The Project Gutenberg eBook of Das Trottelbuch

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Title: Das Trottelbuch

Author: Franz Jung

Release date: July 12, 2011 [eBook #36718]

Language: German

Credits: E-text prepared by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS TROTTELBUCH ***

 

 

E-text prepared by Jens Sadowski

 

 


 

Cover

 

 

 

Das Trottelbuch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Umschlag und Einbandzeichnung
von Franz Henseler, München

 

 

 

 

 

 

Franz Jung
Das Trottelbuch

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlagslogo

 

Berlin-Wilmersdorf 1918
Verlag der Wochenschrift DIE AKTION (Franz Pfemfert)

 

 

Von Franz Jung erschienen bisher folgende Werke:


Im Verlage der AKTION:

Sophie. Ein Roman
Saul. Ein Drama
Opferung. Ein Roman
Flucht aus der Welt. Ein Roman.


Im Verlage Weißbach, Heidelberg:

Kameraden . . .! Ein Roman.

 

 

Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1918 by Franz Pfemfert, Berlin-Wilmersdorf.
Dieses Werk wurde gedruckt von H. Klöppel, Quedlinburg.

Inhalt

Trottel. Eine programmatische Einleitung

Der Weg über den Berg

Die Erlebnisse der Emma Schnalke

Der tolle Nikolaus

 

 

Trottel

Eine programmatische Einleitung

Um einen Tisch des Café du Dôme saßen mehrere Herren. Eine Frau schritt draußen am Fenster vorbei.

Sie hatten sie alle gekannt, und einige kannten sie noch.

Einer las vor:

Zwei junge Burschen stolpern aus einer Vorstadtkneipe in die Nacht. Blutjunge Burschen und sehr betrunken.

Sie schlagen das Pflaster mit ihren Stöcken, sie johlen, krümmen sich vor Lachen, und sie schleppen die schwergewordenen Füße hinter sich her, daß sie von fern wie hinkende Greise erscheinen.

Eine Katze huscht über den Weg.

Die Betrunkenen bleiben stehen, die Lässigkeit ist aus ihren Gliedern gewichen, ein Rausch ballt sich zusammen. Sie jagen dem Tier nach, verstellen den Weg, sie schlagen mit ihren Stöcken — — als ob das Tier schuld wäre an ihrer Jugend und ihrer Betrunkenheit, so schlagen sie.

Die Katze hält einen Baum an der Straße umkrallt und windet sich mit letzter Kraft hinauf.

Die Burschen halten keuchend inne.

Das Tier ist fast aus dem Bereich ihrer Stöcke, da holt der eine nochmals zum Schlag aus und trifft . . . . trifft das Rückgrat . . .

Das Tier wendet den Kopf und starrt durch die Nacht — starrt — und gleitet dann — ruckweise — den Stamm herunter.

Die beiden haben sich dann ohne Gruß getrennt.

Einer warf ein:

„Aber in jener Nacht schliefen sie nicht. Die Krallen gruben sich in ihr Hirn und lösten Krampf und Zuckungen aus.“

Als niemand etwas sagte, fügte er schüchtern hinzu:

„Wenigstens bei einem . . .“

Da lachten sie alle.

Plötzlich sagte wieder einer:

„Ihr erinnert euch, ich sah sie einmal mit einem Commis oder Offizier oder sowas im Café. Ich ging damals an ihren Tisch und sagte: Du . . . du gehst nicht mit dem . . . komm. Ihr wißt, daß sie damals zu mir kam. Wir gingen in eine Kirche. Sie weinte. Es war sehr peinlich. Neulich war ich wieder in dieser Kirche, ich sah sie wieder vor mir . . . ich könnte mich heute ohrfeigen.“

Sie nickten alle zustimmend.

„Wenn ich damals an den vertrottelten Major geschrieben hätte . . .“ sagte einer.

Der andere las wieder vor:

„Kann ich dafür, daß in Montmartre die Lichter stechen, kann ich dafür . . .?“

„Hör auf, du zerreißt mich, bitte . . . bitte . . du — du —“

Weiter raste der Tanz.

„Bleib bei mir. Komm, mich friert hier.“

„Laß nur, Kleiner.“

„Du . . .“ es war ein Schrei.

Ein Lächeln antwortet.

Aber er liest eine Bitte um Verzeihung heraus und nickt.

Das Weib rast und spiegelt sich in den Blicken aller.

Weiter. Rausch. Schreie. Violinen.

Er richtet sich auf, ballt die Faust, schreit: „Komm . . . “

Ein Riß klafft in dem Taumel.

„Haha . .“ aber sie geht mit ihm.

Der Freund ging mit ihnen. Sie waren nie allein, in ihrer Mansarde wohnten viele Freunde.

Schnee lag auf den Dächern und taute, daß das Wasser in die Kammer tropfte.

Er umkrallte die Hand des Freundes: „Wir haben zu sühnen, ich will ihr die Ruhe geben.“

„Und verlasse mich . .“ höhnte der andere ihm nach.

„Ich habe bereits alles auf mich genommen . .“ bat er wieder.

„Es war eine wundervolle Nacht,“ warf sie ein.

„Nein,“ heulte der eine.

Sie lachte. „Ich hatte mich danach gesehnt . . . und gleich alle drei . .“

Du wirst noch Orangen verkaufen, dachte der Freund. (Und der Vorleser lächelte selbstgefällig.)

„Als ihr mich nahmt, war ich so befreit . .“

„Du warst rein,“ brüllte der eine. „Oh ich Schuft, aber ich werde dich noch . .“

„Du blöder Hund.“

„Du. Du weißt, wie ich dich liebe.“

Sie wies mit einer Bewegung der Hand auf den Schnee über ihrem Fenster.

Schweigen.

Er starrte sie mit fiebernden Blicken an. Verflucht, dachte der andere, soll ich ihn halten?

„Gut . . .“ schrie der, „aber dann . . .“ Er schwang sich hinaus.

Ein Zucken ging über ihr Gesicht, sie rang in sich etwas nieder. Der Freund saß regungslos.

Von draußen kam ein Kratzen und Schürfen. Dann ein Poltern, ein Schrei oder ein Lachen oder ein Wimmern —

Man sah einen Ring über dem Dachrand zittern und brechen.

Der Freund saß regungslos.

In ihren Zügen lag ein Leuchten, ein Flackern, eine Flamme, eine Erstarrung, ihr Leben ballte sich zusammen. Sie sah den Freund ihr gegenüber beschmutzt, stinkend, schamlos in seiner Ohnmacht und Bestürzung.

Dann zupfte sie den anderen am Rock und würgte lächelnd heraus: „Zwanzig Franken muß er noch haben.“

Der Freund räusperte sich, er war erlöst.

Dann gingen sie.

Man schwieg eine Zeitlang am Tisch.

Dann setzte einer schnell, wie um den anderen zuvorzukommen, hinzu: Zwei Freunde treffen sich in London. Der eine schwärmte: Ich habe ein Weib gefunden. Krampf und Zuckungen. Ich will den Rhythmus ihrer Liebe suchen.

Der andere lächelt und sagt: „Dann mußt du ihr mehr zu saufen geben.“

Während sie noch so sprachen, trat die Frau am Arm eines Fremden ins Café und schritt an ihrem Tisch vorbei.

Die Herren standen auf und verbeugten sich.

Sie trug eine entzückende Robe, und der Fremde sah aus wie ein russischer Großfürst. Vielleicht, daß in seinem Hemd Brillanten funkelten. Auch tranken die beiden Gott weiß was für teure Sachen.

Die Herren hätten viel darum gegeben, wenn sie etwas von der Unterhaltung der beiden gehört hätten.

Sie hörten aber nichts und machten nur die Wahrnehmung, daß beide sehr zufrieden aussahen.

Er sog lächelnd an einer sicherlich exquisiten Zigarette, und sie führte von Zeit zu Zeit bedächtig das Glas an den Mund . . . .

Am Tische der Herren fing schließlich einer wieder etwas zu lesen an.

Der Weg über den Berg

(In drei Etappen)

Der 50. Geburtstag

Frau Päsel feierte ihren 50. Geburtstag.

Frau Päsel wartete in einem Garten mit ihrer Tochter, der Frau König, zwei volle Stunden auf Herrn König, der unter dem Vorwande, einen Bekannten aufzusuchen, sich vom Tisch entfernt hatte und wahrscheinlich in einer Kneipe nebenan ein Wiedersehen begoß.

„Du hättest ihn erst gar nicht gehen lassen sollen,“ brummte die Alte.

Die Tochter kniff die Augen zusammen und schien mit Tränen zu kämpfen.

„Nu ja,“ besänftigte die Mutter, „vertragen müßt ihr euch schon. Für dich ist es schwer.“ Sie seufzte tief auf.

Da kam Herr König.

Er kam tänzelnden Schrittes, machte eine tiefe Verbeugung und rief lustig: „Guten Taaaag!“

Wirklich ein fescher Kerl. So ein Schlingel — — dachte die Alte und bekam einen dicken, feuerroten Kopf. Dann schrie sie: „So treibst du’s wieder, du besoffner Lump.“

Herr König mühte sich, einen Zusammenhang zu finden.

„So muß alles zu Grunde gehen,“ jammerte seine Frau und beobachtete dabei einen Nebentisch, an dem irgend etwas vorgehen mußte, was Herr König nicht sehen konnte.

Herr König blieb vorderhand ganz ruhig und setzte sich. Donnerwetter, dachte er, und immer leiser: Donnerwetter, die paar Glas Bier und so. Aber es wurmte ihn.

Die Alte redete weiter:

„Daß du dich auch gar nicht halten kannst. Gleich wieder den verfluchten Fusel.“ Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Du siehst doch, wie sich die Mutter grämt,“ warf die andere ein und hatte Verachtung im Blick.

Frau Päsel weinte. Dann sagte sie sanft:

„Willst du hier etwas essen?“

„Nein.“

„Aber iß doch, lieber Junge. Wie nett du aussiehst in dem neuen Hut . . .“

„Fritz, so iß doch was.“

„Halt die Fresse.“

Herr König schlug auf den Tisch.

„Ja, was ist denn — — vertragt euch doch, Kinder.“

Frau Päsel zitterte.

Die andere lachte auf.

„Laß ihn doch, er ist ja besoffen.“

„Was!? Das sollst du büßen. Warte nur . . .“

„Aber Kinder . . .“

„Das geht mir doch zu weit, oh warte. . .“

Er keuchte vor innerer Erregung.

„Sie hat es doch nicht so gemeint.“

„Oh die — das muß sein,“ er schnappte mit der Stimme über.

„Alle Leute werden ja auf euch aufmerksam,“ flehte Frau Päsel. Sie war leichenblaß.

Die andere riß die Augen weit auf, zog die Schultern automatisch ruckweise rauf und runter und stieß schrille, pfeifende Schreie aus.

Die Alte hielt sie.

„Um Gotteswillen, was ist dir denn?“

„Der da — der da — der da“ — sie schrie weiter.

Er stürzte mit erhobener Faust auf sie zu.

„Sie hat wieder was, die Komödie, Aas verfluchtes.“

Die umsitzenden Leute lachten. Ein Kellner sagte zu jemandem: „Was geht das Sie an . . .“

Frau Päsel rang die Hände und stotterte vor sich hin: „Was ist denn los um Gotteswillen.“ Ein entsetzlicher Gedanke fuhr ihr durch den Kopf: Wenn mich hier jemand kennt, um Gotteswillen, der Päsel. Dann schrie sie ihren Schwiegersohn an: „Dich kenn’ ich jetzt.“

Herr König war starr. Er nahm seinen Hut und ging hinaus.

„Was ist denn, Kind?“ jammerte die Alte.

Die junge Frau stand hastig auf.

„Mutter, er geht. Geh schnell.“

Frau Päsel lief hinaus und erwischte ihn noch an der Straßenecke.

„Wo willst du denn hin? Sei doch vernünftig.“

„Ich kann das Frauenzimmer nicht mehr sehen.“

Sie kam hinzu.

„Was hab ich dir denn getan?“

Sie weinte noch leise.

„Ich will nicht mehr. Schluß. Immer dasselbe.“

„Sprich doch nicht so . . .“

„So versöhnt euch doch, Kinder. Was muß ich mit euch noch alles erleben.“ Sie sah völlig gebrochen aus.

„Mit Kerlen treibt sie sich rum und alles so, und wenn ich dann . . .“

„Aber es hat ja niemand etwas gesagt,“ mischte sich die Alte wieder hinein.

„Ich will nicht!“ Er schrie so laut, daß die Passanten stehen blieben.

Frau König sah hilflos unschuldig aus. Sie schaute zu ihm auf und schien zu flehen: Siehst du, so bin ich. Nimm mich doch.

Aber er hörte nichts. Er freute sich, daß ihm Unrecht geschah und fühlte, wie ein reißender Strom sie von seiner Seite fortriß und entführte.

Die Frauen faßten ihn unter den Arm und lächelten.

Er merkte, daß er müde war, und daß es vielleicht besser wäre, jetzt alles gut sein zu lassen, aber er riß sich mit einem Ruck los, daß Frau Päsel unter den Stand eines Obsthändlers rollte. Er sprang auf eine vorbeifahrende Tram und fuhr davon. Zu seiner Enttäuschung mußte er sich eingestehen, daß niemand hinter ihm her schrie.

Abends auf der Heimfahrt sagte er zu seiner Frau:

„Eigentlich haben wir nichts erreicht. Mit dem Pump wird es wohl jetzt nichts werden.“

„Siehst du, die Mutter ist nicht mal mit auf die Bahn gekommen,“ schmollte sie, „du bist auch immer so aufgeregt . . .“

Er grübelte: Ob sie es weiß, daß sie mich betrogen hat, und weiter: aber der alten Kupplerin hätte ich es mal richtig geben sollen, und später: wenn wir nur erst allein wären . . . Sie hatten sechs Stunden zu fahren.

Als sie dann im Abteil allein waren, küßten sie sich.

Nächtliche Szene

Gegen drei Uhr nachts stolperte der junge Bittner die Treppe zu seiner Dachwohnung hinauf. In dem dürftig ausgestatteten Zimmer brannte noch die Lampe. Die Anna Zöpfel lag angekleidet auf dem Bett und schlief.

„So — schrie er, hab ich dich erwischt!“

Er rüttelte sie am Arm. Sie wachte auf und rieb sich die Augen.

„Kommst du erst jetzt? Ich bin so müde. Mich friert.“

„Was! Du — du, du willst mir Vorwürfe machen? du —??“ Er schrie, daß sie erschreckt sich aufrichtete. „Du — hä, wo warst du denn? hä!?“

Sie stammelte: „Ja, was soll das?“

„Ah, ich habe es geahnt, ich weiß.“

Er ging im Zimmer auf und ab.

„Ich habe dich auf den Knieen gebeten, beherrsch’ dich, ruiniere mich nicht durch deine Unüberlegtheit und Dummheit.“

„Was hab ich denn aber getan?“

Es war nur mehr ein leises Wimmern.

„Nichts von heute und gestern. Aber es frißt. Weiß ich — vielleicht vor einem Jahr und vor Wochen, alles das Kleine, die Verzeihungen . . .“ Er schnappte nach Luft.

Da merkte sie, daß er betrunken war und sagte leise:

„Geh doch jetzt schlafen.“

Er ließ sich neben sie nieder, ballte die Faust.

„Du hast alle gegen mich ausgespielt, ich bin allein, verlacht, du hast mich zerrieben — zwischen Steinen, getreten, bespieen und immer noch geschworen, du hättest mich lieb.“

Sie starrte ihn verängstigt an. Er umspannte ihr Gelenk.

„Ich habe keine Ruhe mehr, ich bin krank, matt — oh du!“

Er krallte sich tiefer ein. Sie fing an zu jammern.

„Ich hab doch auf dich gewartet.“

„Warte nur, du Aas!“ Er zog eine Fresse und kniff die Augen zusammen.

„Sieh nur, wie verändert du sprichst,“ höhnte er.

Sie weinte. Dann riß sie sich los und schrie: „Laß mich!“

Die Haare hatten sich gelöst, die Miene war straff und hart. Er krallte sich tiefer ein.

Sie heulte auf wie ein verwundetes Tier und suchte sich seiner mit den Füßen zu erwehren.

Da schlug er sie.

Er schlug mitten hinein ins Gesicht, ruckweise, überlegen, wie ein Schütze, der ins Schwarze zielt.

Ihre Augen zuckten. Immer neue und fremde Gesichter sah er erstehen, und in jedes schlug er sie.

Er fühlte, daß er manchen Vorgänger zu töten hätte.

Immer wieder, maschinenmäßig.

Es wurde für Sekunden totenstill. Dann gellten Schreie, kalt, wie hinter dem eigentlich Menschlichen, sie bohren, fressen. Schreie. Sie stand mitten im Zimmer, das Gesicht verzerrt, schrie. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, er stürzte ihr nach, sprach auf sie ein. Er riß an den krampfzitternden Wangen und küßte sie. Die Schreie lösten sich in ein monotones Heulen auf. Er ging wieder zitternd auf und ab.

Unter ihnen wurde geklopft, im Hause gingen Türen, Stimmen wurden laut.

„Sei doch wenigstens jetzt still“ — flüsterte er.

Seine Annäherung peitschte ihre Sinne, sie schrie wilder, stoßender.

Es klopfte an der Tür. Hausgenossen lugten scheu herein.

Er brummte etwas von einem Anfall, Hysterie.

Der im zweiten Stock wohnende Trambahnschaffner schrie ihn an: „Sehn Sie denn nicht, daß die Frau krank ist!?“

Das Blut rann aus ihren Kratzwunden.

Einige Weiber sprachen ihr gut zu und gaben ihr Wasser. Eine streichelte ihr Haar.

Anna beruhigte sich langsam.

Einer brummte etwas von „Skandal“ und „gebildete Leute sein“, die Frauen warfen auf Bittner giftige Blicke.

Dann gingen sie.

Er saß am Bettrand und murmelte vor sich hin: „So weit ist es also gekommen. Alles hat sie sich vernichtet. So weit.“ Dann wurde es wieder eine ganze Weile still.

Sie stand in einer Ecke und weinte leise.

Er dachte: Das arme Ding. So dumm und unüberlegt. Soll ich wieder gut sein oder ihr an die Gurgel fahren — für das alles wieder —

Und während er noch so grübelte, ging er zur Tür hinaus. Langsam tastete er die dunkle Treppe wieder hinunter, er hörte die Ketten hinter sich nachschleifen.

Eigentlich bin ich dumm, fühlte er, ich hätte mich versöhnen sollen, wenn auch — und so. Und morgen wird uns der Wirt rauswerfen. Schließlich ist sie doch auch schwanger. Zu dumm.

Langsam sperrte er das Tor wieder auf und ging schleppenden Schrittes in die Nacht hinaus.

Ab und zu fuhr er zusammen. Ein Auto jagte vorüber. Wenn er jetzt darunter läge. Es schrie jemand.

Er schleppte sich weiter. Durch endlose Straßen, Schritt für Schritt. Er dachte nichts mehr. Zuweilen noch zuckte es in ihm nach und polterte dumpf.

Josef

Sie zankten sich.

Er erklärte ihr, daß er sie im allgemeinen nicht ernst nehme, daß er ihre Erregung irgendeiner Krankheit zuschreiben müsse, es wäre ihm im übrigen auch gleichgültig und so.

Sie schrie ihn an: „Pack dich!“

Dann bekam sie einen feuerroten Kopf.

„Du blöder Einfaltspinsel!“ Sie spuckte aus.

Er entgegnete ruhig: „Du wirst dich beherrschen müssen.“

Aber in seinen Worten zitterte etwas Geheimes, Verstecktes, Lauerndes.

Er sagte: „Wenn du die Sache satt hast, so geh’.“

Sie lachte gereizt: „Das willst du mir sagen, du — aber warte!“ Sie zerriß eine Photographie und warf ihm die Stücke vor die Füße.

„So — sie spuckte wieder aus — ich geh’!“

Dann lief sie dem Haus zu.

Er setzte sich in die Laube und dachte:

Was ist eigentlich, warum der Streit? Er versuchte sich der Vorgänge zu erinnern, ich habe sie zwar gescholten — vorhin — wegen der Bemerkungen — aber sie sah mich so feindselig an — ja, wieso eigentlich?

In der Laube saß Josef.

Er achtete nicht auf ihn.

Josef war der kleine Sohn des Wirtes und auf einer Seite gelähmt. Er fuhr mit dem Finger die Tischritzen entlang und stieß kurze Schreie aus.

Der Mann achtete nicht auf ihn. Er dachte weiter: Da unten liegt sicher mein Bild, was wird sie tun? Was soll das alles? — Er sah sich Jahre zurück, wie er sie liebte, wie er bebte und getroffen wurde. Und schließlich ist sie mit mir verwachsen, fühlte er. Vielleicht ist sie auch über mich hinaus — er erschrak.

Eine peinigende Angst befiel ihn.

Nein — zitterte es in ihm — mit dieser Behandlung ist es nichts. Soll ich ihr nach, sie küssen, um Verzeihung bitten wie früher — oder still sein?

Rasender Schmerz fraß an ihm.

Er fühlte plötzlich, wie tief er Josef haßte.

Was tut er hier, warum schlägt man ein solches Vieh nicht tot? Nur zum Ekel lebt er.

Er hörte ihre Stimme. Sie stand in einem Kreis von Leuten und schien sehr erregt. Sie schrie und weinte und lachte dann wieder auf.

Josef humpelte scheu aus der Laube heraus.

Ein kleines Mädchen sammelte Steine in einen Schubkarren.

Josef zeigte auf die Steine und schrie.

Das Mädchen lachte und fragte ihn etwas.

In der Luft lag Milde. Die Sonne brannte. An den Kirschbäumen waren die ersten Blüten.

Josef stand mit gesenktem Kopf und lauschte. Dann schleppte er das eine Bein nach und drehte sich auf dem anderen langsam herum.

Josef tanzte.

Die Gartentür fiel ins Schloß.

Der Mann in der Laube fuhr auf. Wenn sie jetzt geht — dachte er, mag sie mich wieder verleumdet haben, bespieen, alles wieder breitgetreten — vor den Leuten da, es ist gleich, ganz gleich, und es rang sich etwas empor in ihm, gewaltsam, es war für ihn schon zu spät, darüber klar zu werden, er schrie verzweifelt: „Du — du —“

Aber es klang hart und rauh und befehlend.

Er schrak zusammen, gestand sich, daß es so weich und mild hätte klingen sollen.

Es war zu spät.

Doch er fühlte sofort: Nein, nicht zu spät. Sie wird wiederkommen, vielleicht wird es doch wirken. Sie wird sich damit beschäftigen. Ich werde sie dann prügeln — wie früher, als sie auf dem Boden lag und ich ihr den Haß aus den Augen schlug. Sie braucht das. Was tut’s, ich verliere einige Stunden, was tut’s.

Eine quälende Unruhe hatte ihn erfaßt.

Er rief den Wirt und wies lachend auf Josef. Auch der Wirt lachte. Dann ging er zu seinem Sohn und faßte ihn grob am Arm.

„Was tust du hier, hä? Habe ich dir nicht verboten . . . !?“

Josef hing regungslos in der Faust des Vaters.

Er gab keinen Laut von sich, als man ihn in seine Bodenkammer schleppte.

Der Mann ging im Garten auf und ab.

Ich werde sie doch anders behandeln, dachte er, mehr nach außen, mit Liebe. Wenn sie kommt, werde ich vielleicht vorerst gut zu ihr sein.

Er wurde zufrieden und lächelte. Die Stücke seines Bildes hob er auf und verwahrte sie in seiner Brusttasche. Sie wird sich freuen, fühlte er.

Das Mädchen sammelte weiter Steine.

Ab und zu erschien Josef in der Dachluke und stieß schrille, pfeifende Schreie aus.

Es klang wie der Schrei wandernder Affen im Urwald.

Der Wirt bediente lächelnd seine Gäste. Wenn man ihn totschlagen könnte, dieses Rabenaas, knurrte er, und bediente lächelnd weiter.

Spätabends kam sie heim.

Er saß im Zimmer und wartete.

Sie beobachtete ihn lauernd und sagte schnell: „Weißt du, wen ich getroffen habe, den T. Es war riesig nett.“

„Laß nur. Eigentlich wollte ich mit dir noch fortgehen, aber jetzt . . .“

„Ach ja. Er wird noch warten — im Café — er wußte ja nicht . .“ fügte sie schelmisch hinzu.

Er stimmte traurig zu. Eine bohrende Angst quälte ihn.

Nur keine weiteren Worte, fühlte er, und wie gehetzt erzählte er von Josef, dem Tanz und dem Wirt und nannte ihn irgendwie.

Seine Worte bekamen Würde, daß sie erstaunt zu ihm aufsah. Dann schritten sie schweigend durch die Nacht.

Die Erlebnisse der Emma Schnalke

(Nach einem Kouplet: . . . . Der Liebe Glück und Seligkeit . . . .)

I.

Die Person, um die es sich hier hauptsächlich handelt, heißt Emma Schnalke. Oder auch anders. Das hat nichts zu sagen. Mit vierzehn Jahren wurde sie auf die Straße gesetzt. In rascher Aufeinanderfolge war sie bei einem Zahnarzt, in einem Konfektionsgeschäft, Beerdigungsinstitut, Friseurladen, Schirmgeschäft, im Chor eines Operettentheaters. Es gefiel ihr nichts.

Die Männer, die ihr auf dem nächtlichen Heimwege vom Tanzlokal in die Augen sahen, erschraken und gestanden sich enttäuscht: Es ist nichts. Sie sucht etwas.

Gern war sie mit älteren Leuten zusammen. Sie log ihnen ein Dirnenleben vor.

Mit 16 Jahren kam ein Rausch über sie, der sie erhob und entzückte. Ein Schüler brachte sie zur Kunstschule und zeigte sie den Professoren.

Sie huschte durch die Säle und tanzte und jubelte, und wohin sie kam, war ein Aufleuchten. Wie etwas Neues, Fernes, das zu ihnen gekommen war, das alle erstaunte und wiederum auch war wie etwas, das alle erwartet hatten. So huschte sie durch die Säle und war ihnen bei jeder Arbeit dabei.

Oft saß sie auf einem zierlich gezäumten Roß, mit Schellen und Trotteln, als Edelfräulein, den Jagdfalken auf der Hand. Dann war es, als ob allen eine Erscheinung aufginge, es kam etwas Erhabenes in diese jungen Köpfe, und der jüngere der Professoren ging manchmal an den Steigbügel, hob sie herab und drückte ihr einen scheuen Kuß auf die Stirn.

Nach solchen Tagen schritt sie taumelnd durch die Straßen, mit schlottrigen Kleidern, eine Nachtwandlerin, oder saß an den Ufern des Flusses und griff nach den Lichtfetzen, die die Strahlen der Bogenlampen ins Wasser rissen.

Keiner wagte es auszusprechen, was alle fühlten. Künstler waren wohl kaum darunter. Indessen, diese jungen Leute waren sich bewußt, einen vom alltäglich bürgerlichen etwas abweichenden Standpunkt einnehmen zu müssen, auch in den Äußerungen ihres Gefühlslebens, und sie mühten sich darum. Sie waren ihr dankbar, daß sie ihnen gleichsam die Gelegenheit bot, ihre Zugehörigkeit zur Kunst zu empfinden und vor sich selbst zur Schau zu tragen.

Ein Flackern kam in ihre Augen, und mancher krümmte sich wie unter einem Spott. Es war wie eine geheime Abmachung unter ihnen, ein Schauer, der jeden gefangen hielt, der die groteske Tragödie eines schal gewordenen Märchens mitanzusehen gezwungen war. Es gährte in diesen Köpfen, eine Wut stieg auf und ein Begehren, wenn die Straßenmodelle den Saal verlassen hatten.

Manchmal saß sie nackt auf dem Pferde, und Bäume waren rings herum aufgestellt, die mithelfen sollten, die Idee einer längst verbrauchten Romantik in die Wirklichkeit umzusetzen. Es blieb ein Torso, und sie litten darunter. Ihre Kraft erlahmte, und ihre Kunst ging weit, weit fort. Aber sie schwiegen.

Unter den vielen war einer, der rang mit sich in manchen Nächten, und sein heißes Blut schrie.

Der Rausch und die Ruhe begann zu schwinden, der Blick wurde beseelt und bewußt, und einer, der draußen vor der Stadt das Gurren der Tauben vernahm, schlug sich vor die Stirn: er kannte es wieder.

Aufregung hatte sich aller bemächtigt, mit dem schwindenden Rausch entwand sie sich ihnen.

Es gab keine Märchen mehr.

Einmal kam der ältere der Professoren zu seinem Kollegen und fragte: „Der H. hat mir erzählt, du willst heiraten?“

Der andere schwieg.

„Die v. B.?“

Minuten des Schweigens verstrichen.

„Und deine Kunst?“ Sein Gesicht verzerrte sich, als wollte ein Pfui sich durchringen.

Der andere beschwor ihn. Dann sprudelte es hervor. Seine Liebe zur „Katze“, seine Qualen, seine Gesichte, das Heilige, und seine Ängste um seine Kunst und um seine Professur — — Aber er würde sie zu sich nehmen — Es klang immer bestimmter, je länger er sprach.

Der Alte drückte ihm die Hand, dann redeten sie mit ernsten Mienen längere Zeit, und etwas Sieghaftes lag in ihren Augen.

Es klopfte: — die Katze.

Verlegenheit war um sie, schwand bald, und es klang herausfordernd:

„Ich habe eigentlich eine kleine Bitte, ich möchte gern 100 Mark geborgt haben, ich will etwas ins Gebirge fahren.“

Der Alte zeigte auf den anderen:

„Wende dich an ihn“ — und mit bedeutungsvollem Lächeln ging er hinaus.

Es würgte in dem anderen, Trauer und Angst, ein Fremdes, Dumpfes bedrückte ihn. Eine Sekunde lang stieg alles Liebe und Herzliche in ihm auf:

„Du — (er zwang sich) — willst fortfahren?“

„Ja — mit dem Kapellmeister, du weißt — Eine kleine Spritztour.“

Noch einmal versuchte er ihre Seele zu ketten, all’ seinen Schmerz konzentrierte er auf ein süßes, tiefes — Du —, das er im Innern fühlte. Er rang und griff, aber griff ins Leere. Dann ging er langsam zum Sekretär und nestelte umständlich an einer Kassette.

Die Bewegungen waren seltsam gezwungen, ihre Augen blieben stumpf und verschleiert. Eine Lüge war im Zimmer.

„Hier hast du — — Wann sehen wir uns wieder?“

„Danke schön. Nächste Woche —“

Dann klang es hart: „Ich brauche dich zu einer Magdalena.“

„Ja, ja —“ Sie huschte hinaus.

II.

Wochen vergingen, es wurde Winter. In die Kunstschule ging sie nicht mehr. Allabendlich stand sie vor dem Variété und wartete auf ihre Gesellschaft. Der Kapellmeister, zwei Sängerinnen und ein Kraftmensch. Dieser entzückte die ganze Stadt, wenn er einen Wagen mit vier Insassen auf dem Nacken trug oder mit Kanonen balanzierte.

Er war der Schwarm verheirateter Frauen.

Er schleppte sie durch die Caféhäuser und Bars, begleitet in ehrfurchtsvollem Abstande von Studenten, Kommis, Kellnern und Nachtmädchen. Oft saßen sie in größerer Gesellschaft in den Separés der Hotels, es wurde Wein getrunken, Musik gemacht und getanzt.

Mitunter verirrte sich auch ein Künstler unter die Gesellschaft. Meistens blieben sie aber allein. Sie saß zitternd mitten drin, wie ein flügellahmer Vogel, nur ihre Augen flackerten Sehnsucht und heißes Begehren.

Man wußte in diesen Kreisen nie, was morgen war, und immer trennte man sich in der Besorgnis, die eine süße Erwartung war, sich nicht mehr wiederzusehen.

Jeweilig zwei Tage vor seinem letzten Auftreten in irgendeiner Stadt pflegte der Athlet seinen Geburtstag zu feiern. Dann ging es hoch her. Die Katze saß unter all’ dem lärmenden Volk an seiner Seite. Sie zitterte und ertappte sich dabei, wie sie irgendeine läppische Redensart, die gerade am Tisch gefallen war, immer wieder vor sich hersprach. Sie fürchtete sich, aber die Stimmung riß sie mit fort. Die Blumenarrangements, die ihm von den Frauen auf die Bühne geschickt worden waren, schmückten die Tafel, die zahllosen Einladungen zu Dämmerstunden und Soupers, die sie immer wieder in die Hand nahm und durchlas, der Wein, die Lichter — kurz, es kam ein roher, plumper Ton in ihren Verkehr, sie scherzte mit ihm. Sie hatte ihre Haare zu einem Knoten zusammengebunden und eine rote Sammetkappe darübergestülpt. Ihre Bewegungen bekamen etwas gewollt Unfertiges und Kindliches.

So saß sie unter den Betrunkenen, und eine qualvolle Unruhe bedrückte sie. Oft lachte sie plötzlich laut auf oder küßte den Athleten und drückte sich an ihn oder erinnerte sich irgendeines fernstehenden Menschens, der ihr ein lieber Bruder und Führer hätte sein können. Wenn der da wäre, dachte sie manchmal, der oder auch der — Warum ist niemand da? — Vielleicht gerade heute — —

In manchen Augenblicken fühlte sie etwas Verfehltes in sich, ein Nichtzuendekommen, Haß stieg in ihr auf, und sie warf sich dem Athleten an die Brust oder streichelte seine Fleischerhände.

Sie wurde betrunken, die Augen funkelten.

Da nahm er sie an der Hand und führte sie hinaus. Drinnen johlten die anderen. Er trug sie in sein Zimmer und küßte sie. Die Lichter verlöschten. Der Lärm kam aus weiter Ferne und drang nicht mehr zu ihnen. Ab und zu hörte man ein Schlürfen, verwischte Laute sich entfernender Stimmen, ein letztes Poltern.

Die Stunden waren bitter, da er mit ihrer Seele rang, aber sie wurde blind — vor dem Tier, das vor ihr winselte und bettelte.

Wozu? Der Löwe und die Katze — — fühlte sie.

So nahm er sie.

Es folgten Tage wie Feuerbrände und die Stunden des ersten Erwachens. Sie schlug ihn blutig. Er fesselte sie an den Bettpfosten. Und immer stand sein Diener Bill, der abends die Gewichte schleppte, dabei, unbeweglich, lauernd, immer bereit, alle Wünsche zu erfüllen und die Befehle seines Herrn sofort zu vollziehn.

So erkannte sie sich wieder und die Erinnerung kam. Sie reisten ab. Sie wohnte bei seinen Eltern, und er nannte sie seine Braut. Dann reiste sie mit ihm. Es lag etwas Verjüngtes in seinen Schritten, die Blicke verloren das Starre, Herzlose — während sein Weib in einem Hotelzimmer verblutete.

Er betrog sie in Brüssel und Marseille und gab Unsummen aus für Brillanten, mit denen er sie, um seiner Eitelkeit zu schmeicheln, herausputzte. Schließlich hatte er sich sogar an sie gewöhnt und fühlte einen Anflug von Liebe, wie er Schlächtergesellen eigen ist. Manchmal dachte er daran, ein Gut zu kaufen und so im bürgerlichen Leben unterzutauchen. Mit der Zeit sehnte er sich sogar danach. Sie wurde von den Französinnen und Engländerinnen beneidet, manche beschenkten sie. Oft fuhr sie des Nachts in Gesellschaft auf dem Züricher See, man war freundlich zu ihr und wollte ihn kennen lernen. Dann kam sie manchmal nach Haus und biß ihn, daß man auf seiner Brust abends die Spuren sehen konnte. Oder sie schlug ihm vor dem Hotelpersonal die Faust ins Gesicht.

Er wurde weich wie ein Kind und liebte sie. Monatelang nahm er kein Engagement an. Und auch Bill wurde entlassen.

Seine Mutter drängte sich an sie und schmeichelte, wie Schlächterfrauen zu schmeicheln pflegen. Die ganze Familie fing wieder an zu verarmen, niemand arbeitete.

Da, eines Tages, nahm sie aus dem Koffer den Rest seines Geldes und blieb verschwunden. Krank, mit fiebernden Augen bat sie bei ihrer Mutter um Unterkunft.

Aus ihren Träumen kam hin und wieder ein Auflachen, das man um Mitternacht um dunkle Straßenecken hört.

III.

Tage und Wochen vergingen. Tiefste Bitterkeit kämpfte mit wiedererwachter Sinnlichkeit, es wurde ein Haß des Vernichtenwollens, des letzten Auslöschens. Die Männer, die ihr bisher im Leben begegnet waren, gaben das Bild ab, an das sich ihre Erregungen klammerten. Sie bespie und verfluchte sie und glaubte, sie mit Füßen treten zu müssen. Oft saß sie mit starren Blicken, die Hände zusammengekrampft, und träumte, sie hielte eine Gurgel umkrallt.

Visionen erschienen ihr und erfüllten sie mit Ekel. Dann ging sie nachts in ein Rummellokal und tanzte mit den Mädchen von der Straße, wild und zügellos. Aller Blicke begleiteten sie, die Weiber beschwerten sich, manche fauchten, die Männer blieben still.

Es war ihnen ein Kribbeln in die Glieder gefahren, ein frischer Rhythmus, sie streckten sich und ihre Gesichter wurden geschäftig, als ob jeder sie erwartete, und jeder eine Mission zu erfüllen hätte. Der Tanzmeister, bei dem man sich beschwerte, aber dachte: Vielleicht ist noch ein Geschäft mit ihr zu machen — und zuckte lächelnd die Achseln.

An einem dieser Tage war es, daß sie erschöpft zusammenbrach, und einer der umstehenden Jünglinge bedauernd sagte: Wie ein gehetztes Reh. Das Wort durchzuckte sie wie ein Blitzstrahl und wurde eine Erkenntnis für sie. Immer wieder wiederholte sie für sich: Gelt, wie ein gehetztes Reh.

Wie ein Kind, das die Mutter streichelt: Geltel — wie ’hetztes Reh. Zitternd lief sie nach Haus und weinte.

Anderntags kamen Kriminalbeamte und holten sie zur Polizeiwache. Es handelte sich um die überall übliche Verleumdung seitens einer Freundin, die die Beamten auf sie aufmerksam gemacht hatte.

„Wir kennen Sie schon —“ so empfing man sie.

Die Leute da hatten ein selbstbewußtes, fettes Lachen, ihre Bäuche zitterten vor Vergnügen und der, der das „Mensch“ zu verhören hatte, trommelte mit dicken Tintenfingern auf dem Pulte herum. Er wackelte mißtrauisch mit dem kahlen Schädel.

Aus aller Augen leuchtete eine Befriedigung, wie nach einem guten Frühstück, man konnte sie noch schmatzen hören. Wirklich ein angenehmer und interessanter Dienst . . . die Weiber . . . und meine zu Hause . . . Hä hä . . . so dachten sie.

Sie aber fühlte: Hunde.

Dann wurde sie entlassen. Kein Wort des Bedauerns, kein Wort der Entschuldigung.

Schweinehunde!

Einer rief leise nach: „Na, dann das nächste Mal.“ Ihre Fressen zogen sich zu einem Grinsen, einige scharrten mit den Füßen, einer schneuzte sich, einer seufzte aus Gewohnheit tief auf, ein Geräusch von Schreibutensilien — dann schleppte sich der Dienst bis zum nächsten Fall weiter.

Nun saß sie fast immer zu Haus und weinte. Manchmal las sie zwischendurch auch Bücher aus Budapest mit Abbildungen, die frühere Verehrer zurückgelassen hatten.

Es war, als ob sie stumpf geworden wäre, oft fühlte sie in sich ein Tier, das vor Wut und Schmerzen heulte. Und immer sah sie ein Kind vor sich, das jämmerlich schrie und zur Mutter wollte.

Ihre Seele verwirrte sich, und ihr Gefühl wurde täglich enger.

Ich muß das Leben bespeien und alles vernichten — — fühlte sie.

Es war widerlich zu sehen, wie ihre Mutter, die ein altes Unrecht glaubte, wett machen zu müssen, um sie herumschwänzelte und Zukunftspläne schmiedete. Es war widerlich anzusehen.

Man sollte sie vor den Bauch treten — — das Aas — — dachte sie.

„Du wirst schon deiner alten Mutter noch Glück bringen,“ tröstete die, „ich habe noch nichts gehabt in meinem Leben, du bist noch jung und die Männer — sei schlau —“

Ja, du Aas — treten —

Und eines Tages kam ein Mann — Fabrikbesitzer oder so was —, der sie von früher her flüchtig kannte und auf der Straße jetzt gesehen hatte, und machte ohne alle Umschweife ein Gebot. 300 Mark monatlich und für später eine größere Summe.

Die Mutter tänzelte und setzte Kaffee an, sonstige Hausfreunde wünschten Glück.

Sie aber mühte sich verzweifelt um einen Gedanken, der allen Dreck wegwischen könnte, aber sie fand ihn nicht und ging fort, ohne mit dem Mann zu sprechen. Dem Kerl wurde bedeutet, er solle noch warten und nächstens wiederkommen. Er ging, seelenvoll, mit schmerzlichem Augenaufschlage grüßte er die Bekannten, die er traf, und wartete. Er hatte es sich eigentlich anders gedacht.

Den gleichen Nachmittag kam noch ein anderer Mann, an den man geschrieben hatte. Er stellte Künstlertruppen zusammen und reiste. Nach der Türkei und Rußland, durch Österreich und Italien. Auch er machte ein Angebot: Freie Wohnung, freies Essen, freie Kleidung, freier Unterricht in Gesang und Tanz. Als sie zurückkam, traf sie ihn noch an. Er war entzückt und wollte nochmal seine Frau mitbringen.

„Damit Sie sehen, daß es bei mir anständig zugeht,“ meinte er.

Sie fühlte nichts mehr, alles war in ihr welk und abgestorben. Um ihre Mundwinkel lag dämonische Grausamkeit.

Sie nahm sich von ihrer Mutter die goldene Uhr, die nach allerdings zweifelhaften Angaben ein Erbstück war, und verkaufte sie einem Trödler. Noch denselben Abend reiste sie in die nächste Hauptstadt. Sie fühlte: Nur fort. Allein sein. Weit fort von diesen Leuten.

Als ihr Zug in der Morgendämmerung in die Halle einlief, empfand sie ein so unendliches Siegesgefühl, einen Rausch wiedergewonnener Freiheit, der sie beglückte. Langsam ging sie nach dem Innern der Stadt zu, um den heraufkommenden Morgen zu erwarten. Sie wollte vorläufig bei irgendeiner entfernteren Bekannten ihrer Mutter wohnen.

Bitteres Weh drängte sich auf: Arbeiten und gut werden — dann kam es ihr aber wieder sehr lächerlich vor, und sie lachte.

Ihr Weg führte an den Markthallen vorbei. Robuste Gesellen luden das Fleisch auf. Wildes Stimmengewirr.

Die Schritte wurden zögernd, zitternd wollte sie vorbeischleichen. Die niedrigen und blutrünstigen Begierden dieser Leute hatten sie indessen schon gewittert.

Sie fing an zu laufen. Rohe Worte prasselten hinter ihr drein. Einer lief nach, erhaschte den flatternden Rock und wischte sich seine blutigen Hände drin ab. Knochenstücke flogen der Fliehenden an den Kopf.

Tolles Johlen toste hinter ihr drein, bis es langsam im Lärm der ein- und ausfahrenden Wagen unterging.

Blutbefleckt, mit Straßenkot bespritzt, schleppte sie sich auf eine Promenadenbank und brach zusammen.

Eine mitleidige Frau brachte sie in ihr Haus und ließ sich erzählen.

Drei Tage und drei Nächte saß sie in einem dunklen, kahlen Zimmer, das sie für wenige Pfennige gemietet hatte. Dann schrieb sie nach Haus und bat um Reisegeld.

An einem Sonnabend kam sie zurück, mit toten, kalten Blicken, voll Ekel und Verachtung.

„Man muß das Leben und alles vernichten —“ und ihr Kindliches stieß sie von sich — „mit Füßen treten muß man —“

Sonntag wurde sie engagiert, und den nächsten Tag reiste sie mit der Truppe ab.

IV.

Sie war freudig bei der Arbeit, es war wie eine heilige Sache für sie. Ihr Tanz atmete die scheue Zurückhaltung, die Greise zu Phantasten macht. In vielen Städten und viele Wochen lang tanzte sie so. Die Verehrung, mit der man sie umgab, glitt an ihr vorüber und rührte sie nicht. Sie hatte ihren Haß und nährte ihn, aber sie wurde zusehends schwächer. Sie wurde müde in ihrem Ekel und sehnte sich. Nach dem Fernen und Weichen, dem Streicheln und Einschläfern, dem Katzenhaften und Kindlichen. Die Erinnerung wachte auf und brachte auch wieder die Eitelkeit mit. Abends saß sie inmitten ihrer Gesellschaft, unberührt von den Gesprächen rings um sie herum, und sehnte sich so.

Es war dies die Zeit, wo sie fast täglich an ihre Mutter schrieb. Ein neues Aufatmen schien gekommen.

Und einer war, der zu ihr sprach mit leiser Stimme, von Dämmerung und verträumtem Zittern, von asketischem Insichhineinversenken und ewiger Einsamkeit.

Er beweinte im voraus, daß er sie nie besitzen würde. Sie lächelte oder war auch plötzlich bitterernst, und streichelte seine Hand, abwesend, wie eine unbeteiligte Fremde. Dann pflegte er mit hohler, vibrierender Stimme Verse zu zitieren, manchmal auch eigene, und er bevorzugte den Refrain:

Daß ich noch einmal würde lieben,
Ich hätt’ es nimmermehr gedacht!

Es war ein Schauspieleleve, der schon eine Anzahl bürgerliche Berufe hinter sich hatte. Aber es kam so genau nicht darauf an, denn er lebte bei den Eltern.

Einmal kam sie nach einer heißen Nacht zu ihm und gab ihm leicht blinzelnd die Hand. Es war wieder Bewegung in ihr. Sie schmiegte sich an ihn und lauerte.

Da sagte er: „Sprich nicht so laut. Meine Mutter ist krank, zwei Zimmer weiter — — —“ und wies mit der Hand.

„Du — — —“ sie knackte mit den Fingern, es klang gurgelnd, drohend, ein Befehl, dann aber in eisiger Ironie: „komm mit.“

Er nahm ein Bild vom Schreibtisch und schenkte es ihr. Mit resignierter Miene überreichte er die Widmung: Daß ich noch einmal u. s. w.

Dann ging er mit ihr durch die Straßen. Sie waren still und bedrückt. Plötzlich lachte sie auf, gröhlte und summte vor sich hin. Einen Gassenhauer mit höchst eindeutigem Text. Er war starr, wie aus dem Gleis geschleudert, grinste indigniert und benahm sich auch sonst seltsam, wie es ein Mann tut, den die Verlegenheit überrascht. Was ist das nur, so wunderte er sich, aber er schwieg, und sie wurde auch wieder still. An ihrer Wohnung verabschiedete sie ihn, und er versuchte seinem Mienenspiel, das noch immer eine gewisse Bestürzung zeigte, einen hündischen, treu besorgten Zug mit beizumischen.

Wenige Stunden später polterte es an ihrer Tür.

Er war betrunken und bat um Einlaß. Die Haare waren zerzaust, die Kravatte verschoben. Mit funkelnden Augen stand er da, bald flüsterte er Kosenamen, dann wieder besann er sich und stammelte von einer dringenden Angelegenheit oder seufzte weh und verzichtend, wie von Schmerz zerrissen, dann wieder drückte er an die Klinke, und sein Gesicht wurde weich und zart. Aber die Tür blieb verschlossen. Er schwor sogar, daß er für sie alles aufgeben wolle, aber sie schwieg und rührte sich nicht. Ein neuer Rausch war über sie gekommen, eine dumpfe Macht, die sie verwirrte und gefangen hielt.

Sie schrieb an den Herrn v. B., der sie seit einigen Tagen verfolgte, ein Billet: „Erwarten Sie mich noch heute nach Schluß, und bringen Sie den Pelz mit.“

Herr v. B. sprang von seinem Divan auf. Was ist das? — — Jaso — — der Pelz. Dann betrachtete er im Spiegel wohlgefällig sein hageres Gesicht, den englischen Schnitt. Er lächelte überlegen.

Abends brachte er einen wundervollen echten Pelz, einen entzückenden Pelz. Sie hüllte sich hinein und war wieder Kind. Plauschte und stotterte, die ganze Gesellschaft nahm sie gefangen.

Herr v. B. feierte Triumphe. Seine Freunde — die ganze Stadt — — oh, es war wirklich ein Triumph. Er war fast traurig und gerührt, seine Augen wurden gläsern.

Dann nahm sie ihn mit in ihr Zimmer hinauf. Sie ließ ihn eine Melodie summen und tanzte vor ihm. Sie kuschte sich zu ihm und trieb zu tausend Kapriolen und Späßen. Oder sie fuhr ihm an die Gurgel und streichelte dann sein erschrecktes Gesicht. Oh, es war reizend.

Herr v. B. schwitzte und dachte in süßestem Selbstbewußtsein: Gerade ich — — ja — — höchst seltsam und wunderbar — —

Sie zwickte und puffte ihn und stieß ihn zu Boden. Ein schwerer Rausch hielt sie umfangen.

Er begann, wie aus einer Familientruhe heraus, seine Gefühle auszupacken und sprach von Liebe und Glück und ähnlichem. Eine hüpfende Seligkeit war in ihm. Oh, es war reizend — — — ja gerade ich — — fühlte er nur immer wieder. An alle Bekannten dachte er.

Der Morgen kam grau und abweisend, wie ein Henker.

Da stieß sie ihn mit Fußtritten von sich. Ihr Gesicht war aschgrau und verzerrt, das Haar hing in dürren Strähnen.

Herr v. B. fühlte: Das ist kein Erwachen, ich komme um den Genuß. Er versuchte sie zu beruhigen und sprach schöne Worte.

Sie spie ihn an, eine Flut von Flüchen schwoll ihm entgegen.

Dann schrie sie laut auf und Krämpfe schüttelten ihren Körper.

Das Hotelpersonal lief zusammen, der Direktor kam, Kollegen.

Man wusch sie mit kölnischem Wasser, alle standen ratlos.

Herr v. B. blutete aus vielen Kratzwunden, aber er achtete nicht darauf. Herr v. B. blieb ein Ehrenmann. Er behob das Peinliche der Situation durch eine kurze Erklärung, bat den Direktor zu einer vertraulichen Aussprache auf den Korridor und stellte seine Dienste nach jeder Richtung hin zur Verfügung. Seine Hand zitterte, als er vor einem Spiegel die Blutrinnsel aus dem Gesicht entfernte. Er hatte einen greisenhaften Zug bekommen, er kam sich selbst wie ein zerhackter Häher vor. Es fehlte nicht viel, und er hätte ein ganz klein wenig gelächelt.

Er schrieb einen Brief: „Teuerste — — wenn Ich Ihnen irgendwie noch behilflich sein könnte — — — —“ aber der erreichte sie nicht mehr.

Ein paar Stunden später hatte sie sich aus dem Koffer des Direktors einiges Reisegeld genommen und war verschwunden.

V.

Es kam alles anders, wie sie gefürchtet hatte. Der Direktor schrieb einen versöhnlichen Brief, sie solle nur ruhig zurückkommen, sie würde es schon noch zu was bringen.

In den Tagen, da sie zu Haus war, frischte sie alte Bekanntschaften wieder auf. Sie erschrak vor ihrer inneren Unruhe und suchte sich zu betäuben. Man muß das Leben vernichten — — — erinnerte sie sich.

Ein Distriktsbeamter aus einer afrikanischen Kolonie bemühte sich um sie und wollte sie mitnehmen. Dies schien ihr der Rausch, den sie suchte. Nur nicht denken — — — — fühlte sie. Ihr Blick bekam etwas lauerndes, haßerfülltes, etwas vom Vampyr. Schwere Tage schlichen dahin, und tolle Nächte verbluteten in rasendem Taumel.

Eines Tages war der Afrikaner verschwunden.

Er traute nicht.

Sie erließ Aufforderungen in die Blätter, sie ließ ihn suchen durch die Polizei und Privatdetektivs. Es half alles nichts, er blieb verschwunden. Niemand kannte seine Adresse, und man hörte nichts mehr von ihm.

Schließlich fuhr sie wieder ihrem Direktor nach und wurde der Stern der Truppe. Ein Schwarm junger Männer war um sie. Blumen und Schmucksachen flogen ihr zu. Sie verschenkte alles wieder. Mit kaltem Lächeln und brennendem Ekel. Zwei Monate lang lebte sie so und immer war der Direktor um sie herum und nannte sie seine Tochter. Er ließ sie nicht aus den Augen und lebte von ihr.

Da erhörte sie einen ihrer hündischen Anbeter, der ihr von Stadt zu Stadt gefolgt war, und verließ die Truppe.

Es war schon ein gereifter Mann, der irgend eine größere kaufmännische Position innehatte und in Petroleum spekulierte.

Sie täuschten sich ein gewisses Frühlingsglück vor und waren oft still und traurig.

Wenn sie Hand in Hand auf den Dünen entlang schritten oder den Rhein hinabfuhren, stiegen Erinnerungen in ihnen auf, und eine opferwillige Liebe ergriff ihn. Er sprach von dem Herbst seiner Liebe und der Hütte, die er errichten wolle, denn er hatte bei seinem gelegentlichen Umgange mit Künstlern sehr wohl auf deren Umgangsformen geachtet. Er traf Anstalten zum Ankauf eines Häuschens, das mitten im Walde gelegen war, und überhäufte sie mit Erbstücken von seiner Mutter und Großmutter.

Sie fühlte von alledem nichts. Sinnlichkeit raste in ihr und rüttelte. Wenn sie sich ihm gab, fühlte er eine bittere Trockenheit aufsteigen und prasselndes Feuer, das sich in den Leib fraß. Er wurde in den Taumel mit hineingerissen. Ein unendliches Mitleid quälte ihn, und in den Nächten der tiefsten Ermattung rang er mit dem Entschluß, alles von sich zu werfen und zu heiraten. Ihr Leben wurde immer trauriger und drückender. Er fürchtete für seine Liebe und bebte vor deren Ende. Er fühlte sich der Situation nicht mehr gewachsen. Die Hilflosigkeit verstärkte indessen noch seine Liebe, und er fand keinen Ausweg mehr.

Sie verlor allmählich ihre Sicherheit. Sie sträubte sich dagegen, als Heilige verehrt zu werden. Ein dämonischer Wille erfüllte sie, ihn darin zu erschüttern. Sie bot sich seinen Freunden an oder inszenierte auf der Straße einen Zank und schlug ihm den Hut vom Kopf. Sie wußte mit seiner Liebe nichts anzufangen und wollte sie nicht, nur Haß und Vernichtung.

Sie nahm Weiber zu sich, er sah nichts. Sie trug sich mit dem Gedanken, ihn zu vergiften, er achtete nicht darauf. Sie zeigte ihre Wirtin wegen Kuppelei an, er lächelte darüber.

Die ganze Stadt war voll von Gerüchten, und man riet ihm, sie aufzugeben. Aber in ihm lebte eine Hoffnung von einer über alles kostbar belohnten Mission, die ihn alles vergessen ließ.

Auch ihn hatte jetzt der Rausch erfaßt.

Eines Tages hielt sie ihm den Revolver unter die Nase.

„Ich bin schwanger!“

Sein Gesicht strahlte reine Freude.

„Ich will kein Kind von dir — — —“ ein Aufschrei in wildem Haß.

Er lächelte und entwand ihr die Waffe.

„Du bist doch mein — —“ und wollte sie umarmen.

„Du langweiliges Spielzeug — — — — sie spie aus — — — — ich hab’ dich satt.“

Die Umrisse im Zimmer begannen sich zu verwischen. Aller Schmerz stieg in ihr auf. „Nichts denken“ — — schrie sie. Sie sah sich in dieser Sekunde und ihr ganzes Leben. Der Rausch zerbarst.

Die Krampfanfälle kamen wieder. Er lag zu ihren Füßen wie ein geprügelter Hund. Er hätte weinen wollen, bitten wie ein Kind, aber er fühlte, er war nicht rein genug. Ein Gefühl der Befriedigung zog ein, er wurde sich der Held eines Romanes und hatte seinem Leben endlich einen Inhalt gegeben.

Er schrieb ihr nach Haus Briefe, die eines gewissen poetischen Schwunges nicht entbehrten. Ich will immer auf dich warten, so schrieb er, die Sonne wird auf- und untergehen und ich werde sie nicht sehen, solange du nicht bei mir bist — — — — und — — — — ich will mit dir hassen lernen. Der Mutter schickte er Geld und schrieb: Pflegen Sie sie mir gut. Wenn alles vorüber ist, will ich hinkommen und mit ihr sprechen. Und dann kam er. Sie sah ihn mit scheuen Augen an und fürchtete sich. Sie dachte: Was will er nur von mir?

Oder sie schleifte ihn abends durch die Tanzsäle und suchte sich zu betäuben. Aber es gelang nicht mehr. Ihr Haß hatte sich entwurzelt, und ihre Seele war ausgebrannt. Sie sprach mit grausamem Lächeln von ihren Erinnerungen oder bot sich ihm an, mechanisch, wie eine Uhr, die täglich aufgezogen werden muß.

Es wurde ihm unheimlich. Der Roman war doch nicht nach seinem Geschmack. Er sprach hin und wieder mit ihrer Mutter, schließlich reiste er ab. Sein Innenleben war ausgelöscht. Ein unbestimmtes, dumpfes Gefühl bedrückte ihn und wollte auch späterhin nicht mehr von ihm weichen, selbst wenn er die größten Geschäfte machte.

VI.

In dieser Zeit war es, daß ein junger Mann zu ihr kam. Bei einem Konzert hatte er sie inmitten einer großen Gesellschaft gesehen und ihren suchenden Blick gefühlt. Er ließ große Inserate in die Tageszeitungen einrücken, worin er um ein Rendezvous bat. Aber sie las ja keine Zeitungen. Zufällig traf er sie nach Wochen wieder und sprach sie an. Schließlich kam er dann jeden Tag zu ihr.

Er war im allgemeinen scheu und zurückhaltend und verlangte nichts. Sie beschäftigte sich nicht allzuviel mit ihm, aber sie empfand, daß von ihm etwas von der Kraft reiner, wahrer Liebe ausging und fühlte eine wonnige Beruhigung. Manchmal sprach er den ganzen Tag kein Wort, er wollte nur um sie sein und träumen — — sagte er.

Es war wirklich eine Beruhigung für sie. Oft seufzte sie in einsamen Nächten: Wer doch gut sein könnte, so gut.

Dieses Wort hatte für sie einen besonderen Klang bekommen.

Es lag soviel Befriedigung und Sehnsucht darin. Es war, als ob sie langsam an seinen Worten gesunden sollte.

Seines Zeichens war er Journalist und beschäftigte sich auch privatim mit schriftstellerischen Arbeiten. Sie arbeiteten zusammen mit zwei Listen. Die eine führte er, auf der die Daten der Geburts- und Todestage aller großen Männer und Frauen verzeichnet waren, während sie die zweite Liste führte, auf der die Zeitungen und Journale angestrichen wurden, die refusiert oder angenommen hatten, mit rotem oder blauem Stift — je nachdem. So wußte sie auch immer, wieviel Geld einkam.

Manchmal las er künstlerische Versuche vor und enthüllte sein Innerstes schonungslos, seine Begierden und Befriedigungen. Und über allem schwebte sie, die Unantastbare, die Königin, die da kommen mußte, und der alles bereitet war.

Sie las viel in den Schriften der neuen Generation, und jede Zeile war ihr ein süßer und billiger Trost.

Aber es wurmte noch etwas in ihr und bäumte sich auf. Ein Bodensatz. Es kamen noch Tage, wo sie ihn floh. Es kamen noch Nächte, da sie durch Tanzsäle raste. Aber die Reste ihrer Kraft schwanden immer wieder, so daß sie bald zu ihm zurückkehrte. Sie fand ihn stets wie ein treues Tier wartend, voll Dankbarkeit.

Er litt, doch es war eine tröstende Gewißheit um ihn.

Auch als sie noch einmal mit einer Lüge zu ihrem Kaufmann reiste. Auf acht Tage. Sie kam wie eine Fremde und dachte auf Schritt und Tritt an ihren armen Jungen. Noch vor der Zeit war sie wieder bei ihm. Sie raffte alle Schönheiten in ihrer Erinnerung zusammen, wie jemand, der vor den Trümmern seines abgebrannten Hauses das letzte sucht, und sie bauten darauf auf. Mit blutendem Herzen tat der andere seine Phantasie hinzu.

Dann aber drückte sie wieder ihre Stille.

Ein neuer Taumel riß sie mit fort.

Sie betrog ihn mit einem Studenten, der ihr über den Weg lief — — — nein, sie betrog ihn nicht, sie sagte es ihm.

Er hetzte hinter ihr her, Tag und Nacht.

Noch einmal war alles Rausch in ihr und Grausamkeit.

Dann aber würgte sie die Scham, etwas Neues, Unbekanntes. Urplötzlich griff sie zu und riß sie zu Boden und schleuderte sie herum und zerrte und zog. Die Scham.

Sie saß an einem Caféhaustisch unter lärmenden Gesellen. Man sprach Persönliches und schien sie vergessen zu haben. Ringsum gleichgültige Menschen, mit dreckigem Lachen und blinzelnden Augen. Und fernes Musikgepolter. Lüge und Einsamkeit.

Da stand sie auf und lief hinaus. Jubelnd lief sie in seine Wohnung, frei und strahlend. Er war nicht da, sie schrieb. Tage vergingen. Endlich lag es vor ihr: Ich habe unter Qualen auf dich gewartet. Du wirst mich finden.

Ihre Stimmung war verflogen. Sie schüttelte den Kopf: Das war es nicht, was sie erwartet hatte. Wochenlang lebten sie nebeneinander her, es keimte Mißtrauen zwischen ihnen.

Ich habe was verpaßt, fühlte er, — — oder der Eigensinn — — — —

Sein Vater war in alles eingeweiht und traf Anstalten für eine dauernde Verbindung. Sie sahen einen heißen Kampf unter sich vor Augen, doch der Sieg schien sicher. Das Wort ‚gut‘ hatte eine zu tiefe Bedeutung für sie gewonnen, und sie baute sich aus dem Gelesenen ein System zusammen, das sie freisprach und befriedigen sollte. Er selbst trug dazu bei und stellte sie in den Mittelpunkt von Komödien und Novelletten, die er an die Zeitschriften verschickte, mit Rückporto versehen.

Ihre Abende vergingen etwa so, daß sie daran dachte, wem sie wohl von ihren früheren Freunden Verlobungsanzeigen schicken solle, während er Verse deklamierte und sich pathetisch mit den fahrenden Sängern des Mittelalters verglich.

Es war eine himmlische Ruhe in ihr. Der Blick begann sich für das Leben zu schärfen. Sie hatte wieder ihren suchenden Blick. Sie begann zu hänseln und zu widersprechen. Zu dem anfangs gutmütigen Spott gesellte sich unmerklich Bosheit und Hohn. Aus dem sichern Gefühl eines wiedererwachten Selbstbewußtseins heraus.

Sie trieb ihn zu Freunden und Gesellschaften. Ihr Blick wurde unstät und flackernd. Da kam sie mit einem seiner Bekannten, dem Werner, zusammen und wurde nachdenklich und unruhig.

Aber es war eine Unruhe, die ihr neu war, und die sie entzückte. Sie zitterte, wenn sie den anderen nach ihm fragte.

Er schien sie nicht zu beachten, denn er war fast immer betrunken. In seinen Bewegungen war wie Entschuldigung, und seine Blicke hatten etwas Hilfloses, Verzichtendes. Das war einer, der haßte und vernichtete. Ein Kind.

Da hielt aber auch der andere seine Zeit für gekommen, und eine geheime Furcht, seine Bemühungen ergebnislos zu sehen, ließ ihn alle Besonnenheit vergessen. Er fühlte, wie sie seinen Händen entglitt. Er zermarterte sich den Kopf; aber er fand keinen Anhaltspunkt mehr.

Es war plump, wie er sein Spiel verloren gab. Er fühlte es selbst, es war plump.

Ganz unvermittelt drängte er in sie, ohne Übergang, ungeschickt, mit verlegenem Lächeln. Er griff zu Reizmitteln und stammelte Andeutungen. Oh, es war sehr plump.

Ein Abgrund tat sich auf.

Sie hatte den Moment seit Wochen gewittert und empfing ihn: „Du — — also auch einer,“ sie lachte verächtlich. „Pfui Teufel!“

Er versteckte sich hinter einem Wortschwall, er empfand eine Lust sich zu erniedrigen und dachte: es ist gewiß meine letzte Niederlage. Wo liegt der Fehler — — — —

„Ja, ja — — so bin ich!“ schrie er.

Es folgte jetzt eine Szene, von der man nicht weiß, ob sie sich wirklich abgespielt hat. Sie zerrten sich, spieen sich an, er riß sie an den Haaren im Zimmer herum, sie riß ihm die Fetzen vom Leibe, er fühlte ihren Mund in Wollust zittern — — — — — — ihren heißen, süßen Mund. Er sah das Zittern, aber er wußte nicht, ob etwas war. Er wurde stumpf und sank ermattet in sich zusammen.

Anderntags schrieb sie:

„Ich danke dir vieles, vielleicht alles, meinen Körper kann ich dir nicht geben. Nie! Mich ekelt. Daß du es weißt . . . . .“

Wieder einen Tag später schrieb sie:

„Schicke mir durch den P. etwas Reisegeld, ich muß nach Haus fahren.“

Ihre Seele war frei, sie fühlte: ein Tempel. Es war ihr, als ob sie etwas unendlich Zartes und Heiliges behütete. Erregt schritt sie im Zimmer auf und ab oder lief weit hinaus vor das Tor der Stadt. Sie fühlte dieses Glücksgefühl dumpf und in süßer Ungewißheit emporwachsen. Und immer wiederholte sie sich: Nur nicht denken.

Die Leute entsetzten sich, als sie durch die Straßen zum Bahnhof ging. Alle hielten sie für betrunken. Sie lehnte sich zum Coupefenster hinaus, und alles war verklärt. Die Leute, die rauchgeschwärzte Halle. Die Trains donnerten in die Halle, Lokomotiven kreischten und pfiffen. Es waren ihr himmlische Fanfaren. Dann setzte sich der Zug in Bewegung.

Jemand rief:

„Also leb wohl und grüß mir . . . . .“

Aber das galt ihr nicht.

VII.

Einige Tage später erhielt sie von Werner ein Schreiben:

Wenn Sie sich vielleicht auch meiner nicht mehr erinnern, so erlaube ich mir doch, Ihnen zu sagen, daß ich die Lösung Ihrer Verbindung für eine sehr glückliche halte. R. ist zu sehr ein Mann mit festen Plänen und Zielen, einer, der weiß, was er will. Es ist gleichgültig, ob er etwas für sich allein tut oder dabei für andere noch mit zu tun meint, es bleibt immer die eine Selbstliebe. Es gibt Männer, die das Weib als Spiegel ihrer selbst, als Bank zum Ausruhen, als Kissen in der Dämmerstunde benutzen.

Sie brauchen ja selbst einen, an dem sie sich ausruhen wollen. Ich weiß nicht, ob es ein Wurstl oder ein k. k. Staatsrat sein muß, aber das weiß ich, daß es einer sein muß, der Ihnen die Ruhe gibt, indem er Ihre Seele ständig in Atem hält.

Sehen Sie den Mann, den Menschen, den Sie so inbrünstig suchen. Was tut er? Er sieht das Weib und greift danach. Wie ein Knabe, der nach dem Falter hascht. Er greift danach, nach jedem, das ihm in den Weg kommt, und sieht dann ein graues etwas, zerbrochene Flügel, und wischt sich die Hand ab. Das Weib ist der Stieglitz, den man ins Bauer sperrt, das zitternde Körperchen, das alle Sehnsucht löst, und das sich so entzückend sträubt, wenn man ihm Futter geben will. Das ist das Weib, das wir lieben. Und das Weib ist die Pest, die sich ins Blut setzt und alles Leben aufsaugt und verdorren läßt. Das ist das Weib, das wir hassen müssen. Wo sind sie, die Gezeichneten und Auserwählten, die auch dann in himmlischen Wonnen lächeln. Wir zittern manchmal voll Ahnungen und Erkenntnissen, voll Dämmerungen und Schummrigkeiten und hören in der Ferne den Ruf. Aber das Mitleid macht uns dreckig, das verfluchte Mitleid, das uns blind und zu eitlen Trotteln macht.

Viele sitzen und stellen das Weib vor sich hin, wie ein Petschaft und grübeln. Und merken nicht, daß es längst in ihnen ist und fault. Sie sehen nicht, daß das Weib unsere Versöhnung mit Gott ist und unsere Strafe, der lächelnde Tod, der uns einlullt. Aber für Sie ist der Mann Taumel und Straßenkot, Wurstl und Staatsrat — — — — sie las nicht mehr weiter.

Sie dachte, er ist doch ein verrückter Kerl, und fuhr zu ihm.

Sie traf ihn inmitten betrunkener Bürger.

Sie folgte ihm von Schänke zu Schänke, saß die Nächte mit ihm zusammen und wich nicht von seiner Seite. Wenn er stöhnend umsank, war sie glücklich, ihn stützen zu dürfen, oder sie steckte ihm den Finger in den Mund, um ihm beim Speien behülflich zu sein. Voll innerer Seligkeit fühlte sie: Endlich habe ich dich gefunden.

Er dachte: Wie mag es nur sein mit dem Mitleid. Verflucht — — — — daß ich mir auch noch ein Weib aufgeladen.

Er diskutierte mit ihr über die Psyche des Weibes und zergliederte Einzelheiten. Dann sagte er:

„Du solltest dir etwas Geld verdienen.“

Er teilte alles mit ihr, und seine Kasse war knapp.

Sie sah ihn erstaunt an und schwieg.

„Wir werden dann schon sehen, wo wir dich unterbringen.“

Ihr Lächeln wurde höhnisch. Es war die Entscheidung, als sie sagte:

„Ich finde schon immer noch einen. Aber ich glaubte, du wärest mehr —“ Peinvolle Minuten des Schweigens vergingen.

Wann ist man eigentlich verpflichtet, dachte er sich, und im Grunde genommen . . . ich kenne das Leben nicht . . . .

„Sprich nicht so . . . du . . .“ bat er und rang mit seinem Mitleid.

Sie zitterte beglückt unter seinen hilfesuchenden Blicken.

Jetzt kommt meine Feigheit, fühlte er.

Dann nahm er ihre Hand und sah die Tränen aufsteigen.

Dann küßten sie sich.

Ihre Körper blieben kalt, und eine fast unüberwindliche Scham trat zwischen sie. Einmal sagte sie:

„Ich will dich herausreißen aus diesem Leben.“

Er lächelte. Es war eine Willenlosigkeit in ihm, die ihn erschreckte.

„Ja, ich bin ein Verurteilter,“ erwiderte er.

Sie schwieg, aber in ihrem Blick lag soviel Hingebung und kindliche Bitte, daß er weich wurde.

„Du solltest in einem Palaste wohnen, oder nein, in einer Hütte und wissen, daß dir ein Palast gehört.“

Es klang lächerlich, aber er mußte etwas sagen und schwieg jetzt beschämt.

„Ich will doch nur immer um dich sein“ . . . es war fast ein Vorwurf.

Das Leben kam ihr zu Hilfe. Er war arm und schlug sich mühselig durch. Hunger und die Angst vor dem Morgen trieb sie enger zusammen. Sie drängte ihn, eine bescheidene Stellung anzunehmen. Sie selbst traf Anstalten, wieder zu ihrem Direktor zurückzukehren, er sollte mitkommen.

Sein allmähliches Unterliegen genoß er wie eine unaussprechliche Seligkeit. Er fühlte im Innersten eine Fülle aufsteigen, die seine Zweifel nicht mehr zu durchdringen vermochten. Das Äußere wurde leicht und frei, seine Freunde suchte er nicht mehr auf.

In ihre Küsse mischte sich unmerklich Sehnsucht und quälte.

Er erschrak, aber das stündliche Auf und Nieder seiner Stimmungen ließ Überlegungen nicht aufkommen. Sie schrieb ihm:

Wie der Nordwind braust durch der Eichen Zweige und Wipfel, so will ich mich einwühlen in das Geäst deiner Seele und bei dir sein Tag und Nacht. Denn du bist meine Heimat. Oder sie erinnerte sich: Weiß denn die Nachtigall warum sie singt ihr süßes Lied?

Plötzlich war die Sehnsucht Herr über sie geworden. In ihren Küssen stand das Blut gegen sie auf und zwang sie.

Im Taumel vergaßen sie sich und alles, was sie über ihre Liebe geschworen hatten.

Noch einmal wurde er aus dem Rausch zurückgerissen. Er sah eine Vision . . . wie ein Stab zerbrochen wurde . . . . . aber er fühlte: Weiter!

Sie fürchteten sich und zitterten. Er schritt kopfschüttelnd durch die nächtlichen Straßen und dachte: Wer bin ich — — — wie ist alles gekommen . . . gerade ich . . . Er tappte im dunklen. Im Geiste sah er turmhohe Felswände aufstehen, die ihn zu erdrücken drohten, und sah tausend Wege zu sich und neue Möglichkeiten. Aber er rührte nicht daran. Dann setzte er seinen Weg fort und erinnerte sich: „Ja, ich will dich lieben . . . .“

VIII.

Was ist das Leben? — so grübelte er — Dämmerschlaf, Minuten des Erwachens, eine Sekunde der Erkenntnis oder nur der so kurze Rausch des Erkennens? Der Rest ist Verwesung — — Was ist das Leben?

Sie verkauften alles, was sie nicht unbedingt nötig hatten und logierten sich in einem kleinen Ausflugsort unweit der Stadt ein.

Es ging in den Monat März. Draußen wechselten sich Regen und Schneegestöber ab. Der Sturm rüttelte. Manchmal kam ein Sonnenstrahl, daß alles glitzerte. In die graue Ebene leuchtete erstes Grün.

Oft stapften sie Hand in Hand durch das Tal, an einem Flüßchen entlang, dessen Eisdecke rostbraun war, und ihre Füße wurden von dem Boden, der sich in Klumpen daran gehängt hatte, schwer.

Oder sie standen an den Ufern des Weihers und lauschten dem Krachen des Eises, das sich bäumte, oder zeigten sich die erste Lerche, die zum Himmel stieg. Oder sie gingen durch den Wald und folgten trunkenen Blicks den Wolken, die am Horizont dahinschossen.

Und immer war Hoffnung und gedämpfter Jubel um sie.

Sie saßen in der niedrigen, rauchgeschwärzten Wirtsstube und herzten und drückten sich, daß die Brust sich in tiefem Seufzer hob, und die Augen glänzten.

Ein Musiksprechapparat krähte, Tänze und Märsche und auch einen Chorus — (Teure Heimat . . . . .)

Sie sprachen mit der Wirtin, dem Wirt, den Mädchen und dem Haushälter lang und breit. Sie fühlten sich zugehörig.

Dann sprachen sie von ihrem Leben und dem Gewesenen. Sie sahen sich in die Augen und verschwiegen sich nichts. Es lag ein Schleier über dem Durchlebten und jeder fühlte:

„Was tut es. Wenn ich bei dir bin . . .“

Aber eines Tages packte ihn ein Anfall und drohte ihn zu zerbrechen. Ein schleichendes Gift fühlte er in sich und er sah fern seine Mutter. Sie schrie nach ihm und weinte. Ihre Arme reichten bis zu ihm, und ihr Gesicht war gramverzerrt. Die weißen Haare flatterten und wurden Pfeile.

Die andere verstand nichts von seiner Vision, aber sie fürchtete sich, wenn er jetzt im Hause herumschlich, gedrückt, wie von Zentnerlasten. Sie glaubte, sie müsse ihn wiedergewinnen, wurde abweisend und versuchte seine Kälte noch zu übertrumpfen. Er aber dachte: Warum streichelt sie mich nicht — — und rief im Innersten: Hilf mir und sei gut!

Sie verstand ihn nicht und hörte nicht auf sein Flehen.

Sie warf ihm Worte hin, schneidend, brutal, voll Abgründe. Um ihn zu sich zu reizen. Mit der Hoffnung, die Liebe durchbrechen zu lassen. Da ballten sich die Fäuste. Er schlug sie ins Gesicht, daß sie auf die Diele aufplumpste. Mit Füßen trat er sie. „So!“ — — er wischte sich den Schaum vom Mund, „so . . . hier hast du . . .“

Er fühlte alles verloren, empfand einen beißenden Schmerz im Kopf, ein quälendes Würgen, das ihn betäubte.

Dann aber stieg es in ihm auf, hüpfend und prickelnd und wurde stärker, wie Schellengeläute, und tanzte. Eine sieghafte göttliche Heiterkeit kehrte ein. Er sah sich verzerrt, die Fäuste geballt, und lachte, lachte laut auf.

Sie lag noch am Boden, in sich zusammengeduckt, regungslos. Sie sah ihn groß an und wurde ganz verschüchtert.

Dann fühlte sie, wie er sie in seine Arme nahm und sie herzte und küßte.

Sein Lachen war wie süße Musik. Da lächelte sie auch und flüsterte:

„Hab mich doch lieb . . . .“

So ketteten sie sich immer fester.

Manchmal dachte sie: Wo ist meine Kraft hin, und wird’s sich auch lohnen . . . aber sie schmiegte sich schnell an ihn und wies alle Gedanken von sich.

Sie nannte sich Rehchen oder Kätzchen oder Osterhase, so hatte er sie getauft.

Sie hüpfte wie ein Hase im Zimmer herum, wackelte mit den Ohren, kuschte sich, spielte Männchen und kroch zu seinen Füßen und sah zu ihm auf, lange, voller Demut.

Aber es kamen Tage, wo sie an die Zukunft denken mußten, trotzdem sie sich dagegen verschworen hatten, und dann gestanden sie sich, daß sie nur noch drei Tage wohnen bleiben konnten.

Da fühlte jeder: Wir gehören uns nur noch drei Tage und drei Nächte . . . . und dann werden wir weiter sehen, dachten sie. Und jeder machte ein entschlossenes Gesicht.

Sie schlossen sich in ihr Zimmer ein und liebten sich. Immer wieder fielen sie sich um den Hals und liebten sich. Sie aßen und tranken nichts, und wenn eins sich an den Tisch setzte und eine lebte Zeile schreiben wollte, flugs sprang das andere hinzu und küßte und drängte so lange, bis alles im Taumel wieder unterging.

Sie fürchteten sich allein, und jeder floh das Erwachen.

Doch am Mittag des zweiten Tages wachten sie auf, und ihre Blicke trafen sich. Lange maßen sie sich wie zwei Fechter, die gegeneinander schreiten.

Er senkte den Kopf und schien zu allem entschlossen.

Da hängte sie sich an ihn und sprudelte hervor, sie hätte bereits einen Plan, und es würde vorderhand gehen, und zählte alle Einzelheiten auf.

Er hätte aufjauchzen mögen, aber er fühlte: ich muß überlegen sein.

So streichelte er sie und küßte sie auf die Stirn.

Dann sahen sie sich wieder an, und dann tanzten sie und jubelten, und das Glück war losgelöst und frei.

Noch denselben Abend gingen sie nach der Stadt, einen weiten steinigen Weg.

IX.

Harte Arbeit empfing sie. Tagtäglich mühten sie sich, aber es langte nicht. Sie schrieben Adressen, gaben Stunden, spielten des Nachts in Kaschemmen, aber es langte nicht. Er suchte wieder häufiger Bekannte auf und traf auf einen Schauspieler, der sich Sören nannte. Dieser empfahl ihn für einen Posten bei irgendeiner Gesellschaft. Er schleppte ihn in Familien, wo er zu Mittag aß und auch kleine Geldunterstützungen bekam.

Sören machte Geschäfte als Bücherreisender, seine Frau wurde durch einen Freund, mit dem sie ein Verhältnis hatte, zur Hebamme ausgebildet. Er führte sich ein, indem er aus einer Gesellschaft den Verschüchtertsten herausgriff und ihn als den einzigsten Menschen begrüßte. Er vertraute ihm seine geistige Einöde und Verlassenheit an und verkaufte ihm dann seine Lexiken.

Diesem Sören schloß sich Werner an.

In einer Aufwallung mitleidsvollen Verstehens führte er ihn zu ihr, er solle noch einen anderen Menschen kennen lernen.

Sören sah und himmelte. Er murmelte nur wie im Rausch oder rollte mit den Augen. Er führte beide ins Café und unterstützte sie auch sonst.

Er blieb jetzt fast immer um sie.

Werner war stolz und kam sich wie ein König vor, der aus der Fülle seiner Schätze verteilt. Sie bangte und zitterte.

Sören hatte sich bereits fest eingenistet.

Eines Tages sagte er zu Werner:

„Eine wahre Liebe hat Raum für drei. Ich will die Brosamen nehmen, die von eurem Tische fallen.“

„Du lieber Freund . . .“ und er schüttelte ihm die Hand.

Dann küßten sie sich und waren gerührt. Es ist etwas Schönes um die Freundschaft, dachte Werner.

Man muß die Feste im Sturm nehmen, dachte der andere.

Sie saßen die Nächte wieder in den Kneipen und tranken. Jeden Tag kam Sören mit einem neuen Tragödienstoff und schwärmte von Anregungen und Entwürfen.

Einmal, als Werner schon sehr betrunken war, ließ Sören sie holen und bat sie zu kommen.

Sie kam und sah die Blumen auf dem Tisch und die vielen Flaschen und wurde traurig. Da flüsterte ihr Sören ins Ohr:

„Wir wollen in ein Café gehen und ihn hier sitzen lassen.“

Sie sah ihn erschreckt an. Verneinte.

Da bedrängte er sie: Es handelte sich um Werners Interesse. Der würde dann nachkommen, und vieles ähnliche.

So gingen sie heimlich, wie Diebe.

Werner sah alles und trank.

Erst drängte es sich ihm auf: Wie dumm, wenn sie stark bliebe. Ich würde doch nicht glauben . . . Stunden vergingen in qualvoller Dämmerung. Dann aber wieder trieb es ihn, und er suchte sie im Geiste zu umklammern. Die Bilder an den Wänden sprachen zu ihm und die Blumen, die Flaschen, und alle hatten ihre Stimme.

Sie sprach zu Sören: „Wo mag er nur bleiben. Holen Sie ihn her.“

Sie fürchtete sich.

„Sprich nur das eine Wort, und ich gehe sofort zu meiner Frau. Ein Wort. Heute abend ist alles perfekt. Siehst du denn nicht, daß er immer betrunken ist? Meine Frau weiß, daß sie mir nicht gehören kann. Noch heute abend . . .“

„Holen Sie Werner!“ und sie entwand sich ihm. Hoffnungslosigkeit bemächtigte sich ihrer. Werner! Werner! Er konnte ihre Schmerzensschreie nicht hören. Er saß unbeweglich und eisig und trank. Er träumte von weißem Flieder und roten Rosen, die er zu einem Strauß wand, und den er ihr zu Füßen legen müßte. Blitzhell durchzuckten ihn einige Gedanken, aber er kroch immer wieder in sich zusammen. Er dachte schließlich: Wozu etwas abwenden, was ich verursacht. Verurteilt. Dem Henker ausgeliefert.

Da kam Sören und stotterte, er wolle ihn nach Haus begleiten. Er bat und drängte, aber Werner ging nicht. Da ging der andere wieder fort.

Er sprach zu ihr: „Ich habe ihn nach Haus gebracht.“

Sie dankte ihm und sagte: „Wir wollen Freunde bleiben.“

Dann verließ sie ihn. Sie dachte: Vielleicht, wenn es ein anderer wäre . . .

Er raste und tobte.

Es war eine Nacht, in der drei Menschen sich zerfleischten.

Anderentags sandte ihr Werner in aller Frühe weiße Rosen und einen Zettel: Weiß denn die Nachtigall usw.

Er war mit der Hoffnung eingeschlafen: Wenn ich ihm jetzt zuvorkomme . . .

Sie weinte Freudentränen, es war, als ob sie ihn wiedergefunden hätte. Eine Last, die sie bedrückt hatte, wich von ihr. Nun kann ich dir wieder ganz gehören, fühlte sie.

Sie dachte aber auch: Ob er mich wirklich liebt, da er mich so leicht aufgab? . . . Und es blieb eine Mißstimmung in ihr zurück.

Ihr Ärger wuchs von Tag zu Tag, und als ihr Sören schrieb: Ich muß eine Aussprache herbeiführen, antwortete sie: Komm, Werner und ich erwarten dich.

Es geht also doch zum Henker, dachte Werner.

In einem Café trafen sie sich.

Jeder schien entschlossen den Platz zu behaupten. Sie maßen sich mit feindseligen Blicken. Sören fing an:

„Es ist feig von dir, jetzt davon zu laufen.“

Und Werner: „Gemein von dir, meine Freundschaft zu mißbrauchen.“

„Du bist ja noch ein Kind,“ warf der andere verächtlich hin.

Werner schwieg. Sie rührte sich nicht. Du mußt kämpfen, dachte sie, und sah auf Sören.

„Einen Menschen braucht sie. Du, ein heruntergekommener Student, bietest nichts und kannst’s auch nicht.“

„Aber ich werde sie mir noch erringen . .“ Es klang ganz eingeschüchtert.

„Ich dagegen brauche sie für meine Kunst. Zeige, was du leistest, und dann wage es, sie von mir zurückzufordern.“

Werner schwieg. Ja, so wird es wohl sein, fühlte er.

Eine Furcht, die in ihr aufstieg, wich. Es war belustigend.

Ich suche mir doch meine Menschen selbst, dachte sie, aber sie schwieg.

Stockend entrang es sich den Lippen Werners: „Du hattest doch gesagt, du wolltest bei mir bleiben.“

Da lachte sie laut auf, wie ein Peitschenhieb war ihr Lachen.

Aber es wurde gequält und verstummte und Mitleid ergriff sie.

Sie fühlte sich selbst getroffen, und dachte, ein zu dummer Kerl . . . Die Unterhaltung wurde erregt. Sören schrie. Die Kellner standen um sie herum. Die Gäste reckten die Hälse. Dann gingen sie. Auf der Straße setzten sie ihre Reden fort.

Werner fühlte einen Zusammenbruch, ein Ende. Bitterkeit stieg in ihm auf. Er riß sich los.

„Siehst du, da geht er hin,“ sagte Sören und triumphierte.

Sie antwortete ihm nicht. Wenn er wirklich ginge, dachte sie, und voll bitterer Reue lief sie ihm nach.

„Ich erwarte dich in . . .“ hörte sie noch hinter sich herrufen.

Wenn er wirklich ginge . . .

Qualvolle Angst jagte sie durch die Straßen, durch die Schänken.

Sie fand ihn nicht. Stundenlang hockte sie vor seiner Tür.

Da kam er, schleppend, voll dumpfer Gefühle eines neuen Anfangs. Er ging kopfschüttelnd an ihr vorbei. Sie zwängte sich ins Zimmer. Sie flehte und beschwor ihn. Sie fiel vor ihm nieder, heulte auf.

Er ging im Zimmer schweigend auf und ab. Sie fühlte: der andere . . . Sie hing sich an ihn. Er stieß sie zurück.

Da warf sie mit einem Fluch die Tür hinter sich zu. Sekundenlang stand sie draußen wie gebannt. Dann jagte sie die Treppe hinunter. Er nach und holte sie unten ein.

Lange sahen sie sich an und fanden sich nicht. Und immer wieder trafen sich ihre Blicke, und jeder fing den brodelnden Zorn in geballten Fäusten ein. Da lächelte er, und sie schmiegte sich an ihn.

„Du . . . glaub mir doch . . .“

Und später flüsterte sie:

„Weißt du denn nicht, daß ich immer bei dir bin . . .“

X.

Es ging mehr und mehr bergab. Die paar Pfennige, die er verdiente, reichten zu ihrem Unterhalte nicht aus. Sie bewohnten ein kleines möbliertes Zimmer, mitten im Lärm der Stadt.

Eines Tages sagte sie zu ihm: „Man sollte wieder als Modell gehen.“

Er wehrte ab. Sie erwiderte höhnisch: „Oder vielleicht zum Theater? Aber ich muß erst Garderobe — — — machen.“

Sie verschaffte sich Empfehlungen und ging zu Leuten, die er kannte.

Er redete sich ein, es wäre von diesen aus Gefälligkeit, und das beruhigte ihn.

Als er sie das erstemal hinbrachte, hielt er sie an der Haustür zurück und sah sie lange an. Dann war sie ohne ein Wort im Hausflur verschwunden. Er hätte das Haus aus seinen Fugen reißen mögen. Sie arbeitete drei Stunden vormittags und drei Stunden nachmittags. Er brachte sie hin und holte sie ab. Schließlich wurde ihr Kommen immer unregelmäßiger, und er stellte seine Gänge ein. Ab und zu ging er mit hinauf und trank den Tee, den sie übriggelassen hatten.

Er sah immer eine Fliege, die sich auf ihren Körper setzte, und immer den Mann, der sie mit einem Wedel verscheuchte.

Einmal sah er, wie das dreijährige Töchterchen des Malers zu ihren Füßen spielte und dann mit den belillten Händen den Körper betatschte.

Die „gnädige Frau“ rief aus einer Türspalte im Hintergrunde mit flötender Stimme das „ungezogene Kindchen“ zurück.

Da ging er nicht mehr mit zu den Malern.

Er dachte manchmal: Was nun? — — was hab’ ich überhaupt mit dem Weib zu schaffen . .

Sein Verdienst hörte fast ganz auf. Er trieb sich wieder in Kaschemmen herum und brandschatzte alte Bekannte.

Wenn er spät nachts ins Zimmer kam, von Zweifeln müde und betrunken, tastete er mit zitternden Händen, ob ihr Körper schweißig ist . . . .

Sie sprachen wenig zusammen. Manchmal erzählte sie ihm Atelierwitze oder weinte: „Tu ich denn nicht alles nur für dich?“

Er hatte sich daran gewöhnt, gleichgültige Worte vor sich hinzumurmeln.

„Was hast du denn? — Ich bin dir wohl zu dreckig geworden.“

Haß keimte in ihren Worten.

Einer von seinen Leuten sprach von ihm: „Schade. Er ist an dem Weibe hörig geworden.“ Und einer seiner Freunde sagte: „Wenn ich wollte, hätte ich sie nehmen können. Man könnte ihm vielleicht einen Dienst erweisen . .“

Aber es waren eben keine Freunde.

Er selbst fühlte: Wie feig, daß ich sie damals nicht gehen ließ. Ich hätte aushalten sollen. Acht Tage vielleicht.

An einem leuchtenden Herbsttage raffte er sich auf. Blitzhelle Gedanken hatten ihn durchzuckt. Er schrieb an Verwandte und Studienfreunde, Briefe um Protektion, Bettelbriefe. Es gelang ihm auch wirklich, eine Position irgendwo zu bekommen. Es ging wieder vorwärts.

Ihr Leben änderte sich. Sie saß jetzt wieder zu Haus und wartete auf ihn. Sie gingen dann noch ein Stück in die hereinbrechende Nacht und weideten sich daran, tausend Kleinigkeiten durchzusprechen. Oder sie holte ihn ab, und sie fuhren weit hinaus vor die Stadt und schmiedeten Zukunftspläne. Man muß sich zwingen, dachte er.

Aber eine zuckende, flackernde Unruhe wich nicht mehr von ihm.

Sein Mißtrauen quälte sie, und sie wurde scheu.

Einmal kam ein Paket an sie. Ein Kostüm, ohne Brief, ohne Karte.

Sie war erstaunt und verlegen. Ein älterer Herr hätte sie angesprochen und bis ins Haus verfolgt.

Er rang mit sich und schwieg. Sie beschwor ihn und weinte.

Schließlich dachte er auch: Ihre Kleider sind heruntergerissen, es wird ganz praktisch sein.

In der Nacht umkrallte er plötzlich die Gurgel.

„Du — — — ich werde dich erwürgen! Was ist’s mit dem Kostüm?“

Es wurde ein Skandal. Sie schlugen sich. Worte fielen, von der Straße aufgelesen, und ihre Erinnerung bespieen sie.

Die Hausbewohner liefen zusammen. Den nächsten Tag warf sie der Wirt raus. Aber es war, als ob ein Gewitter die Luft gereinigt hätte.

Eines Tages schmiegte sie sich an ihn:

„Gib mir ein Kind . . . ich will ein Kind von dir . . . .“

Sie kaufte sich eine Puppe und einen kleinen Bären und trug sie im Zimmer herum. Gib mir ein Kind . . . . so waren ihre Träume.

Sie wanderten Hand in Hand durch die Straßen der Stadt und sahen die Leute nicht. Die Gedanken waren frei und leicht, ein sieghaftes Lächeln schwebte über ihnen. Es war wie das Glück. Mit seiner Stellung kamen auch wieder Freunde und Bekannte in sein Haus, und sie blieben sich gute Kameraden.

Oft dachte er über seine Liebe nach.

Was ist überhaupt die Liebe? Vielleicht eine Ordnung, ein Geschäft oder ein Fehltritt, sicher eine Seligkeit ohne Glück.

Oft sagte er, wenn sie schmeichelte: „Ich liebe dich, aber laß mich allein.“ (Wenn sie die Haare sich waschen wollte!)

Manchmal dachte er: Nein, ich liebe sie nicht, aber ich kann sie nicht missen. Manchmal wiederum kam ihm der Ekel, wenn er sie essen sah, so wie sich das Kind vor den Eltern graut . . .

„Was ist überhaupt die Liebe?“

Dann streichelte er ihre Wangen, und sie bedeckte seine Hände mit heißen Küssen.

Oft saß er in der dunkelsten Ecke einer Weinstube und grübelte. Da sah er die Maler, den Athleten, den Kapellmeister, den Kaufmann, den Studenten, den Schauspieler, den Herrn v. B., ein langer Zug, an sich vorbeiziehn. Oh, wer so glücklich ist, dabei zu sein, dachte er.

Er kroch förmlich in sich zusammen und wurde alt.

Es bleibt etwas für mich zu tun, fühlte er, aber ich weiß nichts Näheres, vielleicht eine Mission . . . .

Im Grunde genommen wurde ihm das gleichgültig. Er träumte:

Sie ist müde in der Erfüllung und ruhig. Wie aber die, die in der Sehnsucht altern? Er ging wieder unter die Bürger und trank.

Einmal hielt er in der Trunkenheit den johlenden Bürgern folgende Rede: Man muß einen Aufruf erlassen. Zur Befreiung eurer Töchter. Gegen die Ladenschwengel und Referendare. Gegen Einjährige und sonstiges Gesindel . . . .

Da war ihm eine Vision. Er sah den Studenten als Amtsrichter, dickbäuchig, beim Frühschoppen. Man witzelt über Weiber. Der Dickbauch lächelt in sein Glas. Voll leiser Erinnerung. Überlegen. Interessant. Dann nimmt er einen Schluck, sieht sich verstohlen im Kreise um und seufzt erleichtert auf. Im Hafen . . . . der Hund!

Werner starrt in den Qualm, stürzt hinaus. Der Lärm tost hinter ihm drein. Von qualvoller Angst gehetzt, jagt er durch die Straßen.

„Uh jeh! Wenn jetzt der D., der Kujon, bei meiner Frau liegt,“ denkt er und jagt weiter. Nach Haus.

Sie sieht ihn vorwurfsvoll an: „Ich sage dir’s schon, wenn ich gehe.“

Er fühlt: Um Gotteswillen, vielleicht schon Ruine . . .

Der tolle Nikolaus

I.

In den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts wurde Herzog Nikolaus von Oppeln zu einem Bankett des schlesischen Adels nach Breslau geladen.

Der Küfer im Schlosse zu Oppeln rollte die Fässer aus dem Keller. Nikolaus nahm mit seinen Kumpanen den Abschiedstrunk.

Frau Bertha saß am Erkerfenster und weinte.

Gewiß, Nikolaus war wieder in Gnaden aufgenommen, nachdem man ihn jahrelang bei diesem Bankett übergangen hatte. Allerdings war erst vor Wochen der Sohn und Stammhalter ertrunken.

Auf Frau Berthas Geheiß hatte der Vogt die Bauern prügeln lassen. Nikolaus liebte das nicht. Man wußte eigentlich nicht, warum und sprach dies und jenes. Diesmal kam er zu spät, um es noch zu verhindern. Er hatte getobt und die Fäuste gegen Frau Bertha geballt und nachher noch manches in sich hinein gebrummt, daß sie im Innersten erschrak. Dann hatte er die heulenden Bauern mit in den Keller genommen und ein tolles Gelage begonnen. Der Kleine spielte gerade am Weiher, als am nächsten Morgen die Bauern nach Hause schwankten. Man hat niemals erfahren, ob sie nur täppische Reverenzen gemacht und mit ihm Späße getrieben, daß er erschrecken mußte und verängstigt wurde und in den Weiher fiel, oder vielleicht einer aus Übermut Hand an ihn legte und dann vergaß, oder gar eine Verschwörung bestand, das alles hat man nicht erfahren.

Nikolaus wurde zu Frau Bertha hart wie Stein.

Der kleine Nikolaus wurde nachts verscharrt, während die Fürstlichkeiten und Bischöfe, die auf die Kunde von dem Unglücksfall herbeigeeilt waren, den Rausch, der ihnen beim Empfang verabreicht wurde, ausschliefen.

Man fand es zwar absonderlich, aber es wunderte nicht weiter, denn man dachte und mutmaßte so und so.

Jedenfalls wurde er wieder eingeladen. Was tat’s, daß er mit den Bauern zusammensteckte und soff. Es standen ernste Zeiten bevor, und auch Frau Bertha hatte heimlich manches Brieflein ausgesandt und teilnehmende Vettern geworben.

Aber ihre Güter blieben unbestellt. Die Pächter warfen die Boten, die den Zins fordern sollten, vor die Tür. Die Prügelmaschine verstaubte. Nikolaus wollte seine Bauern frei. Grund genug, daß Frau Bertha weinte.

Am dritten Tage ritt Nikolaus mit seinen Kumpanen nach Breslau. Als die Schloßbrücke hinter ihm aufgezogen wurde, war es ihm, als sollte er sich umwenden und sprechen oder hinaufwinken oder noch schnell einen Vertrauten gewinnen oder ein ganz klein wenig Anordnungen treffen, aber das Etwas, das aufblitzte und anschwoll und ihn zu zerreißen drohte, zerbarst in dem Rattern und Knirschen der Zugketten.

Es stak im Innersten, was er vor sich hermurmelte.

Es war ein tierischer Laut und wie ein Fluch, so daß auch die anderen begeistert fluchten und lachten.

II.

Die Keller und Schenken in Breslau wurden zu klein. Die Bürger stritten sich mit den Pfaffen, und die Pfaffen mit den Felljuden, die gerade Markttag hatten.

Unter all diesem Volk saßen Nikolaus und seine Gesellen und soffen.

Manch fürstlicher Vetter ritt über den Markt und stieg am Stadthaus ab. Schuster und Schneider liefen zum Empfang geschäftig in Ratsfräcken hin und her.

Nikolaus sparte nicht mit Witz und Schimpf. Das Gejohle seiner Gesellen schwoll gegen die Maskerade, daß die Bürger still wurden. Als der Abend hereinbrach, lagen die Meisterlein unter dem Tisch. Die Weiber keiften.

Dann läuteten alle Glocken, und Fanfaren ertönten.

Nikolaus erhob sich und seufzte schwer.

Die Fanfaren schrieen ihn an und rüttelten.

Aus dem Rülpsen seiner Gesellen sprach jetzt eine leise milde Stimme zu ihm. Er krampfte die Faust zusammen, Sturm war in ihm. Er wollte schreien, brüllen und sah irr um sich. Es schrie jemand in ihm — wie ein Fährmann, dann klang es wie geborstenes Metall.

Nikolaus schritt langsam über den Markt und die Treppe zum Bankettsaal hinauf. Den Kopf hielt er gesenkt. Wie zum Stoß. Die breiten Schultern zitterten.

Man beachtete ihn drinnen nicht sonderlich.

Er fühlte sich bedrückt, gefesselt und tat mit in feinen Manieren. Stunden verflossen. Der Wein und die mancherlei Reden taten das ihrige.

Nikolaus blieb schweigsam. Kaum daß überhaupt jemand ihm Anrede gab.

Es wurde wie bei jedem Bankett. Welche fingen mit rauhen Späßen an, wieder welche sprachen von Weibern. Es gab wohl auch Püffe und Maulschellen, und man vertrug sich dann wieder.

Nikolaus blieb schweigsam. Man hatte ihn zwar geladen, aber man beachtete ihn nicht.

Er hätte wohl gern mitreden mögen, und er wunderte sich, daß sie dasselbe taten, was sie bei ihm so verachteten. Er hatte auch jene Weiber besessen, die sie lästerten, die heiligen und die Weiber der Bürgermeister und Schöffen. Er liebte sie noch alle und bewahrte es wie etwas Kostbares, so daß er nie davon sprach.

Er sehnte sich fort. Er dachte, wie er sich doch besser von mancherlei trennen sollte, er dachte an sein Haus, still liegen und in die Sonne schauen. Seine Gedanken verwirrten sich. Er fühlte, daß er die Heilkraft der Ruhe nicht finden würde. Der Ruf von Haus war so trübe und vergiftet und viel zu schwach.

Sie wurden lärmender.

Es war ihm, als ob sie alle von ihm sprachen. Als ob sie ihn um seine Streiche beneideten.

Der Fürstbischof meckerte etwas und alle lachten.

Nikolaus schien es, als starrten sie ihn an, daß jeder etwas Besonderes von ihm wüßte und er jedem mit dem Becher Bescheid trinken müßte.

Er sah sich wie an den Schandpfahl geschlossen.

Plötzlich sprang er auf, daß seine Tischnachbarn vom Sessel fielen.

Er bahnte sich unter dem Gelächter der übrigen zu dem Fürstbischof einen Weg und schlug ihm in das vor Lachen verkrampfte Gesicht.

Es wurde ganz still im Saal.

Nikolaus duckte sich, als ob er unter einer Last zusammenbrechen müßte.

Er faßte blitzschnell die Eminenz und schritt durch den Saal zur Tür.

Und er warf den zitternden Pfaffen die Treppe hinunter, daß das Volk unten aufschrie.

Dann stieg er langsam die Stufen hinab, schritt durch die Volksmenge und hinüber in seine Herberge.

Seine Stimme bebte, als er seine Leute zu sich rief.

Die Humpen wurden wieder gefüllt. Man hörte aus dem Geschrei der draußen stehenden Menge, wie die Stadtwache aufzog.

Nikolaus saß schweigend und trank.

So will ich mich selbst vertrinken, dachte er und fühlte dumpf, wie eine Woge seine Erinnerungen und Träume hinwegspülte.

Später kamen Frau Berthas Brüder.

„Wir wollen dich vor der Wut des Pfaffengesindels schützen,“ sagten sie. „Füge dich in unsere Anordnungen.“

Dann legten sie ihn in Fesseln.

III.

Viele Boten kamen ins Oppelner Schloß. Schließlich ritten auch Frau Berthas Vettern über die Brücke.

Im Schloßhof saßen die Bauern und soffen.

Es gab ein großes Gelächter, als die Kunde von Breslau offenbar wurde. Frau Bertha sparte nicht.

Manchmal dachte sie: Vielleicht haben sie einen bestimmten Plan, sie hassen ihn alle.

Dann aber wieder: Aber es wird ihm eine gute Lehre sein. Dieser Saufbold! Kein Bauer will arbeiten.

Und auch: Was mag geschehen? Schließlich ein freier Herzog und Späße . . . Aber dann lachte sie wieder laut auf. Wie er nur aussehen mag. Der Bär. In Ketten. Vielleicht ganz hilflos. Mit suchenden Blicken. Hin und ihm helfen. Das Tor öffnen und knurren: Na komm, diesmal noch . . . und sie sah lange dann starr vor sich hin.

Frau Bertha empfing die Gäste mit Hohn im Blick.

Gestern hätte man ihn nach Neiße geschafft. Vielleicht werde dort ein Gericht sein.

Sie hatten würdevolle Mienen.

Dann wieder schüttelten sie sich vor Lachen.

Die Frau sagte spitz: „Ihr werdet den Spaß zu bezahlen haben, wie ich ihn kenne.“

Sie beeilten sich mit Gegenreden. Es läge doch anders und nur ihrem Einfluß sei es zu danken und vor Jahren hätten sie schon gewarnt. Die Verdächtigungen als Lutherischer, ernste Verwicklungen, die Bauern, die Steuern . . . Überhaupt der Adel sei gegen ihn, und wenn schließlich nicht die Frau wäre und die Familie . . .

Sie liefen wie aufgescheuchte Vögel hin und her, traten von einem Bein aufs andere und verbeugten sich.

Frau Bertha ließ Wein auffahren.

„Soll man nun eingreifen oder dem Scherz seinen Lauf lassen?“

Da lachten sie wieder und tranken sich bedeutsam Bescheid.

Aber Frau Bertha ließ nicht locker.

Es schade dem Ansehen und auch nur eine Sekunde Ernüchterung wäre der Tod.

Gewiß, und es sei für alles gesorgt.

Dann redete der eine bedächtig von Gerüchten, die ihm zu Ohren gekommen wären, ehelichen Zwisten und Frau Berthas traurigem Los und dem abnehmenden Wohlstand. Seine Stimme wurde butterweich. Der andere half mit in Klagetönen. Es waren zwei Stimmen, die sich gegenseitig immer wieder wie Wettläufer überholten und sich scheu nacheinander umblickten.

Frau Bertha sah durch ihre Reden hindurch und hörte sich sprechen: Was wollt ihr von mir, warum quält ihr mich.

Und sie antworten: Laß ab von ihm. Acht Jahre sind es her, daß wir ebenso sprachen. Der oder Jener. Willst du uns wieder ziehen lassen?

Es war, als ob sie schreien müßte: „Hinaus — — oh ihr — — — — Er und du oder du — — — — haha.“

Heben sie nicht die Finger und grinsen?

Frau Bertha fuhr sich über die Stirn und schwieg.

Sie fühlte dumpf, wie etwas Geheimnisvolles, Schleichendes sie einspann. Sie werden Geld verlangen, vielleicht alles Land. Soll ich ihn aufgeben? Sie erschauerte.

Der Liegnitzer sprach von ihrer Kindheit. Sie hatte ihm ein ganz klein wenig Liebe gegeben, damals. Sie war allein, und er war stattlich, voller Pläne. Es sah alles damals so viel und groß aus. Aber jetzt — — — nein. Und war schon Nikolaus für sie verloren, nicht denen da opfern. Nie.

Ihre Miene wurde zornig. Sie sah das Ende ihrer Reden. Sie erkannte geifernde Schwätzer, denen sie selbst nur zu oft Gehör geschenkt hatte. Wie hatte sie dagegen ihn manchmal getroffen und im Innersten erschüttert.

Es zuckte in ihr, krampfte sich, schrie.

Plötzlich fühlte sie, wie sie zum Schlag ausholten, sie sah es näher kommen — — — — nur nicht hören — — — die Bestätigung, die Besiegelung, die Schuld.

Sie sank mit einem Aufschrei zu Boden.

Die Vettern sahen sich betroffen an.

Gurgelndes Stöhnen, leidenschaftliche Anklagen fielen auf sie ein. Hilferufe.

Einige alte Weiber liefen zitternd herbei. Sie hielten sich scheu in einer Ecke des Zimmers und glotzten die beiden an. Die Vettern lächelten gequält.

Der eine dachte: die ist hart wie Stein, und schaute den anderen sonderbar von der Seite an.

Der Liegnitzer recke sich und fühlte: Also dann das nächste Mal. Vielleicht ein Brieflein?

Sie gingen auf den Zehenspitzen hinaus.

Als sie wieder über die Brücke ritten, dachte der eine, ob ich ihr doch noch einen Boten sende, entweder — oder. Der andere aber besah sich alles Land und sprach bei sich: Man sollte den Herzog retten, und er machte sich eine Rechnung.

Frau Bertha stand im Schloßhof und lachte seit langer Zeit wieder aus tiefstem Herzen.

Ich werde offen mit ihm reden, dachte sie, ein neues Leben wird beginnen. Nicht mehr er, wir. Gegen die anderen.

Tanz und Spiel gingen bis zum Morgen.

Um den Weiher stellten sich die besoffenen Bauern und schwuren, nach Breslau zu ziehen und ihren Herzog zu befreien.

Ihr wieherndes Gelächter ließ ab und zu Frau Bertha erschreckt im Schlafe auffahren.

IV.

Zwischen Obst- und Gemüsegärten liegt die bischöfliche Residenz Neiße.

Um viele runde und eckige Kirchtürme lebt ein Volk von Krämern.

Dorthin wurde Nikolaus gebracht.

Man hatte sich eigentlich nicht mehr sonderlich um ihn gekümmert. Der Adel wollte nicht mithineingezogen werden, der Fürstbischof fürchtete ein zu großes Aufsehen, vielleicht auch eine Einmischung fremder Fürsten, es wäre ihm sogar lieb gewesen, man hätte den Herzog überhaupt nicht festgehalten. Er wußte, daß jetzt etwas getan werden müsse. Die Scherereien würden kein Ende nehmen. Schließlich stand auch sein Ansehen auf dem Spiel. Das Volk wollte sich in Forderungen und Rachegelüsten nicht genugtun.

Er übergab seinem Kabinett die Angelegenheit zu weiterer Verfolgung und reiste irgendwohin.

Den Kämmerern war die Sache sehr unbequem. Sie schoben den Herzog nach Neiße ab. Die hätten den Vorfall dort ordnungsmäßig zu regeln.

Der Rat der Stadt war in arger Bedrängnis. Der Bürgermeister las das Schreiben, das die Ankunft des Gefangenen ankündigte und schüttelte den Kopf. Es kam ihm dunkel zu Bewußtsein, daß man etwas Besonderes von ihm verlange.

Bald war es den Schustern und Schneidern und sonstigen Leuten bekannt. Eine furchtbare Aufregung kam in die Stadt. Alles lief hin und her. Die Fleischer schlugen Wurstbuden auf, die Bäcker boten frische Semmeln und Brezeln aus, die Komödianten bauten die bereits abgerissenen Zelte wieder auf. Ratsherren liefen mit hochroten Köpfen umher und erzählten einander im Flüstertone, daß etwas ganz Außerordentliches bevorstehe. Der Bürgermeister fieberte. Seine Frau, die lange Jahre bei Pfaffen gedient hatte, besaß mancherlei Erfahrung in Sitten und Rechten. Sie verstand sich darauf, daß der Herzog noch am gleichen Tage hingerichtet werden müßte. Der Bürgermeister schwitzte.

Die Schöffen drängten, sogleich das Gericht abzuhalten. Der und jener hatte keine Zeit, die Weiber kneiften am Portal des Rathauses, fahrende Musikanten spielten zum Tanz auf. Es war ein Volksfest, das dem Herzog bei seinem Einzug in die Stadt entgegenflutete.

Der Weg bis Neiße hatte ihn weidlich belustigt. Die Komödie war köstlich und dieser Empfang . . .

Er lachte, daß es von einem Tor bis zum anderen schallte.

Das Volk johlte und jubelte auf den Straßen.

Es lag so gar kein Unwillen und Haß darin, so daß Nikolaus nachdenklich wurde.

Was hat dieses Volk, dachte er, sie sind Kinder, die ein Spielzeug zerbrechen, warum lachen sie . . .

Er wurde vor den Rat geführt.

Jemand las einen langen Schriftsatz vor.

Er hörte nichts.

Schuster und Schneider sprachen auf ihn ein. Der Bürgermeister schlug auf den Tisch und brüllte.

Der Herzog gähnte.

Er sah, wie sie mit wichtigen Mienen Schriftstücke aufsetzten, berieten, abstimmten, die Köpfe schüttelten. Draußen schrie alles durcheinander.

Der Bürgermeister verbeugte sich gegen den Herzog und begann wieder etwas vorzulesen.

Nikolaus versetzte ihm einen Fußtritt.

Ein Schöffe nach dem anderen schlich sich hinaus.

Nikolaus schrie auf. Er hatte den Bürgermeister gefaßt und schleuderte ihn gegen die Wand.

Sie waren für eine Sekunde allein im Saal.

Dann kamen Schergen und schleppten den Herzog in das Turmverlies. Sie griffen roh zu.

Nikolaus blieb stumm. Seine Miene wurde eisenhart.

Vor der Bürgermeisterei lief alles Volk zusammen. Man hörte das Weib keifen. Teller flogen auf die Diele. Es war ein Gehaste, als ob drinnen ein Toter wäre. Der Bürgermeister hatte sich in die Hosen geschissen.

V.

Die Stadt wurde still.

Der Raum, in den man den Herzog gebracht hatte, war niedrig und fast ohne Licht. Ein schmales Fenster ging auf eine Seitengasse.

Nikolaus schlief. Vielleicht zwei Tage, und es war wie eine Stunde. Er hatte schwere Träume und eine Vision, daß er auffuhr und erwachte.

Nikolaus . . . ., schrie es, und dann leiser: Nikolaus . . . . Es fing sich in den Gängen und Gewölben, es kam immer leiser wieder zurück, und doch wie ein Boot, das auf einem schwarzen Strom vorüberschaukelte.

Er brüllte. Wie ein verendendes Tier, nein: ruckweise und dann immer wieder in der Tiefe versinkend.

Dann wurde er wieder ganz still.

Er fühlte: Ich setze mich ins Unrecht damit. Nicht betteln. Was fällt denen ein? He . . . .

Niemand antwortete.

Heee . . . . er tastete sich an den Wänden zum Fenster und zerschlug das Glas. Heee . . .

Niemand antwortete.

Wartet . . . . er knurrte einen wilden Fluch.

Der Raum war dunkel und niedrig.

Er fühlte: die Brust wird zerspringen — — — oh, wer rief doch? Sie kam wieder. Die ihn quälte, marterte, ihm das Blut aus dem Herzen trieb.

Nicht du . . . . er brüllte wieder auf.

Dann lauschte er und hörte sagen: „Was tu ich dir, Nikolaus, hörst du, was . . .“

„Hee . . . du . . . ich hasse dich . . . du willst mich am Boden sehen . . . oh . . du hast gesiegt.“

Er sank in sich zusammen.

Wieder rief die Stimme: Nikolaus . . bin ich dir nicht gefolgt, ich war doch bei dir, du Meines . . du . .

„Hahahaha . . . .“ Wie Stahl schlug das Lachen gegen die Wände. Aber es sprach weiter: Und siehst du, ich mußte dich quälen, so lieb hatte ich dich, denn das Kind, vielleicht stand es zwischen uns . . . .

„Hör auf,“ er keuchte, „ich habe dich nicht verstanden.“

Es war totenstill im Raum.

„Du hast dich seit jenem Tag gegen mich gewendet, mich gehetzt, verjagt mit deinem Haß, und du hättest mich streicheln sollen, vielleicht kannst du das, spielen sollen wie früher, noch mehr Kind sein, gutmachen alles . . . .“

Es war als ob etwas schrill anschlüge: Nein, das hattest du, gerade du . . . es schien sich zu zwingen . . . und warum kamst du nicht mehr, ich wartete Tag um Tag . . .

„Nein, ich . . . ich . . . ich.“ Er wurde unruhig. „Was wollen die, hee . . . was ist?“

Wieder schlief er ein.

Der Raum war dunkel und niedrig.

Von allen Ecken wisperte es: Nikolaus . . . Nikolaus . . .

Er fuhr auf. Als ob er eine Last abschüttelte.

Er seufzte: „Komm, laß gut sein. Ich war Schuld und wenn auch . . . nur ich, denn du vielleicht warst bei mir, auch so.“

Er schlug gegen die Wand: „Teufel . . . meinetwegen, ich lüge.“

„Warum gingst du fort, weiter und weiter . .“

Er schrie: „Nein, nein, nicht ich . . .“

Seine Stimme schien sich wo anklammern zu wollen.

Dann wurde er ruhig und lächelte.

Komm zu mir, dachte er, ich will dich streicheln, ist es auch meine Schuld . .

Er schlief wieder ein.

Doch bald schrie er auf, er krallte sich in die Mauer ein.

„Du hast mich zu Boden getreten, du . .“

Er besänftigte sich: Wer hilft mir, eigentlich wer und wozu?

Er lachte grimmig. Heee . . . .

Niemand antwortete.

Habe ich etwas getan, dachte er, und was? Heee . . . .

Er lauschte.

Dann flehte er: Sprich wieder . . . Zwar kennst du mich nicht. Und trotziger: Nein, du — — du nicht und ihr alle nicht.

Er lachte und ballte die Fäuste. Wie gegen Erinnerungen. Stunden verflossen. Vielleicht waren es Tage.

Kinder standen in der Gasse. Der Herzog brüllte und lachte und stöhnte. Es klang immer wie eine Erlösung nach einem verzweifelten Kampf.

Das kann eine schlimme Sache werden, dachten die Krämer und kratzen sich am Kopf. Am nächsten Morgen tupfte der Böttcher Kunze sich seinen Brummschädel und dachte: diesmal geht es noch. Der Mützenmacher Glatzel erhob sich gähnend aus einem Winkel. Der Bürgermeister kroch zu seinem Weibe und dachte: bald wird wieder Ruhe sein. Und so weiter.

Um diese Stunde schlichen Fleischergesellen zum Herzog und schlugen ihm den Kopf ab.

Man weiß nicht, ob er sich gewehrt oder gelacht oder geseufzt oder sonst irgendetwas getan und gesagt hat.

Nachschrift.

Viel ist nicht mehr zu sagen.

Ein Gesindel von Geschichts- und Geschichtenschreibern ist an die Arbeit gegangen. Manche sind genauer . . und viele haben damit recht. Was tut’s.

Mancherlei ist vom tollen Nikolaus im Umlauf.

In Neiße liegen darüber Aktenbündel, und ein verrostetes Schwert wird gezeigt, vielleicht auch ein Bild, wie Nikolaus auf dem Marktplatz enthauptet wird. Vielleicht hat dabei auch ein Glöcklein geläutet. Das muß spaßhaft gewesen sein.

Vielleicht wird erzählt, daß Frau Bertha mit Roß und Reisigen wutschnaubend in Neiße eingezogen ist oder auch wehklagend. (Mit Roß und Reisigen.) Sicherlich sind auch Boten gekommen, vielleicht kam einer gesprengt mit verhängtem Zügel durch das Stadttor um die Morgenstunde und hat geschrieen: Haaalt . . haltet ein . . . Aber aber . . . . Vielleicht ist mit dem Bürgermeister noch etwas geschehen. Das kommt vor.

Aber man wird verstehen, daß das alles nichts zu sagen hat.