The Project Gutenberg eBook of Petersburg

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Petersburg

Author: Andrey Bely

Translator: Nadja Strasser

Release date: June 5, 2012 [eBook #39919]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK PETERSBURG ***

Petersburg

Roman
von
Andrej Bjäly

 

 

 

Verlagslogo

 

 

 

1919
München bei Georg Müller

 

 

Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen von Nadja Strasser

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Erstes Kapitel

Apollon Apollonowitsch Ableuchow

Apollon Apollonowitsch Ableuchow war von höchst würdiger Abstammung: er hatte Adam zum Vorfahren gehabt. Das war aber die Hauptsache nicht: viel wichtiger war, daß sein edelst geborener Ahne Sem gewesen war, also der eigentliche Ahnherr der semitischen, chetitischen und farbigen Völker.

Hier wollen wir aber zu den Vorfahren weniger ferner Epochen einen Übergang tun.

Diese Vorfahren lebten im kirgiskaijsakischen Hordenstaat, und von da aus trat Mirsa Ab-Lai, Ururgroßvater des Senators, der in der christlichen Taufe den Vornamen Andreij und den Rufnamen Uchow bekommen hatte, zur Regierungszeit Anna Joannownas ruhmvoll in den russischen Dienst ein. So berichtet über dieses Hervorgehen aus den Tiefen einer mongolischen Rasse des Russischen Reiches Wappenkalender. Dann wurde der Kürze wegen Ab-Lai-Uchow in Ableuchow verwandelt.

Dieser Ururgroßvater wurde, der Überlieferung nach, zum Urquell des ganzen Geschlechts.


Ein mit Goldtressen geschmückter, grauer Lakai staubte mit einem Federbusch den Schreibtisch ab; in der offenen Tür zeigte sich die Papiermütze des Kochs.

»Er ist schon auf, was?«

»Reibt sich mit Eau de Cologne ab, wird gleich zum Kaffee erscheinen.«

»Morgens sagte der Briefbote, für den gnädigen Herrn sei ein Briefchen aus Hispanien gekommen: mit hispanischer Marke.«

»Ich mache Sie aufmerksam: Sie sollten Ihre Nase weniger in die Briefsachen stecken.«

»Anna Petrowna ist also . . .«

»Na ja: also . . .«

»Aber ich — ich meine es nur so . . . Was bin ich: nichts . . .«

Des Kochs Kopf verschwand im Nu: Apollon Apollonowitsch Ableuchow schritt in sein Arbeitszimmer herein.


Ein auf dem Tisch liegender Bleistift fesselte die Aufmerksamkeit Apollon Apollonowitschs. Er faßte einen Beschluß: dem Ende des Bleistiftes eine spitze Form zu geben. Rasch näherte er sich dem Schreibtisch und griff nach . . . einem Briefbeschwerer, den er lange in tiefer Nachdenklichkeit in der Hand drehte, ehe er bemerkte, daß er einen Briefbeschwerer und nicht einen Bleistift in der Hand hielt.

Die Zerstreutheit kam daher, daß ein tiefer Gedanke ihn im selben Augenblick erleuchtete; und sogleich, zur ganz ungeeigneten Zeit (Apollon Apollonowitsch mußte eilig ins Amt), entwickelte sich der Gedanke zu einem fortlaufenden Gedankengang. In dem Tagebuch, das im Jahr seines Todes zu erscheinen hatte, war eine neue Seite dazugekommen.

Nachdem er den Gedankengang eilig aufgeschrieben, dachte Apollon Apollonowitsch: »Jetzt ist es Zeit in den Dienst.« Und er schritt weiter in das Speisezimmer, um seinen Kaffee zu sich zu nehmen.

Vorerst begann er mit peinlicher Beharrlichkeit den alten Kammerdiener auszuforschen:

»Ist Nikolai Apollonowitsch schon auf?«

»Nein, der junge Herr sind noch nicht aufgestanden.«

»Ä — ä . . . sagen Sie: wann eigentlich . . . sagen Sie, wann pflegt Nikolai Apollonowitsch sozusagen . . .«

»Ja, der junge Herr stehen ein wenig spät auf . . .«

»Na, wie denn, ein wenig spät?«

Und sogleich, ohne auf eine Antwort zu warten, schritt er, nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte, weiter, um seinen Kaffee zu trinken.

Es war genau halb zehn.

Um zehn fuhr er, der Alte, ins Regierungsamt. Nikolai Apollonowitsch aber, der Jüngling, erhob sich aus dem Bett — zwei Stunden später. Jeden Morgen erkundigte sich der Senator nach der Aufstehzeit des Jüngeren. Und jeden Morgen faltete er unzufrieden das Gesicht.

Nikolai Apollonowitsch war des Senators Sohn.

Kurz, er war das Haupt eines Regierungsamtes . . .

Apollon Apollonowitsch Ableuchow zeichnete sich durch ruhmvolle Taten aus; mehr als ein Stern ist auf seine goldbestickte Brust niedergefallen: der Stern des Stanislaus und der Anna sogar: sogar der Stern des Weißen Adlers.

Und vor kurzem erglänzten an dem Wohnsitz patriotischer Gefühle die Strahlen des Diamantzeichens, nämlich: das Ordenszeichen — des Alexander Newski.

Wie war nun die gesellschaftliche Stellung der aus dem Nichts hier ins Leben gerufenen Persönlichkeit?

Ganz Rußland kannte Ableuchow wegen der ungemeinen Länge der von ihm gehaltenen Reden; diese Reden glänzten und spritzten geräuschlos Gifte auf die feindliche Partei; das Resultat dessen war, daß die Anträge dieser feindlichen Partei an den Stellen, auf die es ankam, abgelehnt zu werden pflegten. Mit der Einsetzung Ableuchows auf den verantwortlichen Posten hörte die Tätigkeit des neunten Departements auf. Gegen dieses Departement führte Ableuchow einen zähen Kampf auf dem Wege des Papiers oder, wo es anging, durch Reden. Die Reden des Senators durchflogen Kreise und Gouvernements, von denen manche ihrer Ausdehnung nach dem Deutschen Reich nicht nachstanden.

Apollon Apollonowitsch war das Haupt eines Regierungsamtes.

Eines Regierungsamtes, das Ihnen wohl bekannt ist.

Wollte man die saftlose, gänzlich unansehnliche, kleine Gestalt meines Helden mit der unermeßlichen Größe der von ihm betriebenen Mechanismen vergleichen — man würde wohl für lange Zeit in naives Staunen verfallen; und in der Tat: es staunten ausnahmslos alle über den Wettersturz geistiger Kräfte, der aus diesem Schädel — ganz Rußland und allen Departements, mit Ausnahme eines einzigen, zum Trotz — hervorgebrochen war; und nun ruhte das Haupt jenes einzigen Departements, dem Willen des Schicksals gehorchend, seit zwei Jahren unter des Grabes Stein.

Mein Senator war gerade achtundsechzig alt geworden; und sein Gesicht, das blasse, erinnerte bald an den grauen Briefbeschwerer (in feierlichen Augenblicken), bald an Papiermaché (in Mußestunden); die steinernen Senatoraugen, umgeben von schwarz-grünem Graben, schienen in Momenten der Müdigkeit noch blauer und riesenhafter.

Unsererseits fügen wir hinzu: Apollon Apollonowitsch regte sich beim Anblick seiner vollständig grünen, auf dem blutroten Fond des brennenden Rußland ungeheuer vergrößerten Ohren keinesfalls auf. So war er nämlich vor kurzem abgebildet: auf dem Titelblatt einer humoristischen Gassenrevue, eines der »judaischen« Blättchen, deren blutrote Umschläge in jenen Tagen sich auf den menschenwimmelnden Straßen mit erstaunlicher Raschheit vermehrten . . .

Nordost

Im eichenen Speisezimmer erklang das Keuchen der Uhr; der graue Kuckuck stieß, sich verneigend und zischend, seinen Ruf aus; auf das Zeichen des altertümlichen Kuckucks nahm Apollon Apollonowitsch vor der Porzellantasse Platz und brach knusperige Stückchen vom Weißbrot ab. Beim Kaffee dachte Apollon Apollonowitsch an die früheren Jahre zurück; und — sogar, ja sogar — leicht zu scherzen pflegte er beim Kaffee:

»Wer ist der Würdigste unter allen Menschen, Ssemjonytsch?«

»Ich denke mir, Apollon Apollonowitsch, der Würdigste unter allen wird der Geheime Wirkliche Rat sein.«

Apollon Apollonowitsch lächelte nur mit den Lippen.

»Sie denken nicht richtig: Der Würdigste unter allen ist der Kaminkehrer . . .«

Der Kammerdiener kannte bereits den Scherz, doch die Ehrfurcht gebot Schweigen darüber.

»Warum, gnädiger Herr, wenn ich fragen darf, dem Kaminkehrer diese Ehre?«

»Vor dem Wirklichen Geheimen Rat weicht man aus, Ssemjonytsch?«

»Ich denke — so ist’s, Exzellenz . . .«

»Der Kaminkehrer . . . vor ihm weicht selbst der Wirkliche Geheime Rat aus, denn: er beschmutzt, der Kaminkehrer.«

»So ist also die Sache«, meinte ehrfurchtsvoll der Kammerdiener.

»So ist es; aber es gibt ein Amt, das noch würdiger ist . . .« Und gleich darauf:

»Das eines Wasserklosettarbeiters . . .«

»Pff! . . .«

»Vor diesem weicht nicht nur der Wirkliche Geheime Rat, sondern selbst der Kaminkehrer aus . . .«

Und — einen Schluck Kaffee. Wir bemerken aber: Apollon Apollonowitsch war ja selbst Wirklicher Geheimer Rat.

»Ja, Apollon Apollonowitsch, auch das noch: Anna Petrowna erzählte einmal . . .«

Bei den Worten »Anna Petrowna« brach der grauhaarige Kammerdiener ab.


»Den grauen Mantel?«

»Den grauen Mantel.«

»Ich denke, auch die grauen Handschuhe?«

»Nein, geben Sie mir die Wildlederhandschuhe . . .«

»Geruhen Exzellenz einen Augenblick zu warten: die grauen Handschuhe haben wir ja im Schrank, Fach C, Nordwest.«

Nur ein einziges Mal ging Apollon Apollonowitsch in die Kleinigkeiten des Lebens ein: er führte einmal eine Revision seines Inventars durch. Ordnungsmäßig war das Inventar registriert und eine Nomenklatur der großen und kleinen Fächer eingeführt; es entstanden Fächer mit Lettern: a, b, c, und die vier Seiten der Fächer bekamen die Bezeichnung der vier Weltgegenden.

Wenn er eine Brille auf den Platz gelegt hat, notierte Apollon Apollonowitsch auf seiner Liste mit kleiner, perlenartiger Schrift: Brille—Fach b, NO, d. h. Nordost; eine Kopie dieser Liste bekam der Kammerdiener, der die Richtungen der kostbaren Toilettengegenstände auswendig gelernt hat; fehlerlos skandierte er nachts in schlaflosen Stunden diese Richtungen herunter.

Brief mit spanischer Marke

Auf dem Tisch erhob sich eine kalte, langbeinige Bronze; des Lampenschirms rosig-violette Farbe schimmerte nicht: verloren hat das neunzehnte Jahrhundert das Geheimnis dieser Farbe; das Glas dunkelte ab von der Zeit, und ebenso die feine Zeichnung.

Die goldenen Trumeaus zwischen den Fenstern verschlangen überall mit dem Grün ihrer Spiegelflächen den Salon; Perlmuttertischchen schimmerten neben jedem Trumeau.

Sich mit der Hand auf die fein geschliffene Kristallklinke stützend, öffnete Apollon Apollonowitsch rasch die Tür; seine Schritte hallten auf dem glänzenden Parkett; überall an allen Ecken standen Haufen kleiner Nippsachen aus Porzellan; diese Nippsachen brachten sie mit aus Venedig, er und Anna Petrowna, vor — vor nun dreißig Jahren.

Seine Augen glitten zum Klavier hinüber.

Apollon Apollonowitsch erinnerte sich: eine weiße Petersburger Nacht; hinter den Fenstern ein breiter Fluß; der Mond stand oben, und es rauschte eine Roulade von Chopin: ja, er weiß es noch; Chopin (nicht Schumann) hatte Anna Petrowna gespielt . . .

Apollon Apollonowitsch ließ sich in einen Empiresessel nieder, wo auf dem blaßblauen Atlas des Sitzes Kränzchen sich wanden, seine Hand griff nach dem chinesischen kleinen Tablett, auf dem ein Paket uneröffneter Briefe lag; sein kahler Kopf neigte sich über die Briefe. In Erwartung des Kammerdieners mit der Meldung: »Der Wagen wartet« vertiefte er sich in die Morgenpost.

Die Kuverte wurden erbrochen, eins nach dem anderen.

»Hm . . . So—o, so—o— so—o: schön . . .«

Und eines der Kuverte wurde sorgfältig eingesteckt.

»Hm . . . Bittgesuch . . .«

»Bittgesuch, Bittgesuch . . .«

Ein Umschlag aus massivem grauen Papier, versiegelt, mit Wappenzeichen, ohne Marke, mit Siegellackpetschaft.

»Hm . . . Graf Dublwe . . . Was mag’s wohl sein? Bittet, im Bureau zu empfangen . . . Persönliche Angelegenheit . . .«

»Hm . . . Aha! . . .«

Graf Dublwe, das jetzige Oberhaupt des neunten Departements, war der Gegner des Senators.

Weiter . . . Ein blaßrotes Miniaturkuvert; die Hand des Senators erbebte, Anna Petrownas Schrift; er besah sich die spanische Marke, brach aber das Kuvert nicht auf:

»Hm . . . Geld? . . .«

»Geld war ja abgeschickt?«

»Es wird geschickt werden!! . . .«

»Hm . . . notieren . . .«

In der Meinung, einen Bleistift aus der Tasche gezogen zu haben, hielt er ein beinernes Nagelbürstchen in der Hand und wollte gerade die Notiz: »Zurücksenden« machen, als . . .

»— ? . . .«

»Der Wagen wartet . . .«

Apollon Apollonowitsch hob den kahlen Kopf und schritt hinaus aus dem Zimmer.


An den Wänden hingen Bilder, deren ölig schimmernde Leinwand nur mit Mühe Französinnen unterscheiden ließ, die wie Griechinnen aussahen, in engen Direktoire-Tuniken und riesenhohen Frisuren.

Über dem Klavier hing eine verkleinerte Kopie des Bildes von David: »Distribution des aigles par Napoléon premier.«

Kalt war die Pracht des Salons wegen des vollständigen Mangels an Teppichen; der Parkettboden glänzte; würde ihn die Sonne einen Augenblick bescheinen, die Augen würden von selbst sich geschlossen haben. Kalt war dieses Gastzimmers Gastfreundschaft.

Senator Ableuchow aber hat diese Kälte zum Prinzip erhoben.

Sie prägte sich: im Wirt, in den Bronzen, in den Dienern, selbst in der tigerähnlichen, dunkelfarbigen Bulldogge, die irgendwo in der Nähe der Küche lebte.

Mit der Abreise Anna Petrownas verstummte der Salon; der Deckel des Klaviers klappte zu, keine Roulade erklang mehr.

Ja, was Anna Petrowna betrifft — oder einfacher gesagt, was den Brief aus Spanien betrifft: kaum war Apollon Apollonowitsch hinausgeschritten, begannen zwei Lakaien miteinander zu plappern:

»Er las den Brief nicht . . .«

»I wo: fällt ihm nicht ein, ihn zu lesen . . .«

»Wird er ihn zurückschicken?«

»Wahrscheinlich ja.«

»So ein Stein von einem Menschen, Gott sei mir gnädig.«

»Ich will Ihnen was sagen: Sie sollten delikater in Ihren Ausdrücken sein.«


Während Apollon Apollonowitsch ins Vorzimmer schritt, sah der grauhaarige Kammerdiener, ebenfalls hinschreitend, zu den würdigen Ohren empor und drückte in der Hand seine Tabakdose — ein Geschenk des Ministers.

Apollon Apollonowitsch blieb auf der Treppe stehen und suchte nach einem Wort.

»Mm . . . hören Sie . . .«

»Exzellenz?«

Apollon Apollonowitsch suchte nach einem passenden Wort.

»Was im allgemeinen — ja — macht . . . macht . . .«

»—? . . .«

»Nikolai Apollonowitsch.«

»Nichts weiter, Apollon Apollonowitsch, der junge Herr befinden sich wohl.«

»Und sonst?«

»Wie immer: Der junge Herr geruhen sich einzusperren, lesen Bücher.«

»Auch Bücher?«

»Dann promenieren der junge Herr durch die Zimmer.«

»Promenieren — ja, ja . . . Und . . . Und? Wie?«

»Der junge Herr promenieren . . . im Schlafrock . . .«

»Lesen, promenieren . . . So. Weiter?«

»Gestern erwarteten der junge Herr . . .«

»Erwarteten — wen?«

»Den Kostümeur . . .«

»Was für einen Kostümeur?«

»Den Kostümeur.«

»Hm — hm . . . Wozu denn eigentlich?«

»Ich denke mir, der junge Herr wollten zu einem Ball . . .«


»Aha — so . . . zu einem Ball . . .« Apollon Apollonowitsch rieb sich an der Nasenwurzel: ein Lächeln erhellte sein Gesicht, es wurde plötzlich greisenhaft.

Apollon Apollonowitsch nahm seinen Zylinder und schritt durch die geöffnete Tür.

Der Wagen raste in den Nebel

Reif lag auf den Straßen, Trottoiren und Dächern. Reif bedeckte die Passanten; beschenkte sie mit Grippe; zugleich mit dem feinen Regenstaub kroch Influenza und Grippe hinter die aufgeschlagenen Kragen der Gymnasiasten, Studenten, Staatsbeamten, Offiziere und der gewöhnlichen Subjekte; und das Subjekt (der Bürger sozusagen) sah sich geängstigt um; er sah in die graue, abgeschlissene Straße; er zirkulierte durch die Endlosigkeit der Straßen, überwand, ohne Murren, diese Endlosigkeit, im endlosen Fluß ebensolcher Subjekte wie er, unter dem Rennen, Rasseln, Klappern der Droschken, fern von sich die melodischen Stimmen der Automobilrouladen und des anwachsenden Geräusches (das dann allmählich wieder verhallte) der gelbroten Trambahnen, unter ununterbrochenem Rufen der Zeitungsverkäufer.

An diesem düsteren Petersburger Morgen flogen die schweren Flügeltüren des prunkvollen gelben Hauses auf: das gelbe Haus blickte mit all seinen Fenstern auf die Newa. Ein Lakai mit rasiertem Gesicht, mit Goldtressen an den Reversen, sprang aus dem Entresol hervor, um dem Kutscher ein Zeichen zu geben. Die grauen, scheckigen Pferde zogen an und rollten zum Vestibül den Wagen heran, der ein altes Adelswappen trug: ein Einhorn, einen Ritter durchbohrend.

Als Apollon Apollonowitsch Ableuchow in grauem Mantel und Zylinder mit steinernem, einem Briefbeschwerer ähnlichem Gesicht, im Gehen den schwarzen Wildlederhandschuh anziehend, rasch im Vestibül erschien und noch rascher die Wagenstufe betrat, wurde der Gesichtsausdruck eines gerade vorübergehenden braven Polizisten im Nu noch dümmer, und er streckte sich starr in Positur.

Apollon Apollonowitsch Ableuchow warf einen flüchtigen, verlorenen Blick auf den Polizisten, auf den Wagen, den Kutscher, auf die große schwarze Brücke, auf den Newaspiegel, hinter dem sich neblige, vielschlotige Fernen zeichneten und von wo her ängstlich die Wassiljewski-Insel hervorblickte.

Der graue Lakai schlug eilig die Wagentür zu. Der Wagen rannte in den Nebel hinein: der zufällig vorübergehende Polizist, erschüttert von allem Gesehenen, blickte lange, lange über die Schulter in den schmutziggrauen Nebel dem fortgerasten Wagen nach; dann seufzte er und ging weiter; bald verschwanden im Nebel auch die Schultern des Polizisten wie alle Schultern, Rücken, alle grauen Gesichter und alle schwarzen, nassen Regenschirme in diesem Nebel verschwanden. In dieselbe Richtung warf auch der würdige Lakai einen Blick; er blickte dann nach rechts, nach links, auf die Brücke, zuletzt auf die weite Fläche der Newa . . .

Quadrate, Parallelepipede, Kuben

He, he . . .«

So schrie der Kutscher . . .

Und die Räder spritzten auf alle Seiten Straßenkot.

Der Wagen raste auf den Newskij-Prospekt. Apollon Apollonowitsch Ableuchow wiegte sich auf dem Atlaspolster des Sitzes; von dem Dreck der Straße war er durch vier perpendikuläre Wände getrennt; war auch von den vorbeiflutenden Menschenmengen getrennt, von den trübselig nassen, roten Umschlägen der Gassenblättchen, die an der Straßenkreuzung dort verkauft wurden.

Die Regelmäßigkeit und Symmetrie beruhigten die Nerven des Senators, die durch Unebenheiten des häuslichen Lebens und dem hilflosen Kreisen unseres Staatsrades erregt waren.

Harmonische Einfachheit war das Kennzeichen seines Geschmacks.

Am meisten liebte er die geradlinige Straße; diese Straße mahnte ihn an den Fluß der Zeit, zwischen zwei Punkten des Lebens.

Nasse, glitschrige Straßen: Häuser in Kubusform als regelmäßige fünfstöckige Reihen; von der Linie des Lebens unterscheiden sich dieselben nur in einer Beziehung: diese Reihen hatten weder Ende noch Anfang. Begeisterung erfüllte jedesmal die Seele des Senators, wenn sein lackierter Kubus wie ein Pfeil die Linie des Newskij durchschnitt. Dort hinter den Fensterscheiben liefen die Nummern der Häuser vorbei, eine Zirkulation ging dort vor sich; dort schimmerten an klaren Tagen von weit, weit her blendend: die goldene Spitze1), die Wolken, der rote Strahl des Sonnenuntergangs; und dort sah man an nebligen Tagen — nichts, niemand.

Weiter aber waren die Linien der Newa, der Inseln.

Apollon Apollonowitsch liebte diese Inseln nicht: die Bevölkerung dort waren Fabrikarbeiter, roh; ein vieltausendköpfiger Menschenschwarm wälzte sich dort morgens zu den vielschlotigen Fabriken; er wußte, jetzt zirkulierte dort der Browning. Und noch an etwas anderes dachte Apollon Apollonowitsch: Die Bewohner der Inseln zählen zu der Bevölkerung des Russischen Reiches; auch dort ist die allgemeine Volkszählung durchgeführt: auch sie haben numerierte Häuser, Polizeireviere, Staatsinstitute; der Insulaner ist: Advokat, Schriftsteller, Arbeiter, Polizeibeamter; er hält sich für einen Bürger Petersburgs, doch ist er Bürger des Chaos, er bedroht des Reiches Residenz aus herannahender Wolke . . . Apollon Apollonowitsch wollte nicht weiter denken: voll Unruhe sind diese Inseln — niederstampfen, niederstampfen! Durch das Eisen einer riesigen Brücke an den Boden festschmieden und in alle Richtungen durch Straßenpfeile durchbohren . . . Und so verträumt blickend in die Endlosigkeit der Nebel, wuchs der Staatsmann aus dem schwarzen Kubus seines Wagens heraus, dehnte sich auf alle Seiten und reckte sich in die Höhe empor; er wünschte, sein Wagen möge vorwärts rasen, daß die Straßen ihm entgegen flögen — eine Straße nach der anderen; daß die ganze sphärische Oberfläche des Planeten wie durch Schlangenringe durch schwarzgraue Häuserkuben eingefaßt würde; daß die ganze von Straßen zusammengedrängte Erde im kosmischen Linienlauf die Endlosigkeit wie ein geradliniges Gesetz durchschnitt; daß ein Parallelstraßennetz, durchkreuzt von einem anderen Parallelstraßennetz, sich mit den Flächen der Quadrate und Kuben in die Himmelsabgründe bohrt: für jeden Stadteinwohner je ein Quadrat; daß . . . daß . . .

Am meisten beruhigte ihn nach der Linie, die Figur des Quadrates.

Er pflegte oft lange sich gedankenloser Betrachtung hinzugeben von: Pyramiden, Dreiecken, Parallelepipeden, Kuben, Trapezen. Unruhe ergriff ihn nur beim Anblick des abgebrochenen Kegels.

Die Zickzacklinie aber, die konnte er nicht ausstehen.

In seinem Wagen genoß Apollon Apollonowitsch durch lange Augenblicke gedankenlos die viereckigen Wände, im Zentrum eines vollendeten, mit Atlas überspannten Kubus sitzend: Apollon Apollonowitsch war zur Einzelhaft geschaffen; nur die Liebe zur Staatsplanimetrie hatte ihn in die Vieleckigkeit eines verantwortlichen Postens hineingezogen.


Die nasse, schlüpfrige Straße wurde in geraden, neunziggradigem Winkel von einer anderen nassen Straße durchquert; im Kreuzungspunkt der Linien stand ein Polizist . . .

Und ebensolche Häuser erhoben sich dort, und ebenso grau zogen dort Menschenströme hin und ebenso grüngelb stand dort ein Nebel. Konzentriert liefen dort Gesichter vorbei; die Trottoirs flüsterten, scharrten, wurden mit den Gummischuhen gerieben; feierlich zog die Bürgernase vorbei. In Mengen zogen Nasen vorbei: Adlernasen, Entennasen, Hühnernasen, grünliche, weiße; auch die mangelnde Nase zog da vorbei. Hier zogen einzelne, Paare, Dreier- und Vierergruppen; einem Hut folgte ein zweiter; steife Hüte, Federn, Mützen; Mützen, Mützen, Federn; Dreimaster, Mützen, Zylinder, Mützen, Kopftuch, Schirm, Feder.

Doch parallel der dahineilenden Straße lief eine zweite Straße, mit einer ebensolchen Reihe von Schachteln, mit Numerierung, mit Wolken; und mit demselben Staatsbeamten.

Der Bewohner der Inseln2)

Es war der letzte Tag des Septembers.

Auf der Wassiljewskij-Insel in der Tiefe der »siebzehnten Linie« blickte aus dem Nebel ein Haus, groß und grau; vom winzigen Hofraum führte eine schwarze, etwas schmutzige Treppe hinein: es gab da Türen und Türen. Eine davon wurde geöffnet.

Ein Unbekannter mit schwarzem Schnurrbärtchen erschien an der Schwelle.

Dann begann der Unbekannte langsam die Treppe herunterzusteigen. Er kam von der Höhe des fünften Stockwerkes, vorsichtig über die Stufen tretend; in seiner Hand wiegte sich, gleichmäßig, ein nicht gerade kleines, aber auch nicht sehr großes Paket in einer schmutzigen Serviette mit rotem Rand eines abgefärbten Fasanenmusters.

Mein Unbekannter zeigte sich ungemein vorsichtig im Behandeln des Pakets.

Es war selbstverständlich die Hintertreppe, und sie war mit Gurkenschalen und mehrfach zertretenen Kohlblättern bedeckt. Der Unbekannte mit dem schwarzen Schnurrbärtchen rutschte darauf mehrmals aus.

Mit einer Hand ergriff er dann das Treppengeländer, während die andere (mit dem Bündel) in der Luft eine nervöse Zickzacklinie beschrieb; doch die Zickzacklinie betraf nur den Ellbogen; mein Unbekannter wollte offenbar das Bündel vor einem ärgerlichen Zufall bewahren: vor jähem Sturz auf die steinerne Stufe.

Auch weiter unten, bei einer Begegnung mit dem Hausmeister, der beladen mit Brennholz nach oben ging, zeigte mein Unbekannter in intensivster Weise seine delikate Sorge um das Paket, das an die Holzscheite anstoßen konnte; die im Bündel verwahrten Gegenstände mußten besonders zerbrechlicher Natur sein.

Sonst wäre das Benehmen meines Unbekannten nicht zu verstehen.

Als mein bemerkenswerter Unbekannter vorsichtig die schwarze Ausgangstür erreicht hat, prustete eine schwarze Katze vor seinen Füßen und lief mit gehobenem Schwanz, seinen Weg überquerend, davon. Das Gesicht meines Unbekannten durchzog ein krampfhaftes Zucken, den Kopf aber warf er nervös nach hinten, wobei sich ein zarter Hals zeigte.

Und nun ist er im Hofe, in dem mit Asphalt gepflasterten, von den fünf Stöcken des vielfenstrigen Riesen eingezwängten Viereck. Inmitten des Hofes standen regelmäßige Holzstapel, und man sah noch ein Stück der vom Winde abgekahlten »siebzehnten Linie«.

Der Unbekannte von der Insel haßte Petersburg schon immer: dort — dort erhob es sich, das Petersburg, aus einer dichten Wolkenwoge; dort schwebten Häuser; dort schwebte, schien es, über den Häusern etwas Gehässiges und Dunkles, dessen Atem mit dem Eis seines Granits und seiner Steine die einst grünen, lauschigen Inseln fest eingezwängt hat. Ein befremdend Kaltes, Dunkles, Schweres starrte von dort aus kämpfendem Chaos; starrte mit steinernem Blick und schlug in wahnsinnigem Flug mit seinen Fledermausflügeln; und peitschte mit schwerwiegendem Wort die Armut der Inseln, und aus dem Nebel traten Schädel und Ohren hervor: so war nämlich vor kurzem auf dem Titelblatt eines Gassenblättchens jemand abgebildet gewesen.

Der Unbekannte dachte daran und drückte in der Tasche seine Faust fest zusammen; er dachte an ein von jemand gesagtes grausames Wort, und er dachte noch, daß die Blätter an den Bäumen schon fielen.


Unsererseits sagen wir aber: O, ihr russischen Leute, ihr russischen Leute: Laßt nicht die Scharen der aus den Inseln gleitenden Schatten an euch heran! Fürchtet die Insulaner! Sie haben das Recht, sich frei im Reiche zu siedeln: sind nicht deswegen Brücken, schwarze und graue, über die lethischen Gewässer zu den Inseln gespannt? Abbrechen sollte man sie . . .

Zu spät . . .

Die Polizei dachte nicht daran, die Nikolajewsche Brücke fortzuschaffen; nun wälzten sich dunkle Schatten über die Brücke; unter diesen Schatten spannte sich auch der düstere des Unbekannten. In der Hand dieses Schattens wiegte sich gleichmäßig ein nicht ganz kleines und doch nicht allzu großes Paket.

Und indem sie ihn erblickten, weiteten sie sich, begannen zu leuchten, zu glänzen . . .

In der grünlichen Beleuchtung des Petersburger Morgens, im rettenden »Als ob« zirkulierte vor dem Senator Ableuchow auch das übliche Phänomen: der Strom von Menschen; wortstumm wurden hier die Menschen; ihre Wogen, wie die ans Ufer schlagenden Wellenfluten — dröhnten, brüllten; das gewöhnliche Ohr aber begriff es nicht im geringsten, daß jene donnernden Wogen menschliche Wogen waren.

Mit der vorderst flutenden Menge verkehrte der greise Senator mit Hilfe der Drähte (der Telegraphen- und Telephondrähte), und der Schattenstrom prägte sich in seinem Bewußtsein wie die ruhig fließende Kunde aus einer hinter Fernen liegenden Welt.

Apollon Apollonowitsch dachte: an die Sterne, an die Unfaßlichkeit der dahinrollenden Donnerwogen; und sich auf seinem schwarzen Polster wiegend, stellte er Berechnungen an über die Stärke der vom Saturn herüberströmenden Lichtkraft.

Plötzlich . . .

— faltete sich sein Gesicht und wurde von einem Zucken entstellt; krampfhaft rollten die steinernen, von Blau umränderten Augen; die mit schwarzem Wildleder bekleideten Hände flogen bis zur Höhe der Brust, als sollten diese Hände ihn schützen. Sein Oberkörper sank zurück und der Zylinder fiel, an die Wand aufschlagend, auf die Knie unter den entblößten Kopf . . .

Die vorübergleitenden Silhouetten betrachtend (Mützen, Hüten, Federn), erblickte Apollon Apollonowitsch unter den Mützen, Hüten, Federn in der Ecke — ein paar wahnsinnige Augen: die Augen zeigten eine unerhörte Eigenschaft; die Augen erkannten den Senator; und indem sie ihn erkannten, wurden sie wahnsinnig; vielleicht hatten die Augen an der Ecke gelauert; und indem sie ihn erblickten, weiteten sie sich, begannen zu leuchten, zu glänzen.

Dieser wahnsinnige Blick war ein bewußt geworfener Blick und gehörte einem unbestimmten Individuum mit schwarzem Schnurrbärtchen, in einem Mantel mit aufgeschlagenem Kragen; wenn sich Apollon Apollonowitsch später in die Einzelheiten des Geschehnisses vertiefte, kam er — eher durch Überlegung als durch Erinnerung — auf noch einen Umstand: in der rechten Hand hielt das Individuum ein in ein nasses Tuch gewickeltes Paket.

Die Sache war ja so einfach: der Strom der Droschken hielt den Wagen an der Straßenkreuzung auf (dort hob eben der Schutzmann sein weißes Stäbchen in die Höhe); die vorbeiziehende Woge von Individuen, gedrängt von den Droschken, die quer den Newskij durchschnitten, diese Woge wurde ganz einfach an den Wagen des Senators gedrängt und zerstört? die Illusion: wenn er, Apollon Apollonowitsch, über den Newskij raste, war er Milliarden von Werst weit weg von dem menschlichen Tausendfüßler, der dieselbe Straße beschritt; beunruhigt rückte Apollon Apollonowitsch dicht an das Fenster heran und sah, daß ihn nur eine dünne Wand und ein vier Werschok breiter Raum von der Menge trennte; hier hatte er das Individuum erblickt; und begann es ruhig zu betrachten; es war etwas Bemerkenswertes in seiner ganzen unansehnlichen Gestalt; und sicher wäre ein Physiognomiker, zufällig in der Straße auf diese Figur stoßend, überrascht stehengeblieben und würde später bei seinen Geschäften an das gesehene Gesicht denken; die Besonderheit des Gesichtes lag nur in der Schwierigkeit, seinen Ausdruck unter irgendeine Kategorie zu bringen — in nichts anderem . . .

Diese Betrachtung wäre durch den Kopf des Senators gehuscht, wenn er auch nur eine Sekunde lang beobachtet hätte; doch es dauerte keine Sekunde. Der Unbekannte hob die Augen und — hinter den Spiegelscheiben des Wagens, in vier Werschok Entfernung von sich, erblickte er — nicht ein Gesicht, sondern . . . einen Totenschädel im Zylinder und ein riesiges blaßgrünes Ohr.

In derselben Viertelsekunde erblickte der Senator in den Augen des Unbekannten — jene Unbegrenztheit des Chaos, aus der die neblige, vielschlotige Ferne und die Wassiljewskij-Insel schon seit jeher zum Haus des Senators hinüberschielte.

Da eben war es, wo sich die Augen des Unbekannten weiteten, zu leuchten, zu glänzen begannen; und da eben flogen hinter dem Wagenfenster, in vier Werschok Entfernung, die Hände des Senators in die Höhe und bedeckten die Augen.

Verschwunden ist der Wagen; mit ihm entschwand auch Apollon Apollonowitsch in die feuchten Fernen; dorthin, wo an klaren Tagen herrlich die goldene Spitze, die Wolken und der purpurne Sonnenuntergang glänzten, wo aber heute schmutzige Wolkenschwärme zogen . . .

Apollon Apollonowitsch litt an Herzerweiterung.

Einen kurzen Augenblick nur hatte all dies gedauert.

Apollon Apollonowitsch setzte mechanisch den Zylinder wieder auf und drückte den wildledernen schwarzen Handschuh ans hüpfende Herz, dann nahm er sein geliebtes Betrachten der Kuben auf, um sich über das Geschehene ruhige und klare Rechnung zu geben.

Apollon Apollonowitsch sah wieder aus dem Fenster des Wagens: was er jetzt sah, verwischte das Frühere: eine nasse, glitschrige Straße, nasse, glitschrige Pflastersteine, die fiebernd glänzten im septemberlichen Tag!


Die Pferde hielten. Der Polizist salutierte. Hinter dem Fenster des Vestibüls, unter dem die Säulen des kleinen Balkons stützenden bärtigen Karyatiden dasselbe Schauspiel wie immer: die schwerköpfige Messingkeule glänzte in der Hand des Portiers; die achtzigjährige Schulter drückte ein dunkler Dreimaster; ein achtzigjähriger Portier schlummerte über dem »Börsenkurier«. So schlummerte er schon vorgestern, gestern. So schlummerte er in jenen verhängnisvollen fünf Jahren . . . So wird er auch weitere fünf Jahre schlummern.

Fünf Jahre sind es her, seit dem Tag, an dem Apollon Apollonowitsch als unverantwortliches Haupt eines Amtes im Amt erschienen war; seit dieser Zeit sind fünf Jahre verstrichen. Und Ereignisse hat es gegeben: China revoltierte, Port Arthur war gefallen. Doch unverändert blieben die Visionen der Zeiten: achtzigjährige Schultern, Livreetressen, ein Dienerbart.


Die Flügeltüre flog auf: die Messingkeule klopfte. Durch die Wagentür trug Apollon Apollonowitsch seinen steinernen Blick in das breite Vestibül hinüber. Dann schloß sich die Tür hinter ihm.

Apollon Apollonowitsch stand und atmete.

»Exzellenz . . . wollen sich doch hinsetzen . . . Siehe doch nur: Exzellenz schöpfen kaum Atem.«

»Immer laufen Exzellenz, als ob Sie noch ein kleiner Junge wären . . .«

»Wollen doch Exzellenz ein wenig sitzen, bis Sie zu sich kommen.«

»So ist es, ja . . .«

»Vielleicht . . . einen Schluck Wasser?«

Aber das Gesicht des ruhmreichen Mannes erhellte sich wieder, kindisch wurde es, greisenhaft, überzog sich mit Fältchen.


Doch das Herz, der Vernunft nicht gehorchend, bebte und pochte; und alles umher schien deswegen so — und wieder auch nicht so . . .

Aber schweigen Sie doch! . . .

Die Petersburger Straße durchdringt im Herbst den ganzen Organismus: Sie macht das Knochenmark frieren; sie kitzelt das zitternde Rückgrat; trittst du aber von der Straße in einen warmen Raum, beginnt sie im Blute als Fieber zu kreisen. Diese Eigenschaft der Straße empfand jetzt der Unbekannte, in das Vorzimmer tretend, das erfüllt war von schwarzen, blauen, grauen, gelben Mänteln, von burschikosen, langohrigen, stutzschwanzigen Mützen und allerhand Überschuhen. Warme Feuchtigkeit schlug ihm entgegen; in der Luft hing weißlicher Dampf.

Das Individuum mit dem Schnurrbärtchen trat, nachdem es seine Überkleider in Verwahrung übergeben hatte, in den Saal . . .

»A—a—a . . .«

Ihn betäubten zuerst die Stimmen.


»Kre—e—ebse . . . aaa . . . ah—aa—ha . . .«

»Sehen Sie, sehen Sie, sehen Sie . . .«

»Sprechen Sie nicht . . .«

»Me—emme . . .«

»Und noch Wodka dazu . . .«

»Aber wieso denn . . . aber gehen Sie . . . Was Sie nicht sagen . . .«


Der Restaurantsaal war ein ziemlich schmutziger Raum; der Boden war mit Pasta bestrichen; die Wände, von einem Schildermaler bemalt, stellten die Trümmer einer schwedischen Flottille dar, von deren Höhe Peter der Große mit der Hand in die Ferne zeigte; und weiter sah der Beschauer waschblaufarbene Flächen als weißmähnige Wälle ihm entgegenstürmen; durch den Kopf des Unbekannten aber stürmte ein Wagen . . .


»Wünschen Sie mit Sirup?« wandte sich der dick aufgedunsene Wirt vom Schanktisch an unseren Unbekannten.

»Nein, ohne.«

Selbst aber dachte er: Warum war der Blick hinter dem Wagenfenster erschrocken? Die Augen waren hervorgetreten, wurden steinern und schlossen sich dann; der tote, rasierte Kopf wiegte sich und verschwand; der Rücken war nicht von der Peitsche eines grausamen Wortes erwärmt; die schwarz-wildlederne Hand schwang sich machtlos in der Luft; es war nicht eine Hand, es war nur ein . . . armseliges Händchen . . .

»Noch ein Glas . . .«


Dort weiter saß ein müßig schwitzender Mann mit breitem Kutscherbart; in blauer Joppe, die geschmierten Schaftstiefel über die graue Soldatenhose gezogen. Der müßig schwitzende Mann trank ein Glas nach dem anderen.


Dreimal schluckte mein Unbekannter das scharfe, farblos glänzende Gift, dessen Wirkung an die Wirkung der Straße gemahnte. Speiseröhre und Magen lecken mit vertrockneter Zunge seine rachevollen Flammen, das Bewußtsein aber, des Körpers entledigt, sich um diesen zu wirbeln beginnt und wird unerhört hell . . . Nur für einen kurzen, einen Atemzug währenden Augenblick.

Und das Bewußtsein des Unbekannten wurde für einen kurzen, einen Atemzug währenden Augenblick hell, und er erinnerte sich: die Arbeitslosen hungern; die Arbeitslosen hatten ihn gebeten, und er hatte ihnen versprochen; und er hatte von ihnen bekommen — ja? Wo ist das Paketchen? Da ist es ja, hier — neben ihm . . . Von ihnen hatte er das Paketchen bekommen.

In der Tat: die Begegnung auf dem Newskij hat sein Gedächtnis verwirrt.


Der Unbekannte mit dem schwarzen Schnurrbärtchen setzte sich vor ein Tischchen, um den zu erwarten, der . . .

»Haben Sie Lust auf ein Gläschen?«

Der müßig schwitzende Bärtige zwinkerte lustig.

»Danke . . .«

»Warum nicht?«

»Aber ich hab’ schon getrunken . . .«

»Trinken Sie noch eins, in meiner Gesellschaft . . .«

Mein Unbekannter überlegte etwas: Mißtrauisch sah er den Bärtigen an, griff erst nach dem feuchten Paketchen, dann griff er nach einem Zeitungsstück und deckte wie zufällig jenes Paketchen zu.

Plötzlich . . .

Doch von diesem »Plötzlich« später einmal.

Ein Schreibtisch stand dort

Apollon Apollonowitsch suchte sich auf den laufenden Geschäftstag einzustellen; plötzlich standen deutlich vor ihm die Berichte des gestrigen Tages; er sah vor sich die gefalteten, auf seinem Schreibtisch liegenden Akten, ihre Anordnung, die von ihm auf den Akten gemachten Notizen, die Buchstabenform der Schrift, den Bleistift, mit dem er blau »Folge geben«, rot »Information« geschrieben hatte.

In der kurzen Zeit von der Treppe zum Arbeitszimmer veränderte Apollon Apollonowitsch durch eigenen Willen das Zentrum seines Bewußtseins; alles Spiel des Gehirns wurde an den Rand des Gesichtsfeldes geschoben: ein Häufchen parallel gelegter Akten aber bekam seinen Platz im Zentrum jenes Feldes.

Apollon Apollonowitsch öffnete die Tür des Arbeitszimmers.

Der Schreibtisch stand auf seinem Platz, und ihn bedeckte ein Haufen von Akten; Holzscheite knisterten im Kamin; ehe er in die Arbeit versank, wärmte Apollon Apollonowitsch seine frierenden Hände am Kamin; doch das Spiel des Gehirns fuhr fort, seine nebelhaften Flächen zu bauen und begrenzte das senatorische Gesichtsfeld.

Apollon Apollonowitsch blieb in der Tür stehen — denn — wie nun anders?

Das harmlose Gehirnspiel schob sich wieder in sein Gehirn, das heißt in den Haufen von Akten und Bittgesuchen.

Apollon Apollonowitsch erinnerte sich: das Individuum hatte er schon einmal gesehen.

Das Individuum sah er ein mal — denken Sie — im eigenen Hause.

Er weiß noch: er stieg die Treppe hinab, um zum Empfang zu erscheinen; auf der Stiege stand Nikolai Apollonowitsch und unterhielt sich, über die Brüstung gelehnt, mit jemand, der unten stand: Nikolai über seine Bekanntschaften auszufragen — dazu hielt der Staatsmann sich nicht für befugt; das Taktgefühl hinderte ihn auch damals geradeheraus zu fragen:

»Sag’ mal, Nikolinka, wer ist es, der dich da besuchte, mein Engel?«

Nikolai hätte die Augen zu Boden geschlagen und hätte gesagt:

»Nun so, Vater, mich besuchen eben . . .«

Damit hätte das Gespräch sein Ende gehabt.

Deswegen hatte auch Apollon Apollonowitsch für die Person des Individuums im dunklen Mantel, das unten stand, kein Interesse gezeigt. Der Unbekannte hatte dasselbe schwarze Schnurrbärtchen und dieselben Augen, dieselben absonderlichen Augen (solchen Augen können Sie nachts in der Moskauer Kapelle des Märtyrers Panteleymon begegnen: diese Kapelle ist berühmt durch Heilung Besessener; solche Augen würden Sie auf den Photographien sehen, die den Lebensbeschreibungen bedeutender Menschen beigegeben sind; und schließlich: solche Augen sehen Sie in neuropathischen und selbst psychiatrischen Anstalten).

Schon damals hatten die Augen sich geweitet, zu spielen, zu glänzen begonnen; also war das schon einmal gewesen und wird sich vielleicht wiederholen.

»Über alles — ja, ja . . .«

»Notwendig . . .«

»Genaueste Information . . .«

Seine genauesten Informationen bekam aber der Staatsmann nicht auf direktem, sondern auf verschlungenem Wege.


Apollon Apollonowitsch sah durch die Tür seines Arbeitszimmers: Schreibtische, Schreibtische! Haufen von Akten! Über die Akten gebeugte Köpfe! Kratzen der Federn! Knistern der umgeschlagenen Blätter! Was für fieberhaft gigantische papierne Tätigkeit!

Apollon Apollonowitsch versank beruhigt in die Arbeit.

Seltsame Eigenschaften

Das Gehirnspiel des Trägers diamantener Orden hatte seltsame, sehr seltsame, höchst seltsame Eigenschaften: Sein Schädel wurde zum Behälter gedanklicher Bilder, die sofort ihre Verkörperung in dieser Gespensterwelt fanden.

Mit Rücksicht auf diesen seltsamen, sehr seltsamen, höchst seltsamen Umstand hätte besser Apollon Apollonowitsch keinen seiner müßigen Gedanken von sich geworfen; denn jeder seiner müßigen Gedanken entwickelte sich hartnäckig zu einem räumlich-zeitlichen Bilde und setzte seine — jetzt nun unkontrollierbaren — Handlungen außerhalb des senatorischen Kopfes fort.

Apollon Apollonowitsch war in gewissem Sinne wie Zeus: aus seinem Kopfe entstiegen Götter, Göttinnen und Genien. Wir haben es schon gesehen: einer dieser Genien (der Unbekannte mit dem schwarzen Schnurrbärtchen), als bloßes Bild entstanden, begann dann in der gelblichen Newa-Räumlichkeit sein wirkliches Sein; dabei behauptete er, dieser Räumlichkeit, nicht dem senatorischen Kopf, entstammt zu sein; nun hatte aber auch der Unbekannte müßige Gedanken; und auch diese besaßen die gleichen Eigenschaften.

Sie entflohen dem Hirn und wurden zu etwas Festem.

Ein dem Kopfe des Unbekannten entflohener Gedanke war, daß er, der Unbekannte, wirklich existiere; vom Newskij-Prospekt lief dieser Gedanke zurück in das Senatorhirn und befestigte in ihm das Bewußtsein, die Existenz des Unbekannten in diesem Kopfe sei — eine illusorische Existenz.

So schloß sich nun der Kreis.

Apollon Apollonowitsch war in gewissem Sinne wie Zeus: kaum wurde in seinem Kopfe die mit einem Paketchen bewaffnete Pallas — der Unbekannte — geboren, als schon aus ihm eine zweite, ebensolche Pallas hervorstieg.

Diese letzte Pallas war das senatorische Haus.

Das steinerne Ungeheuer war dem Hirn entflohen; und nun öffnet es seine gastliche Tür — vor uns.


Der Lakai stieg die Treppe hinauf; er litt an Asthma; doch ist nicht von ihm jetzt die Rede, sondern von — der Treppe: einer herrlichen Treppe! Die Stufen: weich waren sie wie die Windungen des Hirns. Doch diese Treppe zu beschreiben, über die öfters schon Minister gegangen waren, bleibt dem Autor keine Zeit, denn nun ist der Lakai schon oben im Saal . . .

Aber auch — der Saal: herrlich! Fenster und Wände: die Wände etwas kalt . . . Aber der Lakai ist schon im Salon.

Wir betrachteten das schöne Wohnhaus nach jenen allgemeinen Merkmalen, die der Senator an alle Dinge anzuwenden pflegte. —

So: —

In weiß Gott welcher Zeit einmal in die freie Natur gekommen, erblickte hier Apollon Apollonowitsch dasselbe wie wir; d. h.: er sah eine blühende Natur; für uns pflegt sie im Nu in einzelne Teile zu zerfallen: Veilchen, Butterblumen, Nelken; der Senator aber machte aus der Geteiltheit wieder eine Einheit. Wir würden natürlich gesagt haben:

»Hier ist ein Gänseblümchen.«

»Hier — ein Vergißmeinnicht . . .«

Apollon Apollonowitsch sagte einfach und kurz:

»Blumen . . .«

»Eine Blume . . .«

Unter uns gesagt: Apollon Apollonowitsch hielt alle Blumen, weiß Gott warum, für Glöckchen . . .

Mit lakonischer Kürze würde er auch sein eigenes Haus charakterisieren; für ihn bestand es aus Wänden (die bildeten Quadrate und Kuben), aus durchgeschlagenen Fenstern, aus Parkettböden, Stühlen, Tischen; weiter kamen Details . . .

Der Lakai trat ins Vorzimmer . . .

Und da wollen wir uns erinnern: alles, was an uns vorüberglitt (Bilder, Klavier, Spiegel, Perlmutter-Inkrustation an den Tischchen), kurz alles, was vorüberglitt an uns — all das konnte keine räumliche Form besitzen: all das war nur Reizung der Hirnhaut, wenn nicht am Ende ein chronisches Kranksein . . . des Kleinhirns . . .

Es entstand die Illusion eines Zimmers; sie zerfloß dann aber spurlos, und hinter der Grenze des Bewußtseins baute sie ihre nebelhaften Flächen; wenn der Diener die schwere Salontür hinter sich schloß, wenn seine Stiefel laut auf dem Korridorboden aufschlugen — das alles war nur ein Pochen in den Schläfen: Apollon Apollonowitsch litt an Blutandrang gegen den Kopf, dessen Ursache die Hämorrhoiden waren.

Hinter der zugeschlagenen Tür war kein Salon: es war . . . Hirnraum: Windungen, graue und weiße Hirnmasse, die dicken Wände aber, die aus funkelnden Pünktchen bestanden (bedingt durch den Blutandrang), diese nackten Wände waren nur das bleierne Schmerzgefühl in den Nacken-, Stirn-, Schläfen- und Scheitelknochen, die zu dem würdigen Schädel gehörten.

Das Haus — dieses steinerne Ungeheuer war kein Haus; es war ein Senatorkopf: Apollon Apollonowitsch saß vor dem Tisch, über den Akten, durch Migräne bedrückt, mit dem Empfinden: sein Kopf sei sechsmal so groß und zwölfmal so schwer als er sein sollte.

Seltsame, sehr seltsame, höchst seltsame Eigenschaften.

Unsere Rolle

Die Petersburger Straßen haben eine unleugbare Eigenschaft: sie verwandeln die Passanten in Schatten; Schatten aber verwandeln sie in Menschen. Wir sahen es an dem Beispiel mit dem geheimnisvollen Unbekannten.

Als der Gedanke im Senatorhirn entstanden, wurde er auf dem Newskij-Prospekt zu etwas Festem und folgt nun dem Senator durch unsere ganze bescheidene Erzählung.

Wir haben den Weg von der Straßenkreuzung bis zur Millionenstraße beschrieben, den der Unbekannte gegangen war; wir beschrieben auch, wie er in dem kleinen Restaurant saß, bis zu dem vielsagenden »Plötzlich«, bei dem alles abbrach; mit dem Unbekannten geschah etwas plötzlich; eine unangenehme Empfindung überkam ihn.

Untersuchen wir jetzt seine Seele; doch erst untersuchen wir das kleine Restaurant; dafür haben wir Gründe; wenn wir, der Autor, mit pedantischer Genauigkeit den Weg eines ersten besten Unbekannten beschreiben, so glaube uns der Leser: die Zukunft wird unser Verhalten rechtfertigen.

Als der Unbekannte hinter der Tür des kleinen Restaurants verschwunden war und wir den Drang verspürten, ihm zu folgen, wandten wir uns um und bemerkten zwei Silhouetten, die langsam den Nebel durchquerten; eine der Silhouetten war behäbig und groß, doch ihr Gesicht konnten wir nicht unterscheiden (Silhouetten besitzen eben kein Gesicht); wir bemerkten jedoch: einen neuen aufgespannten seidenen Regenschirm, blendend glänzende Gummischuhe und eine Pelzmütze mit Ohrenklappen.

Der Hauptbestand der zweiten Silhouette war die ausgemergelte Gestalt eines kleinen Männchens; das Gesicht zeichnete sich deutlich genug, doch wir sahen es nicht, gefesselt von der riesigen Warze.

Wir taten, als betrachteten wir die Wolken und ließen das dunkle Paar an uns vorbeigehen; vor der Tür des Restaurants blieb besagtes Paar stehen und wechselte einige Worte:

»Hm?«

»Hier . . .«

»So dacht’ ich’s mir: Vorkehrungen sind getroffen; für den Fall, daß Sie mir ihn an der Brücke nicht zeigten.«

»Und welche sind die Vorkehrungen?«

»Ich ließ jemand ins Restaurant sich hineinsetzen.«

»Ach, wozu Sie nur Vorkehrungen treffen! Ich habe Ihnen gesagt: hundertmal hab’ ich’s Ihnen gesagt . . .«

»Verzeihung, ich tat es aus Eifer . . .«

»Erst hätten Sie sich mit mir beraten sollen . . . Ihre Vorkehrungen sind gut . . .«

»Nun sagen Sie es selbst . . .«

»Ja, aber Ihre guten Vorkehrungen . . .«

»Hm . . .«

»Wie? . . . Ihre guten Vorkehrungen werden alles verwirren . . .«


Das Paar machte fünf Schritte, blieb stehen. Und wieder wechselte es einige Worte:

»Hm! . . . Ich muß nun . . . Hm! . . . Ihnen Erfolg wünschen . . .«

»Wie können da Zweifel bestehen: das Unternehmen ist im Zug wie ein Uhrmechanismus. Wenn ich selbst nicht dahinterstünde — ich sagte Ihnen aus Freundschaft: die Sache ist sicher.«

»Hm?«

»Was meinten Sie?«

»Verfluchter Schnupfen.«

»Ich spreche von der Sache . . .«

»Hm . . .«

»Die Seelen sind wie Instrumente gestimmt: und bilden ein Konzert — was meinen Sie? — Dem Dirigenten hinter den Kulissen bleibt nur, das Stäbchen zu schwingen. Senator Ableuchow wird ein Zirkular verfassen, der Unbekannte aber . . .«

»Verfluchter Schnupfen . . .«

»Nikolai Apollonowitsch wird . . . Kurz: ein Konzerttrio, und Rußland ist der Zuschauerraum; Sie verstehen mich? Verstehen? Warum schweigen Sie immer?«

»Hören Sie: Sie sollten Ihr Gehalt beziehen . . .«


»Nein, Sie können mich nicht verstehen!«

»Ich kann’s schon; hm — hm — hm — wo soll einer nur so viel Taschentücher hernehmen?«

»Was ist los?«

»Na, der Schnupfen! . . . Und wird das Tier — hm — hm — hm — nicht inzwischen Reißaus nehmen . . .«

»Aber wo . . .«

»Sonst nehmen Sie lieber Ihr Gehalt . . .«

»Gehalt! Mir handelt es sich nicht um das Gehalt; ich bin Artist, verstehen Sie, Artist!«

»In seiner Art . . .«

»Wie?«

»Nichts: ich kuriere mich mit Talglicht.«

Die Figur zog ein ganz durchnäßtes Taschentuch hervor und begann sich wieder zu räuspern.

»Ich spreche ja von der Sache. Sie können es so ausrichten: Nikolai Apollonowitsch hat das Versprechen gegeben . . .«

»Talglicht ist ein sehr gutes Mittel gegen Schnupfen . . .«

»Richten Sie bitte alles aus, was ich Ihnen sagte: die Sache ist organisiert . . .«

»Du reibst abends die Nase ein — und am Morgen ist der Schnupfen verschwunden . . .«

»Ich sage nochmals, die Sache ist organisiert wie ein Uhrwerk . . .«

»Die Nase ist dann frei, du kannst wieder atmen . . .«

»Wie ein Uhrmechanismus! . . .«

»Ha?«

»Wie ein Uhr—mecha—nismus, zum Teufel.«

»Meine Ohren sind belegt, kann kaum hören.«

»Uhr—en—mech . . .«

»Apschi! . . .«

Das Taschentüchlein spazierte wieder unter die Warze: zwei Schatten verloren sich wieder in naßkaltem Grau. Bald tauchte der Schatten mit der Ohrenklappenmütze aus dem Nebel auf, blickte zerstreut auf die Spitze der Petropawlowschen Festung hinüber.

Und trat ins Restaurant ein.

Und dabei glänzte fettig sein Gesicht

Leser!

Du kennst das »Plötzlich«. Warum versteckst du dann wie der Vogel Strauß den Kopf in die Federn, wenn du das verhängnisreiche, unabwendbare »Plötzlich« nahen siehst?

Höre also . . . Dein »Plötzlich« schleicht hinter deinem Rücken; du fühlst dich sehr beunruhigt: im Rücken entsteht eine unangenehme Empfindung, als wälzte sich gegen ihn wie gegen eine offene Tür eine Schar Unsichtbarer; du wendest dich und bittest die Wirtin:

»Gnädige Frau, gestatten Sie, daß ich die Tür schließe; ich ertrag’s nicht, mit dem Rücken gegen eine offene Tür zu sitzen.«

Dein »Plötzlich« nährt sich vom Spiel deines Hirns; gern frißt es wie ein Hund die Gemeinheit deiner Gedanken; es schwillt an, du aber schmilzt dann wie ein Licht; sind deine Gedanken gemein und erfaßt dich ein Zittern, dann beginnt das »Plötzlich«, vollgefressen an allerhand Gemeinheit, wie ein gemästeter, unsichtbarer Köter vor dir her zu laufen, und ein Fremder bekommt den Eindruck, als seiest du durch eine schwarze unsichtbare Wolke vor den Blicken verdeckt.


Wir verließen unseren Unbekannten im kleinen Restaurant. Plötzlich wandte sich der Unbekannte rasch um: es schien ihm, als kröche ein widerwärtig-schleimiges Etwas ihm hinter den Kragen und über das Rückgrat hinweg. Hinter seinem Rücken war aber nichts; düster gähnte die Türöffnung des Einganges, und durch die Tür wälzte sich das Unsichtbare.

Da wurde es ihm klar: die von ihm erwartete Person schritt jetzt die Treppe herauf; gleich, sofort wird sie eintreten; aber sie ist noch nicht eingetreten; in der Tür hat sich noch niemand gezeigt.

Doch während mein Unbekannter sich von der Tür abwandte, trat auch schon der unangenehme Dicke herein; während er sich dem Unbekannten näherte, knarrte der Fußboden unter seinen Füßen; sein gelbliches, rasiertes, leicht zur Seite geneigtes Gesicht schwamm gemächlich in dem eigenen Doppelkinn, und dabei glänzte fettig sein Gesicht.

Da wandte sich mein Unbekannter um; die Person winkte ihm freundlich mit der Ohrenklappenmütze:

»Alexander Iwanowitsch . . .«

»Lipantschenko!«

»Ich bin’s . . .«

»Sie ließen auf sich warten.«

An dem Tische des Unbekannten Platz nehmend, rief die Person selbstzufrieden aus:

»Kaffee . . . Und — hören Sie — einen Kognak: meine Flasche haben Sie dort mit meinem Namen vermerkt.«

Und um sie herum hörte man:

»Hast du mitgetrunken?«

»Jawohl . . .«

»Mitgegessen?«

»Jawohl . . .«

»Was bist du dann, mit Verlaub, für ein Schwein . . .«


»Vorsichtig!« rief mein Unbekannter: der Dicke, den der Unbekannte mit Lipantschenko ansprach, wollte seinen Arm auf den Zeitungsfetzen legen, der über dem Paket lag.

»Was denn?« Da hob Lipantschenko den Zeitungsfetzen, sah das nasse Paketchen, und seine Lippen erbebten.

»Das . . . das . . . ist es?«

»Ja, das — ist es . . .«

Lipantschenkos Lippen bebten noch immer.

»Wie sind Sie doch unvorsichtig, Alexander Iwanowitsch.«

Lipantschenko streckte seine hölzernen Finger aus; die falschen Steine seiner Ringe funkelten auf diesen geschwollenen Fingern mit den abgebissenen Nägeln (auf den Nägeln sah man Spuren derselben braunen Farbe, die seine Haare zeigten; ein aufmerksamer Beobachter würde daraus schließen: die Haare der Person waren gefärbt).

»Eine Bewegung nur (hätte ich den Ellbogen darauf gelegt), dann wäre es zu . . . einer Katastrophe gekommen . . .«

Und mit außerordentlicher Vorsicht legte die Person das Paket auf den Stuhl.

»Ha, wir wären dann, beide«, witzelte unangenehm der Unbekannte. — »Wir würden beide . . .«

Er schien sich zu weiden an der Verlegenheit der Person, die er — wie wir von uns hinzufügen — haßte.

»Nicht meinetwegen, natürlich, sondern . . .«

»Gewiß, Ihretwegen nicht, sondern . . .«


Und um sie herum hörte man:

»Mit ‚Schwein‘ haben Sie mich nicht zu beschimpfen . . .«

»Aber ich schimpfte ja doch gar nicht.«

»Freilich schimpften Sie: Sie warfen es mir vor, daß Sie gezahlt haben . . . Was ist dabei? Neulich haben Sie gezahlt, heute zahl’ ich . . .«

»Laß dich küssen, Freund, für diese Tat . . .«

»Essen Sie nur, essen Sie, das wird schon richtiger sein.«

»Na, das ‚Schwein‘ nicht übelnehmen und essen — essen tu’ ich auch so schon . . .«


»Wissen Sie, Alexander Iwanowitsch, wissen Sie, mein Lieber, nehmen Sie dieses Paketchen,« — Lipantschenko schielte hinüber — »und tragen Sie’s gleich zu Nikolai Apollonowitsch.«

»Ableuchow?«

»Eben: zu ihm; zur Aufbewahrung.«

»Aber gestatten Sie, aufbewahrt kann das Paket auch bei mir werden.«

»Das ist ungeschickt: Sie kann man abfassen; dort aber ist es sicher. Immerhin: das Haus des Senators Ableuchow . . . Übrigens, haben Sie schon von dem letzten Wort des ehrenvollen Alterchens gehört?«

Da neigte sich der Dicke zum Unbekannten und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Sch—sch—sch . . .«

»Ableuchow?«

»Sch . . .«

»Ableuchow?«

»Sch—sch—sch . . .«

»Mit Ableuchow?«

»Jawohl, nicht mit dem Senator, sondern mit des Senators Sohn: wenn Sie ihn besuchen, übergeben Sie ihm gefälligst zugleich mit dem Paket auch dieses Briefchen: da ist’s . . .«

Lipantschenkos schmalstirniger Kopf wälzte sich wie eine Last gegen das Gesicht des Unbekannten; in ihren Höhlen lauerten prüfend zwei bohrende Äuglein; die Lippe bebte leicht und sog an der Luft. Der Unbekannte mit dem Schnurrbärtchen horchte aufmerksam und suchte im Lärm der Stimmen den Inhalt des Geflüsterten genau zu erfassen. Kaum hörbar flüsterten die widerwärtigen Lippen, und es schien, als läge darin ein furchtbarer Inhalt, als flüsterten sie von Welten und Planeten; bei genauem Zuhören aber erwies sich der Inhalt von einfachster Alltäglichkeit.

»Sie übergeben ihm das Briefchen . . .«

»Wie, steht denn Nikolai Apollonowitsch selbst in Beziehungen?«

Die Person zwinkerte mit den Äuglein und schnalzte mit der Zunge.

»Ich dachte, nur durch mich wird der Verkehr mit ihm vermittelt . . .«

»Sie sehen nun — das stimmt nicht . . .«


Um sie herum hörte man:

»Iß, Freund, iß . . .«

»Hau’ mir ein Stück vom Aspikfleisch herunter.«

»Im Essen liegt die Wahrheit . . .«

»Was ist die Wahrheit?«

»Wahrheit ist das Eßbare . . .«

»Das weiß ich auch . . .«

»Wenn du’s weißt — dann ist’s gut. Gib den Teller her und iß . . .«


Der dunkelgelbe Anzug Lipantschenkos erinnerte den Unbekannten an die dunkelgelbe Tapete seines Zimmers auf der Wassiljewskiinsel — an jene Farbe, die sich für ihn mit der Schlaflosigkeit der weißen Frühlings- und der düsteren Herbstnächte verband; und diese böse Schlaflosigkeit war es wohl, die jetzt vor ihm ein unheilvolles Gesicht mit schmalen, mongolischen Augen, das ihn so oft von jener gelben Tapete angesehen hatte, hervorrief.


»Verzeihung, Lipantschenko, sind Sie Mongole?«

»Warum diese sonderbare Frage?« . . .

»So, mir schien’s . . .«

»In jedem Russen kreist ja mongolisches Blut . . .«

Was für Kostümeur?

Die Appartements Nikolai Apollonowitschs bestanden aus Schlaf-, Arbeits- und Empfangszimmer.

Das Schlafzimmer: ein riesiges Bett, darauf eine rote Atlasdecke; ein feiner Spitzenüberwurf über die hoch aufgeschlagenen Kopfkissen. An den Wänden des Arbeitszimmers eichene Bücherschränke mit Seidenvorhängen, die leicht auf ihren Messingringelchen nach links und rechts glitten; eine sorgliche Hand konnte den Inhalt der Fächer vor dem Beschauer verdecken oder aber eine Reihe von Einbandrücken sehen lassen, die mit der Aufschrift »Kant« geziert waren.

Die Sitzmöbel hatten dunkelgrünen Bezug, und herrlich war die Büste . . . eben desselben Kant natürlich.

Seit zwei Jahren stand Nikolai Apollonowitsch nie vor Mittag auf. Zweieinhalb Jahre vorher pflegte er aber in früherer Stunde zu erwachen: um neun; und um halb zehn erschien er in geschlossener Studentenuniform beim Familienfrühstück.

Vor zweieinhalb Jahren spazierte Nikolai Apollonowitsch nicht im bucharischen Schlafrock im Hause umher; das rote Käppchen hing nicht im orientalischen Salon; vor zweieinhalb Jahren verließ Anna Petrowna, die Mutter Nikolai Apollonowitschs, die Gattin Apollon Apollonowitschs, für immer den häuslichen Herd, inspiriert von einem italienischen Sänger. Nach ihrer Flucht mit dem Sänger erschien Nikolai Apollonowitsch auf dem Parkett des erkalteten häuslichen Herdes im bucharischen Schlafrock; die täglichen Begegnungen von Vater und Sohn beim Morgenkaffee hörten von selbst auf. Den Kaffee bekam Nikolai Apollonowitsch ins Bett.

Zu erheblich früherer Stunde als der Sohn geruhte Apollon Apollonowitsch seinen Kaffee zu trinken.

Vater und Sohn trafen sich nur bei Tische; und auch da nur ganz kurz; am Morgen aber sah man Nikolai Apollonowitsch im Schlafrock; seine Füße staken in pelzverbrämten, tatarischen Pantöffelchen, auf dem Kopfe aber hatte er ein rotes Käppchen.

Der glänzende junge Mann wurde zum orientalischen Menschen.

Nikolai Apollonowitsch hatte soeben einen Brief erhalten; einen Brief mit fremder Schrift; armselige Virsche von erotischer Nuance mit der verblüffenden Unterschrift: »Die flammende Seele«. Nikolai Apollonowitsch begann, um die Virsche genauer zu studieren, hilflos durchs Zimmer zu kreisen; nach der Brille suchend, warf er Bücher, Federhalter und andere Kleinigkeiten durcheinander und brummte vor sich hin:

»Ah — ah . . . Wo ist doch nur die Brille?«

»Hol’s der Teufel . . .«

»Verloren? . . .«

»Ha?«

»Nein, so was!«

Nikolai Apollonowitsch pflegte ebenso wie Apollon Apollonowitsch mit sich selber zu sprechen.

Seine Bewegungen waren rasch wie die Bewegungen seines exzellenten Vaters; wie Apollon Apollonowitsch war er klein von Gestalt, und das stets lächelnde Gesicht hatte denselben ruhelosen Blick; versank er jedoch in Betrachtung irgendeines Gegenstandes, dann wurde allmählich dieser Blick steinern: trocken, klar und kalt zeichneten sich die Linien seines Antlitzes, wie das eines Heiligenbildes, überraschend durch besonderen, edlen Aristokratismus: das Edle des Gesichts zeigte sich besonders in der Stirn, die wie gemeißelt war, mit angeschwollenen Äderchen: das rasche Pulsieren dieser Äderchen war ein deutliches Voranzeichen frühzeitiger Sklerose.

Diese bläulichen Äderchen entsprachen dem Blau um die riesigen kornblumenblauen Augen (nur in Augenblicken der Erregung waren diese Augen durch die erweiterten Pupillen schwarz).

Wir sehen Nikolai Apollonowitsch vor uns mit seinem Käppchen auf dem Kopf; würde er es abnehmen, erblickten wir eine üppige flachsweiße Mähne, die den Trotzausdruck dieses kalten, fast rauhen Antlitzes milderte; schwerlich konnte man bald wieder bei einem Erwachsenen Haare von solcher Farbe finden; oft finden wir sie nur bei Dorfkindern, besonders in Weißrußland.

Er warf den Brief unachtsam fort und setzte sich vor ein aufgeschlagenes Buch hin; die gestrige Lektüre, eine Abhandlung, entstand deutlich vor ihm. Er erinnerte sich des Kapitels und der Seite, des lenksamen Ganges der Gedanken und der am Rand des Buches gemachten Notizen; sein Gesicht, noch immer streng und klar, wurde lebhaft von Gedanken belebt.

Hier in seinem Zimmer wuchs Nikolai Apollonowitsch in Wahrheit zu einem sich selbst überlassenen Zentrum; er wandelte sich in eine Serie aus dem Zentrum entstammender, logischer, für Gedanken und Seele vorbestimmender Voraussetzungen, und dieser Tisch da: er war hier das einzige Zentrum des Alls — des denkbaren und undenkbaren, alle Äonen der Zeit zyklisch durchlaufend.

Aber kaum gelang es heute Nikolai Apollonowitsch, sich den Kleinlichkeiten des Lebens zu entziehen, dem Wirbel allmöglicher Unvernehmbarkeiten, genannt Leben und Welt; kaum gelang es ihm, sich zu sich selbst zu erheben, als eine dieser Unvernehmbarkeiten sich in seine Welt gedrängt hat:

Nikolai Apollonowitsch riß sich von seinem Buche los, es wurde geklopft.

»Na? . . .«

»Was ist?«

Hinter der Tür antwortete eine dumpfe, ehrfurchtsvolle Stimme:

»Dort . . .«

». . . fragt jemand nach Ihnen . . .«

Wenn Nikolai Apollonowitsch sich auf einen Gedanken konzentrierte, sperrte er die Tür seines Arbeitszimmers ab: dann begann es ihm zu scheinen, als verwandelten sich augenblicklich er selbst und die Gegenstände des Zimmers aus Dingen der realen Welt in nur gedanklich erfaßbare Symbole rein logischer Konstruktionen; der Zimmerraum und sein eigener Körper, der die Gefühlsfähigkeit verlor, wurden zum einzigen Sein-Chaos, von ihm das All genannt; sein Bewußtsein aber, abgesondert vom Körper, verband sich unmittelbar mit der elektrischen Lampe des Schreibtisches, von ihm genannt »Sonne des Bewußtseins«. So hinter der abgesperrten Tür, Schritt für Schritt seine zur Systemeinheit geschlossenen Sätze überdenkend, fühlte er seinen Körper sich in das »All«, d. h. ins Zimmer, ergießen; der Kopf dieses Körpers aber fand seinen Platz im dickbäuchigen kleinen Zylinder der elektrischen Lampe mit dem zierlichen Schirm.

Und so sich in einen anderen Raum versetzend, wurde Nikolai Apollonowitsch ein wahrhaft schöpferisches Wesen.

Das ist es, warum er es liebte, sich einzusperren: eine Stimme, ein Schritt oder ein fremdes Geräusch verwandelte das All in ein Zimmer, das Bewußtsein in eine Lampe und zerstörte in Nikolai Apollonowitsch den willkürlichen Bau der Gedanken.

So auch jetzt.

»Was ist’s?«

»Ich höre nicht . . .«

Aus den Fernen des Raumes antwortete des Lakaien Stimme:

»Jemand ist hier.«


Das Gesicht Nikolai Apollonowitschs bekam den Ausdruck der Zufriedenheit.

»Ah, das ist wohl der Kostümeur? Er brachte mir das Kostüm.«

Was ist es nur für ein Kostümeur?

Nikolai Apollonowitsch ging hinaus, bog sich über die Brüstung der Treppe und rief hinunter:

»Sind Sie’s?«

»Der Kostümeur?«

»Vom Kostümeur?«

»Hat er das Kostüm geschickt?«

Und wieder fragen wir von uns aus: Was ist das nur für ein Kostümeur?


Im Zimmer Nikolai Apollonowitschs lag nun ein Karton. Er sperrte die Tür ab; geschäftig zerschnitt er die Kordel; hob den Deckel; dann zog er aus dem Karton: erst eine kleine Maske mit schwarzem Bart aus Spitzen, dann folgte ein hellroter prächtiger Domino mit rauschenden Falten.

Bald stand er, ganz in Atlas und Rot, vor dem Spiegel, die Maske über dem Gesicht hochhaltend, die schwarze Spitze des Bartes verschob sich und fiel auf die Schultern, rechts und links, wie zwei phantastische Flügel; und zwischen den schwarzen Spitzenflügeln blickte aus dem Spiegel qualvoll-seltsam im Halbdunkel des Zimmers das Eigentliche: das Gesicht, sein Gesicht, sein eigenes; Sie würden sagen, dort im Spiegel sah Nikolai Apollonowitsch nicht sich selbst, sondern einen unbekannten, blassen, sehnsuchtskranken — Dämon des Raumes.

Nach dieser Maskerade packte Nikolai Apollonowitsch mit ungemein zufriedenem Gesicht erst den roten Domino, dann auch die Maske in den Karton.

Feuchter Herbst

Der feuchte Herbst lagerte über Petersburg, und traurig glomm der septemberliche Tag.

Wie ein grünlicher Schwarm zogen Wolkenflocken dahin, und verdichtet zum gelblichen Rauch, fielen sie auf die Dächer wie eine Drohung nieder.

Über den Himmel einen Trauerbogen spannend, erhob sich ein dunkler Rußstreifen von den Rauchfängen der Dampfer, der seinen Schwanz in die Newa versenkte.

Und die Newa dröhnte, stieß durch die Pfeife des kleinen Dampfers gellende Schreie aus, ihre stählernen Wasserschuppen zerbrachen an den steinernen Pfeilern; und ihre Zungen leckten den Granit; mit ihren kalten Newawinden überfiel sie und zerrte an Mützen, Schirmen, Mänteln. Und überall in der Luft lagerte die fahlgraue Fäulnis; von dort aber, wo auf dem Felsen3) der nasse Reiter steht, blinkte das gelbe, grünüberzogene Kupfer zur Newa, in die fahlgraue Fäulnis hinüber.

Auf diesem düsteren Fond des schwänzigen, überhängenden Rußes der feuchten Kaisteine, die Augen auf das bazillenerfüllte, trübe Newawasser gerichtet, zeichnete sich deutlich die Silhouette Nikolai Apollonowitschs im grauen Studentenmantel und seitlich sitzender Studentenmütze ab. Langsam bewegte sich Nikolai Apollonowitsch gegen die graue, dunkle Brücke.

Vor der großen schwarzen Brücke blieb er stehen.

Ein unangenehmes Lächeln erleuchtete für einen Augenblick sein Gesicht und erlosch gleich wieder; die Erinnerung an eine unglückliche Liebe hatte ihn erfaßt, und er wurde von ihr wie vom Aufbrausen eines kalt-kalten Windes bedrängt; Nikolai Apollonowitsch erinnerte sich einer nebligen Nacht; in dieser Nacht hatte er sich übers Brückengeländer gebeugt; er hatte sich umgewandt und gesehen, daß niemand ihm zusah; er hatte den Fuß hochgehoben, und sein glatt-blanker Gummischuh hatte sich übers Geländer geschwungen und — so war er — mit hochgehobenem Fuß stehengeblieben; es sollte scheinen, daß daraus weitere Folgen sich ergeben müßten; doch . . . Nikolai Apollonowitsch war mit hochgehobenem Fuß stehengeblieben.

Einige Augenblicke später hatte er seinen Fuß wieder zurückgezogen.

Damals eben reifte in ihm der unüberlegte Plan: einer leichtsinnigen Partei ein furchtbares Versprechen zu geben.

Dieser unglücklichen Tat jetzt gedenkend, lächelte Nikolai Apollonowitsch in unangenehmster Weise. So bog er auf den Newskij-Prospekt ein; es begann zu dämmern; in den Auslagen blinkten bald da, bald dort Lichter auf.

»Ein schöner Mann«, hörte Nikolai Apollonowitsch immer wieder sagen.

»Eine antike Maske . . .«

»Apollo vom Belvedere.«

»Ein schöner Mann . . .«

So sprachen die ihm begegnenden Damen wohl von ihm.

»Dieses blasse Gesicht . . .«

»Dieses marmorne Profil . . .«

»Göttlich . . .«

Die ihm Begegnenden sagten es zueinander. Wäre Nikolai Apollonowitsch aber mit einer der Damen ins Gespräch gekommen, sie würde für sich gedacht haben:

»Scheusal . . .«

Dort, vor einer Einfahrt, wo zwei melancholische Löwen spöttisch die Tatzen auf die grauen Granitplatten legten, dort, an diesem Platz, blieb Nikolai Apollonowitsch stehen und sah verwundert in den Rücken eines vor ihm schreitenden Offiziers. Er holte diesen ein:

»Ssergeij Ssergeijewitsch!«

Der Offizier wandte sich um und sah mit einem Schatten des Ärgers durch die blauen Brillengläser, wie, sich ihm nähernd, die kleine Figur im Studentenmantel von der Einfahrt herkam, wo zwei melancholische Löwen mit glatten Granitmähnen spöttisch die Tatzen übereinander gelegt haben. Für einen kurzen Augenblick wurde das Gesicht des Offiziers von einem Gedanken erleuchtet; das leichte Beben der Lippen ließ vermuten, daß er erregt war; als schwankte er: erkennen oder nicht.

»Ah, guten Abend! Wohin?«

»Ich gehe zur Pantelemonstraße«, log Nikolai Apollonowitsch, um mit dem Offizier durch die Moika zu gehen.

»Gehen wir zusammen, bitte.«

»Wohin gehen Sie?« log wieder Nikolai Apollonowitsch, um mit dem Offizier durch die Moika zu gehen.

»Ich — nach Hause.«

»Dann haben wir denselben Weg.«

Beide schienen das Berühren einer schweren Vergangenheit vermeiden zu wollen, und sie leiteten sogleich das Gespräch auf anderes über: sie sprachen vom Wetter, dann davon, daß die Unruhe der letzten Tage ungünstig auf die philosophischen Arbeiten Nikolai Apollonowitsch’ gewirkt, von den Schwindeleien, die der Offizier in der Proviantierungskommission (er versorgte dort irgendein Amt) aufgedeckt haben wollte.

So unterhielten sie sich während des ganzen Weges.

Und nun kam die Moikastraße.

»Adieu, also . . . Sie gehen ja weiter?«

Das Herz Nikolai Apollonowitschs begann eifrig zu pochen; etwas wollte er sagen; und doch, nein: er sagte es nicht; einsam stand er nun vor der zugeschlagenen Tür; ihn packte die Erinnerung an eine verunglückte Liebe, vielmehr — an einen sinnlichen Trieb — und blau pulsierten die Äderchen an den Schläfen; er sann jetzt über seine Rache; er sann über die boshafte Verhöhnung seiner Gefühle von seiten der, die hinter diesem Vestibül wohnte; schon seit nahezu einem Monat sann er über seine Rache; doch — jetzt kein Wort mehr davon!


Nikolai Apollonowitsch sah nicht den Newskij-Prospekt, noch immer stand das graue Haus vor seinen Augen; Fenster, hinter den Fenstern Schatten; hinter den Fenstern vielleicht lustige Stimmen: die des gelben Kürassiers, Baron Ommau-Ommergau; die des blauen Kürassiers, Graf Awen; und ihre — ihre Stimme . . . Da sitzt Ssergeij Ssergeijewitsch, der Offizier, und wirft vielleicht unter den Witzen dazwischen:

»Und ich bin jetzt mit Nikolai Apollonowitsch gegangen.«

Im Arbeitszimmer eines hohen Verwaltungsamtes

Hier, im Arbeitszimmer des hohen Verwaltungsamtes, wuchs Apollon Apollonowitsch zu einem wahrhaften Zentrum heran: in eine Serie von Staatsämtern, Abteilungen und grünen Tischen. Hier war er, der Kraft aussendende Punkt, der Kreuzungspunkt der Kräfte, und der Impuls unzähliger, reich gegliederter Manipulationen. Hier war Apollon Apollonowitsch eine Kraft im Newtonschen Sinne; Kraft im Newtonschen Sinne aber ist, wie Sie sicher wissen, eine okkulte Kraft.

Hier war er die letzte Instanz.

Apollon Apollonowitsch war heute besonders genau: bei Entgegennahmen der Berichte winkte er kein einziges Mal mit dem nackten Schädel; Apollon Apollonowitsch fürchtete Schwäche zu zeigen: bei Erfüllung der amtlichen Pflichten! . . . Schwer fiel es ihm heute, sich zur logischen Klarheit zu erheben: weiß Gott wieso — doch Apollon Apollonowitsch kam zu dem Schlusse, daß sein eigener Sohn Nikolai — ein ausgemachter Schuft sei . . .


Im Begriff, vor die Schar wartender Bittsteller zu treten, lächelte Apollon Apollonowitsch; dieses Lächeln aber kaum aus Schüchternheit: was mochte nur seiner hinter der Tür harren . . .

Apollon Apollonowitsch verbrachte sein Dasein zwischen zwei Schreibtischen, zwischen dem seines eigenen Arbeitszimmers und dem des Verwaltungsamtes. Ein dritter beliebter Ort war für ihn sein Wagen.

Und nun war er — schüchtern.

Schon ging die Tür auf; der Sekretär, ein junger Mann mit einem etwas liberal über die Bruststärke hängenden Orden, flog der hohen Persönlichkeit entgegen, und dabei knisterte ehrfurchtsvoll der überstärkte Rand seiner schneeweißen Manschette. Auf seine schüchterne Frage brüllte ihn Apollon Apollonowitsch an:

»Nein, nein! . . . Machen Sie so, wie ich gesagt habe . . .«

Die kalten Finger

Apollon Apollonowitsch Ableuchow im grauen Mantel und hohen schwarzen Zylinder mit steinernem, an einen Briefbeschwerer mahnendem Gesicht, sprang rasch aus dem Wagen und lief über die Stufen des Entresols, im Gehen den schwarzen Wildlederhandschuh herunterstreifend.

Rasch trat er ins Vorzimmer. Der Zylinder wurde mit Vorsicht dem Lakai überreicht. Mit derselben Vorsicht wurden Mantel, Portefeuille und Cachenez übergeben.

Apollon Apollonowitsch stand vor dem Lakai in Nachdenken versunken; plötzlich wandte er sich an ihn mit der Frage:

»Haben Sie die Freundlichkeit, mir zu sagen: kommt öfters hierher ein junger Mann — ja: ein junger Mann?«

»Ein junger Mann?«

Verlegenes Schweigen: Apollon Apollonowitsch fand keine andere Formulierung seines Gedankens. Der Lakai aber war nicht imstande, zu erraten, von welchem jungen Mann der gnädige Herr sprach.

»Junge Leute, Exzellenz, kommen hierher selten . . .«

»Na, und . . . junge Leute mit Schnurrbärtchen?«

»Mit Schnurrbärtchen?«

»Mit schwarzen . . .«

»Mit schwarzen?«

»Na ja, und . . . in einem Mantel . . .«

»Alle kommen in Mänteln . . .«

»Ja, aber mit aufgeschlagenem Kragen . . .«

Etwas erleuchtete den Diener.

»Ah, Sie sprechen von dem, der . . .«

»Na ja, von dem . . .«

»Einmal war so einer hier . . . er kam zum jungen Herrn: aber es ist schon lange her; ja, jawohl . . . der kommt schon hie und da . . .«

»Wie denn?«

»Jawohl, ja!«

»Mit Schnurrbärtchen?«

»Ganz richtig!«

»Mit schwarzem?«

»Mit schwarzem Schnurrbärtchen!«

»Und einem Mantel mit aufgeschlagenem Kragen?«

»Ganz richtig . . .«

Apollon Apollonowitsch stand einen Augenblick wie angewurzelt da, dann plötzlich ging Apollon Apollonowitsch weiter.

Die Treppe war mit grauem Plüschteppich bedeckt; die Treppe war — naturgemäß — von schweren Wänden begrenzt; diese Wände waren mit grauen Plüschteppichen bespannt. An den Wänden blinkten die Ornamente altertümlicher Waffen, unter einem rostgrünen Schild glänzte das Gold einer litauischen Mütze; es funkelte der kreuzförmige Griff eines Ritterschwertes; hier rosteten Schwerter; dort neigten sich, schwer übereinander, Hellebarden; bunt in seinem Matt zeichnete sich der vielringelige Panzer; und mit dem Sechserlauf nach unten hing da eine alte Pistole.

Oben über der Treppe befand sich eine Balustrade; eine weiße Niobe hob hier auf einem Sockel aus mattweißem Alabaster ihre alabasternen Augen gen Himmel.

Sich mit der knochigen Hand auf den geschliffenen Kristallgriff stützend, öffnete Apollon Apollonowitsch mit Nachdruck die Tür; kalt klangen in dem riesigen, übermäßig in die Länge gezogenen Saal seine Schritte.

So geschieht’s immer

Über den leeren Petersburger Straßen schwebten arm beschienene Undeutlichkeiten; jagend überholten einander abgerissene Wolkenflocken.

Ein phosphoreszierender Fleck flog matt und tot am Himmel; in phosphoreszierendem Glanz lag neblig des Firmamentes Tiefe, und davon durchglänzt war das Eisen der Dächer und Rauchfänge. Da floß das grüne Wasser des Moikakanals, und an einem seiner Ufer erhob sich das dreistöckige Haus mit seinen fünf weißen Säulen. Dort auf dem lichten Fond des lichten Gebäudes schritt langsam ein Kürassier Ihrer Majestät: ein goldener, glitzernder Helm saß auf seinem Kopfe.

Und die silberne Taube über dem Helm breitete weit ihre Flügel aus.

Nikolai Apollonowitsch, parfümiert und rasiert, ging, gehüllt in Pelz, über die Moika; sein Kopf war in den Mantel gesunken, und seltsam leuchteten die Augen; in der Seele erhoben sich Schauer — die keinen Namen besaßen; in ihr sang etwas Banges, Süßes.

Er dachte: dies da — ist dies auch Liebe? Er erinnerte sich: es war eine neblige Nacht, er rannte aus jenem Vestibül dort heraus und lief über die eiserne Petersburger Brücke, um dort auf der Brücke . . .

Er erbebte.

Eine Lichtgarbe flog an ihm vorüber: ein schwarzer Hofwagen raste vorbei; an den leuchtenden Fenstervertiefungen jenes Hauses glitten seine roten, wie blutunterlaufenen Laternen vorbei; in die schwarze, strömende Mainacht gossen diese Laternen für kurze Augenblicke Spiel hinein und Glanz; der gespensterhafte Abriß vom Dreimaster des Lakais und der Abriß von flatterndem Uniformkragen huschten zugleich mit dem Licht aus dem Nebel, um sich im Nebel zu verlieren . . .

Nikolai Apollonowitsch stand kurze Zeit nachdenklich vor dem Haus; wild schlug das Herz in seiner Brust — plötzlich verschwand er im wohlbekannten Vestibül.

In früherer Zeit trat er jeden Abend hier ein; jetzt hat er über zweieinhalb Monate diese Schwelle nicht betreten; und nun überschritt er sie wie ein Dieb.

Die Entreetür öffnete sich vor ihm, und als sie zufiel, schlug ihn der Laut von diesem Zuschlagen in den Rücken; Finsternis umfing ihn, als wäre hinter ihm alles in einen Abgrund versunken (so ist’s wohl im ersten Augenblick nach dem Tode, wenn von der Seele der Tempel des Körpers in den Abgrund des Verwesens hinabsinkt); doch an den Tod dachte jetzt Nikolai Apollonowitsch nicht — fern war der Tod; auf die kalten Stufen setzte er sich hin, vor die Tür einer Wohnung, das Gesicht vergraben in den Pelz, und horchte auf das Klopfen seines Herzens; schwarze Leere lag hinter seinem Rücken; schwarze Leere breitete sich vor ihm.

So saß Nikolai Apollonowitsch im Dunkel.


Ein weiblicher Schatten, das Gesicht im kleinen Muff vergraben, lief über die Moika und näherte sich ebendemselben Haus, wo auf der kalten Stufe hinter der Tür Nikolai Apollonowitsch saß. Die Tür ging auf und schlug hinter ihr zu; Finsternis umfing sie, als wäre alles hinter ihr in einen Abgrund versunken; die kleine schwarze Dame dachte an so einfache, irdische Dinge, nun wird sie gleich die Teemaschine auftragen lassen; sie führte schon die Hand an die Glocke, und da — sah sie: eine Gestalt, wie es schien, eine Maske erhob sich vor ihr von den Stufen.

Als die Wohnungstür aufging und in das Dunkel des Stiegenhauses sich für einen Augenblick eine Lichtwelle ergoß, bestätigte der Schrei des Stubenmädchens die Wunderlichkeit der Erscheinung. In der hellen Beleuchtung erschien ein Bild von unbeschreiblicher Seltsamkeit, und die schwarze Gestalt der kleinen Dame rannte durch die geöffnete Tür.

Hinter ihrem Rücken aber erhob sich im Dunkel seidenrauschend ein dunkelflammenroter Bajazzo mit bärtigem, zappelndem Lärvchen.

Lautlos und langsam glitt von den Schultern über den rauschenden Atlas der Pelzmantel hinunter, zwei rote Arme streckten sich sehnsüchtig gegen die Tür. Aber die Lichtgarbe zerschneidend, schloß sich die Tür und stieß das Stiegenhaus zurück in die Leere, ins Dunkel.


Eine Sekunde später lief Nikolai Apollonowitsch auf die Straße hinaus; aus den Falten seines Mantels quoll ein Stück roter Seide hervor; die Nase in den Studentenmantel vergraben, galoppiert Nikolai Apollonowitsch Ableuchow in die Richtung der Brücke.

Ende des ersten Kapitels.

Zweites Kapitel

Tagesschau

Es ist — eine Sage aus der Wirklichkeit . . . hier die Zeitungsausschnitte von jener Zeit (der Autor wird schweigen): zugleich mit Mitteilungen über Diebstähle, Vergewaltigungen, über das Verschwinden eines Schriftstellers haben wir eine Reihe interessanter Notizen: eine durchgehende Phantastik oder so was, vor der jeden Leser des Conan Doyle schwindeln müßte: kurz — hier die Zeitungsausschnitte.

»Tagesschau

»Erster Oktober. Wir geben einen höchst geheimnisvollen Vorfall wieder, der uns von der Kursistin N. N. mitgeteilt wurde. Am ersten Oktober ging die Kursistin N. N. in der Abendstunde an der Tschernyschow-Brücke vorbei. Dorten beobachtete sie ein sehr sonderbares Schauspiel: am Ufer des Kanals neben dem Brückengeländer tanzte in der nächtlichen Dunkelheit ein roter Atlasdomino, über dem Gesicht trug derselbe eine schwarze Spitzenmaske.«

»Zweiter Oktober. Nach Wiedergabe der Volkslehrerin M. M. teilen wir dem geehrten Publikum einen geheimnisvollen Vorfall mit, der sich neben einer der Vorstadtschulen zutrug. Die Volkslehrerin M. M. war gerade mit dem Vormittagsunterricht in der O.-Volksschule beschäftigt; die Fenster der Schule gehen auf die Straße; plötzlich begann sich auf der Straße vor den Fenstern ein mächtiger Staubwirbel zu drehen; natürlich stürzte die Lehrerin und mit ihr, die lustige Kinderschar zum Fenster; man denke sich aber die Bestürzung der Kinder und ihrer Klassenlehrerin, als der rote Domino, der sich im Zentrum des von ihm aufgewirbelten Staubes befand, sich dem Fenster näherte und seine schwarze Spitzenmaske gegen die Scheibe drückte. Der Unterricht in der O.-Volksschule wurde eingestellt . . .«

»Dritter Oktober. Während der spiritistischen Sitzung im Hause der ehrenwerten Baronin R. R. hatten die Anwesenden gerade eine spiritistische Kette gebildet, als ein roter Domino sich in die Kette mischte und im Tanzen mit der Falte seines Überwurfs die Nasenspitze des Geheimen Rates S. berührte. Der Arzt der G.-Klinik konstatierte eine starke Verbrennung: wie es heißt, wird die Nasenspitze lilafarbene Flecke bekommen. Kurz, überall — der rote Domino.«

Endlich: »Vierter Oktober. Die Bevölkerung des Vorortes I. ergriff einmütig vor dem roten Domino die Flucht; es wurden eine Reihe von Protestkundgebungen veranstaltet: in den Vorort N. ist eine Kosakenabteilung abgegangen.«

Der Domino, der Domino — was hatte es damit für eine Bewandtnis?

Ein würdiger Mitarbeiter einer sicher würdigen Zeitung, der fünf Kopeken für die Zeile bekam, hatte beschlossen, eine Geschichte als Stoff zu benutzen, die er in einem bekannten Hause gehört hatte; die Wirtin dieses Hauses aber war eine Dame. Es handelt sich also um einen würdigen Zeitungsreporter, der per Zeile honoriert war; und es handelte sich um eine Dame.

Von ihr wollen wir nun beginnen.

Eine Dame: hm! und eine hübsche . . . Was ist eine Dame?

Die Eigenschaften einer Dame hat noch nicht einmal der Chiromant zu entdecken vermocht; wie soll sich nun ein Psychologe — pfui! — ein Schriftsteller an dieses Geheimnis wagen? Das Geheimnis wird tiefer, wenn die Dame jung ist und wenn man von ihr sagt, sie sei hübsch.

Also: es war eine Dame; sie besuchte aus Langerweile Kurse; und wieder aus Langerweile vertrat sie zuweilen die Lehrerin der O.-Volksschule, wenn sie nicht am Abend vorher im Spiritistenzirkel gewesen war. Im Hause dieser Dame verbrachte der Zeitungsreporter seine Abende.

Diese Dame erzählte ihm lachend, sie habe soeben im dunklen Stiegenhaus einen roten Domino gesehen. Dieses harmlose Geständnis einer hübschen Dame, in die Rubrik »Tagesschau« gekommen, wuchs zu einer Serie ruhebedrohender, nie gewesener Vorfälle heran.

Sofja Petrowna Lichutina

Jene Dame . . . Aber jene Dame war Sofja Petrowna; ihr müssen wir sogleich viele Worte widmen.

Sofja Petrowna zeichnete sich durch einen mehr als üppigen Haarwuchs aus, und sie war außerordentlich schlank; würde sie ihre schwarzen Haare auflösen — diese schwarzen Haare würden ihre ganze Gestalt einhüllen, bis über die Knie; und sie waren so schwarz, daß es keinen schwärzeren Gegenstand gab. Sei’s die Fülle ihrer Haare oder deren Schwärze, aber Sofja Petrownas Oberlippe zeigte einen Flaum, der ihr für später mit einem regelrechten Schnurrbärtchen drohte. Sofja Petrowna besaß einen ungewöhnlichen Teint, ihre Gesichtsfarbe war einfach die Farbe der Perle, vom Weiß der Apfelblüten, doch mit zartem Rosa dazu.

Die Äuglein Sofja Petrownas waren keine Äuglein, sondern — wenn ich nicht fürchtete, prosaisch zu werden, ich sagte: — Riesenaugen, von dunkler, blauer — von dunkelblauer Farbe. Diese Augen waren bald funkelnd, bald matt, bald schienen sie stupid, wie abgefärbt — und sie schielten. Ihre hellroten Lippen waren groß, viel zu groß, aber . . . die Zähnchen (ach, die Zähnchen!): wie Perlen waren die Zähnchen! Und dazu — ein kindliches Lachen . . . Dieses Lachen gab den vorstehenden Lippen einen besonderen Reiz; und ein besonderer Reiz lag in der schlanken, wieder allzu schlanken Gestalt: ihre Bewegungen, auch die ihres nervösen Rückens, waren bald rasch, bald träge — bis zur Häßlichkeit plump.

Sofja Petrowna trug ein schwarzes Wollkleid, das im Rücken geknöpft war.

Ach, Sofja Petrowna.

Sofja Petrowna Lichutina bewohnte eine kleine Wohnung in der Moikastraße; grelle, lärmende Farben fielen dort wie Kaskaden von den Wänden nieder: feuerrote, himmelblaue; japanische Fächer, Spitzen, Anhängsel, Schleifen; an den Lampen Atlasschirme und Atlasflügel, die tropischen Schmetterlingen glichen; es war, als schwebte ein Schwarm dieser Schmetterlinge, die Wände verlassend, um Sofja Petrowna Lichutina.

Sofja Petrowna behängte die Wände mit japanischen Landschaften; was diesen Landschaften gänzlich fehlte, war die Perspektive. Aber auch in den Zimmern, vollgestopft mit Sofas, Puffs, Fächern und lebenden japanischen Chrysanthemen — fehlte die Perspektive; die Perspektive ergab nur der Atlasalkoven, aus dem Sofja Petrowna hervorschwebte, das flüsternde Schilf über der Tür, durch die sie gleitend hereinschritt; der Berg Fusi-Jama — der farbige Hintergrund für ihre prächtigen Haare; es muß gesagt sein: wenn Sofja Petrowna Lichutina in ihrem rosa Kimono des Morgens von der Tür zum Alkoven schwebte, war sie eine echte kleine Japanerin. Perspektive aber gab es hier keine.

Es waren winzige Zimmerchen; und jedes füllte ein riesengroßer Gegenstand aus. Das Bett war dieser riesige Gegenstand im winzig kleinen Schlafzimmer; die Wanne war es im winzigen Badezimmer; im Salon war es — der hellblaue Alkoven; Tisch und Kredenz waren es im Speiseraum; dieser Gegenstand im Dienstbotenraum war das Dienstmädchen; dieser Gegenstand im Herrenzimmer war selbstredend der Gatte.

Woher also sollte hier Perspektive kommen?

Alle sechs Zimmerchen wurden durch Dampfheizung erwärmt, und in der Wohnung erstickte man deshalb fast vor feuchter Treibhauswärme; die Fensterscheiben schwitzten; und die Besucher Sofja Petrownas schwitzten; ewig schwitzten die Dienstboten und der Gatte; Sofja Petrowna selbst war mit leichter Dunstwolke bedeckt, wie die japanischen Chrysanthemen mit Tau.

Wie konnte nun in diesem Treibhaus eine Perspektive entstehen?

Und es gab auch keine.

Die Besucher Sofja Petrownas

Sofja Petrowna unterhielt nicht ihre Besucher: war dieser ein junger Mann aus der Gesellschaft, der das Vergnügen liebte, dann hielt sie es für nötig, zu all seinen witzigen, nicht ganz witzigen sowie ganz ernsten Worten zu lachen; sie wurde purpurn vor Lachen, und ihre kleine Nase bedeckte sich mit Schweißperlchen; der mondäne junge Mann wurde, weiß Gott weshalb, auch purpurn, und seine Nase bedeckte sich mit Schweißperlchen; der mondäne junge Mann wunderte sich über das junge, aber doch unmondäne Lachen und räumte Sofja Petrowna innerlich einen Platz unter den Demimondänen ein. Inzwischen erschien auf dem Tisch eine Sammelbüchse mit der Inschrift »Für wohltätige Zwecke«, und Sofja Petrowna Lichutina rief lachend: »Sie haben wieder eine ‚Fifka‘ gesagt — Sie haben zu zahlen.« Sofja Petrowna hatte seit kurzem eine Sammlung zugunsten der Arbeitslosen angelegt, und jeder, der eine gesellschaftliche ‚Fifka‘, d. h. eine gewollte Dummheit, sagte, mußte — zahlen; das Wort Fifka leitete sie von »fi . . .«4) ab. Und Baron Ommau-Ommergau, der gelbe, Ihrer Majestät Kürassier, Graf Awen, der blaue Kürassier, der Leibhusare Sporyschew und Werhefden, Sekretär im Amte Ableuchows, lauter mondäne junge Leute, sprachen eine »Fifka« nach der anderen und warfen eine Silbermünze nach der anderen in die Büchse.

Warum kamen nur zu ihr so viele Offiziere? Mein Gott, sie tanzte ja auf Bällen; war hübsch, ohne Demimondäne zu sein; und schließlich war sie selbst Offiziersgattin.

War ihr Besucher Musiker oder Musikliebhaber, erklärte ihm Sofja Petrowna, daß ihre Götter — die Duncan und der Nikisch seien (sie sagte aber Dunkàn und Nikìsch), daß sie selbst Meloplastik zu erlernen gedenke, um den Walkürenflug in — ja, man denke nur! — in Bayreuth zu tanzen. Doch erschüttert durch die falsche Aussprache der Namen kam der Besucher bald zu dem Schlusse, Sofja Petrowna Lichutina sei nichts weiter als einfach ein Gänschen; und sein Verhalten wurde ein wenig »ungezwungen«; inzwischen aber brachte das sehr hübsche Stubenmädchen das Grammophon ins Zimmer: und aus der Kehle des roten Blechrohres ergoß sich über den Gast der Flug der Walküre.

Sofja Petrownas Besucher zerfielen in zwei selbständige Gruppen: die zur Gesellschaft Gehörenden und die sozusagen Besucher, die keine waren, denn sie waren — gern Gesehene — etwas für die Seele; diese sozusagen Besucher gaben sich keine Mühe — nicht die geringste! —, in das Treibhäuschen zu gelangen. Mit Gewalt fast lockte sie Engel Peri — wie die Offiziere sie nannten — zu sich; und war das geschehen, dann erwiderte sie sofort den Besuch; in ihrer Gesellschaft saß Engel Peri mit geschlossenem Mündchen: sie lachte nicht, kokettierte nicht im geringsten, war äußerst schüchtern und, während die sozusagen Besucher stürmisch miteinander debattierten, war sie stumm. Man hörte »Revolution — Evolution«. Und wieder »Revolution — Evolution«. Immer über dasselbe debattierten die sozusagen Besucher; es war nicht die Jeunesse doré, es war die einfache, arme Jugend, Studierende, die mit den Fremdwörtern: soziale Revolution und soziale Evolution stolzierten. Engel Peri verwechselte konsequent diese beiden Worte.

Der Offizier Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin

Unter den Studierenden befand sich eine häufige Besucherin des Hauses Lichutin, eine in diesem Kreise geschätzte Persönlichkeit: die Studentin Warwara Ewgrafowna.

Unter dem Einfluß der Studentin gab sich Engel Peri dazu her, einen — denken Sie! — Meeting zu besuchen. Unter dem Einfluß der Studentin stellte auch Engel Peri die Sammelbüchse mit der verschleierten Inschrift »Für Wohltätigkeit« auf den Tisch. Die Büchse war natürlich nur für die Besucher bestimmt; die zu den sozusagen Besuchern Gehörenden waren vom Zahlen befreit; die Zahlenden waren Graf Awen, Baron Ommau-Ommergau, Sporyschew und Werhefden. Unter dem Einfluß der Studentin begann Engel Peri die O.-Schule zu besuchen und ochste verständnislos das »Manifest« von Karl Marx. Zu dieser Zeit nämlich besuchte sie täglich der Student Nikolenka Ableuchow, den sie ohne Risiko sowohl mit Warwara Ewgrafowna (die in Nikolenka verliebt war) als auch mit Ihrer Majestät gelbem Kürassier bekannt machen konnte: der Sohn Ableuchows war natürlich überall willkommen.

Übrigens huschte Engel Peri seit einiger Zeit heimlich zu den Spiritisten hinüber, im Hause der Baronin . . . (na, wie heißt sie nur?), die ins Kloster gehen wollte.

Seit dieser Zeit auch lag auf Sofja Petrownas Tischchen ein prachtvoll gebundenes Büchlein »Der Mensch und sein Körper« von einer gewissen Henri Besançon (Sofja Petrowna hatte wieder die Namen verwechselt: es war nicht Henri Besançon, sondern Anni Besant).

Ihre neue Passion verheimlichte Sofja Petrowna sorgfältig sowohl vor dem Baron Ommau-Ommergau wie auch vor Warwara Ewgrafowna; und aufs Verheimlichen verstand sich Engel Peri in bewunderungswürdiger Weise: so ist Warwara Ewgrafowna bei ihr nie auf Graf Awen und Baron Ommau-Ommergau gestoßen. Was dahinter gesteckt haben mochte — weiß der Himmel!

Es gab noch einen unter den Besuchern Sofja Petrownas; einen Offizier, Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin; eigentlich war er ihr Gatte; er war irgendwo in der Proviantverwaltung tätig; frühmorgens verließ er das Haus; vor Mitternacht erschien er nie wieder; gleich sanft begrüßte er die Besucher und die sozusagen Besucher; mit derselben Sanftheit sprach er aus Höflichkeit eine »Fifka« und zahlte eine Münze; oder er nickte bescheiden bei den Worten Revolution — Evolution, trank eine Tasse Tee und ging in sein Zimmer. Im Grunde genommen wäre Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin den Besuchern wie den sozusagen Besuchern gern ferngeblieben. Im Grunde genommen hätte er gern die Spiritistensitzungen bei der Baronin besucht; doch lag es ihm fern, seinen bescheidenen Wunsch als Gatte geltend zu machen; denn er war kein Despot: Sofja Petrowna liebte er mit der ganzen Kraft seiner Seele; ja, noch mehr: er hatte vor zweieinhalb Jahren gegen den Willen seiner Eltern, steinreicher sibirischer Gutsbesitzer, geheiratet; sein Vater verfluchte ihn deswegen und entzog ihm das Geld; da trat er, unerwartet für alle, bescheiden in das Gregorische Regiment ein.

Und noch ein Besucher war da: der schlaue Kleinrusse Lipantschenko; er war ein sinnlicher Mensch und nannte Sofja Petrowna nicht Engel, sondern Herzchen; doch hielt er sich in den Grenzen der Höflichkeit und durfte ins Haus kommen.

Der gutmütige Gatte Sofja Petrownas verhielt sich mild gegen die revolutionären Freunde seiner teuren Hälfte; gegen ihren mondänen Bekanntenkreis verhielt er sich mit unterstrichenem Wohlwollen; den Kleinrussen Lipantschenko aber duldete er bloß.

Der schlanke hübsche Trauzeuge

Schon am ersten Tage ihres sozusagen »Damendaseins«, während des Mysteriums der Trauung, als Nikolai Apollonowitsch über dem Haupt ihres Gatten, Ssergeij Ssergeijewitsch, den hochfeierlichen Kranz hielt, wurde sie in quälender Weise von dem hübschen schlanken Trauzeugen überrascht, von der Farbe seiner unirdischen dunkelblauen Augen, von dem Weiß seines marmornen Gesichts, von der Göttlichkeit seiner flachsweißen Haare. Nun und . . . Nikolai Apollonowitsch kam ins Haus der Lichutins: erst einmal in vierzehn Tagen, dann jede Woche ein-, zwei-, drei-, viermal, dann erschien er täglich. Bald merkte aber Sofja Petrowna, daß das Gesicht, das gottähnliche, strenge, nur eine Maske war; Grimassen, zielloses Reiben der Hände, schließlich ein unangenehmer Froschausdruck beim Lächeln, herrührend vom ununterbrochenen Spiel der Gesichtszüge — hinter all dem verbarg jenes Gesicht sich für immer. Zu ihrem Schrecken begriff dann Sofja Petrowna, daß sie verliebt war in jenes Gesicht; nicht in dieses, wohl aber in jenes. Engel Peri hatte sich vorgenommen, eine tadellose Gattin zu sein; und der Gedanke, daß sie, ihrem Gatten treu, von jemand anderem gefesselt wurde, bedrückte sie gänzlich. Aber weiter nur, weiter: über die Maske, den Froschmund, über die Grimassen hinweg, suchte sie, unbewußt, ihre verlorene Verliebtheit zu retten: sie quälte Ableuchow, überhäufte ihn mit Beleidigungen; doch heimlich vor sich selbst verfolgte sie seine Spuren, suchte seine Wünsche und seinen Geschmack zu erraten, richtete sich unbewußt nach ihnen, in der ewigen Hoffnung, wieder einmal jenes eigentliche, göttliche Antlitz zu erblicken.

Seit dieser Zeit war ihr eigener Gatte nur Besucher in der kleinen Wohnung an der Moika.

Dies konnte Sofja Petrowna nicht ertragen, denn sie hatte ja ein so winzig, winzig kleines Stirnchen; und neben dem kleinen Stirnchen lebten in ihr Vulkane tiefster Gefühle: denn sie war eine Dame; und man soll in einer Dame das Chaos nicht wecken.

Der rote Narr

Eigentlich benahm sich Sofja Petrowna ihrem Gegenstand gegenüber in den letzten Monaten höchst provozierend: vor dem Grammophon, aus dem »Siegfrieds Tod« tönte, übte sie Körperplastik und hob dabei ihren rauschenden Seidenrock fast bis zum Knie; ferner: ihr Füßchen berührte unter dem Tische mehr als einmal Ableuchow. Nicht zu verwundern, daß dieser manchmal den Engel zu umarmen versuchte; dann entwand sich ihm der Engel und übergoß ihn mit Kälte. Bald darauf aber begann das Spiel von neuem. Einmal klatschte eine Ohrfeige durchs japanische Zimmer: —, Uu — Scheusal, Frosch . . . Uuu — roter Narr.

Ruhig und kühl erwiderte Nikolai Apollonowitsch:

»Bin ich ein roter Narr, so sind Sie — eine japanische Puppe . . .«

Vor der Tür richtete er sich voll Würde empor, in diesem Augenblick bekam sein Gesicht den einmal gesehenen Ausdruck, und an diesen erinnert, erwachte ihre Liebe jäh wieder; als Nikolai Apollonowitsch verschwunden war, warf sie sich auf den Boden, biß und kratzte im Weinkrampf den Teppich; sprang dann plötzlich auf und streckte die Arme gegen die Tür:

»Komm, kehre zurück — Gott!«

Ihr zur Antwort schlug unten die Tür zu. Nikolai Apollonowitsch lief zu der großen Petersburger Brücke. Wir werden weiter sehen, daß er an dieser Brücke den wichtigen Beschluß gefaßt hatte, durch eine Tat sein eigenes Leben von sich zu werfen. Zu tief hatte ihn das Wort »roter Narr« getroffen.

Nie wieder hat ihn Sofja Petrowna gesehen . . .

Dafür kamen um so öfter Graf Awen, Baron Ommau-Ommergau, Werhefden und selbst Lipantschenko; sie lachte mit ihnen ohne Unterlaß; dann hielt sie im Lachen inne und fragte neckisch:

»Nicht wahr, ich bin eine Puppe?«

Sie antworteten mit einer »Fifka« nach der anderen und warfen Silbermünzen in die Sammelbüchse. Lipantschenko aber machte ihr zum Geschenk eine Puppe mit gelbem Gesicht.

Als sie das vor ihrem Gatten Ssergeij Ssergeijewitsch aussprach, sagte er nichts und tat, als ginge er schlafen; in seinem Zimmer aber setzte er sich hin und schrieb an Nikolai Apollonowitsch einen kurzen Brief; in seinem Briefchen schrieb er Ableuchow, daß er, Ssergeij Ssergeijewitsch, sich erlaube, ihn um folgendes zu bitten: Er wolle sich aus prinzipiellen Gründen nicht in die Beziehungen Ableuchows zu seiner unendlich geliebten Gattin mischen, doch bitte er dringend (dringend war dreimal unterstrichen), ihrem Hause für immer fernzubleiben, da die Nerven seiner geliebten Gattin angegriffen seien. Sein Benehmen veränderte Ssergeij Ssergeijewitsch nicht im geringsten: er verwaltete — irgendwo — das Proviantamt.

Ssergeij Ssergeijewitsch war groß von Gestalt, trug einen hellblonden Bart, besaß Nase, Mund, Ohren, Haare und wundervoll glänzende Augen: leider trug er eine dunkelblaue Brille, und niemand kannte die Farbe dieser Augen und auch nicht ihren herrlichen Ausdruck.

Gemeinheit, Gemeinheit, Gemeinheit

In diesen frostreichen Oktobertagen befand sich Sofja Petrowna in ungewöhnlicher Aufregung; blieb sie allein in ihrem Treibhäuschen, dann runzelte sich ihr Stirnchen, und ihr Gesicht wurde purpurn; sie trat ans Fenster und wischte mit ihrem Taschentüchlein aus zartem Batist die schweißbedeckten Scheiben, das Glas begann zu quieken, und öffnete einen Augenblick auf den Kanal und auf einen vorübergehenden Herrn mit Zylinder — nichts weiter; als wäre sie in ihren Ahnungen getäuscht, begann Engel Peri ihr angefeuchtetes Taschentuch mit den Zähnchen zu beißen und zu zerren, dann lief sie hinaus, zog ihren schwarzen Plüschmantel an, setzte die Mütze aus ebensolchem Plüsch auf (Sofja Petrowna kleidete sich sehr bescheiden) und ging fort, um, die Nase in den Pelzmuff vergraben, zwischen der Moikastraße und dem Kai zu schlendern.

Und einmal, während Lipantschenko da war, ergriff sie ihre Hutnadel und stach sich ins kleine Fingerchen.

»Sehen Sie, es schmerzt nicht, und es kommt kein Blut: ich bin aus Wachs . . . eine Puppe.«

Lipantschenko lachte und sagte:

»Sie sind keine Puppe, Herzchen.«

Erbost jagte ihn Engel Peri von sich. Er ergriff seine Ohrenklappenmütze und ging.

Sie aber fuhr fort, ruhelos durchs Treibhäuschen zu wandern, runzelte das Stirnchen, errötete, wischte die Scheiben; es eröffnete sich der Ausblick auf den Kanal und auf eine vorüberfahrende Droschke — nichts weiter.

Was aber weiter?

Die Sache war so: vor einigen Tagen kehrte Sofja Petrowna von der Baronin R. R. nach Hause zurück. Bei der Baronin R. R. hatte es an diesem Abend »geklopft«; weißliche Funken waren über die Wand gelaufen, und einmal hatte der Tisch einen Sprung getan: sonst nichts; aber Sofja Petrownas Nerven waren äußerst gespannt, und die Treppe zu ihrer Wohnung war nicht beleuchtet (in Häusern mit billigen Wohnungen werden die Treppen bekanntlich nicht beleuchtet): und im Dunkel der Stiege sah Sofja Petrowna ganz deutlich einen noch schwärzeren Fleck, der sie wie eine schwarze Maske anstarrte. Sofja Petrowna zog mit aller Kraft an der Glocke. Als sich die Tür geöffnet und ein Lichtstrahl die Treppe beleuchtete, schrie das Dienstmädchen Mawruscha auf und schlug die Hände zusammen: Sofja Petrowna sah nichts, denn sie rannte in die Wohnung hinein: Mawruscha aber hatte gesehen: hinter dem Rücken der gnädigen Frau stand ein roter Atlasdomino mit schwarzer Maske, die von einem Fächer aus ebenso schwarzen Spitzen umrahmt war; der rote Domino streckte Mawruscha seinen blutigen Ärmel entgegen, aus dem eine Visitenkarte hervorlugte; und als die Tür vor dem ausgestreckten Arm zugeschlagen ward, erblickte auch Sofja Petrowna die Karte, die wahrscheinlich durch die Spalte hereinflog; was war aber auf der Karte? An Stelle eines Wappens — ein Schädel mit Knochen und darunter in modernem Schriftsatz die Worte: »Ich erwarte Sie auf dem Maskenball« — Ort, Datum und weiter die Unterschrift »Der rote Narr«.

Den ganzen Abend war Sofja Petrowna in größter Erregung. Wer mochte sich als roter Domino verkleidet haben? Er natürlich, Nikolai Apollonowitsch: so hatte sie ihn ja einmal genannt . . . Der rote Narr war also gekommen. Wie war aber eine solche Handlungsweise einer wehrlosen Frau gegenüber zu nennen? War das nicht eine Gemeinheit?

Gemeinheit, Gemeinheit, Gemeinheit.

Wäre doch nur schon der Gatte gekommen, der Offizier. Er würde es dem Unverschämten gezeigt haben. Sofja Petrowna errötete, biß und zerrte ihr Taschentüchlein und begann zu schwitzen. Wär’ doch nur jemand gekommen.

Es kam jedoch niemand.

Aber vielleicht war er es nicht? Sofja Petrowna fühlte sich merklich beunruhigt: es tat ihr leid, den Gedanken fallen lassen zu müssen: der Narr sei — er; in diesen Gedanken flocht sich zugleich mit dem Zorn das süße, bekannte bange Empfinden; sie schien zu wünschen, er hätte sich als vollendeter Schuft entpuppt.

Nein — nicht er; er ist doch kein Schuft, kein dummer Knabe! — Und ihr Herz stand still: nicht er.

Unter ihren sozusagen Besuchern, die von Revolution — Evolution sprachen, befand sich einer, der Zeitungsreporter war und Neintelpfein hieß. Sofja Petrowna schätzte ihn hoch, und ihm eröffnete sie sich: er begleitete sie darauf zum Maskenball; dort gab es Harlekine, Italienerinnen, Spanierinnen und orientalische Frauen, die einander durch die schwarzen Masken in böser Weise zublinzelten. Gestützt auf Neintelpfeins Arm schritt Sofja Petrowna bescheiden in ihrem schwarzen Domino mit schwarzer Maske, jemand suchend, unstet durch die Säle.

Da eben war es, wo Sofja Petrowna mit der nötigen Vorsicht, Neintelpfein von dem geheimnisvollen Vorfall erzählte. Der kleine Neintelpfein war Zeitungsreporter und bekam fünf Kopeken für die Zeile: von diesem Abend ging es an. Jeden Tag eine Notiz in der »Tagesschau«, »der rote Domino« und wieder »der rote Domino«!

Man sprach über den Domino, debattierte und ereiferte sich unglaublich; die einen erblickten darin einen revolutionären Terror; die anderen schwiegen und zuckten die Achseln.

Ein ganz verräuchertes Gesicht

Nikolai Apollonowitsch lehnte über die Treppenbalustrade und warf auf alle Seiten irisierenden Glanz, der ganz im Gegensatz zu der Säule stand und zum Alabaster, von dem aus die Niobe ihre Alabasteraugen gen Himmel hob.

Über das Geländer gebeugt, rief Nikolai Apollonowitsch etwas hinunter, doch auf seinen Ruf erwiderte erst nur die Stille; dann aber antwortete mit übertriebener Deutlichkeit eine Fistelstimme:

»Sie hatten mich sicher für jemand anders gehalten . . . Ich bin es — ich . . .«

Unten stand der Unbekannte mit dem schwarzen Schnurrbärtchen, im Mantel mit aufgeschlagenem Kragen.

Nikolai Apollonowitsch verzog darauf das Gesicht in ein unangenehmes Lächeln:

»Sie sind es, Alexander Iwanowitsch? . . . Höchst angenehm!«

Dann fügte er heuchlerisch hinzu:

»Ich erkannte Sie ohne Brille nicht . . .«


Das unangenehme Empfinden überwindend, das in ihm die Anwesenheit des Unbekannten im lackierten Haus hervorrief, fuhr Nikolai Apollonowitsch fort, mit dem Kopfe nach unten zu winken:

»Ich bin eigentlich gerade aus dem Bette gekommen, deshalb auch noch im Schlafrock.« (Dies wie nebenbei erwähnend, wollte Nikolai Apollonowitsch dem Besucher zu verstehen geben, daß er zur ungeeigneten Zeit gekommen sei; wir fügen von uns hinzu: Nikolai Apollonowitsch hatte all die letzten Nächte außer dem Hause verbracht.)

Auf dem reichen Fond des Ornaments aus altertümlichen Waffen machte der Unbekannte mit dem schwarzen Schnurrbärtchen eine recht klägliche Figur, doch nahm er sich zusammen und begann eifrig Nikolai Apollonowitsch zu beruhigen:

»Das macht gar nichts, Nikolai Apollonowitsch, daß Sie gerade aus dem Bette sind . . . Ich versichere Sie, es hat gar nichts zu bedeuten. Sie sind ja keine Dame, und auch ich bin’s nicht . . . Ich selbst bin nämlich auch erst jetzt aufgestanden . . .«

Vor der Eichentür zum Arbeitszimmer drehte sich Nikolai Apollonowitsch plötzlich zu dem Unbekannten; über beide Gesichter flog ein Lächeln: beide sahen einander erwartungsvoll an.

»Also bitte, . . . Alexander Iwanowitsch!«

»Nur ja keine Umstände . . .«

Der Salon Nikolai Apollonowitschs war der vollständige Gegensatz zu der Strenge seines Arbeitszimmers: er war bunt. Wie . . . der bucharische Schlafrock. Der Schlafrock Nikolai Apollonowitschs setzte sich gewissermaßen in allen Gegenständen des Zimmers fort; so im niederen Sofa, das einem orientalischen Ruhebett aus bunten Geweben glich; der bucharische Schlafrock setzte sich weiter fort im Taburett von verschiedenen Tönen; das Dunkelbraun inkrustiert mit Streifchen aus Elfenbein und Perlmutter; der Schlafrock fand seine Fortsetzung auch in einem Negerschild aus der dicken Haut eines einst erlegten Nashorns, dann im sudanischen, verrosteten Pfeil mit massivem Griff, der — weiß Gott warum — hierher gehängt wurde; endlich setzte sich der Schlafrock in dem gestreiften Pelz eines Leoparden fort, der mit aufgesperrtem Rachen auf den Boden geworfen ward; eine dunkelblaue, türkische Wasserpfeife stand auf dem Taburett und dabei ein dreibeiniges, goldenes Rauchzeug, gebildet aus einer durchlöcherten Kugel, über der ein Halbmond schwebte; das Wunderlichste aber war ein bunter Käfig, in dem von Zeit zu Zeit kleine, grüne Papageien mit den Flügeln zu schlagen begannen.

Nikolai Apollonowitsch reichte dem Besucher das bunte Taburett: der Unbekannte mit dem Schnurrbärtchen setzte sich auf den Rand und zog ein billiges Zigarettenetui aus der Tasche.

»Sie gestatten?«

»Bitte.«

»Sie rauchen nicht?«

»Nein, ich habe diese Gewohnheit nicht.« Und verlegen setzte er sofort hinzu:

»Übrigens, wenn andere rauchen . . .«

»Machen Sie das Fenster auf?«


Verteidigen Sie den Tabak nicht, Nikolai Apollonowitsch. Ich sage es Ihnen aus eigener Erfahrung . . . Der Rauch durchsetzt den grauen Hirnstoff. Die Hemisphären des Hirns werden verstopft: eine allgemeine Mattigkeit ergießt sich in den Organismus . . .

Der Unbekannte zwinkerte Nikolai Apollonowitsch familiär zu.

»Sehen Sie mein Gesicht?«

Ohne die Brille gefunden zu haben, näherte Nikolai Apollonowitsch seine Augen dem Gesicht des Unbekannten.

»Sehen Sie das Gesicht?«

»Ja, das Gesicht . . .«

»Das Gesicht ist blaß . . .«

»Ja, es ist etwas blaß —« Ableuchows Wangen wurden von Höflichkeitswellen in verschiedenen Nuancen überströmt.

»Ein ganz grünes, verändertes Gesicht«, unterbrach ihn der Unbekannte, »Das Gesicht eines Rauchers.«

Nikolai Apollonowitsch spürte schon längst eine beunruhigende Schwere, als füllte das Zimmer sich nicht mit Rauch, sondern eher mit Blei; Nikolai Apollonowitsch fühlte, wie sich die Hemisphären seines Hirns verstopften und eine allgemeine Mattigkeit seinen Körper durchzog; er dachte aber nicht an die Wirkungen des Tabakrauches — er dachte vielmehr daran, wie er sich mit Würde aus der peinlichen Lage zurückziehen könnte; er dachte, was er wohl im bedenklichen Fall tun sollte, wenn der Unbekannte . . . wenn . . .

Diese bleierne Schwere kam nicht von der billigen Zigarette; sie kam vielmehr von der gedrückten Stimmung des Wirtes. Er erwartete von Sekunde zu Sekunde, daß sein unruhiger Besucher nun das Geschwätz abbräche, dessen eigenster Zweck zu sein schien — ihn durch Erwartung zu quälen; ja: daß er es abbrechen würde, um ihn daran zu erinnern, daß er, Nikolai Apollonowitsch, seinerzeit durch ihn, den sonderbaren Unbekannten — wie es nur deutlicher aussprechen? . . .

Kurz, daß er seinerzeit die für ihn furchtbare Verpflichtung übernommen hatte, der gerecht zu werden, ihm nicht bloß die Ehre gebot; dieses furchtbare Versprechen aber hatte Nikolai Apollonowitsch damals nur aus Verzweiflung gegeben; ein Mißerfolg hatte ihn dazu bewogen; die Spuren dieses Mißerfolges verwischten sich nun allmählich. Das furchtbare Versprechen müßte, schien es ihm, von selbst weggefallen sein; doch es blieb bestehen; es blieb schon deswegen bestehen, weil es nicht zurückgenommen ward; aufrichtig gestanden hatte es Nikolai Apollonowitsch einfach gründlich vergessen; und so blieb dieses Versprechen bestehen und lebte im Kollektivbewußtsein einer gewissen Partei fort, während in ihm selbst die Empfindung von der Bitternis des Seins entschwunden war; und er sein Versprechen gern als ein scherzhaftes betrachtet hätte.

Das Erscheinen des Individuums mit dem Schnurrbärtchen erfüllte Nikolai Apollonowitsch mit Angst.

Warum denn aber — warum hatte er sein Versprechen gegeben? — Und das wäre nicht das Wichtigste: warum hatte er aber sein furchtbares Versprechen einer leichtfertigen Partei gegeben?

Die Antwort wäre einfach: Nikolai Apollonowitsch, beschäftigt mit der Methodik der sozialen Erscheinungen, hatte die Welt dem Feuer und Schwert preisgegeben.

»Wissen Sie, Nikolai Apollonowitsch,« (Nikolai Apollonowitsch fuhr erschreckt auf) »ich kam eigentlich nicht zu Ihnen wegen des Tabaks . . . das heißt das mit dem Tabak war ganz zufällig . . .«

»Ich verstehe schon.«

»Der Tabak ist eine Sache für sich; ich kam aber nicht wegen des Tabaks, sondern einer Sache wegen . . .«

»Sehr angenehm . . .«

»Eigentlich ist es auch gar keine Sache; es handelt sich nur um eine Gefälligkeit — und diese Gefälligkeit werden Sie mir sicher erweisen . . .«

»Gewiß doch, sehr angenehm . . .«

Nikolai Apollonowitsch wurde blau; er saß und bemühte sich, einen Knopf vom Sofa zu lösen.

»Mir ist es höchst peinlich, aber eingedenk . . .«

Nikolai Apollonowitsch fuhr zusammen: die scharfe, hohe Fistelstimme des Unbekannten fuhr wie ein Messer durch die Luft; eine Sekunde des Schweigens war dieser Fistelstimme vorangegangen; diese Sekunde aber glich einer Stunde — einer unendlichen Stunde.

Doch nahm er sich sofort zusammen; er meinte nur:

»So, ich stehe zu Ihren Diensten —« Und dabei dachte er: die Höflichkeit habe ihn vernichtet . . .

»Eingedenk Ihres Mitfühlens mit uns, kam ich . . .«

»Alles, was ich nur kann« — schrie Nikolai Apollonowitsch heraus und dachte: er sei doch ein vollendeter Esel . . .

»Eine kleine, o, eine ganz kleine Gefälligkeit . . .« (Nikolai Apollonowitsch horchte gespannt):

»Pardon . . . darf ich um die Aschenschale bitten?«

Die Zusammenstöße in den Straßen häuften sich

Es war eine nebelreiche, sonderbare Zeit: mit frostigem Schritt zog durch Rußlands Norden der giftige Oktober; im Süden aber hingen bereits seine Fäulnisnebel in der Luft. Er jagte das goldene Waldflüstern aus den Bäumen, und das goldene Waldflüstern legte sich ergeben auf den Boden — ergeben fiel das Espenlaub zu Boden, wirbelte und klebte an den Füßen der Passanten, wisperte und flocht gelbrote Worte aus Blättern. Das süße, in der septemberlichen Laubwelle badende Piepsen der Meisen, es badete längst nicht mehr in den Laubwellen; und die Meise selbst hüpfte jetzt verwaist im Netzwerk der nackten Zweige umher.

Es war eine nebelreiche, sonderbare Zeit; die Froststürme nahten schon in den bauschigen Wolken, die bleiern waren und blau, aber alle glaubten an den Frühling: vom Frühling berichteten die Zeitungen, vom Frühling unterhielten sich die Staatsbeamten der allerletzten Klasse; an den Frühling mahnte ein damals populär gewesener Minister; und direkt nach Maiveilchen dufteten die Seelenergüsse in den Briefen einer Petersburger Studentin.

Die Bauern hatten längst aufgehört, den rauhen Boden zu pflügen; ihre Pflüge warfen sie fort, die Bauern, ebenso ihre Eggen; sie sammelten sich in Häuflein vor ihren Hütten und erörterten die Nachrichten der Zeitungen; sie sprachen und debattierten und bereiteten sich vor, in einer vereinten Schar gegen das Gutsherrenhaus zu ziehen, gegen das Haus mit den Säulen, das sich in den Wolga-, Kama- und selbst in den Dnjeprwellen spiegelte; der Feuerschein der brennenden Güter leuchtete in den langen Nächten über Rußland; der Tag aber verwandelte das Leuchten in das Schwarz der Rauchsäulen. Da aber konnte man in den entlaubten Büschen Haufen zerzauster Kosaken erblicken, die die Läufe ihrer Flinten gegen den Alarmturm richteten; auf ihren zerzausten Pferden sprengten dann ihre Abteilungen hervor, blaue bärtige Menschen rasten, die Nagaiken schwangen durch die herbstlichen Fluren dahin.

So war es auf dem Lande.

Aber so war es auch in den Städten. In den Werkstätten, Friseurläden, Milchgeschäften, Wirtshäusern, überall trieb sich ein redseliges Subjekt umher; die aus den blutgetränkten Feldern der Mandschurei mitgebrachte, buschige Pelzmütze in die Stirn gedrückt, in der Seitentasche ein — weiß Gott woher herbeigeschaffter — Browning, steckte das redselige Subjekt zum soundsovielten Male dem Vorübergehenden ein schlecht gedrucktes Blättchen in die Hand.

Alles wartete, hoffte und fürchtete sich; man lief beim leisesten Geräusch auf die Straße, versammelte sich in Haufen und ging wieder auseinander; so lebten in Archangelsk die Loparen, Korelen und Finnen; in Nischne-Kolymsk die Tangusen; am Dnjepr — die Juden und die Kleinrussen. In Petersburg und Moskau lebten so alle: man wartete, fürchtete sich, hoffte; beim leisesten Geräusch rannte man auf die Straße; man versammelte sich in Haufen und ging wieder auseinander.

Die Zusammenstöße in den Straßen häuften sich: die Zusammenstöße mit den Hausportiers, den Wächtern, den Revieraufsehern; die Hausportiers, die Polizisten und besonders die Revieraufseher wurden von jedem belästigt: vom Arbeiter, vom Abcschützen, vom Kleinbürger Iwan Iwanowitsch Iwanow und seiner Gattin, selbst vom Ladeninhaber Pusanow, der in den vergangenen besseren Tagen den Revieraufseher bald mit Lachs, bald mit kernigem Kaviar beschenkt hatte. Jetzt wandte sich der wohlgeborene Kaufmann Pusanow gegen den Revieraufseher und das andere »Gesindel«: so etwas schüchterte den Polizeibeamten ein: grau, in grauem Mantel, wanderte er unbemerkt wie ein Schatten daher und zog in Ehrfurcht beflissen seinen Säbel ein, mit zum Boden gesenkten Augen.

So fristete zu jener Zeit seine Tage der Polizeibeamte in irgendeinem Kem; so fristete er die Tage in Petersburg, Moskau, Orenburg, Taschkent, kurz, in all den Städten, die zum Russischen Reiche gehörten.

Petersburg ist von einem Ring vielschlotiger Fabriken umgeben; die Vorstadt ist wie ein Ameisenhaufen belebt. Zu jener Zeit waren alle in den Fabriken höchst aufgeregt; und die Anführer der Haufen wurden alle zu redseligen Subjekten; es zirkulierte unter ihnen der Browning; und noch etwas. Die üblichen Schwärme wuchsen in jenen Tagen unmäßig an und verdichteten sich zu vielköpfiger, vielstimmiger, riesenhafter Schwärze; und griff ein Fabrikinspektor nach dem Telephonrohr, so wußte man schon: gleich wird ein Steinhagel aus der Menge zu den Fenstern fliegen.

Petersburg selbst blieb unverändert; nur ein einziges Mal zogen Scharen von Menschen, von Geistlichen gefolgt, über den Newskij-Prospekt: man trug den Sarg eines Professors; voran wälzte sich ein Meer von Grün; blutrote Atlasbänder wehten in der Luft.

Es war eine neblige, sonderbare Zeit; mit frostigen Fersen schritt der Oktober durchs Land; frostiger Staub flog in braunen Stürmen durch die Stadt; und ergeben legte sich das goldene Blättergeflüster auf die Wege des Sommergartens, ergeben legte sich das raschelnde Laub zu den Füßen der Passanten, um, vor ihnen herjagend, an ihren Füßen hängenzubleiben; raunend flocht es gelbrote Worte aus Blätterbüscheln; das Meisengepiepse, das den ganzen August in den Laubwellen gebadet hatte, badete längst nicht mehr in den Wellen des Laubes; und die Meise im Sommergarten hüpfte verwaist im Netz der trockenen Zweige umher, hüpfte auf dem bronzenen Gitter und flog auf das Dach über dem Häuschen Peters des Großen.

So waren die Tage. Die Nächte aber — — Bist du schon nachts einmal gewandert, befandest du dich da in einem entlegenen Vorstadtgehölz, und hast du da die aufdringlichen, schreckenden U-Laute vernommen? »Uuuu — uuuu — uuuu«: so tönte es in der Ferne; war es überhaupt ein Laut? Wenn’s aber ein Laut war, so kam er sicher aus einer anderen Welt; von seltener Stärke und Klarheit: »Uuuu — uuuu — uuuu«, tönte es in den Vorstädten von Moskau, Petersburg, Saratow; doch die Fabrikpfeife hatte geschwiegen, der Sturm hatte nicht gepfiffen, und stumm war der Haushund geblieben.

Hörtest auch du einmal das Oktoberlied von neunzehnhundertundfünf? Ein solches Lied hatte es vorher nicht gegeben; ein solches Lied wird es nicht mehr geben: nie mehr.

Es ruft mich mein geliebter Delwig

Über die Stufen des Amtsgebäudes schreitend, sich mit der Hand an des Geländers kalten Marmor stützend, blieb Apollon Apollonowitsch mit der Fußspitze an dem Plüschläufer hängen und — stolperte; unwillkürlich verlangsamte sich sein Schritt; da geschah es, daß seine Augen eine Zeitlang an dem Riesenporträt des Ministers hafteten, der mit traurigem und mitleidigem Blick vor sich hin sah.

Das Rückgrat Apollon Apollonowitschs durchzog eine Frostwelle: das Gebäude war wenig geheizt. Wie eine Ebene schien Apollon Apollonowitsch der weiße, ausgedehnte Raum.

Er hatte Angst vor dieser Weite. Der Raum ängstigte ihn noch mehr als der Zickzack oder die gebrochene Linie; eine Dorflandschaft war ihm ein Schrecken: dort hinter Schnee und Eis, hinter der gewundenen Linie des Waldsaums, in der sich kreuzende Luftströme im Schneesturm rasen, dort wäre er einst einmal, einem Zufall zufolge, beinahe erfroren.

Es geschah vor fast fünfzig Jahren.

In jener damaligen Stunde des einsamen Erfrierens hatte er gefühlt, wie kalte Finger seine Brust durchbohrten und grausam streichelnd sein Herz berührten; jene frostige Hand geleitete ihn dann weiter; jener frostigen Hand folgte er in seiner Karriere, vor Augen immer die unheilvolle, unmögliche Ausdehnung; dort, von dort winkte immer die frostige Hand; von dort gähnte ihm entgegen — die Un—Unermeßlichkeit: Russisches Reich.

Ja: nun zum Porträt des Ministers . . . Öfters hatte er diesem gesagt:

»Rußland ist eine eisige Ebene, in welcher sich seit Hunderten von Jahren Wölfe umhertreiben . . .«

Der Minister hatte ihn mit samtweichem, liebkosendem Blick angesehen; mit der weißen Hand den gepflegten, grauen Schnurrbart streichelnd, schwieg er und seufzte. Der Minister hatte seine Ämter als ein qualvolles, opferheischend drückendes Kreuz getragen; er trug sich mit dem Gedanken, nach Beendigung des Dienstes . . .

Aber er starb.

Jetzt ruhte er im Grabe, und Apollon Apollonowitsch Ableuchow war nun ganz allein; hinter ihm verloren sich die Jahrhunderte, in der Un—ermeßlichkeit; vor ihm zeigte eine frostige Hand in die Un—ermeßlichkeit.

Un—ermeßlichkeiten flogen ihm entgegen.

Rußland, Rußland, dich sah er, dich!

Du bist es, das durch Wind, Sturm, Schnee und Regen heulte; heulte durch Millionen lebendiger, beschwörender Stimmen! Es schien in diesem Augenblick dem Senator, als riefe eine Stimme aus einem einsamen Grab, in unbestimmter Weite nach ihm; es wiegte sich dorten kein einsames Kreuz; es winkte von dort kein Lichtchen in das eisige Schneetreiben hinein; und hungrige Wölfe heulten in Rudeln dort als Echo der heulenden Winde.

Unstreitig: im Senator entwickelte sich mit den Jahren Raumangst.

Die Krankheit wurde akut — seit jenem tragischen Tod; vielleicht beobachtete ihn nächtlich die Gestalt des toten Freundes und blickte ihn in den langen Nächten an mit seinem samtweichen Blick und streichelte mit der weißen Hand den gepflegten, grauen Schnurrbart.

Inzwischen setzte sich die Unterhaltung fort

Inzwischen setzten Nikolai Apollonowitsch und der Unbekannte die Unterhaltung fort.

»Ich habe den Auftrag,« sagte der Unbekannte, die Aschenschale von Nikolai Apollonowitsch nehmend, —»ja: ich habe den Auftrag, Ihnen dieses Paketchen zur Aufbewahrung zu übergeben.«

»Nur das?« rief Apollonowitsch Nikolai. Er wagte noch kaum zu glauben, daß das beängstigende Erscheinen des Unbekannten nicht jenes schreckliche Versprechen betraf, daß es sich nur um ein harmloses Paketchen handelte; rasch erhob er sich und näherte sich dem Paket; doch seltsamerweise erhob sich auch der Unbekannte und trat zwischen Nikolai Apollonowitsch und das Paket; und als die Hand des Senatorsohnes nach diesem griff, erfaßte der Unbekannte derb seine Finger:

»Vorsichtig, um Gottes willen . . .«

Da ertönte plötzlich ein metallischer Laut, ein Knall; man hörte das Quieken einer gefangenen Maus; im Nu flog das Taburett zu Boden, und mit eiligen Schritten lief der Unbekannte in die Ecke:

»Nikolai Apollonowitsch! Nikolai Apollonowitsch,« rief seine ängstliche Stimme, »eine Maus, eine Maus . . . Sagen Sie geschwind Ihrem Diener . . . daß, das . . . das kann ich nicht ertragen . . .«

Nikolai Apollonowitsch wunderte sich.

»Sie fürchten sich vor Mäusen? . . .«

»Rasch, rasch . . . schaffen Sie sie fort . . .«

Nikolai Apollonowitsch beeilte sich, den Knopf der elektrischen Klingel zu drücken und sah ordentlich komisch aus, in der Hand die gefangene Maus haltend, die allerdings in der Falle saß, und Nikolai Apollonowitsch neigte sein Gesicht fast bis an den Draht, um das Tierchen genauer zu betrachten.

»Ein Mäuschen«, sprach er, die Augen zum hereintretenden Diener gewandt; höflich wiederholte seinerseits dieser:

»Ein Mäuschen.«


Nikolai Apollonowitsch trug endlich das Paket in sein Arbeitszimmer; es fiel ihm flüchtig nur auf, daß das Paketchen so schwer war; doch dachte er darüber nicht weiter nach; nur als er auf dem weichen Teppich leicht stolperte, ertönte aus dem Paket ein metallischer Klang; der Unbekannte fuhr bei diesem Laut leicht in die Höhe, und dabei beschrieben seine Arme jene Zickzacklinie in der Luft, die den Senator vor kurzem so erschreckt hatte.

Doch es geschah nichts: der Unbekannte erblickte nur zu seiner nicht geringen Verwunderung auf dem Lehnstuhl im Nebenzimmer einen faltenreichen roten Domino und eine schwarze Maske; während Nikolai Apollonowitsch einen Platz in seiner Schreibtischlade freimachte und, vorsichtig, das Paketchen hineintat, betrachtete der Unbekannte den Domino; zugleich sprach er lebhaft Gedanken aus, die in ihm gründlich gereift zu sein schienen:

»Wissen Sie . . . Die Einsamkeit richtet mich zugrunde. Ich habe in diesen Monaten verlernt zu reden. Merken Sie nicht, daß meine Worte verworren sind?«

Nikolai Apollonowitsch, den bucharischen Rücken dem Gaste zugewandt, sagte hierauf durch die Zähne:

»Na, das geschieht zuweilen mit jedem.«

Der Unbekannte sprach hinter seinem Rücken weiter:

»Ich finde mich nicht mehr in den Sätzen zurecht. Ich will irgendein Wort sagen, sage aber etwas ganz anderes: drehe mich immer im Kreis um die Sache herum . . . Ich vergesse zuweilen die Namen der gewöhnlichsten Gegenstände, und wenn ich auf sie komme, dann zweifle ich, ob sie richtig sind. Ich wiederhole mir: Lampe, Lampe, Lampe; plötzlich aber scheint es mir, daß ein solches Wort gar nicht existiere. Ich habe meist niemand, den ich fragen könnte; und den ersten besten zu fragen, davon hält mich Scham zurück; man würde mich am Ende für einen Wahnsinnigen halten.«

»Aber was fällt Ihnen ein . . .«

Übrigens, was das Paket betrifft: hätte Nikolai Apollonowitsch aufmerksam auf die Mahnungen zur Vorsicht seitens seines Gastes geachtet, er würde begriffen haben, daß das vermeintlich harmlose Paketchen keinesfalls so harmlos war; aber er beachtete es nicht und verstand auch kaum die jetzt aufgefangenen Worte. Indessen fuhr die prasselnde Fistelstimme fort, ihn auf den Rücken zu trommeln:

»Das Leben ist schwer für einen, der, wie ich, in der Torricelli-Luftleere . . .«

»Torricelli?« fragte verwundert Nikolai Apollonowitsch, ohne auf die Rede zu achten.

»Ja, eben — Torricelli-Luftleere, und das alles im Namen der Allgemeinheit, der Sache für die Allgemeinheit; diese Sache für die Allgemeinheit hat aber mich aus der Liste der Lebenden gestrichen. Meine Gesellschaft sind Wanzen und Mauerkäfer. Ich bin nur — ich. Hören Sie mir zu?«

»Gewiß doch.«

Nikolai Apollonowitsch hörte jetzt tatsächlich zu.

Hier aber schwieg plötzlich der Unbekannte. Denn Nikolai Apollonowitsch hatte den Schreibtisch abgesperrt und wandte sich um.

»Wissen Sie: ich wollte Sie schon längst einmal sehen, um mich einmal vor Ihnen auszusprechen: ich sehe so wenige. Ich wollte Ihnen von mir erzählen.«

»Von wem? . . . Aber warten Sie, warten Sie: ich habe einen Kognak im Schränkchen — mögen Sie . . .«

»Nicht abgeneigt . . .«

Bald erschien vor dem Gast eine kleine Karaffe und zwei geschliffene Weingläschen.

Während er dem Gast das Glas füllte, dachte Nikolai Apollonowitsch daran, daß jetzt die beste Gelegenheit sei, sich von dem damaligen Versprechen loszusagen; als er aber diesen Gedanken in Worte einkleiden wollte — wurde er verlegen; aus Feigheit vermochte er es nicht, sich vor einem Fremden feige zu zeigen.

»Ich lese jetzt Conan Doyle zur Erholung,« fuhr der Unbekannte zu prasseln fort, »Meine Lektüre würde Ihnen überhaupt sehr verrückt erscheinen: ich lese die Geschichte des Gnostizismus, Gr. Nissk., den Syrianer, den Apokalypsis. Das ist, wissen Sie, mein Privileg. Die Originalität meiner geistigen Nahrung kommt von denselben Sonderstellungen. Ich bin ein revolutionärer Snob, wie es militärische Snobs gibt, die sich den Georgsorden verdient haben: einem alten Kriegsmann mit Verdiensten verzeiht man manches.«

Der Unbekannte wurde nachdenklich, dann füllte er sein Gläschen, trank es aus, um es von neuem zu füllen.

»Und warum sollte ich auch nicht nach meinem Eigenen, Persönlichen suchen: Ich privatisiere auch so zwischen vier gelben Wänden.«

»Sie waren ja deportiert gewesen?«

»Ja, nach Jakutsk.«

Hier entstand ein verlegenes Schweigen. Der Unbekannte mit dem schwarzen Schnurrbärtchen sah aus dem Fenster auf die Fläche der Newa. Schwänze von Rauch hingen über dem dunkelfarbigen Gewässer. Der Unbekannte nippte aus dem Gläschen, dann sah er die gelbe Flüssigkeit an: seine Hände zitterten.

Nikolai Apollonowitsch sagte beinahe mit . . . Haß:

»Den Massen aber sagen Sie wohl nichts davon?«

»Natürlich schweig’ ich noch so lange.«

»Nun, und nach der Rückkehr aus Jakutsk?«

»Die Flucht aus Jakutsk war mir gut gelungen; ich wurde in einem Sauerkrautfaß herübertransportiert, und jetzt bin ich das, was ich bin: ein Arbeiter im Dunkeln. Glauben Sie ja nicht, ich arbeite im Namen sozialer Utopien oder im Namen eurer Eisenbahn — Gedankengänge. Eure Kategorien erscheinen mir wie Schienen und euer Leben wie ein rollender Eisenbahnwagen; ich war früher auch ein vollendeter Nietzscheaner. Wir alle sind ja Nietzscheaner: auch Sie, Herr Ingenieur Ihrer Eisenbahnlinie, sind es, nur werden Sie es nie zugeben. Nun also: für uns, Nietzscheaner, ist die agitatorisch und revolutionär gestimmte Masse die Klaviatur, über die die Finger des Pianisten frei laufen, eine Schwierigkeit nach der anderen überwindend; und während irgendein Gaffer im Parkett sich an den göttlichen Beethoventönen labt, liegt für den Spieler und für Beethoven die Sache nicht in den Tönen, sondern im Septakkord. Sie wissen ja, was Septakkord ist? So sind wir alle!«

»Also Sportsmänner der Revolution!«

»Was ist dabei? Ist denn der Sportsmann nicht Artist? Ich bin Sportsmann aus reiner Liebe zur Sache, und deshalb bin ich Artist.«

Wieder entstand verlegenes Schweigen. Nikolai Apollonowitsch zupfte geärgert am Knopf seines Ruhebetts.

»Alles ist aufgebaut auf Kontrasten! Und meine Tätigkeit für die Gesellschaft brachte mich in die traurigen Regionen des Eises. Hier gedachte man wohl meiner, man vergaß aber, daß ich dort allein war, in einer Leere; und während ich in dieser Leere versank, verlor ich alle Parteivorurteile, alle Kategorien, wie Sie sagen würden: seit Jakutsk habe ich nur eine einzige Kategorie. Und wissen Sie, welche?«

»Welche denn?«

»Die Kategorie des Eises . . .«

»Wie meinen Sie dies?«

Wohl vom Nachdenken oder vom Alkohol nahm hierbei das Gesicht Alexander Iwanowitschs einen seltsamen Ausdruck an. Seine Farbe, ja selbst sein Umfang veränderte sich kraß (es gibt Gesichter, die sich jäh verändern): er schien jetzt ganz berauscht.

»Die Kategorie des Eises — das Eis der jakutischen Gegend; ich trage es immer im Herzen; das ist es, was mich von den anderen scheidet; ja, ja, ja; das Eis scheidet mich: erstens als Menschen, der unter fremdem Namen lebt, und dann hat mir dieses Eis jene besondere Eigenschaft verliehen, durch die ich mich, auch wenn ich unter Menschen bin, in die Un—ermeßlichkeiten versetzt fühle . . .«

Nikolai Apollonowitsch empfand eine seltsame Kälte: sein an die Partei gegebenes Versprechen war ja noch nicht zurückgenommen; von den Worten des Unbekannten wehten so durchdringlich eisige Ebenen; wie sein Vater liebte Nikolai Apollonowitsch nicht die Weite.

Inzwischen stand Alexander Iwanowitsch beim Fenster und lächelte:

»Ein Programm für die Revolution hat unsereiner nicht nötig: das ist etwas für Theoretiker, Publizisten, Philosophen . . .«

Plötzlich brach er ab und schwieg: aus dem schlackigen Nebel rollte ein Wagen heran, die Wagentür flog auf, und Apollon Apollonowitsch sprang rasch hervor und warf einen flüchtigen, ängstlichen Blick auf die Spiegelscheiben der Fenster. Auch Alexander Iwanowitsch empfand eine jähe Angst und führte die Hand vor die Augen.

»Er . . .«

»Was ist los?«

»Nichts Besonderes: Ihr Vater ist mit dem Wagen gekommen.«

Wände — Schnee und nicht Wände

Apollon Apollonowitsch liebte seine geräumige Wohnung nicht; ihre Möbel glänzten zu aufdringlich, so in alle Ewigkeit . . .

Lauttönend, grell hallten die Schritte des Senators durch den Saal. Von der mit weißen Girlandenmustern verzierten Decke, aus dem Kreis der Stuckfrüchte, hing ein Lüster aus Bergkristall. Er wiegte sich, durchschimmernd, behangen von durchsichtigen Mullgeweben, und bebte in kristallenen Tränen.

Die Quadrate des Parketts glänzten wie ein Spiegel. Die Wände: Schnee — und nicht Wände. Hochbeinige Stühle standen dort und goldene Rinnen liefen die weißen Beine entlang; zwischen den Stühlen mit cremefarbenen Plüschsitzen glänzte das Weiß der hohen Alabastertischchen, auf deren jedem sich ein Archimedes aus demselben Material erhob. Aber es war nicht nur Archimedes, es waren auch andere Griechen. Kalt blinkte von den Wänden das eingelegte ernst-eisige Spiegelglas; doch eine sorgliche Hand hängte auch dahin rundrahmige Bilder von blaßblauen Tönen, die an die Fresken von Pompeji erinnerten.

Apollon Apollonowitsch warf im Vorübergehen einen flüchtigen Blick auf die Fresken und gedachte derjenigen Hand, die sie dahin gehängt; diese sorgliche Hand war die der Anna Petrowna: Apollon Apollonowitsch verzog verächtlich den Mund und schritt in der Richtung seines Arbeitszimmers weiter. Zwei Jahre waren es her, seit Anna Petrowna ihn, eines italienischen Sängers wegen, verlassen hatte. —

Eine Persönlichkeit

Mit dem Erscheinen des Senators im Hause wurde der Unbekannte von Nervosität ergriffen; seine bis dahin glatt fließende Sprache wurde holprig: wahrscheinlich die Wirkung des Alkohols; überhaupt schien sein Gesundheitszustand bedenklich; die Gespräche, die er mit sich selbst und mit anderen führte, lösten in ihm ein sündhaftes Gefühl aus und wirkten quälend auf sein Rückenmark; er empfand einen sonderbaren, düsteren Ekel vor seinen interessierenden Gesprächen; dieser Ekel übertrug sich dann auf ihn selbst; diese äußerlich harmlosen Unterhaltungen schwächten ihn sehr; doch am unangenehmsten war der Umstand, daß, je mehr er sprach, um so unwiderstehlicher sich in ihm das Bedürfnis regte, noch weiterzusprechen; er konnte nicht mehr Einhalt tun und erschöpfte sich mehr und immer mehr; manchmal ging dies so weit, daß er dann vom Verfolgungswahn befallen ward; in Träumen setzten sich diese Anfälle fort: er hatte furchtbare Träume; der Albdruck kehrte oft dreimal in einer Nacht wieder.

All das fiel Alexander Iwanowitsch ein, und er schüttelte die Achseln: als hätte die Rückkehr des Senators seine Seele wieder in Aufruhr gebracht; ein fremder Gedanke beunruhigte ihn. Zuweilen näherte er sich der Tür und horchte auf kaum vernehmbare, ferne Schritte: die Schritte des Senators, der sich in seinem Zimmer bewegte.

»Nun hören Sie meinem Geschwätz weiter zu, Nikolai Apollonowitsch: in all den Worten über die Selbstbehauptung meiner Persönlichkeit liegt ja wiederum Krankhaftigkeit. Ich spreche mit Ihnen, debattiere — aber nicht mit Ihnen debattiere ich, sondern mit mir, nur mit mir selbst. Der Partner bedeutet für mich gar nichts: ich spreche ebenso mit Wänden, mit Laternenpfahlen, mit vollendeten Idioten. Ich höre nicht auf fremde Gedanken, das heißt ich höre nur davon das, was mich selbst, was das meine betrifft. Ich kämpfe, Nikolai Apollonowitsch: die Einsamkeit ist der Angreifer; ich sitze stunden-, tage-, wochenlang in meiner Mansarde und rauche. Dann beginnt es mir zu scheinen, als wäre alles nicht das Eigentliche. — Kennen Sie das?«

»Ich kann es mir nicht deutlich vorstellen. Ich hörte, so was kommt bei Herzschwäche vor. Beim Anblick von leeren Flächen, in deren Nähe sich nichts befindet . . . Das versteh’ ich eher.«

»Ich aber nicht; doch wenn ich so allein sitze . . . da sag’ ich mir: warum bin ich — ich? Und da scheint es mir: ich bin es eben gar nicht. Oder: da steht vor dir ein Tischchen. Weiß der Teufel: ist das ein Tischchen, oder ist es keines? Und ich sage mir: was hat doch das Leben aus dir gemacht? Aber glauben Sie: ich bin nur allein krank? Oho: auch Sie, Nikolai Apollonowitsch, sind es. Fast alle sind — krank. Lassen Sie, ich weiß alles, was Sie sagen wollen, und doch: ha—ha—ha! — Fast alle Ideenarbeiter in der Partei sind in derselben Weise krank; nur bei mir tritt es deutlicher hervor. Ich hab’ auch in früherer Zeit, wissen Sie, die Parteiarbeiter gern beobachtet: eine gefüllte Versammlung; Geschäfte, Rauch, Gespräche — über lauter Erhabenes, Edles; mein Genosse ist voll Aufregung; dann aber lädt er mich ein, mit ihm ins Restaurant zu gehen.«

»Nun, und was dann?«

»Nun, da erscheint natürlich Wodka und dergleichen; ein Glas hübsch nach dem anderen; ich beobachte nun: zeigte sich nach dem Wodka um den Mund meines Partners so ein Schmunzeln (welches es ist, kann ich Ihnen nicht sagen), dann wußte ich: auf diesen Ideenarbeiter ist kein Verlaß; seinen Worten und seinem Tun ist kein Glauben zu schenken; dein Partner ist krank — an Willensschwäche, an Neurasthenie; und nichts, glauben Sie mir, nichts in der Welt schützt ihn vor Gehirnerweichung: dieser Partner ist nicht nur fähig, in schwieriger Situation sein Wort zu brechen (Nikolai Apollonowitsch fuhr zusammen): er ist auch fähig zum ganz einfachen Diebstahl und Verrat. Und sein Verbleiben in der Partei ist Provokation, Provokation. Seither lernte ich die Bedeutung solcher, wissen Sie, Fältchen um den Mund, kleiner Schwächen, eines Auflachens, einer Grimasse verstehen; und wohin ich meine Augen wende, überall, überall stoße ich auf Zerrüttung des Gehirns — eine allgemeine, schleichende, nicht zu fassende Provokation — versteckt hinter einem solchen, wissen Sie, kurzen Auflachen; welcher Art — könnte ich Ihnen nicht sagen, aber ich erkenne es mit unfehlbarer Sicherheit — ich habe es auch bei Ihnen erkannt.«

»Dann sind aber auch Sie ein Provokateur. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich meine es in idealem Sinne.«

»Ich — ja, ja, ja. Ich bin ein Provokateur. Aber meine ganze Provokation betätigt sich im Namen einer großen, heimlich aus Fernen rufenden Idee; eigentlich nicht einer Idee, sondern einer Strömung.«

Die Erregung des Unbekannten übertrug sich auf Ableuchow; die bläulichen Tabakwellen und die zwölf zerknüllten Zigarettenstummel machten ihn durchaus nervös. Als wäre ein unsichtbarer Dritter zwischen sie getreten.

»Warten Sie, ich geh’ mit Ihnen; mir brummt der Schädel. Wir können draußen ungestört weiterreden.«

»Ein vorzüglicher Gedanke.«

Ein scharfes Pochen an die Tür unterbrach ihn, und ehe Nikolai Apollonowitsch fragen konnte, wer da sei, öffnete der halbberauschte Alexander Iwanowitsch die Tür. Hart vor ihm, fast an seine Stirn stoßend, befand sich ein nackter Schädel mit großen, allzu großen Ohren. Der Unbekannte sprang zurück und sah zu Nikolai Apollonowitsch hinüber; doch was er erblickte, war nur . . . eine Friseurladenpuppe: ein blasses, schönes Wachsgesicht mit unangenehmem Lächeln auf dem bis zu den Ohren gehenden Munde.

In der offenen Tür stand Apollon Apollonowitsch, eine riesige Melone unterm Arm . . .

»So—o—o, so—o—o. Ich habe, scheint es, gestört . . . Ich brachte dir dieses Melonchen da, Kolenka . . .«

Es war Tradition des Hauses, daß Apollon Apollonowitsch, wenn er in der Herbstzeit vom Dienst nach Hause fuhr, eine Astrachaner Melone mitbrachte, für die beide, sowohl er wie sein Sohn, eine Passion hatten.

Alle drei bewahrten einen Augenblick Schweigen; während dieses Augenblicks empfand jeder von ihnen ganz offen eine tierische Angst.

»Mein Universitätskollege, Vater . . . Alexander Iwanowitsch Dudkin . . .«

»So—o—o . . . Sehr angenehm.«

Apollon Apollonowitsch reichte zwei Finger: jene Augen — ohne den schrecklichen Blick; war es in Wahrheit jenes Gesicht, das ihn auf der Straße anblickte? Apollon Apollonowitsch sah vor sich einen schüchternen, offensichtlich von Not bedrückten Menschen.

Doch drei Herzen pochten laut; drei Augenpaare vermieden es, einander zu begegnen. Nikolai Apollonowitsch rannte hinaus, um sich umzuziehen.

Inzwischen knüpfte Apollon Apollonowitsch mit dem Unbekannten ein Gespräch an. Die Unordnung im Zimmer des Sohnes, der Kognak, die Zigarettenstummel machten einen peinlichen Eindruck auf den Senator; aber die Antworten des Unbekannten beruhigten ihn: diese waren völlig zusammenhanglos. Alexander Iwanowitsch errötete immer wieder und gab zufällige Antworten. Er sah vor sich nur gutmütige Fältchen, und aus diesen gutmütigen Fältchen blickten gutmütige Augen: die Augen eines Gehetzten; und die knisternde Stimme formte sich zu Worten, die Alexander Iwanowitsch kaum hörte; nur die Endworte der Sätze fing sein Ohr auf:

»Wissen Sie . . . schon als Gymnasiast liebte Kolenka alle Vögel . . . Er war wißbegierig . . . Jetzt ist er ganz anders: hat alles verworfen . . . Und geht nicht zu den Kollegs . . .«

So redete im Schreiton Apollon Apollonowitsch, der achtundsechzigjährige Greis; etwas wie Mitgefühl regte sich im Herzen des Unbekannten . . .

Nikolai Apollonowitsch trat wieder ein.

»Wo gehst du hin?«

»Ich muß geschäftlich wohin, Vater . . .«

»Zusammen mit . . . Alexander . . . mit Alexander . . .«

»Mit Alexander Iwanowitsch . . .«

»So—so . . . Also mit Alexander Iwanowitsch.« Bei sich dachte Apollon Apollonowitsch: »Am Ende ist es vielleicht am besten: vielleicht waren die Augen nur Einbildung . . .« Weiter dachte Apollon Apollonowitsch, daß — Not keine Schande sei . . . Warum nur der Kognak? (Apollon Apollonowitsch haßte Alkohol.)

»Ja, wir gehen geschäftlich . . .«

Apollon Apollonowitsch suchte nach einem passenden Wort:

»Vielleicht essen wir erst zu Mittag? Alexander Iwanowitsch könnte mit uns speisen . . .«

Apollon Apollonowitsch sah auf die Uhr:

»Übrigens ich will nicht stören.«

»Auf Wiedersehen, Vater . . . .«

»Adieu . . .«


Während sie über den helltönenden Korridor schritten, stand der kleine Apollon Apollonowitsch hinten in der Korridorhalbdämmerung und blickte neugierig den beiden nach.

Und doch, und doch . . . Gestern erblickten ihn diese Augen: Haß und Angst waren in ihnen; und diese Augen: — sie gehörten ihm. — Und eine Zickzackbewegung mit der Hand . . . eine höchst unangenehme — oder war alles gar nicht — war es überhaupt nicht?

»Alexander Iwanowitsch Dudkin, Student . . .«

Apollon Apollonowitsch schritt hinter ihnen weiter.


Im prunkvollen Vorraum blieb Nikolai Apollonowitsch vor dem alten Diener stehen und suchte nach dem Wort, das er sagen wollte.

»Ja—aa . . . aa . . .«

»Zu dienen!«

»Aha . . . das Mäuschen!«

»Jawohl! . . .«

»Bitte, was haben Sie damit gemacht?«

»Mit dem Mäuschen? Auf dem Kai in Freiheit gesetzt . . .«

»Ist es auch richtig?«

»Gewiß doch, gnädiger Herr: wie immer.«

Nikolai Apollonowitsch empfand besondere Zärtlichkeit gegen diese kleinen Bestien.

Beruhigt über das Schicksal der Maus schritt er neben Alexander Iwanowitsch weiter.

Beiden schien es, als blicke ihnen von der Balustrade jemand mit traurigem, prüfendem Blick nach.


Die Flucht

Alexander Iwanowitsch kehrte in seine traurige Behausung zurück, um einsam zwischen den vier kahlen, braungelben Wänden zu sitzen und das Leben der Mauerkäfer in den feuchten Wandfalten zu studieren. Sein morgendlicher Ausgang war eine Flucht vor den Mauerkäfern; er merkte schon längst, daß die Ruhe seiner Nächte in direktester Weise von der Ruhe des vorhergegangenen Tages abhänge: was er auf der Straße, im Wirtshaus, im Café erlebte, das brachte er mit nach Hause.

Und was war nun heute?

Alexander Iwanowitsch dachte: wenn er nach Hause zurückgekehrt sein wird, werden die Geschehnisse des Tages seine Tür zu sprengen beginnen.

Hinter sich ließ Alexander Iwanowitsch die diamantenschimmernde Brücke zurück.

Weiter, hinter der Brücke, auf dem Fond des nächtlichen Issakijdoms, reckte sich — aus der grünen Wirrnis — immer derselbe Granitblock, immer derselbe geheimnisvolle Reiter hielt dort in der schweren, grünenden Hand seinen kupfernen Lorbeerkranz hoch über die Newa; unter den weit ausschlagenden Vorderhufen des Rosses stand schlummernd ein alter Grenadier mit buschigem Helm auf dem Kopf.

Ein leicht wogender Halbschatten bedeckte des Reiters Angesicht, und die Einheit des metallenen Antlitzes verlor sich im Doppelsinn des Ausdrucks; die metallene Hand schnitt in die türkisblaue Luft ein.

Von jener schicksalsschwangeren Zeit, als der metallene Reiter an die Ufer der Newa herangesprengt kam, von jener, mit kommenden Tagen schwangeren Zeit, als er sein Roß auf das graue, finnische Granit warf — von da ab — spaltete sich Rußland; es spalteten sich auch die Schicksale des Vaterlandes; diesen Riß trug Rußland leidend und weinend, trug und trägt ihn bis zur heutigen Stunde . . .

Du, Rußland, bist wie ein Roß! Ins Dunkel, in die Leere schlägst du mit den Vorderhufen aus; und fest verankert im Granit sitzen deine Hinterbeine.

Willst auch du dich von dem haltenden Stein lösen, wie sich manche deiner wahnsinnigen Söhne vom Boden lösten — willst auch du dich lösen von dem haltenden Stein, um zaumlos in der Luft hängenzubleiben, um dann in das undurchdringliche Wasserchaos zu stürzen? Oder wähnst du, durch die Lüfte, Nebel zerreißend, mitsamt deinen Söhnen in die Wolken zu tauchen? Oder, Rußland, bist du nur aufgebäumt, in Sinnen versunken über das grausige Schicksal, das dich hierher verschlug — in diesen Norden, wo selbst die Sonne zögernd stundenlang nicht unterzugehen vermag; wo die Zeit fiebernd, bald in frostiger Nacht, bald im tagelichten Schimmer sich dehnt? Oder willst du, dich vor dem Sprunge fürchtend, deine Hufe dem Boden nähern und wiehernd deinen großen Reiter aus den trügenden Landen zurück in die Tiefen der Ebenen tragen?

Möge es nicht geschehen! . . .

Einmal hoch aufgebäumt, die Lüfte mit dem Blick messend, wird das kupferne Roß nicht die Hufe senken: ein Sprung wird es sein in die Geschichte, ein Brausen, ein mächtiges, wird es geben; spalten wird sich der Boden; die Berge selbst werden stürzen von dem Sprung; und die geliebten Ebenen werden höckerig werden; dann werden sich Nishnij Nowgorod und Wladimir und Uglitsch erheben . . .

Du aber, Petersburg, wirst sinken.

Alle Völker werden dann ihre Plätze verlassen; einen großen Streit wird es geben, einen Streit, wie ihn die Welt noch niemals gesehen: die gelben Horden aus Asien, ihre festangesessenen Plätze verlassend, werden die europäischen Fluren mit Ozeanen von Blut überströmen; es wird, es wird — ein Zusima geben! Es wird — eine neue Kalkschlacht geben! . . .

Schlachtfeld von Kulikowo — ich harre deiner!

Aufgehen wird dann die letzte Sonne auch über meinem geliebten Land. Wenn du, o Sonne, nicht aufgehst, dann versinken, o Sonne, unter den schweren mongolischen Fersen die europäischen Ufer, und weiße Gischt wird diese Ufer bespritzen, die Erdgeborenen werden wieder auf des Ozeans Grund sinken — in das ureigene, in das längst vergessene Chaos . . .

Geh auf, o Sonne!

Geh auf!


Ein türkisblauer Durchblick glitt am Himmel hin; ihm entgegen flog durch die Wolken ein brennender Phosphorfleck, der sich plötzlich in die helleuchtende Mondscheibe wandelte; für einen Augenblick entflammte alles rundum: Wasser, Rinnsteine, Granit, die zwei Göttinnen über dem Viadukt, das Dach des vierstöckigen Hauses; hell blinkte die Kuppel des Issakijdoms; entflammt waren auch — des Reiters Angesicht und der Kupferlorbeerkranz; allmählich erloschen die Lichter der Inseln, und das zweideutige Fahrzeug inmitten der Newa erwies sich als ein einfacher Schoner; ein heller Punkt leuchtete funkelnd von der kleinen Kapitänsbrücke: vielleicht das Lichtsignal des rotnasigen Bootsmanns mit der holländischen Mütze, vielleicht die helle Laterne des wachthabenden Matrosen.

Einem Rußwölkchen gleich, löste sich der Halbschatten vom kupfernen Reiter, und schwärzer zeichneten sich auf den Steinen des Pflasters der buschhaarige Grenadier und der Reiter.

Die Schicksale der Menschen sah Alexander Iwanowitsch plötzlich von hellem Licht durchleuchtet: er vermochte klar zu erblicken, was einmal sein wird; er vermochte es jetzt zu erfahren, was nie geschehen kann: alles war deutlich; das Schicksal schien sichtbar geworden zu sein; doch in sein eigenes Schicksal zu blicken, davor bangte es ihm; erschüttert, ergriffen, sehnsuchterfüllt stand er davor.

Und — der Mond bohrte sich in eine Wolke hinein . . .

Wild jagend flogen die Flockenarme der Wolken dahin; neblige Hexenhaarsträhnen durchzogen die Höhe; und zweideutig tanzte dazwischen ein brennender Phosphorfleck . . .

Plötzlich — ein betäubendes Brüllen: vom Viadukt her gegen den Newastrom raste, mit riesigen Scheinwerfern blendend, petroleumkeuchend, ein Auto; Alexander Iwanowitsch erblickte noch die gelben Mongolengesichter; dann verließen ihn die Kräfte. Er fiel plötzlich zu Boden, und zu seinen Füßen rollte seine durchnäßte Mütze, während er hinter seinem Rücken ein einem Wehklagen ähnliches Lispeln vernahm:

»Herr Jesus Christus! Steh uns bei!«

Alexander Iwanowitsch wandte sich und gewahrte, daß es der Grenadier war.

»Herrgott, was war das?«

»Ein Auto: hohe japanische Gäste . . .«

Das Auto aber war nicht mehr zu sehen.

Stjopka

Hinter Petersburg, von Kolpino ab, läuft in Windungen die verlassene Straße: diese Gegend — es gibt keine schrecklichere Gegend! Näherst du dich Petersburg morgens oder blickst beim Erwachen aus dem Fenster: — tot; keine einzige Seele, kein Dorf; es ist, als wäre das Menschengeschlecht ausgestorben und die Erde selbst — ein toter Körper.

Vielschlotiges, vielrauchiges Kolpino.

Von Kolpino gegen Petersburg läuft also diese sich windende Straße; sie schlängelt sich einem grauen Bande gleich; ihr Rand ist von Schotter und Telegraphenpfählen eingefaßt. Mit einem Bündel am Stock über der Schulter wanderte dort ein Arbeitsbursche dahin; wurde aus irgendeinem Grund fortgejagt; jetzt zog er auf seinem eigenen Rappen in der Richtung gegen Petersburg; um ihn herum borstete sich das gelbe Schilf; tot lagen die Steine am Wege; zuweilen flogen Schlagbäume auf und nieder, die Telegraphendrähte summten, anfangs und endlos. Der Arbeitsbursche war der Sohn eines verarmten Krämers; sein Name war Stjopka; kaum einen Monat hatte er in der Fabrik gearbeitet, nun ging er nach Petersburg.

Vielstöckige Mauerriesen kauerten zwischen den Fabrikschloten, da und dort, dort und hier; am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen, und der Horizont schien wie ein schmieriger Rußstreifen; und diesen Ruß atmeten dorten anderthalb Millionen Einwohner.

All das sah mein Stjopka, doch aus all dem machte er sich wenig; auf einen Schotterhaufen sich niederkauernd, aß er ein Stück von seinem Brot. Und weiter ging’s: gegen Petersburg; gegen Petersburg, das giftige, rußbedeckte.

Am Abend dieses Tages öffnete sich die Tür der Hausmeisterwohnung; der Hausmeister Matweij Morschow saß gerade im Zimmer und las den »Börsenkurier«; die korpulente Hausmeisterin (sie litt immer an den Ohren) hatte einen Berg von Kissen auf dem Tische liegen und war eifrig bemüht, mit Hilfe russischen Terpentinöls die Wanzen aus denselben zu vertilgen; ein scharfer, ätzender Geruch erfüllte die Hausmeisterwohnung.

In diesem Augenblick ging quiekend die Tür auf; auf der Schwelle stand unsicher Stjopka (der Hausmeister Matweij Morschow auf der Wassiljewskij-Insel war sein einziger Landsmann in Petersburg; es war daher begreiflich, daß Stjopka ihn aufsuchte).

Am Abend erschien auf dem Tische eine Wodkaflasche; es erschienen auch Sauergurken; es erschien auch Beßmertny, der Schuhmacher, mit seiner Gitarre. Die Wodka lehnte Stjopka ab: um so mehr tranken der Hausmeister Matweij Morschow und Beßmertny, der Schuhmacher.

»Hör’ nur mal . . . hör’ nur mal, was der Landsmann da alles erzählt«, sprach schmunzelnd Morschow.

»Das kommt alles davon, weil sie nicht den gehörigen Verstand haben«, zuckte der Schuster Beßmertny die Achseln; er berührte die Saite mit dem Finger, und es ertönte: bim, bim. Stjopka aber erzählte immer wieder von demselben: was sich in ihrem Dorfe für besondere Menschen eingefunden hatten, was diese besonderen Menschen über dies und jenes für Ansichten besaßen, wie sie im Dorfe des Kindleins Geburt, das heißt die Freiheit, verkündeten: o, die allgemeine Freiheit.

»Das kommt alles davon, weil sie nicht den gehörigen Verstand haben; sie haben nicht den gehörigen Verstand: und niemand hat ihn.«

Der Schuster berührte wieder die Saiten, und es ertönte: bim, bim. Er sang dabei.

Stjopka erwiderte zuerst nichts; dann sang auch er ein Liedchen.

Wer aufmerksam gehorcht hatte, war der junge Herr, der oben die Mansarde bewohnte und zufällig in die Hausmeisterwohnung hereingetreten war; er fragte Stjopka über die von ihm erwähnten besonderen Menschen: was diese von dem »Untergang der Welt« prophezeiten und von der Zeit, in welcher dies geschehen werde; noch genauer erkundigte er sich über den fremden Herrn, der ins Dorf gekommen war. Mager war der Herr, litt, wie es schien, und trank auch zuweilen gern ein Gläschen; so daß Stjopka ihm öfters zugeredet hatte:

»Herr, Sie sind kränklich; der Tabak und die Wodka ist für Sie der Tod; auch ich frönte früher diesem Laster, ich trank: dann aber gab ich ein Gelübde . . . Vom Tabak und der Wodka ist alles Böse gekommen; ich weiß auch, wer das Volk mit Wodka vergiftet: der Japaner.«

»Woher weißt du das alles?«

»Von der Wodka? Erstens sagt es selbst Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoi — haben Sie sein Büchelchen ‚Der erste Brantweinbrenner‘ gelesen? — Dasselbe sagten aber auch die Leute im Dorf, die besonderen.«

»Und das mit den Japanern?«

»Von den Japanern — das weiß man schon: das wissen alle. Erinnern Sie sich noch an den Sturm, der in Moskau wütete; damals haben die Leute auch dies und jenes gesprochen; es sollen die Seelen der Erschlagenen gewesen sein: sie seien vom Jenseits, hieß es, über Moskau gezogen, denn sie waren ohne kirchlichen Segen von dannen gegangen. Und noch weiter hieß es: es bedeute einen Aufruhr, der in Moskau ausbrechen würde.«

»Und was wird mit Petersburg geschehen?«

»Was da geschehen wird: Die Chinesen errichten hier einen Götzentempel!«

Der junge Herr lud dann Stjopka zu sich in die Mansarde ein: die Wohnung des jungen Herrn war nicht hübsch, es bangte ihn, allein drinnen zu sitzen, da nahm er Stjopka zu sich hinauf und ließ ihn bei sich schlafen.

Er nahm ihn also mit nach oben, ließ ihn vor sich Platz nehmen, holte aus dem Koffer ein zerrissenes Schriftstück und las es Stjopka vor: »Eure politischen Überzeugungen sind mir klar und deutlich: es ist immer derselbe Teufelsspuk, immer dieselbe finstere Nacht; ihr glaubt mir nicht, aber ich weiß es schon zur Genüge: ich weiß, daß ihr es in Bälde erfahren werdet, wie es viele bald erfahren werden . . . Ich aber werde aus den unreinen Krallen befreit.

Es naht eine große Zeit: denkt daran, schreibt es euch auf, und sagt es euren Nachkommen« . . .

Stjopka zog mit der Nase laut die Luft ein, der junge Herr las noch lange das Schriftstück . . .

»So ist es — so, so. Und wer hat das geschrieben?«

»Der ist im Auslande, verbannt ist er.«

»So—o . . .«


»Und was wird in der Zukunft geschehen, Stjopka?«

»Ich hörte: vor allem wird es ein Morden geben, dann kommt eine allgemeine Unzufriedenheit; dann wieder kommen Seuchen, Hunger; nun, und dann, sagen gelehrte Leute, wird es Unruhen geben: der Chinese wird sich gegen sich selbst erheben; die Mohammedaner — auch sie werden sich rühren, aber daraus wird nichts . . .«

»Na, und weiter?«

»Was weiter? Da hast du, Herr, eine Prophezeiung: wir müssen eine Arche Noah bauen!«

»Wie bauen?«

»Wir werden sie schon bauen: Sie sagen es mir, ich sag’ es Ihnen — wir werden es uns zuflüstern.«

»Was werden wir uns zuflüstern?«

»Aber das eben, immer dasselbe: vom zweiten Erscheinen Christi.«

»Genug: das alles ist . . .«


»Komm hernieder, Jesus Christus!«

Ende des zweiten Kapitels.

Drittes Kapitel

Die Feier

Es hieß an einer sehr hohen Stelle zu erscheinen; das Erscheinen sollte sich gestalten, d. h. — es gestaltete sich hochfeierlich.

Aus diesem Anlaß fanden sich außerordentliche Persönlichkeiten mit außerordentlich ernsten Gesichtern, in goldgestickten Uniformen, an besagter Stelle ein.

Es war ein Tag des Außerordentlichen. Dieser Tag war natürlich hell. In den frühesten Stunden schon funkelte am Himmel die Sonne: und alles funkelte, was nur zu funkeln vermochte: die Petersburger Dächer, die Petersburger Spitzen, die Petersburger Kuppeln.

In der Ferne fielen Kanonenschüsse.

Hätten Sie Muße genug, um einen Blick auf jene wichtige Stelle zu werfen, Sie hätten nur Lack, nur Glanz gesehen: Glanz lag auf den Spiegelscheiben; und selbstverständlich — hinter den Spiegelscheiben; Glanz waren die Säulen; Glanz das Parkett; vor der Einfahrt ebenfalls Glanz; kurz: Lack, Schimmern und Glanz!

Es war ein Tag des Außerordentlichen; und er sollte natürlich in Glanz vergehen; und — er verging natürlich in Glanz.

Vom frühen Morgen schon war jede Dunkelheit gewichen, und es war ein Leuchten, heller als das der Elektrizität, ein Leuchten des Tages; in dieser Helligkeit funkelte alles, was zu funkeln vermochte: die Petersburger Dächer, die Petersburger Spitzen, die Petersburger Kuppeln.

In der Mittagssonne donnerten Kanonenschüsse.

An diesem außerordentlichen, leuchtenden Morgen sprang aus dem Bett mit blendend weißen Bettlaken, im blendenden Schlafzimmer, ein kleines weißes Figürchen; dieses Figürchen erinnerte, weiß Gott weshalb, an einen Zirkusreiter. Nach einer heiligen Tradition alter Zeiten begann dieses Figürchen durch schwedische Gymnastik seinen Körper zu stärken; es streckte die Arme und Beine und machte zwölf (und mehr) Kniebeugen. Nach dieser nützlichen Übung rieb das Figürchen den nackten Schädel und die Hände mit Eau de Cologne.

Weiter, nachdem Schädel, Hände, Ohren und Hals mit kaltem Wasser erfrischt waren und der Kaffee, für den außerordentlichen Tag ins Schlafzimmer gebracht, eingenommen war, warf sich Apollon Apollonowitsch Ableuchow (wie die anderen hochgestellten Greise an diesem Tag) in das gestärkte Linnen; er steckte durch die Öffnung des panzerartigen Hemdes zwei überraschend große Ohren und den lackglänzenden Schädel. Dann holte Apollon Apollonowitsch Ableuchow aus dem Schrank die rotlackierten Schächtelchen, unter deren Deckel, in weichem Samt gebettet, seltene, kostbare Orden lagen. Wie den anderen hochgestellten Greisen, wurde auch ihm eine glänzende Uniform mit vergoldeter Brust gereicht; dazu eine Hose aus weißem Tuch, ein Paar weiße Handschuhe, eine Schachtel von besonderer Form, eine schwarze Säbelscheide, deren Griff mit silbernen Fransen verziert war; unter des gelben Nagels Druck flogen alle zehn rotlackierten Deckelchen auf, und hervorgeholt wurden: der Weiße Adler mit entsprechendem Stern und blauem Band und viele andere Orden, endlich auch die Brillantenzeichen; das alles legte sich auf die goldgestickte Brust. Apollon Apollonowitsch stand vor dem Spiegel, weißgoldig (ganz Schimmern und Schauer!), mit der Linken den Säbel an die Seite drückend, die Rechte mit dem pleureusengeschmückten Dreimaster und den weißen Handschuhen — an der Brust. In dieser Schauer einflößenden Ausstattung lief Apollon Apollonowitsch den Korridor entlang.

Im Salon machte der Senator etwas verwirrt einen Augenblick halt; die außerordentliche Blässe und das nachlässige Aussehen des Sohnes versetzten den Senator in Erstaunen.

Nikolai Apollonowitsch erhob sich an diesem Tage ungewöhnlich früh; nebenbei gesagt, hatte Nikolai Apollonowitsch diese Nacht überhaupt nicht geschlafen: am Abend rollte ein Wagen an das gelbe Haus heran; Nikolai Apollonowitsch sprang aus dem Wagen und begann kräftig zu läuten; als ihm der graue, goldbetreßte Lakai aufgemacht hatte, lief Nikolai Apollonowitsch, ohne den weiten Mantel abgenommen zu haben, die leere Zimmerflucht entlang und sperrte sich in seinem Zimmer ein. Bald darauf begannen vor dem gelben Hause unbekannte Schatten zu spazieren. Nikolai Apollonowitsch wanderte in seinem Zimmer auf und ab; um zwei Uhr in der Nacht, dann um halb drei, selbst um vier hörte man noch immer seine Schritte.

Ungewaschen und übernächtig, saß Nikolai Apollonowitsch im bunten Schlafrock düster vor dem Kamin. Apollon Apollonowitsch, ganz Schimmer und Schauer, blieb unwillkürlich stehen, und auf dem glatten Parkett spiegelte sich sein Glanz; er stand vor einem Trumeau, umgeben von pausbackigen Putten; seine Finger trommelten leise auf der Inkrustation eines Tischchens. Nikolai Apollonowitsch sprang, plötzlich wie zu sich gekommen, auf, wandte sich um und schloß unwillkürlich die Augen: auch ihn blendete der weißgoldene Greis.

Der weißgoldene Greis war ihm Vater; doch verspürte Nikolai Apollonowitsch in diesem Augenblick nicht die geringsten verwandtschaftlichen Gefühle; er empfand im Gegenteil etwas ganz anderes, dasselbe vielleicht, was er schon in seinem Zimmer empfunden hatte; in seinem Zimmer übte nämlich Nikolai Apollonowitsch terroristische Akte an sich selbst: — Nummer eins übte terroristische Akte an Nummer zwei, der Sozialist an dem Edelmann, der Tote an dem Verliebten; in seinem Zimmer verfluchte Nikolai Apollonowitsch sein irdisches Wesen, und da er das Ebenbild seines Vaters war, verfluchte er denselben logischerweise. Es war klar, daß seine Gottähnlichkeit ihn dazu bewog, seinen Vater zu hassen; liebte aber sein irdisches Wesen dennoch den Vater? Dies würde Nikolai Apollonowitsch sich kaum gestanden haben. Lieben? . . . Ich weiß nicht, ob dieses Wort hier am Platz ist; Nikolai Apollonowitsch kannte seinen Vater gewissermaßen mit den eigenen Sinnen, kannte ihn bis zu den verborgensten Seelenwindungen, bis zum Beben der unaussprechlichen Gefühle; noch mehr: er glich, seinen Sinnen nach, dem Vater vollständig; am meisten wunderte es ihn, daß er psychisch nicht wußte, wo er selbst aufhörte und wo in ihm der Geist des Senators begann, des Trägers jenes funkelnden Brillantenordens unter anderen, die jetzt schimmerten auf der goldgestickten Brust. Er stellte sich im Augenblick vor (vielmehr er fühlte sich selbst in dieser prunkvollen Uniform): was hätte er empfunden, angesichts eines solchen unrasierten Kumpans im bunten bucharischen Schlafrock wie er? Es mußte ihm als Verletzung des guten Tones erscheinen. Nikolai Apollonowitsch begriff, daß er Ekel empfunden hätte, daß diesen Ekel jetzt sein Vater empfand. Er begriff auch, daß es ein Gemisch von Haß und Scham war, das ihn bewogen hatte, vor dem weißgoldenen Greis emporzuspringen:

»Guten Morgen, Vater.«

Der Senator aber fuhr fort, mit den Sinnen, instinktiv vielleicht, in dem Sohne das zu sehen, was ihm selbst nicht uneigen war; seinerseits dachte er sich absichtlich im Negligé, den Sohn dagegen als Karrieristen und Emporkömmling ganz weißgolden vor ihn tretend, und — er zwinkerte ängstlich mit den Augen und erwiderte mit äußerst übertriebener Naivität, lustig und besonders familiär:

»Guten Tag.«

Der Träger der Brillantenzeichen schien seine eigene Endentwicklung in der Psychik des Sohnes nicht zu erkennen. In beiden war die Psychik zu sehr durch Logik verdrängt. Ihre Psychik erschien ihnen als Chaos, aus dem nur Überraschungen hervorgingen: wenn sie sich aber psychisch berührten, so waren sie wie zwei gegeneinander gerichtete, in einen Abgrund führende Luftlöcher, und vom Abgrund zum Abgrund lief ein höchst unangenehmer Luftzug; diesen Luftzug verspürten jetzt beide; und die Gedanken der beiden mischten sich, so daß der Sohn sicher die Gedanken des Vaters hätte weiterdenken können.

Beide ließen die Augen sinken.

Die undefinierbare Empfindung des Verwandtseins glich am allerwenigsten der Liebe; wenigstens kannte das Bewußtsein Nikolai Apollonowitschs diese Liebe nicht. Dieses undefinierbare Verwandtsein empfand er als schmachvollen physiologischen Akt; in diesem Augenblick würde er das Hervortreten verwandtschaftlicher Gefühle als eine natürliche Absonderung seines Organismus betrachtet haben: Absonderungen dieser Art aber pflegt man weder zu lieben noch zu hassen: man ekelt sich einfach vor ihnen.

Ein kraftloser Froschausdruck erschien auf seinem Gesichte.

»Sie sind heute in Gala?«

Finger berührten Finger und sprangen zurück. Apollon Apollonowitsch wollte, schien es, den Grund seiner feierlichen Ausstattung erklären; auch wollte er nach der Ursache der unnatürlichen Blässe des Sohnes fragen wie seines Erscheinens in so ungewohnter Stunde. Die angefangenen Worte blieben ihm jedoch in der Kehle stecken und gingen in ein Husten über. In diesem Augenblick meldete der eintretende Diener, daß der Wagen warte. Gleichsam erfreut winkte Apollon Apollonowitsch dankbar dem Lakai zu:

»So—o, schön.«

Apollon Apollonowitsch, ganz Schauer und Glanz, rauschte an seinem Sohn vorbei; bald verklangen seine Schritte in der Ferne. —

Nikolai Apollonowitsch spähte seinem Vater nach; auf seinem übernächtigen Gesichte erschien wieder ein Lächeln: der Abgrund hatte sich vom Abgrund abgewandt; der Luftzug wehte nicht mehr. Nikolai Apollonowitsch Ableuchow dachte an das letzte Zirkular des Apollon Apollonowitsch, das im vollständigen Gegensatz zu seinen eigenen Plänen stand; Nikolai Apollonowitsch kam zu dem Schluß, daß sein Vater, Apollon Apollonowitsch, ganz einfach — ein ausgemachter Schuft war.

Auf dem Meeting

Nach dem naßkalten Schmutz der ersten Oktobertage badeten eines Tages die Petersburger Dächer, die Petersburger Spitzen, die Petersburger Kuppeln im blendenden Glanz der Oktobersonne. Engel Peri blieb an diesem Tag allein; der Gatte war abwesend; er verwaltete — irgendwo dort — den Proviant; der unfrisierte Engel schwebte in seinem rosa Kimono zwischen den Vasen mit Chrysanthemen und dem Berg Fujiyama. Die Falten des Kimonos flatterten wie Atlasflügel, und der besagte Engel biß unter der Hypnose eines Gedankens bald sein Taschentüchlein, bald das Ende des schwarzen Zopfes. Nikolai Apollonowitsch blieb natürlich nach wie vor der schuftigste Schuft, aber auch der Zeitungsreporter Neintelpfein — so einer! — war auch — ein Vieh. Die Gefühle des Engels waren bis zum Äußersten aufgewühlt.

Um ein wenig die aufgewühlten Gefühle ins Gleichgewicht zu balancieren, kauerte sich Engel Peri mit untergeschlagenen Beinen auf ihre Chaiselongue hin und schlug das Büchlein von: Henri Besançon »Der Mensch und sein Körper« auf. Dieses Büchlein hatte Engel Peri schon des öfteren aufgeschlagen, aber . . . (und noch einmal aber): das Büchlein fiel ihr jedesmal aus den Händen, die Augen schlossen sich im Nu, im kleinen Näschen entstand ein stürmisches Leben: es pfiff darin und schnaufte.

Nein, heute wird sie nicht einschlafen: Baronin R. R. hatte sich schon einmal nach dem Büchlein erkundigt; als sie hörte, daß es bereits gelesen ist, fragte sie schelmisch: »Na, und was meinen Sie dazu, ma chère?« Aber »ma chère« erwiderte gar nichts; und Baronin R. R. drohte ihr mit dem Fingerchen: Doch nicht umsonst hatte sie auf die Titelseite des Büchleins geschrieben: »meiner devanchanischen Freundin« und als Unterschrift: »Baronin R. R. — eine irdische Hülle, doch mit buddhistischen Funken.«

Aber gestatten Sie: was ist es: »devanchanische Freundin«, »Hülle«, »buddhistischer Funken«? Das sollte ihr nun Henri Besançon jetzt erklären. Und Sofja Petrowna wollte sich diesmal in ihn vertiefen; aber kaum hatte sie das Näschen in Henri Besançon gesteckt, als die Glocke ertönte und, einem Sturme gleich, die Kursistin Warwara Ewgrafowna ins Zimmer hereinflog. Engel Peri hatte nicht Zeit, das kostbare Büchlein zu verstecken und wurde bei der Tat ertappt.

»Was ist das?« rief streng Warwara Ewgrafowna, setzte den Zwicker auf die Nase und beugte sich über das Büchlein . . .

»Was haben Sie da? Wer hat’s Ihnen gegeben?«

»Die Baronin R. R.«

»Na, freilich . . . Und was ist das?«

»Henri Besançon . . .«

»Sie wollen sagen: Anni Besant . . . Der Mensch und sein Körper? . . . So ein Unsinn . . .«

Die blauen Äuglein zwinkerten ängstlich, während die roten Lippen sich schmollend zusammenzogen.

»Die Bourgeoisie, ihr Ende fühlend, warf sich auf die Mystik: überlassen wir den Himmel den Spatzen, und bauen wir aus dem Reich der Notwendigkeiten das Reich der Freiheit.«

Und Warwara Ewgrafowna übergoß den Engel mit sieghaftem Blick: die Äuglein des Engels aber zwinkerten noch hilfloser; Engel Peri achtete Warwara Ewgrafowna und Baronin R. R. in gleicher Weise, und nun sollte sie zwischen ihnen wählen. Zum Glück machte Warwara Ewgrafowna aus der Sache keine Affäre; die Beine übereinandergeschlagen, wischte sie den Zwicker.

»Es handelt sich um folgendes . . . Sie werden sicher auf dem Ball bei den Zukatows sein . . .«

»Ja«, erwiderte schuldbewußt der Engel.

»Es handelt sich also darum: auf diesem Ball wird, wie ich erfahren habe, auch unser gemeinsamer Bekannter sein: Ableuchow.«

Der Engel errötete.

»Nun also, Sie übergeben ihm hier diesen Brief.« — Warwara Ewgrafowna streckte dem Engel ein Kuvert entgegen.

»Übergeben Sie ihn, weiter nichts: werden Sie es tun?«

»Ich werde . . . ich werde ihn übergeben.«

»Schön also. Ich habe augenblicklich leider wenig Zeit, ich muß zu einem Meeting . . .«

»Liebste Warwara Ewgrafowna, nehmen Sie mich mit.«

»Aber fürchten Sie sich denn nicht? Es kann zu einer Schlägerei kommen.«

»Nein, Liebste, nehmen Sie mich mit.«

»Dann bitte, kommen Sie. Aber Sie werden erst noch Toilette machen müssen, sich pudern und so weiter . . . Machen Sie es rasch . . .«


Daß sie »ihn« morgen auf dem Ball bei Zukatows sehen, mit ihm sprechen, ihm den Brief hier übergeben wird — all das war beängstigend und schmerzhaft: Schicksalschweres lag darin — nein, nicht denken, nicht denken!

Eine trotzige, schwarze Haarsträhne fiel auf den Nacken.

»Ja, der Brief.« Auf dem Brief stand deutlich zu lesen: An Nikolai Apollonowitsch Ableuchow. Sonderbar war nur dies: diese Schrift war die Schrift Lipantschenkos . . .

Welcher Unsinn!

Nun ist sie schon in ihrem Wollkleid, das am Rücken geknöpft war.

»Also gehen wir, gehen wir . . . Übrigens, dieser Brief . . . von wem ist er? . . .«

»?«

»Ach so, dann nicht, nicht: ich bin fertig.«

Warum wollte sie durchaus zum Meeting? Um unterwegs auszufragen, auszuforschen?

Wonach aber forschen?

Beim Tor stießen sie auf den Kleinrussen Lipantschenko.

»So, so, wohin?«

Sofja Petrowna winkte geärgert mit der Hand und mit dem Plüschmuff.

»Ich gehe zum Meeting, zum Meeting.«

Der schlaue Kleinrusse aber gab nicht nach.

»Schön, ich gehe mit Ihnen.«

Warwara Ewgrafowna errötete, blieb stehen: sie starrte den Kleinrussen an.

»Ich glaube, ich kenne Sie: Sie wohnen im Zimmer bei . . .«

Der schamlose Kleinrusse geriet hierüber in größte Verwirrung: begann zu schnaufen, trat zurück, lüftete verwirrt seine Mütze und ging fort.

»Wer ist, bitte, dieses unangenehme Subjekt?«

»Lipantschenko.«

»Das stimmt nicht. Nicht Lipantschenko, sondern ein Grieche aus Odessa: Mawrokordato; er kommt öfters ins Zimmer, das hinter meiner Wand ist: ich rate Ihnen nicht, ihn zu empfangen.«

Doch Sofja Petrowna hörte nicht zu. Mawrokordato, Lipantschenko — das war ganz gleich . . . Der Brief nur, der Brief . . .


Edel, schlank und blaß! . . .

Sie gingen über die Moikastraße.

Links von ihnen bebte das letzte Gold der Baumblätter; träte man näher, man würde die Meisen hüpfen sehen; aus dem Garten aber zog sich, resigniert am Boden liegend, bis zu den Steinfliesen hin, ein knisternder Faden, der sich vor den Füßen des Fußgängers wirbelte, sich an seine Füße hängte und flüsternd gelbrote Worte aus Blättern flocht.

»Uuuu — uuuu — uuuu?«

»Haben Sie gehört?«

»Was denn?«


Plötzlich tauchte auf dem feuerroten Fond eine Silhouette auf: Flügeln gleich flatterte im Winde der weite graue Mantel; im Wachsgesicht mit den vorstehenden Lippen ein nachlässiger Ausdruck; die Augen schienen nach irgend etwas in den bläulichen Newafernen zu suchen, fanden es aber nicht und glitten über alles Nahe hinweg: so sah er weder Sofja Petrowna noch Warwara Ewgrafowna: die Augen sahen nur die Tiefe, das grünliche Blau. Vor der Silhouette aber lief keuchend die tigerartig gestreifte Bulldogge, die silberne Reitpeitsche des Herrn in den Zähnen.

An die beiden näher herangekommen, blinzelte Ableuchow, zu sich kommend, mit den Augen und berührte grüßend seine Mütze; er sagte nichts und ging weiter: dorthin, wo im Feuerrot die Häuser badeten.

Sofja Petrowna, mit schielenden Augen, verbarg ihr Gesichtchen in den Muff und nickte unbeholfen seitlich mit dem Kopfe, nicht ihm, sondern der Bulldogge zu. Warwara Ewgrafowna aber blieb mit starrem Blick an ihm hängen.

»Ableuchow —«

»Ja . . . ich glaube.«

Nach dieser bejahenden Antwort (sie selbst war kurzsichtig) murmelte Warwara Ewgrafowna erregt vor sich hin:

Edel, schlank und blaß,

Wie Flachs der blonde Schopf;

Reich an Geist und arm an Herz:

N. A. A. — Kennt ihr diesen Kopf?

Sofja Petrowna wandte sich plötzlich unerwartet für sie selbst um und sah, wie dort in der Ferne in den letzten grellroten Strahlen der Newasonne, ihr zugewandt, Nikolai Apollonowitsch stand; seltsam vornübergebeugt, das Gesicht in den Kragen vergraben, stand er und lächelte, wie es ihr schien, in unangenehmster Weise; er gab eine höchst komische Figur ab: in seinen weiten Mantel gehüllt, sah er bucklig und wie seiner Arme beraubt aus; vor diesem Anblick wandte sie eilig ihr Köpfchen ab.

Lange noch stand er, gekrümmt, unangenehm lächelnd und machte auf dem feuerroten Fond der untergehenden Sonne eine recht komische Figur. Doch nicht sie sah er: bei seinen kurzsichtigen Augen konnte er die sich entfernenden, kleinen Gestalten kaum sehen; er lachte vor sich hin und blickte weit, weit, wo die Linien der Inseln sich tief senkten.

Sie aber — weinen wollte sie: sie wünschte, ihr Gatte, Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin hätte sich dem Schuft genähert, ihm mit seiner sehnigen Faust ins Gesicht geschlagen und ihm seine ehrliche Offiziersmeinung gesagt.

Die untergehende Sonne schleuderte ihre herzlosen Strahlen direkt vom Horizont; über ihm wiegte sich die Unermeßlichkeit der rosa schimmernden Luftwellen; noch höher lagen die soeben noch weißen, jetzt rosigen Wölkchen in von Perlmutter durchzogenem Türkisblau; bald werden die Perlmutterstreifen die zarten Durchblicke im Türkisblau erlöschen; ergießen wird sich das dunkle, schwere Blau, die blaugrüne Tiefe, auf die Häuser, auf den Granit, auf die Wasser.

Einen Sonnenuntergang aber wird es nicht mehr geben.

Comt! — Comt! — Comt!

Der Lakai trug die Suppe auf. Vor den Teller des Senators hatte er schon vorher eine Pfefferschale hingestellt.

Apollon Apollonowitsch in seinem kurzen grauen Sakko zeigte sich in der Tür; rasch nahm er seinen Platz ein, und der Lakai hob den Deckel der dampfenden Suppenschüssel.

Dann ging die Tür links auf; Nikolai Apollonowitsch in hochgeknöpftem Studentenrock sprang rasch ins Zimmer.

Beide richteten die Blicke aufeinander, und beide wurden verlegen (sie wurden immer verlegen).

Nikolai Apollonowitsch stolperte am Tischbein.

Apollon Apollonowitsch reichte dem Sohne seine wulstigen Lippen; an diese wulstigen Lippen drückte Nikolai Apollonowitsch seine zwei Lippen; die Lippen berührten einander; und zwei Finger schüttelten eine schwitzende Hand.

»Guten Abend, Vater!«

»Guten Abend!«

Apollon Apollonowitsch setzte sich. Apollon Apollonowitsch ergriff die Pfefferschale und pfefferte wie gewöhnlich seine Suppe zu stark.

»Aus der Universität? . . .«

»Nein, vom Spaziergang . . .«

Und ein Froschausdruck legte sich um den Mund des ehrerbietigen Sohnes; wir betrachteten sein Gesicht mit all den mannigfachen Grimassen, mit dem Lächeln und den Mienen der Höflichkeit, die der Fluch Nikolai Apollonowitschs war, wenn auch nur deswegen, daß von der griechischen Maske dann nicht eine Spur zurückblieb; dieses Lächeln, die Grimassen und die einfachen Gesten der Höflichkeit schäumten wie eine ununterbrochene Kaskade vor dem hüpfenden Blick des zerstreuten Vaters. Die Hand, die den Löffel hielt, zitterte sichtlich, und die Suppe lief daneben.

»Aus dem Amt, Vater?«

»Nein, vom Minister . . .«


Oben sahen wir, wie Apollon Apollonowitsch in seinem Arbeitszimmer sitzend, zu der Überzeugung gelangte, daß sein Sohn ein ausgemachter Schuft sei: so pflegte der achtundsechzigjährige Vater täglich einen zwar nur mit den Gedanken erfaßbaren, aber doch terroristischen Akt an seinem eigenen Blute und seinem Fleische zu begehen.

Doch das waren abstrakte, durch gedankliche Arbeit gezogene Schlüsse, die nicht einmal in den Korridor, geschweige in das Speisezimmer aus dem Privatraum getragen wurden.

»Wünschest du Pfeffer, Kolenka?«

»Ich möchte um das Salz bitten, Vater . . .«

Apollon Apollonowitsch blickte seinen Sohn an, das heißt, er hüpfte mit den Augen über die Gestalt des grimassierenden jungen Philosophen und er gab sich in dieser Stunde, der Tradition gehorchend, einer Aufwallung von Väterlichkeit hin.

». . . Und ich gebrauche gern Pfeffer: es schmeckt besser gepfeffert . . .«

Nikolai Apollonowitsch, die Augen auf den Teller gerichtet, war bemüht, die aufdringlichen Assoziationen aus seinem Gedächtnis zu jagen: den Sonnenuntergang an der Newa, die Unaussprechlichkeit der rosaschimmernden Wellen, den zarten Perlmutterglanz, die blaugrüne Tiefe; und auf dem Fond des zartesten Perlmutterschimmers . . .

»So—o! . . .«

»So—o! . . .«

»Schö—ön . . .«

So unterhielt Apollon Apollonowitsch seinen Sohn (oder vielmehr sich selber).

Schwer lastete das Schweigen über dem Tische. Aber dieses Schweigen störte den suppespeisenden Vater gar nicht (das Schweigen pflegt alte Leute nicht zu stören, wohl aber die nervöse Jugend). . . Der Sohn aber empfand im Suchen nach einem Gesprächsthema regelrechte Qual.

Für ihn selbst unerwartet, platzte er heraus:

»Und ich . . .«

»Wie? Was?«

»Nein . . . so . . . nichts . . .«

Über dem Tische hing schwer das Schweigen.

Nikolai Apollonowitsch platzte wiederum unerwartet für sich heraus.

»Und ich . . .«

Die Fortsetzung zu diesem herausgeplatzten »Und ich« fand er noch immer nicht.

»Was soll ich nur zu diesem ‚Und ich‘ hinzufügen?« dachte er. Doch rein nichts fiel ihm ein.

Apollon Apollonowitsch, beunruhigt durch die sinnlose Wortverwirrung des Sohnes, sah ihn indessen fragend, streng und kapriziös an, erbost über das »Gestammel« . . .

»Aber gestatte: Was meinst du?«

»Und ich . . . las in der ‚Theorie der Erfahrung‘ von Cohen . . .« Wieder hielt er stockend inne . . .

»Also was ist das für ein Buch, Kolenka?«

In der Ansprache bewahrte Apollon Apollonowitsch seinem Sohne gegenüber die Tradition von dessen Kindheit: und der vollendete Schuft wurde Kolenka, Söhnchen, Liebling genannt . . .

»Cohen ist der bedeutendste Vertreter der europäischen Kantianer.«

»Erlaube — Comtianer?«

»Kantianer, Vater . . .«

»Aber Kant ist ja nicht wissenschaftlich . . . — Comt ist es, der nicht wissenschaftlich ist . . .«


Apollon Apollonowitsch, müde und ein wenig unglücklich, rieb sich langsam mit dem kalten Fäustchen die Augen und wiederholte zerstreut:

»Comt . . . Comt . . . Comt . . .«

Apollon Apollonowitsch dachte, daß sein Gehirn die letzte Woche wieder unter heftigem Blutandrang, verursacht durch starkes Hervortreten der Hämorrhoiden, litt; sein Schädel fiel schwer gegen die dunkle Stuhllehne; die blauen Augen starrten fragend vor sich hin.

»Comt . . . Ja: Kant . . .«

Er überlegte etwas und richtete den Blick auf den Sohn:

»Was ist es also für ein Buch, Kolenka? . . .«


Nikolai Apollonowitsch hatte aus instinktiver Schlauheit das Gespräch auf Cohen gebracht; Cohen war ein neutrales Gesprächsthema. Dieses Thema schloß andere Themen aus, und so wurde eine Auseinandersetzung verschoben (von Tag zu Tag — von Monat zu Monat). Außerdem behielt der Sohn von der Kinderzeit die Gewohnheit, mit dem Vater lehrreiche Gespräche zu führen: so pflegte Nikolai Apollonowitsch, aus dem Gymnasium kommend, seinem Vater eifrig die Einzelheiten des gallischen Krieges zu erzählen; vergnügt hatte der Vater dem Sohne zugehört und wohlwollend dessen Interesse am Lehrstoff zu steigern gesucht. Auch in späteren Zeiten hat Apollon Apollonowitsch öfters seine Hand auf die Schulter seines Sohnes gelegt:

»Kolenka, du solltest die Logik von Mill einmal lesen: es ist dies — weißt du — ein nützliches Buch . . . Zwei Bände . . . Ich habe es seinerzeit von A bis Z gelesen . . .«

Nikolai Apollonowitsch erschien am Tage darauf mit einem mächtigen Buch in der Hand. Apollon Apollonowitsch fragte freundlich mit geheuchelter Unabsichtlichkeit:

»Was liest du da, Kolenka?«

»Mills Logik, Vater.«

»So—o, so—o . . . sehr, sehr gut.«


Jetzt endgültig voneinander gelöst, kehrten sie unbewußt zu dem Alten zurück: ihr gemeinsames Mittagessen endete oft mit einem lehrreichen Gespräch . . .

Apollon Apollonowitsch dachte: »Es muß zugegeben werden; sein Gehirnapparat ist gut ausgearbeitet.«

Und beim Dessert waren sie bis zu einer Art Freundschaft gelangt.

Beide erhoben sich, beide spazierten durch die Zimmerflucht; die weißen Schatten der griechischen Weisen huschten durch die Räume: dort, dort und dort; die Flucht der Zimmer verdunkelte sich; weit im Salon hüpfte an der Wand ein rötlicher Schein; man vernahm das Knistern des Kaminfeuers.

So pflegten sie auch früher durch die leere Zimmerflucht zu wandern — der Knabe und . . . der damals noch zärtliche Vater. Etwas später pflegte der zärtliche Vater dem blonden Knaben kameradschaftlich die Hand auf die Schulter zu legen; der zärtliche Vater führte damals den Knaben an das Fenster, die Finger zu den Sternen hebend:

»Die Sterne, Kolenka, sind weit: über zweieinhalb Jahre sind notwendig, bis der Strahl von dem nächsten Stern, zu uns herüberkommt . . . So ist es, mein Lieber!« Einmal schrieb er ihm ein Verschen:

Kolenka, der dumme Tropf,

Tanzt und hüpfet immer;

Mit der Mütze auf dem Schopf

Reitet er durchs Zimmer.

War es — oder war es vielleicht gar nicht? . . . Nie, niemals?

Beide saßen jetzt im Salon auf dem Atlassofa und sprachen, zwecklos und gedehnt, bedeutungslose Worte. Der glattrasierte, graue alte Apollon Apollonowitsch zeichnete sich im hüpfenden Feuerschein mit seinen Ohren und dem Sakko: mit ebendemselben Gesichtsausdruck, auf dem Fond des brennenden Rußlands, wurde er vor kurzem auf dem Titelblatt eines Straßenblättchens dargestellt.

»Kommt öfters zu dir, Liebling, der . . . der . . .?«

»Wer, Vater?«

»Der, wie heißt er nur . . . Der junge Mann?«

»Der junge Mann? . . .?«

Nikolai Apollonowitsch grinste plötzlich . . .

»Der, den Sie neulich in meinem Zimmer trafen? Alexander Iwanowitsch Dudkin . . . Nein, er kommt nur manchmal.«


»Wenn . . . wenn . . . es keine indiskrete Frage ist, so . . . scheint mir . . .«

»Was, Vater?«


»Übrigens . . . wenn meine Frage sozusagen ungeschickt ist . . .«

»Wieso ungeschickt?«

»Ich meine . . . ein ganz angenehmer junger Mann: arm, wie es scheint.«

Apollon Apollonowitsch sah auf die Uhr.

»Ja, so . . . Es gibt viele spezielle Wissenschaftsgebiete: jedes Spezialgebiet ist tief. Weißt du, Kolenka, ich bin müde.«

Apollon Apollonowitsch wollte seinen Sohn, der sich die Hände rieb, nach etwas fragen . . . Er blieb stehen, sah sich um, fragte aber nichts, sondern senkte den Blick: Nikolai Apollonowitsch empfand einen Augenblick Scham.

Mechanisch hielt Apollon Apollonowitsch dem Sohne seine wulstigen Lippen hin; zwei Finger schüttelten eine Hand.


Bald darauf öffnete sich die Tür des senatorischen Arbeitszimmers: mit einer Kerze in der Hand lief Apollon Apollonowitsch in den mit nichts zu vergleichenden Raum, um sich . . . dem Zeitungslesen zu widmen . . .


Nikolai Apollonowitsch trat ans Fenster.

Ein phosphoreszierender Fleck raste in wildem Tempo über den Himmel; in phosphoreszierendem Glanz leuchtete neblig die Newaferne, und grün schimmerten die lautlos gleitenden Flächen; bald dort, bald da sprühte ein goldener Funken auf; an verschiedenen Stellen des Wasserspiegels entflammten rötliche Lichter, um sich vielleicht nach einer Sekunde im phosphoreszierenden Nebel zu verlieren. Hinter der Newa dehnten sich die Riesengestalten der Inseln und warfen in den Nebel mattleuchtende Blicke — endlos, lautlos, qualvoll: es schien, als weinten sie: höher streckten sich in wildem Rasen undeutlich gezeichnete bauschige Arme; Schar um Schar erhoben sie sich über den Wellen der Newa; vom Himmel aber fielen sie als durchleuchtend phosphoreszierende Flecke. Nur an einer vom Chaos unberührten Stelle, wo sich am Tage die Troitzkibrücke breitete, glänzten durchnebelte riesige Brillantennester über einer glitzernden Schar rundgliedriger Lichtschlangen; sich bald zusammenringelnd, bald streckend, rasten die Schlangen als Funkenlinie nach oben; und untertauchend, erschienen sie dann wieder als Sternfäden auf dem Spiegel des Wassers.

Nikolai Apollonowitsch blickte verträumt auf diese Fäden.

In der dunklen Ferne des Korridors ertönte metallisch ein Türriegel, in der dunklen Ferne des Korridors schimmerte Licht auf: mit der Kerze in der Hand verließ Apollon Apollonowitsch den mit nichts zu vergleichenden Raum: ein mausgrauer Schlafrock, graue, rasierte Backen und riesige Konturen ganz toter Ohren zeichneten sich deutlich im tanzenden Licht und liefen aus der Helle in die völlige Dunkelheit hinein.


Nikolai Apollonowitsch dachte: »Es ist Zeit.«

Nikolai Apollonowitsch wußte, daß sie zum Meeting gegangen war (dafür bürgte die Begleitung Warwara Ewgrafownas), Nikolai Apollonowitsch dachte, daß schon zweieinhalb Stunden vergangen sind, seit er sie getroffen hatte; jetzt dachte er: »Es ist Zeit . . .«

Tatam — tam — tam!

Es war schon spät.

Sofja Petrowna war auf dem Wege nach Hause, sie verbarg ihr Näschen in den flaumigen Muff. Hinter ihrem Rücken dehnte sich die Troitzkibrücke, lief endlos gegen die Inseln, die stumm in der Ferne sich dehnten; über die große eiserne Brücke breiteten sich Schatten, legten sich auf das feuchte Geländer, legten sich auf die grünlichen, von Bazillen wimmelnden Wasserflächen.

Plötzlich weiteten sich Sofja Petrownas Augen, begannen zu zwinkern, schielten: unter dem feuchten, feuchten Geländer lag mit gespreizten Beinen ein dunkles tigerartiges Tier, in den Zähnen eine silberne Reitpeitsche; die runde Schnauze des tigerartigen Tieres war zur Seite gewandt; als Sofja Petrowna in diese Richtung den Blick warf, sah sie das wächserne Gesicht mit den vorstehenden Lippen, den Blick auf das grünliche, von Bazillen wimmelnde Wasser gerichtet; es schien, als barg dies Gesicht in sich einen teuflischen Gedanken, der in ihr seinen Widerklang gefunden hatte; denn quälend verfolgten sie in den letzten zwei Tagen die Worte aus der allbekannten Romanze:

Wir standen am Ufer der Newa

Und sahen dem purpurnen Sonnenuntergang zu.

Und nun, er stand auf dem Ufer der Newa und sah dumpf auf das Grün, oder nein — er flog mit dem Blick in die Ferne, wo sich die Ufer breiteten, wo sich resigniert die Inselhäuser duckten, wo über den weißen Festungswänden hoffnungslos und kalt die qualvoll scharfe, herzlose, kalte Spitze der Petropawlowski-Festung zum Himmel ragte.

Es zog sie zu ihm — was sind Worte, was sind Gedanken! Aber er, er bemerkte sie wieder nicht; mit den vorstehenden Lippen und glasig erweiterten Augen ähnelte er in seinem weiten Mantel einem kleinen, armlosen Krüppel.

Als sie vorbei war, wandte sich Nikolai Apollonowitsch langsam um und ging mit raschem, trippelndem Schritt fort; an der Ecke vor der Brücke wartete sein Wagen; der bald dahinraste; und als sein Wagen Sofja Petrowna überholte, wandte Nikolai Apollonowitsch, während er, zum Hunde niedergebeugt, mit den Händen dessen Halsband herunternahm, den Blick der einsam schreitenden dunklen Gestalt zu, die ihr Näschen in den Muff gesteckt hat; er sah sie an, lächelte; doch der Wagen raste vorbei.

Plötzlich, unerwartet, begann der erste Schnee zu fallen; seine lebendigen Diamanten schimmerten tanzend im Lichtkreis der Laterne; nur ganz, ganz matt beschien der Lichtkreis auch eine Mauer des Palais, den Kanal und die kleine steinerne Brücke; leer war es rundum; eine einsame Droschke wartete auf jemand an der Ecke, und der Kutscher pfiff sorglos ein Liedchen; in der Droschke lag nachlässig hingeworfen ein weiter grauer Mantel.

Sofja Petrowna Lichutina blickte, auf der Brücke stehend, verträumt in die Tiefe; Sofja Petrowna Lichutin war schon öfters dagestanden; einmal stand sie auch mit ihm da; und sie sprach von den göttlichen, wundervollen, zauberhaften Klängen einer Oper und, mit dem Fingerchen dirigierend, sang sie halblaut:

»Tatam-tam-tam! . . . Tatam-tam-tam!«

Nun stand sie wieder da; ihre Lippen öffneten sich, das Fingerchen hob sich in die Höhe:

»Tatam-tam-tam! . . . Tamtam-tam-tam!«

Plötzlich hörte sie Schritte, die sich ihr rasch näherten. Sie sah sich um — und schrie nicht einmal auf: hinter der Palaisecke erschien der rote Domino, lief wie suchend bald hin, bald her und stürzte, die Frauengestalt auf der Brücke entdeckend, ihr entgegen; er stolperte vom Laufen und hielt die Maske weit vor sich, der kalte Newawind aber spielte mit dem schwarzen breiten Spitzenfächer. Sofja Petrowna Lichutina hatte angesichts der laufenden Maske kaum Zeit, sich klar darüber zu werden — daß der rote Domino eine Narrenmaske sei, daß ein geschmackloser Witzbold (und wir wissen, wer es war) mit ihr einfach einen Scherz machen wollte, daß hinter der Samtmaske sich ein menschliches Gesicht verbarg — Sofja Petrowna dachte (sie hatte ja so eine winzige Stirn), daß die Welt ein sonderbares Loch bekommen habe und daß sich auf sie aus diesem Loch, keinesfalls aber aus der umgebenden Welt, ein teuflischer Spaßvogel stürzte; wer dieser teuflische Spaßvogel sei, das hätte sie kaum zu erklären vermocht.

Als die schwarze Spitzenmaske stolpernd die Brücke erreichte, riß ein Windstoß an dem roten Narrenanzug so heftig, daß seine Flügel übers Geländer in die dunkelfarbige Nacht flogen; zum Vorschein kam ein wohlbekannter Anzug, und der furchtbare Domino verwandelte sich einfach in den armseligen Witzbold; in diesem Augenblick rutschte der Witzbold aus und fiel mit der ganzen Wucht seines Körpers zu Boden; über ihm aber klang jetzt lautes, unbändiges Lachen:

»Kleiner Frosch, Scheusal — roter Narr! . . .«

Ein flinker kleiner Frauenfuß stieß zornig gegen den Narren.

Längst des Kanals eilten inzwischen bärtige Männer daher, aus der Ferne ertönte das Polizeisignal; der Narr sprang auf; der Narr stürzte zur Droschke; man sah aus der Ferne, wie in der Droschke sich hilflos eine Gestalt bewegte, bemüht, den Mantel wieder über die Schulter zu ziehen. Sofja Petrowna begann zu weinen und verließ im Laufschritt die verruchte Stelle. Vom Kanal her lief bellend in der Richtung der Droschke die stumpfnasige Bulldogge: ihre kurzen Beine flitzten nur so dahin, und hinterher raste ein Gefährt, in dem zwei Schutzleute saßen.

Es winselte ein toller Hund

Sofja Petrowna lief gekränkt auf die andere Seite; gekränkt vergoß sie Tränen in ihren Muff; an das schreckliche, für sie ewig schmachvolle Geschehnis konnte sie nicht denken. Hätte Nikolai Apollonowitsch sie nur in anderer Weise beleidigt, hätte er sie lieber geschlagen, hätte er sich in seinem roten Domino übers Geländer gestürzt — sie würde ihr ganzes weiteres Leben mit grausigem Beben an ihn gedacht haben. Jetzt aber Rache, Rache!

Wie ein Sturm lief Sofja Petrowna in ihre Wohnung. Im hellen Vorzimmer hing ein Offiziersmantel mit Kappe: ihr Mann war also zu Hause. Ohne abzulegen, flog Sofja Petrowna ins Zimmer des Gatten; sie riß mit derber, prosaischer Geste die Tür auf, flog hinein: mit zerzauster Boa, weichem Muff und flammendem, flammendem Gesichtchen, das so unschön geschwollen war: flog hinein und blieb stehen.

Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin schien sich zum Schlafengehen fertigzumachen; seine graue Joppe hing bescheiden auf dem Kleiderstock, er selbst aber in schneeweißem Hemd und Hosenträgern — lag auf den Knien, einer regungslosen, wie gebrochenen Silhouette gleich; er hatte ein matt glänzendes Heiligenbild vor sich, mit knisterndem Öllämpchen davor. Blaß zeichnete sich im Halbdunkel des Öllämpchens das Gesicht des Offiziers mit spitzem, blau erscheinendem Bärtchen und der zur Stirn gehobenen, blauen Hand; Hand, Gesicht, Bart und weiße Brust schienen wie geschnitzt aus festem, duftendem Holz; kaum merkbar bewegte Ssergeij Ssergeijewitsch die Lippen, kaum merkbar neigte er seine Stirn gegen das blaue Lichtchen, und kaum merkbar rührten sich die aneinandergepreßten blauen Finger an der Stirn, das Kreuz schlagend.

Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin drückte erst die bläulichen Finger auf die Brust und auf beide Schultern, verneigte und wandte sich dann wie gegen seinen Willen um. Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin erschrak nicht, wurde nicht verlegen; sich vom Fußboden erhebend begann er gewissenhaft hängengebliebene Stäubchen von den Knien zu entfernen. Nach dieser etwas langsam vollführten Handlung fragte er ruhig:

»Was hast du, Ssonjuschka?«

Die gleichmütige Ruhe des Gatten reizte und beleidigte sogar Sofja Petrowna, ebenso wie das blaue Lichtchen dort in der Ecke. Mit einem scharfen Ruck fiel sie auf einen Stuhl, ihr Gesicht mit dem Muff deckend, und begann laut zu weinen.

»Aber Sonja . . . Nun beruhige dich doch . . . Beruhige dich doch, mein Kind! Kindchen, Kindchen! . . .«

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich! . . .«

»Was ist geschehen? Sag’! . . . Wir wollen uns beide ruhig darüber beraten.«

»Nein, lassen Sie mich, lassen Sie mich! . . . Nichts . . . lassen Sie mich! Sie scheinen kaltes . . . aaaa . . . Fischblut zu haben . . .«

Verletzt trat Ssergeij Ssergeijewitsch beiseite, blieb einen Augenblick unschlüssig stehen und ließ sich dann ebenfalls in einen Sessel nieder.

»Aaaa . . . Seine Frau so im Stich zu lassen! . . . Er verwaltet irgendwo dort den Proviant! . . . Geht fort! . . . Weiß nichts! . . .«

»Es ist nicht richtig, Ssonjuschka, wenn du glaubst, ich wüßte gar nichts . . . Sieh mal . . .«


»Sieh mal, Liebling: seit der Zeit, wo ich . . . in dieses Zimmer übersiedelte . . . Kurz, auch ich habe mein Selbstgefühl; dich aber will ich in deiner Freiheit, das mußt du wissen, nicht stören . . . Noch mehr: ich kann dich in deiner Freiheit nicht stören: ich verstehe dich; ich weiß, Liebling, sehr gut, daß es dir nicht leicht ist . . . Ich lebe, Ssonjuschka, in einer Hoffnung: vielleicht wird einmal wieder . . . Na, nicht, nicht! Aber verstehe mich auch: meine Fremdheit, meine, wie soll ich es nennen, Gleichgültigkeit kommt keinesfalls von Kälte . . . Nein, nicht, nicht! . . .«


»Du möchtest vielleicht Nikolai Apollonowitsch Ableuchow sehen? Es ist etwas zwischen euch vorgefallen, wie mir scheint! Erzähl’ mit doch alles: erzähle alles, ohne etwas zu verheimlichen: wir wollen dann beide über deine Situation nachdenken.«

»Sie dürfen nicht von ihm sprechen! . . . Er ist ein Schuft, ein Schuft. Ein anderer Mann würde ihn längst erschossen haben . . . Ihre Frau wird verfolgt, verhöhnt . . . Und Sie? . . . Nein, lassen Sie mich.«

Und verworren, erregt, mit auf die Brust gesenktem Köpfchen erzählte sie alles, alles.

Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin war ein einfacher Mensch. Einfache Menschen sind aber von einer unverständlichen, sinnlosen Tat mehr überrascht als von einer Gemeinheit, als von Mord und tierischer Bluttat. Ein Mensch kann Verrat, Verbrechen und Schmach menschlich verstehen. Verstehen aber heißt ja beinahe — rechtfertigen; wie ist es aber zu begreifen, wenn ein Mann aus guten Gesellschaftskreisen und, wie man annehmen konnte, ein durchaus ehrlicher Mensch, auf den absurden, sinnlosen Gedanken kommt, sich an der Schwelle eines Salons auf alle viere hinzustellen und die Falten seines Fracks in der Luft zu bewegen? Dies wäre, wie ich aussprechen muß, eine völlige Schufterei! Die Unbegreiflichkeit, die Zwecklosigkeit einer solchen schuftigen Handlungsweise kann keine Rechtfertigung finden, ebensowenig wie eine Gotteslästerung, Kirchenschändung oder ähnliche sinnlose Bosheiten. Nein, mag ein ehrlicher Mensch lieber straflos Staatsgelder veruntreuen, als sich auf alle viere stellen, denn durch eine Handlung wie die letztere wird alles geschändet.

Zornerfüllt stellte sich Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin deutlich vor, wie der Harlekindomino im unbeleuchteten Stiegenhaus ausgesehen habe und . . . Ssergeij Ssergeijewitsch begann zu erröten, bis er purpurn wurde: das Blut stieg ihm zu Kopfe. Er hatte ja schon als Kind mit Nikolai Ableuchow gespielt; später bewunderte er oft seine philosophischen Fähigkeiten; edelmütig erlaubte er Nikolai Apollonowitsch, sich zwischen ihn und seine Gattin zu stellen, weil er ihn für einen Mann aus guter Gesellschaft, für einen ehrlichen Mann hielt, und nun . . . zornerfüllt stellte sich Ssergeij Ssergeijewitsch den grimassierenden roten Domino im unbeleuchteten Stiegenhaus vor. Er erhob sich und begann erregt durchs winzige Zimmer zu schreiten; er ballte die Hand zu einer Faust und schwang sie bei den scharfen Kurven wuterfüllt in die Luft; wenn Ssergeij Ssergeijewitsch außer sich war (und das war zwei-, dreimal in seinem Leben geschehen), kam diese Geste immer wieder zum Vorschein; Sofja Petrowna verstand wohl diese Geste; sie fürchtete sich ein wenig: sie fürchtete sich immer — nicht vor der Geste, doch vor dem Schweigen, das die Geste ausdrückte.

»Was . . . was haben Sie?«

»Nichts . . . nichts weiter.«

Und Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin schritt durch das winzige Zimmer auf und ab, die Hand zu einer Faust geballt.

Der rote Domino! . . . Ekel, Ekel, Ekel! Dort stand er hinter der Eingangstür — ha?! . . .

Leutnant Lichutin empfand Ekel und Grauen . . . Seinen Brief unbeachtet lassen, ihn, den Offizier, durch eine harlekinische Missetat zu entehren, durch eine giftige Grimasse seine geliebte Frau zu beleidigen!!! . . . Ssergeij Ssergeijewitsch gab sich das ehrliche Offizierswort, diese Schlange zu zertreten, zu zertreten; nach diesem Entschluß fuhr er fort, auf und ab durchs Zimmer zu spazieren, mit krebsrotem Gesicht, die Hände zu Fäusten geballt, den muskulösen Arm bei den scharfen Kurven in der Luft schwingend; selbst Sofja Petrowna war ängstlich geworden: ebenfalls rot, mit halb offenen Lippen, die ungetrockneten Tränen an den Wangen, verfolgte sie aufmerksam die Bewegungen ihres Gatten.

»Was haben Sie?«

Rauh klang jetzt die Stimme Ssergeij Ssergeijewitschs. In ihr lag jetzt Drohung und unterdrückte Wut.

»Nichts . . . nur so . . .«

Aufrichtig gesagt, Ssergeij Ssergeijewitsch empfand in diesem Augenblick auch gegen seine geliebte Frau so etwas wie Ekel, als wäre auch sie an der schmachvollen harlekinischen Tat des roten Dominos beteiligt.

»Geh in dein Zimmer: leg’ dich schlafen . . . überlaß alles mir.«

Und Sofja Petrowna Lichutina erhob sich folgsam und suchte leise ihr Zimmer auf.

Allein geblieben, spazierte Ssergeij Ssergeijewitsch noch lange auf und ab und hüstelte. Von Zeit zu Zeit schwang er die eichene Faust über ein Tischchen, und es schien, als müßte es in Stücke zerfallen.

Doch die Faust löste sich.

Endlich begann er sich rasch auszuziehen; dann kroch er unter seine Decke; doch einen Augenblick später flog die Decke auf den Boden; Ssergeij Ssergeijewitsch setzte sich auf, starrte in die Dunkelheit und sagte vernehmlich flüsternd:

»Ah, Ah! Was sagen Sie dazu. Ich erschieße ihn wie einen Hund . . .«

Da ertönte hinter der Wand ein weinerliches, lautes Stimmchen.

»Was haben Sie?«


»Nichts . . . nur so . . .«

Ssergeij Ssergeijewitsch stieg wieder in sein Bett, zog die Decke über den Kopf und seufzte, flüsterte, drohte . . .


Sofja Petrowna rief nicht nach dem Mädchen. Sie entkleidete sich selbst und stand bald ganz in Weiß unter einer Fontäne von Kleidungsstücken, die sie in drei, vier Minuten um sich zu bilden verstand; dann warf sie sich ins Bett; jetzt saß sie, die Beine übereinandergeschlagen, das erboste Gesichtchen mit den vorstehenden Lippen und dem deutlich gezeichneten Schnurrbärtchen auf beide Arme gestützt.

Sofja Petrowna horchte auf die Laute hinter der Wand, dann horchte sie auf das Klavierspiel, das heute wie allabendlich über ihrem Kopfe tönte; dort wurde die Melodie einer Masurka gespielt; nach ihr hatte sie schon als zweijähriges Kind lachend mit ihrer Mutter getanzt. Durch die alten, ahnungslosen Töne legte sich Sofja Petrownas Zorn, verwandelte sich in Müdigkeit, in Apathie; sie begann sich über den Mann zu ärgern, in dem sie selbst die Eifersucht, wie sie es nannte, gegen den Andern geweckt hatte. Sofja Petrowna sah plötzlich ein, daß ihr Mann mit dem ganzen Vorfall nichts zu tun hatte; dieser Vorfall sollte ein Geheimnis zwischen ihr und dem Andern bleiben. Die Hinzuziehung des Gatten gestaltete die Angelegenheit in eine für sie beleidigende Form: Ssergeij Ssergeijewitsch würde aus diesem Geschehnis sicher ganz unzutreffende Schlüsse ziehen; vor allem würde er das Ganze keinesfalls verstehen: weder ihre süß-bangenden Gefühle noch die Verkleidungskomödie des Andern. Sofja Petrowna horchte auf die Töne der alten Masurka und auf das peinliche Geräusch hinter der Wand; aus der Fülle der schwarzen Haare blickte geängstigt das perlenfarbige Gesichtchen mit den dunkelblauen, jetzt matt schimmernden Augen.

Plötzlich fiel ihr Blick auf ihren Toilettenspiegel; dort lag der Brief, den sie ihm auf dem Ball übergeben sollte (sie hatte diesen Brief ganz vergessen). Im ersten Augenblick beschloß Sofja Petrowna, das Schreiben am nächsten Tag an Warwara Ewgrafowna zurückzusenden. Wie durfte man es wagen, sie mit Aufträgen an ihn zu belästigen! Sie würde ihn ohne Zweifel zurückschicken, wenn sich nicht ihr Mann in die Angelegenheit gemischt hätte (wenn er doch endlich einschlafen würde!); jetzt ärgerte sie sich über die Einmengung anderer, während sich in ihr ein Gefühl des Protestes erhob: schließlich war es ihre persönliche Angelegenheit, und sie hatte auch das vollständige Recht, den Brief zu öffnen, um den Inhalt zu erfahren; wie wagte er es überhaupt, Geheimnisse vor ihr zu haben?). Mit einem Sätze war Sofja Petrowna am Tischchen; doch kaum hatte sie den Brief in Händen, als sie ein wütendes Flüstern hinter der Wand vernahm.

»Was haben Sie?«

Hinter der Wand antwortete man ihr:

»Nichts . . . nur so . . .«

Das Bett krachte, dann wurde alles still. Mit zitternder Hand brach Sofja Petrowna das Kuvert auf . . . und je weiter sie las, um so größer wurden ihre Augen. Der matte Ausdruck verschwand aus ihnen und verwandelte sich in schimmernden Glanz: das blasse Gesichtchen bekam erst das Rosa der Apfelblätter, dann wurde es rosarot und schließlich, als sie mit dem Lesen fertig war — einfach purpurn.

Jetzt war Nikolai Apollonowitsch ganz in ihrer Hand; sie erbebte bei der Vorstellung an den furchtbaren Schlag, den sie ihm jetzt für ihre zweimonatige Qual versetzen konnte; von diesen, ihren Händchen würde er diesen Schlag bekommen. Er hatte sie durch eine dumme Maskerade erschrecken wollen; doch dieselbe mißlang ihm und wurde zu einer Reihe von Blödigkeiten; nun sollte er jetzt das sühnen, was er in ihr hervorgerufen hatte! Ja, ja, ja: sie würde sich rächen durch die einfache Übergabe des geöffneten Briefes von so furchtbarem Inhalt. Einen Augenblick lang empfand sie Schwindel vor dem Weg, den sie, verleitet durch den roten Domino, betrat. Doch mag es geschehen: mag es der blutige Weg für den blutigen Domino werden!

Die Tür knarrte: Sofja Petrowna hatte kaum Zeit, den Brief zu verbergen, als sich auf der Schwelle ihr Gatte zeigte; er war ganz in Weiß: in weißem Hemd und Unterhose. Das Erscheinen eines ihr völlig fremden Menschen in so ungenierter Weise versetzte sie in Wut.

»Sie hätten sich doch wenigstens anziehen sollen.«

Ssergeij Ssergeijewitsch wurde verlegen und trat rasch aus dem Zimmer, einen Augenblick später aber erschien er wieder, mit einem Schlafrock bekleidet. Einfach, doch mit unangenehmer, bei ihm ungewohnten Schärfe sagte er ihr:

»Sophie . . . Sie müssen mir versprechen, ich bitte Sie sehr darum, morgen nicht zu den Zukatows zum Ball zu gehen . . .«

Schweigen.

»Ich hoffe, Sie versprechen mir das; die Vernunft wird es Ihnen selbst sagen: ersparen Sie mir weitere Erklärungen.«

Schweigen.

»Ich möchte, daß Sie selbst die Unmöglichkeit einsehen, nach dem Vorgefallenen diesen Ball zu besuchen.«

Schweigen.

»Wenigstens gab ich selbst für Sie das Offizierswort, daß Sie nicht auf dem Ball sein werden.«

Schweigen.

»Ich werde sonst genötigt, es Ihnen einfach zu verbieten.«

»Ich werde auf dem Ball sein . . .«

»Nein, Sie werden nicht dort sein!!«

Sofja Petrowna war überrascht von der hölzernen Stimme, mit der er es sagte.

»Nein, ich werde dort sein . . .«

Es entstand eine drückende Stille; man hörte nur ein seltsames Röcheln in der Brust des Offiziers. Er griff sich nervös an den Hals und bewegte den Kopf, wie bemüht, eine schwere Entscheidung abzuschütteln; mit übermenschlicher Kraft unterdrückte er einen drohenden Ausbruch; er ließ sich still auf einen Stuhl nieder und blieb stockgerade sitzen; mit unnatürlich leiser Stimme begann er:

»Sehen Sie: ich habe Sie nicht mit Fragen belästigt. Sie selbst haben mich zum Zeugen des Vorgefallenen gemacht.«

Ssergeij Ssergeijewitsch konnte das Wort »roter Domino« nicht aussprechen; instinktiv fühlte er sich vor einem Lasterabgrund, dem seine Frau, auf abschüssigem Wege, entgegenrannte; wo in diesem sinnlosen Treiben das Lasterhafte lag, konnte sich Ssergeij Ssergeijewitsch nicht sagen, doch er fühlte, daß es sich hier nicht um einen einfachen Roman, nicht um Untreue, selbst nicht um einen Fall handelte. Nein, nein, nein; hier schwebte über dem Ganzen das Aroma satanischer Erzesse, die wie Blausäure für immer die Seele seiner Frau zu vergiften drohten, er wußte: wird seine Frau morgen bei Zukatows erscheinen, wird sie dort den ekelhaften Domino sehen, dann ist alles verloren: die Ehre der Frau, seine Ehre als Offizier, alles.

»Sehen Sie, nach all dem, was Sie mir sagten, muß es Ihnen klar sein, daß Sie sich mit ihm nicht treffen dürfen, daß dies eine Schande, eine Schande wäre; endlich gab ich das Wort, daß Sie nicht hingehen würden. Haben Sie Erbarmen mit sich, Sophie, mit mir und auch . . . mit ihm, denn sonst . . . ich, ich weiß nicht . . . ich bürge für nichts . . .«

Doch Sofja Petrowna empörte sich immer mehr über die freche Einmengung dieses fremden Offiziers; eines Offiziers noch dazu, der es gewagt hatte, in ihrem Schlafzimmer in einem so unanständigen Aufzug zu erscheinen: sie hob irgendein Kleidungsstück vom Fußboden auf (sie hatte erst jetzt bemerkt, daß sie selbst im vollständigen Neglige war) und warf es über sich, darauf drückte sie sich in eine Ecke; und von dort aus dem Halbdunkel sagte sie entschlossen, das Köpfchen bewegend:

»Vielleicht wäre ich auch nicht hingefahren, aber jetzt, nachdem Sie sich so eingemengt haben, gehe ich hin, gehe ich gerade hin!«

»Nein, das werden Sie nicht!!!«

»Was ist es?« Es schien ihr, als krachte im Zimmer ein betäubender Schuß; gleichzeitig tönte ein unmenschlicher Schrei: eine dünne, heisere Fistelstimme schrie etwas Unverständliches; ein eichener Mann sprang in die Höhe; ein Sessel fiel krachend um, und ein Faustschlag schlug das billige Tischchen entzwei, dann flog krachend die Tür ins Schloß, und alles war ruhig . . .

Die Masurka oben brach ab, Schritte und Stimmen wurden hörbar; schließlich begann der beunruhigte Nachbar mit einem Besenstiel am Boden zu klopfen, um damit von oben in gebildeter Weise seinem Protest Ausdruck zu geben.

Sofja Petrowna Lichutina saß zusammengekauert in der Ecke und weinte: zum erstenmal im Leben stand sie vor solchem Wutausbruch; der Mensch, der soeben vor ihr stand . . . das war kein Mensch, das war . . . nicht einmal ein Tier. Vor ihr hatte soeben ein wütender, toller Hund geheult.

Der zweite Raum des Senators

Das Schlafzimmer Apollon Apollonowitschs war einfach und klein: vier graue perpendikuläre Wände und ein einziger Fensterausschnitt mit weißen Spitzengardinen; ebenso weiß waren die Bettlaken, Handtücher und Kissenüberzüge; vor dem Schlafengehen des Senators spritzte der Kammerdiener die Bettlaken mit einem Pulverisator ein.

Apollon Apollonowitsch gebrauchte nur das Eau de Cologne des Petersburger Chemischen Laboratoriums.

Weiter stellte der Kammerdiener ein Glas mit Zitronenlimonade auf das Nachttischchen und entfernte sich dann, Apollon Apollonowitsch entkleidete sich selbst.

Mit großer Korrektheit zog er seinen Schlafrock aus, mit ebensolcher Korrektheit faltete er ihn zusammen und warf ihn geschickt über die Lehne des Stuhles; mit größter Korrektheit zog er dann auch Sakko und Hose aus; in gestrickter, fest anliegender, weißer Unterhose und im Hemd pflegte er vor dem Schlafengehen seine gymnastischen Übungen zu machen.

Diese nützlichen Übungen machte er besonders eifrig an jenen Tagen, an denen er an Hämorrhoiden litt.

Nach den nützlichen Übungen zog er die Decke über sich, um sich der friedlichen Ruhe hinzugeben und die Reise zu beginnen: denn der Schlaf (das fügen wir von uns hinzu) ist eben nichts anderes als eine Reise.

Das alles vollführte Apollon Apollonowitsch auch heute. Bis zum Kopf in die Decke gehüllt, schwebte er bereits in der zeitlosen Leere.

Aber da werden wir unterbrochen, und man fragt uns: »Wieso Leere? Und die Wände, der Boden? Und . . . so weiter? . . .«

Wir antworten:

Apollon Apollonowitsch sah immer zwei Räumlichkeiten vor Augen: eine war die materielle (die Zimmerwände, die Wände des Wagens usw.), die andere — nicht gerade die geistige . . . (die materielle aber keinesfalls) . . . Also, über seinem Kopf sah der Senator Ableuchow sonderbare Strömungen: funkelnde, gleißende, aber auch neblige, irisierende Flecke, aus sich drehenden Zentren hervorgehend, im Halbdämmer die Grenzlinien der materiellen Flächen verschleiernd; so schwirrte Raum im Raum, und letzterer, alles andere verdeckend, verband sich mit dem Unermeßlichen der sich bewegenden, sich biegenden Perspektiven, deren Inhalt aus . . . so etwas wie Tannennadeln, Sternchen, Fünkchen, Flämmchen bestand. Apollon Apollonowitsch pflegte vor dem Einschlafen die Augen zu schließen und sie dann wieder zu öffnen; wobei sich folgendes ergab: die Flämmchen, Nebelflecke, Fäden und Sternchen fügten sich wie aufsteigender heller Schaum brausender, übergroßer Dunkelheiten plötzlich zu wahrnehmbaren, deutlichen Bildern (für eine Viertelsekunde nur): zu einem Kreuz, zu einem Brillanten, zu einem Vieleck, zu einem Schwan, zu einer lichterfüllten Pyramide. Dann zerstob alles. —

Apollon Apollonowitsch besaß ein seltsames Geheimnis: die Welt der mathematischen Figuren, der Konturen, der Zitterigkeiten, der absonderlichen physischen Empfindungen — kurz: ein All der Seltsamkeiten. Dieses All entstand immer vor dem Schlafengehen und entstand so, daß Apollon Apollonowitsch in diesem Augenblick alle früheren Unvernehmbarkeiten, Geräusche, kristallographischen Figürchen, goldene, im Finstern sich tummelnde chrysanthemenartige Sterne auf vielfüßigen Strahlen wahrnahm (manchmal übergoß ein solcher Stern des Senators Schädel mit flüssigem Gold, dann lief es ihm kalt über den Schädel); kurz, er erinnerte sich alles dessen, was er am Tage vorher gesehen hatte und dessen er sich folgenden Morgen wohl nicht mehr erinnerte.

Manchmal (nicht immer) merkte Apollon Apollonowitsch beim Schlafengehen, in den letzten Momenten seines Tagesbewußtseins, daß alle Fäden, alle Sterne, einen kochenden Wirbel bildend, aus sich einen Korridor bauten, der ins Unendliche lief; und (was das Seltsamste war) er fühlte, daß dieser Korridor seinen Anfang im Senatorkopfe hatte, daß er, der Korridor — eine unendliche Fortsetzung des Kopfes selbst sei, seines Kopfes, dessen Scheitel sich öffnete, um eine Fortsetzung zum Unermeßlichen zu bilden; und so gewann der alte Senator vor dem Einschlafen den höchst sonderbaren, eigentümlichen Eindruck, als sähe er nicht mit den Augen, sondern mit dem Zentrum seines Kopfes, das heißt, als sei er, Apollon Apollonowitsch, nicht er, sondern ein Etwas, das in seinem Hirn saß und von dort aus alles ansah; wurde der Scheitel geöffnet, konnte jenes Etwas frei und ohne Hemmung über den Korridor bis zu dem in unendlich weiter Ferne liegenden Abgrundsrand laufen.

Das war die zweite Räumlichkeit des Senators — das Land seiner allnächtlichen Reisen; und nun genug davon . . . ja.

Den Senatorkopf in die Decke gehüllt, schwebte er bereits über der zeitlosen Leere, der lackierte Fußboden löste sich schon von den Beinen des Bettes, und dieses stand sozusagen im Unbekannten — als des Senators Ohren sonderbare Laute vernahmen, ähnlich denen aufschlagender Hufe.

»Tra — ta — ta . . . Tra — ta — ta . . .«

Die Laute kamen näher.

Seltsam, höchst seltsam: der Senator schob ein Ohr aus der Decke hervor — ja: es scheint richtig — aus dem Spiegelsaal kam das Geräusch.

Apollon Apollonowitsch schob den Kopf hervor.

Die Laute klangen noch immer: Apollon Apollonowitsch sprang auf und lief in den Korridor.

Der Mond beschien die stillen Zimmer.

Mit bloßen Beinen, mit brennender Kerze in der Hand spazierte der Senator durch die Räume. Die plötzlich aufgetauchte Bulldogge folgte ihrem beunruhigten Herrn und wedelte wohlwollend mit dem abgehackten, halben Schwanze.

Wie ein flacher Holzdeckel wiegte sich keuchend die haarige Brust, während das blaßgrüne Ohr lauschte. Zufällig fiel der Blick des Senators in einen Spiegel; der zeigte ein seltsames Bild: seine Arme, Beine und Brust waren mit dunkelblauem Atlas überzogen.

Apollon Apollonowitsch schöpfte Atem und lief in den Saal: von woher die Laute drangen.

»Tra — ta — ta . . . Tra — ta — ta . . .«

Schimpfend hallte des Senators Stimme:

»Nach welchem Paragraphen des Gesetzes?«

Dies rufend sah er, daß die gleichmütige Bulldogge, friedlich und verschlafen, neben ihm herlief. Doch — welche Frechheit! — Aus dem Saal erwiderte eine Stimme:

»Auf Grund einer außerordentlichen Verfügung.«

Über die freche Antwort empört, lief der blaue Ritter in den Saal, und Apollon Apollonowitsch sah jetzt: die Laute waren nichts anderes als das Zungenschnalzen eines elenden, tanzenden Mongolen: eines dicken Mongolen, dessen Physiognomie er in Tokio gesehen hatte (der Senator war einmal nach Tokio geschickt worden) —, und dieser dicke Mongole eignete sich das Gesicht des Nikolai Apollonowitsch an; eignete es sich an, sagte ich, denn er war nicht Nikolai Apollonowitsch, sondern ein gewöhnlicher Mongole, den der Senator früher in Tokio gesehen hatte. Dies zu begreifen, weigerte sich der Senator, mit den Fäustchen die erstaunten Augen reibend. Der Mongole aber (Nikolai Apollonowitsch) näherte sich ihm in eigennütziger Absicht.

Da rief der Senator zum zweitenmal:

»Nach welchem Gesetz? Und nach welchem Paragraphen?«

Und die Räumlichkeit antwortete ihm:

»Es gibt jetzt schon keine Paragraphen und keine Gesetze.«


Plötzlich der Schwere beraubt, ja selbst des Empfindens der Körperlichkeit, ganz Gesicht und Gehör, von jedem anderen Gefühl befreit, hob er die Stellen der Augen (denn die Augen waren nicht mehr: jede Körperlichkeit war ja entschwunden!) in die Richtung seines eigenen Scheitels und merkte, daß kein Scheitel mehr existierte, denn dort, wo sonst das Hirn von festen Knochen gehalten wurde, war jetzt eine runde Öffnung, die zur dunkelblauen Ferne strahlte, und über dieser Öffnung hing ein rotierendes Rad aus tanzenden, sprühenden Funken; im Augenblick, als Apollon Apollonowitsch den Mongolen an seinen kraftlosen Körper heranschleichen fühlte — im selben Augenblick begann ein Etwas, das wie der Wind im Schornstein heulte und pfiff, das Bewußtsein Apollon Apollonowitschs in die unendlichen Sternfernen emporzuziehen.

Hier geschah ein Skandal (das Bewußtsein Apollon Apollonowitschs konstatierte, daß schon einmal ein ähnlicher Fall vorgekommen war: wo, wann — dessen erinnerte er sich nicht) — hier geschah ein Skandal: der Wind blies das Bewußtsein Apollon Apollonowitschs aus Apollon Apollonowitsch. Durch die runde, strahlende Öffnung flog er hinaus in das Blau der Gestirne als goldener, federleichter Stern; als er genügend hoch über seinem eigenen Kopfe schwebte (der ihm als Planet erschien); zerstob der goldene Stern, einer Rakete gleich, lautlos in Luft . . .

Ende des dritten Kapitels.

Viertes Kapitel

Der Sommergarten

Nüchtern, vereinsamt liefen die Wege des Sommergartens auseinander; mit eiligen Schritten durchquerte sie der düster dreinschauende Passant, um sich dann in der hoffnungslosen Ödigkeit des Marsfeldes zu verlieren.

Verstimmt lag der Sommergarten da.

Die Sommerstatuen flüchteten sich unter die Holzverschläge; die großen Bretter glichen in ihrer Längsseite, der Form nach, einem Sarg; diese Särge umstanden die schmalen Gartenwege; in diesen Särgen verbargen sich Nymphen und Satyre, damit der Zahn der Zeit nicht an ihnen mit Regen, Schnee und Frost nagen konnte; denn die Zeit — sie zernagt alles mit ihrem eisernen Zahn; sie zernagt in gleicher Weise den Körper wie die Seele und selbst die Steine. —

Mit dem Verschwinden der alten Zeiten verödete der Garten, er wurde grau, schrumpfte zusammen; die Grotte zerfiel, die Springbrunnen murmelten nicht mehr, die Sommergalerie war zerstört, der Wasserfall ausgetrocknet; zusammengeschrumpft lag der Garten geduckt hinter dem Gitterzaunwerk.

Peter selbst war es, der den Garten angelegt hat; mit seiner eigenen Gießkanne begoß er die Pflanzen; er ließ Zedern aus Solikamsk, Sauerdorn aus Danzig und Apfelbäume aus Schweden herbeibringen; er errichtete Wasserspiele, und ihre Sprühregen glitzerten zuweilen wie leichtes Spinngewebe auf den roten Kamisolen der allerhöchsten Persönlichkeiten, mit gepuderten Locken, schwarzen Arabergesichtern und den eleganten Hofdamen in kostbaren Roben; gestützt auf den geschliffenen Griff des schwarzen, goldverzierten Stockes, führte der grauhaarige Kavalier seine Dame an das Bassin, wo vom dunkelgrünen, schäumenden Grund, prustend, der Seehund seine Schnauze hervorstak; ein geängstigtes »Ach!« von seiten der Dame, indessen der Kavalier scherzhaft lächelte und seinen Stock dem schwarzen Monstrum entgegenhielt.

Damals zog sich der Sommergarten weit hin, und das Marsfeld mußte ein ordentliches Stück seiner Fläche für die Alleen des Gartens hergeben, jenen Alleen, die dem kaiserlichen Herzen so nahelagen; riesige Muscheln aus indischen Gewässern streckten hier von den rauhen Steinen der Grotte ihre rosafarbigen Fühler in die Luft, und die hohe Persönlichkeit näherte, den pleureusengeschmückten Hut abnehmend, neugierig das Ohr der rosigen Öffnung: ein chaotisches Summen drang ihr entgegen; inzwischen labten sich andere hohe Persönlichkeiten vor der Grotte an Fruchtsaftwasser.

Auch in späteren Zeiten hörte man öfters Lachen, Seufzer und Flüstern vor der Statue, die in malerischer Pose ihre Hände in den dämmernden Tag vorstreckte; dabei glänzten die Perlen der Hoffräulein. Im Frühling war es, am Pfingsttag; die Abendluft verdichtete sich; plötzlich wurde sie von Orgeltönen erschüttert, die aus einer Gruppe schlummernder Ulmen hervorbrachen; und von derselben Ecke aus breitete sich plötzlich spaßiges grünes Licht aus; von diesem grünen Licht beschienen, bliesen grellrote Jägermusikanten in ihre Hörner, und von den melodischen Tönen erzitterte die Luft, die Seelen der Zuhörer in ihren Tiefen aufwühlend; hast du das sehnsuchtsvolle Weinen der in die Luft emporgehobenen Hörner nicht vernommen?

Das war alles einmal gewesen; jetzt ist es vorbei; jetzt laufen düster verstimmt die Wege des Sommergartens auseinander; eine schwarze, ruhelose Vogelschar kreiste über dem Peterhäuschen; unerträglich war ihr Gezwitscher und das Aufschlagen der vielen Flügel; die schwarze, ruhelose Schar ließ sich störend auf die Zweige niederfallen.

Nikolai Apollonowitsch, parfümiert und rasiert, schritt, in seinen Wintermantel gehüllt, über den hartgefrorenen Weg; sein Kopf sank auf den Pelz, und die Augen glänzten eigentümlich. Er hatte gerade beschlossen, sich in Arbeit zu vertiefen, als ihm ein Zettelchen überreicht wurde; mit unbekannter Schrift lud ihn jemand zu einem Stelldichein in den Sommergarten ein; die Unterschrift war ein »S«. Wer mochte sich hinter dem geheimnisvollen »S« verbergen? »S« ist — Sofja (sie hat wohl ihre Schrift verändert). Nikolai Apollonowitsch, frisch rasiert und parfümiert, schritt über den hartgefrorenen Weg weiter.

Er sah aufgeregt aus; er hatte in diesen Tagen keinen Appetit, keinen Schlaf gehabt; eine dünne Staubschicht legte sich ungehindert auf die aufgeschlagene Seite des Kant. Ein Strom süßer Gefühle zog durch die Seele Nikolai Apollonowitschs; Ähnliches hatte er auch schon früher empfunden. — Dumpf, fern. Aber seit er durch sein eigenes Vorgehen in Sofja Petrowna die unbestimmten Schauer geweckt hatte, war auch er von diesem Schauer erfaßt; als hatte er in ihm selbst schlummernde Kräfte in unergründeten Tiefen geweckt; als wäre in ihm eine Äolssaite gesprungen und anderer Leidenschaften — Kinder hätten ihn durch die Lüfte in andere Länder getragen. Sollten auch das nur die wiedergekehrten, rein sinnlichen Empfindungen sein? Oder war es am Ende — die Liebe? Aber die Liebe verneinte er.

Er sah sich bewegt um nach der bekannten Gestalt im Pelzmantel mit kleinem, schwarzem Muff; doch niemand war auf den Wegen zu sehen. Auf einer nahen Bank saß eine nachlässig gekleidete Frauensperson. Diese erhob sich plötzlich, trippelte erst eine Weile an der Bank herum und ging dann auf ihn zu.

»Sie haben mich . . . nicht erkannt?«

»Ach ja, guten Tag!«

»Sie scheinen mich auch jetzt nicht zu erkennen? Ich bin — Solowjowa.«

»Aber natürlich erkannte ich Sie, Warwara Ewgrafowna!«

»Dann wollen wir hier auf der Bank Platz nehmen . . .«

Nikolai Apollonowitsch ließ sich gequält neben ihr nieder; in dieser selben Allee war ihm das Stelldichein gegeben, und nun kam diese unglückliche Begegnung! Nikolai Apollonowitsch überlegte, wie er das Mädchen loswerden konnte; in Erwartung der anderen sah er sich fortwährend verlegen um, doch es kam niemand.

Vor ihren Füßen lagen Haufen dunkelbrauner, wurmstichiger Blätter; ein dunkles Netz von Zweigen zog sich vor ihnen, matt den Horizont durchschneidend, hin; von Zeit zu Zeit begann dieses Netz zu ächzen; von Zeit zu Zeit begann sich dieses Netz zu bewegen.

»Haben Sie meinen Zettel bekommen?«

»Welchen Zettel?«

»Den Zettel mit ‚S‘ gezeichnet?«

»Was, den haben Sie geschrieben?«

»Aber gewiß doch . . .«

»Wieso dann ‚S‘?«

»Wieso? Ich heiße doch Solowjowa.«

Alles stürzte vor ihm zusammen. Und er, und er — was hatte er sich nicht schon alles ausgemalt! Die unbestimmten Schauer, die ihn trugen, versanken in jähe Tiefe.

»Womit kann ich dienen?«

»Ich . . . ich wollte, ich dachte . . . haben Sie einmal ein Gedicht mit der Unterschrift ‚Die flammende Seele‘ bekommen?«

»Nein.«

»Wie ist das möglich? Ach, wie ärgerlich! Ohne diese Verse ist es mir eigentlich schwer, Ihnen zu erklären . . . Ich wollte Sie über den Sinn des Lebens fragen . . .«


»Verzeihen Sie, Warwara Ewgrafowna, ich habe gar keine Zeit.«

»Wieso? Ach, wieso denn?«

»Auf Wiedersehen! Ich bitte vielmals um Verzeihung: wir werden dieses Gespräch ein anderes Mal aufnehmen. Nicht wahr?«

Warwara Ewgrafowna machte einen schüchternen Versuch, ihn zurückzuhalten, doch er erhob sich entschlossen und reichte ihr seine parfümierte Hand. Ihr fiel im Augenblick nichts ein, wodurch sie ihn zu bleiben bewegen konnte; er aber lief ganz verärgert, das Gesicht stolz und gekränkt in den Pelzmantel vergraben, von dannen.

Madame Farnoix

Erst in später Stunde beliebte Engel Peri ihre unschuldigen Äuglein aufzuschlagen; ihre Äuglein wollten durchaus nicht offen bleiben, und im Köpfchen bohrte ein dumpfer Schmerz; Engel Peri geruhte noch lange im Halbschlummer dazuliegen; in ihrem Köpfchen schwirrten Unverständlichkeiten, Undeutlichkeiten durcheinander; der erste volle Gedanke war der an den bevorstehenden Abend: was wird nun werden? Als sie sich darüber klar zu werden versuchte, fielen ihre Augen wieder zu, und ihren Kopf erfüllten wieder Unverständlichkeiten, Undeutlichkeiten. Aus dieser Unklarheit erhob sich nun das Wort: Pompadour, Pompadour . . . Was war es aber mit dem Pompadour? Hell erleuchtete dieses Wort ihre Seele: Toilette à la Pompadour — himmelblaue Seide mit Blümchenmuster, Valencienner Spitzen, silbergraue Halbschuhe mit Pompons. Über die Toilette à la Pompadour hatte sie mit Madame Farnoix neulich einen großen Disput; Madame Farnoix wollte keinesfalls auf die Blondenspitzen verzichten. Es entstand eine Meinungsverschiedenheit, die so weit ging, daß Madame Farnoix Sofja Petrowna vorschlug, den Stoff wieder mitzunehmen und sich an Maison Tricotons zu wenden. Davon wollte aber Sofja Petrowna nichts hören, und so blieben die Blondenspitzen; ebenso gab Sofja Petrowna in anderen, den Stil Pompadour betreffenden Punkten nach, z. B. was das leichte Chapeau Bergère an den Ärmeln betraf.

So war man einig geworden.

Vertieft in Gedanken über Madame Farnoix, Maison Tricotons und Pompadour, fühlte Sofja Petrowna doch, daß gestern noch etwas geschehen war, das alles andere verwischen mußte; sie benutzte aber ihren verschlafenen Zustand unbewußt, die halbentschwundene Erinnerung von dem gestrigen Tage nicht in sich aufkommen zu lassen; endlich erinnerte sie sich der zwei Worte: Domino und Brief; sie sprang vom Bett auf und rang in gegenstandsloser Bangigkeit die Hände; noch ein drittes Wort gab es, mit dem sie gestern auch eingeschlafen war.

Doch Engel Peri konnte sich dieses dritten Wortes nicht entsinnen; dieses dritte Wort war von Belang: Gatte, Offizier, Leutnant.

Engel Peri nahm sich vor, an die beiden ersten Worte vor dem Abend nicht zu denken, das dritte aber vollständig zu ignorieren. Doch gerade dieses dritte drängte sich ihr unerwartet schon sehr bald auf; das kam nämlich so: kaum war sie aus ihrem überheizten Schlafzimmerchen in den Salon getreten, ihre schwebenden Schritte weiter ins Zimmer des Gatten lenkend, überzeugt, daß dieser, wie immer, schon längst aus dem Hause war, um irgendwo dort den Proviant zu verwalten, als sie zu ihrer Verwunderung die Tür von innen abgeschlossen fand; entgegen jeder Regel, entgegen der Vernunft, der Ehrlichkeit, trotz Unbequemlichkeit und enger Wohnung — befand sich Leutnant Lichutin allem Anschein nach noch in seinem Zimmer.

Da erst fiel ihr die gestrige häßliche Szene ein; und mit schmollendem Mündchen schlug sie die Tür ihres Schlafzimmers zu (er habe sich eingesperrt, dann wolle auch sie das gleiche tun). Zugleich aber erblickte sie das zerschlagene Tischchen.

»Gnädige Frau wünschen den Kaffee ins Zimmer?«

»Nein, nicht.«


»Der gnädige Herr wünschen den Kaffee ins Zimmer?«

»Nein, nicht.«


»Gnädiger Herr, der Kaffee ist kalt geworden.«

Schweigen.

»Gnädige Frau, es ist jemand da.«

»Von Madame Farnoix?«

»Nein, von der Wäscherin.«

Schweigen.


Die Stunde hat sechzig Minuten; die Minute besteht aus lauter kleinen Sekunden; die Sekunden liefen und bildeten Minuten; schwerfällig wälzten sich die Minuten; und langsam, langsam gingen die Stunden dahin.

Schweigen.

Während des Tages sprach der Gelbe, Ihrer Majestät Kürassier, Baron Ommau-Ommergau, vor, mit einer Zwei-Pfund-Bonbonniere mit Kraftschokolade unter dem Arm. Die Bonbonniere wurde gnädig entgegengenommen, der Kürassier mußte gehen.

Gegen zwei Uhr nachmittags klingelte der Blaue, Seiner Majestät Kürassier, Graf Awen, mit einer Bonbonniere von Ballé in der Hand. Die Bonbonniere wurde angenommen, er mußte gehen.

Nicht empfangen wurden auch der Leibhusar mit der hohen Pelzmütze; der Husar schüttelte seinen Sultan hinter dem Busch zitronengelber Chrysanthemen, den er in der Hand hielt; er war unmittelbar nach Graf Awen erschienen.

Dann war Werhefden mit einem Logenbillett für das Mariensche Theater erschienen; es fehlte nur Lipantschenko.

Endlich, spät am Abend, kam das Laufmädchen von Madame Farnoix mit einem riesigen Kleiderkarton; sie wurde sofort vorgelassen; als darüber im Vorzimmer ein Kichern entstand, öffnete sich die Tür des Schlafzimmers, ein verweintes Gesichtchen blickte neugierig hervor, und eine Stimme rief erzürnt:

»Rasch damit her!«

Zu gleicher Zeit knackte das Schloß im Herrenzimmer, eine zerwühlte Mähne erschien einen Augenblick und — verschwand. War es wirklich der Leutnant?


Petersburg verkroch sich in die Nacht.

Wer erinnert sich nicht des Abends vor der ereignisvollen Nacht? Wer erinnert sich nicht des traurigen Hinscheidens dieses Tages?

Die riesengroße Purpursonne lief über der Newa dahin, um sich dann hinter den Fabrikschloten zu verbergen: die Petersburger Häuser überzogen sich mit einem feinen Dunstschleier, zerflossen gleichsam und verwandelten sich in eine leichte, amethystgraue Spitze; die Fensterscheiben warfen allerorts einen goldigflammenden Schein, und die hohen Turmspitzen leuchteten rubinenrot. Alles, was sonst schwerfällig hervorstach: die Vorsprünge der Mauern, die Karyatiden an den Eingängen, die steinernen Balkons, verloren sich in der brennend roten Flammenhaftigkeit.

Blutrünstig grell lag das rostrote Palais da: dieses alte Palais wurde noch von Rostrelli erbaut; ein zarter, hellblauer Mauerkörper, umgeben von einer Schar weißer Säulen, stand damals das Palais; bewundernd pflegte einst die Kaiserin Elisabeth, Peters Tochter, das Fenster zu öffnen, um in die Newafernen zu blicken. Zur Zeit Alexanders I. war das alte Palais mit fahlgelber Farbe bestrichen; unter Alexander II. wurde es wieder renoviert, und von da ab behielt es seinen rostroten Farbenton, blutigrot gegen Westen.

An diesem ereignisreichen Abend flammte alles und alles, und so flammte auch das Palais; alles andere aber, was nicht von dem Schein erfaßt war, versank, langsam, in Dunkel; langsam in Dunkel versanken die Reihen der Linien und Wände, indessen dort auf dem erlöschenden lila Himmel in den Perlmutterwölkchen sich langsam sprühende Feuerchen entzündeten; langsam, langsam leichte duftige Flämmchen aufhüpften.

Du würdest gesagt haben, dort erblickte man die Abendröte der Vergangenheit.

Eine Dame von kindlicher, nicht allzu großer Gestalt, ganz in Schwarz, die an der Brücke dort die Droschke verlassen hatte, wandelte schon seit geraumer Zeit vor den Fenstern des gelben Hauses; etwas seltsam zitterten ihre Hände. Die rundliche Dame war im vorgerückten Alter und sah aus, als litte sie an Asthma; ihre rundlichen Finger griffen immerzu nach dem Kinn, das erheblich über dem Kragen hervorhing und einzelne graue Härchen zeigte. Vor den Fenstern des gelben Hauses stehend, nahm sie plötzlich mit der zitternden Hand und einem ihrem Alter unentsprechend raschen Griff ein Spitzentaschentuch aus dem kleinen Handtäschchen heraus, wandte sich gegen die Newa und begann zu weinen. Die untergehende Sonne beschien dabei ihr Gesicht, und auf ihrer Oberlippe zeichnete sich deutlich das Schnurrbärtchen; sie legte ihre Hand auf einen Stein und sah mit kindlichem, nichts sehendem Blick in die nebelhafte, vielschlotige Ferne und die Tiefe des Wassers.

Endlich näherte sich die Dame erregt dem gelben Haus und läutete.

Die Tür ging auf; ein betreßter Greis streckte durch die Öffnung seinen kahlen Schädel vor und zwinkerte mit den träumenden Äuglein in den gelben Glanz des Newasonnenuntergangs.

»Sie wünschen?«

Die ältliche Dame kam in Aufregung: Rührung vielleicht, vielleicht verborgene Schüchternheit erhellten ihre Züge . . .

»Semjonytsch . . . erkennen Sie mich nicht?«

Da erbebte der kahle Lakaienschädel, und sein Blick fiel auf das kleine Handtäschchen.

»Mütterchen, gnädige Frau! . . . Anna Petrowna!«

»Ja, Semjonytsch, ich bin’s . . .«

»Aber wieso denn? Woher?«

Rührung, wenn nicht gar verborgene Schüchternheit klang aus der angenehmen Stimme.

»Aus Spanien, . . Ich wollte nun sehen, wie es euch ohne mich geht.«

»Gnädige Frau, Mütterchen . . . Kommen Sie doch nur herein . . .«

Anna Petrowna schritt über die Treppe, die derselbe Teppich bedeckte wie damals.

Aber niemand ist zu Hause, weder der junge Herr noch Apollon Apollonowitsch.

Über der Balustrade erhob sich wie damals die Säule aus weißem Alabaster, und auf ihr hob wie damals die Niobe ihre Alabasteraugen gen Himmel; dieses Damals überfiel Anna Petrowna (seither sind bereits drei Jahre verstrichen, und vieles wurde inzwischen erlebt), vor ihr tauchten die schwarzen Augen des italienischen Kavaliers auf, und wieder spürte sie ihre sorgsam verborgene Schüchternheit.

»Befehlen gnädige Frau Kaffee oder Schokolade? Oder vielleicht den Samowar?«

Anna Petrowna schüttelte mit Mühe die Vergangenheit von sich (hier war alles wie früher).

»Also, wie ist es euch all die Jahre gegangen?«

»Es ging eben . . . Aber ich muß der gnädigen Frau sagen: ohne Sie gibt’s keine Ordnung . . . Sonst aber blieb alles beim alten . . . . Der gnädige Herr hat . . .«

»Ja, das weiß ich . . .«

»Jawohl, immer neue Auszeichnungen . . . Die Gnade des Kaisers . . . Was ist da zu sagen: der gnädige Herr bedeuten schon was!«

»Und ist — der Herr — gealtert?«

»Der gnädige Herr kommt — wie es heißt — auf einen verantwortlichen Posten: er ist so gut wie Minister . . .«

Anna Petrowna schien es plötzlich, daß der Lakai sie ein klein, klein wenig vorwurfsvoll anblickte; das schien ihr wohl; der Lakai blinzelte nur von dem blendenden Glanz der untergehenden Sonne, während er ihr die Tür zum Salon öffnete.

»Und Kolenka?«

»Kolenka? Nikolai Apollonowitsch? O, der ist so gescheit. Macht Fortschritte in den Wissenschaften; und auch sonst, wie und wo es sich gehört . . . Ein bildhübscher, junger Herr!«

»Aber was sagen Sie da? Er war doch immer in den Vater . . .«

Sie sagte es, ließ die Augen sinken und machte sich an dem Handtäschchen zu schaffen.

An den Wänden dieselben hochbeinigen Stühle; zwischen den Stühlen mit den cremefarbigen Plüschsitzen überall kleine weiße Säulen; und von jeder dieser Säulen sah sie ein strenger Mann aus kaltem Alabaster vorwurfsvoll an. Und direkt feindlich funkelte sie das grünliche, alte Spiegelglas an, unter dem sie mit dem Senator das entscheidende Gespräch hatte; dort weiter — die blaßtönigen Bilder — die pompejanischen Fresken; diese Fresken brachte ihr der Senator, als sie seine Braut gewesen war — vor nun dreißig Jahren.

Anna Petrowna wurde wieder von der alten Gastlichkeit des Salons erfaßt; von dem Lack und äußeren Glanz; wie in alter Zeit bedrückte etwas ihre Brust; die alte Feindseligkeit wälzte sich nach oben, bis zur Kehle; Apollon Apollonowitsch wird ihr vielleicht verzeihen; sie ihm aber — nie; im lackierten Heim entluden sich die Lebensgewitter lautlos, aber ihre Entladungen waren tötend.

So wurde sie von aufgetauchten, dunklen Gedanken zu feindlichen Ufern gejagt; zerstreut lehnte sie sich gegen das Fenster und blickte auf die rosigen Wölkchen, die über die Newawellen dahinglitten.

»Bleiben gnädige Frau bei uns?«

»Ich? . . . Ich wohne im Hotel.«


Im zerfließenden Grau tauchten plötzlich matte, wie verwundert blickende Punkte auf: Lichter, Lichtchen; Lichter, Lichtchen reihten sich aneinander und sprangen dann als rötliche Flecken aus der Dunkelheit, indessen von oben Wasserfälle herunterstürzten: blaue, dunkellila, schwarze.

Petersburg verkroch sich in die Nacht.

Ihre Schuhchen trippelten

Die Klingel ging immer wieder.

Aus dem Vorzimmer traten in den Saal engelhafte Wesen in hellblauen, weißen, rosafarbigen Kleidern; sie schimmerten silbern, funkelten; fächelten einander mit den Augen, mit den Fächern, mit dem leichten Seidenstoff an; strömten eine wohltuende Atmosphäre aus von Veilchen, Maiglöckchen, Lilien, Tuberosen; die weißmarmornen Schultern, noch überhaucht von leichtem Puderstaub, sollten während einer Stunde rot werden, von feuchtem Dunst überzogen; jetzt vor dem Tanzen schienen die Gesichtchen, die Schultern, die mageren, nackten Arme noch blässer und magerer als sonst; um so stärker war der Reiz dieser Geschöpfe, der nur in dem leisen Aufblitzen der Augen unmerklich hervortrat, während sie, wie richtige Engelskindlein, sich in farbigen, duftigen Mullwolken scharten; von dem Öffnen und Zumachen der weißen Fächer entstand ein leichter Wind. Ihre Schuhchen trippelten.

Es war eigentlich gar kein Ball, den die Zukatows gaben; es war mehr ein Kindertanzabend, an dem auch die Erwachsenen sich zu beteiligen wünschten; die Kunde ging allerdings, daß auch Masken erscheinen würden.

Darüber wunderte sich Lubow Aleksejewna eigentlich ein wenig, denn es war ja noch nicht die Zeit der Bälle; aber so waren schon einmal die Traditionen des geliebten Gatten: wo es sich um Tanzen und Kinderlachen handelte, galt ihm der Kalender nichts; der Gatte, der Eigentümer eines silberweißen Backenbartes, wurde noch immer Koko genannt. In seinem tanzenden Heim hieß er natürlich Nikolai Petrowitsch, das Oberhaupt der Familie und Vater zweier lieblicher Töchter von achtzehn und fünfzehn Jahren.

Diese zwei lieblichen blonden Geschöpfe trugen heute duftige Kleidchen und silberne Schuhchen. Seit neun Uhr schon fuchtelten sie mit ihren Fächern gegen den Vater, gegen die Wirtschafterin, gegen das Stubenmädchen, sogar . . . gegen den würdigen, alten Herrn von Nashornumfang, der als Besuch im Hause weilte (ein Verwandter von Koko). Endlich erscholl das langersehnte Klingelzeichen, die Tür des weißleuchtenden Saals tat sich auf, und im festanliegenden Frack trat der Tapeur ein und stieß beinahe mit dem Offizianten zusammen, den man für diesen glanzvollen Abend extra engagiert hatte. Der bescheidene Tapeur legte seine Noten zurecht, schlug den Klavierdeckel bald auf, bald wieder zu, blies vorsichtig den unsichtbaren Staub von den Tasten und drückte schließlich ohne plausiblen Grund den glänzenden Lackschuh aufs Pedal; er erinnerte an den Maschinisten der Lokomotive, der seine Maschine vor dem Verlassen der Station sorgfältig untersucht. Nachdem er von dem guten Zustande des Instruments überzeugt war, schob er die Schöße des Fracks auseinander, ließ sich auf das niedere Taburett nieder, warf den Körper zurück und blieb, die Finger auf den Tasten, einen Augenblick unbeweglich sitzen — dann aber erschütterten helltönende Akkorde die Wände, als wäre ein Signal zur Abfahrt gegeben worden.

Zu Ende getanzt

Wie gewöhnlich schlichen sich auch heute von Zeit zu Zeit Salongäste durch den Saal zum Salon — mit wohlwollender Miene schritten sie längs den Wänden; freche Fächer nippten sie gegen die Brust, perlenverzierte Röcke trafen sie im Flug, und der heiße Wind wehte ihnen zu von dahinsausenden Paaren; sie aber schritten lautlos weiter.

Ein rundlicher Herr mit unangenehm blatternarbigem Gesicht durchquerte zuerst den Saal; sein Rock spannte sich über dem übermäßig runden Bäuchlein; er war Redakteur einer konservativen Zeitung und entstammte selbst der liberalen Geistlichkeit. Im Salon angekommen, küßte er das dicke Händchen Lubow Aleksejewnas, der fünfundvierzigjährigen Wirtin, mit aufgedunsenem Gesicht, dessen Doppelkinn auf den vom Korsett gestützten Busen fiel.

Kaum hatte die Wirtin eine harmlose Frage an ihn gerichtet, als der dickliche Redakteur dieselbe zu einer Frage von höchster Bedeutung erhob:

»Sagen Sie es nicht — nein! Denn so denken sie alle, weil sie die reinen Idioten sind. Ich kann es Ihnen ganz genau beweisen.«

»Aber mein Mann, Koko . . .«

»Das sind alles jüdisch-freimaurerische Schwindeleien, meine Gnädige: Organisation, Zentralisation . . .«

»Ach, wie interessant: erzählen Sie bitte . . .«

Und er sagte, sich tief in den Lehnstuhl versenkend:

»Ja, meine Herrschaften, so ist es.«

Durch die offenen Türen der dazwischenliegenden zwei Räume sahen sie aus der Ferne den Saal, erfüllt von Glanz und Flimmern. Man hörte das donnernde:

»Rrrekulé . . .«

»Balances vos dames! . . . «

Und wieder:

»Rrrekulé! . . .«

Der Ball

Was ist der Salon während eines lustigen Walzers? Er ist nur eine Zugabe zum Tanzsaal und die Zufluchtsstätte für Mütter. Aber die kluge Lubow Aleksejewna benutzte die Gutmütigkeit ihres Gatten (er besaß keinen einzigen Feind) sowie ihr mitgebrachtes, riesiges Vermögen, schließlich auch den Umstand, daß ihr Haus gegen alles außer Tanzen höchst gleichgültig war und so ein neutrales Zentrum für alle bildete — dies alles benutzte die kluge Lubow Aleksejewna, um, — dem Gatten das Dirigieren im Tanzsaal überlassend — selbst die Begegnungen der verschiedensten Persönlichkeiten zu vermitteln; bei ihr trafen sich die Führer der verschiedensten Parteien; der Publizist mit dem Departementsverwalter; der Demagoge mit dem Antisemiten. In ihrem Hause verkehrte, speiste sogar Apollon Apollonowitsch.

Und während Nikolai Petrowitsch im Tanzsaal das Contredance durch neue Figuren verwickelte — verwickelte und entwickelte sich zur gleichen Zeit in dem gegen alles gleichgültig freundlichen Salon manche Konjunktur.

Auch hier tanzte man, wenn auch in anderer Weise.

Der zweite, der sich in den Salon schlich, war ein Mann von wahrhaft vorsintflutlichem Äußern, mit erschreckend zerstreutem Gesichtsausdruck. Die Schöße seines Rockes, auf dem stellenweise weiße Federchen hingen, waren hinten etwas geöffnet und ließen eine höchst primitive Hosenschnalle sehen; es war ein Professor der Statistik; an seinem Kinn hing in Büscheln ein gelblicher Vollbart, und über die Schultern fielen ihm Haarsträhnen, die aussahen, als kämen sie selten mit einem Kamm in Berührung. Unheimlich wirkte seine blutrote hängende Lippe, die sich gleichsam vom Munde loszulösen schien.

In den prunkvollen Salon eingetreten, wurde der Professor verwirrt: der Glanz und das Flimmern schien ihn geblendet zu haben; mit gutmütigen Blicken betrachtete er den feierlichen Saal, trippelte eine Weile auf ein und derselben Stelle, blieb verlegen stehen, zog sein gefaltetes Taschentuch hervor, um die auf dem Schnurrbart hängende Feuchtigkeit von der Straße abzutrocknen; er zwinkerte den Paaren zu, die einen Augenblick, zwischen zwei Quadrillefiguren, stillstanden.

Endlich gelangte er in den von bläulichem, elektrischem Licht beschienenen Salon, als ihn die Stimme des Redakteurs an der Schwelle zurückhielt.

»Verstehen Sie jetzt, meine Gnädige, den Zusammenhang zwischen dem japanischen Krieg, den Hebräern, der uns drohenden Mongoleninvasion und der Revolution? Das jüdische Auftreten und die Treibereien der großen Fäuste in China stehen in engster und deutlichster Verbindung miteinander.«

»Ich verstehe es jetzt, ich verstehe.«

Es war die Stimme der Lubow Aleksejewna. Der Professor blieb entsetzt stehen; denn er war durch und durch liberal und ein Anhänger sozusagen humaner Reformen; er erschien zum erstenmal in diesem Hause, in der Hoffnung, hier Apollon Apollonowitsch zu treffen; doch dieser schien nicht da zu sein — und anwesend war nur der Redakteur des konservativen Blattes; derselbe Redakteur, der soeben gerade die fünfundzwanzigjährige, reine Tätigkeit des Sammelns statistischer Daten — human ausgedrückt — in unanständigster Weise mit Schmutz beworfen hatte. Der Professor begann plötzlich zu keuchen, zwinkerte gegen den Redakteur und pfiff leise verächtlich in seinen struppigen Bart.

»Begreifen Sie jetzt, meine Gnädige, das jüdisch-freimaurerische Treiben?«

»Jetzt begreife ich es; jetzt habe ich es begriffen.«

Und dort, dort . . .

Mit einer Hand auf die Baßtasten aufschlagend, schloß der Tapeur dort elegant das Tanzstück, während er mit der anderen mit meisterhafter Schnelligkeit das Notenblatt umwandte, und dann, die Hand in der Luft und die Finger ausdrucksvoll zwischen Klaviatur und Noten gespreizt, drehte er seinen Körper erwartungsvoll dem Wirt zu, wobei seine blendend weißen Zähne schimmerten.

Die Geste des Tapeurs beantwortete Nikolai Petrowitsch Zukatow durch eine aufmunternd anerkennende Bewegung des glatt rasierten Kinns zwischen dem stürmisch wallenden Backenbart; dann mit nach vorn gebeugtem Kopf, wie mit der Stirn gegen die Luft stoßend, glitt er eilig über das blinkende Parkett zwischen den Paaren durch, mit zwei Fingern ein Endchen des grauen Bartes drehend; und willenlos schwebte hinter ihm das engelhafte Wesen her, hinter ihr flatternd eine heliotropfarbene Schärpe; inspiriert durch den Flug seiner Tanzphantasie, flog Nikolai Petrowitsch Zukatow blitzartig in die Richtung des Tapeursitzes und brüllte wie ein Löwe durch den Saal:

»Pas — de — quatre, s’il vous plait!«

Und hinter ihm her flog willenlos das engelhafte Geschöpf.

Rauchwolken von Zigaretten stiegen im Rauchzimmer auf; Rauchwolken stiegen im Vorzimmer auf. Hier streifte ein kleiner Kadettenschüler seinen Handschuh von der Hand und fächelte sich mit ihm Luft zu; zwei kleine Mädchen, eng umschlungen, flüsterten hier einander Geheimnisse, die vielleicht soeben aufgetaucht waren; die Schwarzhaarige sagte es der Blonden, und die Blonde kicherte und knapperte erregt an ihrem duftigen Batisttüchlein.

Im Vorzimmer stehend, konnte man auch einen Blick in das von Gästen vollgestopfte Speisezimmer werfen; dort wurden Butterbrote, Früchte in großen Schalen, Wein und Brauselimonade herumgereicht.

In dem grell erleuchteten Saal blieb jetzt der Tapeur ganz allein zurück; er legte seine Noten zurecht, trocknete sich sorgfältig die heißen Finger, fuhr mit einem weichen Läppchen über die Tasten, legte die Notenhefte säuberlich übereinander und ging, einem langbeinigen, schwarzen Vogel gleich, ein wenig unentschlossen — während die Diener ungeachtet seiner Anwesenheit im Saal die Fenster zum Lüften öffneten — in die Richtung des lackierten Vorzimmers.

Dort weiter irrte auch der Professor der Statistik einher, der bis dahin (wie auf Kohlen) im Salon gesessen war; er stieß jetzt auf den liberalen Leiter einer Kreisverwaltung, der einsam und gelangweilt im Durchgang stand, erkannte ihn, lächelte ihm freundlich zu, und wie geängstigt, daß dieser ihm davonlaufe, ergriff er mit zwei Fingern einen Knopf dessen Rockes, gleichsam als Rettungsanker; und nun hörte man:

»Nach den Ergebnissen der Statistik . . . Der jährliche Salzverbrauch eines normalen Holländers . . .«

Und wieder hörte man:

»Der jährliche Salzverbrauch eines normalen Spaniers . . .«

»Nach den Ergebnissen der Statistik . . .«

Als klagte jemand

In diesem Augenblick sprang ein zehnjähriges Mädchen aus dem Mittelzimmer heraus; es sah in den soeben noch vollen, jetzt durch Leere schimmernden, verlassenen Saal. Am Eingang des Vorraumes ging leise die Tür auf; der geschliffene, diamantensprühende Türgriff bewegte sich geheimnisvoll, und in den schmalen Raum zwischen Tür und Wand schob sich vorsichtig eine schwarze Maske herein; zwei glänzende Funken leuchteten durch die Augenausschnitte derselben.

Das zehnjährige Kind gewahrte diese Maske mit den zwei bös funkelnden Punkten in den Ausschnitten, dann einen wallenden schwarzen Spitzenbart und schließlich einen atlasrauschenden, faltenreichen Domino; erschreckt führte das Kind die Finger zu den Augen, dann aber lächelte es freudig, klatschte mit den Händchen und lief mit dem Schrei: . . . »Die Masken sind angekommen!« durch die Flucht der Zimmer, in deren bauschigen Tabaksrauchwolken sich die Gestalt des Professors mit seinen Elefantenbeinen nebelhaft zeichnete.

Der Kreisverwaltungsbeamter, der inzwischen festen Fuß gefaßt hatte, sah verwundert den Domino an und faßte sich aus Verlegenheit wieder an den Bart; der Domino aber flehte ihn gleichsam stumm an, ihn nicht aus dem Hause in den Schmutz der Petersburger Straßen, in den bösen, dicken Nebel zu jagen.

»Sagen Sie, bitte, sind Sie eine — Maske?«

Schweigen.

Die Maske flehte; schweigend irrte sie durch den Saal.

Aus der Ferne kam inzwischen eine zwitschernde Schar, um den Domino zu sehen; doch bei seinem Anblick verstummte das lustige Gezwitscher und ging in ein hauchendes Flüstern über; endlich verstummte auch das Flüstern; eine schwere Stille trat ein.

Der arme Domino: als wäre er bei einem Vergehen ertappt — er neigte sich vor, und sein vorgestreckter roter Arm flehte gleichsam alle an, ihn nicht aus dem Hause in den Petersburger Straßenschmutz, in den bösen, feuchten Nebel zu jagen.

»Sag, Domino, bist du es am Ende, der durch die Petersburger Straßen herumläuft?«

»Meine Herrschaften, haben Sie heute die ‚Tagesneuigkeiten‘ in der Zeitung gelesen?«

»Warum?«

»Aber da steht wieder etwas über den roten Domino.«

»Meine Herrschaften, das ist alles Unsinn.«

So rief über die bunten Köpfchen der jungen Mädchen der kleine Kadett hinweg und richtete, sicher zielend, eine Papierschlange gegen den Domino. Einen Augenblick schwebte der papierene Bogen in der Luft; als sein Ende mit leichtem Knistern die Maske erreichte, schrumpfte der Bogen zusammen und fiel schlaff auf den Boden; diesen Scherz ließ der Domino unbeantwortet und streckte nur flehend die Arme vor.

»Gehen wir, meine Herrschaften.«

Und die Schar lief davon.

Eine kleine vertrocknete Gestalt

Er hatte sich selbst vergessen; er vergaß seine Gedanken und vergaß seine Hoffnungen; er weidete sich an der Rolle, die er sich selbst zugedacht hatte: das gottähnliche, leidenschaftslose Wesen war verschwunden; geblieben war nur die nackte Leidenschaft; und diese Leidenschaft wurde zu Gift.

Als hätte er all die letzten Tage seine Zaubermacht an ihr versucht; indem er die Arme aus den Fenstern des gelben Hauses ihr entgegen ausgestreckt, indem er seine kalten Arme gegen die Newanebel über dem Granit ausstreckte. Er suchte das von ihm in Gedanken hervorgerufene Bild liebend zu fassen; um sich zu rächen, wollte er die vor ihm schwebende Silhouette erwürgen; deswegen breiteten sich all diese Tage auch ihre kalten Arme aus, Raum gegen Raum; deswegen klangen ihr all diese Tage über in den Ohren wie aus der Ferne kommende, unirdische Liebesbeschwörungen, pfeifende Schwüre und keuchende Leidenschaftsworte; deswegen hörte sie unverständliches Summen, und deswegen flochten zu ihren Füßen knisternde Blätter Girlanden aus Worten . . .

An sein Ohr drangen ferne Stimmen, und langsam wandte er sich um; undeutlich und unklar — ganz, ganz weit von ihm — schritt eine kleine, trockene Gestalt durch den Saal, haarlos, bartlos, ohne Brauen über den Augen, seltsam. Nikolai Apollonowitsch konnte durch die Maske nur mit Mühe die Einzelheiten der Erscheinung sehen, denn das Blicken durch dieselbe verursachte ihm Schmerz (außerdem war er kurzsichtig); er sah nur die Konturen grünlicher Ohren; kurz, er erblickte vor sich den Vater: mit den Ringen seiner Uhrkette spielend, starrte Apollon Apollonowitsch mit schlecht verborgener Angst, auf die plötzlich aufgetauchte Maske; er dachte, ein boshafter Spaßvogel wollte ihn, den Höfling, durch die symbolische Farbe seines grellroten Kleides terrorisieren . . .

Unerwartet vernahm man das Lachen nahender Gäste; das Zimmer füllte sich mit Masken; eine Schar schwarzer Kapuziner sprang herein; sie bildeten sofort einen Kreis um ihren roten Genossen und begannen einen wilden Reigen zu tanzen; die Atlasschöße ihrer schwarzen Gewänder flogen auf und nieder; dazu hüpften die Spitzen der Kapuzen drollig im Takt, und vorn an der Brust baumelten die gestickten, auf zwei gekreuzten Knochen ruhenden Totenschädel.

Der rote Domino machte sich von der ihn umringenden Schar frei und lief aus dem Saal; lachend folgte ihm die schwarze Kapuzinerschar; so liefen sie durch den weiten Vorraum ins Speisezimmer; die um die Tische Sitzenden dort begrüßten sie, indem sie mit den Tellern klapperten.

Nur einer sagte:

»Meine Herrschaften, es ist zuviel . . .«

Pompadour

Engel Peri stand vor dem etwas schräggehängten, ovalen Spiegel: alles lief in ihm nach unten; die Zimmerdecke, die Wände, der Fußboden, und dort gleich einer Fontäne von duftigen Gegenständen, aus dem Meerschaum, aus Spitzen und Mull trat sie selbst hervor, eine Schönheit mit hochgewelltem Haar und einem Schönheitspflästerchen auf der Wange: Madame Pompadour!

Und ihre Haare, ganz in Locken gedreht, nur leicht von einem Band gehalten, waren wie Schnee; und fein waren die Fingerchen, die jetzt die Puderquaste hielten; die schmale himmelblaue Taille war ein wenig nach links gebeugt, die Hand hielt eine kleine schwarze Maske; aus dem engen, tiefausgeschnittenen Mieder blickte, wie hauchüberzogen, atmend, lebendigen Perlen gleich, der Busen; an den schmalen, seiderauschenden Ärmelchen wogten in Wellen Valencienner Spitzen; Valencienner Spitzen wogten auch sonst überall, an dem Ausschnitt, unter dem Ausschnitt; der Panierrock wiegte sich unter dem Mieder, wie vom Windhauch getragen wiegte er sich, spielend mit Volants und flimmernd mit der Silbergirlande der Festons; silberne Schuhchen an den Füßen und jedes verziert mit einer Silberquaste. Aber seltsam: Sofja Petrowna sah in ihrer Robe gealtert und weniger hübsch aus; statt des kleinen rosigen Mündchens hoben sich die unschön abstehenden, allzu roten, allzu schweren Lippen vom kleinen Gesichtchen ab; und als die Augen zu schielen begannen, zeigte Madame Pompadour etwas Hexenhaftes: in diesem Augenblick steckte sie den Brief hinter das Mieder.

Im selben Augenblick auch sprang Mawruscha herein und brachte einen Stab aus hellem Holz mit goldenem Griff und flatternden Bändern; während aber Madame Pompadour den Stab nahm, blieb in ihrer Hand ein Zettelchen zurück, von ihrem Gatten; darauf stand: »Wenn Sie abends fortgehen, kehren Sie nicht mehr in mein Haus zurück. Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin.«

Dieser Zettel war natürlich an Sofja Petrowna Lichutina, nicht an Madame Pompadour, gerichtet; Madame Pompadour lächelte verächtlich; sie sah in den Spiegel, in die Tiefe, in das matte Grün: dort weit, weit zogen leichte, rauschende Wellen dahin; und aus dieser grünlichen, blassen Tiefe mit dem grellen Fleck des roten Lampenschirms tauchte — plötzlich, ein Wachsgesicht auf, und Sofja Petrowna drehte sich um.

Vor ihr stand ihr Gatte, der Offizier; aber wieder lächelte sie verächtlich, hob leicht ihren spitzenverzierten Panierrock an den Festons und schritt knicksend zurück; ein leichter Zephir hob sie vor ihm auf seinen Schwingen davon, und ihr Reifrock wiegte sich gleichmäßig wie eine Glocke und rauschte in süßem Zephirhauch; in der Tür wandte sie ihm das Gesicht zu und machte dem Offizier mit der Hand, die die schwarze Maske hielt, schelmisch lächelnd, eine lange Nase; hinter der Tür hörte man dann lautes Lachen und den lauten wie sonst ausgesprochenen Befehl:

»Marwruscha, den Mantel!«

Da lief Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin, Leutnant des Gr. Göreischen, Seiner Majestät Regiment, blaß wie der Tod, doch ganz ruhig, mit ironischem Lächeln der graziösen Maske vor, schlug die Sporen aneinander und blieb ehrfurchtsvoll wartend, mit dem befohlenen Mantel in der Hand vor seiner Gattin stehen; mit noch größerer Ehrfurcht warf er ihr den Pelz um, riß weit die Flügeltür vor ihr auf, mit verbindlichem Lächeln mit der Hand nach außen zeigend, in die farblose Dunkelheit; und wie sie rauschend, mit hochgehobener Stirn, an dem ergebenen Diener vorbeischritt — schlug Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin nochmals die Sporen aneinander und machte wieder eine tiefe Verbeugung. Die dunkelfarbene Finsternis ergoß sich über sie — von allen Seiten ergoß sie sich: Lange, lange noch hörte man das Rauschen auf der Treppe, denn fiel unten die Tür zu; Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin aber kehrte in die Wohnung zurück und begann mit denselben übertriebenen scharfen Bewegungen überall die elektrischen Lichter zu löschen.

Das Verhängnisvolle

Komm mit mir!« bedrängte eine Madame Pompadour Nikolai Apollonowitsch, und da er Madame Pompadour nicht erkannte, gab er nur unwillig den Arm; unmerklich spöttisch sah sie ihren roten Kavalier an, und mit zurückgeworfenem Kopfe legte sie eine Hand in seinen Arm, indessen die andere den Rocksaum aus hellblau flatterndem Duft hielt und ein reizvolles, silbernes Schuhchen hervorlugen ließ.

Und nun begann man zu tanzen:

Eins — zwei — drei — und die Taille bog sich, das Füßchen lugte hervor . . .

»Erkennst du mich?«

»Nein.«

»Du scheinst jemand zu suchen?«

Eins — zwei — drei — und wieder ein Wiegen der Taille wie ein Vorschieben des Füßchens.

»Ich habe einen Brief für dich.«

Dem ersten Paar — Domino und Marquise — folgten Harlekine, Spanierinnen, perlmutterblasse Fräuleins, Juristen, Husaren und willenlose Mullgeschöpfe: Nackte Schultern, silberige Rücken und Schärpen.

Allmählich legte sich die eine Hand des roten Dominos um ihre hellblaue Taille, und während er mit der zweiten die der Dame ergriff, ließ diese den Brief in seine Hand übergleiten; und im gleichen Augenblick legten sich dunkelgrüne, schwarze und husarenrote Arme aller anderen Kavaliere um die schlanken, weißen, heliotropfarbenen, seidenknisternden Gewänder, und alles begann sich im Tanze zu drehen.

Der weißbärtige Wirt aber brüllte:

»A vos places!«

Und hinter ihm her flog ein willenloser Backfisch.


Apollon Apollonowitsch

Apollon Apollonowitsch erholte sich von seinem Herzanfall; er schämte sich seiner Angst — und trat in den Salon; alle erhoben sich bei seinem Erscheinen von den Plätzen, und Lubow Aleksejewna ging ihm entgegen; der Statistikprofessor bewegte sich ruhelos auf seinem Platze und stammelte:

»Ich hatte schon einmal die Ehre gehabt; ich wollte Sie, Apollon Apollonowitsch, in einer Angelegenheit . . .«

Der Wirtin die Hand küssend, antwortete Apollon Apollonowitsch etwas trocken:

»Ich bin im Departementsbureau zu sprechen.«

Zerstreut warf inzwischen die Wirtin ihrem Partner zu:

»Und was meinen Sie, bitte . . .«

Da trat ein Neuer ein: ein schweigsames, bewegliches Herrchen mit riesiger Warze unter der Nase; er winkte wie aufmunternd dem Senator zu, lächelte und rieb sich die Finger; mit zweideutig sanfter Miene führte er den Senator beiseite:

»Ja, sehen Sie, Apollon Apollonowitsch . . . Der Direktor des N.-Departements trug mir auf . . . na, wie soll ich es sagen . . . an Sie eine etwas heikle Frage zu richten . . .«

Weiter konnte man nichts hören; man sah nur, wie das kleine Herrchen etwas in das blaßgrünliche Ohr flüsterte und plötzlich Apollon Apollonowitsch ängstlich dazwischenwarf:

»Sprechen Sie also geradeheraus . . . mein Sohn?«

Wieder ein Flüstern; der Senator fragte:

»Der Domino, sagen Sie?«

»Der Domino — ebendieser dort.«

Mit diesen Worten zeigte das lebhafte Herrchen in den Nebenraum, wo der ruhelose Domino in Rot über das spiegelnde Parkett tanzend dahinglitt.

Der Skandal

Nachdem sie den Brief übergeben hatte, schlich sich Sofja Petrowna von ihrem Kavalier fort, kraftlos ließ sie sich auf ein weiches Taburett nieder; ihre Arme und Beine versagten den Dienst.

Was hatte sie gemacht?

Sie sah, wie der rote Domino aus dem Tanzsaal in das Nebenzimmer lief, wie er dort in einer Ecke das Briefchen entfaltete; um die kleine Schrift besser zu lesen, schob er seine Maske auf die Stirn; die Spitzen des Bartes legten sich wie schwarze, flatternde Flügel auf beide Seiten des Kopfes; aus den flatternden Flügeln aber blickte ein wächsernes, unbewegliches Gesicht mit vorstehenden Lippen; die Hand bebte, und auch der Brief, den die Finger hielten, zitterte; kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn.

Der rote Domino sah nicht Madame Pompadour, die ihn aus der Ecke beobachtete; er ging vollends im Lesen des Briefes auf; da trat plötzlich jemand herein; der Domino verbarg mit nervöser Bewegung das Billett in den Atlasfalten; die Maske aber vergaß er herunterzuziehen. Und so stand er da, mit auf die Stirn geschobener Larve, halboffenem Munde und nichtssehendem Blick.

Vom Tanzen erhitzt, lief ein kleines Mädchen, Kühlung suchend, herein; sie stieß beinahe in der Tür den liberalen Leiter der Kreisverwaltung um, eilte dann zum Spiegel, richtete das Bändchen im Haar, schnürte das weiße, seidene Schuhchen fester und begann mit ihrer Freundin Heimliches zu flüstern.

Umsehend gewahrte sie den roten Domino mit offenem Gesicht und rief:

»Sie sind es also? Guten Abend, Nikolai Apollonowitsch. Wer hätte es nur gedacht!«

Sofja Petrowna sah, wie schmerzhaft Nikolai Apollonowitsch dem Mädchen zulächelte; dann verließ er mit scharfem Ruck seinen Platz und ging eilig in den Saal.

An herumstehenden Masken; und tanzenden Paaren vorbei rannte Nikolai Apollonowitsch mit zitternden Beinen immer weiter, und hinter ihm her rauschte der karminrote Atlas, bei dessen Anblick man unwillkürlich an Blut denken mußte.

Diese Flucht des roten Dominos mit nach oben geschobener Maske, unter der das Gesicht Nikolai Apollonowitschs zu sehen war, gestaltete sich zu einem wahren Skandal; die Tanzenden verließen ihre Plätze, die Damen sahen ihm mit weit aufgerissenen Augen nach. Der Leibhusar Sporyschow ergriff den laufenden Ableuchow an der Hand und fragte flehend: »Um Gottes willen, Nikolai Apollonowitsch, was ist geschehen?« — Doch wie ein gehetztes Tier sah ihn dieser mit wahnsinnigem Gesichtsausdruck an, versuchte zu lächeln, ohne daß daraus ein Lächeln wurde, und stürzte, sich losreißend, weiter.

Dieser Zwischenfall im Tanzsaal lenkte auch die Aufmerksamkeit des Salons auf sich; die schwerfälligen Salonbesucher drängten sich, beschienen vom bläulichen Lichte, in die Tür, neugierige Blicke in den Tanzsaal richtend. Aus dieser Gruppe hob sich des Senators kleine, vertrocknete Gestalt mit wie aus papiermachébleichem Gesicht, mit festeingezogenen Lippen und grünlichen, abstehenden Ohren: genau so war er kürzlich auf dem Titelblatt eines humoristischen Straßenblättchens dargestellt gewesen.

Wie aber wenn . . .?

Sofja Petrowna Lichutina blieb mitten im Saale stehen.

Erst jetzt wurde ihr ihre furchtbare Rache klar; erst jetzt verstand sie deutlich den Inhalt des Briefchens: begriff, daß der Brief Nikolai Apollonowitsch aufforderte, die mit einem Uhrmechanismus versehene Bombe, die sich angeblich in seinem Schreibtisch befand, gegen — dies war kaum mißzuverstehen — gegen den Senator zu werfen (denn Apollon Apollonowitsch wurde allgemein der Senator genannt).

Sofja Petrowna stand verloren mit leicht zur Seite geneigter Taille unter den Masken und bemühte sich, das Ganze zu begreifen; gewiß, es war ein boshafter und gemeiner Scherz von jemand, und von ihrer Seite die Lust, ihn durch diesen Scherz zu erschrecken: er war ja doch . . . der schuftige Feigling. Wie aber, wenn . . . Nikolai Apollonowitsch wirklich in seinem Tische einen so furchtbaren Gegenstand liegen hat? Und wenn man das erfährt? Und ihn jetzt gleich festnehmen wird? . . . Verloren stand Sofja Petrowna unter den Masken, mit himmelblauer Taille und silbergrauen, üppigen Locken.

Überall hörte man ein Flüstern, ein Murmeln.

»Nein, haben Sie es gesehen? Verstehen Sie es? Was?«

»Ich habe es immer gesagt, ma chère: sein Sohn wird ein Schuft. Und auch Tante Lise und Mimi und Niklas — sie alle sagten es ebenfalls.«

»Arme Anna Petrowna: ich verstehe sie! . . .«

»Ach, wir verstehen sie alle.«

»Da kommt er selbst, da kommt er . . .«

»Er hat schreckliche Ohren . . .«

»Es heißt, er wird Minister . . .«

»Er wird das Land zugrunde richten . . .«

»Man muß es ihm sagen . . .«


Wie aber, wenn . . . wenn Nikolai Apollonowitsch in seinem Schreibtisch eine Bombe liegen hat? Das kann ja bekannt werden; er kann ja auch selbst einmal gegen den Tisch stoßen . . . Abends sitzt er vielleicht an diesem Tische vor einem Buche. Eine Bombe — das ist etwas Rundes, was nicht berührt werden darf. Sofja Petrowna fuhr zusammen. Einen Augenblick lang sah sie deutlich Nikolai Apollonowitsch vor sich, wie er bei ihr, sich die Hände reibend, vor dem Teetisch sitzt; auf dem Tisch steht das Grammophon und schleudert gegen sie leidenschaftliche, italienische Liebeslieder; ach, warum mußten sie sich zanken! Wozu die alberne Geschichte mit dem Brief, dem Domino und alles andere? . . .

Wie aber, wenn . . . der Brief kein Scherz war, wenn er . . . wirklich verurteilt ist . . . Nein, nein, nein! Solche Schrecknisse gibt es nicht in der Welt; nicht einmal unter Tieren fänden sich solche, die einen wahnsinnigen Sohn zwingen würden, gegen den Vater die Hand zu erheben. Das waren Albernheiten der Freunde. Wie dumm war sie doch — vor einem einfachen Spaß zu erschrecken! Aber: auch ihn erschreckte der Scherz der Freunde; er war doch ganz einfach ein Feigling: auch damals, am Kanal, lief er nicht vor dem Signal des Polizisten davon?

Er benahm sich damals nicht wie ein Held: er rutschte aus, fiel hin, und so prosaisch lugte unter dem Atlas die gewöhnliche, graue Hose hervor . . . Und auch jetzt: er lachte nicht über den naiven Scherz der revolutionären Freunde, er erkannte die Überbringerin nicht; er rannte durch den Saal ohne Maske, machte sich zum Lachobjekt aller Herren und Damen. Nein, Ssergeij Ssergeijewitsch mußte diesem Feigling eine Lektion erteilen! Ssergeij Ssergeijewitsch muß den Feigling herausfordern . . .

Der Leutnant! . . . Ssergeij Ssergeijewitsch! Der Leutnant Ssergeij Ssergeijewitsch führte sich seit dem gestrigen Abend in unanständigster Weise auf; er brummte sich etwas in den Bart und ballte die Faust; er wagte es, in bloßer Unterhose zu ihr ins Schlafzimmer zu treten, und wagte es dann, hinter ihrer Wand bis zum frühen Morgen auf und ab zu schreiten.

Undeutlich fiel ihr das gestrige wahnsinnige Schreien, fielen ihr die blutangelaufenen Augen ein, die auf den Tisch donnernde Faust: ist Ssergeij Ssergeijewitsch am Ende vom Wahnsinn befallen worden? Er schien ihr schon seit langem verdächtig: verdächtig schien ihr seine Schweigsamkeit in den letzten drei Monaten; verdächtig schien ihr dieser dienstliche Eifer. Ach, sie war so einsam und arm: und jetzt brauchte sie so sehr eine feste Stütze; wie wünschte sie, ihr Mann, Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin, hätte sie wie ein Kind in seine Arme genommen und von hier weggetragen . . .

Sofja Petrowna fuhr zusammen, da sie sich der Geste erinnerte, mit der er ihr gestern den Abendmantel gereicht und die Tür devot geöffnet hatte. Wie mochte er hinter ihrem Rücken dann gestanden haben! Wie verächtlich aber hatte sie ihm ins Gesicht gelacht, und wie sie dann mit leicht gerafftem Panierrock knicksend an ihm vorbeigegangen war (ach, warum hatte sie nicht auch bei der Übergabe des Briefes vor Nikolai Apollonowitsch einen Knicks gemacht: das Knicksen stand ihr doch sehr gut!), wie sie sich dann in der Tür umgedreht und dem Offizier eine lange Nase gemacht hatte! Und jetzt: sie ängstigte sich doch ein bißchen, nach Hause zurückzukehren . . .

Geärgert stampfte sie mit dem Füßchen.

»Na, warte, du sollst es schon sehen!«

Und doch war es ihr ängstlich zumute, nach Hause zurückzukehren.

Aber noch ängstlicher, hier noch länger zu verweilen; denn schon waren die meisten der Gäste fort, der gutmütige Wirt trat, ein wenig niedergedrückt, bald zu dem einen, bald zu dem anderen der übriggebliebenen Gäste und erzählte irgendeine Anekdote; dann sah er sich verwaist in dem immer leerer werdenden Saale um, sah die kleine Schar der noch anwesenden Harlekine und Narren, und sein Blick bat unverhohlen, den Rest der Fröhlichkeit doch nun aufzugeben.

Der weiße Domino

Es war höchste Zeit, das Haus zu verlassen. Einsam und aufgeregt schlich sich Sofja Petrowna durch die fast leeren Säle. Plötzlich erblickte sie in der Ferne einen weißen Domino, der jetzt gerade aufgetaucht zu sein schien, und:

jemand, traurig und schlank, jemand, den sie unzählige Male gesehen zu haben glaubte, auch vor kurzem, auch heute — jemand, traurig und schlank, ganz in weißen Atlas gehüllt, schritt ihr durch die leeren Säle entgegen; durch die Ausschnitte der Maske ergoß sich auf sie das helle Licht seiner Augen; es schien ihr, als strahlte trauriges Licht von seiner Gestalt, von seinen knöchernen Fingern . . .

Und vertrauensvoll rief Sofja Petrowna dem lieben Domino zu:

»Ssergeij Ssergeijewitsch! . . . Ssergeij Ssergeijewitsch!«

Kein Zweifel, es war Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin; er hatte den gestrigen Auftritt bereut; er kam — um sie abzuholen.

Sofja Petrowna rief noch einmal dem lieben Domino zu — dem Schlanken, Traurigen:

»Sie sind es doch? Sie?«

Doch der Schlanke, Traurige schüttelte langsam den Kopf und legte die Finger an den Mund, wie zum Schweigen auffordernd.

Vertrauensvoll streckte sie dem Kostümierten ihre Hand entgegen: wie schimmerte doch der weiße Atlas, wie war er kühl! Ihr himmelblauer Arm legte sich, willenlos, auf den weißen des Dominos.

Nie hatte sie Ssergeij Ssergeijewitsch so glänzend gesehen, während sie flüsternd bat:

»Sie haben mir verziehen?«

Durch die Maske kam ein Seufzer als Antwort.

»Wir werden uns jetzt versöhnen?«

Aber der Schlanke, Traurige schüttelte langsam den Kopf.

»Warum schweigen Sie?«

Aber der Schlanke, Traurige, legte wieder den Finger an den Mund.

»Sind Sie es, Ssergeij Ssergeijewitsch?«

Aber der Schlanke, Traurige befahl ihr zu schweigen.

Sie traten bereits ins Vorzimmer hinaus; das Unaussprechliche umgab sie, Unaussprechliches stand zwischen ihnen; Sofja Petrowna nahm ihre Maske ab und versank im liebkosenden Pelz; der Schlanke, Traurige zog seinen Wintermantel an, nahm aber die Maske nicht ab. Verwundert sah sie auf ihn: ihm wurde kein Offiziersmantel gereicht, sondern ein schäbiges Mäntelchen, aus dessen Ärmeln die schmalen Hände seltsam hervortraten, sie an Lilien erinnernd. Unter den verwunderten Blicken der Diener schmiegte sie sich nahe an ihn; das Unaussprechliche umgab sie, das Unaussprechliche stand zwischen ihnen.

Aber auf der Schwelle schüttelte der Schlanke, Traurige mit dem Kopfe und befahl ihr zu schweigen.

Der Himmel war schon gestern gegen Abend ganz schmutzig gewesen; über Nacht ließ sich der Schmutz auf die Erde nieder; und der Nebel und alles verwandelte sich dann in schwärzliche Dunkelheit, aus der schreiend grell die braunroten Flecken der Laternen hervorstachen. Sofja Petrowna sah vor sich die unklaren Abrisse der langen Gestalt, und flehend bat sie ihn:

»Ich möchte eine Droschke.«

Die lange Gestalt ihres unbekannten Begleiters, eine abgetragene Mütze über den Kopf gestülpt, schwenkte den Arm gegen den Nebel, eine Droschke kam langsam näher.

Sofja Petrowna verstand nun alles; die traurige Erscheinung hatte eine wundervolle, kosende Stimme — eine Stimme, die sie unzählige Male gehört; erst vor kurzem, erst heute; ja, heute: im Traum; und sie hatte sie vergessen, wie sie vergessen hatte — den Traum selbst . . .

Er hatte eine wundervolle, kosende Stimme, aber . . . kein Zweifel; es war nicht die Stimme Ssergeij Ssergeijewitschs. Sie aber hatte gehofft, sie aber hatte gewünscht, dieser herrliche, freundliche, ihr fremde Mensch, wäre ihr Gatte gewesen. Aber ihr Gatte war nicht gekommen, hatte sie nicht aus der Hölle geholt; ein Fremder hatte es getan.

Wer mochte er sein? Wer?

Die unbekannte Gestalt erhob mehrmals die Stimme: die Stimme wuchs, wuchs und wuchs, und es schien, als wachse jemand riesengroß unter der Maske.

»Wer sind Sie doch?«

»Ihr alle verleugnet mich; ich aber folge euch allen. Ihr verleugnet mich, um dann nach mir zu rufen . . .«

Die lichte Erscheinung half ihr in die Droschke; als sie ihm aber flehend die zitternden Hände entgegenstreckte, legte er wieder den Finger auf die Lippen und befahl ihr zu schweigen.

Der Wagen bewegte sich bereits: o, wäre er doch stehengeblieben! Oder wäre er doch, o, zurückgekehrt — zu jener Stelle, wo soeben noch der Schlanke, Traurige stand, wo jetzt aber niemand war und nur eine Laterne mit ihrem grellen, trüben Auge in die Nacht blinkte.

Sie vergaß das, was war

Sofja Petrowna Lichutina vergaß das, was war. Ihre Zukunft verlor sich in der schweren, dunklen Nacht. Das Nicht-mehr-gut-zu-Machende nahte sich ihr, das Nicht-mehr-gut-zu-Machende erfaßte sie.

Mitsamt einem Stück ihrer nahen Vergangenheit löste sich der gestrige Tag von ihrem Bewußtsein; Unannehmlichkeiten mit dem Gatten; Unannehmlichkeiten mit Madame Farnoix: als sie tiefer gehen wollte und das Bewußtsein befragte — da löste sich der gestrige Tag los, wie sich ein Stück Erde manchmal loslöst; er löste sich los und versank in einer dunklen Tiefe. Man hörte einen Laut, als würden Steine zerschlagen.

Vor ihr erstand ihre Liebe von diesem unglücklichen Sommer; und auch die Liebe dieses unglücklichen Sommers löste sich wie alles andere und versank in einem dunklen Abgrund; und wieder hörte man einen Laut, als würden Steine zerschlagen. Es erstanden vor ihr, um gleich wieder zu versinken, ihre Gespräche mit Nikolai Ableuchow; es erstanden — um wieder zu versinken — die Jahre ihrer Ehe, ihre Brauttage, ihre Hochzeit: eine Leere verschlang diese Stücke ihrer Erinnerungen, und es tönten Laute, als zerschlüge jemand Steine. Ihr ganzes Leben flog an ihr vorbei, und dieses ganze Leben versank in einer Tiefe; als wäre es nie gewesen; als wäre sie selbst — ein noch nicht geborenes Seelenwesen. Hinter ihrem Rücken bereits begann diese Leere (denn alles war dort versunken und sank in einen dunklen Grund) und setzte sich in die Ewigkeit fort; und von den Ewigkeiten her tönte ein Schlag nach dem anderen: dort löste sich ein Stück nach dem anderen von ihrem Leben und fiel, laut aufschlagend, in einen dunklen Abgrund . . .

Plötzlich kam Sofja Petrowna zu sich: die Droschke überholend raste ein Feuerwehrwagen vorbei; ein Helm und eine brennende Fackel blitzten vor ihr für kurze Augenblicke auf; gleich darauf raste, klappernd und rasselnd, ein ganzer Feuerwehrzug vorbei.

»Brennt es irgendwo?« wandte sich Sofja Petrowna an den Kutscher.

»Ja, Herrin, wie es scheint, auf den Inseln.«

Das Gefährt hielt nun vor ihrem Hause.

Sofja Petrowna erinnerte sich da an alles: alles stand erschreckend prosaisch vor ihr. Die Masken erschienen ihr als einfache Spaßmacher; sicher waren es Bekannte, die auch ihr Haus öfters aufsuchten; der Traurige, Schlanke war wohl einer von ihren revolutionären Freunden (wie lieb es von ihm war, sie zur Droschke zu bringen). Geärgert biß sie sich auf die Lippen: wie konnte sie so ungeschickt ihn mit ihrem Gatten verwechseln? Und ihm sinnlose Bekenntnisse ins Ohr flüstern über irgendeine Schuld? Jetzt wird dieser unbekannte Bekannte allen Leuten den Unsinn überbringen, wird die Meinung verbreiten, sie fürchte sich vor ihrem Manne. Und dieser Klatsch läuft dann durch die ganze Stadt . . . Nein, Ssergeij Ssergeijewitsch, Sie werden mir gleich für diese unnötige Schmach bezahlen! . . .

Zornerfüllt stieß sie mit dem Füßchen gegen die Eingangstür; die Tür klappte mit lautem Krachen hinter ihrem Rücken zu. Finsternis umfing sie, das Unaussprechliche erfaßte sie wieder für einen Augenblick (so mußte es wohl im ersten Augenblick nach dem Tode sein). Aber Sofja Petrowna dachte nicht an den Tod, im Gegenteil, sie dachte an so einfache Dinge. Sie dachte daran, wie sie Mawruscha gleich befehlen würde, den Samowar aufzutragen, wie sie inzwischen ihrem Manne eine ordentliche Predigt halten würde (auf so was verstand sie sich: vier Stunden konnte sie es, ohne Aufatmen, fortsetzen), und wenn Mawruscha den Tee fertig serviert hatte — dann würde sie sich mit ihrem Manne versöhnen.

Sofja Petrowna klingelte. Gleich mußte sie den eiligen Schritt Mawruschas hinter der Tür vernehmen; aber sie hörte diesen eiligen Schritt nicht. Sofja Petrowna fühlte sich beleidigt und klingelte zum zweitenmal.

Mawruscha schläft natürlich; Sofja Petrowna braucht nur aus dem Hause zu gehen, da wirft sich die dumme Gans sofort ins Bett . . . Aber auch der Gatte, Ssergeij Ssergeijewitsch ist großartig: er wartete natürlich seit Stunden voll Ungeduld auf ihr Kommen, hörte das Läuten und merkte, daß die Bediente schlief. Und doch rührte er sich nicht! Der Herr ist beleidigt! Na, warte nur!

Du bleibst ohne Versöhnung und ohne Tee! . . .

Sofja Petrowna begann heftig zu läuten, einmal nach dem anderen, die Glocke prasselte nur so . . . Nichts, niemand! Sie neigte sich mit dem Ohr gegen das Schlüsselloch; und wie sie ihr Ohr lauschend am Schlüsselloch hatte, hörte sie hinter der Tür (in einem Werschok Entfernung) ganz deutlich: ein keuchendes Atmen und ein Reiben von Zündhölzern an der Schachtel: Herrgott Jesus Christus, wer mochte dort keuchen? Sofja Petrowna trat etwas zurück.

Mawruscha? Nein, sie war es nicht. Ssergeij Ssergeijewitsch? Ja, er war es. Aber warum schwieg er? Warum machte er nicht auf? Warum stand er hinter der Tür und keuchte?

Böses ahnend begann Sofja Petrowna, verzweifelt, an die filzbeschlagene Tür zu hämmern; Böses ahnend rief Sofja Petrowna:

»So macht doch auf!«

Hinter der Tür fuhr jemand fort keuchend zu atmen, regelmäßig und hastig:

»Ssergeij Ssergeijewitsch, lassen Sie es doch! . . .«

Schweigen.

»Sind Sie es? Was haben Sie?«

Ta — ta — ta — etwas wälzte sich von der Tür.

»Was ist denn los? Herrgott, ich fürchte mich, ich fürchte mich . . . Machen Sie doch auf, Liebling!«

Etwas heulte auf hinter der Tür und lief eilig in die inneren Zimmer; man hörte ein Rumoren, Stühle wurden geschoben; Sofja Petrowna glaubte die Lampe im Salon klimpern zu hören, dann wurde wieder ein Tisch geschoben. Einen Augenblick lang war dann alles ruhig.

Aber dann plötzlich hörte man ein furchtbares Krachen; wie wenn die Decke eingestürzt wäre und der Schutt nach unten fiele; unter den verschiedenen Tönen vernahm Sofja Petrownas Ohr mit Schrecken: das schwere Niederfallen eines menschlichen Körpers.

Unruhe

Apollon Apollonowitsch Ableuchow haßte im Grunde genommen das unvermittelte Sprechen, bei dem man in die Augen des Partners blicken mußte; das Sprechen mittels der Telephondrähte beseitigte diese Nachteile. Apollon Apollonowitsch horchte mit Vergnügen auf das Summen des Telephons.

Apollon Apollonowitsch ging zu Zukatows mit dem einzigen Vorhaben, dem Leiter eines gewissen Amtes einen Schlag zu versetzen. Diesem Amt hatte es in der letzten Zeit beliebt, mit einer radikalen Partei ein wenig zu kokettieren. Apollon Apollonowitsch haßte Kompromisse; und er wollte dem Parteileiter zeigen, wie er, einmal erst auf seinem hohen Posten, sich zum besagten Amtsleiter stellen würde . . .

Deswegen blieb Apollon Apollonowitsch den ganzen Abend bei Zukatows, vor sich das höchst widerliche Bild: konvulsivisch hüpfende Beine und blutrote, unangenehm knisternde Stoffe: solche roten Fetzen sah er schon einmal: auf dem Platze vor der Kathedrale: dort wurden diese Fetzen Fahnen geheißen.

Diese roten Fetzen hier, auf einem Tanzabend, bei dem das Haupt der Verwaltung anwesend war — schienen ihm ein unschicklicher, unwürdiger, schmachvoller Scherz, und die konvulsivisch tanzenden Beine riefen in ihm das Bild einer traurigen (aber unumgänglichen) Maßnahme hervor, durch die Staatsverbrechen unmöglich wurden.

In offensichtlicher Langeweile, mit kaum zu überwindendem Widerwillen, saß Apollon Apollonowitsch auf dem Stuhle, aufrecht wie ein Stock, ein kleines Porzellantäßchen in den winzigen Händchen. Gegen den bunten, bucharischen Teppich stemmten sich in perpendikulärer Richtung die dünnen Beinchen, deren untere Teile mit den Schenkeln einen geraden Neunziggradwinkel bildeten; perpendikulär zu der Brust streckten sich die dünnen Arme nach dem Porzellantäßchen vor. Apollon Apollonowitsch Ableuchow, die erstklassige Persönlichkeit, glich einer auf den Teppich gemalten Ägypterfigur — eckig, breitschulterig, jede anatomische Regel verleugnend.

Die Mitteilung des kleinen, unscheinbaren Herrchens wirkte auf Apollon Apollonowitsch wie ein Schlag: der blutrote unangenehme Domino, der hirnlose Narr, der ihm am meisten auf die Nerven fiel — sein leiblicher Sohn . . . Nein, nein — nein, nein: der Domino sein leiblicher Sohn! . . .

Ist er auch wirklich sein Sohn? Sein leiblicher Sohn kann ja einfach nur der Sohn Anna Petrownas sein; durch Überwiegen in den Adern des mütterlichen Blutes. Das mütterliche Blut hat das reine Ableuchowsche Geschlecht verunreinigt, indem es dem berühmten Manne einen unsauberen Sohn geschenkt hat. Nur ein unsauberer Sohn, ein Bastard, konnte Dinge treiben wie diese.

Am meisten empört war Apollon Apollonowitsch, daß der widerwärtige, dort hüpfende Domino (Nikolai Apollonowitsch), wie ihm das kleine Herrchen berichtete, bereits eine ebenso widerwärtige Vergangenheit hatte, daß über sein Treiben die jüdische Presse bereits geschrieben hatte; Apollon Apollonowitsch bedauerte, nicht in die »Tagesneuigkeiten« der Zeitungen hineingesehen zu haben.

Mit rascher Bewegung erhob sich Apollon Apollonowitsch und lief in das Nebenzimmer, um dort den Domino ausfindig zu machen; aber aus demselben kam mit eiligen, eiligen Schritten ein kleiner, glattrasierter Gymnasiast im Salonrock auf ihn zu, und Apollon Apollonowitsch war nahe daran, ihm aus Zerstreutheit die Hand zu reichen; der glattrasierte Gymnasiast erwies sich bei näherer Betrachtung als Senator Ableuchow selbst: in der Eile war der Senator beinahe in den Spiegel hineingerannt.

Apollon Apollonowitsch wandte dem Spiegel den Rücken zu; und — dort, dort: im Zimmer, zwischen Saal und Salon, sah Apollon Apollonowitsch den widerlichen Domino (den Bastard), der in das Lesen eines (sicher widerlichen) Briefes (sicher unanständigen Inhalts) vertieft war. Apollon Apollonowitsch hatte nicht den Mut, den Sohn zur Rede zu stellen.

Bald vernahm Apollon Apollonowitsch ein Murmeln und Flüstern und merkte da und dort ein spöttisches Lächeln; er bemerkte auch, daß das konvulsivische Tanzen plötzlich aufgehört hat; das beruhigte für einen Augenblick sein aufgewühltes Gemüt. Aber dann ging es wieder mit erschreckender Klarheit durch seinen Kopf: sein Sohn sei ein ganz miserabler Kerl; denn nur ein ganz miserabler Kerl konnte sich in so abscheulicher Weise aufführen: einige Tage hintereinander einen roten Domino anziehen, einige Tage hintereinander eine Maske vors Gesicht binden; einige Tage hintereinander die jüdische Presse in Aufregung halten . . .

Apollon Apollonowitsch gedachte jetzt auf seinen Posten verzichten zu müssen: er konnte den Posten nicht annehmen, ehe er die Schmach weggewaschen hatte, die seinem Geschlecht durch das Benehmen des Sohnes (immerhin ein Ableuchow) zugefügt wurde . . .

Mit diesen trüben Gedanken reichte er den Anwesenden seinen Finger und lief, von Wirt und Wirtin geleitet, aus dem Salon. Und als er in seinem Lauf durch den Tanzsaal angsterfüllt gegen die Wände blickte — dabei fand er den hellerleuchteten Saal viel zu groß —, sah er deutlich, wie ein Häufchen grauer Matronen miteinander tuschelte.

An Apollon Apollonowitschs Ohr gelangte nur das Wort — Hühnchen.

Apollon Apollonowitsch haßte die Hühnchen, die mit weggeschnittenen Köpfen in den Basaren verkauft werden.

Der Brief

Nikolai Apollonowitsch befand sich in einem dunklen Traum, im dunkelsten Naßkalt der Straße, in das die Laterne hartnäckig einen rötlichen Fleck hineinzuleuchten bemüht war.

Nach ein paar Schritten bemerkte Nikolai Apollonowitsch mit Gleichmut, daß ihm die Beine fehlten; unordentlich patschten durch den Schmutz weiche Körperteile; vergeblich bemühte er sich, diese weichen Körperteile in gewünschter Richtung zu bewegen; sie weigerten sich, ihm zu gehorchen; sie hatten wohl äußerlich die Form von Beinen: aber Beine waren es nicht; unwillkürlich ließ sich Nikolai Apollonowitsch auf eine Stufe vor dem Nachbarhause nieder; so saß er, gehüllt in seinen Wintermantel, wohl eine Minute lang.

Das war ganz natürlich in seiner Lage (sein ganzes Benehmen war durchaus natürlich); ebenso natürlich war es, daß er den Mantel aufschlug, in den Taschen suchte und das Briefchen hervorzog; wieder und wieder las er es, bemüht, darin eine Spur von Scherz oder Spott zu entdecken; aber nichts davon gelang ihm . . .

»Eingedenk Ihres im Sommer gemachten Vorschlages teilen wir Ihnen mit, daß der Würfel nun auf Sie fiel. Sie haben unverzüglich an die Sache zu gehen — und« . . . hier konnte Nikolai Apollonowitsch nicht lesen, denn da stand der Name seines Vaters — doch weiter: »Das nötige Material in der Gestalt der Bombe mit dem Uhrmechanismus wurde Ihnen seinerzeit übergeben; Eile ist geboten; es ist erwünscht, daß die Angelegenheit schon in den nächsten Tagen erledigt ist . . .« Weiter folgte — die Parole: Nikolai Apollonowitsch kannte die Parole wie die Schrift gut. Es war die Schrift des »Unbekannten«. Er hatte schon öfters Briefe von dem »Unbekannten« erhalten.

Zweifel waren ausgeschlossen.

Nikolai Apollonowitsch bemühte sich, nicht zu denken, nicht zu verstehen: denken, verstehen . . . konnte man denn so etwas verstehen; das kam einfach und zwang und würgte . . . darüber denken hieß sich ins Wasser stürzen . . . Zu denken gab es da nichts, denn . . . das war . . . Na, wie war es nur zu bezeichnen? . . .

Nein, niemand vermochte hier etwas zu denken.

Nikolai Apollonowitsch suchte sich an Äußeres zu klammern: da ist die Karyatide an der Einfahrt; nichts weiter: eine Karyatide . . . Doch — nein, nein! Gar keine Karyatide: er hatte eine solche noch nie gesehen: sie hängt gerade über einer Flamme. Und dort ist — ein Haus: nichts weiter — ein Haus.

Nein, nein, nein!

Es ist kein einfaches Haus, wie alles andere nicht einfach ist: alles in ihm hat sich verschoben, hat sich von den Wurzeln losgelöst, er selbst hat sich von seinen eigenen Wurzeln losgelöst und sieht von irgendwoher (für ihn ganz unbekannt), wo er noch nie gewesen, seine Umgebung.

Da sind nun auch Beine — nichts weiter — Beine . . . Nein, nein! Es sind keine Beine, es sind ganz weiche, unnötig baumelnde Körperteile.

Nikolai Apollonowitsch erhob sich schwer von der Stufe. Nikolai Apollonowitsch trat in ein leeres Gäßchen.

Das Gäßchen war leer, wie alles: wie dort oben die Ferne; so leer, wie die menschliche Seele sein kann. Für einen Augenblick bemühte sich Nikolai Apollonowitsch, an die transzendenten Dinge zu denken; daran, daß die Geschehnisse dieser vergänglichen Welt nicht im geringsten das unsterbliche Zentrum berühren und daß selbst das denkende Hirn nur ein Bewußtseinsphänomen sei; daß, soweit er, Nikolai Apollonowitsch, in dieser Welt handelte, er — nicht er sei; sondern nur — vergängliche Materie; sein wirklicher, beschauender Geist kann ihm noch immer den Weg erleuchten; erleuchten trotz diesem; beleuchten — selbst . . . dieses . . . Doch dieses umgab ihn, umgab ihn von allen Seiten wie ein Zaun; zu seinen Füßen sah er nur eine Pfütze.

Und nichts leuchtete.

Das Bewußtsein Nikolai Apollonowitschs bemühte sich vergeblich zu leuchten; es leuchtete nicht. Die furchtbare Dunkelheit blieb, wie sie war. Sich ängstlich umsehend, erreichte er mit schleichenden Schritten den hellen Laternenfleck. Er begann wieder zu lesen. Die Gedanken entflogen dem Bewußtseinszentrum wie eine Schar betäubter, vom Sturm gepeitschter Vögel; aber auch dieses Zentrum gab es nicht mehr: es gab nur noch ein düsteres Loch, vor dem Nikolai Apollonowitsch verloren stand, wie vor einem tiefen Brunnen. Wann und wo war er schon einmal so gestanden? Er suchte sich dessen zu entsinnen, aber es gelang ihm nicht. Und wieder begann er:

»Eingedenk Ihres im Sommer gemachten Vorschlages«, las er und wollte einen Punkt entdecken, den er beanstanden konnte; doch er fand keinen.

»Eingedenk Ihres im Sommer gemachten Vorschlages« . . . Er hatte in der Tat den Vorschlag gemacht, aber er hatte ihn später vergessen; wohl fiel er ihm nachträglich wieder ein, aber dann folgten die Ereignisse der allerletzten Zeit, folgte der Domino; verwundert blickte Nikolai Apollonowitsch auf diese Vergangenheit zurück; er fand sie einfach albern; eine Dame mit hübschem Gesichtchen füllte sie aus; nichts weiter — eine Dame, eine Dame, eine Dame! . . .

»Wir teilen Ihnen mit, daß der Würfel auf Sie fiel«, las Nikolai Apollonowitsch, als er hinter seinem Rücken Schritte vernahm; er wandte sich um und ging dem Herannahenden entgegen; er erblickte Hut, Mantel, Stock, ein kleines Vollbärtchen und eine Nase: das alles ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten (er hörte nur die Schritte und das sich überschlagende Pochen des Herzens).

Er wandte sich wieder dem Brief zu.

»Das nötige Material in Gestalt einer mit Uhrmechanismus versehenen Bombe ist Ihnen seinerzeit übergeben worden« . . . Es war ihm nichts übergeben worden, nein, nichts! Es tauchte etwas wie eine Hoffnung in ihm auf, alles wäre nur — Spaß . . . Eine Bombe? Nein, er hatte keine Bombe! Ja, ja — keine!!


Das Paket?!


Da erinnerte er sich: das Paket, der verdächtige Besucher, der septemberliche Tag — alles, alles. Nikolai Apollonowitsch erinnerte sich deutlich, wie er das Paket nahm (es war naß) und in seinen Schreibtisch verbarg.

Und zum erstenmal erfaßte ihn eine unaussprechliche Angst.

Das kleine Männchen, das hinter ihm herging (warte nur, hatte er es nicht soeben gesehen?), blieb am Zaun, zwei Schritte von ihm entfernt — eines natürlichen Bedürfnisses wegen stehen; aber vor dem alten Zaun stehend, drehte es das Gesicht Ableuchow zu, schnalzte in besonderer Art mit der Zunge und lächelte kaum merklich:

»Vom Ball sicher?«

»Ja, vom Ball . . .«

»Ich weiß es wohl . . .«

»So—o . . . Und woher denn?«

»Aber unter Ihrem Mantel blickt ein . . . ein Zipfel vom Domino hervor.«

»Na, ja: ein Domino . . .«

»Neulich, da hat er auch herausgesehen . . .«

»Wie, neulich?«

»Ja, neulich, neben dem Kanal . . .«

»Herr!! . . .«

»Aber lassen Sie es nur gut sein: Sie sind ja der Domino?«

»Welcher Domino eigentlich . . .«

»Na, eben — derjenige

»Ich verstehe Sie nicht; und überhaupt ist es seltsam, einen unbekannten Menschen . . .«

»Unbekannt sind Sie durchaus nicht: Sie sind Nikolai Apollonowitsch Ableuchow, und außerdem sind Sie der rote Domino, von dem die Zeitungen schreiben . . .«

Nikolai Apollonowitsch wurde blaß wie der Tod.

»Hören Sie, hören Sie . . . Glauben Sie mir, das alles sind abscheuliche Märchen . . .«

Mit seinem natürlichen Bedürfnis fertig geworden, verließ das Männchen den Zaun, knöpfte seinen Mantel zu, schob familiär die Hand in die Tasche und zwinkerte vieldeutig:

»Wo wollen Sie hin?«

»Auf die Wassiljewskij-Inseln.«


»Sie scheinen nicht genau zu wissen, wo Sie hinwollen,« sagte lächelnd das kleine Herrchen; »dann machen wir doch zusammen einen Abstecher ins Restaurant.«

Begleiter

In grauem Mantel, mit schwarzem Zylinderhut, das Gesicht von der Farbe grauen, grün überhauchten Wildleders, lief Apollon Apollonowitsch Ableuchow wie geängstigt die Stufen hinunter und stand nun im durchnäßten glitschrigen Portal.

Jemand rief seinen Namen, und auf den ehrfurchtsvollen Ruf hin tauchten aus der Dunkelheit die schwarzen Konturen des Wagens auf, und im Lichtkreis der Laterne hob sich das Wappen ab: ein Einhorn, einen Ritter durchbohrend. Schon hob Apollon Apollonowitsch seinen Fuß zum Wagentritt, als er das schäbige Herrchen, von dem er soeben die wichtige, traurige Wahrheit vernommen hatte, auf der Straße erblickte.

Apollon Apollonowitsch ließ darauf den im geraden Winkel gehobenen Fuß wieder sinken, berührte mit dem Handschuh den Rand des Zylinders und gab dem vor Erstaunen blöd dreinschauenden Kutscher trocken den Befehl: allein nach Hause zu fahren. Dann beging Apollon Apollonowitsch eine unerhörte Tat: so was wies die Geschichte seines Lebens in den letzten fünfzehn Jahren nicht auf: Apollon Apollonowitsch, selbst vor Verwunderung mit den Augen zwinkernd und die Hand, des Asthmas wegen, an das Herz gedrückt, begab sich zu Fuß, bemüht, den sich im Nebel verlorenen Rücken des schäbigen Herrchens einzuholen, auf den Weg; eine wesentliche Tatsache bitte ich in Betracht zu nehmen: die unteren Extremitäten des ruhmvollen Mannes waren nämlich bis zum äußersten klein geraten; wenn Sie diese wesentliche Tatsache berücksichtigen, dann werden Sie es verständlich finden, daß Apollon Apollonowitsch durch eifriges Bewegen der Arme sich das Gehen zu erleichtern suchte.

Apollon Apollonowitsch beging also zwei unerhörte Abweichungen von dem Kodex seiner höchst geregelten Lebensweise, erstens: verschmähte er den Wagen (in Anbetracht seiner krankhaften Raumangst — eine wirkliche Heldentat); zweitens: flog er in nicht übertragenem, sondern buchstäblich wahrem Sinne des Wortes in dunkler Nacht durch eine menschenleere Straße. Er rief dem in die Dunkelheit entfliehenden Rücken zu:

»Mm . . . Hören Sie!«

Doch der Rücken (eigentlich nicht der Rücken, sondern die mitlaufenden Ohren) hörten nicht.

»Halten Sie doch . . . Pawel Pawlowitsch!«

Der Rücken wandte sich um, blieb stehen und, den Senator erkennend, kam er ihm entgegen.

»Exzellenz! . . . Apollon Apollonowitsch! Wieso ohne Wagen? . . .«

Aber Apollon Apollonowitsch unterbrach den Gefühlserguß:

»Die Nachtluft ist mit nützlich . . .«

Beide gingen nun in derselben Richtung: das Herrchen bemühte sich, Schritt mit dem Senator zu halten, was aber in Wirklichkeit nicht leicht war (die Schrittchen Apollon Apollonowitschs konnte man durch das Mikroskop betrachten).

Apollon Apollonowitsch hob die Augen auf den Begleiter und sagte — sagte mit sichtbarer Verwirrung:

»Ich . . . wissen Sie . . .«

»Ja?« horchte das Männchen auf.

»Ich . . . wissen Sie . . . möchte Ihre genaue Adresse haben, Pawel Pawlowitsch.«

»Pawel Jakowlewitsch«, verbesserte bescheiden der Begleiter.

»Pardon, Pawel Jakowlewitsch, ich habe, wissen Sie, ein schlechtes Gedächtnis für Namen . . .«

»Macht nichts, bitte, macht absolut nichts, nichts.«

Das schäbige Herrchen dachte inzwischen bei sich:

»Möchte wohl über den Sohn etwas erfahren . . . aber schämt sich zu fragen . . .«

»Also, Pawel Jakowlewitsch, ich bitte Sie um Ihre Adresse.«

Apollon Apollonowitsch Ableuchow knöpfte den Mantel auf und zog sein, in das Fell eines gefallenen Nashorn gebundenes Notizbuch hervor; sie blieben unter einer Laterne stehen.

»Meine Adresse«, sagte, sich gleichsam windend, das Herrchen, »ist veränderlich. Meist halte ich mich auf der Wassiljewskij-Insel auf: 18. Linie, Haus Nr. 17; dort habe ich zwei Zimmer beim Schuhmacher Beßmertny; zu fragen: der Schreiber des Polizeireviers Woronkow.«

»So — so — so: ich werde Sie in diesen Tagen besuchen . . .«

Plötzlich hoben sich die Augenbrauen des Senators und Erstaunen prägte sich in seinem Gesicht:

»Warum?« fragte er, »warum? . . .«

»Warum mein Name Woronkow ist, während ich in Wirklichkeit Morkowin heiße?«

»Ja — eben.«

»Das kommt daher, Apollon Apollonowitsch, weil ich dort unter falschem Namen wohne.«

Das Gesicht Apollon Apollonowitschs drückte Ekel aus (im Prinzip war er gegen solche Erscheinungen).

»Meine eigentliche Wohnung ist auf dem Newskij . . .«

Apollon Apollonowitsch dachte: »Was ist zu machen: solche Erscheinungen sind in einer Übergangszeit und im Rahmen der Gesetzlichkeit — eine traurige Notwendigkeit, aber eben eine Notwendigkeit.«

»Ich bin zur Zeit, Exzellenz, mit der Auffindung einer gewissen Spur beschäftigt: es ist jetzt eine äußerst bedeutsame Zeit.«

»Ja, ja, Sie haben recht«, stimmte Apollon Apollonowitsch bei.

»Es ist ein politisches Verbrechen von besonderer Wichtigkeit in Vorbereitung . . . Vorsichtig: hier ist eine Pfütze . . . Dieses Verbrechen . . .«

»Soo . . .«

»In nächster Zeit dürfte es uns gelingen, dieses Verbrechen an den Tag zu bringen . . . Hier ist eine trockene Stelle, darf ich Ihnen die Hand bieten? . . .«

Apollon Apollonowitsch wurde von seiner Angst befallen: sie schritten über einen großen Platz; unwillkürlich rückte er ganz nahe an den Begleiter heran.

»Soo, soo: sehr gut . . .«

Apollon Apollonowitsch suchte Mut zu fassen, aber der riesige Platz und die ihm entgegenlaufende Ferne drückten ihn nieder. Einen Augenblick überwand die Sorge um das bedrohte Rußland die persönlichen Ängste: die Angst um den Sohn und die Angst vor der Notwendigkeit, diesen riesigen Platz zu überschreiten.

»Ist ein terroristischer Akt in Vorbereitung?«

»Wie gesagt — ja . . .«

»Und sein Opfer?«

»Soll ein hoher Beamter werden!«

Über das Rückgrat Apollon Apollonowitschs lief es kalt: er hatte vor einigen Tagen einen Drohbrief erhalten; in diesem Briefe wurde ihm mitgeteilt: falls er den Posten annehme, würde er von einer Bombe vernichtet werden; Apollon Apollonowitsch verachtete anonyme Briefe; er warf das Schreiben fort; den Posten nahm er an.

»Verzeihen Sie, wenn es kein Geheimnis ist: wen haben sie jetzt vor?«

Hier geschah etwas wirklich Seltsames: alle Dinge an dem Senator duckten sich gleichsam und rückten viel näher heran; auch Herr Morkowin schien kleiner geworden zu sein und rückte näher heran; ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen, als er im Flüsterton, den Kopf gegen den Senator geneigt, sagte:

»Wieso — wen? Sie, Exzellenz, Sie!«

Apollon Apollonowitsch sah: eine Karyatide vor dem Portal: nichts weiter — eine Karyatide. Doch — nein, nein! Keine Karyatide, so eine hat er nie im Leben gesehen: diese hängt nur so im Nebel. Dort ist der Giebel eines Hauses: nichts weiter — ein Giebel; doch — nein, nein: es ist nicht einfach ein Giebel, wie auch alles andere nicht mehr einfach ist; alles hat sich verschoben, hat sich von den Wurzeln gelöst; selbst er hat sich von den Wurzeln gelöst; und er stammelte in die mitternächtliche Dunkelheit:

»Warum aber? . . . Bitte — bitte. Warum? . . .«

Apollon Apollonowitsch konnte es sich durchaus nicht denken, daß diese behandschuhte Hand, daß diese Beine, daß dieses müde, absolut müde (glaubt es mir!) Herz — unter der Einwirkung sich verbreitender Gase in irgendeiner Bombe im Nu sich verwandeln können sollte . . .

»Das heißt, wie meinen Sie das?«

»Aber eben so, Apollon Apollonowitsch — höchst einfach . . .«

Dann aber fügte Herr Morkowin hinzu:

»Sie dürfen sich durchaus nicht fürchten, Exzellenz, denn es sind die strengsten Maßregeln getroffen worden: wir verhindern es: eine unmittelbare Gefahr für heute oder morgen besteht nicht . . . In einer Woche aber werden Sie informiert sein. So lange gedulden Sie sich . . .«

Das ängstlich bebende Gesicht betrachtend, das, vom fahlen Laternenlicht beschienen, an eine Leiche gemahnte, dachte Herr Morkowin: »Wie alt er doch ist, die reinste Ruine . . .«

Aber mit kaum merklichem Krächzen wandte Apollon Apollonowitsch dem Männchen sein bartloses Gesicht zu und lächelte plötzlich, ganz trübe, wodurch sich unter seinen Augen gewaltige faltige Säcke bildeten.

Einen Augenblick später kam jedoch Apollon Apollonowitsch wieder zu sich, verjüngte sich, seine Gesichtsfarbe wurde heller: er drückte fest Herrn Morkowins Hand und schritt, aufrecht wie ein Stock, dem schmutzigen, herbstlichen Nebel entgegen, im Profil an die Pharaomumie Ramses’ des Zweiten erinnernd.

Uh! Wie war es feucht, wie faulnaß, wie war die Nacht so bläulich und lila mit rötlichem Ausschlag von den Laternen, wie entwand sich Apollon Apollonowitsch dem Lila, um in den Kreis der Laterne zu gelangen, und wie flog er aus dem Rot der Laterne wieder in das Lila!

Närrisch

Knacks — knacks — knacks: so knacksten die elektrischen Knöpfe, und die Dunkelheit nahm einen unbeholfen langen Menschen auf, mit allzu scharfen Gesten. Das war vielleicht gar nicht Leutnant Lichutin?

Nein, begreifen Sie doch seinen Zustand: sich so widerwärtig im Spiegel zu erblicken, weil irgendein Domino sein ehrliches Haus entehrt hatte, weil, seinem Offizierswort treu, er jetzt auch seine Frau nicht auf die Schwelle lassen durfte. Nein, begreifen Sie doch seinen Zustand: es war eben Leutnant Lichutin — er selbst.

Knacks — knacks — knacks: im zweiten Zimmer knacksten die elektrischen Knöpfe; ebenso im dritten. Dieser Laut beunruhigte Mawruscha, und als sie mit schlürfendem Schritt aus der Küche ins Zimmer trat, erstaunte sie über die völlige Dunkelheit.

Und sie brummte:

»Was ist das nun wieder?«

Aber in der Dunkelheit hüstelte jemand trocken.

»Gehen Sie fort . . .«

»Aber, gnädiger Herr . . .«

Aus der Ecke schrie jemand zornig mit pfeifender, befehlender Stimme:

»Gehen Sie fort . . .«

»Aber, gnädiger Herr, ich muß im Zimmer der gnädigen Frau Ordnung machen . . .«

»Gehen Sie ganz fort . . .«


»Und dann sind auch, Sie wissen, die Betten nicht abgedeckt . . .«


»Hinaus! sagte ich.«

Kaum war sie in die Küche getreten, als der Herr ihr dahin folgte:

»Gehen Sie überhaupt weg aus dem Hause . . .«

»Aber warum nur, gnädiger Herr . . .?«

»Fort, gleich fort! . . .«

»Aber wohin soll ich?«

»Wohin Sie wollen: fort mit Ihnen . . .«

»Gnädiger Herr!! . . .«

»Fort mit Ihnen, daß Sie sich nicht zeigen bis morgen.«

»Aber gnäd . . .«

»Fort, fort! . . .«

Er steckte ihr ihren Mantel zu und schob sie aus der Tür hinaus; Mawruscha brach in Tränen aus; sie erschrak — tödlich: der Herr schien plötzlich nicht ganz . . . Sie hätte zum Hausmeister und aufs Polizeirevier laufen sollen, statt dessen lenkte sie ihre Schritte zu einer Freundin.

Ja, Mawruscha . . .


Wie schrecklich ist die Lage eines harmlosen, eines normalen Menschen: sein Leben hängt an einer Anzahl gewöhnlicher Gebrauchswörter, an dem Faden ganz durchsichtig klarer Handlungen, von diesen Handlungen geleitet, segelt er in die Ferne, einem Fahrzeug gleich, wohl ausgerüstet mit absolut — ausreichenden Worten und Gesten; läuft aber dieses Fahrzeug auf einen verborgenen Felsen der Lebensunverständlichkeiten auf — so zerschellt es, und der einfältige Segler sinkt im Nu auf den Grund des Meeres . . . Beim kleinsten Stoß des Lebens verlieren Normalmenschen die Fähigkeit des Verstehens. Nein, kein Wahnsinniger kennt die Gefahren für das Hirn, die für den Normalen bestehen: das Hirn der Abnormen ist vielleicht aus leichterem Ätherstoff geschaffen. Für das normale Hirn gibt es völlig undurchdringliche Dinge, die dem kranken Hirn ohne weiteres klar erscheinen: dem normalen Hirn bleibt nichts übrig, als sich zu zerstören; und es — zerstört sich.

Seit dem gestrigen Abend empfand Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin die schärfsten Schmerzen im Kopf, wie wenn er im Laufen mit der Stirn gegen eine eiserne Mauer gestoßen wäre; und während er vor der Mauer stand, sah er, daß es gar keine Mauer gab, daß sie nicht undurchdringlich war und daß es dort, hinter ihr, ein unsichtbares Licht gab; daß es dort eigene Gesetze des Sinnlosen gab; wie es hinter den Mauern einer Wohnung Licht gab . . . Hier brummte Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin etwas und schüttelte den Kopf; er fühlte ein intensives, ihm selbst verborgenes Arbeiten des Hirns . . .

Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin brummte wieder etwas und dann wieder: er schüttelte wieder und wieder den Kopf: seine Gedanken verwirrten sich vollständig. Er hatte seine Betrachtungen mit der Analyse der Handlungen seiner untreuen Gattin begonnen und endete damit, daß er sich selbst auf Häßlichkeiten ertappte.

Was also nun? Seit dem gestrigen Abend begann es: es kroch heran, zischte; was ist dieses Es? — Warum kam es? Außer der Verkleidung Nikolai Ableuchows gab es nichts, was zu beanstanden wäre . . .

Ssergeij Ssergeijewitsch, ein einfach gutmütiger Mensch, stieß mit dem Kopf an die Mauer: aber durch sie sehen, hinter ihre spiegelnden Flächen — das vermochte er nicht: hatte er nicht, wenn auch nur vor seiner Frau — das ehrliche Offizierswort gegeben, sie nicht wieder ins Haus zu lassen, falls sie zum Ball gehen würde?

Was also tun? Was tun?

Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin kam in Aufregung und begann, immer von neuem, Streichhölzer zu reiben; rotbraune Flämmchen zuckten auf; rotbraune Flämmchen beleuchteten das Gesicht eines Wahnsinnigen; voll Unruhe blickte er auf die Uhr: zwei Stunden waren vergangen, seit Sofja Petrowna fortgegangen war — zwei Stunden, das heißt hundertundzwanzig Minuten; jetzt begann er zu rechnen, wie viele Sekunden es waren.

»Sechzig multipliziert mit hundertzwanzig . . . Sechzig mal einhundert . . .«

Ssergeij Ssergeijewitsch faßte sich an den Kopf:

»Sechzig mal einhundert . . . Nein, eine Sekunde mal einhundert . . .«

Seine Gedanken verwirrten sich: Ssergeij Ssergeijewitsch bewegte sich in vollständiger Dunkelheit: ta — ta — ta — tönten seine Schritte; Ssergeij Ssergeijewitsch fuhr fort zu rechnen:

»Einmalhundert mal . . . Und zwei Nullen dazu — macht zusammen siebentausend zweihundert Sekunden. Ja.«

Erfreut über die Bewältigung dieser komplizierten geistigen Arbeit äußerte er diese Freude in einer etwas überlauten Weise. Plötzlich fiel ihm ein: sein Gesicht verfinsterte sich:

»Siebentausendzweihundert Sekunden — seit ihrem Entfliehen: zweihunderttausend Sekunden — dann ist alles zu Ende!«

Nach den siebentausendzweihundert Sekunden führt die siebentausendzweihundertunderste in den Zeitraum hinein, in dem sein Offizierswort Geltung bekommt; siebentausendzweihundert Sekunden durchlebte er gleich siebentausend Jahren; seit der Entstehung der Welt sind ja bis zum heutigen Tage nicht mehr Jahre vergangen. Es schien Ssergeij Ssergeijewitsch, als wäre er seit der Entstehung der Welt in diese Finsternis eingeschlossen gewesen, mit seinen unerträglichen Kopfschmerzen; den selbsttätigen Gedanken, der Autonomie des Gehirns, das die leidende Person ausschließt. Ssergeij Ssergeijewitsch begann plötzlich fieberhaft in einer Ecke zu suchen; er nahm aus einem Schrank einen Strick und versuchte eine Schlinge zu machen: das wollte ihm aber nicht gelingen. Ganz verzweifelt lief er in sein Zimmer, den Strick hinter sich herschleifend.

Was tat nun Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin? Suchte er seinem gegebenen Offizierswort Geltung zu verschaffen? Ach — wo! Er nahm bloß, weiß Gott wozu, die Seife aus der Seifendose heraus, kauerte sich auf den Fußboden nieder und begann über einem hingestellten Waschbecken den Strick mit Seife einzureiben. Kaum war er damit fertig, als seine Handlungen einen wahrhaft phantastischen Charakter annahmen; man konnte ruhig sagen, nie im Leben hatte Ssergeij Ssergeijewitsch so originelle Dinge gemacht.

Denken Sie sich nur!

Er stieg, weiß Gott wozu, auf den Tisch (vorerst hatte er die Tischdecke abgenommen); dann zog er vom Fußboden einen gebogenen Stuhl herauf, den er ebenfalls auf den Tisch stellte; auf dem Stuhle stehend, nahm er die Lampe vom Haken und legte sie sich vorsichtig vor die Füße; an Stelle der Lampe aber befestigte Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin den von der Seife glitschrigen Strick; dann schlug er ein Kreuz und blieb unbeweglich einen Augenblick stehen; und langsam legte er mit beiden Händen die Schlinge über seinen Kopf, wie jemand, der im Begriff ist, sich aufzuknüpfen.

Aber ein glänzender Gedanke ging dem Offizier jetzt durch den Kopf: eigentlich mußte er sich doch die Haare vom Halse wegrasieren.

Mit diesem glänzenden Gedanken ging Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin in sein Zimmer: dort begann er beim Schein einer abgebrannten Kerze sich die Haare vom Hals zu rasieren.

Endlich war er fertig, zögern durfte er nicht mehr. Aber gerade in diesem Augenblick ertönte im Vorzimmer die Hausglocke; geärgert schlenderte Ssergeij Ssergeijewitsch, vor sich das mit Seife bedeckte Rasiermesser, sah mit Bedauern auf die Uhr (wie viele Stunden doch dahingeflogen waren:) und — was tun? Was tun? Einen Augenblick lang dachte er daran, sein Vorhaben zu verschieben; er konnte doch wahrhaftig nicht voraussehen, daß er überrascht werden würde; zum zweitenmal ertönte inzwischen die Glocke und verkündete ihm, daß er keine Zeit zu verlieren habe; er sprang also auf den Tisch, um die Schlinge vom Haken zu lösen; aber der glitschrige Strick gehorchte ihm nicht und entrutschte seinen Fingern. Eiligst stieg Ssergeij Ssergeijewitsch wieder herunter und begann sich in das Vorzimmer zu schleichen; und während er schlich, merkte er: langsam schmolz die schwarzblaue Finsternis der Zimmer, die sich wie Tinte die ganze Nacht über ihn ergossen hatte; langsam begann sich in die Tintenfinsternis Grau zu mischen; und in dieser grauenden Finsternis zeichneten sich Gegenstände: ein auf dem Tische stehender Stuhl, eine umgelegte Lampe; und über all diesem — eine nasse Schlinge.

Im Vorzimmer legte Ssergeij Ssergeijewitsch das Ohr an das Schlüsselloch und blieb unbeweglich stehen; aber wohl infolge der Aufregung zeigte sich bei ihm ein solcher Grad von Vergeßlichkeit, einer Vergeßlichkeit, bei der die Durchführung eines Vorhabens undenkbar ist: Ssergeij Ssergeijewitsch merkte nicht im geringsten, wie sehr er keuchte; und als er nun das unruhige Rufen seiner Frau hinter der Tür hörte, begann er aus purer Angst entsetzlich zu brüllen; jetzt sah er ein, daß alles verloren war, schnell rannte er ins Zimmer zurück, um sein originelles Vorhaben rasch durchzuführen: geschwind sprang er auf den Tisch, streckte den frisch rasierten Hals und begann hurtig die Schlinge zuzuziehen, wobei er aber, wer weiß wozu, zwei Finger zwischen Strick und Hals steckte.

Dann rief er, weiß Gott wozu:

»Wort und Tat!«

Er stieß mit den Füßen den Stuhl um, und der Tisch rollte auf seinen Messingröllchen fort (diese Laute waren es eben, die Sofja Petrowna vor der Tür hörte).

Was weiter

Einen Augenblick . . .

Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin begann im Dunkeln mit den Beinen in der Luft zu schleudern; deutlich sah er indessen den Widerschein der kleinen, von der Straßenlaterne herstammenden Lichtreflexe am Ofen; deutlich hörte er das Klopfen und Kratzen an der Tür; seine zwei Finger wurden ihm so fest ans Kinn gedrückt, daß er sie nicht mehr herausziehen konnte; plötzlich schien es ihm, als ersticke er; über seinem Kopfe hörte er einen Knall (wahrscheinlich vom Platzen der Hirngefäße). Plötzlich begann sich oben an der Decke etwas zu lösen, und auf einmal lag Ssergeij Ssergeijewitsch vollständig tot am Boden; doch er erhob sich gleich wieder von den Toten, nachdem er im Jenseits bloß einen ordentlichen Schupser bekommen hatte; er kam zu sich und begriff, daß er nicht von den Toten auferstanden, sondern daß er, mit Schmerzen im Rückgrat, auf dem Fußboden seines Zimmers lag und zwei Finger zwischen Hals und Strick eingeklemmt hatte; und Ssergeij Ssergeijewitsch begann an der Schlinge zu zerren, bis sie sich lockerte.

Jetzt wurde es ihm klar, daß er sich, beinahe, erhängt hätte: daß nicht viel, nicht viel gefehlt — und er wäre tot gewesen. Ssergeij Ssergeijewitsch stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Wir wollen jedoch einige Worte zugunsten Ssergeij Ssergeijewitschs sagen: der Erleichterungsseufzer entrang sich ihm ganz unwillkürlich, wie etwa unwillkürlich die Abwehrbewegungen der Ertrinkenden sind, bevor sie, ihrem eigenen Willen entsprechend, in der kalt-grünen Tiefe untertauchen. Ssergeij Ssergeijewitsch wollte, ganz im Ernst (lächeln Sie, bitte, nicht!), seine Rechnung mit der Erde beschließen, und er hätte dieses Vorhaben ohne jeden Zweifel zur Ausführung gebracht, wenn nicht die morsche Zimmerdecke (woran der Erbauer des Hauses Schuld trägt) nachgegeben hätte; den Erleichterungsseufzer stieß also nicht die Persönlichkeit Ssergeij Ssergeijewitschs aus, sondern nur sein tierisch-fleischlicher, unpersönlicher Körper. Wie dem auch sei, jetzt kauerte dieses Ich auf dem Fußboden, und horchte auf alles mögliche (auf die tausend verschiedenen Laute); sein Geist aber in der Tiefe der Hülle bewahrte völligen Gleichmut.

Im Nu wurden seine Gedanken klar, im Nu entstand vor seinem Bewußtsein das Dilemma: Was also tun? Was tun? Den Revolver suchen — das dauerte zu lange . . . Das Rasiermesser? Mit dem Rasiermesser — hu — hu — hu! Nein: das Natürlichste war: hier auf dem Fußboden gestreckt liegenzubleiben und alles andere dem Schicksal zu überlassen; ja, aber bei dieser natürlichen Lösung wird Soja Petrowna (sie hat sicher das Fallen gehört) zum Hausmeister laufen — wenn sie nicht schon gelaufen ist —, man wird an die Polizei telephonieren, es gibt einen Zusammenlauf, die Menge wird die Tür aufbrechen, eindringen und ihn da auf dem Boden, mit einem Strick um den Hals, liegen sehen.

Nein, nein, nein! Nie wird sich der Leutnant zu so was erniedrigen: die Ehre seines Offiziersrocks ist ihm mehr wert als irgendein seiner Frau gegebenes Wort. Es bleibt nur eines übrig: rasch die Tür aufzumachen und sich mit der Frau zu versöhnen.

Rasch versteckte er den Strick unter das Sofa und lief in schmachvollster Weise zur Tür, hinter der es jetzt ganz still war.

Mit demselben unwillkürlich keuchenden Atem öffnete er und blieb, unschlüssig, auf der Schwelle stehen; brennende Scham überkam ihn, und der Sturm, der in seiner Seele gewütet, legte sich, als hätte sich im Augenblick, als sich der Deckenhaken löste, alles in ihm gelöst: der Zorn gegen die Frau, die Empörung über das Benehmen Nikolai Ableuchows. Hatte er doch selbst jetzt Unerhörtes begangen, eine mit nichts zu vergleichende Schandtat: er wollte sich erhängen und — zog statt dessen den Haken aus der Decke heraus.

Einen Augenblick . . .

Niemand lief ins Zimmer, doch stand jemand dort (das sah er); endlich aber flog Sofja Petrowna herein; sie flog; herein und brach in Weinen aus.

»Was ist das? Was ist das? Warum ist es dunkel?«

Ssergeij Ssergeijewitsch schwieg verlegen.

»Warum hörte ich hier ein Rumoren und Laute?«

Ssergeij Ssergeijewitsch drückte verlegen ihre kalten Fingerchen in seinen Händen.

»Warum sind Ihre Hände voll Seife? . . . Ssergeij Ssergeijewitsch, Liebster, sagen Sie, was das alles bedeutet?«

»Siehst du, Sonjuscha . . .«

Aber sie unterbrach ihn:

»Warum sind Sie heiser?«

»Ja, siehst du, Sonjuscha . . . ich . . . ich hatte das Fenster geöffnet . . . Deswegen bin ich heiser . . . Aber darum handelt es sich nicht . . .«

Er stockte.

»Nein, nicht, nicht!« — rief Ssergeij Ssergeijewitsch, als seine Frau das elektrische Licht aufdrehen wollte — »nicht hier, komm ins andere Zimmer.«

Und er zog sie mit Gewalt in sein Zimmer.

Der Morgen begann bereits zu dämmern, und manchen Augenblick schien es hier, als wären die Gegenstände des Zimmers: Stühle, Bilder, Vasen, Säbel, Wände, die verstreut liegenden Rasierutensilien — nur aus Luft gewobene Spitzen, ein Spinngewebe; und durch diese feinen, feinen Spitzen spiegelte, verschämt und zärtlich, der ins Fenster fallende morgendämmernde Himmel.

Von unklarer Angst getrieben, begann Sofja Petrowna sich in den Zimmern umzusehen. Aus dem Nebengemach des Gatten rief eine heisere, weinerliche Stimme ihr nach:

»Dort findest du Unordnung . . .«

»Weißt du, Liebling, ich habe die Zimmerdecke gerichtet . . .«

»Die Decke hat einen Riß gegeben . . .«

»Man mußte . . .«

Aber Sofja Petrowna hörte nichts: sie stand angstvoll vor dem Haufen der auf den Teppich herabgefallenen Stuckdecke, in dem sich dunkel der Haken abhob; der Tisch mit dem auf ihm befindlichen umgestürzten Stuhl war beiseite geschoben; unter der weichen Chaiselongue — auf der liegend Sofja Petrowna noch vor kurzem Henry Besançon gelesen hatte — unter dieser weichen Chaiselongue lugte ein grauer Strick hervor. Sofja Petrowna Lichutina zitterte; sie fühlte, wie der beginnende Tag sie anhauchte; sie krümmte sich.

Hinter den Fenstern begannen plötzlich leichte Flammen zu sprühen, und alles wurde durchleuchtet; ein rosa schimmerndes Netz aus Perlmutterschuppen breitete sich dort, und durch die Lücken dieses Netzes blickte ein zart-zartes Blau; ganz zart war das Blau, alles erfüllte sich mit bebender Unsicherheit; alles erfüllte sich mit der verwunderten Frage: »Aber wieso doch? Aber wieso doch? Scheine ich denn nicht mehr?« Durch Sofja Petrownas Seele gingen plötzlich hauchend leichte Stimmen; und alles leuchtete für sie auf, als ein blasser Strahl auf die Schlinge des Strickes fiel. Ihr Herz erfüllte sich mit plötzlichem Schauer und mit der verwunderten Frage: »Aber wieso doch? Aber wieso doch? Warum hab’ ich vergessen?«

Sofja Petrowna Lichutina neigte sich gegen den Boden und streckte die Hand zum Stricke aus. Sofja Petrowna Lichutina küßte den Strick und begann leise zu weinen: eine vergessene und, wieder aufgelebte Gestalt aus ihrer Kindheit (die Gestalt war doch nicht völlig vergessen — wo habe ich sie nur gesehen: kürzlich erst, heute?). Diese Gestalt hob sich langsam, und jetzt stand sie hinter ihrem Rücken. Als sie sich umwandte, sah sie: hinter ihrem Rücken stand ihr Mann, Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin, schlank, lang und traurig; er hielt seinen hellblauen, sanften Blick auf sie gerichtet:

»Du mußt mir verzeihen, Sonjuscha!«

Sie fiel, weiß Gott warum, zu seinen Füßen, umarmte sie und weinte:

»Du Armer, Armer, Geliebter! . . .«

Was sie noch miteinander flüsterten — weiß der Himmel: das blieb unter ihnen; bei der Morgenröte aber sah man ihn seine mageren Arme über sie breiten:

»Gott wird dir verzeihen . . . Gott wird dir verzeihen . . .«

Das rasierte Gesicht lachte glücklich: wer konnte auch jetzt nicht lachen, angesichts des lachenden Himmels, an dem leichte, schimmernde Wölkchen dahinflogen?

Der Bürger

Weit dehnten sich und liefen die Gäßchen, Gassen, Straßen und vornehmen Prospekte auseinander; aus dem Dunkel trat bald die hochragende Ecke eines Hauses hervor, eines schweren Ziegelsteinbaus, zusammengesetzt aus lauter Wuchtigkeiten; bald gähnte im Dunkel ein Portal, vor dem zwei steinerne Ägypter den steinernen Vorsprung eines Balkons trugen. Mitten im Petersburger Nebel, aus dem Dunkel in das Dunkel, schritt Apollon Apollonowitsch weiter, an dem hochragenden Haus vorbei, an der steinernen Ecke, an all den Hunderten zentnerschweren Wuchtigkeiten vorbei, er ging und ging, alle Schwierigkeiten überwindend: nun erreichte er einen niederen, grauen, ein wenig moderigen Bretterzaun.

Da ging plötzlich eine niedrige Tür auf, die dann offen stehen blieb; weißer Dampf wälzte sich aus der Türöffnung, scheltende Stimmen, das Klimpern einer armseligen Balalaika und Gesang drangen nach außen.

So ist also der Bürger? Apollon Apollonowitsch empfand plötzlich Interesse für diesen Bürger, und es gab da einen Augenblick, wo ihn der Wunsch packte, an die erste beste Tür zu pochen und den Bürger zu suchen; aber da fiel ihm ein, daß eben dieser Bürger ihm einen schmachvollen Tod wünschte: sein Zylinderhut rutschte auf die Seite, und die müden Schultern sanken:

— Ja, ja, ja: sie hatten ihn in Stücke zerrissen; nicht ihn selbst, aber seinen besten Freund, einen Freund, wie ihn das Schicksal einem Menschen nur einmal im Leben sendet; einen Augenblick lang sah Apollon Apollonowitsch deutlich vor sich einen grauen Schnurrbart, die grünliche Tiefe der auf ihn gerichteten Augen, während sie beide über der Reichskarte gebeugt dasaßen und ihr seltsam jugendhaftes Greisenalter sich in heißen Träumen erging (das geschah gerade einen Tag, bevor . . .). Aber die Bürger hatten auch diesen einzigen Freund zerfleischt, den ersten unter den ersten . . . Man sagt, das dauert nur eine Sekunde, dann aber ist — rein gar nichts . . . Was ist nun zu machen? Ein Staatsmann ist nun einmal ein Held; aber doch — brr — brr . . .

Apollon Apollonowitsch Ableuchow richtete den Zylinderhut zurecht, hob wieder die Schultern hoch und schritt weiter durch den faulen Nebel und das nicht weniger faule Leben des Bürgers dahin — durch das Netz schleimig-feuchter, modriger, halbeingesunkener Mauern, Tore, Bretterzäune — durch den ekligen, stinkenden, leeren, allgemeinen Abort. Und es schien ihm auf einmal, als werde auch er von dem Haß jenes modrigen Zauns und jener blinden Mauer verfolgt. Aus Erfahrung wußte Apollon Apollonowitsch, daß sie ihn haßten; doch wer waren diese sie? Ein armseliges, wie alles andere stinkendes Häuflein? Das Gehirnspiel Apollon Apollonowitschs baute vor seinem Blick neblige Flächen; die Riesenkarte Rußlands erschien ihm winzig klein: War das der Feind? Die ungeheure Zusammenhäufung von Völkern, die auf dieser Fläche wohnen: hundert Millionen. Nein, mehr . . .

Was? Er wird gehaßt? . . . Nein, Rußland liegt gedehnt vor ihm. Ihn selbst aber . . . ihn will man . . . will man . . . Nein, brr — brr . . . Müßiges Spiel des Gehirns.

Mit wem sollte er nun durch das Leben gehen? Mit dem Sohn? Aber sein Sohn ist ja ein ausgemachter Schuft. Mit dem Bürger? Aber der Bürger will ihn . . . Apollon Apollonowitsch erinnerte sich, daß er einst vorhatte, mit Anna Petrowna durchs Leben zu gehen; nach Beendigung seiner Laufbahn ein Landhaus in Finnland zu beziehen . . . Aber nun — Anna Petrowna hatte ihn verlassen, ja, verlassen!

Apollon Apollonowitsch sah plötzlich ein, daß er keinen Lebenskameraden besaß (bis zu diesem Augenblick hatte er darüber nie nachgedacht), und ein Tod, der ihn auf dem Posten ereilt, erschien ihm als eine eigentliche Verschönerung seines dahingegangenen Lebens. Und kindliche Trauer überkam ihn und Ruhe und Behaglichkeit. Er hörte nur das Säuseln des dahinfließenden Rinnenwassers, als betete jemand, betete immer um dasselbe, um das eine: um das, was nie war, was aber auch nie sein wird . . .

Das Grauschwarz, das ihn die ganze Nacht bedrückt hatte, begann sich langsam zu dehnen. Die Häusermauern verschmolzen matt mit der entschwindenden Nacht. Die rotgelben Laternen, die soeben noch rotgelbe Flammen von sich warfen, begannen gleichsam zu schwinden — und entschwanden allmählich vollständig. Die fiebernden Lichter auf den Mauern erloschen. Die Laternen verwandelten sich schließlich in dunkle Punkte, die verwundert in den trüben Nebel blinkten. Einen Augenblick lang schien es, als wäre die graue Zusammenhäufung von Linien, Turmspitzen, Mauern mit den huschenden Flächen der Schatten und der unendlich vielen Fenster — daß das alles keine Zusammenhäufung von Steinen, sondern ein in die Luft sich erhebendes Spitzengeflecht von feinster Arbeit, durch dessen Muster die Sonne zaghaft hervorblickte.

Plötzlich tauchte vor Apollon Apollonowitsch ein armgekleidetes, etwa fünfzehn Jahre altes Mädchen mit einem Tuch auf dem Kopfe auf; hinter ihr her zeichnete sich im nebligen Morgengrau die Gestalt eines Mannes; die Gestalt schien mit niedrigen Vorschlägen an das Mädchen herangekommen zu sein. Apollon Apollonowitsch hielt sich für einen Ritter; unerwartet für sich selbst lüftete er den Zylinder.

»Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten und Sie nach Hause bringen? In dieser späten Stunde ist es für junge Personen von Ihrem Geschlecht nicht ungefährlich, allein durch die Straßen zu gehen.«

Sie gingen in tiefem Schweigen; alles erschien näher, als es in der Wirklichkeit war; naß und alt schien sich alles in die Jahrhunderte zu entfernen; all das hatte Apollon Apollonowitsch auch schon früher aus der Ferne gesehen. Aber jetzt — jetzt war es unmittelbar vor ihm: kleine Häuschen, Mauern, niedrige Tore und an seinen Arm ängstlich gedrückt dieser Backfisch, für den er, Apollon Apollonowitsch, kein Schuft, kein Senator war, sondern einfach nur so ein unbekannter gütiger Greis.

Sie kamen bis zum grünen Häuschen mit schiefem Tor und morschen Stufen; hier lüftete der Senator wieder den Zylinderhut und verabschiedete sich vom Backfisch; als die Tür sich hinter dem Mädchen schloß, verzog sich traurig der greisenhafte Mund; die toten Lippen begannen zu kauen; in diesem Augenblick ertönten in der Ferne Laute wie von einem Violinbogen: es war die Stimme des Petersburger Gockels, der etwas verkündete, das nicht existierte, jemand weckte, der nicht vorhanden war.

Ende des vierten Kapitels.

Fünftes Kapitel

Das Herrchen

Nikolai Apollonowitsch schwieg während des ganzen Weges.

Der Petersburger Schmutz gluckste in den Straßenrinnen; tastend mit seinen Laternenlichtern sauste dort ein Wagen in den Nebel hinein . . .

Während des ganzen Weges hörte er das zudringliche Aufschlagen der hinter ihm her eilenden Gummischuhe; er fühlte auf seinem Rücken zwei entzündete, kleine Äuglein gerichtet, die zu dem steifen Hut gehörten, der sich ihm angeschlossen hatte — an jener Stelle am Zaun — dort im Gäßchen.

Nikolai Apollonowitsch wandte sich und sah gerade dem Herrchen ins Gesicht; sein Gesicht besagte nichts: steifer Hut, Stock, Mantel, Bärtchen und Nase.

»Mit wem hab’ ich die Ehre?«

»Pawel Jakowlewitsch Morkowin.«

Die Petersburger Feuchtigkeiten krochen ihm unter die Haut; der Petersburger Schmutz gluckste in den Straßenrinnen; frostig kalte Nässe durchtränkte seinen Mantel.

Der Schatten des steifen Hutes dehnte sich bald an der Mauer, bald schrumpfte er wieder zusammen; wieder ertönte eine deutliche Stimme hinter Ableuchows Rücken:

»Ich wette, daß Sie aus purer Koketterie diesen gleichgültigen Ton anzunehmen geruhten . . .«

»Hören Sie,« versuchte Nikolai Apollonowitsch dem steifen Hut zu erwidern, »ich bin, aufrichtig gesagt, höchst verwundert; ich bin, aufrichtig gestanden . . .«

Dort, dort blitzte der erste helle Apfel auf, da der zweite; dort weiter der dritte; diese Linie der elektrischen Äpfel zeigte den Newskij-Prospekt an, wo die steinernen Häusermauern die ganze lange Petersburger Nacht von elektrischem Licht übergossen stehen und wo die kleinen, hellerleuchteten Restaurants mit dem grellen Rot ihrer Schilder in die Nacht starren, während vor ihnen federngeschmückte Dämchen auf und ab spazieren und das Karminrot ihrer gefärbten Lippen in die Boas vergraben; sie spazieren da neben Zylinderhüten, Schirmmützen, Russenkitteln, vornehmen Wintermänteln, in dem matthellen Lichtchaos — dem weitaufgesperrten, glühenden Rachen, der wie die Hölle von den armseligen finnischen Sümpfen gegen das sich weit, weit breitende Rußland gerichtet ist.

Nikolai Apollonowitsch beobachtete immerzu den Schatten des steifen Hutes an der Mauer, den ewig dunklen Schatten; es war klar: die besonderen Umstände der Begegnung mit dem geheimnisvollen Pawel Jakowlewitsch hatten ihn daran gehindert, gleich dort — am Zaun im Gäßchen — diese Bekanntschaft abzubrechen, ohne dabei die eigene Würde preiszugeben; jetzt hieß es mit der größten Vorsicht auszuforschen, was eigentlich dieser Pawel Jakowlewitsch von ihm wußte, was zwischen diesem und seinem Vater vorgegangen war; deshalb zögerte er, sich zu verabschieden.

Sie gingen über die Brücke.

Vor ihnen schritten zwei Leute: ein fünfundvierzigjähriger, in schwarzes Leder gekleideter Seemann; auf seinem Kopf saß eine Mütze mit Ohrenklappen, er hatte blauschimmernde Wangen und einen grellrotblonden Bart, in dem sich weiße Fäden mischten; sein Begleiter, ein Riese in Schaftstiefeln, mit dunkelgrünem Filzhut, schwarzen Haaren und Brauen und kleinem Schnurrbärtchen, schritt neben ihm her. Beide erinnerten Nikolai Apollonowitsch an etwas; und beide schritten durch die offene Tür in das kleine Restaurant mit dem brillantenen Schild.

Pawel Jakowlewitsch faßte Ableuchow am Mantel:

»Hierher, Nikolai Apollonowitsch, ins Restaurant: da, hierher, das kommt uns sehr gelegen! . . .«

»Aber gestatten Sie . . .«

Es war nichts zu machen: Nikolai Apollonowitsch zuckte kaum merklich mit den Achseln und öffnete mit leichter Ekelgrimasse die Tür . . .

»Eine seltene, höchst seltene Gelegenheit . . .« Herr Morkowin schnalzte mit den Fingern: »Ich sage es Ihnen ganz offen: einen jungen Mann von Ihren Talenten . . . auslassen?! ignorieren?! . . .«

Hier im geschlossenen Raume empfand man die Petersburger Straße als ein scharfes fiebriges Prickeln am Körper, als ein Krabbeln zahlloser rotfüßiger Ameisen.

»Mich kennen ja alle . . . Alexander Iwanowitsch, Ihr Vater, Schischiganow, Peppowitsch . . .«

Um sie herum aber tönte es:

»Wer sind Sie eigentlich?«

»Wer? . . . Iwan! . . .«

»Iwan Iwanowitsch! . . .«

»Was bist du doch, Iwan Iwanowitsch, für ein Schwein!«

An einer Stelle stieg eine dicke Rauchwolke in die Höhe; dort wieder brüllte plötzlich das Orchestrion auf, wie wenn zehn Blashörner ihre ohrenzerreißenden Töne in die durchqualmte Luft hinausstoßen würden. Der Kaufmann Iwan Iwanowitsch Iwanow stellte sich, eine grüne Flasche in der hochgehobenen Hand, mit seiner Dame, deren Bluse ganz zerzaust war, in Tanzpositur vor das Orchestrion.

Nikolai Apollonowitsch sah sich erstaunt um: wie konnte er in eine solche unmögliche Gesellschaft, in einen solchen unmöglichen Ort geraten, er, der doch . . .?

»Ha—ha—ha—ha—ha—ha!« dröhnte es in der Ecke, wo die betrunkene Gesellschaft saß. Verzweifelt, qualvoll, wie das Explodieren unterirdischer Ungeheuerlichkeiten in einem Vulkan, wuchs und breitete sich und weinte in den goldenen Trichtern, bald aufbrausend, bald mit Kastagnetten schlagend, das alte, alte Lied:

»Schwei—ei—get, ihr lodernden Ge—füüh—le,

Schlaaaf ein, du hooofnungsloo—oses Heee—erz . . .«

Ein Gläschen Wodka!

Gestehen Sie . . . He: zwei Gläschen Wodka! — Gestehen Sie . . .,« rief Pawel Jakowlewitsch Morkowin, »ich wette, daß ich für Sie ein Rätsel bin, über das Sie jetzt vergeblich Ihren Gehirnapparat anstrengen . . .«

Dort, dort ein kleiner Tisch: vor diesem Tischchen sitzt über sein Glas gebeugt ein etwa fünfundvierzigjähriger Seemann mit schwarzem Lederanzug, bläulich schimmerndem Gesicht.

Und neben dem Seemann kauerte schwer, wie aus Stein gehauen, der Riese.

Der Riese — mit schwarzen Brauen und schwarzen Haaren — lachte zweideutig und schielte gegen Nikolai Apollonowitsch.

»Also, mein junger Freund?«

»Was meinen Sie?«

»Was sagen Sie zu meinem Benehmen auf der Straße?«

»Was ich zu Ihrem Benehmen auf der Straße sage? Ach was? . . . Ich weiß wirklich nicht . . .«

»Trinken wir noch eins?«

»Ja, wir trinken noch eins . . .«


Vor ihm glänzte das prickelnde Gift; um sich in ruhigere Verfassung zu versetzen, legte er sich auf den Teller etwas von dem welken Gemüse, das ihnen angeboten wurde; nun stand er so mit dem voll gefüllten Glas, während Pawel Jakowlewitsch geschäftig bemüht war, mit der Gabel einen glitschrigen Pilz zu erwischen; nachdem er endlich diesen glitschrigen Pilz erwischt hatte, wandte er sich wieder Nikolai Apollonowitsch zu (auf seinem Schnurrbart blieben Fädchen vom Gemüse hängen). . .

»Nicht wahr, das hat seltsam ausgesehen?«

So stand er einmal (denn das alles — war schon früher einmal gewesen) . . .

Die Gläser stießen laut aneinander; genau so hatten die Gläser aneinander gestoßen . . . Wo? Wann?

Nikolai Apollonowitsch suchte sich zu erinnern. Doch er konnte sich nicht erinnern.

»Dort, neben dem Zaun . . . Nein, Herr Wirt, keine Sardinen: die schwimmen ja in einem gelben Schleim.«

»Wissen Sie, Pawel Jakowlewitsch, ich erwarte von Ihnen eine Aufklärung . . .«

»Meines Verhaltens?«

»Jawohl, Ihres Verhaltens . . .«

»Ich werde es erklären . . .«

Wieder glänzte das prickelnde Gift: Nikolai Apollonowitsch fühlte, wie er berauscht wurde — alles begann sich um ihn zu drehen; gespensterhafter schimmerte vor ihm die Schankstube, noch blauer schien der Seemann, riesenhafter der Riese; sein Schatten verteilte sich an den Wänden und schien wie mit einer Krone geschmückt.

»Trinken wir also noch ein drittes Gläschen?«

»Jawohl, trinken wir ein drittes . . .«


»Also, was haben Sie zu dem Gespräch am Zaun hinzuzusetzen?«

»Über den Domino?«

»Na ja, natürlich . . .«

Voll Ekel wollte Nikolai Apollonowitsch den wenig appetitlichen Lippen des Herrn Morkowin ausweichen, doch er überwand sich. Und nachdem er das Schmatzen zweier Lippen auf seinen Lippen gefühlt hatte, hob er seine Augen zur Decke, mit der Hand eine Locke von der hohen Stirn wegstreichend, und seine Lippen verzogen sich in ein unnatürliches Lächeln und zuckten und zitterten angestrengt (so zucken unnatürlich die Beinchen der gemarterten Frösche, wenn an sie die Enden der elektrischen Drähte angesetzt werden).

»Gestehen Sie — es ist ein ganz absurder Gedanke: Sie wären der Domino . . . Hi—hi—hi: wie konnte man auf einen solchen Gedanken nur kommen — he? Sagen Sie bloß? Ich sagte mir: He, Pawel, das ist nur so ein kurioser Einfall; und dazu noch neben dem Zaun, beim Verrichten eines sozusagen menschlichen Bedürfnisses . . . Domino! . . . Es war einfach nur ein Anlaß für die Bekanntschaft, mein Lieber.«

Sie verließen den Schanktisch und drängten sich zwischen den Tischen durch. Und wieder brüllte das Orchestrion wie zehn kreischende Blashörner, die ihre ohrenzerreißenden Töne in den Qualm hinausstoßen; an den Ohren sich brechend, erhob sich das Gebimmel eines ganzen Schwarms von Glöckchen.

»Kellner! Eine saubere Tischdecke! . . .«

»Und Wodka . . .«

»Nun sind wir mit dem Domino fertig. Und jetzt, mein Lieber, gehen wir zum anderen, uns miteinander verbindenden Pünktchen über . . .«


Beide stützten die Ellbogen auf das Tischchen. Nikolai Apollonowitsch fühlte seinen Rausch (vor Müdigkeit wahrscheinlich).

»Ja — ja — ja: es ist ein seltsamer, kurioser Punkt . . . Schön: geben Sie mir Nierenbraten mit Madeira; und Ihnen . . . auch Nierenbraten?«

»Was ist das nur für ein Punkt?«

»Kellner, zwei Portionen Nierenbraten . . . Nun also — ich muß Ihnen sagen: die Bande, die uns aneinander knüpfen — diese Bande — es sind heilige Bande . . .«

»?«

»Es sind Bande des Blutes . . .«

In diesem Augenblick wurde der Nierenbraten gebracht.

»Ach, denken Sie ja nicht, daß jene Bande . . . — bitte Salz, Pfeffer, Senf! — etwa mit Blutvergießen in Zusammenhang stehen . . . Aber warum zittern Sie, mein Lieber? Sieh mal einer her: wie er rot wurde, wie er aufflammte: rein wie ein junges Mädel! Wünschen Sie Senf? Da ist Pfeffer.«

»Was sagten Sie?«

»Ich sagte: da ist der Pfeffer . . .«

»Vom Blute . . .«

»Ah? Von den Banden? Unter den Banden des Blutes verstehe ich die Bande der Verwandtschaft.«

»Verzeihen Sie, ich glaube Sie nicht recht verstanden zu haben: Was verstehen Sie unter Verwandtschaft?«

»Ich bin ja, Nikolai Apollonowitsch, ein Bruder von Ihnen.«

»Wie, ein Bruder?«

»Ein morganatischer natürlich, denn ich bin das Resultat einer unglücklichen Liebe zwischen Ihrem Vater und — einer im Hause lebenden Weißnäherin . . .«

Wahnsinn!

Das hatte er früher einmal schon erlebt.

»Und nun wollen wir zu Ehren unserer Begegnung als Verwandte noch ein Gläschen trinken.«

Verzweifelt, qualvoll dröhnte es in dem wildgewordenen Orchestrion, heulend und wie die Tanztrommel schlagend, festigten und breiteten sich die Töne und ergossen sich jammernd aus den vergoldeten Trichtern in den Saal.


»Sie wollten sagen, daß mein Vater . . .«

»A—a—a: die Schulter! Wie die Schulter zuckt!« unterbrach ihn Pawel Jakowlewitsch. »Wissen Sie, warum sie gezuckt hat?«

»Warum?«

»Weil die Verwandtschaft mit einem solchen Subjekt, Sie, Nikolai Apollonowitsch, gewissermaßen verletzt . . . Dann haben Sie aber auch wieder etwas Mut gewonnen.«

»Mut gewonnen? Weswegen sollte ich den Mut verloren haben?«

»Ha—ha—ha« — Pawel Jakowlewitsch hörte ihm nicht zu — »Sie haben Mut gewonnen, weil Ihrer Meinung nach . . . — Noch ein Stück vom Braten?«

»Danke . . .«

. . . »Meine ausfallende Neugierde und unser Gespräch neben dem Zaun sich in einfacher Weise erklärten.«

Nikolai Apollonowitsch kniff die Augen zusammen, während seine Finger auf dem Tisch trommelten.

»Jetzt aber bin ich genötigt, Sie freudig und traurig zugleich zu stimmen . . . Sie entschuldigen mich: bei einer neuen Bekanntschaft mach’ ich es immer so; es bleibt mir nur noch übrig, Ihnen zu sagen, daß wir wohl Brüder sind, aber von verschiedenen Eltern . . .«

»Inwiefern sind wir dann Brüder?«

»Den Überzeugungen nach . . .«

»Was wissen Sie von meinen Überzeugungen?«

»Sie sind ein fest überzeugter Terrorist, Nikolai Apollonowitsch.«

»Ha—ha—ha!« Nikolai Apollonowitsch warf sich auf seinen schäbigen Stuhl zurück. »Ha—ha—ha—ha . . .«

»Hi—hi—hi!« echote Morkowin.

»Ich werde Ihnen was sagen« — Nikolai Apollonowitsch wurde ganz ernst und tat, als hätte er mit Mühe den Lachanfall überwunden (er hatte nur künstlich gelacht), »Sie irren sich, denn ich verhalte mich dem Terror gegenüber ganz negativ; doch abgesehen von all dem: woher nehmen Sie es an?«

»Aber gestatten Sie, Nikolai Apollonowitsch! Ich bin ja über alles, was Sie betrifft, unterrichtet: über das Paket, über Alexander Iwanowitsch Dudkin, über Sofja Petrowna . . .«


»Ich weiß alles, erstens dank meiner persönlichen Neugierde, dann aber, weil es meine dienstliche Pflicht von mit fordert . . .«

»Sie stehen im Dienst? . . .«

»Ja, der Polizei . . .«

»Der Polizei?«

»Mein Lieber, warum faßten Sie sich an die Brust, als läge dort ein sehr gefährliches und sehr diskretes Dokument. . . Ein Gläschen!«

Rettungslos verloren

Mit ganz neuem, schuldbewußtem Lächeln zog Nikolai Apollonowitsch aus seiner Seitentasche ein Notizbüchlein heraus.

»A—a—a—a—! Wollen Sie mir gefälligst dieses Büchlein . . . zur Durchsicht geben . . .«

Nikolai Apollonowitsch wehrte nicht; er fuhr fort, mit demselben schuldbewußten Lächeln dazusitzen.

Pawel Jakowlewitsch beugte sich über das Büchlein; sein über den Tischrand sich erhebender Kopf schien nicht am Halse, sondern an den zwei Händen befestigt zu sein; einen Augenblick lang sah er wie ein wirkliches Ungetüm aus: Nikolai Apollonowitsch sah in diesem Augenblick vor sich einen scheußlichen Kopf mit zwinkernden Äuglein, die Haare — wie Wolle, die man einem Hunde ausgekämmt hatte; mit widerlicher Lachmiene ließ er seine zehn mit gelben Hautfalten überzogenen, hüpfenden Finger über die Blätter laufen: wie ein riesenhaftes Insekt sahen sie aus, wie eine zehnbeinige Spinne, deren Pfoten über knisterndes Papier liefen.

Pawel Jakowlewitsch wollte jedoch Ableuchow bloß erschrecken; es war nur ein netter Scherz gewesen; mit demselben widerlichen Lachen warf er das Büchlein Ableuchow über den Tisch zurück.

»Ich bitte; warum eigentlich diese übergroße Zuvorkommenheit . . . Ich habe ja gar nicht vor, Sie etwa ins Verhör zu nehmen . . . Ängstigen Sie sich doch nicht, Liebster: ich bin ja bei der Polizei — in direktem Auftrage der Partei tätig . . . Es war gar nicht nötig, daß Sie sich so aufregten, Nikolai Apollonowitsch, wahrhaftig nicht . . . Wäre ich wirklich ein Polizeibeamter, Sie wären jetzt sicher verhaftet; denn Ihre Geste, die war, wissen Sie, sehr bemerkenswert; erst faßten Sie sich an die Brust mit so erschrecktem Gesichtsausdruck, als befände sich bei Ihnen ein Dokument . . . Wenn Sie in Zukunft auf einen Spitzel geraten, wiederholen Sie nicht diese Geste, diese würde Sie verraten . . . Einverstanden? . . . Dann aber erlaube ich mir, Sie auf einen anderen Fehler, den Sie begangen haben, aufmerksam zu machen: Sie zogen ein harmloses Büchlein aus der Tasche hervor in einem Augenblick, wo es von Ihnen noch gar nicht gewünscht wurde; Sie nahmen das Büchlein heraus, um die Aufmerksamkeit von etwas anderem abzulenken . . .«


»Was bedeutet diese Tortur? Wenn Sie wirklich das sind, wofür Sie sich ausgeben, — He, Kellner, zahlen! — ist Ihr ganzes Benehmen, sind alle Ihre Grimassen — unwürdig.«

Beide erhoben sich.

In den weißen, stinkenden Dampfwolken, die aus der Küche herüberdrangen, stand Nikolai Apollonowitsch — blaß, weiß und wutschnaubend, den roten Mund ohne jegliches Lächeln weit auseinandergezogen, umgeben vom Kranz seiner hell-hellen, flachsnebligen Haare; wie ein von Hunden müde gejagtes Tier; die Zähne fletschend, wandte er sich verächtlich gegen Morkowin, nachdem er dem Kellner ein Halbrubelstück zugeworfen hatte.

Das Orchestrion spielte nicht mehr; die Nachbartische waren schon längst leer und das Zwittergeschlecht hatte sich in den Straßen der Wassiljewskij-Insel verzogen; auf einmal wurde das elektrische Licht überall ausgelöscht; das gelbrote Licht einer Kerze durchzog die tote Leere; im Halbdunkel zerrannen die Wände; von einem Tischchen erhob sich der fünfundvierzigjährige Seemann; einen Augenblick lang sprühten seine Augen grüne Funken um sich; dann verschwand er im Dunkel.

Mit Zwischenpausen sagte Pawel Jakowlewitsch:

»Lassen Sie es nur sein: mir ist es genau so peinlich wie Ihnen.«

»Und wozu das Versteckenspiel, Genosse . . .«

»Ich kam hierher nicht der Scherze wegen . . .«

»Haben wir uns nicht verabreden wollen? . . .«


». . . nun ja: über den Tag, an dem Sie Ihr Versprechen einzulösen gedenken . . .«

Mit ernstem Blick auf Ableuchow fügte er voll Würde hinzu:

»Die Partei erwartet Ihre unverzügliche Antwort, Nikolai Apollonowitsch.«

Nikolai Apollonowitsch stieg schweigend die Treppe hinunter.

Die Restauranttür schlug hinter ihm zu.

Die vieläugigen, hohen Laternen, vom Winde gezerrt, hüpften in seltsamen Lichtgestalten, indem sie sich für die lange Petersburger Nacht bereit hielten.

»Na, und wenn ich den Auftrag ablehne?«

»Dann verhafte ich Sie . . .«

»Sie? mich? verhaften?«

»Bitte nicht zu vergessen, daß ich . . .«

»Daß Sie ein Konspirator sind?«

»Daß ich Polizeibeamter bin; als Polizeibeamter verhafte ich Sie . . .«

»Was wird die Partei dazu sagen?«

»Die Partei wird mir recht geben.«

»Und wenn ich Sie anzeige?«

»Versuchen Sie es . . .«

Auf der großen eisernen Brücke sah sich Nikolai Apollonowitsch um: niemand, nichts . . . die nasse Brüstung, das grünliche, von Bazillen wimmelnde Wasser, die kalten, weinerlich summenden Newawinde; hier an dieser Stelle hatte er vor zweieinhalb Monaten sein furchtbares Versprechen gegeben. Er stand an der Newa und sah mit dumpfem Blick in das Grün der Tiefe — oder nein: sein Blick flog dorthin, wo ganz tief unten die Ufer kauerten; dann ging er mit raschen, ungelenken Schritten weiter.

Ein phosphoreszierender Fleck sauste, vom Nebel umschleiert, in wildem Flug dahin; mit phosphoreszierendem Leuchten breitete sich die Ferne über die Newa dahin. Hinter der Newa erhoben sich jetzt die Riesenhäuser der Inseln, die mit flimmernden Augen in den Nebel blickten. Oben in der Höhe spreizte eine schattenhafte Gestalt wild ihre klumpigen Hände; eine Schar nach der anderen.

Vollständig leer war der Kai.

Mit besonderer Neugierde starrte nun Nikolai Apollonowitsch die Riesengestalt des kupfernen Reiters an.

Plötzlich teilten sich die Wolken, und ein grünlicher Rauchschleier überzog sie im Mondlicht wie geschmolzenes Kupfer . . . Einen Augenblick lang stand alles in Flammen: das Wasser, die Dächer, der Granit; das Gesicht des Reiters blitzte auf, und sein kupferner Lorbeerkranz glänzte; und er streckte befehlend die vielhundertzentnerschweren Hände direkt gegen Nikolai Apollonowitsch.

Lachend lief Nikolai Apollonowitsch von dem kupfernen Reiter fort:

»Ja, ja, ja . . .«

»Ich weiß, ich weiß . . .«

»Unrettbar verloren . . .«


. . . Es hieß sofort etwas beginnen, ohne Zeit zu verlieren — doch was? War es nicht er, war es nicht er selbst, der von dem Wahnsinn des Mitleids so oft gepredigt hatte? War es nicht er, der von seiner Verachtung gegen die Adeligen, gegen die greisen adeligen Ohren, den vogelhaft langgezogenen Hals . . .

Endlich stieß er auf eine verspätete Droschke: die vierstöckigen Häuser fuhren — sausten nun an ihm vorbei.

Das Admiralitätsgebäude schob seine achtsäulige Ecke vor; es schimmerte eine Weile mit seiner rosigen Farbe und verschwand; ein weiß-schwarz gestreiftes Schilderhäuschen lief nach links vorbei; in seinem grauen Mantel schritt dort ein alter Pawlowscher Grenadier auf und ab.

Da sah plötzlich Nikolai Apollonowitsch eine kleine, ausgemergelte Gestalt, die sich mit eiligen, verspäteten Schritten wie hüpfend auf dem Trottoir bewegte; diese trockene, winzige Gestalt . . . in dieser trockenen Gestalt . . . er erkannte diese trockene Gestalt: es war Apollon Apollonowitsch.

Apollon Apollonowitsch, der den Backfisch nach Hause gebracht hatte, eilte jetzt zur Schwelle des gelben Hauses.

Apollon Apollonowitsch hörte hinter seinem Rücken das Poltern der Droschke; der alte rasierte Kopf drehte sich in diese Richtung; als die Droschke den Senator einholte, sah der Senator: dort auf dem Sitz lauerte gekrümmt ein ältlich, krüppelhaft aussehender Jüngling, in unangenehmster Weise in seinen Mantel vollständig gehüllt.

Und es schien ihm, daß sich die Augen des unangenehmen Jünglings bei seinem Anblick zu weiten begannen . . . ja, ja, ja: sie hatten denselben Blick und weiteten sich mit demselben Glanz; aber schon hatte ihn der Wagen überholt und hüpfte mit zudringlichem Gepolter über die Steine dahin, während hinten die weiße Nummer schimmerte: 1095.

Nikolai Apollonowitsch sprang aus der Droschke und lief eilig gegen das Portal des gelben Hauses.

Nikolai Apollonowitsch zog aus aller Kraft an der Glocke; auf beiden Seiten des Portals befanden sich Greife mit aufgerissenen Rachen, jetzt rosig von der Morgenröte, mit ihren Krallen die Stange festhaltend, von der aus an gewissen Kalendertagen die rotweißblaue Flagge über die Newa flatterte; und unter den Greifen erblickte Nikolai Apollonowitsch das Wappen: einen federgeschmückten Ritter mit Rokokolocken, von einem Einhorn durchbohrt. Dieses alte Wappen gehörte den Ableuchows; aber auch er, Nikolai Apollonowitsch, war durchbohrt — doch von wem? Von wem?

Und dort, dort auf dem Trottoir sah er im Nebel — jene kleine, trockene Gestalt, in der . . . die . . . — Apollon Apollonowitsch, der Vater, sah aus — wie der Tod in einem Zylinderhut.

Inzwischen kam die kleine Gestalt näher; Nikolai Apollonowitsch wurde, wie immer, ganz verwirrt.

Apollon Apollonowitsch sah nun: sein Sohn, greisenhaft und sonderbar bös aussehend, lief rasch die Stufen des Portals hinunter und kam eilig und schuldbewußt, mit zwinkerndem, ausweichendem Blick dem Vater entgegen.

»Guten Morgen, Vater . . .«

Schweigen.

»So eine unerwartete Begegnung: ich komme nämlich von Zukatows.«

»So — so: guten Morgen, Kolenka . . .«

Die Flügeltür flog auf, der ihnen wohlbekannte Geruch ihrer Wohnung schlug den beiden Ableuchows entgegen.

Die eine Seite etwas vorschiebend, schritt jeder von ihnen rasch durch die Tür.

Rot wie Feuer

Beide wußten, daß ihnen ein Gespräch miteinander bevorstand; dieses Gespräch war schon in all den vielen Jahren des Schweigens gereift; Apollon Apollonowitsch übergab dem wartenden Lakai Zylinder, Mantel und Handschuhe, doch hielt er sich sonderbarerweise mit den Gummischuhen lange auf; armer, armer Senator: wußte er denn, daß es gerade sein Sohn, Nikolai Apollonowitsch, war, der mit jenem Auftrage betraut war? Ebensowenig konnte Nikolai Apollonowitsch vermuten, daß sein Vater die Geschichte mit dem roten Domino genau kannte. Beide atmeten den wohlbekannten Geruch ihrer Wohnung ein; der silberschimmernde weiche Biber fiel auf die Hände des Dieners; in seinem Domino erschien nun Nikolai Apollonowitsch vor dem Vater.

»Ah . . . ah . . . Ein roter Domino? . . . Sieh mal her!«

»Ich war maskiert . . .«

»So—o . . . Kolenka . . . so—o . . .«

Als er seinen Sohn erröten sah, wurde er selbst rosig, und um dies zu verbergen lief er mit koketter Grazie die Treppe zum Vestibül zur Wohnung hinauf.

Nikolai Apollonowitsch blieb allein auf den Stufen der samtbelegten Treppe zurück, versunken in tiefes Nachdenken; doch die Stimme des Lakaien unterbrach seinen Gedankengang.

»Väterchen! . . . Dieses schäbige Gedächtnis! . . . Gnädiger Herr, lieber gnädiger Herr: es ist ja etwas vorgefallen! . . .«

»Was ist vorgefallen?«

»Etwas — etwas . . . Ich wage es kaum zu sagen . . .«

Auf den Stufen der grauen, mit Samt belegten Treppe hielt nun Nikolai Apollonowitsch inne; durch das Fenster drang purpurnes Licht herein und bildete auf dem Boden ein Netz aus hellen Flecken.

»Es ist so etwas! Ja, also: unsere gnädige Frau . . .«

»Unsere gnädige Frau, Anna Petrowna . . .«

». . . ist zurückgekehrt!!«


»Wer ist zurückgekehrt?«

»Anna Petrowna! . . .«

»Wer ist denn das? . . .«

»Wieso — wer? . . . Ihre Frau Mutter . . . Wie sprechen Sie doch nur, lieber gnädiger Herr, als wären Sie ein Fremder: es ist doch Ihre Mutter . . .«

»?«

»Die gnädige Frau ist aus Hispanien nach Petersburg zurückgekehrt . . .«


»Die gnädige Frau schickte erst einen Brief durch einen Boten: sie wäre in einem Hotel abgestiegen . . . Denn das läßt sich denken . . . Die Lage der gnädigen Frau ist eine solche . . .«

»?«

»Kaum waren Seine Exzellenz, Apollon Apollonowitsch, ausgefahren, als plötzlich — ein Bote, mit einem Brief . . . Na, den Brief legte ich auf den Schreibtisch hin, und dem Boten gab ich ein Zwanzigkopekenstück . . .«

»Aber kaum war eine Stunde danach vergangen — als . . . du meine Güte! Da erscheint die gnädige Frau selbst . . . Sie hat jedenfalls ganz sicher gewußt, daß niemand zu Hause war . . .«


»Es läutete also . . . Ich mach’ die Tür auf . . . Vor mir steht eine fremde Dame, eine sehr würdige Dame; nur einfach gekleidet und — ganz in Schwarz . . . Ich sage nun: ‚Sie wünschen, Gnädige?‘ Und die Dame zu mir: ‚Aber erkennst du mich denn nicht, Mitri Ssemjonytsch?‘ — Da habe ich rasch ihr Händchen geküßt: ‚Mütterchen, Anna Petrowna . . .‘«


»Und Anna Petrowna — Gott schenk’ ihr Gesundheit — sah so, sah mich so an . . . Sie sah mich an — und brach in Tränen aus: ‚Ich will sehen, wie ihr da ohne mich lebt‘ . . . Das Taschentüchlein hat sie aus dem Täschchen gezogen . . .«

»Ich hatte allerdings strengen Auftrag bekommen, nichts reinzulassen . . . Aber ich hab’ unsere gnädige Frau doch reingelassen . . . Und sie . . .«

Der Greis machte große Augen; mit weitgeöffnetem Munde blieb er stehen und dachte bei sich, daß die Herrschaften im lackierten Haus wohl schon längst den Verstand verloren hatten: statt Freude, Verwunderung oder Bedauern zu äußern — rannte Nikolai Apollonowitsch ganz einfach, ohne ein Wort zu sagen, die Treppen hinauf, so daß die roten Atlasenden seines Dominos wunderlich in der Luft flatterten.


Ein schlechtes Zeichen

In den Zimmern blitzte schon die Sonne; die Inkrustation an den Tischen schoß ihre Strahlen in die Luft, und die Spiegel glänzten freudig; ja, sie lachten, die Spiegel, denn aus dem ersten von ihnen, der im Salon hing, vom Saal aber zu sehen war, blickte ein weißes, wie mit Mehl bestäubtes Gesicht; das war Nikolai Apollonowitsch, der unbeabsichtigterweise in den Salon hineinrannte, hier aber wie angewurzelt stehenblieb . . .

Nikolai Apollonowitsch sah nun, daß sein Vater ihn hier erwartete.

Statt des Sohnes erblickte Apollon Apollonowitsch im Spiegel eine einfache rote Marionettenpuppe; beim Anblick dieser Marionettenpuppe ging ihm der Atem aus; die rote Puppe aber blieb in der Mitte des Saals verlegen stehen . . .

Da näherte sich Apollon Apollonowitsch, unerwartet für sich selbst, der Tür und schloß sie; der Rückzug war abgeschnitten. Das Begonnene mußte erledigt werden. Das Gespräch über das sonderbare Verhalten des Sohnes betrachtete Apollon Apollonowitsch als einen schweren chirurgischen Eingriff. Wie der Chirurg zum Tischchen eilt, auf dem die Messer, Zangen, Feilen zurechtgelegt sind, so trat Apollon Apollonowitsch, sich die gelben Finger reibend, dicht an Nikolai heran; er suchte den ausweichenden Blick aufzufangen, nahm mechanisch das Brillenetui aus der Tasche, drehte es zwischen den Fingern eine Weile und steckte es wieder ein; er hüstelte behutsam, schwieg einen Augenblick und sagte:

»So — so: ein Domino.«

Zugleich ging ihm durch den Kopf, daß dieser scheue Jüngling da, dessen grinsender Mund bis zu den Ohren reichte, der es nicht zustande brachte, einem gerade ins Gesicht zu sehen — daß dieser scheue Jüngling und der Petersburger Domino, von dem die judäische Presse voll war — ein und dieselbe Person war; daß er selbst, Apollon Apollonowitsch, die erstklassige Persönlichkeit und Träger alten Adels, daß er selbst diesen Jüngling gezeugt hatte; in demselben Augenblick sagte Nikolai Apollonowitsch etwas verlegen:

»Ja . . . es waren eben viele in Masken . . . da hab’ auch ich mir . . . diesen Maskenanzug . . .«

Zugleich ging es Nikolai Apollonowitsch durch den Kopf, daß dieses zwei Arschin lange Körperchen seines Vaters, mit einem Umfang von höchstens zwölfeinhalb Werschok, das Zentrum und den Kreis eines unsterblichen Zentrums bilde: des darin sitzenden »Ich«; daß aber ein Ziegelstein, der sich irgendwo zufällig gelöst hatte, dieses Zentrum vernichten kann, vollständig vernichten. Vielleicht unter dem Einfluß dieses sich auf ihn übertragenen Gedankens lief Apollon Apollonowitsch eilig zum allerentferntesten Tischchen und begann darauf mit zwei Fingern zu trommeln. Inzwischen trat Nikolai Apollonowitsch mit schuldbewußtem Lächeln näher:

»Es war, weißt du, sehr lustig . . . Wir tanzten, weißt du . . .«

Zugleich aber dachte er: Haut, Knochen und Blut, kein einziger Muskel; aber dieses Hindernis — Haut, Knochen und Blut — muß durch den Willen des Schicksals in Stücke zerrissen werden . . .

»Dann weißt du, haben wir Petit jeu gespielt.«

Apollon Apollonowitsch sah fest dem Sohn ins Gesicht und antwortete nichts . . . Apollon Apollonowitsch erinnerte sich: einst war diese fremde Marionettenpuppe ein kleines Körperchen; dieses Körperchen hatte er mit väterlicher Zärtlichkeit auf den Armen getragen; der blonde kleine Knabe hatte sich eine Papiermütze aufgesetzt und war ihm auf den Nacken gestiegen. Apollon Apollonowitsch hatte mit etwas heiserer und zerrissener Stimme gesungen:

»Kolenka, der dumme Tropf,

Hüpft und tanzet immer;

Mit der Mütze auf dem Kopf

Reitet er durchs Zimmer.«

Jetzt aber, jetzt? Nicht ein Körperchen sah Apollon Apollonowitsch vor sich, sondern einen Körper, und dieser Körper — war groß und fremd . . . War er fremd? War er . . .?

Apollon Apollonowitsch, begann durchs Zimmer zu zirkulieren, auf und ab:

»Siehst du, Kolenka . . .«

Apollon Apollonowitsch ließ sich in einen weichen Lehnstuhl nieder.

»Ich muß, Kolenka . . . das heißt, nicht ich muß, sondern — wie ich hoffe — wir müssen . . . miteinander sprechen: hast du jetzt die nötige Zeit dazu? Die Sache, die mich aufregt, besteht darin . . .«

Apollon Apollonowitsch stockte, er lief wieder zum Spiegel (in diesem Augenblick schlug die Turmuhr), und Nikolai Apollonowitsch erblickte im Spiegel den Tod im Gehrock, sah einen vorwurfsvoll auf sich gerichteten Blick, hörte, wie Finger trommelten; da sprang mit lautem Lachen der Spiegel: wie ein Blitz durchschnitt ihn eine schräge Nadel mit lautem Knistern und blieb für immer im Glas wie ein Silberzickzack stecken.

Apollon Apollonowitsch warf einen Blick auf den Spiegel, und der Spiegel sprang; Abergläubische würden gesagt haben:

»Es ist ein böses, ein böses Zeichen . . .«

Geschehen, fertig: das Gespräch war nun unausbleiblich.

Mit allen Mitteln hatte Nikolai Apollonowitsch sich bemüht, die Auseinandersetzung hinauszuschieben; und gerade jetzt erschien sie ihm überhaupt überflüssig: alles hätte sich ja von selbst bald geklärt. Nikolai Apollonowitsch bedauerte, daß er nicht rechtzeitig aus dem Salon entwichen war (wie viele Stunden die Agonie schon dauerte: und unter dem Herzen schwoll ihm etwas, schwoll, schwoll); doch zugleich mit dem Schrecken empfand er eine seltsame Wollust: er konnte sich von seinem Vater nicht losreißen.

»Ja, Vater, ich habe, aufrichtig gesagt, diese Auseinandersetzung erwartet.«

»Ah, du hast sie erwartet?«

»Ja, ich habe sie erwartet.«

»Hast du jetzt Zeit?«

»Ja, ich bin frei.«

»Dann, Kolenka, geh in dein Zimmer und sammle erst deine Gedanken. Entdeckst du in dir etwas, was wir zusammen besprechen können, dann komm in mein Arbeitszimmer.«

»Jawohl, Vater . . .«

»Apropos: leg’ diese Jahrmarktsfetzen ab . . . Aufrichtig gesagt, mir mißfällt das alles in höchstem Grade . . .«

»?«

»Ja, es mißfällt mir sehr! Es mißfällt mir in höchstem Grade!«

Die Tür fiel ins Schloß.


Nikolai Apollonowitsch blieb neben dem Tischchen stehen; sein Blick hüpfte über die Blätter der Bronze-Inkrustation, über die Nippsachen und die kleinen Etageren an der Wand. Ja, hier hatte er gespielt: hier war er oft lange gesessen — in dem Lehnstuhl mit den kleinen Girlanden auf dem blaßblauen Atlasbezug; und wie jetzt hing auch damals die Kopie vom Bilde Davids: »Distribution des aigles par Napoléon premier«. Das Bild stellte den großen Kaiser im Purpurmantel und mit einem Kranz auf dem Haupt dar, wie er den Arm gegen die Marschallversammlung ausstreckte.

Was wird er seinem Vater sagen? Wieder in qualvoller Weise lügen? Lügen, wo das Lügen schon nicht mehr nützt? Lügen, wo seine Situation jede Lüge eigentlich ausschließt? Lügen . . . Nikolai Apollonowitsch erinnerte sich, wie er in den fernen Kinderjahren gelogen hatte.

Da ist das Klavier, gelb, stilgemäß; es berührt kaum den Parkettboden mit seinen feinen Rollbeinchen. Hier pflegte die Mutter, Anna Petrowna, zu sitzen, die alten Beethoventöne erschütterten die Wände: das unendlich Alte, das in Tönen rann, rief in seinem kindlichen Herzen dieselbe Sehnsucht hervor wie der verblassende Mond, der erst rot auftauchend, immer höher über die Stadt seine blaßgelbe Trauer trägt . . .

Muß er nicht schon gehn, um mit dem Vater zu sprechen?

In diesem Augenblick sah die Sonne in das Zimmer herein; die Sonne, die leuchtende Sonne warf von oben ihre lanzenartigen Lichter; der goldene tausendarmige Titan der uralten Zeiten überzog die Leere mit seinen leuchtenden Vorhängen und beleuchtete die Turmspitzen, die Dächer, die Wässer und die Steine und die an die Fensterscheibe gedrückte, göttlich-blasse Sklerosestirn; der goldene tausendhändige Titan jammerte dort still über seine Einsamkeit: »Kommt, kommt zu mir, zur alten Sonne!«

Ihm aber schien die Sonne eine riesige, tausendbeinige Tarantel, die in wahnsinniger Leidenschaft die Erde überfällt . . .

Und unwillkürlich schloß Nikolai Apollonowitsch die Augen; da alles plötzlich aufblitzte: der Lampenschirm blitzte auf; der Lampenzylinder wurde von Amethysten übersät; Funken strahlten auf den Flügeln des goldenen Amors; die Oberfläche des Spiegels blitzte auf — ja, der Spiegel, der hat einen Sprung bekommen.

Abergläubische würden gesagt haben:

»Ein böses Zeichen, ein böses Zeichen . . .«

In all dem Hellen und Blitzenden zeichnete sich plötzlich eine dunkle Gestalt vor Nikolai Apollonowitsch; in all das Stumme hüpfte plötzlich ein eindringliches Flüstern hinein:

»Und wie soll es nun . . . soll es nun . . .?«

Nikolai Apollonowitsch hob sein Antlitz . . .

»Wie soll es nun mit . . . der gnädigen Frau?«

Vor sich erblickte er den Diener Ssemjonytsch.

Alles Alte kehrt wieder zurück . . . Nein: das Alte kehrt nie wieder.

Alles, alles, alles: das Blitzen der Sonne, die Wände, der Körper, die Seele — alles wird verschwinden; schon jetzt schwindet alles; und dann: ein Delirium, ein Abgrund, eine Bombe.

In der Kindheit hatte Kolenka oft phantasiert; nachts begann oft ein elastisches Kügelchen vor ihm zu hüpfen; das Kügelchen schien bald aus Gummi zu sein, bald aus einem Stoff aus anderen Welten; den Boden berührend, gab es einen sonderbaren lackierten Laut von sich: »pépp — pepépp« und wieder: »pépp — pepépp«. Plötzlich blähte sich das Kügelchen in erschreckender Weise auf und nahm deutlich die Gestalt eines kugeligen dicken Herrn an; dieser dicke Herr, der zu einer langweiligen Kugel geworden war, blähte sich immer mehr auf, immer mehr, immer mehr, so daß er zu zerplatzen drohte.

Und während er sich dehnte und zu einer Kugel wurde, um dann zu zerspringen, hüpfte er, wurde rot, sprang in die Luft und ließ einen leisen lackierten Laut hören:

»Pépp . . .«

»Péppowitsch . . .«

»Pépp . . .«

Und er sprang auseinander.

Im vollständigen Delirium begann dann Nikolenka seltsame, sinnlose Dinge zu schreien.

»Pépp, Péppowitsch, Pépp . . .«

»Was ist das? Fieberphantasien?«

Nikolai Apollonowitsch drückte seine kalten Finger an die Stirn: es wird — ein Delirium, ein Abgrund, eine Bombe . . .

Bleistiftpäckchen

Das Arbeitszimmer des Senators war äußerst einfach; in der Mitte erhob sich natürlich ein Tisch; das war aber nicht das Wichtigste; viel wichtiger waren die Schränke, die an allen Wänden standen; auf dem Tische aber vorn lag ein Lehrbuch der Planimetrie.

Vor dem Schlafengehen schlug Apollon Apollonowitsch gewöhnlich dieses Buch auf, um das ungefügige Leben dem Schlaf unterzuordnen und es im Kopfe zu beruhigen durch Betrachtung der beseligenden Zeichnungen: der Parallelepipede, Parallelogramme, der Konuse, Kuben und Pyramiden.

Apollon Apollonowitsch ließ sich in einen schwarzen Lehnstuhl nieder, und hier saß er gerade gestreckt und wartete auf das Erscheinen seines nichtsnutzigen Sohnes.

Ein ängstlicher Seufzer ertönte hinter seinem Rücken; er sah sich um und erblickte den Diener Ssemjonytsch . . .

»Was ist los?!«

»Ich erlaube mir, es Ihnen vorzubringen: unsere gnädige Frau . . . Anna Petrowna . . .«

Zornig kehrte Apollon Apollonowitsch dem Lakai sein riesiges Ohr zu . . .

»Was? Was ist los? . . . Sprechen Sie lauter, ich höre schlecht.«

Der zitternde Ssemjonytsch neigte sich ganz zum blaßgrünen Ohr des Senators hin, der ihn wartend ansah.

»Die gnädige Frau . . . Anna Petrowna . . . sind zurückgekehrt . . .«

»?« . . .

»Aus Hispanien — nach Petersburg . . .«


»So—o, so—o, sehr gut! . . .«


»Sie geruhten ein Briefchen durch den Boten zu schicken . . .«

»Sie sind im Hotel abgestiegen . . .«


Apollon Apollonowitsch legte eine Hand über die andere und saß vollständig ruhig und unbeweglich; es schien, als bewegten sich auch keine Gedanken in ihm: gleichgültig streiften seine Blicke über die Rücken der vielen Bücher, auf denen es goldig schimmerte: »Gesetzbuch des Russischen Reiches. Erster Band«. Dann weiter: »Zweiter Band«. Auf dem Tische lagen Papiere, schimmerte ein vergoldetes Tintenfaß, lagen verstreut Federhalter; auch lag dort ein Briefbeschwerer: ein Bäuerlein (der Untertan) mit einem Schnapsglas in der gehobenen Hand. Vor all den Sachen, vor den Federhaltern, vor den Papierhaufen saß Apollon Apollonowitsch mit gekreuzten Armen ohne jegliche Bewegung, ohne Zittern . . .


Apollon Apollonowitsch sagte nichts, er öffnete nur eine der Schubladen und nahm daraus ein Päckchen mit einem Dutzend Bleistiften heraus (sehr, sehr billiger); einige davon zog er hervor — und zwischen den Fingern des Senators knackten die zerbrochenen Stäbchen. In dieser Weise pflegte Apollon Apollonowitsch seine seelischen Schmerzen zu äußern: er brach Bleistifte auseinander, die zu diesem Zweck von ihm in der Schublade unter Buchstaben B sorgfältig aufbewahrt lagen.

»Gut, Sie können gehen . . .«


Trotz des Zerbrechens der Bleistifte gab er seine äußerliche Würde und Ruhe nicht auf, und niemand hätte es geglaubt, daß dieser steife Würdenträger kurz vorher, mühsam Atem holend und vor Rührung fast weinend, die Tochter einer Köchin durch den Schmutz nach Hause geleitet hatte.

Nachdem Ssemjonytsch sich entfernt hatte, warf Apollon Apollonowitsch die zerbrochenen Bleistifte in den Papierkorb und lehnte sich mit dem Kopf gegen den Sitz des schwarzen ledernen Lehnstuhls: das Greisengesichtchen verjüngte sich und er begann an seiner Krawatte zu zupfen, um sie in tadellose Ordnung zu bringen; er sprang jählings auf und begann durchs Zimmer zu schreiten: mit seiner kleinen Gestalt und den flatternden Bewegungen erinnerte Apollon Apollonowitsch lebhaft an seinen Sohn, ganz besonders an eine Photographie desselben von neunzehnhundertundvier.

Die Tür ging auf, an der Schwelle stand Nikolai Apollonowitsch, in der Studentenuniform, doch in Hausschuhen.

»Da bin ich, Vater . . .«

Der kahle Kopf wandte sich der Sonne zu; nach dem passenden Worte suchend, schnalzte er mit den Fingern:

»Siehst du, Kolenka . . .«, Apollon Apollonowitsch sprach jetzt nicht mehr von dem Domino (ach was, Domino!), er sprach von etwas ganz anderem.

»Siehst du, Kolenka, ich habe mit dir über etwas zu sprechen, wovon du sicher schon gehört haben wirst . . . Deine Mutter, Anna Petrowna, ist nun zurückgekehrt . . .«

Erst jetzt wurde es Nikolai Apollonowitsch vollständig klar, daß seine Mutter zurückgekehrt war.

»Anna Petrowna, mein Lieber, hat etwas begangen, was ich . . . was ich . . . schwer mit der nötigen Ruhe zu qualifizieren in der Lage bin . . .

Kurz, was sie begangen hatte, ist dir, hoffe ich, bekannt; ich vermied es bisher — das hast du wohl gemerkt — in deiner Gegenwart, mit Rücksicht auf deine natürlichen Gefühle, darüber zu sprechen . . .«

»Ich danke Ihnen, Vater: ich verstehe Sie . . .«

»Selbstredend . . .« — Apollon begann wieder in der Diagonalrichtung durchs Zimmer auf und ab zu laufen, zwei Finger in die Westentasche gesteckt: »Selbstredend: die Rückkehr deiner Mutter nach Petersburg ist für dich eine Überraschung.«

(Apollon Apollonowitsch sah dem Sohn gerade ins Gesicht, wobei er sich ein wenig auf die Zehenspitzen hob.)

»Eine vollständige . . .«

»Eine Überraschung für uns alle . . .«

»Wer hätte gedacht, daß Mama zurückkehrte . . .«

»Ich meine es auch: wer hätte es gedacht« — Apollon Apollonowitsch spreizte ratlos die Hände auseinander, hob die Achseln in die Höhe, machte vor dem Fußboden eine Verbeugung — »daß Anna Petrowna zurückkehren wird.« Und er begann wieder auf und ab zu laufen: »Diese Überraschung kann — wie du dir leicht denken kannst — mit einer Veränderung« (Apollon Apollonowitsch hob vielsagend einen Finger in die Luft, und seine Stimme dröhnte in tiefem Baß, als hielte er eine wuchtige Rede vor einer Versammlung) »unseres ganzen häuslichen Status quo; oder aber« (er wandte sich um): »alles bleibt beim alten.«

»Ja, ich denke es mir auch so . . .«

»Im ersten Falle: — bitte, willkommen . . .«

Apollon Apollonowitsch machte eine Verbeugung vor der Tür.

»Im anderen Falle« — Apollon Apollonowitsch begann ratlos mit den Augen zu zwinkern: — »wirst du sie selbstverständlich sehen, ich aber . . . ich . . . ich . . .«

Und Apollon Apollonowitsch richtete seine Augen auf den Sohn; die Augen waren traurig: die Augen eines zappelnden, gehetzten Rehs:

»Ich weiß wahrhaftig nicht, Kolenka, ich denke aber . . . Übrigens ist es mir so schwer, dir das zu erklären, besonders, wenn ich deine natürlichen Gefühle berücksichtige, die . . .«

Nikolai Apollonowitsch erbebte bei dem Blick, mit dem sich der Senator an ihn wandte, und — ganz merkwürdig: er fühlte plötzlich eine Aufwallung von — was glauben Sie? Liebe? — ja, Liebe zu diesem alten Despoten, der verurteilt war, in Stücke zerrissen zu werden.

Unter dem Einfluß dieses Gefühls machte er eine ruckhafte Bewegung in die Richtung seines Vaters: einen Augenblick noch, und er wäre vor seinem Vater niedergekniet, um ihm alles zu bekennen und ihn um Vergebung anzuflehen; aber der Alte, als er die Bewegung des Sohnes wahrgenommen hatte, zog wieder die Lippen fest zusammen, trippelte etwas eilig beiseite und begann mit einer Miene des Ekels mit den Händen zu fuchteln:

»Nein, nein, nein! Ich bitte Sie, es zu unterlassen . . . Ich weiß, was Sie wollen! . . . Sie haben mich gehört: bitte mich jetzt allein zu lassen.«

Zwei Finger klopften herrisch über den Tisch; die erhobene Hand zeigte auf die Tür:

»Sie halten mich zum besten; mein Herr, Sie sind nicht mein Sohn, mein Herr, Sie sind ein schrecklicher Schuft.«

Das alles sprach Apollon Apollonowitsch nicht, sondern schrie es heraus; unerwartet für ihn selbst brach es aus ihm hervor.

Pépp, Péppowitsch, Pépp

Nikolai Apollonowitsch rannte beinahe mit der Stirn gegen die Tür seines Zimmers; er drehte das elektrische Licht auf (Wozu? Die Sonne, ja, die Sonne blickte schon durch die Fenster) und lief in die Richtung seines Schreibtisches, wobei er unterwegs einen Stuhl zu Boden warf.

»Ah — ah — ah . . . Wo mag nur der Schlüssel sein?«

— — ?

— — !

»Ah! . . .«

»Na, also . . .«

»Schön . . .«

Ebenso wie sein Vater pflegte Nikolai Apollonowitsch mit sich selbst zu reden.

Und — ja: er wollte sich beeilen . . . Er bemühte sich, die widerspenstige Schublade herauszuziehen; er entnahm ihr einige mit Bändchen versehene Bündel mit Briefen; dann eine große Photographie; sein Blick streifte das Bild, und von diesem blickten ihm zwei Augen einer hübschen Frau entgegen — mit spöttischem Lächeln sahen sie ihn an; er schleuderte das Bild von sich; unter dem Bild befand sich das in ein Tuch gewickelte Paket; mit gemachter Gleichgültigkeit legte er es auf die Handfläche und prüfte sein Gewicht: es war etwas Schweres darin; er legte das Paket wieder rasch auf den Tisch.

Mit geschäftigen Bewegungen begann er nun, das Paket von dem Tuch, in das es gewickelt war, zu befreien. Sein Erstaunen war grenzenlos:

»Eine Bonbonniere . . .«

»Ah . . .«

»Ein Bändchen . . .«

»Nein, schau mal einer her . . .«

Wie sein Vater hatte Nikolai Apollonowitsch die Gewohnheit, mit sich selbst Gespräche zu führen.

Als er aber das Bändchen aufgeknüpft hatte, waren seine Hoffnungen zerschmettert (er hatte doch auf etwas gehofft), denn drin — in der mit einem rosa Bändchen zugeschnürten Bonbonniere — befand sich nicht Konfekt von Balé, sondern eine einfache Blechbüchse; sein Finger empfand in unangenehmster Weise die Kälte des Deckels.

Da bemerkte er zugleich den Uhrenmechanismus, der seitlich an der Büchse angebracht war: man brauchte nur den Schlüssel zu drehen, um den schwarzen Zeiger auf die vorgemerkte Stunde zu bringen.

Nikolai Apollonowitsch hatte eine dumpfe Überzeugung, die seine Schwäche und Charakterlosigkeit dokumentierte: er fühlte, daß er nie imstande war, diesen Schlüssel umzudrehen, denn es gab kein Mittel, den einmal in Bewegung gesetzten Mechanismus zum Stillstand zu bringen. Um sich den Rückzug von vornherein unmöglich zu machen, faßte Nikolai Apollonowitsch sofort den Schlüssel mit den Fingern: sei’s, daß seine Finger in diesem Augenblick zu zittern begannen, sei’s, daß er in einem Schwindelanfall in den Abgrund stürzte, dem er mit aller Kraft auszuweichen suchte — der Schlüssel machte eine Drehung um eine Stunde, dann um zwei . . . Nikolai Apollonowitsch machte unwillkürlich einen kunstvollen Sprung auf die Seite; nach dem Seitensprung schielte er wieder zum Tisch hinüber: noch immer stand die Blechbüchse, die früher Sardinen enthalten hatte, auf dem Tische (er hatte sich einmal mit Sardinen übergessen, seither hatte er sie nie mehr gegessen); eine gewöhnliche Sardinenbüchse wie jede andere: glänzend, mit abgerundeten Ecken . . .

Nein — nein — — nein —!

Wohl war es eine Sardinenbüchse, doch eine Sardinenbüchse mit furchtbarem Inhalt!

Der metallene Schlüssel hatte sich schon um zwei Stunden weitergedreht, und in der Sardinenbüchse begann das seltsame, mit dem Verstand nicht zu kapierende Leben; die Sardinenbüchse war dieselbe und doch wieder nicht dieselbe; in ihrem Innern krochen die Zeiger: der Stunden- und der Minutenzeiger; der geschäftige Sekundenzeiger hüpfte im Kreise; er wird nun weiterhüpfen, bis zu dem Augenblick (der ist nicht mehr fern) — bis zu dem Augenblick, bis zu dem Augenblick, an dem . . .

— der schauerliche Inhalt der Sardinenbüchse sich häßlich aufbläht; sich maßlos dehnt; und da — und da: zerspringt die Sardinenbüchse . . .

— Teile des schauerlichen Inhalts rasen im Kreise umher, zerreißen mit donnerndem Gepolter den Tisch; der vielfach gespalten zusammenfällt; und auch sein Körper wird in Stücke zerreißen: zusammen mit den Holzspänen, mit den sich nach allen Seiten ausbreitenden Gasen wird er als eine blutige, schmutzige, leblose Masse an den kalten steinernen Wänden hängenbleiben . . .

— in dem hundertsten Teil einer Sekunde wird das alles geschehen: in dem hundertsten Teil einer Sekunde werden die Wände einstürzen und der schauerliche Inhalt wird, sich dehnend, dehnend, dehnend — zugleich mit den Holzsplittern, Blut und Steinen gegen den dunkeln Himmel emporfliegen.

Draußen stiegen bauschige Rauchwolken nach oben, ihre Schwänze in die Newa tauchend.

Was hat er nun getan, was hat er getan?

Die Blechbüchse stand noch immer auf dem Tisch; hat er nun den Schlüssel umgedreht, dann müsse er unverzüglich die Büchse an die richtige Stelle bringen (zum Beispiel: unter das Kissen in dem weißen Schlafgemach); oder sie mit dem Fuße zerstampfen. Aber sie an die richtige Stelle zu bringen, unter das hochaufgeschlagene Kopfkissen des Vaters, damit der alte, kahle Kopf, ermüdet von dem soeben Vorgefallenen, mit aller Wucht auf die Bombe niederfällt — nein, nein, nein: dazu konnte er sich nicht hergeben; das wäre Verrat.

Mit dem Fuße zerstampfen?

Doch bei diesem Gedanken fühlte er etwas, was auf seine Ohren wie ein unglaublicher Druck einwirkte: er fühlte eine so heftige Übelkeit (dank den acht Branntweingläsern, die er getrunken hatte), als hätte er die Bombe wie eine Pille heruntergeschluckt.

Nie wird er sie zerstampfen können, nie.

Es bleibt noch: sie in die Newafluten zu werfen; aber dazu hatte es noch Zeit: er braucht ja nur noch etwa zwanzigmal den Schlüssel umzudrehen; dann ist eine Frist gewonnen; hat er einmal den Schlüssel umgedreht, da heißt es nur eine Frist, so lange wie nur möglich, zu gewinnen; doch er zögerte, indem er sich, ganz entkräftet, in den Lehnstuhl niederließ; Übelkeit, furchtbare Schwäche, Schläfrigkeit überwältigten ihn; das mattgewordene Denken aber, vom Körper losgelöst, baute vor ihm häßliche, sinnlose Arabesken . . . und er schlummerte ein.


Im Schlaf, des Körpers beraubt, fühlte er doch diesen gleichsam als ein unsichtbares Zentrum, das früher ein Bewußtsein und ein »Ich« besessen hatte und so hatte das »Ich« Nikolai Apollonowitschs noch immer eine körperliche Gestalt, wiewohl es auch kein Körper mehr war; und in diesem Nicht-Körper lebte ein fremdes »Ich«, das vom Saturnus herabgeflogen kam und sich zum Saturnus wieder hinaufschwang.

Er saß vor seinem Vater (wie er schon früher zu sitzen pflegte) — doch körperlos; hinter den Fenstern seines Zimmers aber, in der vollständigen Dunkelheit, tönte es unaufhörlich halblaut: turn — turn — turn.

Es waren die Jahreszahlen, die nach rückwärts liefen.

»Bei welcher Jahreszahl sind wir nun?«

Laut auflachend antwortete Apollon Apollonowitsch:

»Bei keiner, Kolenka, bei keiner: die Jahreszahl, mein Lieber, ist Null . . .«

Der grauenhafte Seeleninhalt Nikolai Apollonowitschs bewegte sich unruhig (dort, wo die Stelle des Herzens war), wie ein summender Kreisel: er blähte und dehnte sich; es war, als ob der grauenhafte Seeleninhalt zu einer marternden Kugel würde.

Es war das Jüngste Gericht.

»Ei — ei: was ist das ‚ich bin?‘«

»Ich bin? — eine Null . . .«

»Und — was ist die Null?«

»Die Null ist eine Bombe, Kolenka . . .«

Nikolai Apollonowitsch begriff nun, daß er eine Bombe war, nichts weiter; diese Bombe war explodiert, und an jener Stelle, wo im Lehnstuhl die Hülle des Nikolai Apollonowitsch (einer Eierschale gleich) saß — zuckte ein Blitz auf und tauchte in die schwarzen Äonenwellen unter.


Da erwachte Nikolai Apollonowitsch halb; schaudernd merkte er, daß sein Kopf auf der Sardinenbüchse lag.

Und er sprang in die Höhe: ein schrecklicher Traum . . . Was war es aber? Er konnte sich des Traums nicht entsinnen; der Alpdruck, der ihn in seiner Kindheit zu quälen pflegte, stellte sich ein: Pépp, Péppowitsch, Pépp, ein Kügelchen, das sich zu einer Riesenkugel aufbläht; die alten Kinderdelirien kehrten wieder zurück, denn — Pépp, Péppowitsch Pépp, das Kügelchen von schauerlichem Inhalt, ist nichts als eine Bombe; dort steht sie und summt unhörbar mit ihren Zeigern und dem Härchen; Pépp, Péppowitsch, Pépp wird sich dehnen, dehnen, dehnen; Pépp, Péppowitsch, Pépp wird dann explodieren: alles, alles wird zerspringen . . .

»Was? Phantasiere ich?«

Mit rasender Schnelligkeit ging es durch seinen Kopf: Was tun? Es bleibt nur noch eine Viertelstunde übrig: den Schlüssel wieder umdrehen?

Er drehte zwanzigmal den Schlüssel um; und zwanzigmal ächzte etwas drinnen in der Blechbüchse: die alten Delirien kehrten für einige Zeit zurück, damit der Morgen — Morgen, der Tag — Tag und der Abend — Abend bleibe; am Ende der Nacht aber wird keine Umdrehung des Schlüssels die Frist zu verlängern vermögen: es wird etwas geschehen, was die Wände zum Umstürzen bringen, den purpur erleuchtenden Himmel in Stücke zerreißen und ihn zusammen mit dem verspritzten Blut zum finsteren Urchaos verwandeln wird.

Ende des fünften Kapitels.

Sechstes Kapitel

Er fand wieder den Faden seines Seins

Es war ein trüber Petersburger Tag.

Wollen wir nun zu Alexander Iwanowitsch zurückkehren; Alexander Iwanowitsch erwachte; Alexander Iwanowitsch schlug die Augen auf, doch die fielen ihm immer wieder zu; die Geschehnisse der Nacht wurden zurück in die unterbewußte Welt gedrängt; seine Nerven waren zerrüttet: die Nacht war für ihn ein Ereignis von riesiger Bedeutung.

Wenn er sich zwischen Schlaf und Wachsein befand, war es ihm, als werde er in eine Tiefe geschleudert: als fiele, stürze er aus einem Fenster des fünften Stocks; seine Empfindungen zeigten ihm eine Bresche, die in seine Welt geschlagen wurde; durch diese Bresche flog er in eine andere, gestaltenwimmelnde Welt hinein, von der es nicht genügt zu sagen, man werde dort von furienähnlichen Geschöpfen überfallen: in ihr war selbst das Weltgewebe nichts als Furiengewebe.

Erst gegen Morgen vermochte Alexander Iwanowitsch von sich diese Welt abzuschütteln; und er versank dann in Wonne; das Erwachen stieß ihn jäh wieder hinunter: es blieb in ihm ein unbestimmtes Sehnsuchtsgefühl zurück, und sein ganzer Körper schmerzte.

Im ersten Augenblick nach dem Erwachen merkte er, daß er von Frost geschüttelt wurde, er hatte die Nacht hindurch gefiebert: etwas ging mit ihm vor . . . Doch was?

Während der ganzen langen Nacht rannte er im Delirium durch neblige Straßen oder stieg über Stufen einer geheimnisvollen Treppe; am wahrscheinlichsten aber war es das Fieber gewesen, das durch — seine Adern rannte; das Gedächtnis erzählte etwas, aber die Erinnerungen daran entglitten immer wieder, und er bemühte sich vergeblich, es festzuhalten.

All das war — Fieber.

Ernstlich erschrocken (bei seiner Einsamkeit fürchtete sich Alexander Iwanowitsch vor Krankheiten), dachte er, es würde gut für ihn sein, wenn er das Zimmer nicht verließe.

Mit diesem Gedanken begann er einzuschlummern; im Einschlummern aber dachte er:

»Etwas Chinin sollte ich einnehmen.«

Er schlief ein.

Und beim Erwachen fügte er hinzu:

»Und einen kräftigen Tee . . .«

Und nach einigem Nachdenken fügte er wieder hinzu:

»Mit Himbeersaft . . .«

Es ging ihm durch den Kopf, daß er die letzte Zeit in einer für seine Lage unerlaubt leichtsinnigen Weise gelebt hatte; dieser Leichtsinn erschien ihm jetzt um so unverzeihlicher, als ihm ernste und schwere Tage bevorstanden.

Unwillkürlich seufzte er:

»Und dann sollte ich streng das Trinken vermeiden . . . Nicht die Offenbarung lesen . . . Nicht bei dem Hausmeister unten sitzen . . . Und auch die Unterhaltungen mit Stjopka, der beim Hausmeister wohnt: ich sollte nicht mit diesem Stjopka plaudern . . .«

Diese Gedanken an Tee mit Himbeer, an Wodka, an Stjopka, an die Offenbarung Johanni beruhigten ihn erst, indem sie die Ereignisse der Nacht zu einer Lappalie machten.

Als er sich aber mit dem eiskalten Wasser aus der Leitung und mit Hilfe eines Seifenrestes, der in einem seifigen, gelben Brei lag, gewaschen hatte, fühlte Alexander Iwanowitsch, wie ihn wieder die Ereignisse der Nacht überwältigten.

Er streifte mit dem Blick sein Zwölfrubelzimmer (ein Mansardenraum).

Was für eine traurige Behausung!

Das Hauptmöbelstück des ärmlichen Raumes war das Bett; dieses Bett bestand aus vier Brettern, die auf zwei Holzböcke gelegt wurden; die Oberfläche dieser Böcke war mit ekelhaften, dunkelroten, vertrockneten Wanzenspuren bedeckt, mit denen Alexander Iwanowitsch viele Monate hindurch mit Hilfe eines Wanzenpulvers einen hartnäckigen Kampf geführt hatte.

Auf den Brettern lag eine mit Holzwolle gefüllte, dünne Matratze; über das schmutzige Bettuch hatte Alexander Iwanowitsch sorgfältig eine gestickte Decke gebreitet, deren rote und blaue Streifen mehr vom langjährigen Gebrauch als vom Schmutz grau aussahen; von dieser Decke, die ein Geschenk von irgend jemand (vielleicht von der Mutter) gewesen war, zögerte Alexander Iwanowitsch sich zu trennen; vielleicht auch aus Mangel an Geld (diese Decke hatte ihn auch nach Sibirien begleitet).

Außer dem Bett . . . — ja: hier muß ich noch erwähnen: über dem Bett hing ein kleines Heiligenbild, das den heiligen Seraphin im Fichtenwald auf einem Stein kniend bei seinem tausend Nächte währenden Gebet darstellte.

Außer dem Bett stand dort noch ein glattgehobelter, kleiner Tisch ohne jede Verzierung: in billigen Landwohnungen gebraucht man solche Tische zum Aufstellen der Waschschüsseln; solche Tischchen werden überall auf den Sonntagsmärkten feilgeboten; in der Wohnung Alexander Iwanowitschs war das Tischchen Schreib-, Speise- und Nachttischchen zugleich; Waschschüssel gab es überhaupt keine: bei seiner Toilette bediente sich Alexander Iwanowitsch der Wasserleitung, neben der eine Blechdose mit einem in schleimiger Seifenflüssigkeit schwimmenden Seifenrest hing; außerdem gab es einen Kleiderrechen, auf dem eine Hose baumelte; eine zerrissene Pantoffelspitze blickte unter dem Bett hervor. (Alexander Iwanowitsch träumte eines Nachts: dieser zerrissene Pantoffel wäre ein lebendes Wesen, eine Art Stubengeschöpf, wie etwa der Hund oder die Katze; es schlürfte selbständig aus einer Stelle des Zimmers zur anderen, kriechend und in den Ecken rasselnd; als Alexander Iwanowitsch die schlürfenden Pantoffel mit im Munde aufgeweichtem Semmelbrot füttern wollte, bissen ihn diese in die Finger, weswegen er erwachte).

Es stand noch im Zimmer ein brauner Reisekoffer, der längst seine ursprüngliche Form verloren hatte und Gegenstände von schrecklichster Bedeutung enthielt.

Doch das ganze Möblement dieses sozusagen Zimmers, trat zurück vor der Farbe der Tapete, die unangenehm und frech war, von dunkelgelber oder brauner Nuance, mit riesigen feuchten Flecken; abends kroch langsam bald über den einen, bald über den andern dieser Flecke ein Tausendfüßler. Das ganze Innere des Zimmers war von Tabakrauch erfüllt. Alexander Iwanowitsch mußte unaufhörlich, mindestens zwölf Stunden täglich rauchen, um die farblose Atmosphäre in eine dunkelgraue, blaue zu verwandeln.

Alexander Iwanowitsch Dudkin betrachtete seine Behausung, und wieder — wie schon immer — zog es ihn hinaus aus dem vollgerauchten Zimmer, zog es ihn fort von hier; es zog ihn auf die Straße in den schmutzigen Nebel, wo er mit den Schultern, den Rücken und grünlichen Gesichtern der Petersburger Prospekte eins werden konnte, um sich mit ihnen zu einem einzigen riesengroßen, grauen Gesicht zu verschmelzen.

Am Fenster seines Zimmers klebte der dichte Oktobernebel: Alexander Iwanowitsch Dudkin empfand das Bedürfnis, sich von dem Nebel durchdringen zu lassen, alle seine Gedanken von ihm durchdringen zu lassen, alles, was in seinem Hirn herumspukte, in dem Nebel zu ertränken; durch die Gymnastik der schreitenden Füße wollte er dieses Spukzeug auflösen; schreiten wollte er, immer schreiten und schreiten: von Prospekt zu Prospekt, von Straße zu Straße; schreiten so lange, bis das Hirn gänzlich verstummt ist, dann vor dem Tischchen der Schenke niedersinken, um sich mit Wodka zu verbrennen. Nur ein solches zielloses Wandern durch Straßen und krumme Gäßchen, an Laternen, Zäunen und Fenstern vorbei erstickt die quälenden Gedanken im Hirn.

Während er seinen armseligen Mantel anzog, spürte er wieder, daß es ihn fröstelte, und er dachte traurig:

»Hätt’ ich doch etwas Chinin!«

Aber woher Chinin nehmen? . . .

Und während er die Treppe hinunterging, dachte er wieder traurig:

»A—ach, hätt’ ich doch nur einen kräftigen Tee mit Himbeersaft . . .«

Die Treppe

Die Treppe!

Schaurig, dunkel, feucht — gab sie erbarmungslos seine schlürfenden Schritte wieder, die schaurige, dunkle, feuchte Treppe! Heute nacht war das gewesen. Nun erst erinnerte sich Alexander Iwanowitsch, daß er diese Nacht wirklich hier gegangen war: oder war es etwa im Traum? Nein, das war in der Wirklichkeit; doch was war es eigentlich?

Was?

Ja: aus all diesen Türen ergoß sich das tödliche Schweigen über ihn; es breitete sich endlos aus und ließ ein sonderbares Rasseln vernehmen: und unermüdlich, ohne Aufhören schluckte irgendein schmatzendes Etwas seinen eigenen Speichel herunter, mit langgezogener Deutlichkeit. Es waren schreckliche, unbekannte Töne, aus Seufzern, aus dumpfem Stöhnen aller Zeiten zusammengeschmolzen; durch die schmalen Fenster oben konnte man sehen (und er hatte es gesehen), wie von Zeit zu Zeit die Düsterkeit aufblitzte, wie sie die Gestalt zerrissener Wolken annahm, wie alles aufleuchtete, wenn die blaß-türkisblauen Strahlen sich lautlos auf den Boden legten, um da bewegungslos und tot liegenzubleiben.

Dorten — dort: dort blickte der Mond herein.

Doch Schwärme nahten heran: ein Schwarm nach dem anderen — bauschige, dunstige, gewitterschwere — stürzten sich all diese Schwärme über den Mond her: die blaß-türkisblauen Strahlen erloschen; von überall her schwangen sich Schatten hervor; alles bedeckten die Schatten . . .

Da erinnerte sich Alexander Iwanowitsch Dudkin, daß er gestern abend über dieselbe Treppe gelaufen und die letzten, versagenden Kräfte angespannt hatte, ohne jede Hoffnung auf Überwindung. Und eine schwarze Gestalt (war auch das Wirklichkeit?) rannte ihm nach; lief hinter seinen Fersen her, seinen Fußspuren nach.

Und sie hatte ihn zugrunde gerichtet, rettungslos vernichtet.


Die Treppe!

An grauen Werktagen ist sie friedlich, alltäglich; von unten her kommen dumpfe Schläge: Krautköpfe werden gehackt: Die Partei von der Wohnung Nummer vier bereitet ihren Sauerkrautvorrat für den Winter; so alltäglich sehen die Treppengeländer aus, die Türen, die Stufen; über das Geländer ist ein alter, abgetretener, nach Katze riechender Teppich gehängt, der Partei aus Nummer vier gehörend; der Hausknecht mit einer geschwollenen Backe klopft ihn mit dem Ausklopfer aus; eine blonde Weibsperson, die aus einer Tür herauskam, niest in ihre Schürze: zwischen dem Hausknecht und der Weibsperson entwickelt sich wie selbstverständlich ein Gespräch:

»Uh—uh—uh!«

»Hilf doch mal ein bißchen, lieber Mensch . . .«

»Stepanida Markowna . . . Was haben Sie da schon wieder zusammengeschleppt! . . .«

»Schon gut, schon gut . . .«

»Aber hören Sie mal . . .«

»Jetzt heißt es ‚zusammengeschleppt‘, wenn’s aber an das Trinkgeld geht . . .«

»Aber hören Sie mal — diese Arbeit . . .«

»Würden Sie nicht immer zu den Meetings laufen, dann wären Sie mit der Arbeit fertig geworden . . .«

»Sticheln Sie da nicht wegen den Meetings herum: Sie werden schon selbst einmal sehen, was Sie den Meetings zu danken haben!«

»Na — na, klopf nur jetzt die Kissen recht gut aus he, du Kavalier!«


Türen!

Da, da und da . . . An dieser da ist der Wachsleinwandbeschlag ganz zerfetzt; aus den Löchern blicken Roßhaarbüschel hervor; an die andere ist mit einer Stecknadel eine Visitenkarte geheftet, die schon ganz vergilbt ist; sie trägt den Namen »Sakatilin« . . . Wer ist dieser Sakatilin? Wie er sonst heißt, welches sein Beruf ist — das alles ist den Neugierigen zu erraten überlassen: »Sakatilin« — und damit fertig.

Hinter der Tür gibt ein Fiedelbogen sich eifrig die Mühe, ein bekanntes Liedchen zu spielen. Und eine Stimme singt:

»Das Vaterland, das geliebte . . .«

Sakatilin, das wird sicher ein Musiker sein, der in einem Orchester eines kleinen Restaurants beschäftigt ist.

Das ist alles, was man bei der Betrachtung der Türen beobachten kann . . .

Die Stufen?

Sie sind mit Gurkenschalen, Straßenkotklumpen und Eierschalen reichlich bedeckt . . .

Er riß sich los und begann zu laufen

Alexander Iwanowitsch Dudkin warf einen Blick auf die Treppe, auf den Hausknecht und die Weibsperson, die sich gerade mit einem neuen Federunterbett aus der Tür schob; und — merkwürdig: die alltägliche Einfachheit der Treppe verwischte keinesfalls, was er diese Nacht hier erlebt hatte; selbst jetzt bei Tageslicht, angesichts der Stufen mit den herumliegenden Eierschalen, des Hausknechtes, der Weibsperson, der Katze, die auf dem Fensterbrett das Eingeweide eines Huhns verzehrte, kehrte zu ihm die überstandene Angst wieder: die Erlebnisse der vorigen Nacht waren — Wirklichkeit! Und in der bevorstehenden Nacht wird dieses Wirkliche wiederkehren: die Treppe wird dunkelschattig und schauerlich sein; wieder wird eine schwarze Gestalt sich an seine Fersen heften; hinter der Tür mit der Visitenkarte »Sakatilin« wird er wieder hören, wie jemand schmatzend seinen Speichel schluckt (vielleicht nicht Speichel, sondern Blut) . . .

— Und er wird wieder das bekannte, unglaubliche Wort mit vollständiger Deutlichkeit vernehmen:

»Ja — ja — ja . . . Ich bin es . . . Ich richte rettungslos zugrunde . . .«

Wo hat er es gehört?


Fort von hier! Auf die Straße! . . .

Er müsse weiterschreiten, immerzu schreiten, weit weg von hier sein; er müsse schreiten bis zur vollständigen Erschöpfung, bis zum vollständigen Einschlafen des Gehirns; er müsse sich dann vor ein Tischchen in der Schenke niederlassen und dort schlafen, damit ihn nicht die bösen Träume aufsuchen. Dann müsse er das Ganze von neuem beginnen: quer und kreuz durch Petersburg schreiten, sich im Schilf und im hängenden Dunst der Ufer verbergen, in Erstarrung alles von sich werfen und erst dann zu sich kommen, wenn in den Vororten die düsteren Lichter angezündet sind.

Alexander Iwanowitsch Dudkin war schon im Begriff, die steinerne Treppe hinunterzugehen, als er plötzlich stehenblieb; er bemerkte einen Menschen in schwarzem italienischen Überwurf mit phantastisch gebogenem Hut auf dem Kopf, der, drei Stufen auf einmal nehmend, das Gesicht gegen den Boden gerichtet einen schweren Stock in der Hand, mit dem er gewaltig fuchtelte, ihm entgegenrannte.

Sein Rücken bildete einen Bogen.

Dieser seltsame Unbekannte mit dem schwarzen italienischen Überwurf lief in seiner Eile direkt auf Alexander Iwanowitsch zu; beinahe hat er ihn mit dem Kopf gegen die Brust gestoßen; als der Unbekannte aber endlich den Kopf aufgerichtet hat, erblickte Alexander Iwanowitsch Dudkin direkt vor seiner Nase die todblasse, mit Schweißtropfen bedeckte Stirn des — denken Sie nur! — des Nikolai Apollonowitsch: er sah die Stirn mit der dicken, pulsierenden Ader; nur an diesem charakteristischen Zeichen (der hüpfenden Ader) erkannte Alexander Iwanowitsch Ableuchow; an den wild schielenden Augen sowie der seltsamen, ausländischen Kleidung hätte er ihn sicher nicht wiedererkannt.

»Guten Tag! Ich bin es; ich komme zu Ihnen.«

Nikolai Apollonowitsch stieß diese Worte rasch, rasch hervor; und — was das nur heißen sollte! — er stieß sie in drohendem Flüstertone hervor. Ah — ah! Und wie er nach Luft schnappte! Ohne Alexander Iwanowitsch die Hand zu reichen, sagte er eilig in drohendem Flüsterton:

»Ich muß Ihnen, Alexander Iwanowitsch, mitteilen, daß ich es — nicht tun kann

»?«

»Sie haben hoffentlich verstanden, was ich nicht tun kann: ich kann nicht und ich will nicht; kurz — ich tu es nicht

»!«

»Es ist eine Absage, eine unwiderrufliche. Das können Sie weiter ausrichten. Und ich bitte, mich in Ruhe zu lassen . . .«

Auf dem Gesicht Alexander Iwanowitschs malte sich Verlegenheit, ja Angst.

Nikolai Apollonowitsch wandte sich um; seinen schweren Stock in der Hand schwingend, begann er die Stufen hinunterzulaufen, als wolle er entfliehen.

»Aber warten Sie doch, warten Sie doch!« rief Alexander Iwanowitsch Dudkin, ihm nacheilend, so daß die Stufen unter seinen Füßen knatternd nach oben flogen.

»Nikolai Apollonowitsch!«

Im Flur erfaßte er Ableuchows Mantel, doch Nikolai Apollonowitsch riß sich wieder los. Dann aber sah er sich um; mit leicht zitternder Hand schob er seinen burschikos sitzenden Hut tiefer in die Stirn und stieß mit gekünstelter Festigkeit halblaut hervor:

»Das ist sozusagen . . . ekelhaft! . . . Hören Sie?«

Und er rannte mit kleinen Schrittchen über den Hof weiter.

Alexander Iwanowitsch hielt sich einen Augenblick an der Tür fest. Alexander Iwanowitsch wurde von einem Unruhegefühl erfaßt: er wurde ohne jeglichen Grund beleidigt; einen Augenblick überlegte er, was er zu tun habe; unwillkürlich zuckten seine Glieder; unwillkürlich streckte er seinen feinen, weiblichen Hals vor; dann holte er mit zwei Sätzen den Davoneilenden ein.

Er klammerte sich fest an den ihm entwichenen Überwurf; der Eigentümer des Überwurfes machte verzweifelte Versuche, sich loszureißen; für einen Augenblick lang war auf dem engen Raum zwischen zwei Holzstößen eine Balgerei entstanden; etwas fiel dabei herunter, und auf dem Asphalt ertönte ein metallischer Klang. Mit dem Stock fuchtelnd, voll Wut stieß Nikolai Apollonowitsch einzelne sinnlose Worte von unglaublichem und vor allem beleidigendem Inhalt hervor, beleidigend für Alexander Iwanowitsch.

»Das nennen Sie Aktionen, Parteiarbeit? Mich von Spionen zu umgeben . . . Mich überall zu verfolgen . . . Selbst an nichts mehr glauben . . . Die Offenbarung lesen . . . Zugleich aber spionieren . . . Mein Herr, Sie sind . . . Sie sind . . . Sie sind . . .«

Endlich riß sich Nikolai Apollonowitsch wieder los: sie rannten durch die Straße.

Die Straße

Die Straße!

Wie hat sie sich verändert! Wie haben diese rauhen Tage auch auf sie eingewirkt!

Dort die gußeisernen Stäbe eines Gartengitters; die rostbraunen Ahornblätter schlagen, vom Wind getrieben, an diese Gitterstäbe; die rostbraunen Blätter haben schon den Baum verlassen; und nur die Äste — vertrocknete Skelette — erhoben sich krächzend in die Luft.

Im September war der Himmel blau und rein gewesen; jetzt ist aber alles anders: schon vom frühen Morgen ergoß sich ein schwerer Bleistrom über den Himmel; der September war zu Ende.

Sie rannten durch die Straße:

»Aber gestatten Sie, Nikolai Apollonowitsch,« fuhr erregt und beleidigt Dudkin fort — »Sie werden zugeben, daß wir nicht ohne eine Erklärung Ihrerseits voneinander gehen können . . .«

»Wir haben nichts mehr miteinander zu sprechen«, rief trocken Nikolai Apollonowitsch, den Hut burschikos auf die Seite geschoben.

»Aber erklären Sie doch vernünftig, um was es sich handelt«, drang Alexander Iwanowitsch heftig in ihn ein.

In seinen hüpfenden Gesichtszügen malte sich Unruhe und Beleidigung; seine Bestürzung — fügen wir von uns hinzu — war aufrichtig, so aufrichtig, daß Nikolai Apollonowitsch trotz seines Zornes es merkte.

Er wandte sich um und begann schon ohne den früheren Zorn, vielmehr weinerlich erbost, zu murmeln:

»Nein, nein, nein! . . . Worüber sollen wir noch miteinander sprechen? . . . Sie können es nicht bestreiten . . . Eher habe ich das Recht, Aufklärung zu verlangen . . . Ich leide ja, nicht Sie und nicht Ihre Genossen . . .«

»Aber was? . . . Was ist denn eigentlich los? . . .«

»Mir ein Paket aufzudrängen . . .«

»Na, und?«

»Ohne vorher zu sagen, ohne zu erklären, ohne um Erlaubnis zu bitten . . .«

Alexander Iwanowitsch errötete tief.

»Und dann verschwinden . . . Mir durch eine unterstellte Person mit der Polizei zu drohen . . .«

Bei dieser unverdienten Beschuldigung wandte sich Alexander Iwanowitsch mit nervösem Ruck Ableuchow zu:

»Halten Sie: welche Polizei?«

»Die Polizei eben . . .«

»Von welcher Polizei reden Sie? . . . Was ist das für eine Niedertracht? . . . Was sind das für Anspielungen? . . . Ist einer von uns unzurechnungsfähig?«

Aber Nikolai Apollonowitsch, dessen weinerliche Erbostheit wieder in Wut umgeschlagen war, schrie ihm heiser ins Ohr:

»Ich würde Sie . . .« (sein Mund mit den fletschenden Zähnen lächelte; es schien, als wollte er das Ohr des Begleiters beißen). »Ich hätte Sie . . . da gleich — an dieser Stelle . . . Ich hätte . . . ich . . . auf offener Straße, zur Belehrung all dieser Leute da, mein lieber Alexander Iwanowitsch . . .« (die Sprache verwirrte sich ihm). . .

Dort — dort . . .

Dort hinter dem kleinen Fenster des blankgestrichenen Häuschens saß, immer mit den Lippen kauend, an sommerlichen Juliabenden, bei untergehender Sonne ein steinaltes Frauchen (— »Ich hätte Sie!« . . . drang es von irgendwoher zu Alexander Iwanowitsch herüber); im August war die Alte verschwunden, und das Fenster blieb geschlossen; im September wurde aus dem Häuschen ein geschmückter Sarg herausgetragen; dem Sarge folgte ein kleiner Haufen: ein Herr mit abgeschabtem Mäntelchen und einer Beamtenmütze auf dem Kopf und — sieben flachshaarige Jungen.

Der Sarg war zugenagelt gewesen.

(— »Ja, Alexander Iwanowitsch, ja—a«, drang es von irgendwoher an Dudkins Ohr.)

Dann sah man Männer mit einfachen Mützen aus und ein gehen: man sprach davon, daß in dem Häuschen Bomben gefertigt wurden. Alexander Iwanowitsch wußte, daß die Bombe, die seinerzeit ihm zur Aufbewahrung übergeben wurde, aus diesem Häuschen gekommen war.

Da fuhr er unwillkürlich zusammen.

Wie seltsam: während Nikolai Apollonowitsch ihm seine Vorwürfe und Beschuldigungen entgegenschleuderte, dachte er an das Häuschen. Jetzt roh in die Wirklichkeit zurückgestoßen, begriff er aus all den verworrenen Reden des Senatorsöhnchens nur das eine:

»Hören Sie,« sagte er, »das wenige, das ich aus Ihren Worten verstehe, ist: daß es sich um das Paket handelt . . .«

»Es handelt sich um sie: Sie haben mir sie persönlich zur Aufbewahrung übergeben.«

Komisch: das Gespräch wurde vor demselben Häuschen geführt, in dem die Bombe entstanden war: die Bombe, zu einem gedanklichen Wesen geworden, hat einen geschlossenen Kreis beschrieben, und wo sie entstanden war, war jetzt die Rede von ihr.

»Aber seien Sie doch nicht so laut, Nikolai Apollonowitsch; ich begreife Ihre Aufregung nicht . . . Sie überschütten mich da mit Beleidigungen: Wo finden Sie aber in meiner Handlungsweise etwas Verwerfliches?«

»Wieso — wo?«

»Ja, warum ist das verwerflich, wenn die Partei« — diese Worte sprach er ganz im Flüsterton aus — »Sie bat, einige Zeit das Paket bei sich aufzubewahren? Sie selbst waren ja damit einverstanden? Es ist ja weiter nichts dabei . . . Ist es Ihnen unangenehm, das Paket weiter bei sich zu behalten, so hol’ ich es gern ab . . .«

»Ach, lassen Sie es doch: diese Miene der Unschuld: als ob es sich nur um das Aufbewahren des Pakets handelte . . .«

»Tsss! Leiser: es kann uns jemand hören . . .«

»Nicht darum allein handelt es sich: tun Sie nicht, als ob Sie mich nicht verstünden.«

»Aber um was handelt es sich denn?«

»Um die Vergewaltigung.«

»Es war keine Vergewaltigung . . .«

»Um die planmäßige Verfolgung . . .«

»Ich wiederhole: es war keine Vergewaltigung — das geben Sie mir selbst zu. Was die Verfolgung betrifft, so muß ich . . .«

»Ich habe mich seinerzeit, im Sommer, bereit erklärt; ja, ich habe mich sogar selbst angeboten und . . . ja, gewiß: ich habe es versprochen, doch in der Voraussetzung, daß es dabei keinen Zwang gebe; daß es überhaupt keinen Zwang in der Partei gebe; wenn man dennoch bei Ihnen gezwungen werden kann, dann sind Sie einfach ein Häufchen verdächtiger Intriganten . . . Jawohl, ich habe mein Wort gegeben — aber was folgert daraus? Konnte ich denn nicht der Ansicht sein, daß ich mein Wort auch zurücknehmen darf . . .«

»Aber warten Sie . . .«

»Unterbrechen Sie mich nicht: konnte ich denn wissen, daß mein Versprechen so aufgefaßt werden würde? Daß man es in solcher Weise deuten würde . . . daß man mir dieses vorschlagen würde?«

»Nein, warten Sie, ich muß Sie doch unterbrechen . . . Von welchem Versprechen reden Sie eigentlich? Drücken Sie sich bitte deutlicher aus . . .«

Unklar dämmerte etwas in Alexander Iwanowitsch auf (wie er doch alles vergaß!).

»Ach, Sie reden von jenem Versprechen? . . .«

Es fiel ihm ein, daß ihm eine gewisse Persönlichkeit einmal in dem kleinen Restaurant mitgeteilt hatte (der Gedanke an diese gewisse Persönlichkeit rief in ihm ein unangenehmes Gefühl hervor); diese gewisse Persönlichkeit mit anderen Worten: Lipantschenko hatte ihm damals mitgeteilt, Nikolai Apollonowitsch hätte sich bereit erklärt — pfui! Er mochte gar nicht daran denken . . . Und er sagte rasch:

»Aber ich rede ja gar nicht davon; es handelt sich ja gar nicht darum.«

»Doch, doch! Es handelt sich eben um das gegebene Versprechen: aber es wurde als unwiderruflich angesehen und schuftig ausgelegt.«

»Nur ruhig, Nikolai Apollonowitsch, worin sehen Sie die Schuftigkeit? Worin?«

»Ist das nicht eine Schuftigkeit?«

»Ja, ja, ja: wo? Die Partei bat Sie, einige Zeit bei sich das Paket aufzubewahren . . . Das war alles . . .«

»Nur das, Ihrer Meinung nach, nur das?«

»Das war alles . . .«

»Wenn es sich nur um die Aufbewahrung des Paketes gehandelt hätte, würde ich Sie verstehen, aber verzeihen Sie einmal . . .«

Er machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand.

»Wir haben wirklich nichts miteinander zu sprechen: sehen Sie denn nicht ein, daß wir uns nur immer um die Sache herumdrehen und gar nicht an sie herankommen? . . .«

»Ich merke das wohl . . . Aber: Sie reden da immerzu von einer Vergewaltigung . . . Ich erinnere mich nun, einmal im Sommer gehört zu haben . . .«

»Nun? . . .«

»Von einem terroristischen Akt, den Sie uns angeboten haben: dieser Vorschlag ging also nicht von uns aus, sondern von Ihnen.«

Alexander Iwanowitsch erinnerte sich jetzt, daß ihm Lipantschenko (damals im Restaurant, während er immer wieder sein Glas mit Likör füllte) gesagt — Nikolai Apollonowitsch Ableuchow hätte ihnen durch eine dritte Person mitteilen lassen, er sei bereit, seinen eigenen Vater zu töten; Lipantschenko hatte es mit einer widerwärtigen Ruhe mitgeteilt, doch hinzugefügt, die Partei werde selbstredend das Anerbieten ablehnen; dieser sonderbare Vorschlag, die Unnatürlichkeit, die sich in der Auswahl des Opfers äußerte, der an Niedertracht grenzende Zynismus — das alles hatte in dem sensiblen Alexander Iwanowitsch das schärfste Ekelgefühl hervorgerufen. Alexander Iwanowitsch hatte sich ja damals in einem Rauschzustand befunden, und später erschien ihm das ganze Gespräch mit Lipantschenko als ein Spiel seiner alkoholverdüsterten Gehirnmasse. Das alles ging ihm aber jetzt durch den Kopf:

»Im Grunde genommen . . .«

»Von mir zu verlangen,« unterbrach ihn Ableuchow, »daß ich . . . daß ich . . . meinen eigenen Vater . . .«

»Eben, eben . . .«

»Das ist widerlich!«

»Ja, das ist widerlich! Und ich habe es eigentlich auch damals schon nicht geglaubt. Hätte ich es geglaubt, Sie würden in meinen Augen . . . sehr gesunken sein . . .«

»Also auch Sie halten es für eine Gemeinheit?«

»Ja, verzeihen Sie: aber dafür halte ich es . . .«

»Na, sehen Sie! Sie selbst halten es für eine Gemeinheit und haben doch für diese Gemeinheit Ihre Hand gegeben?«

Dudkin geriet in Erregung, sein zarter Hals streckte sich:

»Nein, hören Sie . . .«

Er ergriff mit der zitternden Hand den Knopf des italienischen Überwurfs, seine Augen starrten seitlich auf einen unbestimmten Punkt:

»Reden Sie keinen Unsinn: wir schleudern da einander Beschuldigungen an den Kopf, und dabei stimmen wir beide . . .« er richtete seinen Blick verwundert auf Ableuchow — »in der Bezeichnung der Tatsache überein . . . Auch Sie nennen es eine Gemeinheit?«

Nikolai Apollonowitsch zuckte zusammen:

»Gewiß ist es eine Gemeinheit! . . .«

Sie schwiegen eine Weile . . .

»Sehen Sie, wir sind beide derselben Meinung . . .«

Nikolai Apollonowitsch zog sein Taschentuch hervor und fuhr sich damit über die Stirn:

»Da wundere ich mich aber . . .«

»Ich auch . . .«

Verdutzt sahen sie einander in die Augen. Alexander Iwanowitsch (er vergaß jetzt, daß er vom Fieber geschüttelt wurde) erfaßte wieder mit der Hand den Rand des italienischen Überwurfs:

»Um diesen Knoten zu lösen, antworten Sie mir bitte auf folgende Frage: Ging das Versprechen nicht direkt von Ihnen aus?«

»Nein doch! Nein!«

»Diesen Mord haben Sie also nicht einmal in Gedanken gehabt? Verzeihen Sie, ich frage so, weil ein Gedanke sich manchmal unwillkürlich, durch eine Geste, durch den Tonfall, durch einen Blick, ja sogar durch das Beben der Lippen äußert . . .«

»Aber nein doch, nein . . . das heißt . . .« Nikolai Apollonowitsch hielt inne; und dabei merkte er, daß er innehielt, weil er einen verdächtigen Gedankengang verbergen wollte; er errötete und begann von neuem:

»Das heißt, ich habe den Vater nie geliebt . . . Und ich glaube es oft ausgesprochen zu haben . . . Aber, daß ich . . .? Nie und nimmer! . . .«

»Schön, ich glaube Ihnen.«

Aber tückischerweise errötete hier Nikolai Apollonowitsch bis zu den Haarwurzeln; nun wollte er die Sache wieder erklären, doch Alexander Iwanowitsch schüttelte abwehrend den Kopf, um eine gewisse, diskrete Nuance eines ihnen beiden zu gleicher Zeit gekommenen Gedankens nicht zu berühren.

»Aber lassen Sie es . . . Ich — glaube Ihnen . . . Ich spreche jetzt nicht mehr davon, ich spreche von etwas anderem: Sagen Sie mir . . . Sagen Sie mir ganz offen: Habe ich es — veranlaßt?«

Nikolai Apollonowitsch sah verwundert zu seinem naiven Partner auf: er sah ihn an, errötete und sagte hitzig mit forcierter Überzeugung, die er nun brauchte, um einen gewissen Gedanken, der in ihm aufgeblitzt war, zu verscheuchen:

»Ich glaube — ja . . . Sie haben ihm geholfen . . .«

»Wem denn?«

»Dem Unbekannten . . .«

»?«

»Der Unbekannte wünschte . . .«

»?«

»Daß ich diese Gemeinheit begehe.«

»Wann hat er es gewünscht?«

»In seinem gemeinen Zettel . . .«

»Ich kenne keinen Unbekannten . . .«

»Der Unbekannte,« murmelte ratlos Nikolai Apollonowitsch, »Ihr Parteigenosse . . . Warum wundern Sie sich so . . .?«


»Ich versichere Sie, einen Unbekannten gibt es in der Partei nicht . . .«


Jetzt war Nikolai Apollonowitsch an der Reihe, sich zu wundern:

»Was? In der Partei gibt es den Unbekannten nicht? . . .«

»Tsss, nicht so laut, bitte . . . Nein, einen solchen gibt es nicht . . .«

»Aber ich bekam drei Monate hindurch Briefe . . .«

»Von wem?«

»Von ihm . . .«

Sie schwiegen beide.

Beide atmeten sie schwer, und beide blieben mit fragendem Blick aneinander hängen; aber während der eine, von einem Grauen überwältigt, den Kopf sinken ließ, blitzte ein Hoffnungsstrahl in den Augen des andern auf.


Nikolai Apollonowitschs tiefste Empörung, die das Grauen besiegt hatte, zeichnete zwei rote Flecken auf dem blassen Gesicht Alexander Iwanowitschs.

»Was?«

Aber Alexander Iwanowitsch vermochte nicht Atem zu holen; endlich hob er die Augen, und in seinem Gesicht malte sich eine unaussprechliche Traurigkeit, wie sie nur in Träumen vorkommt und die Worte überflüssig macht.

»Was also? Quälen Sie mich nicht!«

Doch Alexander Iwanowitsch legte den Finger auf den Mund, schüttelte den Kopf und schwieg: von seinem Gesicht von seinen erstarrten Fingern ergoß sich unmerklich das Unaussprechliche, was man nur in Träumen versteht.

Endlich bezwang er sich und sagte:

»Ich versichere Sie auf Ehrenwort: ich habe mit dieser ganzen dunklen Geschichte nichts zu tun . . .«

Nikolai Apollonowitsch glaubte erst nicht.

»Was haben Sie gesagt? Wiederholen Sie es, schweigen Sie nicht: begreifen Sie doch meine Situation . . .«

»Ich habe damit nichts zu tun . . .«

»Was bedeutet es also?«

»Ich weiß es nicht . . .« — Dann setzte er, rasch die einzelnen Worte hervorstoßend, hinzu: »Nein, nein, nein: es ist Lüge; es ist Delirium, Hohn . . .«

»Wie kann ich es aber wissen! . . .«

Nikolai Apollonowitsch richtete die nichtsehenden Augen auf Alexander Iwanowitsch; dann blickte er die Straße an: wie sich die verändert hat!

»Weiß ich’s denn? Mir ist damit nicht geholfen . . . Ich schlief diese Nacht nicht . . .«

Eine Droschke mit aufgestelltem Dach sauste den Fahrdamm hinauf: wie sich dieser verändert hat, wie haben die rauhen Tage auch ihn mitgenommen!

Ein Windstoß kam von der Bucht her: die letzten Blätter fielen herunter; es wird keine mehr bis zum Mai geben; wie viele werden im Mai nicht mehr sein! Diese heruntergefallenen Blätter sind, wahrlich — die letzten. Alexander Iwanowitsch wußte alles genau, was kommen wird: es werden blutige, ja blutige, grauenvolle Tage kommen; dann wird alles versinken; zieht nur, zieht hin, ihr letzten, unvergleichlichen Tage!

O, windet euch, weht durch die Luft, ihr letzten Blätter! Wieder ein müßiger Gedanke . . .

Die helfende Hand

Er war also auf dem Ball?«

»Ja, er war dort . . .«

»Er sprach mit Ihrem Vater?«

»Ja, und er erwähnte auch Ihren Namen . . .«

»Dann trafen Sie ihn im Gäßchen? . . .«

»Und er führte mich ins Restaurant . . .«

»Und nannte sich?«

»Morkowin . . .«

»Teufelsspuk!«


Als sich Alexander Iwanowitsch von dem Anblick der wehenden Blätter losgerissen hatte und zur Wirklichkeit zurückgekehrt war, merkte er, daß Nikolai Apollonowitsch mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, sogar ein paar Schritte vorauseilend, redete; er gestikulierte; senkte das Profil mit dem unangenehmen, langgezogenen Mund; er erinnerte an eine tragische antike Maske, die mit der Beweglichkeit einer Eidechse kein einheitliches Ganzes darzustellen vermochte: kurz, er sah aus wie ein Heupferdchen mit starr-unbeweglichem Antlitz.

Alexander Iwanowitsch machte nur hier und da eine Bemerkung:

»Und dabei sprach er von der Polizei?«

»Ja, er drohte mit der Polizei . . .«

»Und behauptete, eine solche Drohung wäre im Sinne der Partei, und die Partei billige so etwas? . . .«

»Na ja, sie billige es . . .« Nikolai Apollonowitsch sagte es etwas gereizt und versuchte einzuwenden:

»Sie werden sich erinnern, daß auch Sie seinerzeit sagten, die Vorurteile der Partei . . .«

»Was hab’ ich gesagt?« rief lebhaft und streng Dudkin.

»Soweit ich mich erinnere, meinten Sie, die Vorurteile der unteren Parteischichten werden von den oberen nicht geteilt . . .«

»Unsinn!« Dudkins ganzer Körper zuckte, und er beschleunigte den Schritt.

Nikolai Apollonowitsch suchte seine Hand aufzufangen; er antwortete wie ein Schuljunge auf Dudkins Fragen und lächelte unnatürlich. Dann fuhr er fort zu erzählen, was alles in dieser Nacht geschehen war: von dem Ball, von den Masken, von der Flucht aus dem Ballsaal, von der Begegnung am Tor, von dem Zettel und endlich von dem stinkenden Restaurant.

Es waren vollständige Fieberphantasien.

Der Teufelsspuk hat alles durcheinander gebracht; alle wären sie schon längst wahnsinnig geworden, wenn dasjenige, was rettungslos zugrunde richtet, wirklich existierte.


Schwarze Menschenschwärme wälzten sich ihnen entgegen: Hunderte von schwarzen Hüten hoben und senkten sich wie Wellen. Ihnen entgegen schoben sich lackierte Zylinder; wie Dampferschornsteine erhoben sie sich über den Wellen; eine Straußfeder schäumte vor ihnen auf; Tellermützen lächelten sie an: blaue, gelbe und rote Mützen.

Von überall her lugten zudringliche Nasen.

Nasen schoben sich in Mengen daher: Adlernasen, Hahn-, Enten- und Hühnernasen; und so weiter, und so weiter; dort wieder eine auf die Seite gebogene Nase; dann wiederum eine, die nicht gebogen war: grünliche, grüne, blasse, weiße und rote Nasen.

All das wälzte sich ihnen entgegen auf der Straße: sinnlos, eilend, massenhaft.

Nikolai Apollonowitsch, der mit bittenden Gesten Dudkin folgte, kaum imstande, ihn einzuholen, konnte sich noch immer nicht entschließen, mit der Hauptfrage hervorzutreten, die sich aus der Tatsache: der Schreiber des schrecklichen Briefes konnte unmöglich im Auftrage der Partei gehandelt haben, ergab; das war es aber, was ihn jetzt ausschließlich beschäftigte: diese Frage war ja für ihn von äußerster Wichtigkeit — seiner praktischen Konsequenzen wegen; und sie füllte sein ganzes Hirn aus.

»Sie glauben also — Sie glauben also, es hat sich in das Ganze ein Irrtum eingeschlichen?«

Nachdem er diesen zögernden Versuch gemacht hatte, an die ihn beschäftigende Frage heranzugehen, fühlte Nikolai Apollonowitsch, wie brennende Ameisen über seinen Körper zu kriechen begannen: wie, wenn das alles nur ein Verstellungsspiel war? dachte er, und die Angst packte ihn von neuem.

»Sie sprechen von dem Brief?« hob Alexander Iwanowitsch die Augen, nachdem er sich von dem Strom von Köpfen, Hüten, Schnurrbärten losgerissen hatte.

»Selbstverständlich — nicht nur ein Irrtum . . . Es ist nicht nur ein Irrtum: es ist ein niederträchtiger Schwindel in der ganzen Sache. Das Unsinnige ist tadellos durchgeführt und verrät ein sicher gestecktes Ziel: sich in die Beziehungen zweier eng miteinander verknüpften Menschen zu drängen, sie verwirrt zu machen und so in einem Chaos die Parteiaktion zu ertränken.«

»Dann helfen Sie mir aus der . . .«

»Eine unglaubliche Verhöhnung,« unterbrach ihn Dudkin, »ein Hineinziehen von Klatsch und Schauermärchen . . .«

»Dann flehe ich Sie an, raten Sie mir . . .«

»Und zu all dem mengte sich Verrat; es riecht nach Verhängnis, nach Grauenhaftem . . .«

»Ich weiß nicht . . . Ich bin ganz verwirrt . . . Ich . . . ich habe diese Nacht nicht geschlafen . . .«

»All das ist ein Schauermärchen . . .«

Von Mitleid übermannt, streckte Alexander Iwanowitsch Ableuchow die Hand entgegen; dabei merkte er, daß Nikolai Apollonowitsch viel kleiner war als er (Nikolai Apollonowitsch war eben nicht mit Größe gesegnet).

»Versuchen Sie Ihre ganze Kaltblütigkeit zu bewahren . . .«

»Mein Gott! Sie haben leicht von Kaltblütigkeit reden; ich habe diese Nacht nicht geschlafen . . . ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll . . .«

»Warten Sie . . .«

»Werden Sie zu mir kommen?«

»Ich sage Ihnen: warten Sie; ich werde Ihnen aus der Sache heraushelfen.«

Er sagte es so überzeugt und sicher, ja, fast feierlich, daß sich Ableuchow sofort beruhigte; aber die Wahrheit gesagt, überschätzte Alexander Iwanowitsch in seiner Aufwallung von Mitleid, die Möglichkeit für ihn zu helfen, in hohem Grade . . . In der Tat: in welcher Weise konnte er helfen? Er war ein Einsamer, durch die konspirative Stellung von der Außenwelt Abgesonderter; die Konspiration schnitt ihm den Weg selbst zur Parteitätigkeit ab; dem Komitee selbst aber hat er nie angehört, obschon er Ableuchow großsprecherisch vom Stabsquartier erzählt hatte; das einzige, was er tun konnte, war — mit Lipantschenko Rücksprache zu nehmen. Vor allem jedoch hieß es, den bis zum Äußersten erschütterten Ableuchow zu beruhigen.

Und er tat es.

»Ich hoffe, daß es mir gelingen dürfte, die verworrenen Fäden wieder zu ordnen; ich werde heute noch die nötigen Erkundigungen einziehen und . . .«

Er stockte; die nötigen Aufklärungen konnte ihm nur Lipantschenko geben; sonst niemand; wie aber, wenn dieser nicht in der Stadt war?

»Und . . .?«

»Und werde Ihnen morgen Antwort geben.«

»Ich danke Ihnen, ich danke.« Und Nikolai Apollonowitsch begann ihm in überschwenglicher Rührung die Hände zu drücken; das machte Alexander Iwanowitsch etwas verlegen; alles hing ja doch davon ab, ob Lipantschenko in der Stadt war und über welches Material dieser verfügte.

»Lassen Sie es nur: wir sind ja an der Sache alle gleich interessiert.«

Doch Nikolai Apollonowitsch, der bis zu diesem Augenblick nur Grauen empfunden hatte, vermochte jedes Hilfe versprechende Wort entweder ganz apathisch oder begeistert aufzunehmen.

Und Nikolai Apollonowitsch reagierte mit Begeisterung.

Alexander Iwanowitsch versank inzwischen wieder in seine Gedanken; eine kleine Tatsache beschäftigte ihn: Ableuchow versicherte ihm ja, daß der furchtbare Auftrag von einem Anonymus ausging; dieser Anonymus hatte Ableuchow wiederholt geschrieben; es war nun klar: dieser Anonymus war eben ein Provokator.

Weiter . . .

Aus den verworrenen Reden Ableuchows waren immerhin einige Folgerungen möglich: es haben zwischen ihm und der Partei besondere Beziehungen bestanden; aus diesen Sonderbeziehungen wucherte das Gemeine hervor; Alexander Iwanowitsch suchte sich noch etwas zu erklären, doch vergeblich: die Fülle der an ihnen vorbeiziehenden Nasen, Schnurrbärte, Schultern lenkte seine Gedanken von der gegebenen Richtung ab.

Der Newskij-Prospekt

Schultern, Schultern und Schultern zogen vorbei; sie bildeten zusammen einen pechschwarzen Brei; einen sehr zähen und langsam fließenden Brei; an diesen Brei heftete sich sofort auch die Schulter des Alexander Iwanowitsch, sie blieb sozusagen an ihm kleben; und Alexander Iwanowitsch Dudkin folgte seiner eigenwilligen Schulter, dem Gesetz der Unteilbarkeit des menschlichen Körpers gehorchend; so wurde er auf den Newskij-Prospekt geschleudert; wie ein Kaviarkörnchen wurde er in einen dicken Brei hineingedrückt.

Was ist ein Kaviarkörnchen? Es ist eine Welt und ein Konsumtionsgegenstand zugleich; als Konsumobjekt stellt das Kaviarkörnchen keine befriedigende Einheit dar; diese Einheit ist der Kaviar selbst: die Gesamtsumme der Kaviarkörnchen; der Konsument kennt keine Kaviarkörnchen, er kennt den Kaviar, den er auf das Butterbrot gestrichen bekommt. So werden Körper, einzelne Individuen, die auf das Trottoir des Newskij-Prospekts hineingeraten, zu einem Teil eines größeren Körpers, sie werden zu Körnchen des Kaviars: die Trottoire des Newskij-Prospektes sind die Butterbrotflächen. Dasselbe geschah auch mit Dudkins Körper, der aufs Trottoir geriet; dasselbe geschah auch mit seinen ihn beschäftigenden Gedanken: er verschmolz sich mit einem fremden, mit dem Verstand nicht zu fassenden Gedanken — dem Gedanken des riesigen, vielbeinigen Wesens, das durch den Newskij-Prospekt zog.

Auf dem Newskij-Prospekt gab es keine Menschen, dort war nur ein laut tönender, kriechender Vielfüßler; eine Vielheit von Worten wurde an ein und derselben Stelle durch eine Vielheit von Stimmen abgelagert; richtig geordnete Sätze wurden dort zerhackt durch Anprallen aufeinander; und die Worte flogen sinnlos und wahnsinnig geworden auseinander wie die Scherben zerschlagener, leerer Flaschen, die früher an einer bestimmten Stelle gelegen waren. Durcheinandergebracht verbanden sich die Worte dann wieder in einen endlosen Satz, ohne Anfang und Schluß; dieser Satz war jedes Sinnes beraubt und schien aus sinnlosen Fabeln zu bestehen: die endlose Sinnlosigkeit eines Satzes hing wie eine Rußwolke über dem Newskij-Prospekt; in der Luft erhob sich der schwarze Rauch der Hirngespinste.

Alexander Iwanowitsch riß seine Gedanken wieder aus der Flut zurück; sie kamen aus dem fließenden Wirrwarr ordentlich beschmutzt hervor; nach dem Bad in dem gedanklichen Kollektiv wurden auch seine Gedanken zu einem Wirrwarr, mit Mühe richtete er sie auf, die Worte, die gegen sein Ohr schlugen: auch die Worte des Nikolai Apollonowitsch; diese Worte klopften schon fortwährend an sein Ohr, aber fremde Worte drängten sich wie Splitter dazwischen und zerrissen die Sätze; Alexander Iwanowitsch konnte deswegen nicht den Sinn dessen auffangen, was an sein Trommelfell gelangte.

»Verstehen Sie,« — trommelte es vor seinem Ohr — »verstehen Sie mich, Alexander Iwanowitsch . . .«

»O ja, ich verstehe . . .«

Das Ohr Alexander Iwanowitschs bemühte sich, den an ihn gerichteten Satz aus dem Wirrwarr herauszuziehen, das war aber nicht leicht, denn fremde Worte fielen wie ein Steinhagel dazwischen:

»Ja, ich verstehe Sie . . .«

»In der Blechbüchse dort« — trommelte es wieder — »bewegte sich ein Leben: dort tickte so seltsam ein Uhrwerk . . .«

Alexander Iwanowitsch dachte:

»Blechbüchse? Was für eine Blechbüchse? Und was geht mich seine Blechbüchse an?«

Als er aber seine Aufmerksamkeit konzentriert hatte, begriff er plötzlich, daß der Senatorsohn von der Bombe sprach.

»Als ich sie aufgezogen hatte, begann sich drinnen ein Leben zu bewegen; und erst war sie doch tot . . . Ich habe nur den Schlüssel umgedreht und ja . . . und . . . ja, es schluchzte sogar etwas darin, ich versichere Sie; wie ein Betrunkener, den man aus dem Schlaf gerüttelt hat.«

»Haben Sie sie denn aufgezogen?«

»Ja, und sie begann zu ticken . . .«

»Die Uhr?«

»Auf vierundzwanzig Stunden.«

»Wozu haben Sie das getan?«

»Ich habe die Blechbüchse auf den Tisch gestellt und sah sie an, betrachtete sie; die Finger streckten sich von selbst nach ihr — einfach so, sie drehten von selbst den Schlüssel um . . .«

»Was haben Sie gemacht?!! Geschwind in den Fluß mit ihr!!«

In aufrichtigem Schreck schlug Alexander Iwanowitsch die Hände zusammen; seine Halsmuskeln zuckten.

»Verstehen Sie: sie schnitt eine Grimasse . . .«

»Die Blechbüchse?«

»Ich wurde überhaupt, während ich vor ihr stand, von verschiedenen Empfindungen erfaßt, die einander rasch abwechselten, von sehr verschiedenen . . . Weiß der Teufel, was das war . . . Ich habe, aufrichtig gesagt, noch nie im Leben derartiges empfunden . . . Ein Ekel hatte mich gepackt, aber so, daß ich von Ekel zerrissen wurde . . . Das blödeste Zeug kam mir in den Kopf; und vor allem das Gefühl des Ekels, eines furchtbaren, unermeßlichen Ekels: schon die Form der Blechbüchse ekelte mich an, der Gedanke, daß darin früher Sardinen herumschwammen (nicht ausstehen kann ich sie!); es war ein Ekel wie vor einem großen, harten Insekt, das mir mit seinem Insektengeplapper ans Ohr schlug; denken Sie: es wagte mir etwas zuzuraunen . . . Ha? . . .«

»Hm . . .«

»Es war ein Ekel wie vor einem Rieseninsekt, dessen Körper mit Übelkeit erregendem Blech überzogen war . . . Ich weiß nicht: war es das Insektenhafte oder war es das Blecherne . . . aber wissen Sie, mich drückte so der Ekel, als ob . . . na, als ob ich sie hinuntergeschluckt hätte . . .«

»Hinuntergeschluckt!? Pfui Teufel . . .«

»Ja, weiß der Kuckuck: geschluckt; verstehen Sie, was das heißt? Ich wurde eine gehende Bombe mit zwei Beinen, in deren Leib es widerwärtig tickte.«

»Leiser doch, Nikolai Apollonowitsch, man kann uns hören!«

»Ach, was werden die verstehen! Das ist ja gar nicht zu verstehen . . . Man muß sie auf dem Tisch vor sich gehabt haben, ihr Ticken gehört haben, vor ihr gestanden sein . . . Kurz, man muß alles selbst erlebt haben, in seinen Empfindungen . . .«

»Ah, wissen Sie,« — plötzlich wurde auch Alexander Iwanowitsch lebhaft — »ich verstehe Sie: ein Ticken . . . Einen Laut kann man verschieden in sich aufnehmen: wenn man auf ihn horcht, kann man neben dem einen auch etwas anderes hören . . . Ich habe einmal einen Neurastheniker bis zur Raserei gebracht: ich begann nämlich im Gespräch mit ihm mit dem Finger leicht auf den Tisch zu klopfen, mit gewissem Vorbedacht, wissen Sie, im Takt zum Gespräch; plötzlich sah er mich an, verstummte, wurde blaß und fragte dann: ‚Was machen Sie?‘ Ich sagte: ‚Nichts‘, fuhr aber fort, weiterzuklopfen . . . Denken Sie: der hat einen Anfall bekommen und war so verletzt, daß er mich von da ab bei Begegnungen auf der Straße nie mehr grüßte . . . Das kenne ich . . .«

»Nein, nein, nein: das kann man nicht verstehen . . . In mir hob sich etwas: Erinnerungen, unbekannte und doch bekannte Delirien . . .«

»Sie erinnerten sich Ihrer Kindheit, nicht wahr?«

»Als wenn sich alle Empfindungen von einer Binde gelöst hätten . . . Es bewegte sich etwas über dem Kopfe — wissen Sie? Wenn sich einem die Haare sträuben — das kann ich verstehen, aber das war es doch nicht, denn bei mir war der Schädel selbst offen. Jawohl: ich habe es diese Nacht verstehen gelernt, was das heißt: die Haare stehen einem zu Berge; es sind aber nicht die Haare: der ganze Körper ist es, der einem ‚zu Berge steht‘, alles sträubte sich wie einzelne Härchen: die Beine, die Arme, die Brust; wie wenn alles mit unsichtbaren Haaren bedeckt wäre und jemand dir mit einem Strohhälmchen darüber führe; oder wie wenn du in ein Kohlensäurebad tauchst und die mit Gas gefüllten Luftblasen dir über den Körper laufen: kitzeln, pulsieren, immer rascher, immer schneller, so daß, wenn du still liegen bleibst, dieses Kitzeln, Pulsieren, Herumfahren zu einer mächtigen Empfindung wird; wie wenn dein Körper in Stücke zerrissen würde, die einzelnen Teile deines Körpers in verschiedene Richtungen auseinandergezerrt würden: vorn wird dir das Herz herausgerissen, hinten ein Stück deines Rückenmarks; du wirst an den Haaren nach oben gezogen; nach unten an den Beinen gezerrt . . . Dann machst du eine Bewegung, und alles beruhigt sich wieder . . .«

»Kurz: Sie waren wie Dionysos, der Gemarterte, Nikolai Apollonowitsch . . . Doch Scherz beiseite: Sie sind jetzt auf einmal ganz anders, ich erkenne Sie nicht . . . Jetzt sprechen Sie nicht nach Kant . . . So habe ich Sie noch nie reden hören . . .«

»Ja, ich sagte es Ihnen schon: meine Empfindungen haben sich gleichsam von einer Binde gelöst . . . Nicht nach Kant, meinen Sie. Was Kant? Dort ist alles anders . . .«

»Dort ist, Nikolai Apollonowitsch, eine ins Blut übergeleitete Logik, das heißt Hirnempfindung im Blut oder Totenruhe; nun näherte sich Ihnen ein wirkliches Ereignis des Lebens, und das Blut stieg Ihnen zum Hirn; daher hört man auch in Ihren Worten jetzt das Pulsieren wirklichen Lebens . . .«

»So stand ich, wissen Sie, vor ihr, und es schien mir . . . ja, worüber sprach ich?«

»Sie sagten: und es schien Ihnen . . .«

»Und es schien mir, ich selbst blähe mich auf; vielmehr: ich bin schon längst ganz aufgebläht; es sind vielleicht schon hundert Jahre, daß ich mich immer mehr aufblähe; ohne es gemerkt zu haben, lief ich als aufgeblähtes Monstrum herum . . . Das ist wirklich schrecklich.«

»All das sind Empfindungen . . .«

»Aber sagen Sie: bin ich nicht . . . nicht . . .«

Alexander Iwanowitsch lächelte mitleidig:

»Im Gegenteil, Sie sind etwas magerer geworden: Ihre Wangen sind eingefallen, unter den Augen sind bläuliche Ringe.«

»Ich bin dort vor ihr gestanden . . . Nein, nicht ich — nicht ich, nein . . . ein Riese mit ungeheurem idiotischen Kopf, dessen Schädelnähte offen waren; und dabei pulsierte der Körper; über den ganzen, ganzen Körper liefen Nädelchen; sie stachen, schossen hinein; ich empfand deutlich auf einer Entfernung von mindestens einem Viertelarschin vom Körper die Stiche — ganz außerhalb des Körpers! . . . Ah! . . . Denken Sie nur! . . . Ich empfand unzählige Stiche körperlicher Art — außerhalb des Körpers . . . Und diese Stiche, die Pulsschläge — begreifen Sie doch das! — zeichneten mein Kontur über den Grenzen meines Körpers, diesseits der Haut: die Haut befand sich innerhalb des Empfindungskreises. Was war das? Sollte ich umgekrempelt gewesen sein, mit der Haut nach innen? Oder war mein Hirn nach außen übergesprungen?«

»Sie waren einfach außer sich . . .«

»Sie haben gut zu sagen ‚außer sich‘ — das sagen eben alle. Das ist ja nur eine Allegorie, die sich nicht auf körperliche Empfindungen stützt; oder, im besten Fall, nur auf eine Emotion. Ich fühlte mich aber ‚außer mir‘ ganz körperlich, sozusagen physiologisch, nicht emotional . . . Gewiß, ich war auch zugleich in Ihrem Sinne außer mir, das heißt, ich war erschüttert. Die Hauptsache war aber, daß sich meine organischen Empfindungen, die Empfindungen meiner Sinnesorgane um mich herum ausbreiteten, sich in den mich umgebenden Raum ergossen, erweiterten: ich flog auseinander wie eine Bombe . . .«

»Tsss!«

»In kleine Teile! . . .«

»Es kann uns jemand hören . . .«

»Wer war es also, der dort gestanden hat — ich oder nicht ich? Das geschah mit mir, in mir, außerhalb meiner . . . Merken Sie diese Anhäufung von Worten? . . .«

»Erinnern Sie sich: als ich neulich bei Ihnen war, wie ich das Paketchen brachte — da fragte, ich Sie: Warum bin ich — ich? Sie haben mich damals nicht verstanden . . .«

»Und jetzt habe ich alles begriffen: aber das ist doch ein Schrecken, ein Schrecken . . .«

»Es ist kein Schrecken, sondern das wahrhaftige Erleben des Dionysos: kein Erleben in Worten, im Buch . . . Ein Erleben des sterbenden Dionysos . . .«

»Der Teufel weiß, was das ist!«

»Beruhigen Sie sich doch, Nikolai Apollonowitsch! Sie sind furchtbar müde; und das ist nicht zu verwundern: in einer Nacht so viel zu erleben . . . Das könnte auch einen Stärkeren umwerfen.«

Alexander Iwanowitsch legte ihm die Hand auf die Schulter; die Schulter bebte; Alexander Iwanowitsch empfand jetzt direkt das Bedürfnis, sich von dem nervös plappernden Ableuchow frei zu machen und über das Geschehene ins klare zu kommen.

»Ich bin ja ruhig, vollständig ruhig; ich wäre jetzt sogar nicht abgeneigt, ein Gläschen zu trinken; ich fühle mich gehoben, frisch . . . Sie können mir ja mit Sicherheit bestätigen, daß der Auftrag ein Schwindel war?«

Das konnte nun Alexander Iwanowitsch nicht mit Sicherheit sagen; trotzdem sagte er kurz und ungemein heftig:

»Ich bürge dafür . . .«

Die Offenbarung

Endlich verabschiedete er sich.

Jetzt hieß es vorwärts schreiten: immerzu schreiten, schreiten bis zur völligen Berauschung des Gehirns; dann vor das Tischchen im kleinen Restaurant niedersinken, Wodka trinken und nachdenken.

Alexander Iwanowitsch fiel es plötzlich ein: der Brief, der Brief! Aber hatte er nicht selbst einmal einen Brief von der gewissen Person übernommen, um ihn — Ableuchow zu übergeben?

Wie hatte er doch alles vergessen! Den Brief hatte er bei sich, als er Ableuchow damals mit dem Paket besuchte, doch hatte er vergessen, ihn abzugeben; er übergab ihn bald darauf Warwara Ewgrafowna, die ihm sagte, sie werde Ableuchow treffen. Sollte es am Ende der verhängnisvolle Brief gewesen sein? . . .

Aber nein doch, nein.

Dieser konnte es nicht gewesen sein; Ableuchow bekam ja jenen Brief, wie er berichtet hat, auf einem Ball durch eine — Maske . . . Ball, Maske — und Warwara Ewgrafowna Ssolowjowa!

Nein, nein!

Das beruhigte Alexander Iwanowitsch: dieser Brief war es also nicht; so war er, Alexander Iwanowitsch Dudkin, an der Sache unbeteiligt; vor allem aber: der furchtbare Auftrag konnte nicht von Lipantschenko ausgehen; das behielt er als Haupttrumpf in der Hand; denn würde der Brief von Lipantschenko ausgegangen sein, so müßte dieser ihm als eine zweifelhafte Person erscheinen und er, Dudkin, würde sich dann sagen müssen, daß er mit einer zweifelhaften Person in Verbindung stehe.

Das wäre ein Wahnsinn.

Kaum, daß er sich all das überlegte, und im Begriff, einen Trambahnwagen zu besteigen, den Droschkenstrom zu durchqueren dachte, als er eine Stimme vernahm.

»Alexander Iwanowitsch, einen Augenblick . . . warten Sie . . .«

Er drehte sich um und sah Nikolai Apollonowitsch, der, kaum Atem holend, am ganzen Körper zitternd, mit Fieberflämmchen in den Augen, hinter ihm herlief und ihm zur Verwunderung der Passanten mit dem Stock lebhaft zuwinkte . . .

Einen Augenblick . . .

Herrgott, Sakra! . . .

Warten Sie, Alexander Iwanowitsch: ich kann mich nicht so ohne weiteres von Ihnen trennen . . . Ich muß Ihnen nur sagen . . . Er nahm Dudkin bei der Hand und führte ihn zum Schaufenster eines Ladens, wo sie nun stehenblieben.

»Mir eröffnete sich noch etwas . . . War es eine Offenbarung oder so etwas gewesen . . .? Dort vor der Blechbüchse . . .«

»Hören Sie, Nikolai Apollonowitsch, ich muß gehen: in Ihrer eigenen Sache . . .«

»Ja, ja, ja: nur noch einen Augenblick . . . eine kleine Sekunde . . .«

»Schön, schön: ich höre zu . . .«

Nikolai Apollonowitsch sah jetzt aus, als wäre eine Inspiration über ihn gekommen; vor Freude vergaß er, daß der Knoten eigentlich noch nicht gelöst war; und daß — was die Hauptsache war: die Blechbüchse noch tickte und unermüdlich daran arbeitete, die vierundzwanzig Stunden zu überwinden.

»Wie eine Offenbarung war es: als wachse ich, wissen Sie, in die Unermeßlichkeit hinein, den Raum überwindend; ich versichere Sie: es war ganz real — und zugleich mit mir wuchsen alle Gegenstände: das Zimmer, die Aussicht auf die Newa, die Spitze der Peter-Paul-Festung: alles wuchs, dehnte sich; schon näherte sich das Wachsen seinem Abschluß (es gab einfach keine Raummöglichkeit mehr), da schien es mir: in diesem Abschluß, in dem Ende des Wachsens, in seiner Vollendung lag der Anfang von irgend etwas, lag etwas Fertiges . . . Und dieses ‚Etwas‘ war so unfaßbar und so unangenehm und so sinnlos; sinnlos aber vielleicht nur deswegen, weil mir das Organ fehlte, mit dessen Hilfe ich in diesem Sinnlosen, dem über den Abschluß Hinausreichenden einen Sinn gefunden hätte. An Stelle der sinnlichen Empfindung hatte sich eine ‚Null‘empfindung eingestellt; und das Wahrgenommene war keine Größe irgendwelcher Art, nicht einmal eine Null, sondern kleiner als eine Null. Die Sinnlosigkeit des Ganzen bestand vielleicht darin, daß die Empfindung — eine solche von ‚Null minus Etwas‘ war.«

»Hören Sie,« unterbrach ihn Alexander Iwanowitsch: »sagen Sie mir lieber: hat Ihnen Warwara Ewgrafowna Ssolowjowa einen Brief übergeben? . . .«

»Einen Brief? . . .«

»Ja, einen Brief? . . .«

»Ach, Sie meinen die Verse mit der Unterschrift ‚Flammende Seele‘?«

»Na, ich weiß es nicht; kurz: haben Sie einen Brief von Warwara Ewgrafowna bekommen?«

»Ja, ja . . . Nun also: ich sage — ‚Null minus Etwas‘. Was ist das aber?«

Mein Gott, immer dasselbe!

»Sie sollten doch die Apokalypse lesen . . .«

»Sie haben mir schon früher einmal zum Vorwurf gemacht, daß ich die Apokalypse nicht kenne; ich will sie jetzt lesen, ganz bestimmt. Ich fühle, daß, nachdem ich durch Sie wegen der Sache beruhigt bin, in mir das Interesse für Ihre Lektüre erwacht ist; ich werde mich jetzt, wissen Sie, zu Hause einschließen, werde Brom trinken und die Apokalypse lesen; es interessiert mich ganz außerordentlich; etwas blieb in mir von dieser Nacht zurück: alles ist so und doch wieder anders . . . Sehen Sie zum Beispiel hier das Schaufenster . . . In ihm spiegeln sich die Gegenstände ab: da geht ein Herr mit steifem Hut vorbei — sehen Sie — jetzt ist er fort . . . Da sind wir beide, sehen Sie? Und alles ist so sonderbar . . .«

»Sonderbar . . . ja . . .« Alexander Iwanowitsch nickte zustimmend: o, was das »sonderbar« betrifft, so war er darin wohl Spezialist.

»Oder auch: die Gegenstände . . . Weiß der Teufel, was das ist: alles ist so, wie es war, und doch wieder anders . . . Das ist mir bei der Betrachtung der Blechbüchse klar geworden: eine Blechbüchse wie jede andere — und doch: keine, nein, keine Blechbüchse, sondern . . .«

»Tsss . . .«

»Eine Blechbüchse — furchtbaren Inhalts!«

»Tragen Sie nur die Blechbüchse geschwind in die Newa; dann wird sich auch alles geben, alles wird wieder auf seine richtige Stelle kommen . . .«

»Nein, nein, nie wird es wieder, wie es war, nie . . .«

Er sah sich traurig nach den vorübergehenden Paaren um; er seufzte traurig, denn er wußte: nie wird es wieder, wie es war, nie, nie wieder . . .

Alexander Iwanowitsch staunte über den Beredsamkeitsstrom, der sich aus dem Munde Ableuchows ergoß; er wußte im Grunde genommen gar nicht, was er damit anfangen solle: sollte er ihn beruhigen, ihm beipflichten oder ihm im Gegenteil widersprechen; oder das Gespräch abbrechen (Ableuchows Anwesenheit bedrückte ihn jetzt sehr).

»Ihre Empfindungen, Nikolai Apollonowitsch, erscheinen nur Ihnen selbst merkwürdig; Sie sind einfach bis jetzt in ungelüftetem Zimmer dagesessen und haben Kant studiert; nun gerieten Sie in einen Wirbelsturm, und da begannen Sie auf sich aufzupassen . . . Sie horchten auf den Sturm und entdeckten sich selbst in ihm . . . Ihre Empfindungen sind schon oft und oft beschrieben worden; sie sind Gegenstand der Beobachtungen, des Studiums . . .«

»Wo aber, wo?«

»In der Belletristik, in der Lyrik, in der Psychiatrie, in okkultischen Forschungen . . .«

Alexander Iwanowitsch lächelte unwillkürlich über diese schreiende (von seinem Standpunkte) Unwissenheit dieses geistig hochentwickelten Scholastikers, dann fuhr er lächelnd fort:

»Der Psychiater . . .«

»?«

»Würde es bezeichnen . . .«

»Ja, ja, ja . . .«

»All das . . .«

»Dieses: ‚das und wieder nicht das‘?«

»Ja, nennen Sie es, wie Sie wollen; er würde es mit dem ihm geläufigen Worte: ‚Pseudohalluzination‘ bezeichnen.«

»?«

»Das bedeutet — eine Art symbolischer Empfindungen, die dem reizauslösenden Geschehnis nicht entsprechen.«

»Ah was: so etwas sagen ist so gut wie nichts sagen.«

»Ja, Sie haben wohl recht.«

»Nein, solche Erklärung kann mich nicht befriedigen . . .«

»Gewiß, der Ultramoderne würde diese Empfindungen als die der Urtiefe bezeichnen, das heißt, er würde einer nicht alltäglichen symbolischen Empfindung ein passendes Bild zu geben versuchen.«

»Das wäre doch nur eine Allegorie.«

»Verwechseln Sie nicht Allegorie mit Symbol: Allegorie ist ein Symbol, das zu einer stehenden Redensart geworden ist; ein Beispiel dafür ist das übliche ‚außer sich‘; das Symbol aber ist eine Appellation an das wirklich Erlebte, zum Beispiel von Ihnen — an Ihr Erlebnis bei der Blechbüchse; es ist eine Aufforderung an die anderen, künstlich das zu erleben, was der Betreffende wirklich erlebt hatte . . . Doch wäre ein anderes Wort hier zutreffender: nämlich: das Pulsieren des Elementarkörpers. In dieser Weise hatten Sie eben Ihr Erlebnis gehabt; die erlebte Erschütterung hat Ihren Elementarkörper ganz real mitgerissen, er hat sich für einen Augenblick von Ihrem physischen Körper gelöst, und darin liegt der Grund all Ihrer Empfindungen: stehende Redensarten wie ‚Abgrundtiefe‘ oder ‚außer sich‘ haben Tiefe angenommen, wurden für Sie lebenswahr, wurden Symbol; nach der Lehre verschiedener mystischer Schulen verwandeln die Erlebnisse des Elementarkörpers Worte und Allegorien in Realitäten und Symbole; die Werke der Mystiker sind erfüllt von solchen Symbolen, und ich würde Ihnen raten, jetzt, nachdem Sie das alles erlebt haben, die Mystiker zu lesen . . .«

»Ich sagte Ihnen schon, daß ich es tun werde . . .«

»Was Ihre Erlebnisse selbst betrifft, so kann ich nur noch folgendes hinzusetzen: Ihre ersten Empfindungen nach Ihrem Tode werden ganz derselben Art sein, wie Plato, gestützt auf das Zeugnis der Bacchanten, uns versichert . . . Es gibt Experimentalschulen, in denen man solche Empfindungen bewußt hervorruft. Sie glauben es nicht? . . . Solche gibt es, das kann ich Ihnen fest versichern, denn mein einziger Freund, der mir überhaupt am nächsten stehende Mensch, gehört einer solchen Schule an; die Experimentalschule würde Ihren Alpdruck durch zielbewußte Arbeit in gesetzmäßige Harmonie verwandeln, indem sie den Rhythmus, die Bewegungen, die Pulsation studieren und das nüchterne Bewußtsein in die Empfindungen einführen würde, zum Beispiel in das Gefühl der Ausbreitung . . . Übrigens stehen wir noch immer da und plaudern . . . Sie müssen nach Hause eilen und die Blechbüchse ins Wasser werfen; und bleiben Sie ja zu Hause, keinen Schritt hinaus (Sie werden sicher beobachtet); bleiben Sie zu Hause sitzen, trinken Sie Brom, und lesen Sie die Apokalypse: Sie sind ja sehr abgespannt . . . Übrigens lassen Sie lieber das Brom; Brom stumpft das Bewußtsein ab; wer Brom mißbraucht hat, der taugt zu nichts mehr . . . Und ich muß nun eilen, in Ihrer Sache.«

Alexander Iwanowitsch drückte rasch Ableuchows Hand und tauchte in den Strom schwarzer Hüte unter; erst aber drehte er sich wieder um und rief:

»Vergessen Sie nicht — die Blechbüchse in den Fluß!«

Seine Schulter klebte nun an anderen Schultern, und rasch schleifte ihn der Vielfüßler mit sich fort.

Nikolai Apollonowitsch fuhr zusammen: in der Blechbüchse brodelte ja inzwischen das Leben; auch in diesem Augenblick war der Uhrenmechanismus an der Arbeit; geschwind nach Hause, geschwind; er wollte gleich eine Droschke nehmen; zu Hause werde er sie in die Tasche stecken, und dann in die Newa mit ihr!

Nikolai Apollonowitsch fühlte plötzlich wieder, wie er sich zu dehnen begann; zugleich fühlte er: es rieselt.

Die Karyatide

Dort hinter der Kreuzung gähnte wie ein dunkler Schlund die Straße; steinern erhob sich in ihr vor einem Portal die Karyatide.

Es war das Amt; jenes Amt, in dem Apollon Apollonowitsch Ableuchow unbeschränkt herrschte.

Der Herbst hat seine Zeitgrenze; und der Winter hat seine Zeitgrenze; zyklisch verlaufen selbst die Zeitperioden. Die bärtige Karyatide aber erhob sich über die Zyklen: halsbrecherisch stemmte sie ihren steinernen Huf gegen die Mauer; man glaubte: gleich würde sie sich losreißen und als Steinmasse auf die Straße stürzen.

Und doch — sie stürzt nicht hinunter.

Was sie über sich sieht, ist wie das Leben veränderlich, unerklärlich, unfaßbar: Wolken ziehen dahin; die weißen Schäfchen wandeln sich in weiße Unfaßlichkeiten; oder — es rieselt; es rieselt — so wie jetzt, wie gestern, wie vorgestern.

Das, was sie zu ihren Füßen sieht, ist ebenso unveränderlich wie sie selbst: unveränderlich ist der Zug des menschlichen Vielfüßlers auf dem erleuchteten Trottoir; oder wie im Augenblick, bei der trostlosen Feuchtigkeit: das tödlich eintönige Schlürfen der dahineilenden Füße; und ewig grün sind die Gesichter; nein, an ihnen sieht man nicht, daß große Ereignisse im Gange sind.

Wer den dahinziehenden Strom von Hüten beobachtete, hätte nicht gesagt, daß schon im Theater in Kutais aus dem Publikum vor kurzem der Ruf ertönte: »Staatsbürger! . . .«, daß der Polizeihauptmann in Tiflis eine Bombenfabrik entdeckt hat, daß in Odessa die Bibliothek geschlossen wurde; daß an zehn Universitäten Rußlands Meetings abgehalten wurden — an ein und demselben Tag, zu ein und derselben Stunde; daß zur gleichen Zeit Tausende überzeugter, jüdischer Revolutionäre zu Versammlungen zogen; daß die Bewohner von Perm rumorten; daß im selben Augenblick die von Kosaken umzingelte Stahlfabrik in Reval die rote Flagge gehißt hat.

Wer den dahinziehenden Hutstrom beobachtete, hätte nicht gesagt, das von überallher neues Leben hervorsprudelte; daß schon auf der Strecke Moskau — Kasan der Streik der Eisenbahner begonnen hat; daß auf vielen anderen Strecken die Arbeit eingestellt wurde; daß die Arbeiter in den Bahnhöfen die Fenster einschlugen, die Eisenbahnschuppen zerstörten; daß Zehntausende vom Starrkrampf getroffene Waggons überall stillstanden, daß der Verkehr allmählich erstarb. Angesichts dieses Hutstroms hätte niemand gesagt, daß in Petersburg die Ereignisse in vollem Gange waren, daß sich die Setzer aller Zeitungen vereint und eigene Delegierte gewählt haben; daß an den Riesenwerken bei Petersburg gestreikt wurde und überall in den Vororten die mandschurischen Mützen zu sehen waren; daß jeder einzelne — er und doch wieder nicht er war; daß der Strom nicht nur einfach dahinzog, sondern dahinzog mit dem Gefühl der Unruhe in sich; daß jeder die Empfindung hatte, sein Kopf sei ein »Idiotenkopf mit offenen Schädelnähten«, daß dieser Kopf jeden Augenblick von einem Säbel oder sogar von einem einfachen Holzknüppel gespalten werden konnte. Hätte da einer sein Ohr auf den Boden gedrückt und gelauscht — er hätte ein liebliches Gemurmel vernommen: ein Revolverknattern, das sich von Archangelsk bis zur Krim, von Libau bis Blagoweschtensk ausbreitete.

Doch war die Zirkulation noch ungestört: monoton, langsam, leblos zog noch der Hutstrom zu den Füßen der Karyatide dahin.


Die graue Karyatide beugte sich vornüber und blickte auf die sich immer gleichbleibende Menge zu ihren Füßen; unendlich war die Verachtung, die sich im alten Stein der Augen ausdrückte; unendlich war der Überdruß, unendlich die Verzweiflung.

Und — o, hätte sie doch die Kraft!

Wie hätten sich die muskulösen Arme über die steinernen Schultern gereckt; und der von dem Meißel zerhauene Nacken — wie flöge er wild nach oben; in einem lauten, verzweifelten, langgezogenen Brüllen risse sich der Mund auf; du hättest gesagt: »Es ist das Brüllen des Sturmes« (so brüllten die schwarzen Tausende von Mützen der Huligans während der Pogrome). Wie aus einer Lokomotive würde sich auf die Straße ein Dampfstrom ergießen; die von der Straße losgerissene Balkonbalustrade würde erstaunt auf das Pflaster aufschlagen und in laut tönende, feste Steine zerfallen (so fielen bald darauf die Steine gegen die Fenster der Regierungsgebäude); zu einem Steinhagel würde dieses Meißelwerk werden, während es erst in der trüben Luft einen ebenso trüben wie blendenden Bogen bilden würde; und als blutige Splitter würden diese Hagelkerne auf den erschreckten Hüten der hier monoton, langsam, leblos Vorüberziehenden liegenbleiben . . .


An diesem grauen Petersburger Tage flog auf einmal die schwere, prächtige Tür auf; der graue, glattrasierte Lakai mit Goldtressen auf dem Revers sprang heraus, um dem Kutscher das Zeichen zu geben; die Pferde zogen wild an und rollten pfeilschnell den lackierten Wagen an das Portal heran; der graue Lakai mit dem glattrasierten Gesicht streckte sich mit dümmster Miene in Positur, während Apollon Apollonowitsch Ableuchow mit vorgebeugtem Rücken, unrasiert, mit krankhaft aufgedunsenem Gesicht und herabhängender Unterlippe seine schwarz behandschuhte Hand an den Rand des glänzend schwarzen Zylinders führte.

Apollon Apollonowitsch warf einen kurzen, von Gleichgültigkeit erfüllten Blick auf den Lakai, auf den Wagen, auf den Kutscher, auf die schwarze Brücke, auf die gleichmäßige Fläche der Newa, in der sich die dumpfe, vielschlotige Ferne zeichnete, während sich hinten aschgrau die Wassiljewski-Insel breitete mit den vielen Tausenden von Streikenden, die sie beherbergte.

Der stramme Diener schlug die Wagentür zu, die das alte Wappen, einen Ritter, von einem Einhorn durchbohrt, trug; der Wagen stürmte in den schmutzigen Nebel hinein, an der mattdunklen Riesensilhouette des Issakijdoms, an dem Reiterdenkmal des Kaisers Nikolaus vorbei, auf den Newskij, wo die Massen sich stauten, wo sich mit leichtem Säuseln der rote flatternde Stoff über die Straße spannte; die schwarzen Konturen des Wagens, die Silhouette vom Dreimaster des Lakaien durchschnitt plötzlich die schwarze, dichte Masse, aus der lauter Gesang dem Wagen entgegenschlug.

Der Wagen hielt in der Menge.

Fort, fort, Tomy!

Mais j’espère . . .«

»Sie hoffen?«

»Mais j’espère que oui«, schallte des Ausländers Stimme hinter der Tür.

Die Schritte Alexander Iwanowitschs auf der Holzdiele der Terrasse tönten absichtlich laut; Alexander Iwanowitsch liebte es nicht zu horchen. Die ins Zimmer führende Tür war halb offen.

Es wurde immer dunkler — blauer.

Man achtete auf seine Schritte nicht. Alexander Iwanowitsch Dudkin beschloß, nicht weiter zu horchen, und er überschritt die Schwelle des Zimmers.

Ein schwerer Duft erfüllte hier die Luft: eine Mischung von Parfüm und scharfer Säure eines Medikamentes.

Soja Sacharowna Fleisch erging sich wie immer in Liebenswürdigkeiten. Sie gab sich die größte Mühe, einen fremden Besucher zum Bleiben zu bewegen; der Fremde wehrte aber dankend ab.

Es wurde immer dunkler — blauer.

»Ah, ich freue mich sehr, Sie zu sehen, sehr . . . Es ist furchtbar nett, daß ich Sie sehe . . . Putzen Sie bitte die Füße ab, und nehmen Sie Ihren Überzieher ab.«

Alexander Iwanowitsch drückte kühl Sojas Hand.

»Ich hoffe, Sie haben einen sehr schönen Eindruck von Rußland gewonnen . . . Nicht wahr? . . .« wandte sie sich wieder an den Fremden. — »Welcher Aufstieg!«

Der Franzose trocken:

»Mais j’espère . . .«

Soja Sacharowna Fleisch rieb sich die vollen Händchen und sah mit ihrem liebkosenden, doch etwas verlegenen Blick bald den Franzosen, bald Alexander Iwanowitsch an; sie hatte runde Augen, die ihr aus den Augenhöhlen hervorquollen. Soja Sacharowna mochte etwa an die Vierzig sein; Soja Sacharowna war eine Brünette mit großem Kopf; ihre festen Wangen waren emailliert, und der Puder fiel von ihnen herunter.

»Er ist noch nicht da . . . Sie kommen doch zu ihm?« fragte sie wie beiläufig Alexander Iwanowitsch; in dieser flüchtigen Frage verbarg sich eine gewisse Unruhe; vielleicht verbarg sich darin Feindseligkeit; vielleicht sogar Haß; doch die Unruhe, Feindseligkeit und der Haß verdeckte der Blick und das liebenswürdige Lächeln; so verdeckt die klebrige Süßigkeit der Bonbons, die allenthalben in den Läden verkauft werden, all den Schmutz der ungelüfteten Räume, wo sie gemacht werden.

»Ich werde auf ihn warten.«

Alexander Iwanowitsch verneigte sich vor dem Franzosen, dann langte er nach einer der Birnen, die in einer Fruchtschale auf dem Tisch standen; Soja Sacharowna stellte darauf die Schale etwas weiter weg; Alexander Iwanowitsch aß Birnen gar zu gern. Soja Sacharowna ließ inzwischen den Franzosen nicht los:

»Ja, ja, ja: wir erleben Dinge von geschichtlicher Bedeutung . . . Überall Mut und Jugend . . . Der zukünftige Geschichtsschreiber wird . . . Glauben Sie es nicht? Besuchen Sie nur die Meetings . . . Hören Sie nur die Reden voll überschwenglicher Gefühle; sehen Sie sich nur die Begeisterung an . . .«

Der Franzose schien keine Lust zur Fortsetzung des Gesprächs zu haben.

»Pardon, madame, monsieur viendrat il bientôt?«

Um dieses Gespräch, das sonderbarerweise sein nationales Gefühl verletzte, nicht zu hören, trat Alexander Iwanowitsch ans Fenster, wobei er fast über einen buschigen Bernhardiner stolperte, der auf dem Boden liegend gemächlich einen Knochen bearbeitete.

Aus den Fenstern des kleinen Landhauses sah man das Meer: es wurde immer dunkler — blauer.

Das Auge des Leuchtturms drehte sich im Kreise um; das Licht flimmerte — eins, zwei, drei! — und es erlosch; der dunkle Mantel eines Passanten flatterte in der Ferne; noch weiter sah man, wie sich die Wellen wiegten; die Lichter am Ufer lagen wie verstreute Funkensplitter da; der vieläugige Strand borstete sich mit seinem Schilf; weit, weit tönte eine Sirene.

Was für ein Wind!

»Bitte, da ist die Aschenschale . . .«

Die Aschenschale blieb vor Alexander Iwanowitschs Nase stehen; doch Alexander Iwanowitsch war ein sehr empfindlicher Mensch: er warf den Zigarettenstummel in den Topf des Blumenstocks am Fenster, aus einem Protestgefühl heraus.

»Wer singt denn da?«

Soja Sacharowna machte eine Geste, aus der hervorging, daß sie den Fragenden als einen rückständigen Menschen betrachtete.

»So? Das wissen Sie nicht? . . . Ja, gewiß: Sie wissen es eben nicht . . . Also: es ist nämlich Schischnarfijew . . . was das aber heißt — hinter seinen vier Wänden hocken . . . Schischnarfijew hat sich uns allen sehr angeschlossen . . .«

»Ich habe diesen Namen schon irgendwo gehört . . .«

»Schischnarfijew hat sehr viel Kunstsinn . . .«

Soja Sacharowna sagte die letzten Worte mit solcher Betonung, als hätte Alexander Iwanowitsch an den künstlerischen Fähigkeiten des genannten Sängers in unangebrachter Weise Zweifel geäußert. Doch Alexander Iwanowitsch dachte gar nicht daran, die Talente des Künstlers zu bemäkeln.

Er fragte bloß:

»Ist er Armenier? Bulgare? Georgier?«

»Nein, ach nein . . .«

»Chorwate? Persier?«

»Ja, er ist ein Persier aus Schemacha; er war vor kurzem bei dem Aufruhr in Ispaganj beinahe umgebracht worden . . .«

»Ah, so: er ist also ein Jungperser?«

»Selbstverständlich . . . Sie wußten es nicht? . . . Schämen Sie sich . . .«

Soja Sacharowna übergoß ihn mit einem verächtlichen Blick und wandte sich wieder dem Franzosen zu:

Alexander Iwanowitsch hörte der Unterhaltung der beiden nicht zu, natürlicherweise: er horchte aber auf die hoffnungslos zerrissene Baritonstimme; der Held Jungpersiens sang eine tiefelegische Romanze, und tiefe Wehmut wehte von ihr auf Alexander Iwanowitsch. Flüchtig ging es aber Alexander Iwanowitsch nebenbei durch den Kopf, daß Soja Sacharownas Gesichtszüge den verschiedensten schönen Frauen entnommen sein konnten: der einen die Nase, der anderen der Mund, der dritten die Ohren. Zusammen ergaben die Züge jedoch ein Gesicht, das keinesfalls angenehm wirkte und das nichts weniger als schön war. Ihrem Typus nach gehörte aber Soja Sacharowna zu den üppigen orientalischen Brünetten.

Die laut plappernde Stimme Soja Sacharownas drang indessen doch an Dudkins Ohr:

»Es handelt sich wohl um das Geld?«

Schweigen.

»Das Geld aus dem Auslande wird man wohl benötigen.«

Zur Antwort eine unruhige Handbewegung.

»Nach der Zerstörung der Organisation in T. T. wäre es ratsamer für Ihren Redakteur, nicht hierherzukommen . . .«

Der Franzose gab keinen Laut von sich.

»Denn es sind Dokumente entdeckt worden . . .«

Alexander Iwanowitsch hörte wieder das elegische Singen des Jungpersers. Inzwischen schien der Franzose die Geduld verloren zu haben. Etwas barsch sagte er:

»Je serai bien triste d’avoir manqué l’occasion de parler à monsieur.«

»Sie können ebenso mit mir sprechen . . .«

»Excusez, dans certain cas je préfaire parler personnellement . . .«

Ein Busch schlug mit seinen Zweigen an das Fenster.

Zwischen den Zweigen sah man die weiße Gischt der Wellen schimmern, dämmerig und blau schaukelte ein Segelboot auf den Wellen, und über den Segeln verdichtete sich blau der Abend.

Die Segel schienen zu entschwinden in diesem dämmernden Blau.

Da hielt plötzlich vor der Gartentür eine Droschke, und ein korpulenter Herr wälzte sich aus ihr herunter. Die ungelenken Finger der mit einem halben Dutzend hin und her baumelnder Pakete beschwerten Hand suchten lange im Portemonnaie herum; eine unterm Arm gehaltene Tüte rutschte dabei nach unten, und flugs kullerten mehrere schöne Äpfel im Schmutz der Straße.

Der Herr beugte sich, um die Äpfel vom Boden aufzulesen; sein Mantel ging ihm dabei auf, und er schien schwer zu keuchen; beim Schließen der Gartentür wären ihm die Pakete beinahe wieder in den Schmutz gefallen.

Endlich schritt er auf dem gelben, von Sträuchern umsäumten Gartenweg dem Hause zu; sofort verbreitete sich eine drückende Atmosphäre; der mit einer Ohrenmütze bedeckte geierartige Kopf saß schwer auf den Schultern; die tiefsitzenden Äuglein aber liefen diesmal nicht unruhig hin und her (wie sie es immer taten, wenn ein fremder Blick sie traf); die tiefsitzenden Augen blickten müde und fest zu den Fenstern des Hauses hinüber.

Alexander Iwanowitsch bemerkte sogar in diesen Augen eine besondere, eigene Freude, zu der sich Müdigkeit und Traurigkeit gesellten — eine rein tierische Freude, nach der Hetze des Tages bald ausruhen, sich erwärmen und in ausgiebiger Weise seinen Hunger stillen zu können. So erscheint das Raubtier, während es in seine Höhle zurückkehrt, zahm und mild und läßt die auch ihm innewohnende Gutmütigkeit erblicken; es beschnuppert dann wohlwollend sein Weibchen und leckt die freudig winselnden Jungen ab.

War das er?

Ja, das war er; und er sah diesmal harmlos und prosaisch aus; und doch: es war er.


»Da kommt er auch!«

»Enfin . . .«

»Lipantschenko! . . .«

»Guten Tag . . .«

Mit freudigem Knurren sprang der gelbe Bernhardiner auf und warf sich, mit einem Satz an die andere Ecke des Zimmers gelangend, seinem Herrn auf die Brust.

»Fort, fort, Tomy! . . .«

Lipantschenko, bemüht, die Pakete vor dem Hunde zu schützen, hatte nicht ein mal Zeit gehabt, seine ungerufenen Besucher in Augenschein zu nehmen: auf seinem breiten, flachen Gesicht drückte sich teils Humor, teils hilfloser Zorn aus; ein direkt kindlicher Zug huschte plötzlich in seinem Gesicht auf:

»Schon wieder das Ablecken!«

Er wandte sich hilflos von Tomy ab und rief:

»Soja Sacharowna, so helfen Sie mir doch loszukommen . . .«

Aber schon berührte die breite Hundezunge ehrfurchtslos die Nasenspitze des Herrn; dieser schrie laut auf (und dabei, man denke nur, lächelte er) . . .

»Aber Tomy!«

Da erst bemerkte er die Besucher, die auf ihn warteten und etwas ungeduldig über das Familienidyll lächelten; die Heiterkeit verschwand aus seinem Gesicht, und er sagte etwas barsch und wenig höflich:

»Bitte, gleich . . .«

Dabei bebte die herunterhängende Unterlippe, und man konnte ihr ablesen:

»Selbst hier keine Ruhe . . .«

Er ging in eine Ecke und bemühte sich lange, die neuen und etwas engen Überschuhe abzustreifen; dann legte er ebenso langsam den Überzieher ab, wobei er schwer und mühevoll etwas aus der Tasche hervorzog (man hätte glauben können — einen zwölfläufigen Browning); was aber zum Vorschein kam, war — eine Puppe.

Diese Puppe warf er auf den Tisch mit den Worten:

»Das ist für Akulinas kleine Manja . . .«

Da sperrte jeder der Besucher den Mund auf.

Endlich wandte sich der Hausherr, indem er sich die erfrorenen Hände rieb, mit gewissem, verlegenem Mißtrauen an den Franzosen:

»Bitte . . . da hinein . . . da . . .«

Zugleich warf er Dudkin zu:

»Bitte gefälligst zu warten . . .«

Häßlich . . .

Seltsam!

Das Verhalten der gewissen Persönlichkeit Dudkin gegenüber hatte bis zu diesem Tage den Charakter größter Verbindlichkeit getragen; ja, es war nur Verbindlichkeit gewesen, und zwar Verbindlichkeit etwas zudringlicher Art; durch Monate hindurch, bei den verschiedensten Anlässen oder auch ohne diese hatte die gewisse Persönlichkeit ein Ornament aus Schmeichelei um Dudkin gewoben: diese Schmeichelei ernst zu nehmen — das war so angenehm gewesen.

Und Dudkin hatte sie ernst genommen.

Er hatte die gewisse Persönlichkeit wohl verachtet, er hatte ihr gegenüber einen physiologischen Widerwillen empfunden; ja, er hatte all diese Tage, die für ihn eine Krise in seinem tiefsten Glauben bedeuteten, jede Begegnung mit der Persönlichkeit gemieden. Doch diese hatte ihn überall zu erreichen gesucht; seine oft mehr als spöttischen Bemerkungen mit stoischer Gleichmütigkeit, zuweilen sogar mit zynischem Lachen entgegengenommen; hätte er sie über den Grund dieses Lachens gefragt, sie hätte geantwortet:

»Ich lache — über Sie.«

Dudkin hatte sich bemüht, der Persönlichkeit zu beweisen, daß das Programm ihrer Partei unhaltbar sei, abstrakt, blind — sie war damit einverstanden; doch wußte Dudkin, daß sie bei der Festsetzung des Programms mitgearbeitet hatte; hätte er die Persönlichkeit gefragt, ob nicht ihrer Meinung nach bei der Ausarbeitung des Programms etwas wie Provokateurgeist mitgespielt habe, die Persönlichkeit hätte beteuert:

»Nein, sicherlich nicht; diese Annahme ist eine Frivolität . . .«

Dudkin hatte endlich versucht, die Persönlichkeit durch sein mystisches Kredo zu verblüffen, indem er die Behauptung aufstellte: das Soziale, die Revolution sei keine Verstandeskategorie, sondern eine göttliche Forderung des Alls; die Persönlichkeit hatte nichts gegen die Mystik gehabt; sie hörte aufmerksam zu und bemühte sich sogar — zu verstehen.

Aber sie vermochte es nicht zu verstehen.

Alle Einwendungen, alle radikalen Äußerungen hatte die Persönlichkeit schweigend hingenommen; dann klopfte sie ihm auf die Schulter und zog ihn mit ins Wirtshaus, wo sie vor dem Tischchen sitzend den ewigen Kognak tranken; zuweilen hatte ihm die Persönlichkeit unter dem Geräusch des Orchestrions gesagt:

»Ich? Was bin ich? — nichts . . . Ich bin nur ein Unterseeboot; Sie aber sind ein Panzerkreuzer; ein großes Schiff gehört ins große Wasser . . .«

Und dabei hatte die Persönlichkeit ihn in die Dachkammer gejagt, ihn an die Dachkammer gefesselt und aus dem menschlichen Verkehr ausgeschaltet; der Panzerkreuzer lag im Hafen, ohne Mannschaft, ohne Kanonen; die einzigen Reisen, die er in der letzten Zeit gemacht hatte, waren nur — ins Wirtshaus und zurück; die Persönlichkeit hatte all diese Wochen, die für Dudkin eine Periode des Protestes bedeuteten, dazu benutzt, um aus ihm einen — Säufer zu machen.

Die Persönlichkeit war ihm immer gastfreundlich entgegengetreten, und Dudkin hatte das sichere Gefühl: käme er in eine Lage, wo er ernster Hilfe bedürfte, die Persönlichkeit würde ihm diese ohne weiteres leisten; das erschien selbstverständlich.

Zum erstenmal ergab sich heute dazu die Gelegenheit.

Er hatte Ableuchow versprochen, ihm den Knoten lösen zu helfen. Doch konnte er es nur mit Hilfe der Persönlichkeit ausführen; durch eine unheimliche Verkettung von Umständen hatte Ableuchow sich in ein förmliches Teufelsnetz verfangen; Alexander Iwanowitsch glaubte, er brauche nur der Persönlichkeit von der Sache zu berichten und diese würde die Fäden schon herausfinden.

Was ihn also veranlaßte, hierherzukommen, war das Wort, das er Ableuchow gegeben hatte. Und nun — sieh mal einer her!

Der verletzende Ton, den die Persönlichkeit ihm gegenüber jetzt angeschlagen hat, war ihm in ebensolchem Maße neu wie unangenehm (es war der Ton, dessen sich der hohe Beamte einem Bittsteller gegenüber bedient; mit dem der Chefredakteur dem über Diebstähle und Brände berichtenden Reporter entgegentritt; in dem der Kreisschulinspektor zu dem Kandidaten auf die Lehrerstelle in — Solwytschegotsk oder Sarepta spricht).

Sieh mal einer her! . . .

Also: nach Beendigung seiner Unterhaltung mit dem Franzosen (der Franzose hatte sich bereits entfernt) trat die Persönlichkeit gegen alle Gepflogenheit nicht aus ihrem Arbeitszimmer, sondern blieb dort sitzen, vor dem Schreibtisch, als wäre Alexander Iwanowitsch überhaupt nicht da, als wäre er nicht ein guter Bekannter, sondern — weiß der Teufel! — irgendein Bittsteller, dem es an Zeit nicht fehlen darf . . .

Es wurde immer dunkler — blauer.

In dieser sich ausbreitenden Dunkelheit, in der Halbdämmerung des Arbeitszimmerchens, saß die Persönlichkeit, den viereckigen Kopf ganz über den Schreibtisch gebeugt, und wie ein häßlicher dunkelgelber Fleck hob sich ihr Rücken im schwachen Fensterlicht ab.

Alexander Iwanowitsch zuckte scharf mit den Achseln und wandte dem Rücken seinen eigenen Rücken zu; er begann mit vollständig unabhängigem Ausdruck an seinem kleinen Schnurrbärtchen zu zupfen; er wollte eine beleidigte Miene aufsetzen, brachte es aber nur zu einer unabhängigen; er zupfte an seinem Bärtchen mit einem Ausdruck, als hätte er mit dem Rücken dort am Schreibtisch nichts zu tun. Eigentlich hätte er aufspringen und die Tür hinter sich zuschlagen sollen, doch das durfte er nicht: die Lebensruhe Nikolai Ableuchows hing von seinem Gespräch mit der Persönlichkeit ab; er konnte also weder weggehen noch die Tür zuschlagen.

Alexander Iwanowitsch hüstelte, um der Persönlichkeit seine Ungeduld kundzutun . . . Doch klang dieses Hüsteln wie das eines Abcschützen, den es beim Anblick des Lehrers im Halse zu würgen begann. Was war mit ihm? Woher diese Schüchternheit? Er fürchtete die Persönlichkeit keinesfalls: er fürchtete sich nur vor den Halluzinationen, die ihn in seiner Dachkammer heimzusuchen pflegten, vor der Persönlichkeit wahrhaftig nicht . . .

Die Persönlichkeit fuhr fort zu schreiben.

Alexander Iwanowitsch hüstelte wieder; dann wieder. Diesmal reagierte sie.

»Bitte sich zu gedulden . . .«

Dieser Ton!

Endlich erhob sich die Persönlichkeit leicht vom Sitz und wandte sich um; sie machte mit der dicken Handfläche eine einladende Geste:

»Bitte . . .«

Alexander Iwanowitsch wurde eigentümlich verwirrt; sein Zorn, der alle Grenzen überschritt, fand darin seine Äußerung, daß er die allgemein gebräuchlichsten Worte plötzlich vergessen hat:

»Ich . . . sehen Sie . . . ich komme . . .«

»?«

»Wie Sie wissen . . . oder übrigens . . . Zum Teufel!«

Und er brachte trocken und kurz hervor:

»Ich komme in einer geschäftlichen Angelegenheit . . .«

Die Persönlichkeit aber lehnte sich im Lehnstuhl zurück (wie gern hätte er sie jetzt in ihrem Lehnstuhl erwürgt!), maß ihn mit vernichtendem Blick und trommelte mit den dicken Fingern auf dem Tisch; dann brummte sie etwas gedämpft:

»Ich mache Sie aufmerksam . . . Ich habe heute für lange Erörterungen nicht genug Zeit, daher . . .«

Na, also!

»Ich würde Sie daher bitten, mein Lieber, sich kürzer und deutlicher zu fassen . . .«

Und das Kinn in das Doppelkinn vergrabend, wandte die Persönlichkeit einen starren Blick gegen das Fenster, hinter dem mit leichtem Geräusch die Blätter von den Bäumen fielen.

»Seit wann, bitte, haben Sie mir gegenüber diesen . . . diesen Ton? . . .« kam es plötzlich aus Alexander Iwanowitsch, doch klang es nicht bloß ironisch, sondern auch verlegen.

Die Person unterbrach ihn aber wieder: unterbrach in unangenehmster Weise:

»Also?«

Sie kreuzte die Hände über der Brust.

»Ich komme in einer Angelegenheit . . .« — und er stockte . . .

»Also?! . . .«

»Von großer Wichtigkeit . . .«

Zum dritten Male unterbrach ihn die Persönlichkeit:

»Das Maß der Wichtigkeit wollen wir lieber später erläutern.«

Und sie kniff die Äuglein zusammen.

Sonderbarerweise wurde nun Dudkin vollständig verwirrt, errötete und hatte das Gefühl, kein Wort hervorbringen zu können. Er schwieg.

Auch die Persönlichkeit schwieg.

Die vom Baum sich lösenden roten Blätter schlugen ans Fenster, wirbelten und flüsterten miteinander; die Zweige (die vertrockneten Skelette) zeichneten ein schwarzgraues Netz hinter den Glasscheiben; der Wind pfiff; das schwarz-neblige Netz begann zu schaukeln; das schwarz-neblige Netz begann zu raunen. Unzusammenhängend, verworren, hilflos erzählte Alexander Iwanowitsch von dem Inzident des Ableuchow; je weiter er aber, die Störungen und Hindernisse der Sprache überwindend, in der Erzählung kam, desto schroffer und trockener wurde die Haltung der Persönlichkeit; ihre Stirn glättete sich, die schwulstigen Lippen hörten auf zu saugen; bei der Stelle der Erzählung aber, wo der Provokateur Morkowin auf die Oberfläche trat, zog die Persönlichkeit bedeutungsvoll die Brauen in die Höhe und machte eine schnuppernde Bewegung mit der Nase, als hätte die Unverfrorenheit des Erzählers an dieser Stelle ihren Höhepunkt erreicht und die Geduld der Persönlichkeit ihre Grenze überschritten:

»Ah . . . Sehen Sie? . . . Und was haben Sie gesagt? . . .«

Alexander Iwanowitsch fuhr zusammen:

»Was ich gesagt hab’? . . .«

»Nichts, nichts; fahren Sie fort.«

Vollständig verzweifelt schrie Alexander Iwanowitsch heraus:

»Aber ich hab’ ja alles gesagt! Was soll ich noch erzählen?!«

Mit dem Kinn auf das Doppelkinn gestützt, senkte die Persönlichkeit den Kopf, seufzte, sah vorwurfsvoll, ohne das übliche Zwinkern (der Blick war jetzt traurig), Alexander Iwanowitsch an und sagte kaum hörbar:

»Häßlich . . . Sehr, sehr häßlich! Sie sollten sich schämen! . . .«

Alexander Iwanowitsch fühlte, wie sein Herz hüpfte; und — o Grauen! — beim Worte »Sie sollten sich schämen« fühlte er, wie seine Wangen von einer Röte übergossen wurden; aus den Worten des furchtbaren Partners hörte er deutlich die verborgene, vernichtende Drohung heraus; Alexander Iwanowitsch fuhr unruhig auf seinem Sitz hin und her und bemühte sich, seine nicht begangene Schuld sich ins Gedächtnis zu rufen.

Seltsam: er hatte nicht den Mut zu fragen, was die verborgene Drohung eigentlich bedeute und was das Wort »sich schämen« in diesem Zusammenhang heißen sollte. Er schluckte es einfach herunter.

»Wie soll ich nun diesen provokatorischen Brief Ableuchow erklären?«

Die schmale niedere Stirn näherte sich der seinen.

»Wieso provokatorisch? Er ist keinesfalls provokatorisch . . . Ich muß Sie ernüchtern. Der Brief an Ableuchow war von mir geschrieben.«

Diese Worte waren mit einer Würde ausgesprochen, die alles, Zorn, Vorwürfe und verletzenden Ton überwog; mit einer Würde, die sich sogar bis zur Milde herabließ.

»Wie? Den Brief haben Sie geschrieben?«

»Und er ist durch Ihre Hände gegangen — erinnern Sie sich nicht? Oder haben Sie es vergessen?«

Das Wort »vergessen« sprach die Persönlichkeit so aus, als wäre es selbstverständlich, daß Alexander Iwanowitsch es nicht vergessen hat und sich nur — weiß Gott warum? — stellte, als wisse er nichts mehr davon; die Persönlichkeit ließ ihn übrigens deutlich fühlen, daß sie mit ihm jetzt wie die Katze mit der Maus zu spielen beabsichtige.

»Erinnern Sie sich: ich übergab Ihnen den Brief damals im kleinen Restaurant . . .«

»Ich gab ihn aber nicht Ableuchow, sondern Warwara Ewgrafowna, ich versichere Sie . . .«

»Ah was, lassen wir es doch, Alexander Iwanowitsch; wir sind unter uns, mein Lieber, und brauchen vor einander keine Komödie zu spielen: der Brief hat den Adressaten gefunden, alles andere sind leere Ausreden . . .«

»Und Sie sind der Verfasser des Briefes?«

Dudkins Herz hüpfte und klopfte, als wollte es sich losreißen und davonlaufen; wie ein Büffel würde es gleich zu brüllen anfangen und — sich davonmachen.

Die Persönlichkeit klopfte bedeutungsvoll auf den Tisch, wobei sie ihre Gleichgültigkeit mit steinerner Festigkeit vertauschte; dann rief sie:

»Warum wundern Sie sich? . . . Weil ich den Brief an Ableuchow geschrieben habe? . . .«

»Freilich . . .«

»Verzeihen Sie, ich muß aber sagen: Ihr Erstaunen grenzt an offenkundige Heuchelei . . .«

Dudkin näherte sich mit einem Ruck der Persönlichkeit.

»Hören Sie: entweder bin ich verrückt oder — Sie!«

Die Persönlichkeit zwinkerte ihm zur Antwort nur zu:

»Also!?«

Ihr ganzes Aussehen sprach:

»He, he, Väterchen: glaubst, ich habe nicht bemerkt, wie du vorhin geblickt hast? . . . Du glaubst, mit mir kannst du . . .«

Dann aber: ganz plötzlich wurde sie heiter, fast lustig, sah ihren Partner mit gekünstelter dummer Dreistigkeit an und schnalzte mit der Zunge, als wollte sie sagen:

»He, mein Lieber, ein gemeiner Kerl bist doch du, nur du, nicht ich . . .«

Laut sagte sie aber nur:

»Ahhh! . . .«

Dann aber, wie ein satanisches Lachen unterdrückend, ließ die Persönlichkeit streng, aber wohlwollend ernst ihren schweren Arm auf Dudkins Schulter nieder, dachte einen Augenblick nach und fügte hinzu:

»Häßlich . . . Sehr, sehr häßlich . . .«

Alexander Iwanowitsch überkam das ihm wohlbekannte sonderbare, drückende Gefühl des Vernichtetwerdens durch ein Etwas, das gleich auf dem dunkelgelben Fleck seiner Tapete auftauchen würde; Alexander Iwanowitsch empfand eine ihm unbewußte Schuld; er sah hin, und es war ihm, als hätte sich eine Wolke über ihn gesenkt, ganz tief; als lief diese Wolke von der Persönlichkeit zu ihm, als steige sie wie Rauch aus der Persönlichkeit hervor.

Die Persönlichkeit aber saß da, das schmalstirnige Gesicht ihm zugewendet, und sprach immer wieder:

»Häßlich . . .«

Ein schweres Schweigen trat ein.

»Übrigens werde ich die weiteren Beweise abwarten: ohne Beweise geht es natürlich nicht . . . Aber immerhin: die Anklage wiegt schwer; so schwer, das muß ich sagen, daß . . .« — Die Persönlichkeit seufzte.

»Aber welche Beweise meinen Sie?«

»Sie selbst will ich vorderhand aus dem Spiel lassen . . . Wie Sie wissen, gehen wir in der Partei nur auf Grund von Tatsachen vor . . . Die Tatsachen aber, die Tatsachen . . .«

»Was für Tatsachen meinen Sie?«

»Die Tatsachen über Sie werden gesammelt . . .«

Das hat noch gefehlt!

Die Persönlichkeit erhob sich vom Lehnstuhl, und während sie die Spitze einer Havanna abschnitt, begann sie leise eine Melodie zu pfeifen; sie hüllte sich in undurchdringliches Wohlwollen; dann schritt sie mit gemessenen Schritten ins Speisezimmer hinüber, faßte freundschaftlich den dort sitzenden Schischnarfijew an der Schulter.

In die Richtung der Küche, von wo ein angenehmer Bratengeruch herüberzog, rief er:

»Ich habe einen Mordshunger . . .«

Dann mit einem Blick den gedeckten Tisch musternd:

»Ein Schnäpschen noch . . .«

Dann schritt sie zurück in das Arbeitszimmer.


»Ihr Herumsitzen beim Hausmeister . . . Ihre Freundschaft mit der Polizei des Reviers, mit dem Hofknecht . . . Ihre Gelage in Gesellschaft des Polizeibeamten Woronkow . . .«

Auf den verständnislosen, fragenden Blick Dudkins — einen von Grauen erfüllten Blick — setzte Lipantschenko, das heißt die Persönlichkeit, ihr boshaftes, zweideutiges Flüstern fort, indem sie die Hand auf Dudkins Schulter legte.

»Als ob Sie es nicht selbst wüßten? Warum die verwunderten Augen? Sie wissen am Ende gar nicht, wer der Woronkow sei?«

»Wer Woronkow sei? . . . Woronkow? . . . Aber was hat das mit der Sache zu tun? . . . Was ist dabei? . . .«

Aber Lipantschenko, die Persönlichkeit, brach in ein Lachen aus und faßte sich vor Lachen an die Hüften:

»Das wissen Sie nicht?«

»Das behauptete ich nicht: ich weiß schon . . .«

»Na, also!«

»Woronkow ist ein Schreiber im Polizeirevier, und er besucht oft den Hausmeister Matwej Morschow . . .«

»Sie haben Zusammenkünfte, Sie unterhalten sich mit einem Polizeispitzel wie der letzte Provokateur . . .«

»Aber erlauben Sie . . .!«

»Sie brauchen kein Wort, kein Wort zu sagen«, wehrte die Persönlichkeit, mit der Hand fuchtelnd, jeden Erwiderungsversuch des zu Tode erschrockenen Dudkin ab.

»Ich wiederhole: die Tatsache einer offenen Provokateurtätigkeit Ihrerseits ist noch nicht definitiv festgestellt, aber . . . Ich warne Sie, aus Freundschaft warne ich Sie, Alexander Iwanowitsch, mein Liebling; Sie haben ein böses Spiel begonnen . . .«

»Ich?«

»Treten Sie zurück, ehe es zu spät ist . . .«

Die Äuglein unter der schmalen Stirn sprachen:

»So—o—o, Väterchen . . . Wie hast du dir wohl die Sache gedacht?«

Der Speichel spritzende Mund aber sagte:

»Tuen Sie doch nur nicht so harmlos . . .«

»Es fällt mir ja gar nicht ein . . .«

»Ganz Petersburg weiß es schon . . .«

»Was weiß es?«

»Von der Zertrümmerung der Parteiorganisation in T. T.«

»Was?!«

»Ja, ja . . .«

Wenn es die Absicht der Persönlichkeit war, Dudkins Gedanken von der Spur, die ihn auf die wirklichen Motive ihres Benehmens bringen konnte, abzulenken, dann hat sie dieses Ziel durch die Nachricht von der Zerstörung der sehr wichtigen Organisation in T. T. völlig erreicht; diese Nachricht traf wie ein Blitzstrahl den schwachen Alexander Iwanowitsch:

»Herr Jesus Christus!«

»Jesus Christus!« — höhnte die Persönlichkeit, »Sie haben jedenfalls früher davon gewußt als wir alle . . . Wir wollen es aber, ehe die Sache nicht unwiderleglich erwiesen ist, auf sich beruhen lassen. Häufen Sie jedoch die Verdachtsmomente nicht: sprechen Sie kein Wort von der Ableuchowaffäre.«

Alexander Iwanowitsch schien in diesem Augenblick sehr idiotisch ausgesehen zu haben, denn die Persönlichkeit fuhr fort zu lachen und ließ dabei in aufreizender Weise den schwarzen Schlund zwischen den Reihen der Zähne sehen: genau so aufreizend gähnt der Schlund im Gesicht eines abgehäuteten Kadavers.

»Tuen Sie nicht so, mein Lieber, als wäre Ihnen die Rolle Ableuchows unbekannt gewesen; und als ob Sie nicht wüßten, daß ich ihn durch den gegebenen Auftrag dafür strafen wollte; tuen Sie doch nicht, als wüßten Sie nicht, wie dieser schuftige Kerl seine Rolle gespielt hat: ich gestehe, er hat es geschickt gemacht; seine Rechnung war gut — die Rechnung auf allerlei Sentiments und Charakterschwächen, wie zum Beispiel Sie es zu verkörpern geruhen.«

Mit dem Vorwurf der Charakterschwäche schien die Persönlichkeit einen Teil der Schuld von Alexander Iwanowitsch nehmen zu wollen und sich so in gewissem Grade weichen Gefühlen zugänglich zu zeigen; das hatte bewirkt, daß sich Alexander Iwanowitsch in der Tat wie von einer Last befreit fühlte und daß er es nun bereits versuchte, sich einzureden, er habe vorhin die Persönlichkeit falsch beurteilt.

»Ja, die Berechnung war schlau: der edle Sohn haßt seinen Vater und ist bereit, diesen ins Jenseits zu befördern; inzwischen treibt er sich unter uns herum, hält Referate und ähnliches Zeug; sammelt nebenbei Dokumente und wartet, bis er ihrer genügend besitzt, um sie — seinem verehrten Vater zu unterbreiten . . . Und dabei fühlen sie sich alle von dieser Schlange in sonderbarer Weise angezogen . . .«

»Aber, Nikolai Stepanowitsch, er hat . . . er hat geweint . . .«

»Geweint . . . Und das hat Sie in Erstaunen versetzt? . . . Sie sind doch ein eigentümlicher Kauz: Tränen — das ist ja etwas ganz Übliches bei den Verrätern aus der Intelligenz; ein gebildeter Verräter glaubt selbst an die Aufrichtigkeit der Tränen, die er vergießt; und vielleicht bedauert er es auch in diesem Augenblick, daß er Verräter geworden ist; aber uns nützen diese Tränen nicht im geringsten . . . Sie, Alexander Iwanowitsch, weinen doch auch jetzt . . . Natürlich will ich nicht damit sagen, daß auch Sie ein Schuldbelasteter sind . . .«

Und das war ja eine Lüge, denn soeben noch hatte die Persönlichkeit von einer solchen Schuld gesprochen; diese offenbare Lüge erfüllte Alexander Iwanowitsch für einen Augenblick mit unendlichem Grauen; durch sein Unterbewußtsein flog es wie ein Blitz: »Hier wird dir ein Handel vorgeschlagen: du wirst aufgefordert, eine niederträchtige Verleumdung als wahr hinzunehmen und mit diesem Preis eine Verleumdung deiner eigenen Person abzuwehren« . . . Doch blitzte es eben nur im Unterbewußtsein auf, denn die Wahrheit voll zu sehen hinderte die gegen den Tisch geneigte, schmale Stirn der Persönlichkeit, die bedrückende Atmosphäre eines nahenden Verhängnisses, das Flimmern in den kleinen Äuglein und das »So, soo, Vä—terchen« . . . Und Dudkin begann bereits zu glauben, daß er der Verleumdung glaube.

»Sie sind, Alexander Iwanowitsch — davon bin ich überzeugt — rein; was aber Ableuchow betrifft: hier in dieser Schublade hab’ ich Dokumente, die ich im nötigen Augenblick dem Parteigericht unterbreiten werde . . .«

Da begann die Persönlichkeit in wildem Tempo auf und ab durchs Zimmer zu rennen, von einer Ecke schräg zur anderen, und schlug sich mit der dicken Faust auf die Brust. Ihre Stimme aber trug Töne wahrhaftigen Gekränktseins bis zur Verzweiflung — ja, ihre Stimme klang direkt vornehm (der Handel schien günstig abgeschlossen zu sein).

»Später einmal wird man mich — ich versichere Sie — verstehen: jetzt zwingen mich die Ereignisse, die Seuche in ihrem Herd zu ersticken . . . Ja . . . ich handle wie ein Diktator, kraft mir selbst erteilter Befugnisse . . . Es fiel mir schwer, glauben Sie mir, es fiel mir sehr schwer, das Urteil zu unterschreiben . . . Aber . . . Dutzende gehen zugrunde — Ihres Senatorsöhnchens wegen . . . Dutzende gehen zugrunde! . . . Viele sind schon verhaftet . . . Erinnern Sie sich: auch Sie waren schon einmal in größter Gefahr, zugrunde gerichtet zu werden.« (Alexander Iwanowitsch dachte bei diesen Worten, daß er ja schon zugrunde gerichtet worden war.) ». . . Wenn nicht ich . . . Denken Sie an Jakutsk! . . . Sie aber haben Mitleid, setzen sich für ihn ein! . . . Weinen Sie nur, weinen Sie! Grund dazu ist genug da . . . Dutzende werden zugrunde gerichtet!!! . . .«

Die Persönlichkeit blitzte noch einmal mit den Äuglein und verließ das Zimmer.

Dunkel wurde es, schwarz.


Die Dunkelheit überfiel alles; sie heftete sich an alle Gegenstände des Zimmers; Tische, Schrank und Lehnstuhl — alles tauchte in Dunkelheit unter; in dieser Dunkelheit saß mutterseelenallein Alexander Iwanowitsch; Dunkelheit betrat seine Seele — er weinte.

Alle Tonnuancen in den Worten der Persönlichkeit klangen jetzt wieder in Dudkins Ohr, und sie erschienen ihm jetzt aufrichtig; nein, die Persönlichkeit hat nicht gelogen; sein Mißtrauen und Haß gegen sie erklären sich nur durch den Zustand, in dem er sich gerade befand: seine nächtlichen Delirien haben sich für ihn zufällig — durch ein Wort, eine Geste — mit der Persönlichkeit verknüpft.

Eine Lautassoziation — nichts weiter.

Wohl ist es wahr: er hatte auch schon früher Ähnliches der Persönlichkeit gegenüber empfunden; aber wahr ist es auch, daß er der Persönlichkeit verschiedenes zu verdanken hatte und daß sie sich seiner annahm; der Widerwillen, das Grauen vor ihr hat gar keine Berechtigung und erklärt sich nur durch seine Delirien: durch die Erscheinung der braungelben Flecke auf seiner Tapete.

Ach, er ist eben krank, das ist es . . .

Die Dunkelheit brach herein: sie überfiel alles, besiegte alles; ernst und drohend traten Tisch, Lehnstuhl und Schrank im Raum hervor; die Dunkelheit trat in seine Seele ein — er weinte: zum erstenmal erblickte er vor sich Nikolai Apollonowitsch in seiner wahren moralischen Gestalt. Wie kam es, daß er ihn nicht früher erkannt hatte? Wie kam es? . . .

Er erinnerte sich seiner ersten Begegnung mit Ableuchow (in einem ihm bekannten Zirkel hielt damals Nikolai Apollonowitsch einen Vortrag, in dem er alle Werte umwertete): der allgemeine Eindruck war kein angenehmer; dann später: es kann nicht geleugnet werden: Ableuchow hatte doch ein ganz besonderes Interesse für Parteigeheimnisse gezeigt; mit der plump-zerstreuten Miene eines Degenerierten hat er überall seine Nase hineinzustecken gewußt: die Zerstreutheit kann ebensogut eine Heuchelei gewesen sein. Alexander Iwanowitsch sagte sich: ein Provokateur höheren Genres kann sehr wohl das Äußere Ableuchows haben — diese verträumt traurigen Augen (die einem fremden Blick nicht standhielten) wie den Froschausdruck des langgezogenen Mundes; langsam näherte sich Alexander Iwanowitsch der Überzeugung, daß sich Ableuchow in der ganzen Sache höchst sonderbar aufgeführt hatte; und — Dutzende gehen zugrunde! . . .

Je mehr er sich selbst zu überzeugen suchte, daß an der Zerstörung der Organisation in T. T. Ableuchow beteiligt war, um so mehr wich das bedrückende Gefühl, das ihn während des Gesprächs mit der Persönlichkeit befallen hatte; eine gewisse Leichtigkeit und Sorglosigkeit rann in seine Seele. Alexander Iwanowitsch hatte seit jeher den Senator besonders gehaßt. Er empfand Apollon Apollonowitsch gegenüber einen Ekel, einen förmlichen Ekel, wie ihn die Menschen vor der Tarantel empfinden; Nikolai Apollonowitsch aber hatte er zuweilen direkt geliebt; jetzt hatten sich für ihn der Senator und der Senatorsohn zu einem gemeinsamen Etwas verschmolzen, das in ihm nicht nur Ekel auslöste, sondern auch den Wunsch hervorrief, diese Tarantelbrut auszurotten, zu vernichten.

»O, ihr Gewürm! . . . Dutzende gehen zugrunde! . . . O, ihr Gewürm . . .«

Selbst die Tausendfüßler sind besser, selbst die gelbbraune Tapete, selbst die Persönlichkeit; in der Persönlichkeit ist wenigstens Größe des Hasses vorhanden; mit der Persönlichkeit kann man sich wenigstens in dem Wunsch, zu zerstören, zu vernichten, eins fühlen.

»O, ihr Gewürm! . . .«

Aus dem Zimmer nebenan lockte bereits der gastfreundlich gedeckte Tisch; allerlei Schmackhaftigkeiten waren auf dem Tisch aufgestellt: Wurst, Aal und kalter Kalbsbraten; man hörte die etwas ermüdete Stimme der Persönlichkeit und die des Schischnarfijew, der sich verabschiedete; endlich war er fortgegangen.

Gleich darauf trat die Persönlichkeit in das Arbeitszimmer, trat zu Alexander Iwanowitsch und legte ihm die schwere Hand auf die Schulter:

»So ist es! . . . Es ist besser, wir streiten uns nicht, Alexander Iwanowitsch: Wenn die, die zueinander gehören, sich herumstreiten, . . . was soll dann überhaupt werden? . . .«


»Nun, kommen Sie zu Tisch! . . . Essen Sie mit uns zu Abend . . . Aber um eins bitte ich: beim Essen kein Wort von alldem . . . Das ist ja alles ziemlich traurig . . . Und Soja Sacharowna braucht davon nichts zu wissen: sie ist auch so schon von alldem müde . . . Ich selbst bin auch schon ordentlich ermüdet . . . Alle sind wir müde . . . Das machen eben die Nerven . . . Wir sind eben beide nervöse Menschen . . . Also zu Tisch . . . kommen Sie . . .«

Gastfreundlich lockte der schimmernde Tisch.

Wieder war er da, der Traurige und Schlanke

Mehrmals läutete Alexander Iwanowitsch.

Mehrmals läutete Alexander Iwanowitsch vor dem Tor seines düsteren Hauses; der Hausmeister öffnete ihm nicht; hinter dem Tor antwortete auf das Läuten nur Hundegebell; ein Hahn in der Ferne verkündete durch seine krähende Stimme die Mitternacht; und — schwieg dann; die 18. Linie schlängelte sich hin, in die Tiefe, ins Leere.

Überall war Leere.

Alexander Iwanowitsch empfand eigentlich etwas wie Freude: in der Tat, es verschob sich in dieser Weise sein Eintreten in die düsteren Räume zwischen den Wänden; hinter diesen Wänden hört man die ganze Nacht Geräusche, Knacken und Quieken. Und was die Hauptsache war: er mußte, ehe er diesen Raum betrat, im Dunkeln achtmal zwölf kalte Stufen überwinden; er zählte immer erst zwölf, dann machte er eine drehende Bewegung und zählte wieder ebenso viele.

Das machte er viermal hintereinander.

Zusammen also — sechsundneunzig lauttönende, steinerne Stufen; dann blieb er vor einer filzbeschlagenen Tür stehen; voll Angst mußte er den halbverrosteten Schlüssel ins Loch stecken; ein Streichholz anzuzünden war gefährlich: es konnte plötzlich die unglaublichsten Dinge beleuchten, wie zum Beispiel eine Maus oder noch was anderes . . .

So dachte Alexander Iwanowitsch.

Deswegen verweilte er gern vor dem Tor seines Hauses.

Nun aber . . . —

— Jemand, ein Trauriger und Schlanker, den Alexander Iwanowitsch oft schon an der Newa gesehen hatte, zeigte sich in der Tiefe der 18. Linie. Diesmal trat er leise in den hellen Lichtkreis einer Laterne; es war aber, als ergoß sich wehmütig helles, goldenes Licht aus seinem Antlitz, von seinen knochigen Fingern . . . — So ist auch heute der unbekannte Freund erschienen.

Alexander Iwanowitsch erinnerte sich, daß dieser liebe Bewohner der 18. Linie einmal von einer alten Frau mit haubenförmigem Strohhut mit lila Bändern angerufen worden war.

Sie hatte ihn da Mischa genannt.

Alexander Iwanowitsch war jedesmal zusammengefahren, wenn der Schlanke und Traurige im Vorbeigehen ihm seinen unaussprechlichen, allsehenden Blick zugewandt; dabei hatten seine eingefallenen Wangen weiß geschimmert. Nach solchen Begegnungen an der Newa war es Alexander Iwanowitsch immer, als hörte und hörte er nichts, als sehe und sehe er nichts.

»Wenn er doch stehengeblieben wäre! . . .«

»O, wenn er doch! . . .«

»O, wenn er ihn doch anhören wollte! . . .«

Aber ohne zu sehen, ohne stehenzubleiben ging der Schlanke und Traurige vorbei.

Deutlich verklangen seine Schritte. Alexander Iwanowitsch drehte sich um und wollte ihm leise etwas sagen; er wollte den unbekannten Mischa leise anrufen . . .

Aber der helle Kreis, in den Mischa soeben eingetreten war, schimmerte leer; und niemand, nichts war dort zu sehen; nur der Wind pfiff, und in den Pfützen spiegelte sich Licht.

Und die gelbe Lichtzunge der Laterne winkte herüber.

Ein toter Strahl fiel durchs Fenster

So, so, so: dort standen sie, als er in der Nacht nach Hause zurückkehrte. Sie warteten auf ihn. Wer sie waren, dies zu sagen war nicht gut möglich: zwei deutliche Gestalten. Ein toter Strahl fiel durchs Fenster des dritten Stocks; er legte sich wie ein fahler Schein auf die grauen Stufen der Treppe.

Und unheimlich ruhig lagen in der vollständigen Dunkelheit die fahlen Lichtflecke — ohne jeden Reflex.

In diesem fahlen Licht rankte auch das Treppengeländer; neben dem Treppengeländer aber standen sie: zwei undeutliche Gestalten; sie ließen Alexander Iwanowitsch passieren und blieben rechts und links von ihm stehen; sie sagten nichts, rührten sich nicht, bebten nicht; man fühlte nur in der Dunkelheit einen bösen, zusammengekniffenen, festen Blick.

Sollte er sich ihnen nicht nähern, sollten er ihnen nicht die in seiner Erinnerung aufgetauchte Beschwörung zuflüstern?

Und unter diesem Blick in den fahlen Fleck treten zu müssen! Vom Mond beschienen zu sein, während zwei spähende Augen auf ihn gerichtet sind; dann hinter sich im Rücken die Augen zweier Späher zu fühlen, die jeden Augenblick ihm etwas antun konnten; den Schritt nicht zu beschleunigen, gleichgültig zu tun, zu hüsteln!

Denn — würde er die Treppe rasch hinauflaufen, dann folgen ihm seine Späher sofort.

Auf einmal wurden die weißfahlen Flecke grau und zerflossen harmonisch; sie lösten sich vollständig in gänzliche Dunkelheit auf. (Ein schwarzer Knäuel schien vor den Mond getreten zu sein.)

Alexander Iwanowitsch näherte sich jetzt ruhig der vorhin weißschimmernden Stelle; er sah die Augen nicht mehr und folgerte daraus, daß auch er von den Augen nicht gesehen wird (der Arme: er hoffte, ungesehen in seine Dachstube zu schlüpfen). Er beschleunigte nicht seinen Schritt und begann sogar — an seinem Bärtchen zu zupfen; und . . .

. . . Alexander Iwanowitsch hielt nicht stand.

Pfeilschnell rannte er über die Stufen bis zum ersten Treppenabsatz (welche Taktlosigkeit!). Als er den Treppenabsatz erreicht, tat er etwas, was ihn völlig in den Augen der unten stehenden Gestalten herabsetzen mußte.

Er rieb ein Streichholz, beugte sich über das Treppengelandet und warf einen erschreckten, verlorenen Blick in die Tiefe: die Eisenstäbe des Geländers blitzten auf, und deutlich erblickte Alexander Iwanowitsch unten die Silhouetten.

Wie groß war aber sein Erstaunen!

Eine der Silhouetten erwies sich einfach als der Tatare Machmudka, der im Kellerraum des Hauses wohnte, und neben ihm stand ein ganz gewöhnlicher Mensch mit steifem Hut auf dem Kopfe und einer gebogenen, orientalischen Nase; der Mann mit der orientalischen Nase schien Machmudka um eine Auskunft zu bitten, worauf dieser verneinend den Kopf schüttelte.

Dann erlosch das Streichholz, und Alexander Iwanowitsch konnte nichts weiter sehen.

Doch verriet das brennende Zündholz seine Anwesenheit, und sofort ertönte ein Scharren von Tritten auf den Stufen; und schon hörte Alexander Iwanowitsch direkt vor seinem Ohr eine Stimme.

»Entschuldigen Sie, sind Sie nicht Andrej Andreitsch Gorelski?«

»Nein, ich bin Alexander Iwanowitsch Dudkin . . .«

»Ja, dem falschen Passe nach . . .«

Alexander Iwanowitsch fuhr zusammen, aber . . . er sah ein, daß jetzt ein Leugnen nutzlos wäre.

»Schön. Und was wünschen Sie? . . .«

»Ich bitte um Entschuldigung: ich komme zu Ihnen zum erstenmal in so ungewöhnlicher Stunde . . .«

»Bitte . . .«

»Diese Hintertreppe . . . Ihre Wohnung war geschlossen . . . Aber jemand war drin . . . Ich beschloß, Sie beim Eingang zu erwarten . . . Diese Treppe . . .«

»Wer ist in meinem Zimmer? . . .«

»Das weiß ich nicht; mir antwortete eine Bauernstimme . . .«

Stjopka! . . . Gott sei Dank, Stjopka ist dort . . .

»Und was wünschen Sie? . . .«

»Verzeihen Sie, ich hörte soviel von Ihnen: wir haben gemeinsame Freunde . . . Nikolai Stepanowitsch Lipantschenko, in dessen Hause ich wie ein Sohn aufgenommen bin . . . Ich wollte Sie schon längst kennenlernen . . . Ich hörte, daß Sie ein Nachtschwärmer sind . . . Deswegen hab’ ich mir erlaubt . . . Ich wohne eigentlich in Helsingfors und komme nur hier und da hierher; meine Heimat ist der Süden . . .«

Alexander Iwanowitsch leuchtete es sofort ein, daß sein Gast log, und zwar in ganz unverschämter Weise, denn genau dieselbe Geschichte war ihm schon einmal passiert (wo und wann — das konnte er sich im Augenblick nicht vergegenwärtigen).

Nein, nein, nein: die Sache ist keinesfalls harmlos; doch durfte er nicht verraten, daß er das gemerkt hat; er sagte also in die Dunkelheit hinein:

»Mit wem hab’ ich die Ehre zu sprechen?«

»Ich bin der Perser Schischnarfijew . . . Ich hab’ Sie schon öfters gesehen . . .«

»Schischnarfijew . . .«

»Wir waren heute zu gleicher Zeit dort, bei Lipantschenko. Ich saß dort zwei Stunden und wartete, bis Sie mit Ihrer geschäftlichen Angelegenheit fertig waren, aber ich mußte dann doch fortgehen, ehe Sie herauskamen . . . Soja Sacharowna hatte mir vorher nichts von Ihrem Besuch gesagt. Ich suchte schon längst eine Gelegenheit, Sie zu treffen . . . Ich suche Sie schon längst . . .«

Die letzten Worte riefen wieder in Dudkin eine Erinnerung wach, eine schwache Erinnerung, wie im Schlaf: er fühlte sich angewidert, gelangweilt, angeödet . . .

»Haben wir uns schon früher getroffen?«

»Ja . . . erinnern Sie sich nicht? . . . In Helsingfors . . .«

Eine schon klarere Erinnerung tauchte jetzt in Dudkin auf; unerwartet für sich selbst zündete er wieder ein Zündholz an und hielt es direkt vor Schischnarfijews Gesicht: die Wände blitzten gelb auf, die Eisenstäbe des Geländers schimmerten für einen Augenblick metallisch; im flatternden gelben Licht erblickte Alexander Iwanowitsch gerade vor sich das Gesicht des Persers; zugleich fiel es Alexander Iwanowitsch ein, daß er in der Tat dieses Gesicht schon einmal in Helsingfors in einem Café gesehen habe; und auch damals schon verfolgte ihn der Fremde mit seinem unverwandt auf ihn gerichteten Blick der forschenden Augen.

»Erinnern Sie sich?«

Alexander Iwanowitsch erinnerte sich noch, daß gerade in Helsingfors — ja eben: gerade in Helsingfors hat seine Krankheit ihren Anfang genommen; gerade in Helsingfors begann jenes müßige, in ihn gleichsam von außen eingedrungene Gehirnspiel.

Er erinnerte sich nun, daß es gerade die Zeit gewesen war, in der er die ganz paradoxe Idee vertreten hatte: die Kultur müsse beseitigt werden, da die bestehende geschichtliche Periode: die des Humanismus — zu Ende angelangt sei, und was von ihr noch übrigblieb, sei nur ein verwitterter, morscher Steinüberrest; es beginnt die Periode der gesunden Tierinstinkte, die sich von unten in dem Huligan- und Apachenwesen, oben, bei der Aristokratie, in der Rebellion der Künste gegen das Althergebrachte wie in der Zuneigung zu primitiver Kultur, zu allem Erotischen anzeigt; ja, selbst die Bourgeoisie trat in die neue Bahn ein, die die orientalischen Moden, die Negertänze, der Cake-walk, der Two-step und dergleichen mehr zeitigte; Alexander Iwanowitsch predigte in jener Zeit die Verbrennung der Bibliotheken, der Universitäten, der Museen; er predigte auch noch die Herbeirufung der Mongolen (doch später bekam er vor den Mongolen Angst). Alle Erscheinungen des modernen Lebens hatte er damals in zwei Kategorien eingeteilt: zu der einen gehörten die Erscheinungen, die von einer absterbenden Kultur sprachen die andere war das gesunde Barbarentum, das sich jetzt noch unter der Maske der äußersten Verfeinerung bergen mußte (Nietzsche, Ibsen), um unter dieser Maske das Chaos in die Herzen zu pflanzen, das schon, heimlich, aus allen Seelen ruft . . .

Alexander Iwanowitsch war dafür eingetreten, daß die Masken abgenommen und dem Chaos freies Spiel gegeben werde.

Er erinnerte sich, damals im Café in Helsingfors gerade dieses gepredigt zu haben; und als ihn jemand gefragt, wie er sich zum Satanischen stelle, hatte er zur Antwort gegeben:

»Das Christentum ist überlebt: im Satanischen aber liegt ein großer Fetischismus, das heißt gesundes Barbarentum.«

Gerade bei dieser Unterhaltung — das erinnerte er sich jetzt — hatte abseits vor einem einsamen Tischchen Schischnarfijew gesessen und ihn unverwandt angesehen.

Die Predigt des Barbarentums hatte ein sonderbares Ende gefunden (damals schon, in Helsingfors): ja, es war ein vollständiger Alpdruck gewesen: er war nämlich (ob im Traum oder im Einschlafen, das wußte er nicht) mit rasender Schnelligkeit durch einen nicht zu definierenden, möglicherweise zwischen den fernen Planeten sich befindenden Raum geschleift worden, wo an ihm ein dort vielleicht üblicher, von unserem Standpunkte aber sicherlich brutaler Akt vollführt worden war; es war sicher alles ein Traum gewesen (unter uns: was ist eigentlich ein Traum?), aber es war ein häßlicher Traum gewesen; der damals zum Abbrechen der Predigt geführt hatte; diesen Traum hielt Alexander Iwanowitsch später für den Anfang seiner Krankheit, doch im übrigen — liebte er es nicht, daran erinnert zu werden.

Da war es gewesen, wo er heimlich die Offenbarung zu lesen begonnen hatte.

Jetzt an der Treppe war für ihn die Erinnerung an Helsingfors furchtbar. Und er dachte:

»Das war es also, warum sich mir in den letzten vierzehn Tagen immerzu das Wort Helsingfors aufdrängte.«

Schischnarfijew fuhr inzwischen fort:

»Erinnern Sie sich?«

Die Sache nahm eine häßliche Wendung: er hätte eigentlich unbedingt in sein Zimmer flüchten müssen, so rasch als möglich, die steinernen Stufen hinauf; er sollte die Dunkelheit ausnutzen, ehe das phosphoreszierende Licht wieder seine fahlweißen Strahlen auf die Stufen wirft; doch von Grauen erfüllt, zögerte Alexander Iwanowitsch.

Schischnarfijew aber sagte wieder:

»Sie werden mir also erlauben, zu Ihnen einzutreten? . . . Ich bin, aufrichtig gesagt, etwas müde vom Warten . . . Ich hoffe, daß Sie mir meinen mitternächtlichen Besuch nicht übelnehmen . . .«

In einem Anfall unbewußter Angst schrie Dudkin heraus:

»Bitte sehr! . . .«

Für sich aber dachte er:

»Dort ist ja Stjopka, er wird mir helfen . . .«


Alexander Iwanowitsch lief die Treppe voran; hinter ihm her lief Schischnarfijew: die langen Reihen der Stufen schienen sie nicht bloß in den fünften Stock zu tragen, sondern in eine unendliche Höhe; die Treppe schien kein Ende zu haben; umkehren war nicht möglich: hinter ihm her lief Schischnarfijew, und vor ihm schlug ein Lichtstrahl aus einem Türspalt.

Alexander Iwanowitsch dachte:

»Wie konnte Stjopka da hineingekommen sein: der Schlüssel ist ja bei mir?«

Durch einen Griff in die Taschen überzeugte er sich aber, daß er sich geirrt hatte: statt des Türschlüssels hatte er den vom alten Reisekoffer eingesteckt.

Petersburg

In vollständiger Verwirrung betrat Alexander Iwanowitsch sein armseliges Zimmer; vor einem brennenden Lichtstumpf kauerte Stjopka auf der Pritsche, den buschigen Kopf tief über ein Buch in altslawischem Druck gebeugt.

Stjopka las in einem Gebetbuch.

Alexander Iwanowitsch erinnerte sich, daß er Stjopka gebeten hatte, das Gebetbuch mitzubringen: er wollte darin das Gebet des großen Wassilij: die Beschwörung des Teufels, nachlesen.

»Du bist da, Stjopka, das freut mich!«

»Ich habe Ihnen das Geb . . .« — Nachdem er einen Blick auf den Gast geworfen: »Ich habe Ihnen das Gewünschte gebracht . . .«

»Ich danke dir . . .«

»Ich habe Sie erwartet und inzwischen darin gelesen . . .« (Wieder ein Blick auf den Unbekannten). . . »Jetzt muß ich aber gehen . . .«

Alexander Iwanowitsch faßte Stjopka an der Schulter:

»Geh nicht fort, bleib noch eine Weile . . . Dieser Herr da ist Herr Schischnarfijew.«

Dieser stand an der Tür; er hatte seinen Hut abgenommen, den Mantel aber behielt er an und betrachtete das Zimmer mit fragenden Blicken:

»Nicht sehr schön haben Sie es hier . . . Feucht ist es ein wenig . . . und kalt . . .«

Der Lichtstumpf brannte aus: das Papier, mit dem es an seinem Ende umwickelt war, begann zu brennen, und plötzlich begannen die Wände in fließendem Rot zu tanzen.


»Nein, Herr, bitte mich zu entlassen, ich muß gehen« — Er warf einen etwas schielenden, feindseligen Blick auf Alexander Iwanowitsch, während er den Gast überhaupt keines Blickes mehr würdigte; — »lassen Sie mich gehen; ein anderes Mal schon . . .«

Er nahm das Gebetbuch an sich.

Unter Stjopkas scharfem Blick senkte Alexander Iwanowitsch unwillkürlich den seinigen: ihm schien der scharfe Blick ein Blick des Vorwurfs zu sein. Wie soll er sich jetzt Stjopka gegenüber verhalten? Er hätte ihm so gern etwas gesagt; er hat wohl Stjopka beleidigt; Stjopka wird es ihm nicht verzeihen; er glaubte Stjopkas Gedanken zu lesen:

»Nein, Herr, wenn Sie solche Besucher empfangen, da ist es nichts mehr zwischen uns; und Sie brauchen dann auch kein Gebetbuch mehr . . . Solche Leute suchen nicht einen jeden auf; und wen sie aufsuchen, der muß von derselben Sorte sein wie sie selbst . . .«

Also — also erkennt Stjopka in dem Gast eine verdächtige Person . . . Wie sollte nun er mit ihm allein im Zimmer bleiben? . . .

»Stepan, bleib doch hier.«

Aber Stjopka machte eine abwehrende Bewegung, die etwas wie Ekel verriet.

»Der Herr kommt doch zu Ihnen, nicht zu mir!«

Die Tür hinter Stjopka fiel zu. Alexander Iwanowitsch wollte ihm erst nachrufen, er solle doch das Gebetbuch dalassen, aber . . . er schämte sich. Nun sollte er plötzlich das für ihn, den Freigeist, kompromittierende Wörtchen Gebetbuch aussprechen. Alexander Iwanowitsch nahm sich fest vor, vor nichts, was auch kommen mag, zu erschrecken; denn alles, was jetzt kommt, nachdem Stjopka das Zimmer verlassen hat, kann nur Halluzination des Gesichts und des Gehörs sein. Die tanzenden roten Flammen an den Wänden erstarben; alles wurde — ein tödlich fahles Grün.


Mit einer Handbewegung lud er den Gast ein, auf der Pritsche vor dem Tischchen Platz zu nehmen, selbst aber blieb er neben der Tür stehen, um gegebenenfalls entschlüpfen zu können, das Zimmer mit dem Besucher abzusperren und selber über alle sechsundneunzig Stufen hinunterzukollern.

Der Gast stützte seinen Ellbogen aufs Fensterbrett, zündete eine Zigarette an und begann zu plaudern; sein Profil zeichnete sich schwarz auf dem Fond des durchs Fenster hereinströmenden, grünlichen Lichtes; hinter dem Fenster flog der Mond zwischen Wolken dahin . . .

»Ich sehe wohl ein, daß es nicht die rechte Stunde, in der ich zu Ihnen gekommen . . . daß ich Sie, wie es scheint, störe . . .«

»Das macht nichts, bitte sehr«, versuchte Alexander Iwanowitsch den anderen zu beruhigen, während er selbst der Beruhigung bedurfte und mit der Hand heimlich hinter dem Rücken untersuchte, ob die Tür offen oder zugesperrt sei.

»Aber . . . Ich habe Sie so lange schon besuchen wollen, hab’ Sie überall gesucht, und als wir uns auch bei Soja Sacharowna verfehlt haben, bat ich diese um Ihre Adresse; ich komme jetzt direkt von dort zu Ihnen und beschloß auf Sie zu warten . . . Um so mehr, als ich morgen schon ganz früh verreise.«

»Sie verreisen?« fragte Alexander Iwanowitsch, denn es schien ihm, die Worte seines Besuchers hätten in ihm ein doppeltes Echo ausgelöst: während sein äußeres Ohr die Worte »Ich verreise ganz früh« vernommen hatte, hörte er mit einem anderen, inneren Ohr deutlich:

»Ich verreise ganz früh am Morgen, um mit der Abenddämmerung zurückzukehren . . .«

Aber er bestand nicht auf der Beantwortung seiner Frage und fuhr fort, das weitere mit seinem äußeren Gehör aufzunehmen.

»Ja, ich verreise nach Finnland, nach Schweden . . . Dort wohne ich; meine Heimat ist aber — Schemacha. Ich wohne eben in Finnland, weil das Petersburger Klima, aufrichtig gesagt, auch für mich schädlich ist.«

Ein doppeltes Echo löste wieder dieses »auch für mich« aus: das Klima von Petersburg ist für alle schädlich, es war nicht nötig, es zu betonen.

»Ja,« erwiderte Dudkin mechanisch, »Petersburg befindet sich auf einem Sumpf . . .«

»Ja, ja, ja . . . Für das Russische Reich ist Petersburg ein sehr bezeichnender Punkt . . . Nehmen Sie nur die Landkarte zur Hand . . . Unsere Hauptstadt, die so reich von Denkmälern geschmückt ist, gehört auch zum Lande des Jenseits . . .«

»Oh, oh, oh!« dachte Dudkin; »nun heißt es die Nase nach dem Winde halten, um rechtzeitig fliehen zu können . . .«

Laut aber erwiderte er:

»Sie sagen: unsere Hauptstadt . . . Doch nicht Ihre: Ihre Hauptstadt ist ja nicht Petersburg, sondern Teheran . . . Ihnen, als einem Orientalen, dürften die klimatischen Verhältnisse unserer Hauptstadt . . .«

»Ich bin Kosmopolit: ich lebte ja schon in Paris und in London . . . Ja, wovon sprach ich? — daß unsere Hauptstadt zum Land des Jenseits gehört, das pflegt man bei den Landkarten, Reiseführern und dergleichen nicht in Betracht zu ziehen; selbst der ehrenwerte Baedeker schweigt darüber; der bescheidene Provinzler, der nicht vorher aufmerksam gemacht wurde, gerät schon bei dem ersten Schritt vom Nikolaijewer oder Warschauer Bahnhof in einen Sumpf; er hatte eben nur mit der realen Behörde gerechnet und hatte es unterlassen, sich mit einem Schattenpaß zu versehen.«

»Wie meinen Sie es?«

»Nun eben, ganz einfach: wenn ich in das Land der Papuas gehe, weiß ich, daß ich im Land der Papuas auf Papuas stoßen werde; über diese Naturerscheinung hat mich Herr Karl Baedeker rechtzeitig unterrichtet; aber denken Sie, wie ich mich fühlen müßte, wenn ich auf dem Wege nach Kirssanow auf eine Horde schwarzer Papuas stieße (was übrigens sehr bald in Frankreich der Fall sein wird, da Frankreich in aller Stille die schwarzen Horden bewaffnet, um sie nach Europa zu bringen): Sie werden das erleben, übrigens dürfte es Ihren Wünschen sehr zustatten kommen; es paßt ja so gut zu Ihrer Theorie der Vertierung und der Kulturvernichtung: erinnern Sie sich? . . . Ich hörte Ihnen damals im Helsingforser Kaffeehaus mit Befriedigung zu.«

Alexander Iwanowitsch fühlte sich immer unbehaglicher; es fröstelte ihn; besonders widerlich war es ihm, einen Hinweis auf die von ihm längst überwundene Theorie zu hören; er hat diese Theorie längst als krankhaft erkannt und verworfen; und nun jetzt, wo er sich wieder krank fühlt, tritt sie ihm in so widerlicher Form entgegen.

»Also, wo bin ich? Ja, die Papuas: die Papuas sind, sozusagen, erdgeborene Wesen; die Biologie der Papuas, so primitiv sie auch ist, dürfte Ihnen, Alexander Iwanowitsch, nicht unbekannt sein. Mit einem Papua können Sie schließlich und endlich sich irgendwie noch immer verständigen; sagen wir zum Beispiel etwa mit Hilfe des Schnapses; und dann: selbst in Papuasien gibt es Rechtsinstitutionen, die unter Kontrolle des papuasischen Parlaments stehen . . .«

Alexander Iwanowitsch fiel das höchst befremdende Benehmen seines Gastes auf, dessen Stimme sich plötzlich in höchst unpassender Weise von ihm gelöst hatte; und überhaupt verwandelte sich der unbeweglich auf dem Fensterbrett sitzende Gast (oder betrogen ihn etwa seine Augen?) ganz deutlich in einen Rußfleck auf der mondbelichteten Fensterscheibe, während seine Stimme, immer lauter werdend, den krächzenden Ton eines Grammophons annahm, der Alexander Iwanowitsch unmittelbar ins Ohr hineintrommelte.

»Der Petersburger Schatten aber ist nicht einmal ein Papua; die Biologie der Schatten ist noch nicht erforscht. Sie werden sich nie mit dem Schatten verständigen können, seine Forderungen nie verstehen lernen; sobald Sie Petersburger Boden betreten, schlüpft der Schatten in Sie zugleich mit allen möglichen Krankheitsbazillen hinein, die Sie mit dem Wasser aus den Leitungen hinunterschlucken . . .«


Vom Mond beschienen und mit phosphoreszierenden Flecken überdeckt, saß er auf seinem schmutzigen Lager und ruhte von den Angstanfällen aus; da, hier war sein Gast gesessen: der war jetzt nicht mehr da. Diese Angstanfälle! Drei-, vier-, fünfmal während einer Nacht; den Halluzinationen folgten klare Augenblicke.

Jetzt war sein Bewußtsein klarer wie der Mond dort hoch vor den seitwärts dahinziehenden Wolken; und wie der Mond schien das Bewußtsein hell und belichtete die Seele, wie der Mond die labyrinthartigen Straßenprospekte. Weit nach hinten und nach vorn belichtete das Bewußtsein die kosmischen Zeiten und die kosmischen Fernen.

In jenen Fernen gab es nichts: keine Menschen, keine Schatten.

Und — leer waren die Fernen.

In seinen vier einander perpendikulären Wänden kam er sich selbst wie ein in den kosmischen Räumen eingeschlossener Gefangener vor; ein Gefangener, der — freier ist als alle anderen Menschen, für den der winzige Raum zwischen den vier schmalen Wänden dem ganzen Raum des Alls gleicht.

Einsam ist der Raum des Alls! Sein leeres Zimmer! . . . Das All ist der letzte Besitz an Reichtümern . . . Das eintönige All! . . . Eintönig war sein Zimmer schon immer gewesen . . . Die Wohnung eines Bettlers muß aber prunkvoll erscheinen im Vergleich mit der Leere des Raumes im All.


Die Befreiung von den Dämmerzuständen wie eine Erholung empfindend, träumte sich Alexander Iwanowitsch hoch über alles Sinnliche der Welt hinweg.

Eine höhnische Stimme sprach:

»Der Schnaps!«

»Das Rauchen!?«

»Die wollüstigen Gefühle?«

Befand er sich auch wirklich so hoch über allem Sinnlichen der Welt?

Er senkte den Kopf: davon kommt alles: die Krankheit, die Angstzustände, die Schicksalsschläge — von den schlaflosen Nächten, vom Rauchen, vom Trinken.

Der Schnaps!

Plötzlich fühlte er einen schmerzhaften, scharfen Stich in seinem kranken Backzahn; er drückte die Hand auf die Wange.

Seine Irrsinnsanfälle erschienen ihm auf einmal in neuem Licht; er begriff jetzt die Wahrheit dieses Irrsinns: er war nur die Botschaft seiner erkrankten Sinnesorgane an das bewußte Ich; nicht der persische Untertan Schischnarfijew verfolgte ihn, sondern seine schwergewordenen Sinnesorgane verfolgten sein Ich; und indem sich dieses Ich vor ihnen zu retten sucht, wird es zum Nicht-Ich, denn nur durch die Sinnesorgane kommt das Ich wiederum zu sich zurück; der Alkohol, der Tabak und die schlaflosen Nächte untergruben seinen schwachen Körper; unser körperlicher Organismus aber ist eng mit dem Raum verbunden; während der Organismus zu zerfallen begann, bildeten sich auch Lücken im Raum; in die Spalten der Sinnesorgane drangen Bazillen ein; das Räumliche aber, das immer den Körper umschließt — füllte sich mit Visionen . . . Zum Beispiel: Wer ist Schischnarfijew? Ein Alpdrucktraum; dieser Traum aber ist eine Folgeerscheinung des Alkohols; Schischnarfijew ist also nichts anderes als ein Stadium der Alkoholvergiftung.

»Du solltest nicht rauchen, nicht trinken, dann würden deine Sinnesorgane wieder ihren Dienst tun!«

Er fuhr zusammen.

Heute hatte er jemand verraten. Wie konnte er es übersehen, daß er jemand verraten hatte? Er hatte ja zweifellos verraten: er hatte aus Angst Nikolai Apollonowitsch an Lipantschenko ausgeliefert; deutlich erinnerte er sich aller Einzelheiten des widerlichen Handels. Er hatte ohne zu glauben an etwas geglaubt: das war Verrat. Ein noch größerer Verräter ist Lipantschenko selbst; daß Lipantschenko sie alle verriet, hatte er eigentlich schon immer gewußt, und doch verbarg er vor sich selbst dieses Wissen (Lipantschenko übte eine besondere Macht über seine Seele aus): darin lag die Wurzel seiner Krankheit: im furchtbaren Wissen, daß Lipantschenko ein Verräter ist; das Trinken, Rauchen, das ausschweifende Leben waren nur Folgen; und die Halluzinationen waren die letzten Glieder der Kette, an die ihn Lipantschenko geschmiedet hielt. Warum tat es dieser? Weil Lipantschenko wußte, daß ihm sein Verrat bekannt ist; nur weil Lipantschenko weiß, läßt er ihn auch jetzt nicht los.

Lipantschenko hat seinen Willen geknechtet; er hat durch diese Knechtung seines Willens den schrecklichen Verdacht, der alles aufdecken konnte, abzuwenden gesucht; Lipantschenko ahnte, daß in ihm, Dudkin, Mißtrauen erwacht war, und suchte durch eine engere Gemeinsamkeit dieses Mißtrauen einzudämmen, daher hatte er ihn keinen freien Schritt machen lassen; daher hatte er ihn an sich gebunden; er hat in Lipantschenko seine Mystik gegossen, dieser aber in ihn den Alkohol.

Alexander Iwanowitsch erinnerte sich deutlich der Szene im Arbeitszimmer des Lipantschenko; der freche Zyniker und Schuft hatte es auch da verstanden, ihn zu hintergehen; er sah jetzt deutlich vor sich den feisten Hals des Lipantschenko mit der dicken, fetten Falte; dieser Hals hatte ihn gleichsam frech verhöhnt, bis Lipantschenko, seinen Blick auf dem Halse fühlend, sich umgedreht hatte; dieser aufgefangene Blick war es aber, der Lipantschenko alles gesagt hatte.

Damals hatte er mit seiner Einschüchterungspolitik begonnen: er hatte ihn überfallen und so alle Karten vermischt; er hatte einen tödlich verletzenden Verdacht ausgesprochen und ihm dann einen Kompromiß vorgeschlagen: so zu tun, als ob er dem Verrat Ableuchows glaubte.

Und Dudkin hat es geglaubt!

Alexander Iwanowitsch sprang auf und ballte in hilfloser Wut die Fäuste; das war nun Tatsache, das ist nun geschehen.

Hier lag der Grund seines Alpdruckes.


Er erinnerte sich der ersten Begegnung mit Lipantschenko; der Eindruck war wahrlich kein angenehmer gewesen; Lipantschenko hatte entschieden etwas zuviel Interesse für die Schwächen seiner Mitmenschen gezeigt. Dieser plumpe Körper, diese stumpfsinnig zwinkernden Äuglein konnten wohl einem Provokateur höheren Genres angehören, nicht aber . . .

Ein solcher konnte schon manchmal auch ganz einfältig erscheinen.

»Gewürm . . . O, du Gewürm!«

Je mehr er sich in Lipantschenko vertiefte, in die Betrachtung seiner Körperteile, seiner Manieren, Gepflogenheiten, um so deutlicher sah er vor sich: nicht einen Menschen, sondern — eine Tarantel.

Und etwas Stählernes drang ihm in die Seele:

»Ja, ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.«

Ein Gedanke erleuchtete ihn: alles wird so einfach enden; daß es ihm nicht schon früher eingefallen war! Nun ist es ihm klar, welche Mission er zu erfüllen hat.

Alexander Iwanowitsch lachte hell auf:

»Dieser Wurm glaubte mich hintergehen zu können.«

Da fühlte er wieder einen starken Stich im Zahn: aus seinen Träumereien gerissen, griff er sich an die Backe; sein Zimmer, der kosmische Raum — verwandelte sich wieder in eine armselige Dachkammer; das Bewußtsein begann zu erlöschen (wie das Mondlicht in den Wolken); er wurde vom Fieber geschüttelt; seine Augenblicke füllten sich langsam mit Ängsten und Bangigkeit; er rauchte eine Zigarette nach der anderen, rauchte sie ganz bis zum äußersten Rand herunter . . .

Plötzlich aber . . .

Der Gast

Alexander Iwanowitsch Dudkin vernahm einen seltsamen knallenden Laut; der knallende Laut kam von unten; dann wiederholte er sich (begann er sich zu wiederholen) auf der Treppe: ein Schlag folgte dem anderen, mit Pausen dazwischen. Wie wenn jemand mit aller Wucht ein riesengroßes, zentnerschweres Metallstück auf Stein warf; und diese auf Stein niederfallenden Metallschläge stiegen immer höher, kamen immer näher. Alexander Iwanowitsch begriff nun, daß ein Übeltäter die Treppenstufen zerschlug. Er horchte, ob nicht aus irgendeiner Tür jemand herauskam, um den nächtlichen Ruhestörer dingfest zu machen. Ist es aber auch wirklich bloß ein nächtlicher Übeltäter?

Die Schläge auf der Treppe folgten einander; eine Steinstufe nach der anderen wurde zermalmt; und die Steine flogen unter den wuchtigen Schritten nach unten; dieses metallene, dröhnende Etwas näherte sich hartnäckig dem dunkelgelben Dachzimmer; mit betäubendem Gepolter rollten jetzt vielhundertzentnerschwere Steinmassen über die Stufen: zertrümmert sind sie; und — mit furchtbarem Knall löste sich auf einmal der Steinboden vor der Tür:

Die Tür spaltete sich mit donnerndem Krachen und flog aus den Angeln; aus der gähnenden Öffnung ergossen sich melancholische Düsterkeiten wie rauchige, tiefgrüne Wolkenknäule in die Kammer; von dem Stiegenraum her floß Mondferne herein, und die Dachkammer schloß sich an die Unermeßlichkeit an; mitten aber an der Türschwelle, zwischen den zerrissenen Wänden, durch die die grünliche Unermeßlichkeit hereinsickerte, stand plötzlich, den gekrönten, grünumwobenen Kopf tief gesenkt, den schweren, grünumsponnenen Arm vorgestreckt, eine mächtige, phosphorleuchtende Gestalt.

Das war — der kupferne Gast.

Der metallene, matt schimmernde Mantel glitt schwer von den metallisch blinkenden Schultern über den geringelten Panzer; die aus Eisen gegossenen Lippen bebten zweideutig, denn nun wiederholte sich das vergangene Jahrhundert; jetzt, im selben Augenblick, in dem hinter der armseligen Kammer die Wände des alten Gebäudes in die grünliche Unermeßlichkeit stürzten; und ebenso klaffte seine eigene Vergangenheit vor Alexander Iwanowitsch auf; er rief:

»Jetzt erinnere ich mich . . . Ich habe dich erwartet . . .«

Der Riese mit dem kupfernen Kopf war im Fluge durch alle Zeitepochen gezogen und schloß so den eisernen Ring bis zu diesem Augenblick ab; Vierteljahrhunderte zogen dahin; Nikolai stieg auf den Thron; die verschiedenen Alexander stiegen auf den Thron; Alexander Iwanowitsch aber, der Schatten, hatte sich vergeblich bemüht, den Ring zu überwinden: alle Zeitepochen zu durchlaufen, indem er die einzelnen Tage, Jahre, Minuten durchlief, indem er die feuchten Petersburger Prospekte durchwanderte — träumend, wachend, sich in Sehnsucht verzehrend . . . Und hinter ihm her, hinter allen anderen her klirrte das Metall, das die Existenzen zerschlug; krachten die metallenen Schläge — in leeren Fluten, in Dörfern, in den Städten; donnerten unter den Haustoren, auf den öffentlichen Plätzen, auf den Stufen der nächtlichen Haustreppen.

Es donnerten — die Zeitepochen; ich habe dieses Donnern gehört. Und du — hast auch du sie gehört?

Apollon Apollonowitsch Ableuchow ist — ein Schlag auf Stein; Petersburg ist — ein Schlag auf Stein; die Karyatide dort vor dem Portal, die sich bald lösen will — ist wiederum derselbe Schlag auf Stein; unvermeidlich ist die Verfolgung; und unvermeidlich sind — die Schläge; du kannst dich in deiner Dachkammer nicht verbergen; die Dachkammer ist Lipantschenkos Werk; die Dachkammer ist eine Falle; einrennen mußt du sie, einrennen . . . durch Schläge auf Lipantschenko!

Dann wird sich alles wenden; unter den Metallschlägen, die den Stein zerbröckeln, muß Lipantschenko in Stücke zerfallen; dann zerfällt auch die Dachkammer und zerfällt auch Petersburg selbst; die Karyatide wird zu Staub werden, und der nackte Schädel Ableuchows wird durch die Schläge, die Lipantschenko treffen, tödlich getroffen.

Alles, alles erhellte sich jetzt für ihn, als nach zehn Jahrzehnten der kupferne Gast bei ihm erschien und mit laut tönender Stimme sagte:

»Ich grüße dich, mein Sohn!«

Drei Schritte nur: ein dreimaliges Knattern der Bretter unter den Füßen des riesigen Gastes; mit seinem metallenen Hintern schlug der aus Metall gegossene Kaiser laut klirrend auf den Stuhl auf; der grünumsponnene Ellbogen, mit tönenden, glockenähnlichen Lauten sich vom Mantel befreiend, fiel mit seiner ganzen kupfernen Schwere auf das billige Tischchen; und mit langsamer, zerstreuter Bewegung griff der Kaiser vom Kopfe die kupfernen Lorbeeren; klirrend fiel der kupferne Lorbeerkranz vom Haupt.

Klirrend und prasselnd zog die tausendzentnerschwere Hand die rotglühende Pfeife hervor; und zwinkernd sprach er:

»Petro Primo Catherina Secunca . . .«

Er schob die Pfeife zwischen die starken Lippen, und der grüne Rauch des geschmolzenen Kupfers stieg in den Mondschein auf.

Da erst begriff Alexander Iwanowitsch, daß er umsonst durch all die Jahrzehnte gelaufen; daß die Schläge hinter ihm ohne jeden Zorn gedonnert haben; jene Schläge in den Städten, Dörfern, unter den Toren, auf den Treppen; er war ein seit Ewigkeit Begnadigter; und alles Gewesene — ebenso wie das Kommende — war nur ein visionäres Durchwandern, bis zum Trompetenruf der Erzengel.

Und — er sank zu den Füßen des Gekommenen:

»Meister!«

In den kupfernen Gesichtsfalten des Gastes leuchtete kupferne Melancholie; gutmütig legte sich auf seine Schulter die steinzermalmende Hand, und weißglühend brach sie ihm das Schlüsselbein.

»Macht nichts: sterbe nur, dulde . . .«

Der metallene Gast, in tausendgradiger Hitze, im Mond glühend, saß jetzt sengend vor ihm; ganz durchglüht, blendend weiß geworden, floß er über den gebeugten Alexander Iwanowitsch wie ein geschmolzener Eisenstrom; in vollständigem Wahn wand sich Alexander Iwanowitsch in der tausendzentnerschweren Umarmung: der kupferne Reiter ergoß sich mit seinem Metall in seine Adern.

Die Schere

Herr, schlafen Sie?«

In seiner bleiernen Bewußtlosigkeit fühlte Alexander Iwanowitsch dumpf, daß ihn wer rüttelte.

»Herr, he? . . . Herr!«

Endlich schlug er die Augen auf und versetzte sich in den düsteren Tag.

»Aber Herr! . . .«

Der Kopf neigte sich.

»Was ist los?«

Alexander Iwanowitsch merkte erst da, daß er auf der Pritsche lag.

»Die Polizei?!«

Vor seinem Blick erhob sich ein Zipfel des heißen Kissens.

»Welche Polizei denn . . .?«

Ein dunkelroter Fleck kroch auf dem Kissen dahin — brr: in seinem Bewußtsein blitzte es auf:

»Eine Wanze . . .«

Er wollte sich auf den Ellbogen stützen und sich erheben, verfiel aber wieder in Bewußtlosigkeit . . .

»Herrgott, aber kommen Sie doch zu sich . . .«

Alexander Iwanowitsch stützte sich endlich auf den Ellbogen.

»Bist du es, Stjopka?«

Er erblickte ein aufsteigendes Dampfwölkchen; ein Dampfwölkchen aus einer Teekanne; auf dem Tische sah er auch die Kanne und eine Tasse.

»Ah, das ist schön, Tee.«

»Was schön! Sie fiebern ja ganz, Herr . . .«

Mit Verwunderung sah Alexander Iwanowitsch, daß er angekleidet war; er war ja sogar im Mantel dagelegen.

»Wieso bist du hier?«

»Ich bin zu Ihnen raufgekommen; es wird auf sehr vielen Fabriken gestreikt; die Polizei überall, massenhaft. . . . Ich kam zu Ihnen rauf, hab’ das Gebetbuch mitgebracht.«

»Das Gebetbuch war aber schon bei mir.«

»Aber wo, Herr, das hat Ihnen nur geträumt . . .«

»Warst du nicht gestern hier gewesen?«

»Nein, Herr, Sie haben mich schon zwei Tage nicht gesehen.«

»Ich glaubte aber . . . Mir schien eben . . .«

Was schien ihm?

»Ich kam heute zu Ihnen rauf und sah Sie liegen; Sie stöhnten, fieberten ganz, wie im Feuer lagen Sie da.«

»Ich bin aber gesund, Stjopka.«

»Aber wo denn, gesund! . . . Ich hab’ da für Sie einen Tee gemacht; hier ist auch Brot, ganz frisches; trinken Sie, vielleicht wird’s doch besser. Ja! So dazuliegen — das ist doch nichts . . .«

(Er erinnerte sich: In der Nacht war durch seine Adern eine kochende Metallbrühe geflossen.)

»Ja, ja, mein Lieber, in der Nacht habe ich ein ganz anständiges Fieber gehabt . . .«

»Das glaub’ ich schon . . .«

»Ein Fieber von hundert Grad.«

»Sie werden einmal im Alkohol zu Tode gesotten . . .«

»In der eigenen Brühe? Ha—ha—ha . . .«

»Was meinen Sie? Man erzählt: es hat einmal einen alkoholischen Menschen gegeben, dem sind aus dem Mund weiße Dampfwolken aufgestiegen . . . und er war dann totgesotten . . .«

Alexander Iwanowitsch lächelte ein böses, wehes Lächeln.

»Sie haben sich schon den Teufel auf den Hals getrunken . . .«

»Die Teufel waren schon da, das ist wahr . . . Deswegen habe ich dich auch um das Gebetbuch gebeten: ich will sie verjagen.«

»Sie werden sich auch noch die grüne Schlange auf den Hals trinken . . .«

Alexander Iwanowitsch lächelte wieder schief:

»Ganz Rußland aber auch, mein Lieber . . .«

»Waas? . . . Trinkt sich die grüne Schlange . . .?«

Er dachte aber gleich:

»Solltest doch lieber deine Zunge hüten . . .«

»Das ist nicht wahr: Rußland steht unter Jesu Christi Schutz . . .«

»Du quatschst . . .«

»Sie quatschen selbst: Sie werden schon sehen . . . wenn Sie noch weitertrinken, dann werden Sie einmal von ihr, von ihr selbst geholt . . .«

Alexander Iwanowitsch schrak heftig zusammen.

»Von wem?«

»Von . . . von . . . der weißen Frau

Daß das Delirium tremens, das Stjopka mit der »weißen Frau« meinte, auf den Fersen war — daran war nicht zu zweifeln.

»Ach, weißt du: wenn du doch in die Apotheke laufen . . . und mir ein Chininpulverchen kaufen möchtest . . .«

»Das kann ich schon tun . . .«

»Aber nicht vergessen: salzsaures, kein schwefelsaures. Schwefelsaures Chinin ist nur Verschwendung und hilft weiß Gott nichts . . .«

»Ach, Herr, am Chinin liegt es nicht . . .«

»Fort mit dir! . . .«

Stepan lief zur Tür und Alexander Iwanowitsch ihm nach.

»Vergiß auch nicht, Stjopuschka, mir bei dieser Gelegenheit auch etwas Himbeersaft zum Tee zu kaufen.«

Er dachte:

»Himbeer ist ein gutes, schweißtreibendes Mittel.«

Mit raschen, fließenden Bewegungen trat er an die Wasserleitung; kaum hatte er sich aber aus dem Hahn gewaschen, als in ihm wieder alles aufflammte, die Grenze zwischen Delirium und Wirklichkeit verwischend.

Während er mit Stjopka gesprochen hatte, schien es ihm immerfort, hinter der Tür lauere etwas: etwas ihm seit Ewigkeiten Bekanntes. Dort, hinter der Tür? Und er lief hinaus; aber hinter der Tür sah er nur das Treppenhaus sowie das Treppengeländer, das über dem Abgrund hing. Hier blieb Alexander Iwanowitsch angelehnt stehen; er schnalzte mit der vollständig ausgetrockneten Zunge, zitternd vor innerer Kälte. Ein Geschmacksgefühl reizte ihn, ein Kupfergeschmack; im Mund und auf der Zungenspitze.

»Wahrscheinlich wartet es unten im Hofe . . .«

Im Hof war aber niemand, nichts. —

Vergeblich suchte er überall, in allen versteckten Ecken, in den Durchgängen (zwischen den Holzstapeln); silbern schimmerte der Asphalt; silbern schimmerten die Ahornblätter; nichts, niemand, nichts . . .

»Wo ist es also?«

Stjopka lief mit den gekauften Sachen vorbei; nun schlüpfte er rasch, um von Stjopka nicht gesehen zu werden, hinter einen Holzstoß; plötzlich wurde er von einem Gedanken erleuchtet:

»Es ist in einem metallenen Ort . . .«

Was das für ein Ort war und warum ein metallener? Darauf gab ihm sein im Wirbel sich kreisendes Bewußtsein keine erklärende Antwort. Umsonst strengte er seine Gehirnzellen an: nichts deutete auf das in ihm früher gewesene Bewußtsein; eines blieb in der Erinnerung haften: es hat sich hier ein anderes Bewußtsein befunden; dieses andere Bewußtsein hatte sehr klare Bilder vor ihm entstehen lassen; in jener Welt, die keinesfalls unserer ähnlich war, befindet sich . . . es . . .

Und . . . es wird wieder erscheinen.

Mit dem Erwachen verwandelt sich jedes andere Bewußtsein in einen unrealen, mathematischen Punkt; am Tage also, im Wachsein, schrumpft es zu einem Bruchteil eines mathematischen Punktes zusammen; ein Punkt hat aber keine Teile; also kann es nicht gewesen sein.

Es blieb nur die Erinnerung an eine Erinnerungslosigkeit und an ein Etwas, das einer Ausführung harrte, das kein Verschieben duldete; doch — was war es?

Eine Erinnerung an einen metallenen Ort . . .

Eine Erleuchtung kam über ihn: mit federnden, leichten Schritten eilte er zu einer Straßenecke, wo sich zwei Straßen kreuzten; an dieser Straßenecke (das wußte er) war ein Geschäft, dessen Fenster ein Glanzflimmern verbreiteten . . . Wo war aber das Geschäft, und — wo war diese Straßenecke?

Dort glänzten Gegenstände.

»Gibt es dort Metalle?«

Diese sonderbare Passion!

Woher auf einmal diese sonderbare Passion bei Alexander Iwanowitsch? Wirklich: an der Ecke glänzten Metalle: es war ein kleiner Laden, in dem alle möglichen, billigen Metallgegenstände: Scheren, Messer, Gabeln, verkauft wurden.

Er trat in das Geschäft ein.

Eine verschlafene Gestalt (wahrscheinlich der Eigentümer all dieser Sägen, Messer, Bohrer) erhob sich hinter der Kasse und trat vor den Verkaufstisch, auf dem verschiedene Stahlgegenstände glänzten; der schmalstirnige Kopf fiel eigentümlich schwer gegen die Brust; hinter der Brille verbargen sich kleine, rötlichgraue Äuglein:

»Ich möchte, ich möchte . . .«

Da er nicht wußte, was er wollte, berührte er mit der Hand eine Säge; die gab einen klirrenden Laut von sich: »wss—wss—wss«. Der Ladeninhaber blickte mit seinen tief in den Höhlen sitzenden Augen den Käufer an: Alexander Iwanowitsch ist ja ganz unerwartet für sich selbst auf die Straße gelangt; so wie er auf seiner Pritsche im Mantel gelegen war, kam er in das Geschäft; der Mantel war zerdrückt und mit Schmutz bedeckt; vor allem aber: er hatte keinen Hut auf dem Kopf: das Gesicht mit überhängenden, wirren Haaren konnte jeden erschrecken.

Deswegen sah ihn der Ladeninhaber mißtrauisch, mit gefalteter Stirn an; mit unüberwindlichem Ekel in den ungemütlichen, von Natur aus schwer gebauten Gesichtszügen starrte er unverwandt Dudkin an.

»Wünschen Sie eine Säge?«

Die scharf prüfenden Äuglein aber sprachen wütend:

»So—o—o! . . . Ein wahnsinnig gewordener Trunkenbold!«

So schien es ihm.

»Nein, keine Säge; mit einer Säge, wissen Sie, geht es nicht. Ich brauche ein finnisches Messer, ein geschliffenes.«

Doch der Ladeninhaber erwiderte grob:

»Verzeihen Sie: wir haben keine finnischen Messer.«

Die bohrenden Augen sagten gleichsam:

»Wenn du ein Messer in die Hand bekommst . . . dann geschieht manches Unheil . . .«

Wenn sich die Lider gehoben hätten, dann wären die scharf bohrenden Äuglein zu einfachen Augen geworden; aber eine Ähnlichkeit überraschte Dudkin; eine Ähnlichkeit — denken Sie, mit wem? Mit Lipantschenko. Jetzt drehte ihm die Gestalt den Rücken zu und warf ihm einen Blick zu, der selbst einen Ochsen zu Boden gestreckt hätte.

»Es ist ganz gleich: geben Sie mir eine Schere . . .«

Bei sich aber dachte Dudkin: Woher diese Wut in ihm? Woher diese Ähnlichkeit mit Lipantschenko? Aber gleich darauf beruhigte er sich selbst: Ach wo! Ist da überhaupt eine Ähnlichkeit?

Lipantschenko trägt keinen Bart, und dieser dicke Kerl hat einen runden Vollbart.

Aber bei dem Gedanken an Lipantschenko fiel ihm plötzlich alles ein: alles — alles — alles! Jetzt wußte er ganz klar, warum er auf den Gedanken verfallen war, in dieses Geschäft zu gehen. Jetzt wußte er, was er vorhatte.

Vor der Schere stehend, begann er zu zittern:

»Sie brauchen nicht einzuschlagen — nein, nein . . . Ich wohne ganz in der Nähe . . . Ich kann es so tragen, es geht auch so . . .«

Mit diesen Worten nahm er die kleine Schere, die von eleganten Leuten zum Nägelschneiden gebraucht wird, und steckte sie in die Tasche; dann lief er aus dem Laden.

Mißtrauisch, verwundert und erschreckt blickte ihm der quadratförmige, schmalstirnige Kopf mit dem vorstehenden Stirnknochen nach; der vorstehende Stirnknochen ging im hartnäckigen Wunsch auf, das Vorgefallene zu verstehen; es um jeden Preis zu verstehen, koste es, was es wolle; zu verstehen — oder in Stücke zu zerfallen.

Doch der Stirnknochen vermochte es nicht zu verstehen; er war ja ein so armseliger Stirnknochen: schmal, mit Querfalten; es war — als weinte er.


Unermeßlichkeiten

Wir verließen Nikolai Apollonowitsch in dem Augenblick, als Alexander Iwanowitsch Dudkin, verwundert über den aus Ableuchows Lippen plötzlich hervorgebrochenen Redestrom, ihm die Hand drückte und in der schwarzen Kopfbedeckungsflut untergetaucht war, während Nikolai Apollonowitsch da wieder fühlte, daß er sich zu dehnen begann.

Wir verließen Nikolai Apollonowitsch in dem Augenblick, als die peinliche Verkettung von Umständen sich unerwartet glücklich gelöst hatte.

Bis zu diesem Augenblick hatten sich vor ihm wie Felsenblöcke allerlei Visionen und gedankliche Ungetüme getürmt; ganze Gaurissankare von Geschehnissen drohten über ihn niederzustürzen, und das alles hatte sich im Laufe von vierundzwanzig Stunden vollzogen: das Warten im Sommergarten und die unruhigen Schreie der Krähen; die Verkleidung in rote Seide; der Ball, das heißt: die gestreiften, glöckchenbehängten Harlekine, die flammend roten Narren, der gelbbucklige Pierrot und der sinnlos betrunkene, den Mädchen Angst einflößende Bajazzo — diese ganze Harlekinade, die wie ein Schreck durch die Säle dahingesaust war; die unbekannte himmelblaue Maske, die knicksend getanzt und ihm knicksend ein Zettelchen zugesteckt hatte; und dann — dann seine schmachvolle Flucht aus dem Saal, fast bis zum Abort an den Zaun, wo ihn das kleine räudige Männchen abgefangen hatte; endlich Pépp, Péppowitsch, Pépp, das heißt, die Sardinenbüchse furchtbaren Inhalts, die . . . noch immer . . . tickte . . .

Die Sardinenbüchse furchtbaren Inhalts, geeignet, die ganze Umgebung in einen einzigen blutigen Schlamm zu verwandeln.

Wir verließen Nikolai Apollonowitsch bei dem Schaufenster eines Ladens; wir verließen ihn, weil zwischen uns und dem Senatorsohn Regentropfen niederzufallen begonnen hatten; ein rieselndes Regennetz hatte sich zu spinnen begonnen; hinter diesem Netz verloren alle schweren Gegenstände, die Häuserkanten und Vorsprünge, die Karyatiden, Portale, die Karniese der steinernen Balkons ihre deutlichen Konturen, verwischten sich allmählich und traten kaum, kaum hervor.

Man spannte Regenschirme auf.

Nikolai Apollonowitsch stand vor der Auslage und dachte daran, daß es keinen Namen für diese Gemeinheit gebe; einer Gemeinheit, die vierundzwanzig Stunden andauerte oder achtzigtausendsechshundert in der Tasche dahinhüpfende Sekunden: achtzigtausend Augenblicke bedeuten ebenso viele Punkte in der Zeitlichkeit; kaum war ein Augenblick eingetreten, als schon über ihn Sekunden, Augenblicke, Punkte, hüpfend, im Kreise verteilt, herannahten und sich langsam in eine dehnbare kosmische Kugel verwandelten; die Kugel zersprang immer wieder; der Fuß glitt in die kosmischen Leeren über: der durch die Zeit Wandernde fiel in unbekannte Tiefen, vielleicht in die kosmischen Räume, bis zu . . . einem neuen Augenblick; so waren vierundzwanzig Stunden dahingegangen, achtzigtausend in der Tasche hüpfende Sekunden; jede von ihnen verpuffte: der Fuß glitt in Unermeßlichkeiten hinüber.

Nein, es gibt keinen Namen für diese Gemeinheit, nein!

Es war besser, nicht zu denken; aber — irgendwo dachte es; vielleicht kamen die Gedanken aus dem aufgequollenen Herzen; Gedanken, die nicht im Kopfe, wohl aber im Herzen hausten; das Herz dachte; das Hirn aber fühlte.

Ganz von selbst entstand vor ihm der scharfsinnige, bis in Einzelheiten ausgearbeitete Plan; ein für den Urheber verhältnismäßig ungefährlicher Plan, aber ein um so gemeinerer, ja gemeinerer!

Wer hat diesen Plan ausgeheckt? Hätte er, Nikolai Apollonowitsch, so etwas zustande gebracht?

Nämlich:

In all diesen Stunden hüpften vor seinen Augen, unabhängig von ihm selbst, nadelscharfe Gedankensplitter, die in allen möglichen Farben irisierten, wie Sternfunken und wie das lustige Klimbim des Weihnachtsbaumes schimmerten: unaufhörlich versanken, flogen sie durch die einzige vom Bewußtsein erleuchtete Stelle und versanken wieder: aus dem Dunkel ins Dunkle; bald wand sich vor ihm die Gestalt eines Clowns, bald galoppierte der zitronengelbe Narr Petruschka durch die erleuchtete Stelle des Bewußtseins dahin — aus dem Dunkel in das Dunkle — das Bewußtsein aber beschien unparteiisch alle sich überstürzenden Bilder; und wenn sie miteinander verschmolzen, verlieh ihnen das Bewußtsein einen erschütternden, unmenschlichen Sinn; Nikolai Apollonowitsch spuckte beinahe vor Ekel.

»Ideenarbeit?«

»Es war ja gar keine Ideenarbeit . . .«

»Es war nur feige Angst und tierische Empfindungen, das Bestreben, die eigene Haut zu retten . . .«

»Ja, ja, ja . . .«

»Ich bin ein vollendeter Schuft . . .«

Wir hatten schon gesehen, daß auch der verehrte Herr Vater seinerzeit zu genau demselben Schluß gekommen war.


Er war — ein ausgemachter Schuft!

Nachdem er das begriffen, war sein erstes, auf die Wassiljewski-Insel zu eilen, in die 18. Linie; eine schäbige Droschke fuhr ihn dahin; mit keuchender, wuterfüllter Stimme flüsterte er hinter dem Rücken des Kutschers:

»Ha! . . . So etwas! . . . Heuchler . . . Lügner . . . Mörder . . . Einfach für die eigene Haut . . .«

Auf dieses laut empörte Flüstern wandte sich der Kutscher um und fragte etwas geärgert:

»Was ist?«

»Nichts . . . Gar nichts . . .«

Der Kutscher dachte:

»Ein sonderbarer Herr, wahrhaftig . . .«

Nikolai Apollonowitsch pflegte, wie Apollon Apollonowitsch, mit sich selbst zu reden.

Die Winde echoten:

»Vatermörder!«

»Lügner!«

Völlig außer sich sprang Nikolai Apollonowitsch aus der Droschke; an den Holzstapeln vorbei durchflog er den asphaltierten kleinen Hof und gelangte an die Hintertreppe, um über die Stufen hinaufzurennen . . . weswegen — das wußte er allerdings nicht; wahrscheinlich aus Neugierde; um demjenigen in die Augen zu blicken, der die ganze Sache — durch die Übergabe des Pakets — verschuldet hatte.

Hier stieß er auf Alexander Iwanowitsch; alles andere wissen wir ja nun.


Es gibt keinen Namen für diese Schändlichkeit, nein!

Ja, — doch sein Herz, von all dem Geschehenen erwärmt, begann langsam zu schmelzen; das eisigkalte Herzklümpchen wurde allmählich wieder ein Herz; erst hatte es sinnlos gepocht; jetzt pochte es mit bestimmtem Sinn; auch pochten in ihm die Gefühle; diese Gefühle erbebten ganz plötzlich in ihm; diese kleinen Erschütterungen erschütterten und verwandelten jetzt seine ganze Seele.

Soeben noch türmte sich jenes Ungeheuer von einem Hause als ein Massenhaufen steinerner Balkons über der Straße; wäre er über die gepflasterte Straße gelaufen, dann hätte er mit der Hand seine steinerne Ecke fassen können; aber es fing zu regnen an, und in dem Nebel begann diese steinerne Ecke zu schwimmen.

So schwamm jetzt auch alles andere.

Es begann zu rieseln, und das Ungeheuer aus ineinandergreifenden Steinen begann sich aufzulösen; nun erhebt es schon, aus dem Regen heraus — in den Regen hinein, seine leichten Spitzenkonturen, seine kaum merklichen Linien: ein wahrhaftiges Rokoko: das Rokoko verschwindet dann in einem Nichts.

In nassem Glanz blinken die Fenster, die Vitrinen; aus den Dachrinnen schießt ein Wasserstrahl hervor; auf die bleichen Trottoirs fielen von oben dichte, lange Tropfen, die tödliche Trockenheit des Trottoirs nahm eine dunkelbraune Farbe an; ein vorbeisausendes Gummirad spritzte Kot nach beiden Seiten.

Und so ging es und ging es weiter . . .

Nikolai Apollonowitsch verschwand unter den aufgespannten Regenschirmen der Passanten: die Prospekte schwammen in Dunst; es war, als schöben sich die Riesenkörper der Häuser aus dem Luftraum in irgendeinen anderen, unbekannten Raum; dumpf blinken von dort ihre Konturen herüber, der ineinander verworrenen Karyatiden, Spitzen, Mauern. Es schwindelte ihn: er lehnte sich gegen ein Schaufenster; etwas zersprang in ihm, flog auseinander; und — vor ihm erstand ein Stück seiner Kindheit.


Er sieht seinen Kopf auf dem Schoß der Gouvernante, der alten Nokkert, ruhen; beim Lampenlicht liest die Alte:

»Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Es ist der Vater mit seinem Kind . . .«

Plötzlich heulte der Sturm hinter den Fenstern auf; sicher wird das Kind dort verfolgt; an der Wand zittert der Schatten der Gouvernante.

Und wieder . . .

Apollon Apollonowitsch — klein, alt, grau — lehrt Kolenka das französische Contre-Danse; gleitend bewegt er sich, zählt seine Schrittchen und schlägt mit den Handflächen den Takt; er schreitet bald rechts, bald links; er schreitet bald vorwärts, bald rückwärts; an Stelle der begleitenden Musik rezitiert er laut und schnell:

»Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Es ist der Vater mit seinem Kind . . .«

Dann richtet er seine haarlosen Augenbrauen auf Kolenka:

»Wie ist also, mein Lieber, die erste Figur der Quadrille?«

Alles andere war Nacht und Wind gewesen, denn die Verfolger hatten ihn eingeholt: hatten das Kind aus den Armen des Vaters gerissen:

»In seinen Armen das Kind war tot . . .«

Das ganze Leben nach jenem Augenblick erwies sich als ein Spiel der Nebel. Das Stück Kindheit verschwand.


In nassem Glanz blinkten die Fenster, die Vitrinen, die Wasserrinnen; die graubraune Nässe der Trottoirs glänzte; Gummiräder spritzten Kot auf alle Seiten. In der dunstigen Nässe verschwand Nikolai Apollonowitsch unter den aufgespannten Regenschirmen der Passanten; es war, als schöben sich die Riesenkörper der Häuser aus dem Luftraum in einen anderen, unbekannten Raum; es blinkten von dort ihre Konturen herüber, die ineinander verwobenen Karyatiden, Spitzen, Mauern.

Die Kraniche

Nikolai Apollonowitsch wünschte sich in die Heimat zurück, in die Kindheit, denn auf einmal begriff er es: er war — ein kleines Kind.

Er mußte alles, alles von sich abstreifen, vergessen; er mußte alles, alles, wieder lernen, wie man es in der Kindheit einmal lernt; die alte vergessene Heimat — jetzt hört er sie wieder. Und — schon, schon hörte er überall die Stimme der traurigen, aber doch lieben Kindheit, die lange nicht mehr erklungene Stimme, die nun zu klingen begann.

Jener Stimme Laut?

Wie man in der Stadt den Schrei der Kraniche nicht hört, so hört man auch diese Stimme nicht: hoch oben schweben die Kraniche; in dem Gepolter der Stadt hören sie die Städter nicht; sie aber fliegen, fliegen, über die Stadt dahin — die Kraniche! . . . An irgendeiner Stelle, vielleicht auf dem Newskij-Prospekt, bleibt im Lärm der dahinsausenden Droschken, unter dem Schrei der Zeitungsverkäufer, in vorabendlicher Stunde zur Frühlingszeit ein Mann wie angewurzelt auf dem Trottoir stehen, ein Bewohner der Felder, der zufällig in die Stadt gekommen war; er bleibt stehen — neigt den struppigen Kopf mit dem bärtigen Gesicht auf die Seite und redet dich an:

»Tsss! . . .«

»Was ist’s?«

Aber er, der Bewohner der Felder, der zufällig in die Stadt gekommen war, schüttelt zur Antwort den struppigen Kopf und lächelt schlau-schlau:

»Hören Sie nicht?«

»?«

»Horchen Sie doch! . . .«

»Aber was? Aber was denn?«

Er aber seufzt:

»Dort . . . rufen die . . . Kraniche . . .«

Du horchst auch hin.

Erst hörst du rein nichts; dann aber hörst du von oben, aus den Fernen: ein lieber, vergessener Laut — ein besonderer Laut . . .

Dort schreien die Kraniche.

Ihr wendet beide die Köpfe nach oben. Ein dritter, ein vierter, ein fünfter wendet den Kopf nach oben.

Erst sind alle von den kosmischen Fernen geblendet; nichts außer Luft . . . Doch nein: es ist etwas da, außer der Luft . . . Durch das gänzlich leere Blau sieht man etwas ziehen, etwas immerhin Bekanntes: nach dem Norden . . . fliegen . . . die Kraniche . . .

Ein ganzer Ring von Neugierigen; alle Köpfe sind nach oben gewendet, das Trottoir ist von Menschen versperrt; langsam schiebt sich der Gorodowoi heran; und — o nein, er bemeistert seine Neugierde nicht: bleibt stehen, wirft den Kopf nach oben; er schaut.

Ein Murmeln:

»Kraniche! . . .«

»Sie kehren wieder zurück . . .«

»Die Lieben . . .«

Über den verfluchten Petersburger Dächern, über dem Holzpflaster, über der Menge — dieses Vorfrühlingsbild, diese bekannte Stimme! . . .


Ebenso — die Stimme der Kindheit!

Man hört sie nicht; aber — sie sind da; der Ruf der Kraniche über den Straßen von Petersburg: plötzlich hört man ihn einmal! Ebenso die Stimme der Kindheit.

So etwas wie diese Stimme vernahm auf einmal Nikolai Apollonowitsch.

Wie wenn ein trauriger Jemand, den Nikolai Apollonowitsch noch nie gesehen hatte, um seine Seele einen lichten, durchdringenden Kreis beschrieben hätte und dann in seine Seele eingedrungen wäre; durch die Seele drang das helle Licht seiner Augen hindurch. Nikolai Apollonowitsch fuhr zusammen; es dehnte sich etwas in seiner Seele, was bis dahin ganz zusammengeschrumpft darin gelegen war; leicht floß dieses Etwas in die Unermeßlichkeit hinüber; ja, die Unermeßlichkeit war selbst da und sprach:

»Ihr verjagt mich alle! . . .«

»Was, was, was?« versuchte Nikolai Apollonowitsch zu horchen; die Unermeßlichkeit sprach unentwegt:

»Ich folge euch allen . . .«

So sprach sie.

Nikolai Apollonowitsch sah sich verwundert um, als erwarte er, den Sprecher vor sich zu erblicken; er erblickte aber etwas anderes, und zwar: eine schwimmende Masse von Hüten, Schnurrbärten, Kinnen; weiter zog sich nur einfach der Prospekt hin; und in ihm schwammen Blicke, wie alles jetzt schwamm.

Der neblige Prospekt erschien ihm auf einmal lieb und bekannt; ah — ah — ah! — wie traurig war jetzt der Prospekt; und der Strom der Hüte mit den Gesichtern? Alle an ihm vorbeiziehenden Gesichter — wie waren sie nachdenklich und unaussprechlich traurig.

Den aber, der gesprochen hatte, erblickte er nicht.


Aber wer ist denn dort? Dort, auf der anderen Seite? Neben jenem Riesenhause? — unter den Steinmassen der Balkons?

Ja, dort steht jemand.

Genau so wie er selbst; auch vor dem Schaufenster eines Ladens; er steht unter dem aufgespannten Regenschirm, einfach so . . . Ja, einfach so: oder betrachtet er etwas? . . . Es scheint so — sein Gesicht ist nicht zu sehen. Was ist daran Besonderes? Steht er doch, Nikolai Apollonowitsch, auf dieser Seite, einfach so, zu seinem eigenen Vergnügen . . . Jener steht nun auch so: wie er, Nikolai Apollonowitsch, wie die anderen Passanten; er ist ja auch nur ein Passant; und er ist auch lieb und traurig (wie alle jetzt); er betrachtet etwas mit ganz unbefangener Miene: ich bin nichts weiter als ein einfacher Jemand, mit einem Schnurrbart! . . . Nein — glattrasiert . . . Seine Gestalt in dem Wintermantel erinnert — doch an wen? Winkt er nicht?

Einfach jemand mit einer Schirmmütze auf dem Kopf.

Wo war es doch nur früher schon einmal gewesen?

Sollte er nicht an ihn näher herankommen, an den lieben Eigentümer der Schirmmütze? Der Prospekt gehört ja der Allgemeinheit, wahrhaftig! Auf diesem öffentlichen Prospekt ist für jeden Platz . . . Er konnte einfach hingehen — sich die Sachen dort im Schaufenster ansehen. Dazu ist jeder berechtigt.

Er konnte unbefangen neben dem anderen stehenbleiben, dann zufällig einen flüchtigen, wie zerstreuten, dabei aber aufmerksamen Blick werfen —

— auf ihn!

Um sich zu vergewissern: wer er denn eigentlich sei?

Nein, nein, nein! . . . Um seine — sicher erstarrten — Finger zu berühren und zu weinen vor dummem Glücksgefühl! . . .

Sich aufs Trottoir platt hinstrecken!

»Ich bin — krank, taub, belastet . . . Beruhige mich, Meister, beschütze mich . . .«

Und die Antwort zu bekommen:

»Steh auf . . . und . . .«

»Gehe . . .«

»Begehe keine Sünden . . .«


Nein, er wird keine Antwort bekommen.

Gewiß, er wird keine Antwort von dem Traurigen bekommen, denn es gibt jetzt noch keine Antwort: die Antwort wird später kommen — in einer Stunde vielleicht, in einem Jahr, in fünf Jahren; vielleicht noch später — in hundert, in tausend Jahren; aber eine Antwort wird kommen! Jetzt aber würde der Traurige und Schlanke, den er nie vorher im Traum gesehen, der ein Unbekannter, doch kein einfacher Unbekannter, sondern ein geheimnisvoller Unbekannter war — jetzt würde dieser Traurige und Schlanke ihn nur ansehen und den Finger auf den Mund legen. Ohne sich umzusehen, ohne stehenzubleiben würde er weiter durch den Straßenschmutz gehen . . .

Und würde in dem Straßenschmutz verschwinden . . .


Aber ein Tag wird kommen.

Und all das wird sich in einem kurzen Augenblick ändern. Und alle unbekannten Passanten — alle, die im Augenblick der tödlichen Gefahr aneinander vorbeigegangen waren (irgendwo in einem schmalen Gäßchen), alle, deren unaussprechliche Blicke von diesem kommenden Augenblick gesprochen hatten und die dann in der Unermeßlichkeit verschwunden waren — alle, alle werden sie sich finden!

Die Freude dieser Begegnung wird ihnen niemand nehmen.

Ich gehe einfach so . . . und störe niemand

Was ist das mit mir?« dachte Nikolai Apollonowitsch, »ich versank zu sehr unrechter Zeit in Träumereien.«

Es war keine Zeit zu verlieren . . . Die Zeit vergeht, inzwischen tickt die Sardinenbüchse noch immer. Das beste wäre: an den Schreibtisch zu gehen, das Ganze in ein Papier einschlagen, in die Tasche stecken und dann — zur Newa . . .

Er wandte bereits die Augen von dem Riesenbau, vor dem unter den steinernen Balkons der Unbekannte mit aufgespanntem Regenschirm stand; wieder ergoß sich der dicke Körperbrei mit den vielen Füßen an ihm vorbei — der Brei aus menschlichen Körpern, der hier immer floß, im Frühling, im Sommer, im Winter: der Brei aus immer gleichen Körpern.

Aber er hielt es nicht aus und sah wieder hin.

Der Unbekannte hatte sich nicht vom Platz gerührt; er wartete offenbar, ebenso wie Nikolai Apollonowitsch; wartete, bis der Regen aufhört; plötzlich rührte er sich, plötzlich schloß er sich dem Menschenstrom an; den Paaren und den Gruppen; er verschwand hinter einem blanken, lackierten Dreimaster; nur sein Regenschirm ragte hilflos hervor.

»Du solltest dich abwenden und weitergehen! Hol’ ihn der Kuckuck, den Unbekannten, was geht er dich an?«

Kaum hatte er es gedacht, tauchte die Schirmmütze, die ihn so gefesselt hatte, hinter dem blanken Dreimaster und den sich rasch vorbeiziehenden Schultern wieder auf; in Gefahr, unter eine Droschke zu kommen, lief der Unbekannte quer über die Straße; komisch streckte er seinen Regenschirm vor, den der Wind ihm aus der Hand zu reißen drohte.

Wie sollte er sich jetzt abwenden? Wie jetzt fortgehen?

»Was will er?« dachte Nikolai Apollonowitsch und war, unerwartet für sich selbst, darüber verwundert.

»Ah, so sieht er also aus!«

In der Nähe verlor der Unbekannte sehr an Interesse; aus der Entfernung hatte er imposanter ausgesehen; geheimnisvoller, trauriger; seine Bewegungen waren langsamer.

»He! bitte: er sieht ja ganz idiotisch aus! Diese Mütze, nein diese Mütze! Wie er auf seinen Kranichbeinen dahintrippelt! Die Schöße des schäbigen Mäntelchens flattern hin und her, der Schirm mit Löchern, und die Gummischuhe sind viel zu groß . . .«

Nikolai Apollonowitsch empfand etwas wie Feindseligkeit gegen den Fremden; erst wollte er ihn vorbeilassen, dann änderte er seine Taktik und rührte sich nicht vom Platz, um dem anderen nicht etwa den Weg frei zu, machen; so stießen sie direkt aufeinander; Nikolai Apollonowitsch machte eine erstaunte Miene, der andere zeigte sich gleichgültig; sonderbar: die durchfrorene, große Hand (mit Gänsehaut bedeckt) berührte die Mütze; eine hölzerne, heisere Stimme hämmerte entschlossen:

»Ni—ko—lai A—pol—lo—no—witsch!! . . .«

Da erst merkte Nikolai Apollonowitsch, daß der Unbekannte, der ihn fast überrannt hatte (offensichtlich ein gewöhnlicher Kleinbürger), um den Hals einen Verband trug (wahrscheinlich eines, Furunkels wegen, die ja gewöhnlich dort ihren Sitz nehmen, wo sie am meisten störend empfunden werden: am Hals, am Schulterblatt oder an einer nicht näher zu bezeichnenden Stelle! . . .).

Doch seine Betrachtungen über die tückischen Eigenschaften der Furunkel wurden unterbrochen:

»Sie scheinen mich nicht zu erkennen!«

(Ei, ei!)

»Mit wem hab’ ich die Ehre?« hatte schon Nikolai Apollonowitsch mit etwas beleidigter Miene begonnen, aber er sah aufmerksamer den Unbekannten an, riß dann plötzlich den Hut vom Kopfe und rief mit entstelltem Gesicht:

»Nein . . . Sind Sie es wirklich? . . .«

Gewiß, in dem zufälligen Passanten, der wie ein Bettler aussah, war nicht leicht Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin zu erkennen; denn erstens war jetzt Lichutin in Zivilkleidung, die ihm ungefähr so paßte wie der Kuh ein Sattel; und dann — sieh mal einer her! — war Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin bartlos. Das war die Hauptsache: an Stelle des welligen runden Bartes trat ein unangebrachtes, ein wenig unsauberes Nichts hervor; und — was ist nur mit dem Schnurrbart geworden? Diese haarlose Stelle zwischen Nase und Lippe war es eben, die das wohlbekannte Gesicht zu einem völlig fremden, zu einem unangenehmen Nichts machte.

Das Verschwinden des eigens Lichutin gehörenden Bartes, des eigens Lichutin gehörenden Schnurrbartes verlieh dem Leutnant den erschütternden Ausdruck eines Idioten:

»Nein, entweder versagen meine Augen . . . oder . . . Sie scheinen, Ssergeij Ssergeijewitsch . . .«

»Ganz richtig: ich bin in Zivil . . .«

»Das mein’ ich nicht, Ssergeij Ssergeijewitsch . . . Das nicht . . . Nicht das erstaunt mich . . . es ist aber immerhin etwas erstaunlich . . .«

»Was ist erstaunlich?«

»Sie haben sich ganz verwandelt, Ssergeij Ssergeijewitsch . . . Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung . . .«

»Das sind Kleinigkeiten . . .«

»O, gewiß . . . Ich sage es nur so . . . Ich wollte nur sagen, daß Sie sich den Bart abgenommen haben . . .«

»Was ist dabei?« sagte etwas gereizt Lichutin, »Den Bart abgenommen! Warum auch nicht? . . . Ja, ich habe mir den Bart abgenommen . . . Diese Nacht habe ich nicht geschlafen . . . Warum dürfte ich mir da nicht den Bart wegrasieren? . . .«

In der Stimme des Leutnants Lichutin klang seltsamerweise eine gewisse Erbostheit, eine Rauheit, die mit dem bartlosen Gesicht wenig harmonierte.

»Ja, ich habe mich rasiert . . .«

»Natürlich, natürlich . . .«

»Hol’s der Kuckuck!« regte sich noch immer Lichutin auf, »Ich quittiere eben den Dienst . . .«

»Warum quittieren Sie? . . . Wieso? . . .«

»Aus privaten Gründen, die nur mich allein angehen . . . Uns gehen diese Lappalien nichts an, Nikolai Apollonowitsch . . . Uns gehen unsere privaten Angelegenheiten nichts an . . .«

Hier rückte Leutnant Lichutin näher an Ableuchow heran.

»Übrigens gibt es Angelegenheiten, die . . .«

Mit dem Rücken die Vorübergehenden stoßend, begann Nikolai Apollonowitsch zurückzuweichen.

»Es gibt Angelegenheiten, Ssergeij Ssergeijewitsch, die . . .?«

»Angelegenheiten, die, mein Herr . . .«

In der heiseren Stimme des Leutnants merkte Nikolai Apollonowitsch deutlich unheimliche Noten; es schien ihm, als bemühte sich der Offizier, seine Hand zu erhaschen.

»Sie sind erkältet?« änderte Ableuchow brüsk das Thema und stieg vom Trottoir herunter; zur Erklärung seiner Worte berührte Ableuchow seinen eigenen Hals und deutete damit auf den Halsverband des Offiziers hin, auf eine mögliche Halsentzündung oder Grippe.

Ssergeij Ssergeijewitsch aber wurde rot, sprang schnell vom Trottoir herunter und bemühte sich um jeden Preis, an Ableuchow heranzukommen, um . . . um . . . um . . . Ein paar Passanten blieben stehen und sahen zu:

»Ni—ko—lai Apol—lono—witsch! . . .«

»?«

»Ich habe Sie wahrhaftig nicht deswegen eingeholt, damit Sie — von dem Hals . . . und weiß der Teufel wovon reden . . .«

Es blieb ein dritter, dann ein fünfter, ein zehnter Passant stehen, wohl in der Meinung, daß ein Taschendieb gefangen wurde.

»Das gehört gar nicht zur Sache . . .«

Ableuchows Aufmerksamkeit war aufs äußerste geschärft, er dachte bei sich:

»So—so—so? . . . Was gehört denn eigentlich zur Sache?«

Lichutin ausweichend, befand er sich nun wieder auf dem Trottoir.

»Um was handelt es sich also?«

Wo war nur sein Gedächtnis?

Die Angelegenheit mit dem Offizier schien ernst zu werden. Ja: der Domino! Zum Teufel! Er hatte die Geschichte mit dem Domino gänzlich vergessen; jetzt erst fiel sie ihm wieder ein.

»Es gibt was, es gibt was . . .«

Sofja Petrowna Lichutina hat sicher über den Vorfall im dunklen Entree und vorher am Kanal geplaudert.

Das ist wohl die Angelegenheit, mit der ihn Lichutin jetzt bedrängte.

»Das hatte noch gefehlt . . . Ach, zum Teufel, auch das noch jetzt, auch das noch . . .«

Plötzlich wurde alles ganz trüb.

Der Hutstrom wurde dunkel; rachsüchtig glänzten die Zylinder; wieder sprang die Kleinbürgermasse überall vor; in Mengen zogen Nasen vorbei: Adlernasen, Hahn- und Hühnernasen, grünliche, blaurote und mit Warzen geschmückte; ausdruckslose, eilige, große Nasen.

Vor Lichutins Blick ausweichend überflog Nikolai Apollonowitsch sie alle mit den Augen und wandte sich dann dem Schaufenster zu.

Inzwischen hatte Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin sich Ableuchows Hand bemächtigt und hielt sie, halb drückend, halb knetend, in der seinen; während sich allmählich ein Kreis von Neugierigen um sie versammelt hatte, trommelte seine hölzerne Fistel unaufhaltsam weiter:

»Ich . . . ich . . . ich . . . erlaube mir, Ihnen zu versichern, daß ich . . . Sie schon seit dem Morgen . . .«

»?«

»Ich suche Sie . . .«

»War schon überall — auch in Ihrer Wohnung . . . Wurde in ihr Zimmer geführt . . . Bin dort lange gesessen . . . habe einen Zettel hinterlassen . . .«

»Ach, wie ärgerlich . . .«

»Aber«, unterbrach ihn der Offizier, »die Angelegenheit ist sehr wichtig, ein unaufschiebbares, geschäftliches Gespräch . . .«

»So? Nun beginnt es«, hüpfte es durch Ableuchows, Kopf, und er erblickte zugleich im großen Fenster sein Spiegelbild zwischen Schirmen, Stöcken, Handschuhen und allerlei ähnlichen Dingen.

Inzwischen heulte und tanzte durch den Newskij-Prospekt der kalte Wind, und die Regentropfen fielen wie Schrotkerne auf die Schirme, auf die ernst gebeugten Rücken, raunten und flüsterten und übergossen die Haare und die erstarrten Hände der Kleinbürger, der Arbeiter, der Studenten mit ihrem kalten Naß.

»Ich habe eine Angelegenheit mit Ihnen . . . Ich will sagen — eine Sache, die keine Verzögerung duldet, die aufgeklärt werden muß; ich forschte überall nach, wo ich Sie treffen könnte; zu diesem Zwecke besuchte ich auch . . . wie heißt sie nur? . . . unsere gemeinsame Bekannte — Warwara Ewgrafowna . . .«

»Ssolowjowa? . . .«

»Ganz richtig . . . Mit Warwara Ewgrafowna hatte ich eine sehr unangenehme Auseinandersetzung — Ihretwegen . . . Sie verstehen mich? . . . Um so schlimmer . . . Wovon sprach ich aber? . . . Ja, diese Warwara Ewgrafowna Ssolowjowa (die habe ich übrigens eingesperrt) gab mir die Adresse eines Ihrer Freunde . . . Dudkin, glaube ich. Es ist übrigens gleich . . . Ich ging nun nach dieser Adresse; aber gerade während ich den Hof betreten hatte, sah ich Sie aus dem Hause kommen. Sie liefen eilig weiter, und Sie waren nicht allein; mit Ihnen war ein mir unbekannter Herr . . . Lassen Sie es: Nomina sunt odiosa . . . Sie sahen sehr erregt aus, der Herr aber . . . der Herr . . . Nomina sunt odiosa . . . sah kränklich aus . . . Ich wollte Ihre Unterhaltung mit dem Herrn nicht stören . . . Verzeihung, Sie können den Namen des Herrn durchaus für sich behalten . . .«

»Ssergeij Ssergeijewitsch, ich . . .«

»Warten Sie! . . . Ich traute mich nicht, Ihre Unterhaltung zu stören, obwohl ich Sie — aufrichtig gestanden — mit solcher Mühe gefunden hatte . . . Nun also, ich folgte Ihnen; natürlich in gewisser Distanz, um nicht zufällig Ohrenzeuge Ihres Gesprächs zu werden: ich liebe es nicht, die Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken, Nikolai Apollonowitsch . . . Aber davon später . . .«

Hier wurde Lichutin nachdenklich, er sah sich, weiß Gott warum, um und verlor sich mit dem Blick in der Ferne des Newskij-Prospektes.

»Ich verfolgte Sie . . . bis zu dem Platz dort . . . Sie unterhielten sich immerzu miteinander . . . Ich folgte Ihnen und ärgerte mich ein wenig, offen gesagt . . .« — »Halt!« — unterbrach er plötzlich seinen Worterguß — »hören Sie nichts?«

»Nein . . .«

»Tsss . . . Horchen Sie . . .«

»Aber was eigentlich? . . .«

»Ein Ton . . . Ein U-Ton . . . Dort . . . Von dort kommt er . . .«

Nikolai Apollonowitsch wandte den Kopf; merkwürdig: wie eilig die Droschken plötzlich vorbeirasten, und alle in eine Richtung; die Fußgänger beschleunigten die Schritte (und stießen die beiden immerfort); manche drehten sich um und sahen zurück; sie stießen dabei auf die Entgegenkommenden; das Gleichgewicht des Verkehrs war gestört worden. Nikolai Apollonowitsch sah auf alle Seiten und hörte Lichutin gar nicht zu.

»Sie blieben dann schließlich allein und lehnten gegen eine Vitrine; da begann es auch zu regnen . . . Ich lehnte mich auch auf der anderen Seite der Straße gegen eine Vitrine . . . Sie sahen mich fest an, taten aber, als merkten Sie mich nicht.«

»Ich erkannte Sie nicht . . .«

»Ich grüßte Sie aber . . .«

»Also,« dachte geärgert Ableuchow, »er verfolgt mich . . . Er will mich . . .«

Was wollte er?

Vor etwa zweieinhalb Monaten hatte Nikolai Apollonowitsch von Lichutin ein Briefchen bekommen, in dem dieser ihn sehr eindringlich bat, die Ruhe seiner heißgeliebten Gattin nicht zu stören. Das geschah nach der Szene an der Brücke; einige Sätze in diesem Briefchen waren zweimal unterstrichen, und auf dem Ganzen lag ein ernster Hauch, ein Zugwind aus Worten, könnte man sagen, wobei es nicht an dem Inhalt der Worte lag, sondern überhaupt . . . Und in seiner Antwort hatte Nikolai Apollonowitsch zugesagt . . .

Er hatte ein Versprechen gegeben und es — gebrochen.

Was ist das nur?

Zusammengedrängt blieben auf einmal die Passanten auf den Trottoirs stehen; auf dem breiten Prospekt war plötzlich keine Droschke zu sehen; weder das eilige Klatschen der Gummiräder noch das helle Aufschlagen der Pferdehufe aufs Pflaster war zu hören; die vorübergesausten Droschken bildeten am Ende der Straße, in der Ferne, eine unbewegliche schwarze Masse, während sie hier eine holzgepflasterte Leere hinterließen, in die der pfeifende Wind kaskadenartig hüpfende Schwärme rastloser Tropfen schleuderte.

»Sehen Sie doch nur hin!«

»Wie merkwürdig, wie merkwürdig! . . .«

Aus der Ferne des Prospektes, von dort, wo er leer und rein war, zwischen den zwei schwarz wimmelnden Trottoirs, durch die jetzt ein anwachsendes, tausendstimmiges Summen (ähnlich wie in einem Wespennest) kam, sauste eine Droschke heran; in gebückter, halb sitzender Stellung hielt dort ein bartloser Herr, ohne Hut, mit zerzausten Haaren, eine lange, schwere Stange mit den Händen umklammert; ein an der Stange befestigtes großes rotes Tuch durchschnitt mit leichtem Pfeifen die Luft; indem es sich in der kalten weiten Leere wellenförmig wand, krümmte und seine zungenartigen Enden vorstreckte; merkwürdig war dieser Flug der roten Flagge durch den leeren Prospekt; als aber der Wagen mit dem fliegenden roten Tuch vorüber war, gerieten die steifen Hüte, Dreimaster, Zylinder, Schirmmützen, Federhüte und die buschigen, mandschurischen Mützen auf den Trottoirs in Bewegung; es entstand ein Wogen, ein Stampfen von Füßen, ein Stoßen von Ellbogen, und plötzlich ergoß sich die schwarze Menge von den Trottoirs auf die Mitte des Prospektes; aus den zerrissenen Wolken sandte die blasse Sonnenscheibe für einen Augeblick gelbliches Licht auf die Häuser, die Spiegelscheiben, die lackierten Schirmmützen; der Sturm war mit seinem tollen Tanz zu Ende. Der Regen hatte ausgeweint.

Die Menge riß auch Ableuchow und Lichutin mit sich; sie wurden vom Trottoir geschoben und durch ein paar kräftige Ellbogen voneinander getrennt; Nikolai Apollonowitsch wollte die Gelegenheit benutzen, um eine Droschke zu erreichen und nach Hause zu fahren, ohne auf die Auseinandersetzung mit Lichutin einzugehen: denn zu Hause lag noch immer . . . die Bombe im Schreibtisch und . . . tickte! Solange sie noch nicht in der Newa lag, konnte er ja nicht ruhig sein!

Er wurde fortwährend von den Dahinstürmenden gestoßen: aus den Geschäften, den Friseurläden, Häusern, aus den Querstraßen ergossen sich immer neue Bäche in den Menschenstrom; und immer wieder fluteten Teile dieses Stromes in die Häuser, Läden, Friseurläden, Querstraßen zurück, ein Heulen, Brüllen, Stoßen: mit einem Wort — eine Panik; über den Köpfen in der Ferne breitete sich plötzlich etwas wie Blut: aus den schwarzen Massen erhoben sich kochend rote Zungen, wie Flammen und wie Hirschgeweih.

Und nun — ach wie ärgerlich!

Durch zwei — drei Schultern von ihm getrennt erblickte er die verhaßte Mütze und zwei besorgte Augen, die nach ihm spähten; Leutnant Lichutin hat ihn auch im Gedränge nicht aus den Augen gelassen; gerade als sich Ableuchow von ihm befreit glaubte, suchte dieser ihn durch die Menge wieder zu erreichen.

»Daß wir uns nicht verlieren, Nikolai Apollonowitsch; ich werde mich übrigens schon an Sie halten.«

»Natürlich,« dachte nun vollständig überzeugt Nikolai Apollonowitsch, »der verfolgt mich; ich werde mich von ihm nie mehr frei machen können . . .«

Und er suchte sich durchzudrängen, um nur einen Wagen zu erreichen.

Hinter der Menge her, über den Köpfen und dem Stimmengewirr flatterten die Fahnen wie fließende Zungen und wie fließende Helligkeiten; plötzlich aber blieb alles — Fahnen, wehende Flammen — still, alles erstarb; es ertönte Gesang, deutlich und klar.

Nikolai Apollonowitsch erreichte endlich eine Droschke; schon hatte er den Fuß auf das Trittbrett gesetzt und war im Begriff, dem Kutscher zuzurufen, so rasch als es die Menge erlaubte, wegzufahren, als er an der Schulter über eine fremde Schulter hinweg, von einer Hand gefaßt wurde; es war der Offizier; wie angewurzelt blieb Ableuchow stehen; Gleichgültigkeit simulierend, sagte er mit gezwungenem Lächeln:

»Eine Manifestation! . . .«

»Ganz einerlei: ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen . . .«

»Ich . . . wissen Sie . . . Ich bin ganz mit Ihnen einverstanden . . . Wir müssen etwas miteinander erledigen . . .«

Plötzlich kam von irgendwoher ein zerrissenes Knattern; in einzelne Teile zerrissen fiel dieses Knattern in der Ferne, aber sofort begannen die über den Köpfen flatternden Helligkeiten hin und her zu schwanken; der rote Fahnenwirbel geriet in heftige Bewegung, und bald sah man die roten Zungen vereinzelt an verschiedenen Stellen zaghaft zappeln.

»Dann wollen wir in ein Café, Ssergeij Ssergeijewitsch . . . Sie haben doch nichts gegen ein Café?«

»Wieso in ein Café?« entrüstete sich Lichutin.

»Ich bin nicht gewohnt, an solchen Orten ernste Besprechungen zu haben . . .«

»Aber wo denn, Ssergeij Ssergeijewitsch? . . .«

»Ich denke . . . Sie wollten ja eine Droschke nehmen, dann fahren wir zusammen in meine Wohnung . . .«

Der Ton dieser Worte war offensichtlich geheuchelt; Nikolai Apollonowitsch biß sich fast bis zum Bluten auf die Lippen.

Nach Hause, nach Hause . . . Wie konnte er das? Das hieße ja unter vier Augen dem Offizier über sein Benehmen gegen Sofja Petrowna Rechnung geben; das hieße dem beleidigten Gatten vielleicht sogar in Anwesenheit Sofja Petrownas wegen des Wortbruches Genugtuung geben . . . Es war klar: es konnte sich nur um eine Falle handeln . . .

»Ich glaube aber, Ssergeij Ssergeijewitsch, daß aus Gründen, die uns beiden bekannt sind, ein Besuch bei Ihnen für mich nicht ganz passend ist . . .«

»Ach was, lassen wir das!«

Nikolai Apollonowitsch war vernünftig genug, sich nicht weiter zu sträuben.

»Ich bin bereit«, sagte er ergeben. Er verhielt sich auch ganz ruhig; sein Unterkiefer bebte nur ein wenig — das war alles.

»Als gebildeter und humaner Mensch, Ssergeij Ssergeijewitsch, werden Sie mich verstehen . . . Kurz . . . kurz . . . was Sofja Petrowna betrifft . . .«

Weiter kam er nicht.

Sie stiegen nun in die Droschke. Und — es war auch höchste Zeit: denn wo noch soeben die vielen Fahnen flatterten, war jetzt keine einzige mehr zu sehen; aber von dort her, wo das Knattern in zerrissenen Teilen durch die Luft geflogen war, stürzte ein so fest zusammengeknäulter Menschenstrom, daß die Droschken, die hier in einem Rudel gestanden, sich im raschesten Tempo in die entgegengesetzte Richtung davonmachten und den Teil des Newskij-Prospektes zu erreichen suchten, wo die Zirkulation schon wiederhergestellt wurde und nur graue Polizeihauptmänner zu Fuß neben berittener Gendarmerie zu sehen waren.

Die Droschke mit Lichutin und Ableuchow bewegte sich.

Nikolai Apollonowitsch sah, wie sich der menschliche Vielfüßler gewohnheitsgemäß vorwärts bewegte, als wäre nichts geschehen; er bewegte sich, wie er sich schon vor Jahrhunderten bewegt hatte, die Zeiten flossen dort oben dahin, über den Menschen; auch den Zeiten war eine Grenze bestimmt; für den menschlichen Vielfüßler gab es aber keine Grenze; wie bisher bewegt er sich und wird sich in allen Ewigkeiten weiterbewegen . . .

Plötzlich verschwand alles: sie verließen den Prospekt.

Tief über den Häusern hingen bauschige Wolken, von einem dunklen, wassergesättigten Streifen beschwert, vom Himmel herunter; Nikolai Apollonowitsch knickte unter dieser unerwarteten schweren Last zusammen; die bauchige Wolke kroch näher heran; und als der dunkelblaue Streifen allmählich grau geworden, sie zudeckte, begannen geschäftige Tropfen zu klappern und zu lispeln und bildeten in den glucksenden Pfützen kalte Luftblasen; ganz zusammengekauert, mit dem Gesicht in den italienischen Überwurf eingehüllt, saß Nikolai Apollonowitsch im Wagen; er vergaß für einen Augenblick, wohin es ging; es blieb nur ein dunkles Gefühl in ihm zurück, er werde gegen seinen Willen gefahren.

Die unglückliche Verkettung von Umständen wälzte sich wieder an ihn heran.

Die unglückliche Verkettung von Umständen — kann man so die Pyramide von Geschehnissen bezeichnen, die sich in den letzten vierundzwanzig Stunden wie Felsen übereinander aufgetürmt hatten? Eine Felsenpyramide, die Seelen zermalmt; ja — eine Pyramide! . . .

An einer Pyramide liegt etwas, was die Macht der menschlichen Vorstellung übersteigt; die Pyramide ist ein Delirium der Geometrie, das heißt, sie ist ein Delirium, für das es kein Maß gibt; die Pyramide ist ein von Menschen geschaffener Begleiter des Planeten; sie ist auch gelb und tot wie der Mond. Die Pyramide ist ein durch Zahlen meßbares Delirium.

Es gibt ein Grauen der Zahl, ein Grauen, das aus dreißig aneinandergereihten Ziffern besteht, wobei jede Ziffer eine Null ist; dreißig Nullen neben einem Einser — das ist ein Grauen; streichen Sie den Einser aus — und die dreißig Nullen versinken in ein Nichts.

Dann gibt’s nur eine — Null.

In dem Einser liegt das Grauen nicht; an sich ist ein Einser ein Imponderabilium; er ist eben nur — ein Einser! . . . Aber ein Einser plus dreißig Nullen bildet das Ungetüm einer Pentallion: die Pentallion — oh, oh, oh! — hängt an einem schwarzen dünnen Stäbchen; der Einser der Pentallion wiederholt sich mehr als eine Milliarde mal Milliarde Milliarden.

Sie zieht sich durch Unermeßlichkeiten.

So zieht sich der Mensch durch den Kosmos aus urewigen in urewige Zeiten.

Ja —

— als menschlicher Einser, das heißt als dürres Stäbchen, lebte bis jetzt Nikolai Apollonowitsch im Kosmos, seinen Lauf aus urewigen Zeiten nehmend —

— in Adamgestalt war Nikolai Apollonowitsch nur ein Stäbchen; sich seiner Dürre schämend, hat er nie zusammen mit einem anderen gebadet —

— seit urewigen Zeiten!

Und nun fiel auf die Schultern dieses dürren Stäbchens das Ungetüm einer Pentallion; zum unansehnlichen Etwas seines Inneren gesellte sich das ungeheure Nichts; im Unansehnlichen dehnte sich aus urewigen Zeiten das Ungeheure des Nichts —

— so dehnt sich der Magen durch Gase, an denen alle Ableuchows litten seit urewigen Zeiten!

Zum innerlich unansehnlichen Etwas gesellte sich das ungeheure Nichts; das Etwas schwoll durch das leere, nullige Nichts zu einem Grauen an. Gaurissankare entstanden; er aber, Nikolai Apollonowitsch, mußte dabei explodieren wie eine Bombe.

Ha? Bombe? Sardinenbüchse? . . .

Im Nu flog wieder durch seinen Kopf, was schon seit dem Morgen darin war: sein Plan.

Was für einer?

Der Plan

Ja, ja, ja!

Heimlich die Sardinenbüchse hinlegen: unter das väterliche Kopfkissen; oder nein: unter die Matratze. Das zu Erwartende wird eintreten: für die Pünktlichkeit garantiert das Uhrwerk.

Er aber wird sagen:

»Gute Nacht, Vater!«

Zur Antwort:

»Gute Nacht, Kolenka!«

Ein Kuß auf die Lippen und dann zurück in das eigene Zimmer.

Sich voll Ungeduld ausziehen — unbedingt ausziehen! Die Tür mit dem Schlüssel absperren und die Decke über den Kopf ziehen.

Wie der Vogel Strauß sein.

Im warmen, molligen Bett aber zu zittern, schwer zu atmen anfangen — wegen der Herzstöße; sich bangen, fürchten, horchen: bis es dort . . . bumsen . . . knallen wird, dort — hinter dem Schwarm von steinernen Wänden; warten auf das Knallen, das die Stille zerreißt, das Bett, den Tisch, die Wand zerreißen wird; vielleicht auch . . . vielleicht auch . . .

Sich bangen, fürchten, horchen . . . Das wohlbekannte Schlürfen der Pantoffeln hören, die sich nach . . . dem mit nichts vergleichbaren Ort begeben.

Das leichte französische Buch beiseite werfen und nach der Watte, der einfachen Watte greifen, um sich die Ohren zuzustopfen; den Kopf unter das Kissen stecken. Sich dann endgültig überzeugen: Jetzt hilft nichts! Jäh die Decke fortwerfen, um den schweißbedeckten Kopf frei zu machen und in dem Abgrund der Angst einen neuen Abgrund entstehen zu lassen.

Warten und warten.

Es ist nun noch eine halbe Stunde Zeit übriggeblieben; es naht schon die grünliche Erhellung der Morgendämmerung; das Zimmer wird grau, blau; schwächer wird die Flamme der Kerze; noch fünfzehn Minuten; da erlöscht das Licht; langsam fließen die Ewigkeiten dahin; es sind eben keine Minuten, sondern Ewigkeiten; ein Streichholz reiben; es sind nur fünf Minuten vergangen . . . nun sich bei dem Gedanken beruhigen, daß es doch noch nicht bald ist, erst nach zehn langsamen Umdrehungen des Zeitrades, dann — aber durch die Plötzlichkeit erschüttert werden, wenn —

— der nie gehörte, nie sich wiederholende, faszinierende Laut denn doch . . .

— erdonnern wird!!! . . . .


Dann: —

— rasch in die Unterhose schlüpfen (nein, was Unterhose: lieber so) — oder sogar nur im bloßen Nachthemd, mit verzerrtem, ganz weißem, erstauntem Gesicht —

— ja, ja, ja! —

— aus dem warmen Bett springen und mit nackten Füßen in den geheimnisvollen Raum — den dunklen Korridor rennen, wie ein Blitz rennen, dorthin, von wo der nie wiederkehrende Laut gekommen war, die Diener umrennend weiterstolpern und die besonderen Gerüche in sich aufnehmen, die Mischung von Rauch, Gebranntem, Gas und . . . etwas, was noch schrecklicher ist als Rauch und alles andere.

Übrigens, nein, riechen wird man wahrscheinlich überhaupt nichts.

In das raucherfüllte, qualmende Zimmer hineinrennen, um es, erstickend vor Husten, sofort wieder zu verlassen und den Kopf durch das schwarze Loch in der Wand zu stecken, das durch jene Explosion entstanden ist (in der Hand wird inzwischen der Leuchter mit der in aller Eile angezündeten Kerze tanzen).

Durch das Loch in der Wand wird die rotgelbe Flamme den Ort beleuchten, der früher das Schlafzimmer geheißen hatte . . . Die rotgelbe Flamme wird etwas höchst Unwesentliches beleuchten: den überall aufsteigenden Rauch.

Dann — wird noch etwas beleuchtet sein . . . nein! Über dieses Bild wird der Vorhang aus Rauch geworfen, aus Rauch! . . . Rauch und Rauch, nichts weiter!

Aber doch . . .

Einen kurzen Augenblick unter diesen Vorhang blicken und ah, ah! Die Hälfte der Wand ganz rot: dieses Rot fließt; die Wand ist also naß; also auch — klebrig, klebrig . . . Das alles wird der erste Eindruck vom Zimmer sein; zugleich aber auch der letzte. Zwischendurch wird sich anderes einprägen: die mit Stuck bedeckten Wände, die Holzsplitter vom Parkett, Fetzen vom verbrannten Teppich; die Fetzen qualmen noch. Nein, lieber nicht weiter . . . aber doch . . . der Schienbeinknochen?

Warum blieb gerade dieser Knochen unversehrt?

All das wird Sache eines kurzen Augenblicks sein; hinter seinem Rücken aber — ebenfalls kurze Augenblicke: ein blödes Stimmengewirr, ein Strampeln mit den Füßen im Korridor, verzweifeltes Geheul der — denken Sie sich nur! — Abwaschfrau; das Rattern der Telephonglocke (wahrscheinlich wird die Polizei verständigt). . .

Den Leuchter fallen lassen . . . . auf dem Boden kauernd zucken vor dem kalten Oktoberwind, der durch das Loch in der Wand eindringt (bei jenem Knall waren alle Fensterscheiben auseinandergestoben), zucken vor Kälte und an dem Nachthemd zupfen, bis der mitleidige Diener sich nähert —

— der Kammerdiener vielleicht, derselbe, auf den später die Schuld abzuwälzen am leichtesten sein wird (auf ihn wird ja auch so zu allererst der Schatten des Verdachtes fallen) — bis der mitleidige Diener dich mit Gewalt in das andere Zimmer zieht und mit Gewalt kaltes Wasser in den Mund gießt . . .

Aber sich vom Fußboden erhebend erblicken: — dir zu Füßen dieselbe dunkelrote Klebrigkeit, die jener Knall hierher geschmissen hatte . . . er schmiß sie durch das Loch in der Wand zugleich mit einem Stück Haut (von welcher Stelle mag nur die sein?) herüber . . . Die Augen erheben und sehen, wie an der Wand klebend . . .

Brrr! . . . Hier ohnmächtig werden.


Die Komödie bis zu Ende spielen.

Vierundzwanzig Stunden später vor dem fest geschlossenen Sarge (es gab ja nichts, was in den Sarg zu legen gewesen wäre) mit deutlich klarer Stimme, im eng anliegenden Studentenkittel über der Kerze gebeugt beten.

Zwei Tage später frisch rasiert, das marmorne, gottähnliche Gesicht in den Pelz des Wintermantels vergraben mit dem Ausdruck eines unschuldigen Engels hinter den Sarg auf die Straße treten; mit den weißbehandschuhten Händen die Mütze drücken und, von einer Suite hoher Persönlichkeiten umgeben, bis zum Friedhof hinter dem Blumenberg (dem Sarg) schreiten. Diesen Sarg werden Greise mit goldbestickter, ordengeschmückter Brust, weißen Hosen und Säbeln an der Seite auf ihren zitternden Händen die Treppe hinuntertragen.

Acht kahlköpfige Greise werden die Last tragen.


Und — ja, ja!

Bei der Untersuchung so auszusagen, daß . . . auf irgend jemand (ohne Vorbedacht) doch ein Schatten fallen muß; es muß auf irgend jemand ein Schatten fallen, damit er nicht auf dich selbst fällt . . . Wie anders machen?

Auf irgend jemand wird ein Schatten geworfen . . .

Auf irgend jemand wird ein Schatten fallen . . .


Kolenka, der dumme Tropf,

Hüpft und tanzet immer;

Mit der Mütze auf dem Kopf

Reitet er durchs Zimmer.


Ihm wurde es klar: in dem Augenblick, wo Nikolai Apollonowitsch im Namen einer Idee (so glaubte er) es auf sich genommen hatte, Vollstrecker des Todesurteils zu sein, im selben Augenblick — nicht heute, wo er sich den ganzen Morgen auf dem grauen Prospekt herumgetrieben hatte, war dieser ganze Plan von ihm ausgeheckt worden; die Tat im Namen einer Idee, so sehr erregend sie war, verband sich in ihm mit teuflischer, gleichmütiger Verstellungskunst, mit der Fähigkeit zu verleumden: vollständig unschuldige Menschen zu verleumden (am bequemsten — den Kammerdiener; der wurde zuweilen von einem Neffen oder so was, einem Schüler der Gewerbeschule, besucht; wohl schien er von Parteien nichts gewußt zu haben, aber das macht nichts . . .).

In jedem Falle rechnete er mit seiner Kaltblütigkeit. Zum Vatermord gesellte sich Lüge, gesellte sich auch Feigheit, aber auch — was die Hauptsache war — Gemeinheit.


Er ist — ein Schuft . . .


Alles, was in diesen zwei Tagen geschehen war, waren Tatsachen gewesen von denen jede ein Ungeheuer war; ein Haufen von Tatsachen, das heißt, ein Schwarm von Ungeheuern; vor diesen zwei Tagen hatte es keine Tatsachen gegeben; und die Ungetüme hatten nicht hinter ihm hergejagt; Nikolai Apollonowitsch hatte gegessen, geschlafen, gelesen; er hatte Liebe empfunden: zu Sofja Petrowna; mit einem Wort: alles hatte sich in bestimmtem Rahmen bewegt.

Aber, und — nochmals aber! . . .

Er hatte anders als alle anderen gegessen und hatte anders als alle anderen geliebt; seine Träume waren schwer und dumpf gewesen; das Essen schien geschmacklos, und selbst seine Liebe hatte nach der Episode an der Brücke einen sonderbaren Charakter angenommen: den Charakter der Verhöhnung mit Hilfe des Dominos; seinen Vater — hatte er gehaßt; es gab also ein Etwas, das sich hinter ihm herschlich, das auf all sein Tun ein besonderes Licht warf (lag nicht darin auch der Grund, daß er fortwährend zusammenfuhr, daß seine Arme wie unnötige Lappen herunterhingen, daß sein Gesicht ein Froschlächeln aufwies?).

Was war dieses Etwas?

War es sein der Partei gegebenes Versprechen? Wohl hatte er das Versprechen nicht zurückgenommen, aber er hatte auch an dieses nicht mehr gedacht; gedacht haben andere für ihn (wie wir wissen — Lipantschenko); er hatte aber auch gegessen, geschlafen, geliebt, gehaßt in seiner besonderen, seltsamen Weise; ebenso seltsam erschien seine kleine Figur auf der Straße, wenn das Ende seines Überwurfs im Wind flatterte und er mit gekrümmtem Rücken wie ein Buckliger dahinschritt . . .

Es lag also an dem Entschluß, den er dort, dort an der Brücke, gefaßt hatte, als ein kalter Newawind geblasen und er vor sich einen Mann mit steifem Hut, Stock, Schnurrbart erblickt hatte (die Bewohner Petersburgs zeichnen sich durch — hm — hm! — Eigenschaften aus! . . .).

Aber wiederum schon das Stehen auf der Brücke war ja nur eine Folge davon, daß es ihn dahin getrieben hatte; die Liebe hatte ihn getrieben; doch hatte er seine Leidenschaften in besonderer Weise erlebt, unschön — kalt.

An der Kälte also lag es.

Diese Kälte war schon in der Kindheit in seine Seele gedrungen, als er, Kolenka, nicht Kolenka, sondern — Vaterbrut genannt wurde! Er hatte sich geschämt. Später war ihm das Wort »Brut« ganz klar geworden (durch die Beobachtung des schamlosen Treibens der Haustiere), und — ja, er erinnerte sich — er hatte geweint; die Schmach seiner Entstehung hatte er dann auf den Urheber übertragen — den Vater.

Er war oft stundenlang vor dem Spiegel gestanden und beobachtete, wie seine Ohren wuchsen: sie wuchsen in der Tat.

Da hatte Kolenka begriffen, daß alles, rein alles, was in der Welt lebte, »Brut« war; daß es keine Menschen gab, sondern daß sie nur »Erzeugnisse« waren; Apollon Apollonowitsch selbst war nur ein »Erzeugnis«, das heißt eine unangenehme Summe von Blut, Haut und Fleisch; eine unangenehme, weil die Haut — schwitzte, das Fleisch verdarb durch Wärme, das Blut aber einen Duft hatte, der nicht der Duft von Maiveilchen war.

So identifizierte sich die Temperatur seiner Seele mit den unabsehlichen Eisregionen, etwa der antarktischen Zone; er aber — ein Peery, ein Nansen, ein Amundsen — kreiste in diesen Eisregionen; oder auch: — seine Seele war zu blutigem Schlamm geworden (der Mensch ist bekanntlich nichts als in einer Haut steckender Schlamm).

Eine eigentliche Seele existierte also nicht.

Er hatte sein eigenes Blut gehaßt und nach fremdem gelechzt. So hatte er seit seiner frühesten Kindheit in sich die Keime der Ungetüme getragen; und als sie reif wurden, schlüpften sie in vierundzwanzig Stunden hervor und umstanden ihn als Tatsachen von ungeheuerstem Inhalt. Nikolai Apollonowitsch wurde bei lebendigem Leibe aufgefressen; er war in die Ungetüme übergeronnen.

Kurz, er war selbst ein Ungetüm geworden.

»Fröschlein!«

»Ungeheuer!«

»Roter Narr!«

Ja, eben: man hatte vor seinen Augen mit Blut gespielt, ihn »Brut« genannt; jetzt lacht der Narr über sein eigenes Blut; nicht der Narr war eine Maske: die Maske war Nikolai Apollonowitsch . . .

Sein Blut ist vorzeitig in Zersetzung übergegangen.

Es ist vorzeitig in Zersetzung übergegangen: das ist es wohl, warum er in anderen zuweilen Ekel auslöste; das war der Grund, warum er auf der Straße so sonderbar aussah.

Dieses morsche, armselige Gefäß mußte zerbrechen: und langsam geschah es.

Das Hohe Amt

Das Hohe Amt.

Irgend jemand hatte es geschaffen; seit dieser Zeit bestand es; bis dahin hatte es nur eine Zeit gegeben, die man mit »dazumal« bezeichnet. So berichtet uns das »Archiv«.

Das Hohe Amt.

Irgend jemand hatte es geschaffen, bis dahin gab es nur Dunkelheit, jemand schwebte über dem Dunkel; und es entstand Licht — ein Zirkular unter Nummer eins; das Zirkular der letzten fünf Jahre trug die Unterschrift: »Apollon Ableuchow«: im Jahre neunzehnhundertfünf war Apollon Apollonowitsch Ableuchow die Seele aller Zirkulare.

Das Licht scheint im Dunkel; die Dunkelheit hat es nicht verschlungen.


Das Hohe Amt.

Und die bockbeinige Karyatide. Seit dem Tage, an dem der von zwei Rappen gezogene schwarzlackierte Wagen zum erstenmal an das Portal herangesaust war und sich von den Trauerkissen erhebend die Statue mit dem Pergamentgesicht den Fuß auf den Granit gesetzt hatte, seit dem Tage, an dem zum erstenmal die schwarzbehandschuhte Hand auf die vielen Verbeugungen hin den Rand des Zylinders berührt hatte, seit diesem Tag waltete über dem Hohen Amt, das seine feste Macht über ganz Rußland ausbreitete, ein noch festerer Machtdruck.

Längst im Staub begrabene Paragraphen waren auferstanden.

Der Paragraph — das ist ein Papierfresser, er ist die Papierreblaus; an dem dunklen Abgrund der Willkür saugt sich wie ein Blutegel der Paragraph fest; und wahrhaftig: es ist etwas Mystisches an dem Paragraphen: er ist: das dreizehnte Zeichen des Zodiakus.

Über einem ungeheuren Teil Rußlands erhob sich der Paragraph als schwarzer Gehrock ohne Kopf; durch die weißsäuligen, ungeheizten Säle, über die rotbespannten Freitreppen zirkulierte der kopflose Paragraph, und über diese Zirkulation waltete Apollon Apollonowitsch.

Apollon Apollonowitsch ist der populärste Beamte Rußlands, ausgenommen . . . Konschin (dessen unveränderliches Autogramm ihr überall mit euren Banknoten herumtragt).

Das Hohe Amt existiert. Und in ihm haust Apollon Apollonowitsch; vielmehr: er hatte gehaust, denn er ist gestorben . . .

— Ich war vor kurzem an seinem Grab: über einem

schweren, schwarzmarmornen Block erhebt sich ein schwarzmarmornes, achteckiges Kreuz; unter dem Kreuz ein deutliches Hautrelief, das einen Riesenkopf darstellt, aus dessen tiefen Augenhöhlen zwei leere Pupillen sich in den Beobachter bohren; ein dämonischer, mephistophelischer Mund! Tiefer unten eine Aufschrift mit Riesenlettern: »Apollon Apollonowitsch Ableuchow, Senator« . . .

Geburtsjahr, Todesjahr . . . Ein einsam verlorenes Grab! . . . —

— Er existiert, Apollon Apollonowitsch: im Direktorzimmer: täglich ist er da zu sehen, ausgenommen die Hämorrhoidentage.

Es gibt außerdem im Hohen Amt Räume der . . . Nachdenklichkeit.

Und dann gibt es einfach Zimmer; am meisten aber Säle; in jedem Saal stehen einige Tische. Vor den Tischen sitzen Schreiber: zwei vor jedem; jeder von ihnen hat vor sich ein Tintenzeug, eine Feder und einen respektablen Stoß mit Papier; die Feder in der Hand des Schreibers knarrt, die Papierblätter knistern; so knarrt der faule, herbstliche Wind durch die Wälder, durch Schluchten; so knistert der Sand — in den Wüsten, in den salzigen Steppen von Orenburg, Ssaratow, Ssamara; — mit einem Wort: es existiert das Hohe Amt.


Im Direktorzimmer sitzt täglich Apollon Apollonowitsch Ableuchow mit dick geschwollener Ader an der Schläfe, die Beine übereinandergelegt, die sehnige Hand hinter die Rockborte geschoben; im Kamin prasseln die Holzscheite, der achtundsechzigjährige Greis atmet den Paragraphenbazillus ein; und dieser Atem verbreitet sich dann über das ganze, ungeheure Rußland: täglich wird ein zehnter Teil unserer Heimat von dem Flügelungetüm dieser Wolke bedeckt. Von einem glücklichen Einfall erleuchtet sitzt Apollon Apollonowitsch, die Beine übereinandergekreuzt, die Hand hinter die Rockborte geschoben, und bläht (so ist nun einmal seine Gewohnheit) seine Wangen ganz dick auf; es ist, als ob er blasen würde; ein kühler Wind zieht dann durch die ungeheizten Säle; Wirbelstürme aus mannigfachen Papieren erheben sich; in Petersburg erhebt sich der Wind, an irgendeinem entlegenen Ende Rußlands verdichtet er sich zum Sturm.

Apollon Apollonowitsch sitzt in seinem Arbeitszimmer und . . . bläst.

Und die Rücken der Schreiber beugen sich tiefer über die Tische; und das Papier knistert: so laufen die Winde durch die rauhen Wipfel der Fichten . . . Dann zieht er seine Wangen wieder ein; und nun knistert alles: ein trockener Papierschwarm, wie der unheimliche Blätterfall im Herbst, jagt von Petersburg . . . bis zum Ochotskimeer.

Norden, du mein geliebter Norden! . . .

Apollon Apollonowitsch ist ein Städter par excellence und ein gut erzogener Herr: er sitzt ruhig in seinem Arbeitssessel, während sein Schatten, den Stein der Wände durchdringend . . . die Menschen auf den Landstraßen überfällt: er zieht pfeifend wie ein lustiger Mordgeselle durch die weiten Flächen von Ssamara, Tambow, Ssaratow — durch die sandigen Gründe, das Gestrüpp, den wilden Klee; er zerrt an den Getreidehaufen, facht ein verdächtiges Feuerchen in den Ställen an; der rote Hahn in den Dörfern hat in ihm seinen Urheber; er ist es, der die reinen Quellenbrunnen unsauber macht; wenn er als schädlicher Tau über die Kornfelder fällt, dann verdirbt die Saat; das Rind krankt hin . . .

Er vermehrt die Zahl der Gräber und macht sie tiefer.

Spaßvögel würden sagen: nicht Apollon Apollonowitsch, sondern — Aquilon Apollonowitsch.


Apollon Apollonowitsch ist einsam.

Er kommt nicht mehr nach. Der Pfeil seiner Zirkulare dringt nicht mehr in die Provinzkreise: seine Spitze bricht schon vorher ab. Aus dem Palmyra: Sankt Petersburg eröffnet Apollon Apollonowitsch immer von neuem seine Papierkanonade, aber die Schüsse gehen (in der letzten Zeit) unheimlich oft fehl.

Diese Kugeln und Pfeile hat der Staatsbürger schon seit langem — Seifenblasen getauft.

Vergeblich sandte immer wieder der Gewaltige seine zackigen Apolloblitze; das Blatt der Geschichte hat sich gewendet: der Glaube an alte Mythen ist verschwunden; Apollon Apollonowitsch Ableuchow ist nicht mehr der Gott Apollo: er ist einfach — Apollon Apollonowitsch, ein Beamter in Petersburg.

In den letzten Tagen war die Papierzirkulation geringer geworden: es wehte ein ungünstiger Wind.

Zugleich zeigte sich in Petersburg selbst, auf dem Newskij-Prospekt, die dunkle Provinz in Gestalt der mandschurischen Mütze; die Träger dieser Mütze scharten sich zu einer Kompaktheit und zogen durch die Prospekte; hier reizten sie die Vorübergehenden durch einen flatternden roten Fetzen (so einen Tag hat es gegeben): an diesem Tag war auch kein Rauch aus den Schloten des Fabrikringes hervorgestiegen.

Wie Sisyphus wälzte Apollon Apollonowitsch seit fünf Jahren das Rad des Riesenmechanismus unaufhörlich hinauf den steilen Abhang der Geschichte; die machtvollen Muskeln zerrissen; immer häufiger blickte hinter den Machtmuskeln ein fremdes Skelett: Apollon Apollonowitsch Ableuchow, wohnhaft am Englischen Kai.

Wahrhaftig, er fühlte sich als ein Skelett, von dem sich das Fleisch — Rußland — gelöst hatte.

Aufrichtig gesagt war Apollon Apollonowitsch schon vor dieser unheimlichen Nacht manchem seiner hochbeamteten Beobachter wie von etwas angebohrt, wie von einer verborgenen Krankheit befallen erschienen; mit einem rabenschwarzen Mantel bekleidet, mit rabenschwarzem Zylinder auf dem Kopf warf er sich täglich stöhnend in die Polster seines rabenschwarzen Wagens; zwei rabenschwarze Rosse trugen den bleichen Pluto davon.

Über die Wellen des Phlegethon trugen sie ihn in den Tartarus: hier kämpfte er mit den Wellen.

Endlich nach vielen kleinen Katastrophen schlugen die papiernen Phlegethonwellen in das vom Senator getriebene Rad der großen Maschine ein: das Hohe Amt zeigte eine Bresche; das Hohe Amt, deren es wahrhaftig wenige in Rußland gibt.

Als dieser unvergleichliche Skandal ausgebrochen war, verließ — wie man später erzählte — in vierundzwanzig Stunden der Genius die irdische Hülle des Brillantenordenträgers; manche befürchteten sogar, er wäre um seinen Verstand gekommen. In vierundzwanzig Stunden — nein, eigentlich in zwölf — zwischen Mitternacht und Mitternacht — ist Apollon Apollonowitsch Ableuchow die Stufen seiner Beamtenkarriere hinuntergesaust.

Er ist in der Meinung vieler gefallen.

Später wurde behauptet, der Skandal mit seinem Sohn wäre die Ursache des Sturzes gewesen; ja: auf dem Ball bei den Zukatows war noch ein Mann von hoher staatlicher Bedeutung erschienen; als aber bekannt wurde, wie sein Sohn aus dem Ballsaal geflüchtet war, da wurde auch plötzlich der Fehler des Senators gedacht, angefangen von seinen Überzeugungen bis zu seiner mehr als kleinen Figur; und als am frühen Morgen die druckfeuchten Zeitungen erschienen waren und die Verkäufer mit dem Ruf: »Das Geheimnis des roten Dominos« durch die Straßen rannten, da war jeder Zweifel gewichen.

Apollon Apollonowitsch Ableuchow war endgültig aus der Liste der Kandidaten für den äußerst wichtigen Staatsposten gestrichen worden.

Jene verhängnisvolle Zeitungsnotiz . . . Doch übrigens hier ihr Wortlaut: »Der Geheimpolizei ist es gelungen, festzustellen, daß die in der letzten Zeit vielfach aufgetauchten Gerüchte von einem roten Domino, der sich in den Straßen Petersburgs herumtreibt, auf Tatsachen beruhen; es gelang, auf die Spur des Mystifikators zu kommen: verdächtig ist der Sohn eines hohen Beamten, der einen wichtigen administrativen Posten bekleidet; die Polizei hat die nötigen Maßnahmen ergriffen.«

Mit diesem Tage begann der Untergang des Senators Ableuchow.

Apollon Apollonowitsch Ableuchow wurde im Jahre achtzehnhundertsiebenunddreißig geboren (im Todesjahr Puschkins); seine Kindheit war auf dem alten adligen Gut im Gouvernement Nischrod verflossen; im Jahre achtzehnhundertachtundfünfzig hatte er seine Ausbildung als Hörer der Rechte auf der Hochschule abgeschlossen; achtzehnhundertsiebzig wurde er zum Professor für das Lehrfach F . . . P . . . an der Sankt Petersburger Universität ernannt; seit achtzehnhundertfünfundachtzig war er Vizedirektor und seit achtzehnhundertneunzig Direktor des N. N.-Departements; ein Jahr darauf war er durch einen Allerhöchsten Ukas zum Mitglied des Regierenden Senats befördert; seit dem Jahre neunzehnhundert stand er an der Spitze des Hohen Amtes.

Das ist sein Curriculum vitae.

Ende des sechsten Kapitels.

Siebentes Kapitel

Kohlensäureoblaten

Die grünliche Helle des Morgens sah bereits zum Fenster herein, aber der alte Ssemjonytsch hatte noch kein Auge geschlossen! Er stöhnte fortwährend in seiner Kammer, wälzte sich von einer Seite auf die andere; bald überfiel ihn ein Gähnen, bald mußte er sich jucken, dann wieder — verzeih uns, Herr, unsere Sünden! — kam das Niesen über ihn; und bei alledem noch die verschiedensten Gedanken und, was dergleichen mehr ist:

»Aus Hischpanien kam sie, unser Mütterchen, Anna Petrowna, aus Hischpanien . . .«

Und er erzählte sich selber:

»Ja—a . . . Ich mache also auf . . . Eine Dame steht da, eine unbekannte . . . Eine unbekannte Dame, auf ausländische Art gekleidet . . . Sie aber sagt also zu mir . . .«

»Aaaa . . .«

»Sie aber sagt zu mir . . .«

»Herr, vergib uns unsere Sünden! . . .«

Wieder das verdammte Gähnen.

Schon hat bereits die Teturinsche Fabrik ihre Sirene singen lassen; die kleinen Dampfer an der Newa pfiffen; das elektrische Licht an der Brücke — pfüit! — weg ist es . . . Ssemjonytsch warf die Decke von sich und erhob sich, seine große Zehe bohrte sich in das Geflecht des Bettvorlegers.

Er flüsterte mit sich selber.

»Ich sag’ zu ihm: so und so, Exzellenz . . . Er aber — ja, also . . .«

»Nicht das geringste Interesse . . .«

»Und auch der junge Herr . . . kaum den Windeln entwachsen . . . So ein — Herr, verzeih uns unsere Sünden! — so ein junger Hund; noch feucht hinter den Ohren . . .«

»Es sind keine Herrschaften . . . Chamlete sind es . . .«

So brummte Ssemjonytsch vor sich hin; und — steckte wieder den Kopf unter das Kissen; langsam zogen die Stunden vorbei; blaßrosa Wölkchen, im Sonnenschein reifend, liefen hoch über dem reif werdenden Glanz der Newa . . . Durchwärmt von der Decke lag Ssemjonytsch und brummte vor sich hin und flüsterte trauernd:

»Es sind keine Herrschaften . . . es sind — einfach Chemiker . . .«

Ei, wie knackte auf einmal die Korridortür! Vielleicht Diebe!

Erst neulich waren Diebe beim Kaufmann Awdiew gewesen. Bestohlen haben sie den Kaufmann Awdiew.

Auch Chacha, den Moldauer, hatte man einmal umbringen wollen.

Er warf die Decke ab und streckte den dunstgebadeten Kopf vor; rasch schlüpfte er in die Unterhose und sprang mit ernstlich beleidigter Miene und kauendem Unterkiefer aus dem durchwärmten Bett; barfüßig patschte er in den von Geheimnissen erfüllten Raum: den dunkel gähnenden Korridor.

Und nun?

Der Riegel an der . . . Wasserklosettür knackte: Seine Exzellenz, Apollon Apollonowitsch, der gnädige Herr, geruhte von dort in sein Schlafgemach zurückzukehren.

Das Blau des dunklen Korridors wurde bereits von Grau durchzogen, die Zimmer aber leuchteten im Hell; die Kristallanhängsel funkelten: halb acht; die kleine Bulldogge kraute sich, strich, mit der Pfote kratzend, über das Halsband und langte dann mit der Schnauze, der tigerähnlichen, nach dem eigenen Rücken.

»Herrgott, Herrgott!«

»Awdiew, der Kaufmann, war bestohlen worden! . . . Awdiew, der Kaufmann, war bestohlen worden! . . . Chacha, den Provisor, hat man umbringen wollen! . . .«


Wild ausgelassen ergossen sich die Strahlen vom blauen, klingenden, vom kristallblitzenden Himmel.

Mit ungelenken Bewegungen, über die himbeerfarbene Quastenschnur stolpernd, zog Apollon Apollonowitsch seinen wattierten, ein wenig abgeschabten, mausgrauen Schlafrock an; aus den grellhimbeerfarbenen Revers sah sein unrasiertes Kinn hervor (das gestern übrigens noch glatt gewesen war), mit nadelscharfen, dichten, ganz weißen Stoppeln wie frisch in der Nacht gefallener Reif; das Dunkel der Augen- und Backenhöhlenknochen, die — wie wir von uns sagen können — sich über Nacht bedeutend vertieft hatten, zeichneten sich dabei besonders scharf.

Mit geöffnetem Mund und entblößter, behaarter Brust saß er auf seinem Bett, zog langsam die Luft ein, die jedoch, von der Lunge nicht aufgenommen, stoßweise rasch wieder herauskam; er tastete immerzu nach seinem Puls und beobachtete die Uhr.

Ihn schien ein unausgelöstes Aufstoßenbedürfnis zu quälen.

Er dachte weder an die Serie alarmierender Depeschen, die ihn von allen Seiten eilig zu erreichen suchten, noch an den wichtigen Staatsposten, der ihm für immer zu entschlüpfen drohte, noch an — an Anna Petrowna; wahrscheinlich dachte er nur daran, woran man, vor einer offenen Schachtel kohlensaurer Oblaten sitzend, zu denken pflegt.

Das heißt — er dachte daran, daß das Aufstoßen, die unregelmäßigen Herzschläge, der Luftmangel (der Luftdurst), auch diesmal wie immer von Stichen und Kitzeln in den Handinnenflächen begleitet, bei ihm nicht vom Herzen komme, sondern eine Folge der Entwicklung von Gasen sei.

An die ziehenden Schmerzen im linken Arm, an das schmerzhafte Zucken in der linken Schulter bemühte er sich jetzt nicht zu denken.

»Wissen Sie — das alles kommt einfach vom Magen!«

So hatte ihm eines Tages der achtzigjährige Kammerherr Ssaposchkow, der kürzlich an einer Herz-Angina dahingegangen ist, all diese Beschwerden klarzumachen gesucht.

»Die Gase, wissen Sie, drücken auf die Magenwände und verursachen ein Zusammenziehen des Zwerchfells . . . Daher das Aufstoßen, die Herzschläge . . . Es kommt alles von der Gasentwicklung . . .«

Vor kurzem wurde Apollon Apollonowitsch im Senat bei der Entgegennahme eines Berichtes von einem Unwohlsein befallen; er wurde blau, begann zu keuchen und mußte hinausgeführt werden; auf das dringende Zureden, einen Arzt zu Rate zu ziehen, erklärte er den Anwesenden:

»Wissen Sie, es ist nichts als die Entwicklung von Gasen . . . daher die Schläge . . .«

Die schwarzen trockenen Pastillen, die Gase absorbieren, pflegten ihm zuweilen Erleichterung zu bringen; nicht immer übrigens.


»Ja, das sind die Gase« — und er begab sich . . . Es war gegen halb neun.

Das war der Lärm, der Ssemjonytsch so beunruhigt hat.

Bald daraus knallte eine Tür im Korridor; Apollon Apollonowitsch nahm den gestreiften Plaid von den frierenden Knien, erhob sich wieder, trat an die Tür seines Schlafgemachs, öffnete diese und steckte sein schweißbedecktes Gesicht vor, um — auf ein ebensolches schweißbedecktes Gesicht zu stoßen.

»Sie sind’s?«

»Jawohl — ich, Exzellenz . . .«

»Was wollen Sie?«

»Ich habe nur so nachgesehen . . .«

»Ah, ja, ja . . . Warum so zeitig . . .?«

»Es muß überall nachgesehen werden . . .«

»?«

»Ein Laut . . .«

»Welcher Laut?«

»Es hat geklopft . . .«

»Ach, das da . . .«

Hier erfaßte Ssemjonytsch den Rand der viel zu weiten Unterhose und schüttelte bedenklich den Kopf.

»Es wird nichts weiter sein . . .«


Die Sache war, daß zehn Minuten vorher Ssemjonytsch zu seiner großen Verwunderung bemerkt hatte: aus der Zimmertür des jungen Herrn war der hellblonde Kopf hervorgetaucht, hatte sich nach rechts, dann nach links umgesehen und war wieder verschwunden.

Einen Augenblick darauf aber war der junge Herr wie ein Heupferdchen an die Tür des alten gnädigen Herrn herangesprungen.

Da war er stehengeblieben, atmete, schüttelte den Kopf und drehte sich wieder, ohne Ssemjonytsch, der in der Ecke stand, bemerkt zu haben; er blieb wieder eine Weile stehen, atmete und drückte seinen Kopf an die Türspalte, aus der ein Lichtschein kam; ja, so stand er, den Kopf fest an die Türleibung gedrückt! Solche Neugierde bei einem jungen Herrn vornehmster Art! . . . nein, das war nichts für einen jungen Herrn, der nicht nur so einer war . . .

Hinter der Tür spähen? Nein, das ist kein würdiges Benehmen.

Wenn es wenigstens bei einem Fremden gewesen wäre — aber der eigene Vater, sein eigenes Fleisch und Blut; es wäre ja nichts dagegen zu sagen, wenn der Sohn, um des Vaters Gesundheit besorgt, gespäht hätte; aber nein man fühlt schon, daß es hier nicht um die kindliche Sorge geht, daß es einfach nur so geschieht, aus müßiger Neugierde. Dafür gibt es nur ein Wort: ein Tunichtgut.

Du bist doch nicht irgendein Lakai, sondern der Sohn eines Generals, hast französische Erziehung genossen.

Hier begann Ssemjonytsch »hm — hm« zu machen.

Ei, wie er zusammenfuhr, der junge Herr!

»Meinen Gehrock bitte rasch abzubürsten«, warf er dem Alten geärgert zu.

Und fort war er von Vaters Tür in das eigene Zimmer: ein wahrhaftiger Tunichtgut.

»Zu Befehl!« brachte Ssemjonytsch mit kritischer Note durch die Zähne; bei sich dachte er aber:

»Die Mutter ist zurückgekehrt — und er in aller Herrgottsfrühe: ‚Putzen Sie meinen Gehrock ab.‘«

»Das ist kein schönes Benehmen, kein würdiges!«

»Chamlete sind es einfach . . . Gott steh uns bei . . . An der Tür horchen . . .«


All das ging dem Alten durch den Kopf, während er, seine Unterhose festhaltend, bedenklich den Schädel schüttelte und leise vor sich hinbrummte:

»Aää? . . . Was das ist? . . . Geklopft hat es: das stimmt . . .«

»Was aber hat geklopft, wer?«

»Nichts Besonderes: der gnädige Herr braucht sich deswegen nicht zu beunruhigen . . .«

»?«

»Es ist nur Nikolai Apollonowitsch . . .«

»Ha?«

»Der junge Herr hat die Tür zugeschlagen: er ist heute früh ausgegangen.«

Apollon Apollonowitsch sah Ssemjonytsch an und wollte dann etwas fragen, aber er gab es auf und kaute nur greisenhaft mit dem Mund; er erinnerte sich der kurz vorher stattgehabten verunglückten Auseinandersetzung mit dem Sohn (es war ja der Morgen nach dem Ball bei Zukatows); mit dem Ausdruck des Verletztseins senkten sich seine Mundwinkel und bildeten hängende Hautsäckchen. Der zurückgebliebene Eindruck war für Apollon Apollonowitsch peinlich genug, und er jagte ihn von sich.

Schüchtern, bittend sah er Ssemjonytsch an.

»Der Alte hat Anna Petrowna gesehen . . . Hat immerhin mit ihr gesprochen . . .«

Zudringlich blieb dieser Gedanke haften.

»Verändert haben mochte sie sich schon, Anna Petrowna . . . Ist wohl mager geworden, hat abgenommen; hat vielleicht auch graue Haare bekommen; auch mehr Falten im Gesicht . . . Könntest ihn vorsichtig, auf Umwegen fragen . . .«

»Doch — nein, nein!«

Plötzlich zerfloß das Gesicht des achtundsechzigjährigen alten Herrn unnatürlich in Falten, der fletschende Mund reichte bis zu den Ohren.

Und der Sechzigjährige war jetzt — ein Tausendjähriger; und mit künstlich erhobener Stimme, die fast wie ein Schreien klang, versuchte die grauhaarige Ruine aus sich ein Anekdotchen herauszupressen.

»A . . . m—m—ä . . . Ssemjonytsch . . . Sie sind . . . m—m—mä . . . barfuß.«

Der alte Diener fuhr beleidigt zusammen.

»Entschuldigen, Erzell . . .«

»Das . . . m—m—mä . . . meine ich gar nicht«, strengte sich Apollon Apollonowitsch an, um zu seiner Anekdote zu gelangen.

Aber das Anekdotchen wollte ihm nicht gelingen, und er stand mit in die Leere geheftetem Blick da; ganz flüchtig ließ er sich dann nieder und brach mit dem Unsinn los:

»A . . . sagen Sie . . .«

»?«

»Sie haben gelbe Fersen?«

Ssemjonytsch war beleidigt.

»Ich habe keine gelben Fersen; das haben nur die langzöpfigen Chinesen . . .«

»Hi — hi — hi . . . Dann vielleicht rosafarbige?«

»Mit Verlaub — menschliche . . .«

»Nein — gelbe, gelbe . . .«

Und Apollon Apollonowitsch, der Tausendjährige, Zitternde, Kleine, stampfte mit dem Pantoffel auf den Boden auf.

»Auch Fersen, jawohl . . . Aber vor allem sind’s die Hühneraugen, Exzellenz . . . Sobald ich den Schuh angezogen habe, da beginnen sie zu brennen und zu stechen, ja, Herr . . .«

Bei sich aber dachte er:

»Ach was — Fersen? . . . Es handelt sich bei dir nicht um die Fersen . . . Hast wohl auch, alter Pilz, die ganze Nacht kein Auge geschlossen . . . Und die Gemahlin befindet sich in der nächsten Nähe, in erwartendem Zustand . . . Und der Sohn, dieser Chamletist . . . Aber nein, der muß von den Fersen reden! . . . Gelbe . . . Vielleicht hast du selbst gelbe Fersen . . . Auch eine — ‚Persönlichkeit‘! . . .«

Und er fühlte sich ganz und gar beleidigt.

Aber wie immer zeigte Apollon Apollonowitsch (wenn es gerade über ihn kam) in Anekdoten, in dummen Scherzen, in allerlei Späßchen eine geradezu klettenhafte Zudringlichkeit: um sich selbst aufzumuntern, spielte der Senator (der Wirkliche Geheime Rat, Professor und Träger der Brillantenorden) den Springinsfeld, den Tunichtgut, den lustigen Bösewicht; er war da für die anderen wie die Fliegen, die an gewitterschweren, schwülen Tagen einem zudringlich bald in die Augen, bald in die Nase, bald ans Ohr fliegen; wie die Fliegen, die man an gewitterschweren, schwülen Tagen, wenn graurötliche Wolken schwer und tief über den Linden hängen, zu Dutzenden auf den Händen, auf dem Schnurrbart umbringt.

»Das Fräulein aber — hi—hi—hi . . . Das Fräulein . . .«

»Was meint der gnädige Herr?«

»Das Fräulein hat . . .«

So ein Tunichtgut!

»Was hat das Fräulein?«

»Rosige Fersen . . .«

»Das kann ich nicht wissen . . .«

»Da geben Sie nur acht . . .«

»Spaßig sind Sie, gnädiger Herr . . .«

»Das kommt von den Strümpfchen, wenn das Füßchen vom — Schweiß . . .«

Und ohne den Satz zu vollenden, schritt Apollon Apollonowitsch Ableuchow — der Wirkliche Geheime Rat, Professor, Haupt eines hohen Amtes — mit den Pantoffeln schlürfend, weiter, in sein Schlafzimmer; und — knacks: die Tür abgesperrt.

Drinnen hinter der Tür ließ er sich auf einen Stuhl nieder, wurde still, weich.

Und er sah mit hilflosen Blicken um sich: ei, wie klein wurde er! Ei, wie sich sein Rücken krümmte! Seine Schultern schienen ungleich hoch (als wäre eine hinuntergeschlagen). Die Hand griff unwillkürlich nach der hüpfenden, schmerzenden Seite.


Ja—a! . . .

Alarmierende Nachrichten aus der Provinz . . . Und, wissen Sie, der Sohn, der Sohn! . . . Dem eigenen Vater solche Schmach zu bereiten . . . Eine schreckliche Lage, wissen Sie . . .

Die alte Gans, Anna Petrowna, ausgeplündert: ein schuftiger Hohlkopf, mit einem Schnurrbart wie bei einer Küchenschabe . . . Nun ist sie zurückgekehrt . . .

Macht nichts! . . . Es wird schon irgendwie gehen! . . .

Aufruhr, Rußlands Untergang . . . Sie sammeln sich schon: Attentat! Irgendein Abiturient mit Schnurrbärtchen erlaubt sich, in ein altadeliges, geachtetes Haus . . .

Dann aber — die Gase, die Gase! . . .

Hier schluckte er eine Oblate hinunter . . .


Die Feder verliert ihre Elastizität, wenn sie zu stark gespannt ist; es gibt eine Grenze für die Elastizität; für den menschlichen Willen gibt es auch eine Grenze; auch der eiserne Wille schmilzt; im Alter verdünnt sich das menschliche Hirn. Heute kommt ein Frost, und der feste Schneehaufen sprüht helleuchtende Funken; und du modellierst aus den frostigen Schneesternchen eine funkelnde menschliche Gestalt.

Raunend und flüsternd zieht das Tauwetter daher, der Schneehaufen wird unterwässert: er schrumpft zusammen, wird glitschrig und zerfällt.

Apollon Apollonowitsch Ableuchow hatte schon in der Kindheit gefroren: er hatte gefroren und seine Kräfte gestählt; in der frostigen Petersburger Nacht schien seine funkelnde Gestalt derber, fester, gewaltiger, diese selbstleuchtende, funkelnde Gestalt, die in der nordischen Nacht gerade am mächtigsten geragt, als der faule Wind eingesetzt hatte, der seinen Freund vernichtete; dieser Wind, der jetzt zu einem Sturm ausgeartet ist.

Apollon Apollonowitsch Ableuchow hatte sich bis zum Losbrechen des Sturmes noch immer auf der Höhe gehalten; ja, auch nachher.

Einsam und stolz, stand lange, vom Sturm umbraust, Apollon Apollonowitsch Ableuchow — selbstleuchtend froststeif und stark; aber es ist allem eine Grenze gesetzt: schmilzt doch selbst Platina.

Über Nacht gab Apollon Apollonowitsch nach, über Nacht fiel er zusammen und ließ seinen großen Kopf hängen; auch er, der federnd Elastische, knickte zusammen. Früher aber? Es ist noch nicht lange her, da hatten in dem faltenlosen Profil, das herausfordernd dem Himmel zugekehrt war, rote Flämmchen gezuckt, die . . . ganz Rußland . . . in Flammen . . . versetzen konnten . . .

Eine einzige Nacht lag dazwischen.

Und an Stelle des starken, goldwamsigen Mannes stand im feurigen Fond des brennenden Rußlands — ein an Hämorrhoiden leidender Greis, im Morgenrock mit Quasten, mit kurz atmender, offener, haariger Brust, unrasiert, schwitzend — der konnte natürlich nicht den Lauf unseres ins Wanken geratenen Staatsrades (über die holprigen, schlecht befahrbaren Wege) leiten! . . .

Fortuna hat ihn verlassen.

Sicher sind es doch nicht die intimen privaten Ereignisse, nicht der ausgemachte Schuft von einem Sohn, nicht die Angst, wie ein gemeiner Krieger im Felde von einer Bombe getroffen zu werden, nicht das Erscheinen Anna Petrownas, dieser wenig bedeutenden Person, die nirgends, rein nirgends Glück hatte — sicher war es nicht das Erscheinen dieser Anna Petrowna (im schwarzen gestopften Kleid mit schwarzem Täschchen in der Hand); sicher endlich war es auch nicht der rote Lappen auf der Straße, die den Träger der brillantenen Orden in einen mürben Schneehaufen verwandelt haben.

Nein — die Zeit war es.


Haben Sie schon einmal berühmte, aber bereits in Kindheit verfallene Männer gesehen, Greise, die ein halbes Jahrhundert jedem Anprall standhielten — weißlockige (öfters noch kahlköpfige) mit dem Eisen des Kampfes gepanzerte Führer?

Ich habe solche gesehen.

In Versammlungen, bei Sitzungen, bei Kongressen, stiegen sie in ihrer blendend weißen Stärke, in tadellosen Fracks mit den ausgestopften Schultern; rückengekrümmte Greise mit herunterhängenden Kiefern, falschen Zähnen

— ich sah sie —

wie sie, noch gewohnheitsmäßig sich auf der Tribüne aufraffend, in alter Weise die Herzen zu erobern versuchten und eroberten.

Und ich sah sie dann zu Hause.

Mit schwachsinniger Geschäftigkeit flüsterten sie mir kranke, schlechte Witze ins Ohr; sie trippelten in ihr Arbeitszimmer und zeigten mit schmatzendem Mund auf das Bücherfach mit den in Schweinsleder gebundenen »gesammelten Werken«, die auch ich einst gelesen hatte, mit denen sie einst mich und sich selbst bewirtet hatten.

Trauer überkommt mich!


Um zehn Uhr hat es an der Haustür geläutet; es war nicht Ssemjonytsch, der aufgemacht hat; jemand kam, ging in das Zimmer des Nikolai Apollonowitsch, saß dort, ließ einen Zettel zurück.

Ich weiß, was ich tue

Punkt zehn Uhr war Apollon Apollonowitsch mit dem Kaffee fertig.

Ins Speisezimmer pflegte er — wie wir wissen — immer kalt, streng, frisch rasiert, Eau-de-Cologne-Duft weit ausstrahlend, hineinzukommen, um seinen Kaffee nach dem Chronometer zu erledigen; heute aber war er unrasiert, unparfümiert, im Morgenrock, mit den Hauspantoffeln schlürfend, zum Frühstück erschienen.

Von halb neun bis zehn Uhr blieb er allein vor dem Tisch.

Er hatte die Korrespondenz unbeachtet gelassen, den devoten Morgengruß der Diener gegen alle Tradition nicht beantwortet, und wie die Bulldogge ihre speichelnde Schnauze auf die Knie des Herrn gelegt hat, hat sich dieser an dem Kaffee verschluckt, und seine rhythmisch schmatzenden Lippen riefen:

»He . . . wer ist da? Nehmt den Hund fort . . .«

Die Hand bröselte und knetete das französische Frühstücksbrötchen, während der versteinerte Blick unverwandt in den schwarzen Kaffeesatz auf dem Boden der Tasse starrte.

Um halb zwölf erinnerte sich gleichsam Apollon Apollonowitsch an etwas, fuhr unruhig-geschäftig auf seinem Platz auf und nieder; die Augen irrten hin und her und erinnerten an eine graue Maus; er sprang auf und lief mit perlenden Schrittchen, ein wenig zitternd in sein Arbeitszimmer, wobei der zurückgeschlagene Vorderschoß des Morgenrockes seine nur halb zugeknöpfte Unterhose sehen ließ.

Bald darauf trat auch der Diener ins Arbeitszimmer, um zu melden, daß der Wagen warte; wie angewurzelt blieb er aber an der Schwelle stehen.

Erstaunt sah er zu, wie sein Herr die massive Leiter über die weichen Samtteppiche rollte, von Bücherschrank zu Bücherschrank, wie er ächzend, stolpernd, keuchend, schwitzend, mit Gefahr für sein hohes Leben die Sprossen hinaufkletterte, um mit den Fingern die Bücher auf Staub zu untersuchen; den Diener erblickend, kaute er ein wenig verächtlich mit dem leeren Mund, ohne auf die Mitteilung über den unten wartenden Wagen etwas zu erwidern.

Mit der Hand über die Rückeneinbände klopfend, verlangte er nach einem Staubtuch.

Zwei Diener brachten ihm zwei Staubtücher; auf seinen Wunsch wurden ihm diese an einem Besenstiel hinaufgereicht; jeder der zwei Diener nahm eine Stearinkerze in die Hand; jeder der zwei Diener stellte sich — rechts und links — neben die Leiter hin und streckte den bald steif gewordenen Arm mit der Kerze nach oben.

»Höher mit dem Licht! . . . Nicht so . . . Nein, anders . . . Aber höher doch . . . noch etwas höher . . .«

Über den hohen Gebäuden jenseits der Newa ballten sich inzwischen rauchige, bauschige Wolken zusammen und hingen wie Knäuel aus Filz in der Luft; der Wind schlug gegen die Fenster; im grünlich-düsteren Zimmer herrschte Halbdämmerung; draußen heulte der Wind; und immer höher, höher streckten sich zwei Stearinkerzen an beiden Seiten der Leiter, die fast bis zur Zimmerdecke lief; dort ganz oben bewegten sich die Schöße des mausgrauen Morgenrockes hin und her und baumelten himbeerrote Quasten.

»Exzell . . .«

»Ist es eine Arbeit für Sie, Exzellenz . . .«

»Wozu mühen Sie sich nur selbst ab? . . .«

»Erlauben, Exzell . . . So was Unerhörtes . . .«

Apollon Apollonowitsch Ableuchow, der Wirkliche Geheime Rat, der oben in der Staubwolke stand, der konnte ja gar nicht hören. Ach wo: alles in der Welt vergessend, wischte er mit dem Staublappen die Einbandrücken, klopfte mit den Deckeln an die Leiter, bis er schließlich heftig zu niesen begann:

»Staub, Staub, Staub . . .«

»So was . . . So was . . .«

»Na, wartet nur, bis ich mit dem Lappen an euch herankomme!«

»So, sehr schön . . .«

Und er warf sich, mit dem Lappen bewaffnet, über den Staub her.

Ein unruhiges Knattern der Telephonglocke: das hohe Amt läutete; aber auf das unruhige Geläute wurde aus dem gelben Hause geantwortet:

»Exzellenz? . . . Ja . . . Geruht Kaffee zu trinken . . . Es wird ausgerichtet werden . . . Ja . . . Der Wagen wartet schon . . .«

Auch auf das dritte, diesmal wütende Klingeln, wurde geantwortet:

»Noch nicht . . .«

»In seinem Arbeitszimmer . . .«

»Ist mit Ordnen der Bibliothek beschäftigt . . .«

»Der Wagen?«

»Der Wagen wartet . . .«

Die Pferde wurden endlich in den Stall zurückgebracht; der Kutscher spuckte aus: schimpfen traute er sich nicht.


»Sauber wisch’ ich euch!«

»Ei, ei, ei! . . . Sieh mal einer her!«

»Abschi! . . .«

Und die zitternden, gelben Hände schlugen auf die dicken Bände.


Ein schepperndes Klingeln im Vorzimmer: ein schepperndes, zerrissenes Klingeln; das Sprechen des Schweigens zwischen einem und dem folgenden Klingeln; als Erinnerung an etwas, lief dieses Schweigen durch die Räume der lackierten Zimmer — als Erinnerung an etwas Vergessenes; und trat ungebeten ins Arbeitszimmer; hier stand es, alt, alt, und stieg über die Sprossen der Leiter nach oben.

Ein Ohr streckte sich aus dem Staub; der Kopf wandte sich.

»Hören Sie?«

Wer es sein konnte?

Es konnte — Nikolai Apollonowitsch sein, der Schuft, der Taugenichts und Lügner; es konnte ein — Herman Hermanowitsch sein, der mit den Papieren kam; oder ein Kotosch — Kotoschinski; oder vielleicht Graf Nolden; es kann übrigens — mm — mmä — auch Anna Petrowna sein . . .

Es schepperte.

»Hören Sie denn nicht?«

»Gewiß, Exzellenz; es wird aber dort schon aufgemacht . . .«

Jetzt erst antworteten die Diener: versteinert waren sie noch immer gestanden und hatten geleuchtet.

Ssemjonytsch allein schlenderte durch den Korridor (immer war er von etwas bedrückt, immer murmelte er etwas vor sich hin) und wiederholte aus Langeweile die auswendig gelernten Abteilungen der herrschaftlichen Kleiderchiffonniere:

»Nordost: schwarze und weiße Krawatten . . . Kragen und Manschetten — im Osten . . . Uhren — im Norden« — nur Ssemjonytsch, im Korridor wandernd, horchte auf, wurde unruhig, schärfte das Ohr und trippelte gegen das Arbeitszimmer des Herrn.

»Ich gestatte mir, aufmerksam zu machen: es hat geläutet.«

Die Diener antworteten nicht.

Jeder hielt seine Kerze in der hoch nach oben gestreckten Hand; auf der oberen Sprosse der Leiter ragte der kahle Kopf des Senators aus der Staubwolke hervor; eine unruhige, zerrissene Stimme sagte:

»Ja, auch ich hab’ es gehört.«

Apollon Apollonowitsch riß sich von einem dicken Band los:

»Ja, ja, ja . . .«

»Es läutet . . . Hören Sie, es läutet . . .«

Beide verspürten zugleich ein unaussprechliches, aber ihnen deutliches Etwas, denn beide fuhren zusammen: rasch, rasch, beeilet euch! . . .

»Es ist die gnädige Frau . . .«

»Es ist Anna Petrowna!«

Rennet, geschwind, sputet euch: es hat wieder gescheppert!

Geschwind stellten die Diener ihre Kerzen auf den Tisch und eilten in den dunkelnden Korridor (als erster trippelte Ssemjonytsch voran). Im grünlichen Licht des Petersburger Morgens begannen die Augen des Apollon Apollonowitsch oben unter der Zimmerdecke unruhig hin und her zu laufen; nach Luft schnappend, ächzend, die haarige Brust, die Schulter und das borstige Kinn gegen die Sprossen gedrückt, stieg er die Leiter hinunter und begann plötzlich mit trippelnden Schrittchen gegen das Vestibül zu rennen, den Staublappen in der Hand, die Schöße des Morgenrockes wie phantastische Dreiecke in der Luft flatternd. Er stolperte leicht, blieb stehen und tastete kurz atmend mit dem Finger nach dem Puls.


Ein Herr mit wallendem Backenbart in tadellos zugeknöpftem Amtsrock, mit blendend weißen Manschetten und dem Annastern an der Brust, kam ehrfurchtsvoll, vom Diener angeführt, die Treppe herauf; auf dem Silbertablettchen in den zitternden Händen des alten Ssemjonytsch lag eine Visitenkarte, die eine Adelskrone aufwies.

Hinter der steinernen Niobe stand Apollon Apollonowitsch, schlug mit geschäftiger Miene die Schöße seines Morgenrockes übereinander und sah dem würdigen Gast mit dem gut gepflegten Bart entgegen.

Wahrhaftig er sah wie eine Maus aus.

Du wirst wie geistesgestört sein

Petersburg — das ist ein Traum.

Wenn du einmal im Traum Petersburg besucht hast, dann kennst du zweifellos dieses mächtige Vestibül: die eichenen Türen sind schwer, und die Spiegelscheiben blitzen; die Vorübergehenden sehen nur die Spiegelscheiben; nie waren sie hinter ihnen.

Hinter der Spiegelscheibe blitzt immer der kupferschwere Kopf des Schweizerstabes.

Die gebogene achtzigjährige Schulter hinter der Scheibe: von ihr träumt der zufällige Passant lange, von ihm, dem alles nur ein Traum ist und der selber ein Traum ist; auf die gebogene Schulter des greisen Schweizers fällt schwer der dunkle Dreimaster; seine Silbertressen blinken und erinnern an Angestellte der Bestattungsbureaus, wenn sie ihres Amtes walten.

Unverändert bleibt es.

Der schwere Kupferkopf ruht friedlich auf der achtzigjährigen Schulter eines Schweizers; und jahraus, jahrein der mit einem Dreimaster gekrönte Schweizer über dem »Börsenkurier«. Dann erhebt er sich wohl einmal und öffnet die Tür. Am Tage, am Morgen, gegen Abend, wann du an der Eichentür vorbeigehst, am Tage, am Morgen oder gegen Abend — immer erblickst du den kupfernen Stabkopf; immer erblickst du die Silbertressen; immer erblickst du den dunklen Dreimaster.

Verwundert bleibst du vor dieser Vision stehen. Dasselbe hattest du bei deinem vorigen Hiersein gesehen. Fünf Jahre waren vorübergegangen: dumpfe Wellen von Ereignissen waren dahingerollt; China war erwacht; Port Arthur war gefallen; die Gelben hatten unser Amurgebiet überschwemmt; es sind die alten Märchen von den eisernen Reitern des Dschingis-Khan wieder lebendig geworden.

Aber die Visionen der alten Zeiten bleiben unverändert; eine achtzigjährige Schulter, ein Dreimaster, eine Silbertresse, ein Bart.

In dem Augenblick, in dem sich der weiße Bart hinter der Spiegelscheibe bewegen, der schwere Kupferkopf des Schweizerstabes hinter der Tür blitzen und silbrig wie das Rinnenwasser, das dem Kellerbewohner Cholera und Typhus bringt, die weißen Tressen schimmern — und wo dennoch von den alten Zeiten nichts mehr sein wird, — in diesem Augenblick wirst du wie ein Geistesgestörter durch die Petersburger Prospekte rennen.

Wenn dort hinter der blinkenden Glastür der schwere Kupferstab seinen Platz verlassen hätte, dann würde sicher, sicher hier weniger von Typhus und Cholera zu merken sein; China würde nicht so voll Unruhe gären; Port Arthur wäre nicht gefallen; unser Amurgebiet wäre nicht von Zöpfen überflutet und die Reiter des Dschingis-Khan nicht aus ihren vielhundertjährigen Gräbern auferstanden.

Aber höre nur, horch: ein Stampfen von Schritten . . . Aus den Uralsteppen kommt es. Es kommt immer näher, das Stampfen.

Das sind — die eisernen Reiter.


Was für ein Tag!

Schon am frühen Morgen hatten die Tröpfchen zu flüstern, zu klatschen, zu klappern begonnen; von der Meeresküste her türmten sich die nebligen Filzflecken; paarweise erschienen die Schreiber; der Schweizer mit dem Dreimaster machte ihnen auf; sie hängten ihre Hüte wie ihre feuchten Überkleider an die Haken, liefen die mit rotem Tuch belegten Stufen hinauf, liefen durch das weißmarmorne Vestibül, hoben die Augen zu dem Porträt des Ministers und gingen in ihre ungeheizten Säle — an ihre kalten Arbeitstische. Aber die Schreiber schrieben nicht: sie hatten nichts zu schreiben; aus dem Direktorzimmer kamen keine Papiere; das Direktorzimmer war leer; wohl brannten im Kamin lohend Holzscheite. Aber über dem massiven Eichentisch neigte sich nicht der kahle Kopf mit den geschwollenen Adern an den Schläfen, die tiefsitzenden Augen wandten sich nicht gegen den Kamin, wo in lustiger Kornblumenschar giftige Rauchwölkchen emporringelten. Das Direktorzimmer war leer.

An diesem Tag war Apollon Apollonowitsch nicht in sein Arbeitszimmer geschritten.

Das Warten wurde bereits langweilig; ein bescheidenes, fragendes Flüstern ging von Tisch zu Tisch; Gerüchte schoben sich von einem zum anderen; Gespenster huschten durch die Luft; im Zimmer des Vizedirektors knatterte die Telephonglocke.

»Noch nicht herausgekommen? . . . Unmöglich! . . . Sagen Sie, wird dringend erwartet . . . nicht möglich . . .«

Zum zweiten Male knattert das Telephon:

»Haben Sie ausgerichtet? . . . Noch immer beim Frühstück? . . . Sagen Sie, Exzellenz wird dringendst verlangt . . .«

Der Vizedirektor stand mit bebendem Unterkiefer vor dem Telephon; er machte mit den Armen Gesten des vollständigen Unbegreifens; er wartete eine, anderthalb Stunden; dann setzte er seinen überhohen Zylinder auf und stieg die teppichbelegte Treppe hinunter. Die Haustür flog auf vor ihm; er bestieg einen Wagen . . .

Zwanzig Minuten später betrat er das Vestibül des gelben Hauses und erblickte mit Erstaunen seinen Vorgesetzten, Apollon Apollonowitsch Ableuchow, im Morgenrock von widerwärtiger, mausgrauer Farbe, mit unruhig auf ihn gerichteten: Blick hinter der Statue der Niobe stehen.

»Apollon Apollonowitsch!« rief der grauhaarige Ritter des Annaordens und richtete hierbei eilig seinen Halsorden unter der Krawatte zurecht. Er erblickte hinter der Niobe das unrasierte, mit Haarstoppeln bedeckte Kinn.

»Apollon Apollonowitsch, da sind Sie? Und ich, wir warteten und warteten; telephonierten immer wieder.«

»Ich . . . mm—mmä . . . ordnete meine Bibliothek . . . Verzeihen Sie, Väterchen, daß ich Sie . . . so . . . empfange.«

Er zeigte mit den Händen auf seinen Morgenrock.

»Was haben Sie, krank? A—a—a: Sie scheinen etwas aufgedunsen. Das ist sicherlich die Wassersucht?« — und er berührte ehrfurchtsvoll den mit Staub bedeckten Finger des Vorgesetzten.

Apollon Apollonowitsch ließ den Staublappen auf das Parkett niedergleiten.

»Daß Sie gerade jetzt krank wurden! . . . Ich komme mit Neuigkeiten . . . Ich muß Ihnen zu — einem Generalstreik in Merowetrinsk gratulieren . . .«

»Woher nehmen Sie? . . . Ich . . . mm—mmä . . . bin gesund . . .« Das Gesicht des Alten verzog sich in Falten. (Die Nachricht vom Generalstreik nahm er gleichgültig auf; er schien sich nicht mehr über etwas wundern zu können.) — »Bitte nur einzutreten; so viel Staub, wissen Sie . . .«

»Staub?«

»Da hab’ ich mit dem Lappen . . .«

Der Vizedirektor mit dem wallenden Backenbart verneigte sich ehrfurchtsvoll vor der gekrümmten Ruine und bemühte sich immerfort, auf das wichtige Papier zu kommen, das er im Salon auf ein Perlmuttertischchen vor sich hinlegte.

Doch Apollon Apollonowitsch unterbrach ihn wieder:

»Staub, wissen Sie, der enthält Mikroorganismen, die verschiedene Krankheiten hervorrufen. Ich habe ihn deswegen mit dem Staublappen . . .«

Plötzlich sprang die graue Ruine aus dem Empiresessel auf und stieß, sich mit der einen Hand auf die Lehne stützend, mit der anderen gegen das Papier.

»Was ist das?«

»Wie ich Ihnen, Exzellenz, soeben mitteilte . . .«

»Nein, gestatten Sie . . .« Apollon Apollonowitsch bückte sich rasch über das Papier: er wurde auf einmal jünger, sein Gesicht wurde weiß und rosig (rot konnte es nicht mehr werden).

»Warten Sie! . . . Aber sie sind dort alle verrückt geworden! . . . Man braucht meine Unterschrift? Neben dieser Unterschrift?!«

»Apollon Apollonowitsch! . . .«

»Ich gebe meine Unterschrift nicht.«

»Aber es ist eine Revolte!«

»Setzen Sie Iwantschenko ab . . .«

»Iwantschenko ist schon abgesetzt: haben Sie es vergessen?«

»Ich gebe meine Unterschrift nicht . . .«

Mit verjüngtem Gesicht latschte er in seinen Pantoffeln auf und ab durch den Salon, die Hände auf dem Rücken, mit unanständig geöffnetem Morgenrock, die Glatze tief nach vorn gebeugt; er näherte sich dem erstaunten Gast und begann auf ihn mit Speichel zu spritzen:

»Wie konnten die dort sich das nur denken? Etwas anderes ist eine — feste administrative Gewalt, und wieder etwas anderes ist eine direkte Verletzung der gesetzlichen Regeln . . .«

»Apollon Apollonowitsch« — versuchte der Beamte den Alten zur Vernunft zu bringen, »Sie sind ein Mann von festem Willen, Sie sind ein Russe . . . Wir hofften . . . Nein, Sie werden doch sicherlich unterschreiben.«

Apollon Apollonowitsch drehte einen Bleistift zwischen zwei knöchernen Fingern; er blieb stehen, sah mit scharfem Blick in das Papier hinein und: knisternd brach der Bleistift in zwei Stücke; erregt band er darauf die Gürtelschnur seines Morgenrockes fest, seine Kinnladen zitterten vor Zorn.

»Ich gehöre, Väterchen, zur Schule Plehwe . . . Ich weiß, was ich tue . . . Das Huhn geht nicht zu den Eiern in die Lehre . . .«

»Mmä—mä . . . Ich — gebe — meine — Unterschrift — nicht . . .«

Schweigen.

»Mmä—mm—mä . . . Mä—ä—mmä . . .«

Und er blies seine Wangen auf . . .

Der Herr mit dem wallenden Backenbart stieg mit bedenklicher Miene die Treppe hinunter; es war ihm klar: die Karriere des Senators Ableuchow, an der er lange Jahre gebaut hatte, ist nun zu Staub geworden. Nachdem der Vizedirektor gegangen war, schritt Apollon Apollonowitsch lange zornig auf und ab, im Salon zwischen den Empirestühlen. Dann verließ er den Raum und erschien gleich wieder mit einer riesigen Mappe unterm Arm, die er auf das Perlmuttertischchen legte. Dann läutete er und befahl dem Diener, ein Feuer im Kamin zu machen.

Ein toter Kopf blickte über die Notabene, die Fragezeichen, Gedankenstriche, Paragraphen, über die nun letzte Arbeit, zum Kaminfeuer hinüber; die Lippen murmelten:

»Macht nichts . . . So—so . . .«

Mit boshaftem Lächeln und zusammengekniffenen Augen dachte der kahle Senatorenkopf an den vollendeten Karrieristen, der soeben das Haus verlassen hatte, der es gewagt hatte, ihm, Ableuchow, den Vorschlag zu machen, sein bisher reines Gewissen durch eine Konzession zu beflecken und der jetzt sicherlich sprühend vor Wut durch die schmutzigen Straßen raste . . .

»Ich bin, meine Herrschaften, einer aus der Schule Plehwe . . . Ich weiß, was ich tue . . . Ja, ja, meine Herrschaften . . .«

Der scharf gespitzte Bleistift hüpfte zwischen den Fingern; der scharf gespitzte Bleistift fiel als kleine Splitter auf das Papier nieder; das ist ja seine letzte Arbeit; in einer Stunde wird diese Arbeit gemacht sein; in einer Stunde wird er sich mit dem Hohen Amt telephonisch verbinden lassen und ihm die mit dem Geiste kaum zu fassende Nachricht überbringen.


Der Wagen raste an die Karyatide des Portals heran; die Karyatide rührte sich nicht; er rührte sich nicht, der bärtige Alte, der das Portal des Hohen Amtes stützte.

Das Jahr achtzehnhundertundzwölf hatte ihn aus den Wäldern befreit; achtzehnhundertfünfundzwanzig stürmten die Dezembertage an ihm vorbei. Vorüber sind diese Stürme! Vorüber sind auch die jüngsten Stürme von neunzehnhundertundfünf!

Mann mit dem steinernen Bart!

Alles hatte er gesehen, was um ihn geschah, und was zu geschehen aufgehört hatte. Doch wird er niemals davon erzählen.

Er erinnert sich der zwei Vollblutrosse, die der Kutscher mit festem Zug an der Leine vor dem Portal anhielt; von den schweren Gruppen stieg der Dampf in Wolken auf; ein General mit Dreimaster auf dem Kopfe, in einem Mantel mit Biberkragen, sprang graziös aus dem Wagen und lief unter lauten »Hurras« zur Glastür, die sich ihm öffnete.

Dasselbe »Hurra« klang ihm entgegen, als der General später auf den Balkon hinaustrat. Der bärtige Mann unter dem Balkon kennt diesen Namen noch heute. Aber er nennt ihn niemandem.

Er wird niemandem von der Dirne erzählen, die heute nacht unten auf den Stufen des Portals gekauert und geweint hatte.

Er wird niemandem von dem Minister erzählen, der, bis vor kurzem, hier täglich zu erscheinen pflegte: er trug einen Zylinder auf dem Kopf; in seinen Augen lag eine grünliche Tiefe; wenn er aus dem leichten Schlitten heraustrat, glättete er seinen gepflegten graumelierten Bart mit der grau behandschuhten Hand.

Er ging mit hastigen Schritten durch die Glastür, um dann in Nachdenklichkeit versunken an den Fenstern stehenzubleiben.

Dort, an jenem Fenster, sah man das blasse, blasse Gesicht an die Scheibe gedrückt; der zufällige Passant würde in dem blassen Fleck an der Scheibe wohl kaum das Gesicht des Mannes vermutet haben, der von da aus die Schicksale Rußlands lenkte.

Der bärtige Alte kannte ihn; und er erinnert sich seiner, niemals und nie wird er von ihm erzählen! . . .

Und — Ruhe seiner Asche . . .

Auch der Schweizer mit dem Stab, der über dem »Börsenkurier« schlummerte, auch er kannte das leiddurchzogene Gesicht gut. Wetscheslaw Konstantinowitsch hat, Gott sei Dank, noch niemand im Hohen Amt vergessen; aber an, seligen Angedenkens, Kaiser Nikolaus Pawlowitsch erinnert sich keiner mehr: man erinnert sich nur der weißen Säle, der Säulen, der Balustraden.

Der bärtige Alte aber, er erinnert sich seiner.

Aus der Unzeit her, wie über der Linie der Zeit schweben, steht er gebeugt da: über der pfeilgeraden Straße oder — über der bitteren, salzigen, fremden menschlichen Träne?


Der kahle Kopf hebt sich empor, der mephistophelische, greisenhaft welke Mund lächelt; rötliche Flämmchen zucken durch das Gesicht; Flämmchen blinken in den Augen, aber es sind steinerne Augen; blau in grünlichen Höhlen; kalte, erstaunte Blicke, und — kalt, kalt. Gespenstisch entflammen Zeit, Sonne, Licht. Das ganze Leben nichts als — ein Gespenst. Lohnt es sich? Nein, es lohnt sich nicht:

»Ich bin, meine Herrschaften, aus der Schule Plehwe . . . Ich, meine Herrschaften . . . Ich—mmä—mmä«

Der kahle Kopf senkt sich.


Im Hohen Amt hüpfte ein Flüstern von Tisch zu Tisch; plötzlich ging die Tür auf; ein Beamter mit kalkweißem Gesicht sprang ans Telephon:

»Apollon Apollonowitsch hat seinen Abschied genommen . . .«

Alle sprangen von den Plätzen auf; der Beamte Legonin begann zu weinen; es entstand ein blödes Stimmengewirr, ein Fußtrampeln; aus dem Zimmer des Vizedirektors drang eine feste Stimme und das Knattern der Telephonglocke (zum Departement neun); der Vizedirektor stand mit bebendem Kinn da; in seiner Hand tanzte das Telephonrohr hin und her. Apollon Apollonowitsch Ableuchow war bereits nicht mehr das Haupt des Amtes.

Eine Viertelstunde später erteilte der grauhaarige Vizedirektor, in hoch zugeknöpftem Amtsrock und mit dem Annaorden auf der Brust, seine Befehle; zwanzig Minuten später schritt er mit frisch rasiertem, verjüngtem Gesicht durch die weiten Säle.

Das war der Verlauf eines Ereignisses von unbeschreiblicher Wichtigkeit.

Das Reptil

Die schäumenden Wasser des Kanals wälzten sich gegen die Stelle, an der der Wind, aus der öden Ferne des Marsfeldes kommend, stöhnte: ein schrecklicher Ort!

Am Rande dieses schrecklichen Ortes prangt ein herrlicher Palast; sein nach oben ragender Turm gibt ihm das Aussehen eines wunderschönen Schlosses: rosarot, steinschwer; ein Gekrönter lebte in diesen Mauern; schon lange ist es her: der Gekrönte weilt längst nicht mehr unter den Lebenden.

Seiner Seele, o Herr, sei in deinem Reiche gnädig!

Der rosenrote Palast hob sich mit seinen nach oben ragenden Dächern von den vollständig blätterlosen, knorrigen Ästen der Umgebung ab; in wirrem Durcheinander streckten sich die Zweige gegen den Himmel und fingen die weißgrauen Nebelbausche auf; ächzend flog, pfeilgerade, eine Krähe auf; sie flog auf, schwebte eine Weile in den Nebelflocken und stürzte sich wieder hernieder zur Erde.

Ein Droschkenwagen durchkreuzte diesen Ort.

Ihm entgegen liefen zwei kleine, rötliche Häuschen, die, ein Einfahrtstor bildend, auf dem Platz vor dem Palast standen; links drohte heulend eine Baumgruppe; die gebogenen Gipfel der Stämme neigten sich, wie zum Überfall; die dünne Turmspitze blinkte oben aus den nebligen Flocken hervor.

Schwarz zeichnete sich eine Reiterstatue aus dem Nebelgrau des Platzes; die Reisenden, die Petersburg besuchen, schenken diesem Denkmal keine Aufmerksamkeit; ich selbst pflegte oft vor ihm zu stehen: ein herrliches Werk! Wie schade, daß ein armseliger Witzbold seinen Sockel, wie ich bei meinem jüngsten Hiersein bemerkte, mit Gold bestrichen hat.

Ein Selbstherrscher und Urenkel hatte dieses Denkmal seinem großen Urgroßvater errichtet; dieser Selbstherrscher war es gewesen, der das Schloß hier bewohnt hatte; in dieser rosaroten Steinburg hat er auch seine unglücklichen Tage beendet; er hat nicht lange hier gelitten; sein Leiden konnte nicht lange währen; zwischen starrsinniger Eitelkeit und edlen Wallungen wurde seine Seele zu Tode gezerrt; in Stücke zerrissen, entfloh die kindliche Seele ihrem Körper.

Wie oft mag das stumpfnasige Gesicht mit den weißgepuderten Locken aus diesen Fenstern hinausgeblickt haben, vielleicht aus dem dort? Wie oft mochte hinter diesen Scheiben das stumpfnasige Gesicht mit den weißgepuderten Locken voller Sehnsucht seine Augen in die Ferne getaucht haben, in das rosige Verbleichen des Himmels, in das silberne Spiel des Mondlichts im dunklen Blättergewirr der Sträucher . . . Vor dem Tor stand die Schildwache mit breitkrempigem dreieckigem Hut auf dem Kopf, und salutierte mit dem Gewehr, wenn die Majestät mit goldbestickter Brust und dem Andrejewschen Band über der Schulter aus der Tür trat, um seinen aquarellbemalten Wagen zu besteigen, auf dessen hohem Bock ein flammenroter Kutscher saß, während auf den Trittbrettern zwei dicklippige Neger standen.

Alles mit flüchtigem Blicke streifend, setzte Kaiser Pawel Petrowitsch das sentimentale Gespräch mit dem in duftige Gazeschleier gehüllten Hoffräulein fort; das Hoffräulein lächelte und ihre Wangen zeigten zwei neckische Grübchen, und — ein schwarzes Schönheitspflästerchen . . .

In jener verhängnisvollen Nacht fiel silbernes Mondlicht durch die Scheibe auf die schweren Möbel des kaiserlichen Schlafgemachs; es fiel auf das Bett und vergoldete den am Rande sitzenden, kleinen schelmischen, funkensprühenden Amor; auf dem blassen Linnen zeichnete sich das wie mit Tusche leicht hingeworfene Profil ab; irgendwo schlug eine Turmuhr; irgendwo tönten Schritte . . . Es waren kaum drei Minuten vergangen und zerwühlt war das Bett; an der Stelle, wo das blasse Profil sich abgehoben hatte, sah man nur eine Vertiefung im Kissen; das Bettleinen war noch warm; der Schlafende war verschwunden; ein Häufchen weißgepuderter Offiziere mit blanken Säbeln stand über das Lager gebeugt; jemand suchte eine Seitentür von außen zu sprengen; man hörte eine weinende Frauenstimme; plötzlich hob ein Offizier mit rosigen Lippen den schweren Fenstervorhang; in dem durchsichtigen Silber hinter dem Fenster sah man — einen schwarzen, hageren, zitternden Schatten.

Der Mond fuhr fort sein leichtes Silber noch weiter in das Gemach zu streuen, auf die schweren Möbel des kaiserlichen Schlafgemachs; es fiel auf das Bett; es vergoldete die kleinen Amoretten an dem Kopfende; es fiel auch auf das todblasse, wie mit leichter Tusche hingeworfene Profil . . . Irgendwo schlug eine Turmuhr; Schritte tönten in der Ferne.


Gedankenlos betrachtete Nikolai Apollonowitsch diesen düsteren Platz und merkte nicht, daß das rasierte Gesicht des neben ihm sitzenden Leutnants sich ihm immer wieder zuwandte; der Blick, mit dem Leutnant Lichutin sein Opfer streifte, schien von Neugierde erfüllt; Lichutin rückte fortwährend auf seinem Platze hin und her; stieß seinen Nachbar in die Seite; allmählich erriet Nikolai Apollonowitsch, daß der Leutnant es nicht über sich bringen konnte, ihn zu berühren — wenn auch nur mit dem Ellbogen, und er rückte immer weiter fort und beschenkte den anderen mit Seitenpuffen.

In diesem Augenblick riß ein Windstoß Ableuchow den italienischen Hut vom Kopf und er war genötigt, ihn mit unwillkürlichen Bewegungen von den Knien seines Nachbars aufzufangen; er berührte dabei Lichutins kalte Finger und diese Finger zuckten zusammen und sprangen wie durch die Berührung von etwas Widerlichem zurück; der spitze Ellbogen machte eine rückwärtige Bewegung; als hätte der Leutnant Lichutin nicht die Haut seines guten Bekannten, ja seines Spielkameraden, berührt, sondern . . . ein Reptil . . . das man am liebsten . . . mit dem Fuß zerdrücken möchte . . .

Diese Bewegung war Ableuchow nicht entgangen; er sah seinerseits jetzt mit prüfendem Blick den Freund seiner Kindheit an, mit dem er einst auf du gewesen war; dieser Sserjosha, nämlich Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin, hatte sich seit ihrem letzten Zusammensein mindestens um acht Jahre verjüngt und hatte sich wieder in Sserjosha verwandelt; aber dieser Sserjosha horchte jetzt nicht mehr voll Spannung den gedanklichen Flügen Ableuchows, wie damals, vor — acht Jahren, als sie in den Holunderbüschen des alten großväterlichen Parks sich verborgen hielten; acht Jahre sind vergangen; diese acht Jahre haben alles verändert; die Holunderbüsche sind abgetragen worden und er . . . mit heimlicher Unterwürfigkeit sah er Ssergeij Ssergeijewitsch an.

Ableuchows Gesicht magerte plötzlich ab.

»Sie quittieren Ihren Dienst, Ssergeij Ssergeijewitsch?«

»Ha?«

». . . Ihren Dienst? . . .«

»Ja, wie Sie sehen . . .«

Ssergeij Ssergeijewitsch maß Ableuchow mit einem Blick, als sähe er ihn zum erstenmal; er sah ihn vom Kopf bis zu den Füßen an.

»Ich würde Ihnen raten, Ssergeij Ssergeijewitsch, den Mantelkragen hochzuheben: Ihr Hals ist erkältet und bei diesem Wetter . . . da ist es wirklich sehr leicht möglich . . .«

»Was meinen Sie?«

»Sie können sich leicht eine Halsentzündung zuziehen.«

»Ihrer Sache wegen« — brachte mit dumpfem Brummen Lichutin hervor.

— ?

»Es hat mit dem Hals nichts zu tun . . . Ich habe Ihrer Sache wegen den Dienst quittiert, das heißt, nicht einmal Ihrer Sache wegen, sondern Ihretwegen.«

»Aha, eine Anspielung!« wäre beinahe laut aus Ableuchow herausgekommen; aber er fing wieder einen Blick auf: so sieht man nicht die an, die man kennt; so sieht man höchstens ein überseeisches Wunder im Panoptikum an.

So sehen Passanten einen Elefanten an, den man zuweilen in vorgerückter Abendstunde auf dem Wege vom Bahnhof zum Zirkus antrifft. Sie heben die Augen, machen einen Ruck nach rückwärts und glauben ihren eigenen Augen nicht, zu Hause erzählen sie:

»Denkt euch, wir haben auf der Straße einen Elefanten gesehen.«

Aber alle lachen über sie.

Eine solche Neugierde sprach aus Lichutins Blicken; es war keine Empörung in ihnen, höchstens ein gewisser Ekel (wie von der Nähe einer Ringelnatter); kriechende Reptile rufen keine Empörung hervor, man möchte nur . . . sie mit dem Fuße . . . zertreten.

Nikolai Apollonowitsch dachte über Lichutins Worte nach: er quittiere seinetwegen den Dienst; ja, Leutnant Lichutin verliert die Möglichkeit, Offizier zu sein, nach dem, was bald zwischen ihnen geschehen sein wird; in der Wohnung wird wohl niemand sein; es wird da etwas geschehen, etwas . . . Hier wurde Ableuchow von ernster Angst gepackt; er rückte unruhig auf seinem Platze und — und plötzlich bohrten sich alle seine zehn Finger in den Arm des Offiziers.

»Ha! . . . Was meinen Sie . . . Warum wollen Sie? . . .«

Ein rosafarbiges Häuschen, von oben bis unten mit Stuck verziert, eilte an ihnen vorbei: dieses Rokokohäuschen war vielleicht einst die Wohnstätte des Hoffräuleins gewesen, des Hoffräuleins mit den schelmischen Grübchen in den Wangen und dem schwarzen Schönheitspflästerchen.

»Ssergeij Ssergeijewitsch . . . Ich, Ssergeij Ssergeijewitsch . . . Ich muß gestehen . . . Ach, ich bedaure so sehr . . . Mein Benehmen war sehr, sehr bedauerlich . . . Ich habe mich benommen, Ssergeij Ssergeijewitsch . . . schmachvoll, betrübend . . . Aber ich habe — eine Rechtfertigung; ja, ich habe, habe eine Rechtfertigung. Als ein gebildeter humaner Mensch, als lichte Erscheinung, dürften Sie, Ssergeij Ssergeijewitsch, das begreifen können . . . Ich habe diese Nacht nicht geschlafen, ich will sagen: ich leide an Schlaflosigkeit . . . Die Ärzte fanden« (er erniedrigte sich nun zu einer Lüge) ». . . Ich meine, mein Zustand wird als sehr ernst betrachtet. Gehirnübermüdung mit Pseudohalluzinationen« (ihm fielen plötzlich Dudkins Worte ein) ». . . Was meinen Sie dazu?«

Ssergeij Ssergeijewitsch sagte nichts: ohne jede Empörung sah er ihn an; in seinem Blicke war nur Ekel (wie in der Nähe einer Ringelnatter); Reptile lösen ja keinen Zorn aus: sie . . . zertritt man nur mit dem Fuß . . .

»Pseudohalluzinationen . . .« wiederholte flehend Ableuchow, erschreckt, klein, ungelenk, und verkroch sich mit den Augen in die des anderen (diese Augen aber antworteten nicht); er wollte schon hier die Auseinandersetzung beenden, hier, in der Droschke und nicht dort in der Wohnung; das verhängnisvolle Hausportal ist schon so, so nahe; ist die Auseinandersetzung bis zur Erreichung des Portals nicht beendet — dann ist alles aus, alles, alles! A—us! Ein Mord geschieht, eine tätliche Beleidigung, oder es kommt zu einer einfachen Schlägerei.

»Ich . . . ich . . . ich . . .«

»Steigen Sie aus, wir sind schon da . . .«

Mit bleiernen, unbeweglichen Blicken sah Nikolai Apollonowitsch um sich, sah in die bläulichen Nebelflocken, sah auf die mit einem Glucksen niederfallenden Tropfen, auf die metallischen Blasen der Pfützen.

Leutnant Lichutin sprang aus der Droschke, warf dem Kutscher das Fahrgeld zu und blieb auf dem Trottoir in Erwartung des Senatorsöhnchens stehen, der, schwerfällig zaudernd, noch nicht ausgestiegen war.

»Warten Sie bitte, Ssergeij Ssergeijewitsch, ich hatte ja einen Stock . . . Wo ist er nur? Ach, sollte ich ihn . . . verloren haben?«

Er suchte wirklich nach seinem Stock; aber der Stock war rettungslos verschwunden; ganz blaß und beunruhigt drehte Nikolai Apollonowitsch die Augen nach allen Seiten.

»Nun, was ist?«

»Aber mein Stock . . .«

Ableuchows Kopf sank tief auf die Schultern; die Schultern wiegten sich auf und ab; der Mund zog sich auf eine Seite aus; mit bleiernem, unbeweglichem Blick sah Nikolai Apollonowitsch vor sich hin, in die bläulichen Nebelflocken, und rührte sich nicht vom Fleck.

Da begann Lichutin zornig und ungeduldig zu atmen; er faßte Ableuchow delikat, aber fest am Ärmel, und hob ihn vorsichtig wie einen Warenballen aus der Droschke.

Nikolai Apollonowitsch krallte sich mit allen zehn Fingern in Lichutins Arm: jetzt müssen sie über die dunkle Stiege gehen: wie, wenn die Hand des Offiziers eine unanständige Geste machen wird, der er im Dunkeln nicht ausweichen kann; die Handlung wird geschehen sein und dann — ist es — aus; das Geschlecht der Ableuchow ist für immer geschändet (sie wurden noch nie geschlagen).

Leutnant Lichutin (dieser Wüterich!) hat ihn so schon mit der freigebliebenen Hand am Saum des italienischen Überwurfs gepackt; Nikolai Apollonowitsch wurde ganz weiß.

»Ich gehe schon, ich gehe, Ssergeij Ssergeijewitsch . . .«

Er stemmte sich unwillkürlich mit dem Schuhabsatz gegen den Rand der ersten Treppenstufe, aber er überlegte es sich sofort, um nicht lächerlich zu erscheinen.

Die Haustür schloß sich hinter ihnen.

Höllische Finsternis

Höllische Finsternis umfing sie in dem unbeleuchteten Stiegenhaus (wie im ersten Augenblick nach dem Tode); man hörte das Keuchen des Offiziers, und hinter ihm reihten sich wie Perlen einzeln gesprochene Worte.

»Ich . . . bin hier gestanden . . . hier . . . Ich bin nur so . . . gestanden . . .«

»So machen Sie es, Nikolai Apollonowitsch? So machen Sie es?«

»Ein vollständiger Nervenanfall . . . Krankhafte Vorstellungsassoziationen . . .«

»Assoziationen? . . . Warum kommen Sie nicht? . . . Wie sagten Sie — Assoziationen?«

»Der Arzt sagte . . . Warum ziehen Sie mich am Arm? Ich kann doch selbst gehen . . .«

»Sie brauchen aber auch nicht meinen Arm zu packen . . . Bitte, lassen Sie mich los . . .«

»Aber es fällt mir ja gar nicht ein . . .«

»Der Arzt sagte — der Arzt sagte: eine ganz selten vorkommende . . . Gehirnzerrüttung; der Domino und alles andere: nur Gehirnzerrüttung . . .«

Plötzlich ertönte von oben eine gut genährte, laute Stimme:

»Guten Abend!«

Jemand stand vor der Wohnungstür der Lichutins.

»Wer ist da?«

Unzufrieden klang Lichutins Stimme in der Finsternis.

»Wer ist da?« fragte auch Ableuchow sehr erleichtert; die ihn festhaltende Hand löste sich von ihm, und zu seiner großen Freude hörte er jemand ein Streichholz reiben.

Die fremde, gut genährte Stimme fuhr laut fort:

»Ich stehe da schon eine ganze Weile . . . Habe ein paarmal geläutet — es macht niemand auf. Und plötzlich bekannte Stimmen.«

Die Streichholzflamme beleuchtete eine weißgepflegte Hand, die einen Bund wundervoller Chrysanthemen hielt; hinter ihnen zeichnete sich die stattliche Figur Werhefdens.

»Wie? Sind Sie es, Ssergeij Ssergeijewitsch?«

»Sie sind bartlos?«

»Sie sind in Zivil? . . .«

Er tat, als bemerkte er erst jetzt Ableuchow (unsererseits sagen wir aber, daß er Ableuchow schon im ersten Augenblick gesehen hatte), rieb ein neues Streichholz und maß ihn mit den Blicken, wobei er die Brauen hochhob.

»Auch Nikolai Apollonowitsch? . . . Wie geht es Ihnen, Nikolai Apollonowitsch? Nach dem gestrigen Abend dachte ich . . . Sie hatten sich nicht wohl gefühlt? . . . Sie sind etwas stürmisch aus dem Ballsaal verschwunden . . . Seit dem gestrigen Abend . . .«

Wieder flammte ein Streichholz auf; zwei spöttische Augen blickten hinter den Chrysanthemen hervor: Werhefden wußte, daß das Lichutinsche Haus vor Ableuchow geschlossen war; als er bemerkt hatte, daß dieser jetzt, offensichtlich gegen seinen eigenen Willen, hierher geschleift wurde, hielt er es als gut erzogener Mensch für seine Pflicht, sich zu entfernen.

»Ich störe doch nicht? . . . Ich muß nämlich gleich gehen . . . Wir haben unglaublich viel zu tun . . . Ihr Herr Vater, Apollon Apollonowitsch, erwartet mich . . . Ein Generalstreik scheint in Vorbereitung zu sein, da gibt’s nun viel Arbeit für uns . . .«

Ehe ihm geantwortet werden konnte, ging die Tür eilig auf; eine weiße, steife Haube mit einem Schmetterling obenauf erschien in der Öffnung.

»Marwruscha, ich komme nicht zu Besuch . . .«

»Bitte den Herrn, einzutreten: die gnädige Frau ist zu Hause.«

»Ach nein, Marwruscha, übergeben Sie nur bitte diese Blumen der gnädigen Frau von mir . . . Das ist eine frühere Schuld« — wandte er sich mit einem Lächeln an Lichutin und zuckte mit den Achseln, wie der Mann einem anderen zulächelt und mit den Achseln zuckt, nachdem sie gemeinsam einen Abend in Gesellschaft mit Damen zugebracht hatten . . .

»Ich bin sie Sofja Petrowna schuldig geblieben für die vielen verunglückten Witze . . .«

Und wieder lächelte er; dann erinnerte er sich:

»Also, auf Wiedersehen, lieber Freund. Adieu, Nikolai Apollonowitsch: Sie sehen übermüdet aus, nervös . . .«

Wie Schrotkugeln rollten seine Schritte die Treppe hinunter; von unten klang noch herauf:

»Sie sollten nicht so viel mit ihren Büchern . . .«

Nikolai Apollonowitsch wollte beinahe hinunterrufen:

»Ich komme mit, Hermann Hermanowitsch; ich muß auch schon gehen, haben wir nicht denselben Weg? . . .«

Aber die Schritte verstummten — und bum! fiel das Haustor ins Schloß.

Da fühlte sich Nikolai Apollonowitsch wieder ganz verlassen; und wieder wurde er festgehalten, jetzt nun endgültig, vor Marwruscha. In seinem Gesicht malte sich Grauen, während das von Marwruscha deutliche Spuren von Erstaunen und Angst zeigte; dagegen drückten die Gesichtszüge des Offiziers unverhehlte, geradezu satanische Freude aus; mit Schweiß überdeckt zog er sein Taschentuch hervor, während er mit der freien Hand den widerstrebenden Studenten gegen die Tür schob.

So geschmeidig sich auch die Figur Nikolai Ableuchows im Ausweichen zeigte — er wurde endlich doch in die offene Tür geschoben.

»Bitte einzutreten . . .«

Er war also doch da; aber im Vorzimmer erblickte er bekannte Gegenstände, die eichenimittierte Wandverkleidung mit dem Spiegel in der Mitte; und mit dem letzten Rest von Würde meinte er:

»Ich halte mich nur einen Augenblick auf.«

Beinahe hätte er seinen Überwurf nach alter Gewohnheit Marwruscha zugeworfen. Uff — diese Hitze und das Parfüm. Da vergeht einem das Denken.

Doch trat Ssergeij Ssergeijewitsch dazwischen und zischte Marwruscha leise zu:

»Gehen Sie in die Küche . . .«

Und ohne die Höflichkeitsformen zu beachten, die er als Wirt des Hauses seinem Besuch schuldete, schob er ganz unzart den breitkrempigen Hut und den fliegenden Überwurf zusammen mit Nikolai Apollonowitsch in das Zimmer, in dem die Fuji-Jamas an den Wänden hingen.

Nikolai Apollonowitsch erblickte flüchtig das rosa Kimono: es verschwand eilig im Nebenzimmer, und die Tür schloß sich hinter ihm.

In seiner ungewollt raschen Fahrt durchs Zimmer merkte Ableuchow die hier vorgegangenen Veränderungen nicht: weder die Spuren des abgefallenen, nur notdürftig weggeschafften Schutts noch das klaffende Loch in der Zimmerdecke. Als er aber seinen ängstlich fletschenden Mund in die Richtung seines Henkers wandte, da erblickte er . . .

Die Tür zu Sofja Petrownas Zimmer ging ein wenig auf, und im Spalt zeigte sich ein Kopf: Nikolai Apollonowitsch sah nur — zwei Augen; voll Grauen sahen ihn diese Augen aus einer schwarzen Haarflut an.

Aber kaum hatte er ihnen seinen Blick zugewandt, da sahen sie weg, und es ertönte der Ruf:

»Ach, ach!«

Sofja Petrowna sah: ihr Gatte, der Offizier, mit schweißbedecktem Gesicht, bemühte sich krampfhaft, den Überwurf des Nikolai Apollonowitsch festzuhalten, während dieser ebenfalls mit vor Schweiß feuchter Stirn sich zu entwinden suchte. Seine Stiefelabsätze stemmten sich gegen den Teppich, rutschten aus, und der Teppich zog sich in große Falten zusammen.

Hier hatte Ableuchow Sofja Petrowna erblickt; weinerlich rief er ihr zu:

»Bitte, Sofja Petrowna, lassen Sie uns allein; was wir Männer miteinander . . .«

Da löste sich sein Überwurf von ihm und flog wie ein phantastischer Vogel auf das Sofa.

Seine Absätze glitschten auf dem Teppich aus, und einen Augenblick verlor er das Gleichgewicht; balancierend suchte er irgendeinen festen Punkt zu erhaschen; dieser feste Punkt erwies sich aber als die nichtgeschlossene Tür zu Lichutins Zimmer; die Tür öffnete sich und wie ein Stein fiel Ableuchow nieder: das Unbekannte verschlang ihn.

Der Privatmann

Endlich erhob sich Apollon Apollonowitsch.

Er blickte seltsam unruhig um sich; er riß sich von dem Stoß übereinander gehäufter Papiere los: von den Notabenen, Paragraphen, Frage- und Ausrufezeichen; kalt bebte und hüpfte die Hand mit dem Bleistift — über dem vergilbten Blatt auf dem Perlmuttertischchen; der Stirnknochen wölbte sich in gewaltsamer Anstrengung: es hieß zu begreifen, um jeden Preis zu begreifen.

Und er — begriff.

Der lackierte Wagen mit dem Wappen wird nicht mehr an die alte, steinerne Karyatide heransausen; nichts wird sich dort, hinter der Glastür, ihm entgegen, erheben: weder die achtzigjährige Schulter, noch der Dreimaster und der kupferköpfige Stab; aus den Ruinen wird nicht Port Arthur entstehen; aber erheben wird sich China; horch! — tönt nicht ein Stampfen aus der Ferne? Das sind — die Reiter des Tschingis-Khan.

Apollon Apollonowitsch horchte auf: aus der Ferne kommt das Stampfen; nein, es ist kein Stampfen: Ssemjonytsch schreitet durch die kalt glitzernde Pracht der Zimmer; herein kommt er, sieht sich um und geht weiter.

Die Schritte des alten Ssemjonytsch verklangen.

Apollon Apollonowitsch liebte seine große Wohnung nicht, mit der ewigen Perspektive der Newa: eine grünliche Schar zogen dort die Wolken dahin: zuweilen verdichteten sie sich zu gelblichem Rauch, der sich dann auf die Ufer legte; die dunkle Wassertiefe schlug mit dem Stahl ihrer Schuppen an den Granit; Apollon Apollonowitsch sah sich um: diese Wände! Hier wird er sitzenbleiben, für lange Zeiten, mit der Perspektive auf die Newa. Das ist sein Familienherd; der öffentliche Dienst ist beendet.

Was ist dabei?

Wände — Schnee und nicht Wände! Ja, gewiß, sie sind etwas kalt . . . Was ist dabei? Familienleben — schon gut: Familienleben; d. h.: ja gewiß: Nikolai Apollonowitsch ist ein schrecklicher — ja, sozusagen ein schrecklicher . . . und dann: Anna Petrowna, die auf ihre alten Tage . . . weiß Gott wozu, sich gewandelt hat!

Mm — mmä . . .

Apollon Apollonowitsch drückte fest den Kopf mit den Händen; seine Blicke starrten in die prasselnde Glut des Kamins: müßige Spiele des Gehirns!

Sie liefen weiter — die Gedanken, liefen über, die Grenze des Bewußtseins hinaus: dort türmten sie sich zu einem Berg chaotischer Bilder; Nikolai Apollonowitsch tauchte dort auf — klein gewachsen, mit forschend blauen Blicken und einem Knäuel mannigfachster (das muß man schon zugeben) geistiger Interessen, bis zum Äußersten verworrener.

Und es tauchte ein Mädchen auf (seitdem sind schon — dreißig Jahre verflossen); eine Schar Anbeter; unter ihnen ein in besten Jahren stehender Herr, Apollon Apollonowitsch Ableuchow, bereits ein höherer Beamter und ein hoffnungslos Verliebter.

Und — die erste Nacht; das Grauen in den Augen der mit ihm allein gebliebenen Gefährtin — der Ausdruck des Ekels, der Verachtung, verborgen unter dem ergebenen Lächeln der Duldenden; in jener Nacht hatte Apollon Apollonowitsch Ableuchow, ein bereits hochgestellter Beamter, einen verbrecherischen, formell erlaubten Akt begangen: er hatte ein Mädchen vergewaltigt; diese Vergewaltigungsakte geschahen Jahre hindurch; und in einer solchen Nacht wurde Nikolai Apollonowitsch gezeugt — zwischen zwei verschiedenen Lächeln: zwischen dem Lächeln der Wollust und dem der Ergebenheit; ist es verwunderlich, daß Nikolai Apollonowitsch dann die Mischung aus Verachtung, Angst und Wollust in sich verkörperte? Sie hätten sogleich beide an die Aufgabe gehen sollen: das von ihnen gezeugte Grauen zu erziehen, das Grauen zu vermenschlichen.

Sie aber fachten es noch mehr an.

Und nachdem sie selbst dieses Grauen bis zum Äußersten trieben, flüchteten sie sich alle selbst vor dem Grauen: Apollon Apollonowitsch in die hohe Verwaltung, in der die Schicksale Rußlands bestimmt wurden; Anna Petrowna — zur Befriedigung ihrer erwachten Geschlechtstriebe zu Mantalini (dem italienischen Sänger); Nikolai Apollonowitsch in die Philosophie; und von dort in die Versammlungen von Abiturienten nicht existierender Hochschulen. Ihr heimischer Herd verwandelte sich in eine Stätte der Verwüstung.

An diese Stätte wird er jetzt nun wieder zurückkehren; statt Anna Petrowna wird ihm nur die geschlossene Tür zu ihren Appartements entgegensehen, falls sie nicht die Lust verspüren wird, in seine Verwüstung zurückzukehren; die Schlüssel zu diesen Appartements hat er bei sich (zweimal war er in diesen Teil des kalten Hauses getreten, um dort ein Weilchen zu sitzen; beide Male hatte er Schnupfen davongetragen).

Statt des Sohnes aber wird er ein Auge erblicken — ein zwinkerndes, ausweichendes Auge — groß, leer und kalt, von kornblumenblauer Farbe; ein halb diebisches, halb grenzenlos erschrockenes; in diesem Auge wird sich das Grauen verbergen — jenes Grauen, das sich in den Augen der Neuvermählten gemalt hatte, in jener Nacht, da Apollon Apollonowitsch Ableuchow, der hohe Beamte, zum erstenmal . . .

Wenn er sich nicht mehr im Staatsdienst befinden wird, können auch die anderen Paradezimmer geschlossen werden; nur der Korridor wird offenbleiben mit den anschließenden Räumen für ihn und den Sohn: sein ganzes Leben wird sich auf den Korridor beschränken; seine Pantoffel werden dort schlürfen; und dann wird es noch geben: Zeitunglesen, das Verrichten körperlicher Notdürfte, das unvergleichliche Örtchen und die Fertigstellung der Lebensmemoiren.

Ja, ja, ja!

Und die Tür, die zum Zimmer des Sohnes führt — davor wird er stehenbleiben und — durchs Schlüsselloch hineingucken, dann aber, bei jedem verdächtigen Geräusch — zurückspringen; oder nein, er wird an einer passenden Stelle ein Loch durch die Wand bohren, und — seine Mühe wird belohnt werden: das Zimmertreiben seines Sohnes wird vor seinen Blicken offenliegen wie der Mechanismus einer aus dem Gehäuse entfernten Uhr. Von diesem Beobachtungspunkt aus wird er andere als staatliche Interessen verfolgen können.

Und doch wird alles nur sein:

»Guten Morgen, Vater!«

»Guten Morgen, Kolenka!«

Und jeder wird dann in sein eigenes Zimmer gehen.

Dann — dann: der Schlüssel wurde umgedreht; er schleicht sich zu der Stelle an der Wand, wo sie durchbohrt ist, um zu sehen; horchen, zuweilen zittern, zusammenfahren in Erwartung des sich ihm eröffnenden Geheimnisses; in welcher Weise wird sich die Vertraulichkeit zwischen Nikolai und jenem, mit dem Schnurrbärtchen, äußern; in der Nacht wird er dann, die Decke von sich werfend und den schweißbedeckten Kopf vorstreckend, über das Gehörte grübeln, wird Oblaten zu sich nehmen, um die schmerzhaften Schläge des Herzens zu beschwichtigen, und wird zum unvergleichlichen Örtchen rennen: mit den Pantoffeln durch den Korridor schlürfen . . . bis ein neuer Morgen graut.

»Guten Morgen, Vater!«

»Guten Morgen, Kolenka!«

Das ist das Leben eines Privatmannes.


Ein unüberwindlicher Drang trieb ihn, in das Zimmer des Sohnes zu treten; schüchtern knarrte die Tür: er war im Empfangszimmer; er blieb an der Schwelle stehen; ganz klein, greisenhaft; er zupfte an den himbeerroten Schnüren seines Morgenrockes und betrachtete das Durcheinander, das hier herrschte: den Vogelkäfig mit den Papageien, das arabische Taburett mit Inkrustation aus Elfenbein und Kupfer; dann die Geschmacklosigkeit: den roten Domino, dessen üppige Falten wie Feuergarben oder fließende Hirschgeweihe vom Taburett herunterquollen, direkt zum Leoparden hinunter, der auf dem Boden mit fletschendem Maul ausgestreckt lag; Apollon Apollonowitsch stand eine Weile, kaute mit dem leeren Mund, kratzte sich das wie mit Reif bedeckte Kinn und wandte sich voll Abscheu ab (er kannte ja die Geschichte mit der Maske).

Apollon Apollonowitsch schien es, als wenn es hier schwül wäre; statt mit Luft war die Atmosphäre hier mit Blei angefüllt; als wären hier furchtbare, unerträgliche Gedanken gedacht worden . . . Ein unangenehmes Zimmer! Und eine unangenehme Atmosphäre! . . .

Da — ein leidvoll lächelnder Mund, kornblumenblaue Augen, wie eine lichte Aureole die Haare: in eng anliegender Studentenuniform mit sehr schmaler Taille, weiße Glacéhandschuhe in der Hand, frisch rasiert (vielleicht parfümiert), den Säbel an der Seite, stand sein Sohn Nikolai Apollonowitsch im Rahmen und litt: Apollon Apollonowitsch betrachtete einen Augenblick lang aufmerksam das Porträt, das im vergangenen Frühjahr gemalt worden war, und schritt in das Nebenzimmer.

Der nicht abgesperrte Schreibtisch zog die Aufmerksamkeit des Senators auf sich: eine der Schubladen war etwas vorgeschoben; eine instinktive Neugierde überkam Apollon Apollonowitsch, den Inhalt dieser Lade näher zu untersuchen; mit raschen Schritten näherte er sich dem Schreibtisch und griff nach einer darauf liegenden großen Photographie, die eine brünette Dame darstellte . . .

Mechanisch drehte er das Bild in der Hand, ohne es eigentlich zu sehen; denn seine Gedanken waren weit weg und bewegten sich in der Richtung der Betrachtungen über seine zurückgelegte eigene Laufbahn und die, die manche andere (die vulgär Karrieristen genannt zu werden pflegen) noch vor sich haben . . . Ihn aber möchte man . . .

Was — möchte man ihn?

Durch die Gedanken abgelenkt, merkte er es gar nicht, daß er nicht mehr das Porträt in der Hand hielt, sondern einen ihm unbekannten schweren Gegenstand, den er mechanisch aus der offenen Schublade herausgezogen hatte; ein tönender Laut kam aus diesem Innern: am allerwenigsten dachte der Senator dabei an einen Abgrund (wir trinken ja oft genug vor einem offenen Abgrund Kaffee mit Sahne); er betrachtete den viereckigen Gegenstand mit den abgerundeten Kanten mit der größten Aufmerksamkeit und horchte auf das Ticken der Uhr in seinem Innern: ein Uhrmechanismus — in einer schweren Sardinenbüchse . . . In der Tat . . .

Der Gegenstand gefiel ihm nicht . . .

Er trug den Gegenstand, um ihn eingehender zu untersuchen, über den Korridor in den Salon. Mit seinem über den Gegenstand geneigten Kopf erinnerte er an ein Häufchen grauer Mäuse; seine Gedanken waren noch immer mit jenem Typus der Staatsmänner beschäftigt, wie er ihn gerade heute vor sich gehabt hatte; die Leute von diesem Typus pflegen, um jede Verantwortung von sich zu wälzen, zu den ödesten Phrasen Zuflucht zu nehmen; wie zum Beispiel: »Es ist bekannt, daß . . .«, während keinesfalls etwas bekannt ist; oder: »Die Wissenschaft sagt uns . . .«, während die Wissenschaft uns nichts sagt.

Apollon Apollonowitsch lief mit dem Gegenstand bis zu der Stelle des Salons, wo das mit Inkrustation verzierte Tischchen stand und hochmütig-steif sich eine langbeinige Bronze in die Höhe streckte; er legte den schweren Gegenstand auf ein kleines chinesisches Lacktablett, sein kahler Kopf war nach unten gebeugt; über ihm aber breitete sich der Lampenschirm aus blaßviolettem, fein bemaltem Glas.

Doch das Glas war abgedunkelt von der Zeit; und abgedunkelt war auch die seine Malerei.


Die verunglückte Auseinandersetzung

Trotz des Schmerzes, den ihm das Fallen verursachte, erhob sich Nikolai Apollonowitsch sofort vom Parkettboden des Lichutinschen Arbeitszimmers und sah sich ängstlich nach einem Verteidigungspunkt um; diesen entdeckte er in einem schweren eichenen Lehnstuhl, der vor dem Schreibtisch stand, und hinter diesen flüchtete er; er sah komisch genug aus mit dem bebenden Kinn, den deutlich zitternden Fingern, von dem einzigen, instinktiven Streben erfüllt — noch rechtzeitig das Ziel zu erreichen: sich an den Lehnstuhl zu klammern. Hier würde er dem herannahenden Feinde ausweichen können; nach links, nach rechts, je nachdem von welcher Seite der Angriff nahen würde.

Oder: er könnte den Lehnstuhl als Waffe benützen; den Feind durch einen Stoß mit den Stuhlbeinen zu Boden werfen und, ehe dieser sich aufrichtet, das Fenster erreichen . . .

Schwer atmend und hinkend gelangte er an den Lehnstuhl.

Doch kaum hatte er ihn erfaßt, als er auf seinem Halse den sengenden Atem des Offiziers verspürte; er drehte sich um und erblickte ein verzerrtes Gesicht sowie eine gehobene Hand, deren fünf Finger auf seine Schulter niederzufallen bereit waren; das vor Wut gerötete Gesicht des Rächers starrte ihn mit versteinertem Blick an; niemand hätte in dieser Physiognomie das harmlose Gesicht des Offiziers wiedererkannt, der ehedem gleichmütig ein Zwanzigkopekenstück nach dem anderen als Strafe für dumme Witze an die Kasse seiner Gattin zahlte. Es war nicht eine Hand mit fünf Fingern, sondern eine Tatze, die die Schulter zermalmen müßte, wenn sie auf diese niederhieb. Behende sprang Ableuchow über den Lehnstuhl hinüber.

Die fünffingerige Tatze fiel auf den Lehnstuhl.

Ein Krachen ertönte; der Lehnstuhl stürzte um; eine unmenschliche, gellende Stimme drang an Ableuchows Ohr:

». . . denn da wird eine Menschenseele vernichtet!«

Eine ungelenke Gestalt jagte hinter der kleinen davoneilenden Figur her; aus dem geöffneten speichelnden Mund kamen heisere, gurgelnde Laute, wie ein dünnes Krähen, stimmlos und rot:

»Ich habe mich eingemengt . . . weil . . . verstehen Sie? . . . Diese ganze Sache . . . Diese Sache . . . das ist . . . Verstehen Sie es? . . . Das ist so etwas . . . Mich geht es persönlich nichts an . . . Ich bin ein Unbeteiligter . . . Aber — verstehen Sie? . . .«

Der irrsinnig gewordene Offizier hob über seinem Opfer die nervös zitternden Fäuste, und während es eine klatschende Ohrfeige erwartete, fuchtelte er mit ihnen in der Luft; der zu einem Häufchen Muskeln zusammengeschrumpfte Ableuchow wand und krümmte sich; aus seinem feige fletschenden Munde kamen stoßweise Worte:

»Ich verstehe es . . . Ich verstehe schon, Ssergeij Ssergeijewitsch . . . Beruhigen Sie sich, aber . . . Ich bitte Sie, nicht so laut . . .«

Er glitt in die Ecke und kauerte dort von Schweiß übergossen nieder.

Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und sich die Ohren zugestopft, um ja nicht das halbwahnsinnige, rote Gesicht zu sehen und die krähende, tonlose Stimme hören zu müssen:

»Aah . . . Eine solche Sache . . . da muß jeder anständige Mensch . . . aah . . . jeder anständige Mensch . . . muß da eingreifen . . . ohne auf seine Stellung . . . ohne auf die Etikette zu achten . . .«

Nikolai Apollonowitsch dachte:

»Soll ich jemand zu Hilfe rufen?

Aber wen? Nein, es ist zu spät: noch ein Augenblick, und alles wird zu Ende sein!«

Er öffnete die Augen — und erblickte über sich (er kauerte ja noch immer am Boden) zwei weit auseinander gespreizte Beine; ohne sich lange zu besinnen, entschloß er sich: mit fletschendem, gleichsam lachendem Mund, mit flachsweiß wehenden Haaren schwang er sich zwischen den zwei Beinen hindurch und rannte wie ein Pfeil zur Tür; doch . . . fünf Finger erfaßten ihn schmachvoll beim Schoß seines Rockes; sie klammerten sich fest und — knackend riß der kostbare Stoff entzwei.

»Bleiben Sie doch . . . bleiben Sie doch . . . Ich . . . ich . . . ich . . . töte Sie doch nicht . . . Bleiben Sie doch . . . Es drohen Ihnen keine Gewalttätigkeiten . . .?«

Durch einen groben Stoß wurde Nikolai Apollonowitsch wieder in die Ecke geschoben, so daß er mit dem Rücken an die Wand anschlug; dort in der Ecke blieb er stehen, schwer atmend, fast weinend über die Garstigkeit der Szene; er begriff nun: es war nicht Lichutin, der von ihm beleidigte Offizier, der hier tobte, ja nicht einmal ein von Rachegefühlen gepeitschter Feind, sondern ein Geistesgestörter, mit dem man nicht reden kann; noch hatte sich der Irrsinnige, der ja als solcher kolossale Muskelkraft besitzt, nicht über ihn gestürzt; aber er wird es gleich tun, sicherlich.

Der Irrsinnige aber wandte sich um; ging auf den Fußspitzen zur Tür, und knacks — wurde der Schlüssel umgedreht; jenseits der Tür hörte man unruhige Laute, als weine jemand. Dann war alles still. Ein Rückzug war nicht mehr möglich; außer durchs Fenster.

Schwer atmeten zwei im abgesperrten Zimmer: ein Vatermörder und ein Halbwahnsinniger.


Das Zimmer mit dem abgefallenen Stuck an der Decke war leer; vor der Tür zum Zimmer des Hausherrn lag ein breiträndiger weicher Hut, von der Chaiselongue hing ein Stück des phantastischen Überwurfes herunter; als aber aus dem Arbeitszimmer des Gatten ein Laut wie vom Aufschlagen mit etwas Schwerem ertönte, öffnete sich die Tür aus Sofja Petrownas Zimmer, und Sofja Petrowna in Hauspantöffelchen, die Haare wie eine schwarze Kaskade über den Rücken gleiten lassend, trat hervor, ihr schmales Stirnchen war sichtlich in Falten gelegt.

Sie näherte sich ganz leise der Tür, kauerte nieder und sah durch das Schlüsselloch; sie sah: zwei Paar Beine, die sich gegen die Zimmerecke wälzten; dann sah sie die Beine nicht mehr, wohl aber vernahm sie eine aus der Ecke kommende, seltsam gurgelnde, krähende, rollend-flüsternde Stimme; und wieder zeigten sich zwei Beine, die sich gegen die Tür bewegten, dann drehte sich, direkt vor Sofja Petrownas Augen, der Schlüssel um.

Sofja Petrowna begann zu weinen und sprang von der Tür fort; da erblickte sie eine weiße Schürze und eine Schmetterlingshaube: es war Marwruscha, die hinter ihrem Rücken stehend sich das schneeweiße Schürzchen vor das Gesicht hielt und — weinte:

»Was geht denn dort vor? . . . Liebe, gnädige Frau . . .«

»Ich weiß nicht . . . Ich weiß gar nichts . . . Was ist das nur? Was machen sie dort, Marwruscha?«


Der Halbwahnsinnige fuhr fort mit den Händen in der Luft herumzufuchteln; er flüsterte ununterbrochen etwas und schritt in Diagonalrichtung durch das schwüle Zimmerchen, von einer Ecke zur anderen. Nikolai Apollonowitsch, noch immer an der Wand in der Ecke stehend, beobachtete seinen wahnsinnigen Feind, der ja jeden Augenblick zu einem wilden Tier werden konnte.

Jedesmal wenn die Hand oder der Ellbogen des Wahnsinnigen eine scharfe Kurve machte, fuhr der an der Wand Stehende zusammen. Aber der besessene Offizier verfolgte ihn nicht mehr, er ließ sich in den Lehnstuhl nieder und kehrte seinem Opfer den Rücken zu; seine Ellbogen auf die Knie stützend, den Rücken gekrümmt, den Kopf tief in den Schultern vergraben, seufzte er und versank in tiefe Nachdenklichkeit.

Auf einmal stöhnte er:

»Allmächtiger Gott!«

Und wieder ein Stöhnen:

»Steh uns bei und beschütze uns!«

Nikolai Apollonowitsch benutzte dieses stille Delirium.

Er schob sich ein wenig vor und streckte sich; der Offizier wandte sich nicht um: der Paroxismus schien den Höhepunkt überschritten zu haben und war jetzt im Abnehmen; lautlos humpelte nun Nikolai Apollonowitsch zum Schreibtisch; er sah komisch genug aus in elegantem Gehrock mit abgerissenem Schoßteil, mit glänzenden Gummischuhen an den Füßen und herunterbaumelndem Kragenschal um den Hals.

Er erreichte den Schreibtisch: hier blieb er einen Augenblick stehen und horchte auf den Atem und das murmelnde Beten des Geisteskranken; dann streckte er vorsichtig den Arm und suchte den Briefbeschwerer zu ergreifen; wie fatal: über dem Briefbeschwerer lag ein ganzer Stoß mit Briefbogen.

Wenn sein Ärmel nur diese nicht streifte!

Aber tückischerweise hat der Ärmel doch das Papier gestreift; die Papierbogen fuhren auseinander und knisterten verräterisch; das riß den Leutnant aus seiner Nachdenklichkeit; sein Kopf wandte sich und erblickte Nikolai Apollonowitsch mit vorgestrecktem Arm, den Briefbeschwerer in der Hand; Nikolai Apollonowitsch blieb das Herz stehen; er sprang vom Tisch zurück und drückte den Briefbeschwerer fest in der Hand — für alle Fälle.

In zwei Sprüngen war Ssergeij Ssergeijewitsch neben Ableuchow, ließ seine Hand auf dessen Schulter fallen: »So — nun geht es wieder an.«

»Ich muß Sie um Verzeihung bitten . . . Ich war etwas aufgeregt: entschuldigen Sie . . .«

»Beruhigen Sie sich . . .«

»Die Sache war aber zu ungewöhnlich . . . Aber um Gottes willen, fürchten Sie sich doch nicht . . . Warum zittern Sie? . . . Mir scheint, ich flöße Ihnen Angst ein . . . Ich . . . ich . . . habe Ihnen den Rockschoß abgerissen: das . . . geschah ohne meinen Willen . . . weil Sie, Nikolai Apollonowitsch, sich vor der Unterredung drücken wollten . . . Begreifen Sie doch, daß Sie mir in der Sache eine Erklärung schuldig sind . . .«

»Aber ich bin ja bereit«, empörte sich Nikolai Apollonowitsch. »Über den Domino sagte ich Ihnen schon auf der Treppe; ich wollte Ihnen gern alles erklären, aber Sie ließen mich nicht dazu kommen . . .«

»Hmm . . . ja, ja . . .«

»Glauben Sie mir: die Geschichte mit dem Domino liegt nur an der Übermüdung meiner Nerven; ich habe das Ihnen gegebene Versprechen nicht überschritten: es war nicht mein freier Wille, daß ich plötzlich im Stiegenhaus erschien, es war . . .«

»Also wegen des Rockes entschuldigen Sie«, unterbrach ihn Lichutin wieder und zeigte hiermit aufs neue, daß er einfach ein unzurechnungsfähiger Mensch war . . . »Der Rockschoß wird Ihnen angenäht; ich mache es, wenn Sie wollen, selbst: ich habe eine Nadel und Zwirn . . .«

»Das fehlte noch!« Ableuchow sah forschend den Offizier an: der Paroxysmus schien doch wirklich vorüber zu sein.

»Aber das, Ssergeij Ssergeijewitsch, ist eigentlich . . . Das ist eine Lappalie . . .«

»Ja, ja: das ist weiter nichts . . .«

»Was unser Thema betrifft: daß ich mich im Stiegenhaus einfand . . .«

»Aber es handelt sich doch gar nicht um das Stehen im Stiegenhaus!« wehrte geärgert der Offizier ab und begann aufs neue, in Diagonalrichtung durch das kleine Zimmer zu schreiten.

»Na, ich meine: was Sofja Petrowna betrifft . . .« Mutiger geworden trat Ableuchow ein wenig aus der Ecke vor.

»Es handelt sich nicht um . . . nicht um . . . Sofja Petrowna,« schrie ihn der Offizier an, »Sie haben mich vollständig mißverstanden!«

»Aber um was denn?«

»Das ist ja alles — nichts . . . Das heißt — nichts im Vergleich zu der Sache, um die es geht . . .«

»Was meinen Sie damit?«

»Die Sache ist« — der Offizier blieb vor Ableuchow stehen und saugte sich mit seinen blutangelaufenen Augen an die erschrockenen Augen seines Partners fest . . . »die Sache ist, daß Sie nun eingesperrt sind . . .«

»Aber . . . warum bin ich eingesperrt?« Die Hand griff den Briefbeschwerer fester . . .

»Warum ich Sie eingesperrt habe? Warum ich Sie sozusagen mit Gewalt hierher gelockt habe? . . . Ha, ha, ha: Das steht in gar keiner Beziehung zum Domino oder zu Sofja Petrowna . . .«

Durch Ableuchows Kopf ging es: »Er ist total verrückt; er hat alle Zusammenhänge verloren, er folgt nur krankhaften Assoziationen: er hat, wie es scheint, doch vor, mich . . .«

Als hätte Ssergeij Ssergeijewitsch seine Gedanken erraten, beeilte er sich, ihn zu beruhigen, aber das klang eher wie Hohn oder boshafter Spott:

»Ich wiederhole: Sie sind hier in vollständiger Sicherheit. . . Nur der Rock . . .«

»Der verhöhnt mich!« dachte Nikolai Apollonowitsch, und ein ebenfalls wahnsinniger Gedanke flog durch sein Hirn: dem Offizier einen Hieb mit dem Briefbeschwerer auf den Kopf zu versetzen; dem so Betäubten die Hände zu binden und sich in dieser Weise das Leben zu retten, das er schon deswegen braucht, weil . . . ja . . . weil ja . . . die Bombe . . . im Schreibtisch noch immer . . . tickte . . . tickte . . .

»Also Sie werden von hier nicht weggehen . . . Ich aber werde mit einem Brief von Ihnen, den ich diktiere — mit Ihrer Unterschrift . . . Ich werde dann in Ihre Wohnung gehen und in Ihrem Zimmer nachsehen . . . Zwar war ich heute schon dort, habe aber nichts gefunden . . . Ich werde alles durchsuchen, und wenn ich nichts finde, dann warne ich Ihren Vater . . . denn« — er rieb sich die Stirn — »es handelt sich nicht um Ihren Vater; es handelt sich um Sie: ja, ja, ja — es handelt sich einzig und allein um Sie, Nikolai Apollonowitsch!«

Er bohrte sich mit dem knochigen Finger in die Brust und stand, eine Augenbraue hochgezogen (nur eine Braue hochgezogen) da.

»Das wird nicht geschehen, Nikolai Apollonowitsch! Das wird nie und nimmer geschehen!«

Und in dem glattrasierten, roten Gesicht spiegelte sich:

— ?

— — ?

Nein, der ist total verrückt!

Sonderbarerweise wurde aber Nikolai Apollonowitsch von diesem Wahnsinnsdelirium in Spannung versetzt; er horchte auf: Ist es auch wirklich Delirium? Es scheinen eher, Anspielungen zu sein, unzusammenhängend ausgesprochene Anspielungen aus etwas; doch — worauf? Am Ende — auf . . . auf . . . auf?

Ja, ja, ja . . .

»Aber Ssergeij Ssergeijewitsch, wovon reden Sie denn eigentlich?«

Sein Herz hörte auf zu schlagen; er hatte das Gefühl, als umspanne seine Haut nicht einen Körper, sondern einen Kieselsteinhaufen; und an Stelle des Hirns hatte er auch nur Kieselsteine.

»Wovon ich spreche? Aber von der Bombe . . .« — Äußerst verwundert trat Ssergeij Ssergeijewitsch zwei Schritte zurück.

Der Briefbeschwerer entfiel Ableuchows Hand . . .


»Ich bin erstaunt, Ssergeij Ssergeijewitsch . . . Wie konnten Sie glauben, daß ich . . . daß ich . . . Wie konnten Sie annehmen, daß ich mich für eine solche Schufterei hergeben werde . . . Ich bin doch — kein Schurke . . . Ich glaube doch, kein gänzlich Verworfener zu sein, Ssergeij Ssergeijewitsch.«

Nikolai Apollonowitsch schien nicht weiter sprechen zu können; er wandte sich ab; nach einer Weile kehrte er wieder sein Gesicht dem Offizier zu.

In der schattigen Ecke zeichnete sich stolz die gekrümmte Figur, — wie es dem Offizier schien — aus fließenden Helligkeiten, ein schmerzhaft lächelnder Mund, kornblumenblaue Augen; die flachsweißen Haare wie eine lichte Aureole um den Kopf; die Stirn glänzend weiß und hoch; empört, beleidigt, schön, stand er dort, gehoben durch den grellroten Fond der Tapete.

Der seidene Kragenschoner baumelte sehr unangebracht herunter und seinem Rock fehlte — ach! — die eine Schoßhälfte . . .

So stand er: aus den tiefen Augenhöhlen blickte auf den Offizier eine kalte, dunkle Leere; sie schmiegte sich an ihn, gab ihm die Empfindung des Eises. Lichutin schien es, als wäre er mit all seiner physischen Kraft, seinem gesunden Verstand (denn er glaubte gesunden Verstand zu besitzen), mit all seinem Edelmut nur — ein Gespenst.

»Aber ich glaube Ihnen, ich glaube Ihnen« — verlegen fuchtelte Lichutin mit den Händen.

»Ich habe eigentlich«, sagte er ganz beschämt, »gar nicht gezweifelt . . . Ich muß mich wirklich schämen . . . Ich bin etwas aufgeregt . . . Mir erzählte meine Frau . . . Man hat ihr einen Zettel aufgenötigt . . . Sie las ihn durch: sie hatte das Kuvert aus Versehen aufgemacht« — log er dazu und errötete.

Ableuchow klammerte sich schadenfroh an das Gesagte:

»Gewiß: wenn Sofja Petrowna den an mich adressierten Zettel gelesen hat, dann hatte sie« (er zuckte mit den Achseln) »wohl das Recht gehabt« (seine Stimme klang hier sehr ironisch), »Ihnen den Inhalt mitzuteilen.« Ganz hochmütig ließ er die letzten Worte fallen und trat aus der Ecke.

»Ich . . . ich . . . war etwas hitzig gewesen.« Des Offiziers Blick streifte den abgerissenen Schoßteil.

»Was den Rock betrifft — haben Sie keine Sorge: ich nähe den Schoß selbst wieder an.«

Aber mit kaum merklichem Lächeln sprach Nikolai Apollonowitsch, stolz und etwas belehrend:

»Sie wußten nicht, was Sie taten.«

In den tiefblauen Augen lag eine unklare, geheimnisvolle Traurigkeit.

»Also gehen Sie doch, zeigen Sie mich an, wenn Sie mir nicht glauben.«

Und er wandte sich ab.

Die breiten Schultern begannen auf und ab zu gehen . . . Nikolai Apollonowitsch brach plötzlich in Weinen aus; aber: Nikolai Apollonowitsch, der sich von seiner groben, tierischen Angst befreit hatte, gewann völlig Mut; ja noch mehr: in diesem Augenblick wünschte er sogar, der Leidende zu sein. So wenigstens empfand er jetzt sich selbst, er empfand sich als einen der Qual überlieferten Helden; als einen, der vor aller Welt Leiden und Schmach erdulden mußte; seinen Körper empfand er als — zerquälten Körper; seine Gefühle waren zerrissen wie sein »Ich«; er erwartete, daß aus seinem zerrissenen »Ich« eine blendende Helligkeit hervorsprühen und eine liebe Stimme — aus dem Inneren, wie schon so oft früher — ihm zurufen wird:

»Du hast für mich gelitten: ich wache über dich.«

Aber die Stimme blieb aus. Auch die Helligkeit blieb aus. Es gab nur Dunkelheit. Auf einmal begriff er, warum die versöhnende Stimme: »Du hast für mich gelitten«, — ausblieb. Weil er für niemand gelitten hatte, weil er nur für sich selbst gelitten hat . . . Weil er nur eine widerwärtige Suppe sozusagen, die er sich selbst eingebrockt, auszulöffeln hatte. Deswegen kam die Stimme nicht und blieb auch die Helligkeit aus. An Stelle des früheren »Ich« war Dunkelheit. Deswegen konnte er nicht mehr standhalten: seine breiten Schultern begannen auf und ab zu gehen.

Er wandte sich ab, er weinte.

»Wirklich,« ertönte hinter ihm eine friedliche, milde Stimme, »ich habe mich geirrt, ich habe die Sache mißverstanden . . .«

Aber in der Stimme klang auch Ärger; Scham und Ärger. Ssergeij Ssergeijewitsch biß sich fest auf die Lippen; in seinem Gesicht malte sich ein Kampf zwischen edelsten Gefühlen und häßlichen Erinnerungen; sein Gegner aber wandte ihm den Rücken zu, weinte und ließ mit sehr unangenehmer Stimme Worte fallen.

»Sie benutzten Ihre physische Übermacht, um mich . . . vor einer Dame . . . dahinzuschleifen, wie . . . wie . . .«

Die edlen Gefühle haben die Oberhand gewonnen; mit ausgestreckter Hand schritt Ssergeij Ssergeijewitsch Lichutin durch das Zimmer; aber Nikolai Apollonowitsch, der sich umgewandt hatte, sagte mit einer Stimme voll verhaltener Wut und — ach! — verspätetem Selbstgefühl:

»Wie . . . wie . . . einen Mehlsack . . .«

Hätte auch er die Hand ausgestreckt — Ssergeij Ssergeijewitsch wäre der glücklichste Mensch, in seinem Gesicht würde sich Milde spiegeln; seine edle Aufwallung hatte aber in dunkle Leere getroffen.

»Sie wollten sich überzeugen, Ssergeij Ssergeijewitsch? . . . Daß ich — kein Vatermörder bin? . . . Nein, nein, Ssergeij Ssergeijewitsch, Sie hätten sich vorerst überlegen sollen . . . Sie aber haben mich . . . wie einen . . . einen Mehlsack . . . Und haben mir den Rock zerrissen . . .«

»Den Rock kann man ausbessern!«

Und ehe Nikolai Apollonowitsch zu sich kam, lief Lichutin zur Tür:

»Marwruscha, einen schwarzen Faden! . . . Eine Nadel!«

Die aufgerissene Tür traf beinahe Sofja Petrowna, die dahintergestanden und gehorcht hatte; ertappt sprang sie auf die Seite, doch — zu spät; nun stand sie da, rot wie eine Pfingstrose und maß beide mit wütendem, vernichtendem Blick.

Auf dem Boden, zwischen den drei Dastehenden lag das abgerissene Stück vom Rock.

»Du . . . Sonetschka . . .«

»Sofja Petrowna! . . .«

»Ich habe Sie gestört? . . .«

»Sieh mal, . . . Nikolai Apollonowitsch . . . hat ein Stück von seinem Rockschoß verloren . . . Könnte man nicht . . .«

»Beunruhigen Sie sich nicht, Ssergeij Ssergeijewitsch . . . Ich bitte, Sofja Petrowna . . .«

»Könnte man nicht — ihm diesen annähen?«

Aber Nikolai Apollonowitsch, mit vor Verlegenheit verzerrtem Mund, begab sich rasch in das Fuji-Jama-Zimmer; er griff nach seinem italienischen Überwurf, und erst da bemerkte er, daß die Decke in diesem Zimmer beschädigt war; aus Höflichkeit wandte er das verzerrte Gesicht Sofja Petrowna zu:

»Das Zimmer hat sich etwas verändert . . . An der Decke ist . . . Sie lassen Reparaturen ausführen?«

»Das war ich, Nikolai Apollonowitsch . . . Ich habe an der Decke gearbeitet.«

Bei sich aber dachte er:

»So, so: in der Nacht ist mir das Erhängen mißlungen, jetzt die Auseinandersetzung . . .«

Nikolai Apollonowitsch verließ humpelnd den Salon; sein Überwurf glitt ihm auf einer Seite von der Schulter und zog sich wie eine phantastische Schleppe hinter ihm her.


Von den Notabenen, Fragezeichen, Paragraphen, von der nun letzten Arbeit erhob sich der kahle Kopf; dann sank er wieder; im Kamin prasselte und lohte das Feuer; mit boshaft herausforderndem Lächeln und zusammengekniffenen Augen starrte der kahle Kopf in den Kamin.

Was ist das?

Ein schmerzhaft lächelnder Mund, Augen von kornblumenblauer Farbe, Haare wie eine lichte Aureole um den Kopf; der Senator erblickte in der Flamme des Kamins eine Gestalt: Nikolai Apollonowitsch, gekreuzigt, leidend, von Helligkeit schimmernd; er zeigte mit den Augen auf seine roten Wunden an den Handflächen; von oben aber schüttete ein beflügelter Erzengel kühlende Tautropfen über ihn, in die Glut des Kamins . . .

»Er weiß nicht, was er tut . . .«

Plötzlich begann es zu krachen, zu zischen, die Helligkeiten zerrissen und mit den Funken zerstob die leidvolle Gestalt.


Eine Viertelstunde später befahl Apollon Apollonowitsch dem Kutscher, anzuspannen; eine halbe Stunde danach bestieg er den Wagen und noch in einer Viertelstunde danach wurde sein Wagen von einer gaffenden Menge im Weiterfahren behindert; doch: war es wirklich eine nur gaffende Menge?

Es schien etwas vorgefallen zu sein.

Nur durch die dünne Wand des Wagens war Apollon Apollonowitsch von der rebellischen Menge getrennt; durch die Scheibe sah er lauter Köpfe: Hüte, Mützen und mandschurische Pelzmützen; ganz in der Nähe erblickte er ein Paar zornblitzende Augen; er sah den weit aufgerissenen Mund des Lumpenkerls: der Lumpenkerl sang. Der Lumpenkerl rief ihm zu:

»Steigen Sie nur aus, es gibt keine Durchfahrt mehr.«

Der Stimme des Lumpenkerls gesellten sich weitere von ebensolchen Lumpenkerlen hinzu.

Da mußte Apollon Apollonowitsch seine Wagentür aufmachen; die Lumpenkerle sahen, wie ein alter Mann, dessen Oberlippe zitterte, aus dem Wagen stieg und mit der behandschuhten Hand den Rand seines Zylinderhutes hielt. Apollon Apollonowitsch sah vor sich aufgerissene Münder und eine Holzstange, von der, wellenartig die Luft durchschlagend, mit leichtem pfeifenden Geräusch ein rotes Tuch flatterte; aus der Menge ertönte es plötzlich:

»He, Hut ab!«

Apollon Apollonowitsch nahm seinen Zylinder ab und begann eilig, Wagen und Kutscher verlassend, sich durch die Menge zu drücken, um das Trottoir zu erreichen; bald lief er dann mit kleinen Schrittchen in die entgegengesetzte Richtung, von der Menge fort; aus den Läden, Häusern, Wirtshäusern, Seitengassen strömten schwarze Gestalten und versperrten den Weg; er arbeitete sich mit allen Kräften durch und erreichte — endlich — eine leere Seitenstraße, aus der eine . . . Abteilung Kosaken . . . dorthin . . . sprengte . . .


Verschwunden waren die Kosaken; die Straße war leer; man sah in der Ferne noch die Rücken der Reiter; und in der anderen Richtung den Rücken eines alten, eilig dahintrottenden Mannes mit hohem Zylinder auf dem Kopfe.

Das kleine Patiencespiel

Der Samowar dampfte auf dem Tisch; ein neuer, schön geputzter Samowar glänzte in der Ecke auf der Etagere; der aber, der auf dem Tische stand, war ungeputzt und schmutzig; der neue Samowar wurde nur aufgestellt, wenn Besuch da war; war man allein, dann kam das verbogene Ungetüm auf den Tisch; es keuchte und schnarchte laut; hie und da schossen rote Funken aus ihm hervor. Irgendeine schlecht erzogene Hand hatte Kugeln aus Weißbrot gerollt, die jetzt, platt gedrückt, an der Tischdecke klebten; unsauber — grau hob sich ein feuchter Fleck unter einem nicht ganz geleerten Teeglas ab; auf einem Teller lag der Rest eines Kotelettes und ein wenig kaltes Kartoffelpüree.

Wo sind die üppigen Haare der Soja Sacharowna? Statt ihrer war nur ein kleines Zöpfchen zu sehen.

Wahrscheinlich trug Soja Sacharowna eine Perücke — natürlich wenn Besuch da war; nebenbei wahrscheinlich schminkte sie sich ausgiebig, denn wir hatten sie immer als üppige Brünette mit glatter, emaillierter Haut gesehen; jetzt aber saß eine einfache, ältliche Frau da mit schwitzender Nase und einem Mäuseschwanzzöpfchen; sie trug eine eben nicht gerade saubere Nachtjacke.

Lipantschenko saß halb abgewandt vom Teetisch, den viereckigen Rücken Soja Sacharowna und dem Samowar zugekehrt. Vor ihm lagen die aufgeschlagenen Karten; er hatte nach dem Abendbrot seine Lieblingsbeschäftigung, das Patiencespiel, aufgenommen, das so sehr beruhigend auf die Nerven wirkte; aber er war gestört worden; durch ein langes Gespräch mit Soja Sacharowna, bei dem er die Karten, den Tee und alles andere beiseite ließ.

Nach dem Gespräch hatte er sich abgewandt: er hatte dem Gespräch den Rücken zugewandt.

Er saß ohne Kragen, ohne Rock, mit aufgeschnalltem Hosengürtel, der ihm wahrscheinlich den Leib zu sehr gedrückt hatte.

Gerade hatte ihn ein verdächtiger schwarzer Fleck an der Wand neben der Uhr gefesselt, der unzweifelhaft eine Küchenschabe war (es gab ihrer reichlich in dem Landhaus), als er wieder durch seine Lebensgefährtin aufgeschreckt wurde.

Soja Sacharowna schob so laut das Teetablett von sich, daß Lipantschenko zusammenfuhr.

»Na, und was ist eigentlich dabei? . . . Was ist dabei? . . .«

»Was denn?«

»Darf denn nicht eine Frau, eine treue Frau, eine vierzigjährige Frau, die Ihnen ihr Leben gewidmet hat, — eine Frau wie ich, eine . . .«

Ihre Ellbogen fielen auf den Tisch.

»Was murmeln Sie dort, meine Liebe? Sprechen Sie deutlicher . . .«

»Darf denn nicht eine Frau wie ich . . . eine bejahrte Frau . . . darf sie nicht fragen . . .«

Lipantschenko drehte sich in seinem Lehnstuhl um.

Die Worte schienen in ihm etwas geweckt zu haben; für einen Augenblick blitzte etwas wie Reue in seinem Gesicht auf; halb schüchtern, halb kindlich kapriziös zwinkerte er mit den Äuglein; er schien etwas sagen zu wollen, aber getraute sich doch nicht; er dachte langsam über etwas nach: vielleicht darüber — wie seine Lebensgefährtin ein Geständnis von ihm aufgenommen hätte; sein Kopf senkte sich; er keuchte und blickte verstohlen von unten herauf.

Aber die Anwandlung von Aufrichtigkeit verging bald; die Aufrichtigkeit selbst fiel zurück auf den dunkeln Grund der Seele. Er wandte sich wieder seinem Kartenspiel zu.

»Hm, ja, ja . . . Zu der roten die schwarze . . . Und wo ist nun die Dame? . . . hier ist die Dame . . . Jetzt kommt der Bub . . .«

Plötzlich warf er Sofja Sacharowna einen prüfenden, mißtrauischen Blick zu; seine kurzen, mit goldig glänzenden Haaren bedeckten Finger hoben die Karten ab.

»Das soll ein Spiel sein . . .« murmelte er zornig und legte die Karten reihenweise auf den Tisch.

Soja Sacharowna trug die saubergewischte Tasse zum Schrank, mit den Pantoffeln schlürfend.

»Und warum nur gleich böse sein?«

Die Pantoffel schlürften weiter im Zimmer:

»Ich bin gar nicht böse, Mütterchen« — und wieder warf er ihr einen prüfenden Blick zu; sie kreuzte die Arme über dem Leib, der, vom Korsett nicht beengt, sich behäbig rundete; ihr herunterhängendes Doppelkinn wiegte sich beim Gehen; sie näherte sich leise dem Sitzenden und berührte sanft seine Schulter:

»Sie hätten sich doch lieber erkundigen sollen, wieso ich darauf gekommen bin, Sie auszufragen? . . . Weil ich eben selbst von anderen gefragt werde . . . Die Leute zucken mit den Achseln . . . Da dacht ich mir, es ist doch besser, ich weiß alles . . .«

Lipantschenko biß sich auf die Lippen und fuhr fort, mit unruhiger Geschäftigkeit die Karten in Reihen zu legen.

Lipantschenko wußte, daß der morgige Tag für ihn von größter Wichtigkeit ist; gelingt es ihm nicht, sich reinzuwaschen, gelingt es ihm nicht, die Wucht der belastenden Dokumente irgendwie zu beseitigen — dann hat er ausgespielt: Er wußte das alles und pfiff jetzt nur ein wenig durch die Nase:

»Hm: ja—ja . . . Hier ist noch ein freier Platz . . . Nichts zu machen: der König muß hierher . . .«

Aber er hielt es nicht aus:

»Die Leute fragen Sie aus, sagen Sie?«

»Das dürfen Sie mir schon glauben — ja . . .«

»Kommen also Leute her, wenn ich nicht zu Hause bin? . . .«

»Freilich kommen sie und zucken mit den Achseln . . .«

Lipantschenko warf die Karten von sich:

»Es kommt doch heute nichts heraus!«

Er war sichtlich aufgeregt.

Plötzlich kam ein klirrender Laut aus dem Nebenraum, in dem Lipantschenkos Schlafzimmer war; als wäre dort das Fenster aufgemacht worden. Beide wandten die Köpfe in die Richtung des Schlafzimmers, beide schwiegen vorsichtig: was mochte das sein?

Wahrscheinlich Tom, der Bernhardiner.

»Aber begreifen Sie doch, komisches Frauenzimmer, daß Ihre Fragen . . .« — er erhob sich ächzend, sei’s, um nach der Ursache des Lärms zu sehen, sei’s, um einer Antwort auszuweichen.

». . . daß Ihre Fragen« — er trank einen Schluck ganz kalten Tee — »gegen die — Parteidisziplin verstoßen . . .« Er schritt gegen die offene Türe des Nebenzimmers, in die Dunkelheit . . .

»Aber was für Disziplin — mir gegenüber, Kolenka!« — Soja Sacharowna stützte das Gesicht mit den Händen und beugte den Kopf nach unten . . . »Bedenken Sie es doch . . .«

»Früher hatte es zwischen uns keine Geheimnisse gegeben . . .«

Das sagte sie zu sich selbst, denn Lipantschenko befand sich im dunkeln Schlafzimmer.

Aber bald erschien er wieder in der Tür und sie fuhr fort:

»Das hatten Sie mir nie gesagt, daß wir uns miteinander nicht unterhalten dürfen, daß Sie vor mir Geheimnisse haben . . .«

»Nichts weiter: es ist niemand im Schlafzimmer«, unterbrach er sie.

»Ich werde belästigt: man kommt mir mit Fragen, mit Anspielungen . . . Und diese Blicke oft . . .«

Pause.

»Sollte ich da nicht fragen? . . . Warum schrien Sie mich so an? Was hab’ ich gemacht, Kolenka? . . . Liebe ich Sie denn nicht? Respektiere ich Sie denn nicht?«

Sie schlang ihre Arme um seinen dicken Hals und schluchzte:

»Ich bin ein treues Weib, ein ergebenes Weib . . .«

»Lassen Sie es nur . . . Lassen Sie es nur . . . Schon gut . . . Soja Sacharowna, lassen Sie mich los . . . Sie wissen doch, daß ich an Atemnot leide . . .«

Er umfaßte mit den Fingern ihre Hände und entfernte sie vom Halse; dann ließ er sich in den Sessel nieder; er atmete schwer.

»Sie wissen ja, daß ich ein weicher und schwachnerviger Mensch bin . . . Jetzt bin ich schon wieder . . .«

Beide schwiegen.

In tiefem, schwerem Schweigen, das sich nach einem langen, erregenden Gespräch einstellt, wenn alles gesagt ist, wenn die Angst vor Worten schon erlebt war und nur noch dumpfe Resignation zurückblieb — in diesem tiefen Schweigen trocknete Sofja Sacharowna die Teetassen und die Löffel ab.

Er aber saß halb vom Tisch abgewandt und kehrte Sofja Sacharowna und dem schmutzigen Samowar den viereckigen Rücken zu.

Zeit, was hast du gemacht?

Die hellgrauen Augen, die Augen voll Humor und schlauer Lustigkeit — wie hast du sie in den fünfundzwanzig Jahren in die Höhlen hineingedrückt, mit einem gefährlichen Schleier, mit einem Dunst allermöglichen häßlichen Atmosphären überzogen . . . Fünfundzwanzig Jahre ist wohl eine lange Frist, und doch: so zu verfallen, so zu verwelken . . . Diese dicken Säcke unter den Augen, dieses fleischige Doppelkinn? Die damals rosige Gesichtsfarbe — gelb, ölig, welk, mit der grauen Blässe einer Leiche; die Stirn mit Haaren bewachsen, die Ohren — selbst diese sind gewaltig gewachsen; gibt es doch in der Welt einfache, anständig aussehende alte Leute? Und er ist ja noch nicht einmal ein alter Mann.

Was hast du gemacht, Zeit?

Der blonde zwanzigjährige Student mit rosiger Gesichtsfarbe, Lipensky: — gespensterisch aufquellend hatte er sich allmählich in einen fünfundvierzigjährigen, unanständigen Spinnenbauch verwandelt, der Lipantschenko hieß.

Das Schwanenlied

Der Busch kochte . . . Auf dem sandigen Strand krümmten sich da und dort kleine Teiche mit salzigem Wasser.

Von der Bucht her flogen immerzu weißmähnige Streifen; der Mond beschien sie, einen Streifen nach dem anderen, die in der Ferne aufstiegen und brodelten; dann flogen sie gegen den Strand und zerschellten hier in gischtige Flocken; die von der Bucht kommenden Streifen breiteten sich glatt auf dem flachen Strand — resigniert, durchsichtig; sie leckten den Sand, schnitten Stücke von ihm los: wurmten ihn; wie eine fein geschliffene, gläserne Säbelschneide glitt jeder von ihnen über den Sand hin; hie und da erreichte der gläserne Streifen die salzigen Teiche, sie mit salzgetränktem Wasser füllend.

Und schon lief er zurück; ein neuer brodelnd gischtiger Streifen löste ihn ab.

Der Busch kochte . . .

Hunderte von Sträuchern, hier — dort; in einiger Entfernung vom Meer streckten sie ihre knorrigen Arme vor; diese entblätterten Arme erhoben sich wie Bewegungen Geistesgestörter in der Luft; eine kleine schwarze Gestalt lief ängstlich hin und her zwischen den Sträuchern; im Sommer strömten sie ein süßes, leise raunendes Geflüster aus; jetzt war das Geflüster vertrocknet, und nur ein Knirschen und Ächzen erhob sich von der Stelle; Nebel stiegen da auf; Feuchtigkeiten stiegen da auf; die knorrigen Äste streckten sich aus dem Nebel und der Feuchtigkeit; neben der kleinen Gestalt streckte sich so ein vertrockneter Arm vor, von dünnen Ruten wie von Wolle überdeckt.

Die Gestalt neigte sich gegen einen Stamm, eingehüllt in schwarze Feuchtigkeit; sie versank in bittere Gedanken; und der widerspenstige Kopf fiel auf die Hände.

»Du, meine Seele,« — stieg es aus dem Herzen auf — »du, meine Seele, du hast mich verlassen . . . Gib mir Antwort, Seele: ich bin so arm . . .«

Es stieg aus dem Herzen auf:

»Vor dir kniet mein zerrissenes Leben . . . Gedenke meiner: ich bin so arm . . .«

Die Gestalt blieb stehen; sie streckte flehend die Hände gegen die leeren phosphoreszierenden Stellen zwischen den Ästen; sie streckte die Hände gegen das Licht, das dort aus dem Garten des kleinen Landhauses schimmerte:

»Aber höre, höre: auf einen bloßen Verdacht hin . . . Ohne seine Erklärung abzuwarten . . .«

Eine befehlende Hand zeigte gegen das erleuchtete Fenster hinter den schwarzen, knirschenden Sträuchern.

Da schrie die schwärzliche Gestalt plötzlich auf und stürmte vorwärts; und hinter ihr her stürzten die schwarzen Astgebilde, die zusammen mit dem sandigen Strand ein seltsames Ganze bildeten, aus dem heraus schauerliche, undefinierbare, nirgends vorhandene Bedeutungen entstanden; die schwärzliche Gestalt rannte mit der Brust an das Gitter eines Gartens an; sie kletterte über das Gitter und glitt lautlos, mit den Stiefeln an den bereiften Gräsern hängen bleibend zum grauen Haus, wo sie erst vor kurzem gewesen, wo aber jetzt alles für sie — ganz anders war.

Vorsichtig schlich sich die Gestalt bis zur Terrasse vor und drückte die Hand an die Brust; mit zwei Sprüngen war sie dann an der Glastür; der Vorhang war nicht zugezogen; hinter dem Fenster breitete sich Licht.

Dort sah man . . . —

Auf dem Tisch stand der Samowar; daneben stand ein Teller mit dem Rest eines Koteletts; man sah eine Frauennase und dazu ein unangenehmes, etwas verlegenes, verstimmtes Gesicht. Mit einem Arm auf den Tisch gestützt saß dort Lipantschenko; der andere Arm hing frei vom Sessel herunter, auffallend war die Breite der Handfläche, die Kürze der fünf Finger, die wie abgehackt aussahen . . . —

In zwei Sprüngen befand sich die schwarze Gestalt wieder in den Büschen; sie wurde von unbeschreiblichem Mitleid erfaßt; der Wind seufzte in den Zweigen; die Gestalt flüsterte leidenschaftlich in den Busch:

»Das geht doch nicht so einfach . . . Das geht doch nicht . . . Es ist ja noch nichts bewiesen . . .«


Lipantschenko wandte sich von der seufzenden Sofja Sacharowna ab und streckte die Hand nach der — denken Sie sich nur! — an der Wand hängenden Geige.

»Man hat draußen allerlei Unannehmlichkeiten zu ertragen, nun kommt man nach Hause und — nein so was . . .«

Er griff nach dem Stück Harz und begann wütend damit über den Bogen zu fahren; mit schüchterner Grimasse, die seiner Stellung in der Partei keinesfalls entsprach, begann er die Saiten zu probieren:

»Da kommt man einem mit verweintem Gesicht entgegen . . .«

Er drückte die Geige gegen den Leib und beugte sich über sie, tief; das breite Ende auf die Knie gestützt hielt er das schmale mit dem Kinn fest und zog an einer Saite:

Don! tönte es.

Sein Kopf neigte sich auf die Seite; mit fragendem, halb listigem, halb wehmütigem Ausdruck sah er Sofja Sacharowna an und schnalzte mit der Zunge; als ob er fragen wollte:

»Haben Sie gehört? Haben Sie gehört?«

Sie saß auf einem Stuhl; mit halb gerührtem, halb verärgertem Gesicht sah sie auf Lipantschenko und auf seine Finger, die die Saiten spannten.

»So ist’s besser!«

Und er lächelte; beide lächelten; beide nickten einander zu; er mit verjüngtem Gesichtsausdruck; sie mit einer Verlegenheit, hinter der sich Stolz und Verehrung verbarg.

»Ach, was sind Sie doch für ein unverbesserliches Kind!«

Bei diesen Worten drehte Lipantschenko, trotzdem er einem Nashorn ungemein ähnlich sah, mit behender, rascher Bewegung der linken Hand seine Geige um, drückte blitzschnell den breiten Geigenrand gegen die Schulter, auf die sein dicker Kopf niederfiel; die Finger umklammerten die Geigensehnen:

»Na also!«

Die Hand mit dem Bogen machte eine schwungvolle Bewegung und blieb — erstarb — in der Luft; mit zartester Berührung glitt dann der Bogen über die Saiten, ihm folgte die linke Hand, dann der ganze Arm; auch der Kopf und schließlich der ganze Körper neigten sich auf die Seite, dem Bogen nach.

Der Sessel unter Lipantschenko knirschte; dieser konzentrierte seine ganze Kraft darauf, einen recht zarten Ton von sich zu geben; im Zimmer erklang plötzlich seine heisere, aber nicht unangenehme Baßstimme:

»Laas aab von miir . . .«, sang Lipantschenko.

»Es ist umsonst«, fielen die zarten, leise seufzenden Saiten ein.

». . . aab von miir«, sang mit auf die Seite geneigtem Körper Lipantschenko, der in dem unstillbaren Bestreben aufzugehen schien: einen recht zarten Ton von sich zu geben.

In ihrer Jugend hatten sie oft zusammen diese Romanze gesungen, die man jetzt nicht mehr singt.


»Tsss!«

»Hörst du?«

»Das Fenster?«

»Ich will nachsehen, was das war.«


Der Busch kochte. Ein runder, stirnloser Knorren streckte sich gegen den Mond, vom einzigen Streben erfüllt: begreifen, um jeden Preis begreifen; begreifen oder in Stücke zerfallen; vom astreichen Stamm erhob sich dieser alte, stirnlose Knorren, von Moos und krustiger Rinde überwuchert; er streckte sich gegen den Wind; er flehte um Schonung — um Schonung, sei was will. Vom ästigen Stamm löste sich wieder die kleine Gestalt; sie schlich sich zum Fenster; jetzt war ihr der Rückzug abgeschnitten; es blieb ihr nichts weiter übrig als: das Begonnene zu vollenden. Jetzt befand sie sich . . . in Lipantschenkos Schlafzimmer. Voll Ungeduld erwartete sie sein Hereintreten.


Auch Schufte haben das Bedürfnis, sich ein Schwanenlied zu singen.

»Die Ve—erlok—kungen— früüheerer Taa—ge, sie sind deem Ent—täuschten freemd . . . Ich glau—beee den Schwüü—reen niicht mehr . . .«

»Ich glau—be—der—Liiebe nicht meeehr . . .«

Wußte er, was er sang? Und was er spielte? — Und warum er so traurig war? Warum seine Kehle sich schmerzhaft zusammenzog? . . . Lipantschenko verstand das ebensowenig, wie er die sanften Töne nicht verstand, die er aus der Geige hervorbrachte . . . Nein, sein Stirnknochen konnte es nicht verstehen: seine Stirn war schmal, mit Querfalten bedeckt: sie schien zu weinen.

So hat Lipantschenko an einem oktoberlichen Abend sein Schwanenlied gesungen.


Und? . . .

So!

Nun war er mit dem Singen und Spielen fertig; er legte die Geige auf den Tisch, wischte sich den Schweiß vom Gesicht; langsam wiegte sich sein unanständiger, spinnenartiger, fünfundvierzigjähriger Bauch; endlich nahm er ein Licht und begab sich in sein Schlafgemach; auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um, seufzte und überlegte sich etwas; Lipantschenkos ganze Gestalt sprach eine dumpfe, heimliche Trauer.

Und — er versank in Dunkelheit.

Die Kerzenflamme zerschnitt die vollständige Dunkelheit des Zimmers; das rotgelbe Licht verteilte sich in der höllischen Finsternis; und wie Radien um ein tanzendes Lichtzentrum bewegten sich Teile der Dunkelheit als Schatten der hier befindlichen Gegenstände; und hinter den dunklen, langgezogenen Dreiecken und den Schatten der Gegenstände erhob sich, von den Füßen Lipantschenkos jäh hervorgekrochen, die dicke Schattengestalt und begann sich geschäftig rasch im Kreise zu bewegen.

Über den Tisch und den Stuhl schwang sich die stumme, häßliche Schattengestalt auf die Wandfläche, in schräge Dreiecke zerteilt, qualvoll zerrissen, als ertrüge sie jetzt schon alle Qualen der Vorhölle.

So wird die Seele, den Körper wie einen unnötigen Ballast von sich abwerfend, von seelischen Wirbelstürmen erfaßt: die Wirbelstürme jagen den Seelenraum. Unser Körper ist nur ein Schifflein; und er rast durch den Seelenozean vom geistigen Festland zum — geistigen Festland.

So . . . —

Denken Sie sich ein unendlich langes Seil; und denken Sie sich Ihren Körper in der Mitte an das Seil festgebunden; dann wird das Seil um sich selbst gedreht — mit rasender, unbeschreiblicher, fabelhafter Geschwindigkeit; losgelassen beginnen Sie dann in immer sich erweiternden Kreisen, den Kopf nach unten, durch den Raum zu fliegen; Spiralen bildend fliegen Sie immer weiter bis zu den luftleeren Atmosphären; und Sie werden dann, ein Erdentrabant, sich immer weiter von der Erde entfernen und in die kosmischen Unermeßlichkeiten fliegen, den kosmischen Raum im Nu überwindend und zu diesem Raum selbst werdend.

Von so einem Wirbelsturm werden Sie erfaßt, wenn Ihre Seele den Körper als unnötigen Ballast von sich geworfen hat.

Dann: stellen Sie sich noch vor, daß jeder einzelne Punkt Ihres Körpers den wahnsinnigen Trieb bekommt, sich auszubreiten, sich maßlos grauenhaft auszubreiten (z. B. den Platz der Saturnbahn im Durchmesser einzunehmen); und denken Sie sich, daß sie dabei nicht einen Punkt Ihres Körpers, sondern alle zugleich empfinden, die aber bis zu solchem Grade erhitzt, verdünnt sind, daß Sonne und Planeten ganz frei zwischen den Molekülen Ihres Körpers hindurchgehen; denken Sie sich auch noch, daß Sie Ihre zentripetale Kraft völlig verloren haben und Ihr Körper in seinem Ausbreitungsbestreben in Teile zerrissen wird, einheitlich aber dabei nur das Bewußtsein bleibt: das Bewußtsein der zerrissenen Empfindungen.

Wie wären dann Ihre Empfindungen?

Wenn Sie sich diese Empfindungen körperlich vorstellen könnten, dann hätten Sie ein Bild von dem Leben der Seele bekommen, in ihrem ersten Stadium, nachdem sie sich vom Körper befreit . . .


Lipantschenko blieb in der Mitte des tanzenden Zimmers mit der flackernden Kerze in der Hand stehen; der massige Schattenkörper, Lipantschenkos Seele, hing mit dem Kopfe an der Zimmerdecke; Lipantschenko hatte weder für seinen Schatten noch für die Schatten der Gegenstände irgendwelches Interesse. Ihn interessierte vielmehr ein bekanntes und gar nicht geheimnisvolles Geräusch.

Er empfand einen besonderen Ekel vor Schaben; und jetzt sah er Dutzende dieser Geschöpfe; vom Licht überrascht huschten sie eilig in ihre Löcher zurück; und — Lipantschenko ärgerte sich:

»Ihr Verfluchten! . . .«

Er holte aus der Ecke einen Besen mit langem Stiel, den er dort stehen hatte.

»Na, wartet nur! . . .«

Er stellte die Kerze auf den Fußboden; mit dem Besen bewaffnet, erkletterte er einen Stuhl; der schwere, keuchende Körper streckte sich jetzt nach oben; die Blutgefäße schwollen ihm vor Anstrengung an, die Muskeln wurden ordentlich dick; er jagte mit dem Besen wie besessen hinter dem Haufen davoneilender Schaben her; eins — zwei — drei! — und es knackte unter dem Besen: knack, knack, an den Wänden, an der Zimmerdecke, in der Ecke, da, wo die Etagere stand.

»Acht . . . zehn . . . elf . . .« hörte man ein Flüstern; und nach jedem Knacken fielen schwarze Flecke auf den Boden.

Jeden Abend vor dem Schlafengehen vernichtete er gewohnheitsmäßig einen Haufen Schaben; dann erst begab er sich zu Bett.

Ehe er sich zu entkleiden begann, leuchtete er mit der Kerze unter das Bett (seit einiger Zeit war ihm das zur Gewohnheit geworden).

Jetzt saß er auf dem Bett mit auseinandergehaltenen Beinen, haarig und nackt; deutlich zeichneten sich auf seiner Brust die weiblich runden Formen.

Lipantschenko schlief nackt.

Der Kerze schräg gegenüber, zwischen der Fensterecke und dem Schrank, trat aus dem Dunkel der Nische eine sonderbare Figur hervor: die eine dort hängende Hose bildete; immer nahm sie die Gestalt — des sie Anblickenden an; wiederholt hatte Lipantschenko den Platz für seine Hose gewechselt; doch kam immer dasselbe heraus: immer nahm sie die Gestalt des sie Anblickenden an.

Das erblickte er auch jetzt.

Und als er seine Kerze ausgelöscht hatte, bewegte sich die Gestalt und zeichnete sich noch deutlicher vor ihm; er streckte die Hand nach dem Vorhang aus; kupfergrünes Licht ergoß sich ins Zimmer, von dort her, aus der Ferne, aus dem weißen Blei der Wölkchen stürzte die flammende Scheibe ins Zimmer herein; und . . .

Dort, vor der kupfergrünen Wand — dort! — stand die kleine Gestalt, mit kreidigem, totem Gesicht: wie ein — Clown; und lächelte mit weißen Lippen. Mit nackten Füßen eilte Lipantschenko zur Tür; er vergaß, daß er dieselbe geschlossen hatte, und stieß mit Brust und Bauch gegen sie an; da aber wurde er plötzlich zurückgerissen; ein siedend heißer Strahl übergoß seinen nackten Rücken vom Schulterblatt bis unten; er fiel aufs Bett, und es wurde ihm klar, daß ihm der Rücken durchschnitten wurde; so wird die weiße glatte Haut eines Ferkels durchschnitten; kaum hatte er begriffen, was mit ihm geschehen war, als er denselben siedenden Strahl — unter dem Nabel fühlte.

Und etwas zischte dort spöttisch hervor; irgendwo tauchte in ihm der Gedanke auf, daß es Gase wären, da ja sein Bauch aufgeschlitzt war; den Kopf über den unsinnig vorstehenden Bauch gebeugt, sank er schläfrig in sich zusammen und fuhr mit der Hand über die klebrige Flüssigkeit — auf seinem Bauch und auf dem Bettuch.

Das war Lipantschenkos letzter, bewußter Eindruck von der banalen Wirklichkeit; jetzt entströmte allmählich das Bewußtsein; seine ungeheure Peripherie sog in sich die Planeten ein; und empfand sie — als ihm gehörige, voneinander getrennte Organe; in den Erweiterungen des Herzens schwamm die Sonne; die Wirbelsäule glühte von der Berührung der Saturnmassen; im Bauch öffnete sich ein Vulkan.

Währenddessen saß der Körper mit sinnlos auf die Brust heruntergesunkenem Kopf, die Pupillen auf den eigenen, geschlitzten Bauch gerichtet; plötzlich fiel er um, mit dem Bauch gegen das Bettuch; der herunterhängende Arm berührte den mit Blut bedeckten Bettvorleger; der Kopf mit abstehendem Kiefer drehte sich seitwärts gegen die Wand und starrte mit unbeweglichen Pupillen die Tür an; die haarlosen Brauenbogen schimmerten in fettigem Glanz; auf dem Bettuch zeichneten sich die Spuren von fünf blutigen Fingern; irgendwo heraus ragte eine dicke Ferse.


Der Busch kochte; weißmähnige Streifen flogen von der Bucht her; sie erreichten das Ufer als bauschige Gischt; sie leckten den Sand; wie fein geschliffene, gläserne Messerschneiden glitten sie über den Sand; sie erreichten die kleinen, salzigen Teiche, füllten sie mit gelöstem Salz und liefen zurück. Durch das Astwerk des Busches sah man ein Fahrzeug auf den Wellen schaukeln — türkisblau, gespensterisch; seine spitzflügeligen Segel schnitten dünne Schichten von der Luft ab; der neblige Dunst schien auf der Oberfläche der Segel verdickt.


Als man am Morgen eintrat, gab es keinen Lipantschenko mehr, es gab nur — eine Blutlache, eine Leiche; dann fand man hier eine männliche Gestalt mit lächelndem, weißem Gesicht; diese Gestalt hatte ein kleines Schnurrbärtchen; das war nach oben gedreht; ganz seltsam: der Mann saß rittlings auf dem Toten; er hielt in der Hand eine Schere; diese Hand streckte er vor, von der Nase her über die Lippen kroch ihm eine Schabe.

Er schien geistesgestört zu sein.

Ende des siebenten Kapitels.

Achtes und letztes Kapitel

Erst aber . . .

Anna Petrowna!

Wir gedachten ihrer gar nicht mehr; sie war ja aber zurückgekehrt; und jetzt erwartete sie . . . Erst aber . . . —

— diese vierundzwanzig Stunden! —

— diese vierundzwanzig Stunden hatten sich in unserer Erzählung durch die Seelenräume ausgebreitet wie ein häßlicher Traum; und sie hatten unseren Gesichtskreis eingeengt; in diesen Seelenräumen hatte sich das Auge des Autors verloren; es hatte sich für alles andere geschlossen.

So war auch Anna Petrowna verschwunden.

Wie eine schwere, bleierne Wolke zog sich das bleierne Hirnspiel durch den engen, von uns selbst begrenzten Gesichtskreis — durch die vierundzwanzig Stunden — hoffnungslos, trostlos, öde! . . .

Doch war die Nachricht von Anna Petrownas Rückkehr in den rauh dahinflutenden, jeden Heils entbehrenden Geschehnissen wie der Schein eines milden Lichtes von irgendwoher aufgetaucht. Wir waren da von trauriger Nachdenklichkeit erfaßt worden — für einen kurzen Augenblick; dann vergaßen wir es wieder; wir hätten aber daran denken sollen . . . daß Anna Petrowna — zurückgekehrt war.

Diese vierundzwanzig Stunden! —

— von denen jeder Augenblick in unserer Erzählung voll war von Geschehnissen.

Doch war die Rückkehr Anna Petrownas eine Tatsache; und sogar eine sehr wichtige Tatsache; allerdings nicht von der furchtbaren Bedeutung wie die anderen von uns mitgeteilten Tatsachen.

Aber immerhin . . . —

Anna Petrowna war zurückgekehrt; von all den geschilderten Ereignissen wußte sie nichts, ahnte nichts von ihnen; es gab nur ein Geschehnis, das sie in Aufregung hielt: ihre Rückkehr; das müßte auch die geschilderten Personen in Aufregung versetzen; diese Personen müßten sofort auf das Geschehnis reagieren; sie mit Zetteln und Briefen überschütten, mit Freude- oder Zornäußerungen; aber die erwarteten Briefe und Boten blieben aus; von dem wichtigen Geschehnis nahm niemand Notiz, weder Nikolai Apollonowitsch, noch Apollon Apollonowitsch.

Anna Petrowna war traurig.


Sie ging nirgends aus; in einem Hotel von feinstem Genre bewohnte sie ein ganz kleines Zimmer; und Anna Petrowna saß stundenlang auf dem einzigen Stuhl, der sich hier befand; und Anna Petrowna saß stundenlang, die Augen auf die Tapete gerichtet; diese Tapete zog immer wieder ihren Blick an; sie übertrug den Blick auf das Fenster; aber vor dem Fenster erhob sich frech eine Mauer, die alle möglichen Töne der Olivenfarbe aufwies; an Stelle des Himmels war gelber Rauch . . .

Kein Brief, kein Besuch: weder vom Gatten, noch vom Sohn.

Von Zeit zu Zeit klingelte sie; es erschien eine leichtfüßige Person mit einer Schmetterlingshaube auf den Haaren.

Anna Petrowna bestellte — zum wievieltenmal schon!

»Bitte Thé complet, in mein Zimmer.«

Dann erschien ein Diener im Frack mit gestärkter Hemdbrust und glänzend frischer Halsbinde; das Riesentablett balancierte er, besonders betonend, auf den fünf Fingerspitzen; er warf einen verächtlichen Blick auf das kleine Zimmer, auf das wenig schicke Kleid seiner Insassin, auf die bunten spanischen Fetzen, die unordentlich auf dem breiten Doppelbett herumlagen, auf den etwas abgetragenen Reisekoffer; wenig ehrerbietig, doch geräuschlos stellte er das Riesentablett ab; und geräuschlos fiel auf den Tisch der Thé complet nieder. Geräuschlos entfernte sich der Diener.

Niemand, nichts; immer dieselbe Tapete; dasselbe Lachen aus dem Nachbarzimmer; die Unterhaltung der zwei Zimmermädchen im Korridor; irgendwo unten — Klavierspiel (einer zugereisten Pianistin, die für ihr Konzert heftig übte); der Blick streifte wieder — wie oft schon — das Fenster, aber hinter dem Fenster starrte eine freche Mauer in olivenfarbigen Tönen; statt der Sonne gelber Rauch . . .

Plötzlich klopfte es; aus Anna Petrownas Tasse ergoß sich der Tee auf die schneeweiße Serviette des Tabletts.

Das Zimmermädchen, eine Visitenkarte in der Hand, flog in das Zimmer herein; Anna Petrowna wurde glühend rot; geräuschvoll erhob sie sich; mit rascher Bewegung strich sie sich die Haare zurecht: eine Geste, die sie von ihrer Jugend her beibehalten hatte.

»Wo ist der Herr?«

»Der Herr wartet im Korridor.«

»Ich lasse bitten.«

Sie atmete rasch und wurde wieder rot.

Man hörte Lachen und Geräusch aus dem Nebenzimmer, die Unterhaltung zweier Zimmermädchen im Korridor, Klavierspiel, irgendwo im unteren Stockwerk; man hörte eilige, rasche, sich dem Zimmer nähernde Schrittchen; die Tür öffnete sich: Apollon Apollonowitsch Ableuchow stand an der Schwelle.


Das erste, was ihm auffiel, war die Ärmlichkeit des Zimmers, so ein Zimmer in einem erstklassigen Hotel! Na, darüber braucht man sich nicht zu wundern: solche Zimmer gibt es in allen erstklassigen Hotels der erstklassigen Hauptstädte, in jedem etwa eins oder höchstens zwei; sie werden aber in allen Führern annonciert. So lesen Sie z. B. in so einem Führer: »Savoy. Premier ordre. Chambres depuis 3 fr.« Das bedeutet aber, daß hier ein erträgliches Zimmer unter fünfzehn Franken nicht zu bekommen ist. Anstandshalber finden Sie aber hier ein regelmäßig unbewohntes unsauberes Dachzimmer, das mit dem »depuis trois francs« gemeint war. Wehe, wenn Sie sich entschließen, dieses halbdunkle, schlecht gelüftete, staubige Zimmer zu nehmen; die Verachtung des ganzen Hotels, der zahlreichen Zimmermädchen, Lakaien und bedienenden Knaben ist Ihnen gewiß.

Sie übersiedeln dann in ein nicht erstklassiges Hotel, wo sie für sieben bis acht Franken Ruhe, Behaglichkeit und Hochachtung genießen.

»Premier ordre — depuis trois francs« — Gott schütze Sie davor!

Bett, Tisch und Stuhl; auf dem Bette, unordentlich hingeworfen, ein Handtäschchen, Gepäckriemen, ein schwarzer Spitzenfächer, eine kleine venetianische Vase, über die ein — denken Sie sich nur! — ein Strumpf (aus reinster Seide) geworfen ist, ein Häufchen zitronengelber, schreiend greller Seidenfetzen; das alles dürfte, wie Apollon Apollonowitsch bei sich dachte, das Reisegepäck Anna Petrownas mit Souvenieren aus Granada, Toledo sein; diese Souveniere mochten früher einmal vielleicht teuer gewesen sein, jetzt aber haben sie ihren Glanz und Wert durchaus eingebüßt . . .

Die ihr vor kurzem nach Toledo gesandten dreitausend Silberrubel scheinen sie nicht erreicht zu haben.

In jedem Fall stand es einer Dame von ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht an, mit solchen Fetzen im Gepäck herumzureisen; und — ihm krampfte sich das Herz zusammen.

Dann erblickte er den Tisch mit dem glänzenden Thé complet, und zwei schneeweißen Servietten, die, zum Bereich des Hotels gehörend, zufällig (vielleicht aus Versehen) hierhergebracht wurden. Aus dem Schatten aber trat eine Silhouette hervor — und zum zweitenmal krampfte sich ihm das Herz zusammen; denn auf dem Stuhl — nein, nicht auf dem Stuhl! — vor dem Stuhl erblickte er die sich erhobene — war sie es wirklich? — Anna Petrowna.

— Er erblickte Anna Petrowna; bedeutend behäbiger, dicker und — mit auffallend vielen Graufäden im Haar. Eine betrübende Tatsache fiel ihm zu allererst auf: Nach dem zweieinhalbjährigen Aufenthalt in Spanien (und — wo noch, wo?) hatte sich ihr Doppelkinn erheblich vergrößert und hing jetzt über den Stehkragen herunter; ebenso vermochte das Korsett die merkliche Rundung des Leibes nicht zu verbergen; nur das Himmelblau der Augen in dem früher herrlichen, später noch immer schönen Gesichtchen hatte seinen Glanz nicht verloren; in ihren Tiefen spiegelten sich jetzt die kompliziertesten Gefühle: Schüchternheit, Zorn, Mitgefühl, Stolz, Verlegenheit (wegen der Ärmlichkeit des Zimmers), verborgene Bitterkeit und . . . Angst.

Apollon Apollonowitsch konnte diesen Blick nicht vertragen, er senkte die Augen und drehte den Hut in den Händen. Ja, ihre mit dem italienischen Schauspieler verlebten Jahre hatten sie sehr, sehr verändert; wo ist ihre Strenge, die angeborene, ihr eigene Würde und Ordnungsliebe; Apollon Apollonowitsch durchstreifte wieder das Zimmer mit dem Blick; unordentlich lagen da zerstreut: Täschchen, Tragriemen, ein schwarzer Spitzenfächer, ein Seidenstrumpf und einige zitronengelbe Lappen, wahrscheinlich spanische.


Vor Anna Petrowna stand . . . — war er es wirklich? Auch ihn hatten die zweieinhalb Jahre verändert; vor zweieinhalb Jahren sah sie zum letztenmal vor sich ein scharf gemeißeltes Gesicht aus grauem Stein, das sie kalt ansah, dort neben dem mit Perlmutter inkrustierten Tischchen (bei ihrer letzten Auseinandersetzung); jeder Zug dieses Gesichts blieb in ihr als eisiger Frost eingeprägt; dieses Gesicht aber, das sie jetzt vor sich sah, hatte überhaupt keine Züge mehr.

(Unsererseits fügen wir hinzu: diese Züge waren noch vor kurzem vorhanden; am Anfang unserer Erzählung hatten wir sie beschrieben.)

Vor zweieinhalb Jahren war Apollon Apollonowitsch wohl schon ein alter Mann, aber . . . in ihm war etwas . . . Unzeitliches; er war noch immer — ein Mann; wo war aber jetzt der Staatsmann? Wo war der eiserne Wille, jener steinerne Blick, aus dem Wirbelstürme, kalte, dem Gehirn (nicht dem Gefühl) entsprungene, strömten? Wo war der Stein des Blickes? Alles wich vor der einzigen Tatsache des vorgerückten Alters; der Greis überwog alles andere; gesellschaftliche Stellung, Willen; auffallend war seine Magerkeit; auffallend war die Gebeugtheit des Rückens; auffallend war das Zittern des Unterkiefers und das fast täppische Zittern der Finger; und hauptsächlich — die Farbe des Mantels: nie, solange sie mit ihm war, hatte er sich Kleider von solcher Farbe bestellt.

So standen sie einander gegenüber: Apollon Apollonowitsch noch immer an der Schwelle, Anna Petrowna vor dem Tischchen, in der Hand die zitternde Teetasse, aus der sich die dunkle Flüssigkeit auf die Tischdecke ergoß.

Endlich wandte Apollon Apollonowitsch ihr seinen Kopf zu; er kaute einen Augenblick mit den Lippen und stotterte dann:

»Anna Petrowna!«

Jetzt sah er sie deutlich (die Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt), und er sah: ihre Züge wurden, für einen Augenblick, wunderbar erhellt; aber dann verbargen sie sich wieder hinter Fältchen, Verdickungen, Fettpölsterchen; die klare Schönheit der Kindlichkeit in den Zügen hat der Vergröberung des Alters nicht standgehalten; für einen Augenblick aber wurde ihr Gesicht wunderschön; nämlich, als sie mit scharfer Bewegung das Teetablett von sich schob und ihm, dem Senator, mit einem unmerklichen Ruck gleichsam entgegenflog; und doch: sie rührte sich nicht vom Platz; von ihrem Platz warf sie dem Greis, der dort stand und mit den Lippen kaute, nur das eine zu:

»Apollon Apollonowitsch!«

Apollon Apollonowitsch lief ihr entgegen (so war er auch vor zwei Jahren ihr immer entgegengelaufen, um ihr zwei Finger zu reichen, und, sie rasch zurückziehend, sie mit Kälte zu übergießen); er lief zu ihr durch das Zimmer, so wie er gestanden war, im Mantel, mit dem Hut in der Hand; ihr Gesicht neigte sich gegen die Glatze; der große, wie ein Knie nackte Schädel und die zwei abstehenden Ohren riefen in ihr eine Erinnerung an etwas wach, und als die kalten Lippen ihre, vom verschütteten Tee nasse Hand berührten, wich alles Komplizierte aus ihren Zügen dem eindeutigen Ausdruck der Zufriedenheit: denken Sie sich — etwas Kindliches hüpfte spielend in ihren noch schimmernden Augen auf und verbarg sich wieder in ihnen.

Als er nun gerade vor ihr stand, trat seine Gestalt mit ausgesprochener Deutlichkeit hervor; ein lose am Körper hängendes Höschen, ein Mäntelchen von früher nie getragener Farbe, eine Menge neuer Fältchen im Gesicht, von denen zwei das ganze Gesicht durchquerten, und neue, unbekannte Blicke; doch erschienen ihr diese Augen jetzt nicht mehr wie zwei durchsichtige Steine; es lag in ihnen eine ihr unbekannte Kraft und Unbeugsamkeit.

Und diese Augen senkten sich; Apollon Apollonowitsch suchte nach Worten:

»Ich kam, um« — er hielt einen Augenblick inne —

— ?

». . . Ihnen meine Aufwartung zu machen . . .«

». . . und Sie zu Ihrer Rückkehr zu beglückwünschen . . .«

Anna Petrowna fing einen verlegenen, etwas erstaunten Blick auf, einen einfach weichen, mitleidigen Blick von kornblumenblauer Farbe, in dem wie ein Hauch etwas von Frühlingsluft lag.

Aus dem Nebenzimmer hörte man Lachen und Geräusch; hinter der Tür unterhielten sich noch immer die zwei Zimmermädchen miteinander; unten klang Klavierspiel; unordentlich lagen zerstreut: Gepäckriemen, Handtäschchen, ein schwarzer Spitzenfächer, eine kleine venezianische Vase und ein Stück Seidenstoff von schreiend zitronengelber Farbe, der sich als eine Bluse entpuppte; hinter dem Fenster war statt des Himmels gelber Rauch, und in diesem gelben Rauch lag Petersburg: Straßen und Prospekte; Trottoire und Dächer; das Blech vor dem Fenster war mit gefrorenem Reif bedeckt; ein kalter Wasserstrahl rieselte aus der Dachrinne.

»Und bei uns . . .«

»Darf ich Ihnen Tee anbieten? . . .«

»Bei uns steht ein Generalstreik bevor . . .«

Das Spielzeug

Die Tür ging auf.

Nikolai Apollonowitsch trat in das Vestibül, dessen Wände mit alten Waffen geschmückt waren; Nikolai Apollonowitsch sah höchst desperat aus; er riß sich seinen breiten italienischen Hut vom Kopfe; die Fülle flachsweißer Haare gab dem Gesicht mit dem kalten, ja rauhen Ausdruck, in dem sich angeborener Starrsinn ausprägte, einen etwas milderen Schimmer (selten begegnet man solchen Haaren bei Erwachsenen; diese Nüance findet man nur bei Bauernkindern, besonders in Weißrußland); kalt, trocken, deutlich zeichneten sich die Linien des weißen Gesichtes, als er nachdenklich einen Moment lang vor sich hinsah, und es ähnelte den Gesichtern auf den Heiligenbildern.

Auf einmal übergoß es sich mit Röte; und er flog rasch, ein wenig hinkend, den nassen zerdrückten Überwurf über den Schultern, die teppichbelegten Stufen hinauf. Er hüstelte; er — keuchte; er zitterte, als hätte er Fieber: gewiß, man steht nicht ungestraft stundenlang im Regen; seltsam genug sah er aus: hinkend, mit gekrümmtem Rücken und in einem Rock, dessen eine Schoßhälfte fehlte.

Er schlüpfte durch die Tür mit dem fein geschliffenen Glasgriff; und die glänzend lackierten Zimmer, an denen er vorbeilief, schienen ihm nur eine Halluzination, die spurlos zerrann, indem sie hinter der Grenze seines Bewußtseins neblige Flächen breitete; und als seine Schuhe im Korridor laut zu tönen begannen, schien es ihm, als klopften seine Adern laut an die Schläfen; das rasche Pulsieren dieser Adern sprach deutlich von frühzeitiger Sklerose.

Innerlich ganz aufgewühlt, trat er in sein buntes Zimmer ein; die kleinen grünen Papageie im Käfig erhoben ein wildes Kreischen und begannen mit den Flügeln zu schlagen; das hemmte seinen eiligen Schritt; er blieb stehen und sah um sich; er erblickte den bunten Leoparden, der mit weitaufgerissenem Rachen zu seinen Füßen lag; dann aber — begann er in seinen Taschen herumzusuchen (er suchte den Schreibtischschlüssel).

»Ha? . . .«

»Aber zum Teufel . . .«

»Verloren?«

»Dagelassen? . . .«

»Ist’s möglich! . . .«

Er rannte hilflos durchs Zimmer hin und her und suchte den vergessenen Schlüssel, er untersuchte die für diesen Zweck unpassendsten Gegenstände, hob den schweren Rauchapparat, die goldene Kugel mit dem Halbmond oben, vom Platz, und redete dabei immerzu mit sich selbst. Ganz erschrocken lief er in das zweite Zimmer — an den Schreibtisch; unterwegs warf er das arabische, mit Elfenbein eingelegte Taburett um; mit lautem Krachen stieß es auf den Boden; erstaunt sah er, daß der Schreibtisch gar nicht abgesperrt war; die verräterische Schublade stand zur Hälfte offen; ihm blieb das Herz stehen: wie hatte er es nur unterlassen können, die Schublade abzusperren? Er zog sie weiter heraus . . . und — und — und . . .

Sie war nicht da! Nein, sie war nicht da!

In der Schublade war alles durcheinandergeworfen; die große Photographie, die sich darin befunden hatte, lag achtlos hingeworfen auf der Tischplatte; und . . . die Sardinenbüchse war — verschwunden; wütend, erschreckt, mit dem Ausdruck der Verzweiflung wiegte sich über der Schublade das rotglühende Gesicht mit den von dunklem Blau umrahmten, großen Augen, die plötzlich schwarz wurden; schwarz — durch die erweiterten Pupillen; so stand er zwischen dem Lehnstuhl und der Büste: des Kant natürlich.

Er lief an den zweiten Tisch; öffnete auch da die Schubladen, doch hier lag alles in bester Ordnung: Briefe, Papiere; er schleuderte alles heraus auf den Tisch, doch die Sardinenbüchse . . . die war nicht da . . . Seine Beine begannen zu zittern; er kniete nieder, und sein heißer Kopf fiel auf seine kalten, vom Regen noch feuchten Hände; so erstarb er für einen Augenblick; die flachsweißen Haare hoben sich wie ein toter, gelber Fleck ab von dem grünen Fond des Möbelstoffes, im Halbdunkel der Dämmerung.

Er sprang auf! Im Nu war er beim Schrank! Der Schrank wurde aufgerissen; ein Gegenstand nach dem anderen flog auf den Teppich; aber auch da befand sich die — Sardinenbüchse nicht; wie ein Wirbelwind fuhr er im Zimmer umher; durch die Heftigkeit seiner Bewegungen, (ähnlich denen seines exzellenten Vaters) und die Kleinheit seines Wuchses erinnerte er sehr an einen flinken Affen. In der Tat: das Schicksal hat ihm einen bösen Streich gespielt; er rannte aus einem Zimmer in das andere; vom Bett (wo er unter den Kissen, unter der Decke, unter der Matratze suchte) lief er zum Kamin: hier beschmierte er sich die Hände mit Asche; vom Kamin eilte er wieder zu den Bücherregalen (mit leichtem Knistern glitten die seidenen Vorhänge auf ihren kleinen Messingringen zur Seite); er untersuchte die Bücherreihen und mancher Band, flog mit rasselndem Gepolter zu Boden.

Doch die Sardinenbüchse war nirgends zu finden, nirgends.

Bald saß er kauernd, das Gesicht mit Asche und Staub bedeckt, vor einem auf dem Boden aufgestapelten Haufen aller möglicher Gegenstände, die er mit seinen langen, schlanken, spinnenfühlerähnlichen Fingern nacheinander berührte.

In dieser Pose wurde er vom hereingestürmten Ssemjonytsch überrascht:

»Nikolai Apollonowitsch! . . . Gnädiger junger Herr! . . .«

Nikolai Apollonowitsch wandte sich um, noch immer kauernd; mit unwillkürlicher Bewegung breitete er beim Eintritt des Dieners seinen italienischen Überwurf über den Haufen und sah aus wie eine auf den Eiern sitzende Henne: seltsam tot und unbeweglich hoben sich die flachsweißen Haare, wie ein gelber Fleck vom Halbdunkel der Umgebung ab.

»Was ist?«

»Ich gestatte mir . . .«

»Lassen Sie mich, Sie sehen, daß ich beschäftigt bin . . .«

Mit dem weitausgezogenen Mund ähnelte er dem Leoparden, der mit offenem Rachen bewegungslos auf dem Boden lag.

»Ich muß meine Bücher ordnen . . .«

Doch Ssemjonytsch ließ sich nicht abschrecken:

»Sie werden gebeten . . . Sie werden in den Salon gerufen . . .«

— ?

»Eine Familienfreude: Unsere gnädige Frau, Mütterchen Anna Petrowna, geruhte selbst zu erscheinen.«

Nikolai Apollonowitsch erhob sich mechanisch; auf seinem mit Staub und Asche bedeckten Gesicht entzündete sich blitzartig schnell eine Röte; er begann plötzlich zu husten, und heiser durch das Husten rief er:

»Was, Mama? Anna Petrowna?«

»Mit Apollon Apollonowitsch geruht sie dort im Salon zu sitzen . . . Gerade sind sie . . .«

»Wurde ich gerufen?«

»Apollon Apollonowitsch läßt bitten . . .«

»Sofort . . . Ich komme sofort . . . Nur noch das hier . . .«

Kaum war Ssemjonytsch aus der Tür, da erhob sich Nikolai Apollonowitsch vom Boden, holte mit ein paar behenden Sprüngen den Alten ein und erfaßte seinen Ärmel:

»Tsss! . . . Ssemjonytsch — hören Sie mal« — Nikolai Apollonowitsch hielt den alten Diener beim Ärmel fest:

»Haben Sie nicht . . . Ja, es handelt sich darum . . .« er wurde verwirrt und zog, den Alten näher in das Zimmer, »Haben Sie nicht so einen Gegenstand hier gesehen? Hier im Zimmer . . . So einen Gegenstand — ein Spielzeug . . .«

»Ein Spielzeug? . . .«

»Ein Kinderspielzeug . . . Eine Sardinenbüchse . . .«

»Eine Sardinenbüchse?«

»Ja, ein Spielzeug, das wie eine Sardinenbüchse aussah — schwer, mit einem Uhrwerk: es tickte noch so darin . . . Ich habe es, das Spielzeug, in die Lade . . .«

Ssemjonytsch drehte sich langsam um, befreite seinen Ärmel von den sich darin eingehakten Fingern, sah einen Augenblick lang starr die gegenüberliegende Wand an, dachte nach und stieß dann etwas unehrerbietig schroff hervor:

»Nein!«

Einfach nein! — . . .

»Und ich hatte gedacht . . .«

Sehe mal einer her: so ein Ereignis, eine Freude; selbst der gnädige Herr, der Minister, leuchtet vor Freude . . . Und der da: eine Sardinenbüchse . . . mit Uhrwerk . . . ein Spielzeug! Selbst mit abgerissenem Rockschoß . . .

»Soll ich also melden’?«

»Ich komme sofort, sofort . . .«

Nikolai Apollonowitsch schloß die Tür und stand da, ohne zu wissen wo er sich befand.

Ebenso ohne zu wissen was er tat, zog er den verräterischen Rock aus und vertauschte ihn mit einem anderen, ganz neuen; vorher wusch er sich den Staub und die Asche von Gesicht und Händen. Während er sich wusch und ankleidete dachte er immerzu:

»Was ist das nun, was ist das nun . . . Wohin konnte ich sie nur verlegt haben . . .«

Nikolai Apollonowitsch war sich noch nicht ganz bewußt, welchen Schrecken das plötzliche Verschwinden der Sardinenbüchse eigentlich in sich barg; es war ihm bisher noch nicht eingefallen, daß — während seiner Abwesenheit jemand in seinem Zimmer gewesen sein, die Sardinenbüchse entdeckt und sie vorsorglich mitgenommen haben konnte.

Die Diener wunderten sich

Dieselben Häuser standen da in Reihen, dieselben grauen Menschenströme zogen dahin, derselbe grüngelbe Nebel hüllte alles ein; in sich versunken liefen Gestalten vorbei; die Trottoirs flüsterten und scharrten unten zu den Füßen der Häuserriesen; ihnen entgegen flog ein Prospekt nach dem anderen; und die sphärische Oberfläche des Planets schien von den schwärzlichgrauen Häuserkuben wie von Schlangenringen eingefaßt; das Netz paraller Prospekte, durchschnitten von einem Netz paraller Prospekte, dehnte sich mit seinen Quadratflächen bis zu kosmischen Abgründen . . .

Doch Apollon Apollonowitsch schenkte diesmal seiner Lieblingsfigur, dem Quadrat keine Beachtung; versank nicht gedankenlos in die Betrachtung der steinernen Parallelepipeda und Kuben; auf die weichen Kissen des gemieteten Droschkenwagens gelehnt, blickte er von Zeit zu Zeit erregt auf Anna Petrowna, die er — er selbst, jetzt in das lackierte Haus zurückführte; was sie dort beim Tee im Hotelzimmer miteinander gesprochen hatten — das blieb für immer ein undurchdringliches Geheimnis; nach diesem Gespräch wurde aber beschlossen: Anna Petrowna würde morgen schon in das Haus auf dem Kai übersiedeln; jetzt aber fuhr sie, um den Sohn zu sehen.

Anna Petrowna war verlegen.

Im Wagen sprachen sie nichts miteinander; Anna Petrowna blickte aus dem Fenster; zweiundeinhalb Jahre hatte sie diese grauen Prospekte nicht gesehen: sie sah die Kette der Häusernummern; dort zirkulierte etwas ununterbrochen; dort glänzte an hellen Tagen aus weit-weiter Ferne die goldene Spitze, die Wolken, der glutrote Sonnenuntergang; und dort sah man an nebligen Tagen — nichts, niemand.

Mit unverhülltem Vergnügen lehnte sich Apollon Apollonowitsch gegen die weichen Wagenpolster, von dem Schmutz der Straße durch den geschlossenen Kubus getrennt; hier blieb er fern den dahinströmenden Menschenmassen, den ihn anödenden, regennassen, roten Umschlägen, die dort an der Straßenecke verkauft wurden; er hüpfte mit den Blicken; hie und da fing Anna Petrowna auf: einen verlorenen, staunenden und — denken Sie sich nur — einen einfach warmen, blau-blauen, kindlichen, ja gedankenleeren Blick. (War er nicht schon vielleicht ein wenig in Kindlichkeit verfallen?)

»Ich hörte, Apollon Apollonowitsch, Sie seien für den Ministerposten ausersehen?«

Apollon Apollonowitsch aber unterbrach sie:

»Von wo kommen Sie jetzt eigentlich, Anna Petrowna?«

»Ich komme direkt aus Granada . . .«

»So—o, so—o, so—o . . .« — und nachdem er sich geschneuzt hatte: »Ja, wissen Sie: es gibt allerlei dienstliche Unannehmlichkeiten . . .«

Und plötzlich, was ist das?: Er fühlte eine warme Hand auf seiner Hand, seine Hand wurde gestreichelt . . . Hm, hm, hm: Apollon Apollonowitsch wurde verlegen; er wurde verlegen, ja er erschrak sogar; es wurde ihm beinahe ein wenig unbehaglich . . . Hm, hm: es werden schon an die anderthalb Jahrzehnte sein, daß man mit ihm nicht so umgegangen war . . . Sie hat ihn tatsächlich gestreichelt. . . . Das hatte er wahrlich von dieser . . . Person nicht erwartet. . . Hm, hm . . . (Apollon Apollonowitsch hatte ja in diesen zweieinhalb Jahren diese Person für eine . . . leichtsinnige Person gehalten . . .)

»Ich bin eben im Begriff, meinen Abschied zu nehmen . . .«

Durch das Fenster des Wagens drang das mattgrüne Tageslicht ein; dort ergossen sich wie eine Flut die Menschenwellen übereinander; und diese Menschenflut war eine donnernde Flut.

Hier, an dieser Stelle, hatte er neulich jenen Mann unbestimmter Herkunft erblickt; die Augen dieses Mannes von unbestimmter Herkunft hatten geglänzt und sie hatten ihn erkannt: das war vor etwa zehn Tagen (ja, vor nur zehn Tagen war es: in diesen zehn Tagen hat sich alles verändert; und verändert hat sich auch Rußland!) . . .


In der Tat, wie wunderten sich die Diener!

So erzählte später der Junge Grischka, der gerade in dieser Stunde den Dienst im Vorzimmer versehen hatte:

»Ich sitze so da und zähle an den Fingern, wie viele Wochen noch bis zum Heiligen Nikolaus, dem, der in den Winter fällt . . .«

»Aber geh du mit deinem Nikolaus! So erzähl’ doch einmal!«

»Jawohl, ja: der Heilige Nikolaus ist bei uns im Dorfe ein großer kirchlicher Feiertag . . . Ich sitze also nun so und rechne nach . . . Auf einmal: ein Wagen, direkt vor unsere Tür; ich springe auf; mache also die Tür auf — und: alle Heiligen! — der gnädige Herr, er selbst — in einem Droschkenwagen! (und ein Wagen, sag ich euch!) Und mit ihm eine Dame, schon eine ältere, in einem ganz billigen Redingote.«

»Was — Redingote, Bursche! Redingote werden jetzt nicht mehr getragen.«

»Unterbrechen Sie ihn nicht; der weiß auch so schon nicht, wo ihm der Kopf steht.«

»Kurzum: in einem Mantel. Der gnädige Herr — so flink, flink aus der Droschke — na, Teufel, wollte sagen: aus dem Wagen — hüpf! zu der Dame, den Arm so und lächelt: na, wie der reinste Kavalier! In jeder Weise behilflich! . . .«

»Hör mal einer . . .«

»So was . . .«

»Das läßt sich auch denken: zwei Jahre haben sich die Leute nicht gesehen«, ertönten ein paar Stimmen zugleich.

»Also: die Gnädige steigt aus dem Wagen; aber verlegen war sie, das sah ich ihr schon gleich an; lächelt so; streicht sich übers Kinn, der Courage wegen; aber arm gekleidet, sag’ ich euch: die Handschuh sicher gestopft . . .«

»Schon gut: was also weiter?«

»Der gnädige Herr also, Apollon Apollonowitsch — gar nicht so stolz wie immer; steht da im Regen« (es hat ja so geregnet — hu—u!), »steht so und wartet, bis die Gnädige das Trittbrett . . . Sie ist ja so, hat schon ihr Gewicht . . . Wie sie sich auf den Arm vom gnädigen Herrn stützte, mit ganzer Schwere, da hab’ ich mir gedacht: daß er’s aushalten kann, eine solche Last . . .«

»Plappere doch nicht, erzähl’!«

»Ich plappere nicht, ich erzähle so schon; aber was: hier kann euch Mitrij Ssemjonytsch weitererzählen: er hat ja die Herrschaften im Vorzimmer empfangen . . . Was soll ich weitererzählen? Der gnädige Herr hat der Gnädigen nur gesagt: ‚Bitte‘, hat er gesagt, ‚willkommen, Anna Petrowna‘ . . . Da erst hab ich die gnädige Frau erkannt . . .«

»Na, und wie . . .«

»Alt, sag’ ich euch, ist sie geworden . . . Ich erkannte sie erst gar nicht, aber dann . . . Sie hat mir ja oft eigenhändig Süßigkeiten geschenkt . . .«

So redeten später die Diener.


Wirklich!

Eine unerwartete, unvorhergesehene Tatsache: vor zweieinhalb Jahren hatte Anna Petrowna ihren Gatten verlassen und war mit einem italienischen Schauspieler fortgezogen; von dem Schauspieler im Stich gelassen, verließ sie die herrlichen Paläste Spaniens und eilte über die Pyrenäen, die Alpen, Tirol, mit dem Expreßzug zurück; was aber am wunderlichsten war: zweieinhalb Jahre durfte der Name Anna Petrowna in Anwesenheit des Senators nicht genannt werden, ja, noch vor zweieinhalb Tagen war er durchaus verpönt; zweieinhalb Jahre vermied der Senator jeden Gedanken an Anna Petrowna (trotzdem dachte er wohl an sie), und selbst bei einem zufälligen Zusammentreffen dieser Lautverbindung zog er verächtlich die Lippen zusammen. Warum war aber bei der Nachricht von ihrer Rückkehr an Stelle des verächtlichen Zuckens ein erregt zorniges Zittern des Kiefers getreten? Warum schlief er diese Nacht nicht? Warum war der Zorn im Laufe der zwölf Stunden allmählich gewichen und statt seiner stellte sich eine unruhevolle Sehnsucht ein? Warum hielt er es nicht aus und fuhr selbst ins Hotel; überredete sie, brachte sie selbst nach Hause? Was war dort im Hotelzimmer vorgefallen? — Auch Anna Petrowna hat ihr Vorhaben vergessen; das Vorhaben, das sich ihr gestern beim Besuch im lackierten Haus wieder fest eingeprägt hatte.

Sie hat ihr Vorhaben aufgegeben und ist zurückgekehrt.

Beide waren durch die Auseinandersetzung im Hotel erregt und verlegen; deswegen verzichteten beide auf irgendwelche Gefühlsäußerungen beim Eintritt in das lackierte Haus; Anna Petrowna sah von der Seite ihren Gatten an: Apollon Apollonowitsch schneuzte sich, dann räusperte er sich ein wenig. Anna Petrowna dankte herablassend auf die ehrfurchtsvollen Grüße der Dienerschaft; sie verhielt sich sehr reserviert; nur den alten Ssemjonytsch umarmte sie und — es sah aus, als möchte sie an seiner Schulter weinen; aber sie warf einen verlegenen, erschreckten Blick auf Apollon Apollonowitsch und überwand sich: sie griff nach dem Handtäschchen, doch holte sie das Taschentuch nicht vor.

Apollon Apollonowitsch, seiner Gattin ein paar Stufen voraus, warf den Lakaien strenge, befehlende Blicke zu; solche Blicke hatte er nur in Augenblicken der Verlegenheit; gewöhnlich benahm sich Apollon Apollonowitsch gegen die Dienerschaft mit verletzend ausgesuchter Höflichkeit und Kühle (die bekannten Scherze ausgenommen). Er behielt vor der Dienerschaft den Ton der Gleichgültigkeit: nichts ist geschehen, die gnädige Frau hat sich aus Gesundheitsgründen im Auslande aufgehalten, jetzt ist sie zurückgekehrt — nichts weiter . . . Also was ist dabei? Es ist alles in schönster Ordnung! . . .

Übrigens, einen Diener gab es (alle früheren außer Ssemjonytsch und dem Knaben Grischka sind inzwischen aus dem Hause fortgekommen), — dieser Diener erinnerte sich ganz genau, wie die gnädige Frau damals ins Ausland gereist war: der Dienerschaft war nichts gesagt worden; das ganze Gepäck hatte aus einer Handtasche bestanden (und das für die Zeit von zweieinhalb Jahren!); den Tag vor der Abreise hatte die Gnädige sich in ihren Gemächern eingesperrt gehalten; die vorherigen Tage aber war bei ihr immer der Schwarze mit dem Schnurrbart gesessen: wie hatte er nur geheißen — Mindalini (er hieß in Wirklichkeit Mantalini), — der immer die nichtrussischen Lieder gesungen hatte: »Tra—la—la . . . Tra—la—la . . .« Und der nie Trinkgeld gegeben hatte.

Dieser Lakai, der das alles in seiner Erinnerung hatte, küßte besonders ehrfurchtsvoll das erlauchte Händchen; sein Gewissen war durch die Schuld belastet, nicht die Einzelheiten der Flucht — d. h. der Abreise — aus seinem Gedächtnis weggewischt zu haben; er hatte die begründete Angst, daß mit dem Erscheinen der erlauchten Gnädigen seine Tage im lackierten Haus gezählt seien.

Sie sind im großen Salon; wie Spiegel blitzen die Quadrate des Parketts: während dieser zwei Jahre war hier nur selten geheizt worden; von der kalten Zimmerflucht ging immer eine undefinierbare Traurigkeit aus; Apollon Apollonowitsch war stets in seinem Zimmer hinter abgesperrter Tür gesessen; es hatte ihm immer geschienen, aus der Zimmerflucht würde ein Bekannter, ein Trauriger zu ihm hereinstürzen; jetzt stand er da und dachte: nun ist er nicht mehr allein; er wird nicht mehr allein über die Quadrate des Parketts schreiten, sondern mit . . . Anna Petrowna.

Er bot galant der Angekommenen den Arm und führte sie durch den großen Saal; Anna Petrowna blieb vor einer blaßtönigen Malerei stehen, wandte sich Apollon Apollonowitsch zu und lächelte:

»Ach das da . . . Erinnern Sie sich, Apollon Apollonowitsch?«

Sie schielte ein klein, klein wenig, wurde ein klein, klein wenig rot; zwei kornblumenblaue Augen versanken da in zwei andere, von Himmelsblau erfüllte; und — der Blick, der Blick; etwas Liebes, Gewesenes, Altes, — etwas, was die Menschen vergessen haben, was aber die Menschen seinerseits nie vergaß, was immer vor jeder Tür steht, dieses Etwas stellte sich plötzlich zwischen ihre Blicke; es war nicht in ihnen; es erwachte nicht in ihnen: es stand zwischen ihnen — als wäre es vom Frühlingswind hereingeweht worden. Der Leser verzeihe mir: ich will den Sinn dieser Blicke mit dem ganz banalen Wort bezeichnen: es war — Liebe.

»Erinnern Sie sich?«

»Gewiß doch . . .«

»Wo?«

»In Venedig . . .«

»Es sind dreißig Jahre seither vergangen! . . .«

Die Erinnerung an einen im Nebel schimmernden Kanal tauchte in ihm auf, an eine Arie, die seufzend aus der Ferne klang: dreißig Jahre sind seither vergangen. Auch sie wurde von der Erinnerung an Venedig erfaßt; diese Erinnerung spaltete sich aber: vor dreißig Jahren und — vor zweieinhalb Jahren; sie errötete: sie hatte ja diese Erinnerung zu verdrängen gesucht; nun trat eine andere auf: Kolenka. Sie hatte in den letzten zwei Stunden nicht an Kolenka gedacht; das Gespräch mit dem Senator hatte alles andere für einige Zeit beiseite geschoben; vor diesen letzten zwei Stunden hatte sie doch nur an Kolenka gedacht, voll Zärtlichkeit, voll Zärtlichkeit und Kränkung: Kolenka hatte nichts von sich hören lassen, keine Nachricht gegeben.

»Kolenka . . .«

Sie traten in den Salon ein: überall Nippessachen, Metall- und Perlmutterinkrustationen, Bronzen.

»Kolenka geht es gut, Anna Petrowna . . . er befindet sich ganz wohl . . .« Der Senator machte ein paar eilige Schritte seitwärts.

»Ist er zu Hause?«

Apollon Apollonowitsch, der sich gerade in einen Empiresessel niedergelassen hatte, erhob sich etwas widerwillig und drückte den Knopf der elektrischen Glocke.

»Warum kam er nicht zu mir?«

»Er ist, Anna Petrowna . . . mmä—mmä . . . Er war . . . sehr . . .« — der Senator wurde seltsam verworren, dann zog er sein Taschentuch hervor, schneuzte sich lange mit sonderbaren Trompetenlauten; dann räusperte er sich ein wenig und steckte sehr langsam das Taschentuch wieder in die Tasche:

»Ja, er hatte sich sehr gefreut . . .«

Schweigen trat ein. Der kahle Kopf neigte sich über einer kalten, langbeinigen Bronze; der Lampenschirm, mit feinster Malerei bedeckt, glänzte nicht mit seinen violetten Tönen: verloren hat das neunzehnte Jahrhundert das Geheimnis dieser Farbe; das Glas war abgedunkelt von der Zeit; und auch die feine Malerei war abgedunkelt von der Zeit.

Auf das Läuten trat Ssemjonytsch herein:

»Ist Nikolai Apollonowitsch zu Hause?«

»Jawohl, gnädiger Herr.«

»Mm . . . hören Sie mal: sagen Sie ihm . . . Anna Petrowna sei hier und ließe ihn bitten . . .«

»Vielleicht gehen wir selbst zu ihm«, sagte erregt Anna Petrowna und erhob sich lebhaft aus dem Lehnstuhl; aber der Senator unterbrach sie mit scharfer Wendung gegen Ssemjonytsch:

»Mä — mmä . . . Ssemjonytsch: also sagen Sie: . . .«

»Zu Befehl . . .«


»Ich bin mit Kolenka, Anna Petrowna, nicht ganz zufrieden . . .«

»Was sagen Sie . . .«

»Kolenka benimmt sich schon seit geraumer Zeit — regen Sie sich nicht auf — er benimmt sich einfach — aber regen Sie sich nicht auf — einfach sonderbar . . .«

— ?

Die goldeingerahmten Trumeaus verschlangen mit ihrem grünlichen Glas den Salon.

»Kolenka wurde etwas verschlossen . . . Kche — kche« — nach dem Hustenanfall begann er mit den Fingern aufs Tischchen zu trommeln; es fiel ihm etwas — etwas Persönliches — ein, er zog die Augenbrauen zusammen, rieb sich an der Nasenwurzel; doch er faßte sich bald und rief mit fast übermäßiger Lustigkeit:

»Übrigens: nein, es ist weiter nichts dabei . . . Gar nichts . . .«

Zwischen den Trumeaus glitzerten überall Perlmuttertischchen.

Eine einzige Sinnlosigkeit

Den Schmerz im Knie überwindend (der Fall in Lichutins Zimmer machte sich immerhin bemerkbar), ein wenig hinkend, lief Nikolai Apollonowitsch durch den Korridor.

Ein Wiedersehen mit der Mutter!

Ein Wirbel von Gedanken und Vorstellungen rauschte durch seinen Kopf; oder nein: es waren keine Gedanken, und es gab nirgends einen Sinn — es war ein Wirbel von Sinnlosigkeiten.

Welche Gedanken waren es?

Erstens der Gedanke an den Schrecken seiner Lage; der Schrecken seiner Lage ergab sich durch das Verschwinden der Sardinenbüchse; die Sardinenbüchse, d. h. die Bombe, ist verschwunden; es war klar, daß jemand die Bombe weggeschafft hat; wer aber, wer? Einer von den Dienern; dann ist also die Bombe in die Hände der Polizei gekommen; und er wird — verhaftet; das wäre nicht das Schlimmste; das Schlimmste ist: Apollon Apollonowitsch selbst hat die Bombe gefunden und hat sie mitgenommen und weiß jetzt: weiß jetzt alles.

Was — alles? Es war ja nichts gewesen; Ermordungsplan? Es gab ja keinen Ermordungsplan; er, Nikolai Apollonowitsch, bestreitet einen solchen Plan auf das entschiedenste: es ist eine niedere Verleumdung — wenn behauptet wird, ein solcher Plan habe existiert.

Es bleibt aber die Tatsache der gefundenen Bombe bestehen.

Wenn ihn der Vater ruft, wenn seine Mutter — nein, er kann’s nicht wissen: er hat die Bombe nicht aus dem Zimmer fortgetragen. Auch die Diener . . . Diesen hätte man es gleich angemerkt. Doch niemand zeigte was. Nein, sie wissen nichts von der Bombe. Aber wo ist sie, wo? Hat er sie wirklich im Schreibtisch versteckt; hat er sie nicht irgendwo unter dem Teppich verborgen, zufällig, mechanisch: so was passierte ihm manchmal.

In einer Woche wird sich alles von selbst aufklären . . . Doch nein; die Bombe wird ihre Anwesenheit schon heute anzeigen — durch ein furchtbares Gepolter (das Poltern konnten die Ableuchows absolut nicht vertragen).

Ihre Anwesenheit — unter dem Teppich, in irgendeinem Schrank, unter einem Kissen — sie wird sie anzeigen; sie wird zu poltern beginnen und wird dann platzen; er müsse die Bombe finden; nun habe er jetzt aber keine Zeit dazu: die Mutter ist da.

Und dann ein weiterer Gedanke: man hat ihn beleidigt; das war sein zweiter Gedanke; und der dritte: ja, dieses widerliche kleine Männchen, Pawel Jakowlewitsch! Er glaube ihn jetzt wieder, gerade wie er nach Hause fuhr, gesehen zu haben; und schließlich — Pepp Peppowitsch Pepp: Pepp, das ist die furchtbare Ausbreitung des Körpers, das Sichdehnen der Adern, das Sieden im Kopf . . .

Ach: nun ist alles durcheinandergeraten; der Wirbel der Gedanken flog mit unmenschlicher Schnelligkeit durch den Kopf und rauschte in den Ohren, so daß es gar keine Gedanken waren: es war eine einzige Sinnlosigkeit.

Mama

Er öffnete die Salontür.

Das erste, was er erblickte, war . . . war . . . Na ja: er erblickte das Gesicht seiner Mutter und zwei Hände, die sich ihm aus dem Lehnstuhl entgegenstreckten: das Gesicht war gealtert und die Hände zitterten im durchbrochenen Goldlicht der Laternen, die gerade draußen hinter den Fenstern angezündet wurden.

Und er hörte eine Stimme:

»Kolenka, mein geliebter, mein teuerer!«

Er verlor die Fassung, sein ganzes Wesen flog ihr entgegen.

»Bist du’s, mein Junge . . .«

Nein, er konnte sich nicht mehr halten: er kniete vor ihr nieder, er umschlang krampfhaft ihre Taille: er drückte sein Gesicht in ihren Schoß und brach in Weinen aus; er weinte — weiß Gott warum: ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, unaufhaltsam, schamlos weinte er, und seine breiten Schultern bebten (bedenken wir doch, daß Nikolai Apollonowitsch in den letzten drei Jahren keine Liebkosung kannte).

»Mama, Mama . . .«

Auch sie weinte.

Apollon Apollonowitsch stand abseits, in der Dämmerung der Fensternische; er berührte mit der Hand den Kopf einer chinesischen Porzellanpuppe: der Chinesenkopf wiegte sich: Apollon Apollonowitsch trat aus der Dämmerung der Nische heraus; er hüstelte leise; mit kleinen Schrittchen näherte er sich dem weinenden Paar, und plötzlich trompetete er neben dem Lehnstuhl heraus:

»Beruhigt euch, meine Lieben!«

Er hatte eigentlich solche Gefühle bei seinem Sohne nicht vermutet, bei dem kalten, in sich verschlossenen Sohne, an dessen Gesicht er in diesen zweieinhalb Jahren nie was anderes als Grimassen gesehen hatte; einen bis zu den Ohren breitgezogenen Mund, nach unten blickende Augen; dann drehte sich Apollon Apollonowitsch um und lief aus dem Zimmer — um etwas zu holen.

»Mama . . . Mama . . .«

Die Angst, die Demütigungen der letzten vierundzwanzig Stunden, das Verschwinden der Sardinenbüchse, das Gefühl der völligen eigenen Unzulänglichkeit, all das flatterte in verworrenen Augenblicksgedanken durch sein Hirn; alles versank in dem warmen Dunst des Wiedersehens:

»Mein Knabe, mein geliebter . . .«


Die eisige Berührung von Fingern an seiner Hand brachte ihn zu sich:

»Da, Kolenka, nimm einen Schluck Wasser.«

Als er sein verweintes Gesicht vom Schoß der Mutter hob, sah er vor sich die Kleinkinderaugen eines achtundsechzigjährigen Greises: der kleine Apollon Apollonowitsch stand da mit einem Glas Wasser in der Hand; seine Finger tanzten; er tätschelte, vielmehr er versuchte, Nikolai Apollonowitsch über Rücken, Wange und Schulter zu tätscheln; plötzlich strich er mit der Hand über die flachsweißen Haare. Anna Petrowna lachte; ganz unnötigerweise richtete sie ihren Kragen am Halse zurecht; ihre glückberauschten Blicke übertrug sie von Nikolenka auf Apollon Apollonowitsch; und umgekehrt: von ihm auf Nikolenka.

Nikolai Apollonowitsch erhob sich langsam von den Knien:

»Verzeihen Sie, Mama: das war nur so . . .«

»Es war nur die Überraschung . . .«

»Ich . . . es ist nichts weiter dabei . . . Danke, Papa . . .«

Und er schluckte ein wenig Wasser herunter.

Apollon Apollonowitsch stellte das Glas auf das Perlmuttertischchen; und plötzlich begann er — zu lachen, wie Knaben zu den Scherzen des lustigen Onkels lachen und sich gegenseitig mit den Ellbogen anstoßen; zwei altbekannte, liebe Gesichter!

»Soo . . .«

»Soo . . .«

»Sooo . . .«

Nikolai Apollonowitsch stand neben dem Trumeau, das von einem goldbackigen Amor oben gekrönt war; unter dem Amor wanden sich Lorbeer- und Rosengewinde durch Fackelflammen; plötzlich flog wie ein Blitz durch sein Gehirn: die Sardinenbüchse! . . .

Was ist nun damit? Wie ist es nun? Seine Gefühlswallung wurde jäh abgebrochen.

»Ich muß einen Augenblick . . . Ich komme gleich wieder.«

»Was hast du, Liebling?«

»Das macht nichts . . . Lassen Sie ihn, Anna Petrowna . . . Ich rate dir, Kolenka, einen Augenblick mit dir allein zu bleiben . . . fünf Minuten . . . Ja, weißt du . . . Und dann — komm wieder . . .«

Den Gefühlsausbruch noch weiter ein wenig simulierend, wackelte Nikolai Apollonowitsch leicht, ließ theatralisch das Gesicht in die Hände fallen: wie etwas Totes schimmerten die flachsweißen Haare in der Dämmerung des Zimmers. Wackelnd ging er hinaus.

Verwundert sah der Vater die glückliche Mutter an.


»Wahrhaftig, ich erkannte ihn nicht . . . Diese, diese . . . diese Gefühle —« Apollon Apollonowitsch lief vom Spiegel zum Fenster . . . »Diese, diese . . . Gefühle« — er streichelte sich über den kleinen Backenbart.

»Sie zeugen« — er machte eine scharfe Wendung, hob die Fußspitzen ein wenig vom Fußboden, balancierte einen Moment lang auf den Absätzen und machte dann mit dem ganzen Körper einen Ruck nach vorne, den den Fußboden berührenden Fußspitzen nach —

»Sie zeugen« — er kreuzte die Hände auf dem Rücken und lief auf und ab durch den Salon:

»Sie zeugen von natürlichen Gefühlen und sozusagen« — er zuckte mit den Achseln — »von guten Charaktereigenschaften . . .«

»Ich habe es keinesfalls erwartet . . .«

Eine auf dem Tisch stehende Tabakdose zog die Aufmerksamkeit des Staatsmannes auf sich; von dem Wunsch erfaßt, sie in symetrische Lage zu dem danebenstehenden chinesischen Tablettchen zu bringen, lief er plötzlich mit rasch-raschen Schrittchen dem Tische zu und langte . . . nach einer auf dem Tablettchen liegenden Visitenkarte, die er ziellos zwischen den Fingern zu drehen begann. Seine Zerstreutheit kam daher weil in ihm im selben Augenblick ein tiefer Gedanke auftauchte, der sich im Nu zu einem Labyrint weitverzweigter, gedanklicher Entdeckungen ausgedehnt hat. Doch Anna Petrowna, die in wonniger Selbstverlorenheit im Lehnstuhl saß, bemerkte mit Überzeugung:

»Ich habe immer gesagt . . .«

»Ja, weißt du . . .«

Apollon Apollonowitsch erhob sich auf die Fußspitzen, dann lief er vom Tisch zum Fenster:

». . . Wissen Sie . . .«

Apollon Apollonowitsch lief vom Fenster in die Ecke:

»Kolenka hat mich in Verwunderung versetzt: und aufrichtig gesagt — mich hat sein Benehmen — beruhigt« — er zog die Stirn in Falten — »in bezug auf . . . in bezug auf« — er nahm die Hand vom Rücken und trommelte über das Tischchen:

»Mja! . . .«

Plötzlich unterbrach er sich scharf:

»Macht nichts!«

Und er wurde nachdenklich; er sah Anna Petrowna an; ihre Blicke begegneten sich; sie lächelten einander zu.


Nikolai Apollonowitsch trat in sein Zimmer; er betrachtete mit starrem Blick das arabische Taburett: das inkrustierte Muster aus Elfenbein und Perlmutter. Langsam schritt er zum Fenster: dort zog sich der Fluß hin; ein Kahn schaukelte auf den Wellen; die Wellen schlugen leicht auf den Granit; die Stille des Zimmers wurde plötzlich von Klavierklängen erhellt, die aus der Ferne, aus dem Salon, hereinbrachen; so pflegte sie auch früher zu spielen, unter diesen Klängen pflegte er über den Büchern einzuschlafen.

Nikolai Apollonowitsch blieb vor dem Haufen hingeworfener Gegenstände stehen und dachte qualvoll nach:

»Was bedeutet das . . . Wie ist das möglich . . . Wo konnte ich sie hingetan haben? . . .«

Und — ihm fiel nichts ein.

Schatten, Schatten und Schatten: die Ledersessel grünten hinter den Schatten; eine Büste — Kants natürlich — trat aus den Schatten hervor.

Plötzlich bemerkte er auf dem Schreibtisch einen Briefbogen, der doppelt gefaltet dalag: solche doppelt gefaltete Zettel pflegen Besucher, die den Wirt nicht antrafen, etwas aber mitzuteilen hatten, liegenzulassen; mechanisch griff er nach dem Bogen, mechanisch blickte er auf die ihm bekannte Lichutinsche Schrift. Ja, wahrhaftig: er hatte ganz vergessen, daß Lichutin in seiner Abwesenheit am Vormittag hier gewesen war, alles durchsucht, in den Sachen herumgestöbert hatte. (Lichutin hat es ihm ja selbst bei ihrem peinlichen Zusammentreffen mitgeteilt). . .

Ja, ja, ja: Lichutin hatte das Zimmer durchsucht.

Nikolai Apollonowitsch atmete erleichtert auf. Nun ist alles auf einmal klar geworden: Lichutin! Natürlich, natürlich; hier war er und hat überall herumgestöbert; er hat nach der Bombe gesucht, sie gefunden und mitgenommen; es war kein Zweifel: der Offizier hat die Sardinenbüchse mitgenommen.

Erleichtert ließ er sich in den Sessel nieder; wieder wurde die Stille von Chopinklängen durchzogen; so war es auch früher: immer wurde die Stille durch Chopinklänge durchzogen — vor neun, vor zehn Jahren — immer hatte Anna Petrowna Chopin gespielt (nicht Schumann). Und es schien ihm jetzt, als hätte es gar keine Ereignisse gegeben: alles hat sich ja so einfach aufgeklärt: die Sardinenbüchse wurde von Lichutin fortgetragen (von wem denn sonst? Außer, er nähme an . . . — aber wozu eine solche Annahme!); nein, es hatte keine Ereignisse gegeben.

Jenseits der Newagewässer erhoben sich Riesen — als Schattenrisse der Inseln, der Häuser, und blickten in den Nebel mit bernsteinglänzenden Augen, als — weinten sie. Die Laternenschnur längs dem User ließ feurige Tränen in die Newa fallen: kochender Glanz sprudelte auf ihrer Oberfläche.

Die Melone — ein Gemüse

Nach zweieinhalb Jahren saßen sie wieder zu dreien beim Mittagessen.

Der Kuckuck in der Wanduhr rief, und in demselben Augenblick erschien der Lakai mit der dampfenden Suppenterrine; Anna Petrowna strahlte vor Zufriedenheit; Apollon Apollonowitsch . . . — à propos: wer am Morgen den gebrechlichen Greis gesehen hatte, würde ihn in dem Mann, der jetzt am Tisch saß, nicht wiedererkannt haben; er sah auf einmal gekräftigt aus, verlor jedes Alter, saß stramm auf seinem Platz und ergriff mit federnder Bewegung die Serviette; sie hatten bereits ihre Suppe zu essen begonnen, als die Seitentür aufging: Nikolai Apollonowitsch, leicht gepudert, rasiert und sauber, in bis oben geschlossenem Studentenrock, mit ungemein hohem Kragen (wie man sie in der vorhergegangenen Alexandrowschen Epoche getragen hatte) trat herein und näherte sich, ein wenig humpelnd, dem Eßtisch.

»Was hast du, mon cher« — Anna Petrowna führte etwas affektiert das Lorgnon an die Augen »du hinkst ja, wie ich merke?«

»Ha?« — Apollon Apollonowitsch warf einen Blick auf Kolenka und ergriff das Pfefferfäßchen, »In der Tat . . .«

Mit einer etwas jugendhaften Bewegung streute er viel zuviel Pfeffer in seine Suppe.

»Es ist nichts, maman: ich bin ausgeglitten . . . mein Knie schmerzt ein wenig . . .«

»Sollte man nicht kalte Umschläge machen?«

»In der Tat, Kolenka« — Apollon Apollonowitsch führte den Löffel zum Mund und sah zugleich zum Sohn hinüber — »wenn man sich am Knie gestoßen hat — damit ist nicht zu spaßen: das kann unangenehm werden . . .«

Und — er schluckte die Suppe herunter.

Nikolai Apollonowitsch lächelte entzückend und begann seinerseits die Suppe zu pfeffern.

»Sonderbar ist doch das Muttergefühl« — Anna Petrowna legte ihren Löffel in den Teller, blickte mit großen, kindlichen Augen, den Kopf in den Hals gedrückt (so daß ihr Doppelkinn aus dem Stehkragen hervorquoll). »Ist er auch schon erwachsen, ich bin aber um ihn besorgt, wie in früheren Zeiten . . .«

Sie vergaß vollständig, daß es durch zweieinhalb Jahre jemand anderes war, um den sie sich gesorgt hatte: Kolenka war von einem anderen verdrängt gewesen, von einem Fremden, mit schwarzem, üppigem Schnurrbart, mit Augen wie zwei Kirschen; sie vergaß vollständig, daß sie diesem fremden Mann durch mehr als zwei Jahre täglich die Krawatte gebunden hatte; aus violetter Seide; und jeden Morgen ein Glas — Guniadi Janos zum Abführen gereicht hatte.

»Ja, das Muttergefühl: erinnerst du dich — als du deine Dysenterie hattest . . .«

»Sie meinen das mit den Brotscheibchen? Gewiß, ich erinnere mich sehr gut.«

»Ja, eben . . .«

»An den Folgen der Dysenterie«, brummte Apollon Apollonowitsch über dem Teller, »leidest du, glaube ich, auch jetzt noch, mein Lieber.«

Und er schluckte seine Suppe herunter.

»Der junge Herr darf . . . auch jetzt noch . . . keine Erdbeeren essen«, ertönte neben der Tür die zufriedene Stimme des alten Ssemjonytsch, der vor der Tür stand und durch die offene Spalte hereinlugte (bei Tisch bediente ein anderer).

»Erdbeeren, Erdbeeren!« sagte in gedehntem Baßton Apollon Apollonowitsch und drehte sich plötzlich gegen die Tür, wo Ssemjonytsch stand.

»Erdbeeren« — er begann mit dem leeren Mund zu kauen.

Der am Tisch bedienende Lakai (nicht Ssemjonytsch) lächelte, und sein Gesichtsausdruck sollte den Anwesenden sagen:

»Ich weiß schon, was jetzt kommt!«

Der Senator platzte heraus:

»Was meinen Sie, Ssemjonytsch: ist die Melone eine Beere?«

Anna Petrowna wandte sich bloß mit den Augen zu Nikolenka: sie unterdrückte ein herablassend kluges Lächeln; dann übertrug sie den Blick auf den Senator, der wie versteinert in die Richtung der Tür blickte und ganz in Erwartung einer Antwort auf seine alberne Frage aufgegangen zu sein schien; ihre Augen sagten:

»Treibt er es noch immer so?«

Nikolai Apollonowitsch griff verlegen bald nach dem Messer, bald nach der Gabel, während eine unerschütterliche klare Stimme, die keinesfalls über die Frage verwundert zu sein schien, aus der halboffenen Tür erklang:

»Die Melone, Exzellenz, ist keine Beere, sondern eine Gemüsefrucht.«

Apollon Apollonowitsch machte mit dem ganzen Körper eine rasche drehende Bewegung, und flugs war auch schon der erwartete Witz — ei—ei—ei! — da:

Richtig, stimmt, Ssemjonytsch,

Alter Kuchentopf —

Er hat schlau geurteilt

Der kluge kahle Kopf.

Anna Petrowna und Nikolai erhoben ihre Augen nicht von den Tellern: kurz, es war wie in früheren Zeiten!


Apollon Apollonowitsch war offensichtlich bemüht, den Seinigen zu zeigen: nun ist alles ins alte Geleise gekommen; er aß wie sonst mit gutem Appetit, machte Scherze und hörte aufmerksam den Schilderungen von Spaniens Schönheiten zu; Nikolai Apollonowitsch spürte, wie sich eine eigentümliche Traurigkeit in seinem Herzen regte; als existiere keine Zeit mehr; als wäre es erst gestern gewesen: er als Fünfjähriger hört zu, wie seine Mutter mit der Gouvernante spricht (die, die Apollon Apollonowitsch dann aus dem Hause gejagt hat); Anna Petrowna erzählt mit Begeisterung:

»Ich gehe mit Sisi und hinter uns her — zwei Schwänze; wir treten in die Ausstellung ein; die Schwänze ebenfalls . . .«

»Nein, diese Frechheit!«

Kolenka sieht sich in einem gewaltigen Raum; eine Menge von Menschen; Damenkleider rauschen (er war einmal in eine Ausstellung mitgenommen worden); in der Ferne sieht er, wie sich über der Menge in der Luft riesengroße, schwarzbraune Schwänze erheben; er bekommt Angst: Nikolai Apollonowitsch wußte damals als Kind noch nicht, daß die Gräfin Sisi mit dem Wort »Schwänze« ihre Verehrer zu bezeichnen pflegte.

Diese Erinnerung an die Angst vor den in der Luft baumelnden Schwänzen ruft jetzt in ihm ein unterdrücktes Gefühl von Unruhe wieder wach; eigentlich sollte er doch Lichutin aufsuchen und sich — überzeugen . . .

Von was — überzeugen?

Er hörte das fortwährende Ticken einer Uhr: tick tack, tick tack; im Kreise lief die Spiralfeder; natürlich nicht hier in den glänzenden Zimmern (etwa unter einem Teppich, wo jeden Augenblick irgend jemand auf die Stelle treten konnte . . .), nein, die Haarfeder lief irgendwo in einer Mistgrube, im Feld, in der Newa: dort irgendwo liegt dieses Ticktackwerk; die Feder läuft im Kreise bis die verhängnisvolle Stunde herannaht . . .

Welcher Unsinn!

Das alles war die Folge des furchtbaren Senatorwitzes, des wahrhaftig grandiosen . . . in seiner Geschmacklosigkeit; davon kam alles: die Erinnerung an die durch die Luft schwebenden Schwänze; und — die Erinnerung an die Bombe.

»Was hast du, Kolenka? Du bist so zerstreut und ißt keine Crême? . . .«

»Ach, ja . . .«


Nach dem Mittagessen spazierte er auf und ab im unbeleuchteten Saal; der nur ein ganz klein wenig erhellt war: vom Mond und von dem durchbrechenden Licht der draußen brennenden Laterne; Apollon Apollonowitsch durchmaß mit ruhigem Schritt die Quadrate des Parkettbodens, und neben ihm ging — Nikolai Apollonowitsch; sie schritten aus dem Schatten in das durchbrochene Laternenlicht; sie schritten aus dem durchbrochen-hellen Fleck in den Schatten. Mit ungewohnter vertraulicher Weichheit sprach Apollon Apollonowitsch, den Kopf tief nach unten geneigt, und es war schwer zu bestimmen: sprach er zum Sohne oder zu sich selbst.

»Wissen Sie — weißt du, schwer ist die Lage eines Staatsmannes.«

Sie kehrten um.

»Ich habe immer schon den Leuten gesagt: die Einfuhr amerikanischer Dreschmaschinen zu fördern — das ist eine sehr wichtige Aufgabe; darin ist mehr Humanitätsarbeit als in all den langen öffentlichen Reden . . . Die Staatswissenschaften lehren uns . . .«

Sie kehrten um und durchmaßen die kleinen Quadrate des Parkettbodens; sie schritten aus dem Schatten in die mondbeschienenen Dreiecke.

»Humanitäre Betätigung tut uns not; die Humanität ist eine große Sache, für die große Geister gelitten haben, wie ein Giordano Bruno, wie . . .«

Lange spazierten sie so, auf und ab.

Apollon Apollonowitsch sprach mit etwas gebrochener Stimme; er faßte manchmal mit zwei Fingern den Rockknopf seines Begleiters, näherte sich mit dem Mund direkt dessen Ohr.

»Schwätzer sind sie alle, Kolenka: Humanität, Humanität! . . . In Dreschmaschinen liegt aber mehr Humanität als in allem anderen, Dreschmaschinen brauchen wir! . . .«

Er umfaßte mit der freien Hand die Taille des Sohnes und zog ihn zum Fenster, in die Ecke; er murmelte etwas und wiegte den Kopf: umgangen wurde er, sie brauchten ihn nicht mehr.

»Weißt du: sie haben mich beiseitegeschoben . . .«

Nikolai Apollonowitsch wagte kaum zu glauben; wie einfach das kam — ohne jede Auseinandersetzung, ohne Szenen, ohne Beichten: dieses vertrauliche Flüstern, diese väterliche Liebkosung.

Warum war es dann all diese Jahre . . . —?

»So, Kolenka, mein Lieber, wir wollen miteinander offener sein . . .«

»Was sagtest du? Ich hörte nicht . . .«

An den Fenstern vorbei zog, wahnsinnig schrill pfeifend, ein kleiner Dampfer; die grelle kleine Laterne am Heck durchschnitt in seltsamer schräger Linie den Nebel; die rubinroten Kreise wurden immer größer. Mit vertraulicher Wärme, den Kopf tief nach unten geneigt, sprach Apollon Apollonowitsch — man weiß nicht, ob zu sich selbst oder zu seinem Sohn. Sie schritten aus dem Schatten in das durchbrochene Laternenlicht; sie schritten — aus dem helldurchbrochenen Fleck in den Schatten.


Apollon Apollonowitsch — klein, kahl und alt — begann, vom letzten Auflodern der Kaminkohlen beschienen, auf dem Perlmuttertischchen die Karten für ein Patiencespiel zu mischen; zweieinhalb Jahre hatte er sich nicht dem Patiencespiel zugewendet; vor zweieinhalb Jahren war es, als Anna Petrowna das letzte entscheidende Gespräch mit ihm hatte; damals war er vor demselben Tischchen gesessen, und Patience wurde gespielt; so hatte ihn auch Anna Petrowna noch in der Erinnerung behalten.

»Herz Zehn . . .«

»Nein, mein Lieber, diese Karte ist draußen . . .«

»Was meinen Sie, Anna Petrowna: wollen wir nicht im Frühjahr nach Proljotnoje übersiedeln?« Proljotnoje war das Stammgut der Ableuchows: Apollon Apollonowitsch hatte Proljotnoje seit zwanzig Jahren nicht besucht.

Dort im Wald, in Schnee und Eis, war er einst — vor etwa fünfzig Jahren — beinahe erfroren; eines dummen Zufalls wegen; in jener Stunde des einsamen Erfrierens war sein Herz wie von kalten Fingern gestreichelt worden; eine eisige Hand hatte ihm zugewinkt; hinter ihm liefen die Jahrhunderte zurück in die Unermeßlichkeit; vor sich sah er die eisige Hand in Unermeßlichkeiten winkend, Unermeßlichkeiten liefen ihm entgegen.

Die eisige Hand!

Und — nun: sie begann aufzutauen.

Zum erstenmal tauchten sie jetzt wieder vor ihm auf, jene fernen, verwaisten Gegenden; der aufsteigende Rauch aus den Dorfhütten und die — Dohlen; in ihm erwachte der Wunsch, den Rauch der Dorfhütten wiederzusehen; und dann — die Dohlen.

»Ja, wir können nach Proljotnoje ziehen: dort gibt es soviel Blumen.«

Und Anna Petrowna begann wieder aufgeregt von den Schönheiten der Alhambraschlösser zu erzählen; in ihrer Begeisterung merkte sie nicht, daß sie immerzu statt ich — wir sagte: d. h. sie und Mantalini.

»Wir kamen am Morgen an, in einem wundervollen kleinen Wagen, der von Eseln gezogen wurde; das Geschirrzeug war mit so großen Quasten verziert; und wissen Sie, Apollon Apollonowitsch, wir gewöhnten uns . . .«

Endlich sagte er weinerlich:

»Ich bin aber müde . . .«

Und er erhob sich aus dem Lehnsessel und setzte sich in den Schaukelstuhl.


Nikolai Apollonowitsch übernahm es, seine Mutter ins Hotel zu bringen; beim Verlassen des Salons drehte er sich noch einmal um und sah seinen Vater an; er begegnete einem auf ihn gerichteten — oder schien es ihm nur so? — traurigen Blick; Apollon Apollonowitsch saß im Schaukelstuhl und wiegte diesen leise durch bloße Bewegung des Kopfes wie der Füße; das war des Sohnes letzter Eindruck; eigentlich hat er den Vater nie mehr gesehen; auf dem Lande und auf der See, in den Bergen und in den Städten, in den glänzenden Sälen der großen europäischen Museen — überall hatte er später diesen Blick gesehen, und ihm schien: Apollon Apollonowitsch hatte damals für immer Abschied von ihm genommen — durch jene leichte Verneigung des Kopfes und durch Bewegen des Fußes; das alte Gesicht, das leise Knarren des Schaukelstuhls und — dieser Blick, dieser Blick!

Die kleine Uhr

Nikolai Apollonowitsch begleitete seine Mutter zum Hotel und ging dann — auf die Moika; kein Licht in den Fenstern: die Lichutins waren also nicht zu Hause; es war nichts zu machen, so ging er also seiner Wohnung zu.

Humpelnd erreichte er sein Schlafzimmer; da blieb er im völligen Dunkel stehen: Schatten, Schatten, Schatten; das Licht der Laterne spannte ein Schleiernetz aus hellen Flecken auf die Zimmerdecke; mechanisch zündete er eine Kerze an; dann nahm er seine Uhr aus der Tasche; zerstreut sah er auf sie hin: es war drei Uhr.

Jetzt erhob sich in ihm alles von neuem.

Er fühlte: er hat seine Angst nicht überwunden; die Sicherheit, die ihn den ganzen Abend aufrechterhalten hatte, schwand plötzlich; alles begann zu schwanken; er wollte Brom einnehmen; doch war keins da; er wollte die Offenbarungen lesen; das Buch war weg; in diesem Augenblick vernahm sein Ohr deutlich einen beunruhigenden Laut: Tick tack, tick tack . . . Leise tönte es. Die Sardinenbüchse?

Dieser Gedanke befestigte sich in ihm immer mehr.

»Pepp Peppowitsch Pepp . . . Pepp . . .«

Um Nikolai Apollonowitsch wurde es immer kälter; kalte Winde wehten ihm in die Stirn; gleich wird die gewaltige, rasch wachsende Kugel zerspringen und dann — wird alles ganz einfach sein.

Die kleine Uhr aber tickte weiter.

Nikolai Apollonowitsch horchte angestrengt: der Laut verfolgte ihn; er suchte nach der Stelle, von der er herkam; leise auftretend — nur die Schuhsohlen knarrten — näherte er sich dem Tisch; das Ticken wurde deutlicher; als er aber dicht an den Tisch herankam, verstummte der Laut plötzlich.

»Tick tack« — kam es jetzt leise aus der entlegenen Schattenecke; er schlich sich nun vom Tisch in die Ecke; Schatten, Schatten, Schatten; Grabesstille . . .

Nikolai Apollonowitsch rannte keuchend hin und her zwischen den tanzenden Schatten, sich bemühend, den neckisch ausweichenden Laut zu erhaschen (so haschen Kinder mit Fangnetzen nach gelben Schmetterlingen).

Jetzt hat er’s: dort ist die Stelle, von der der sonderbare Laut kam; ganz deutlich wird das Ticken; noch einen Augenblick und er hat’s.

Wo aber? wo, wo?

Plötzlich fand er den Punkt, von dem aus sich der Laut ausbreitete: dieser Punkt war sein eigener Bauch.

Erst jetzt bemerkte Nikolai Apollonowitsch, daß er vor dem Nachttischchen stand, auf dem, gerade auf der Höhe seines Bauches, seine Taschenuhr lag . . . Zerstreut sah er auf sie hin: sie zeigte die vierte Nachtstunde.

Nun kehrte er wieder in seinen Rahmen zurück: Leutnant Lichutin hatte die verfluchte Bombe weggetragen; das Deliriumgefühl verlor sich, rasch warf er den Salonanzug von sich ab; mit wonnigem Gefühl befreite er sich aus der Stärke der Wäsche: riß Kragen und Hemd herunter; dann zog er die Unterhose aus: das Bein zeigte neben dem Knie eine blutunterlaufene Stelle; das Knie war ein wenig geschwollen; endlich steckten auch die Beine unter der weißen Decke; sinnend lag er, den Kopf auf den Arm gestützt; das weiße Märtyrergesicht zeichnete sich deutlich auf dem weißen Linnen.

Und dann erlosch das Licht.

Die Uhr tickte; ihn umfing vollständige Dunkelheit; im Dunkeln begann das Ticken wie ein von einer Blume losgelöster Falter durchs Zimmer zu hüpfen: bald war es da, bald dort; und seine Gedanken tickten mit; an verschiedenen Stellen des entzündeten Körpers pulsierten die Gedanken: am Hals, in der Kehle, in den Armen, im Kopf.

Einander überholend rasten die Pulse durch den Körper. Es waren Schwärme sich selbst denkender Gedanken.

Und es tickt doch, es tickt . . .

Ein anderer folgte . . .

Der freie Gedanke klammerte sich an etwas, was das Hirn bewußt verwahrt: die Sardinenbüchse ist hier, die Sardinenbüchse ist hier; in ihr bewegt sich kreisend der kleine Zeiger; der Zeiger wird müde: er nähert sich dem verhängnisvollen Punkt (dieser Punkt ist schon nahe). . .

und ein Donnern ertönt, das du vielleicht nicht einmal hören wirst; denn ehe es das Trommelfell deines Ohrs erreicht, wird dein Trommelfell zerrissen sein (und manches andere auch) —

— Mit Wahnsinnsbewegung sprang da Nikolai Apollonowitsch aus dem Bette: die Pulse übertönten die selbstdenkenden Gedanken; die Pulse hüpften nicht mehr, sie schlugen wild: in den Schläfen, am Hals, in der Kehle, in den Händen und . . . überall außerhalb dieser Organe.

Barfüßig patschte er durchs Zimmer, doch statt zur Tür geriet er in die Ecke.

Der Morgen wartete, grau.

Er schlüpfte rasch in die Unterhose und schlich in den dunkeln Korridor: warum, warum? Ach, ganz einfach, er fürchtete sich . . . Er wurde von tierischer Angst für sein eigenes, kostbares Leben erfaßt; aus dem Korridor ins Zimmer zurück konnte er nicht mehr; wieder in sein Zimmer hineinzugehen, dazu fehlte ihm — der Mut; nach der Bombe zu suchen hatte er weder Zeit noch Kraft; in seinem Kopf hatte sich alles verwirrt, er konnte sich nicht mehr genau der Stunde erinnern, wann die Frist abläuft: jeder Augenblick konnte der verhängnisvolle sein. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als bis zum Tagesanbruch hier im Korridor, zitternd, zu kauern.

Er näherte sich einer Ecke und hockte sich nieder.

Die Augenblicke rannen langsam; Minuten schienen ihm Stunden; und viele Hunderte von Stunden flossen da hin; der Korridor wurde bläulich; der Korridor wurde grau: der helle Tag begann.

Nikolai Apollonowitsch überzeugte sich immer mehr von der Unsinnigkeit der selbstdenkenden Gedanken; diese Gedanken hatten jetzt plötzlich ihren Sitz in seinem Gehirn und das Gehirn verarbeitete sie; als er sich sagte, die Frist sei nun schon längst abgelaufen, stellte sich von selbst die Version ein: Lichutin habe die Sardinenbüchse weggetragen, und dies umgab ihn mit dem Duft wonnigster Bilder; und Nikolai Apollonowitsch, im Korridor kauernd, verfiel — sei’s aus dem Gefühl der Sicherheit, sei’s aus Müdigkeit — in sanften — Schlummer.

Die Berührung von etwas Feuchtem an seiner Stirn brachte ihn wieder zu sich; er schlug die Augen auf und erblickte — die speichelbedeckte Schnauze der Bulldogge; schnaufend und wedelnd stand die Bulldogge vor ihm; gleichgültig stieß er den Hund von sich; von neuem in das Frühere verfallend war er daran, das unbestimmte Etwas fortzuspinnen, mit Spiralen und Kreisen zu spielen, in der Erwartung daß es ihm dabei gelänge, irgendeine Entdeckung zu machen. Plötzlich kam ihm deutlich zum Bewußtsein: wieso ist er hier?

Wieso ist er im Korridor?

Im Halbschlaf schleppte er sich in sein Zimmer zurück, und während er sich seinem Bette näherte, beschäftigten sich seine halb vom Schlaf umfangenen Gedanken noch immer mit den Kreisen und Spiralen . . .

Da krachte es: er begriff alles.


— Später.

— An langen Winterabenden erinnerte sich Nikolai Apollonowitsch oft an dieses grauenhafte Krachen; es war etwas ganz Besonderes in ihm, mit nichts Vergleichbares; betäubend, und doch nicht allzu laut; betäubend und — dumpf: mit metallischer, tiefer, dunkler Note; dann war es totenstill.


Bald darauf ertönten Stimmen; unregelmäßige Schritte nackter Füße wurden hörbar und das leise Heulen der Bulldogge; die Telephonglocke schrillte; Nikolai Apollonowitsch entschloß sich endlich, die Tür seines Zimmers zu öffnen; ein kalter Luftstrom schlug ihm gegen die Brust; sein Zimmer war erfüllt mit zitronengelbem Rauch; er schritt weiter durch den Rauch und plötzlich stolperte er an einem Stück Holz; eher das Gefühl als der Verstand sagte ihm, daß es ein abgespaltetes Stück von einer Tür war.

Hier ein Haufen Mauersteine; da Schatten von Menschen, die durch den Rauch rennen; angebrannte Fetzen von einem Teppich . . . Wie kommen die her? Einer der Schatten, aus dem Rauchvorhang vortretend, brüllte ihn an:

»He, was stehst du da herum: siehst du nicht, was für ein Unglück im Hause passiert ist?«

Eine zweite Stimme rief:

»Diese Schufte sollte man! . . .«

»Das bin ich . . .« versuchte er zu sagen.

Er wurde unterbrochen.

»Eine Bombe! . . .«

»Ooh . . .«

»Jawohl, eine richtige . . . geplatzt ist sie . . .«

— ?

»Im Zimmer von Apollon Apollonowitsch . . .«

— ?

»Ist Gott sei Dank — unverletzt geblieben . . .«

Wir erinnern unseren Leser: Apollon Apollonowitsch hatte ja die Sardinenbüchse, ohne ihr besondere Beachtung zu schenken, aus dem Zimmer des Sohnes in das seine getragen; dann hatte er sie völlig vergessen; er ahnte selbstverständlich nicht, welchen Inhalt sie barg.

Nikolai Apollonowitsch eilte zu der Stelle, wo soeben noch eine Tür, jetzt aber nur eine mächtige Öffnung war, aus der sich Rauchknäule wälzten . . .


Ohne zu wissen warum, lief Nikolai Apollonowitsch von der gähnenden Öffnung zurück und sah sich — er wußte nicht, wo . . . —

Auf dem schneeweißen Bett (direkt auf dem Kopfkissen!) hockte Apollon Apollonowitsch, die nackten Beine an die haarige Brust gedrückt; er war nur mit

dem Nachthemd bekleidet; er hielt mit den Armen die Knie umklammert und — weinte, nein, heulte herzzerbrechend; in der Verwirrung wurde er völlig vergessen; keiner der Diener war bei ihm, nicht einmal Ssemjonytsch; niemand war da, um ihn zu beruhigen; ganz allein, mutterseelenallein saß er da und . . . seine Stimme klang schon ganz heiser . . . —

Nikolai Apollonowitsch sprang zu dem hilflosen Körper hinzu, wie die Amme zu der hingefallenen ihr anvertrauten Dreijährigen hinzuspringt, die sie unbeachtet mitten auf der Landstraße sitzengelassen hatte; doch beim Herannahen des Sohnes machte der kleine hilflose Körper einen jähen Sprung auf seinem Kissen und begann mit den Armen zu fuchteln: mit einem unbeschreiblichen Grauen und unkindlicher Heftigkeit.

Und mit einem einzigen flinken Satz war er bei der Tür und verschwand.

Nikolai Apollonowitsch ihm nach; mit dem Ruf »Halt, halt!« jagte er hinter der kleinen wahnsinnig gewordenen Gestalt her (übrigens: wer von ihnen war der Wahnsinnige?). Beide liefen sie durch den Rauch, an verbrannten Fetzen und gestikulierenden Menschen vorbei, den Korridor entlang; das Nachthemd des Laufenden flatterte in der Luft; die Fersen schimmerten weiß; Nikolai Apollonowitsch hielt mit einer Hand seine Unterhose fest und bemühte sich mit der anderen, den flatternden Rand des väterlichen Nachthemdes zu erhaschen.

Im Laufen rief er:

»So warten Sie doch . . .«

»Wohin, wohin?«

»Aber bleiben Sie doch stehen . . .«

Als Apollon Apollonowitsch die Tür des mit nichts vergleichbaren Raumes erreicht hatte, riß er sie mit unglaublicher Behendigkeit auf und schlüpfte überraschend schnell hinein, in das Innere.

Nikolai Apollonowitsch sprang unwillkürlich erst einen Schritt zurück; vor ihm schwebten: die scharfe Kopfbewegung, die schweißbedeckte Stirn, die Lippen, die Augen, die wie geschmolzener Stein glänzten; aber die Tür wurde zugeschlagen, der Riegel innen vorgeschoben: der Alte hat sich in das unvergleichliche Örtchen geflüchtet.

Nikolai Apollonowitsch begann mit aller Wucht an die Türe zu hämmern, er bat, flehte bis zur Heiserkeit:

»Machen Sie doch auf . . .«

»Öffnen Sie doch . . .«

»Aaa . . . Aaa . . . Aaa . . .«

Erschöpft sank er auf den Boden hin.

Der Kopf fiel ihm auf die schlaff über den Knien hängenden Arme, er verlor das Bewußtsein; die Diener fanden ihn und brachten ihn in sein Zimmer.

Hier setzen wir einen Punkt.

Wir verzichten auf die Beschreibung, wie der Brand gelöscht wurde, wie der Senator während des polizeilichen Vernehmens einen schweren Herzkrampf bekam; ein gleich darauf einberufenes Ärztekonsilium stellte eine Erweiterung der Aorta fest. Ein paar Leute wurden verhaftet, doch wegen Mangels an Beweismaterial nach einiger Zeit wieder freigelassen. Die weitere Untersuchung wurde auf Betreiben des Senators eingestellt und die Sache vertuscht. Während all dieser Zeit lag der Sohn, Nikolai Apollonowitsch, an einem Nervenfieber bewußtlos danieder; als er endlich zu sich kam, sah er sich mit seiner Mutter allein; Apollon Apollonowitsch hatte das lackierte Haus verlassen; er hatte Urlaub genommen und sich auf sein Erbgut zurückgezogen, wo er ohne Unterbrechung den ganzen Winter, hinter den Schneefeldern begraben, zubrachte. Nach Ablauf seines Urlaubs quittierte er definitiv den Dienst. Ehe er die Residenz verließ, hatte er für den Sohn einen Auslandspaß sowie eine beträchtliche Geldsumme zurechtgelegt. Sofja Petrowna Ableuchow begleitete Nikolenka ins Ausland; im Spätsommer erst kehrte sie allein zurück; Nikolai Apollonowitsch ist bis zum Tode seines Vater nicht mehr nach Rußland zurückgekehrt.

 

 

 

Fußnoten

1) Die berühmte, schon von Puschkin besungene Spitze des Arsenals.

2) Ein viel bevölkerter älterer Stadtteil Petersburgs hinter der Newa, von verschiedenen Newaarmen sowie Kanälen durchschnitten.

3) Das berühmte aus Kupfer gegossene Denkmal Peters des Großen.

4) pfui.

 

 

 

Dieses Buch wurde im Auftrag des Verlags Georg Müller, München, in einer Auflage von 4000 Exemplaren in der Spamerschen Buchdruckerei zu Leipzig hergestellt. Einbände von der Leipziger Buchbinderei-A.-G. vormals Gustav Fritzsche, nach dem Entwurfe von Paul Renner.

 

 

 

Anmerkungen zur Transkription

 

Fußnoten wurden am Ende des Bandes gesammelt.

 

Die folgenden Korrekturen am Originaltext wurden vorgenommen:

 

Eine Reihe inkonsistenter Namensschreibungen wurde belassen wie im Original, wie z. B. Wassiljewski — Wassiljewskij, Soja — Sofja, Pantelemon — Panteleymon, Mawruscha — Marwruscha, Tschingis — Dschingis, Pépp — Pepp.