand, war er so aufgeregt, daß er mühsam an sich halten mußte. Ein kleines zweistöckiges Backsteinhaus mit einem Garten davor. Im Hausflur hörte er von der Küche her das Geräusch des Aufwaschens und sah hinein; da stand das nordländische Hünenweib mit aufgestreiften Ärmeln, so unverändert, als hätten sie sich erst gestern gesehen. Als die Tür aufging, sah sie sich um und erkannte sofort den großen Brillenmann mit der krummen Nase und den dichten Augenbrauen wieder; sie lächelte und wandte sich ganz nach ihm um. "Ei, wirklich — der Herr Kallem?" sagte sie singend. "Ja." — "Gestern hab' ich's gehört, daß Sie hier wohnen." Ihr Lächeln wurde breiter. Du Tranfisch Du! dachte er, Du hast es schon längst gewußt! "Wann sind Sie angekommen?" — "Gestern." — "Von Kristiania?" — "Ja, von Kristiania. Kule hat das Haus hier geerbt; und das Leben soll hier billiger sein." Hinter Kallem öffnete sich eine Tür; er wandte sich um. Ein vierschrötiger Kerl mit kleinen schlauen Augen, die mißtrauisch dreinsahen, streckte vorsichtig seinen Kopf aus der Zimmertür. Kallem schloß die Küchentür; der andere trat in den Flur und machte die Stubentür hinter sich zu; dann standen sie einander gegenüber. Aber die Küchentür öffnete sich wieder und die Nordlandköchin guckte heraus und lächelte dem Vierschrötigen zu. Kallem ahnte ein süßes Geheimnis. "Ist das Dein Mann?" — "Ja, seit'n Sommer." Der Bursche sah wie ein Seemann aus. "Ist Herr Kule zu sprechen?" Der Vierschrötige setzte eine feierliche Miene auf; er wollte hineingehen und fragen. Er blieb lange fort, Kallem hörte, daß drinnen unterhandelt wurde. Bald vernahm er Kules schleppende Stimme, bald die knappen, trockenen, in Trondhjemer Dialekt gesprochenen Worte des andern, beides gedämpft. Inzwischen erzählte Oline, ihr Mann sei ursprünglich Seminarist gewesen, habe das Steuermannsexamen gemacht, spräche Spanisch und sei Kules Sekretär und Bevollmächtigter. Dann erzählte sie, daß "die Kinderchens" im Westland in Frau Rendalens Pensionat seien, d. h. es gehöre jetzt nicht mehr Frau Rendalen, sondern dem Sohn, "dem Herrn, der auch mal bei uns gewohnt hat". Und plötzlich fragte sie: "Na, und die gnäd'ge Frau? Was macht denn die gnäd'ge Frau? So haben Sie sich doch noch gekriegt, wa—as? Das wird aber eine Freude werden!" Jetzt öffnete sich die Tür, der Vierschrötige stellte sich draußen auf, und Kallem ging an ihm vorbei zu Kule hinein.

Kule saß in demselben plumpen Rollstuhl mit demselben Brett vor den Beinen; dieselben spanischen Bilder an der Wand; dieselben Möbel, nur daß sie einen andern verblichenen Überzug hatten. Nur kein Flügel und kein Kinderspielzeug.

Kule selber war grau und bedeutend dicker geworden. Die "Flossen" lagen auf den Armlehnen, wie gewöhnlich; eine riesige Tabakspfeife stand unbenutzt daneben.

Kallem nannte seinen Namen; Kule antwortete nicht. Aber eine kleine Bewegung der gesunden Hand und ein paar heisere stöhnende Laute deuteten an, daß die Wogen in ihm hoch gingen.

Auch Kallem mußte sich zusammennehmen, damit er ruhig bleibe. Um die Qual abzukürzen, sagte er sofort, Herr Kule wisse vielleicht nicht, daß sie Nachbarn seien. — Doch, das wisse er. — "Das hätte ich nicht gedacht," erwiderte Kallem und ließ den Ton seiner Worte erklären, was er damit meine. Kule schwieg.

"— Sie werden hier wohnen bleiben?"

"Ja."

Kallem blickte in das blinde Gesicht; es war kalt und verschlossen. Er fühlte, es war unmöglich, auch nur einen Funken Mitleid mit Ragni darin zu erwecken. Ein entsetzlicher Widerwille packte ihn. "Dann habe ich nichts weiter zu sagen!" sprach er und erhob sich.

Die Küchentür stand halboffen. "Bitte, auch 'n schönen Gruß an die Gnä—di—ge!"

Erst draußen erinnerte sich Kallem seiner ursprünglichen Absicht; aber diese neue Roheit Kules befreite ihn davon. Also — fortan war er ihr Nachbar. So hieß es eben versuchen, die eigene Vergangenheit zu tragen, wie andere auch.

Er wanderte zur Stadt hinaus; er hatte nicht den Mut, sogleich nach Haus zu gehen. Schlechtigkeit ertrug sie nicht — in keiner Form. Er mußte erst überlegen, wie er es ihr beibringen sollte.

Ragni war im Studierzimmer und hatte schon längst die Lampe angezündet, als er heimkam. Sie las ihr Urteil sogleich auf seinem Gesicht — ja, sie hatte es schon an seinem Schritt gehört. Sie sank in einen Sessel, und ihr war, als sei von nun an alle Freude dahin.

Er versuchte, ihr klarzumachen, daß sie, eben weil sie schuldlos war, nichts zu fürchten brauche. Sie schüttelte nur den Kopf. Das war es ja nicht. Nein, die Schlechtigkeit war es, die konnte sie nicht ertragen, die Kälte. Und sie erinnerte ihn an das, was er selber an Kristen Larssens Grab gesagt hatte.

Aber sie könnten sich doch nicht mit Kristen Larssen vergleichen? Sie hätten doch vieles, was Wärme gab. Freilich — aber der gute Ruf! "Wenn sie mir den nehmen, nehmen sie mir auch alle Wärme!" Und nach einer Pause fuhr sie fort: "Das ist — die Kälte!" Sie weinte nicht, wie sie es sonst so leicht tat.

"Dann ziehen wir fort!" rief Kallem.

Als wenn sie das schon lang erwogen hätte, antwortete sie: "Wo gibt es einen Arzt, der so reich wäre, daß er alles, was Du hier hineingesteckt hast, kaufen könnte? Und Deine Arbeit? Für die Du lebst, die Dich glücklich macht? Nein, Edvard!" — "Aber wenn Du unglücklich bist, kann ich nichts mehr leisten." Und er küßte sie. Sie antwortete nicht. "Woran denkst Du?" — "Ich glaube doch, daß Du's kannst." — "Was?" — "Ohne mich arbeiten und glücklich werden!" erwiderte sie und brach in Tränen aus. Er zog sie dicht an sich und wartete; sie mußte ja fühlen, daß sie ihm wehgetan hatte. "Eigentlich passe ich nicht zu Dir!" — "Aber Ragni!" — "Ja, als Dein guter Kamerad — der beste, den Du auf Erden hast! Wenn ich es doch lange sein dürfte!" —

Sie schmiegte sich eng an ihn, als wolle sie ihm das Siegel des Schweigens auf den Mund drücken.

10

Am nächsten Tag war Nebel. Obwohl Ragni gut und traumlos geschlafen hatte, war ihr doch der Kopf schwer. Sie ging umher und sah alles nur in dem kalten Licht von gestern; nirgends mehr ein Glanz über den Dingen. Erst wollte sie gar nicht in die Küche hinaus; sie bildete sich ein, man könne von dort das Haus sehen, in dem Kule wohnte. Schließlich wurde ihr das aber doch zweifelhaft, und sie getraute sich hinaus; nein, es war nicht zu sehen. Dann wagte sie nicht ihre Morgenrunde durch den Garten zu machen; er konnte ja vielleicht gerade vorüberfahren. Endlich setzte sie sich an den Flügel, stand aber wieder auf, ohne gespielt zu haben. Sie schrieb einen Brief an Karl; sie war ihm auf zwei Briefe Antwort schuldig, und irgend etwas mußte sie ja vornehmen. Sie schrieb — aus ihrer Stimmung heraus — Schlechtigkeit in jeder Form, wie Lüge, Verrat, Hinterlist, herrschsüchtige Verfolgung, Tücke, Betrug — sei Todeskälte. Die sei es, gegen die wir kämpften. Leben sei Wärme. Manche Menschen seien mehr anfällig für Erkältungen als andere, gerade wie der eine empfänglich sei für Tuberkulose und der andere nicht; und sie sei sicher eine von jenen Unglücklichen. Von frühster Kindheit an habe sie den Hauch der Kälte gespürt, und zuletzt würde wohl dieser kalte Strom stärker werden als die Wärme, die sie ihm als Widerstand entgegenzusetzen vermöge; das sei die ganze Frage.

Der Brief war nicht lang; denn während sie so an ihre Kindheit dachte und an das, was sie später durchgemacht hatte bis zu ihrer Verheiratung mit Kule, kam ihr die Lust, es aufzuschreiben, um es gelegentlich einmal in Kallems treues Gedächtnis niederzulegen. Mündlich erzählen konnte sie es nicht; aber es aufschreiben — ja, jetzt konnte sie es. Auch trieb sie eine unbestimmte Furcht, und noch am selben Tage fing sie an.

Sie bot ihre ganze Kraft auf, um ruhig und gefaßt zu sein, als Kallem nach Hause kam. Er sah sie forschend an, war aber selbst in größter Spannung — einer ganz anderen, neuen Sache wegen. Er wollte eine Operation vornehmen, an deren Gelingen die beiden anderen Ärzte und noch ein dritter, der von weither geholt worden war, Zweifel hegten.

Einer der angesehensten Männer der Umgegend, Oberst Bajer, litt seit etwa einem Monat an Magenhautentzündung mit Anzeichen von Septichämie. Doktor Arentz war sein Hausarzt und behandelte ihn in der üblichen Weise mit Wasserumschlägen und Opium. Aber die Krankheit wurde bedenklich und Arentz riet, Kallem zu Rate zu ziehen. Die Frau des Obersten widersetzte sich — nicht gerade, weil sie eine eifrige Christin war, sondern weil ihr Kallem an sich unsympathisch war. Sie war ein gutes, warmherziges Wesen, aber hysterisch, und solche Menschen ergreifen leicht Partei für oder wider. Pastor Tuft hatte sie einmal gerettet; sie war krank gewesen an Schwäche, nichts wollte helfen, bis er gekommen war und ihren Willen durch den Glauben gestärkt hatte — eine Tatsache, die niemand bestreiten konnte; seitdem schwärmte sie für ihn.

Der Arzt des Nachbarbezirks und Doktor Kent wurden zugezogen; aber beide waren ehrlich genug, einzugestehen, daß nichts mehr zu machen sei; der Oberst sei ein Todeskandidat und eine Operation unmöglich.

Jetzt siegte die Liebe zum Gatten über allen Widerwillen; sie ließ anspannen und fuhr selbst zu Kallem, der sich sofort und unbedingt bereit erklärte, die Operation vorzunehmen. Ohne sich von den Einwendungen der andern abhalten zu lassen, öffnete er die Bauchhöhle und fand Eiter; dann öffnete er den Dickdarm. Besonders da die andern abgeraten hatten, erforderte dies Ereignis seine ganze Charakterstärke. Der Oberst war als Ehrenmann bekannt, in Stadt und Land nahm man Anteil, und der Zustand der Frau war derartig, daß sie wahnsinnig werden mußte, wenn der Mann starb. Ihre Abneigung gegen Kallem schlug in unbegrenztes Vertrauen um; es war, als habe seine Nähe sie magnetisiert. Alles das erfüllte Kallem mit tiefer Besorgnis.

Nun hatte Ragni an anderes zu denken als an sich selbst; denn sie sah, welche Seelenqual das Gefühl der Verantwortung unmittelbar vor der Operation und mehr noch in den Tagen nachher in ihm erregte. In solchen Zeiten hielt sie mit seltener Kunst alles Kleinliche von ihm fern, ermutigte ihn, heiterte ihn auf, lebte überhaupt ausschließlich für ihn. Einem solchen Mann etwas sein zu können — das war "Wärme" genug!

Der Oberst erholte sich; Kallem war bei übersprudelnder Laune. Ragni spielte wieder, nahm ihre übrigen Arbeiten wieder auf, ja, sie wagte sich sogar in den Garten und ließ die Augen zu dem Haus oben hinüberschweifen. Sie hörte den Wagen vorbeirollen, ohne mehr als höchstens ein ganz klein bißchen zu zittern; sie wurde von der Nordlandsköchin, die mit ihrem Korb auf den Markt ging, angesprochen, und obgleich sie dabei ein Gefühl hatte, als werde sie von einer Schlange gebissen, starb sie doch nicht daran. Es kam sogar der Tag, da sie mit ihr plaudern konnte, zuletzt konnte sie sogar jeden Morgen ihr Kommen abwarten, ohne davonzulaufen. Das geschah nicht etwa aus Mut — beileibe nicht — aber es geschah; und sie fühlte sich wohl dabei.

Das Wetter schlug um und kehrte seine allerrauhste Seite hervor. Die Blätter stoben im Nordwind, die Erde war festgefroren und jeden Morgen mit Reif bedeckt. Die Öfen zogen, daß es nur so krachte, und ihr Prasseln wetteiferte mit dem Wagengerassel, das draußen über den hohlen Boden zog. Jeden Tag fragte man sich, ob man nicht die Doppelfenster einsetzen und die Verandatür schließen solle. Und jeden Tag schob man es wieder auf; wer weiß — vielleicht kamen noch schöne Tage!

Eines Tages brachte die Post Ragni Briefe aus Amerika, aus Nordland und aus Berlin; einer war von Karl. Sie hatte alle geöffnet, aber keinen gelesen; es war zu vielerlei zu tun, damit das Haus für den Winter in Ordnung komme. Den Brief der Schwester las sie aber doch am Nachmittag; und er machte sie betrübt; der Schwester ging es nicht gut. Ragni dachte daran, sie zu sich zu nehmen. Die letzten zwei oder drei Briefe von Karl hatten stark nach Heimweh geschmeckt; er war schwermütig, und sie hatte deshalb nicht sonderliche Lust, seinen neuesten Brief zu lesen. Sie war gerade mitten in einem amerikanischen Roman, einem der besten von Howell; es war ein tiefeindringendes, spannendes Seelengemälde; und so nahm sie zuerst ihr Buch vor, als sie sich gegen Abend ins Studierzimmer setzte. Aber etwas in der Erzählung erinnerte sie an Karl; sie legte das Buch weg und nahm seinen Brief vor. Wie immer, ganze Bogen, auch recht interessant, aber der Ton geradezu seelisch krank. Als sie an den letzten Bogen kam, sah sie darüber in roter Tinte die Worte: "Bitte allein lesen!"

Er schrieb: "Seit ich Ihren Brief über die 'Kälte der Schlechtigkeit' erhalten habe, war ich in Zweifel, ob ich Ihnen sagen solle, daß ich es sogleich verstanden habe. Ich habe schon längst gewußt, was man von uns gesagt hat. Solch eine rohe Verleumdung! Das war es, was mich diesen Sommer beinahe zum Wahnsinn getrieben hat, als ich es — kurz vor unserer Trennung — erfuhr. Ist es nicht furchtbar? Damals dachte ich, es könne überhaupt nichts mehr kommen, was mich noch tiefer treffen könnte; aber nun ist doch noch etwas gekommen: auch Sie haben es erfahren! Denn natürlich ist das der Sinn ihres Briefes.

Wochenlang habe ich hin- und hergesonnen. Aber um meinet- und um Ihretwillen ist es besser, wenn wir davon sprechen. Lassen Sie Kallem nichts davon erfahren! Ich schäme mich so entsetzlich — ich bin so unglücklich — ach, wenn Sie wüßten, wie unglücklich ich bin! — Aber ihm wollen wir es ersparen!

Darum schreib' ich das auf einen besonderen Bogen; ich werd' es fortan immer so machen. Auch des andern wegen, das nun kommt, Sie Liebe, Liebste!

Von der ersten Zeit an, als Sie so gut zu mir waren, hab' ich Sie unendlich lieb gehabt. Ich hätte nie gedacht, daß ich Sie oder überhaupt einen Menschen noch lieber haben könnte. Jetzt aber sind wir in dieser Schmach und diesem Schmerz gleichsam miteinander verschmolzen; wir beide sind die einzigen, die darum wissen; und jetzt, — Gott ist mein Zeuge! — lebe und leide und arbeite ich nur noch in Gedanken an Sie! Immer sind Sie um mich — vom Morgen bis zum Abend und bis in den Traum meiner Nächte!

Ich liebe, liebe, liebe Sie! Ich schreib' es — unter Tränen. Ich liebe Sie — ich liebe Sie — ich liebe Sie!

Vielleicht erschreckt Sie das Wort, erschreckt Sie mehr als das andere, das es heraufbeschworen hat! Aber wenn Sie wüßten, welch eine Wonne es für mich ist, es bloß niederschreiben zu dürfen, bloß zu wissen, daß Sie es lesen! Sie sind so gut — Sie wissen, welch grenzenlose Ehrfurcht ich vor Ihnen habe — — —"

Als Kallem um acht Uhr nach Hause kam, stand der Abendtisch im Eßzimmer gedeckt; im Studierzimmer war geheizt und die Lampe angezündet; aber beide Zimmer waren leer; in der Wohnstube war es dunkel. Sigrid brachte den Tee und berichtete, Frau Doktor seien zu Bett gegangen. — "Zu Bett? Fehlt ihr etwas?" — "Ich glaube, sie war nur müde."

Kallem eilte sofort hinauf. Es war dunkel; doch im Mondschein sah er einen Arm im weißen Nachthemd sich ihm entgegenstrecken. "Verzeih!" sagte sie. "Ich war so müde; und dann hatte ich auch einen Brief von meiner Schwester, der mich traurig gemacht hat. Nein, mach' kein Licht, bitte! Es ist so schön so!" — Was für ein frischer, gesunder Duft von ihm ausströmte! Wie voll Kraft seine Stimme klang, während er antwortete: "Von Deiner Schwester?" — "Ja, sie fühlt sich unglücklich da oben." — "Wie wär's, wenn wir sie zu uns nähmen?" — "Ich wollte Dich eben darum bitten. Wie gut Du bist!" — Sie weinte. — "Aber Schatz, warum weinst Du denn? Glaub' mir, der einzige Grund, weshalb ich das nicht schon lange vorgeschlagen habe, war Dein Wunsch, wir sollten allein sein miteinander." — "Ja, das ist ja auch das Allerschönste! Aber wenn nun eins von uns krank wird?" — "Dummes Zeug! Wir werden nicht krank! Du bist doch so wohl jetzt! Die Stirn ist ein bißchen warm! Laß mal Deinen Puls fühlen! Na ja, ein bißchen Ruhe hast Du nötig, weiter nichts. Es war ganz richtig, daß Du zu Bett gegangen bist. Ich gehe jetzt hinunter und esse; ich habe einen Bärenhunger. Dann hast Du Ruhe. Karl hat geschrieben?" — "Ja. Der Brief liegt auf Deinem Schreibtisch." — "Schön! Ich werd' ihn beim Essen lesen. Nachher hab' ich noch viel zu tun. Gutnacht, Kleines!" — Er küßte sie; Ragni schlang beide Arme um seinen Hals, zog seinen Kopf dichter zu sich heran und küßte ihn. "Du herrlicher Mensch!"

Er ging. Sie hörte seine raschen Schritte auf der Treppe und unten im Korridor, hörte, wie er die Tür öffnete und hinter sich schloß.

Wieder dieser Schmerz in der Brust, den sein Kommen gemildert, sein Schritt verscheucht hatte! Etwas Schweres, Entsetzliches — nie wieder würde sie es los werden — und dabei fror sie so. Die Kälte, die Kälte, die Kälte — jetzt war sie ihr bis ins Innerste gedrungen. Jetzt begriff sie — zu Eis erstarrend — weshalb der "Walfisch" gekommen war und sich in das kleine Haus nebenan gewälzt hatte und nicht wieder hinaus wollte. Jetzt wußte sie, weshalb die andern das zugegeben hatten.

"Gott, ach Gott — wie hat das nur kommen können? Was hab' ich denn getan?" klagte sie und verkroch sich vor sich selber. Wie ein Flüstern durch Meeresbrandung tönten Karls Liebesworte hindurch. Armer Junge! Da lag sie — im Dunkeln — damit keiner sie sah — damit sie nachdenken konnte. Was sollte sie tun? Den letzten Bogen hatte sie herausgenommen. Sollte sie ihn Kallem zeigen?

Als Kallem nach zwölf Uhr heraufkam, um zu Bett zu gehen, war sie über all ihren traurigen Erwägungen eingeschlafen. Er steckte hinter ihr das Licht an, sah ihr ins Gesicht, horchte auf ihren Atem. Sie schlief — unschuldig — mit offenem Mund.

Am nächsten Vormittag wanderte sie auf der Südseite des Hauses umher, auf und ab, auf und ab, noch immer gleich verstört, gleich ratlos. Es hatte geschneit, zum erstenmal dieses Jahr; der Schnee war schon halb wieder geschmolzen. Über den Bergkämmen lag dichter Nebel, so dicht, daß er aussah wie festes Land, trotzig, undurchdringlich — ein Land, das an die Berge grenzte und sich über den ganzen Horizont erstreckte. Das seltsame Land sandte eine lange Zunge hernieder nach dem Wald — wie das äußerste Züngeln eines Geheimnisses. Sie fror. Weit konnte sie nicht gehen, ohne daß der Schutz des Hauses aufhörte und man sie vom Weg aus sehen konnte; und heut ertrug sie es nicht, daß man sie sah; vielleicht nie wieder.

Welch ein kindischer Wettkampf das war zwischen den Baumarten da draußen, rings um die Gehöfte! Am fernsten von den Häusern Nadelwald; bei trübem Wetter war er fast schwarz. Mehr in der Nähe mischte Laubholz sich dazwischen, langhalsige Espen, verrenkte Birken, die lichtgelb aus dem Dunkel leuchteten; noch näher Eberesche und Faulbaum, blutrot; dazwischen Ahorn und anderes; von flachsweißen bis rotgoldnen. Hohe Erlen und Espen, die zu alt waren, um überhaupt noch Laub zu treiben, ragten mit nackten Zweigen über der Farbenpracht der andern empor gleich blaugrauem Rauch.

Sie stampfte mit den Füßen, die gar nicht warm werden wollten, die nicht wußten, ob vorwärts oder rückwärts, weil sie selber nicht wußte, wohin. Wenn Kallem es erführe — was dann? Und wenn er es nicht erführe?

Die Wiesen waren von schwarzerdigem, gepflügtem Ackerland durchschnitten. Dazwischen mattgrüne, mit Wintersaat bestellte Roggenfelder und stoppelige Kleeäcker. Aber dort — weit hinter den Häusern — mißvergnügte, graue Erdflecken, die man überhaupt nicht beachtete, außer, wenn es sich darum handelte, sie zu plündern; nur zu viele solcher gab es hier zu Lande.

Juanita? Wie kam das Kind auf einmal mitten in das Herbstbild? Diese frischeste, lebendigste Erinnerung an den ersten Frühling? Ach, hier draußen wachte die Sehnsucht nach den Kindern auf! Jetzt wußte sie, daß er nicht war, wo die Kinder waren; jetzt konnte sie zu Rendalens reisen und die Kinder sehen!

Solange sie auf der Reise war, brauchte sie auch nicht zu entscheiden, was das Richtige sei; und sie bedurfte dringend des Aufschubs. Nur ein kurzer Brief an Karl Meek, daß er vorläufig nicht mehr schreiben solle; sie werde ihm später vielleicht Nachricht zukommen lassen. Ob sie die paar Worte telegraphierte? Nicht von hier aus! Aber auf der Stelle abreisen und von unterwegs telegraphieren.

Ein Vorsatz, ein inneres Geheiß, so stark, als habe sie überhaupt weiter nichts mehr zu tun als noch einmal die Kinder zu sehen, stieg in ihr auf. Als Kallem etwas später nach Hause kam, wanderte sie im Zimmer auf und ab, um sich warme Füße zu machen, und sagte ihm selber, sie müsse die Kinder sehen. Er empfing den unfehlbaren Eindruck, daß die Erinnerung an ihr Zusammenleben mit Kule in Sehnsucht nach den Kindern umgeschlagen sei. Das war ganz natürlich. "Reise nur gleich!" sagte er; "später wird es zu kalt." Damit meinte er freilich nicht, daß es gerade heut noch sein sollte; aber sie wollte es so, und am Nachmittag brachte er sie zur Bahn.

Gleich nach ihrer Ankunft bei Rendalens kam ein verzweifelter Brief: das Wiedersehen mit den Kindern war grausam gewesen. Sie hatten sie nicht wiedererkannt! Und auch sie die Kinder nicht. Äußerst wohlerzogene Kinder, gewiß! Aber nicht ihrer Schwester Kinder! Nicht verwandt mit ihr selber. Nur mit ihm! — Sein Blut war stärker als ihres. Große, dicke Kinder, die sie ansahen, als begriffen sie nicht, was sie wolle. Und dazu diese vielen fremden Menschen, die sie beständig beobachteten! Am liebsten wäre sie gleich wieder heimgereist, wenn sie nicht so erkältet gewesen wäre. — Ein späterer Brief lautete ein bißchen lebensfroher. Nicht daß sie zufriedener gewesen wäre mit den Kindern; die waren noch gerade so fremd und "materiell"; sooft sie die Kinder mit sich auf ihr Zimmer nahm, um mit ihnen zu plaudern oder ihnen vorzuspielen, fühlte sie, daß sie sie nur aufhielt. Aber das Zusammensein mit den prächtigen Menschen in und außerhalb der Schule machte ihr Freude; "hätten wir doch etwas Ähnliches!" seufzte sie.

Auch von Rendalen erhielt Kallem einen Brief, der in schwungvollen Worten ausdrückte, wie sich die ganze Kolonie freue, Ragni in ihrer Mitte zu haben. Er übermittelte die "einstimmige Bitte", sie ihnen doch noch eine Zeitlang zu lassen; sie sei auch müde von der Reise und nicht ganz wohl; die Ruhe scheine ihr gut zu tun.

So blieb sie acht Tage und noch einmal acht Tage fort. Mittags an einem kalten Wintertag kam sie zurück, blaß, noch immer erkältet, ängstlich, unfähig, zu sagen, wie fürchterlich es ihr war, wieder unter Menschen zu kommen, die sie für eine ehrlose Frau hielten. Kallem erschrak über ihr Erkältetsein und ihr schlechtes Aussehen; ihr Wiedersehen war kein frohes Wiederfinden, sondern eine besorgte Untersuchung ihrer Brust und ein bißchen mattes Erzählen; sie war müde und verlangte ins Bett.

Kallem fragte, ob Karl geschrieben habe; hierher sei kein Brief von ihm gekommen. — Nein, sie habe auch keinen erhalten. — Ob sie denn nicht geschrieben habe? — Nein. Karl habe eine Vertraulichkeit gezeigt, die ihr nicht gefiele. — Es waren schon oft kleine Reibereien zwischen den beiden vorgekommen, von denen er erst später gehört hatte; und da sie ihn nicht ansah, fühlte er, daß er nicht fragen dürfe.

Mehrere Tage hütete sie das Bett. Ein leidiger trockener Husten wollte nicht weichen; sonst waren keinerlei besorgniserregende Indizien vorhanden. Als sie wieder aufstand, kam sie ihm merkwürdig mager vor; das Gesicht hatte einen matten kränklichen Zug; unter den Augen lagen dunkle Ringe. Sie sehnte sich hinaus — in die frische Luft. Aber sie weigerte sich auf das bestimmteste, außerhalb des Gartens spazieren zu gehen. Erst behauptete sie, das sei langweilig; als er sie aus dieser Stellung vertrieb, verschanzte sie sich hinter eine stärkere: sie fing zu weinen an. Er hielt das für ein verdächtiges Zeichen; sie war am Ende gar schwanger? In dieser Hoffnung gab er sich zufrieden und wartete. Sie machte ihre Spaziergänge im Garten und erzählte es ihm voll Stolz; aber daß sie fast immer nur in der Dämmerung ging, das verschwieg sie. Nach und nach fand sie selber, daß ihr besser war; und er fand das auch.

So verging eine Zeit. Er wartete auf das, was er so gern gehört hätte, glaubte da und dort Anzeichen zu bemerken; zwischendurch aber ängstigte es ihn, daß sie immer magerer zu werden schien; er konnte sie auch nicht zum Essen bewegen. Eines Abends, als er fort gewesen, war sie wie gewöhnlich draußen in der Dämmerung spazieren gegangen und hatte nachher Schüttelfrost und Beklemmungen. Als Kallem zu Bett ging, schlief sie; aber ihr Husten weckte ihn. Er machte Licht und sah, daß sie die Hand gegen die Brust preßte. "Tut das weh?" — "Ja." — "Wo?" — "Hier!" — Und sie zeigte auf das rechte Schlüsselbein. — "Hast Du Stiche da, wenn Du hustest?" — "Ja." — Im selben Augenblick hatte sie einen heftigen Hustenanfall. Er stand auf, zog sich an, legte im Ofen nach, klingelte und schickte das Mädchen nach der Apotheke. Unterdessen untersuchte er sie und fragte sie dabei aus. Er hörte von dem Schüttelfrost gestern Abend, und wie sie ihre Spaziergänge am liebsten in der Dämmerung mache. "In der Dämmerung!" rief er; mehr war nicht nötig; sie versteckte ihren Kopf in den Kissen. — Das möge sie doch in Zukunft gefälligst bleiben lassen! Und vorläufig müsse sie das Bett hüten, und zwar mehrere Tage. Das Senfpflaster auf der Brust war ihr unangenehm, mit den Hustenpillen hatte er mehr Glück. Er verbarg seine Besorgnis hinter allerhand Scherz und Zärtlichkeit; und wirklich — nach ein paar Tagen war sie wieder so wohl, als er kaum zu hoffen gewagt hatte! Auch ganz gehorsam war sie geworden; vierzehn Tage lang hielt sie sich still im Zimmer. Der Husten kam seltener; die einzelnen heftigen Anfälle stachen zwar in der Brust; aber sonst fühlte sie sich ganz wohl; nur ungeheuer matt und kurzatmig, so daß sie nicht einmal mehr Lust hatte zu spielen.

Im Garten wurde ein Weg für sie gebahnt, und zum erstenmal ging sie — mit Kallem — wieder bei Tag aus, kehrte aber gleich wieder ins Haus zurück. Erst ängstigte ihn das, ängstigte ihn merkwürdig; aber aus ihrer Art und Weise schloß er, daß es nur Laune sei. Sie fühlte sich indessen matter, als sie gestehen wollte. Am Tag darauf versuchte sie es mit Sigrid. Aber nach den ersten Schritten versagte ihr der Atem; sie mußte ausruhen, und bat Sigrid, nichts zu sagen; es werde schon vorübergehen, wenn sie "mehr trainierte". Das Wetter wurde milder; über Mittag waren sogar ein paar Grad Wärme. Sie fühlte sich wohler und konnte länger gehen; Kallem freute sich, als er eines Tages sah, daß sie das Klavier öffnete. —

Eines Abends erschien Sören Pedersen; bleich — allein — beides äußerst ungewöhnlich. Was war denn los? Kristen Larssen ginge um! Kallem brach in schallendes Gelächter aus. Sören verzog keine Miene: Kristen Larssen ginge, wahrhaftigen Gott, um! Im letzten Jahr seines Lebens hatte er nie mehr Geige gespielt; er hatte seine Geige Aune gegeben. Aber jetzt spiele er Geige in seinem alten Haus. — Ob denn niemand drin wohne? — Nein. Das Haus sei abgeschlossen; aber er spiele darin! Mehrere hatten es gleichzeitig gehört; nicht der leiseste Zweifel sei möglich. — Ach was — da habe sich einfach irgendein Schelm eingeschlichen! Wer den Schlüssel habe? — Der Neffe seiner Frau. — "Wer ist das?" — "Aune!" — "Na, siehst Du wohl!" — "Aune hat ja aber selber das ganze Haus mit durchsucht; und Aune hat am meisten Angst von uns allen!" — Ein Mädchen, die ein krankes Kind hatte — Kallem kannte sie, er war ihr Arzt — hatte eines Nachts Kristen Larssen an der Hauswand entlang schleichen sehen. Seitdem hatten noch mehrere ihn gesehen. "Zweifeln tat keiner daran!" schloß Sören. Wie wollte der Herr Doktor denn das erklären, daß Frau Bajer, die Frau des Obersten, eines Tags zu ihnen in ihren Tapezierladen gekommen sei, und ihnen erzählt habe, sie habe geträumt, Kristen Larssen sitze in einer langen Stube zwischen vielen großen, gelehrten Männern, die alle buchstabieren lernten? Sie hatte sich gedrungen gefühlt, Sören Pedersen, den Kristen Larssen ja doch verführt hatte, das zu erzählen. "Und denken Sie sich, Herr Doktor, gerade in der Nacht vorher haben wir beide, Aase und ich, geträumt, die Frau Oberst komme zu uns in den Laden!"

"Ich will Ihnen etwas ebenso Merkwürdiges erzählen, Pedersen. Am ersten Tag, als meine Frau und ich hier in der Stadt waren, begegneten wir Maurer Andersen, Karl Meek, Kristen Larssen, Sigrid, Ihnen und Ihrer Frau — alles im Lauf einer Viertelstunde!" Pedersen rollte seine Kugelaugen, ohne zu verstehen. Daran war doch weiter nichts Besonderes? — "Nein, denn auf die hundert anderen, denen wir begegneten, gaben wir gar nicht acht. Genau so wie Sie, Sören Pedersen, nicht acht geben auf die Hunderte, von denen Sie und Aase träumen, — wenn Sie sie nicht gerade tags darauf in Ihrem Laden sehen!"

Sören Pedersen war aber nicht überzeugt.

Der Aberglaube lag nun einmal in der Luft. Einer steckte den andern an; bald sprach die ganze Stadt von nichts weiter; besonders, nachdem sich auch der Pastor in die Sache gemischt hatte. Seit dem Frühjahr hatte er allein gehaust mit seiner Mutter — Frau und Sohn waren erst kürzlich wiedergekommen — und in dieser ganzen Zeit hatte seine Lehre zugenommen an Strenge, — in der letzten Zeit mit einem Gepräge von Leidenschaft, das Unheil prophezeite. Jetzt verkündete er im Betsaal, jeder Gläubige wisse ganz wohl, daß Geister unter uns lebten und wirkten, und daß viele nach dem Tode den Weg der Ruhelosen wanderten; das seien erwiesene Tatsachen, die sich als Mahnung von Geschlecht zu Geschlecht wiederholten.

Als Kallem davon hörte, machte er ernst mit einem Gedanken, den er schon längst gehabt hatte — nämlich: sich Aunes zu bemächtigen. Aune hatte gar keine Lust und war erfinderisch genug, ihm immer wieder zu entschlüpfen; er besaß eine große Überredungsgabe, mit der er auch Kallem oft zum Besten gehabt hatte; aber jetzt mußte er heran! Die Frau war vollkommen einverstanden, und in ihrer Gegenwart nahm Kallem ihn eines Sonntag vormittags im Krankenhause vor — zunächst wegen des Trinkens, dann aber vor allem, um Licht in die Spukgeschichte zu bringen, die natürlich kein anderer als dieser Erzschelm selbst in Szene gesetzt hatte. Und so war es auch! Jetzt kam aber die Schwierigkeit: wurde das bekannt, so war Aune zugrunde gerichtet. Das war der Frau sofort klar, und sie bat für ihn. Darum ließ sich nichts anderes tun in der Sache, als es ihm zu verbieten und zu schweigen.

Natürlich hinderte das Kallem nicht, auf seiner Vormittagsrunde Doktor Kent, der so wenig an den Spuk glaubte, wie er selbst, zu erzählen, man wisse jetzt, wer die ganze Geschichte mit Kristen Larssen in Szene gesetzt habe; den Namen dürfe man nicht nennen; aber das Ganze sei ein abgekartetes Spiel. Kent, der bei einem Kranken Josefine traf und wußte, daß nichts ihr willkommener war als eine Nachricht von ihrem Bruder, wiederholte ihr Kallems Worte. Beim Mittagessen erzählte der kleine Edvard, der täglich von diesen Spukgeschichten voll war, jetzt hätten auch zwei Jungens Kristen Larssen gesehen, Aunes Junge und der Sohn des Laienpredigers. Edvard funkelte vor Eifer. Da erklärte die Mutter ihm kurz und bestimmt, das sei ein Betrug; einer der Ärzte aus der Stadt wisse, von wem der Betrug herrühre; es gebe keinen Kristen Larssen, der umgehe.

Als der Junge sich entfernt hatte, sagte der Pastor, er finde ihr Benehmen rücksichtslos. "Wieso rücksichtslos?" — "Nun, daß Du dem Jungen das sagst; Du hast doch gehört, daß er sich gleich dahinter verschanzte, ich glaubte auch an Gespenster!" Des Pastors Ton war nicht überlegen, nicht einmal vorwurfsvoll; sie fühlte, er hatte recht, und antwortete darum nicht. Aber es wirkte nach, und eine Weile darauf stand sie im Studierzimmer.

"Ich habe über das nachgedacht, was Du vorhin sagtest." Er lag auf dem Sofa und rauchte, erhob sich aber, um Platz zu machen. Es tat ihm wohl, daß sie zu ihm hereinkam. Aber sie blieb stehen. "Soll etwas, das Du dem Jungen einmal gesagt hast, für ihn eine Wahrheit sein, auch wenn es nicht wahr ist?" — "Nein. Aber Du könntest es mir überlassen, es zu berichtigen!" — "Und wer sagt mir, daß Du es berichtigen willst?" — "Was soll das heißen?" — "Das soll heißen, daß Du dem Jungen fortwährend Dinge beibringst, an die Du selber unmöglich glauben kannst." — "Was für Dinge?" — Er wurde rot; denn er begriff, jetzt kam es zu einer Abrechnung. — "Ich habe in der letzten Zeit oft daran gedacht, mit Dir darüber zu reden," sagte sie, "und nun soll es einmal geschehen. Du selbst glaubst nicht daran, daß die Welt vor etwa sechstausend Jahren in sechs Tagen geschaffen worden ist, oder daß die Sagen von den ersten Menschen und den Patriarchen etwas anderes seien als Sagen, nicht wahr? Ebenso die ganze Geschichte vom Paradies. Erde und Menschen können nicht gleich von Anfang an vollkommen gewesen sein. Aber die Kinder lehrst Du das, und in der letzten Zeit auch Edvard." —

Er schritt im Zimmer auf und ab; sie stand zwischen den beiden Türen, die zum Flur und zum Wohnzimmer führten. So oft er sich ihr näherte, schaute er sie mit einem starken, ja mächtigen Blick an; so sieht ein schlechtes Gewissen nicht aus; das fühlte sie. Und um ihr zu zeigen, in welchem Geist hier verhandelt werden mußte, blieb er stehen und sagte ruhig: "Wollen wir uns nicht setzen, Josefine?" — "Nein", erwiderte sie. "Ich würde ja doch gleich wieder aufstehen!"

"Das, was Du Sage nennst," sagte er, "trägt in sich die ewige Wahrheit, daß Gott alles und alle geschaffen hat, und daß die Sünde ein Abfall von ihm ist." — "Weshalb es nicht so lehren, anstatt in unwahren Bildern?" — "Kinder fassen es am besten in Bildern, Josefine." — "Dann sage ihnen, daß es nur Märchen sind." — "Darauf kommt es nicht an." — "Gewiß kommt es darauf an, daß die Kinder ewige Wahrheiten nicht in unwahren Bildern lernen, meine ich!" — Er sah, wie leidenschaftlich sie die Sache nahm, und warnte sie; sie müßten ohne Leidenschaft darüber reden können. "Nein", sagte sie, "das kann ich nicht. Denn Du mußt wissen — es geht um die Zukunft unseres Kindes — und um Deine und meine!" Und sie trat an den Schreibtisch, wie um ihm näher zu kommen, vielleicht auch, um sich zu stützen.

Aber er ließ sich nicht beirren. "Wärst Du selber so durchdrungen von jener ewigen Wahrheit, die Du im Munde führst, Josefine, — kämpftest Du nur um sie, so wäre all dies für Dich etwas ganz Untergeordnetes. Das, was wir an Stelle des Alten setzen könnten, ist ja auch nichts Sicheres; wir wissen, so, wie das ehrwürdige Buch es berichtet, kann es schwerlich zugegangen sein; aber wir wissen auch nicht, wie es in Wirklichkeit gewesen ist. Bloß das wissen wir: von Gott stammt unser Leben, in Gott sind wir glücklich — im übrigen laß Kinder und Erwachsene die ersten Vorgänge auffassen nach der Väter Weise — bis auf weiteres." Die ehrliche Kraft der Überzeugung lag in seinen Worten, und sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Darum schwieg sie lange. Dann aber brach plötzlich etwas anderes hervor. "Weißt Du, daß — ohne die grenzenlose Verschandelung meines Verstandes und Willens in meiner Kindheit auch ich anders geworden wäre, als ich jetzt bin?" — "Ja," sagte er kalt, "wie ich höre, hast Du es in der letzten Zeit so weit gebracht, den Glauben für das Unglück Deines Lebens zu halten!" — "Das hab' ich nie gesagt!" fuhr sie auf und wurde sehr blaß. "Und auch niemals gemeint!" Ruhiger fügte sie hinzu: "Den Glauben an Gott und die Erlösung durch Jesus hab' ich niemals als Zwang an meinem Verstand empfunden. Niemals!" — "Wirklich? Das ist ja schön!" sagte er, seufzte aber gleich darauf tief. — "Gut! Wenn Du mich nicht anhören willst," sagte sie, "so will ich mich kurz fassen. Entweder Du hörst auf, dem Jungen Märchen zu erzählen, die nicht unschuldig sind, wenn sie seinen Kinderverstand einengen können; oder ich halte Dich nicht mehr für vollkommen gewissenhaft, Ole!"

Es war nicht das erste Mal, daß sie harte Worte brauchte; sie hatten lange und schwere Kämpfe miteinander gehabt. Aber nie hatte sie so hart gesprochen, niemals seinen Glauben angegriffen. Sie hatte ihr Recht verteidigt, so zu sein, wie sie war, wenn auch mit heftigen Ausfällen gegen die Art, wie er war; sie war seinen Herausforderungen mit schneidiger Waffe begegnet; aber niemals, bis zu diesem Augenblick, hatte sie etwas derartiges gesagt oder Bedingungen gestellt. Er hatte schon ziemlich lange das drückende Gefühl gehabt, daß sich in ihr etwas zusammenzog; aber ihr fest gewappneter Vorsatz — von solchem Zorn, solchem Willen getragen —! So standen sie sich gegenüber, Aug' in Auge; und wollten die Tiefe ihres Willens aneinander messen. Auch in ihm kochte es auf zu gewaltigem Zorn, und um von vornherein jede falsche Hoffnung abzuschneiden, sagte er: "Der Junge bleibt bei mir!" — "Bei Dir?" — Sie wurde aschfahl. "Hast Du ein größeres Anrecht an ihn als ich? Bist Du seine Mutter?" — "Ich bin sein Vater. Bibel und Gesetz machen den Vater zum Eigentümer des Kindes."

Jetzt begann sie auf- und abzugehen; aber nur zwischen Fenster und Tür, wie zwischen den Stäben eines Käfigs. Ihre Brust wogte; ihr Atem ging hörbar; ihre Gesichtsfarbe, ihre Augen, ihre Stimme verrieten, in welch furchtbarer Aufregung sie war. Sie hatte nie geglaubt, daß er zu so etwas imstande sei. — "Schämst Du Dich nicht? Du wolltest den Jungen behalten?" — "Das will ich, so wahr Gott es mir gebietet! Du sollst unsern Jungen nicht verderben." — "Ihn verderben? Ich? Das ist zu viel! Jetzt sollst Du die Wahrheit hören! Von Kindheit an hast Du Macht über mich gewonnen — dadurch! Hast Macht gewonnen über meinen Verstand durch Deinen unerschütterlichen Glauben, ohne daß ich es merkte, weil Du gut warst und Dich hingabst. Und damit hast Du meine Natur verpfuscht — ja, das hast Du! — denn ich war anders geartet. Du hast meinem Leben Bahn und Ziel gewiesen, ich merkte es selber nicht. Ich sag' es, wie es ist; ich messe Dir keine Schuld bei. Aber Du sollst wissen, weshalb Du nicht auch Macht gewinnen darfst über mein Kind! Das darfst Du nicht — solange noch ein Funken Leben in mir ist — trotz Gesetz und Bibel! Jetzt weißt Du's — und Du wirst es sehen!"

Hätte sie geahnt, daß er schon lange, lange darauf gewartet hatte, sie möge ihm einmal so gegenüberstehen, sie hätte es sich erspart, mit solch sprühender Leidenschaftlichkeit zu reden. Er selber war vollkommen Herr seiner Gefühle. "Ja, Deine göttlichen Gefühle hab' ich auf Abwege geleitet — das weiß ich längst. Ich hab' es getan durch den Glauben, der nicht der Deine wurde. Das hab' ich gewußt, mein Kind, noch ehe Du wegreistest!" Er sagte es breit und sicher. — "Nun, also dann weißt Du es!" schrie sie mit derselben funkelnden Leidenschaft. "So weißt Du es! Dein Glaube ist niemals der meine geworden! Er paßte mir nicht! Aber auch zu keinem andern Glauben bin ich gekommen. Immer dachte ich, es sei Sünde, daß ich nicht glauben konnte wie Du! Es lag wie ein Stein auf mir, daß ich nicht alle meine Kräfte aufwenden konnte für etwas, das mein war! Darum bin ich nicht geworden wie andere. Alles war verpfuscht!" — "Und was hätte denn aus Dir werden sollen, wie?" — "Oh — wenn Du gleich das Tollste wissen willst — Kunstreiterin!" antwortete sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Er blieb stehen; er traute seinen Ohren und Augen nicht. "Kunstreiterin!" Er lachte höhnisch. "Wahrlich — ein großer Verlust für die Welt und für Dich, daß Du das nicht geworden bist, Josefine!" — "Das wußt' ich, daß Du so denken würdest. Aber wenn es mein Los gewesen wäre, einen Zirkus zu leiten, so hätt' ich Hunderten Brot und Tausenden ein gesundes Vergnügen verschafft. Das ist gar nicht so wenig, Du — das ist mehr, als die meisten Menschen leisten! Und was hab' ich so geleistet? Mit was für Kleinkram hab' ich mich beschäftigt? Was hab' ich erreicht? Daß ich nahe daran bin, Dich und mich zu verachten! Was ist aus unserm Leben, was ist aus unserer Ehe geworden? Kannst Du ehrlich behaupten, Du fühltest noch Liebe zu mir? Kann ich behaupten, ich hätte Dich noch lieb?" — "Nein, Josefine — wen Du lieb hast, das wissen wir beide!"— Wenn er sie geschlagen hätte, wie ihr Bruder, sie hätte nicht rasender sein können; erstens weil es überhaupt ausgesprochen wurde — sie wußte ja kaum, daß man wagen konnte, es zu denken — und dann, weil der Mann es aussprach, der ihrem Bruder und ihr alles verdankte, was er war, und der trotzdem Schuld daran trug, daß die Geschwister entzweit waren. "Allerdings — er hat, was Du nicht hast!" antwortete sie, um ihn so recht empfindlich zu verletzen. "Im übrigen ist es erbärmlich von Dir, so etwas zu sagen." — "So? Glaubst Du, ich wüßte nicht, daß es seine Schuld ist, wenn ich Dich verloren habe, Dich und meinen häuslichen Frieden und dadurch die Freudigkeit für meinen Beruf, und daß mir nun auch noch die Gefahr droht, mein Kind zu verlieren?"

Seine Stimme zitterte; er hatte anfangs im Zorn gesprochen, doch der Zorn ging über in tiefes Leid, und der gleiche Vorgang war in ihr. Sie hätte am liebsten laut geweint. Doch keines wollte einem weicheren Gefühl nachgeben. Sie stand am Fenster und blickte hinaus. Er ging im Zimmer auf und ab. Ein langes, langes Schweigen. Und währenddessen gewann in ihr der Zorn wieder die Oberhand. Seine schweren Schritte klangen ihr voll Trotz; auch in dem Schweigen lag Trotz. Und das, was er vorhin gesagt hatte, war schändlich.

"Also," sagte sie, ohne ihn anzusehen, "Du kennst nun die Bedingung. Solche Märchen, wie die Spukgeschichte von Kristen Larssen ... erzählst Du, und hast sie dabei nicht einmal untersucht. Und genau so ist es mit den Märchen vom Paradiese, an die glaubst Du nicht einmal und erzählst sie doch. Kann ich Achtung haben vor so etwas? Da ist mein Bruder doch ein anderer Mensch! Der ist doch aufrichtig. Kommst Du meinem Jungen noch weiterhin mit solchen Märchen, ohne ihm zu sagen, daß es Märchen sind," — und jetzt wandte sie sich um — "so ist es aus mit uns beiden, Ole! Bei Gott, es ist aus! Niemals wird es Dir gelingen, ihn mir wegzunehmen durch so etwas!" Sie trat auf ihn zu. "Darin gebe ich nie und nimmer nach, Ole!" Sie ging.


Am selben Sonntag und zur selben Zeit kam Kallem nach Hause zum Mittagessen, das bei ihm etwas später lag als bei seinem Schwager.

Schon durch die Küchentür sah er Ragni in einer großen Schürze, die bis unters Kinn reichte, am Küchentisch stehen und Gemüse putzen. Er legte im Flur ab und ging zu ihr hinein; in letzter Zeit war in ihm eine stetig wachsende Angst, die er ihr jedoch verbarg. War es die weiße Schürze, die einen so bleichen Schein über sie warf, oder der Dampf von Sigrids Braten — Ragni sah entsetzlich schlecht aus. Und sie hatte sicher geweint! Das schnitt ihm ins Herz. Sie sah nicht von ihrer Arbeit auf, sondern sagte: "Wir haben einen Gast zu Tisch." — "So?" — "Ja, Otto Meek, Karls Vater, ist heut Vormittag dagewesen und kommt zum Essen." — "Wie geht's denn Karl?" — "Nicht gut. Da kommt ja Herr Meek." Der große Kopf in der Pelzmütze tauchte jenseits des Zaunes auf; jetzt trat Meek in den Garten; und Kallem ging ihm entgegen. Früher, als Meek noch praktizierte, hatte auch er sich besonders mit Brustkrankheiten befaßt, die in dieser Gegend des Landes nur allzu verbreitet waren, und er verfolgte Kallems Arbeit am Krankenhaus und seine Schriften mit reger Teilnahme; Kallem freute sich über sein Kommen. Während er ihm half, den Überzieher abzulegen, sagte er, Ragni habe ihm erzählt, es ginge Karl nicht gut. "Nein, es geht ihm nicht gut." — "Was ist es denn?" — "Ja, deshalb bin ich gerade gekommen," erwiderte Meek. — "Haben Sie mit meiner Frau darüber gesprochen?" — "Ja." Sie gingen beide ins Zimmer. Es war warm und gemütlich drin; der Flügel stand offen. Hatte sie gespielt, als Meek gekommen war? Dann konnte es ihr nicht so schlecht gehen, wie es aussah; er brannte darauf, sie zu untersuchen.

Meek war heute noch schwerfälliger und schweigsamer als gewöhnlich. "Na," sagte Kallem, "haben Sie sich über Karl geeinigt, Sie und meine Frau?" — Meek sah ein bißchen verwundert auf. "Sie meinen, daß man ihm schreiben soll?" — "Na ja, das auch. Es hat natürlich — wie schon oft — eine kleine Reiberei gegeben?" — "Ja", antwortete Meek und schwieg dann wieder. — "Sie denken wohl, ich wüßte etwas davon? Nein, mein Bester, keinen Schimmer!" Meek schien immer nachdenklicher zu werden. "Ich habe Ihrer Frau gesagt, sie müsse es Ihnen sagen. Es ist ja schön von ihr, daß sie es nicht getan hat. Aber die Sache fängt an, eine gefährliche Wendung zu nehmen." Seine schwermütigen Augen blickten in Kallems Augen. — "Gefährlich, sagen Sie?" — "Ja. Ich muß ihn nach Hause kommen lassen." — Kallem sprang von seinem Stuhl auf; Meek fuhr fort: "Es hat gar keinen Zweck, daß er dort ist." — "Aber, mein Gott, was ist denn los? Wollen Sie, daß wir es wieder mit ihm versuchen?" — Kallem dachte, der Junge habe möglicherweise einen Rückfall gehabt. Meek sah ihn forschend, beinah erschrocken an. "Wie geht es eigentlich Ihrer Frau?" Kallem wurde rot; das traf wie ein Schuß mitten in seine heimliche Angst. "Sie hat sich eine häßliche Erkältung zugezogen, die nicht weichen will; ich habe eine Zeitlang geglaubt, ... Wissen Sie was? Könnten Sie sie nicht einmal untersuchen?" Sein Zweifel war zur Gewißheit geworden; sein Herz schlug so, daß er selber sie nicht hätte untersuchen können. Meek sah ihn noch immer an; und Kallems Angst wurde immer größer. "Ich bitte Sie, wollen Sie sie nicht untersuchen?" — "Doch, natürlich. Sie haben es in der letzten Zeit nicht getan?" — "In der allerletzten Zeit nicht. Ich wollte sie nicht ängstigen. Ihre Phantasie bemächtigt sich gleich der Sache, und das ist bei ihr furchtbar gefährlich. Außerdem war da noch etwas anderes ... Aber jetzt werd' ich —" Er wollte hinausgehen und sie holen. "Haben Sie ihren Vater gekannt?" fragte Meek. Kallem überlief es kalt. "Haben Sie ...?" — "Ja. Ich war Fischerarzt dort oben." — "War er —?" fragte Kallem atemlos, und verschluckte den Schluß. Meek nickte bloß. Kallem griff sich mit beiden Händen an den Kopf, eilte nach der Tür, und kam wieder zurück: "Wollen Sie jetzt gleich, auf der Stelle, sie untersuchen, ja?" — "Wie Sie wünschen." — Kallem führte sie behutsam herein, ohne daß sie erst hatte die Schürze abbinden können; sanft zog er sie ans Fenster. Ja, sie hatte geweint. Und diese Ringe um die Augen, die Magerkeit, die Farbe —! Sie sah sein Entsetzen und deutete es falsch. Draußen in der Küche hatte sie gedacht: jetzt sprechen sie von Karl. Jetzt erfährt Kallem, was geschehen ist, und warum ich keine Briefe mehr von ihm haben will. Als sie nun Kallems Aufregung sah, dachte sie: ist er böse, weil ich nichts gesagt habe? Das konnte sie nicht ertragen; ihr wurde kalt und heiß. — "Liebe, liebste Ragni, darf Doktor Meek nicht mal Deine Brust untersuchen?" Also das war es —! Sie erschrak aufs heftigste und sah ihn wie ein wundes Tier an, das um Schonung fleht. Aber er bat wieder und begann behutsam ihr die große Schürze abzubinden; und gehorsam wie sie war, fügte sie sich.

Gleich an der ganzen Art, wie und wo Meek innehielt und wieder horchte, merkte Kallem, daß da etwas Entsetzliches über sie beide hereingebrochen war. Ihre verängstigten Blicke suchten die Augen des Gatten und vermehrten seinen eigenen Schmerz — ahnte sie es selbst? Oder war es ein Vorwurf, daß er einen andern das tun ließ?

Jetzt lag der große Kopf an ihrem Rücken. An der rechten Seite — da ... Verdichtung in der Lungenspitze? Kavernen im Gewebe? Er dachte sich das Schlimmste — und sie auch; das sah er. Wußte sie vielleicht mehr, als sie hatte sagen wollen? Verheimlichte sie ihm etwas, ebenso wie er seine Furcht verheimlichte? O Gott, so kummervoll fragend sucht kein Auge das andere, es sei denn in Todesangst! Auch ihn packte sie.

"Haben Sie in der letzten Zeit außergewöhnlich viel gehustet?" Sie schien unsicher, was sie antworten solle, und blickte flehend auf Kallem. Ihre Hände zitterten, und sie wollte es verbergen; Meek sah es. "Fühlen Sie sich sehr matt, wenn Sie spazieren gehen?" fragte er. Wieder blickte sie verzweifelt auf Kallem, als wolle sie ihn dafür um Verzeihung bitten. "Kommen Sie leicht außer Atem?" fuhr der andere fort. — "Ja." — "Fühlen Sie sich manchmal sehr entkräftet, — fast als ob Sie ohnmächtig werden wollten?" In schrecklicher Angst sah sie jetzt Kallem an. — "Sind Sie etwa schon in Ohnmacht gefallen?" — "Ja." — "Ist das wahr?" rief Kallem. — "Ja, heute", sagte sie hastig, mit zitternder Stimme. — "Nachdem ich mit Ihnen gesprochen hatte?" — "Ja. Ich wollte gern ein bißchen frische Luft schöpfen, und ..." Bei diesen Worten brachen die Tränen hervor.

Meek wartete eine Weile. "Wenn Sie husten, — haben Sie dann Schmerzen hier?" er zeigte auf das rechte Schlüsselbein. Sie nickte. "Haben Sie jemals Ihren Auswurf angesehen?" Sie antwortete nicht. "Haben Sie ihn nie angesehen?" — "Doch, gestern Abend." — "Nun, und — ?" Sie schwieg und starrte zu Boden. — "War Blut darin?" — Sie nickte; die Tränen liefen ihr über die Wangen; sie wagte nicht mehr aufzusehen.

Kallem stand da, unfähig zu sprechen. Meek fragte nicht weiter. Ragni ordnete ihre Toilette. Meek reichte ihr stillschweigend ein Tuch, das sie abgenommen hatte, als die Untersuchung begann. Und während sie hilflos dasaß und es wieder umzubinden versuchte, schien Kallem etwas einzufallen, was er im Arbeitszimmer holen mußte. Er kam nicht wieder. Sie wußte weshalb; und eine Weile zweifelte sie, ob sie überhaupt aufstehen könne, und hatte ein Gefühl, als würde sie wieder ohnmächtig werden; aber der Gedanke an ihn, der da drin in seinem Studierzimmer saß, überwand die Ohnmachtsanwandlung; sie wollte zu ihm. Sie bat Meek um Entschuldigung, stand auf, ging auf die Eßzimmertür zu und verschwand. Auch sie kam nicht wieder.

Meek wartete eine Weile, wartete lang und länger. Dann ging er auf den Flur, zog seinen Mantel an, rief zur Küchentür hinein, er müsse gehen, und bat, die Herrschaften zu grüßen.

Sigrid suchte sie in der Wohnstube, klopfte an die Tür des Arbeitszimmers, — keine Antwort. Sie horchte und öffnete schließlich. Kallem lag auf dem Sofa; Ragni kniete, an ihn gelehnt, vor ihm. Leise meldete Sigrid, das Essen sei fertig, und Doktor Meek sei fortgegangen. Keines antwortete; keines blickte auf.

Edvard und Ragni hatten bis jetzt geglaubt, der Tag, an dem Ragni nach Amerika gereist, sei der schwerste ihres Lebens gewesen; brieflich und mündlich hatten sie einander gesagt, das sei ein Gefühl gewesen, als müßten sie sterben. Aber der Tod ist noch anders; er gleicht nichts sonst auf der Welt. Das erfuhren sie jetzt. —

Auf diesen Tag folgte eine lange Zeit voll Kampf ohne Hoffnung, voll Verzweiflung ohne Worte, voll innigster Liebe ohne Freude. Ragni hatte allerlei zu "ordnen", womit sie in der Stille anfing. Sie hatte auch verschiedenes zu schreiben, und so oft sie nur irgend konnte, machte sie sich daran, schrieb, strich aus, — nach langer Arbeit wurde das Ganze nur kurz. Aber so lange sie mit dem beschäftigt war, was sie sich zu erledigen vorgenommen hatte, ging es ihr leidlich. Kallem war ganz erstaunt.

Er selbst hatte allen Mut verloren. Er sah das Schlimmste kommen. Am längsten sträubte er sich, ihren Auswurf zu untersuchen; ... er wußte im voraus, daß er den Tuberkelbazillus darin finden würde, den Feind, zu dessen Bekämpfung er Vermögen und Leben eingesetzt hatte. Nun war er vom Feind in seinem eigenen Hause besiegt worden. Aber eines Tages mußte er doch darangehen; und er fand ihn. Er rannte nicht im Laboratorium auf und ab, er weinte nicht, er rang nicht die Hände. Er versuchte nur, ob er ohne sie denken könne; aber immer dachte er nur an sie. Von der ersten Stunde ihrer Begegnung an — all die kleinen Züge, die unbedeutendsten Beweise ihrer Anmut und Begabung, ihre Schwächen ebenso wie ihre schweigende, poetische Liebe — alles durchlebte er noch einmal mit der gleichen Wonne, dem gleichen Schmerz; alles war ihm gleich lieb, gleich unentbehrlich; unzählige Begebenheiten voll Humor, Wärme, Furcht, Schönheitssinn, Hingebung an den Augenblick — alle sahen sie ihn an wie Augen. Wo sollte er hin? Was sollte er weiter? Sie war ja auch in all seinen Arbeiten. Ihr Bild aus dem dritten Jahr in Amerika stand drüben auf dem Kaminsims; es war seinerzeit gekommen als erster Abdruck dessen, was ihr geistiges Entwicklungsleben in Gesicht und Augen hineinmodelliert hatte, eine wundervolle Bestätigung dessen, was er geahnt hatte, als er sie hinüberschickte. Aus dem Bild heraus suchten ihre Augen wie immer die seinen; dieses Lächeln ihrer Augen war ihm in der Wartezeit wie eine Verheißung alles Guten gewesen! Und was war es ihm eben dadurch nicht alles gewesen! Jetzt strömten wieder die Erinnerungen herbei an ihr erstes Wiedersehen, an die ersten Worte, die erste Verlegenheit über das Fremde, das hinzugekommen war, das erste ganze, volle Wiedererkennen, die erste Umarmung ...

Und das nur, um zu sagen, daß nun alles zu Ende gehe! Auch alles, was er im Zusammenleben mit ihr gedacht und getan hatte, seine Freude daran, seine Kraft, sein Glaube. Was in aller Welt war nur geschehen? Er mußte wirklich einmal mit ihr darüber sprechen. Da war etwas, was sie ihm verheimlichte. Eine Unvorsichtigkeit, die sie nicht einzugestehen wagte? Was konnte es sein? Aber in sie dringen mochte er nicht.

Dann, eines Tages, als er nach Hause kam, fand er sie nicht unten. Und als er hinaufkam, lag sie im Bett! Sie streckte ihre Hand aus — wie mager die geworden war! — und richtete die großen Augen mit einem matten, halbverschleierten Ausdruck auf ihn: "Ich hab' mich ein bißchen hingelegt", flüsterte sie; "bloß auf einen Augenblick!" Sie sah nicht einmal so schlecht aus, vielleicht weil sie lag. Er setzte sich an ihr Bett und hielt ihre lange, magere Hand zwischen seinen beiden Händen.

"Hinter all dem", begann er vorsichtig, "steckt etwas, in das ich nicht eingeweiht bin. Einmal war ich auf vollständig falscher Fährte; aber auch später ist es schneller gegangen, als ich begreife — einfach, weil ich nicht wachsam genug gewesen bin. Da steckt etwas dahinter, irgendeine große, vielleicht wiederholte Unvorsichtigkeit, die ich nicht mit in Rechnung gezogen habe. Schatz, sag' es mir jetzt; sonst hab' ich keine Ruhe."

"Ich will es Dir sagen. Ich habe es mir eben überlegt. Drunten in meinem Schreibtisch sind ein paar Papiere, im ersten Fach links; die sind alle für Dich. Die sollst Du lesen, wenn —" sie unterbrach sich selbst. "Später!" fügte sie hinzu und drückte schwach seine Hand. — "Also jetzt soll ich es nicht erfahren:" — "Doch, das, wonach Du fragst, gewiß. Ich kam nur nicht so weit." Sie bat ihn, sie etwas anders zu legen, und er half ihr. — "Doch, Du sollst es wissen. Nur Dir zuliebe habe ich es verheimlicht," — ihre Augen füllten sich mit Tränen, — "Du, mein ..." Wieder ein leiser Händedruck und ein Lächeln. Er trocknete ihre Tränen mit seinem Taschentuch ab und wischte sich heimlich die Augen hinter der Brille. Sie lag und sah ihn an, ohne zu sprechen; hatte sie es vergessen oder überlegte sie? Er beugte sich über sie: "Nun —?" fragte er; "willst Du es mir nicht sagen?" — "Doch! Das, was zu oberst liegt, von Karls Hand, das kannst Du gleich lesen. Das andere nicht." — "Steht es denn in Karls Brief?" Sie nickte. "Der Schlüssel?" flüsterte er. "Der steckt", antwortete sie, ohne die Augen zu öffnen, und ließ seine Hand los.

Er ging hinunter, öffnete das Fach und nahm den Brief heraus, den wir kennen; dann setzte er sich hin, um ihn gründlich zu lesen.

Sein Entsetzen! Und seine Empörung, — und seine Ohnmacht! Und davon hatte er nichts erfahren, als es noch Zeit war! Er lief wie ein Rasender auf und ab; dann setzte er sich aufs neue hin, wie gelähmt. Er faßte Entschlüsse und verwarf sie wieder! Vor alle Welt wollte er hintreten und ihnen zurufen, es sei eine Lüge! In den Betsaal wollte er einbrechen, wenn er gesteckt voll war, auf die Kanzel steigen und sie des feigsten, erbärmlichsten Mordes anklagen! ... Und dann wieder fiel ihm ein, daß Ragni, selbst wenn sie ganz gesund gewesen, an so etwas gestorben wäre.

Er selbst lebte nur dafür, den Menschen so viel Gutes zu erweisen, wie er nur konnte; und nicht ein einziger unter ihnen war ehrlich genug, war dankbar genug oder auch nur empört genug, ihm zu sagen, daß er wachen müsse über seinem und seiner Frau guten Namen, über der Ehre seiner Ehe! So viel träge Verantwortungslosigkeit! So viel Raum für Splitterrichterei und Bosheit in dieser "christlichen" Gesellschaft! Jetzt verstand er seine Schwester! Diese Verleumdung hatte sie geglaubt! Das also war es, worüber sie mit ihm hatte reden wollen an jenem Abend, als sie auf ihn gewartet! Und aus Empörung über das, was sie so steif und fest glaubte — was trauen die Menschen einem Freidenker nicht alles zu? — hatte sie ihnen den "Walfisch" auf den Hals geschickt! Alle, die nicht fünfe gerade sein ließen, glaubten daran, alle verurteilten, niemand erhob Einspruch, niemand kam!

Das also hatte nun Ragni von ihrer Herzensgüte gegen Karl! Sie war um so uneigennütziger gewesen, als sie anfangs und auch später noch oft nur mit Überwindung ihrer eigensten Natur darangegangen war; erst jetzt, hinterher, hatte er das erfahren. Er kannte kein lieberes Geschöpf als sie! Und ihr großes, warmes Gemüt, das sollten diese ...! Diese Schurken, diese gewissenlosen Zionswächter, diese psalmodierenden Egoisten und herzenskalten Gebetmacher! Er las Karls Brief noch einmal; Karl tat ihm so herzlich leid. Armer, armer Junge! Natürlich hatte die Liebe in ihm erwachen müssen! Welcher brave Kerl würde nicht ein Wesen anbeten, dem die Menschen um seinetwillen so schweres Unrecht antaten? Da mußte ja die Dankbarkeit und Bewunderung des Jungen zuletzt zu Liebe werden! Sowie Karl zurückkehrte, sollte er zu ihnen kommen! Ganz sicher! Und hier sollte er bleiben, bis sie ihren letzten Atemzug getan hatte! Und seinen Arm wollte er nehmen, seinen und keinen andern ... an jenem furchtbaren Tag ... hinter ihrem Sarg ...! Er warf sich aufs Sofa und schrie laut auf.

Vielleicht war er zu sehr von seinen eigenen Interessen eingenommen gewesen; er hätte mehr mit Menschen umgehen, hätte sie unter Menschen bringen sollen; dann wäre das nie geschehen. Keiner, der einen tieferen Eindruck von ihrer reinen Seelengüte empfangen hätte, würde gewagt haben ... obgleich — wer weiß? Dogmenblinde Gewohnheitstiere sehen nicht.

Sigrid kam gerannt: der Frau Doktor sei wieder schlecht geworden; ein Hustenanfall. In neun, zehn Sätzen nahm er Zimmer, Flur und Treppen; der Anfall war vorüber, als er kam; sie lag da, in Schweiß wie gebadet, so matt, so hinfällig, daß sie jeden Augenblick ohnmächtig werden konnte. Ihr Auswurf war grünlich, mit ziemlich viel Blut darin; er kannte das. Er erklärte es sich damit, daß er zu lange weggeblieben war; ihre Spannung hatte sich gesteigert, sie war heiß geworden, hatte sich aufgedeckt ... Sie lag mit geschlossenen Augen da und er verhalf ihr zum Schlafen. Fortan verließ sie das Zimmer nicht mehr.

Von ihrem Bett ging er sogleich an seinen Schreibtisch, um Doktor Meek mitzuteilen, was geschehen war, und ohne sich auf weiteres einzulassen, schloß er: "Wenn Karl zurück ist, so sehen wir ihn wohl bald? Ich weiß jetzt alles."

Dann ging er aus, um eine Pflegerin zu besorgen, und sowie er zurückkam, wieder zu ihr hinauf. Sie schien sich leichter zu fühlen und schlief; und als sie endlich aufwachte, war er das erste, was ihre Augen trafen. Er gab ihr zu trinken, liebkoste sie, und die Fragen in ihren Blicken erwiderte er mit Küssen auf ihre magere Hand, während es um seinen Mund zuckte und Tränen die Brillengläser benetzten.

Aber sie redeten von ganz anderen Dingen: daß ihre Schwester nicht kommen könne, und daß er Sissel Aune zu Ragnis Pflege geholt habe; sie eigne sich von allen, die er kenne, am besten dazu und sei ihnen treu ergeben. Ragni nickte zustimmend. Und dabei sahen sie einander an, wie Menschen, die sich nicht satt aneinander sehen können. Und beide dachten an das, was sie nun beide wußten — an die Ursache, weshalb sie jetzt so dalag. "Der arme Karl!" flüsterte sie. "Der arme Karl!" wiederholte er.

Er mußte aufstehen und tat, als habe er unten etwas vergessen; irgendein Vorwand fand sich ja immer.

Hätte er nur wenigstens mit ihr reden können! Aber er wagte es nicht. Er hatte auch keine Zeit, mit sich selber allein zu sein. Er machte nur die notwendigsten Besuche im Krankenhaus und schränkte seine Sprechstunden möglichst ein; von allem andern machte er sich völlig frei, um bei ihr sitzen zu können.

Er hatte den Menschen sein Vermögen und seine Arbeit geopfert, und nun lohnten sie ihm damit, daß sie sein Lebensglück mordeten — wie grausam fand er das! Was ist das für ein Maß, mit dem die Menschen messen, wenn nicht ein Blick auf Ragni ihnen sagt, daß sie das feinste, reinste kleine Wesen unter der Sonne ist? Das war und blieb ihm unfaßlich! Diese Blindheit empörte ihn immer wieder! Von denen, die er kannte, schloß er auf die andern: nichts als Mittelware, für gewöhnlich nicht uneben, aber selbstverständlich nie über die Grenzen hinaus! Alle gingen sie in die Kirche, viele noch obendrein in die Betstunde — Pastor Tufts Leibgarde. Unter ihr hatte er auch mehrere ganz anständige, vorsichtige Menschen getroffen. Und trotzdem — ebenso gewissenlos in ihrem Urteil, so liebevoll-grausam — lauter makellose Mörder!

Nicht einer, den er an der Gurgel packen konnte: "Du bist es! Du sollst mir Rede stehen!" Alle — und keiner. Sanfte Mitwisser, liebenswürdige Mitschuldige. Eine war da — die stand abseiten — Josefine. Josefine hatte die Geschichte nicht aufgebracht; das war nicht ihre Art. Aber glauben, was einmal im Umlauf war, wenn es jemand galt, gegen den sie eingenommen war, — ja. Mit eisigem Schweigen ließ sie dann die andern bei ihrem häßlichen Glauben beharren — oder schürte ihn noch gar. Wie sein Herz sich mit Erbitterung gegen sie füllte! Trotzdem sie sicher nicht der Urheber war — das wiederholte er sich wieder und wieder; sie hätte die Verleumdung gar nicht über ihre Lippen gebracht, dazu war sie zu vornehm, — aber Josefine trug die Hauptverantwortung für diesen Mord! Er war überzeugt — so wenig sie selbst Christin war — die christliche Dogmensucht hatte sich auch in ihr beleidigt gefühlt durch die Ungläubigkeit eines kleinen Menschenwesens, — sich beleidigt gefühlt, weil ein so schuldbeladenes Geschöpf es wagte, ihren Glauben zu verwerfen. Daher jene merkwürdig peinliche "Gerechtigkeit", die so sicher und so wohlmeinend tötete.

Aber so weit war er ihr verwandt, daß auch ihn jetzt die tiefsten Schauer der Rachsucht durchtobten. Auch er nannte sie "Gerechtigkeit"; und auch er hatte keine Ahnung, daß er sich selbst belog. Wenn er bei Ragni saß, fühlte er nichts davon; ihre Nähe allein machte ihn gut. Bei ihr wurde er, wenn ihm solche Gedanken kamen, furchtbar aufgeregt, streichelte ihre Hand, strich ihr über die Stirn, sah ihr ins Auge, rückte ihr die Kissen zurecht — bis er gehen mußte; denn sonst wäre er niedergekniet und hätte alle Selbstbeherrschung verloren.

Da saß nun die stattliche Sissel Aune. Ihre dunkeln Augen wachten mit verständiger Ruhe und wandten sich zuweilen teilnahmsvoll ihm zu. In ihr hatte er alle die Menschen um sich, denen er etwas gewesen war, die ihm gern geholfen hätten, jetzt, wenn sie's nur gekonnt hätten. Aase und Sören Pedersen kamen jeden Morgen an die Küchentür geschlichen, um nachzufragen, wie es gehe; und je mehr die Kunde sich verbreitete, desto mehr Menschen kamen — alle still und voll Teilnahme. Sigrid selber fiel es schwer, zu Ragni hinaufzugehen; sie mußte dann immer gleich weinen. Aber manchmal kam sie doch — z. B. wenn Frau Oberst Bajer eine schöne Topfblume abgab, die sie den Winter über mit Liebe großgezogen hatte und der strengen Kälte wegen unter dem Mantel daherbrachte. Die mußte Sigrid doch ins Krankenzimmer hinauftragen und so stellen, daß Ragni sie sehen konnte. Ein Mädchen, deren Kind Kallem von schwerer Krankheit geheilt hatte — dieselbe, die Kristen Larssen hatte spuken sehen — und die ebenfalls einen Blumentopf besaß, einen einzigen, brachte ihn auch an, als sie von der Gabe der Oberstfrau hörte. Der Topf, in dem die Pflanze stand, war mehr als einfach; aber was tat's?

Kallem hätte es ja sonst nicht ausgehalten.

Eines Tags, als er vom Krankenhaus zurückkam, wo etwas Besonderes vorlag, und gedankenvoll durch den Flur ging, sah er fremde Reisekleider dort hängen. Bevor er selber ablegte, öffnete er die Wohnzimmertür. Am Verandafenster standen Otto und Karl Meek. Karl wandte sich zuerst um, ging auf Kallem zu und fiel ihm um den Hals. Er sah schlecht aus und hatte etwas Unruhiges, fast Verwirrtes. Sein langes Haar war ungepflegt, sein ovales Gesicht, schon an sich groß, schien noch größer geworden zu sein. Die Augen darin brannten schmachtend, mit einer Leidenschaft, wie sie Kallem nicht an ihm kannte. Und diese Augen ließen die seinen nicht los. Ein Flehen um Nachsicht war in ihnen, die Geschichte eines großen Schmerzes, der ihn verfolgte, wo er ging und stand. Karl konnte seine Bewegung nicht meistern, vermochte nicht ruhig zu sein; und als Kallem nun auch mit dem Vater reden mußte, fing er an, sich umzusehen, ging zum Flügel hin, strich mit der Hand über die Tische, betastete die Blumen, blätterte in den Noten, ging dann ins Eßzimmer, in die Studierstube. Dort blieb er lange — allein. Dann ging er hinaus in die Küche, zu Sigrid, und blieb draußen. Kallem sah sich wiederholt nach ihm um; Doktor Meek bemerkte es und sagte: "Wir Meeks haben alle starke Gefühle. Wir haben versucht, sie zu zügeln; aber der dort kann seine nicht zügeln; sie werden bloß eingezwängt auf der einen Seite, um auf der andern wieder hervorzubrechen." Karl trat wieder ein; ganz verweint. Kallem wollte nicht, daß er so zu Ragni hinaufgehe; jedenfalls müsse er erst warten, bis er ruhiger geworden sei. Karl beteuerte, oben würde er sogleich ruhig werden; er bat inständig, man solle ihn hinauf lassen; umsonst. Er sollte sie heute überhaupt nicht mehr sehen. Der Abend war immer ihre schlimmste Zeit; sie durfte gar nicht einmal wissen, daß er überhaupt da sei.

Am andern Vormittag, als sie zurecht gemacht war, teilte Kallem ihr mit, daß Doktor Meek in der Stadt und gestern Abend dagewesen sei, um sich nach ihr zu erkundigen. — "Und Karl?" fragte sie. — Ja, Karl sei auch mitgekommen. — Eine Weile lag sie da, ohne etwas zu sagen. "Wenn unten gespielt wird, muß ich es hier hören!" — "Ja, wenn die Tür offen ist; aber meinst Du wirklich ...?" Der Flur war warm und abgeschlossen; durch ihn wurden alle Räume oben gelüftet; also in der Beziehung stand nichts im Wege. "Glaubst Du wirklich, Du könntest Musik vertragen?" — "Ich sehne mich nach Musik!" erwiderte sie. Sissel Aune sah den Doktor an; sie war augenscheinlich nicht dafür. "Karl darf Dich wohl nicht begrüßen, wie?" Ragni faltete den Zipfel des Leintuchs mit der einen Hand zusammen; in der andern hielt sie das Taschentuch. Sie antwortete nicht; es war ihr offenbar peinlich. "Aber Doktor Meek darf Dir doch guten Tag sagen?" — "Muß es sein?" — Kallem wäre es lieb gewesen, wenn er sie gesehen hätte. Später kam Doktor Meek, und Kallem erzählte ihm alles. Karl bat voller Demut, ob er nicht — hinter den andern — an der Tür stehen dürfe. Er wolle kein Wort reden, sich nicht rühren, gleich wieder gehen. Kallem fühlte Mitleid mit ihm und mochte es ihm nicht abschlagen. Er ging erst zu Ragni hinein und meldete Doktor Meek; dann kam dieser; und sein breiter Rücken verdeckte Karl, der sich an der Tür aufstellte. Ragni lag mit dem Antlitz dem Licht abgekehrt, also nach der Tür zu. Sie sah Karl nicht, er aber sah einen flüchtigen Augenblick lang ihr abgemagertes, hohlwangiges Antlitz, die Fieberrosen, die trockenen Lippen; die Augen mit ihrem Glanz glichen einem langen Notschrei. Um den zehrenden Durst zu löschen, der sie Tag und Nacht quälte, trat auch Sissel ans Bett, halb vor sie hin und stützte und erquickte sie.

Meek fragte nach diesem und jenem; sie antwortete zerstreut und spähte furchtsam nach beiden Seiten an ihm vorüber; ahnte sie, daß Karl da war? Nachher veränderte sie ihre Lage etwas und Sissel glitt wieder zur Seite; jetzt hätte sie Karl sehen müssen; aber er war schon fort.

Sie fanden ihn nachher im Wohnzimmer, in sich verkrochen, verzweifelt. Aber er bat, man möge ihn dalassen, ihm sein altes Zimmer wieder geben; auch wenn er sie nicht wieder sehen dürfe — er könne nicht fort von hier. Kallem wagte nicht, es ihm abzuschlagen; auch sein Vater schien es zu wünschen. Etwas an seinem ganzen Zustand ängstigte sie beide.

Am nächsten Vormittag spielte Karl. Die Tür unten stand offen; Ragnis Tür war angelehnt; es klang gedämpft und schön. Er hatte im Spielen Fortschritte gemacht; das Stück kannte sie nicht, aber es ergriff sie. Sie bat, ihn zu grüßen und ihm ihren Dank zu bestellen. Später spielte er noch einmal, am nächsten Vormittag wieder. Schließlich erlaubte sie ihm, heraufzukommen und sie zu begrüßen. Karl versprach, ganz, ganz still zu sein und nur einen Augenblick zu bleiben. Schon im Flur ging er auf den Zehen und glitt wie ein Schatten ins Zimmer. Trotzdem kostete es ihn die größte Mühe, sich zu beherrschen. Aber sobald er unter der Gewalt ihrer Augen stand, wie in alten Tagen, empfand er, daß sie bang war vor ihm und es am liebsten gesehen hätte, wenn er gleich wieder gegangen wäre. Das drückte ihn nieder; er stand da wie eine zaghafte Bitte, bleiben zu dürfen. Sie fühlte die Veränderung, die in ihm vorging; Kallem nahm ihre Hand, und sie beruhigte sich. Je länger er so dastand, desto größeres Mitleid empfand sie mit ihm. Er hatte gelitten, er war ein guter Junge; sie versuchte zu lächeln, ja, sie streckte sogar ihre magere Hand aus. Karl sah Kallem an und nahm die Hand nicht, kam auch nicht näher; aber eine heiße Bewegung stieg in ihm auf, und wie um sie zu dämpfen flüsterte sie: "Guter Karl!" Da ging er.

Nach dieser Begegnung war er still und in sich gekehrt, als grüble er über einen Entschluß. Er sprach seltener mit Kallem, mit anderen gar nicht. Jeden Vormittag durfte er einen kurzen Augenblick zu ihr hinein; unten spielte er für sie und hielt sich im übrigen den ganzen Tag abseiten.

Eines Vormittags, als er wieder spielte, hörte sie gleich am ersten Anschlag, daß das etwas von ihm selber war. Schon ein paarmal hatte er kleine Bruchstücke gespielt, die augenscheinlich von ihm waren; diesmal aber folgte er neuen Vorbildern; das Eigenartige seiner Begabung litt darunter. Dieses neue Stück war der Anlauf zu etwas Größerem, eine wilde Einleitung, aufgewühlte Leidenschaft — mein Gott, gewiß soll das er selber sein! dachte sie. Zuletzt, mitten in den Braus hinein, kam eine Stille, und eine Melodie löste sich daraus, treuherzig und zart; ob ich das wohl sein soll? Dann fing es an zu schreien und zu heulen um diese friedvolle, kleine Melodie herum — ein paar Takte Melodie, darauf Takte voll Jammer und Geschrei — das erste Thema schmetterte und sprudelte über das andere hinweg — — äußerst natürlich gemacht — zu natürlich, denn es wirkte unwiderstehlich komisch. Sie mußte sich zusammennehmen, um nicht zu lachen; so etwas vertrug sie gar nicht. Sie sah Sissel Aune an, um sie zu bitten, doch schnell hinunterzugehen und dem Spiel ein Ende zu bereiten; aber auch auf Sissel Aunes klugem Gesicht lag ein solches Erstaunen über dies natürliche Geschrei — ja, können denn die Leute auch in der Musik schreien? Der letzte vergessene Rest von Ragnis alter Lustigkeit brach sich in einem hellen Lachen Bahn — und noch einem — und dann Husten! Wieder Husten, und wieder und wieder — ein Anfall, schlimmer, als sie ihn je gehabt hatte.

Karl hörte mitten im Spiele, daß es in der Küche klingelte und klingelte; er hörte Sigrid die Treppe hinaufstürmen und gleich darauf wieder zurückkommen und nach dem Doktor rufen. Er wußte, daß der Doktor soeben ins Krankenhaus gegangen war, und lief selber, ohne Mantel und Hut, ihm nach, fand ihn aber nicht gleich, so daß beide erst kamen, als der Anfall schon vorbei war. Mehr Blut als gewöhnlich im Auswurf. Kallem war sehr erschrocken; Karl, der ihm, ohne es selber zu wissen, ins Krankenzimmer gefolgt war, sah es und zog sich augenblicklich zurück.

Später wurde das Zimmer gelüftet; Kallem war noch immer bei Ragni. Da kam Karl an die Tür und hörte ihn sprechen; er wagte, hineinzublicken. Ragni lag matt in ihrem Bett; Kallem hatte sie eben gefragt, ob sie nicht ein bißchen Erleichterung spüre. Undeutlich sah sie Karl, sein großes, erschrockenes Gesicht. Sie dachte daran, daß sie ihn ausgelacht hatte; sie hatte durch Kallem gehört, wie er in seiner Angst ohne Hut und Mantel davongestürmt war. Und sie gab Kallem ein Zeichen, Karl hereinzulassen. Sie lächelte ihm zu, hob sogar ein wenig — ein ganz klein wenig — die Hand. War es, um zu danken? Er wagte sich näher heran; heute wollte er ihre Hand fassen; noch mehr wollte er — er wollte sich über sie beugen; in seinen Augen glomm es auf. Kallem, der rechts von Ragni stand, sah es, sah zugleich, daß die Hand, über die Karl sich beugen, die er vielleicht küssen wollte, das Taschentuch hielt; hastig sagte er: "Laß, Karl!" Karl richtete sich auch wieder auf und sah sie beide an; aber wieder glomm es wunderlich in seinen Augen auf, und wie der Blitz hatte er sich über Hand und Taschentuch gebeugt und beide geküßt. Eh noch Zeit war, ein Wort zu sprechen, stand er wieder aufrecht, — stand da, wie einer, der zum Kampf gerüstet ist oder eine große Tat vollbracht hat. Ragni lag da, mit Augen ohne Hoffnung, ohne Verständnis; sie verstand seine kriegerische Haltung, seinen erhabenen Vorsatz nicht; desto besser aber seine erschreckende Unberechenbarkeit. Und Karl war schon zur Tür hinaus.

Wenn es seine Absicht war, mit ihr zu sterben, so hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und unter andern Umständen hätte es komisch wirken müssen, besonders wenn man bedachte, daß sie nach ihrem Anfall eben wieder frisch zurecht gemacht worden, und daß das Taschentuch ganz frisch war. Aber Kallem dachte bloß daran, wie törichte Menschen doch die beste Absicht ins Schlechteste verkehren können: für sie war es ein Schreck gewesen.

Sobald er konnte, suchte er Karl auf. Der hatte sich gerade zum Ausgehen angezogen. "Wo willst Du hin?" sagte Kallem. Karl antwortete nicht; er war im Innersten aufgewühlt; er wollte einfach hinaus! Kallem zog ihn mit sich ins Zimmer, stellte sich vor ihn hin und blickte ihm fest ins Auge; dann legte er den Arm um seinen Hals. Da brach Karl in Tränen aus. Er sei ein unmöglicher Mensch, klagte er, überflüssig, fertig, bevor er überhaupt angefangen habe, untauglich zu allem. Lange gelang es Kallem nicht, ein Wort dazwischen zu werfen, geschweige denn, ihn zu trösten; seine Erbärmlichkeit, seine Unwürdigkeit seien zu groß; er habe auch gar kein Talent. Seine letzte Komposition, seinem eigensten Leben entsprungen, wie keine andere, das wahrste, was er zu schaffen imstande war, habe er heut Vormittag gespielt; und da sei sie ihm einfach komisch, furchtbar komisch vorgekommen! — Aha! dachte Kallem. Da liegt der Hase im Pfeffer!

Und so war's. In ihrer Gegenwart fühlte er auch unwillkürlich ihr Urteil.

Kallem merkte, was für ein Mißgriff es gewesen war, ihn hierherkommen zu lassen. Mit Schrecken dachte er daran, was Ragni seinerzeit mit ihm hatte ausstehen müssen. Ihm selber machte es jetzt nicht geringe Mühe, ihn im Gleichgewicht zu halten.

Eines Tages — sie hatte eben nach Karl gefragt — sagte er zu ihr: "Sicher hast Du mehr Schererei mit ihm gehabt, als ich gewußt habe?" Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder und lächelte.

Karl ging nicht mehr zu ihr hinauf, bat auch nicht mehr darum. Spielen konnte er in all seiner Selbstquälerei nicht; Kallem mußte ihn geradezu zwingen, ihm ein paar von seinen kleinen Stücken vorzuspielen. Er tat es nur bei geschlossenen Türen; aber Ragni hörte es doch und sagte zu Kallem, sie seien gut, was auch er fand. Dieses Lob machte Karl wieder froh; und so leise gewann er wieder ein bißchen Selbstvertrauen; nach und nach wurde er umgänglicher.

Sobald Kallem um sich her ein bißchen Ruhe geschaffen hatte, kam er selber an die Reihe. Sein mannhaftes Kämpfen hielt nicht immer stand, und Karl gingen endlich doch auch die Augen dafür auf, daß es noch andere Menschen gab, die litten, und daß man sich auch um andere kümmern konnte. Und nun schlug er vollständig um, lebte nur noch für Kallem, war voller Aufmerksamkeit, voller Sorgfalt. Ein Trostmittel, das nie fehlschlug, wandte er am häufigsten an: von Ragni sprechen, sie bis ins einzelne schildern. Er konnte ein feines Bild von der Eigenart ihres Wesens, ihres Talentes geben, eine Handlungsweise, ein Wort von ihr künstlerisch darstellen; und die Vergötterung, mit der er das tat, war gerade, was Kallem brauchte; er brauchte die leuchtende Wärme des Mitgefühls; denn mit ihrer zunehmenden Entkräftung brach auch er zusammen. Sie konnte nicht einmal mehr den Kopf auf dem Kissen halten; bald glitt er zur einen, bald zur andern Seite; ihre Augen hatten etwas Übersinnliches, das alles verklärte, was sie ansah; ihre schmalen, stimmlosen Lippen waren offen vor Atemnot; wie sie so dalag, in dem weißen Zimmer, dem weißen Bett, in dem weißen Nachtgewand, glich sie einem federlosen Vögelchen, das in einem verlassenen Daunennest nach Luft schnappt. Oft, wenn Kallem ihr Zimmer verließ, weil er seinen Schmerz nicht mehr beherrschen konnte, oder weil er am Rande seiner Kraft, war es Karl, der ihn zur Ruhe brachte, der das rechte Wort fand, oder auch ganz allmählich ihn in einen endlosen Lobgesang auf sie hinüberleitete.

Sie vermochte nur wenig zu sprechen, hatte auch keine Lust dazu; aber aus allem, was sie sagte, ging hervor, daß sie sich nicht einen Augenblick lang über ihren Zustand täuschte, wie etwa andere Lungenkranke es tun. Eines Tags machte sie Kallem ein Zeichen, er möge sich tiefer herabbeugen. "Kristen Larssen!" flüsterte sie. "Dort, in der Ecke." Dann lächelte sie und fügte nach einem Weilchen hinzu: "Jetzt fürcht' ich mich nicht mehr vor ihm." Ein andermal schickte sie nach Kallem, bloß um ihm zu sagen: "Du sollst niemand gram sein — meinetwegen!" Sie nannte keinen Namen. Kallem drückte ihre durchsichtige Hand; ihr Blick umfloß sie wie ein ganzer Himmel von Güte. Zuweilen versuchte sie, noch ein Lächeln hinzuzufügen, das sie doch nicht mehr besaß. Wenn sie seine Tränen sah, winkte sie ihm, er solle sich bücken, und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. Einmal, als er ihr in dieser Stellung dankte für alles, was sie ihm gewesen war, von der ersten Begegnung an bis jetzt, versuchte sie ihn an den Haaren zu zupfen; so etwas solle er bleiben lassen.

Fortan wurde zwischen ihnen kaum noch ein Wort gesprochen. Nur noch ihre Augen und Hände sprachen. Sie waren eins in ihrem Schmerz und besaßen nichts mehr, was unausgesprochen war. Für die Dankbarkeit, die sie empfanden, für das Grauen, das sie vor dem Scheiden hatten, gab es ja auch keine Worte. Die Stunde nahte.

Eines Nachmittags hörten sie Sissel klingeln, klingeln, klingeln. Sigrid stürzte hinauf, Kallem, Karl; Karl blieb vor der Tür stehen. Er hörte, daß sie wieder einen Hustenanfall hatte, einen entsetzlichen. Er begriff nicht, daß sie überhaupt noch so viel Kraft hatte; jeder Hustenausbruch zerriß ihm die Brust, schnitt ihm ins Fleisch, zerbrach ihn; ihr Schmerzgestöhne dazwischen trieb ihm den Schweiß auf die Stirn; er konnte nicht lauschen und wagte auch nicht, zu gehen. Das mußte ihr Letztes sein. Er hörte Sigrid weinen, hörte sie rufen: "Frau Doktor! Frau Doktor!" Und gleich darauf: "Sie stirbt!" Da öffnete er die Tür. Das erste, was er sah, war Blut. Da wurde ihm schlecht, und er fiel in Ohnmacht.

Als er erwachte, lag er auf seinem Bett. Sigrid saß davor und weinte. Das war das erste, was er begriff. Dann fiel ihm das andere ein und er fragte: "Ist sie tot?" — "Der Herr Doktor glaubt, daß es bald zu Ende ist."

Später durften sie zu ihr, alle beide. Sie lag im Bett, als schliefe sie, weiß wie die Bettücher, in denen sie lag. Kallem hielt ihre Hand. Sein Gesicht sahen die Eintretenden nicht; aber von Zeit zu Zeit ein Zusammenzucken der Schultern; und sie hörten ihn stöhnen. Auf der andern Seite stand Sissel. Seltsam, wie verschiedene Grade des Schmerzes es gab! Obgleich auf ihrem kräftigen, offenen Gesicht viel Mitgefühl lag — es war doch das einer Fremden; meilenweit entfernt von Kallems stummer Verzweiflung sah sie es mit an. "Ist sie tot?" flüsterte Sigrid. Sissel schüttelte den Kopf. Und Ragni hörte die Frage; sie blickte auf. Mit ihrer allerletzten Kraft wollte sie ihnen noch einmal etwas Liebes erweisen — sie versuchte — man konnte nicht sagen zu lächeln — dazu war sie nicht mehr imstande — aber ihnen noch einmal Kunde von sich zu geben. Erst Sigrid und Karl; dann aber ausschließlich Kallem. Bald darauf war sie tot.

Die andern gingen; Kallem blieb.

Als er hinunterkam, fand er niemand. Karl war auf sein Zimmer gegangen; Sigrid saß mit Sissel in ihrer Kammer. Leer die Küche, leer die Stuben, leer das Studierzimmer. Er hatte ihr versprochen, etwas zu lesen, was sie geschrieben hatte — es lag unter Karls Brief. "Nachher!" stand darauf. Aber er konnte jetzt nicht, überhaupt nicht, solang sie noch im Hause war. Er stellte sich vor ihren Bücherständer und sah ihn an; auch der war ein Bild von ihr. Wie oft hatte er da gestanden und gelächelt, wenn er die Büchertitel las! Jetzt fiel sein Auge auf die "Wildente" von Ibsen. Bei seiner Größe konnte er das Buch gerade so weit von oben herunter sehen, um zu bemerken, daß zwischen den letzten Blättern eine Lücke war. Er zog das Buch heraus. Wirklich, sie hatte die Blätter, auf denen Hedvigs unglückliche Geschichte abschließt, — wie sie sich erschießt und was darauf folgt — herausgeschnitten! Herausgeschnitten! Als habe es so nicht kommen dürfen!

Nichts hätte ihn tiefer ergreifen können. Er warf sich aufs Sofa und schluchzte wie ein mißhandeltes Kind. Ja, sie war zu fein gewesen und zu furchtsam. Die Welt, in der wir kämpfen, ist noch zu roh. Sie muß erst besser werden, bis solche Wesen mitleben können. Sie hatte versucht, aus der Welt herauszuschneiden, was sie nicht mochte, — nun war sie selber herausgeschnitten worden.

11

Schon einige Tage vor dem Sonntag, da es den Kampf um die Erziehung des kleinen Edvard gab, hatte der Junge gehustet. Abends ging es ihm gar nicht gut, so daß er das Zimmer hüten mußte.

Nach einigen Tagen durfte er wieder hinaus und schien auch leidlich wohl zu sein; doch eines Abends war er wieder fiebrig und verdrießlich und hatte einen trockenen Husten. Die folgenden Tage mußte er wieder das Haus hüten. Weil er an die frische Luft gewöhnt war, wurde er weinerlich und verlor den Appetit; Josefine hatte viel Mühe mit ihm und wurde zuletzt streng. Der Junge jammerte — er wolle zur Großmutter! Das durfte er nicht. Als jedoch die Großmutter zu ihm herüberkam, war er eigensinnig und lief zum Vater. Von dort kam er weinend zurück: der Vater hatte ihm nicht erlaubt, die Bücher aus den untersten Fächern herauszunehmen und Häuser damit zu bauen.

Er wurde ins Bett gesteckt, heiß, aufgeregt; dabei klagte er über Stiche auf der rechten Seite der Brust beim Husten; nachts hatte er Fieberanfälle und phantasierte: Kristen Larssen lief mit einem großen Sack hinter den Jungens her und wollte sie in die Hölle schleppen.

Josefine doktorte mit Terpentinumschlägen an ihm herum; aber am Morgen, als der Pastor heraufkam, bat sie ihn, nach dem Arzt zu schicken.

Kent war ihr Hausarzt; er konnte erst gegen Abend vorsprechen, und da konstatierte er, daß der Junge eine Brustfellentzündung auf der rechten Seite hatte. Was Josefine angewandt hatte, war ganz richtig gewesen; er selber verordnete Diät und alle zwei Stunden eine Medizin und sagte, wenn die Temperatur 39 Grad übersteige, solle man ihn rufen lassen.

In den folgenden Tagen besserte sich das Befinden des Jungen; er aß und hustete weniger; Temperatur abends nie mehr als 38 Grad. Gott sei Dank!

So gering auch die Gefahr gewesen war — Tuft und Josefine hatten beide das Gefühl, als lege sich eine unsichtbare Hand mit leisem Druck auf ihre Schultern. Sie wandten sich ganz allmählich einander wieder zu und suchten Gelegenheit, miteinander zu sprechen — freilich nur über den Zustand des Kindes; aber durch Stimme und Wesen klang es wie eine Bitte um Verzeihung.

Der Husten und der Schmerz in der Seite ließen nach; das Befinden des Jungen besserte sich scheinbar; aber der Appetit wollte nicht recht kommen, das Fieber wollte nicht ganz weichen, und so nahmen auch die Kräfte nicht zu. Man kaufte ihm neue Spielsachen, die ihm einen Tag lang Spaß machten und ihn am nächsten schon langweilten. Die Märchen, die Vater und Mutter ihm abwechslungsweise erzählten, hörte er an, ohne dazwischenzufragen; den Besuch der Großmutter beachtete er gar nicht. Einmal war er plötzlich ganz heiß, dann fror er wieder. Am meisten beunruhigte es Kent, daß gegen Abend die Temperatur immer stieg; er fing an, Chinin zu geben, und legte eine spanische Fliege. Josefine wich nicht vom Bett und wollte von Ablösung nichts wissen; der Junge duldete auch nicht, daß andere ihm nahe kamen.

Aber es wurde besser, und eines Abends, als sie die Temperatur gemessen hatten, sagte der Pastor: "Ich glaube, wir kommen mit dem Schreck davon, Josefine!" Sie sah ihn an; er streckte seine Hand aus; sie legte die ihre flüchtig hinein, schien sich aber dessen zu schämen und zog sie gleich wieder zurück.

Doktor Kent hatte ihnen erzählt, Frau Kallem sei schwer krank und verlasse ihr Zimmer im Oberstock nicht mehr. Von anderer Seite hörten sie später, es sei Schwindsucht; sie fragten — jeder für sich — Doktor Kent; und er sagte, es sei sogar galoppierende Schwindsucht.

Josefine gegenüber erwähnte der Pastor nichts; aber zu Kent äußerte er, es sei jedenfalls ein Glück für seinen Schwager; vielleicht werde er jetzt ein freier Mann und würde die Schwingen regen.

Josefine hatte eine andere Auffassung; das sah er daran, daß sie sich völlig in sich selbst zurückzog. Kaum, daß er dann und wann ein paar Worte von ihr zu hören bekam.

Eines Nachmittags, lange Zeit nachher, als sie auf ihrem Bett lag und nachsann, wie ihr Bruder Ragnis Tod ertragen würde, sah sie ihn plötzlich. Sie dachte sich erst nichts dabei; aber das Bild wurde seltsam deutlich. Sie sah ihn, so lang er war — auf dem Sofa seines Studierzimmers liegen, sie sah den ganzen Raum, die Gardinen, die Bücherregale, die Bücher, den Schreibtisch, die zwei Tische, einen großen Lehnsessel, verschiedene aufgeschlagene Bücher, beschriebene Papiere bogenweise nebeneinander, ... alles sah sie, jedes Blatt, jeden Buchstaben, — und ihn selber, in einem braunen Anzug, den sie nicht kannte. Und dabei war sie nie in dem Studierzimmer gewesen, seit es möbliert war, und hatte die Möbel nie gesehen, auch nicht die Gardinen, die Teppiche; aber sie zweifelte keinen Augenblick, daß es genau so war, wie sie es sah. Zu jeder andern Zeit würde das einen seltsamen Eindruck auf sie gemacht haben; aber jetzt wurde alles verdrängt durch sein Aussehen. Er war so ganz verzehrt von Kummer! Je genauer sie ihn ansah, desto schlimmer wurde es. In einer solchen Verzweiflung sah sie ihn, daß es sie packte, wie nichts in ihrem Leben, nicht einmal des Vaters Tod sie gepackt hatte. Sie sah, wie er sich herumwarf und laut aufweinte, sah, wie er die Hände zusammengekrampft vors Gesicht hielt, sah zuletzt bloß noch ihn, den Jammer dieser Augen unter der Brille und den buschigen Brauen, und eine große Öde um ihn her. In kaltem Schweiß gebadet, wachte sie auf, so matt, daß sie kein Glied rühren konnte. Fortan lebte sie wie unter dem Druck einer unklaren Angst, die ihr den Schlaf raubte. Galt es ihrem Bruder oder ihrem Kinde? Dort neben ihr lag der kleine Edvard, atemlos, hustend, wie ein schon weit Entfernter. Seine hohe Stirn schien unbewohnt; seine Augen sahen ins Leere; seine Hände — das waren nicht mehr die derben Bubenfäustchen, nicht mehr lebendig.... Zuweilen stürzte sie an sein Bettchen, bloß um ihn wieder zu haben, und war's auch nur in einem flüchtigen Blick! Ja, ja ... da war er! Aber ... Gott im Himmel! — Wenn sie ihn hergeben mußte? Und in diesem Leid fühlte sie den Schmerz des Bruders mit, fühlte sich eins mit ihm. Das Schicksal des Jungen verknüpfte sich ihr mit dem Schicksal Ragnis. In wachen Nächten und bangen Tagen flössen die beiden so unauflöslich ineinander, daß sie beide für sie eins wurden.

Bisher war ihr Gottesgefühl eigentlich nur Freiheitsdrang und eine nie versagende Wahrheitsliebe gewesen. In der Angst wurde es ihr zum Schicksal, zum unbeugsamen, mystischen Schicksal. Alles erschreckte sie; sie sah in allem Zeichen und Vorbedeutungen. Der Junge schien nur auf der kranken Seite liegen zu können; sonst schmerzte es ihn so, daß er laut jammerte, ... und jedesmal, wenn sie ihm dabei helfen mußte, kam ihr das ganz unbegreiflich vor. Sie schob ihm Luftkissen unter; seine einzige Antwort bestand in herzzerreißenden Bitten, sie möge ihn doch ruhig liegen lassen. Sie wußte nicht mehr, was richtig war und was falsch. Nicht einmal an seine Beine durfte sie mehr rühren; er zog die Knie herauf, das eine über das andere ... lauter unerklärliche Einfälle, durch die sie sich gänzlich überflüssig oder sogar lästig vorkommen mußte. Ob das bedeutete, daß sie sich an den Gedanken gewöhnen mußte, daß sie im Grund ganz überflüssig war?

Schließlich mußte sie das ja aufreiben. Schon die Angst vom einenmal zum andern, wenn sie ihn anrühren mußte, wäre genug gewesen. Aber die Gedanken, die dabei mit unterliefen, machten sie geradezu verrückt. Sprechen konnte sie mit niemand darüber. Die Sache mit den Beinen hauptsächlich kam ihr so ganz mystisch-widersinnig vor, daß sie sich förmlich ängstigte vor ihrem Jungen; er gehörte nicht mehr ihr. Erst später, und ganz zufällig, entdeckte sie eine Anschwellung um die Knöchel. Das — so hatte sie immer gehört — war der Anfang vom Ende. Sie vermochte sich kaum die Treppe hinunterzuschleppen ins Studierzimmer, wo der Pastor in einer Rauchwolke saß. Er sah sie, bleich, entsetzt in ihrem Nachtkleid vor sich stehen. "Was ist denn, Du?" Er hörte ihren Bericht, ging mit ihr hinauf, sah ebenfalls die Schwellungen, fiel vor dem Bett auf die Knie, den Kopf in die Hände gedrückt: er betete. Die kurzen, hastigen Atemzüge des Kleinen, die glänzenden und doch gänzlich gleichgültigen Augen, mit denen er seinen Vater ansah, — das schrie förmlich zu ihr über des Vaters Kopf weg. Auch sie hätte beten mögen; aber im selben Augenblick schob der Junge den Vater mit der Hand weg; der Tabakgeruch störte ihn. Und damit schob er sie weg vom Gebet.

Doktor Kents ruhiges Lächeln, sein stilles, bestimmtes Urteil, daß die Krankheit noch dieselbe sei wie damals, als er zuerst die Entzündung entdeckt hatte, daß nichts Schlimmeres hinzugekommen sei, und die Anschwellung sicher nur von der unglücklichen Lage der Knie herrühre, erleichterte sie beide so, daß Josefine vor Freude weinte. Die Untersuchung des Urins bestätigte seine Diagnose.

In dieser Nacht schlief Josefine wieder besser als seit langer Zeit; trotzdem fühlte sie sich matter als vorher.

Wieder verging eine Zeit; da kamen eines Abends der Pastor und Doktor Kent mit einer gewissen Feierlichkeit herauf. Josefine lag in den Kleidern auf dem Bett und richtete sich empor, um aufzustehen; aber Kent und der Pastor baten sie, sich wieder hinzulegen. Doktor Kent erzählte, gestern sei Frau Kallem gestorben. Beide Männer blickten Josefine an; sie schloß die Augen. Eine Weile tiefes Schweigen. Als aber mehrmals ein Zucken über ihr Gesicht lief, sagte Tuft hastig: "Unter diesen Umständen ist es für Edvard nur gut, Josefine. Natürlich geht es ihm jetzt nahe; aber später wird alles gut werden. Er wird daran wachsen." Josefine wandte den Kopf ab. Ihre Augen blieben geschlossen; aber dann brachen die Tränen hervor.

Im selben Augenblick fühlte er, was er da gesagt hatte, war etwas Eingelerntes; ja, er hatte sich einer Roheit schuldig gemacht. Während der Krankheit seines Jungen, im angsterfüllten Zusammenleben dieser letzten Zeit war er ein anderer geworden. Diese Worte aus einem früheren Dasein — eben weil sie in dieser Stunde fielen, auf ihren brennenden Schmerz hin — weil sie über ihrem eigenen kranken Kind fielen — gewannen selbständiges Leben, wurden ihm zu einem stummen Gefolge — "Sendboten Gottes".

Bis diese Worte fielen, hatte Josefine in der Stille mitgebetet, wenn der Pastor betete; nun tat sie es nicht mehr. Sie hatte dasselbe Gefühl, wie in der ersten Zeit ihrer Ehe, wenn er so maßlos war und doch zugleich von ihr forderte, daß sie mit ihm fromme Lieder singen solle. Damals hatte er nichts gemerkt; heute fühlte er es sogleich. Aber gerade darum verlangte ihn nach einer Gemeinschaft, vor allem im Gebet für sein krankes Kind. Er wandte sich an die Freunde der Betstunde; deren war er sicher. Die ganze schmerzliche Abrechnung dieser Tage, das Zittern um das Leben des Kindes, seine freudlose, wunde Liebe, all das wirkte zusammen zu einer starken Erschütterung. Er bat sie alle, mit ihm zu beten, er stürmte Gottes Barmherzigkeit; wenn er nur einer höheren Gemeinschaft mit Gott würdig befunden wurde, so war die Prüfung nicht zu hart.

Er leuchtete von Glaubenskraft, als er nach Hause kam und berichtete. Wenn das Stärkste in ihm einmal aufwachte, so war er wie kaum ein anderer; aber es kam so selten dazu.

Josefines Zustand wurde besorgniserregend. Frische Luft und regelmäßigen Schlaf entbehren, Woche um Woche, — den Appetit verlieren durch die unaufhörliche Spannung — das war fast genug, um selbst kerngesunde Naturen wie die ihre zu brechen. Tuft sprach heimlich mit Kent darüber; aber es war nichts zu machen, wenn sie nicht selber wollte.

Während er jede ihrer Bewegungen überwachte, mußte er ihr, gegen seinen Willen, eines Tages mitteilen, daß Ragni nicht hier, sondern im Friedhof des Nachbardorfs beerdigt werden sollte. Darin offenbarte sich doch des Schwagers Groll, ja Abscheu auf die denkbar stärkste Weise. Zweifellos war dieser Entschluß gegen die Gesellschaft im allgemeinen, am meisten aber gegen sie beide gerichtet.

Was Josefine fühlte, erfuhr Tuft nicht; ihm selbst ging es nahe. Ein einziges Mal verriet sie, wie ungeduldig sie geworden war. Er hatte sich über den Jungen gebeugt und kam ihm dabei etwas zu nah; Edvard stöhnte und schob ihn mit der Hand von sich. "So laß doch das ewige Rauchen!" sagte sie erbittert. Er wandte sich nach ihr um: "Das werd' ich auch!" antwortete er sanft. Als er sich dann wieder aufrichtete, fügte er bekümmert hinzu: "Heute steht es nicht gut mit ihm!" — "Nein", erwiderte sie still; die Art, wie er das aufgenommen hatte, beschämte sie.

Der Doktor wurde geholt. Er war an diese plötzlichen Botschaften gewöhnt, daher nahm er sie mit Ruhe auf, und er besaß die unschätzbare Gabe, diese Ruhe auch andern mitzuteilen. Sofort schien es den Eltern, als esse der Junge mit mehr Appetit und sei freundlicher gegen die Großmutter. Viermal am Tag kam sie herüber, und die Art, wie er sie empfing, galt als Barometer.

Die Großmutter war oben im Krankenhaus gewesen und hatte von dort Kallem und Karl Meek mit Ragnis Leiche wegfahren sehen. Der Sarg war weiß und stand auf einem schwarzen Schlitten; vorn neben dem Kutscher saß Sigrid; Kallem und Karl fuhren in einem Breitschlitten hinterdrein. Das war das ganze Gefolge.

Der Bericht über Ragnis letzte Fahrt kam ihnen überraschend. Und daß Karl Meek dabei gewesen war, er ganz allein! Bedeutete das, Kallem hege keinen Argwohn gegen ihn? Oder, was wahrscheinlicher war: er habe vergeben? Wollte vielleicht die Tatsache bemänteln und ihr so diesen letzten Dienst erweisen? Wer doch auch so gut sein könnte!

In der Nacht darauf kam Josefine zu ihrem Mann herunter, als er schon schlief. Ihr Haarknoten hatte sich gelöst; mit dem großen, hohläugigen Gesicht, von dem das schwarze Haar abstand, den Augen, die starr über die Lampe wegstierten, die sie trug, sah sie aus wie eine Besessene oder eine Nachtwandlerin. Er richtete sich im Bett auf und wollte aufstehen. Sie hielt ihn mit der Hand zurück und sagte eintönig: "Ich muß mit Dir reden, Ole; ich kann nicht schlafen. Diese Frau, die Frau meines Bruders, wird uns unsern Jungen nehmen."

Er fühlte, wie ihm alles Blut zum Herzen strömte. "Was sagst Du da?" flüsterte er.

"Wir sind zu hart gewesen, wir beide. Jetzt müssen wir bezahlen; und mit weniger begnügt sie sich nicht." — "Liebste Josefine, Du bist ja ganz außer Dir. Wir wollen uns doch nach Hilfe umsehen ...!" Und er sprang aus dem Bett. — "Ja, Hilfe suche ich! Alle, die beten können, müssen mir jetzt beistehen! Hörst Du, Ole!"

"Aber liebste ...!"

"Oder glaubst Du nicht, daß Ihr stärker seid als diese Frau? Glaubst Du es nicht? Neulich bist Du so freudig aus der Betstunde heimgekommen — ach, Du kennst die Leute ja, ... rufe sie, sie sollen kommen, — hörst Du, Ole!" Und sie fing zu jammern und zu weinen an. "Es ist doch Christenpflicht, uns zu helfen! Sie dürfen es doch nicht ruhig mit ansehen, daß sie ihn uns nimmt!" Die Stimme klang in einem langen Klageton aus. Er saß auf dem Bettrand; die Unterkleider hatte er angezogen, hielt aber nun, die Hosen in der Hand, inne. "Liebe, Liebste, so glaub' doch nur — Gott hat die Macht, und kein anderer! Du bist krank, Josefine!" — Er war voll Sorge und Liebe und eilte, sich fertig anzukleiden. "Du holst sie, nicht wahr?" sagte sie erfreut und stellte die Lampe hin. "Ich wußte es ja! Ich danke Dir! Sei heilig versichert, Ole — es eilt!" Er zog sich rasch weiter an, sagte aber: "Du weißt, Josefine, wir müssen vorsichtig sein, wenn wir für nicht-geistliche Dinge beten!" Das machte sie unruhig; sie streckte die Hände nach ihm aus. Alles an ihr war lose und offen, die Ärmel glitten zurück — unglaublich mager war sie geworden! Eine große Angst überfiel ihn. Ihr wildes Aussehen, die fieberkranke Sprache, die abgezehrte Gestalt.... "Um Gotteswillen, Josefine, Du darfst nicht alles so aufs Gebet setzen! Du könntest darüber zusammenbrechen, so, wie Du jetzt bist...." — "Glaubst Du denn nicht, Ole?" Es entfuhr ihr wie ein Blitz. "Doch, doch! Aber wenn nun Gottes Wille nicht der unsere ist, Kind?" — Die schmerzliche Erinnerung an Andersens Sterbebett stieg in ihm auf. "Du betest um nicht mehr und nicht weniger als um ein Wunder!" — "Ja. Natürlich! Selbstverständlich! Um was beten wir denn sonst?" — "Wir beten, um Gemeinschaft zu finden mit Gott, Josefine. Wenigstens darum bete ich. Dann ist alles gut; dann ist meine Seele gestärkt — und ich bedarf dessen oft so sehr!" — "Gottes Herz erweichen, so steht es geschrieben. Steht es nicht geschrieben? Gottes Herz erweichen! Hörst Du, Ole! Gottes Herz erweichen? So antworte doch!" — Er war vor dem Ofen niedergekniet, in der einen Hand ein Holzscheit, in der andern ein Messer; er wollte Feuer anmachen; sie war so leicht bekleidet. Aber jetzt hielt er inne und sah sie voll Trauer an: "Um ein Wunder beten — das darf ich nicht, Josefine! Ich bin dessen nicht würdig!" Und während er das sagte, wuchs es in ihm, und eh' er es wußte, war er so erregt, daß er das, was er in Händen hielt, fallen lassen mußte, um sein Gesicht zu bedecken. Als er aber wieder aufsah, sprang er in die Höhe; wenn sie in ihrem Schoß das kostbarste Porzellan gehalten und es hätte fallen lassen, daß es in tausend Stücke zersprang — sie hätte nicht anders dastehen können — starr, von Entsetzen gelähmt, die Hände ausgestreckt über dem, was ihr entglitten, die Augen auf ihn geheftet, der Sinne beraubt, als müsse sie auf der Stelle umsinken. Aber das geschah nicht; denn als er sie anfaßte, erwachte sie, faßte sich sofort und sagte rasch ohne Übergang: "Dann müssen wir nach meinem Bruder schicken! Dann kann nur er sie bewegen, von dem Jungen abzulassen!" Diese Worte, aus diesem wunderlichen Gedankengang geboren, klangen ihm wie eine Eingebung. Tausendmal hatte er dasselbe gedacht; der Fall mit dem Oberst hatte schon den Wunsch in ihm erweckt, viele hatten es ihm geraten. Aber bis jetzt hatte er sich immer geschämt.

Ein paar Minuten später war er auf dem Weg zu Doktor Kent, der zuerst gefragt werden mußte.

Eine klare, kalte Nacht, der Weg vom Tag aufgeweicht, in der Nacht gefroren, so daß Tuft aufpassen mußte — dazu die Gedanken, die ihn hetzten — es war schwierig genug. Was wurde aus den Dogmen der Bibel, von Schöpfung, Sündenfall und all dem andern — was war es wert, wenn der Tod anklopfte? Was war dann Nummer eins und was Nummer zwanzig?

In Kents Haus wollte niemand wach werden; er klingelte und klingelte, ohne selber den Klang der Glocke zu hören; sie mußte abgestellt sein. Er fing an, gegen die Tür zu donnern; es klang hart und hohl; und ihm, der an den Tod dachte, war, als klopfe der an; es war ja auch so! Endlich kam, etwas verdrossen, ein Mädchen; als sie jedoch sah, daß es der Pastor war, ging sie, um Doktor Kent zu benachrichtigen. Der geduldige Kent erschien, hieß ihn eintreten und hörte ihn an. Mit Freuden wolle er zu Kallem gehen; hätte er nur gewußt, ob es tunlich sei, so hätte er es schon längst getan.

Josefine war oben bei dem Jungen, als Tuft zurückkam; sie verstand ihn nicht richtig und glaubte, ihr Bruder werde sogleich kommen; und als er um sieben, um acht, um neun noch nicht da war, fürchtete sie, er wolle nicht, und geriet völlig außer sich; der Pastor mußte sich wieder auf den Weg machen. Kent war nicht gleich zu finden, gab aber Bescheid, Kallem und er würden Punkt elf Uhr kommen. Sie kamen auch; aber da war der Pastor eben abgerufen worden, so daß niemand zu ihrem Empfange da war. Kallem hatte seinen Fuß nicht mehr auf diese Treppe gesetzt seit dem Tag und der Stunde, da er die Stadt betreten hatte.

Wenn man sich nach etwas sehnt, geht es einem leicht wie jetzt Josefinen: seit der Nacht war der Bruder ständig in ihren Gedanken gewesen; als er nun aber mit Kent endlich über die dicken Läufer die Treppe heraufkam, dachte sie nicht an ihn. Sie stand gerade über den Jungen gebeugt und gab ihm zu trinken; als es klopfte, schrak sie auf und die Stimme versagte ihr. Die Tür wurde trotzdem geöffnet; Kent ließ Kallem zuerst eintreten.

Ein leiser Schrei tönte ihm entgegen. Fast hätte sie zu Boden fallen lassen, was sie in der Hand hielt. Wie sah er aus! Das war der Tod selbst, der da eintrat, knöchern, schneidend scharf, — nicht um zu helfen, sondern um über ihr Kind das Urteil zu sprechen; das fühlte sie sofort.

Kurz, erbarmungslos sah er sie an, ohne einen Funken Mitgefühl, obwohl auch sie von Kummer mitgenommen war. Als er näher gekommen, blickte er auf den Knaben; und fortan existierte sie nicht mehr für ihn. Sie trat auch ganz von selbst beiseite. Kent kam auf sie zu und begrüßte sie freundlich; dann ging er zu Kallem zurück. Und jetzt ging es wie gewöhnlich — wie es Kallem selbst neulich mit Doktor Meek gegangen war: Kent sah das Kind auf einmal mit andern Augen, mit Kallems Augen; das Aussehen des Jungen wurde plötzlich ein ganz anderes und erschreckte ihn aufs tiefste. Was er bisher weit von sich gewiesen hatte — jetzt drängte es sich ihm von selbst auf: "Empyème?" flüsterte er auf französisch Kallem zu. Der antwortete nicht, trat nur näher, fühlte des Knaben leichten, schwachen Puls, beklopfte leise die Brust, horchte auf die hastigen Atemzüge, besah sich die Temperaturliste und den letzten Auswurf des Jungen. Darauf eine kurze Beratung der Ärzte; Josefine hörte jeden Laut, obwohl sie ein ganzes Stück entfernt, auf der andern Seite des Bettes stand — das Bett des Jungen war da, wo früher das des Vaters gestanden hatte. — Aber sie begriff die technischen Ausdrücke und darum auch deren Bedeutung nicht. Irgend etwas unerhört Entsetzliches war es; das fühlte sie; ihre Hände krampften sich unter der Brust zusammen, während ihre Augen von einem zum andern wanderten. Endlich machte Kent ein paar Schritte auf sie zu. Er wolle nur fragen, ob sie erlaube, daß man eine nadelfeine Spritzenspitze in die Brusthöhle einführe? "Eine Operation?" flüsterte sie und mußte sich stützen.

"Das werden wir dann sehen", erwiderte er ebenso leise. Sie sank auf einen Stuhl. Ihr Bruder wartete die Antwort nicht ab, sondern zog seine Verbandtasche hervor, nahm daraus etwas Blankes, Dünnes, Langes und beugte sich damit über den Jungen. Mehr sah sie nicht, dachte auch nichts mehr —, sie fühlte bloß noch eins: nicht nachgeben! Sie hörte den Jungen jammern und "Mutter" rufen — angstvoll, immer wieder; aber sie konnte nicht aufstehen, sie getraute sich nicht aufzustehen. Dann hörte sie Kent sagen: "So, jetzt ist's vorbei, Jungchen!" Aber was vorbei war, das sah sie nicht.

Der Kleine jammerte und jammerte: die Mutter solle wieder zu ihm kommen. Sie versuchte es ein paarmal; aber es ging nicht; der Bruder drückte sie immer wieder in den Sessel nieder, trotzdem er sie überhaupt nicht ansah.

Dann ging die Tür. Er war fort; und sie atmete auf. Kent trat auf sie zu, mild, teilnahmvoll: "Es ist eine Operation nötig, Frau Pastor!" flüsterte er. "Wozu denn?" Sie wußte ja, es nützte doch nichts; sie hatte es in ihres Bruders Gesicht gelesen. "Weil wir alles versuchen müssen", erwiderte Kent. Der Junge bat jetzt im kläglichsten Ton die Mutter, sie möge zu ihm kommen. "Ich komme schon!" Sie kniete bei ihm nieder und brach in Tränen aus. "Es hat so weh getan!" klagte er. Ach, wenn sie hätte antworten können: "damit Du gesund wirst und wieder aufstehen kannst!" Aber nicht einmal Kent wagte das. Sie suchte nach Mut, um die Operation zu verbieten; aber sie wagte es ihrem Bruder gegenüber nicht. Kent wartete; das fühlte sie zuletzt und sah ihn verzweifelt an. Er beugte sich zu ihr hinab: "Ihr Bruder schickt gewöhnlich jemand von seinen Leuten vorher zum Desinfizieren und Vorbereiten", sagte er leise. "Heute schon?" flüsterte sie und schluchzte bitterlich. "Nein, aber mit dem Reinmachen und Auslüften muß jedenfalls heute begonnen werden. Die angrenzenden Zimmer müssen wir auch dazu nehmen." Sie hatte ihren Kopf wieder neben den ihres Jungen gelegt und antwortete nicht; sie hörte ihn weggehen.

Als der Pastor nach Hause kam, eilte er gleich ins Krankenzimmer hinauf und war nicht wenig verwundert, dort die Großmutter und — Sissel Aune zu finden. Die letztere hielt Wacht bei dem Jungen, der äußerst empfindlich war und niemand als die Mutter um sich dulden wollte; auch den Vater nicht; der roch noch immer nach Tabak; obgleich er das Rauchen aufgesteckt hatte. Der Pastor fand Josefine im Studierzimmer auf dem Sofa, verzweifelt, aufgelöst; sie stammelte zusammenhangslose Worte: "Das Todesurteil!" antwortete sie fast auf alles, was er sagte.

Am Nachmittag kam eine Krankenhausschwester und übernahm die Aufsicht; mit ihr rückten neue Leute ein; das ganze Haus war in der Gewalt Fremder. Das Scheuern klang wie das Hobeln der Sargbretter. Die Dienstmädchen kummervoll; die Großmutter in Tränen; und als das Bett des Kindes in ein anderes Zimmer getragen wurde und sie die Tritte der Träger hörten, saßen die Eltern Hand in Hand und zitterten.

Wenn jetzt jemand gesagt hätte: "Es ist gut für die Eltern, wenn der Junge stirbt. Freilich, jetzt sehen sie das noch nicht ein; aber sie werden daran wachsen!" Wenn jemand die Roheit hätte, ihnen so etwas zu sagen! Tuft mußte mit Josefine darüber sprechen, mußte ihr bekennen, was seine eigenen Worte in ihm bewirkt hatten. Sie drückte ihm stumm die Hand.

Abends, als wieder Ruhe im Hause war, waren beide oben beim Jungen, und beiden war es, als habe der Tod ihn schon gezeichnet. Die Hand der Mutter in der seinen schlief er ein; dann führte Tuft sie sanft hinweg. Es war ihr jetzt nur willkommen, daß jemand sie führte; infolge der vielen Umänderungen im Hause war auch ein zweites Bett im Fremdenzimmer aufgeschlagen worden.

Am nächsten Tag saßen die Eltern von früh an bei dem Kleinen. Sobald sie weg waren, sollte er in sein ehemaliges Zimmer geschafft werden; dort war alles zur Operation bereit. Um zehn Uhr kamen die Ärzte. Josefine lag auf dem Sofa im Studierzimmer. Als sie die Männer kommen hörte, hielt sie sich die Ohren zu; die Teppiche waren fortgenommen, so daß man das leiseste Stiefelknarren hörte. Sie ließ sich nicht trösten, ließ sich nicht zureden, verfiel wieder in den halbbesinnungslosen Zustand, in dem sie schon einmal gewesen war; sie wollte um jeden Preis hinauf zu dem Jungen; er konnte ihnen ja unter den Händen sterben. Der Pastor hätte gern mit den Ärzten gesprochen; aber sie hängte sich an ihn: sie wollte mit. So blieb er unten. Wenn irgend jemand oben einen Fuß rührte, so wußte sie gleich, wer es war; bewegten beide Ärzte sich zu gleicher Zeit, dann ging etwas Besonderes vor; dann krümmte sie sich und saß in sich zusammengekauert da, die Hände vor den Ohren. In ein anderes Zimmer wollte sie sich nicht bringen lassen; hier wollte sie bleiben, und Qualen erleiden. Manchmal, wenn sie sich halb zu Tode gehetzt hatte, flüchtete sie zu Tuft, wie zu einem stillen Hafen; "hilf mir!" flüsterte sie; es ginge um ihren Verstand, um ihr Leben; immer habe sie gewußt, daß es einmal ein jammervolles Ende mit ihr nehmen würde.

Tuft bewog sie endlich, sich aufs Sofa hinzulegen und sich kalte Umschläge machen zu lassen; er bat sie so innig, und seine Liebe war so stark, daß sie ihr einen Halt gab. "Danke, Ole, danke!" Darnach wurde sie still.

"Er schreit!" rief sie plötzlich und setzte sich auf; sie wollte hinauf. Der Pastor beteuerte, er höre nichts; aber im selben Augenblick hörten sie es beide. "Ja, ja!" rief sie und wollte hinauf. Tuft umschlang sie mit beiden Armen, bat und beschwor. Und wieder wurde sie still. Von oben kam kein Laut mehr jetzt.

Oben ging alles schnell. Auf Kallems Verantwortung wurde der Junge chloroformiert, und das Schreien, das die Eltern gehört hatten, galt der Flanellmaske, die Kent ihm vors Gesicht hielt. Der Junge schob sie weg; er meinte, er müsse ersticken. "Mutter! Mutter!" Aber bald schlief er ein. Die Großmutter saß in einem frischgewaschenen Kleid auf der andern Seite am Kopfende und hielt seine Hand; sie zitterte, die Alte. Aber sie saß da, und sie wollte da sitzen bleiben, bis alles zu Ende war. Niemand hatte sie darum gebeten; aber sie hatte ihren Gott darum gebeten. Sobald der Junge eingeschläfert war, forderte Kallem sie jedoch höflich auf, zu gehen. Langsam und stumm entfernte sie sich.

Nun gings ans Werk. Zwischen den Rippen auf der rechten Seite wurde ein acht Zentimeter tiefer Einschnitt gemacht. Mit stumpfen Instrumenten bohrte Kallem tief hinein, kam bis an den Rippenrand und sägte ein kleines Stück heraus; der Eiter strömte aus der Wunde.

In diesem Augenblick wurden alle von einem wilden Schrei im Hintergrund aufgeschreckt. Josefine hatte blitzschnell die Tür aufgerissen, sah die weißen Operationsmäntel, sah Kallem voller Blut in der Brust ihres Kindes wühlen, — und stürzte kopfüber zu Boden.

"War die Tür nicht abgeschlossen?" fragte Kallem. Sissel kam von innen gelaufen, der Pastor von außen, und zusammen trugen sie sie hinaus. "Achten Sie auf den Puls!" wurde der Diakonissin zugeflüstert. "Und schließen Sie die Tür zu!" — "Und Sissel —?" — "Muß draußen bleiben!"

Man hörte Josefine bald darauf an der Tür; aber niemand achtete ihrer. Eine Drainröhre wurde in die Brusthöhle eingeführt, diese wurde ausgespritzt und vorsichtig ein Gazeverband darum gelegt. Die Röhre mußte ein paar Tage liegen bleiben und die Zimmertemperatur gleichmäßig auf 15 Grad gehalten werden. Bald darauf zog Kallem sich samt seinen Instrumenten ins nächste Zimmer zurück und war verschwunden, bevor noch irgend jemand, der nicht der Operation beigewohnt hatte, wußte, daß er fertig war.

Die Großmutter, die Ärmste, war wieder hinaufgegangen, um an der Tür zu horchen, als Sissel, die jetzt im Zimmer war, öffnete und etwas unter der Schürze davontrug. Im Vorbeigehen erzählte sie schnell, es sei alles vorüber. Die Großmutter wagte sich hinein; aber als sie das blasse Kind sah, verlor sie alle Herrschaft über sich selbst; sie ging schnell wieder hinaus und erreichte ihr Haus mit Mühe und Not.

Dieses Petrefakt von der Meeresküste, pietistisch plattgedrückt, in die Nordwand des Hauses eingemauert, war für gewöhnlich gänzlich unzugänglich; der einzige Mensch, mit dem sie eine Art Gemeinschaft zu haben schien, war der Knabe. Ihr ganzes Haus war seine Spielstube; alles, was er nur wollte, durfte er ihr hineinschleppen; sie schleppte es wieder hinaus; sie hatte ja nichts anderes zu tun, als hinter ihm her aufzuräumen. Man hätte denken sollen, er müßte deswegen an ihr hängen; aber es war eigen: seit er krank war, mochte er die Großmutter gar nicht mehr sehen. Das klare Wesen der Mutter hatte, bei aller Strenge, seine Phantasie gefangen genommen; die Nachgiebigkeit der Großmutter, mit all ihrer Hinterhältigkeit und ihren Verboten, mit all den Gebeten, die er auswendig lernen sollte, und all den biblischen Geschichten, die er nicht verstand, hatte ihn gequält. Nun er matt und krank war, durfte sie überhaupt nicht mehr reden. Ein Jammer ist es mit diesen alten Leuten! Auch ihr Sohn vernachlässigte sie, seit Josefine wieder zugänglicher war. Wäre nicht die Diakonissin gekommen — die Operation wäre vielleicht vor sich gegangen, ohne daß die Alte darum gewußt hätte.

Einige Stunden später schlich sie sich wieder hinauf, lauschte draußen, hörte nichts, dachte, es sei vorbei und wagte sich hinein. Sissel saß da und nickte; aber sie sah gleich auf. "Lebt er?" fragte die Großmutter. "Ja", antwortete Sissel, nur ebenso laut, daß man es hörte; größer schien auch ihre Hoffnung kaum. Die Großmutter konnte nicht mehr; sie ging. Aber schon etliche Stunden darauf war sie wieder da. Er lebte noch immer. Diesmal hatte sie ihre Brille mitgebracht und ein altes, liebes Buch; Sissel konnte schlafen; sie würde hier sitzen bleiben, bis es zu Ende war. Sissel sagte ihr, was zu tun sei, und legte sich dann auf Josefines Bett.

Erst um sechs Uhr abends streckte der Pastor den Kopf zur Tür herein. Erst jetzt wagte er, Josefine auf einen Augenblick zu verlassen. Er sah seine Mutter dasitzen, mit ihrer Brille und der alten Postille; er trat näher und forschte in ihrem Antlitz wie in einer Schrift: "Er lebt!" las er darin. Sie nickte, wie vorhin Sissel, — im selben Sinne. Vor dem leichenblassen, schlafenden, schlaffen Gesicht des Jungen schauderte er zurück und ging.

Ganz, ganz still war das Haus. In der Küche, die abseits lag, hörte man leise reden; überall waren die Türangeln geölt, überall lagen wieder Läufer und Teppiche. Allstündlich kam der Pastor, immer auf den Zehenspitzen; und immer derselbe Bescheid: bis jetzt lebe er noch. Alle kamen und gingen, lautlos, als wandelten Gespenster. In dem Fremdenzimmer, wo Josefine lag, und in seiner Nähe gab es keine Worte mehr, nur noch Zeichen.

Die Nacht war womöglich noch schweigsamer. Großmutter saß nicht mehr am Bett, sondern Sissel; in der Küche brannte das Feuer, und irgend jemand wachte da immer, für den Fall, daß etwas sich ereignen sollte. Auch der Pastor wachte und ging ab und zu. Aber gegen drei Uhr schliefen er und die Küchenwache ein. Als die Großmutter gegen vier kam, schlief auch Sissel. Großmutter setzte sich wieder an ihren Platz. Nirgends ein Laut, bis gegen sieben Uhr. Großmutter sah nach dem Ofen und gab dem Kranken die Medizin; atmete der kleine Edvard leichter? Oder täuschte sie sich?

Gegen sieben Uhr ging langsam die Tür auf. Sie glaubte, es sei ihr Sohn; aber es war Josefine, die hereintrat. Im Zwielicht sahen ihr großes Gesicht unter dem wirren Haar, ihre wilden Augen noch entsetzlicher aus; die Alte, die längst für ihren Verstand gefürchtet hatte, erschrak. Aber Josefine blieb an der Tür stehen; sie hörte Sissels feste Atemzüge, aber nicht die des Jungen; da wagte sie nicht weiterzugehen. Das sah die Großmutter und nickte ihr ermunternd zu. Ein paar Schritte vorwärts — und die Mutter sah ihren Jungen — zum Erschrecken blaß, ohne jedes Lebenszeichen. Aber Großmutter nickte wieder; da wagte sie sich weiter vor. Die Gardinen waren noch zugezogen, deshalb sah sie nicht deutlicher; aber jetzt schien ihr doch, als atme er! Sie kniete nieder. Atmete er wirklich leichter, oder...? Sie hatte sich so verrannt in ihren Glauben an das Todesurteil, daß sie gar nicht hörte, was sie hörte. In äußerster Spannung lauschte sie, überlegte, hielt den Atem an, und erst, als sie die Gewißheit hatte, daß er leichter atmete, ließ sie den eigenen Atem unwillkürlich mit voller Gewalt über das Gesicht des Jungen hinströmen. Der warme Hauch weckte ihn; er schlug die Augen auf und sah seine Mutter an, und es schien, als besinne er sich. Ja, es war die Mutter; sie war wieder da! Seine Augen wurden lebhafter, klarer, als man sie seit Wochen gesehen hatte, und sie blickten in die ihren, bis Josefines Augen von Tränen überflössen.

Kein Wort sagte er, kein Glied regte er aus Furcht vor den alten Schmerzen; und ihr war, als müsse ihm der Lebensgeist entfliehen, wenn er es tue oder wenn sie ihn anrühre oder anrede. Ja, sie dachte sogar, sie atme zu laut, atmete leiser, bewegte keine Hand, wandte nicht den Kopf. Und in dieser bewegungslosen Stille war ihr, als seien Flügel ausgebreitet über ihnen beiden. Der Augenblick glich dem, da sie ihn geboren, da sie den ersten kleinen Laut seiner lebendigen Stimme gehört hatte. Jetzt begann das Leben zum zweitenmal, jetzt, in diesen ersten, scheuen Atemzügen. Seine Augen waren wie Licht im Schnee. Nicht satt konnte sie sich sehen an ihrem frischen Glanz; sie beide schwebten miteinander, als ob es nimmer enden solle.

Aber dem Jungen wurde die Macht ihrer Augen zu schwer; er gab sich der Sicherheit ihrer Nähe hin und schloß die Augen wieder, öffnete sie noch ein paarmal, um sich zu vergewissern, ... ja, sie war noch da, und dann schlief er ein.

Eine Weile darauf stand sie im Studierzimmer. Draußen war heller Tag; herein damit! Sie zog die Gardinen auf; der Tag füllte den hohen Raum mit dem Leben des Lebens, füllte ihre eigene Seele bis in den verborgensten Winkel; sie stieß die Tür zum Fremdenzimmer auf und stellte sich in die Öffnung.

Da lag Tuft, breit und stark, mit ausgestrecktem Arm, das dichte Haar, die hohe Stirn noch glänzend vom gestrigen Schweiß, um den Mund ein Lächeln. Jetzt weckte das Licht ihn halb aus dem Schlaf. "Ole!" sagte sie. Er öffnete die Augen weit, kniff sie aber gleich wieder zu. Im Geist ordnete er, was er da mit einem Blick gesehen hatte, und zugleich hörte er aus all dem Licht heraus Josefines Stimme: "Er lebt!"


Am Sonntag sprach in der Kirche von der Kanzel herab ein Mann aus dem heraus, was er gelernt hatte.

Darüber nämlich, was für uns alle das Größte ist.

Der eine vergißt es in seinem Strebersinn, der andere in seinem Kampfeseifer, ein dritter in seiner Verranntheit und ein vierter über seiner eigenen Weisheit, ein fünfter in seinem Alltagstrott, und alle haben wir es mehr oder minder verkehrt gelernt. "Denn fragte ich nun Euch, die Ihr mir zuhört, so würdet Ihr alle, just weil ich von dieser Stätte aus frage, mir gedankenlos antworten: 'Das Höchste ist der Glaube'."

"Ich aber sage Euch: wahrlich er ist es nicht! Sitz am Bett Deines Kindes, das daliegt in Atemnot, am Rande des Todes; oder laß Dein Weib, aufgerieben von Angst und Nachtwachen, dem Kinde nachgleiten bis an diesen äußersten Rand — da lehrt Dich die Liebe, daß das Leben das Höchste ist. Und nie wieder von diesem Tag an werde ich Gott oder Gottes Willen zuerst in einer Formel, in einem Sakrament oder in einem Buch oder einer Bibelstelle suchen, als sei er vor allem hier oder dort; nein, vor allem im Leben, in dem Leben, das der Tiefe der Todesangst abgerungen ist, im Sieg des Lichts, in der Inbrunst der Liebe, in der Gemeinschaft der Lebenden ist Gott. Gottes vornehmstes Wort an uns ist das Leben; unsere höchste Gottesverehrung die Liebe zu den Lebenden. Dieser Lehre, so selbstverständlich sie ist, bedurfte vor allen andern ich. Diese Lehre hatte ich aus verschiedenen Gründen und auf mancherlei Weise abgelehnt — am stärksten in letzter Zeit. Aber niemals wieder soll das Wort mir das Vornehmste sein, ebensowenig die Zeichen; nein, das Größte soll mir sein die ewige Offenbarung des Lebens. Niemals wieder will ich festfrieren in einer Lehre; die Lebenswärme soll meinen Willen lösen. Niemals wieder will ich Menschen richten nach Dogmen und nach der Gerechtigkeit vergangener Zeiten, wenn sie nicht den Maßstab der Liebe unserer Zeit tragen. Niemals, so wahr ein Gott lebt! Und das, weil ich an ihn glaube, an den Gott des Lebens, und an seine unablässige Offenbarung im Leben!"

12

Am selben Nachmittag erschien bei Tuft ein seltener Besuch. Es klopfte leise an, und auf das erste "Herein" zeigte sich niemand. Auf das zweite wurde die Tür bedächtig geöffnet von Sören Pedersen, und hinter ihm tauchte nach langem Zögern und in großer Verlegenheit Aase auf.

Sie wollten nichts Geringeres als dem Herrn Pastor für die heutige Predigt danken. "Denn niemand, Herr Pastor, kann leben ohne Gott; wenigstens wir ungelehrten Leute nicht. Es geht nicht, es geht ganz einfach nicht. Und so kommen wir wie der verlorene Sohn — d. h. Aase wäre da wohl die verlorene Tochter — (komm nur näher! Na, so mach', was Du willst!) und bitten Sie, ob Sie nicht zu Gott um Gnade für uns beide beten wollen, Herr Pastor!" Und Tuft tat es mit einer Inbrunst, wie nur er sie in ein Gebet zu legen vermochte. Sören sagte dann, sie wollten jetzt gleich zu Herrn Doktor Kallem gehen. "Ganz gewiß ist er der beste Mensch auf der ganzen Erde, jedenfalls hier in der Stadt. Aber in diesen Dingen ist er im Irrtum, Herr Pastor. Es gibt ganz sicherlich einen Gott und auch Geister, und das wollen wir ihm jetzt sagen."

Tuft selber hatte beschlossen, an diesem Nachmittag noch Kallem aufzusuchen. Er war ihm dankbar, und es drängte ihn, zu bekennen, daß ohne das Unrecht, das sie an Ragni begangen hatten, nicht einmal die Erlebnisse dieser Tage ihm zur Erkenntnis der Lebenswerte verholfen hätten. Vor allem wollte er Josefine rechtfertigen, indem er ihre Schuld auf sich nahm. In der geschäftigen Dogmen-Postkutsche, in der er getrabt war wie ein Postpferd mit Säcken voll Papier beladen, hatte sie mitfahren müssen, ob sie nun wollte oder nicht. Und durch dies Unrecht war sie mißtrauisch und hart geworden.

Als er sich eine Stunde später auf den Weg machte, stand ihre gemeinsame Kindheit merkwürdig lebendig vor ihm. Damals hatte er Missionär werden wollen; jetzt würde er es vielleicht im Ernst werden. Die Evolutions- und Entwicklungslehre auch ins Religiöse zu übertragen, das war eine Mission wert, und sie gedachte er auf sich zu nehmen. Der kleine Dogmengott vergangener Zeiten und seine Priester mußten überwunden werden wie die Götzen und Wundertäter der Heiden. Und hatte er später in theologischem Machtbegehr davon geträumt, Bischof zu werden — nun wohl! Hier war ein gefahrvolles Bistum — aus leicht erklärlichen Gründen — frei in Norwegen.

Auf der Treppe zum oberen Eingang wartete Sigrid, als Pastor Tuft mit langen Schritten über den Hof gesteuert kam. Sie war schwarzgekleidet und trug ein schwarzes Tuch über dem lichtgelben Haar. "Herr Doktor ist nicht zu Hause!" sagte sie in ihrer stillen Art. Er machte sofort Kehrt und ging entschlossen nach dem Krankenhaus hinauf. Dort stand Mutter Andersen, ebenfalls in Schwarz und einer Haube mit schwarzen Bändern. "Tragen Sie noch immer Trauer um Ihren Mann?" — "Nein, jetzt um Frau Kallem." — "Ist Doktor Kallem hier?" — "Nein, er ist vor einer Weile nach Hause gegangen."

Da irrst Du! dachte Tuft und schlug den Weg nach der Landstraße ein; er konnte inzwischen eine tüchtige Promenade machen.

Es waren viele Spaziergänger unterwegs; sie grüßten ihn voll freudiger Teilnahme, das war zweifellos. Mutter Andersens strenges Gesicht hatte einen Schatten über ihn geworfen; aber vor der Milde der andern zog sich der Schatten zurück. Wieder überkam den Pastor der stürmende Mut, den er vor einer Weile noch gehabt hatte, und der den meisten Neubekehrten eigen ist. Dicht beim Krankenhaus begegnete er Sören Pedersen und seiner Frau; auch sie wollten sich an diesem lichten Sonntagabend voll Frühlingsverheißung einen kleinen Spaziergang leisten. "War er zu Hause?" fragte Tuft. "Ja, Herr Pastor", erwiderte Pedersen höchst aufgeräumt. "Na, was hat er denn gesagt, der Doktor?" — "Es hat mir gefallen, was er sagte, Herr Pastor. Es gibt zwei Arten von Menschen, sagte er; die eine glaubt nur das, was sie weiß; die andere tut das auch, aber das, was sie glaubt, läßt sich nicht beweisen — wenigstens für niemand, als sie selber." — "Er hat recht." Tuft lachte und eilte weiter. Aber sowie er allein war, überfiel ihn Markus 16, Vers 16; das lag noch von seiner "rechtgläubigen" Zeit her im Hinterhalt und lauerte ihm auf. "Wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden!" Gott respektiert also nicht "zwei Arten Menschen". Tuft setzte sich eifrig zur Wehr; vom neunten Vers bis zum sechzehnten Kapitel ist alles ein späterer Zusatz, von dem die ältesten Handschriften nichts wissen. Wenn diese Stelle unecht ist, so enthält keins der drei Evangelien eine Stelle, die auch nur annähernd so furchtbar wäre. Und das vierte, das sie enthält, hat damit sich selbst "verdammt". Nein — das Leben ist alles — und der Glaube ist der wunderbare Weg zur Erklärung des Lebens, d. h. zu Gott. Auf diesem Wege werden wir dereinst die höchste Gemeinschaft mit ihm erlangen, wenn nicht hienieden, so doch im Jenseits. Der Glaube soll uns nicht zum Gericht werden, sondern zum Führer. Menschen um ihres Glaubens willen zu verdammen, mochte in entschwundenen Zeiten als Wahrheit gelten; in unserer Zeit stößt es ab. Gott offenbart sich unserem Verstand auf höhere Weise. Wieder schritt er eilig über den Hofraum.

Aber wieder kam Sigrid auf die Treppe: "Herr Doktor ist nicht zu Hause." Die verschleierten Augen wichen den seinen aus; aber sie blieb unbeweglich stehen, das Gesicht dicht eingerahmt von ihrem Tuch. Das Haus hinter ihr war wie ein Geheimnis, eine geschlossene Gemeinschaft, etwas in sich Treu-Gefestigtes, von dem er ausgeschlossen war.

Jetzt begriff er.

Der Preis, um den er hier Einlaß fand, war doch wohl höher, als er gedacht hatte. Demütig ging er heim; Josefine gegenüber schwieg er von der Sache.

Die Zurückweisung war ihm ein neuer Ansporn, weiter auf dem Wege vorzudringen, der einzig die Geschwister wieder zusammenführen konnte. Und das war die Bedingung für alles andere. Er gestand sich ehrlich ein, daß er war auf seinen Schwager eifersüchtig gewesen. Dies rein persönliche Gefühl hatte großen Einfluß auf die Beschränktheit seiner Lehre gehabt.

Da kam ihm von außen her Hilfe. Zuerst verwunderte Fragen, zurückhaltendes Wesen, was ihm wehtat, ihn zuweilen schwankend machte; bald aber offener Kampf mit seinen treusten Anhängern. Und das trieb ihn vorwärts. Sein alter Freund, der ehemalige Krankenhausverwalter, schien nur auf die Gelegenheit gewartet zu haben, um sich von einem Dankbarkeitsverhältnis, das ihm lästig war, freizumachen; er schlug gewaltig Lärm und zog Hilfstruppen sogar aus der Hauptstadt herbei. Seminarlehrer, Schulmeister, Wanderprediger und verschiedene Pastoren gingen Pastor Tuft in der Betstunde mit allen möglichen theologischen Instrumenten zuleibe. Vor allem lernte er, sich deutlich ausdrücken; denn die meisten Punkte, in denen sie ihn angriffen, beruhten auf Mißverständnissen. Er lernte aber auch den Gebrauch von Kräften und Kenntnissen, die er bis jetzt nicht geübt hatte.

Im ersten Monat war Josefine nur müde und stumpf; sie war mehr heruntergekommen, als sie wußte. Aber nach einiger Zeit fing sie an, dem Bauernjungen, der einst ihr Herz mit seinem lichten Glauben gefangen hatte, zu folgen.... Ob er wiederkam?

Ein Ereignis, das sie ihrem Mann verheimlichte, hatte sie wieder so zurückgebracht, daß sie nur langsam zu Kräften kam. Auch sie war nämlich in aller Stille bei ihrem Bruder gewesen, sobald sie wieder ausgehen konnte; auch sie war von Sigrid auf der Treppe empfangen worden mit dem Bescheid, er sei nicht zu Hause; aber sie hatte ihn, als sie kam, auf der Veranda stehen sehen! Mit knapper Not hatte sie sich heimgeschleppt.

Sie hatte ja das tiefste Mitgefühl mit ihm gehabt und war zu jedem Zugeständnis bereit gewesen; seine Unerbittlichkeit jedoch weckte ihren Trotz. Von ihrer eigenen Eifersucht auf Ragni hatte Josefine selbst keine Ahnung, also auch nicht davon, wie dadurch ihr eigenes Wesen beeinflußt worden war. Sie sah ihre Schuld darin, daß sie unverträglich gegen eine Frau gewesen war, die im Grunde eben doch eine Sünderin war. Wenn Sissel Aune oben bei dem Jungen saß und ihm von Ragni erzählte, wie liebevoll sie bis zum letzten Augenblick gewesen sei, dann empfand sie das Unmenschliche ihres Betragens, daß sie Ragnis Herzensgüte, daß sie Kallems Liebe hatte übersehen können. Aber abgesehen von dieser Unversöhnlichkeit fühlte sie sich nicht schuldig.

Die Enttäuschung war um so größer und hätte schwere Folgen gehabt, wenn nicht gerade jetzt ihres Mannes Kampf sie mitgerissen hätte. Ein unklarer Mensch, der wesentlich nur in Trotz gelebt hat, kann nur durch eine große Begebenheit erlöst werden. Und zu einer solchen wurde ihr der Tag, als Tuft zu ihr sagte: "Josefine — hierfür müssen wir Amt und Vermögen einsetzen!"

Drei Monate waren vergangen, da fühlte sie sich, neubelebt vom Kampf, stark genug, es mit ihrem Bruder aufzunehmen. Sie schrieb ihm, was sie auch verbrochen hätten — es müsse Klarheit sein zwischen ihnen; einer Anklage wenigstens müßten sie gewürdigt werden. Ihre Dankbarkeit gegen ihn sei groß, ebenso groß aber ihr Bedürfnis, mit ihm zusammenzuarbeiten, nun, da sie ihre frühere Unverträglichkeit bereuten und dem Geist der Liebe und der Gerechtigkeit, den sie verkannt hätten, jedes nur mögliche Opfer zu bringen bereit seien.

Ein sehr geschickter Brief; das sagte auch ihr Mann.

Aber Tag auf Tag verging ohne Antwort. Es war ein wahres Glück, daß gerade diese Tage die schwersten Kampftage für Tuft waren. In der Betstunde und nachher auch in der Kirche hatte er die Worte angewendet, mit denen Josefines Brief schloß: "Gerechtigkeit und Liebe" ohne Unterschied des Glaubens (wie in der Erzählung vom barmherzigen Samariter) sei der Kern des Christentums; deshalb müsse alles mit diesem Maß gemessen werden, in erster Linie die Lehre selbst, bis jedes Körnlein, das sich nicht daran messen ließe, vor der Offenbarungsmacht der Gerechtigkeit unserer Zeit fallen müsse als eine Gotteslehre ferner und harter Zeiten.

Dafür wurde er noch am selben Tage zur Disputation geladen.

Zwei Versammlungen wurden abgehalten im Verlauf der Woche, alle drei stark besucht. Sein Hauptgegner war ein Pastor und Redakteur einer theologischen Zeitschrift aus der Hauptstadt. Die Lehre von der Hölle war fast ausschließlich der Gegenstand, um den es sich drehte, und Tuft hielt daran fest: alles, was Paulus darüber gesagt habe, sei völlig verschieden z. B. von der Offenbarung Johannis. Nach Paulus sei das Leben hier und im Jenseits ein stetiges Fortschreiten, das damit ende, daß Gott "Alles in Allem" werde. Diese Lehre halte das Maß der Gerechtigkeit und der Liebe, — und es machte Eindruck, als er mit seiner metallreichen Stimme in der lebhaften, westländischen Tonart über die dichtgedrängte Versammlung hinrief, ob sie denn glaubten, Krieg und Unterdrückung durch den Stärkeren würden ein Ende nehmen, solange die Lehre von der Hölle mit ihrer grausamen Rachsucht und Roheit in allen Schulen und Kirchen als Gottes Gerechtigkeit und Liebe gelehrt würde!

Die Gegner waren ganz im "Stil der Höllenlehre", indem sie alles taten, ihn zu verketzern und zu verdammen. Unter den Zuhörern herrschte nur eine Meinung: in Klarheit und Überzeugungstreue war Tuft den andern allen über.

Das letzte Mal war auch Doktor Kallem zugegen; er sah auch Josefine mit flammenden Augen dasitzen; und am nächsten Tag gegen Abend kam seine Antwort.

Sie stand gerade vor dem Haus und sah ihrem Jungen zu, wie er mit der Gartenspritze spielte, als der Brief kam; sofort erkannte sie die Handschrift, und zitterte so, daß sie ihn gar nicht öffnen konnte. Es erschreckte sie, wie wenig kräftig sie im Grunde doch noch war. Sollte sie die Gesundheit ihrer Jugend nie wieder erlangen?

Sie ging also auf ihr Zimmer und riegelte hinter sich ab. Ein dicker Brief! Sie drehte und wendete ihn, setzte sich und überlegte, ob sie ihn vielleicht nicht doch Tuft zuerst lesen lassen sollte. Aber möglicherweise stand etwas über ihn darin, was er nicht sehen durfte.

Sie öffnete.

Kein Wort von ihrem Bruder, kein Wort an sie! Das erste, was sie sah, war von fremder Hand geschrieben; das nächste ebenfalls, das übernächste auch, zwei verschiedene Handschriften. Ein paar zusammengeheftete Bogen, einige Briefe, ein paar lose Zettel ... von Edvard kein Wort.

Was bedeutete das? Aus all den Papieren zog Josefine unwillkürlich das kleinste hervor, ein Zettelchen mit drei Zeilen darauf:

"Sie haben meinen guten Namen getötet und ich hab' es nicht gewußt. Denn ich wußte nicht, daß ich einen hatte, bis er getötet war."

Auf einem andern Zettel bloß die feingeschriebenen Worte: "Vergib ihnen; sie wissen nicht, was sie tun."

Diese zarte, leichtschwingende Handschrift war natürlich Ragnis. Josefine begann zu zittern, und wußte doch nicht warum.

Da lag ein Brief von einer andern Hand geschrieben, die ersten Worte in roter Tinte. Keine Unterschrift. Aber als sie las, daß Kallem dies nicht sehen dürfe, vermutete sie einen Liebesbrief von Karl Meek, den Kallem nach ihrem Tode gefunden hatte. Was sollte sie damit? Flüchtig las sie die ersten Worte, hielt aber inne, als es "Sie" hieß — als er von einem Schmerz sprach, den er hatte allein tragen wollen, der nun aber auch sie betroffen hätte, eine Verleumdung...? War es Verleumdung gewesen?

Überall die allerehrerbietigsten Ausdrücke! — Wann war der Brief geschrieben? Es war kein Datum angegeben; aber der Schreiber war im Ausland; also nach ihrem Zusammenleben hier. Der Brief war ein einziger großer Schrei, ein Schmerz, so echt, wie sie einen größeren nie gelesen hatte.

Josefines Hand zitterte; sie mußte den Brief auf den Tisch legen.

Sie las, wie Karl infolge dieser grausamen Verleumdung an niemand anders und an nichts anderes zu denken vermochte; sie las, wie dadurch seine Liebe zu Ragni erwacht war; Josefine sah diese Liebe, aus Kummer, Dankbarkeit, Anbetung geboren, ihr entgegenatmen, — in den reinsten, rührendsten Ausdrücken.

Ragni unschuldig? Gott im Himmel, war sie wirklich unschuldig? Dann waren die ergreifenden Szenen zwischen Edvard und ihr, während der Tod sie Zoll für Zoll auseinanderriß (Sissel Aune hatte sie ihr geschildert) ja nicht zu ertragen gewesen! Ja, dann begriff sie, weshalb er mit ihrer Leiche von hier weggezogen war und Karl Meek mitgenommen hatte. Sie begriff nur das eine nicht: daß er es überlebt hatte.

Es klopfte an die Tür; sie sprang auf; es war bloß das Mädchen, das sie zum Abendessen holen wollte. Sie vermochte nicht zu antworten. Es klopfte wieder. "Nein, nein!" würgte sie endlich heraus, während sie sich wand vor Scham und Schmerz. Sie mußte zu ihrem Bruder! Sie mußte zu ihm! und sollte sie auf den Knien zu ihm rutschen!

Aber da waren noch mehr Papiere; und sie hatte ein Gefühl, als ob ihr Bruder neben ihr stehe und ihr gebiete zu lesen. Zitternd las sie:

"Ich will jetzt abschreiben, was ich nach vielen Versuchen und Ausstreichen über meine Kindheit und meine erste Ehe zustande gebracht habe; aber ich fühle mich auf einmal so müde und so fertig. Immer hatte ich mir ausgedacht, ich wolle ein paar Worte als Einleitung schreiben, und hatte mich darauf gefreut. Jetzt ist es zu spät. Jetzt kann ich Dir bloß noch sagen, Du 'weißer Pascha' meines Lebens, wie das alles so mit mir gekommen ist. Ganz kurz hab' ich's gesagt, weil es mir eine Qual war. Ich hab' es auch nur gesagt, damit Du mich verteidigen kannst, sollte irgend jemand es noch der Mühe wert finden, von mir zu sprechen, wenn ich fort bin. Liebster Freund, ich klage nicht. Ich habe das Schönste erlebt, was ich erleben konnte; nur daß es so kurz war! Du mußt Dir bloß vorstellen — ich hatte mich selber aus bloßer Furcht vor noch etwas Schlimmerem weggeworfen; und da hast Du mich emporgetragen aus der Tiefe des Meeres zum Frieden, zu allem Guten in guter Menschen Obhut — bis Du dann zum zweitenmal kamst und mich noch weitergetragen hast — zu Dir selbst. Und hier, in Deinem Heim, alles zu eigen zu haben, Dich, und alles, was Dir gehört — ohne es zu verdienen; ich hab' es oft schwer empfunden; aber glücklich war ich doch."

"Ich weiß, ich füllte meinen Platz nicht aus; aber nun, da es zu Ende geht, ist mir, als schade auch das nichts mehr. Du hättest Nachsicht gehabt mit mir, wie lang es auch gedauert hätte; das weiß ich ja gewiß."

"Liebster, wenn ich Dir auch alles sagen wollte, was von Dank und Bewunderung für Dich in mir ist — Du würdest es nicht begreifen; so selbstverständlich war es Dir, daß alles Frohe in Deinem Leben von mir kam. Und das ist auch in meinem Leben das Schönste gewesen."

"Aber Du liest das ja erst, wenn ich nicht mehr im Sessel neben Dir sitze, und da ist nichts, was die Erinnerung an mich besser in Dir wachhalten könnte, so wie ich sie in Dir lebendig wissen möchte, als ein großes unendliches

ich danke Dir!"

Das war die Ehe, der sie den Namen Ehe hatte absprechen wollen! Sie, Josefine, im Vergleich mit ihrer eigenen!

Sie glitt hernieder vom Stuhl, auf die Knie. Sie schluchzte, schluchzte — und zwang sich, still zu sein, damit niemand sie hier finden solle, zusammengekauert, zusammengebrochen unter der Schmach ihres Verbrechens. Ihre Hände tasteten um Ragnis Handschrift, ihr Kopf sank auf die Hände: "Vergib! Vergib!" flüsterte sie, und sie wußte, daß niemand, niemand sie höre, und daß niemand, niemand ihr vergeben könne.

Und blitzschnell erfaßte sie, daß Ragni auch in ihrer ersten Ehe rein gewesen, daß sie auch in ihr verleumdet worden war. Die Schriftstücke über diese Ehe, wie sie zustande gekommen war, — sie brauchte sie nicht, sie konnte sie nicht lesen. Mit fiebernden Händen packte sie alles zusammen — Ole sollte es lesen. Jetzt mußte er ihr helfen; es galt ja ihr Leben. Sie war mitschuldig des Mordes, des Mordes an einer ganz Unschuldigen! Nicht durch Worte oder Hetzereien; gesagt hatte sie nichts; aber gerade durch ihr Schweigen, gerade dadurch, daß sie Ragni vom ersten Tag an von sich gestoßen hatte — gerade dadurch war die Ärmste rettungslos verloren gewesen; das hatte sie getroffen wie der Blitz; das hatte sie betäubt, schreckerstarrt zu Boden geschlagen. Das Urteil, das sie in ihres Bruders Augen gelesen hatte, das Todesurteil, — sie hatte nicht falsch gelesen! — nur galt es nicht ihrem Sohn, ihr selber galt es. Sie verdiente den Tod!

Entsetzen packte sie; der Schweiß brach ihr aus wie nach einem betäubenden Schlag.... Jetzt war es da!

Ja, jetzt war es da, wovor sie Jahr um Jahr erschauernd gebangt hatte, — etwas über alle Maßen Grauenhaftes, das sie zu Staub zermalmen würde. Nichts war sie gewesen; nichts hatte sie gewollt, nichts geleistet; und dabei hatte sie getrotzt und verurteilt und das höchste Spiel gespielt!

Jetzt war es da! Sie hatte geglaubt, die Sache mit dem Jungen sei das Äußerste gewesen; nein, erst jetzt war es da, jetzt, seit sie wieder ein frohes Zusammenleben mit ihrem Mann und festen Boden unter den Füßen gewonnen hatte.... Jetzt traf es sie — und traf sie tödlich.

Sie eilte hinunter ins Studierzimmer, während Tuft noch aß, und legte den Brief auf seinen Tisch; Hut und Tuch hatte sie schon an; und nun lief sie mehr als sie ging zum Haus des Bruders. Nun galt es biegen oder brechen.

An einem Fußweg bog sie nach der Kirche ab; dabei dachte sie an Oles letzte Predigt. Wenn ihr Zusammenleben von Anfang an so freie Wahl, auf solche Ziele eingestellt gewesen wäre! Sie weinte und lief auf das fürchterliche Haus zu. Links hinter dem Laub erblickte sie auch die weiße Hauswand des andern, in dem Kule wohnte — das Mordinstrument! Nein, nein, nein! Sie hatte ihn nicht kommen heißen; sie hatte keinen Teil daran! Doch — sie hatte gehört, wie man davon sprach, und es für ganz gerecht gehalten. Einige hatten es als guten Witz aufgefaßt, andere wieder ernst, ja, religiös. Josefine erinnerte sich jedes Wortes, zu dem sie geschwiegen, jedes Gedankens, den sie im Stillen gehabt hatte.

Mord, Mord! Da gab es keine Vergebung, das wußte sie. Was wollte sie bei dem Bruder? Er hatte ihr Kind gerettet; darüber hinaus wollte er nichts mit ihr zu schaffen haben. Und dennoch — ihr Leben hing von jetzt an diesem Fleck Erde; sie mußte hin, und wenn es ihr Tod war! Und sie hastete weiter.

Ihr Leben war geschändet; sie konnte keinem ehrlichen Menschen mehr ins Auge sehen. Mit Kälte und Bosheit hatte sie ein völlig, völlig unschuldiges Menschenkind getötet — hatte ihres Bruders Heim zerstört! Wie sollte sie darnach noch weiter leben? Was wollte sie jetzt? Ihre gerechte Strafe suchen? Aber die konnte nur sie selbst sich auferlegen. Zuerst mußte sie ihn gesehen, ihn gehört, selber mit ihm gesprochen haben — ja — — denn sie hatte auch etwas zu sagen, — — er wußte ja gar nicht, wie sie ihn liebe, wie sie ihn immer geliebt hatte; — er kannte sie überhaupt nicht. Und sie weinte und hastete weiter.

Sie sah ihn im Garten zwischen dem Haus und den Nebengebäuden stehen, über irgend etwas gebückt, was er eben in der Hand hielt. Sie sah ihn — über die Johannisbeer- und Stachelbeerhecke weg, wo die höheren Obstbäume ein bißchen weiter auseinanderstanden. Ein Frösteln durchrann sie; aber sie schritt weiter. Bald war sie unter den Bäumen des Parks, und bog dann nach dem Hof ab; nur die Mauer der Stallgebäude war noch dazwischen; jetzt trat Josefine hervor.

In einem hellgelben, rohseidenen Rock, demselben vielleicht, in dem er vor zwei Jahren gekommen war, stand er da — die Ärmel aufgestreift, die Manschetten abgelegt — und wusch unter der Pumpe einen Reisekoffer; die vielen Zettel, die die verschiedenen Eisenbahnen übereinander daraufgeklebt hatten, mußten aufgeweicht werden. Wollte er verreisen? Er war sonnverbrannt und mager; im Profil erschien sein Gesicht noch schärfer. Jetzt hörte er ihre Schritte und blickte auf.

Blickte ihr in das verweinte, flehende Gesicht. Von ihrer einstigen farbenfrohen Kleidung keine Spur mehr; ein dunkles Sommerkleid; um die Taille einen Gürtel; auf dem Kopf ein breitrandiger Strohhut mit braunem Band; über dem Arm lose ein Tuch. Ihre Tränen brachen hervor. "Edvard!" rief sie verzweifelt; weiter kam sie nicht....

... Denn er hatte den Koffer fallen lassen und sich hoch emporgerichtet; eine Stimme, die in zwei Oktaven zu klingen schien, sagte: "Nie verzeihe ich Dir, Josefine!" "Edvard — so laß mich doch erklären ... —" Sie wandte sich dem Haus zu, voll Angst und Verzweiflung, so streng sah er aus. Er glaubte, sie wolle hineingehen.

"... Nie kommst Du über diese Schwelle!" Und er stemmte die Hände in die Seiten, als wolle er Wache halten.

13

Tuft ging vom Abendbrot in sein Studierzimmer, sah aber die Briefe nicht liegen, weil er gar nicht auf den Schreibtisch blickte. Wie so häufig abends machte er einen kleinen Spaziergang; wäre Josefine dagewesen, so hätte sie ihn wohl begleitet, dachte er. Wohl eine Stunde ging er auf und ab; es war Sonnabend, und er überdachte seine Predigt für morgen. Als er nach Hause kam, setzte er sich mit einem Buch ans Fenster und las, wanderte dazwischen auf und ab, las wieder, bis es zehn Uhr war.

Er ging nach oben, um sich zu legen; Josefine war nicht da; nicht in ihrem eigenen Zimmer, nicht im ganzen Haus. So stieg er wieder hinunter ins Arbeitszimmer, um auf sie zu warten; wo konnte sie nur sein? Bei einem Kranken? Er wußte von keinem. Gedankenlos griff er nach dem Brief, während er am Schreibtisch vorüberging; sein Name stand darauf — von Josefines Hand! Heiß stieg es in ihm auf; er ging ans Fenster, um besser sehen zu können. Kein Siegel; bloß verschiedene Papiere; und obendrauf ein Zettel mit folgenden, von Josefine geschriebenen Worten: "Ich bin zu ihm gegangen — es gilt mein Leben." Was war das?

Eine Viertelstunde später war auch Tuft auf dem Weg zur Kirche; auch er lief mehr als er ging. Er war der allein Schuldige; er hatte seinerzeit Josefine den Gedanken eingegeben, Ragni sei ihrem ersten Mann untreu gewesen, und damit alles ins Rollen gebracht, was seitdem geschehen war! Und wenn er nicht auf seinen Schwager eifersüchtig gewesen wäre, so hätte er kaum dessen Bruch mit der Kirche, den Verkehr mit Spöttern zum Vorwand genommen, sich von den beiden zurückzuziehen. Und wenn der Schwager antworten würde: Josefine sei ja überhaupt gar nicht Christin genug, um aus diesem Grund Ragni zu verdammen, oder darum gleich das Schlimmste von einem Freidenker anzunehmen — er, Tuft, würde antworten, daß solche, die so etwas tun, eben keine Christen sind, sondern Halbchristen. Der, dem die Liebe zu Gott Lebensgesetz geworden ist, urteilt überhaupt nicht; aber die anderen tun das um so eifriger. Josefine hatte nach ihrem ganzen Lebensgang eine Halbchristin werden müssen, und das war wiederum seine Schuld. Das theologische Studium unterbindet alles Wachstum des Mannes.

Wie klar er das alles jetzt überschaute! Und darum war es ihm auch so unerträglich, sie in dieser Seelennot zu wissen. Er rannte so, daß er ganz außer Atem in den Park, ans Tor, über den Hof und auf die Treppe kam. Die Haustür war verschlossen, — es war doch kaum über zehn! Er klingelte wieder und wieder, und bald hörte er im Korridor Schritte, Männerschritte. Kallem war es, der öffnete.

"Ist Josefine nicht hier?" — "Nein." — "Ist sie nicht hier gewesen?" — "Doch, vor anderthalb Stunden." — "Und — —?" — "Ich habe ihr mein Haus verboten." — "Du hast nicht mit ihr gesprochen?" — "Nein." — Da streckte Tuft die rechte Hand aus: "Jetzt bist auch Du dogmenbesessen!" wandte ihm den Rücken und stürzte fort. Sein breiter Hut über den breiten Schultern war wie ein vierkantiger Nachdruck auf seine letzten Worte.

Es war schon über elf Uhr — da klingelte es wieder. Genau auf dieselbe Art. Kallem erschien sofort. Er war also nicht zu Bett gewesen.

Wieder war es Tuft, der dastand; aber, soweit Kallem zu unterscheiden vermochte, noch ehe er ihn näher sah, ein ganz anderer, ein verstörter, verzweifelter Mann. "Wo, denkst Du, könnte sie hingegangen sein, Edvard?" — "Ich denke, zu Ragnis Grab wird sie gegangen sein!"

Ein wunder Laut aus der Kehle, ein fast sichtbares Aufwallen von Schmerz. Und wieder war er auf und davon. Seine schweren Schritte klangen noch lange herauf durch die Stille der Nacht.

Gegen ein Uhr wieder das Klingeln; aber nur einmal, zaghaft — angstvoll. Kallem kam sofort aus dem Wohnzimmer; er war also noch immer auf.

Eine Frau stand vor der Tür. Der kurzsichtige Kallem ging hastig auf sie zu und erkannte Sissel Aunes Stimme. "Liebster, bester Herr Doktor, seien Sie doch gut und barmherzig!" fing sie an zu jammern. "Liebster, bester Herr Doktor!" — Kallem glaubte, sie komme seiner Schwester wegen; ihr sei etwas geschehen. Es überlief ihn kalt. Aber Sissel fuhr fort: "Niemand kann ihn mehr bändigen; jede Nacht ist er wie verrückt." — "Aune?" fragte Kallem. "Ja. Er glaubt, Kristen Larssen sei hinter ihm her, und da rennt er davon, immerzu, wer weiß, wie weit, in den Wald und auf die Landstraße; heut ist's die dritte Nacht; und ich kann nicht mehr! Liebster, bester Herr Doktor — ich hab' ja sonst niemand, zu dem ich gehen könnte!" — sie fing zu weinen an — "und niemand kann ihn ja bändigen, außer Ihnen!"

Der muntere Buchbinder und Spielmann verrückt geworden? Also hatte er sich seiner Macht entzogen? Oder trank er wieder? War es Delirium? Nein, es war einfache "Verrücktheit" aus Angst vor Kristen Larssens Geist. Kallem ging sofort mit.

Der Himmel war bewölkt; eine dunkle Nacht. Aber ein frischer Nordwind begann die Wolken auseinanderzufegen. Er rüttelte auch die Bäume am Weg; das laubdichte Rauschen fragte und spürte so manches auf, während sie vorübergingen. War es nicht auch seltsam und wunderlich, daß Aune, der unter den Leuten den Glauben an Kristen Larssens Spukerei aufgebracht hatte, jetzt selber davonrannte, in sinnlosem Entsetzen — vor seiner eigenen Luggeschichte? Jeden Abend, sobald es dunkel würde, versicherte Sissel, erschiene ihm Kristen Larssen und wolle ihn in die Hölle mit sich nehmen! — "Aber liebe Sissel, es gibt ja gar keine Hölle!" — Im selben Augenblick hörten sie aus weiter Ferne einen Schrei, einen einzigen, endlosen, schneidenden Hilferuf. Wie ein Gespenst stieg er auf durch die Nacht — man sah ihn beinahe. "Das ist er!" rief Sissel und faltete die Hände. "Jesus Christus! Hilf!" schrie sie und fing zu laufen an. Kallem eilte ihr nach. "Ruhig, Sissel! So kommst Du bloß langsamer vorwärts. Ruhig gehen, ruhig! Hörst Du?" Sie gehorchte sofort, wandte sich aber leidenschaftlich zu ihm: "Wer anders als der Satan kann einen Menschen so hetzen?" fragte sie schweratmend. Da schlug in der Nähe ein Hofhund an; der Schrei hatte ihn aufgeschreckt; er kläffte unaufhörlich. Kallems Stimme überschrie den Hund: "Aune ist so wenig vom Satan besessen als der wütige Köter dort! Weißt Du, wie überhaupt die Leute den Satan erfunden haben? Sie glaubten, alles sei vollkommen erschaffen auf Erden; und da hatten sie niemand, dem sie Schuld dafür geben konnten, daß die Sünde in die Welt gekommen war."

Im selben Augenblick fiel der rasende Hund sie an. Sissel flüchtete zu Kallem. "So ein wütiger Pfaff!" rief der und bückte sich nach einem Stein. Da wich der Köter ein Stück zurück. Ein neuer Schrei — näher als der erste — ein Notschrei aus der letzten Kraft eines Menschen. Ein Schauder überlief sie; sogar der Hund stutzte. Aber dann setzte er, an ihnen vorbei, in einem großen Bogen auf den Spuk los. "Gott steh uns bei — jetzt hat er ihn!" weinte Sissel auf und stürzte vorwärts; dem Hund durfte der Besessene auf keinen Fall zwischen die Zähne laufen! Und dabei hörten sie den Köter bellen, bellen, als ob er eine wilde Bestie vor sich habe, die er im nächsten Augenblick zerreißen wollte. Jetzt liefen sie beide, so schnell sie konnten; Kallem war Sissel bald weit voraus. Aune konnte es kaum sein, der da in Gefahr war, aus solcher Nähe hatte der letzte Schrei nicht geklungen. Das rasende Tier war über den ersten besten hergefallen. Wer aber war das? Seit seiner Kindheit war Kallem nicht so gelaufen; er hörte am Bellen des Hundes, daß der Gegner sich wehrte, und lief mit erneuter Kraft. Bald sah er am Wegrand vor einem Gehölz etwas Großes, Schwarzes, und davor den Hund. Noch einmal durchschnitt ein Schrei die Nacht; ja, er kam von dort her! Was war das für ein großer, schwarzer Klumpen? Doch kein Tier?

Nein, ein Mann war es, ein großer Mann, der mit einem kleineren rang, und auf beide ging der Hund los. Der Große schlug nach ihm, sie drehten sich umeinander; und zugleich hielt der Große mit der Linken einen andern gepackt. Und nun erkannte Kallem den breiten Hut über den breiten Schultern; Tuft war es, der Aune festhielt, mit Riesenkraft; der Hund wollte auf Aune los, und Tuft stieß ihn jedesmal mit einem Fußtritt weg. Wer weiß — Aune mochte glauben, der Hund sei der Teufel und Kristen Larssens Gespenst halte ihn gepackt; denn der Unglückliche schlug um sich mit Händen und Füßen, sperrte sich, biß um sich, zerrte und riß, um loszukommen; jetzt warf er sich hintenüber und mit dem letzten heiseren Rest seiner Stimme kreischte er: "Hilfe! Hilfe!" War seine Angst vorher schon groß gewesen, so wurde sie erst recht groß, als er Kallem aus dem Halbdunkel herauswachsen sah: er warf sich zu Boden und brüllte. Der Hund packte ihn sofort am Bein; der Pastor zog beide Beine gleichzeitig in die Höhe; so rasend war die Bestie, daß sie Kallem nicht bemerkte, bis der ihr einen Fußtritt versetzte, der sie ein paar Meter weit wegschleuderte. Ein einziges kurzes Aufheulen, ein Schnappen — ein Arzt versteht zu treffen — und sie sahen und hörten nichts mehr von ihr; vielleicht war sie tot.

Jetzt nahm Kallem Aune beim Arm und der Pastor ließ ihn los. Er war wirklich übel zugerichtet, der Rock schleppte zerrissen hinter ihm her, der Ärmel hing ihm in Fetzen auf die Hand herunter, ebenso sein wollenes Hemd. Das Blut quoll ihm aus Biß- und Kratzwunden; aber er war so angst- und wutentflammt, daß er überhaupt keinen Schmerz fühlte. Kallem packte den armen Narren mit beiden Händen am Kragen, hob ihn zu sich empor und bohrte mit all seiner durch den raschen Lauf und die Gemütserregung noch gesteigerten Energie den Blick in die Augen des andern, bis sie ganz groß und dumm und glasig wurden; mit aufgerissenem Mund und schlaffen Gesichtsmuskeln hing der Kerl da, wie ein ausgenommener Hering. Als endlich Sissel atemlos und weinend anlangte, lag Aune unter den Bäumen im Gras und schlief. Die beiden Männer standen vor ihm. Kallem meinte, Aune könne da liegen bleiben; Tau würde nicht fallen, da es windig sei. Später würde man sie beide abholen. Er denke, er werde schon Herr dieser Verrücktheit werden.

Der Pastor hatte seinen Rock ausgezogen, sich das Blut abgewischt und wurde, so gut es ging, verbunden; dann gingen er und Kallem heimwärts.

Kein Wort mehr von Aune oder wie er auf ihn gestoßen war; aber kaum standen sie auf dem Weg, sagte Tuft klagend: "Da war sie auch nicht, Edvard! Da war sie auch nicht!" Und kurz darauf: "Jetzt weiß ich nichts mehr, nein, jetzt weiß ich nichts mehr! Daß Du sie hast von Dir stoßen können, Edvard!" Das laubschwere Sausen der Bäume wiederholte es, wiederholte unaufhörlich: "Daß Du sie hast von Dir stoßen können, Edvard!"

"Weißt Du, was sie geschrieben und neben die Briefe von Dir hingelegt hatte? Um meines Lebens willen gehe ich zu meinem Bruder!"

Kallem überrieselte es eisig. "Um meines Lebens willen!" sauste es tausendstimmig, und das Sausen umwand ihn, enger und enger, bis er kaum mehr Atem zu holen vermochte.

Der Morgen begann zu dämmern; Tufts heißes, verzweifeltes Antlitz war gen Osten gekehrt, als flehe er unaufhörlich: "Gnade, Gnade für sie!" Er schritt aus, so schnell er konnte; er wußte nicht, wo er sie suchen sollte; aber er mußte gehen, gehen, gehen; — und Kallem mit.

"Ach, die Angst, die Angst!" jammerte er wieder. "Erinnerst Du Dich noch der Sturmnacht in unserer Kindheit, Edvard? Wir glaubten, die Welt würde untergehen. Weißt Du noch, wie Du Dich gefürchtet hast, am Abend darnach auf den Klippen? Diese ganze Nacht haben auch nach mir die 'Meerungeheuer' gezüngelt! Die Angst, die Angst! Die Seelenangst vor der Sündenstrafe! Von Kindheit an peitscht sie alles Verständnis aus uns heraus, gerade wenn wir es am meisten nötig haben! Und wir laufen davon und verzweifeln, oder werfen uns vor Gott in den Staub. Das Angstdogma werden wir später vielleicht los, aber das Anererbte, das Eingeübte! Und eben wie ich darüber nachdachte, stolperte ich über den verrückten Kerl; er sprang auf — die Angst war in ihm — er glaubte, ich sei ein Gespenst und der Hund sei der Teufel! Und Josefine! Auch sie verzweifelt und läuft davon! Und Du, Edvard! Auch Du, auch Du stehst unter dem Eindruck dieser Angst, wenn Du das Herz hast, sie noch mehr zu peinigen, als sie selbst sich schon peinigt! Denn das ist das schlimmste bei dieser Angst — sie macht uns schlecht; wer selber geschreckt worden ist, lernt andere schrecken!" — Die Worte fielen schwer, wie seine Schritte schwer klangen; Kallem redete nicht; wenn er litt, war er stumm.

Der Sohn des Laienpredigers aber hatte von kindauf alles Erleben in Lehren umsetzen hören. Er verblutete in seinem Innern; aber er sprach die ganze Zeit. Kallem dürfe nicht an Josefine zweifeln; sie sei das ehrlichste, wahrhaftigste Geschöpf auf Erden. In dieser Sache sei sie von ihm irregeleitet worden. Voll innigstem Mitgefühl legte er die Geschichte ihrer Seele bloß, so wie er selbst sie sah, und bewies deutlich — wenn ihr Bruder sie jetzt von sich stieße, so könne sie nicht weiterleben.

Kallem warf dann und wann ein "Lieber Ole!" — "Hör' mal, Ole!" dazwischen — aber weiter kam er nicht. Denn selbst, als er den Schwager mit sich nach Hause nahm, um seine Wunden genauer zu untersuchen, redete Tuft unaufhörlich. Es war, als ob das Entsetzen, die Ungewißheit ihn übermannen würden, wenn er schwiege; und dann — Edvard sollte sie so sehen, wie er sie sah, und vor allem, er sollte ihr helfen! "Allen, die gefehlt haben, müssen wir helfen; und vor allem müssen wir denen helfen, die gegen uns gefehlt haben, sobald wir selber ihre Schuld einsehen! Gottes Vergebung besteht darin, daß er uns dann weiter hilft!" — Noch als Kallem ihn zur Tür begleitete, fuhr er in seiner Auseinandersetzung fort; seine Riesenkraft gab auch jetzt noch nicht nach. O Gott! Wenn sie vielleicht doch mittlerweile zu ihrem Kind und zu ihm zurückgekehrt wäre! Seine Hoffnung war freilich nur gering; aber er lief doch, so rasch er konnte.

Es wurde heller und heller. Kallem konnte nicht schlafen. Schließlich hielt er es gar nicht mehr aus. In einer Angst, größer als er seinem Schwager hatte zeigen wollen, wanderte er durch alle Zimmer, wieder und wieder, als müsse er das Haus durchsuchen. Denn es war ja wahr: auch er hatte nur geurteilt und verdammt.

Die Schwester hatte immer mehr an ihm gehangen, als er an ihr. Seitdem sie diesen Winter zusammen getanzt hatten, wußte er, daß ihre Liebe sich nicht verringert hatte. Ja, selbst als er sie geschlagen hatte — war sie da nicht zu ihm gekommen, um ihm Gutes zu erweisen? Ihr Ausfall gegen Ragni damals ... natürlich steckte da noch mehr dahinter als Dogmenblindheit, — Eifersucht! Eifersucht war es, weil er alles nur noch Ragni war und ihr nichts mehr. Er hätte die beiden Frauen zusammenführen können; daran war kein Zweifel möglich. Aber hatte er auch nur einen Finger deswegen gerührt?

Je mehr er in die Tiefe stieg, desto mehr schrumpfte sein Recht, streng zu sein, zusammen; er war ja mitschuldig! Die großen Augen der Schwester von gestern Abend, ... jetzt schauten sie ihn in der äußersten Not an, jetzt sah er sie! Ihr ganzes Leben lang hatte sie, unklar und scheu, wenn nicht die Leidenschaft einmal die Luft reinigte, eingezwängt in widernatürliche Lehren, trotzig auf ihrer Wahrhaftigkeit beharrend, ausgeschaut nach ihm, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag. Und als er endlich kam, stieß er sie beiseite. Stieß sie beiseite um einer Frau willen, die seiner nicht würdig war — so wie sie die Sache auffassen mußte.

Arme, arme Josefine! Er war ihr tatsächlich nie etwas gewesen, hatte ihr nur wehgetan, und doch hatte sie sich so treulich nach ihm gesehnt!

Es wurde ihm schwül in den Zimmern; und eine Angst überkam ihn. Es trieb ihn hinaus, die Schwester zu suchen. Heller und heller wurde es; im Vorgefühl des Morgens schlug er die Verandatür zurück. Aber er hatte ja da draußen nichts zu schaffen; im Gegenteil, er mußte sie wieder schließen, wenn er ausgehen wollte. Er trat hinaus, um sie wieder zuzumachen, und blickte dabei zufällig zur Seite: von der Veranda gegen den Nordwind geschützt, auf Ragnis Bank unter den Fenstern seines Studierzimmers saß Josefine, ihr Tuch über den Knien. Sie sah ihn und kroch in sich zusammen wie ein flügellahmer Vogel, der sich nicht vom Fleck rühren kann und doch Angst hat, man könne ihn sehen. Und doch saß sie ja bloß dort, damit er sie sehen solle! Nirgends anders konnte sie sein; sie hatte es versucht! Er eilte die Treppe hinunter, auf sie zu. Da zitterte sie. "Ach nein, nein Edvard! Laß mich sitzen!" bat sie und brach in Tränen aus. Und noch als er ihren Arm faßte und sie emporhob, flehte sie, weich wie ein Kind: "Ach nein, Edvard, laß mich!" Weiter aber kam sie nicht. Sie fühlte, daß sie an seiner Brust lag, fühlte die Bewegung, die sein Innerstes erschütterte. Nein, er war nicht böse! Er würde sie doch vielleicht anhören! Und sie schlang ihre Arme um ihn, und ihre Tränen mischten sich mit seinen. So standen die beiden Geschwister, Kopf an Kopf, Wange an Wange; und alles Verwandte in ihren Nerven und ihrem Blut, das älteste und ursprünglichste in ihrem Fühlen, das heimisch-vertraute in ihrem Erinnern, bis auf den leisen Geruch ihrer Kleidungsstücke draußen im Flur bei Vater und Mutter, all das strömte jetzt zusammen im Verlangen, nimmermehr voneinander zu lassen.

Und dennoch — als er mit ihr der Veranda zuschritt, zögerte sie; sie wagte nicht, ihm dahinein zu folgen. Durch Tränen sah sie zu ihm auf; er zwang sie vorwärts, Schritt für Schritt; noch auf der Treppe zögerte sie. Aber er zog sie weiter, bis sie in der Wohnstube standen; hier schlang sie wieder die Arme um ihn, sank dann auf einen Stuhl und barg das Gesicht in den Händen; das ganze Zimmer lauschte lange ihrem Weinen; und er mit.

Endlich ging er zu ihr hin und strich ihr übers Haar; aber er wußte, nicht er war es, der das tat; sondern Ragni.

Dann schritten sie in der Sommernacht Arm in Arm durch eine morgenwache Stadt, wo die Menschen noch schliefen. Der edle Gang der beiden hohen Geschwistergestalten hallte im Takt der alten Tage. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, gingen sie, um Ole zu suchen, verpaßten aber den Richtweg und kamen hinunter auf die Strandstraße. Bald bogen sie ab, hinauf nach dem Pfarrhaus; sie waren schon ein paar Schritte auf diesem Weg gegangen, als Josefine, wie aus einem Zwang heraus, den Kopf nach dem Strand zurückwandte. Sofort hielt sie Edvard an. "Da ist er!" flüsterte sie. Von dort her kam Tuft. Er ging schnell, schnell, hielt aber den Kopf so tief gesenkt, als vermöge er dessen Last nicht mehr zu tragen. Vergebens hatte er den ganzen Strand abgesucht nach ihr; nun wollte er weiter suchen, in südlicher Richtung — ebenso vergeblich, aber ebenso schnell. Beide verstanden; ihr Arm zitterte im Arm des Bruders. Fest schmiegte sie sich an ihn; denn vor wenigen Augenblicken noch hatte sie ihm gesagt: hätte der Bruder sie aus seinem Garten verjagt, dann —! Still! Sie wandten um und gingen Ole entgegen. Hellhörig, wie er war, vernahm er sofort die Schritte — er blickte auf, erkannte sie, breitete die Arme aus; weitergehen konnte er nicht mehr, auch nicht sprechen. Josefine aber machte sich los vom Arm des Bruders und eilte zu ihm.


Langsam gingen alle drei nach Hause; der Pastor, Josefine am Arm, — auf der andern Seite Kallem. Immer wieder sagte er: "Auf Gottes Wegen! Auf Gottes Wegen!"

"Aber ich bin nicht Deines Glaubens!" versuchte Kallem einzuwenden. "Nein, nein, nein!" rief der Pastor eifrig. "Wo gute Menschen gehen, da sind Gottes Wege!"

Anmerkungen:

[1] Halbhohe, gefütterte Schuhe aus weichem Renntierleder.

[2] Eine Erika-Art.

[3] Eine Violenart.

[4] Von der Familie der Ranunkeln.

[5] Kreuzkraut.

[6] Linsenwicke.

[7] Felix Niemeyer (1820—1871), Arzt, Universitätsprofessor in Greifswald und Tübingen. Hauptsächlich bekannt durch sein "Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie".

[8] Kleiner Stoßschlitten.