Title: Der Occultismus des Altertums
Author: Karl Kiesewetter
Contributor: Ludwig Kuhlenbeck
Release date: July 2, 2013 [eBook #43078]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
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von
Karl Kiesewetter.
Leipzig,
Verlag von Wilhelm Friedrich.
Druck von Emil Herrmann senior in Leipzig.
Der Occultismus des Altertums.
Von demselben Verfasser erschien in gleichem Verlage:
Geschichte des neueren Occultismus.
Broschiert Mark 16,–, gebunden Mark 18,–.
Geheimwissenschaften.
Broschiert Mark 16,–, gebunden Mark 18,–.
Der Occultismus des Altertums.
Der Occultismus bei den Akkadern, Babyloniern, Chaldäern und Assyriern.
Religionsphilosophie, weiße und schwarze Magie der Akkader.
Eine aus der Bibliothek des Königspalastes von Niniveh stammende Tafel mit den Fragmenten von 28 Zaubersprüchen. – Die akkadische Magie. – Religion der Kuschiten. – Planetengötter. – Tammuz. – Die obersten zwölf Götter. – Astralgeister. – Die obersten Naturgeister der Akkader. – Sieben Maskim. – Die akkadischen Beschwörungen der Maskim. – Die akkadischen Krankheitsbeschwörungen. – Mesmerisierte Bäder. – Verschiedene Arten von Talismanen. – Heilmesmerismus. – Transplantation der Krankheiten. – Der Bildzauber. – Die Verwünschung. – Silik-mulu-khi. – Das Urbild des Paktes mit dem Teufel. – Das Intellektualsystem der Akkader. – Die akkadische Geisterlehre. – Lehre von den Feruern.
Das Divinationswesen der Chaldäer.
Die Astrologie. – Observatorien. – Die Loswahrsagung. – Belomantie. – Die Beobachtung des Vogelflugs. – Wahrsagung aus den Eingeweiden der Opfertiere. – Traumdeutung. – Die wahrsagerische Beobachtung der VIWolken und atmosphärischen Erscheinungen. – Die Fulguration. – Wahrsagerei aus Erdbeben. – Phyllomantie, Wahrsagung aus der Bewegung und dem Rauschen der Bäume. – Die Schlange als wahrsagendes Tier. – Baalzebub, Baalfliege, Herr der Fliege. – Träume von Feuer und Flammen. – Incubation. – Nekromantie.
Der Occultismus der Meder und Perser.
Der medische Magismus.
Das System des Magismus. – Kambyses in Ägypten. – Feier des Magiermords. – Geist des ursprünglichen Mazdeismus. – Der siebenstöckige Thurm zu Borsippa. – Der babylonische Gestirn- und Planetendienst. – Die Trias. – Die drei Weltzonen. – Zrvâna-akarana, Ahuramazdâ und Angrômainyus. – Der Brauch der Menschenopfer. – Die turanischen Ureinwohner Mediens. – Die Wurzel aller Schlangen- und Teufelskulte. – Directe Nachkommen der alten Angrômainyusverehrer. – Yezidis oder Teufelsanbeter.
Der Zoroastrismus.
Das Leben Zoroasters.
Sohn des Poraschasp und der Dogdo. – Zendavesta. – Amschaspands. – Die vier Elemente des Menschenkörpers. – Parsismus. – Gustaspes. – Die mediumistischen Erscheinungen der Feuerfestigkeit und des forcierten Pflanzenwachstums. – Spuren der Physiognomik. – Das Darunopfer mit Wein, Wohlgerüchen, Milch und einem Granatapfel. – Sein Körper, aller Verwundung unfähig. – Der Brahmine Tschengregatscha. – Ardjaspes. – Iran. – Gründung des Cypressendienstes.
Der religionsphilosophisch-occultistische Inhalt und die Kosmogonie des Zoroastrismus.
Der religionsphilosophisch-occultistische Inhalt des Zoroastrismus.
Der Unendliche und Anbeginnlose Ahuramazdâ und Angrômainyus. – Zrvâna-akarana. – Die Feruer aller Wesen. – Gedanken du Prels anticipiert. – Die sieben Amschaspands. – Bahman. – Schahriver. – Sapandomad. VII– Chordad. – Amerdad. – Die Izeds. – Die Stufenleiter der Izeds. – Mithra. – Korschid. – Aban. – Ader. – Anahid. – Amiran. – Ard. – Arduisur. – Aschtad. – Asman. – Barzo. – Behram. – Dahman. – Din. – Farvardin. – Gosch. – Goschorun. – Mah. – Mansrespand. – Neriosengh. – Pavand. – Rameschne-kharan. – Raschne-rast. – Serosch. – Taschter. – Vad. – Venant. – Zemiad. – Der Urvater der Menschheit. – Die sieben Erzdews. – Kampf der guten und bösen Geister. – Der Tod. – Die Auferstehung der Toten.
Der zoroastrische Kultus.
Liebe und Haß, Sympathie und Antipathie. – Zoroaster gebietet unähnlich dem indischen Quietismus keine empfindungslose Geistesstille, keine Abtötung des Leibes. – Das heilige Altarfeuer Behram, das heilige Wasser Zahre, welches auf dem Urberg Albordj entspringt, und der heilige Hombaum, aus welchem der Lebenssaft, das Wasser der Unsterblichkeit hervorquillt. – Die Zauberer als Hände und Füße, Augen und Zungen von Angrômainyus betrachet. – Zweck der Religion Lichtwerdung der ganzen Schöpfung. – Die allgemeine Harmonie alles Lebendigen. – Gemeinde der Lebendigen. – Körper des Urworts. – Das Wort, das Urwesen, durch welches alle Wesen geworden sind, was sie sind. – Es ist eins mit der Lebenskraft und dem göttlichen Wesen. – Das erste Gesetz. – Das Werk der Finsternis. – Erhaltung der Reinheit der Seele. – Feuerdienst. – Die Reinigungen. – Das Wasser. – Das Fasten.
Auszug aus dem Bun-Dehesch, der parsistischen Kosmogonie.
Ahuramazdâ und Angrômainyus. – Die beiden Urprinzipien. – Die Fixsterne der Sichtbarkeit. – Meschgah. – Kaiomorts. – Sieben Fixsterne als Wächter. – Schöpfung des Wassers. – Der Urstier. – Der Hund Sura. – Meschia und Meschiane. – Von der Zeugung. – Eine Art mystischer Zoologie. – Von der Auferstehung der Toten und Wiederherstellung der Leiber. – Sostosch. – Vom sublunarischen Himmel. – Ewige Dauer.
Die Orakel Zoroasters.
Aphorismen. – Oneirokritik des Astrampsychus. – Kommentar des Psellos. – Plethon. – Incarnationen. – Das Bild von den Ausklopfern der Seele. – Paradies. – Der Astralkörper. – Hefe der Seele.
Der Occultismus der Inder.
Veden. – Rigveda. – Yayurveda. – Samaveda. – Artharvaveda. – Sabäismus. – Göttertrias: Brahma, Wischnu, Schiwa. – Brahma. – Der vergeistigte Mazdeismus. – Das Gesetzbuch des Manu. – Die kosmogonischen Philosopheme. – Äther (âkâsa). – Reincarnationen. – Die Weltendauer. – Pessimismus der indischen Religionsphilosophie. – Drei Dimensionen des Raumes. – Tamas. – Maya. – Satya. – Sankhyaphilosophie. – Echtheit der Theosophie. – Yogi. – Autohypnose. – Somatrank. – Atma. – Traumschlaf. – Ekstase. – Das Manas. – Indische Astrologie. – Die Siebenzahl. – Die Wochentage. – Tierkreis. – Die Entstehung des Tierkreises. – Harmonie des Makrokosmos mit dem Mikrokosmus. – Die eigentliche Astronomie. – Der Brahmane und später portugiesische Abbé Faria. – Schaustellungen der Bokte-Lamas. – Hucs Bericht über die magischen Wunderheilungen. – Der französische Gesandte Gobineau. – Zauberei in Camerun. – Oberstlieutenant T. G. Frazer. – Die wandelnden Krüge. – Die Fakire Jacolliots. – Covindasamy.
Der Occultismus der Ägypter.
Der ägyptische Occultismus als Priesterwissenschaft.
Jamblichus. – Die ägyptischen Priester. – Porphyrius. – Die Hofzauberer Pharaos. – Die Heilgottheiten der Ägypter. – Isis. – Horus. – Apis. – Phtha, das Bild des unendlichen Geistes.
Der Heilmagnetismus bei den alten Ägyptern.
Bentrosch-Stele nach der Übersetzung des Professor Dr. Lauth. – Chonsu Heilgott. – Der ägyptische Hypnotiseur. – Die sa-Striche. – Festmachen. – Erzeugung von Hypnose und Somnambulismus.
Die eigentliche magische Heilkunde der Ägypter.
Hermes Trismegistos. – Die hermetische Litteratur. – Heilkräfte gegen Hautkrankheiten und Epilepsie, gegen Augenkrankheiten, Zahnleiden, Ohrenleiden, IXNasenleiden, für die Kehle, für den Magen, für die Gedärme, für die Blase, für die Geschlechtsteile, für die Gebärmutter, für die Nieren. – Humoralpathologie. – Der Grundsatz: similia similibus. – Homöopathie. – Impfung und Serumtherapie. – Ebn Esras.
Die Seelenlehre der alten Ägypter.
Wahrscheinlichkeit, daß die Kabbala auf Moses zurückzuführen. – Totengericht. – Wägung des Herzens. – Das Zwischenreich. – Die Unterwelt Amenti. – Paradies. – Papyrus, Totenbuch. – Der Mensch als Monade in einer Siebenteilung. – 92. Kapitel des Totenbuches. – Tetragramme oder magische Quadrate.
Der Occultismus der Hebräer.
Die schwarze Magie der Hebräer.
Elementarwesen des Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde. – Salamander, Sylphen, Undinen und Pygmäen. – Pflanzlicher Nephesch (Astralleib). – Gewisse Vorgänge im modernen Mediumismus. – Mit Hilfe der Elementarwesen ausgeführte Magie. – Der Sohar. – Das magische Schauen. – Monen. – Astrologie der Tagewählerei. – Nichusch, wahrsagende Deutung der Erscheinungen und Veränderungen irdischer Dinge. – Doresch ha Methim, ein Befragen der Toten. – Der Kischuph. – Beschwörung der Satanim. – Habal de Garmin. – Schädigende Willensmagie.
Die Kabbala.
Das Alter der Kabbala.
Joseph ben Akiba. – Simon ben Jochai. – Gemara. – Mischna. – Rabbi Zera. – Die mysteriöse und heilige Lehre der Merkaba. – Das Tetragrammaton. – Maimonides. – Geheimlehre über die Schöpfung und die Natur der Gottheit. – Kultus des Buchstabens. – Kabbalisten im Gegensatz zu den Essäern. – Die Adepten der Kabbala.
Die kabbalistischen Bücher. – Die Authenticität des Sepher Jezirah.
Überlieferung des Talmud. – Die Darstellungsweise des Jezirah. – Autorität des Moses Botril. – Rabbi Akiba. – Der Verfasser des Buches der Schöpfung.
Die Authenticität des Sohar.
Rabbi Moses ben Nachman. – Rabbi Ascher. – Rabbi Gedalia. – Jehuda ben Gerim. – Simon ben Jochai. – Der Verfasser des Sohar. – Moses von Leon. – Die Emanationslehre, Grundlehre des ganzen im Sohar entwickelten Systems. – Hieronymus, von den zehn mystischen Namen. – Die Stephiroth. – Die Kette der Tradition. – Supplement des Sohar. – Die kabbalistischen Lehren durch mündliche Tradition überliefert. – Das System des Simon ben Jochai. – Das Copernikanische System. – Der heilige Augustin über denselben Gegenstand.
Die Lehren der kabbalistischen Bücher. – Analyse des Sepher Jezirah.
Das Buch Jezirah. – Die zweiunddreißig wunderbaren Wege der Weisheit. – Die zehn Sephiroth. – Die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets. – Das letzte Wort des kabbalistischen Systems. – Transformation des Symbols zur Idee.
Analyse des Sohar. – Die allegorische Methode der Kabbalisten.
Die Kabbalisten schoben auf eine den Profanen unbekannte Weise in mysteriösem Sinn den historischen Thatsachen und positiven Geboten eine geheime Bedeutung unter. – Origenes, Homil 7 in Levit.
Die Anschauungen der Kabbalisten über die göttliche Natur.
Das Buch des Geheimnisses. – Dreizehntausend Myriaden Welten. – Der Name des Unendlichen En Soph. – Die göttlichen Attribute. – Idra Suta. – Der höchste Gedanke oder das Wort. – Besondere Rolle der einzelnen Sephiroth und ihre Gruppierung nach Trinitäten und Personen. – Hegel. – Die Personen dieser Trinität als drei aufeinanderfolgende und absolut notwendige Phasen des Denkens und Seins. – Mit der Hegelschen Philosophie vergleichbar, eine Verbindung von Ideen Platos und Spinozas. – Die drei ersten Sephiroth. – Die Sephiroth bilden in ihrer Gesamtheit XIden himmlischen oder idealen Menschen. – Absolute Identität der Existenz und des Gedankens. – Schechinah. – Die immanente Kraft der Dinge. – Das Buch der Geheimnisse. – Die Könige von Edom, die Welten, welche bestanden, noch ehe sich die Formen gebildet hatten, um als Mittelglied zwischen der Schöpfung und der göttlichen Wesenheit in ihrer größten Reinheit zu dienen. – Von dem Geschlechtsunterschied des idealen Menschen. – Die Metempsychose. – Die Dämonen. – Hüllen.
Die Weltanschauung der Kabbalisten.
Kommentatoren des Sepher Jezirah. – Das Dogma von der Schöpfung. – Ex nihilo nihil. – Der Erzengel des Bösen. – Samael. – Die Kabbalisten über die Physiognomik. – Die vier Gestalten des mystischen Wagens des Hesekiel. – Von der himmlischen und der höllischen Hierarchie. – Der Engel der Reinheit (Tahariel), der Barmherzigkeit (Rachmiel), der Gerechtigkeit (Zadkiel), der Befreiung (Padael), und der berühmte Raziel, welcher mit eifersüchtigen Augen die Geheimnisse der kabbalistischen Weisheit bewacht. – Der Engel des Feuers Nuriel, der des Lichts Uriel. – Die Absicht dieser Allegorien. – Die große Hure oder die Meisterin der Ausschweifungen Lilith. – Die Dämonologie der Kabbalisten eine notwendige Ergänzung ihrer Metaphysik.
Die Lehrmeinung der Kabbalisten von der menschlichen Seele.
Drei Principien oder vielmehr drei Grade der menschlichen Existenz. – Das individuelle Princip. – Von den Androgynen Platos. – Dogma der Präexistenz. – Die Lehre von der moralischen Prädestination. – Diejenigen welche auf der Welt Böses thun, haben schon im Himmel angefangen, sich vom Heiligen zu entfernen. – Probe der Seelenwanderung (Gilgul). – Die Rückkehr der Seele in den Schoß der Gottheit. – Palast der Liebe. – Küsse der Liebe. – Das Dogma vom Sündenfall.
Blüten vom Baume der Kabbala.
Grundstoff (Huli) der Welt. – Isaak Loriah: Sepher Cch'wanoth, Fol. 46. – Massel (Genius, transcendentales Subject). – Nischmath Chajim, Fol. 101. – Nephesch. – Machschaba (Imagination). – Mairecheth Aeloluth, Fol. 41, 63. – Der Ruach der Tiere. – Der umkreisende Äther. – Gedanken des Herzens wirken auf den Äther ein. – Esarah Maimeroth, Fol. 49.
Der Occultismus der alten Griechen.
Die jonischen Naturphilosophen.
Berührung des Occultismus mit der Philosophie. – Thales von Milet. – Seine Lehre vom flüssigen Urstoff. – Hylozoimus. – Aussprüche des Thales. – Anaximander. – Der gasförmige Urzustand. – Nebularhypothese. – Entstehen und Vergehen der Welten. – Anaximenes. – Bedeutung der Verdünnung und Verdichtung. – Hippo, Idaeus und Diogenes von Apollonia. – Kreisbewegung. – Heraclit der Dunkle. – Sein ist Werden. – Lehre von den Weltperioden. – Das große Jahr. – Beziehungen zu Zoroaster.
Pythagoras und die Alt-Pythagoräer.
Geschichte seines Lebens. – Geheimbund. – Die einfachsten Zahlenbestimmungen der musikalischen Harmonie. – Zahlenmystische Spielereien. – Theologie der alten Pythagoräer. – Die kosmologischen Einsichten. – Harmonie der Sphären. – Metempsychose, richtiger Metemsomatose. – Palingenesie. – Sexuelle Enthaltsamkeit. – Genuß der Bohnen.
Die Eleaten.
Xenophanes. – Skepsis. – Reiner Monotheismus. – Parmenides. – Vorläufer der Naturphilosophie des Telesius. – Warmes und Kaltes. – Zeno, der Eleat. – Einheit des Seins. – Wesen von Raum und Zeit. – Wirklichkeit und Erscheinung. – Gesetz der bestimmten Anzahl. – Rangordnung der Realitäten.
Empedocles, Pherekydes, Epimenides von Kreta.
Praktiker auf dem Gebiete der sog. Geheimwissenschaften. – Medizin-Mann. – Hypnotische Technik. – Goëtie. – Charlatanerie. – Kreislauf des Stoffwechsels. – Attraktionskraft und Repulsionskraft. – Liebe und Haß. – Darwinistische Theorie. – Antizipation der Lehre von der indirekten Auslese. – Seelenwanderungslehre. – Vegetarismus. – Pherekydes. – Sehertum. – Theogonie. – Epimenides von Kreta. – Jatromanten. – Nona. – Epidemische Geisteskrankheit. – Reinigungsceremonien. – Orpheotelesten. – Das Wunder suggestiver Massenheilung.
Die Geheimlehre der Mysterien.
Bacchische und cerealische. – Kreta. – Soziale Nebentendenz. – Die bacchischen Mysterien. – Ahnung der göttlichen Einheit. – Geheimkult indischen Ursprungs. – Dionysos. – Zagreus. – Die Siebenzahl. – Weltökonomie. – Spiegelbecher. – Phallus. – Lingam und Yoni. – Die Welt des Scheins. – Becher der Reinigung oder Wiedergeburt. – Spekulative Analyse der indischen Ideen. – Die schaffende Gottheit Welt-Lingam. – Die cerealischen Mysterien. – Die Eleusinien. – Erntefeste. – Die sog. kleinen Mysterien. – Erkennungszeichen. – Die letzte Weihe, epopteia. – Selbstschau. – Conx ompax. – Spiritismus. – Unsterblichkeit. – Demeter eine Gottheit mit doppeltem Charakter. – Spekulative Analyse des Inhalts der eleusinischen Lehre. – Die Toten sind Demetrier. – Die Thesmophorien. – Der Ackerbau als das fruchtbarste Prinzip der Humanität. – Mysterium der Ehe. – Natürlich geschlechtliche Basis der Ehe. – Neuntägige Enthaltung von geschlechtlichem Verkehr. – Sthenien. – Die Orgie in Halimus. – Schamlose Seite altheidnischer Feste. – Kteis. – Orgiasmus. – Die samothrakischen Mysterien. – Todesfeier des Dionysios. – Orphiker. – Heilige Sage.
Anaxagoras.
Nus, Verstand. – Homöomerien.
Die Atomistiker, insbesondere Demokritos.
Leucippos. – Demokrit. – Atomverbindungen. – Quantitative Beziehungen. – Primäre und sekundäre Eigenschaften. – Besonderer Seelenstoff. – Sophistik.
Sokrates und sein Dämonium.
Problem des sog. Genius. – Glauben an die Orakel. – Dämonion. – Vulgäre Psychologie. – Unbegreiflichkeit des Phämomens. – Dühring. – Dramatische Spaltung des Ich. – Du Prels Mystik der alten Griechen.
Platon.
Platon der Vater des Idealismus. – Traum des Sokrates. – Große Reise nach Cyrene und nach Ägypten. – Syrakus. – Dionysios. – Dion. – Unverletzte Virginität. – Platos Lehre. – Der Theätet, der Sophist und der XIVPolitikos. – Parmenides. – Ideenlehre. – Bedeutung der platonischen Ideen. – Lotze in seiner Metaphysik. – Verhältnis der Ideenwelt zur Gottheit. – Phädrus, Philebus, die Republik und der Dialog von den Gesetzen. – Unsterblichkeit der Seele. – Phaedon, der Staat, Phaedrus, Timaeus und das Gastmahl. – Der intelligible Charakter. – Ästhetische Mystik.
Aristoteles.
Universal-Gelehrter. – Scholastik. – Überschätzung. – Exoterische und esoterische Schriften. – Form und Stoff. – Dualismus. – Seelenlehre. – Entelechie. – Persönliche Substanz. – Der thätige Intellekt. – Der leidentliche Intellekt. – Rationalistische Theorie der Träume.
Der Occultismus der alten Römer.
Einfluß der Etrusker auf die römische Religion.
Die Verhüllten.
Die Religion der Römer.
Die Religion im Dienste des Staates. – R. v. Ihering. – Machiavellismus der Römer. – Ver sacrum. – Jupiter. – Mars. – Quirinus. – Juno. – Die Matronalien. – Ficus Ruminalis. – Nebenbedeutung allerintimster Natur. – Lupercus. – Lupera. – Innuus. – Unfruchtbarkeit. – Februare. – Rock der Juno. – Subigus. – Prema. – Pertunda. – Perfica. – Fluonia. – Lucina. – Befriedigung des Geschlechtstriebes. – Janus. – Saturn. – Das goldene Zeitalter. – Ceres, Liber und Libera. – Fascinum = Phallus. – Flora. – Euhemeristische Mythologie. – Die Freudenmädchen. – Die römische Venus. – Volupia, die eigentliche Göttin der Wollust. – Angeronia. – Cloacina. – Minerva. – Vulcan. – Faunus. – Ficarii und Incubi. – Fatua. – Pales. – Priapus. – Anna Perenna. – Acca Laurentia. – Die Apotheose eines Freudenmädchens. – Die geschlechtliche Sinnlichkeit des Römers. – Volksmetaphysik.
Unsterblichkeitsglaube und Jenseitsvorstellung.
Eine sozial sehr zweckmäßige Eigenschaft. – Genien, Laren oder Manen und Lemuren. – Manen. – Totenfest. – Aller-Seelenfeier. – Larenopfer. – Venus Libitina. – Beziehung der Demeter zum Tode und zur Zeugung.
Der Glaube an Magie und symbolische Handlungen.
Cicero in seiner Schrift über die Weissagung. – Ausführung des Naturforschers Plinius.
Weissagung und Zeichendeuterei. Orakel. Sibyllinische Bücher.
Werfen der Loose. – Orakel. – Tibur. – Somnambule Zustände. – Orakel zu Tumae. – Sibylle. – Neun Bücher Weissagungen. – Die sog. sibyllinischen Bücher. – Eine sibyllinische Weissagung.
Beobachtung der Himmelszeichen, Vögel, Blitze u. s. w., und Opferschau.
Augurium. – Auguren. – Der Glaube der alten Römer an die Unfehlbarkeit der Auspicien. – Geheimwissenschaft. – Verfahren. – Flug der Vögel. – Fressen der heiligen Hühner. – Cicero über die Auspicien. – Opferschauer. – Haruspicium. – Ein Wort Hannibals. – Beobachtung der Blitze. – Jupiter, Elicius. – Wettermagie.
Der Occultimus der Alexandriner, Neupythagoräer und Neuplatoniker.
Die Alexandriner.
Philos Leben und Lehrweise.
Alexandria. – Bibliothek. – Philos Leben. – Versuche, das alte Testament esoterisch zu deuten. – Die mystische Reise nach Haran. – Ekstase der indischen Sonnen- und Mondkinder. – Der Logos.
Philos Mystik.
Sekte der Essäer durch buddhistische Missionäre gestiftet. – Sündenfall. – Askese oder Unterricht. – Heraustreten aus dem eigenen Ich.
Die Elemente der Gnosis bei Philo.
Theosophie Philos. – Die doppelte Erkenntnis.
II. Die Therapeuten und Essäer.
Josephus. – Ihre Gütergemeinschaft.
Die Neupythagoräer.
Parallele Christi. – Zweifel an der Existenz des Apollonius. – Eduard Baltzer. – Apollonius, ein entschiedener Spiritist. – Julia Domna. – Philostratus von Lemnos. – Mysterien des Aeskulapdienstes. – Schweigezeit. – Die indischen Brahmanen. – Ereignisse im Leben des Apollonius. – Parallele aus der Autobiographie des Bürgermeisters Barth. Sastrow zu Stralsund. – Gymnosophisten.
Die Neuplatoniker.
Plotinos.
Plutarch. – L. Apulejus. – Ammonios Sakkas. – Longinos. – Porphyrius. – Die Verstandeswelt, das Muster der Sinnenwelt. – Das Geisterreich. – Die Einkörperung der Seele. – Zwei Wege, zum Schauen des Einen, Ersten und Höchsten.
Porphyrius, Jamblichus, Proklus, Sosipatra.
Vereinigung mit Gott. – Vehikel der Seele. – Dämonologie. – Mantik. – Jamblichus. – Materialisation. – Schrift De mysteriis Aegyptiorum. – Annahme eines Astralleibes. – Prachtstück der theurgischen Weisheit. – Proklus. – Sosipatra.
Hierokles und sein Kommentar zu den goldenen Sprüchen des Pythagoras. – Die letzten Neuplatoniker.
Vierundfünfzig Strophen der goldenen Sprüche. – Hierokles. – Erkenntnis der Doppelnatur des Menschen. – Die mystische Reinigung.
Synesios, der letzte Neuplatoniker, sein Leben und seine Lehren.
Hypatia. – Cyrenaica oder Pentapolis. – Messias-Putsch. – Synesios in Konstantinopel. – Schrift „Die Ägypter, oder über die Vorsehung“. – Bischofswürde. – Die Schrift über die Träume.
Die Gnostiker und Manichäer.
Der Occultismus der Kelten und Germanen.
Die Kelten.
Die Druiden.
Das Religionssystem der Kelten. – Pentalpha. – Geheimlehre. – Die auf Eichen wachsende Mistel. – Triaden. – Oberdruide.
Gottesdienst und Geheimlehre der Druiden.
Menschenopfer. – Teutates. – Seelenführer. – Esus oder Hesus. – Die Insel Mona. – Hu gadarn. – Die Gotteinheit der britischen Kelten. – Mysterien vom Tode des Hu. – Ceridwen. – Tetragrammaton. – Lehrgebäude des Kesselordens.
Der Occultismus der Germanen.
Entwickelungsgeschichte der germanischen Mythologie.
Die Weltschöpfung der Edda. Yggdrasil.
Dualismus eines bösen und guten Weltprinzips. – Der Mythus vom Weltbaum.
Der Götterhimmel der Germanen.
Die Edda. – Odin. – Odin-Wodan. – Das Gespensterheer. – Die Erzählung der Edda vom Dichtertrank. – Der runenkundige Gott. – Lehre vom Doppel-Ich. – Thor und Loki. – Balder. – Hödur. – Deutung dieses Mythus. – Frigg. – Iduna.
Götterdämmerung und Wiedergeburt.
Ragnarök. – Weltuntergang. – Esoterische Idee der Wiedergeburt.
Der Occultismus der barbarischen Völker.
Skythen. – Toxaris und Anacharsis. – Massageten. – Geten. – Zamolxis. – Hyperboräer. – Abaois. – Taurer.
Vorwort.
Am zweiten Ostertage v. J. (1895) starb Karl Kiesewetter, einer der eifrigsten Forscher auf dem Gebiete des „Wunderbaren und Geheimnisvollen“, der Verfasser der „Geschichte des neueren Occultismus“, der „Geheimwissenschaften“ und des ersten Halbbandes dieses Buches über den „Occultismus des Altertums“. Ein plötzlicher Tod entriß ihn im besten Mannesalter seinem eigenartigen Studiengebiete, auf dem er augenscheinlich eine erstaunliche Belesenheit und Quellenkunde besaß.
Die Verlagshandlung wandte sich nun an mich, mit dem Antrage, die Herstellung des zweiten Halbbandes dieses Buches unter Benutzung des Kiesewetterschen handschriftlichen Nachlasses zu übernehmen und zwar genau nach der bereits von Kiesewetter festgestellten Disposition. Die Einsicht des handschriftlichen Nachlasses ergab, daß der Verstorbene nur das achte Buch seiner Disposition, den Abschnitt über die Alexandriner, Neupythagoräer und Neuplatoniker ausgearbeitet hatte.
Der wohlwollende Leser möge die ganze von mir gelieferte Arbeit nicht etwa als ein Werk auffassen, das mit wissenschaftlicher Prätension sich etwaigen ähnlichen Forschungen über „vergleichende Religionswissenschaft“ zur Seite stellen möchte, sondern als das Ergebnis dilettantischer Nebenstunden, als eine dem gebildeten Dilettanten XXselber, der über keine Zeit und keine genügende Ausdauer verfügt, aus dem Staube der Bibliotheken und dem Studium schwerfällig gelehrter Originalwerke das ihn Interessierende selber herauszusuchen, gewidmete Skizze eklektischer Streifzüge ins Gebiet der Mystik.
Dixi et salvavi animam meam.
Jena, im Februar 1896.
L. Kuhlenbeck.
Der Occultismus ist so alt wie die ihrer selbst bewußte Menschheit, und selbst wo uns die Hieroglyphen Ägyptens im Stich lassen, führt uns die Keilschriftlitteratur der Euphrat- und Tigrislande in die graueste Urzeit des Menschengeschlechts hinauf und zeigt uns, daß zum allermindesten tausend Jahre vor Beginn der beglaubigten Geschichte der Occultismus in seinem Kern derselbe war wie heute. Natürlich wechselten mit den verschiedenen Staatsreligionen seine Formen, und wir haben deshalb den stets gleichen esoterischen Kern unter den wechselnden Hüllen der Dogmen nachzuweisen sowie auch seine fortschreitende Weiterbildung und Ausreifung.
Vor noch nicht einem Menschenalter – im Jahre 1866 – veröffentlichten die englischen Orientalisten Sir Henry Rawlinson und Norris im zweiten Band der Cuneiform Inscriptions of Western Asia eine aus der Bibliothek des Königspalastes von Niniveh stammende Tafel mit den Fragmenten von 28 Zaubersprüchen, welche, wie Lenormant sagt[1]: „von der Existenz einer so künstlichen und zahlreichen Dämonologie bei den Chaldäern zeugt, wie sie sich ein Jacob Sprenger, Jean Bodin, Wier oder Pierre de Lancre wohl nimmer vorgestellt hätten. Es erschließt sich uns darin eine ganze Welt von bösen Geistern, deren Rangordnung mit vieler Gelehrsamkeit festgestellt, deren Persönlichkeiten sorgfältig unterschieden und deren besondere Eigenschaften scharf präcisiert sind.“
Außerdem entdeckte Layard an gleicher Stelle die gegenwärtig im British Museum aufbewahrten Fragmente eines umfangreichen magischen Werkes von zweihundert Tafeln, welches für Chaldäa wohl das Gleiche war, was die alten Inder in ihrem Atharva-Veda besaßen, nämlich eine Sammlung aller Formeln, Beschwörungen und Hymnen der chaldäischen Magier, von denen die Schriftsteller des Altertums berichten.
Diese Urkunden sind in akkadischer, einer den finnischen und tartarischen Dialekten verwandten turanischen Sprache abgefaßt, welche von den vorgeschichtlichen Ureinwohnern Chaldäas, den Akkadern, gesprochen wurde. Assurbanhabal ließ dieselben im siebenten Jahrhundert v. Chr. für seine Palastbibliothek mit der überlieferten assyrischen Interlinearversion abschreiben, ohne welche sie wohl nicht mehr verstanden worden wären, weil damals die akkadische schon über tausend Jahre eine tote Sprache war.
Dieses Erbe der Akkader, welches offenbar aus ältern im Laufe der Zeit zusammengestellten Überlieferungen besteht, führt in eine altersgraue Zeit hinauf, in welcher, wie wir sehen werden, neben dem Kultus kosmischer und tellurer Potenzen der Glaube an die Einheit und Geistigkeit des göttlichen Wesens bestand.
Die akkadische Magie beruhte auf einem vollständigen wohlgegliederten mythologischen System, welches in seinen Ursprüngen über das dritte Jahrtausend vor Christus zurückreicht. In diesem Jahrtausend wanderten vermutlich in das von den Akkadern bewohnte nachmalige Chaldäa Kuschiten ein, welche Sprache, Religion und Volkstum der Akkader allmählich in den Hintergrund drängten. In Babylonien wie in Chaldäa bildeten sich verschiedene Religionsformen aus, bis ums Jahr 2000 König Sargon eine einheitliche Staatsreligion einführte, die in Chaldäa und Babylonien wie später auch in Assyrien galt.
Diese Staatsreligion beruhte zum Teil auf der der syrischen und phönicischen verwandten Religion der Kuschiten; sie nahm aber viele akkadische Elemente auf, und so beginnt denn die bis zur Zeit Alexanders des Großen reichende Periode der „Chaldäer“. Allerdings nahmen in dieser Mischreligion die akkadischen Elemente mit ihrer Dämonenlehre und ihren Exorcismen einen untergeordneten Rang ein, und ihre Pfleger waren eine niedere Kaste von Zauberpriestern, 5welche durch ihre Beschwörungen Krankheiten und Bezauberungen zu heilen, Dämonen zu vertreiben, widrige elementarische Einflüsse zu zerstreuen usw. usw. suchten. Die oberste Priesterkaste waren die Chaldäer, welche – wie die persisch-medischen Magier – sich nur mit Astronomie und Astrologie befaßten.
Da bei den genannten Völkern Kultus und Occultismus auf das engste verbunden sind, müssen wir zunächst zu einer Darstellung ihrer Religionslehren übergehen.
Nach chaldäisch-babylonischer Anschauung ist die Erde von den als Gottheiten gedachten Meer, Ocean und Chaos (chald. Tiamat, Apsu und Mummu – Θαυάτϑ, Ἀπασῶν und Μωυμῖς des Berosus) geboren. Jedoch werden diese mystischen Gottheiten im öffentlichen Kultus nicht verehrt, sondern an ihre Stelle tritt zuerst die oberste Trias der männlichen Gottheiten, welcher eine gewisse Ähnlichkeit mit der christlichen Dreieinigkeit nicht abzusprechen ist. Die erste Person dieser Trias ist Anu (Himmel), der Erstgeborene, der Uralte, der Älteste der Götter, der Vater der Götter, der Gebieter der Finsternis. Er ist der Herr des Himmels und des Weltalls, schon ehe er dem Chaos eine feste Gestalt gegeben hatte, und zugleich der Gott der Welt und Zeit. Auf ihn folgt Ea, die das All durchdringende, belebende, lenkende und befruchtende göttliche Weisheit, der über dem Meer schwebende Geist. Die dritte Person dieser Trias ist Bel (akkad. Mul-ge), der Gebieter und die Personifikation der geordneten Schöpfung, der Bildner des Sternenhimmels und Lenker der geordneten Bewegung der Himmelskörper.
Diese drei Personen der obersten göttlichen Trias sind in ihrem Wesen gleich und gleich mächtig, ohne jedoch auf gleicher Stufe der Emanation zu stehen; Anu ist stets der Vater des Ea, aber bald der Vater und bald der Bruder des Bel.
Dieser obersten männlichen Trias steht eine weibliche gegenüber, Anat (akkad. Anu), Belit (akkad. Ningelal) und Davkina, welche man sich als der weibliche Ausdruck und Form der männlichen Trias dachte. Diese Gottheiten sind androgyner Natur, und dieser uralten Anschauung entstammen die von den Orphikern und Neuplatonikern gelehrten hierhergehörigen Mythen der klassischen Völker.
Der Begriff der Androgynie war bei den Chaldäern auch auf die 6Planetengötter übertragen, wie es denn von der Venus (Dilbat) heißt:
Wie lange sich diese Anschauungen erhielten, möge man daraus ersehen, daß in der Astrologie bis auf die neueste Zeit Mercur als Hermaphrodit gilt, welcher – am Morgenhimmel sichtbar – weiblich und am Abendhimmel männlich ist.
Die höchste Planetengottheit ist die Sonne, Samas, dessen weibliche Potenz Gula hieß; ihr folgte der Mondgott Sin, dessen weibliches Prinzip im Akkadischen Nin-gelal hieß; der assyrische Name ist noch nicht mit Sicherheit entziffert.
Diesen höchsten Planetengöttern folgen nun in bekannter Stufenreihe: Adar (Saturn), Maruduk (Jupiter), Nergal (Mars), Istar (Venus), Nebo (Mercur); akkadisch: Nin-dara, Amar-utuki, Nirgal, Sukus und Ak. Ihnen allen stehen mit Ausnahme der unklar androgyn gedachten Istar, deren geheimnisvoller Gatte Dumuzu heißt, ausgesprochene weibliche Prinzipe gegenüber. So dem Adar: die Belit, dem Maruduk die Zarpanit, dem Nergal die Laz, und endlich dem Nebo die Tasmit.
Da nun Venus und Mercur bald am Morgen, und bald am Abend sichtbar sind, so nahm man eine doppelte Istar, eine von Arbela und eine von Niniveh, an und machte aus Nebo gar zwei Persönlichkeiten, Nebo den Gott der Wissenschaften und Künste, und Nuzku, den Diener und Boten des Bel. – Wir sehen also hier schon völlig den mythologischen wie den astrologischen Charakter des Mercur vorgebildet.
Der geheimnisvolle Gatte Dumuzu (Tammuz) der Istar wurde ihr in seiner Jugendblüte entrissen und veranlaßte ihre Wanderung in das „Land ohne Heimkehr“, das Totenreich, wodurch er Anlaß zur Dichtung des ältesten Epos der Menschheit, die „Höllenfahrt der Istar“, gab. Da nun Dumuzu die Sonne ist, liegt diesem Mythus wohl der astronomische Vorgang des zeitweisen Verschwindens der Venus unter den Sonnenstrahlen zu Grund.
Die Planetengötter bilden die auf die höchste Trias folgende 7oberste Götterklasse und regieren mit ihnen nach Diodorus Siculus[2] die zwölf Monate und zwölf Zeichen des Tierkreises.
Auf Denkmälern, wie dem Obelisk des Salmanassar zu Nimrud und dem Monolithen des Assur-nasir-habal werden die obersten zwölf Götter folgendermaßen genannt:
„1. Anu, der König der himmlischen und irdischen Erzengel, König der Welt.
2. Bel, Vater der Götter, Schöpfer.
3. Ea, König des Oceans, Lenker des Schicksals, Gott der Weisheit und Erkenntniß.
4. Sin, Herr der Kronen, zum höchsten Glanz erkoren.
5. Bin, der Krieger und Herr der befruchtenden Kanäle.
6. Samas, Richter des Himmels und der Erde.
7. Maruduk, gerechter Fürst der Götter, Herr der Geburt.
8. Adar-Samdar, der Mächtige, Krieger unter den kriegerischen Göttern, Vernichter des Bösen.
9. Nergal, der Edelmüthige, König der Schlachten.
10. Nebo, Träger des höchsten Scepters.
11. Belit, Gattin des Bel und Mutter der höchsten Götter.
12. Istar, die Älteste des Himmels und der Erde, die das Antlitz der Krieger mit Glanz erfüllt.“
Anderswo[3] heißen die zwölf Monate des Jahres mit ihren Göttern:
1. Nisannu, Anu und Bel.
2. Airu, Ea, Gebieter der Menschheit.
3. Sivanu, Sin, Erstgeborener des Bel.
4. Duzu, Adar, der Krieger.
5. Abu, Allat, Herrin des Zauberstabes (Nin-gis-zida).
6. Ululu, Istar, Herrin der Schlachten.
7. Tasritu, Samas, der Herr der Welt.
8. Arak-samma, Maruduk, der große Fürst der Götter.
9. Kisilvu, Nergal, der große Krieger.
10. Tebitu, Pap-sukul, Diener des Anu und der Anat.
11. Sabatu, Bin, Feldherr des Himmels und der Erde.
12. Addaru, die sieben großen Götter der Planeten.
13. Makru-sa-addari, (Schaltmonat) Assur, Vater der Götter.
Mit Leichtigkeit erkennt man in diesen Monaten diejenigen des Kalenders der Juden, welche ihr Jahr mit dem siebenten Monat der Chaldäer beginnen ließen. Der erste jüdische Monat Tischri entspricht dem Tasritu, der Marchesvan dem Arak-samma, der Kaslev dem Kisilvu, der Thebet dem Tebitu, der Schebat dem Sabatu, der Adar dem Addaru, der Nisan dem Nisannu, der Ijar dem Airu, der Sivan dem Sivanu, der Tammuz dem Duzu, der Ab dem Abu, der Elul dem Ululu und der jüdische Schaltmonat Veadar endlich dem chaldäischen Makru-sa-addari.
Damit endlich, daß man die Planeten vergöttlichte und sie zu den Herren der Zeichen des Tierkreises wie der Monate machte, waren die Grundlagen der Astrologie geschaffen.
Eine große Anzahl von Sternbildern und einzelnen Fixsternen wurden als Götter niederen Ranges und Genien (musedu) angesehen und nach ihrem Rang und ihrer Bedeutung genau klassifiziert. Man suchte sich ihrer Kräfte durch Anfertigung ihnen geweihter Talismane zu versichern, aus denen dann die astrologischen Bilder entstanden, von denen ich in meinen „Geheimwissenschaften“ ausführlich handelte.
Diese Astralgeister standen zwischen den Göttern und Menschen und griffen segenbringend oder unheilstiftend in das Schicksal der letzteren ein. Die vier wichtigsten schützenden Genien waren: der bekannte Flügelstier mit dem Menschenhaupt, der sedu oder Kirubu, akk. Alad; der Löwe mit dem Menschenhaupt, lamassu oder nirgallu, akkad. lamass; der menschlich gestaltete ustur und endlich der geierköpfige nattig, welcher Hesekiel bei seiner Beschreibung der vier symbolischen, den Thron Jehovas tragenden Wesen vorschwebte.
Über diesen Genien standen noch zwei besondere Engelgruppen, die Igigi, die Geister des Himmels, und die Amuna-irsiti (akkad. amuma-ge), die Geister der Erde, welche den phönizischen Kabiren entsprechen.
Nach Angabe eines Täfelchens aus der Bibliothek von Niniveh gab es außer der obersten Trias sieben höchste Götter, fünfzig große Götter des Himmels und der Erde, dreihundert Geister des Himmels und sechshundert Geister der Erde.
Es ist natürlich, daß die Annahme eines solchen Götter- und Dämonenschwarmes die Aufnahme des akkadischen Beschwörungs- und Zauberritus in die chaldäische Priesterwissenschaft begünstigen mußte, obschon die alten Akkader keine eigentlichen Götter, sondern nur gute und böse Naturgeister kannten, welche die Chaldäer später in Götter, Genien und Dämonen umbildeten.
Lenormant nimmt an, daß diese Jahrhunderte währende Umbildung und der Ausbau der alten Religion innerhalb der chaldäischen Priesterschulen zur Zeit Sargons I. um das Jahr 2000 v. Chr. abgeschlossen wurde.
Die obersten Naturgeister der Akkader sind die allad (assyr. sedu), Genien, und lamma (assyr. lamassu), Kolosse, welche jedoch in sehr unklarer Weise bald als gute und bald als böse Geister aufgefaßt werden. Besser sind wir über die eigentlichen Dämonen, utuk, welches Wort aber auch zuweilen einen guten Geist oder die menschliche Seele bedeutet, unterrichtet. Die wichtigsten unter ihnen sind die alal (assyr. allu), Zerstörer, die gigim (assyr. e-kimmu), welcher Name nicht entziffert ist, die tellal (assyr. gallu), Krieger, und endlich die maskim (assyr. rabisu), Nachsteller.
Diese letzten bilden die wichtigste scharf abgegrenzte Klasse und sind aufs genaueste das Widerspiel der sieben Planetengottheiten, kosmische Dämonen, welche überall störend und vernichtend in das Naturleben eingreifen; „sieben böse Geister, sieben Flammengespenster, sieben Dämonen der feurigen Sphären“.
Diese sieben Maskim, welche sich als Planetendämonen durch alle Mythologien ziehen[4] und noch als Vorbilder der sieben „Kurfürsten“ der Teufel des Faustschen Höllenzwangs deutlich erkennbar sind, sind die Söhne des Ana, des Gottes und Königs der finstern Welt der Akkader; sie stören die Ordnung des Planetenlaufs, erregen Sonnen- und Mondfinsternisse; sie führen gleich den griechischen Titanen und den Naphelim oder Nephilim des Buches Henoch kurz nach der Schöpfung erbitterte Kämpfe gegen Gott. Sie thronen gleich den Teufeln im Innern der Erde und verursachen Unheil und Umsturz im Himmel und auf Erden. Eine akkadische Inschrift schildert ihr Treiben folgendermaßen mit lebhaften Farben:
Die akkadischen Beschwörungen der Maskim erhalten zuweilen eine noch größere Ausdehnung und nehmen dann stets eine dramatische Form an. Eine Schilderung der von den Dämonen verursachten Verheerungen bildet die Einleitung, wobei vorausgesetzt wird, daß die Klage von dem wohlwollenden Silik-mulu-khi, dem Sohne Ea's, der über den Menschen wacht und zwischen ihnen und den obern Göttern als Vermittler dient, erhört worden sei. Aber seine Macht und Weisheit sind nicht derart, daß sie die übermächtigen Geister, deren Einfluß beschworen werden soll, zu überwinden vermögen. Silik-mulu-khi wendet sich daher an seinen Vater Ea, den Herrn der ewigen Geheimnisse, der die theurgischen Handlungen leitet, und dieser offenbart endlich den mysteriösen Ritus, die Zauberformel oder den „allmächtigen geheimnißvollen Namen“, der im Stande ist, alle Anschläge der furchtbarsten Höllenmächte zu vereiteln.
Es wird also in den akkadischen Beschwörungen von einem allmächtigen, geheimnisvollen Namen gesprochen, „mittelst dessen Ea im Innern seines Herzens die Zukunft bewacht und beschirmt“; dieser Name aber, der alle höllischen Mächte zu Boden streckt, wird nicht genannt: er wird in geheimnisvoller Weise vom Vater auf den Sohn übermittelt, ähnlich wie die wahre Aussprache des יהוה bei den Juden von Hohepriester zu Hohepriester. Ea erteilt noch einige Vorschriften zum Behuf der Beschützung und Heilung der von den Maskim Besessenen, worauf endlich mehrere göttliche Wesen, wie die Höllengöttin Nin-kigal und Nin-akka-quddu, deren 12Eigenschaften weniger bekannt sind, unter Eas Anführung in die Handlung eingreifen und zusammen mit dem Feuergott zur völligen Unterwerfung und Bindung der Maskim schreiten.
Noch ist zu bemerken, daß diese soeben besprochenen Dämonen, deren Thätigkeit vorwiegend eine allgemeine und kosmische ist, nicht selten auch Menschen angreifen, deren Mißgeschick sie herbeiführen. Ihre Einwirkung kann aber auch – wie die der Teufel des Mittelalters und der Reformationszeit – infolge der Bezauberung durch Schwarzkünstler, wovon weiter unten, eintreten, und diese gilt daher als Urquelle alles menschlichen Unglücks sowie als Ursache aller tellurischen Katastrophen.
Wir sehen also in dem akkadischen Beschwörungsritual den ganzen Modus der mittelalterlichen Teufelsbeschwörungen vorgebildet, und wie dort die Maskim durch Silik-mulu-khi, den Sohn des Ea, und den „allmächtigen, geheimnißvollen Namen“ Eas beschworen werden, so werden hier die sieben Kur- oder Großfürsten der Hölle durch Jesum Christum, Gottes Sohn, und die geheimnisvollen kabbalistischen Namen Gottes citiert und wieder entlassen. Ja, der „allmächtige, geheimnißvolle Name“ der Akkader erinnert sogar an die Worte des Goetheschen Fausts, mit welchen dieser den in Pudelsgestalt hinter dem Ofen hockenden Mephistopheles apostrophiert:
Die akkadisch-chaldäischen Planetengötter und Maskim wurden im Parsismus zu den Amschaspands und Devs, bei den Juden zu den Erzengeln und Dämonen der Planeten, bei den Neuplatonikern zu den Weltfürsten und den Fürsten der Materie, und bei den mittelalterlichen Magiern endlich zu den Planetenintelligenzen und Großfürsten der Hölle.
Die andern Naturgeister wurden nicht zu den eigentlichen Dämonen gezählt, sondern – wie der keilschriftliche Ausdruck lautet – 13als „an sich selbst böse Geister“ angesehen. Namentlich waren dies die Geister heißer und ungesunder Winde, welche in Verbindung mit den klimatischen Verhältnissen Chaldäas die Ausbildung und Verbreitung ansteckender Krankheiten begünstigten. Noch die Magie der nachreformatorischen Zeit läßt die vier Kardinalwinde von den Teufeln Oriens, Paymon, Egyn, Amaymon beseelt sein, und noch Robert Fludd schrieb in seiner Medicina catholica einen stattlichen Folioband, worin er die Entstehung und Heilung aller Krankheiten durch die Geister der Winde detailliert.
Die Thätigkeit der übrigen, unbestimmt klassifizierten akkadischen Dämonen ist auf die Vorgänge des täglichen Lebens gerichtet, und eine Beschwörung sagt hierüber Folgendes:
Diese Dämonen wohnen in Einöden und Wildnissen[8], von wo aus sie in bewohnte Ländereien einfallen, um die Menschen zu schrecken und zu schädigen. Sie werden in den Beschwörungen nach ihren Wohnorten klassifiziert, nach der Wüste, rauhen Berggipfeln, pesthauchenden Sümpfen und dem Meere. Ferner heißt es an einer Stelle, daß der utuk die Wüste bewohne, der alad sich 14auf den Berggipfeln aufhalte, der gigim die Wüste durchstreife und der telal in den Städten umherschleiche.
Von allen bösen Einwirkungen, welche die Dämonen auf die Menschen ausüben, ist die Besessenheit am meisten gefürchtet, und es giebt zahlreiche Sprüche und Beschwörungen zur Heilung derselben. So heißt es z. B.:
Wenn die Dämonen aus den Besessenen vertrieben waren, so suchte man zum Schutz gegen ihre Wiederkehr durch Beschwörung dahin zu wirken, daß nach Ausfahrt des bösen Geistes ein guter in den Leib des Besessenen fahre. In diesem Sinne sagt eine Beschwörung:
Nach akkadischem Glauben waren alle Krankheiten ein Werk der Dämonen, woraus sich die schon Herodots Aufmerksamkeit erregende Thatsache erklärt, daß es bei den Erben der Akkader, den Babyloniern und Assyriern, keine Ärzte in unserm Sinne gab; die Medizin war bei ihnen nicht wie bei den Griechen eine rationelle Wissenschaft, sondern ein Zweig der Magie, welche wiederum mit der Religion zusammenfiel. Das ärztliche Verfahren bestand in Beschwörungen, Exorcismen und der Anwendung von Zaubertränken, wodurch allerdings nicht ausgeschlossen wird, daß man sich bei Anwendung der letzteren nicht auch einer Anzahl von Stoffen bediente, deren Heilkraft die Erfahrung gelehrt hatte.
Die Auffassung, daß die Krankheiten ein Werk feindlicher Dämonen seien, zieht sich bekanntlich durch die ganze Geschichte, und diesbezügliche Beschwörungen wären wohl kaum zu allen Zeiten geübt worden, wenn sie nicht zuweilen wirksam gewesen wären. Die so von und bei geeigneten Persönlichkeiten erzielten Heilungen 15bestärkten natürlich den Glauben an die objektive Wahrheit des den Beschwörungen zu Grund liegenden zufällig herrschenden Dogmas, welcher Irrtum zur Zeit der „Aufklärung“ Veranlassung gab, das Kind mit dem Bade auszuschütten und mit der falschen Voraussetzung auch den thatsächlich erzielten Erfolg preiszugeben. Die durch Exorcismen erzielten Heilungen sind ganz einfach als mind-cures zu betrachten, in denen eine willenskräftig liebevolle durch die dem jeweiligen Kulturzustand entsprechende Beschwörung gläubig erregte Psyche auf eine andere, schwächere wirkt; und dies mag wohl schon bei den Akkadern der Fall gewesen sein.
Das zweite Buch des Sargonschen Auguralwerks enthält die akkadischen Krankheitsbeschwörungen, welche nach einem Muster geformt sind: Eine Erklärung der Krankheit und ihrer Symptome macht den Anfang und füllt den größten Teil der Beschwörung aus, worauf die Wünsche nach Genesung, oder aber eine an die Krankheit selbst[9] gerichtete kategorische Aufforderung, sich zu entfernen, den Schluß bilden. Manchmal erhält die Beschwörung am Schluß eine dramatische Form, und es entspinnt sich dann stets ein Dialog, in welchem Ea von Silik-mulu-khi angegangen wird, das gewünschte Heilmittel nachzuweisen.
Manchmal sind diese Heilmittel magnetische, wie z. B. magnetisiertes Wasser, Transplantation der Krankheit und magnetisierte Amulette. Ein Beispiel für den Gebrauch magnetisierten Wassers liefert uns eine längere Beschwörung, deren Anfang leider verstümmelt ist. Der Text beginnt mit den Worten:
Im Folgenden werden die besonderen Symptome des Leidens charakterisiert; es wird von der „anschwellenden Geschwulst“ und „beginnender Eiterung“ sowie von der Gewalt des Übels gesprochen, welches „die Wände des Kopfes gleich denen eines morschen Schiffes zersprengt“. Vergeblich hat der Kranke die Wirkung der reinigenden Gebräuche versucht; sie vermochten die der Hölle entstammende Plage nicht zu bemeistern:
Trotzdem läßt das Übel nicht ab, den Kranken „gleich Heuschreckenschwärmen“ zu zernagen; da schreiten endlich die Götter ein, und von jetzt ab lautet der Text:
Nehmen wir, was hier zulässig ist, an, daß bei den Akkadern, wie bei den Ägyptern der heilende Gott in der Praxis durch einen Priester vertreten wird[12], so sehen wir in dem letzten Passus der 17Beschwörung gleichzeitig eine Vorschrift zur Herstellung magnetisierten Wassers vor uns, welches angewendet wurde, wenn der Exorcismus oder – besser gesagt – die geistige Heilkraft, nicht stark genug war.
Daß die alten Akkader auch eine Art mesmerisierter Bäder kannten, ergiebt sich aus dem Inhalt folgenden Zauberspruchs[13]:
Wie allbekannt, werden noch heute Bäder mesmerisiert, indem man mit einem Stab, dem Konduktor, das in der Wanne befindliche Wasser eine Zeit lang in gleicher Richtung kreisförmig umrührt, eine Manipulation, welche, wie der Augenschein beweist, schon vor Jahrtausenden bekannt war. Nach unserer Vorschrift scheint man das magnetisierte Wasser sowohl zum Trinken als zu einer Art Douche benutzt zu haben. Das Ausgießen des Bades auf die Landstraße ist eine sogenannte „Transplantation der Krankheit in die Elemente“, wie sie noch heute bei den sogenannten magnetischen 18Kuren vielfach geübt wird, indem man die mit der kranken „Mumie“ angefüllten „Magnete“ – um die klassisch gewordenen Ausdrücke der Paracelsisten beizubehalten – an die Luft oder in den Rauch hängt, vergräbt, verbrennt, ausschüttet usw.
Der Zauberstab oder magnetische Konduktor spielt in den Euphratländern eine große Rolle und heißt akkadisch gis-zida, „der günstige, wohlthätig wirkende Stab“, oder gi-namekirru, „Rohr des Schicksals“ und assyrisch qan mamiti, „Rohr des Schicksals“ und qan pasari, „Rohr der Offenbarung“. Als Schilfrohr ist der Zauberstab Attribut des heilenden Gottes Silik-mulu-khi, und es heißt von ihm[15]:
Offenbar beziehen sich die dem Schilfrohr oder Zauberstab beigelegten Bezeichnungen auf durch denselben hervorgerufenes Hellsehen oder erzeugte Heilungen resp. wohlthätige allgemeine Wirkungen, und es gewinnt nach obiger Strophe den Anschein, als ob man sich auch metallener Konduktoren bedient habe. Vielleicht unterstützten die Erben der Akkader ihre Seher und Seherinnen durch das „Rohr der Offenbarung“. Die bekannteste dieser antiken Somnambulen wohnte im Turme zu Borsippa, und Herodot äußert sich, das Wesen der Incubation mißverstehend, folgendermaßen über die dort erteilten Orakel:
„Im obersten Thurm ist ein geräumiger Tempel, in demselben befindet sich eine große wohlgebettete Lagerstätte und daneben steht ein goldener Tisch; ein Götterbild ist aber dort nicht aufgerichtet, auch verweilt kein Mensch darin des Nachts außer einem Weibe, eine von den Eingeborenen, welche der Gott sich aus allen erwählt hat, wie die Chaldäer versichern, welche die Priester dieses Gottes sind. Eben dieselben behaupten auch, wovon sie mich jedoch nicht überzeugt haben, daß der Gott selbst in den Tempel komme und 19auf dem Lager ruhe, gerade wie in dem egyptischen Theben auf dieselbe Weise nach Angabe der Aegypter, denn auch dort schläft im Tempel des thebanischen Zeus ein Weib. Diese beiden pflegen, wie man sagt, mit keinem Manne Umgang; ebenso verhält es sich in dem lycischen Patara mit der Priesterin des Gottes zur Zeit des Orakels, denn es findet dasselbe nicht immer dort statt; wenn es aber stattfindet, so wird sie dann die Nächte hindurch mit dem Gott in den Tempel eingeschlossen.“[16]
Einigen Aufschluß über die Anwendung magnetisierter Stoffe zu Heilzwecken in Verbindung mit magnetisiertem Wasser bei den Akkadern giebt uns folgender Zauberspruch, in welchem Ea die Mittel zur Heilung eines Kopfübels angiebt[17]:
Soviel über den Mesmerismus bei den Akkadern, dessen Anwendung auf dem heilenden wie auf dem divinatorischen Gebiet die gleiche ist, heute wie tausend Jahre vor dem Beginn der eigentlichen Geschichte.
Oben wurde bereits angedeutet, daß die Akkader die Krankheit als ein persönliches Wesen betrachteten, welches sich des Menschen bemächtige. Dies geschah besonders bei den beiden schwersten Krankheiten, an denen die Chaldäer zu leiden hatten, der Pest und dem Fieber, Namtar und Idpa. Diese zählen zu den gefürchtetsten Dämonen, wie wir aus folgendem Beschwörungsfragment ersehen:
Die auf diese schadenstiftenden Dämonen folgende Klasse sind die Schreckgespenster, welche mit den Schatten der Toten im Innern der Erde, in dem dem jüdischen Scheol vergleichbaren „Land ohne Heimkehr“ wohnen und aus ihm hervorgehen. Die drei wichtigsten Wesen dieser Klasse sind das larvenartige „Schreckgespenst“ oder „Schattenbild“ (akkad. dimme, assyr. lamastuv), das „Gespenst“ (akkad. dimmea, assyr. labasu) und der Vampyr (akkad. dimmekhab, assyr. abharu), von welchen die ersteren nur die Menschen durch ihre Erscheinung erschrecken, während der Vampyr „den Menschen anfällt“. Der Vampyrglaube ist in Chaldäa sehr verbreitet, und in dem Epos „die Höllenfahrt der Istar“ ruft die Göttin dem Hüter der Hölle am Thore folgende Worte zu:
Eine besondere Geisterklasse sind die „Dämonen der nächtlichen Samenergüsse“, das Nachtmännchen, lillal, und das Nachtweibchen, kiel-lillal, die „bezwingende Beischläferin“, deren Umarmungen sich weder Weiber noch Männer entziehen können. Die kiel-lillal ist die Lilith der Juden, und es heißt von ihr ganz conform der Stelle bei Jesaias[21]:
Außer dem Nachtweibchen giebt es noch einen weiblichen Kobold (akkad. kiel-udda-karra, assyr. ardat), von welchem nur bekannt ist, daß er sich gern in der Nähe der Menschen aufhält und besonders die Ställe zum Schauplatz ihres Treibens macht, also ein Hauskobold.
Noch sei erwähnt, daß die Akkader den bösen Blick und das Berufen kannten. Das „böse Wort“ und der „böse Mund“ werden überall neben dem bösen Blick erwähnt; so heißt es:
Außer den Beschwörungen bedienten sich die Chaldäer und später die Assyrer in ausgedehntester Weise der Talismane (akkad. sagba, assyr. mamituv). Folgende Beschwörung wurde über einen solchen Talisman gesprochen, um ihm die Macht zu verleihen, die sich in die Häuser einschleichenden Dämonen zu vertreiben:
Es gab sehr verschiedene Arten von Talismanen bei den Akkadern: so auf Zettel geschriebene Zaubersprüche, welche gleich den Denkzetteln der Juden an die Kleider geheftet getragen wurden. Auch trug man Periapte aus allerlei Stoffen um den Hals als Schutzmittel gegen Unglück aller Art, Krankheiten, dämonische Nachstellungen usw., ebenso in Steine geschnittene Bildnisse von Göttern und Genien, wie dergleichen vielfach in den Museen aufbewahrt werden.
Eine ganze Anzahl talismanischer Götterstatuetten aus gebranntem Lehm fand Botta unter der Thorschwelle des Königspalastes von Khorsabad und ließ sie in das Museum des Louvre schaffen. Es sind dies: Bel mit einer Kopfbedeckung, die mit mehreren Reihen Stierhörnern geschmückt ist; Nergal mit einem Löwenkopf, Nebo mit einem Scepter usw. In einer dazugehörigen Inschrift, welche sich gegenwärtig in Cambridge befindet, sagt Nergalsarussur, ein Nachfolger des babylonischen Königs Nabukudurussur, daß er bei der Wiederherstellung der Thore der heiligen Pyramide von Babylon „acht talismanische Figuren von Bronce, welche durch Todesschrecken Böse und Feinde entfernen“, habe verfertigen lassen, um sie dort aufzustellen.
Aus dem Fragment folgenden Zauberspruches lassen sich recht deutlich die Bestimmung, Macht und Anwendung derartiger Talismane ersehen:
Aus dem Schluß des Zauberspruches ergiebt es sich mit Sicherheit, daß die Akkader für ihre Götter und Genien, gerade wie unsere Altvordern für die Hauskobolde, irgendwo im Hause Speise und Trank aufzustellen pflegten, um sich ihrer Gunst zu versichern. Analog heißt es in einer Sammlung assyrischer Beschwörungen gegen die Einwirkung böser Zauberer:
Eine andere Art von Talismanen wurde in der Absicht hergestellt, daß man die durch sie dargestellten Dämonen durch die Scheußlichkeit ihrer Ebenbilder zu vertreiben gedachte. So giebt z. B. Ea seinem Sohne Silik-mulu-khi behufs Vertreibung des Pestdämons Namtar folgenden Rat:
Eine derartige Broncestatuette, welche nach einer auf ihrem Rücken befindlichen akkadischen Inschrift den Dämon des Westwindes darstellt, befindet sich im Museum des Louvre. Die aufrechtstehende Figur hat einen Totenkopf mit Augen und Ziegenhörnern, den Rumpf eines Hundes, Löwentatzen, Adlerfüße, einen Skorpionsschweif und ausgespannte Flügel. An einem am Hinterkopf der Figur befindlichen Ring wurde dieselbe am Fenster oder vor der Thür des Hauses aufgehängt, um den schädlichen Einfluß des von der arabischen Wüste nach Babylon herüberstreichenden Westwindes zu vernichten.
Im British Museum befinden sich ähnliche Talismane wie z. B. ein Bild eines Dämons mit einem Widderkopf und übermäßig langem Hals oder mit einem Hyänenkopf, Bärenleib und 26Löwentatzen usw. usw. Es ist leider nicht möglich, alle Formen dieser Talismane festzustellen und zu deuten, indessen kann nicht der mindeste Zweifel darüber herrschen, daß in späterer Zeit aus ihnen Abraxasgemmen und -ringe sowie die astrologischen Bilder entstanden. Die abenteuerlichen Formen dieser aus menschlichen und tierischen Teilen bestehenden Geschöpfe hängen mit uralten kosmogonischen Mythen zusammen, denn Berosus schildert die Geschöpfe des Chaos ganz analog, wenn er sagt:
„Es gab eine Zeit, wo alles in Finsterniß gehüllt und vom Wasser durchdrungen war, und wo mitten in diesem wirren Chaos die scheußlichsten Thiere und wunderbarsten Geschöpfe urplötzlich entstanden; es gab Menschen mit zwei und vier Flügeln, mit zwei verschiedenen Gesichtern oder Köpfen, von denen der eine oft männlichen, der andere weiblichen Geschlechtes war, ja es gab sogar Menschen, welche gleichzeitig männlichen und weiblichen Geschlechtes waren; es gab Menschen mit Ziegenfüßen und Ziegenhörnern oder solche mit Pferdefüßen; es gab endlich Menschen, welche mit dem Hintertheil eines Pferdes und dem Vordertheil eines Menschen ausgestattet waren, ähnlich den Hippocentauren, Es gab Stiere mit menschlichem Kopfe, Hunde mit vierfachem Körper und Fischschwänzen, Pferde und Menschen mit Hundeköpfen, desgleichen Thiere, welche mit dem Kopf und Körper eines Pferdes und dem Schwanze eines Fisches versehen, auch andere Vierfüßler, welche aus verschiedenen Thieren, wie Fische, Schlangen und andere Reptilien zusammengesetzt, desgleichen zahlreiche Arten von wunderbaren Ungeheuern, welche auf das verschiedenartigste gestaltet waren und deren Abbildungen man auf den Wandgemälden des Baaltempels sehen kann. Ein Weib, Amoroka[24], leitete diese Schöpfung; sie wird im Chaldäischen Thavatth[25] genannt, ein Name, der im Griechischen „das Meer“ bedeutet; doch wird sie auch mit dem Monde identificiert.“
Diese Geschöpfe des Chaos sind nach Lenormant[26] entweder wohlthätige Genien oder von den Göttern bekämpfte Dämonen, welche bei der Scheidung der Elemente entstanden, und denen 27Diodorus Siculus die ganze untere Hälfte des Weltalls als Sitz anweist.[27] Die Ungeheuer, welche Tiamat im Chaos beherrschte, sind indessen auch die Bestandteile jenes Heeres, mit welchem Tiamat – die Personifizierung der von den Göttern noch ungeordneten Materie – die geordnete Welt befehdet. Auch ist es Tiamat, welche die ersten Menschen zur Verletzung der göttlichen Gebote verleitet, so daß sie in der chaldäo-babylonischen Schöpfungstradition die gleiche Rolle spielt, wie die Schlange in der biblischen. Die beim Kampfe der Tiamat mitwirkenden chaotischen Geschöpfe werden vollständig mit den Dämonen identifiziert und deshalb von den oberen Göttern bekämpft. Im British Museum befindet sich z. B. ein aus dem Palast von Nimrud herrührendes Basrelief, auf welchem der mit Königskrone und Stierhörnern geschmückte Maruduk, welcher an den Schultern vier Flügel trägt, mit dem Blitzstrahl in der Hand die Tiamat verfolgt, welche als Ungeheuer mit Körper, Kopf und Vorderfüßen eines Löwen und den Flügeln, Kopf und Krallen eines Adlers erscheint.
Die Talismane, welche man zum Schutz in den Häusern verbarg, entfalten nach dem Glauben der Urzeit wie nach dem des späteren Mittelalters nur so lang ihre heilbringende Kraft, als sie an ihrem Platz bleiben, wie sich schon aus folgender von König Assurakhiddin herrührenden Inschrift ergibt:
In anderen Bruchstücken unseres magischen Sammelwerkes wird dem reuevollen Bekenntnis begangener Sünden, der aufrichtigen Buße und reinigenden Gebräuchen schützende Wirkung gegen die Nachstellung böser Dämonen beigelegt. Man sieht also, daß gewisse kirchliche Gebräuche nichts weniger als christlichen Ursprungs sind.
Zu den wichtigsten der schützenden Talismane der Chaldäer wird der Zauberstab bezeichnet, dessen akkadische Bezeichnung gis-zida, 28der günstige, wohlthätige wirkende Stab auch von den Babyloniern und Assyriern, wenn er auch Beinamen führte, doch nicht durch einen andern Namen ersetzt wurde. Der Titel Nin-gis-zida, „die Herrin des Zauberstabs“, ist eine Nebenbezeichnung der akkadischen Göttin Nin-kigal und der assyrischen Allat, der „Herrin des Totenreichs“, welche daher auch die Sondergöttin der Magie und Geisterbeschwörung ist; ihr, „der Herrin des Zauberstabs“, ist der Monat Ab geheiligt.
Welche Rolle der magische Stab bei den Hofzauberern Pharaos, in der Odyssee, bei Cicero usw. usw. spielt, ist bekannt.
Die Chaldäer machten einen Unterschied zwischen helfender Magie und schädigender schwarzen Kunst. Die Vorschriften zu ersterer wurden in den heiligen Büchern mitgeteilt und ich habe oben an einigen Stichproben gezeigt, daß dem Verfahren im wesentlichen Heilmesmerismus und Transplantation der Krankheiten zu Grund lag; außerdem spielten noch die Beschwörungen eine große Rolle. Durch die Beschwörung der Schutzgötter, als welche besonders Ea und der Sonnengott betrachtet werden, sollen nicht allein die bösen Dämonen bekämpft, sondern es soll auch die Wirkung des Zaubers vernichtet werden. In diesem Sinne heißt es in einem Hymnus:
Der Zauberer und Schwarzkünstler wird in den akkadischen Beschwörungen meist „der Bösewicht“, „der boshafte Mensch“ bezeichnet, welche Namen dessen magische Thätigkeit aus Furcht nur verschleiert andeuten, gerade wie man im Mittelalter die Hexen „gute Frauen“, „bonnes dames“ usw. zu nennen pflegte. So wird auch bei den Akkadern im gleichen Sinn die Zauberei „das Wirkende“, „das Gewaltsame“; die magischen Gebräuche „die Handlung“; die Beschwörung „das Wort“ und der Zaubertrank „die wirkende Sache“ genannt.
Der akkadische „Bösewicht“ übt die gleichen Venefizien wie die mittelalterlichen Hexen. Sie bezaubern den Menschen durch den bösen Blick oder böse Worte; durch seine Beschwörungen und Künste zwingt er die Dämonen, daß sie seinen Befehlen gehorchen und Menschen wie ganze Länder mit Krankheit, Besessenheit und Tod überziehen. Durch Zauberei, Verwünschungen und wirkliches den Zaubertränken beigemischtes Gift tötet er die Menschen, während umgekehrt die zur Heilung der Zauberei angewendete Beschwörung den tödlichen Ausgang auf den Schwarzkünstler zurückzuwälzen sucht. So lautet ein hierhergehöriger Passus einer assyrischen Beschwörung, die gegen die bösen Künste einer Hexe gerichtet ist[28]: „Daß sie sterbe und ich am Leben bleiben möge!“
Bei den Akkadern wird wie bei den Thessaliern, den übrigen Völkern des Altertums und den Hexen die Schwarzkunst hauptsächlich von den Frauen betrieben, weshalb sich auch eine große Anzahl assyrischer Beschwörungen gegen das Treiben der Zauberinnen und Hexen richtet. Bei den mesopotamischen Völkern herrschte auch der Glaube, daß die Hexen auf Besenstielen durch die Luft ritten, und das dazu bestimmte „Stück Holz“ (gusur) heißt „das Reitthier der Hexe“ (rakabu sa kasipti).
Ein lebhaftes Bild von den Künsten der akkadischen Hexen entwirft uns folgende Beschwörung[29]:
Eine andere Beschwörung derselben Tafel spricht von dem Zauberer, „der die Nachtwachen mit Zauberei hinbringt“, „schädliche Worte spricht“, „zauberische Knoten schürzt, die gelöst werden müssen“[31], und schließt mit dem Wunsche, „daß er durch das Machtwort der Götter beschworen werden möge!“
Das Venefizium wurde von den Akkadern wie von den Hexen durch die Beschwörung, die symbolische Handlung und den Zaubertrank ausgeübt, der unter Umständen irgend ein pflanzliches oder mineralisches Gift ist.
Der Bildzauber spielt eine große Rolle und scheint eine der häufigsten Manipulationen der chaldäischen Schwarzkünstler gewesen zu sein, denn in fast allen Beschwörungen wird vor dem „Anfertiger des Ebenbildes“ gewarnt. Diese Manipulation scheint sich Jahrtausende hindurch fortgeerbt zu haben, denn der im 14. Jahrhundert lebende arabische Geschichtsschreiber Ibn Chaldûn berichtet als Augenzeuge von den am untern Euphrat lebenden nabatäischen Zauberern[32]:
„Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie einer dieser Schwarzkünstler das Bildniß einer Person herstellte, die er bezaubern wollte. Die Bildnisse bestehen aus Stoffen, deren Qualität sich je nach den Absichten und Plänen des Zauberers richtet, und deren symbolische Bedeutung mit dem Namen und Stand seines Opfers gewissermaßen harmonirt. Nachdem der Zauberer das Bildniß, welches die zu bezaubernde Person thatsächlich oder sinnbildlich darstellt, vor sich aufgestellt und einige Worte darüber gesprochen, speit er einen Theil des im Munde gesammelten Speichels gegen dasselbe, während er gleichzeitig die Organe bewegt, mittelst deren die Buchstaben der verhängnißvollen Formel ausgesprochen werden. 31Endlich spannt er über diesem symbolischen Bildniß eine bereit gehaltene Leine, in welche er einen Knoten macht[33], womit er andeuten will, daß er mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit handelt und mit dem Dämon, der im Augenblick des Ausspeiens seine Handlung unterstützte, einen Bund schließt, und beweist, daß er die feste Absicht hegt, den Zauber unlösbar zu machen. Ein böser Geist, der, im Speichel verborgen, dem Munde des Zauberers entfährt, nimmt an diesen unheilvollen Handlungen und Worten Theil, während allmählich noch andere böse Geister hinzutreten, sodaß der Zauberer vollkommen im Stande ist, seinem Opfer das Böse anzuthun, was er ihm angewünscht hat.“
Des magischen Knüpfens der Knoten bedienten sich übrigens auch die helfenden Magier, und eine akkadische Formel sagt u. a.: „Silik-mulu-khi, Eridhus Sohn, durchschneide den Knoten mit deinen reinen, heiligen Händen!“ Es scheint jedoch hier die Lösung eines in schädigender Absicht geknüpften magischen Knotens von Seiten eines helfenden Zauberers gemeint zu sein, wie wir ähnlichen Manipulationen beim Nestelknüpfen und andern magischen Künsten des Mittelalters begegnen.
Das mächtigste Zaubermittel des akkadischen Bösewichts war die Verwünschung, welche nicht allein die Dämonen entfesselte, sondern auch die Götter beeinflußte, insofern sie deren Handlungen und Worte mit schädlichen Eigenschaften ausstattete. Nach chaldäischer Anschauung machten sich die Schwarzkünstler durch ihre Verwünschungen die über die einzelnen Menschen wachenden Götter unterthan und verwandelten ihre wohlthätige Macht in eine feindliche. Dieser Gedanke liegt folgender Beschwörung zu Grund[34]:
Hierauf kommt Silik-mulu-khi dem Verwünschten zu Hilfe und befragt Ea um Rat, welcher antwortet:
Die Fortsetzung des Zauberspruches zerfällt in eine Anzahl von Strophen, welche zu symbolischen Handlungen gesprochen wurden, die sich aus den Anfängen derselben ergeben. So heißt es:
Soviel von der schwarzen Magie der Akkader.
Wie bereits oben gesagt, ging der akkadische Kultus der Naturgeister in die Staatsreligion der Chaldäer über, in welcher er eine untergeordnete Stellung einnahm, während die Naturgeister selbst zu niedrigen, kaum über den Menschen stehenden Emanationen wurden. Die akkadischen Zauberpriester, die wir uns wohl als eine Art Medizinmänner oder Schamanen zu denken haben, fanden Aufnahme in die Priesterkaste der Chaldäer, ähnlich wie in Indien Priesterfamilien der braunen, den Ariern vorausgehenden Rasse unter die Brahminen aufgenommen wurden. Aber diese Zauberpriester bildeten nach ihrer Aufnahme besondere, den andern Priestern im Rang nachstehende Körperschaften, die Khartumim, hakamim und asaphim des Buches Daniel.
Die Sammlung ihrer überlieferten Beschwörungen, welche wohl um diese Zeit abgeschlossen wurde, fand Aufnahme unter die heiligen Bücher der Chaldäer und erhielt einen kanonischen Charakter. Sie war das Hauptlehrbuch dieser der Magie ergebenen Priesterkollegien, ähnlich wie man in Indien das Atharva-Veda, welches in vielen Stücken mit dem ursprünglichen reinen Glauben der Arier wie auch mit der orthodoxen brahminischen Lehre in Widerspruch stand, unter die heiligen Bücher aufnahm, insofern es als den 34Priesterfamilien Goptris oder Angiras angehörend betrachtet wurde.
Die akkadische Magie beruht auf dem Glauben an unzählige persönliche Geister, welche überall in der Natur verbreitet und bald mit den von ihnen beseelten Naturkörpern eins sind, bald eine von diesen abgesonderte Existenz besitzen. Diese naive Anschauung des Übersinnlichen ist dem Fetischismus nahe verwandt, mit welchem sie das blinde Vertrauen zu den an die Stelle der Fetische tretenden Talismanen gemein hat. Die genannten Geister rufen alle Naturerscheinungen hervor; sie beleben und beherrschen alle Geschöpfe, verursachen das Gute und Böse, leiten die Himmelskörper in ihren Bahnen, führen den Wechsel der Jahreszeiten herbei, bewirken das Wehen der Winde, erzeugen den Regen sowie alle guten und schadenstiftenden atmosphärischen Erscheinungen; sie machen den Boden fruchtbar, lassen die Pflanzen keimen und reifen; sie sind die Erzeuger und Erhalter der Lebenskraft und die Bringer von Krankheit und Tod. Diese Geister wohnen überall: im Sternenhimmel, in der Atmosphäre, auf der Erde, in der Luft, im Feuer und Wasser. Jeder Himmelskörper wird von Geistern bewohnt. Man verleiht diesen Geistern sichtbare, bestimmte Persönlichkeiten.
Wie überall in der Natur Böses und Gutes, Licht und Nacht, Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit einander gegenüberstehen, so findet sich – ähnlich wie bei Zoroaster – auch bei den akkadischen Zauberpriestern ein ausgesprochener Dualismus in ihren Vorstellungen von der Geisterwelt, von welcher sie weniger Gutes erhoffen, als Böses fürchten. Gewaltige Gruppen böser und guter Geister stehen einander gegenüber und bekämpfen sich unaufhörlich in allen Teilen des Weltalls. Die abwechselnden Siege und Niederlagen der guten Geister verursachen den Wechsel zwischen guten und bösen, glücklichen oder unglücklichen Ereignissen und lassen auf den regelmäßigen Verlauf der Dinge plötzliche Katastrophen folgen. Mit jedem Stern, jedem Element, jedem Wesen und Ding sind gute wie böse Geister verbunden, leben und weben in ihm, weshalb denn auch überall Zwietracht herrscht und nichts vom Kampfe zwischen dem Guten und Bösen verschont bleibt. Dieser Kampf wird – dem niederen kulturellen Standpunkt der Akkader entsprechend – in überwiegender Weise als ein physischer aufgefaßt, und die ethische Seite desselben tritt selbst in den religiösen 35Hymnen völlig zurück. In einer an gewisse Stellen des alten Testaments erinnernden Weise erscheinen in den magischen Texten der Akkader Verstöße gegen den Ritus als die schwersten Vergehen, welche durch äußere Gebräuche gesühnt werden müssen. Eines der größten Verbrechen ist die unterlassene Anrufung der guten Geister und der mit den bösen eingegangene Bund. Wir haben also hier das Urbild des Paktes mit dem Teufel.
Auf dieser dualistischen Grundlage beruht auch die fromme und erlaubte akkadische Magie, welche als Theurgie, als ein durch heilige Gebräuche zwischen den Menschen und der Welt der guten Geister vermittelter Verkehr zu betrachten ist.
Der Mensch ist selbst in den beständigen Streit zwischen den guten und bösen Geistern verwickelt, ohne ihm entrinnen zu können. Alles ihm widerfahrende Gute rührt von den guten, alles Böse von den bösen Geistern her. Deshalb bedarf er des Beistandes der guten gegen die bösen Geister und die von diesen hervorgerufenen Krankheiten und Plagen. Denselben gewähren ihm die allmächtigen, geheimnisvollen Worte der Beschwörungen der Zauberpriester, ihre Bannungen und Talismane. Allein durch diese werden die bösen Dämonen vertrieben und die guten herbeigerufen. Ja man hat einen so hohen Begriff von der Allgewalt dieser Beschwörungsworte und Gebräuche usw., daß man annimmt, sie erhöhten die Kraft der guten Geister im Kampfe gegen die bösen, daß sie dieselben unüberwindlich machten und ihnen den Sieg verliehen. Darum beschirmen die Zauberpriester nicht nur die Menschen, sondern verhindern auch schädigende Naturereignisse und greifen entscheidend in den Kampf der guten und bösen Geister ein.
Die guten Geister wurden in Klassen geteilt, welche mit denen der Dämonen parallel liefen; jedoch sind die keilschriftlichen Angaben über die Einteilung und Rangordnung der guten Geister noch ungenauer als die über die Klassifizierung der bösen erhalten gebliebenen. Nur soviel ist ersichtlich, daß die Geisterrassen der alad, lamma und utuk sowohl unter den guten, als unter den bösen Geistern vorkamen, insofern in den Beschwörungen sehr häufig „der gute alad“, „der gute lamma“ und „der gute utuk“ den bösen entgegengestellt werden. Auch ist von Elementargeistern (zi) im engeren Sinn, Schutzgeistern und körperlich gestalteten Engeln die 36Rede, unter denen namentlich die auf Erden wohnenden anunna und die unter dem Himmel schwebenden igigi oder igaga unterschieden werden.
Auf der Spitze dieser Geisterleiter stehen eine Anzahl Götter, – ana, dingi oder dimmer –, welche sich jedoch nicht erheblich von den Geistern (zi) unterscheiden und nur dadurch auszeichnen, daß man ihnen eine größere Macht oder einen größeren Wirkungskreis beilegt. Soweit sich das Intellektualsystem der Akkader übersehen läßt, ist ein Gott von einem Naturgeist nur dadurch unterschieden, daß er an weniger enge räumliche Grenzen gebunden ist und einen größeren Teil des Universum, eine größere Menge von Naturvorgängen und eine besondere Gruppe von Menschen und Dingen, von welchen übrigens eine jede Individualität durch einen besondern Geist beherrscht wird, regiert.
Diese Götterklasse erscheint äußerst zahlreich. Viele werden in den Beschwörungen gegen die Dämonen und Krankheiten sowie in den magischen Hymnen genannt; viele werden aber auch nur an einer einzelnen Stelle und unter Umständen erwähnt, daß man daraus nichts Bestimmtes über ihre Persönlichkeiten, Ämter usw. entnehmen kann.
Um die akkadische Geisterlehre völlig verstehen zu können, müssen wir uns mit den Begriffen bekannt machen, welche sie von Himmel und Erde hatten:
Die Akkader dachten sich die von den Menschen bewohnte Erde (kî) als eine umgestürzte Barke in Gestalt einer halben Kugel, deren innere, nach unten geöffnete Höhlung der Abgrund, die Unterwelt (ge) ist, in welcher die Toten wohnen (kur-nu-ga, kîgal, arali), und in welcher auch die Sonne ihre Wanderung während der Nachtzeit vollbringt. Über der Erde dehnt sich der Himmel (ana) wie eine Decke aus. Derselbe dreht sich mit den Fixsternen (mul) um „den Berg des Ostens“ (charsak kurraj), nämlich um eine Himmel und Erde verbindende, dem Himmel als Axe dienende Säule. Dieser Berg ist nordöstlich von Akkad gelegen, welches – unter dem Zenith (nuzku) befindlich – der Mittelpunkt der bewohnten Erde ist. Weiter nordöstlich vom „Berge des Ostens“ befindet sich das Land der Aralli, „der goldreiche Wohnsitz der Götter und seligen Geister“.
In späterer Zeit nahmen die chaldäischen Astrologen einen sphärischen Himmel an, welcher die Erde nach allen Seiten hin umschloß; jedoch lassen gewisse charakteristische Ausdrücke die Vermutung zu, daß man in der Zeit, in welcher der größte Teil der magischen Urkunden abgefaßt wurde, sich den Himmel als Halbkugel dachte, deren unterer Rand als „Fundamente des Himmels“ (uru ana) auf den äußersten Enden der Erde jenseits des „großen Wasserbeckens“ (abzu) ruhten, welches das Festland gerade wie der Okeanos des Homer umgab. Die Planeten, welche, wie ihr akkadischer Name lubad – Leithammel – anzeigt, als lebende Wesen betrachtet wurden, bewegen sich in einer niedern Sphäre (ul-gana), die sich unterhalb des Fixsternhimmels (e-sara) befindet. Jedoch findet sich in diesen Texten noch keine Spur einer Annahme konzentrischer Planetenbahnen. Der Fixsternhimmel trägt den Ocean der himmlischen Gewässer (ziku), welche noch in der mittelalterlichen Magie spuken; derselbe wird auch wie der irdische Ocean als ein alles umschlingender Fluß gedacht.
Das Universum besteht aus drei Regionen, dem Himmel, der Erde und Luft sowie endlich dem Abgrund. Über diese drei Regionen gebieten die drei mächtigsten Götter: Ana, Ea und Mul-ge oder Elim, entsprechend den chaldäischen Anu, Ea und Bel. Der akkadische Ana ist jedoch nicht nur der Himmel selbst, sondern auch der Gott desselben und der oberste Herr der Naturgeister.
Ea ist „der gewaltige Fisch des Oceans“ (gal-chana-abzu), den er bewohnt, der Oannes (ea-chan) des Berosus. Derselbe nennt Ea den Beschützer und Retter des Xisuthros (khasisatra), des chaldäischen Noah und sagt, nachdem er erzählt hat, wie das Schiff des Gerechten auf einem hohen Berge stehen geblieben war: „Ein Theil dieses gestrandeten Schiffes ist noch vorhanden in den korydäischen Bergen in Armenien, und Wallfahrer holen von da Asphalt, den sie vom Wrack abkratzen, um es als Mittel gegen Bezauberung zu gebrauchen.“ Ähnlich sagt der Auszug des Abydenus: „Aus dem Holze des Schiffes machen die Bewohner des Landes Amulette, welche sie zum Schutz gegen Bezauberung um den Hals hängen.“
Über die Vorstellungen, welche die Akkader von der Gestalt der Erde hatten, wurde bereits das Nötige gesagt; es bleibt nur 38noch übrig, die Anschauungen derselben von der Unterwelt, dem „Abgrund“ und „Land ohne Heimkehr“ zu entwickeln. In der Höllenfahrt der Istar wird dasselbe ähnlich dem hebräischen Scheol folgendermaßen geschildert:
In Istars Höllenfahrt wird eine „Quelle des Lebenswassers“ erwähnt, welche sich im Hintergrund des Landes ohne Heimkehr befindet und von den unterirdischen Mächten eifersüchtig vor der Annäherung der Schatten (utuk) der Verstorbenen bewacht wird. Nur ein Befehl der himmlischen Götter kann sie veranlassen, eine Annäherung zu gestatten; wer aber „das Wasser des Lebens“ getrunken, kehrt lebend an das Tageslicht zurück. – Eine ähnliche Vorstellung hat wohl schon zur Zeit der Abfassung der magischen Texte existiert, weil ein Hymnus auch dem Silik-mulu-khi, dem Mittler zwischen Gott und Mensch, die Macht zuschreibt, „die Todten ins Leben zurückzuführen“. – Auch Diogenes Laërtius berichtet ausdrücklich, daß die Chaldäer an eine Auferstehung glaubten, nach welcher die Menschen unsterblich sein sollten.
In dem genannten chaldäischen Epos wird das Land ohne Heimkehr nach dem Vorbilde der Planetensphären in sieben konzentrische Kreise geteilt, zu welchen „sieben Thore und Verschlüsse der Welt“ führen, die man sich vermutlich rings um den Saum der Erde verteilt dachte. Der Haupteingang in die Unterwelt, welchen der Gott Negab (Thürhüter), „der große Thürhüter der 39Welt“ bewachte, lag im Westen in der Nähe des „großen Berges“, welcher dem „Berge des Ostens“, der „Wiege des Menschengeschlechts“ und dem „Versammlungsort der Götter“ gegenüberliegt.
Während die Pelasger die Götter der Unterwelt als die Erzeuger der Fruchtbarkeit verehrten, verehrten die Akkader die Sonne der Unterwelt[36] als den Gott der glänzenden Steine und Metalle, aus welchen die Talismane gefertigt wurden. Die magischen Bücher kennen einen Gott des Goldes, des Silbers und Kupfers, einen „Gott und Herrn des Ostens in seinem Berg von Edelsteinen“ und einen „Gott der Ceder“, welcher namentlich bösen Zauber abwendete.
In einem Hymnus an Nin-dara werden öfter kostbare Steine erwähnt, deren talismanische Kräfte ihr Besitzer Nin-dara gegen das feindliche Land richtet, woraus sich wohl die Thatsache erklären läßt, daß das Altertum den Ursprung des talismanischen Zaubers nach Chaldäa verlegt. Das Buch, welches nach Angabe des Plinius der Babylonier Zacharias über Talismane verfaßte und dem König Mithridates widmete, gehörte wahrscheinlich zu den Produkten der griechisch-babylonischen Litteratur, welche zu den alten akkadischen Zauberbüchern in einem ähnlichen Verhältnis standen wie die hermetischen Bücher zu den Schriften der alten Ägypter.
Die der Hölle entsprossenen Dämonen hegen wie die Schwarzkünstler eine große Vorliebe für die Finsternis und schleichen unter dem Schutz der Finsternis als Plagegeister umher, welche die Menschen überall belästigen und heimsuchen. Die Finsternis galt deshalb als sichtbare Offenbarung des bösen Prinzips ebenso wie das Licht als Offenbarung des guten. Utu, die Tagessonne, verscheucht die Dämonen und Zauberer:
Ein anderer Gegner der Dämonen und Zauberer ist Ini oder Mermer, der Gott der Winde und fruchtbaren Regen, welcher später in den chaldäischen Bin oder Ramann, den Gott aller atmosphärischen Erscheinungen umgewandelt wurde.
Auch der Feuergott Bil-gi ist ein mächtiger Widersacher der Zaubereien und Bekämpfer der bösen Dämonen, als welchen ihn folgendes Fragment preist:
Ini, der altakkadische Feuergott, nahm bei den Babyloniern einen solaren Charakter an und wird als Izdhubar der Held eines der bedeutendsten chaldäischen Epen, in welchem auch die Sintflutmythe eine besondere Episode bildet. Er wird wie Bil-gi der Herr der Talismane genannt, und seine hauptsächlichsten Prädikate sind: puvalu, Riese, und puvalu-emuki, Riese an Macht. Sein Abzeichen ist das Schilfrohr, welchem wir als Zauberstab schon oben begegneten, und das später an Silik-mulu-khi übergeht.
Silik-mulu-khi, der Verkünder des Willens und der Ratschläge Eas, der Mittler zwischen ihm und der Menschheit, ist eng mit dem Erzengel Çraoscha, „dem Heiligen und Gerechten“ des Zoroastrismus verwandt, ebenso mit Mithra, wie man denselben am Ende der Periode der Achämeniden unter dem Einfluß des medischen Magismus zur Zeit der Zersetzung der alten mazdeischen Lehre auffaßte.
Eine andere Analogie zwischen der Magie der Akkader und der spätern mazdeischen Religion findet sich in der Lehre von den Feruern, welche im Zoroastrismus die reinen Formen der Dinge, himmlische Urbilder der irdischen Wesen sind. Jeder Engel, jeder Mensch, jeder Stern, ja jedes Tier und jede Pflanze hat seinen eigenen Feruer, seinen unsichtbaren Schutzgeist, welcher beständig über ihm wacht, und den der Mensch durch Gebet und Opfer um Gnade anfleht. Diese Feruer sind offenbar die den Einzelwesen vorstehenden Geister der Akkader, welche in den spätern Parsismus Aufnahme fanden und hier ihren Platz auf den untern Stufen der Hierarchie des guten Prinzips fanden.
Wie im Zendavesta jeder Mensch seinen Feruer besitzt, so ist bei den Akkadern einem jeden von Geburt an ein besonderer Gott zugeeignet, welcher ihn beschützt, in ihm lebt und sein geistiges Urbild ist.[37] Nach einer Vorstellung entspricht jedem Menschen sogar „ein Gott und dessen Göttin, reine Geister über ihm“. Daher heißt es auch so häufig anstatt z. B. der fromme Mensch, der fromme König: „der Mensch, Sohn seines Gottes“, „der König, Sohn seines Gottes“. Daher ruft auch z. B. in einer Beschwörung der Priester dem Feuergott zu: „Mit dir sei in Frieden das Herz meines Gottes und meiner Göttin, der reinen Geister!“ und deshalb heißt es: „Er werde zurückversetzt in die gnädigen Hände seines Gottes!“
Diese Schutzgötter sind übrigens keineswegs vollkommene Wesen, sondern teilen die menschliche Natur ihrer Schutzbefohlenen mit ihren Unvollkommenheiten und Schwächen. Sie können samt den mit ihnen verbundenen Menschen von den Dämonen und Zauberern bezwungen und dienstbar gemacht und sogar dahin gebracht werden, alles Böse im Menschen zu bewirken und zu veranlassen, was Dämonen und Zauberer befehlen. Wenn z. B. der Pestdämon Namtar einen Menschen ergriffen hat, so befinden sich der Gott und die Göttin des Menschen ebensogut in der Gewalt des Geistes der Krankheit als dessen Körper. Es läßt sich mithin sagen, daß der besondere Gott und die besondere Göttin eines Menschen einen Teil seiner Seele bilden, was auch von den zoroastrischen Feruern gilt, nur daß die Auffassung der letzteren eine dem „transcendentalen Subjekt“ entsprechende höhere war und sich von der Stofflichkeit und Unvollkommenheit des irdischen Menschen besser abgelöst hatte.
Das chaldäische Divinationswesen gehört der sechzehn Jahrhunderte umfassenden Periode an, welche von Sargon I., König von Agane, bis zu Alexander dem Großen reicht.
Aus den im vorigen Kapitel angegebenen Elementen hatte sich die chaldäische Staatsreligion herausgebildet und war in den in Babylonien, Assyrien und Chaldäa gleich einflußreichen Priesterschulen nach einem einheitlichen philosophischen System geregelt worden. Ihre ein zusammenhängendes Ganze bildenden Lehren waren in den heiligen Büchern codifiziert und wurden in den Tempeln und Priesterschulen, deren einflußreichste sich zu Erech befand, gelehrt.
Wie schon gesagt, nahm die akkadische Magie in dieser Staatsreligion nur eine niedere Stufe ein, denn die den forschenden Geist der Priester der neuen Religion belebenden Ideen waren ganz anderer Natur. Die Basis derselben war die Astrologie, welche die im Altertum sprichwörtlich gewordene Hauptbeschäftigung der Chaldäer bildete. Die Bezeichnung Chaldäer hat hier jedoch keine ethnische Bedeutung, sondern wird im Sinne der Bibel wie der Griechen für die Angehörigen jener großen Priesterkaste gebraucht, welche sich nach der eingangs erwähnten großen Reformation um das Jahr 2000 v. Chr. über Babylonien wie Chaldäa verbreitete und ihren allgewaltigen Einfluß auch auf die assyrische Kultur ausübte.
Philo sagt: „Die Chaldäer scheinen die Sternkunde und Wahrsagerei vor allen andern Völkern gepflegt und befördert zu haben. Sie brachten die irdischen Dinge mit den himmlischen, mit andern 43Worten den Himmel mit der Erde in Verbindung und suchten dann aus den wechselseitigen Beziehungen dieser nur räumlich, nicht wesentlich geschiedenen Theile des Weltalls auch den harmonischen Einklang derselben nachzuweisen. Sie stellten die Vermuthung auf, daß die sinnliche Welt an sich oder doch wenigstens durch die sie belebende Kraft Gott sei, und riefen, indem sie diese Kraft unter dem Namen Verhängniß oder Nothwendigkeit vergöttlichten, den reinen Atheismus hervor, denn sie erweckten den Glauben, daß alle Naturerscheinungen nur eine sichtbare Ursache hätten, und daß von der Sonne, dem Mond und dem Laufe der Gestirne das Glück oder Unglück eines jeden Menschen abhänge.“
Der Kern der chaldäischen Lehren, ihre Licht- und Schattenseiten können wohl kaum treffender charakterisiert werden; nur ist das, was Philo über den Atheismus und Materialismus der Chaldäer sagt, eben so wenig wörtlich zu nehmen als eine ähnliche Stelle des Diodorus Siculus[38]:
„Die Chaldäer behaupten, daß die Welt ihrem Wesen nach ewig sei, daß sie keinen Anfang gehabt habe und kein Ende haben werde. Die Schönheit und die Ordnung des Weltalls schreiben sie einer göttlichen Vorsehung zu und behaupten dennoch, daß auf Erden keine Erscheinung, kein Vorkommniß zufällig oder spontan, sondern schon im Voraus von den Göttern bestimmt sei.“
Die von Diodorus gemeinte Vorsehung ist nicht die schaffende, sondern die ordnende Urkraft, welche einerseits mit der Ewigkeit der Welt verbunden ist, andererseits aber nach einem höheren Willen den Lauf der Gestirne in den bestimmten Bahnen regelt. Dieses Gesetz aber ist nichts anderes als das Verhängnis oder die Notwendigkeit des Philo, das Gesetz und die Harmonie, welche Sanchuniathon personifiziert[39], die Thuro-Chusartis der phönizischen Theologie, das Sinnbild der Einheit der unwandelbaren Ordnung und wunderbaren Harmonie des Weltalls. Die Bezeichnung Atheismus ist insofern unzutreffend, als die Chaldäer ein göttliches Urwesen oder eine allgemeine Weltseele, aus welcher alle niederen Gottheiten emanierten, annahmen. Nur leiten sie dieses göttliche Urwesen von 44der Materie ab, welche sie sich niemals völlig von ihm getrennt dachten. Deshalb war auch ihr Gott weder ein Wesen an sich, noch rein geistiger Natur, noch auch unumschränkt. Er war als Ordner und Leiter der Welt doch durch das unbeugsame Gesetz der Notwendigkeit gebunden, nach dessen Bestimmungen er durch seine oberste Emanation die Schöpfung der Welt hatte vollbringen lassen.
Die Neigung zur Astrologie erwuchs den Chaldäern aus ihren eigentümlichen, den nördlichen Semitenvölkern entlehnten religiösen Anschauungen. Indem sie den Himmel, die Harmonie seiner Bewegung und die Einwirkung der Sonne auf alle Lebewesen beobachteten, waren sie in durchaus naheliegender Weise dahin gekommen, alle Naturerscheinungen mit den Sternen, namentlich mit den Planeten, in Verbindung zu bringen; sie führten den Gestirndienst ein. Die Chaldäer verehrten die Gestirne nicht nur als die glänzendste Offenbarung der göttlichen Macht, sondern verehrten sie als Gottheiten. Auch führten sie zuerst systematische astronomische Beobachtungen ein, wie sie zur Einteilung der Zeit und Innehaltung ihrer religiösen Feste unbedingt notwendig waren.
Diese Beobachtungen nahmen sie auf ihren Pyramiden vor, welche in Stockwerke geteilt und wie die ägyptischen mit den Seiten nach den Himmelsgegenden orientiert waren. Die Zahl der Stockwerke schwankt zwischen drei zu Ur und sieben zu Borsippa am großen Turm, den Nabukudurussur wieder herstellen ließ. Die drei Stockwerke zu Ur entsprechen der Trias der Götter der Sonne, des Mondes und der Luft, Samas, Sin und Bin. Fünf Stockwerke, welche ebenfalls vorkommen, entsprechen den Planeten, und sieben den Planeten samt den Lichtern. Alle Pyramiden von sieben Stockwerken sind mit den Farben der Planeten übertüncht.[40] Sie waren sowohl die Stätten des Gestirnkultus als auch wirkliche Observatorien, wie Diodorus Siculus von der großen Pyramide zu Babylon ausdrücklich sagt. Man glaubte sich durch sie den Göttern stufenweise zu nähern, und auch auf einem Basrelief von Denderah ist die in den Geheimlehren des Altertums eine so 45große Rolle spielende Leiter in dieser Gestalt abgebildet, und auch Celsus bedient sich bei der Beschreibung der Mithrasmysterien des Wortes κλίμαξ, Leiter, in entsprechender Weise.[41] Die Himmelsleiter Jakobs ist ebenfalls als eine solche Pyramide zu betrachten.
Die Chaldäer zeichneten die auf diesen Pyramiden beobachteten Himmelserscheinungen, Konstellationen, Mondphasen usw. samt ihrem Zusammenfallen mit irdischen Ereignissen auf und glaubten, indem sie von der Ähnlichkeit und Gleichheit der Erscheinungen auf den Parallelismus der Geschicke schlossen, den Schlüssel zu den Rätseln der Zukunft gefunden zu haben.
Lenormant sagt: „Die unabänderliche Regelmäßigkeit des Laufes der Sterne und ihr Einfluß auf den Wechsel der Jahreszeiten rief die Vorstellung vom Walten eines unabänderlichen und ewigen Gesetzes hervor, welches durch ein festes solidarisches Verhältniß alle Erscheinungen und Ereignisse verbinden und die irdischen Dinge von den himmlischen abhängig mache. Und daraufhin wurde angenommen, daß alle beobachteten Coincidenzen sich mit nothwendiger Gleichheit wiederholen müßten.
Die Astrologie nahm allmählich eine immer bestimmtere Form an, ja sie machte sogar auf wissenschaftliche Genauigkeit Anspruch, da sie mittelst der fortgesetzten alltäglichen Beobachtungen eine Reihe astronomischer Wahrheiten erhärtet hatte. Die menschlichen Geschicke und geschichtlichen Begebenheiten wurden lediglich in die Kategorie der gewöhnlichen Naturereignisse gerechnet, und daher suchte man denn auch das Geheimniß derselben in den complicirten wechselnden Stellungen derselben, sowohl unter einander als in Bezug auf Sonne und Mond zu ergründen. Die Gestirne waren nicht allein Lenker des Weltalls, die bestimmende Ursache aller Vorkommnisse und Begebenheiten, sondern auch die Verkünder derselben. Denn ihre Stellungen und Erscheinungsphasen hatten sämmtlich eine bestimmte Bedeutung, und wie die ersteren die Ereignisse bestimmten, so waren die letzteren auch sichere Vorzeichen derselben. Man reihte deshalb alle wahrgenommenen Coincidenzen der verschiedenen Begebenheiten mit den Erscheinungen der Sonne, des Mondes, der Planeten und Fixsterne in ein bestimmtes System 46ein, unterließ aber gleichzeitig nicht, aus den allgemeinen Beziehungen der wechselnden Erscheinungen zur Atmosphäre neben den politischen und historischen Prophezeiungen auch manche sich nicht selten als richtig erweisende Vermuthungen über das Wetter abzuleiten. Endlich wurden derartige Beobachtungen und Erfahrungen tabellarisch verzeichnet, um eben in allen vorkommenden Fällen befragt und als Richtschnur beobachtet zu werden.“
Hier einige Proben derartiger Aufzeichnungen der Keilschriftlitteratur:
„Erscheint der Mond auffällig groß, so wird eine Finsterniß eintreten. Erscheint er dagegen auffällig klein, so wird die Ernte des Landes gesegnet sein.“ (Unvollkommene Beobachtungen von Perigäum und Apogäum des Mondes, welche zufällig mit einer Finsternis und guten Ernte zusammenfielen.)
„Zeigt der Mond am 1. und 28. des Monats das gleiche Aussehen, so ist dies ein verhängnißvolles Zeichen für Syrien. – Ist der Mond am 30. sichtbar, so ist dies ein gutes Zeichen für das Land Akkad und ein böses für Syrien.“
„Zeigt der Mond am 1. und 27. des Monats das gleiche Aussehen, so ist dies ein verhängnißvolles Zeichen für Elam.“
„Jupiter geht auf, und sein Licht ist hell wie der Tag; in einem Glanze bildet er hinter sich einen Schweif, ähnlich dem Stachel der Scorpione. Es ist dies ein günstiges Vorzeichen, welches Glück verkündet dem Herrn des Hauses und dem ganzen ihm unterthänigen Lande.“
„Leuchtet im Monat Duz der Stern Entemaslun (Aldebaran) bei seinem Aufgang sehr hell, so wird die Ernte des Landes sehr gut, und ihr Ertrag ein reichlicher sein. – Ist dagegen dieser bei seinem Aufgange verhüllt, so wird die Ernte des Landes mißrathen.“
„Wird der Mond von dichtem Gewölk verhüllt, so stehen Überschwemmungen bevor. – Trinkt der Mond in den Wolken, so wird es regnen.“
Man sieht, daß diese Aufzeichnungen der frühesten Kindheit der Beobachtung entstammen und mit Ausnahme der letzten Schlüsse vom Prügel auf den Winkel sind.
Außer den astronomischen Erscheinungen wurden noch die tellurischen 47eifrig beobachtet, und es hat sich das Inhaltsverzeichnis eines augurallitterarischen Werkes aus der Bibliothek des Statthalters von Niniveh erhalten, welches fünfundzwanzig Tafeln und Kapitel stark war. Von diesen fünfundzwanzig Kapiteln handelten vierzehn von günstigen und ungünstigen tellurischen Erscheinungen, elf von Astrologie. Der Text selbst ist verloren, und von den Kapitelüberschriften sind folgende Reste erhalten:
„1. Also, die Prophezeiungen von Glück und ihr Gegentheil, – die Anzeichen von Freude und Trübsal für das Menschenherz.“
„2. Also: der Herr des Geldes, der Erklärer der Regengüsse –.“
Es handelt sich hier offenbar um die Wahrsagung aus den Regen, welche als Brechomantie noch heute in der Türkei eine große Rolle spielt.
„3. Von den Sternwarten der Stadt.“
Die Überschrift des vierten Kapitels ist schwer verständlich; es scheint von der Deutung des Gesanges oder Geschreis, des Erscheinens und des Fluges „der Vögel des Himmels, der Gewässer und der Erde“ gehandelt zu haben. Den diesbezüglichen Beobachtungen scheint man besonders dann eine große Wichtigkeit beigelegt zu haben, wenn sie „in der Stadt und den Straßen derselben“ gemacht wurden.
„6. Zinnober ist über der Flamme verbrannt.“
„7. Wird das Aussehen eines Hauses alterthümlich, so ist dies für die Bewohner des Hauses ein verhängnißvolles Zeichen.“
Über diese sogenannte Ökoskopie schrieb bei den Griechen ein gewisser Xenokrates, und auch der heilige Basilius spricht in seinen Schriften darüber.
„13. Ein Traum von hellem Schein, das Land in Feuer, – ein Traum von hellem Schein, die Stadt in Flammen.“
„14. Ein Seedrache mit den Vögeln des Himmels . . .“
Aus den astrologischen Kapitelüberschriften sind folgende hervorzuheben.
„3. Der Venusstern erhebt sich bei Tagesanbruch . . .“
„4. Der Marsstern mit sieben Namen in . . . . . . . .“
„5. Das gleichmäßige Aussehen von Sonne und Mond . .“
„6. Der gleichzeitige Anblick von Sonne und Mond . .“
„7. Vom 1. und 5. des Monats, der Mond . . . . .“
„8. Der Stern, welcher vorn einen Stern und hinten einen Schweif hat . . . .“
„10. Der Stern iku . . . .“
„11. Der Polarstern, der am Scheitelpunkt (des Himmels) sich um sich selbst dreht . . . .“
„Elf Tafeln, betreffend Himmelserscheinungen, unter ihnen der Stern, der vorn einen Stern und hinten einen Schweif hat, – die Himmelserscheinungen . . . . Die Erscheinungen auf Erden und am Himmel . . . . Himmel und Erde . . . .“
Die Schlußzeilen der Vorderseite dieser Tafel sind nur fragmentarisch erhalten und betreffen irgend eine Himmelserscheinung, deren verhängnisvolle Bedeutung auf der Rückseite folgendermaßen angegeben wird:
„Diese Erscheinung lehrt, daß die Stadt des Landesfürsten samt ihren Einwohnern in die Gewalt des Feindes gerathen wird; Sterblichkeit und Hungersnoth . . . . auf der Tafel, die Zahl, welche du genannt, dir verkünden wird, und wie . . . . .“
„Diese Sammlung von fünfundzwanzig Tafeln betrifft die Erscheinungen am Himmel und auf Erden, sowie ihre günstigen und ungünstigen Vorbedeutungen . . . . alle Erscheinungen am Himmel und auf Erden . . . . hierin ist ihre Deutung verzeichnet.“
König Sargon I. ließ diese Sammlung sowie ein großes Werk von siebenzig Tafeln über alle bis auf seine Zeit erhaltenen astrologischen Resultate anlegen, welches das Hauptwerk der chaldäischen Astrologie und anscheinend von Berosus ins Griechische übersetzt wurde.
Neben der bienenfleißig getriebenen Beobachtung der astronomischen und tellurischen Erscheinungen und Vorzeichen übten die Chaldäer auch das einfachste und unentwickeltste Divinationsverfahren, die Loswahrsagung. Ich habe dieselbe in meinen „Geheimwissenschaften“ ausführlich beschrieben und muß darauf zurückverweisen. Hier will ich nur kurz rekapitulieren, daß man in einem Köcher sieben mit Schriftzeichen versehene Pfeilschäfte durcheinander schüttelte und aus dem zuerst herausspringenden wahrsagte. Mit diesen Stäben ist nicht das „Rohr des Schicksals, der Offenbarung, 49der Enthüllung“ (akkad. gi-namekirru, qan-mamiti, qan pasari, assyr. kil-killuo) zu verwechseln, welches durch Bewegungen in der Hand der Magier Orakel erteilte.
Neben dieser Art Belomantie kannten die Chaldäer noch ein anderes Verfahren, welches in einem besonderen Kapitel eines Werkes der Bibliothek von Niniveh besprochen wird.[42] Es wurden wirkliche Pfeile nach verschiedenen Richtungen hin abgeschossen und sodann aus der größeren und geringeren Entfernung derselben vom Schützen, sowie aus der Art und Weise ihres Niederfallens Schlüsse auf die Zukunft gezogen.
Bekanntlich wird diese Wahrsagungsart im alten Testament mehrfach erwähnt.
Über die chaldäischen Auguren und Haruspices sagt Diodorus Siculus[43]: „Die Chaldäer sind erfahren in der Deutung des Vogelfluges und in der Auslegung von Träumen und Wunderzeichen, auch hält man sie für geschickte Opferschauer, welche genau das Richtige treffen.“
Die Auguralwissenschaft der Chaldäer war demnach, und wie sich aus den Keilschriften ergiebt, in vier Abteilungen geteilt: in die Beobachtung des Vogelflugs, in die Wahrsagung aus den Eingeweiden der Opfertiere, in die Auslegung aller Arten von Naturerscheinungen (τέρατα) und in die Traumdeutung.
Leider sind wir bei dem gänzlichen Mangel an Keilschrifttexten nicht im Stande, etwas Näheres über die Vogelschau der Chaldäer zu sagen; nur soviel ergiebt sich – wie schon erwähnt –, daß dieselben dem Gesang und Geschrei der Vögel große Bedeutung beimaßen, wie dies die Griechen, Etrusker und Römer ebenfalls thaten.
Nach Festus teilten die Etrusker und Römer die Vögel in alites und oscines, je nachdem man ihren Flug oder Ruf für bedeutungsvoll hielt. Bei den Griechen war die Kunst der οἰνωπόλοι schon in sehr früher Zeit im Gebrauch und kommt bereits bei Homer völlig ausgebildet vor. Wahrscheinlich war sie von Chaldäa nach Griechenland gekommen. Wie Suidas angiebt, sei sie eine 50Erfindung des Telegonus, des Sohnes des Odysseus und der Circe gewesen, Clemens von Alexandrien hingegen sagt, daß sie aus Phrygien stamme, womit Cicero übereinstimmt, der Phrygien, Cilicien, Pisidien und Pamphylien als die Länder nennt, in welchen diese Divinationsgattung besonders im Schwang sei. Diese Gegenden hatten aber bereits in sehr früher Zeit die Kultur der Euphratländer angenommen und mit andern babylonisch-chaldäischen Elementen auch diese Wahrsagungsart nach Griechenland getragen. Auch die nach Cicero[44] in hohem Grad entwickelte Auguralwissenschaft der Araber ist wohl auf babylonische Einflüsse zurückzuführen ebenso wie die Spuren, die sich bei den Maçudi und Juden[45] finden. Auch das Haruspicium kennen die Juden, und zwar spricht Hesekiel an der bekannten Stelle davon[46], wo Nabukudurussur das Pfeilorakel befragt und sich aus der Leber der Opfertiere weissagen läßt.
Nach den Fragmenten des großen auguralwissenschaftlichen Werkes von König Sargon I. suchten die Chaldäer in den Eingeweiden der verschiedensten Tiere vorbedeutende Anzeichen. Ein Fragment handelt von einem leider nicht näher angegebenen Vorzeichen, welches man in den Herzen junger Hunde, Füchse, wilder und zahmer Schafe, Pferde, Esel, Rinder, Löwen, Bären, Fische, Schlangen u. a. m. beobachten könne. Doch hatte die betreffende Erscheinung bei jeder Tierart eine besondere Vorbedeutung. Ein zweites Fragment bezieht sich auf Wahrzeichen, welche man aus der Farbe und dem Ansehen der Eingeweide der Opfertiere besonders der Esel und Maultiere entnehmen wollte. So heißt es z. B.: „Sind die Eingeweide des Esels auf der rechten Seite schwarz, – auf der rechten Seite bläulich, desgleichen ihre Windungen, – auf der rechten Seite dunkelfarbig, – auf der rechten Seite kupferfarbig, – auf der linken Seite kupferfarbig“, so sind diese Erscheinungen ebenso viele Vorbedeutungen für die Jahreszeiten sowie die Schicksale des Landes und des Landesherrn. Die gleichen Erscheinungen, welche auf der rechten Seite günstig waren, waren auf der linken Seite ungünstig und umgekehrt. Die auf 51der linken Seite auftretenden Erscheinungen waren im allgemeinen ungünstiger als die auf der rechten vorkommenden.
Andere Vorbedeutungen suchten die chaldäischen Haruspices im Innern der Eingeweide, welche nach vorausgegangener äußerer Besichtigung geöffnet wurden. So heißt es z. B.:
„Zeigen sich im Innern der Eingeweide auf der linken Seite Risse, so tritt Hader und Zwietracht ein.“
„Zeigen sich im Innern der Eingeweide auf der linken und rechten Seite Risse, so tritt ebenfalls Hader und Zwietracht ein.“
„Ist das Innere der Eingeweide auf der rechten und linken Seite schwarz, so tritt Zwietracht ein.“
Von den noch unveröffentlichten Fragmenten bezieht sich nach Lenormant eines auf die Hepatoskopie, die Leberschau, welche bekanntlich außer bei den Babyloniern bei den Völkern des klassischen Altertums eine große Rolle spielte. Das erhaltene keilschriftliche Fragment ist klein und verstümmelt und enthält nur die Aufzählung der Fälle, welche mit der größeren oder geringeren Entwickelung des einen oder anderen Lappens der Leber oder beider zugleich sowie mit dem völligen Schwund des rechten oder linken Lappens oder aber mit der schwarzen, bläulichen, kupferigen oder roten Färbung eines oder beider Lappen zusammenhängen, worauf die aus dem Aussehen und der Entwickelung der Gallenblase gezogenen Schlüsse folgen.
Die Opferschau verbreitete sich von Babylonien aus über alle Länder der alten Welt: im Norden über Armenien und Komagene, im Westen über Phönizien und Palästina (die O. wird den Juden ausdrücklich verboten[47]) bis nach Karthago. Vorzugsweise wurde sie in Kleinasien betrieben, wo namentlich die Einwohner von Telmessos als geschickte Haruspices berühmt waren. Von Kleinasien kam das Haruspicium sehr frühzeitig nach Griechenland, wo die Familienangehörigen der Damiden und Klytiaden als Haruspices in großem Ansehen standen. Der griechischen Tradition zufolge soll Delphos, der Sohn des Apollo, der Erfinder des Haruspicium gewesen sein, was indessen wohl nur darauf hindeutet, daß die Opferschau 52vorzugsweise in Delphi ausgeübt wurde. In Italien war diese Divinationsgattung besonders in Etrurien gebräuchlich und erlangte in Rom selbst niemals den offiziellen Charakter, den die Beobachtung der Auspicien und sonstigen Naturerscheinungen trug. Zur Zeit, als der Senat die haruspices befragte[48], wurden dieselben aus Etrurien berufen und bildeten eine besondere Körperschaft, welche gesetzlich anerkannt war.[49] Die libri haruspicini waren ebenso wie die libri fulgurales und tonitruales[50] etruskische Bücher, deren Vorschriften und Lehren man für Offenbarungen des der Erde entstiegenen Tages hielt.[51]
Außer den Regengüssen wurde die Gestalt und Farbe der bei Tage erscheinenden Wolken eifrig beobachtet und gedeutet, während die Deutung der Beziehungen der nächtlichen Wolken zu den Sternen Sache der Astrologen war.
Über die erstere Wolkengattung heißt es z. B.:
„Steigt bläulichschwarzes Gewölk am Himmel auf, so wird im Verlaufe des Tages der Wind wehen.
Ausgefertigt durch Nabu-akha-irib.“
Wie man sieht, tragen diese kindlich naiven Beobachtungen einen meteorologischen Charakter.
Moses[52] und Jeremias[53] verbieten den Juden die wahrsagerische Beobachtung der Wolken und atmosphärischen Erscheinungen.
Die Fulguration scheint bei den Chaldäern sehr ausgebildet gewesen zu sein. Wie die klassischen Schriftsteller berichten, unterschieden die Chaldäer im allgemeinen zwei Arten von Blitzen: 1. auf die Erde herabfallende und 2. nur in den Wolken leuchtende. Nach der Versicherung des Plinius[54] nahmen die Chaldäer an, daß diese Blitze von den Planeten Saturn, Jupiter und Mars herrührten und beobachteten sie vorzugsweise. Die zweite Art, die 53fulgura fortuita des Plinius „verkündeten durch ihren Donner die Stimme der atmosphärischen Wächter, deren Pfad sie durch ihre Leuchtkraft bezeichneten“.[55]
Es ist nur ein einziges und zwar sehr verstümmeltes keilschriftliches Fragment über die Einteilung der Blitze bei den Chaldäern erhalten[56], das aber trotz seiner Verstümmelung sehr wichtig ist, insofern es die Richtigkeit der Angaben des Plinius beweist. Dasselbe lautet:
Vergleichen wir nun die Blitze der Planeten und die fulgura fortuita des Plinius mit den Angaben des Fragments, so finden wir, daß die Blitze des Ersteren mit dem „Blitz der Gestirne“ und dem „Blitz des Gottes Bin“ (assyr. Rimmon) zusammenfallen. Bin ist der Gott der Luft und des Donners und wird deshalb mit einem Donnerkeil oder einem zackigen Blitz dargestellt.
Die Blitze der Götter Mamna und Baluv sind verschiedenen Erscheinungsphasen des Planeten Mars zugeeignet und waren wegen ihrer zündenden Kraft berüchtigt.[57]
Die übrigen auf dem Fragment genannten Blitzarten waren den Etruskern ebenfalls bekannt, welche dieselben auch zum Teil den obern Planeten zuschrieben.[58] Dieselben kannten auch eine Art dem Saturn geweihte Blitze, welche von der Erde zum Himmel emporstiegen.[59] Dies ist wohl „der Blitz der Erde“ des Fragments, 54welcher mit dem Blitz des Bel oder Mul-ge identisch ist. Endlich kannten die Etrusker noch „die Blitze der Nacht“, welche der Gott Summanus erzeugen sollte, während die Römer die komplizierte etruskische Fulgurallehre einfacher gestalteten und nur „Blitze des Tages“ und „Blitze der Nacht“ annahmen, die sie dem Jupiter oder dem Summanus zuschrieben. Dagegen findet sich in den Berichten über die etruskische Fulguration nichts, was sich mit dem rätselhaften „Blitz des Wassers“ der Chaldäer vergleichen ließe.
Über die Wahrsagerei der Chaldäer aus Erdbeben, welche Diodorus Siculus erwähnt[60], wissen wir nichts näheres, ebensowenig als über die chaldäische Kapnomantie und Pyromantie. In Griechenland war die Pyromantie, deren Erfindung dem Amphiaraus zugeschrieben wurde, allgemein gebräuchlich. Man warf unter Gebeten Weihrauch in die Flamme und beobachtete, ob derselbe verzehrt oder zerstreut wurde, worauf man dann Schlüsse auf günstige oder ungünstige Vorbedeutung schloß. Diese auch Libanomantie genannte Wahrsagungsart war besonders in Apollonia gebräuchlich, wo die heiligen Feuer durch dem Boden entströmende Kohlenwasserstoffgase genährt wurden.
Da oben ein mitgeteiltes Fragment einer Kapitelüberschrift des Sargonschen Auguralwerkes lautet: „Zinnober ist über der Flamme verbrannt“, so scheint es, daß die Akkader ein ähnliches Verfahren kannten; auch dürften sie, weil sie ihrem Feuergott eine so große Bedeutung als Bekämpfer der bösen Dämonen beilegten, auch auf das äußere Ansehen der Feuerflammen geachtet haben.
Nach einigen Bruchstücken des Sargonschen Werkes schrieben die Akkader auch Quellen und Flüssen prophetische Bedeutung zu und weissagten aus der Menge, dem Aussehen und der Strömung des Wassers.
Nach Psellus[61] sind die Assyrer die Erfinder der Lekanomantie, welche bei ihnen jedoch anders als in späterer Zeit ausgeübt wurde. Psellus sagt:
„Die Lekanomantie wird mittelst einer Schale ausgeübt, welche man mit prophetischem Wasser anfüllt und vor sich stehen hat. – 55Dieses Wasser unterscheidet sich äußerlich durch nichts vom gewöhnlichen Wasser, aber die Handlungen und Beschwörungen, welche über dem Gefäß vorgenommen werden, beschenken es mit einer prophetischen Kraft, welche im Schoße der Erde entspringt und sich eigenartig äußert: Denn während sie sich dem Wasser mitteilt, ruft sie ein unbestimmtes Rauschen hervor, welchem die Anwesenden zunächst keinen rechten Sinn abgewinnen können; hat sie sich aber in der Flüssigkeit nach allen Seiten hin gleichmäßig ausgebreitet, so vernimmt man gewisse seltsame Töne, aus denen man die Prophezeiung der Zukunft schöpft. Diese der materiellen Wirklichkeit angehörenden Klänge haben aber stets etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles an sich[62], daher denn auch die Weissager, welche diesen Umstand möglichst ausbeuten, niemals eines Betrugs überführt werden können.“
Nach einigen Tafeln der Bibliothek zu Niniveh legte man auch dem größern oder geringeren Glanz edler Steine divinatorische Bedeutung bei, wie denn z. B., um über das Gelingen oder Fehlschlagen eines feindlichen Angriffs zu prophezeien, geprüft wurde, ob „der Diamant am Finger“ seine Strahlen nach rechts oder links warf.
Unter den Akkadern wie unter allen Völkern des Altertums war die Phyllomantie, die Wahrsagung aus der Bewegung und dem Rauschen der Bäume sehr gebräuchlich[63] und von ihnen zu den Juden übergegangen; bei ihnen finden wir die Zaubereiche in Sichem[64]; die Maulbeerbäume, aus deren Rauschen David prophezeite[65], und die Palme, unter welcher Deborah weissagte.[66] Auch die vorislamitischen Araber hatten heilige Palmen und verehrten auch den Sumurahstrauch (Spina aegyptiaca) als göttlich. Überhaupt war es ein sehr verbreiteter Glaube der Araber, daß sie aus allen möglichen Arten dorniger Sträucher prophetische Laute zu vernehmen glaubten, und dieser Anschauung dürfte auch die Erscheinung Jehovahs im brennenden Dornbusch 56ihren Ursprung verdanken. – Die Etrusker, deren Kultur entschieden von der chaldäischen abhängig ist, unterschieden günstige und ungünstige Bäume je nach den Prophezeiungen, welche sie denselben entnahmen.[67] Die Griechen hatten redende Eichen (προσήγοροι δρύες), wie zu Dodona, der ältesten pelasgischen Orakelstätte, und weissagende Lorbeerbäume zu Delphi und Delos. – Auf den Baumkultus der Germanen werde ich später zurückkommen.
Die den Tieren entnommene Orakel anlangend, so betrachteten die Chaldäer vorzugsweise die Schlange als wahrsagendes Tier, was die alten Philosophen damit zu erklären suchen, daß die kriechende Schlange am meisten von allen Tieren mit der Erde, dem Urquell aller Inspiration, in Verbindung stehe. Auch ist darauf aufmerksam zu machen, daß in den semitischen Sprachen die Worte „Schlange“ und „weissagen“ der gleichen Wurzel nahasch entspringen.
Die Schlange ist bei den Chaldäo-Babyloniern und Assyriern das Sinnbild des Ea, der höchsten Einsicht wie des Inhabers der höchsten Weisheit, weshalb sie auch als Sinnbild alles magischen Wissens betrachtet wird. Die Genesis hält sie für listiger denn alle Tiere, die Jehovah erschaffen und die alten Araber glaubten, daß man durch den Genuß eines Schlangenherzens und einer Schlangenleber die Sprache der Tiere verstehen lerne, eine Anschauung, welche bekanntlich noch in der deutschen Volkssage fortlebt. – Es scheint sogar, daß man in einigen babylonischen Tempeln Schlangen züchtete, welche man als Mittler zwischen den Göttern und Menschen ansah und aus ihren Gebahren orakelte. – Auf Ähnliches scheint auch die biblische Erzählung „vom Drachen zu Babel“ hinzudeuten.
Ein anderes prophetisches Tier war der Hund, und Lenormant teilt eine ganze Reihe von Regeln mit, nach welchen die Chaldäo-Babylonier aus der Farbe und dem Exkrementieren eines fremd in den Königspalast oder ein Privathaus gelaufenen Hundes wahrsagten.
Eine leider nur lückenhaft erhaltene Inschrift giebt an, daß Fliegen (zumbi) von den Chaldäo-Babyloniern zum Wahrsagen 57benutzt wurden. Dieser Umstand beleuchtet einen wichtigen Punkt der semitischen Mythologie, nämlich die Rolle, welche der große Gott von Akkaron (Ekron) spielt. Derselbe hieß bei den Philistern bekanntlich Baal-Zebub, „Baal-Fliege“ oder „Herr der Fliege“; die Septuaginta nennt ihn Βαὰλ μυῖα, Josephus θεὸς μυῖα, und die Juden machten ihn später zum Obersten der Teufel. Dieser Baal-Zebub besaß ein berühmtes Orakel, welches nach dem alttestamentarischen Bericht selbst Achasja, König von Israel, über den Ausgang seiner Krankheit um Rat befragte und dadurch den Zeloteneifer des Elias entflammte. Berücksichtigen wir nun obige keilschriftliche Nachricht, so bleibt kein Zweifel, daß zwischen dem Namen des großen Gottes von Akkaron und der Art und Weise der Ausübung seines Orakels Zusammenhang herrscht, und daß die semitischen Völker so gut wie die Chaldäer Fliegenorakel besaßen. Daß Bienen und Ameisen als wahrsagende Tiere auch bei den klassischen Völkern eine Rolle spielten, beweist die Erzählung von der Kindheit Platos und die Midassage.
Nach dem Bericht des Jamblichus[68] weissagten die Babylonier sogar aus dem Verhalten der Ratten, Heuschrecken &c., und endlich wurden nach Angabe des Sargonschen Auguralwerks auch „die Fische der Teiche“ zu den prophetischen Tieren der Chaldäer gerechnet, worunter wahrscheinlich heilige Fische zu verstehen sind, die man zum Behuf der Wahrsagung züchtete. So gab es z. B. in Lycien heilige Fische, welche durch Flötenspiel an die Oberfläche des Wassers gelockt wurden, worauf man aus ihrem Verhalten orakelte; das Gleiche war nach Varro[69] auch in Lydien der Fall. Auch dürften die in einem Teiche beim Tempel des Zeus Labrandeus zu Mylasa in Karien gezüchteten Fische, welche Ohrgehänge an den Kiemen trugen, zu Wahrsagezwecken gehalten worden sein, wie ferner die zu Ehren der Göttin Atargatis oder Derketo zu Askalon gezüchteten, wo bekanntlich ein dem babylonischen verwandter Kultus herrschte.
Auch war die chaldäische Mantik bemüht, aus spontanen Bewegungen oder Tönen von Hausgeräten und Möbeln wahrzusagen, 58und es ist ein Fragment erhalten, welches eine ganze Reihe von hölzernen Möbeln und Teilen des Hauses nennt, aus denen prophetische Laute hervortönen (assaput, ku-a), „geeignet, das Menschenherz fröhlich zu stimmen“. Die einzelnen Deutungen sind jedoch verloren gegangen. Ich habe schon oft darauf hingewiesen, daß wir es hier wohl mit den Anfängen des Tischklopfens und Tischrückens zu thun haben.
Auch zufällig gehörten Worten wurde prophetische Bedeutung beigelegt; es sind dies die von den Juden bath-kol genannten Stimmen.
Hingegen läßt sich im Sargonschen Auguralwerk nicht die Ausübung der im Buche Hiob erwähnten Chiromantie, der Onychomantie sowie der Kranioskopie nachweisen.
Die Beschäftigung der Chaldäer mit der Astrologie brachte es mit sich, daß sie den Mißgeburten große Aufmerksamkeit zuwendeten. Nach ihren Behauptungen rechtfertigten 470 000 jahrelang angestellte Beobachtungen die Annahme, daß der bei der Geburt eines Menschen vorhandene Sternenstand dessen Geschick bestimmen. Da aber Gebrechen und Mißgestaltungen neugeborener Kinder ebenfalls von diesem Sternenstand abhängig seien, so lasse sich aus Mißgeburten ebenso gut die Zukunft entschleiern als aus den Sternen selbst.[70] Deshalb legte man den Mißgeburten eine ungeheuere Wichtigkeit bei und behandelte deren Deutung sehr ausführlich in dem Sargonschen Auguralwerk. Von den 72 diesbezüglichen Texten, welche Lenormant beibringt, will ich nur folgenden anführen, welcher beweist, daß man schon in jener altersgrauen Vorzeit der „Glückshaube“ eines neugeborenen Kindes eine ebenso große Wichtigkeit beilegte als heute:
Namentlich wurde den Mißgeburten fürstlicher Frauen große Bedeutung beigelegt, und auch die Mißgeburten mancher Tiere – wie z. B. der Stuten – galten als besonders ominös.
Der Glaube an die Vorbedeutung der Portenta ging auf Etrusker und Römer über, und noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts schrieb Caspar Schott De mirabilibus portentorum.
Mit die wichtigste Rolle im chaldäischen Divinationswesen spielt die Traumdeutung. Nach Diodorus Siculus rechneten die Chaldäer die Träume zu den tellurischen Vorzeichen und deuteten sie nach den Vorschriften des Sargonschen Auguralwerks. Ein Fragment desselben lautet[71]:
Das Urinlassen als Traumsymbol dünkte den Chaldäern ganz besonders wichtig und wird auch noch von einem Weib, Bären, Hunde usw. angeführt. Herodot berichtet bekanntlich von einem hierhergehörigen Traum des Astyages, dessen Tochter Mandane auf diese Weise ganz Asien überschwemmte und so die Herrschaft des Cyrus prognostizierte.
Von den Kapiteln des Auguralwerkes scheint besonders das von der Traumdeutung gehandelt zu haben, dessen Anfang lautet:
Bekanntlich spielen Träume von Feuer und Flammen noch in der modernen Traumdeutung eine große Rolle.
Nach Jamblichus begaben sich die babylonischen Frauen absichtlich 60in den Tempel der Zirpanit oder Aphrodite, um divinatorische Träume zu erhalten, welche sie sofort von den Traumdeutern auslegen ließen. Bekanntlich wurde dieser incubatio oder ὲγκοίμησισ genannte Brauch auch in Ägypten oder Griechenland ausgeübt.
In Chaldäa und wahrscheinlich auch in Assyrien, da ja die Assyrier in diesen Dingen nur die Schüler und Nachbeter der Chaldäer waren, gab es nach den Keilschrifttexten Seher (sabru), welchen die Götter vorzugsweise prophetische Träume zu Teil werden ließen. Derartige Seher und Seherinnen scheint es, wie die oben mitgeteilte Nachricht Herodots vom Tempel zu Borsippa andeutet, in manchen Tempeln ständig gegeben zu haben. – Zweifellos wurden bei den Chaldäern prophetische Träume auch durch narkotische Mittel hervorgerufen wie bei andern Völkern des Altertums und noch bei vielen wilden Völkerschaften.
Der Eingang des obersten – siebenten – Stockwerks des Turmes von Borsippa war dem Gott Nebo (Prophet) geweiht und hieß bab assaput, „Thor des Orakels“. Ein ähnliches Orakelgemach, bil assaput, existierte noch nach inschriftlichen Angaben in der Pyramide des königlichen Stadtviertels zu Babylon. Ob jedoch die Art und Weise, wie die Orakel in diesem erteilt wurden, die gleiche war wie im Turme von Borsippa, ist aus den Inschriften nicht ersichtlich. Gewiß ist nur, daß dieses Gemach als Grabkammer des Bel-Maruduk galt, was vermuten läßt, daß daselbst Incubation stattfand, weil man im Altertum häufig Grabstätten aufsuchte, um in ihnen prophetische Träume zu erhalten. Auch ist bekannt, daß das Orakel des Belus oder Bel-Maruduk in der Geschichte Alexanders des Großen insofern eine Rolle spielt, als die Chaldäer den siegreichen Eroberer im Namen dieses Heiligtums zu bestimmen suchten, von Babylon fern zu bleiben. Allerdings blieb dieser Versuch erfolglos, weil Alexander die egoistischen Beweggründe der Chaldäer wohl erkannte.
Das Gebet, welches Incubation im Grab des Bel-Maruduk einleitete, ist teilweise erhalten und enthält folgende charakteristische Stellen:
In der Zeit vom 8. bis 6. Jahrhundert erreichte die Traumdeutung ihren Höhepunkt in Vorderasien und Ägypten, woselbst sie sogar die Politik und Kriegsführung beeinflußte. Durch einen siegverheißenden Traum wurde Assurbanhabal zum Kriege gegen Te-Umman angeregt, und durch Träume wurde mehrfach sein Heer zur Ausdauer ermuntert. Ein Traum bewog Gyges zur Anerkennung der assyrischen Oberherrschaft. Träume waren es, welche Krösus den Tod seines Sohnes Atys, Astyages die Herrschaft seines Enkels und Cyrus die des Darius verkündeten. Ein Traum führte Sebek, König von Ägypten, zum Entschluß, seine Regierung niederzulegen; auch war es wiederum ein Traum, welcher dem König Seti die endliche Vernichtung des assyrischen Heeres unter Senacherib zusicherte und ihn so zum Ausharren in der Gegenwehr ermunterte. Endlich hatte der äthiopische Fürst Ta-nuat-Amen einen Traum, welcher ihm seine zukünftige Macht offenbarte und ihn zur Eroberung Ägyptens anspornte.
Bei den Juden war die Deutung der von Jehovah gesandten Träume erlaubt, dagegen bei Strafe der Steinigung verboten, im Namen fremder Gottheiten Träume herbeizuführen und zu deuten. Diese Bestimmung wirkt in der bei den Christen gemachten Einteilung der Träume in göttliche und teuflische bis in das vorige Jahrhundert nach.
Die letzte wichtige Wahrsagung der Chaldäo-Babylonier ist die Nekromantie. Wie oben schon mitgeteilt, ist jedem Menschen von Geburt an ein den Feruern entsprechender besonderer Geist beigegeben, 62welcher ihn schützt, in ihm lebt und sein geistiges Urbild ist. Nach dem Tode des Menschen wird aus diesem Geist ein Dämon (utuk, utukku), dessen Schicksal „im Land ohne Heimkehr“ je nach Maßgabe der Geneigtheit der Götter ein günstiges oder ungünstiges ist. Nur bevorzugte Seelen von Helden und Königen fanden Eingang in den Himmel und bewohnten fortan:
Das Loos der großen Überzahl der Menschen, deren utuk in das „Land ohne Heimkehr“ (akkad. kur-nu-ga, assyr. mat la Tayarti) hinabstieg, gestaltete sich ziemlich trostlos. Das „Land ohne Heimkehr“ wird in der „Höllenfahrt der Istar“ folgendermaßen geschildert:
Im „Land ohne Heimkehr“ lebt die Seele wie im Scheol der Hebräer ohne Empfindung und Willenskraft, von Finsternis umgeben, fort. Ihr Zustand ist weder völlige Vernichtung noch Unsterblichkeit, sondern eine Art von Erstarrung oder Schlummer. Im Hintergrund des „Landes ohne Heimkehr“ befand sich jedoch, wie oben erwähnt, im „ewigen Heiligthum“ die „Quelle der Lebenswässer“, deren Sprudel die höllischen Mächte mit der größten Wachsamkeit und Ehrfurcht behüteten. Den Zugang zu ihr konnte nur ein Gebot der höchsten Götter, namentlich des Ea, erschließen, und wer daraufhin von ihr getrunken hatte, kehrte – wie Istar am Schluß ihrer Gefangenschaft – lebend an das Licht zurück. Ob diese Quelle eine Andeutung der Auferstehung, an welche die Chaldäer nach Diogenes Laërtius glaubten, ist, läßt sich nach den Texten nicht entscheiden.
Übrigens konnten die Seelen nicht nur auf Eas Gebot, sondern auch als Vampyre dem „Land ohne Heimkehr“ entsteigen, um die Lebenden zu quälen. Deshalb droht auch Istar dem Schließer des Höllenreichs mit den Worten:
Auch die Schwarzkünstler vermögen Vampyre aus dem „Land ohne Heimkehr“ heraufzubeschwören und die Gegenstände ihres Hasses von ihnen peinigen zu lassen.
Da man sonach an die Citation Verstorbener glaubte, so lag es sehr nahe, die von den Schranken des Raumes und der Zeit befreiten Geister der Verstorbenen über die Zukunft zu befragen, und die Nekromantie mußte sich folgerecht entwickeln. Über die Ausübung der Nekromantie habe ich anderwärts[72] schon das Nötige gesagt. Hier will ich nur rekapitulieren, daß wir uns aus dem alten Testament ein ungefähres Bild von der Totenbeschwörung der Chaldäer entwerfen können.
Der biblische Ob ist ein unsauberer Geist, ein Totengeist, welcher in dem Körper eines Mannes oder einer Frau wohnt und von hier aus die Zukunft offenbart, entsprechend dem jidoni, dem „Wissenden“ oder „Belehrenden“, welcher fast immer mit den oboth zusammen genannt wird. Es ist dabei zu bemerken, daß die Worte oboth und jidonim sowohl für die Geister selbst als die von ihnen Besessenen gebraucht werden.
Das Letztere ist nicht nur der Besprechung der Hexe von Endor durch Josephus[73] sondern auch daraus zu entnehmen, daß die Septuaginta wiederholt oboth mit ὲγγαστρίμυϑοι übersetzt, sowie überhaupt aus den charakteristischen Ausdrücken, deren sich die Propheten bei der Schilderung der oboth bedienen.
Ziehen wir nun die ausdrückliche Angabe des Jamblichus, daß die Babylonier mittelst ihrer Σακχοίρας die Geister der Toten über die Zukunft befragten, in Betracht, und erwägen wir, daß ob kein semitisches Wort ist, sondern vom akkadischen ubi, „strafwürdigen Künsten obliegen“, abstammt, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die hebräische Nekromantie aus der akkadischen hervorging.
Medien war bis zur Einwanderung der eigentlichen iranischen Meder im Besitz eines Volkes turanischer Rasse, welches mit den Akkadern eine große Ähnlichkeit hatte und das protomedische genannt wird. Die iranische Einwanderung geschah nach Lenormant und Maury im achten Jahrhundert vor Christus; jedoch bildeten auch nach der völligen Besitznahme Mediens die Iraner immer noch den kleineren, wenn auch herrschenden Teil der Bevölkerung. Zur Zeit der Achämeniden sprach das Volk noch die protomedische Sprache, welche auch die amtliche Sprache der Perserkönige wurde. Das turanische Medien aber bewahrte nicht nur seine eigene Sprache, sondern auch seinen eigenen religiösen Charakter, welchem es erst nach langem mit wechselndem Glück geführten Kampf gegen die Religion Zoroasters entsagte. Die den Protomedern eigenen religiösen Vorstellungen fanden endlich sogar bei den iranischen Eroberern Eingang und erzeugten durch ihre Vermischung mit der Religion derselben das System des Magismus, so genannt nach dem Stamme der Magier, welche das ausschließliche Privilegium besaßen, daselbst das Priesteramt auszuüben.[74]
Der Name Magismus wurde sehr lange Zeit der Religion des Zoroaster beigelegt, was jedoch auf einer von den griechischen Schriftstellern begangenen Verwechslung beruht, die namentlich Herodot verschuldet hat, welcher wohl Medien, aber nicht das eigentliche Persien bereiste. Ja diese Annahme ist nach den neuesten 68Forschungen sogar ein entschiedener Irrtum, da beide Religionssysteme, der Magismus und der Zoroastrismus einander entgegengesetzt sind.
Darius, Sohn des Hystaspes, welcher wohl genauer als Herodot unterrichtet war, berichtet ausdrücklich in seinen Regierungsannalen auf dem Felsen von Behistan, daß die Magier, welche mit Gaumata, dem falschen Smerdis, eine Zeit lang Herren des Reichs waren, den Versuch machten, die iranische Religion durch die ihrige zu verdrängen, und daß Darius ihre „gottlosen Altäre“ stürzte.
Es heißt in der genannten Inschrift[75]:
„Als Kambyses in Aegypten war, verfiel das Volk in Gottlosigkeit, und Wahnglauben wurde im Lande mächtig, in Persien, Medien und andern Provinzen. Die Königswürde, welche unserm Geschlecht entrissen war, habe ich wiedererlangt; ich habe sie von Neuem wiederhergestellt. Die Tempel, welche der Magier Gaumata zerstört hatte, habe ich wieder erbaut; ich habe die Familien, welchen sie vom Magier Gaumata entrissen worden, die heiligen Gesänge und rituellen Gebräuche wiedererstattet; ich habe den Staat auf seinen alten Grundlagen wiederhergestellt und Persien, Medien sowie die übrigen Provinzen wieder an mich gebracht.“
In der zu Naksch-i-Rustam befindlichen Grabschrift des Darius heißt es ferner: „Als Ahuramazdâ dieses Land dem Aberglauben preisgegeben sah, vertraute er es mir an.“ Das im Text für Aberglauben gebrauchte Wort ist yâtum, „Religion der Yâtus“, wie die Feinde des Zoroaster im Zendavesta genannt werden. Danach und nach der im nächsten Kapitel zu gebenden Lebensbeschreibung des Zoroaster erscheint das Blutbad, welches die Perser bald nach der Ermordung des falschen Smerdis anrichteten, und die sonst unerklärliche Einsetzung der „Feier des Magiermords“, welche man lange Zeit hindurch am Jahrestag desselben beging, begreiflich. Die Magier werden überhaupt in keiner alten entschieden zoroastrischen Urkunde persischen oder baktrischen Ursprungs als Diener der Religion erwähnt. Jedoch trat die Zersetzung und Entstellung der ursprünglichen und nationalen iranischen Lehre des reinen Mazdeismus der Ghâtâs und der ersten Fargards der Vendidad-Sâde 69bei den Medern schon frühzeitig durch ihre Berührung mit turanischen Elementen ein, bevor sie das ganze Medien genannte Land erobert hatten.
Indessen charakterisieren Herodot und die andern alten Schriftsteller den eigentlichen Geist des ursprünglichen Mazdeismus sehr richtig, indem sie die Perser als ein Volk hinstellen, welches Götzendienst und fremde Religionen verabscheute und deshalb auf seinen Kriegszügen den Kultus anderer Völker zu zerstören suchte, Tempel verbrannte, die Götterbilder vernichtete, wertvolle gottesdienstliche Geräte als Beute mitschleppte, die Priester beschimpfte und tötete, die Feier religiöser Feste verhinderte, heilige Tiere tötete und sogar die Gräber entweihte. – Kambyses in Aegypten ist das Prototyp des persischen Fanatismus.
Wenn aber Herodot auf die positive Seite des Mazdeismus einzugehen versucht, so sehen wir mit Erstaunen, daß er nicht einmal den Namen des Ahuramazdâ kennt. Er spricht von einem Kultus der Sonne, des Mondes, des Feuers, der Erde, des Wassers und der Winde, also von einer Religion, welche mit dem Geiste des Zendavesta nicht das Mindeste gemein hat und weit mehr der der Veden oder gar der alten akkadischen Zauberbücher gleicht. Hiermit stimmt überein, daß Herodot ausdrücklich die Magier, die Vertreter der alten protomedischen Religion als die Priester dieses Kultus nennt.[76]
Der Gestirndienst war im medischen Magismus sehr ausgebildet, obschon er in den Zendschriften nur wenig und zwar in neueren unter fremden Einflüssen stehenden Teilen hervortritt. Gegen das Ende der persischen Herrschaft jedoch hatte er – wie auch in den am spätesten Zendbüchern – große Bedeutung gewonnen.
Daß dieser von den Magiern herrührende Kultus bei den Medern eine Hauptrolle spielte, bezeugt übrigens auch Herodot in seiner Schilderung der sieben Mauern Ekbatanas, welche mit den Farben der sieben Planeten bemalt waren. Wir begegnen dieser Sitte noch zu Gazaka, dem „zweiten Ekbatana, der Stadt mit den sieben Ringmauern“ und zur Zeit der Sassaniden an dem Palaste Bahram-Gurs. Dieser Brauch entstammt direkt chaldäo-babylonischer Anschauung, denn der siebenstöckige Thurm zu Borsippa wurde nach 70seiner Wiederherstellung durch Nabukudurussur ebenfalls mit den sieben Planetenfarben bemalt, und das Gleiche war bei dem Zipurrat, dem heiligen Turm des Palastes zu Khorsabad der Fall.
Der babylonische Gestirn- und Planetendienst gelangte gleich dem Anatkultus vermutlich durch die Assyrier zu den medischen Turanern und zwar während deren langer Berührung mit der Kultur der Euphratländer; dann ging er auf die Magier über, welche ihn hinwiederum auf die Perser und andern iranischen Völker übertrugen.
Erwähnt sei, daß die Lehre von Zrvâna-akarana, „der unbegrenzten Zeit“, der gemeinsamen Quelle des Ahuramazdâ und Angrômainyus, eine von der Sekte der Zervanier herrührende Entstellung der ursprünglichen mazdeischen Lehre ist. Eudemius, der Lieblingsschüler des Aristoteles, welcher diese Person wie das aus ihr entspringende dualistische Paar sehr eingehend behandelt, bezeichnet sie ebenfalls als eine Schöpfung der Magier.[77] Auch ist es von Interesse, hier eine Angabe des Berosus zu erwähnen, wonach derselbe Name Zrvâna auch der mythischen Personifikation der alten turanischen Rasse, welche in der chaldäisch-babylonischen Legende vom Ursprung der Rassen in Armenien auftritt, beigelegt wurde. In den Bruchstücken der akkadischen Zaubertexte begegnet man aber ebenfalls Anschauungen, welche denen der Auffassung der Zrvâna-akarana entsprechen. In derselben emanieren aus Mul-ge sowohl gehässige Götter wie Namtar, als gnädige, die Dämonen bekämpfende Götter, wie z. B. Nin-dara; auch aus Ana entspringen sowohl Dämonen, als auch der Feuergott, welcher den Charakter eines Deus averruncus, eines die Dämonen vertreibenden Gottes trägt. Betrachten wir die Trias: das Urwesen Ana und den dem düstern Mul-ge entgegengesetzten holden Ea, die drei Götter, welche die Akkader über die drei Weltzonen setzten, so werden wir bei Zrvâna-akarana, Ahuramazdâ, und Angrômainyus nur unwesentliche Modifikationen finden.
Aus dem medischen Magismus ist indessen noch mehr hervorzuheben als das gemeinschaftliche Urprinzip, aus welchem Ahuramazdâ und Angrômainyus hervorgingen. Während nämlich im 71echten Mazdeismus der Perser Ahuramazdâ allein verehrt und Angrômainyus mit Verwünschungen überschüttet wurde, wurden im Magismus das gute wie das böse Prinzip in gleicher Weise verehrt. Plutarch erzählt[78], daß die Magier dem Angrômainyus (Ἄιδης, Ἀρειμάνως) Opfer darbrachten, und beschreibt die drei üblichen Gebräuche, welche hauptsächlich in der Darbringung des Sumpfgrases (ὄμωμι) bestanden, das mit dem Blute eines Menschen benetzt und an einem finstern Ort aufbewahrt wurde. Herodot[79] läßt Amnestris, die Gemahlin des Xerxes, welche dem Einfluß der Magier gänzlich ergeben war, „dem Gotte der Finsterniß und der untern Regionen“ sieben Kinder opfern; auch berichtet er von einem ähnlichen Opfer, welches die Perser auf ihrem Zug nach Griechenland beim Übergang über den Strymon zu Ehren desselben Gottes verrichtet haben sollten. Der Brauch der Menschenopfer ist aber ebenso wie die Anbetung des Angrômainyus den Grundprinzipien des Zoroastrismus durchaus zuwider, auch wiederholt er sich sonst in der Geschichte der Perser nicht, weshalb er wohl als ein Rückfall in den Magismus zu betrachten ist.
Der medische Magismus steht insofern auf einer tieferen Stufe wie die akkadische Magie, als in ihm das böse wie das gute Prinzip gleichmäßig verehrt wurden. Aber, wie es scheint, rührt dies daher, daß die Meder einen ihrer Hauptgötter vor der iranischen Einwanderung und Eroberung in Schlangengestalt verehrten, ein Brauch, welcher sich mehrfach bei den turanischen Völkern findet. So war bei den Akkadern die Schlange eine Erscheinungsform des Ea und ein häufig gebrauchtes religiöses Symbol. So legt z. B. ein akkadischer Zauberhymnus einem Gott – vielleicht Ea – folgende Worte in den Mund:
Bei der Vermischung der protomedischen Religion mit den iranischen Überlieferungen mußte sich der alte Schlangengott mit dem iranischen bösen Prinzip zu einem Wesen verschmelzen, um so mehr, als in der iranischen Überlieferung Angrômainyus Schlangengestalt angenommen hatte, um in den Himmel Ahuramazdâs zu gelangen. Da nun die turanischen Ureinwohner Mediens wohl sicher größere Neigung ihren alten Schlangengott als den iranischen Ahuramazdâ zu verehren besaßen, mußte der Kultus des Angrômainyus so recht zu der mit magischen Gebräuchen verbundenen Volksreligion werden, und hier haben wir auch die Wurzel aller späteren Schlangen- und Teufelskulte zu suchen, deren ursprüngliche Bedeutung verloren gegangen war. – Direkte Nachkommen der alten Angrômainyusverehrer sind die noch heute im nördlichen Mesopotamien lebenden Yezidis oder Teufelsanbeter, deren Religion noch ganz die alte dualistische ist, die aber nur das böse Prinzip verehren, weil das gute keine Anbetung verlange.
Hervorgehoben muß noch werden, daß seit Artaxerxes Memnon der persische Mithra eben dieselbe Vermittlerrolle zwischen der Gottheit und der Menschheit ausübt wie der akkadische Silik-mulu-khi. So wird auch Mithra „der Freund“ genannt, was als iranische Übersetzung des akkadischen Beinamens des Silik-mulu-khi, „der den Menschen Gutes zuwendet“, gelten kann. Jedenfalls hat Mithra im Magismus die Stellung irgend eines vermittelnden, dem akkadischen Silik-mulu-khi entsprechenden Gottes in der protomedischen Religion mit Ähnliches bedeutendem Namen innegehabt.
Was nun den eigentlichen Ritus der Magier anlangt, so sind nach Ansicht aller mazdeischen Schriften die Beschwörungs- und Zaubergebräuche des medischen Magismus nur ein Werk und eine Erfindung der Yâtus, der Feinde des Zoroaster, weshalb dieselben ausdrücklich untersagt und mit strengen Strafen belegt werden.
Die Weissagung übten die Magier, wie schon oben gesagt, hauptsächlich durch das Loswerfen mit Tamariskenstäben aus. Das in späterer Zeit das Hauptabzeichen der Diener des mazdeischen Kultus bildende Bareçma ist nichts als ein Bündel solcher Wahrsagestäbe, deren Anwendung in Persien unter dem Einfluß der Magierkaste Eingang gefunden hatte.
Die Magier gaben ferner vor, daß sie durch bestimmte Worte 73und Handlungen himmlisches Feuer auf ihre Altäre herabziehen könnten, und legten sich überhaupt nach Herodot[80] und Diogenes Laërtius[81] alle möglichen übersinnlichen Kräfte bei. Das Herabziehen des Blitzes, welches wir auch bei den Etruskern und Römern antreffen, könnte vielleicht auf primitiven elektrischen Kenntnissen beruhen, welche bei der Ausübung der Fulguration erworben worden waren.
Endlich verbreitete sich zur Zeit der Perserkriege in Griechenland ein Buch, welches von einem Magier Osthanes verfaßt worden war und nach Plinius[82] „den Griechen einen wahren Heißhunger nach Magie beibrachte“, die von jetzt ab an die Stelle der alten rohen Goëtie trat. So viel von dem Buche bekannt ist, lehrte es allerlei Zauber- und Wahrsagekünste sowie die Beschwörung der Toten und Dämonen.[83]
Der große parsische Gesetzgeber heißt in der Zendsprache Zarethoschtro, im Pehlvi Zerathescht oder Zertoscht, und endlich im Parsi Zerduscht. Die Griechen machten aus diesen Namen Zeroasters, Zabratos, Zaratas, Zarasdes und endlich den gebräuchlichsten Namen Zoroaster. Die Bedeutung desselben ist „Goldstern“ oder „Sohn des Stern“, ähnlich wie Bar Cochba oder Nazaratos.
Nach den Zendschriften lebte Zoroaster im 6ten Jahrhundert v. Chr. und wurde zu Urmi in Aderbedschan als Sohn des Poraschasp und der Dogdo geboren.
„Dies begab sich – heißt es im Zerduscht-nameh – am Ende eines Zeitpunkts, wo Angrômainyus Macht hatte. Bosheit war gewaltig auf Erden, die Völker ohne Richter, und Angrômainyus war ihr Herrscher und Plager. Da zeigte Gott das Antlitz seiner Liebe, ließ aus Feriduns Wurzel einen Baum hervorgehen[85], Zoroaster, den Propheten der mußte die Gefangenen erlösen.“
„Dogdo, Zoroasters Mutter, hatte im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft einen Traum voll Furcht und Schauder. Eine 75schwarze Wolke war vor ihrem Auge, die wie ein Adlerflügel das Licht bedeckte und schreckliches Dunkel erzeugte. Löwen und Tiger und Wölfe und Rhinocerosse mit Schlangen regneten aus dieser Wolke in Dogdos Haus. Das gewaltigste und grausamste dieser Ungeheuer stürzte sich auf sie, wüthete und brüllte, riß ihr den Leib auf und zog Zoroaster hervor, packte ihn zwischen die Klauen und wollte ihn umbringen. Alle Menschen erhoben ein furchtbares Geschrei, und Dogdo rief mit Zittern und Zagen: Wer will mich erretten von dem Ungeheuer, das mich erdrückt? – Sei guten Muths, sprach Zoroaster, die Ungeheuer werden nichts ausrichten, denn der Herr wacht zu meinem Schutz; lerne ihn nur kennen, Mutter! Ich, der Einzige, will die Menge der Ungeheuer bezwingen!“
„Diese Worte waren Trost für Dogdos Herz. Und am Orte der Bestien erhob sich ein hoher Berg; Sonnenglanz zerstäubte die Nachtwolke, Südwind blies, und die Ungeheuer zerstiebten wie Blätter.“
„Am hohen Tage zeigte sich ein Jüngling, schön wie der Glanz des vollen Mondes, leuchtend wie Djemschid, mit einem Lichthorn[86] in der einen Hand riß er die Wurzel der Dews aus, die andere hielt ein Buch. Er schwang sein Buch nach den Bestien, da schwanden sie aus Dogdos Haus, als wären sie zu nichts geworden. Nur die drei mächtigsten: Löwe, Wolf und Tiger blieben. Es schlug sie aber der Jüngling mit dem Lichthorn, daß sie vergingen. Da schloß er Zoroaster wieder in seiner Mutter Leib, blies sie an, und sie ward schwanger. Ohne Furcht! sprach er zu Dogdo, der König des Himmels schützt das Kind; die Welt ist voll seiner Erwartung; er ist der Prophet Gottes an sein Volk. Sein Gesetz wird der Erde Freude bringen. Durch ihn soll Löwe und Lamm zusammen trinken. Fürchte diese Bestien nicht! Wessen Helfer Gott ist, wie sollte er die ganze Welt fürchten?“
„Der Jüngling verschwand und Dogdo erwachte. Dies war gegen Mitternacht. Die zagende Dogdo suchte einen ehrwürdigen Greis auf, der erfahren war in der Traumdeutung und Kenntniß der Welt wie des Laufes der Gestirne. Sie erzählte ihr Gesicht, 76um das Unglück zu erfahren, welches sie befürchten müsse. Mein Leben lang, sprach der Alte, habe ich dergleichen nicht gehört. Bringe mir den Planetenstand bei deiner Geburt und komme in vier Tagen wieder.“
„Die drei Nächte, welche kamen, waren schlaflos für Dogdo. Als der vierte Tag anbrach, sah sie den Traumdeuter wieder, und Freudenlicht glänzte aus seinen Augen. Sein Astrolabium war zur Sonne gerichtet; er betrachtete nochmals, was sich begeben sollte, nahm darauf eine Tafel und schrieb darauf bei einer Stunde lang, indem er die Sterne beobachtete, und sprach dann zur Mutter Zoroasters: Ich sehe, was noch kein Menschenkind gesehen hat. Du bist schwanger fünf Monate und dreiundzwanzig Tage, und wenn deine Zeit gekommen ist, sollst du einen Sohn gebären[87], den man nennen wird „gebenedeieter Zoroaster“. Er soll ein Gesetz verkündigen, das der Erde Freude bringen wird. Die Verehrer des unreinen Gesetzes werden seine Widersacher sein und gegen ihn streiten. Du wirst davon leiden, wie du gelitten hast von jenen Bestien, endlich aber siegen. Der lichtglänzende Jüngling, der dir im Gesicht erschienen, ist aus dem sechsten Himmel; das Lichthorn in seiner einen Hand ist ein Sinnbild der Größe Gottes, der Zoroasters Beistand sein wird zur Vertreibung des Bösen. Das Buch in seiner andern Hand ist ein Siegel seiner Weissagung[88], vor welchem die Dews fliehen. Die drei Bestien, welche bleiben, sind drei gewaltige Feinde, die aber nichts gegen ihn auszurichten vermögen. Um diese Zeit wird ein König sein, der das vortreffliche Gesetz einführen wird. Welcher Mensch Zoroasters Worten glaubt, dem wird Gott das Paradies schenken; die Seele seiner Feinde wird zum Duzakh[89] müssen.“
„Woher, sprach Dogdo, weißt du meine fünfmonatliche Schwangerschaft? Wisse, war seine Antwort, daß ich Wahrheit sage: Die Berechnungen meiner Kunst beruhen in der Kenntniß des Himmels. So schreiben die alten Bücher.“
„Dogdo, deren Herz vor Freude trunken war wie von Wein, hüpfte wie die Wolken, segnete den Traumdeuter, kehrte heim und sagte Alles, was sie begeben hatte, Poroschasp, ihrem Manne.“
„Am Ausgang der neun Monate gebar sie einen Sohn. Kaum geboren, lächelte der Knabe, worüber sich alle Welt verwunderte und große Dinge weissagte.“
„Unter den Frauen in Dogdos Gemach waren Magierinnen, welche dieses Wunder, das sie im Leben noch nicht gesehen hatten[90], stumm machte. Das Gerücht des Wunders erscholl allenthalben und machte den großen Haufen der Magier bekümmert. Sie besorgten daraus Böses für sich und wollten Zoroaster umbringen. Dies entdeckte Ahuramazdâ Zoroaster[91] mit den Worten: Im Anfang verschworen sich die Dews wider den großen Zoroaster und trachteten ihm nach dem Leben. Aber Zoroaster soll reine Freude haben und die Dews überwinden.“
„Von Norden aus kommt Angrômainyus[92], aus allen Gegenden und Orten kommt der todschwangere Fürst der Dews; er läuft ruhelos, dieser todschwangere Angrômainyus, dieser Eingeber des argen Gesetzes. Dieser Darudj[93] durchstreicht die Länder und verheert sie, o reiner Zoroaster! Überall dringt er hin; er, der Dew, der Vater alles Bösen, der Verheerer, Plager und Lehrer des bösen Gesetzes.“
„Darauf offenbarte Ahuramazdâ dem Zoroaster, was beim Anfang der Welt zwischen ihm und Angrômainyus vorgefallen; wie der Arge im Anblick des künftigen Untergangs seines Reiches durch Zoroaster Alles, die Kräfte seiner Engel, gegen ihn aufgebracht von der Stunde seiner Geburt an.“
„Er mit seinem langen Arm und ausgedehnten Körper, heiliger Zoroaster, durchstreifte die weite Erde, ohne nach Ahuramazdâ dem Großen, dem gerechten Richter der Welt, zu fragen; er durchlief sie lang und breit, und da er wie über eine weitgehende Brücke war, drang er in die feste Stadt des Poroschasp. Doch war Zoroaster weit stärker als Angrômainyus, der Vater des bösen Gesetzes.“
„Damals lebte in dieser Gegend Fürst Duranserun, Haupt der Magier und Erster der Schüler des bösen Gesetzes.[94] Er wußte, daß Zoroaster, sobald er aufstünde, durch sein reines Gesetz alle Magie töten würde. Kaum wurde ihm des Kindes Geburt verkündigt[95], als er auf den Thron sprang wie ein Stier, zu Pferde stieg und sich mit Eifer in das Haus des Poroschasp begab. Er fand Zoroaster an der Mutter Brust, seine Wangen waren wie des Frühlings Blüte, und Größe Gottes ging von ihm aus. Belehrt von dem, was sich begeben hatte bei seiner Geburt, machte Duranserun der Zorn blaß, und er befahl seinen Leuten, daß sie das Kind greifen und mit dem Säbel zerhauen sollten. Aber der Vater der Seelen ließ seine Hand verdorren auf dem Fleck. Im Feuerzorn verließ er Zoroasters Wiege, und die Magier, wie Schlangen gekrümmt, machten sich von dannen.“
„Einige Zeit darauf nahmen sie Zoroaster und trugen ihn in die Wüste. Daselbst bauten sie einen Holzstoß von Pech und andern Feuermaterien, entzündeten ihn und warfen Zoroaster darauf und gingen mit Freude und Jauchzen, Duranserun anzusagen, was sie gemacht hätten. Dogdo hörte dies und lief wie außer sich zur Wüste, fand aber Zoroaster sanft und ruhig schlafen. Feuer war ihm süßes Wasser. Sein Antlitz glänzte wie Zohore[96] und Moschteri.[97] Sie nahm ihr Kind, gab ihm hundert Küsse und trug es heim.“
„Augenblicklich verbreiteten sich diese Wunder. Feuer hatte nicht Macht gehabt über Zoroaster, das wußte Jedermann. Darauf trugen ihn die Magier auf Befehl ihres Obersten in einen Hohlweg, den Ochsen begingen; die sollten ihn zertreten und zerreißen. Aber der größte und stärkste der Heerde ging auf Zoroaster zu wie eine zärtliche Mutter, umfaßte ihn und schlug mit dem Horn alle Stiere, die auf ihn zu wollten, und wie sie alle vorbei waren, ging der Ochse seinen Weg und ließ das Kind. Dies ward wieder ruchbar. Als Dogdo hörte, wohin man ihr Kind getragen, holte sie es heim und behielt alle diese Dinge Tag und Nacht in ihr ihrem Herzen.“
„Ein gewisser Zauberer Turberatorsch, berühmt durch seine Zauberkünste, sah seine Gesellen ganz muthlos und sprach: Wozu das Klagen? Ich weiß, wir können nichts gegen Zoroaster. Gott schützt ihn. Bahman[98] wird ihn zum Throne Ahuramazdâs bringen; der wird ihm alle Geheimnisse aufschließen und ihn zum Propheten der ganzen Welt machen. Er wird ihr ein Gesetz geben, und ein gerechter König wird alle Magier verderben. Poroschasp hörte den Magier vom Schicksal seines Sohnes reden und fragte: Was denkst du von seinem Lachen bei der Geburt? Turberatorsch sprach: Dein Herz freue sich: So lange die Welt steht, hat sie dergleichen nicht gesehen. Das Kind wird ein Wunder der Heiligkeit werden und den Völkern den Weg zur Reinigkeit zeigen und nach dem Wort des reinen und siegreichen Gottes Zendavesta auf die Erde bringen. Der König Gustasp[99] wird sein Gesetz annehmen. – Das waren Worte der Freude für Zoroasters Vater.“
„Poroschasps Nachbar, alt in Weisheit und Heiligkeit, kam als der Hahn krähte, und bat Poroschasp, ihm Zoroaster anzuvertrauen. Er wolle seiner pflegen und für ihn sorgen als für die zarteste und schönste Blume. Poroschasp willigte darein, und Zoroaster blieb bei dem alten Weisen, geschützt durch die Glorie Ahuramazdâs, ohne den Feuerwind des Angrômainyus und der Magier zu empfinden.“
„Nach diesem kamen Turberatorsch und Duranserun zu Poroschasp, um durch ihre Bezauberungen seinen Knaben tödlich zu erschrecken. Sie trieben Kunst auf Kunst, erregten Schrecken auf Schrecken, daß alles Volk zitterte. Zoroaster, dessen ganzes Thun und Lassen in Gott war, blieb allein beherzt, ohne einen Fuß zu bewegen. Gott ließ ihn alle Zaubereien überwinden und erfüllte die Magier mit Verzweiflung, daß sie von dannen wichen.“
„Zoroaster wurde krank, und seine Freunde sehr betrübt. Turberatorsch, der Zauberer Oberster, bereitete einen Arzneitrank aus reinen und unreinen Pflanzen aller Art. Nimm diesen Trank, sprach er zu Zoroaster, wenn du genesen willst! Zoroaster, der gleich wußte, daß dies Zauberarznei wäre, die allem Volke Ahuramazdâs 80verboten ist, nahm sie aus der Hand des Argen und goß sie auf die Erde mit den Worten: Kothseele, ich bedarf deines Mittels nicht; verübe alle deine Magie gegen mich: komme zu mir im falschen Kleide, meine Seele kennet dich doch. Der Allerhöchste läßt mich sehen, wie du bist; er, welcher der Seele Leben giebt und nimmt.“
„Magier deckten damals das Erdreich, und die meisten Erdenkinder vergaßen des Weltenschöpfers und fragten blos die Dews.[100] Poroschasp, der Diener Ahuramazdâs ließ sich vom Strom mit fort reißen und vereinigte in sich Anbetung Ahuramazdâs und Ehrfurcht vor den Dewspriestern. Eines Tages versammelte er bei sich eine Schaar kundiger Magier, unter ihnen Turberatorsch und Duranserun, und gab ihnen ein Mahl. Als sie gegessen und getrunken hatten, sprach er zu Turberatorsch: O, du, der du alle Tiefen der Magie weißt, gieb mir ein geheimes Mittel, das heute Freude in meiner Seele erzeugt.“
„Zoroaster hörte seines Vaters Begehr und sagte: Sprich nicht, Vater, solche leere Worte; du brauchst nicht solche Mittel. Geht dein Fuß nicht reinen Weg, so mußt du einst zur Hölle. Folge dem, was Gott dir zeigt, der alle Dinge gemacht hat. Du trauest falsch den Zauberkünsten und vergissest das Werk des Gottes aller Welt. Ihr Ende wird sein Abgrund und Verderben, ihrer Thaten Frucht.“
„Turberatorsch antwortete: Warum kannst du nicht schweigen, kleiner Schwätzer? Du und dein Vater, was seid ihr vor mir? Du willst mit Gewalt mein Geheimniß aufdecken? Kein Mensch hat noch also von mir geredet. Warte! Ich will dich überall beschimpfen, deine Werke verrufen; nie soll dein Herz sich freuen!“
„Heillose Kothseele, sprach Zoroaster, alle deine Lügen werden nichts vermögen. Was ich sage ist wahr. Dieser Arm soll dich zerstäuben! Durch Hülfe des großen Gottes der Allmacht will ich all dein Beginnen zu nichts machen, dich an Leib und Seele plagen! Diese Worte erfüllten die Zauberer mit Schauder, und Turberatorsch – man sollte gedacht haben, seine Seele wäre außer dem Leibe – wich von dannen und wurde heftig krank.“
„So erreichte Zoroaster sein fünfzehntes Jahr.[101] Er war Tag und Nacht im Gebet, sein Haupt zur Erde gebeugt, und hatte Leiden an Seele und Leib.“
„Den Bedrängten spendete er Trost und Hülfe im Geheimen. Konnte Jemand nicht in seinem Vorhaben fort, so brachte er es in Ordnung, kleidete die Armen und gab Almosen, wo es nöthig war. All sein Gold und Silber gab er dahin, und sein Name war groß bei Jung und Alt.“
„Ein Jüngling wie Zoroaster, dessen Herz nicht durch irdische Güter umfaßt, noch durch die Vergnügungen seines Alters erwärmt wurde, fand keine Lust am Umgang der der Magie ergebenen Bewohner von Urmi. Er fand seine Freude und Trost in der Weisheit bis zum fünfundzwanzigsten Jahr. Er hörte die Weisen aus Chaldäa, und die hohen Gedanken, welche er aus ihren Schriften schöpfte, waren der Keim für alle die Wahrheiten, durch welche er später Persien erleuchtete.“
„Im dreißigsten Jahr trieb ihn sein Herz nach Iran.[102] – Er kam daselbst an am letzten Tag des Jahres. Man feierte daselbst just Farvardians, d. h. das Fest der Seelen des Gesetzes[103], und die Fürsten des Reiches waren beisammen. Zoroaster wollte auch dahin, aber die Nacht überkam ihn auf dem Wege. Er legte sich hier schlafen und sah im Traum ein Heer Schlangen von Mitternacht ausziehen, welche den ganzen Weg bedeckten und keinen Ausgang ließen. Wie Zoroaster sie eine Weile anschaute, sah er ein anderes Heer von Mittag kommen. Beide stießen wüthend auf einander; dieses aber überwand.“
„Dieser Traum deutete auf die Magier und Dews, welche wie brüllende Löwen gegen Zoroaster kriegen würden, wenn er, in den Geheimnissen Gottes unterrichtet, der Welt sein Gesetz bekannt 82gemacht hätte; daß aber Mediomah[104] an dieses Gesetz glauben, dem neuen Gesandten Gottes beistehen, und die Dews und Magier durch das Lesen des Zendavesta in die Flucht getrieben würden.“
„Sobald Zoroaster der geheime Sinn seines Traumes aufgegangen war, ging er zu dem Ort des Festes und überließ sein Herz der Freude. Dann besuchte er in der Mitte des Monats Ardibehescht[105] ein großes Meer und sah sich in der Mitte eines paradiesähnlichen Landes. Bei Sonnenaufgang des Tages Dapmeher[106] dachte Zoroaster hin und her über die Widersprüche, die er nun bald würde leiden müssen, und verließ Iran mit nassen Augen. Nachdem er über den Araxes war, kam er nach wenigen Tagen an das Ufer des Meeres Daeti.[107] Er stieg in das Wasser ohne Furcht; anfangs ging es ihm bis an die Schenkel, darauf bis an die Kniee, den Leib und den Hals.“
„Diese vier Wasserhöhen deuteten auf das Wachsen seines herrlichen Gesetzes[108] zu vier verschiedenen Zeiten: unter Zoroaster, unter den Propheten Oschederbami und Oschedermah in den letzten Tagen und unter dem Sosiosch, der bei der Auferstehung die ganze Welt reinigen und zum Paradies machen wird.[109] Zoroaster wusch sich Haupt und Leib im Daeti und dankte Ahuramazdâ, wie er hindurch war. Er zog sich hierauf in die Gebirge zurück, um den Allerhöchsten zu befragen, und in allergrößter Ruhe bei sich zu betrachten, was er seinem Vaterland verkünden wolle.“
„Hier erschien ihm nun Bahman im Lichtglanz wie die Sonne. Seine Hände waren in einen Schleier gehüllt, und er sprach zu Zoroaster: Wer bist du, und was suchst du? – Ich suche, was Ahuramazdâ gefällt, dem Schöpfer beider Welten, weiß aber nicht, was er von mir will. Du, der du rein bist, zeige mir den Weg des Gesetzes. – Bahman hatte Wohlgefallen an diesen Worten und sprach: Mache dich auf, um vor Gott zu erscheinen; da sollst du Antwort hören auf dein Begehr. Zoroaster machte sich auf 83und folgte Bahman, der zu ihm sprach: Schließe deine Augen und gehe frisch. – Es war, als ob ein Adler ihn aufnähme und vor Gott brächte. – Zoroaster that seine Augen auf und sah des Himmels Glanz, Heerscharen der Engel kamen auf ihn zu; jeder fragte ihn um etwas und zeigte es mit dem Finger. Vor dem Throne Gottes betete er erst an und fragte dann um dies und das, wie Djemschid einst that.“
„Zoroaster sprach zum Allerhöchsten: Wer ist der beste deiner Diener in der Welt? – Gott, der immer gewesen ist und immer sein wird, antwortete: Der ist's, der reines Herzens ist; wohlthätig gegen den Gerechten und gegen alle Menschen; der seine Augen vom Reichthum wendet; der von Herzen Gutes thut allem Geschöpf in der Welt, dem Feuer, Wasser und Thiergeschöpfen: der soll ewig sein in Fried und Freuden. Ich hasse den, sprach Ahuramazdâ, der den Guten betrübt, der meine Diener bekümmert und außer meinen Geboten wandelt, der – sage es allem Volk – muß ewig in der Hölle sein.“
Hierauf fragte Zoroaster Ahuramazdâ über die Amschaspands[110], die ihm lieb sind, über den unreinen Angrômainyus, der nur Arges denkt, über Gute und Böse und über den Ausgang derer, die den Dews anhängen.
Ahuramazdâ sprach: „Ich bin es, der lehrt, was gut ist[111]; Angrômainyus ist der Vater des Bösen; mein Wille ist nicht der Menschen Plage. Wisse: Böses kommt nur von Angrômainyus, alles böse Thun und alles böse Denken. Die Strafe der Sünde ist in der Hölle. Die Thoren lügen, wenn sie sagen, ich thäte Böses.“
Alsdann bat Zoroaster Angrômainyus um Unsterblichkeit, damit er in allen Zeiten die Menschen im Glauben und der Befolgung des Gesetzes stärken könne. Ahuramazdâ sprach[112]: „Befreie ich dich vom Tode, so wird auch der Körper des Dew Turberatorsch davon befreit sein, und es würde alsdann keine Auferstehung 84geben. Du würdest alsdann den Tod von mir suchen.“ Ahuramazdâ gab ihm eine Speise, ähnlich dem Honig. Zoroaster aß und sah im Traum die Herzen und Gedanken der Menschen aufgedeckt. Ahuramazdâ ließ ihn alle Begebenheiten vom Ersten der Menschen bis zur Auferstehung sehen und was im letzten Weltjahrtausend geschehen würde. Beim Anblick der Plagen und Übelthaten, welche die Welt verwüsten würden, wünschte er sich nicht mehr Todlosigkeit.[113]
Ahuramazdâ lehrte ihn noch den Umlauf des Himmels[114], die guten und bösen Einflüsse der Gestirne, die Tiefen der Naturgeheimnisse, die Hoheit der Amschaspands und die Freuden der himmlischen Wesen. Zoroaster sah auch die Gestalt des Angrômainyus in der Hölle und erlöste aus diesem Reich der Finsternis einen Menschen, der Gutes und Böses gethan hatte.[115]
Als Angrômainyus ihn erblickte, schrie er mit großer Stimme: „Verlasse das reine Gesetz; wirf es wie Staub hinweg; du sollst doch in der Welt haben, was dein Herz begehrt.[116] Kümmere dich nicht um deinen Ausgang, oder bekämpfe wenigstens mein Volk nicht, o reiner Zoroaster, Sohn des Poroschasp, der du geboren bist von der, die dich getragen.“ Zoroaster sprach: „Falscher Ruhm und Glanz ist dir und allen deinen Nachfolgern in der Hölle. Mit Gottes Barmherzigkeit will ich dein Werk in Schimpf und Schande bringen!“
Zoroaster – voll göttlicher Majestät – sah nun einen Feuerberg; er mußte hinein und ging schadlos hindurch. Es wurden geschmolzene Metalle über ihn ausgegossen, und er verlor kein Haar. Darauf öffnete man ihm auf Befehl Ahuramazdâs den Leib und nahm Alles heraus. Wen Gott schützt, dem ist Feuer in der Hand wie Wachs, und wenn er auch durch Feuer oder Wasser muß, so fürchtet er doch nichts.[117]
Ahuramazdâ sprach: „Sage nun allem Volk, was du gesehen hast, du, sein Hirte! Wer nun Angrômainyus unreinen Weg wandelt, aus dessen Leib sollen Blutflüsse fließen, und er soll den Feuerflammen übergeben werden, wie dir gezeigt ist. Vom Fluß des geschmolzenen Metalls siehe diese Deutung: Ein Menschengeschlecht wird das Gesetz verlassen und Angrômainyus anhängen; aber die Mobeds werden sich rüsten wider die Dews zu streiten. Zweifelsucht wird über die Menschen Gewalt üben, aber dieser Feuerstrom soll sie aufzehren. Aderbad Mahrespand[118] wird erscheinen und die Menschen lehren Alles, was sie wissen müssen. Geschmolzene Metalle werden über ihn gegossen werden, ihm aber nicht schaden. Dieses Wunder wird alle Zweifel wie Staub verschwinden machen und den rechten Weg zeigen.“[119]
Darauf befragte Zoroaster Ahuramazdâ, der alle Geheimnisse weiß, um die Pflichten seiner Diener – Desturs und wachsamen Mobeds – um die Art zu beten und sein Gesicht zu kehren. Der Allernährer jedes Tags und Allgenugsame sprach: „Sage den Menschen, daß mein Licht verborgen ist unter allem, was glänzt.[120] Richte dein Antlitz gegen das Licht und thue meine Gebote, so wird Angrômainyus fliehen; in der Welt geht nichts über das Licht.“
Dann lehrte Ahuramazdâ Zoroaster den Zendavesta und sprach: „Lies ihn vor dem König Gustasp, damit er ihn in seinen Schutz nehme; zeige ihm, wer ich bin, damit er Mitleiden und Güte beweise; lehre ihn Alles und unterrichte auch die Mobeds an meiner Statt, daß sie den Weg Angrômainyus meiden.“ Über diese Gebote freute sich Zoroaster und dankte Ahuramazdâ.
Nun kamen die Amschaspands zu Zoroaster, um ihre Aufträge auszurichten. Bahman, der die Tiere schützt[121], sprach: „Ich überlasse dir die Thiere und Herden; laß die Mobeds dafür sorgen. 86Kein junges und nützliches Thier müsse getödtet werden; das sage Alt und Jung: ich habe sie von Ahuramazdâ empfangen und darf sie keinem Bösen anvertrauen.“
Der glänzende Ardibehescht[122] sprach: „Sage in meinem Namen Gustasp, Diener des reinen Gottes, ich habe dir alle Feuer empfohlen. Laß Desturs, Mobeds und Herbeds[123] dafür sorgen, daß sie nicht getilgt werden, weder durch Wasser, noch Koth, daß jede Stadt ein Atesch-gah[124] habe und diesem Element zum Lobe die vorgeschriebenen Feste feiere, denn der Glanz des Feuers kommt vom Glanze Gottes. Was ist Schöneres in der Welt? Er will nur Holz und Gerüche; Jung und Alt bringt ihm die, und er wird die Gebete erhören. Ich überlasse es dir, wie es mir von Ahuramazdâ überlassen ist. Wer mein Wort nicht hört, der geht zur Hölle.“
Shariver[125] befahl, die Waffen – Säbel, Lanze &c. – nicht verrosten zu lassen.
Espendarmad[126]: die Menschen sollten nach dem Willen dessen, der alles segnet, die Erde vor Blut bewahren, vor Unreinigkeiten und Todten; alles Unreine und Todte an besondere Orte schaffen, die Erde fleißig bauen usw.
Chordad[127] empfahl ihm alles Wasser unter und über der Erde, in Quellen, Flüssen, Brunnen usw. Wasser giebt allem Lebendigen Stärke, macht grün usw.; deshalb darf man nichts Unreines und Todtes hineinwerfen.
Amerdad[128] sprach von Früchten und Bäumen und befahl sie nicht muthwillig zu beschädigen.
Noch wurde Zoroaster befohlen: „Laß die Desturs in alle Welt gehen und die Menschen zum Glauben an Ahuramazdâs Gesetz bekehren.[129] In jedem Ort bestelle einen zum Lehrer des 87Gesetzes und der Gerechtigkeit, der den Zendavesta liest und zu Gott, dem Schöpfer der Welt, betet. Alle Menschen sollen sich nach der Seite des Rechts wenden, mit dem Kosti[130] umgürtet sein, dem Kennzeichen der Schüler des heiligen Gesetzes, und rein erhalten die vier Elemente des Menschenkörpers, Luft, Wasser, Feuer, Erde; dann wird alles blühen und den Segen des Allerhöchsten genießen.“
Dies waren die Lehren, welche Ahuramazdâ und die Amschaspands ihrem Diener Zoroaster erteilten.
Da nun Zoroaster außerdem noch auf den Bergen Offenbarungen von Ahuramazdâ erhielt, so heiligte er in den Gebirgen Persiens dem Mithra[131] eine Höhle. Diese Höhle sollte ein Bild der Weltschöpfung durch Mithra sein, und die Dinge, welche in ihr in abgemessenen Entfernungen von einander lagen, sollten die Harmonie des Weltalls darstellen, die Bewegung der Planeten und Fixsterne und den Aufenthalt der Seelen auf denselben.
Nach Origenes[132] hatten die Perser in den später allenthalben entstandenen Mithrasgrotten eine symbolische Leiter von acht Sprossen. Die erste aus Blei bestehende Sprosse stellte den Saturn, die zweite aus Zinn bestehende den Jupiter, die dritte aus Eisen bestehende den Mars, die vierte aus Kupfer bestehende die Venus, die fünfte aus gemischtem Metall bestehende den Mercur, die sechste, silberne, den Mond, die siebente, goldene, die Sonne und die achte den Fixsternhimmel dar.
Auch im neueren Parsismus nimmt man sieben den Planeten entsprechende Himmel mit verschiedenen Graden der Seligkeit an. Über sie alle geht Gorotman, die Wohnung Ahuramazdâs und der himmlischen Geister. Gorotman ist die achte Stufe der Leiter des Origenes.
Nachdem Zoroaster die Offenbarungen Ahuramazdâs und der Amschaspands erhalten hatte, kehrte er in die Welt zurück. Die 88Dews und Magier versuchten ihn zu bekriegen, konnten aber nichts ausrichten. Der oberste Magier sprach: „Sprich du immerhin Avesta, du sollst gegen uns doch nichts können.“ Da ward Zoroaster zornig und sprach Avesta in Zend[133], da flohen alle Dews und verbargen sich in den Abgründen der Erde. Die Magier erfüllte Schrecken und Verzweiflung; ein Teil derselben starb, der andere bat um Gnade.
Nunmehr nahte sich Zoroaster auf der Straße von Balkh dem Palaste des Gustasp.[134] An einem Glückstag kam er in die Stadt und ruhete ein wenig; dann betete er zu Gott und ging zum König. Da er nicht vor sein Angesicht kommen sollte, spaltete er das Dach des Hauses darin der König Hof hielt.
Die Hofleute flohen, und nur Gustaspes blieb allein ohne Schrecken. Die Hofleute aber bestanden aus den Großen Irans und den berühmtesten Weisen. Der nähere und entferntere Zutritt zu seiner Person war die Belohnung ihrer größeren oder geringeren Verdienste.
Zoroaster trat vor den glänzenden Gustaspes und segnete ihn. Getroffen durch Zoroasters Worte der Weisheit, fragte der König seine Weisen, wer er wäre. Zoroaster setzte sich und redete unerhörte Dinge und beantwortete die Fragen, daß alle staunten.
Darauf breiteten die Weisen ein Decke auf den Fußboden und setzten sich um Zoroaster.[135] Jeder fragte ihn besonders, so viel er konnte, um die alten Wissenschaften und bewunderte die Tiefe und Weite seiner Einsicht. Gustaspes fragte auch nach der Weisheit der Alten und vernahm mit der Freude des Herzens seine Antwort und schenkte ihm darauf eine herrliche Wohnung neben 89sich. Die Weisen sannen die ganze Nacht auf Fragen, womit sie Zoroaster beschämen wollten; er aber betete die ganze Nacht und dankte Gott für den Sieg über sie.
Bei Tagesanbruch fanden sich die Diener und Weisen beim König ein. Sie redeten von vielen Dingen, aber Zoroaster war ihnen immer überlegen. „Was will daraus werden?“ sagten sie.
Wie ein scharfschneidendes Schwert war seine Zunge gegen sie, und ihre Fragen aus der Weisheit beantwortete er hundertfältig. Gustaspes erwies ihm Ehre über Ehre, und Zoroaster mußte ihm seinen Stand, Namen, Familie und Geburtsort anzeigen. Am folgenden Tag Ahuramazdâ war Versammlung aller Großen, Heerführer und Weisen. Des Königs Diener aber entbrannten vor Zorn und sprachen: „Was, ein Fremdling will uns unsern Namen rauben? Wohlan, wir wollen zusammenhalten und alle seine Reden unnütz machen!“
Aber Zoroaster machte, daß am Tage Ahuramazdâ[136] wie an den vorigen Tagen alle Großen und Weisen verstummen mußten, und er wurde groß vor Gustaspes und sprach: „Ich bin von Gott ausgegangen, der die sieben Himmel gemacht hat, die Erde und die Sterne; von dem Gott, der Leben und Nahrung giebt Tag vor Tag und sich seines Dieners annimmt; der dir die Krone aufgesetzt hat und dich schützt und deinen Körper aus dem Nichts gezogen. Durch ihn regierst du und hast Gewalt über seine Knechte.“ Zoroaster stellte Gustaspes Avesta vor und sprach: „Gott hat mich den Völkern gesandt, daß sie sein Wort in Zend, Ahuramazdâs Willen, annehmen. Thust du Gottes Willen, so wirst du Glanz haben in der andern Welt, wie dieser; hörst du aber sein Wort nicht, so wird Gott in seinem Zorn deine Krone zerbrechen, und dein Ende der Duzakh[137] sein. Neige dein Ohr den Belehrungen Ahuramazdâs und thue nicht mehr den Willen der Dews.“[138] – Gustaspes sprach: „Was thust du zum Beweis deiner göttlichen Sendung für Zeichen, daß ich deinen Worten glaube und dich wider Ungerechtigkeiten schütze?“
„Wer das thut, was ich lehre, sprach Zoroaster, wird große Wunder thun. Gott hat mir gesagt: Wenn dein König Zeichen fordert, so sprich: Lies nur Zendavesta, so brauchst du keine Wunder. Das Buch selbst, das du siehst, ist Wunder genug. Es wird dich lehren, was in beiden Welten ist, der Sterne Lauf und den Weg des Guten.“ – „So lies denn Zendavesta“, sprach Gustaspes. Zoroaster las ein ganzes Stück, und der König fand nicht Geschmack, denn die Größe von Avesta ging über seinen Verstand. Er war wie ein Kind, das nicht köstliche Steine schützt; wie ein Unwissender, der nicht kennt den Wert der Wissenschaft.
Der König sprach zu Zoroaster: „Ich billige deine guten Wünsche für mich; aber wir müssen die Sache besonders ansehen. Ich will untersuchen und dir meine Zweifel darlegen. Um nicht Lüge zu glauben, will ich Zendavesta lesen, und was ich klar erkenne, dem will ich folgen.“ Zoroaster freute sich über den König und versprach zur Zerstreuung seiner Zweifel alle Zeichen zu thun, die der König verlangte.
Die Weisen des Königs gestanden, daß Zoroasters Lehre rein sei; daß man aber, um sich von seiner göttlichen Sendung zu überzeugen, ein außerordentliches Zeichen von ihm verlangen müsse. „Welches denn?“ fragte der König. Die Weisen antworteten: „Wir wollen ihn stark binden, mit Kräutern, deren Kraft wir kennen, reiben und ein Man[139] geschmolzenes Erz über ihn ausgießen.“ Zoroaster war damit zufrieden, legte den Zendavesta vor sie und sprach: „O Gott, wenn dieses Buch dein ist, so zeige es jetzt!“ Man goß geschmolzenes Erz auf seine Brust, und es schmerzte ihn nicht. Zoroaster that noch andere Wunder als: er pflanzte eine Cypresse, die in wenig Tagen zu einem großen Baum erwuchs[140] usw.
Nun glaubte Gustaspes, und Zoroaster erklärte ihm den ganzen Zendavesta. Des Königs Diener wurden eifersüchtig und sannen auf Mittel ihn zu stürzen. Einst erhielten sie durch Bestechung den Schlüssel zu Zoroasters Gemach im Palast des Königs. Sie trugen Blut, unreine Dinge, Haare, Leichname usw. zusammen, 91alles in einen Sack und legten es in sein Bett unter das Kopfkissen. Darauf gingen sie zum König und sprachen: „Zoroaster ist ein großer Betrüger; die ganze Nacht zaubert er und erfüllt dein Reich mit Gräueln.[141] Du bist unser König, und wir sagen nichts, als was wir wissen; du kennst diesen Schalk noch nicht!“ Gustaspes dachte dem nach und wollte doch wissen, ob es wahr wäre. Zoroaster, der sich seiner Unschuld freute, öffnete ganz ruhig sein Gemach; aber da fand man Nägel, Todtengebeine usw.[142] Gustaspes zeigte das Alles seinen Dienern, und sie verfluchten Zoroaster. „Du Unreiner!“ sprachen sie. „Ist das nicht Rüstzeug der Zauberer?“ Zoroaster berief sich auf den Thürhüter, welcher sagte, kein fremder Wind sei in sein Gemach gegangen. Gustaspes glaubte und nannte Zoroaster einen Hund, warf ihm den Zendavesta vor die Füße und ließ ihn in Eisen legen. Solch ein Zauberer sei noch nicht in der Welt gewesen, denn er könne die Welt umkehren. – Täglich bekam Zoroaster im Kerker ein Brod und einen Krug Wasser. Nach sieben Tagen offenbarte ein Wunder seine Unschuld. Der König hatte ein Lieblingspferd, das war schwarz. Er glaubte, wenn er dasselbe reite, so folge ihm der Sieg. Plötzlich hatten sich diesem die Beine in den Leib gezogen, und kein Arzt oder Weise wußte Hülfe. Der König aß und trank nicht, und die ganze Stadt war Trauer und Klage. Zoroaster hörte es endlich und sprach: „Lasse mich der König aus dem Kerker, so soll sein Pferd gesund sein.“
Es geschah. Als Zoroaster vor den König kam, sprach dieser: „Von dem, was du mir sagst, begreife ich nichts; heilst du aber mein Pferd, so bist du ein wahrer Prophet.“ Zoroaster sprach: „Zuerst mußt du glauben[143], daß ich ein Prophet Gottes bin, der dir dein Gesicht gegeben hat und darin einen Charakter ausdrückt.[144] Wenn dein Herz ist wie deine Lippen, so soll dein Wunsch geschehen.“ Gustaspes versprach sein Leben lang das Gesetz zu halten, zu thun, was recht sei, und Gott zu ehren. Darauf rief Zoroaster Gott an und weinte, und dem Pferde kamen die Beine wieder.
Vor dem Heraustreten des zweiten Beines mußte der Held Espendiar versprechen, daß er Zoroaster und sein Gesetz schützen wolle. Vor dem Heraustreten des dritten ließ sich Zoroaster in das Innerste des Palastes führen und verkündete dem ganzen königlichen Hause den Zendavesta. Endlich mußte der Thürhüter die Betrüger unter den Dienern des Königs entdecken, die ihn in Ungnade gebracht hatten. Der König bedrohte ihn mit dem Leben, die Wahrheit zu sagen. Er fiel auf sein Angesicht und bat um Gnade. „Die Weisen haben mich bedroht, sprach er, und wie sollte ich denen widerstehen, die mein Herr und König ehrt?“ – Die vier vornehmsten der Weisen wurden gespießt. Zuletzt sprach Zoroaster: „Gottes Macht ist so groß, daß er thut, was er will, ohne daß man fragen darf, wie und warum?“ Von nun an fragte der König Zoroaster um Alles, was er vornehmen wollte. Einst sprach er: „Mein Herz verlangt vier Dinge, die eben so groß und wunderbar sind als Gottes Gesetz: Zu wissen, was für ein Ort mir in in der andern Welt bestimmt ist; daß ich mich vor keinem meiner Feinde fürchte; daß ich sehe, alles Gute und Böse, was in der Welt sich begeben wird, und daß meine Seele im Körper bleibe bis zur Auferstehung.“[145]
„Ich will zwar, sprach Zoroaster, um diese vier Dinge von Gott bitten; du mußt dich aber an einem begnügen und den drei Vornehmsten deines Hofes die andern überlassen; denn Gott schenkt sie alle nicht einem Menschen allein, damit er nicht sagen könne: ich bin allmächtig.“ Da verlangte Gustaspes seinen Ort in der andern Welt zu wissen.
Am Morgen des andern Tags kam Zoroaster vor den König, der auf einem goldenen Thron saß. Er hatte den König kaum gesegnet, so standen vier edle Krieger im reichsten Waffenschmuck und hoch wie Berge vor der Thüre. Sie hießen Bahman, Ardibehescht, Chordad und Adergoschasp.[146] Sie sprachen: „Gott hat uns zu dir gesandt, König der Länder, um dir zu sagen, daß, wenn du Zoroasters Worten glaubst, du vor der Hölle bewahrt bleiben sollst, denn ich, sagt Ahuramazdâ, habe ihn gesandt.“
Der König war eine Zeit lang sprach- und sinnlos. Als er wieder bei Sinnen war, sprach er: „Ich, der Geringste unter den Dienern Ahuramazdâs, bin zu allem bereit, was ihr mir gesagt habt.“ Der König sprach zu Zoroaster: „Ich übergebe mich dir mit Leib und Seele, wie mir Ahuramazdâ befohlen hat.“ Zoroaster antwortete: „Sei getrost und guten Muths; du sollst sehen, was du verlangt hast!“ Er verrichtete darauf das Darunopfer mit Wein, Wohlgerüchen, Milch und einem Granatapfel. Nachdem er diese Dinge und las Zendavesta und trank von dem Wein und gab den Becher dem König, der auch trinken mußte und wie berauscht einschlief. Im Schlafe, der drei Tage dauerte, erhob sich seine Seele zum Throne Gottes und sah seinen Kerdar[147] in Reinheit glänzend, seinen Platz, der für ihn und die Heiligen im Himmel bereitet war.
Dem zweiten Sohn des Gustaspes, Paschutan, gab Zoroaster die Milch zu trinken. Er wurde dadurch unsterblich. Djamaspes, der Diener des Gustaspes, bekam die Gerüche und damit alle Weisheit und die Erkenntnis alles Geschehenden bis an die Auferstehung. Espendiar endlich genoß einige Granatkerne, und sein Körper wurde fest wie ein Fels, aller Verwundung unfähig; daher nannte man ihn „Kupferleib“ (Ruintan).
Als der König nach drei Tagen erwachte, sprach er: „O Gott der beiden Welten, dein Reich wird währen von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Er berief hierauf Zoroaster zu sich und sagte Alles, was er gesehen hatte, und befahl auch allen seinen Unterthanen, dem Gesetz zu gehorchen.
Nun verlangte der König, daß Zoroaster von einem erhabenen Sitz den Zendavesta vorlesen sollte, damit ihm alle Zweifel benommen würden und er das Gesetz vollkommen verstehen lerne. Zoroaster that dies mit Herzensfreude und begann mit dem Gebet an Gott. Durch das Lesen erzitterten alle Dews und flohen in die Abgründe. Darauf ließ Zoroaster die reinen Mobeds und Herbeds zu sich kommen und redete mit ihnen in Gegenwart des Königs der Könige von den verschiedenen Arten des Feuers, zeigte ihnen den Dienst derselben &c. Er ließ auch ein gewölbtes Gemach 94bauen, darunter das Bild eines halben Mondes setzen, und in dieses Gemach einen mit Gold und Silber bekleideten Thron; es wurde auch allenthalben bedeckt, damit kein Unreiner es sehen könne. In diesen Atesch-gah wurde das heilige Feuer[148] gebracht, und Zoroaster befahl, daß an jedem Ort ein ähnlicher Atesch-gah erbaut werden solle. Da war das Herz der Diener Ahuramazdâs in Freude und das der Anbeter der Dews[149] in Traurigkeit.
Vor dem Atesch-gah gab Zoroaster dem Gustaspes noch folgende Ermahnungen: Den Anfang machte eine Lobpreisung Gottes, der alle Welt geschaffen hat, und die Bösen am Ende, wie er sie aus dem Nichts genommen, wieder ins Nichts zurückbringen wird; er, der den Himmel gemacht und den Sternen Glanz gegeben, dessen Reich ohne Ende dauert, der ein König alles Lichtes und aller Herrlichkeit ist.
Darauf erklärte Zoroaster dem König das Gesetz nach den Zendbüchern und sprach also: „Betest du Gott an in der Wahrheit, so wirst du zum Himmel gehen. Angrômainyus ist Ahuramazdâs Feind; er wendet das Herz der Menschen unaufhörlich vom Gesetz der Gerechtigkeit und sucht sie nach sich in die Hölle zu ziehen, um seine natürliche Wuth zu stillen, denn der Menschen Unglück ist der Hölle Freude. Am Ende werden die Sünder von den Dews verspottet, welche sagen: Warum hast du den Weg der Gerechtigkeit verlassen und bist den Weg der Finsterniß gewandelt?“
Zoroaster fuhr fort: „Gott, der herzliches Mitleiden mit seinen Dienern hat, hat mich mit dem Gesetz zu ihnen gesandt, damit sie den Weg des Bösen verlassen. Wer sein Herz vom Übel wendet, der wird ewige Freude haben. Möchte doch der Ungerechte seine Ungerechtigkeiten verwünschen und Andere mit sich auf den Weg der Wahrheit führen.“
„Der Gott der Welt hat mich zu dir gesandt, o reiner und 95gerechter König, und gesagt: Verkündige meinen Dienern, daß sie nicht von meinen Geboten weichen; lehre die Völker der Erde den Weg des verwünschten Angrômainyus zu hassen und meinen Weg der Gerechtigkeit zu wandeln; dann werden sie in den Himmel gelangen. Wer ihn verläßt, der muß mit Angrômainyus in der Hölle sein.“
„Siehe, noch folgenden Unterricht hat mir Ahuramazdâ gegeben.“
„Die Welt ist wie nichts in den Augen dessen, der sie gemacht hat. Auch die längste Geschlechtsreihe muß ihr Ende haben.“
„Du siehst diese runden Gewölbe – er zeigte nach dem Himmel und dem Atesch-gah[150] –; hier wird einst der König mit seinem Unterthan, der Herr mit dem Knecht vereinigt sein.“
„Lehre nie, was du nicht von mir gehört hast, und am Ende will ich mich deiner erbarmen; denn ich finde nicht Wohlgefallen an deiner Sünde; ich will dein Böses und deine Strafen mindern.“
„Bei deinen Handlungen werden die Früchte sein, je nachdem du gepflanzt hast. Wer in der Welt Reinigkeit säet, dem wird sie im Himmel zu Theil. Gott spricht ein Wort, dazu und davon kommt nichts: Wer Sünde thut, wird in der Hölle Schande tragen.“
„Siehe, was Ahuramazdâ über die verständigen Mobeds sagt: Das Wasser der Größe[151] ist Ebenmaaß, das weder zu viel noch zu wenig hat. Wenn diese Wahrheit schon gesagt ist, bin ich ein Lügner; wenn aber noch kein Mund etwas Ähnliches hervorgebracht hat, so muß man meine Worte nicht mit einem bösen Herzen betrachten. Der Mensch soll vielmehr wissen, daß dies Worte des reinen Gottes sind und nicht der unreinen Dews. Denn die Dews würden nicht so reden und Gott lobpreisen.“
„Von allen, die als Propheten in die Welt gekommen sind und den Völkern Gesetze gegeben haben, hat noch keiner gezeigt, was auf Erden ist oder geschehen wird. Nur Zoroaster, der Reine, hat nach Zendavesta verkündigt, was sein wird; Gutes und Böses, das nach der Weltschöpfung bis zur Auferstehung verborgen geblieben 96sein würde, hat er aufgedeckt. Er hat uns die Dews kennen lehren, Gerechtigkeit und gute und böse Thaten.“
„Noch kein Prophet hat mit reinem, geraden, menschlichen und fehlerlosen Herzen gebetet als Zoroaster, der Meister des reinen Gesetzes, der Lobpreiser und Vertraute Ahuramazdâs.“
„Ahuramazdâ sagt zum Menschen des Gesetzes: wer Gutes thut, wird guten Lohn empfangen, nachdem sein Gutes ist.“
„Ahuramazdâ verkündet dies den Völkern der Welt: Die Seelen aller Menschen müssen einige Zeit in der Hölle dauern, nachdem ihr Böses ist, groß oder klein.“
„Noch zuletzt sagt Ahuramazdâ: Wer nicht dein Schüler ist, über den frage nicht, wie es mit ihm werden wird; Strafe erwartet ihn am Ende seiner Tage.“ –
Der Eifer des Gustaspes war die feste Stütze Zoroasters. Es wurden Atesch-gahs errichtet, und zwar zuerst dem Feuer Farpa[152], das Djemschid heilig ist, auf dem Berge Charesom, neben Kasbin im Vardjemguerd; ferner dem Feuer Goschasp[153], dem Kekhosro auf dem Berge Asnevand in Aderbedjan einen Atesch-gah gebaut hatte; und dem Feuer Burzin-meher und Behram[154], das aus verschiedenen Feuern bestand. Allenthalben wurden nun auch Gesellschaften von Mobeds und Desturs gegründet.
Zu Kaschmer[155] in Khorasan war ein sehr berühmter Atesch-gah. Neben dem Tempelthor pflanzte Zoroaster eine Cypresse, in deren Rinde er die Annahme des Gesetzes durch Gustaspes schnitt. Wie nun nach einigen Jahren diese Cypresse groß und stark genug geworden war, so baute man darüber einen Palast, der in der Höhe und ins Gevierte vierzig Ellen hielt. Er schloß zwei Säle ein, deren Decke mit Gold, deren Fußboden aber mit Silber überzogen war; die Mauern waren mit köstlichen Steinen ausgeschmückt. Daselbst hing man die Bildnisse Djemschids und Feriduns auf. Hierher zog Gustaspes, als seine Stunde gekommen war, daß seine Seele sich in den Himmel erheben wollte. Vor seinem Ende ließ dieser Fürst den Satrapen aller Provinzen bekannt machen, daß sie zu Fuße nach dieser Cypresse wallen, an Zoroasters Gesetz glauben 97und allem Götzendienst von Turan und Tschin absagen sollten. Diesem Gesetz kam man teils mit Lust, teils aus Furcht nach.
Zoroasters Name drang bis Indien. Der Brahmine Tschengregatscha, der die Weisen der Welt gebildet hatte, und dessen Bücher in Iran sehr berühmt waren, hörte von einem ihm unbekannten Propheten, der den König von Iran und seine Diener und alle seine Länder bekehrt habe. Er schrieb daher mit dem Eifer eines Mannes, der sich für die Stütze der Wahrheit hält, an Gustaspes.
Sein Brief begann mit dem Namen Gottes, des Allbeherrschers, der den kreisenden Himmel zu seinen Füßen hat und Leib und Seele des Menschen geschaffen. Hierauf erhob er den König mit einer Lobpreisung und bezeugte, daß er von einer neuen Religionsform gehört habe, die ihn tief schmerze und ruhelos lasse. Er sagte: „Ein Betrüger, ein Heuchler, hat Iran verführt. Dergleichen hat sich weder unter Feridun, noch unter Kobad, noch unter Djemschid, noch unter Kaus begeben. Die Einwohner Irans haben sich einem jungen Mann[156] ergeben und seine Lügen gläubig angenommen. Was mich am meisten wundert, ist Djamaspes, der Diener des Königs Lohraspes. Er hat mehrere Jahre hindurch meine Lehren gehört; ich habe ihm nichts von meiner Weisheit verhalten. Er, der Andere hätte vor Gefahr schützen sollen, ist selbst in die Schlingen gefallen. Ich weiß nicht, welches Netz ihm gestellt ist, daß seine Kraft ihn verlassen hat, und er mit Schande verstummt ist.“
Hierauf gab Tschengregatscha Gustaspes den Rat, sich ja nicht durch dieses Betrügers Zaubereien, noch durch seine gleißenden Worte fangen zu lassen. „Ich selbst will mich aufmachen, sprach der Brahmine, ihn seiner Lügen überführen und auf Alles antworten, was er vorbringen wird. Du, o großer König, mußt ihn so lange bewahren, bis ich komme, und wenn ich alsdann werde die Schande dieses Schurken aufgedeckt haben, so werde ich dich um seine Bestrafung bitten, damit kein Ähnlicher in Zukunft das Herz habe, die Völker durch falsche Gesetze und Neuerungen in der Religion irre zu führen.“
Als dieser Brief Tschengregatschas anlangte, befand sich Djamaspes bei Gustaspes. Die Schreiber mußten ihn lesen, und der König sprach zu seinem Diener: „Kein Andrer als du bist im Stande, die Sache einzusehen. Prüfe sie und antworte Tschengregatscha, wie du es für passend erachtest.“ „Ich bin unbeweglich im himmlischen Gesetz“, sprach Djamaspes, „ich glaube an Gottes Wort. Kein Mensch kann aus sich selbst wissen, was Zoroaster weiß, noch thun, was er thut. Gott muß sein Lehrer sein. Doch glaube ich auch, o großer König, daß kein Mensch auf der Welt so weise sei wie Tschengregatscha. Ich habe seine Bücher gelesen, Iran verlassen und ihn in Hindostan aufgesucht; er hat meine Seele in allen Wissenschaften ausgebildet. Ich halte es also für das Beste, daß man ihn mit Güte bitte, nach Iran zu kommen, damit er selbst das Gesetz des Himmels annehme; dadurch werden, wenn die Welt es hört, alle Zweifel gegen Zoroasters Gesetz völlig vernichtet werden.“
Tschengregatscha erhielt folgende Antwort: „Wir haben deinen Brief gelesen. Was du von Zoroaster gehört hast, ist wahr. Wir glauben an sein Gesetz. Wir sagen dir hiermit, daß wir uns der Weisheit und den Lehren Zoroasters ergeben haben. Mit unsern Augen haben wir seine unglaublichen Thaten gesehen. Wir haben seine Worte gehört, seine Bücher gelesen, und kein Mensch kann etwas dagegen sagen. Wir haben die Weisen aller Länder berufen, und alle haben sie der Weisheit seiner Antworten weichen müssen. Die Großen Irans beneiden ihn nicht mehr, sondern glauben an sein Gesetz und sagen: Kein Mensch kann solche Dinge aus sich lernen; der Mund Gottes muß sie ihm sagen. Wundert dich das, so komme selbst und du wirst über die Tiefe seiner Weisheit staunen. Dem denke fleißig nach. Gott leite dich!“
Tschengregatscha wurde mit Freude erfüllt, als er dieses las. Er las noch eine Menge Bücher, um die ganze Weisheit der Vorwelt in sich zu sammeln, und erdachte zwei ganze Jahre hindurch ohne Schlaf und Ruhe die schärfsten, tiefsten und feinsten Fragen. Den Weisen von Hindostan schrieb er, daß sie sich wie Löwen bereiten sollten, mit ihm zu ziehen. „Fürchtet euch aber nur nicht“, sprach er zugleich; „ganz Iran soll noch sagen: Wer Weisheit sucht, muß nach Hindostan, und über Tschengregatscha ist kein 99Menschenkind weise.“ – Der Brahmine schrieb darauf an Gustaspes: „Ich bin bereit, mit meinen Weisen vor deinen Thron zu kommen, und dich und die Herzen deiner Unterthanen vom Irrthum zu erlösen.“ Es wurden nun alle Anstalten der Pracht und des Glanzes gemacht. Tschengregatscha stellte sich am siebenten Tag nach seiner Ankunft in der Königstadt vor den Thron des Gustaspes, segnete ihn und sprach: „Es sei mir erlaubt, o König, mit dir zu reden!“ Gustaspes antwortete: „Hier ist nicht der Ort des Kampfes mit der Lanze oder aus Neid; sondern Thaten, Fragen, Worte, das sind die Waffen, welche die Zweifel auflösen müssen.“ Es wurden hierauf zwei goldene Throne gesetzt für Tschengregatscha und Zoroaster, dessen lichtglänzendes Antlitz die Blicke aller Weisen auf sich zog. Tschengregatscha erhob sich und sprach: „Gerechter König! Wir sind hier versammelt aus zwei Ursachen; erstlich, daß ich diesem Mann, welcher Gottes Prophet sein will, Fragen vorlege und, wenn er sie lösen kann, ich mit meinen Freunden, den Weisen Hindostans, sein Gesetz annehme; zweitens aber, daß du ihn zur Stunde strafest, wenn meine Fragen ungelöst bleiben.“ Gustaspes sprach, daß er nach der bloßen That richten werde und sich durch keine Vorliebe für irgend eine Partei binden lassen wolle.
Zoroaster sprach zu Tschengregatscha: „Zum Besten meines Gesetzes will ich vor dem Ersten der Völker ein Neues thun, was den Augen als Wunder erscheinen muß. Völker haben mich schon gehört; neige auch du dein Ohr gegen einen der göttlichen Nosks[157], den ich vorlesen will; oder gefällt es dir, so laß ihn einen deiner Schüler vorlesen.“ Die Weisen hörten nun mit Aufmerksamkeit einen Nosk des Avesta an. Dieser Nosk enthielt die Lösung aller Fragen, auf welche Tschengregatscha zwei Jahre lang gesonnen hatte.
Kaum war das Lesen beendet, so rief Tschengregatscha ganz in Verwunderung versunken aus: „Wie, ich bin schon grau, und Alles, was mir Gott erschlossen hat von meiner Jugend an bis heute, das Alles habe ich eben aus Avesta gehört. Welche Wissenschaft hat dies errathen können? Auf wie Vieles habe ich nicht in den zwei Jahren gedacht, welche Fragen, die mir so viel Mühe gemacht haben, und von denen ich glaubte, daß sie in zweihundert 100Jahren nicht aufgelöst werden könnten! Keinem Menschen habe ich sie eröffnet, o König des Ruhms! Ich erkenne das Übermenschliche, das Werk Gottes!“
Tschengregatscha bezeugte hierauf, daß er an Avesta glauben und Zeit seines Lebens danach handeln werde. Zoroaster empfahl ihm die Anbetung Ahuramazdâs, Reinheit des Leibes und der Seele und verhieß ihm einen Platz im Himmel. Zoroaster umarmte Tschengregatscha und gab ihm eine Abschrift vom Avesta; auch wurde wegen der wunderbaren Bekehrung dieses Brahminen, welche nach allen Enden der Welt erscholl, ein Fest von sieben Tagen gefeiert. Tschengregatscha studierte nun sein Leben lang im Avesta und entzündete die Brahminen mit gleichem Eifer. Mehr als achtzigtausend der Weisen und Häupter von Indien, Sind und andern Reichen glaubten an Zoroasters Avesta.
Nach der Bekehrung Tschengregatschas begab sich Zoroaster nach Babylon, um den Chaldäern den Avesta zu lehren, und soll daselbst auch Pythagoras unterwiesen haben. Dann begleitete er Gustaspes nach Istakhar, nachdem er die von ihm so gerühmten „reinen Seelen“[158] in den Provinzen Serman, Saenan und Dahu besucht hatte.
Nach etwa zwanzig Jahren wurde die zoroastrische Religion dem König von Turan mißfällig, und selbst verschiedene vom König von Iran abhängige Fürsten waren dagegen. Unter andern Sal und Rustem, Fürsten von Sistan, Vater und Sohn. Darum glänzen ihre Namen auch nicht in den Zendbüchern, obschon ihre Ahnen, Sam und Guerschaspes, als alte Helden Persiens darin verewigt sind.
Nicht so mild wie gegen diese Fürsten, an denen er sich nur durch Stillschweigen rächte, verfuhr Zoroaster gegen den Dewsanbeter Ardjaspes, König von Turan.
Ardjaspes stammte von Afrasiab und war nach dem Schah-nameh einer der mächtigsten Fürsten Asiens. Er hatte vom Könige Irans einen jährlichen Tribut erzwungen und besaß auch im westlichen Iran am kaspischen Meer Ländereien; auch haßte er 101Zoroaster persönlich. Darum auch sagte derselbe[159]: „Sei mir gnädig, o Quell Arduisur, daß Zerir verderbe den, der große Schätze hat, den Frieden mindert, den Dew, den Anbeter der Dews, meinen Feind Ardjaspes, der in der Welt Macht hat.“
Zoroaster fürchtete, daß Ardjaspes seine Religion vernichten würde, und trachtete daher nach dem Tod desselben. Er kannte den gewaltsamen, schnell entschlossenen Charakter des Gustaspes und war sich seines Einflusses auf ihn wohl bewußt. Deshalb stellte er ihm die Notwendigkeit vor, den König von Turan zu bekriegen. Nach seinem Gesetz sei Freundschaft mit Gottlosen unerlaubt; es sei unverantwortlich, daß Gustaspes, als rechtgläubiger Fürst, dem König von Tschin, einem Dewsanbeter, den Tribut der Unterthänigkeit zahle. „Wirst du ihn angreifen“, sprach Zoroaster zu Gustaspes, „so ist Gott gewiß dein Schutz.“
Der König war froh, sagte Ardjaspes den Gehorsam auf und verlangte von ihm, er solle Zoroasters Gesetz annehmen und ihm einen Teil seiner Länder nordwestlich von Balkh abtreten; wo nicht, so werde er ihn zu Staub machen.
Beim Anblick des diese Botschaft enthaltenden Briefes entbrannte Ardjaspes vor Zorn und schrieb an Gustaspes, daß er sich mit seinem ganzen Hofe von einem alten Betrüger habe verführen lassen. Er rate ihm die Religion der Väter wieder anzunehmen, die Lehren und Grundsätze der Magier, welche einen König, welchem Gott die Krone aufgesetzt habe, zu verwerfen. Wo nicht, so werde er ihn bekriegen und sein Reich zerrütten und verheeren. „Die Herrlichkeit Gottes will es, daß ich dich angreife!“ sprach Ardjaspes.
Gustaspes zeigte den Brief dieses Fürsten Zoroaster und seinen Dienern und allen Großen des Hofes. Djamaspes wollte mit großer Klugheit darauf antworten; aber Zoroaster sprach: „Was Klugheit? Ziehe gegen ihn zu Feld!“
Nach diesem Ausspruch wurde die Antwort abgefaßt und beide Könige stellten große Heere gegeneinander auf. Der Krieg war sehr blutig, und ein Teil der Familie des Gustaspes – sein Bruder Zerir und mehrere seiner Kinder – fielen. Aber Espendiar entschied endlich den Sieg für Gustaspes. Der König von Turan 102mußte sein Land abtreten, und Gustaspes bezeugte Zoroaster seine Dankbarkeit.
Der weitere Verlauf der Kriege hängt nicht direkt mit dem Leben des Religionsstifters zusammen.
Nach den Ravaets[160] starb Zoroaster im 77. Jahre seines Alters.
Kleuker setzt Zoroasters Geburt in das Jahr 589 v. Chr. Im dreißigsten Jahr durchzog er Iran, lebte dann zehn – nach anderer Angabe zwanzig – Jahre in der Wüste und nährte sich nur von Käse. Zehn Jahre that er Wunder. Im 65. Jahre gab Zoroaster philosophischen Unterricht zu Babylon und kehrte nach drei Jahren zur Gründung des Cypressendienstes zurück. Nach acht Jahren riet er Gustaspes zum Krieg gegen Turan und starb als Greis von 77 Jahren.
Der Geist des ausgebildeten Zoroastrismus setzt vor den Anfang „der Welt und der Wesen Zrvâna-akarana“[161], die „unbegrenzte Zeit“, die anbeginnlose Ewigkeit. Sie ist der unergründliche Urgrund, in dem heilige Dunkelheit, Ewigkeit im Leben in unschaubarer Nacht, in Unergründlichkeit der Länge und Weite, Höhe und Tiefe ist. In ihr ist aber nicht leere Öde, sondern aller Wesensstufen Urgrund, der allerhöchste Gott. Der Ewige ist Schöpfer des Urlichts, Urwassers und Urfeuers, und der Same dessen, was beim Beginn der Wesen Licht, Wasser und Feuer wurde lag von Ewigkeit her in der grenzenlosen Zeit verborgen. Der Ewige ist seinem Wesen nach Wort, das vor allen Wesen, sichtbaren und unsichtbaren, da war, und wodurch alles, was Wesen hat, geboren ist.
Aus dem göttlichen und ewigen Samen zeugte der Unendliche und Anbeginnlose Ahuramazdâ und Angrômainyus, die zweiten Wesen nach sich, lebendig, wirkend, schaffend, die Wurzeln aller Geschöpfe.
Ahuramazdâ, aus dem ewigen Samen des Unendlichen erzeugt, der Erstgeborene aller Wesen, das Glanzbild und Gefäß der Unendlichkeiten des Unergründlichen aus ewigem Licht geboren und fort und fort an sich ziehend, wohnend im Urlicht, dem Thron der Ewigkeit, von Anbeginn. Durch und durch gut, rein und alles Guten Quell und Wurzel, hat der Himmlische der Himmlischen fast alle Herrlichkeiten und Eigenschaften des Unendlichen; denn er ist der Urabdruck seines Wesens, worin das Wesen des Ewigen allein sichtbar wird. Seine Weisheit und Einsicht ist ohne Anfang in Weite, Höhe und Tiefe, und seine Macht, sein Wille, unbegrenzt heilig bis auf die Wurzel seines Wesens. Der Erste und Erhabenste im Wissen und Verstehen, im Wirken des Reinen und Guten. Darum ist er die höchste Weisheit selbst und – schlaflos bei Tag und Nacht – der höchste Weltenrichter, König aller Wesen in reinster Gerechtigkeit, Güte, Licht und Glanz. Sein Körper, d. h. seine Hülle, die ihn umschließende Sphäre ist das reinste Licht.
Ahuramazdâ hat die ganze reine Welt aus sich geboren durch sein allschaffendes Wort; den Himmel und was darin ist: Licht, Feuer, Wasser, Sterne und Sonne. Er liebt in sich sein Volk die durch ihn gewordenen Menschen. Er ist als König gut und weise, lebendig über Alles; er stärkt, nährt und erhält alle Wesen, giebt ihnen das geistige Lebensfeuer, wodurch sie dauern und leben. Er giebt dem Menschen, der ihn bittet, Lichtsamen zur Reinigkeit des Gedankens, des Herzens, Geistes und Willens. Gnade und Liebe ist seine Lust; er ermüdet nie, der sichtbaren und unsichtbaren Welt, der ganzen Natur wohlzuthun. Er bestreitet durch seine und seiner Diener Kraft alles Böse Tag und Nacht bis zum endlichen Triumph des Guten über das Böse.
Angrômainyus, vom Ewigen nach Ahuramazdâ geschaffen, war anfangs gut und kannte das Gute; aber er wurde aus Neid gegen Ahuramazdâ Dew, arg, Quell, Grund und Wurzel alles Unreinen, Argen und Bösen. Sein Licht verwandelte sich in Finsternis; im Lichtreich der Schöpfung entstand ein Schatten. Die Zerrüttung seines Wesens aus Licht in Finsternis kam nicht vom Ewigen, sondern aus ihm und durch ihn selbst. Durch ihn wurde die Finsternis geboren, der Same alles Bösen, Argen und Todes. Als er Dew wurde, stürzte er aus der Höhe und wurde vom Abgrund 105der Finsternis verschlungen, bis auf die Wurzel seines Wesens böse. Ahuramazdâ ist seinem Wesen nach Licht und wohnt im Lichtreich höher denn die Himmel; Angrômainyus ist seinem Wesen nach Finsternis, d. h. Laster, Zerrüttung und Argheit selbst, und die Sphäre seiner Wohnung, alles, was ihn einhüllt, ist Finsternis der Finsternisse. In Duzakhs Tiefen ist sein Thron, und soweit die Finsternis reicht, ist er König und grausamer Gewalthaber. Seine Kenntnis ist groß, aber durch die Finsternis beschränkt; seine Macht, als die des Zweiten nach Ahuramazdâ, ist ausgedehnt, reicht aber nicht an Ahuramazdâs Erhabenheit und Glanz.
Seiner Neigungen Wurzel ist die ewige Grundfeindschaft alles Guten, das durch Ahuramazdâs Herrlichkeit erzeugt wird. Er, die als ein mächtig wirkendes Wesen symbolisierte Finsternis ist in einem ständigen Kampfe gegen das Licht begriffen, soweit ihm dieser zugelassen ist. Durch ihn wird alles Böse. Wie nichts Reines, Gutes und Seliges in der Welt sein kann, ohne aus Ahuramazdâs Lichtquell zu fließen, so steigt der Grund alles Bösen von Ursache zu Ursache bis in seinen Abgrund. Sein Sinnen und Dichten endigt sich in beständigem Streben und Wirken zur Erweiterung seines Reichs. Darum vergiftet er mit seinen Dews die ganze Natur, Pflanzen, Tiere und Menschen durch Krankheiten, Seuchen, Plagen, und besonders streut er den Samen zu unreinen Gedanken und schwarzen Begierden in der Menschen Herz, wodurch sein und der Dews Reich beständig an Umfang und innerer Macht zunimmt. Er durchstreift die Welt, um überall Irrtum, Tod und Laster auszustreuen, denn damit ist er stets schwanger, und er ist der Einzige, welcher unter den Izeds im Himmel erscheinen darf. Wo er einen Menschen findet mit großer Kraft und Heldeneifer für des Guten Vermehrung in Ahuramazdâs Lichtwelt, dem ist er todfeind. Der bloße Gedanke oder Anblick desselben macht ihn blaßgelb, er wagt alles gegen ihn, vermag aber nichts, denn der Streiter für das Gute gehört zu dem geliebten Volk Ahuramazdâs und hat den Schutz aller Izeds des Lichtes für sich.
Das Bild seines Wesens ist die Schlange oder der Drache. Der Ewige hat ihn zur Dauer aller Ewigkeiten geschaffen; er soll aber nicht immer der Grundfeind des Lichtes, der Bestreiter des Guten und König der Finsternis bleiben, sondern nach der 106Auferstehung der Toten wird er von Ahuramazdâ mit Ohnmacht geschlagen und sein Reich bis auf die Tiefen seiner Grundfesten zertrümmert werden. Er selbst wird ausgebrannt in feurigen Metallströmen, wodurch er Sinn und Willen ändert; er wird heilig, himmlisch, und begründet in seiner Welt Ahuramazdâs Gesetz und Wort, wodurch alle Wesen geworden sind. Er wird auf ewig Freund Ahuramazdâs, und beide singen Zrvâna-akarana Izeschné, d. h. Ruhm- und Lobgesänge.
Aus der unbegrenzten Ewigkeit wurde der Anfang, die Zeit. Wie der Ewige Ahuramazdâ und Angrômainyus geboren, faßte er den Ratschluß einer Zeitdauer von zwölf Jahrtausenden, worin alles, was der Ewige in Gedanken hatte in aufeinanderfolgenden Reihen erscheinen und vollendet werden sollte. Dies geschah noch vor der Schöpfung der Wesen auf höheren oder niederen Stufen. Noch hatte der Unbegrenzte kein Volk außer Ahuramazdâ und Angrômainyus. Dieser „die begrenzte Zeit“ genannte Cyclus ist für die Herrschaft von Ahuramazdâ und Angrômainyus bestimmt; sie als die Erstgeborenen aus der Unendlichkeit des Ewigen sollen die ersten Regenten und Machthaber bis nach Ablauf dieses Zeitraumes sein. Diese zwölf Jahrtausende teilte der Unendliche nach wechselnden Perioden unter diese beiden Könige aus. Das erste Vierteil wurde Ahuramazdâ, dem Erstgeborenen der Wesen, zu Teil. Ahuramazdâ in Licht und Herrlichkeit fing an zu schaffen und zu wirken nach der Art und Natur seines Wesens. Angrômainyus sah Ahuramazdâs Glorie und Herrlichkeit, wurde neidisch, schwur ihm ewige Feindschaft und begann den Krieg gegen Ahuramazdâ. Nun begann der Kampf zwischen Licht und Finsternis. Ahuramazdâ entbot ihm zwar Freundschaft, wenn er Mitschöpfer der reinen, guten Welt sein wolle, aber Angrômainyus verhärtete sich aus Stolz, Neid und Haß und wurde der Grundärgste. Nun zerfiel alles in zwei Königreiche, Welten und Gewalten. Das Licht ward Ahuramazdâs Eigentum, die Finsternis das des Angrômainyus. Angrômainyus stürzte aus der Höhe unendlich tief in den Abgrund, blieb aber König des Abgrundes, und wenn die Zeit seiner Herrschaft kommt, ist er der grausamste Gewalthaber, der ärgste Tyrann. In der Zeit seiner Herrschaft wirkt er mit äußerstem Streben, Unruhe und Anspannung aller seiner Kräfte, denn er 107weiß sein Ende. In dieser Zeit des Angrômainyus hat oft das Böse die Oberhand, und die Finsternis verdunkelt das Licht. So steigt und fällt bis zum Schluß der begrenzten Zeit die Übermacht oder Schwäche des Guten und Bösen. Ahuramazdâ und Angrômainyus befinden sich in stetem Kampf gegeneinander, und das Ende ist der Sieg des Guten, der Triumph Ahuramazdâs.
Am Anfang schuf Ahuramazdâ zur Bekämpfung des Angrômainyus die Feruer aller Wesen. Er dachte als Schöpfer auf Wesen aller Art, die rein, gut, stark und edel wären, und jeder dieser Gedanken war ein Feruer, der Geist des künftigen Wesens, das künftig ein Teil von Ahuramazdâs Welt sein sollte, ganz Licht und Geist, im Wesen Geist und im Leben Geist, durch den bloßen Schöpfergedanken geboren; denn Ahuramazdâ dachte im Wort, und jeder Gedanke im allschaffenden Wort ist Geist, der das Geschöpf belebt, zu dem er gedacht ist.
Die aus Ahuramazdâs allschaffendem Geist hervorgegangenen zahllosen Arten, Gestalten und Stufen der Feruer aller reinen Wesen sind unsterblich, denn ihr Same war vom ewigen Geist und unzerstörbaren Licht. Sie sind ganz Leben, denn der sie gebar, schuf sie durch ihre schaffende Feuer- und Lichtkraft stets wirkend und belebend. Durch sie lebt Alles in der Natur, Stern und Mensch, Tier und Baum; Alles erhält durch sie Bewegung und Segen. Sie sind des Himmels Schutz und Wache gegen Angrômainyus; der Seele Schutz, denn sie sind erhaltend, reinigend bei der Auferstehung von allem Bösen; sie bekämpfen die Schlangen, Dews, die Bösen und erlösen die Gerechten. Mit der Schnelligkeit eines Vogels fahren sie gen Himmel und bringen die Gebote vor Ahuramazdâ. In der Welt sind sie an die Körper gebunden.
Die Zahl und Stufen der Feruer sind unendlich wie die der Wesen, weil die unbegrenzte Ewigkeit sich denkt im allmächtigen Wort, und dieser Abdruck des unergründlichen Wesens ist Ahuramazdâs Feruer. Des Gesetzes Feruer ist des Gesetzes Geist und Lebenskraft, das Lebendige und Belebende im Wort, das Wort, wie Gott es denkt. Der Feruer Zoroasters ist köstlich in den Augen Ahuramazdâs, denn er hat das Gesetz in Gang gebracht und des Weltenherrschers Glanz und Herrlichkeit an das Licht gebracht.
Nach diesen reinen ersten Schöpfungsbildern sind alle himmlischen 108und irdischen Wesen in endlosen Reihenfolgen geworden. In ihnen steht die Welt Ahuramazdâs, und gegen sie kämpft Angrômainyus mit seinen argen Geistern.
An diese zoroastrischen Sätze knüpft Kleuker eine längere Anmerkung, die insofern Interesse besitzt, als in einem Teil derselben Kleuker den Gedanken du Prels anticipiert, der Genius des Sokrates sei dessen transcendentales Subjekt oder Feruer.
Die betreffende Stelle lautet:
„Zend-Avestas Feruers sind ein feiner Gedanke. Sie sind der Übergang von dem, was wir Substanz nennen, zum bloßen Schöpfergedanken der Substanz. Weil aber der Wesenschöpfer nach dem Geist Zendavestas, keinen einzigen Gedanken leer – als einer bloßen Möglichkeit denkt, so dachte er lauter Feruers. Feruers sind die ersten, reinsten Abdrücke aller künftigen Wesen und Geschöpfe; das, was in allen Wesen abgezogenster Geist, reinster Funke, himmlischer, göttlicher Natur ist. Sie werden immer von den Seelen unterschieden; sie sind höher und eher als dieselben; sie haben zwar schon den Grund in sich, warum sie künftig mit solchen und nicht andern Geschöpfen vereinigt werden sollen, aber noch nicht die Gestalt eines besonderen Geschöpfes; sie sind Platos Ideen. Wie Ormuzds Gedanke Zoroasters Feruer schuf, so war er von allen Feruers höherer Geister, wie von allen Feruers aller Menschen unterschieden; er war aber noch nicht Zoroaster, sondern enthielt nur das ganze Bild, doch aber in wahrer, lebendiger Existenz, was Zoroaster künftig werden sollte. Sobald Ormuzd sie dachte, lebten sie, und können Jahrtausende leben und wirken, ehe sie mit den Geschöpfen vereinigt werden, dieselben zu beleben. Daher kommts, daß die alten Philosophen, die aus dem Quell der Weisheit des Orients getrunken, den Geist lange vorher leben und freiwirken lassen, ehe er mit dem Körper verbunden wird, daß sie ihn göttlichen Geschlechts und Natur nennen, sagen, im Tode geh' er wieder hin, woher er gekommen sei. Nach Zoroaster sind die Feruers die reinsten Ausflüsse von Ormuzds Schöpfergeist, derselben Natur, wahres Licht, wahres, lebendiges Wort: darauf wird auch ihre Unsterblichkeit und ewige Fortdauer gegründet: denn kein Funke göttlichen Geistes kann sterben, er ist seiner Natur nach Leben und belebende Kraft. Zunächst wird Feruer von verständigen und 109lebenden Geschöpfen gebraucht, die gewesen sind, oder sind, oder noch geboren werden sollen, (denn auch diese sind schon vorhanden,) wie wir nur von Himmelswesen und Menschen Geist eigentlich zu gebrauchen pflegen; aber es giebt auch Feruers (Geist) in Thieren, Bäumen, Blumen, Sternen. – Kurz, wo Leben, Regsamkeit, Bewegung, Wachsthum ist, da lehren die Parsen innere Kraft, Feuer, Lichtsamen, und das bestimmt eben die Natur der Feruers. Sind sie mit Wesen verbunden, so werden sie oft für das Wesen oder Geschöpf selbst gesagt, weil sie das Reinste und letzter Mittelpunkt jeden Geschöpfes sind. Sie sind der Seele Schutz. Daher muß der Parse für seinen Feruer besonders beten, daß Ormuzd ihn bewahren wolle; denn ohne ihn wird Seel' und Leib unrein, irre geleitet. Siehe da Sokrates Schutzgeist!“[162] – –
Die von Ahuramazdâ geschaffene Welt ist unendlich groß, lebend und wirkend in Wesen und Geschöpfen von zahllosen Arten und Stufen; sie teilt sich in eine himmlische und irdische, in eine geistige und materielle Welt ein.
Den höchsten Rang in der geistigen Welt nehmen die sieben Amschaspands ein. Ihr König und Schöpfer ist Ahuramazdâ, der Urquell alles Lebens. Sie sind die sieben ersten Geister Gottes, Könige, ganz Leben, heilig, rein und groß; der Menschen Muster. Sie gehen an keinen unreinen Ort. Ein jeder hat einen Tag, dem er vorsteht, an dem er Segen und Wohlthaten spendet. Ihre Namen sind heilig.
Der zweite Amschaspand ist Bahman, der König der Welt, des Lichtes und Himmels. Die übrigen Amschaspands ruhen unter seinem Schutz. Er sieht durch Ahuramazdâs Lichtverstand, giebt Weisheit, Friede und Reinigkeit des Herzens; er nimmt die Seelen der Gerechten in Gorotman auf und segnet ihre Ankunft im Sitz der Seligkeit. Er ist fort und fort in Lichtglanz und Glorie.
Der dritte Amschaspand ist der lichtglänzende Ardibehescht. Er giebt Feuer und Gesundheit.
Der vierte Amschaspand ist Schahriver. Er ist der Vorsteher der Metalle, der Vater des Mitleids und der Pfleger der Hungrigen.
Der fünfte Amschaspand ist Sapandomad, Ahuramazdâs Tochter, der weibliche Ized der Erde; die heiligste und reinste der ersten reinen Wesen; weise, freigebig und demütig wie Demut verleihend; er hat reine, wohlthätige Augen und befruchtet die Erde. Von ihr sind das erste Menschenpaar, Meschia und Meschiane, gebildet.
Der sechste Amschaspand ist der von Ahuramazdâ den Menschen zum Heil geschaffene Chordad, der König der Jahre, Monate, Tage und Zeiten. Den Reinen giebt er reines Wasser und süße Speise. Sein Tag ist heilig und der erste des Jahres.
Der siebente Amschaspand ist Amerdad, der Schutzgeist der Bäume und des Getreides, der Befruchter der Herden, welcher Früchte aller Art in Fülle spendet.
Die zweite Klasse der guten Geister sind die Izeds. Ahuramazdâ hat sie geschaffen zum Segen der Welt, zu Richtern und Schutzaugen des reinen Volks. Der Mensch muß ihre heiligen Namen nennen und durch Nachahmung ihrer Eigenschaften nach ihrem Wohlgefallen streben. Alle Monate und Tage sind unter die Amschaspands und Izeds verteilt, und selbst die fünf Abschnitte des Tages und die fünf Schalttage werden als unter besondere Ized stehend gedacht. Jeder höhere Geist hat niedriger stehende zu Begleitern; so ist Ahuramazdâ von den Amschaspands, und diese sind von den Izeds begleitet.
Folgendes ist die Stufenleiter der Izeds nach den Zendbüchern:
1. Mithra (auch Meher), der Höchste und Glanzreichste aller Izeds, wird mit der Sonne angerufen, ohne die Sonne selbst zu sein. Er glänzt wie der Mond, ist hocherhaben wie Taschter[163], hebt seine Hände auf zu Ahuramazdâ, dem König der Welt. Er ist mit tausend Ohren und Augen der Schutzwächter und Segner aller Menschen und Geschöpfe, und spricht die Wahrheit in den Versammlungen der Izeds. Er segnet Iran mit Friede und Glück, giebt der Erde Licht und Sonne und vertreibt die Druschts.[164]
2. Korschid (die Sonne) ist groß, unsterblich, Ahuramazdâs Auge. Er hat vier Pferde und vollendet seinen Lauf in 365 Tagen wie ein Held.
3. Aban, Ized des Wassers.
4. Ader, Ized des Feuers; er giebt Glanz, und sein Name bezeichnet alle göttlichen Feuererscheinungen, welche sich den Menschen gezeigt haben.
5. Anahid (Venus), die Bewahrerin des Samens Zoroasters.
6. Amiran, das von Gott geschaffene Urlicht; der Urheber des Lichtes des menschlichen Leibes.
7. Ard, giebt Weisheit, Größe, Edelmuth, Glanz, Güter; er wird mit dem weiblichen Ized Aesching oder Aschehing identificirt, welcher Gesundheit, tägliche Nahrung und Freuden spendet.
8. Arduisur, ein weiblicher Ized, kommt den Toten zu Hilfe, hat einen jungfräulichen Leib, heißt die Tochter Ahuramazdâs und ist das von Ahuramazdâs Thron ausfließende Wasser; von Arduisur kommen alle Wasser unter dem Himmel.
9. Aschtad ist der Ized des Überflusses, Oschens Mitgehülfe. Sein Sitz ist der Berg des Lebens. Von da wacht er über die Erde und hilft das Tagewerk der Menschen vollbringen.
10. Asman, der Himmel, schützt wider den Duzakh.
11. Barzo ist der Schutzgeist von Bordj, woher die Wasser ausströmen. Taschters Gehilfe bei der Austeilung des Wassers auf der Erde.
12. Behram, der lebendigste aller Izeds, besitzt einen himmlischen Körper, dessen Glanz von Ahuramazdâ kommt. Derselbe hat ihn auch zum König der Wesen gesetzt, welche er alle wie Feuer durchdringt. Er erscheint im Winde und unter allerlei Tiergestalten.
13. Dahman ist der Segen der Geschöpfe und des gerechten Menschen, dessen Seele er von Seroschs Händen nimmt und in den Himmel trägt.
14. Din, Ized des Gesetzes, giebt Wissenschaft.
15. Farvardin, der Herr des ersten Monats des Jahres und des neunzehnten Tags eines jeden Monats, giebt Kraft und Licht.
16. Gosch, giebt alle Güter, Unsterblichkeit, Reinigkeit; er vermehrt die Wesen, die Kinder des Verdienstes, welche für das 112Gesetz mit Eifer brennen; er verleiht die Freundschaft der Gerechten, vertreibt die Dews und hilft die Dewsanbeter besiegen.
17. Goschorun ist der Ized der Herden und die Seele der Tiere; er seufzt und klagt vor Ahuramazdâ und bittet um Erlösung vom Dew Eschem.
18. Mah (der Mond) ist ein weiblicher Ized und schützt den Keim des Stiers; er geht von Albordj aus, giebt Wärme, Geist und Frieden. Bei seiner Fülle beginnt alles zu grünen und zu wachsen; er ist wohlthätig und giebt allen Herden Samen.
19. Mansrespand, der Ized als göttliches Wort, ist der Schutzwächter des Himmels. Sein Glanz ist rein, und was er sehen läßt, ist gut.
20. Neriosengh, der Ized des Feuers zu königlichem Mut und des Friedens, schützt den Gerechten nach Gottes Willen; er schützt zwei Teile zu Kaiomorts Samen, zum männlichen Gliede und zur Seele.
21. Parvand ist ein weiblicher Ized.
22. Rameschne-kharan ist der Ized des Glücks, der reine dauernde Freuden giebt.
23. Raschne-rast, der Ized der Wahrheit und Redlichkeit, ist herrlich und weise, sieht scharf und weit und schützt die Erde. Zehntausende himmlischer Geister begleiten ihn; er hat tausend Kräfte und zehntausend Augen.
24. Serosch ist der Ahuramazdâ der Erde, weil er ihr König ist. Er ist auf dem Gipfel der Welt über alles erhaben, lebendig und der wirksamste aller Izeds, der gehorsamste und am meisten thätige. Er ist der Menschen Schutz, und durch seinen Dienst haben sie das Gesetz.
25. Taschter. Sein Auge ist Gerechtigkeit und Güte. Er ist der Ized des Regens und erscheint unter mancherlei Gestalten, als Jüngling, als mutiges Pferd usw.; er belebt die ganze Natur durch fruchtbare Gewässer und Regen.
26. Vad, der Ized des Windes, giebt Kraft und Mut.
27. Venant, Ized des Rigel[165], schützt im Mittage und giebt Kraft und Gesundheit.
28. Zemiad giebt ewigen Thron, thut alles Gute, wenn sie gepflegt wird, und ist ein weiblicher Ized.[166]
So viel über die himmlische Welt.
Die sichtbare Welt, Himmel und Erde, schuf Ahuramazdâ in sechs Reihenfolgen, und die Amschaspands waren dabei thätig.
Zuerst schuf Ahuramazdâ das Licht zwischen Himmel und Erde, die Fixsterne und Planeten.
Alsdann schuf er das Wasser, welches die ganze Erde bedeckte, in die Tiefen der Erde stieg und durch den himmlischen Wind, der es durchdrang wie der Geist den Leib, in die Höhen getrieben wurde, damit sich Wolken bildeten. Darauf schloß Ahuramazdâ dieses Wasser ein und gab ihm die Erde zur Grenze.
Hierauf ward die Erde, bei deren Schöpfung – wie auch bei der des Wassers – Angrômainyus mit thätig war, denn diese Elemente besitzen einen Teil Finsternis, und alle Finsternis kommt von Angrômainyus. Albordj[167] wurde zuerst geboren, darauf die übrigen Gebirge. Albordj ist der Erde Kern, Wurzel, Herz und Nabel.
Ferner wurden die Bäume aller Art geschaffen. Im Anfang ließ Ahuramazdâ einen Baum erstehen, aber der war dürr. Aber der Amschaspand Amerdad, welchem Ahuramazdâ die Bäume anvertraut hat, setzte den Keim dieses Baumes, als Taschter über die ganze Erde Regen ausgoß, in Taschters Wasser. Darauf wuchsen Bäume aus der Erde wie Haare auf des Menschen Haupt.
Zum Fünften wurden die Tiere geschaffen. Zuerst wurde der Stier gebildet. Dieser starb, und aus seinem Schweif gingen fünfzig Heilpflanzen hervor, die sich auf Erden mehrten. Die Izeds brachten den Samen dieses Stieres in den Mondhimmel, durch dessen Licht er gereinigt wurde, so daß Ahuramazdâ einen neuen, schönen Körper daraus bildete, den er belebte. Hieraus wurde ein neues Paar erzeugt, welches Vater und Mutter aller Tiergeschlechter wurde, die auf Erden sind, der Vögel in den Wolken und der Fische im Wasser.
Am Ende wurde der Mensch geschaffen, dessen Keim ebenfalls dem Urstier, dem Vorbild aller lebenden und sich bewegenden Geschöpfe entstammt. Der Urvater der Menschheit war Kaiomorts.[168] Er war lichtglänzend mit zum Himmel schauenden Augen, rein durch seinen Feruer und lebte noch dreißig Jahre nach dem Tode des Urstiers. Als er starb, weissagte er den künftigen Triumph des Menschengeschlechts über Angrômainyus. Bei seinem Tod ließ er seinen Samen zurück, den die Sonne reinigen, und von welchen Neriosengh zwei Teile und Sapandomad den dritten aufbewahren mußte. Aus diesem Samen erwuchs der Baum Reivas aus der Erde, welcher ein Zwitter[169] war, anzusehen, wie zwei, die aufs Innigste vereinigt sind. Ahuramazdâ bildete diesen Baum zum Doppelmenschen um, worauf er anstatt Früchte zehn Menschenpaare trug. Das erste Paar war Meschia und Meschiane, die Stammeltern des Menschengeschlechts. Sie waren anfangs rein und unschuldig, und der Himmel sollte ihnen werden, wenn sie rein wären in Gedanken, rein und demütig im Herzen, rein in ihren Thaten. Anfangs waren sie das und erkannten Ahuramazdâ als den einzigen Schöpfer aller Dinge und beteten auch keine Dews an. Sie lebten aber schon in dem Jahrtausend, da Angrômainyus Gewalt hatte, Böses unter das Gute zu mischen, und so wurde zuerst das Weib Meschiane und darauf Meschia von Angrômainyus, der sich der Gedanken und Begierden ihres Herzens bemächtigt hatte, verführt, und beide wurden Darvands (Sünder). Jedoch vermehrte sich ihr Geschlecht durch immer neue Zeugungen.
Als Ahuramazdâ seine Schöpfung vollendet hatte, feierte er ihr zu Ehren die himmlischen Gahanbars.[170]
Von der Lichtwelt Ahuramazdâs wenden wir uns zur finstern Welt des Angrômainyus.
Angrômainyus, der grundarge Feind Ahuramazdâs und alles Guten, gedachte, sobald er nur könne, eine Reihe von Wesen zu schaffen, die ihm ähnlich sind, Feinde Ahuramazdâs und aller reinen und guten Geschöpfe wie er, und die wie Angrômainyus aus dem 115innern Quell der Bosheit und Feindschaft an Zerrüttung der Welt Ahuramazdâs arbeiten. Wie auf Erden Tier gegen Tier ist, so ist im Reiche der unsichtbaren Wesen Geist gegen Geist. Die ersten sieben Dews sind das im Reiche der Finsternis, was die Amschaspands im Reiche des Lichts sind. Jeder hat seinen besondern Namen und einen besondern Widersacher unter den Amschaspands, mit dem er zunächst zu kämpfen hat. Die sieben Erzdews[171] sind an die sieben Planeten gekettet. Sie kommen von Norden, sind männlichen und weiblichen Geschlechts, und alle Übel kommen von ihnen. Jeder ist eine besondere Quelle eines besonderen Übels; andere Dews wiederum sind deren Gehilfen, gerade so wie die Amschaspands ihre Gehilfen (Hamkars) an den Izeds, und diese wieder an den geringeren Izeds besitzen. Sie erscheinen unter allerlei Gestalten auf der Erde, als Schlange, Mensch, Wolf, Fliege &c.
Am Ende der Welt und Zeit sollen alle Dews bis auf Angrômainyus ausgerottet werden.
Ihre Zahl ist – wie die der guten Geister – über zehntausendmal zehntausend.
Folgende sind die wichtigsten:
1. Akuman, welcher unter allen Dews zuerst von Angrômainyus geschaffen wurde. Er ist der Widersacher Bahmans, in seinen Gedanken ganz Gift und der häßlichste der Dews. Er plagt vorzüglich die gut und edel lebenden Menschen.
2. Aresch, der Dew des Neids.
3. Aschmogh, raubt alles Gute von der Erde und bringt dafür alles Böse. Das Wort der Wahrheit ist ihm wegen seiner außerordentlichen Grundbosheit unerträglich. Er heißt auch die zweifüßige Schlange.
4. Astuiad, der Dew des Todes, raubt den Toten die Seele.
5. Boete besitzt und lähmt die Gelenke des menschlichen Leibes.
6. Derevesch ist der Dew der Armut.
7. Djadu ist der Dew der Magie.
Dies sind die sieben Erzdews. Weiter folgen:
8. Dje, Dew der Unreinigkeit.
9. Eghetesch, Dew der Zerrüttung des Herzens.
10. Eschem, Dew des Neides, Goschoruns Widersacher.
11. Epeosche, erscheint in Gestalt eines Pferdes.
12. Kesosch, giebt Zwerggestalt.
13. Khevezo ist der Besitzer der Toten.
14. Khiveh ist der Feind des Feuers und Wassers.
15. Xonde ist der Dew der Trunkenheit.
16. Nesosch besitzt ein ganzes Heer von Dews, die nach Norden schwärmen.
17. Pretesch ist der Dew aller Falschheit und Lästerung.
18. Sor ist Seroschs Widersacher.
19. Vaziresch besitzt die Toten.
20. Vato ist der Dew der Ungewitter.
21. Verin ist der Dew der Regengüsse.
22. Zaretsch ist der Allverderber.
Dies sind die wichtigsten Dews. Fast jedes Laster, jede böse Neigung, jede Plage und Krankheit hat ihren Dew. Jeder Wohlthäter unter den Amschaspands und Izeds hat mit vielen und namentlich mit dem ihm entgegengesetzten Erzdew zu kämpfen.
Die neun Häupter der Druschts sind:
1. Angrômainyus, der Widersacher Ahuramazdâs.
2. Akuman, der Widersacher Bahmans.
3. Ander, der Nebenbuhler Ardibeheschts.
4. Savel, der Nebenbuhler Schahrivers.
5. Tarmad, der Gegner Sapandomads, der Druscht des Stolzes.
6. Tarik, der Gegner Chordads.
7. Zaretsch, der Gegner Amerdads.
8. Eschem, einer der schlimmsten Druschts, Druscht der Gewaltthätigkeit, Gegner des Serosch, Dämon der Grausamkeit, welcher Ahuramazdâs Volk mit ganz besonderem Grimm bekämpft.
9. Aschmogh, raubt alle Güter, schwächt und kränkt die Menschen und verursacht alle Übel der Erde. Er weiß, daß Avesta das wahre Gesetz Ahuramazdâs ist, weigert sich aber infolge seiner grenzenlosen Bosheit dasselbe auszuüben.
In dem beständigen Kampf der guten und bösen Geister, Menschen und Kräfte, liegt nun die Mischung des Guten und Bösen, wie sie in der Welt in Erscheinung tritt. Alles Gute, alle lebendige Kraft und Wirkung stammt von Ahuramazdâ und führt wieder zu ihm zurück. Die Thätigkeit eines jeden Wirkenden, sei er auch der Unterste der unendlichen Kette, reicht in ihren Folgen wie in der Kette ihrer Ursachen bis hinab in die „unbegrenzte Zeit[172]“. – Ebenso verhält es sich mit dem Bösen. „Die Welt der Übel“ ist unter gute und böse Prinzipien, Wesen und wirkende Ursachen verteilt. Des Guten ist nur soviel vorhanden, als wirkende Ursachen sind und Angrômainyus mit seinen Dews geschlagen wird. Deshalb betrachtet sich der Anhänger Zoroasters als einen Krieger Ahuramazdâs, welcher nicht sündigen kann, ohne alle guten Izeds zu betrüben, die Kräfte des Guten in der Welt Ahuramazdâs zu schwächen, und keine Todsünde begehen, ohne selbst ein Darvand, ein Glied der Welt des Angrômainyus zu werden.
Der Tod ist durch Angrômainyus durch die Sünde des ersten Menschenpaares in die Welt gebracht worden. Er erlöst den Anhänger Zoroasters von seinem Streit gegen Angrômainyus. Wenn er in seinem Leben treu war im Streit und rüstig durch Tilgung des Bösen gegen Angrômainyus und die Dews kämpfte, so hat er vom Tod nichts zu fürchten. Er geht über die Brücke Tschinvad zur Ruhe und Seligkeit ein.
Sofort nach seinem Abscheiden eilen die Dews herbei und wollen sich seiner Seele bemächtigen. Ist sie aber gerecht und rein und hat sie sich im Leben die Izeds zu Freunden gemacht, so sind diese zu ihrem Schutz bereit. Die Seele des Gottlosen aber ist von allen verlassen, und da sie sich in ihrer Ohnmacht nicht selbst wehren kann, so wird sie der Raub der Dews. Einige Tage nach ihrem Hinscheiden kommt sie an die große Brücke Tschinvad, welche die Scheidewand und Verbindung zwischen dieser und jener Welt bildet. Hier untersuchen Ahuramazdâ und Bahman den Wandel des Menschen und verweisen ihn, wenn sich Gutes und Böses annähernd die Wage halten, zu einem Mittelaufenthalt bis zur Auferstehung, der je nach dem Wandel mehr oder weniger 118selig oder von Unseligkeit und Angst erfüllt ist.[173] – Spricht Ahuramazdâ Lob und Preis über des Menschen Leben, so wird er von den heiligen Izeds über die Brücke in das Land der Freuden geführt, wo er einer fröhlichen Auferstehung wartet. Im andern Fall kann er nicht über die Brücke und muß in den Duzakh, den seine Thaten verdienen.
Zuletzt erfolgt die Auferstehung der Toten. Gute und Böse sollen auferstehen, und Erde und Flüsse sollen die Gebeine der Menschen wiedergeben. Ahuramazdâ will sie zusammensetzen und mit Fleisch und Adern überziehen und neu beleben.[174] Gute sollen sich zu Guten und Böse zu Bösen gesellen. Darauf soll die ganze Natur so neu werden wie der Mensch an Leib und Seele. Nun folgen noch nach einem von der „anbeginnlosen Zeit“ festgestellten Ratschluß Versuche, den Sündern die Thore Gorotmans aufzuschließen. Wenn die Verdammten durch Strafen im unterirdischen Duzakh geläutert und gedemütigt worden sind, so müssen sie durch Feuerströme geschmolzenen Metalls, wo sie die letzte Reinigung erfahren; alsdann genießen sie mit den Gerechten die endlose Seligkeit. Die ganze Natur ist alsdann am Endziel ihrer Bestimmung angelangt und Licht geworden. Selbst Duzakh ist nicht mehr, sondern ist Paradies geworden. Das Reich des Angrômainyus ist zertrümmert und das des Ahuramazdâ Alles in Allem geworden. Das Gesetz Ahuramazdâs herrscht allein im Weltall und ist das alleinige Element, in dem die Geschöpfe aller Stufen und Arten leben und weben. Ahuramazdâ, im Gefolge die Amschaspands, und Angrômainyus, von den vormaligen Erzdews begleitet, bringen dem Urwesen Zrvâna-akarana die Opfer ewigen Lobes. Dies ist das Ende der begrenzten Zeit.
Die Anbetung Ahuramazdâs, die Liebe gegen alles von ihm kommende, tödlicher Haß gegen Angrômainyus und sein Reich ist die erste Pflicht des Avestabekenners.
Liebe und Haß, Sympathie und Antipathie sind die causa movens des Parsismus, wie alles Bestehenden. Der Anhänger Zoroasters muß alles Gute, die sichtbare und unsichtbare Lichtschöpfung Ahuramazdâs lieben, das Reich des Angrômainyus aber hassen und bestreiten, so lange ein physisches und moralisches Übel zu bekämpfen ist.
Ahuramazdâ ist Licht, sein Reich ist Licht, sein religiöses System ein Lichtsystem, und der ganze Kultus bezweckt die Verherrlichung Ahuramazdâs, wobei seine Glorie erkannt und durch Vermehrung des Lichtes Lebensgenuß und Lebensmitteilung vermehrt werden. Dies ist das Wesen der Religion Zoroasters, der heilige Dienst des lebendigen Worts.
Die Erkenntnis Ahuramazdâs ist die erste Pflicht des Parsen, der Anfang und das Ende seiner Bestimmung, die Grundlage seines Denkens, Thuns und Lassens in der sichtbaren und unsichtbaren Welt. Ohne Ahuramazdâ würde alles Nacht sein, tot und öde, durch ihn ist der Parse, was er ist, und hofft in alle Ewigkeit an Kraft und Licht, Leben und Güte zu wachsen.
Ahuramazdâ muß erkannt werden als Gott und Schöpfer aller guten Wesen. Er ist seinem Wesen nach Licht; Licht aber ist Leben, Lebenskraft, Güte und Urwort. Aus ihm strömt Licht, Leben, Geist, Kraft, Güte und Wahrheit über das ganze von ihm geschaffene Weltall aus. Er muß erkannt werden als der allein alles Belebende, 120der alles zu Licht und Leben macht und Güte und Seligkeit zu erkennen und genießen giebt.
Darum preisen auch die Gebete des Zendavesta alle Geschöpfe Ahuramazdâs hoch, alle Izeds, alle reinen Menschen, reine Tiere und Pflanzen. Denn alle leben mehr oder minder im Lichte Ahuramazdâs, durch seine belebende Geisteskraft. Selbst Bahman, der höchste Amschaspand und seinem Wesen nach Ahuramazdâ am nächsten stehend, bekennt in seinen Lobgesängen, daß er seinen Verstand, sein Licht, seine Weisheit und vielzeugende Kraft nur von Ahuramazdâ habe.
So muß Ahuramazdâ erkannt werden im Himmel und auf Erden von allen Wesen, die ihn erkennen können.
Die Verehrung Ahuramazdâs muß aber zur That, zu lebendigen Handlungen werden. Das Bild des Lichtes, welches ohne Unterlaß leuchtet, wärmt, belebt und wirksam ist, muß die ganze Empfindung durchdrungen haben und thätig sein. Obgleich Zoroaster in der heiligen Höhle seinen Geist nach orientalischer Sitte lang in tiefe Betrachtungen versenkt hatte, so gebietet er doch unähnlich dem indischen Quietismus keine empfindungslose Geistesstille, keine Abtötung des Leibes, um durch Versenkung in die Gottheit nur Geist zu werden. Bei ihm ist alles Leben und That, Wachsamkeit und reger Dienst des Göttlichen bei Tag und Nacht. Deshalb auch konnte er durch das Judentum und Christentum so unendlichen Einfluß auf die Völker der kaukasischen Rasse gewinnen, welcher der faule Buddhismus gänzlich zuwider ist.
Nach dem Zendavesta ist alles Lichte und Reine, alles, was Leben besitzt und Leben mitteilt, gut; die ganze Welt Ahuramazdâs mit allen in ihr lebenden Wesen ist gut, alles durch Gedanken, Wort und That Belebende ist gut. Zoroaster faßt alles, was im einzelnen Wahrheit, Güte, Liebe, Leben, Kraft, Geist, Segen und Seligkeit ist, in dem Worte Licht zusammen. Darum schreibt er auch allen Wesen einen Glanz, einen Lichtschein zu, dem Baume wie dem edlen Menschen, dem nützlichen Tier wie dem Amschaspand. In allen Wesen und Geschöpfen Ahuramazdâs ist Licht, und der Glanz eines Geschöpfes ist der Inbegriff seines Geistes, seiner Kraft und seiner Lebensregungen als Funken der Gottheit. Je nach Maßgabe der Beschaffenheit dieser Funken ist 121der Grad des Glanzes größer oder geringer. In Ahuramazdâ vereinigt sich alles, darum ist sein Glanz der höchste und vollkommenste. Da nun der zoroastrische Kultus nur den Zweck hat, Ahuramazdâ in seiner Schöpfung zu verherrlichen, so muß der Parse alles vom Schöpfer des Lichts kommende Gute lieben, verehren und sich ihm gefällig zu machen suchen. Vor allen Dingen aber muß er Ahuramazdâ in Gedanken, Worten und Thaten anbeten. Kein Wesen darf er gleich Ahuramazdâ verehren außer Zrvâna-akarana, die zuweilen auch der Urgrund und Abgrund aller Wesen genannt wird.
Nach dem Schöpfer alles Guten muß aber sein Geschöpf, die Welt, wie sie von den Menschen erkannt wird, je nach der Stufe der Hoheit, Würde und Vollkommenheit der Dinge geliebt und angerufen werden; denn die Welt enthält, soweit sie gut ist, lauter Söhne Ahuramazdâs, von Ahuramazdâ geliebte Geschöpfe, in welchen er sich mit Wohlgefallen widerspiegelt, über die er sich freut wie beim Anbeginn der Dinge, da alles durch ihn geboren ward. Darum richtet der Parse sein Gebet zuerst an die Amschaspands, die ersten Abdrücke Ahuramazdâs, die Nächsten seines Glanzes und die Ersten an seinem Thron. In den an sie gerichteten Gebeten und Lobpreisungen werden die besonderen Eigenschaften eines jeden gerühmt, und sie werden um Schutz, Hilfe und Segen angerufen, je nachdem ihnen Ahuramazdâ die verschiedenen Teile der Schöpfung anvertraut hat.
Hieraus, wie aus den übrigen Anrufungen der Geschöpfe ergiebt sich, worin deren Verehrung besteht. Sie besteht darin, daß ein jedes Geschöpf für das erkannt wird, was es ist, daß dies in der Form eines Gebetes bekannt wird, und daß man von jedem Geschöpf, je nach seinem Daseinszweck die Wohlthat erbittet, welche zu erteilen ihm von Ahuramazdâ anbefohlen ist.
Der Zoroastrismus personifiziert im Geiste des alten Orients die guten oder bösen Eigenschaften der Dinge in guten oder bösen geistigen Wesen und glaubt z. B. seine Dankbarkeit für die wohlthätigen Eigenschaften des Wassers nicht besser beweisen zu können, als wenn er dieselben in einem an den Ized des Wassers gerichteten Lobhymnus preist, wobei indessen Ahuramazdâ ebensowenig vergessen wird, als wenn er von einem Ized oder dem ihm geweihten Gegenstand dessen wohlthätige Wirkungen erbittet.
Das Gebet an die himmlischen Geister bezieht sich genau auf ihre Eigenschaften wie Funktionen und – wenn es Himmelskörper sind – auf die Zeit ihrer Erscheinung. So wird z. B. die Sonne nur bei Tag angerufen, der Mond aber bei Tag und bei Nacht.
Die Sonne als Quell alles Lichtes, die alles mit Leben und Freude erfüllt, wird als sichtbares Bild Ahuramazdâs angerufen, als König des Himmels, der ohne Ruhe im Lauf ist wie ein Held.
Die Anrufungen sind je nach den Tageszeiten verschieden. Das Morgengebet geht dahin, daß Ahuramazdâ seinen Glanz erhöhen wolle wie der Sonne Glanz, und das Abendgebet, daß der Beter durch Ahuramazdâs und aller Izeds Schutz seinen Lebenslauf vollenden möge wie der himmlische Glanzkönig, um in Gorotman einzugehen. Mithra wird in allen Gebeten nach seinem reinen Glanz als Befruchter der Erde gepriesen, welcher Nahrungssaft über die ganze Natur ausgießt, als Urheber des Friedens, als mächtiger Streiter wider alle Dews des Streites, des Krieges und der Zerrüttung. Endlich richtet der Parse sein Gebet an den eigenen Feruer und den aller reinen Menschen. Diese Feruer werden schon im irdischen Leben eng verbunden gedacht als Glieder jener lebendigen Gemeinde, welche in Gorotman noch mehr eins werden soll. Auch die Tiere werden unter Hinweisung auf Ahuramazdâ gepriesen, und der Gedanke an den himmlischen Stier, von welchem alle Menschen, Tiere und Pflanzen kommen, giebt diesem Gebet Leben und inneres Gewicht.
Endlich wird alles von Ahuramazdâ kommende gepriesen: Feuer, Wasser und Bäume, so namentlich das heilige Altarfeuer Behram, das heilige Wasser Zare, welches auf dem Urberg Albordj entspringt, und der heilige Hombaum, aus welchem der Lebenssaft das Wasser der Unsterblichkeit hervorquillt.
Nach der Anbetung Ahuramazdâs und der Hochschätzung aller wohlthätigen und reinen Geschöpfe befiehlt der Zendavesta die Ausübung des Guten in Reinigkeit des Gedankens, des Wortes und der That. Der Mensch soll im ganzen Verhalten des äußern und innern Menschen wie Licht sein und wirken. Dies ist der beste Beweis für die zu Ahuramazdâ getragene Liebe. Er soll wirken wie das Licht, d. h. wie Ahuramazdâ, die Amschaspands, die Izeds, wie Zoroaster und die reinen Menschen, in denen Ahuramazdâ sich 123gefällt, weil sie ihm ähnlich sind. Je mehr Lichtreinheit und Güte ein Mensch in seinem Wesen ausdrückt, um so näher sind ihm die himmlischen Geister, um so mehr können sie ihn lieben und zu seinem Dienst bereit sein. In diesem Geist muß man auch gegen die Menschen auf Erden handeln und wie die Izeds alles mit Wohlthätigkeit segnen, so muß der Mensch die Natur zu veredeln und überall Lebenslicht und Fruchtbarkeit auszustreuen suchen. In diesem Sinn speist er die Hungrigen, pflegt die Kranken, beherbergt die Wanderer, bepflanzt die Wüste mit Bäumen, tränkt die Erde und besäet sie zur Freude der heiligen Sapandomad mit reinem Samen; er sorgt für die Nahrung und Fortpflanzung der Tiere, stiftet Ehen usw. Dies alles thut er, damit er nicht Finsternis sei, sondern Licht werde und die Finsternis durch sein wohlthätiges Licht erleuchte, daß das Wüste fruchtbar werde, das Schwache stark und das Tote lebendig.
Der zweite Teil des Ahuramazdâdienstes besteht im Streit gegen Angrômainyus und seine Anhänger, im Haß gegen alles Böse und der Unterdrückung des physischen und moralischen Übels. Jeder Parse muß Angrômainyus, den Thronfürsten der Finsternis, Vater alles Bösen, durch Gedanken, Wort und That, so sehr verwünschen und hassen, als er nur Kraft zu hassen hat. Wer Angrômainyus und seine Gesellen anbetet, und als Darvand thut, was die Dews thun, liebt was sie lieben, in irgend welcher Weise ihre feindlichen Absichten fördert, ihre Einflüsse erleichtert und vermehrt, der ist verwünscht an Leib, Seele und Vermögen; Flüche ruhen auf ihm zu Tausenden. Zum Streit gegen Angrômainyus gehört besonders noch, daß der Anhänger Zoroasters bekenne, von Angrômainyus und den Dews komme alles Böse her.
Zu den Anhängern des Angrômainyus gehören besonders die Zauberer, welche Zoroaster als Hände und Füße, Augen und Zungen von Angrômainyus betrachtet. Um so höher das Ansehen der Magier beim Volke gestanden hatte, um so mehr verwünscht Zoroaster ihr Thun. Sie hören und Gemeinschaft mit ihnen haben, ist Fluch und Verdammnis; sie verfolgen und vertreiben, ist die Freude Ahuramazdâs und aller Izeds und Segen für alle Menschen und Geschöpfe.
Eine That ist edel, wenn die Dews dadurch erbittert werden, 124und bei jedem amschaspandähnlichem Thun möchten sie vor Bosheit und Zornwut ohnmächtig werden; jeder Anblick einer reinen hochstrebenden Seele – wie z. B. die Zoroasters – macht sie mutlos und blaßgelb. Thaten des Lichts, reine, edle Werke sind das beste Mittel, das Beginnen der Dews zu zerstören. Was die Dews verheeren, muß der Anhänger Zoroasters blühend machen. Die Dews lehren den Menschen das Gesetz Duzakhs und der Finsternis; der Mensch dagegen muß das Wort des Lebens überall lebendig machen und das Gesetz des Lichts und der Wahrheit in Gang bringen. So wie bei der Verehrung Ahuramazdâs nichts als die That gilt, so ist der Kampf gegen Angrômainyus und sein Reich ganz That und Streit durch Gebet im lebendigen Wort, durch Reinheit der Seele und des Leibes und durch Vertreibung der Dews, wo sie oder ihre Anhänger sich einfinden sollten.
Nach dem Zendavesta ist der Zweck der Religion Lichtwerdung der ganzen Schöpfung Ahuramazdâs, Triumph des Guten, des Lichts der Wahrheit und des Lebens, sowie Zerstörung des Todes, der Finsternis und Unseligkeit.
Der Anhänger Zoroasters ist nicht der Ansicht, daß er für sich und Ahuramazdâ für Alle sorgen müsse, sondern betrachtet sich als ein Glied der lebendigen Gesellschaft, das nur dann gesund ist, wenn der ganze Körper in Gesundheit und Stärke blüht. Er wacht über die Mitanbeter Ahuramazdâs mit der gleichen Sorgfalt wie über sich selbst, denn je mehr durch ihn die ganze Schöpfung zum Licht emporgehoben wird, desto glücklicher ist sein Zustand. So thun Ahuramazdâ wie die Izeds, und der Parse muß ihr Thun nachahmen. Ahuramazdâ, seinem Wesen nach ganz Licht und Leben, hat bei seiner Schöpfung und Regierung der Welt nur den Zweck, daß dieselbe Licht und Leben werde, und alle Glieder seines Reiches, jedes nach seiner Stellung zum Ganzen, zu Reinheit, Wahrheit, Vollkommenheit und Seligkeit gelange, deren es fähig ist, und alles gewonnen werde und nichts verloren gehe, daß alles in Ahuramazdâ, dem Schöpfer und Urquell alles Lichts und aller Güte, zuletzt zusammenfließe.
Das Licht muß immer im Kampf sein mit der Finsterniß, und Ahuramazdâ mit dem zahllosen Heer seiner Kräfte ist ohne Unterlaß geschäftig, die Mächte, Wirkungen und Geschöpfe von Angrômainyus 125täglich zu schwächen, sein Volk zu retten und zu reinigen von allen physischen und moralischem Übel, wo eins das andere erzeugt, eins das andere verschlingt, und jedem seines Volkes durch Verleihung von Kraft im Kampfe beizustehen. Dies ist das tägliche Geschäft Ahuramazdâs, und darum soll jedes Glied seiner Welt durch seine Kräfte in seiner Sphäre thun, was Ahuramazdâ im ganzen All seines Reiches für alle Geschöpfe und durch die ganze Fülle seiner Licht- und Lebenskräfte vollendet.
Im Zendavesta wird die allgemeine Harmonie alles Lebendigen, die Existenz eines Lebens in der ganzen Schöpfung gelehrt. Alle Einzelheiten, welche Zoroaster dem Schöpfer alles Guten beigelegt, einigen sich im Begriff der Allbelebung, der Allschöpfung und Allbeseligung, dessen Geist, Wort und Kraft durch alle Glieder des Lebens und Webens der Schöpfung dringt, der in allen Gliedern wohnt und sie alle leben, fühlen, thun und wachsen läßt wie der menschliche Lebensgeist den menschlichen Organismus. Was nun Ahuramazdâ für das All der Schöpfung ist, das soll jeder Ahuramazdâverehrer in seinem Wirkungskreis sein, wobei er allezeit den großen Zweck Ahuramazdâs im Auge haben muß, der das Ganze zu Einem machen will, voll Harmonie, Leben, Wahrheit, Licht und lebendiger Wirksamkeit.
Die ganze Schöpfung ist ein Wesen, worin alles in Harmonie verbunden ist von Glied zu Glied, von Ursache zu Ursache, von Wirkung zu Wirkung. Besonders werden alle Izeds, die Feruers des Lichts und alle Seelen reiner Menschen als eine lebendige Gemeinde, als das Volk Ahuramazdâs vorgestellt, worin derselbe König und Haupt ist und in allen und durch alle wirkt. Kein Geschöpf kann im Licht der Wahrheit leben und wahre Seligkeit genießen, wenn es nicht ein Teil dieser Gemeinde der Lebendigen ist. In der lebendigen Gemeinde der Ahuramazdâdiener hat ein jedes Glied einen Teil der Kräfte des Alls. Diese Kräfte sind Kräfte des Lebens und kommen von Ahuramazdâ; sie müssen gebraucht werden, wozu sie dienen, zur Zerstörung des Bösen und Schaffung des Guten. Der Anhänger Zoroasters muß fortwährend Licht schaffen, sonst weicht Ahuramazdâ von ihm und er selbst hört auf ein Lebendiger zu sein. Jedes Glied der lebendigen Gemeinde hat eine von Ahuramazdâ ihm angewiesene Wirkungssphäre, welche 126er durch sein Licht beleuchten und den Samen seiner guten Thaten befruchten und beleben muß, sonst wird sie öde Wüste, Sphäre der Finsternis und des Todes. Der Wirkungskreis eines jeden Wesens in Ahuramazdâs Lichtwelt liegt in der Sphäre, worin er lebt. So wirkt Bahman nicht in der Sapandomads, die Sonne nicht in der des Mondes, und der Priester nicht in der Sphäre des gemeinen Parsen. Wenn ein jeder Wirkende in der Kette lebendiger Ursachen sich und was um ihn ist belebt, so ziehen alle übrigen Glieder aus seiner Fülle Lebenssaft an sich und teilen ihn wieder mit; er macht vielen ihr Wirken leicht und sie wieder ihm. Deshalb muß jeder Parse für Alle beten; der Priester muß durch die Fülle seiner guten Handlungen und durch die Erfüllung aller Pflichten Ahuramazdâ und Zoroaster nachahmen und so ein Beispiel für das Volk und zum Segen für alle Stände werden. Vom Ackerbautreibenden wird beständige Sorge für seine Ländereien und Herden begehrt, damit er ein Quell des Überflußes für Viele werde.
So wie im himmlischen Reich Ahuramazdâs jeder Ized seine Verrichtungen mit Freude und Leichtigkeit thun kann, weil sie sie alle freudig thun, so soll nach dem Zendavesta ein jedes Glied eines jeden Standes im sichtbaren Reich Ahuramazdâs auf Erden die Pflichten seiner Sphäre ganz und mit Reinigkeit, Lust und Leben thun, damit alle sie thun können, und diese Gemeinde der Ahuramazdâverehrer auf Erden ein Abbild sei der lebendigen Gemeinde des Himmels, und sie immer höher gehoben und weiter gefördert werde, bis sie im großen All des Lichtreiches von Ahuramazdâ aufgeht.
Ein jedes Glied der Gemeinde der Ahuramazdâdiener hat den Zweck, vollkommen zu werden; aber wie die Vollkommenheit des Auges nicht die Vollkommenheit des Ohrs ist oder der Hand oder des Fußes, so hat auch in der lebendigen Gemeinde jeder Obere wie jeder Untergeordnete eines jeden Standes eine besondere Bestimmung, und im besten Erreichen seiner Bestimmung besteht seine Vollkommenheit, darin beruht sein Glanz, seine Güte, sein Leben und sein Licht. Und obgleich der Glanz des Kriegers nicht wie der Glanz des Priesters, noch der Glanz des Unterthanen wie der Glanz des Königs, so hat doch ein jeder seine Vollkommenheit, und darin beruht sein Ruhm und Glanz. Wenn alle sind, was sie sein sollen, so fließt daraus die Verherrlichung Ahuramazdâs 127wie die Lichtwerdung der ganzen guten Welt. Alsdann freut sich die ganze Gemeinde im Lebensgenuß, ein jedes Glied im Leben aller genießt und giebt zu genießen, jedes für alle und alle für jedes.
Es soll also jeder Anhänger Zoroasters als Glied der lebendigen Gemeinde die Verherrlichung Ahuramazdâs zum ersten und letzten Zweck haben sowohl für sich in dieser Welt dadurch, daß er sich von allem Bösen des Leibes und der Seele reinigt, Angrômainyus und seine Diener im ganzen Reich der Finsternis bestreitet, Licht wird und Licht schafft; und in der künftigen Welt, daß er als treuer Diener Ahuramazdâs ewiges Leben genieße, ewig Ahuramazdâ gefalle, und im Licht lebe und webe. Er soll aber auch die Verherrlichung Ahuramazdâs zum ersten und letzten Zweck haben für Andere, daß er die ganze Schöpfung verehre, in ihr Ahuramazdâ überall finde und mit sich die Geschöpfe verschiedener Art veredle, die Geister nach ihrer Hoheit, nach ihrem verschiedenen Glanz, nach ihrer mannigfaltigen Wohlthätigkeit rühme und hoch erhebe und in ihnen lebendige Muster seines ganzen Verhaltens erkenne. Die Menschen verehre und veredle er dadurch, daß er für ihr Heil in diesem und jenem Leben sorge, für sie bete und über sie wache, damit sie ihre Pflichten thun. Er nähre die Tiere, ziehe sie auf und sorge, daß alle guten Geschöpfe auf Erden sich vermehren und die Elemente rein erhalten bleiben, damit von Tag zu Tag alles in Licht und Reinheit, Lebensgenuß, Güte, Freude wachse, und er mit allem, was ihn umgiebt, von Tag zu Tag edler werde und von Finsternis zum Licht, vom Tod zum Leben, von der Materie zum Geist sich entwickle und alles mit sich emporhebe in die Nähe Ahuramazdâs, damit alles eins werde und eine Seligkeit des Lebens genieße.
Zur Erreichung dieses Zwecks schrieb Zoroaster einen Kultus vor, dessen genaue und sorgfältige Ausübung das Mittel dazu ist.
Zoroasters Gesetz ist der Körper des Urworts[175], das vor allen Wesen war, und ist als fortwährend schaffende göttliche Geistessprache im Zendavesta wahrhaftig aufbehalten. Das Wort war das Urwesen, durch welches alle Wesen geworden sind, was sie sind. Es ist eins mit der Lebenskraft und dem göttlichen Wesen, 128insofern es ganz Licht, Geist und Kraft des Lebens ist und alles belebt, sobald Ahuramazdâ haucht. Insofern Gottes Natur ganz Leben und Lebenskraft ist und weder von Anfang noch von Ende weiß, heißt Gott das Urwort, und insofern Gottes Geist dieses Wort spricht und durch dieses Sprechen außer sich andern Wesen außer sich Sein, Leben und Wirksamkeit, d. h. Licht mitteilt, heißt dieses Sprechen Gottes auch Wort, Wort der Belebung, lebendige Geistessprache Gottes. Die Sprache Gottes ist blos geistig, ein unsichtbarer Zug der göttlichen Willenskraft, der aus dem Mittelpunkt der Gottheit in die Izeds übergeht und zugleich die Kraft zu beleben und zu schaffen mit sich führt. Diese Sprache verstehen die Izeds vollkommen, denn sie ist die unmittelbare Anschauung der Dinge, das Gefühl des Willens, wie es in Gott war und das aus Gott in sie überging, was keine Menschenzunge aussprechen kann. Die Izeds und Feruers selbst reden unter sich diese Sprache innerer Empfindung und Anschauung, die Menschen aber sprechen mit dem von der Zunge gefaßten Wort miteinander, darum wissen sie auch nicht, wie Gott spricht, und was die Sprache und das Wort Gottes ist. Dieses Wort heißt auch das erste Gesetz, die höchste Weisheit, Ahuramazdâs ursprünglichstes Element, das mit dem Urlicht so zu sagen eins ist, der Ausfluß und die Seele Ahuramazdâs, denn es enthält gewissermaßen die wahren Elemente Gottes; es ist das ewige „Ich bin“, vor dem Beginn aller Dinge vorhanden, ewig die Vollkommenheit selbst, Licht, schrecklich, lebendig und schnell. Ahuramazdâ sprach es, und alle Wesen wurden. Er spricht es von Augenblick zu Augenblick, und dadurch kommt aller Überfluß, alles Gute, aller Samen des Lichts in die Welt; alle Dinge in der Welt sind nur ausgesprochene Worte Ahuramazdâs. Wie Ahuramazdâ das Wort der unbegrenzten Ewigkeit ist, so ist die ganze Welt sein Wort, und alles, was die Izeds wirken, ist ihr Wort.
Dieses Wort wurde unter der Hülle des Gesetzes den Menschen offenbart, oder – besser gesagt: der Schöpfer aller Dinge wollte den Menschen Erkenntnis und Licht der Natur der ewigen und in jedem Augenblick neu schaffenden Gottheit geben und redete deshalb zu den Menschen in menschlicher Sprache, die sie verstehen konnten, und so wurde das Gesetz, das im Zendavesta, das himmlische, 129göttliche Gesetz genannt wird, das Gesetz des Lichts, der Wahrheit und des Lebens.
Die Gottheit hat sich schon vor Zoroaster offenbart und offenbart sich nach ihm, aber Zoroaster ist ihr vornehmster Prophet.
Der Hauptinhalt des ganzen Gesetzes besteht in den Worten: Du mußt Ahuramazdâ, den König der ganzen Welt, erkennen in Reinheit, seine Schöpfung hochschätzen, Zoroaster für den wahren Propheten Gottes halten und das Reich des Angrômainyus zerstören. Die Menschen sollen Gutes thun wie der erste der Amschaspands, weise sein in ihrem Verstand, wahrhaftig in der Rede, groß, edel und verstandvoll in ihrem Thun und Lassen.
Die einzelnen Vorschriften des Gesetzes bezwecken Ahuramazdâs Reich im einzelnen und im ganzen zu verschönern, Licht, Leben, Wahrheit und Seligkeit überall auszubreiten, und sind entweder moralisch oder gottesdienstlich oder politisch-religiös.
Die moralischen Vorschriften beziehen sich auf die Seele, ihre inneren und äußeren Wirkungen. Hier ist das Hauptgebot die größte Reinheit des inneren und äußeren Lebens, Reinheit des Gedankens, Reinheit des Worts und der That. Der Schwerpunkt liegt auf dem Innern der That.
Die Reinheit des Gedankens, aus welcher Reinheit der Rede und der That entspringt, ist die Richtschnur, nach welcher die Handlungen bemessen und beurteilt werden müssen. Die Reinheit des Gedankens verdammt alle bösen Begierden, welche aus den Keimen Duzakhs entspringen. Jede unreine Lust hat ihren eigenen Dew, wie jede Vollkommenheit und Tugend ihren besonderen Ized. Jeder unreine Gedanke betrübt die Izeds und hindert sie dieser Seele zu dienen, er schwächt das Licht und Leben der Seele und macht, daß die Dews sich freuen und mehr Gewalt bekommen.
Die Reinheit des Worts besteht in der Güte und Wahrheit der Rede, in der Harmonie zwischen Gedanken und Wort, Zunge und Herz. In der Bezeichnung Reinheit der Rede wird im Zendavesta alles zusammengefaßt, was in der Reinheit des Gedankens liegt, nur daß die Rede unsern Nebenmenschen versinnlicht, was im Herzen Edles, Wahres und Gutes verborgen liegt. Bekannt ist, daß die alten Schriftsteller nicht genug die Wahrheitsliebe der Perser zu rühmen wissen, und nach Herodot bedeutete die Lüge 130bei den Persern bürgerlichen Tod, und die Jugend wurde von früh an an die strengste Wahrheitsliebe gewöhnt. Im Zendavesta heißt es sehr oft: „Sei wahrhaftig in deinen Worten!“ und von allen Persern wird Reinheit, Edelmut, Hoheit im Denken und Wahrhaftigkeit im Reden vorzüglich verlangt. Ahuramazdâ, dessen Wort lautere Wahrheit ist, wird beständig als Muster aller Muster gepriesen, und Mithra ist der spezielle Ized der Wahrheit in der lebendigen Gemeinde; er ist der Schutzengel der Wahrheit, der Einigkeit und des Friedens. Die Lüge gilt im Zendavesta als das Häßlichste, wodurch der Mensch zum Dew wird; Angrômainyus ist der Erzlügner und Vater aller Lügen.
Die Reinheit der That oder Gerechtigkeit ist der Tugendgeist und die Lichtabsicht der Handlungen. Wie alles zwischen Ahuramazdâs und Angrômainyus Reich, zwischen Licht und Finsternis, Reinheit und Unreinheit geteilt ist, so auch die Thaten. Die Handlungen haben Licht und Glanz, wenn der Geist des Gesetzes in ihnen lebt, wenn der sie erzeugende Trieb auf Ahuramazdâ und die Verherrlichung seiner Schöpfung durch Vermehrung des Guten gerichtet ist. Alles dagegen, was nicht hierauf abzielt, ist das Werk der Finsternis, ein Werk von Angrômainyus. Im Zendavesta wird die Reinheit der Handlungen nicht durch viele subtile Regeln bestimmt, sondern der Unterricht ist, weil die Vorschriften für Menschen aller Stände bestimmt sind, so beschaffen, daß alle bei der Befolgung des Gesetzes wissen können, wie sie aus reinen Trieben zu handeln imstande sind. „Verehre Ahuramazdâ und sein glänzendes Volk, das er im Anfang geschaffen hat, – heißt es im Zendavesta, – wähle ihr Beispiel dir zum Muster und thue den Willen Ahuramazdâs so, wie die Izeds im Himmel ihn thun, so handelst du rein.“ – Wenn die Anhänger Zoroasters beten, so müssen sie vorher in demütiger Reue ihre Sünden bekennen, wodurch das Herz erleichtert und zum Gebet gereinigt wird. Beim Spenden der Almosen, das den Parsen oft und dringend geboten wird, müssen sie beständig an Ahuramazdâ und die Izeds gedenken und betrachten, wie wohlthätig dieselben sind. Mit größter Bereitwilligkeit des Herzens soll ein Parse dem andern wohlthun, der Reiche den Armen speisen, weil auch dieser ein Verehrer Ahuramazdâs ist, weil alle im Gorotman eins zu werden hoffen, und weil Ahuramazdâ 131und die Amschaspands sich vorzüglich der Notleidenden annehmen. – Der König soll hauptsächlich dahin streben, daß sein Thun und Lassen rein sei, wozu gehört, daß er seinem Volk sei, was Ahuramazdâ der ganzen Welt ist, Ernährer und Vater der Armen und Betrübten, der Schützer und Helfer der Gerechten, daß er ihnen viel Freude mache und mit seiner ganzen Gewalt das Böse unterdrücke, daß er seine Macht und Würde allein als Ahuramazdâs Geschenk trage und sie nur zum Wohlthun benutze. Weiterhin wird allen Ständen die Nachahmung Ahuramazdâs und seiner Izeds anbefohlen, und jeder Stand hat einen besondern Ized, den er vorzugsweise nachahmen soll, und wenn er dies befolgt, so trägt sein Thun zur Verherrlichung und Lichtwerdung der Schöpfung Ahuramazdâs bei, was der Zweck der Lebensthätigkeit eines jeden Geschöpfs sein soll. Jede darauf hinzielende That ist rein, und je reicher jemand an reinen Thaten ist, desto ähnlicher ist er Ahuramazdâ und seinen Lichtgeschöpfen.
Diese Reinigkeit des Herzens und der That ist das Endziel aller Parsen, und wer sie besitzt, der soll Tag und Nacht dahin wirken, daß ihr Samen sich vermehre. Ist erst jemand durch die Reinheit des Gedankens, des Worts und der That so weit gereinigt, daß er nichts als Gutes thut und – als Mensch auf Erden betrachtet – ganz Licht ist und immer mit ganzem Herzen Ahuramazdâ anbeten kann, dessen Gewalt ist so groß, daß alle Darvands, Druschts und Dews vor ihm fliehen müssen, daß er sie durch seinen Willen, sein Gebet und das Licht seiner Thaten vollständig ohnmächtig macht. Jedoch soll niemand glauben, daß er ohne die Kraft und den Beistand Ahuramazdâs, der Izeds und namentlich Mithras sich in der Reinheit der Seele erhalten könne.
Vorzugsweise soll der Parse die Sprache und die Kraft zu wirken heilig halten, denn beide sind Ahuramazdâs Geschenke und die Mittel, wodurch der Mensch Größe, Edelmut und Thatkraft im Dienste Ahuramazdâs beweisen und vermehren kann.
Zur Erhaltung der Reinheit der Seele dient in erster Linie der Gebrauch des Gesetzes. Das Lesen des Zendavesta ist eine der notwendigsten Pflichten, und ein dem Urwort gebrachtes Opfer ist eine tägliche Nahrung der Seele, ohne welche ihr Licht zu Finsternis wird. Nur durch dieses Opfer erhält sich der Anhänger Zoroasters im Besitz des lebendigen Worts.
Außer dem Lesen des Gesetzes ist das Gebet die heiligste Pflicht der Ahuramazdâverehrer und unumgänglich notwendig, weil dieselben mit den täglichen Anläufen Angrômainyus und seiner Diener sowie mit den Lockungen zum Bösen kämpfen müssen, welche nicht anders als durch das Gebet zu überwinden sind. Das Gebet verleiht neue Kraft und neuen Eifer zum Streit gegen das Böse und zum Streben nach dem Guten. Es erweckt den hohen Gedanken, daß jeder Anhänger Zoroasters für Ahuramazdâ kämpfe, täglich in der Seele von neuem und erhebt das Herz zum Himmel. Ohne das Gebet können die Geister in ihrer Sphäre das nicht wirken, wozu sie geschaffen sind und wovon die Diener Ahuramazdâs alles Gute erhoffen müssen.
Die Beschaffenheit des Gebets ist im Zendavesta vorgeschrieben. Zuerst legt der Parse ein aufrichtiges Gebet seiner Sünden ab, deren Entstehungsarten aufgezählt werden. Alsdann beklagt er seine und aller Menschen Sünden und rühmt die grenzenlose Barmherzigkeit und Gnade Gottes, von welcher er Vergebung erhofft. Hierauf beteuert er seine Liebe zu Ahuramazdâ und seinen Haß gegen das Reich des Angrômainyus, seine Treue gegen das Gesetz und die Notwendigkeit guter Thaten. Nach diesem Sündenbekenntnis und Gelübde folgen Lobpreisungen Ahuramazdâs, der Amschaspands, Izeds und aller reinen Menschen von Kaiomorts an bis zur Auferstehung sowie aller Söhne Gottes, d. h. aller Geschöpfe, in denen Leben und Spuren von Ahuramazdâs Geist zu finden sind.
Die Parsen beten nicht nur für sich, sondern für alle reinen Menschen, welche den Schöpfer der Natur erkennen und verehren auf allen Teilen der Erde. Besonders ist der Priester verbunden, für sich und alle zu beten: für den König, den Ahuramazdâ über sein Volk gesetzt hat und so herab bis auf alle Menschen, die noch bis an das Ende der Welt in Ahuramazdâs Reich leben werden; er betet ferner für die Seelen und Feruer, gleichviel ob dieselben auf Erden bereits verkörpert waren oder nicht. Damit das Gebet eine größere innere Energie habe, vereinigt es der Priester mit dem Gebet aller reinen Menschen auf der ganzen Erde, die gelebt haben, leben und bis zur Auferstehung leben werden.
Ein Ahuramazdâdiener betet für Alle, und Alle für Einen. Der Priester bekennt, daß er Teil nehme an den guten Werken aller 133von Ahuramazdâ geliebten Seelen, wie sie umgekehrt alle an den Früchten seiner eigenen guten Thaten teilnehmen.
Ebenso atmen alle religiösen Ceremonien und liturgischen Formen den Geist der Gemeinsamkeit.
Unter den eigentlichen gottesdienstlichen Gebräuchen und Riten ist in erster Linie der Feuerdienst zu nennen. Die Parsen glauben nämlich an ein Urfeuer und ein materielles Feuer, welches letztere ein Bild vom Ersteren ist. Jenes ist von Ewigkeit, und dieses ist aus jenem entstanden. Das Urfeuer ist das Band der Vereinigung und den in Zrvâna-akarana verschlungenen Wesen; es ist der Samen, aus welchem Ahuramazdâ alle Wesen erzeugt hat und was Ahuramazdâ durch sein Feuer erzeugt ist sein Sohn. Deshalb heißen die Amschaspands, Izeds, Feruer, Sterne, Menschen, Tiere und Pflanzen, alle Söhne Gottes, weil alle diese Wesen etwas vom Samen der Allschöpfung und Allbelebung in sich tragen und dadurch sind, was sie sind. Das Urfeuer hat sich von Anfang an unter verschiedenen Gestalten hier auf Erden zu erkennen gegeben, teils in sichtbaren Feuererscheinungen, teils in unsichtbaren Wirkungen seiner Kraft in den Geschöpfen. Alle großen Thaten, alle Heldenthaten, alle Weisheit und alle Weissagung werden der Kraft des Urfeuers zugeschrieben. Je reiner und stärker das Feuer ist, durch welches die Menschen belebt werden, desto reiner, stärker und geistiger sind ihre Wirkungen.
Das Urfeuer war von Ewigkeit in der unendlichen Gottheit und gab allen Geschöpfen ihr Wesen, und das durch jenes entstandene und in alle Wesen übergegangene Feuer, welches nun in Millionen und aber Millionen von Geschöpfen unter den verschiedensten Äußerungen und Wirkungsarten das einzige allschaffende, allwirkende und allbelebende Prinzip ist, das Mittel, durch welches Ahuramazdâ die ganze Schöpfung in Leben und Bewegung erhält. Das Feuer ist also der Ausfluß des Geistes und der Kraft Gottes, das reinste Symbol der unaufhörlich schaffenden, allwirkenden und allbelebenden Gottheit.
Zum Ruhm dieser Kraft Gottes stiftete Zoroaster den Feuerdienst, und weil das göttliche Urfeuer unsichtbar ist, so befahl er, heilige Feuerherde, Tempel zur Feuerverehrung (Dad-gah) zu errichten. Ihr Zweck war, die Gottheit unter dem Symbol des 134Feuers zu verehren. Das Bild des Feuers mußte also mit aller ihm zu Grund liegenden Kraft und Hoheit der Idee den Seelen der Anhänger Zoroasters tief eingeprägt werden. Deshalb sagt Strabo[176]: „Zu welcher Gottheit die Perser auch beten mögen, sie rufen vor allen Dingen zuerst das Feuer an.“
Trotzdem verehren die Parsen das Feuer nicht als Gottheit selbst, sondern beten in ihm nur die Eigenschaften des Schöpfers an, Ahuramazdâs belebende und erzeugende Kraft. Die dem Feuer gebrachten Opfer dienen zur Unterhaltung desselben, und die an das Feuer gerichteten Gebete sind Lob- und Dankgebete für die genannten Äußerungen Ahuramazdâs. Auch die Elemente, Izeds, Sterne usw. wurden nicht als eigentliche Gottheiten verehrt, sondern als wohlthätige Kräfte, als belebte Wesen, durch welche Ahuramazdâ die Welt regiert. Wenn die griechischen Schriftsteller derartigen von den Persern verehrten Wesen Namen wie Zeus, Hestia usw. beilegen, so beweist dies nur, daß es ihnen unmöglich ist, aus dem Bannkreis ihrer Mythologie herauszukommen.
Außer dem Feuerdienst hatten die Perser noch andere rituelle Gebräuche, von denen in erster Linie die Opfergeschenke zu nennen sind. Dieselben bestanden in Miezd, Hom und Perahom genannten Kleidern für die Priester, deren Darbringung durch Gebete an Ahuramazdâ und die Izeds und das Lesen der heiligen Bücher begleitet wurde.
Einen äußerst wichtigen Teil der parsistischen Ceremonien machen die Reinigungen aus. Die Reinheit des Leibes ist das Bild der Reinheit des Herzens und dieses ist Alles in Allem. Das Herz kann aber nicht rein sein ohne Reinheit des Körpers, weshalb diese die größte Sorgfalt und Wachsamkeit erfordert. Den unreinen Körper besitzen eine Menge Dews, aber vor dem reinen müssen sie weichen. Die Menschen werden von Natur unrein geboren, denn sie stammen alle von Kaiomorts, welcher durch Angrômainyus verunreinigt ist.[177]
Aus dem Glauben an die Unreinheit des Körpers sind verschiedene rituelle Gebräuche entstanden. So das Gebot, beim Gebet und Essen den untern Teil des Angesichts mit dem Penom[178] verhüllt zu halten, weil der Speichel irgend etwas verunreinigen könne. Daher rührt auch das Gebot, nichts vom oder aus dem Körper Kommendes in das Wasser oder Feuer zu werfen; auch dürfen die Parsen beim Beten, Essen und Verrichten der Notdurft nur eine Zeichensprache reden, weil sich sonst Dews in den Körper einschleichen können, wenn sich das Gemüt nicht in gehöriger Sammlung, Stille und Wachsamkeit befindet. – Ähnliche Anschauungen gingen bekanntlich in den Talmud über.
Die Unreinheit des inneren Körpers kann nicht ganz aufgehoben werden, weshalb der Parse wenigstens für die Reinhaltung des äußeren sorgen und durch beständige Aufmerksamkeit auf alles, was verunreinigen kann, verhüten muß, daß die Unreinheit des Innern wachse. Dabei muß sein Blick sowohl auf die Außenwelt als auf sich selbst gerichtet sein, weil dies die beiden Wege sind, auf welchen sich Verunreinigungen einschleichen können. Auf die Außenwelt, damit er keinem unreinen Menschen oder Tier nahe, und daß er nichts Totes berühre, ohne die vorgeschriebenen Bräuche beobachtet zu haben. Auf sich selbst insofern, als er in allen Fällen, in welchen Dews ihn verunreinigen können, besonders wachsam auf sich ist und sich nicht durch sinnliche Gegenstände zerstreuen läßt. Ist der Mensch, was nicht zu vermeiden, verunreinigt worden, so muß er sich durch das Wasser reinigen.
Das Wasser wird im Zendavesta eben so hoch gepriesen als das Feuer. Es gehört mit zum Ursamen aller Dinge, und das reinste Himmelswasser fließt vor dem Throne Ahuramazdâs, es belebt die Natur, reinigt die Körper der Natur, giebt ihnen Nahrungssaft, Samen, Gehirn, Verstand, Mark und Kraft, Milch und Fruchtbarkeit zur Zeugung, es erneuert die Wesen und giebt Überfluß aller Art. Ahuramazdâ hat das Wasser dem Menschen zum Schutz gegen die Dews und ihre Erzeugnisse gegeben; es hat einen heiligen Ized und muß des Morgens beim Krähen der Hähne angerufen werden. Das Wasser ist – wie Feuer und Licht – Symbol 136alles Guten und unterstützt das Feuer in seinen Wirkungen. So wie das Feuer alle Geschöpfe durchdringt und in allen Geschöpfen Wirkungen des Lebens äußert, so auch das Wasser, welches den Lebenssaft aller Menschen, Tiere und Pflanzen enthält.
Die Parsen haben zwei heilige Wässer, Zur und Hom. Das Wasser Zur wird zu Mitternacht unter mancherlei Ceremonien und Gebeten aus gemeinem Wasser bereitet, während Hom, das Wasser des Lebens und der Unsterblichkeit, aus dem Saft des Hombaumes bereitet wird.
Die Fälle, in welchen der Parse der Wasserreinigung bedarf, sind: nach Verrichtung der Notdurft, bei Frauen nach der Menstruation, das Kind nach der Geburt, überhaupt nach jeder Verunreinigung usw. usw. Ist der Parse verhindert, sich zu reinigen, so ersetzen Reue und Gebet die Reinigung.
Auch die gesetzlichen Strafen gelten als Reinigungsmittel, und die reinigende Kraft der Todesstrafe ist so groß, daß die Sünde dadurch getilgt und der Sünder in Gorotman aufgenommen wird.
Das Fasten hält Zoroaster weder für nötig, noch für verdienstlich, noch überhaupt für erlaubt. Er befiehlt Mäßigkeit, aber der Parse soll seinen Leib pflegen, damit er Ahuramazdâ zu Ehren wirken und gegen die Dews kämpfen könne, und damit der Hunger seinen Geist nicht von der Aufmerksamkeit auf das Gesetz abziehe. Die religiösen Feste der Parsen beziehen sich auf die Schöpfung und das Naturleben überhaupt. So die sechs je fünftägigen Gahanbars auf die sechs Perioden der Schöpfung, das allerheiligste No-ruz (Neujahr) als Frühlingsfest auf die Vollendung der Schöpfung, auf den Triumph Kaiomorts über den Dew Eschem, auf die Schaffung des ersten Menschenpaares und die Neubelebung der Natur an diesem Tag. Dem No-ruz ist die Mithrafeier Mehrdjan als Herbstfest entgegengesetzt.
Im Urbeginn wurde Ahuramazdâ und Angrômainyus das Wesen mitgeteilt. Darauf nahm die Welt ihren Anfang und was sie sein wird bis ans Ende, bis zur Wiederherstellung aller Dinge.[180] Ahuramazdâ lebt erhaben über alles mit höchster Weisheit und Heiligkeit im Lichtkreise der Welt. Dieser Lichtthron[181] Ahuramazdâs wird „das erste Licht“ genannt und ist als alles übertreffende Weisheit und Reinheit Ahuramazdâs Gesetz.
Ahuramazdâ und Angrômainyus sind im Laufe ihrer Existenz allein „das Volk der unbegrenzten Zeit“. Der wahre Schöpfer ist die Zeit, welche keine Schranken kennt, nichts über sich und keine Wurzel hat, die ewig gewesen ist und ewig sein wird. Deshalb spricht der Verständige nicht: Woher ist die Zeit gekommen? In der Größe, worin die Zeit war, war nichts Geschaffenes, das sie Schöpfer nennen konnte, denn es war noch nichts geschaffen. Darauf ward Feuer und Wasser, und aus ihrer Vereinigung Ahuramazdâ. Die Zeit war der Schöpfer und führte die Herrschaft über alle Geschöpfe. Ahuramazdâ war in der Zeit und wird sein in Ewigkeit.
Angrômainyus wohnt mit seinem Gesetz in der ersten Finsternis und war allein ihre Mitte. Die beiden Urprinzipien, in Unendlichkeit des Guten und Bösen verschlungen und ohne Grenzen der Fortdauer, wurden sichtbar durch Vermischung. Ihre Wohnungen, 138des großen Ahuramazdâ erstes Lichtreich und Angrômainyus Urfinsternis, waren ebenfalls ohne Grenzen. Sie lebten einsam in der Mitte dieser Abgründe, und einer näherte sich dem andern. Ein jedes dieser Wesen war durch seine Hülle begrenzt. – Angrômainyus weiß alles, wie Ahuramazdâ, und beide haben alles, was ist, geschaffen. Ahuramazdâ ist ohne Grenzen, denn er durchschaut die Schranken der Macht beider in Unendlichkeit verschlungenen Wesen. Angrômainyus ist Sklave und König.
Ahuramazdâs Volk wird bis zur Auferstehung der Toten endlos dauern, ewig wie der Lauf der Wesen.
Die Genossen des Angrômainyus werden, wenn dereinst die Toten neu belebt sind, schwinden. Er selbst wird ohne Ende sein.
Ahuramazdâ kannte durch seine ihm von der unbegrenzten Zeit gegebene allumfassende Wissenschaft das listige Unterfangen der argen Wünsche des Angrômainyus, wie er bis an das Ende der Dinge seine Werke mit den Werken des guten Wesens vermischen dürfe, und wie seine Macht sich endigen werde.
Darauf sprach Ahuramazdâ: Ich muß durch meine Macht das Volk des Himmels schaffen. Da schuf er in dreitausend Jahren den Himmel und sein Volk. Und Angrômainyus, fort und fort auf Böses sinnend zum Widerstand des Guten, war unbekümmert um das, was vorging. Angrômainyus wußte nicht, was Ahuramazdâ wußte.
Endlich erhob sich der Grundarge und näherte sich dem Licht. Wie er nun Ahuramazdâs Licht erblickte, wollte er, dem nie Gutes in den Sinn kommt, der nichts denkt, als wie er als Druscht alles schlagen und zerstören mag, er wollte das Licht verschlingen. Aber durch dessen Schönheit, Glanz, Erhabenheit geblendet, stürzte er von selbst in seine vorige dicke Finsternis zurück und zeugte ein großes Heer von Dews und Druschts zur Plage der Welt.
Ahuramazdâ, der alles weiß, erhob sich, sah Angrômainyus Volk, sein gräßlich-schreckliches Volk; sein Hauch war Fäulnis, Bosheit und der Schöpfung unwert. Angrômainyus erblickte das Volk Ahuramazdâs, das Volk in Scharen, das Volk in Herrlichkeit, über welches der in Ewigkeit verschlungene den Schöpfungsrat fassen mußte, das der Schöpfung wert war und welches Ahuramazdâ für würdig erklärt hatte.
Ahuramazdâ indessen, welcher wußte, daß zuletzt Angrômainyus Werk doch ein Ende nehmen müsse, bot ihm Friede und sprach: O Angrômainyus, hilf der Welt, die ich geschaffen habe, ehre sie, und deine Schöpfung soll unsterblich sein, nicht altern, sich nicht zerrütten und nie Mangel haben.
Angrômainyus, der Lügenvater, schuf Akuman, den ersten der Dews und Widersacher Bahmans.
Der Himmel war die erste Schöpfung Ahuramazdâs in der reinen Welt; ihm ward Bahman vorgesetzt. Er sah, daß seine Schöpfungen bis zur Auferstehung dauern würden, und ließ Ardibehescht, Schahriver, Sapandomad, Chordad und Amerdad der Folge nach werden. In der dunkeln Welt schuf Angrômainyus Akuman, Ander, Savel, Nakaed, Tarik und Zaretsch.
Nach dem Himmel schuf Ahuramazdâ das Wasser, die Erde, die Pflanzen, die Tiere und die Menschen.
Ahuramazdâ ließ Licht werden zwischen Himmel und Erde, Fixsterne und Planeten, Sonne und Mond, wie gesagt ist: Er schuf anfangs den Himmel. Die Fixsterne der Sichtbarkeit ordneten sich in zwölf Gestirne wie in eben so viel Stammmütter. Ihre Namen sind: Lamm, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Ähre, Wage, Scorpion, Bogen, Steinbock, Schöpfeimer und Fische. Diese Konstellationen sind seit ihrem Ursprung in achtundzwanzig Kordehs[182] männlichen Geschlechts eingeteilt, welche heißen: Pesch, Parviz, Peruesch, Pehe, Aveser, Beschen, Rekhad, Tarehe, Avre, Nehn, Meian, Avdem, Maschahe, Sapner oder Sapur, Hohro, Srob, Nor, Guel, Grefsche, Vareand, Gao, Goi, Moro, Bonde, Kehtser, Veht, Meian, Keht.
Alle diese Gestirne wurden anfangs geschaffen, um in der Welt immerfort Stand zu halten, damit, wenn der Feind sich darstellt, wenn Peetiaré[183] selbst zu schaden trachtet, durch ihren Beistand die Geschöpfe von den Übelthätern gerettet werden.
Dieser Sterne sind sechstausend und vierhundert und zwanzigtausend zum Dienst des großen Gestirns geschaffen worden. Noch hat Ahuramazdâ an den vier Enden des Himmels vier Wachen 140aufgestellt, welche auf die Fixsterne achten müssen. Ein jeder steht da als Wächter seines Kreises und seiner Himmelsgegend durch seine Kraft und Macht, er, der Schöpfer der Sternenheere, wie gesagt ist: Taschter schützt den Osten, Satevis den Westen, Venand den Mittag und Haftorang den Norden.
Meschgah ist ein großer Stern in der Mitte des Himmels, und wenn der Feind mit seinem Heer herannaht, so deckt derselbe – auch Rapitan genannt – den Mittag. Um den Gah Rapitans[184] lobsingt Ahuramazdâ mit den Amschaspands himmlische Izeschné.[185] Izeschné giebt jedem Kraft, Peetiaré zu schlagen. Notwendig ist dieser Dienst.
Zu gleicher Zeit führte die allwissende und vortrefflichste Weisheit den Menschen Feruer zu und sprach: Welcher Gewinn für euch, Körper in der Welt zu beleben! Seid daher im Kampfe gegen die Druschts und macht die Druschts schwinden! Am Ende sollt ihr in den ersten Zustand zurückkehren. Seligkeit soll euch werden, Unsterblichkeit ohne Veraltung, ohne Übel. Meine Fittige sollen euch gegen den Feind decken! – Darauf kam des Menschen Feruer, durch des Allwissenden Geist gegen die Druschts des Angrômainyus geschützt, in die Welt und ward sichtbar. Am Ende der Zeit wird er, vom Feinde Peetiaré errettet, des ersten Glücks genießen, wenn die Toten neu leben, durch alle Ewigkeiten der Wesendauer.
Angrômainyus, der Machtberaubte, und alle Dews mit ihm sahen den Menschen und stürzten vor seiner Macht zu Boden. Eine Zeitlänge von drei Jahrtausenden mußte Angrômainyus angekettet liegen, und wie er so gebunden lag, sprach jeder der Dews zu ihm: Auf und mit mir! Ich will diesen Ahuramazdâ und die Amschaspands in dieser Welt bestürmen und zusammentreiben! – Der Arge überlegte zweimal und war sehr unzufrieden, denn Furcht vor dem reinen Menschen hielt Angrômainyus zurück. Am Schluß der dreitausend Jahre kam der Darvand Djé zu ihm und sprach: O Angrômainyus, mache dich auf mit mir! Ich will hinaus in die Welt, Ahuramazdâ und die Amschaspands bekriegen und sie 141ängstigen! – Der Übelthäter überzählte zweimal seine Dews, aber mit Verdruß. – Angrômainyus wollte sich gern von seinem Kummer beim Anblick des reinen Menschen losmachen, aber der Darvand Djé sprach: Auf, mit mir zum Krieg! Welche Plagen will ich über die reinen Menschen und arbeitenden Rinder ausgießen! Wenn ich meinen Willen an ihnen vollbracht habe, so sollen sie, so wahr ich bin, nicht leben! Zerstören will ich ihr Licht, durchdringen das Wasser, die Bäume, das Feuer Ahuramazdâs, ja alle Geschöpfe Ahuramazdâs.
Der nichts als Böses thut übersah nochmals seine Heere, und siehe, wie außer sich vor Freude, sprang er aus dem Kleinmut, welcher bis jetzt gefangen hielt, und küßte Djés Haupt. Djé ist der Schöpfer der Unreinigkeit, die man der Weiber Zeit nennt. Angrômainyus sprach zu Djé: Was du nur immer wünschen kannst, nimm von mir! Djés Bitte war: Mit Menschengestalt wollte ich bekleidet sein, gieb sie mir! – Angrômainyus bildete eines fünfzehnjährigen Jünglings schönen Leib und zeigte ihn Djé, und Djé, unsauber in Gedanken, trug ihn davon.
Nach diesem stellte sich Angrômainyus in Begleitung aller Dews vors Licht und sah den Himmel, und die nur Zerrüttung sinnenden Dews gedachten, wie sie ihn stürzten. Angrômainyus allein drang in den Himmel. In Schlangengestalt sprang er vom Himmel auf die Erde.
Am Tage Ahuramazdâ des Monats Farvardin[186] lief er von Süden aus und sah den Himmel, aber Schauder und Schreck durchfuhr ihn, wie das Schaf vor dem Wolf. Er zog in die Wolken, sah unter sich die Erde und drang durch die gemachte Öffnung in die Mitte der Erde. Darauf durchfuhr er die Bäume, den Stier, Kaiomorts[187] und das Feuer. In Fliegengestalt durchstreifte er alles Geschaffene. Gegen Süden, in Mittag verheerte er die Erde durchaus, und Alles überzog Schwärze wie Nacht. Danach schickte er fressende Kahrfesters auf die Erde, welche Gift haben, wie 142Schlangen, Skorpione, Kröten usw. Alles verbrannte bis zur Wurzel, und nichts konnte den Kahrfesters widerstehen. Glutheißes Wasser regnete auf die Bäume und machte sie im Augenblick verdorren. Der grausam plagende Verin und Boschasp[188] mußten sich auf den Stier und Kaiomorts stürzen, um sie an der Brust zu fassen.
Vor des Stiers Erscheinung schuf Ahuramazdâ Binak, das Wasser der Gesundheit. Wer daraus an der Quelle trank, mußte ihre ganze Heilkraft spüren.
Der, dessen ganzer Wille Böses war, schlug durch sein Gift den Stier, daß er krank darnieder sank und seufzend starb.
Im Sterben sprach er noch: Siehe, was geschehen muß für die Tiere, die noch werden sollen. Mein Wille ist, sie vor dem Bösen zu schützen!
Ehe Kaiomorts ward, schuf Ahuramazdâ das Wasser Chei[189] und brachte es zu ihm. Mit großem Ruhm spricht das Gesetz von dem Wasser Chei, welches Kaiomorts Lichtglanz und Jugend verlieh.
Kaiomorts sah die Welt in Finsternis wie die Nacht, und wie die durch Kahrfesters verbrannte Erde kaum noch bestand. Am Himmel liefen Sonne und Mond in ihren Bahnen, und die Dews von Mazenderan kämpften gegen die Fixsterne. Denn Angrômainyus hatte außer dem, was er gegen Kaiomorts Böses im Sinne hatte, einen Plan, welcher war der ganzen Welt Zerstörung. Astruiad[190] mußte mit tausend Dews, Kunstmeistern des Todes, Kaiomorts besitzen; aber seine Zeit war noch nicht gekommen, daher vermochten sie nichts an seinem Körper, denn es heißt: Zur Zeit der Ankunft Angrômainyus Peetiarés war Kaiomorts schon im Leben; schon dreißig Jahre war er König. Nach der Ankunft Peetiarés lebte er noch dreißig Jahre. Kaiomorts sprach zu ihm: Du bist wie ein Feind gekommen; aber alle Menschen meines Samens werden thun, was rein ist, verdienstvolle Werke und dich zu Boden stürzen!
Nach diesem drang Angrômainyus ins Feuer und ließ schwarzen Rauchdampf daraus aufsteigen. Geschützt durch ein Heer von 143Dews mischte er sich unter die Planeten und versuchte sich mit dem Sternenhimmel zu messen und drang durch die Fixsterne und an allen Orten hervor. Durch neunzig Tage und neunzig Nächte standen des Himmels Izeds im Kampfe mit Angrômainyus und den Dews aller Welt. Die Dews stürzten entkräftet in den Abgrund, und der Himmel half den Izeds, daß Angrômainyus sich nicht mehr an sie wagen durfte. Aus des Abgrunds Mitte stieg Angrômainyus auf die Erde, durchbrach sie, zeigte sich darauf und durchreiste sie; Alles in der Welt kehrte er um. Als Feind des Guten mischte er sich in Alles, zeigte sich in Allem und suchte Böses zu schaffen oben und unten.
Es steht ferner geschrieben, daß im Augenblick, da der noch einzig geschaffene Urstier starb, Kaiomorts aus seiner rechten Schulter hervorging. Nach seinem Tode kam aus seiner linken Schulter Goschorun als Seele des einzig geschaffenen Stiers. Goschorun, also geboren, verweilte bei dem Leichnam des Stiers und erhob ein lautes Geschrei wie tausend Menschen. Er trat vor Ahuramazdâ mit diesen Worten: Wen hast du zum König der Erde gesetzt? Angrômainyus geht darauf aus, in Eile die Erde zu zertrümmern, die Bäume zu schädigen und sie durch feuriges Wasser zu verbrennen. Ist es dieser Mensch, von dem du gesagt hast, ich will ihn schaffen, daß er lerne sich vor dem Argen zu schützen? Ahuramazdâ antwortete: Krank ist der Stier geworden durch Angrômainyus Krankheit; aber dieser Mensch ist für eine Erde und Zeit aufgehoben, wo Angrômainyus nicht wird Gewalt üben können.
Goschorun ging und zog durch die Sphären der Sterne und den Himmel der Sonne wie des Mondes. Nun zeigte ihm Ahuramazdâ Zoroasters Feruer und sprach: Ihn will ich der Welt schenken, und er soll sie lehren, wie man sich vor dem Bösen rein bewahre. Goschorun wurde freudig, zollte dem Verlangen Ahuramazdâs Beifall und sprach: Ich werde für der Welt Geschöpfe sorgen. – –
Über die Welt sind sieben Fixsterne als Wächter bestellt:
1. | Taschter, | von dem Planeten | Tir (Jupiter) | begleitet. |
2. | Haftorang, | " | Beram (Mars) | " |
3. | Venant, | " | Anhuma (Merkur) | " |
4. | Satevis, | " | Anahid (Venus) | " |
1445. | Mesch, | " | Revans (Saturn) | " |
6. Gurzscher und
7. Dodjdom Muschever mit ihren Schweifen (Kometen), stehen
unter der Wache der Sonne und des Mondes.
Albordj ging hervor. Dieser Berg umkreist die Welt und steht in der Mitte der Erde.
Wie das Wasser, so geht auch die Sonne im Kreislauf, schwebend in der Mitte der Welt, beginnend bei Albordj, beim Zeichen Varé.[191]
Hundert und achtzig Tage läuft die Sonne östlich und eben so viel westlich.[192] Tag für Tag besucht sie Albordj mit ihrem Licht. Das macht einen Tag.
Fixsterne wie Planeten, sichtbar in ihrem Lauf, durchschwärmen alle Tage drei Keschwars und einen halben[193], wie deine Augen sehen können.
Jedes Jahr hat zweimal Gleichheit der Tage und Nächte. Am ersten Kordeh zur Frühlingszeit beginnt die erste Gleichheit zwischen Dunkel und Licht. Längster Tag ist am ersten Kordeh des Krebses, die zweite Gleichheit des Tages und Dunkels am Kordeh der Wage, wo Anfang des Herbstes ist, und am Kordeh des Steinbocks ist die längste Dauer der Nacht. Hier beginnt der Winter, und wenn Varé wieder sichtbar wird, so ist neue Gleichheit zwischen Licht und Dunkel, so daß die Sonne von Beginn ihres Laufs bis zur Rückkehr 360 Tage braucht. Dazu kommen die fünf Tage der Gahs.[194] Wer in ihnen die vorgeschriebenen Gebete vollendet, der soll die Geheimnisse der Dews wissen und wird dieselben binden können.
Angrômainyus lief hinaus in die Welt, und beim Anblick der Schönheit, Reinheit und Stärke der Izeds ergriff er von neuem die Flucht. Der Himmel stellte sich wie ein Streiter im Harnisch vor Angrômainyus zum Kampf. Ahuramazdâ half aus dem festen 145Himmel, seinem Wohnsitz, dem Himmel, der umläuft. Die Feruer der Krieger und Reinen, mit Lanzen und Keulen in der Hand, rüsteten sich zur Unterstützung des Himmels, der sich umdreht, und halfen ihm mit der That. Angrômainyus ward zur neuen Flucht gezwungen, indem er sah, daß seine Dews flohen und er selbst seine Kraft verlieren werde, weil der endliche Sieg Ahuramazdâ aufbehalten ist, von der Auferstehung der Toten an durch die ewige Dauer der Wesen hindurch.
Ahuramazdâ und Angrômainyus wirkten beide bei der Schöpfung des Wassers. Als nämlich der Stern Taschter im Krebs war, floß Wasser im Kordeh Avré.[195] Am Tage, da der Feind im Wassergebiet seinen Lauf hatte, kehrte Taschter in seiner Bahn zurück[196] und schien im Kordeh Avré westwärts, denn jeder Monat hat sein besonderes Zeichen. Der Tirmonat ist der vierte des Jahres. Der Krebs ist das vierte Zeichen vom Lamm an. Wie Taschter dieses Zeichen berührt hatte, ließ er Regen kommen, der allen Dingen Wachstum giebt, und daraus zog er mit der Kraft des Windes Wasser in die Wolken. Taschter fand Schutz an Bahman und dem Ized Hom[197], den der gesegnete Ized Barso[198] begleitete, und reine Seelen wachten mit Sorge über Taschter. Dreißig Tage und dreißig Nächte lang glänzte sein Licht hoch[199], und unter jedem Körper gab er zehn Tage Regen, wie es von den Fixsternen heißt: jeder dieser Sterne hat drei Körper.
Jeder Wassertropfen war wie eine Schale, und die Erde war in der Höhe eines Menschen mit Wasser bedeckt. Alle Kharfesters auf Erden starben durch diesen Regen[200]; er durchdrang alle Öffnungen. In der Folge teilte sich ein Wind vom Himmel dem Wasser mit und trug es in den Wolken mit sich fort und gab ihm die Erde zum Pfand. So ward Zaré Ferakh kand[201] gebildet.
Die toten Kharfesters blieben auf Erden zurück und teilten derselben Gift und Fäulnis mit. Um die Erde von der großen Menge Kröten zu reinigen, kam Taschter in Gestalt eines weißen Pferdes mit langem Schwanz in den Zaré herab, und der Dew Apevesch[202] in der Hülle eines schwarzen Pferdes mit starkem Schwanz zog ihm entgegen in den Streit. Taschter wurde geschwächt und überwunden und mußte ein Stück zurückfliehen, bat aber Ahuramazdâ um den Sieg, der ihm Übermacht schenkte, denn es heißt: Alsobald bekam Taschter von Ahuramazdâ zehn junge Pferde, eben so viel Kameele und Stiere, zehn Berge und zehn Flüsse. Der Dew Apevesch wurde schwach und floh als Überwundener ein Stück zurück. Tschem[203] soll keine Stütze gewesen sein wie Tir[204] die Taschters. Darauf wirkte Hom in der Höhe mit großer Macht, daß das Wasser über die Erde schwemmte.
Jetzt ist Frage über das Wasser, das Taschter aus dem Zaré nahm. Er ließ es in wunderbarer Menge regnen, und es fielen Tropfen in der Größe eines Rinder- und Menschenkopfs, größere und kleinere. Unter Taschters Regen versuchte der Dew Apevesch in Roßgestalt Böses zu thun. Taschter schleuderte aber den Blitz (das Vadjeschtefeuer) auf ihn und Aspotschereh[205] erhob ein fürchterliches Gebrüll.
Wie beide so wirkten, regnete es zehn Tage und Nächte und die Flüsse wurden. Die Erde behielt Kröten in Menge und Gift der Kharfesters, die sich in alles Wasser mischten und es salzig machten. Denn alle Kharfesterkeime, die der Erde blieben, verursachten giftige Fäulnis. Darauf stürmte ein heftiger Wind drei Tage lang allerseits Wasser über die Erde; daraus sammelten sich drei große Zarés und dreiundzwanzig kleine. Zwei Zaréquellen, Tetscheschtvar und Sumbar, fingen an zu springen, welches zwei große Quellen sind, die sich bei dem Quell der Zarés einigen.
Von der Nordseite aus flossen zwei Wasser, eines ost- und das andere westwärts, Arg und Veh, wie es heißt: Ahuramazdâ ließ nach seiner höchsten Liebe gegen die Menschen von seinem Thron 147aus zwei Wasser fließen, die ihren Kreislauf über die Oberfläche der Erde nehmen und zuletzt im Zaré Ferakh kand in eins zusammenfließen. Diese zwei Wasser fließen aus Quellen, woraus Gott achtzehn andere ausgehen läßt, und daraus kommt alles übrige Gewässer, das er zuletzt wieder in den Arg und Veh zurückfließen läßt, er der da ist der Weltenschöpfer.
Während sich Angrômainyus in das Innere der Erde zurückzog, ward den Bergen ihre Kraft anerschaffen, die Erde gleichsam zu entwickeln. Im Anfang entstand Albordj, darauf die übrigen Berge der Erde. Wie sich Albordj nach allen Seiten weit ausgedehnt hatte, gelangten alle andern Berge auch zur Vervielfältigung, da sie aus der Wurzel von Albordj entsprossen waren. Sie stiegen tief aus der Erde in die Höhe empor, wie ein Baum, dessen Wurzel bald hoch, bald in die Tiefe wächst. So kam es, daß alle Berge aller Wurzel Sprossen waren, sich durch den ganzen Erdkörper ausbreiteten und seit der Wesenschöpfung gesehen worden sind.
Das Erdwasser quillt in den Bergen, wo die Ader verborgen liegt. Aller Berge Wurzel ist in Höhen und Tiefen gepflanzt; man sieht ihre Ausbreitung durch die Erde, den Verschlingungen der Baumwurzeln in der Erde gleich, und wie alle Adern des menschlichen Körpers in einen Stamm zusammenlaufen und dem ganzen Körper Kraft und Stärke geben.
Außer dem Albordj wuchsen innerhalb hundertundsechzig Jahren aus und über der Erde alle Berge mit allem ihrem Überfluß und ihrer Fruchtbarkeit.
Ahuramazdâ und Angrômainyus waren beide Schöpfer des Baumes. Anfangs war derselbe dürr, aber der Amschaspand Amerdad, dem der Baum zugehört, setzte ihn, als er noch klein war, in das Wasser Taschters, als Taschter durch einen allgemeinen Regen Wasser über die ganze Erde führte. Der Baum wuchs wie Haar des Menschenhauptes, und aus einem Baum sproßten zehntausend fruchtbare Baumarten zur Heilung der Zehntausenden von Krankheiten, welche Angrômainyus in der Welt geschaffen hat. Diese zehntausend Gattungen von Bäumen gaben wieder die Keime zu einhundertundzwanzigtausend Arten von Gewächsen, welche sich – aus einem Keim entspringend – fruchtbar vermehrten.
Ahuramazdâ legte den Keim aller Pflanzen in den Zaré Ferakh kand, worin dieser Keim wuchs, der alle Pflanzenarten mit ihren Vervielfältigungen in sich schloß. Neben diesen Urkeim aller Pflanzen setzte Ahuramazdâ den Baum Gogard, welcher alle verjüngende und reichmachende Kraft in sich schloß.[206]
Ahuramazdâ und Angrômainyus sind der Schöpfer des Urstiers. Als derselbe tot war, gingen aus seinem Schweif fünfundfünfzig Arten Getreidepflanzen und zwölf Arten gesundmachender Bäume hervor, die sich auf Erden vervielfältigten. Den Samen des Lichts und der Stärke des Stiers übergaben die Izeds dem Mondhimmel, wo er durch das Mondlicht geläutert wurde. Ahuramazdâ bildete daraus einen wohlgebauten Körper, belebte ihn, und daraus wurden zwei andere Stiere, männlichen und weiblichen Geschlechts. Aus diesen entwickelten sich wieder 282 Tierarten auf Erden, die Vögel in der Luft und die Fische im Wasser.
Während des dreißigtägigen Regens, welchen Taschter über die Erde ausgoß, teilte sich dieselbe in sieben Teile, deren mittelster, um welchen sich die sechs anderen gruppieren, Khunnerets (Iran) ist. In Khunnerets hat Ahuramazdâ alles gelegt, was im höchsten Grad rein ist, und seit Anbeginn schon sucht Angrômainyus diesen Erdteil zu schädigen, weil er sah, daß Khunnerets das Vaterland des Keans (reinen, weisen Menschen) sein, und das reine Gesetz in Keans gegeben werden würde, von wo aus es erst die andern Teile der Erde erhalten, und daß der Sosiosch in Khunnerets geboren werden würde, der bestimmt ist, Angrômainyus ohnmächtig zu machen und die Auferstehung der Toten sowie die Wiederherstellung der Leiber zu bewirken.[207] – –
Im Gesetz steht geschrieben: Als der Urstier tot war, ging aus dem Mark seines Leibes Samen in Mannigfaltigkeit aus, wie es heißt: Aus dem Marke kamen Schöpfungen verschiedener Art, denn im Marke liegt alles verborgen. Aus den Hörnern des Stiers wuchsen die Früchte, aus seiner Nase die Laucharten, aus seinem Blute die Trauben, aus denen der Wein gekeltert wird, 149welcher das Blut vermehrt. Aus seiner Brust keimte Espand[208], welches gegen Fäulnis und Hauptkrankheiten dient.
Als der Same des Stiers im Mondhimmel gereinigt worden war, wurden aus ihm verschiedene Tiergattungen gebildet, zuerst zwei Stiere männlichen und weiblichen Geschlechts. Darauf setzte Ahuramazdâ von jedem Tierpaare eines auf die Erde, welche sich in Iran-vedj vermehrten und einen Hesar von drei Farsangs mit mit ihren Jungen anfüllten.[209] Diese Tiere blieben tausend Tage und tausend Nächte ohne Nahrung, danach tranken sie Wasser und nährten sich von den Bäumen.
Aus dem Stierpaar wurden zuerst Ziegen und Schafe, dann Kameel und Rindvieh und endlich Pferd und Esel geschaffen. Diese wurden zuerst und zum Gebrauch der Reinen erzeugt. In zweiter Linie schuf Ahuramazdâ Soweje[210], dessen Lauf schnell ist, und den Hirsch, Tiere, die keine Hand zähmt. Drittens schuf Ahuramazdâ die Wassertiere.
Diese Tiere teilte Ahuramazdâ in fünf Gattungen: in solche mit gespaltenem Huf zum Gebrauch der Reinen, in Tiere mit ungespaltenem Huf, in Tiere mit fünf Klauen, in Vögel und Fische. – Im Bun-Dehesch werden die Säugetiere in 282, die Vögel und Fische in je zehn Arten geteilt.
Es ist auch von einem mystischen Hund Sura am Himmel nach der Seite des Gestirns Haftorang zu die Rede, den Ahuramazdâ zur Wache über die Menschen und zum Schutz der Tiere schuf. Wenn Menschen und Tiere zusammenkommen, ist er in der Welt und bewacht sie. Er ist es, welcher durch die Hilfe des Arduisurwassers aus einem Menschen eine unzählige Menge hat entstehen lassen. Sein Haar ist ihm Kleid, und er wacht mit Thätigkeit und Größe.
Der lebendige Sa (Wolf) ist vom Haupte der bösen Geister geschaffen und richtet unter den Herden viel Unheil an. In Abwesenheit des Hundes vermehrt er die Furcht.
Ahuramazdâ sagt: Ich habe den Vogel Varescha in großer Anzahl wider das Böse in der Welt geschaffen und besonders wider 150den, der – durch das Gesetz erleuchtet – häufig die Werke Angrômainyus thut. Ich habe ihn geschaffen, damit die Wünsche des Menschen Darvand nicht erfüllet werden. Du wirst dich nicht sättigen können, wenn du den Wasservogel schlägst. Ohne den Vogel Varescha würde Angrômainyus Darvand alle Arten von Übeln über die Körper verhängen; die Welt würde nicht bestehen können.[211]
Der Hund Sura vervielfältigt alle Tierarten, und Angrômainyus zerrüttet eines wie das andere, daß zuletzt nur eines übrig bleibt.
Nach dem Tode Kaiomorts wurde dessen Same durch das Licht der Sonne gereinigt, und nach Ablauf von vierzig Jahren ging eine Reivaspflanze aus der Erde hervor, die wie ein Baum aufwuchs fünfzehn Jahre mit fünfzehn Sprößlingen. Dieser Baum ist wie zwei nebeneinander gestellte Körper, da einer dem andern die Hand ans Ohr hält und beide – so miteinander vereinigt – gleichsam ein Leib sind.[212] – Sie waren so genau miteinander verbunden, daß man weder männliches noch weibliches voneinander unterscheiden, noch sehen konnte, ob Ahuramazdâ das männliche Glied zuerst erschaffen habe, wie gesagt wird in Hinsicht auf das Erstgeschaffene, ob es das Glied oder der Leib gewesen. Ahuramazdâ sagt davon, daß er zuerst die Hand und darauf den Körper gemacht und dann jenes Glied dem Körper angefügt habe; daß er dem Körper seine eigentümliche Wirkungskraft anerschaffen, um sein Werk zu thun und zu leben. Aber die Seele ist von ihm vor dem Körper erschaffen worden. Wie Körper und Seele aus Pflanzenwesen in Menschenwesen umgebildet waren, so bekam das Glied von Ahuramazdâ seine Stelle, und die Seele nahm ihre Wohnung im Körper.
Der Baum wuchs empor und trug zehn Menschenarten als Früchte.
Ahuramazdâ redete von Meschia und Meschiane. Der Mensch als Weltvater wurde. Der Himmel ward ihm bestimmt mit der Bedingung der Herzensdemut, Gehorsam gegen den Willen des Gesetzes, der Reinheit in Gedanken, der Reinheit in Reden, der 151Reinheit in Thun und Lassen, und daß er keine Dews anbete. Durch Beharren in diesem Geist sollten der Mann zum Glücke des Weibes und das Weib zum Glücke des Mannes leben. So waren auch im Anfang ihre Gedanken und ihre Werke. Sie nahten sich einander und hatten Gemeinschaft zusammen.
Anfangs sprachen sie: Ahuramazdâ ist es, von dem Wasser und Erde, Bäume und Tiere, Sterne, Sonne, Mond und alles Gute kommt, das reine Wurzel und reine Frucht hat. Darauf bemächtigte sich Angrômainyus ihrer Gedanken, verdarb ihre Seele und gab ihnen ein, er sei es, der Wasser und Erde, Bäume und Tiere und alles Gute geschaffen habe. Das glaubten sie, und so gelang es Angrômainyus, sie gleich anfangs zu betrügen durch Irrtümer in der Lehre von den Dews, und von Anfang bis zu Ende suchte der Grausame nichts als Betrug. Meschia und Meschiane wurden durch den Glauben an diese Lüge Darvands, und ihre Seelen müssen bis zur Neubelebung der Leiber im Duzakh verharren.
Meschia und Meschiane kleideten sich dreißig Tage lang schwarz; danach gingen sie auf die Jagd und fanden eine weiße Ziege, aus deren Zitzen sie die Milch sogen; die war ihnen liebliche Nahrung. Meschia und Meschiane sprachen: ich habe noch nichts so angenehmes genossen wie diese Milch, sie hat mich ungemein erquickt. Das war aber ein Übel für ihren Körper, denn dadurch sündigten sie gegen ihren Leib und wurden gestraft.
Angrômainyus, dessen Rede ganz Lüge ist, zeigte sich – durch jenen Betrug noch beherzter – ihnen zum zweiten Mal und gab ihnen Früchte, die sie aßen. Dadurch verloren sie die hundert Glückseligkeiten, die sie bisher genossen hatten, bis auf eine. Nach dreißig Tagen und dreißig Nächten kam ein fetter weißer Schöps zu ihnen, dem sie das linke Ohr abschnitten. Die himmlischen Izeds hatten sie gelehrt, Feuer aus dem Konarbaum zu ziehen, dessen Holz sie mit einem scharfen Eisen rieben. Beide legten das Feuer an den Baum und machten durch ihr Blasen, daß es in einer Flamme ausschlug. Zuerst brannten sie Holz von Konarbaum, darauf von Datteln und Myrten. Den Schöps brieten sie und teilten ihn dreifach, und von den zwei Teilen, die sie nicht aßen, wurde ein Teil durch den Vogel Kehrkas gen Himmel getragen.
Anfangs kleideten sie sich in Hundsfelle, denn Hundefleisch war ihre Speise, danach jagten sie fleißig und machten sich Kleider von den Fellen des Rotwilds.
Es steht auch geschrieben, daß Meschia und Meschiane eine Öffnung in die Erde machten. Darin fanden sie Eisen, woraus sie eine Axt fertigten, nachdem sie es mit Steinen geschärft hatten. Diese legten sie einem Baum an die Wurzel, hieben ihn ab und bauten sich eine Wohnung, ohne Gott zu danken. Dadurch bekamen die Dews große Gewalt über sie. Einer wurde der Feind des andern, einer entbrannte in Neid und Haß gegen den andern, einer lehnte sich gegen den andern auf, schlug und beschädigte ihn und erlitt ein Gleiches. Endlich schrie der Fürst der Dews aus seiner finstern Wohnung gewaltig: O, betet an, ihr Menschen, betet an die Dews! Der Dew des Neides und des Hasses setzte sich auf seinen Thron. Meschia nahte sich, zog Milch von seiner Kuh und goß sie nordwärts aus. Dadurch bekamen die Dews größere Macht, und Meschia und Meschiane wurden unfruchtbar. In fünfzig Jahren dachten sie an keine leibliche Vereinigung. Am Ende der fünfzig Jahre bekam Meschia zuerst Lust zur Zeugung und danach Meschiane. Meschia sprach zu Meschiane: Ich möchte deine Schlange sehen, denn die meinige erhebt sich mit Macht. Danach sprach Meschiane: O Bruder Meschia, ich sehe deine große Schlange, sie fährt auf wie ein leinen Tuch. Darauf sahen sie sich, und dieses Sehen ward ihnen verderblich, denn sie thatens mit Ausschweifung, indem jedes bei sich selbst dachte: schon seit fünfzig Jahren hätte ich das thun sollen. Nach neun Monaten wurden ihnen Zwillinge, ein Knäblein und ein Mägdlein, geboren. Von diesen geliebten Kindern pflegte die Mutter das eine und der Vater das andere. In der Folge nahm ihnen Ahuramazdâ diese Lieblinge ab und sorgte für ihre Erziehung; sie blieben auf der Erde. Meschia und Meschiane sahen noch sieben Paar Nachkommen männlichen und weiblichen Geschlechts von ihnen. Alle waren Brüder und Schwestern. Jedes Paar zeugte Kinder bis zum fünfzigsten Jahr und gegen das hundertste starb es. Unter diesen sieben Paaren waren Siamakh, der Mann, und Veschak, die Frau, welche wieder zwei Kinder beiderlei Geschlechts miteinander hatten, Frevak und Frevakein.
Von diesen wurden fünfzehn Paare Kinder geboren, von denen 153ein jedes die Eltern eines besonderen Volkes wurde, und auf welche alle Völker der Erde zurückgehen. – Dabei sei nebenbei bemerkt, daß im Bun-Dehesch monströse Menschen – ähnlich wie bei Berosus – angeführt werden, so Menschen mit einem Ohr, einem Auge, einem Haarschweif, einem Pferde- oder Hundskopf usw.
Von der Zeugung sagt das Gesetz, daß eine Frau, nachdem sie vom Daschtan[213] gekommen ist, innerhalb zehn Tagen und zehn Nächten nach ihrer Empfängnis schwanger wird. Der Beginn ihrer Schwangerschaft ist das Ende ihrer Periode. Ist der Same des Mannes kräftiger, so wird ein Knabe geboren, ist es der weibliche Same, ein Mädchen. Hat der Same von Mann und Frau gleichviel Kraft und Geist, so wird die Geburt zwei- und dreifach. Tritt der Samen des Mannes zuerst aus, so wird die Frau Mutter; quillt aber der weibliche Samen zuerst, so ist es bloßes Blut, und sie hat Ungemach davon.
Der Samen des Weibes ist blutähnlich und kommt aus der Seite als eine weißlich-rot-gelbe Flüssigkeit. Der feurige und trockene Samen des Mannes quillt aus dem Haupt und Marke, ist flüssig, weiß, stark und in Menge ausschießend. Sobald der weibliche Samen in die Mutter dringt, ist er wirksam; der männliche bedeckt ihn und erfüllt die Mutter; aller nachmalige geht in die Adern der Mutter und wird zu Blut, und nach der Geburt wird er zu Milch, der Nahrung des Kindes, denn alle Muttermilch kommt vom männlichen Keime.
Vier Dinge sind Mutter. Himmel, Metalle, Wind und Feuer sind zeugende Väter und werden nie etwas anderes; aber Wasser, Erde, Bäume und Mond sind weiblich ohne alle Verwandlung. Alles übrige ist männlich und weiblich.
Das Gesetz spricht von fünf Arten Feuer: vom Feuer Berezesengh in Ahuramazdâ und den Königen; von Voh freiann in den Menschen und Tieren; von Oruazescht in den Tieren und Gewächsen; von Vazescht, dem Feuer des Blitzes und dem Feuer des Beehenescht, welches den Bedürfnissen des Menschen dient und aus dem das heilige Feuer Behram zubereitet wird. Das Behramfeuer stammt aus der reinsten Lichtmaterie aller Feuer.
Nachdem der Menschenkörper im Mutterleib gebildet ist, kommt die Seele vom Himmel herab und belebt ihn. So lange er durch sie lebt und sich bewegt, begleitet sie ihn unablässig. Wenn der Mensch stirbt, wird sein Leib Staub, und die Seele kehrt in den Himmel zurück.
Im Bun-Dehesch folgt nun eine Art mystischer Zoologie, worin namentlich dargestellt ist, welche Tiergattungen gegen gewisse Dämonen schützen, eine Anschauung, welche sich bekanntlich bis in das Mittelalter fortspinnt. Aus den diesbezüglichen Anführungen des Bun-Dehesch will ich nur folgende, als bei den Juden, den Neuplatonikern und im Mittelalter noch besonders in Ansehen stehend mitteilen, obschon die Erinnerung an die Quelle dieser Anschauung verloren gegangen war:
Der Hahn ist den Dews und Zauberern feind. Er unterstützt den Hund, wie im Gesetz steht: Unter den die Druschts plagenden Geschöpfen vereinigen der Hahn und der Hund ihre Kräfte. – Das Gesetz sagt: wenn der Hund und der Hahn gegen Druscht streiten, so entkräften sie ihn, der sonst Menschen und Vieh peinigt. Daher heißt es: Durch ihn werden alle Feinde des Guten überwunden; seine Stimme zerstört das Böse. Der Hund verlangt vom Menschen nichts als Fleisch und Fett; ihm es geben, ist Quelle der Gesundheit, die Ahuramazdâ schenkt. Nichts Schädliches darf ihm gegeben werden. Wer ihm – auch unbewußt – etwas Faules giebt, der muß von den Desturs, welche die fünf nötigen Eigenschaften haben, gestraft werden. Nährt man ihn aber mit dem, was vorgeschrieben ist, so macht man alle Dews zu Schanden.
In der deutschen Volkssage spielt bekanntlich ein dreibeiniger gespenstiger Schimmel eine bedeutende Rolle, während im Bun-Dehesch von einem ähnlichen dreibeinigen weißen Esel die Rede ist. Offenbar walten hier uralte Reminiscenzen arischer Völker ob, deren Sinn verloren gegangen ist.
Vom Wasser wird im Bun-Dehesch allerlei Mystisches berichtet: Das erste Wasser ist das der Pflanzen; das zweite, das aus den Bergen quillt und Quellen bildet; das dritte Wasser ist der Regen; das vierte das in Brunnen gegrabene; das fünfte der menschliche und tierische Samen; das sechste der Schweiß; das siebente das Rückenmark; das achte der Urin; das neunte der Speichel; das 155zehnte das menschliche und tierische Fett; das elfte der menschliche und tierische Lebenssaft; das zwölfte der von unten aufsteigende Baumsaft, von welchem es heißt: Der Saft in den Bäumen gleicht Wassertropfen, die ausquellen, wenn man den Baum nahe an das Feuer legt. Das dreizehnte Wasser endlich ist die Milch der Tiere und Menschen.
Wenn alle diese Dinge ein Nefa[214] berührt oder wenn ein aus dem Wasser gezogener Leichnam oder ein Stück davon sich wieder mit dem Wasser der Ruds vermischt, alsdann sind, wie geschrieben steht, die drei Ruds: Arg, Muru und Itmand, sie die himmlischen, mit Unreinheit geschlagen; ihr Fluß tränkt die Welt nicht mehr; und wenn eine Frau nach unzeitiger Geburt aus dem besondern Ort ihrer Entfernung dieses Wasser anschauet, so zeigt sich in diesen Fällen das Wirken des Menschenfeindes.[215] Aber Zoroaster hat auch dafür gesorgt, denn Ahuramazdâ spricht: Ich gebe euch das sechste Wasser Zur. Wen ihr damit begießt, der gelangt zur ersten Reinheit. Von diesem Wasser heißt es: Wenn wenig Her[216] und viel Zur ist, so kommt das Wasser in drei Jahren wieder zur Quelle; sind Her und Zur gleich, so geschieht es in sechs Jahren; ist aber mehr Her als Zur, so bedarf es neun Jahre, und dann kehrt es zurück, um den Bäumen Glanz zu geben.
Es folgt im Bun-Dehesch wieder eine längere naturgeschichtlich-mystische Exkursion, aus welcher ich nur hervorheben will, daß die Affen als eine Art Dews betrachtet werden, erzeugt aus der Ehe der Schwester Djemschids mit einem Dew. Bekanntlich hält noch Luther in seinen Tischreden die Affen für Teufel.
Hinsichtlich der Chronologie will ich nur folgende Stellen des Bun-Dehesch anführen.
Es heißt, daß im Jahr, durch der Monate Lauf Wärme und Kälte und Kälte und Wärme sich innerhalb sechzig Tagen zweimal miteinander vereinigen. Die Monate Farvardin, Ardibehescht, Chordad 156machen Frühling; Tir, Amerdad, Schahriver Sommer, Meher, Avan, Ader Herbst und Din, Bahman und Sapandomad sind Wintermonate. Die Sonne vollendet vom Kordeh Vareh (Widder), bis sie wieder an diesen Ort kommt, in ihrem Lauf 365 Tage und fünf kleine Zeitteile. Das macht ein Jahr. Alsdann kehrt sie dahin, woher sie gekommen ist. In drei Monaten durchläuft sie drei Himmelszeichen mehr oder minder sichtbar und kehrt wieder zurück.
Alle Zeit vollendet sich in zwölf Jahrtausenden. Im Gesetz steht, daß das Himmelsvolk in den ersten drei Jahrtausenden allein war, daß damals das Heer des Feindes nicht in die Welt ausstreifte. Kaiomorts und der Stier machen bis zur Erscheinung der Welt drei andere Jahrtausende. Das sind also sechs Jahrtausende. Diese Tausende Gottes bilden sich ab in den sechs ersten himmlischen Zeichen: Lamm, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Kornähre. Diese begreifen die sechs Jahrtausende Gottes.
Nach den Tausenden Gottes kam die Wage. Angrômainyus lief aus in die Welt.
Nach der Zeitrechnung des Bun-Dehesch würde die Gegenwart unter dem Zeichen des Steinbocks stehen.
Ich will bemerken, daß die Verteilung der Zeit unter die Himmelszeichen und Planeten auf die ganze Astrologie nachwirkte.
Noch sei erwähnt, daß auch im Bun-Dehesch die biblische Anschauung von einem paradiesischen unschuldigen Urzustand der Natur vertreten ist. Es heißt:
„Vor des Feindes Ankunft in der Welt hatten die Bäume weder Dornen noch Rinde. Seit Angrômainyus Peetiaré, der sich in alles, was ist, mischte, tragen sie Stachel und Rinde. Am stärksten wirkte seine Macht auf die Gewächse, denn ihre Schädlichkeit übertrifft alles andere Übel; ihr Giftsaft tötet durch seinen Genuß Menschen und Tiere.“
Von den Druschts heißt es: Dew Tarmat ist der Dew des Hochmuts. Dew Medokht ist Angrômainyus. Dew Areschk ist Urheber des Neids. Der mächtigste dieses argen Volkes ist Dew Eschem, wie geschrieben steht. Sieben Kräfte werden Eschem gegeben zur Zerrüttung der lebendigen Geschöpfe. Durch seine siebenfachen Kräfte schlug er zu seiner Zeit die Keans, lebendige Bewohner 157der sieben Keschvars. Ein einziger Keschvar kämpfte gegen ihn, Medokht kam dahin, und Areschk ward darüber froh. Eschem kehrte alles um. Eschem eroberte eine Gegend, woselbst er viele Geschöpfe zerrüttete und in großer Zahl zu Grund richtete. Eschem ist es eigentlich, der gegen das von Ahuramazdâ geschützte Volk feindselig handelt. Die Keans, Geschöpfe des Lebens, wurden durch die Bosheit Eschems gedrückt, wie es heißt: Eschem Khruidrosch schuf Dew Odjescht, der Tag und Nacht frißt in der Welt und der Toten Seelen mit Furcht quält, ihnen Schrecken einflößt und vor dem Höllenthor sich aufhält. Er schuf Dew Ode, der den Menschen, er sitze am Orte der Aufmerksamkeit oder speise an einem himmlischen Ort, auf die Schulter schlägt und ihm zuredet, Unreines zu essen, damit er nicht zu den reinen Wohnungen der Seligkeit (Behescht) gelangen möge.
Von der Auferstehung der Toten und Wiederherstellung der Leiber berichtet das Gesetz, daß so, wie Meschia und Meschiane, Erdengezeugte, zuerst von bloßem Wassertrinken lebten, nachmals festere Nahrung, Baumfrüchte, genossen, dann Milch und endlich Fleisch, so in umgekehrter Ordnung die Menschen, welche durch die ganze Zeitdauer von ihnen abstammen, zuerst Fleisch, dann Milch und Brot zur Nahrung machen werden, bis sie wieder dahin gebracht sind, daß sie von nichts als Wasser leben.
Im Jahrtausend Oscheder mah wird noch Kraft in der Natur sein, aber abnehmen. Die Menschen werden nur in je drei Tagen ein Izeschné[217] vollenden, eines wie das andere essen und sich am Ende der Tage erkennen. Darauf werden sie nicht mehr Fleisch essen, sondern Baumfrüchte und Milch wird ihre Nahrung sein. Dann werden sie auch nicht mehr Milch genießen, sondern blos von Gewächsen leben und Wasser trinken. Im letzten Jahr der Erscheinung des Sosiosch wird der Mensch ohne alle Nahrung leben.
Danach wird Sosiosch die Toten beleben, wie geschrieben steht: Zoroaster fragte Ahuramazdâ und sprach: Der Wind führt den Staub der Körper fort, Wasser nimmt ihn mit sich; wie soll der Tote auferstehen? Ahuramazdâ antwortete: Ich bin es, der den allweiten sternreichen Asman (Himmel) im Raum des Äthers hält; 158der macht, daß er – hier zeigte er auf das Antlitz des Himmels – in Tiefen und Weiten Licht, das einst in Nacht begraben war, ausstrahlen muß. Durch mich ist die Erde geworden zur Dauer und Bestand, die Erde, darauf der Herr der Welt wandelt. Ich bin es, der den Glanz der Sonne, des Monds und der Sterne durch die Wolken leuchten läßt. Ich bin der Schöpfer des Samenkorns, das nach der Verwesung in der Erde von neuem keimt und sich vermehrt ins Unendliche. Ich bin es, der den Bäumen Adern des Saftes und Wurzeln mancherlei Art geschaffen. Durch meine Kraft lebt in den Bäumen und allen Geschöpfen ein Feuer, das nicht verzehrt. Ich bin es, der die lebendige Frucht in die Mutter legt nach ihrer Art, der allen Wesen besonders giebt Haut, Nägel, Blut, Fuß, Auge, Ohr. Ich bin es, der Wasser in den Tiefen schafft und in den Höhen, damit die Welt getränkt werde durch Flüsse und Regen. Ich bin es, der den Menschen macht, dessen Auge Licht ist, dessen Lebenskraft im Hauche des Mundes liegt; will er sich heben durch die unsichtbare Kraft des Lebens, das ich in ihn gelegt, so kann kein Arm ihn niederdrücken. Ich bin Schöpfer aller Wesen. Trete der Arge auf und versuche die Auferweckung; er wird sie umsonst versuchen und keinen Leichnam beleben können. Sicher und gewiß sollen deine Augen einst durch die Auferstehung neu leben sehen. Gerippe sollen Sehnen und Adern bekommen. Und ist die Belebung der Toten vollendet, so wird sie kein zweites Mal erfolgen. Denn um diese Zeit wird die verklärte Erde Gebeine und Wasser, Blut und Pflanzen, Haar und Feuer und Leben geben wie beim Beginn der Dinge.
Kaiomorts wird der Erstling der Auferstehung sein und Meschia und Meschiane nach ihm; nach diesen wird das übrige Menschengeschlecht Leben bekommen. Der Mensch soll wieder auf Erden sichtbar werden. Rein oder Darvand, jeder Mensch soll nach dieser Ordnung neu leben. Ihre Seelen sollen erst sein; alsdann sollen alle Leichname der ganzen Welt, so weit sie ist, ganz so neu werden wie beim Anbeginn der Schöpfung. Ein Lichtstrahl der Sonne wird Kaiomorts Licht und Glanz geben, ein anderer der übrigen Menschenmenge. Jede Seele wird die Leiber erkennen: Siehe, mein Vater! meine Mutter! mein Bruder! mein Weib! meine Freunde und Verwandten! Alsdann werden die Wesen aller Welt 159mit dem Menschen auf Erden versammelt sein. In dieser Versammlung wird jeder sein Gutes und Böses, das er gethan hat, sehen. In dieser Versammlung wird der Darvand sein wie ein weißes Tier unter den schwarzen. In dieser Weltversammlung wird der Darvand den Gerechten, dessen Freund er hier war, besonders an sich ziehen und sagen: Ach, warum hast du mich doch auf Erden, da ich doch dein Freund war, nicht gelehrt, mit Reinheit zu handeln. Du, o Reiner, hast mich nicht zum Guten geleitet, und darum bin ich unter diesen Seligen!
Danach wird eine Scheidung sein zwischen den Gerechten und Darvands. Die Gerechten werden in Gorotman eingehen, und alle Darvands werden von neuem in den Abgrund gestürzt werden. Drei Tage und drei Nächte hindurch müssen Leib und Seele büßen, unterdessen der Gerechte in der Himmelswohnung die Lieblichkeiten der Seligen mit Leib und Seele schmecken wird, denn so steht geschrieben. Am Tage der Scheidung des Reinen von Allem, was Darvand ist, wird jeder Befleckte in die Tiefe sinken.
Dann wird der Vater von seinen Geliebten, die Schwester vom Bruder, der Freund vom Freund geschieden sein. Jeder wird nehmen nach seinen Werken. Unbefleckte werden weinen über die Darvands, und die Darvands über sich selbst. Von zwei Schwestern wird die eine rein sein, die andere Darvand. Zohak und Afrasiab aus Turan und ihnen Ähnliche werden die Strafe der Sünde Marguerzan (Tod) erleiden. Die Menschen werden jener Läuterung von drei Tagen und drei Nächten nicht entrinnen.
Beim Beginn dieser Auferstehung werden von den noch lebenden Reinen fünfzig männlichen und fünfzig weiblichen Geschlechts dem Sosiosch zu Hilfe kommen.
Wenn einst Gurzscher[218] vom sublunarischen Himmel auf die Erde stürzen wird, so wird die Erde krank sein gleich dem Schaf, das mit Zittern und Zagen vor dem Wolf niederfällt. Alsdann werden durch des Feuers Hitze große und kleine Berge mit Metallen zerfließen. Das geschmolzene Erz bildet einen großen Strom, und alles, was Mensch heißt, muß hindurch zur Reinigung. Der 160Reine durchgeht ihn wie einen warmen Milchfluß. Die Darvands müssen auch hindurch, sie fühlen sich dazu gezwungen, und so muß die ganze Welt den geschmolzenen Erzstrom durchgehen, damit sie rein und glücklich werde, Vater, Sohn, Schwester, Freund, Einer wie der Andere, und Einer mit dem Andern werden Gutes thun.
Wenn nun die Seelen, es sei der Gerechten oder Darvands, sprach Zoroaster, über die ich deinen Unterricht gesucht habe, so gereinigt worden sind, was wird dann weiter aus dem Menschen, sowohl der Seele als dem Leibe nach, werden? Ahuramazdâ sprach: Alle Menschen werden sich zu einem Werk vereinigen und werden Ahuramazdâ und den Amschaspands mit lebendigem Eifer ein großes Setaesch[219] bringen. Wenn nun um diese Zeit alle Schöpfungen Ahuramazdâs vollendet sein werden, wird er nichts mehr hinzuthun. Die Neubelebten werden dem Knechtsdienst entrissen sein. Sosiosch wird mit allen belebten Toten lobpreisen, und der Stier Hedeiavesch wird einstimmen.
Die Toten werden leben durch das, was vom Stier ausgeht und dem weißen Hom. Sosiosch wird allen Menschen von diesen Säften zu trinken geben, und sie werden groß und unvergeßlich sein, so lange Wesen dauern. Alle Tote, groß und klein, werden davon trinken und neu leben.
Endlich wird Sosiosch auf Befehl des gerechten Richters Ahuramazdâ von einem erhabenen Ort aus allen Menschen geben, was ihre Thaten wert sind. Der Reinen Wohnung wird der glänzende Gorotman sein, Ahuramazdâ selbst wird ihre Körper zu sich in Gorotmans Höhen ziehen, und sie werden alle Ewigkeiten hindurch unter seinem Schutze wandeln.
Dann werden Ahuramazdâ und Angrômainyus, Bahman und Akuman, Ardibehescht und Ander, Schahriver und Savel, Sapandomad und Darmad, Naonghes, Kordad, Amerdad, Tarik und Zaretch, Serosch und Eschem vereinigt Izeschné anstimmen.
Alsdann wird Druscht Angrômainyus bleiben und in Ahuramazdâs Welt zurückkehren. Er selbst, Djuti[220] und Serosch und Raspi[221] werden den Evanguin[222] in der Hand führen. Alsdann 161wird Angrômainyus, des Argen, Macht, die nichts als Böses thut, geschlagen sein. Er wird vom Himmel zur Brücke Tschinvad eilen und sich von neuem in die dichte Finsternis stürzen. Dieser Morddrache wird in dem Flusse geschmolzenen Erzes ausbrennen: Alles Faule und Unreine des Duzakh wird darin aufgelöst und geläutert werden. Der unterirdische Angrômainyus wird von neuem erscheinen, des Abgrunds Erde durch den Erzstrom ziehen und sie zum fruchtreichsten Land machen. Auch wird die Welt durch das Wort bei der Auferstehung ewige Dauer bekommen.
Wie bereits gesagt, galt – wenn auch durchaus irrtümlicher Weise – im ganzen Altertum Zoroaster als der Erfinder und größte Adept der Magie. Deshalb standen auch bei den Magiern und Theurgen, Neuplatonikern und Gnostikern ihm zugeschriebene Aphorismen, die sogenannten Oracula magica Zoroastris, im höchsten Ansehen.
Läßt sich nun auch ein Zusammenhang dieser Orakel mit der Person Zoroasters nicht nachweisen, so vertreten sie doch entschieden zoroastrische Ideen, obschon dieselben neuplatonisch und gnostisch überfirnißt erscheinen. Uralt sind sie gewiß; und wenn der um 220 gestorbene Kirchenvater Clemens von Alexandria in seinen „Stromata“ sagt: „Pythagoras machte zuerst auf den berühmten persischen Magier Zoroaster aufmerksam, dessen Geheimschriften die Anhänger des Prodicus zu besitzen vorgaben“, so haben wir in dem den „magischen Orakeln Zoroasters“ zu Grund liegenden Original vielleicht eine solche Geheimschrift zu sehen, welche – von den alten Pythagoräern wollen wir ganz absehen – zweifelsohne den Neupythagoräern, Neuplatonikern und Gnostikern bekannt war. Dafür spricht außer dem sachlichen Inhalt auch der Umstand, daß sie von dem gelehrten Byzantiner Michael Psellos († 1106) kommentiert wurden, von demselben Psellos, der so viele neuplatonische Schriften dem Untergang entriß und mit Commentaren versah. Auch ist sie den von Marsilius Ficinus mitgeteilten „Symbolen des Pythagoras“ sehr ähnlich.
Ich habe von dem den magischen Orakeln zu Grund liegenden Original gesprochen und zwar mit Recht, denn die uns heute 163unter diesem Namen vorliegenden Aphorismen sind ganz offenbar nicht das Original, sondern Fragmente, welche sich in vier verschiedenen Fassungen mit eben soviel Kommentaren erhalten haben. Drei Fassungen tragen neuplatonisches, die vierte anscheinend gnostisches Gepräge.
Ich wende mich zuerst zu den neuplatonischen Bearbeitungen samt ihren Kommentaren. Der erste Commentator der Orakel ist der oben genannte Psellos, der zweite ist der als Rat des Manuel und Theodor Paläologos und berühmter Philosoph der Renaissance bekannte, wahrscheinlich 1452 gestorbene Georgios Gemistios Plethon, der dritte, aber der hier beobachteten Reihenfolge nach der erste, ist ungenannt. Ich vermute in diesem unbekannten Kommentator einen gewissen Johannes Opsopoeus, welcher diese mystischen Fragmente mit den Kommentaren des Psellos und Plethon unter dem Titel herausgab: Oracula magica Zoroastris cum scholiis unter Plethonis et Pselli nunc primum edita, e bibliotheca regia stud. Joh. Opsopoei, Graec. et Lat. Paris. 1607. 8°. Beigebunden sind noch die sogenannten metrischen Orakel des Jupiter, Apollo, Serapis und der Hekate, sowie die von Joseph Scaliger besorgte Ausgabe der Oneirokritik des Astrampsychus.
Opsopoeus schickt seiner Zusammenstellung der drei verschiedenen Redaktionen der zoroastrischen Fragmente eine Sammlung von Stellen aus Platos „Alcibiades“, aus Plutarchs „Isis und Osiris“, „Über den Verfall der Orakel“, aus Plinius „Naturgeschichte“, aus Suidas Ammianus Marcellinus, Clemens von Alexandria und Eusebius über die Person &c. Zoroasters voraus, welche wir hier übergehen können. Darauf läßt er die erste Fassung der „Orakel“ mit dem Kommentar des Ungenannten, alsdann die Fassung und den Kommentar des Psellos folgen. An denselben giebt er eine kurze Erläuterung der chaldäischen[223] Religionslehren durch Psellos, aus welcher ich nur herausheben will, daß Psellos sagt:
„Die Chaldäer nehmen sieben Welten an, eine feurige, drei ätherische und drei materielle, deren letzte die unter dem Mond befindliche irdische ist.“
Weiterhin sagt Psellos noch, daß nach chaldäischer Lehre die Seelen sich nach dem Tode nach Maßgabe ihres Läuterungsbedürfnisses zerstreuten und sich in teilbare und unteilbare Naturen absonderten. Das Übrige dieses Abschnittes über die chaldäischen Lehren enthält nichts als bekannte exoterische Äußerlichkeiten. Den Schluß des Buches von Opsopoeus bilden die zoroastrischen Orakel in der Fassung, wie sie Plethon kannte, mit dem Kommentar des selben. – Am meisten gleichen sich die erste Fassung der Orakel und die des Plethon; die Fassung des Psellos weicht erheblich ab.
Ich gebe nun eine vergleichende Zusammenstellung der Orakel sowohl als der Kommentare.
Der erste Aphorismus in der ersten Fassung lautet:
„Erforsche den Weg der Seele, woher sie komme und weshalb sie dem Leib dienen müsse. Trachte dahin, daß du sie an den Ort zurückbringst, von dem sie ausgegangen ist.“
Dieser Aphorismus fehlt bei Psellos und lautet in dieser Fassung des Plethon:
„Erforsche die Reihenstufe, auf welcher deine Seele steht, welchen Rang sie vor ihrer Verbindung eingenommen; mittelst magischer Worte und Gebräuche wirst du sie zu ihrer früheren Würde wieder aufrichten.“
Der anonyme Kommentator bemerkt hierzu, daß nach Annahme der Magier die Seele unsterblich vom Himmel herabkomme, um sich auf der Erde mit dem Körper analog dem Verhältnis des Mannes zur Frau zu verbinden und ihn dereinst wieder behufs ihrer Rückkehr in den Himmel zu verlassen. Ob sie aber thatsächlich in den Himmel zurückkehre, komme auf ihr Verhalten während des irdischen Lebens an, ob sie sich nämlich mehr den Prinzipien des Lichts oder der Finsternis zugeneigt habe &c. „Darauf deutet nun ermahnend der Spruch hin, daß wir über den reinen Spruch der Seele nachdenken sollen; denn kennen wir den Weg, welchen sie aus dem Himmel genommen hat, so wird sie ihn auch zurückfinden.“ – Bestimmter spricht sich Plethon aus:
„Die Magier aus der Schule Zoroasters glaubten, daß die Seele wegen früherer Verschuldung mit dem Körper sich verbinde, sich aber derselben in dieser Verbindung nicht mehr entsinnen könne. Nur wenn die Seele während ihres irdischen Aufenthaltes 165einen tugendhaften Wandel geführt habe, stehe ihr die Rückkehr in die himmlische Heimat frei. Weil aber mannigfache Wohnungen der Seele bereitet sind, so ist es natürlich und begreiflich, daß der Aufenthalt der einen ein lichtumflossener, der der andern ein undurchdringliches Dunkel sein muß. Der Zug der Seele führt sie dahin, wo ihr die während der Verbindung mit dem Leibe begangenen Handlungen eine Stelle anweisen. Das Orakel ermahnt uns daher, daß wir über den Ursprung der Seele und über unsere Handlungen auf Erden nachdenken und darauf durch Gebet und gottgefällige Ceremonien ihre Erhebung in den Himmel zu bewirken trachten.“
Unter diesen Ceremonien sind die sogenannten „theurgischen Hülfen“ zu verstehen, welche nach Philo und den Neuplatonikern, wie überhaupt nach den Mystikern aller Zeiten in der Zurückgezogenheit von der Welt und Stille, in der Enthaltsamkeit von überflüssiger Nahrung, Fleischspeisen, alkoholischen Getränken und physischer Liebe, in der Zurücksetzung weltlicher Geschäfte, Meditation und Betrachtung gewisser Worte und Symbole bestehen. Von diesen sagt Proklos[224]:
„Die Vollbringung geheimer, über alle Vernunft gehender, den Göttern wohlgefälliger Handlungen und die Kraft der von den Göttern allein erkannten unaussprechlichen Symbolen gewährt nur die theurgische Vereinigung. Daher wird sie nicht durch das Denken bewirkt, und wir bringen sie nicht durch die Thätigkeit der Vernunft in uns hervor. Die göttlichen Charaktere oder Symbole (συμβολα oder συνϑηματα) bringen vielmehr, ohne daß wir denken, die theurgische Vereinigung (ϑεουγικην ἑνωσις, bei Porphyrius συνουσια) hervor, also daß die verborgene Kraft der Götter, worauf sich jene beziehen, durch sich selbst ihre eigenthümlichen Bilder erkennt.“[225]
Der zweite sich dem Sinn nach völlig an den ersten anschließende Aphorismus lautet in der ersten Fassung:
„Wende dich nicht rückwärts! Das Verderben ist auf der 166Erde, und sieben Wege sind es, welche dich vom Bessern abziehen und dem Schicksal unterwerfen.“
Dieser Aphorismus fehlt bei Psellos und lautet in der Fassung des Plethon:
„Damit du nicht zum Abgrund hinneigst und abermals dem Schicksal verfällst.“
Der anonyme Kommentator versteht unter dem „Verderben“ das Laster, die sittliche Verdorbenheit und das sittliche Elend; unter Erde den irdischen Leib, die sinnliche Natur, unter „Feuer“ das Göttliche im Menschen. Die sieben den Menschen dem Schicksal unterwerfenden Wege sind die sieben nach der alten Weltanschauung von den Planeten abhängigen Kardinalfehler, die Todsünden der katholischen Kirche. Nach diesem Kommentator erhebt sich der Mensch durch die Anwendung seiner sittlichen Kraft über das Fatum oder die vorher bestimmte Versuchung, indem er der unsittlichen Neigung, welche sich, je nach dem in ihm herrschenden Temperamente, seiner Seele am meisten zu bemächtigen droht, den kräftigsten Widerstand entgegensetzt.
Plethon versteht unter dem „Abgrund“ die Erde als Gegensatz zur Lichtwelt und giebt dem Aphorismus folgenden Sinn: „Lebe so, daß du vor der Wiederverkörperung behütet werdest, denn solltest du zu einem abermaligen Wandeln auf der Erde verurteilt werden, so befindest du dich wieder unter der Herrschaft der Nothwendigkeit.“
Der dritte Aphorismus lautet in der ersten Fassung und bei Plethon übereinstimmend:
„Dein Gefäß werden die Thiere der Erde bewohnen“ und beide Kommentatoren verstehen einstimmig unter dem „Gefäß der Seele“ den Leib, und unter seinen Bewohnern die Würmer. Psellos dagegen, in dessen Fassung dieser Aphorismus der Reihenfolge nach der neunzehnte ist, versteht unter „Gefäß“ das Temperament des aus allen Elementen zusammengesetzten Leibes, und unter den Bewohnern des Gefäßes die sich eines jeden Menschen, der seine Leidenschaften nicht beherrschen kann, sich bemächtigenden Dämonen nach dem Grundsatz, daß Gleiches von Gleichem angezogen wird.
Der vierte Aphorismus lautet in der ersten Fassung:
„Strebe nicht dein Schicksal zu erweitern, denn die Vorsehung 167giebt allen Dingen ihr bestimmtes Maaß, und ihre Handlungen sind nicht unvollkommen.“
Bei Plethon und Psellos (bei letzterem Aph. 29):
„Erweitere nicht dein Schicksal.“
Der anonyme Kommentator erklärt diesen Aphorismus allgemein moralisierend und sagt, daß diese Mahnung diejenigen angehe, welche mit der ihnen im Leben angewiesenen Stellung unzufrieden seien und wähnen, daß sie selber ihr Schicksal machen und die Beschlüsse der Gottheit verbessern könnten. Psellos und Plethon fassen das Schicksal (εἱμαρμενη, fatum, des Grundtextes) im landläufigen Sinn auf und sagen, es sei thöricht, durch Wünsche und Gebete die unabwendbaren Beschlüsse der Gottheit abändern zu wollen.
Die zweite Hälfte des vierten Aphorismus der ersten Fassung bildet in der Reihenfolge Plethons den fünften und lautet hier:
„Denn es geht nichts Unvollkommenes vom Vater der Seelen aus.“
Der Kommentar dazu sagt:
„Du bist nicht im Stande, dein Erdenlos zu verbessern, denn alle Ereignisse geschehen nach naturgemäßem Lauf, und es ist eines die Folge des andern bis zum Zeitpunkt der Schöpfung zurück; alle Begebenheiten greifen harmonisch in einander, nirgends nimmt man einen Zufall wahr. Wo ist also Unvollkommenheit?“
Dieser wie der fünfte Aphorismus der ersten oder der sechste der Plethonischen Fassung fehlt bei Psellos. Bei dem fünften (sechsten) Aphorismus zeigt sich jedoch recht deutlich, daß die auf uns gekommenen Fassungen Varianten eines alten, verloren gegangenen Originals sind. Derselbe lautet in der ersten Fassung:
„Der Seelen Vater gestattet nicht solche Ausschweifungen des Eigenwillens;“
bei Plethon:
„Er kann nicht auf deine Wünsche achten, so lange die Binde der Vergessenheit deinen Blick umschleiert, bis endlich diese fallen wird, und das heilige Zeichen des Vaters sich deinem Gedächtniß einprägt.“
Was bei Plethon Text ist, wird in der ersten Fassung ähnlich im Kommentar gesagt, denn daselbst heißt es:
„Erst dann wird unsere Seele sich freier bewegen, wenn sie 168die Binde der Vergessenheit ihrer himmlischen Heimath zugleich mit den Banden des sie umnachtenden Leibes abgestreift hat. Dann besitzt sie wieder das Vermögen, in die tiefste Vergangenheit und in die ernste Zukunft zu blicken. Aber es kann dieses Vermögen auch schon bei Lebzeiten des Leibes zum Theil erreicht werden, wenn man sich eines heiligen Wandels befleißigt und gewisse magische Sprüche erlernt hat, welche dem Reinen die Pforten der Geisterwelt öffnen.“
Plethon kommentiert:
„Die Vergessenheit der früheren Zustände (Incarnationen) ist eine Folge der Verbindung der Seele mit dem Leibe. Erst nach der Auflösung des letzteren wird ihr Blick wieder freier, und sie begreift nun auch, indem sie ihres früheren Seins wieder bewußt wird, daß ihr Schicksal auf der Erde nur die notwendige Folge ihrer Handlungen und deshalb unabänderlich war.[226] Die freigewordene Seele ist alsdann wieder gottähnlich und allwissend; das ist das Zeichen des Vaters, welches ihr Gedächtniß auffrischt.“
Der sechste Aphorismus der ersten Fassung ist bei Psellos der sechzehnte und bei Plethon der siebente. Sein Wortlaut in den drei Redaktionen ist der Reihenfolge nach:
1. „Eile, daß du zum Urlicht zurückkehrst, zum Glanze deines himmlischen Erzeugers, von dem deine Seele ausgeflossen ist.“
3. „Eile zum Licht des Vaters, von welchem deine Seele ausgeflossen ist.“
Der Anonymus und Plethon deuten diesen Spruch übereinstimmend dahin, daß die Gottheit das höchste Licht, und in diese Lichtheimat zurückzukehren das einzige Verlangen der Seele sein müsse. Psellos dagegen sagt etwas abweichend:
„Die Seele entwickelt drei Kräfte: Verstand, Gedächtniß und Urtheilskraft; diese drei Potenzen vereinige, um über das Wesen der Gottheit nachzudenken und sich mit dieser zu vereinigen.“
Bis hierher haben wir in der Aufeinanderfolge der Aphorismen 169einen gewissen Zusammenhang beobachten können. Jetzt aber folgt ein dem Sinn nach gar nicht verwandter Spruch, was auf einen verloren gegangenen Teil des den drei Bearbeitungen zu Grunde liegenden Originals deutet. Dieser in der ersten Fassung als siebenter folgende Aphorismus ist bei Psellos der achtundzwanzigste und bei Plethon der achte. Sein Wortlaut ist der Reihenfolge nach:
1. „Jene beweint die Erde sammt ihren Kindern.“
2. „Die Erde klagt fortwährend über sie und ihre Kinder.“
3. „Sie beweint die Erde und mit ihnen zugleich ihre Kinder.“
Plethon kommentiert diesen Spruch folgendermaßen:
„Diejenigen, welche dieser Mahnung nicht folgen, werden von der Erde beklagt. Unter der Erde ist aber hier die irdische Natur verstanden, welche eine Folge der Unvollkommenheit ist, denn das irdische Leben ist eine Strafe. Darum beweint die Erde auch die Kinder der Unvollkommenheit, denn die Eltern pflanzen ihre sündhaften Begierden auf die Kinder fort; die Tugendhaften befleißigen sich eines keuschen Wandels.“
Während also Plethon obigen Spruch mit Bezugnahme auf die Reincarnations- und Vererbungstheorie deutet, so kommentieren ihn der Anonymus und Psellos nur in Hinsicht auf die Wiederverkörperung. Ich kann ihre Aussprüche hier übergehen.
Der nächste Aphorismus, ebenfalls ohne Zusammenhang mit den übrigen, findet sich nur in der ersten Fassung und lautet:
„Die Ausklopfer der Seele, welche ihr aufzuathmen möglich machen, sind auflösender Art.“
Der Kommentar sagt:
„Unter den ‚Ausklopfern der Seele‘, welche hier unter dem Bilde eines Kleides eingeführt sind, werden die Vernunftgründe verstanden, welche, wenn sie Eingang in die Seele finden, den Staub der Leidenschaften und alle bösen Neigungen aus ihr heraustreiben. Ihre auflösende Art besteht darin, daß sie von den Schlacken reinigen, welche die Seele von ihrer Hülle, der unreinen Materie, an sich zieht.“
Ich bemerke hierzu, daß auch die Kabbala das Bild von den „Ausklopfern der Seele“ kennt, welche der Seele im Moment des Todes den letzten schweren „Grabschlag“ (Chibbut Hakkeber) erteilen. 170Da die Kabbala zum großen Teil im Zoroastrismus wurzelt, so ist diese Stelle ein Beweis für das hohe Alter unserer Aphorismen.
Der neunte auch zusammenhanglose Aphorismus, bei Psellos der zwölfte und bei Plethon ebenfalls der neunte lautet:
1. „Auf der linken Seite ist der Sitz der tugendhaften Begierden.“
2. „Der Tugend Quell ist auf der linken Seite der Hekate. Jungfräulichkeit bewahre.“
3. „Auf der linken Seite ist der Tugend Quell, bewahre die Jungfräulichkeit.“
Alle drei Kommentatoren betrachten diesen Spruch als Keuschheitsgebot und sagen, daß die linke Seite als Sitz der Tugend betrachtet werde, weil auf ihr das Herz liege; die rechte Seite sei wegen Anwesenheit der Leber der Sitz der Begierden.
Der zehnte Aphorismus der ersten Fassung findet sich in allen drei Bearbeitungen, er ist bei Psellos der fünfzehnte und bei Plethon ebenfalls der zehnte und hat der Reihe nach folgenden Wortlaut:
1. „Die Seele strebe danach, sich mit dem Göttlichen zu verbinden. Hat sie sich dadurch von den Einflüssen der Materie frei gemacht, so wird sie von Gott durchdrungen sein.“
3. „Die Seele des Menschen strebe, das Göttliche in sich zu behalten.“
Der erste Kommentar sagt sehr dürftig, die Seele könne des Göttlichen nicht voll sein, ohne zuvor die irdischen Gelüste abgelegt zu haben.
Psellos bemerkt:
„Die Seele heilige sich zu einem Gefäße, in welchem die Gottheit ihre Wohnung nehme. Dies geschieht, wenn sie erleuchtet ist, in einem Zustand also, dem ein heiliger Wandel, eine Verachtung alles Irdischen vorhergehen muß.“
Plethon endlich sagt:
„Obgleich die Seele mit dem Leib verbunden ist, so vergesse sie doch ihren himmlischen Ursprung nicht, beklage sich aber auch 171nicht, daß ihr der schmutzige Leib zur Hülle gegeben wurde, ebenso wenig als sie auf die himmlischen Güter und göttlichen Eigenschaften stolz sein darf, mit welchen sie der Vater so reichlich bedachte.“
Aphorismus elf in allen drei Fassungen lautet der Reihenfolge nach:
1. „Weil die Seele ein durchsichtiges Feuer ist, so bleibt sie unsterblich und die Herrin des Lebens.“
2. „Weil die Seele ein leuchtendes Feuer ist, darum ist sie unsterblich und Herrin des Lebens.“
3. „Weil sie ein lichtes Feuer ist und unsterblich . . . .“
Die drei Kommentatoren sagen:
1. „Das Irdische ist das Vergängliche, das Geistige das Unvergängliche. Nur des letzteren können wir verlustig gehen, und deshalb ist die Seele die Herrin des Lebens, d. h. des ewigen Lebens.“
2. „Die Seele ist immateriell, stofflos, daher unvergänglich, weil sie nicht aus auflösbaren Stoffen zusammengesetzt ist. Sie nimmt nichts von der Finsterniß an, weil sie keinen Körper hat; sie ist also eitel Licht.“
3. „Unter dem Feuer sind die geistigen Fähigkeiten verstanden, mit welchen die Seele des Menschen begabt ist.“
Bei Plethon folgt nun als zwölfter, bei Psellos als achtzehnter ein kurzer Aphorismus, der in der ersten Fassung fehlt:
„Suche das Paradies!“
Plethon sagt kommentierend nur, daß unter Paradies der lichtumflossene Aufenthalt der reinen Seelen zu verstehen sei; Psellos dagegen äußert sich folgendermaßen:
„Die Chaldäer verstehen unter Paradies den Chorus von sämmtlichen Eigenschaften der Gottheit, welche ihn als besondere Personificationen umgeben.[228] Dem Unwürdigen wehrt ein feuriges Schwert. Daselbst findet man alle Tugenden, welche den Menschen gottähnlich machen.“
Der zwölfte Aphorismus der ersten Fassung, bei Psellos der siebzehnte und bei Plethon der dreizehnte hat dieser Reihenfolge nach folgenden Wortlaut:
1. „Verunreinige nicht den Geist und ziehe ihn nicht in die Tiefe hinab.“
3. „Verunreinige nicht den Geist.“
Der bedeutsamste Kommentar dieses Spruches ist der erste:
„Die Pythagoräer und Platoniker denken sich die Seele auch nach dem Tode nicht vom Körper getrennt. Sie theilen nämlich die Seele in einen unsterblichen Geist, der vom Himmel stammt, und in die Thierseele. Ersterer kehrt nach dem Tode in den Äther zurück, Letztere[229] bewohnt noch einige Zeit den Körper bis zu seiner gänzlichen Auflösung. Die Wünsche, von welchen sie während des Lebens bewegt wurde, beschäftigen sie noch jetzt, während ihr die Organe zur Befriedigung derselben fehlen[230]; sie sind nach der Erde gerichtet und verhindern die volle Befriedigung des Geistes. Das sind die Dämonen, welche unstät umherirren; sie verunreinigen den Geist und ziehen ihn in die Tiefe hinab. Die reineren Seelen hingegen, welche sich schon im leiblichen Leben dem Ewigen zuwendeten, vereinigen sich nach dem Tode sogleich mit dem Urquell des Lichts. Das ist, was die Jünger Zoroasters lehren.“
Psellos sagt, daß die Chaldäer der Seele zwei Gewänder zuerteilen, deren eines (es ist der Astralkörper gemeint) aus den feinsten Stoffen der Sinnenwelt gewebt, das andere aber ätherisch, lichtglänzend und unfaßlich sei. Der Spruch warne, beide mit sündigen Lüsten zu beflecken. – Plethon äußert sich folgendermaßen:
„Die Pythagoräer und Platoniker nehmen mit Zoroaster eine dreifache Seele an, nämlich die Thierseele, welche vom Leibe unzertrennlich ist und mit diesem aufhört zu sein. Höher als diese steht die mit Vernunft begabte Seele des Menschen, welche aber durch die Verbindung der Seele mit dem Körper der Versuchung sich zu verunreinigen ausgesetzt ist, aber auch durch den Sieg über die Versuchung die Unsterblichkeit sich zu bewahren vermag. Die höchste Stufe nehmen die Seelen der Dämonen ein, deren Hülle eine feinere 173ist und nicht aus materiellen Stoffen besteht, weshalb sie auch nicht dem Verderbniß einer gebrechlichen Natur ausgesetzt ist. Über diesen stehen die Planetenintelligenzen, deren Hülle aus reinem Licht besteht.“
Bei Plethon folgt nun als vierzehnter Aphorismus der bei den Andern fehlende Spruch:
mit dem kurzen Kommentar:
„D. h. man schwäche ihn nicht absichtlich, um sich aus diesem Leben früher zu befreien, als es der Wille der Vorsehung beschlossen hat.“
In der ersten Fassung der Orakel folgt nun als dreizehnter, nachstehender, bei Psellos gleichlautender und in seiner Reihenfolge erster, bei Plethon aber fehlender Aphorismus:
„Auch von dem Schattenbild der Seele ist ein Theil eitel Licht.“
Der anonyme Kommentator bemerkt hierzu:
„Das Schattenbild der Seele ist die thierische Psyche im Menschen, welche zwar mit dem bessern Ich desselben in Wechselwirkung steht und insofern also von dem göttlichen Theil im Menschen einiges Licht empfängt, aber an sich selbst der Vernunft beraubt ist und nur den Einflüsterungen der Sinne gehorcht.“
Psellos sagt:
„Schattenbilder oder Idole sind bei den Philosophen solche Dinge, welche an sich selbst schlechter oder den bessern untergeordnet sind, aber doch mit ihnen eine gewisse Ähnlichkeit besitzen, wie z. B. der menschliche Verstand ein Theil der Gottheit, aber doch dem Irrthum unterworfen ist. Vom Verstand ist nun wieder die Thierseele im Menschen in gleichem Abstand; sie hat nur materielles Streben und ist deshalb ein Schattenbild des Geistes. Dieser begiebt sich nach seiner Trennung vom Leibe in die Lichtregion. Zoroaster will also sagen: Nicht blos die mit Vernunft begabten Seelen können in die vollkommen erleuchtete Region versetzt werden, sondern auch die Thierseele im Menschen, wenn dieser tugendhaft wandelte. Hier weicht also der Grieche vom Chaldäer ab, insofern Ersterer die Thierseele sich nach ihrer Trennung vom Leibe im Weltenraum unbewußt verflüchtigen läßt, d. h. ihr die Fortdauer abspricht.“
Aphorismus vierzehn und fünfzehn der ersten Fassung (bei Plethon fehlend) lauten:
„Überlasse auch nicht deine Seele der Hefe der Materie.“
„Überlasse auch nicht die Hefe deiner Seele dem Abgrund, damit sie bei ihrer Trennung vom Körper nicht zu Schaden komme.“
Bei Psellos zwei und drei:
Der erste Kommentar nennt diese Aphorismen:
„Eine Ermahnung, daß die Seele stets über sich wache und nicht den Anfechtungen des Leibes unterliege, wodurch sie mit ihm ins Verderben sinkt. Damit ist vor der Strafe der Seelenwanderung gewarnt, welcher alle verfallen, die während ihres Erdenlebens dem Körper, d. h. der Hefe der Seele, eine zu große Macht einräumen.“
Psellos sagt:
„Unter Hefe der Seele ist der aus den vier Elementen zusammengesetzte Körper verstanden. Der Jünger wird also ermahnt: Nicht nur die Seele erhebe zu Gott, sondern suche auch ihr Kleid, nämlich den Leib, zu erheben. Abgrund ist Erde, auf welche die aus dem Himmel verwiesene Seele herabgeschleudert wurde. Wie läßt sich aber diese Ermahnung anders befolgen, als indem man den Körper dem Scheiterhaufen übergiebt. Oder ist die Läuterung durch göttliches Feuer gemeint, wie wir an Henoch und Elias sehen, die es wegen ihrer Auffahrt zum Himmel noch bei lebendigem Leibe wohl in ihrer Vervollkommnung so weit gebracht hatten, daß sie nur noch einen ätherischen Leib besaßen? Dieses Ziel zu erreichen ist aber ohne den Beistand der göttlichen Gnade unmöglich.“
Bezüglich des zweiten Spruchs sagt Psellos, daß auch Plotinos denselben anführe und bemerkt weiter:
„Diese Ermahnung ist sehr wichtig, denn die Furcht vor dem Tode zieht die meisten Menschen von edleren Betrachtungen ab, so daß die Seele ihre Läuterung nicht bestehen kann. Daher kommt es, daß die aus der Welt abscheidende Seele noch einige ihrer 175irdischen Sorgen und Wünsche mit hinüber nimmt, anstatt sie zu Gott und den Engeln zu erheben, wie die Erleuchteten thun, deren Blick schon diesseits des Grabes eine höhere Richtung nimmt.“
Der sechzehnte Aphorismus der ersten Fassung, der zwanzigste bei Psellos und fünfzehnte bei Plethon hat in den drei Bearbeitungen folgenden Wortlaut:
1. „Wenn du deinen aus ätherischem Stoff bestehenden Geist zur Verehrung der Gottheit hinleitest, so wird auch dein irdisches Theil dabei wohl fahren.“
3. „Wenn du dein feuriges Theil aufrichtest, so wirst du auch den feinsten Stoff des Leibes dir erhalten.“
Der anonyme erste Kommentator bemerkt, daß unter der Verehrung der Gottheit nicht allein der Kultus, sondern alle sittlichen Handlungen zu verstehen seien. Psellos versteht unter dem feurigen Ich die vom Göttlichen erleuchtete Seele und unter dem feuchten Ich den materiellen Leib. Plethon sagt:
„Wenn du einen gottesfürchtigen Wandel führst, so wird dir auch leibliches Wohlsein zu Theil werden.“
Der siebzehnte Aphorismus, bei Plethon der sechzehnte (bei Psellos fehlend) wird in mystischen Werken sehr häufig citiert[231] und lautet in der ersten Fassung:
„Von allen Enden der Erde kommen Hunde herbei, die den Sterblichen durch falsche Zeichen äffen.“
In der zweiten:
„Aus allen Enden der Erde springen Hunde hervor, den Menschen Gaukelbilder zeigend.“
Beide Kommentatoren sagen übereinstimmend, daß den in die Mysterien Einzuweihenden Gespenster mit Hundefratzen erschienen, und verstehen unter denselben Personifikationen der zerstörenden Leidenschaften, welche die Seele aus ihrer Ruhe aufschrecken.
Der achtzehnte (bei Psellos fehlende) und bei Plethon siebzehnte Aphorismus hat folgenden Wortlaut:
1. „Die Vernunft lehrt uns, daß die Dämonen ursprünglich heilige Geister seien, und die bösen Eigenschaften eine Verkehrung der guten sind.“
2. „Die Natur sagt uns, daß die Dämonen vollkommene Wesen seien.“
Der erste Kommentar ergeht sich in ziemlich nichtssagender Weise über den Fall der Engel, welchen wir auch oben bei Zoroaster vorkommen sahen. – Plethon versteht unter Dämonen nicht im vulgären Sinn böse Geister, sondern geistige Wesen überhaupt; im übrigen umschreibt er nur den Aphorismus, ohne etwas von Bedeutung zu sagen.
Der nächste Aphorismus findet sich nur in der ersten Fassung:
„Die rächenden Furien zügeln den Menschen. Es führe die Seele die Oberherrschaft und schicke vorsichtig nach allen Seiten ihre Blicke aus.“
Der Kommentar versteht unter den rächenden Furien die notwendigen Folgen der Thaten der Menschen, und unter den Blicken die angeborenen guten Eigenschaften, mit deren Hilfe wir die schlechten erkennen und ihren Einfluß auf uns abwehren.
Der folgende, sich auch bei Psellos findende Aphorismus:
gehört offenbar zum einundzwanzigsten Spruch der ersten Fassung, welcher in den beiden andern fehlt:
„Hättest du meinen Beistand fleißiger angerufen, so würdest du wohlgethan haben, denn nicht vom himmlischen Stoffe scheint dir das Weltgebäude, sondern zu Schlechten und Krummen sich neigend. Die Sterne glänzen nicht, der Mond ist verfinstert, die Erde wankt, und alle Gegenstände scheinen sich in Blitze zu verwandeln.“
Der Kommentar sagt nur:
„So spricht das Orakel zu dem in die Weihen Initiierten.“
Der zweiundzwanzigste – bei Psellos fehlende – und bei Plethon achtzehnte Aphorismus lautet:
„Nimm nicht das Bild der Natur für die Gottheit selbst!“
Bei Plethon:
„Berufe dich nicht auf das Bild der Natur!“
Beide Kommentare sagen übereinstimmend, Gott sei nicht durch das Bild zu erfassen.
„Alle dem Eingeweihten[232] sich darbietenden Erscheinungen, wie Flammen, Blitze, sind nur Sinnbilder des Schöpfers, nicht sein eigentliches Wesen.“
Der dreiundzwanzigste – bei Psellos zehnte – Spruch heißt:
„Mit reinem Gemüth umfasse die Zügel des Feuers.“
Bei Psellos:
„Die gestaltlose Seele halte die Zügel des Feuers.“
Der erste Kommentar ist nichtssagend. Psellos bemerkt:
„Die gestaltlose, d. h. die von der Materie sich abwendende Seele halte die Zügel des Feuers. Sie soll sich nämlich in den Besitz des zum ewigen Licht führenden Mittels setzen. Wer die Zügel schlaff hält, dessen gute Vorsätze erschlaffen, und er fällt wieder der Erde anheim.“
Der vierundzwanzigste, bei Psellos dreizehnte Spruch hat den Wortlaut:
„Wenn du das heilige Feuer aller Gestalt ledig durch die Tiefen des ganzen Weltalls wirst schimmern sehen, so horche auf den Ton des Feuers.“
Bei Psellos heißt es:
Der erste Kommentator giebt folgende Auslegung:
„Das gestaltlose Feuer ist die Gottheit selbst, welche alle Räume der Welt durchdringt. Auf ihr Flüstern achte du!“
Psellos bemerkt:
„Dieses Feuer ist das göttliche Licht, weil es keine Gestalt hat. Wenn dieses den Seher erleuchtet, daß er im Geist der Erde Tiefen durchschaut, dann vertraue er seinen Eingebungen.“
Der fünfundzwanzigste Aphorismus lautet bei dem Anonymus und Psellos:
1. „Die Seele des Menschen trägt die Spuren ihrer göttlichen Abkunft in sich.“
2. „Eile zum Lichte zu gelangen, zu den Strahlen des Vaters, von welchem deine Seele ausgeflossen ist.“
Beide Commentare sind nichtssagend, weil der Aphorismus für sich spricht.
Der sechsundzwanzigste Aphorismus in der ersten Fassung und zweiunddreißigste bei Psellos lautet:
1. „Vernimm, was sich durch den Verstand fassen läßt, denn dies ist über die Vernunft.“
2. „Wisse, das durch den Geist Wahrnehmbare kann vom Verstande nicht begriffen werden.“
Der erste Kommentar lautet:
„Obschon der Schöpfer die Bilder der unsichtbaren Dinge dir eingegeben hat, so bestehen sie in deiner Seele doch nur durch das Vorstellungsvermögen; trachte du aber danach, sie in der Wirklichkeit zu besitzen, d. h. dich nach dem Tode des Leibes mit dem Urgeist, dem nichts verborgen ist, zu vereinigen.“
Psellos dagegen sagt:
„Obschon der Verstand uns alle Dinge erklärt, so kann doch das Wesen Gottes von ihm nicht erfaßt werden, denn dies wäre nur durch unmittelbare Erleuchtung von oben möglich. Weder der Gedanke des Menschen, noch das artikulirte Wort kann das Wesen des Schöpfers definiren. Er ist durch ehrfurchtvolles Schweigen weit passender verehrt, als durch einen Schwall von Worten. Er ist über alles Lob erhaben.“
Der siebenundzwanzigste – bei Psellos fehlende – Aphorismus hat den Wortlaut:
1. „Wahrlich, etwas ist durch den Geist wahrnehmbar, das sich den Sinnen entzieht.“
Der Kommentator bezieht das den Sinnen nicht Wahrnehmbare kurzweg auf Gott.
Der achtundzwanzigste – bei Psellos sechsundzwanzigste – Aphorismus lautet:
1. „Alles ist aus Einem Feuer hervorgegangen, welches der 179Urheber dem aus ihm hervorgegangenen Geist übergab, welch' Letzteren die Menschen für das Urwesen[233] selbst halten.“
2. „Alles ist aus einem Feuer entstanden.“
Der erste Kommentator sagt:
„Alles emanirt aus Gott. Er hat Alles geschaffen, nämlich die geistigen Vorbilder der Dinge[234]; der eigentliche Weltbaumeister verfertigte die irdischen Abbilder der vorigen, denn von der Materie, welche aber nicht vom Urquell des Lichts herstammt, konnte die Körperwelt nicht entstehen.“
Psellos bemerkt zu diesem Aphorismus in seiner Fassung nur, daß er dem christlichen Glauben entspreche, insofern alles in Gott wurzele.
Der neunundzwanzigste Aphorismus der ersten Fassung fehlt bei Psellos und ist der neunzehnte bei Plethon; er hat folgenden Wortlaut:
1. „Die Dinge, welche vom Verstand erforscht werden, sind selbst Intelligenzen.“
2. „Die Seelen, welche vom Vater empfangen werden, sind selbst der Empfängniß fähig.“
Der erste Kommentar lautet dahin, daß die geistigen, unkörperlichen Wesen Zeugungen Gottes, selbst handelnde Persönlichkeiten und verschieden von den mit dem Leib vermählten Seelen[235], den Geschöpfen des Demiurgen sind. Plethon sagt nur, daß hier die geistige Fortpflanzung der Ideen gemeint sei, welche die Chaldäer sich als unsichtbare Personifikationen der Dinge auf Erden vorstellten.
Der dreißigste Aphorismus der ersten Fassung ist bei Psellos der siebente und bei Plethon der zwanzigste. Er lautet der Reihenfolge nach:
1. „Die Welt wird nach unwandelbaren Gesetzen von vielen Intelligenzen regiert.“
2. „Die Welt wird durch vernunftbegabte und doch unbewegliche Wesen vor dem Untergang geschützt.“
3. „Die Welt erhält zu Lenkern solche Wesen, die, weil sie nur intellektuell, also mit den Sinnen nicht wahrnehmbar, auch der Veränderung nicht unterworfen sind.“
Der erste Kommentator und Plethon bemerken nur, daß die oberste dieser Intelligenzen der Demiurg[236] sei, und daß, da die Welt unvergänglich sei, diese Eigenschaft deren geistigen Regenten erst recht zukomme. Psellos verliert sich in die unfruchtbare magisch-astrologische Lehre von den Planetenintelligenzen.
Der einunddreißigste Aphorismus ist bei Psellos der dreiundzwanzigste, bei Plethon der einundzwanzigste und lautet in den drei Fassungen:
1. „Sich selbst hat der höchste Gott dem Blicke aller Wesen entzogen, welche, obschon mit dem Vermögen ausgerüstet, sich von unsichtbaren Dingen eine Vorstellung zu machen, doch seine Eigenschaften nicht begreifen können.“
2. „Der Schöpfer hat sich in die Verborgenheit zurückgezogen und ist selbst den geistigen Naturen unerforschlich.“
3. „Der Vater hat sich selbst entzogen.“
Über diese auch in der Kabbalistik ausgesprochene Lehre bemerkt der erste Kommentator nur, daß dies daher komme, weil kein geschaffener Geist Gott als ungeschaffenes Wesen begreifen könne. Psellos läßt sich auf keine Erklärung ein und sagt nur, daß dieser Satz dem christlichen Glauben widerspreche. Plethon hingegen äußert sich folgendermaßen:
„Obgleich geistige Wesen mittelst des Geistes wahrgenommen werden, entzieht sich doch der Schöpfer auch diesem, wenn der menschliche Forschungsgeist die Natur der Gottheit zu erforschen sich vermißt.“
Der zweiunddreißigste und letzte Aphorismus der ersten Fassung, der zweiundzwanzigste bei Psellos und Plethon lautet:
1. „Der Vater aller Wesen flößt nicht Furcht ein, sondern den Trieb, ihm gehorsam zu sein.“
2. „Gott flößt keine Furcht ein, sondern den Trieb, ihm gehorsam zu sein.“
3. „Der Vater flößt nicht Furcht ein.“
Der erste Kommentator und Plethon sagen nur, daß Gott als Urquell alles Guten nur Liebe, nicht aber Furcht einflößen könne. Psellos bemerkt:
„Die göttliche Natur kennt weder Zorn noch Unwillen, sie bleibt sich stets gleich. Deshalb flößt sie auch den Geschöpfen keine Furcht ein. Wäre sie feindlicher Gesinnung, so könnte die Schöpfung keinen Bestand haben. Gott ist ein Licht, aber dem Sünder ein verzehrendes Feuer.“
Damit schließen bei Plethon und in der ersten Fassung die magischen Orakel Zoroasters. Aus der Fassung des Psellos hebe ich noch folgende, bei den andern Beiden fehlenden Aphorismen hervor:
Der Kommentar enthält nur den bemerkenswerten Ausspruch, daß sich die Seele auf jedem Planeten verkörpern müsse. Das übrige ist astrologische Spitzfindelei.
Der Kommentar sagt nur, daß die geahnten Geisterreiche auch zur Erscheinung gebracht werden könnten, wenn es dem Theurgen gelinge, die Elementarkräfte aufzuregen. Damit schließen die Orakel Zoroasters in der Redaktion des Psellos, welche ich hier der fortlaufenden Vergleichung halber außer der Reihenfolge brachte.
In der anscheinend gnostischen Fassung lauten die Orakel folgendermaßen:
„Erforsche den Weg der Seele, woher oder auf welche Weise du, wenn du dem Leibe dienest, jene wieder in die Ordnung, von der du abgewichen bist, bringen kannst, indem du mit dem heiligen Wort dein Werk vollbringst.“
„Nicht abwärts sollst du dich neigen; ein Abgrund ist auf Erden, welcher dich von der Schwelle, die sieben Gänge hat, abzieht, unter welcher der Thron des furchtbaren Schicksals steht.“
„Denn dein Behältniß werden die wilden Thiere der Erde bewohnen.“
„Gieb ja nicht dem Schicksal einen Zuwachs; denn nichts Unvollkommenes geht von der Herrschaft des himmlischen Vaters aus.“
„Aber der Wille des Vaters läßt nicht den Willen jener Seele, bis sie die Vergessenheit preisgegeben und das Wort gesprochen hat, im Gedächtniß behaltend das heilige Zeichen des Vaters.“
„Du mußt zum Lichte eilen und zum Glanze des Vaters, von dem deine Seele ausgegangen ist, welcher viel Verstand inne wohnt.“
„Die Erde beweint sie bis auf die Kinder.“
„Die Vertreiber der Seele, welche sie wieder ins Leben rufen, können erlöst werden.“
„In der linken Höhle deines Lagers wohnt die Kraft der Tugend und bleibt ganz darin, ohne ihre Jungfräulichkeit preiszugeben.“
„Die Seele der Menschen wird Gott gewaltig an sich ziehen; nichts Sterbliches habend, ist sie ganz Gottestrunken. Denn sie rühmt sich der Einheit[237], in welcher sich der sterbliche Körper befindet.“
„Weil die Seele glänzendes Feuer ist durch die Macht des Vaters, so bleibt sie unsterblich und ist Herrin des Lebens, und weil sie viele Vollendungen der Welt hat, sollst du das Paradies suchen.“
„Verunreinige nicht den Geist und drücke ihn nicht in die Tiefe nieder.“
„Es ist auch dem Bilde der Seele[238] sein Theil allenthalben an einem hellglänzenden Ort.“
„Laß nicht den Auswurf des Stoffes am Abgrunde liegen.“
„Führe nicht die Seele heraus, damit sie nicht den Körper verlassend, in Gefahr komme.“[239]
„Wenn du den feurigen Geist zum Dienste Gottes antreibst, so wirst du auch den Körper im Leben wohl-erhalten.“
„Aus dem Busen der Erde gehen irdische Hunde hervor, die niemals das wahre Zeichen dem irdischen Menschen aufweisen.“
„Die Natur räth, daß die Geister heilig seien, und daß auch die Steine des schlechten Stoffs gut und edel sind.“
„Rächende Wesen züchtigen den Menschen.“
„Eine unsterbliche Tiefe wird über die Seele herrschen; du aber richte die Augen ganz in die Höhe.“
„O Mensch, du Gebilde der zuversichtlichsten Natur! Wenn du öfter mit mir geredet haben wirst, so wirst du alles wohl im Gedächtniß behalten. Denn dann wird dir nicht mehr krumm und schief die himmlische Masse erscheinen. Die Sterne glänzen nicht; das Licht des Mondes ist verdeckt. Die Erde steht nicht fest, und Alles wird wie Blitze aussehen.“
„Du sollst nicht das durch sich selbst offenbare Bild der Natur anrufen.“
„Allenthalben mit einfältigem Herzen ergreife die Zügel des Feuers.“
„Wenn du gestaltlos das heilige Feuer erblickst, wie es schimmernd springt durch die Tiefen der ganzen Welt, so höre auf das Geräusch des Feuers.“
„Der Geist Gottes selber gab den Seelen der Menschen die väterlichen Sinnbilder ein.“
„Begreife, was mit dem Verstand begriffen werden kann, denn es ist außer dem Geiste.“[240]
„Es giebt wahrlich etwas, was mit dem Verstand begriffen werden kann.“[241]
„Alles ist aus einem Feuer hervorgebracht, sintemal Alles der Vater vollbracht hat und hat es dem zweiten Geiste mitgetheilt, welchen die Geschlechter der Menschen den ersten nennen.“
„Die Gestalten, welche im Geiste ergriffen werden, vernommen durch den Geist des Vaters, begreifen auch selbst, damit sie, durch schweigende Überlegung bewegt, einsehen.“
„O wie hat diese Welt Lenker, welche mit der Kraft der Einsicht begabt sind und nicht gebeugt werden können.“
„Sich selber hat der höchste Vater von allen andern getrennt; aber nicht auf die Kraft seiner Einsicht hat er sein Feuer beschränkt.“
„Der Vater läßt keine Furcht zu, sondern nur Gehorsam.“
Am reinsten gelangt der indische Occultismus in den Veden zur Darstellung.
Veda, das Wissen, heißt im weiteren Sinn alles Geoffenbarte, weshalb gewissermaßen alle heiligen Bücher der Inder Veden genannt werden können. In engerem Sinn jedoch versteht man unter Veden die vier ältesten Sammlungen religiöser Urkunden, welche nach indischer Anschauung in der Urzeit von Brahma selbst gegeben wurden, und auf welche die indische Religion, die Gesetze und die Litteratur gegründet sind. Es sind:
1. Der Rigveda mit religiös-moralischen Vorschriften, Ermahnungen und Hymnen auf alle Gottheiten.
2. Der Yayurveda, bestehend in sechsundachtzig prosaischen Abschnitten über die verschiedenen Arten der Opfer und die dabei zu beobachtenden Gebräuche.
3. Der Samaveda, welcher für den heiligsten gehalten wird und lyrische Gebete enthält, die gesungen werden.
4. Der Atharvaveda mit über siebenhundert Hymnen, Exorcismen, Zaubersprüchen, Verfluchungen usw.
Die Veden zerfallen weiter in einen rituellen, Pûrvakândam oder Karmakândam genannten Teil, welcher u. a. die Gebete – Mantras – enthält, die, wenn sie metrisch – rig – sind, gesungen und, wenn nicht metrisch – yajush – leise gemurmelt werden. Daran reiht sich der Brâhmana, Uttarakânda oder Gnâna – Gnosis – genannte Abschnitt, welcher sich über Kosmogonie, das göttliche Wesen, die göttlichen Attribute usw. verbreitet. Jeder Veda, besonders die Brâhmanas enthalten noch eine Anzahl Upanischads oder Meditationen, genannte Traktate, welche die eigentliche Theologie 188der Veden enthalten. Jedes auf die Veden sich stützende Werk führt den Namen Sâstra; deren giebt es eine große Anzahl und sie wie ihre Kommentare enthalten die zahllosen ceremoniellen Vorschriften.
Die Veden werden häufig Sruti, „das durch Offenbarung Gehörte“ genannt, weil sie von Brahma selbst heiligen Männern, deren Namen genannt werden, geoffenbart worden sein sollen; doch gestehen die Kommentare selbst zu, daß die genannten Heiligen, die Rischis, die wahren Verfasser sind. – Die über diese Verfasser usw. umlaufenden Traditionen lasse ich beiseite.
Zur Zeit als die arischen Indier sich von verwandten Völkern trennten und von den asiatischen Hochebenen in das Tiefland einwanderten, war ihre Religion wohl Sabäismus und im wesentlichen Sonnendienst, wie denn noch jetzt bei Sonnenaufgang das Homaopfer dargebracht wird und die Sekte der Sauras ausschließlich die Sonne verehrt; bei den Indiern wie bei den Essäern darf die Sonne die Blöße des Menschen nicht bescheinen, und in den Veden ist es wie im Zendavesta und bei den Pythagoräern verboten, sein Wasser gegen die Sonne zu lassen, &c. &c.
Als mythische Gottheit und erste Person der allbekannten indischen Göttertrias: Brahma, Wischnu, Schiwa, führte die Sonne den Namen Brahman, der Leuchtende. Sie schläft zur Zeit des winterlichen Regens, sie stirbt, wird neugeboren, und zahlreiche Mythen des alten Indiens sind nur aus dem Sonnenkultus zu erklären und mutatis mutandis universalgeschichtliche Erscheinungen. Überall, wo Sonnendienst herrschte, begegnen wir denselben Festen und den gleichen ihnen zu Grund liegenden mythologischen Vorstellungen, die – wie die ganze Theogonie – in epischem Gewand gleichsam historisiert auftreten.
Die zum Heil des Menschengeschlechts unternommenen Thaten und Wanderungen des Sonnengottes bilden sich im Laufe der Zeit in eine Götterlegende oder – wenn auf menschliche Heroen übertragen – zu einer Heldensage um, aus welcher für das Volk Belehrung und Moral geschöpft wird, und an deren thatsächlicher Grundlage weder Priester noch Geschichtschreiber zweifeln.
In den Veden treffen wir den Brahmaismus in engerem Sinn oder den Sonnendienst mit dem untergelegten Gedanken eines ewigen Lichtquells und weltschaffenden Geistes, welcher – an sich 189von der Sonne als Weltkörper unabhängig – diese wie das ganze Universum hervorgebracht hat, welcher alles Thun der Götter und Menschen wahrnimmt und unter dem Bilde der Sonne zu verehren ist.
Mit der Zeit ging diese Anschauung zum reinen Monotheismus über, und wie im Mazdeismus Zrvâna-akarana, so wird im Brahmaismus Brahma, „das Große“, ein neutrales Abstraktum, welchem erst die Prädikate durch Kraftäußerungen nach außen werden müssen; deshalb wird es auch tat, das Ich, die Seele oder das Wesen, sat, genannt. Dieses „Große“ wurde als das höchste Wesen betrachtet, in welchem alles seinen Grund habe, und das man mit Eifer aus seinen Wirkungen zu erkennen suchen müsse. Es führt in den Veden den Namen Parabrahma, das Urgroße; Avoyaka, das Unsichtbare; Nirvikalpa, das Unerschaffene; Svayambhu, das durch sich selbst Seiende, wodurch Brahma den Begriff des Ewigen und Selbständigen erhält. Auf dieses unendliche Urwesen bezieht sich keine Mythe, und es heißt in den Veden nur, daß vor ihm nichts vorhanden war, und daß seine Glorie so groß sei, daß es kein Bild derselben geben kann. Eine Manifestation desselben ist erst die als Demiurg, als weltschaffender Brahma gedachte Sonne, ähnlich wie im Mazdeismus Ahuramazdâ der vollkommenste Abdruck des Erhabenen ist.
Das durch sich selbst Seiende regiert durch diesen seinen Statthalter und andere aus ihm geflossene göttliche Emanationen, welche nur das persönliche Hervortreten und Sichtbarwerden der verschiedenen Attribute und Eigenschaften des Urersten sein sollen, die Welt nur mittelbar, und hierbei verliert sich die indische Spekulation in ein buntes Gewimmel metaphysisch-mythologischer Gestaltungen, welches wir hier bei Seite lassen können. Bei diesem Personifikationsprozeß der einzelnen Attribute trat vorerst das durch sich selbst Seiende in den Hintergrund zurück, und selbst Brahma – seine erste Emanation – verlor an Ansehen, so daß vom Brahmaismus Indiens nur insofern die Rede sein kann, als sich derselbe auf den ursprünglichen vergeistigten Sonnendienst bezieht.
Trotzdem ist aus den heiligen Büchern der Indier überall nachweisbar, daß die indische Religion sich schon sehr bald vom 190Sabäismus zur Verehrung eines höchsten Wesens erhoben hatte, und es ist leicht einzusehen, daß in Indien, wo kein Eroberer die beschauliche Ruhe der Weisen unterbrach, der Sinn für die religiösen Grundwahrheiten früher geweckt werden mußte, als es in dem von wilden Stürmen bewegten Westen möglich war. Hier begannen die schüchternen, von Sokrates nachmals mit der Moral verbundenen Anfänge der Religionsphilosophie mit Anaxagoras und Xenophanes und nahmen dann unter Pythagoras und Plato einen höhern Aufschwung bis sie in den Lehren der Stoa einen dem Christentum ähnlichen würdigen Ausdruck fanden.
Der vergeistigte Mazdeismus übte mächtigen Einfluß auf die Religion der Juden, unter denen bisher nur die Propheten auf einer höheren Erkenntnisstufe gestanden hatten, während der große Haufe zwischen den polytheistischen Religionen seiner Nachbarvölker hin und her schwankte bis endlich der Stifter des Christentums die Lichtstrahlen des Mazdeismus, des Buddhismus und der hellenistisch-jüdischen Religionsphilosophie in einem Brennpunkt vereinigte und mit einer reinen praktischen Moral verband.
Alle Religionen des Altertums zeigen ein Fortschreiten vom Fetischismus aus durch den Sabäismus und Sonnendienst zur Lichtreligion und Verehrung Eines höchsten Wesens, von welchem die Volksgottheiten usw. nur niedere Potenzen, Emanationen, Attribute &c. sind.
Gerade die indische Litteratur zeigt wie keine andere die Fähigkeit des menschlichen Geistes, von der Bewunderung der menschlichen Natur ausgehend, aus eigner Kraft zum Höchsten sich erheben zu können, und beweist die Nichtigkeit einer erträumten göttlichen Urweisheit und eines Urpriestertums des menschlichen Geschlechts, wie es sich bei den mehr oder weniger von Jakob Böhme abhängigen gläubigen Naturforschern und Naturphilosophen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in so aufdringlicher Weise breit macht.
Für den indischen Monotheismus der Indier erheben sich schon früh gewichtige Stimmen. So sagt Philostratus in seinem Leben des Apollonius von Tyana[242], daß in Indien nur eine höchste Gottheit 191alles leite, daß aber daneben Untergötter angenommen würden. Bardesanes spricht sich dahin aus[243], daß es mehrere tausend Brahminen gebe, die nach Gesetz und Tradition keine Bilder verehrten, weder Fleisch noch geistige Getränke genössen, ohne Falsch seien, ihren Geist allein auf die Gottheit richteten. Selbst der Muhammedaner Abulfeda gesteht zu, daß der gebildete Indier keine Idololatrie treibe, und daß beim Volk endlich die Götterbilder nur zur Fixirung der Andacht dienten. In unserer Zeit bekennt endlich Colebrooke[244], daß der Monotheismus in den Lehren der Vedas genau ausgesprochen, wenn auch nicht immer klar von der Polylatrie geschieden sei; daß er aber in den den Veden folgenden Schriften der Indier, welche sich demnach mit Recht auf die Lehre ihrer religiösen Schriften von der Einheit Gottes beriefen, immer mehr hervortrete.
Das Gesetzbuch des Manu sagt ausdrücklich, daß die Veden nur einen Gott lehren als den Herrn aller Götter und Menschen, den man in jedem Wesen erkennen und verehren müsse, und im allgemeinen schildern die Veden die Gottheit als immateriell, unsichtbar, über alle Vorstellung erhaben, aus deren Werken der Mensch ihre Ewigkeit, Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart erkennen kann; als das göttliche unvergleichlich große Licht, von welchem alles ausgeht, zu dem alles zurückkehrt, welches allein unsern Verstand erleuchten kann und auf gerechte Weise Vergeltung erteilt durch die rollenden Zeiten.[245]
Die Veden lehren: „Es ist ein lebendiger, wahrer Gott, ewig, körperlos, ohne Theile und ohne Leidenschaft, allmächtig, allweise und allgütig, ein Schöpfer und Erhalter aller Dinge. – Er ist allwissend, aber Niemand kennt ihn, den man den großen, weisen Gott nennt. – Gott, der die vollkommene Weisheit ist, ist die endliche Zuflucht des Menschen, der freigebig sein Vermögen spendete, fest in der Tugend war und der den großen Einen kennt und verehrt. – Er ist der Gott, welcher das Weltall regierend durchdringt; er war der Erstgeborene und ruht fort im Mutterleib; 192er kam in das Licht des Daseins, wohnt im Licht und in Allem, was ist. Der Herr der Schöpfung war früher als das All, er wirkt in allen Wesen und freut sich über seine Schöpfung. Wem sollten wir blutlose Opfer bringen, als ihm, der die ätherische Luft geschaffen wie die feste Erde, ihm, der die Scheibe der Sonne festheftete und des Himmels Wohnung, ihm, der des niedern Luftkreises Tropfen in eine Gestalt brachte? Wem sollten wir unsere Gaben bieten als ihm, den Himmel und Erde im Geiste beschauen?“[246]
„Wer weiß genau, und wer wird in dieser Welt aussprechen, von wannen und warum diese Schöpfung stattgefunden? Die Götter sind später als die Schöpfung. Der im höchsten Himmel der Lenker dieses Alls ist, weiß es; aber kein Anderer kann darüber Kunde haben.[247] – Über den Sonnen hinaus scheint keine Sonne mehr, kein Mond und kein Stern mehr, dort funkelt kein Blitz, sondern die Gottheit strahlt dort allein und giebt dem Universum sein Licht.“
„Es ist kein Größerer als Brahma, der Mächtige, in jedem Raume gegenwärtig, allwissend und einzig. Forsche nicht über das Wesen des Ewigen, noch über die Gesetze, nach welchen er regiert, beides ist eitel und strafbar; dir sei es genug, daß du täglich seine Weisheit, Macht und Güte in seinen Werken schaust. Dies sei dir Heil. Du, o Gott, bist das wahre ewig selige Licht aller Zeiten und Räume; deine Weisheit erkennt tausend und mehr als tausend Gesetze, und doch handelst du allezeit frei und zu deiner Ehre; du warst vor Allem, was wir verehren, dir sei Lob und Anbetung. – Man kann Gott erkennen aus dem Gesetz, das er gegeben hat, und aus den Wundern, die er in der Welt wirkt. Man entdeckt ihn auch durch die Vernunft und den Verstand, welche er den Menschen gegeben, und durch die Schöpfung und Erhaltung aller Dinge. Was er von den Menschen fordert, besteht hauptsächlich in Liebe und Glauben, denn so steht in unserm Gesetz vom Dienste des höchsten Gottes: der Mensch soll ihn lieben, ihn mit Mund und Herz bekennen und soll nichts thun als aus Liebe und 193Glauben, nach welchem er Gott anrufen und seinen Geboten gehorchen muß, also daß er sich in Allem unverbrüchlich nach seinem Willen richte.“[248]
„Das höchste Wesen ist unsichtbar; niemand hat es je gesehen, und die Zeit hat es nicht begriffen. Sein Wesen erfüllt Alles, und alle Dinge entspringen aus ihm; alle Kraft, alle Weisheit, alle Heiligkeit und alle Wahrheit ist in ihm; es ist unendlich gütig, gerecht und barmherzig; es hat alle Dinge geschaffen, erhält Alles und ist gern unter den Menschenkindern, um sie zur ewigen Glückseligkeit zu führen, die darin besteht, daß man das unendliche Wesen liebe und und ihm diene.“[249]
„Ich diene dem Herrn der Welt, in welchem sie besteht, zu dem sie einst zurückkehrt, und in dessen Licht sie glänzt; dem Herrn, dessen Herrlichkeit ewig und unaussprechlich; der ohne Wechsel ruhend und immer dauernd ist, und zu dem heilige Menschen sich erheben, wenn sie die Finsterniß des Irrthums zerstreut haben.[250] – Als Einsiedler mußt du mit einem aufrichtigen Herzen an Gott denken, an denjenigen Gott, der weder veralten, noch ein Ende haben wird, welcher der Höchste ist, der Allen, die ihn suchen, Verstand giebt; seiner sollst du allein gedenken.[251] – Welchen Vortheil hat man, wenn man die Vedas, Puranas und Shastras liest? Besser ist allezeit an Brahma denken und also seine Seele bewahren, denn diese wird immerdar bestehen, und der, durch welchen weiße Flamingos, grüne Papageien und bunte Pfauen geschaffen wurden, der wird für dich sorgen.“[252]
Soviel über den indischen Monotheismus.
Was nun die kosmogonischen Philosopheme anlangt, so widersprechen sich dieselben in den Veden und namentlich in den Puranas vielfach. Am reinsten treten die Schöpfungstheorien in den Veden entgegen, in welchen es heißt, daß das Weltall durch den 194bloßen Gedanken Brahmas entstanden sei: „Er[253] dachte, ich will Welten schaffen, und sie waren da!“ oder durch sein Schöpfungswort, welches – wie später in der Gnosis – personificiert erscheint. Im Rigveda erscheint vâch, die Rede, als aktive Kraft Brahmas, welche von ihm als Göttin ausgeht, als die höchste Weisheit und Königin aller Wissenschaft. Alle Wesen durchdringend erzeugte sie erst den als Demiurg gedachten Brahma und ist mit dem Urwesen eins.[254]
Auch Origenes sagt[255], daß die Brahminen sich die Gottheit nicht sowohl als ein Licht denken, verschieden von Sonne und Feuer, sondern auch als Wort (λόγος), göttlich und körperlich, als das Wort der Gnosis, durch welches den Weisen die verborgensten Mysterien sichtbar würden. Ja, ein anonymer Indier äußert sich in seinem Schriftchen De Brahmanis[256]:
„Nam verbum Deus est, hoc mundum creavit, hoc regit et alit omnia. Hoc nos veneramur, hoc diligimus, ex hoc spiritum trahimus, siquidem ipso Deus spiritus est atque mens.“
Diese und ähnliche schon früher erwähnte Anschauungen liegen der schon spätern spezifischen Logosidee zu Grund.
In Manus Gesetzbuch heißt es über die Schöpfung:
und in den Veden spielt der alles hervorbringende Brahma mit Maya, der illusorischen Ideenwelt, und ruht gleichsam in der Mitte des Universum, wie eine Spinne in ihrem Gewebe, alles aus sich selbst herausspinnend und wieder in sich hineinziehend. An einer andern Vedastelle, wo von der Schöpfung gehandelt wird, heißt es, daß anfangs weder Sein noch Nichtsein – sat und asat – gewesen, sondern das große Es – tat – oder Brahma habe sich 195selbst erst zum Sein manifestiert, während die Maya oder Täuschung rings um ihn in gestaltlosem Nebel als asat oder non Ens geschwebt habe.[257] Indem aber nun auf diese Weise das Urwesen sich selbst im Spiegelglanz der Maya anzuschauen begann, ward durch seine Betrachtung die Finsternis geteilt, und die Liebe in seinem Gemüt wurde zur produktiven Schöpferkraft.
Im Upnekhata bildet sich die Welt aus einem Ei, woraus sich zunächst Brahma als Makrokosmus in der Gestalt eines Menschen entwickelt. Zu seinem Körper gehören selbst die Götter, da alles eins ist, und wer ihn erkennt und ihn versteht, der ist selbst Gott.[258]
Wenn in den indischen Kosmogonien ein Urstoff angenommen wird, so ist derselbe je nach dem herrschenden Kultus verschieden, bei den Verehrern des Schiwa das Feuer, und im Wischnukultus das Wasser. Im Ramayana heißt es[259]:
„Alles war Wasser, dann wurde die Erde geschaffen, und darauf entstand der selbstständige Brahma mit den Devatas.“
In Manus Gesetzbuch wird gesagt[260]:
„Als der Ewige und Unsichtbare, den nur die Vernunft ergründet, aus seiner eigenen göttlichen Substanz mannigfache Wesen hervorbringen wollte, schuf er zuerst durch einen Gedanken das Wasser und that darein den Zeugungsstoff. Dieser ward zu einem Ei, wie die Sonne glänzend, und in ihm entwickelte sich der große Urvater aller Geister, Brahma, die schaffende Kraft des Ewigen, welche nach einem Schöpfungsjahr allein durch den Gedanken das Ei zertheilte, dessen beide Hälften sodann Himmel und Erde bildeten.“
Andere wieder halten die Luft oder – besser gesagt – den Äther (âkâsa) für das erste Prinzip und betrachten ihn, wie später die Griechen usw., als ein fünftes Element, in welchem sich die Himmelskörper bewegen, seit sie von der Hand des Schöpfers den ersten Anstoß erhielten.
In noch andern Kosmogonien waltet ein dualistisches Prinzip, insofern der ewigen Materie ein ewiger Urgeist als Seele oder 196sensorium commune gegenübergestellt wird, auf welchen die höchste Gottheit durch Bewegung einwirkt. In diesem Sinne heißt es in einem Purana[261]:
Eine Grundlehre der Brahmanen ist ferner, daß Gott alle Dinge gut schuf, und der Mensch als freies Wesen allein die Schuld an dem moralischen Übel trägt, insofern seine Seele eine Emanation der Gottheit ist.
Als Brahma das Schöpferwort aussprach, entstanden die geistigen Urbilder alles Lebens, deren Aufenthalt der Äther ist. Sie sind völlig den Feruers des Mazdeismus vergleichbar. Andere aus Brahma emanierende, den Amschaspands, Izeds oder Engeln ähnliche Wesen sind die Devâs und Surâs, welche in der intelligiblen Welt ihre Freiheit genossen, bis einer von ihnen – Mahîsasura, der Büffeldämon, – aus Neid und Eifersucht von Brahma abfiel, ihm ähnlich gesinnte Geister verführte und dadurch der Seligkeit verlustig ging. Hierauf schuf Brahma die materielle Welt, damit in ihr die abgefallenen Geister durch Prüfungen geläutert und erneuert würden. Die menschliche Seele ist das Ebenbild (mûrtî) der Gottheit, denn sie ist vom göttlichen Atem belebt. Sie hat ihren Sitz im Gehirn, wo sie wie die Luft in einem Gefäß eingeschlossen ist. Zerbricht die Form, so vereinigt sich der menschliche Geist wieder mit dem göttlichen, gleichwie ein in das Meer geworfenes Gefäß seinen Inhalt mit dem des Oceans mischt. Die übrigen Teile des Menschen lösen sich in die vier Elemente auf. Diese Auflösung in fünf Bestandteile – panchatvam, „der Zustand von Fünfen“, denen die fünf Sinne als ebensoviel Thüren dienen, welche man gegen die Außenwelt verschlossen halten soll – ist der Tod, der keine Vernichtung ist, sondern eine stete Umbildung in neue Formen. Die endliche Vereinigung mit der Gottheit sucht 197der Mensch dadurch zu erreichen, daß er in strenger Askese alle sinnlichen Einflüsse auf sich abzuhalten sucht.
Das moralisch Böse wird als etwas Negatives, als das Nachlassen der geistigen Kraft auf die Materie aufgefaßt, gegen welche das Gute als Positives, als frei waltende Kraft fortwährend zu kämpfen hat. Die Götter selbst gaben dazu durch ihre Büßungen ein Vorbild.
Das Dasein des Menschen auf Erden ist eine Strafe und wie jedes Leiden und Ungemach durch in früheren Daseinsstufen begangene Sünden verschuldet, und je weiter sich alles von der Quelle der Gottheit entfernt, desto mehr verschlimmert es sich, weil die Gesetze der Emanation und Evolution es mit sich bringen, daß die Kette und der Kreis aller Wesen sich je länger je mehr vom Mittelpunkt entfernt. Das Böse würde demnach bei seinem beharrlichen Sinken keine Aussicht auf eine Rückkehr zum Göttlichen haben, wenn die Gottheit nicht selbst dazu ein Mittel gegeben hätte. Sie hat, sich gewissermaßen zum Fatum – Karma – gestaltend, nicht nur jedem Einzelwesen ein besonderes Ziel in einer Einzelexistenz – Incarnation – gesteckt, sondern vergönnt ihm auch in wiederholten Existenzen – Reincarnationen – auf die Erde herabzukommen, um sich in ihnen zum endlichen Rückfluß in die Gottheit zu läutern. – Durch die Kenntnis dieses Gesetzes erhält der Mensch die Richtschnur für sein Denken und Handeln.
Die Weltendauer ist auf 12 000 resp. 432 000 Jahre beschränkt, nach deren Verlauf alles Böse vernichtet wird, wenn die Gottheit abermals erscheint, die materielle Welt zerstört und ein allgemeines Reich des Geistes einführt.
Es heißt in den Veden: „Was kann die Welt für Freude gewähren, wo Alles sich verschlimmert? Könige sind gefallen, Ströme versiegt, Berge versunken. Der Pol selbst hat seinen Ort verändert; Sterne sind aus ihrer Bahn gewichen, die ganze Erde ist von ihrer Bahn heimgesucht und die Geister selbst vom Himmel geschleudert worden.“ Darum muß alles Sein dahinschwinden, und das Ramayana[262] ergeht sich in folgenden Betrachtungen:
Der ausgesprochene Pessimismus der indischen Religionsphilosophie läßt, wie bekannt und bereits gesagt, die irdische, materielle, sublunarische Welt ein Übel sein, welches steter Veränderlichkeit und stetem Wechsel ausgesetzt ist, während darüber hinaus stete Ruhe und Seligkeit herrscht.
Diese dem Wandel unterworfene Sinnenwelt zerfällt in drei Abteilungen nach den drei Dimensionen des Raumes. In diesen drei Abteilungen sind vierzehn Klassen von Wesen verteilt nach den drei Grundkräften, mit denen die Natur wirkt. Denn gleichwie der Zusammenfluß von drei Strömen nur einen bildet, oder wie 199durch Vereinigung von Öl, Docht und Flamme das Licht entsteht, so wirken die drei Grundkräfte durch Vereinigung der feindlichen Gegensätze zu einem Zwecke hin. Die drei Grundkräfte sind folgende:
1. Tamas, Finsternis, Unwissenheit und niedere Selbstsucht, bei welcher das Gewissen und die Scham wegen böser Handlungen eintritt.[263] Diese Eigenschaft ist in Erde und Wasser vorherrschend, weil diese Elemente abwärts streben. Zu ihr gehören fünf Abteilungen der untersten Weltzone, die Tierwelt und die leblosen Körper. Deshalb findet auch bei Menschen, in denen diese Eigenschaft vorherrscht, die Metempsychose in niedere Tierkörper statt, sodaß die größten Sünden wie Ehebruch, Zerstörung religiöser Gebäude die Seelenwanderung in die niedersten Tierkörper, ja sogar den Übergang in Pflanzen und Mineralien nach sich zieht.
2. Maya, die Täuschung oder der Schein. Dieselbe herrscht in der Luft vor und ist beim Menschen ein passiv-leidenschaftlicher Zustand, in welchem die Vernunft gefangen genommen ist. Bei ihm findet eine Metempsychose in menschliche oder höchstens übermenschliche Wesen niederster Gattung statt. Sie hat in der mittlern, nur von einer Wesensreihe – der menschlichen – bewohnten Weltzone die Oberhand. In ihr herrscht die Leidenschaft, weshalb sich der Mensch gegen dieselbe wappnen und seine Sinne beherrschen soll.
3. Satya, die Wesenheit, Wahrheit, Tugend. Sie herrscht im Feuer vor, weil dieses nach oben steigt. Bei dem Menschen ist sie die harmonische Wirksamkeit aller Seelenkräfte und das Streben nach dem Guten und Wahren, bei dessen Obwalten bei der Metempsychose eine beständige Vergöttlichung stattfindet, ähnlich wie sich der Neuplatoniker Hierokles in folgenden Versen ausdrückt[264]:
Bevor aber die Seele, wie es in der Bhagavadgita heißt[265], nach dem zerrissenen und abgenutzten Gewand ein neues anzieht oder vom Mund zum Himmel sich erhebt, muß sie vor den Totenrichter 200Yamas kommen, der ihr das Verzeichnis ihrer Thaten vorliest, worauf sie in dem Fall, daß in ihrer Incarnation die Sünde vorherrschte, eine Zeit lang ohne körperliche Hülle in verschiedenen Höllen büßen muß. Dieselben sind Fegefeuer mit furchtbaren Einrichtungen, wie glühende Betten, Schlammgruben &c., zur Peinigung der sündigen Seelen. Erst wenn eine solche Seele je nach dem Grad ihrer Sündhaftigkeit eine größere Anzahl Höllen durchwandert hat, kann sie einen neuen Körper anziehen und behufs ihrer Besserung den Weg der Reincarnation weiter beschreiten.
Die Guten kommen direkt in das Paradies Indras, wo sie in seliges Anschauen, in Ekstase versinken.
In der sogenannten „Theosophie“ oder dem esoterischen Buddhismus ist unendlich viel von den sieben Grundteilen des Menschen die Rede, ohne daß jedoch im Entferntesten diese Lehre etwas dem Buddhismus oder der indischen Religionsphilosophie Eigentümliches wäre. Im Gegenteil finden wir bei allen philosophischen, religiösen und occultistischen Lehren, die auf pantheistischer Grundlage ruhen und ein Emanieren der Seele aus Gott annehmen, ein Zerlegen des nicht körperlichen Menschen in mehrere, keineswegs stets sieben Grundteile; im Gegenteil ist die Zahl derselben eine sehr schwankende. Der Annahme mehrerer Grundteile des übersinnlichen Menschen liegt die Folgerung zu Grund, daß die eigentliche als Teil der Gottheit emanierte Seele weder leiden noch sündigen könne. Darum giebt man ihr noch mehrere mehr oder weniger niedere Grundteile bei, um Leiden, Sünde, Leidenschaft usw. erklären zu können. Damit ist die Annahme eines Astralkörpers als ätherisches Grundschema des Menschenleibes eng verbunden. Ich werde die Ausbildung dieser Anschauungen verfolgen und will hier einstweilen nur bemerken, daß die „Theosophie“ eine Entwickelung oder Sublimation der sieben Grundteile aus dem Stoff heraus und empor analog der Entwickelung des Menschen aus dem Urschleim annimmt, um den Umstand erklären zu können, daß in manchem Menschen der göttliche Funke total fehlt oder nur ganz rudimentär entwickelt ist, wie beim Idioten, Verbrecher usw. So ist bei dem Menschen der westlichen Kultur nach „theosophischer“ Anschauung erst der fünfte Grundteil entwickelt, bei den hochbelobten Mahatmas der sechste und erst bei den verschiedenen Buddhas 201und Christus – ein hirnverbrannter „Theosoph“ zählt neunzehn Christus auf – ist der siebente Grundteil ausgebildet. – Die als die geistigste aller geistigen Lehren und uralt gepriesene „Theosophie“ ist also durchaus materieller Natur und modernsten Ursprungs.
Die „theosophische“ Anschauung entstammt der Sankhyaphilosophie, welche zwischen einer spirituellen und einer sensitiven Seele oder einer Art Astralkörper unterscheidet. Die Gründer der „Theosophie“ haben dann aus den verschiedensten Geheimlehren Brocken aufgelesen, die „Lebenskraft“ hinzugethan und endlich, um der mystischen Zahl Sieben Genüge zu thun, sieben Grundteile glücklich herausgebracht. Davon, daß Paracelsus und Agrippa von Nettesheim wie Helmont wirklich sieben Grundteile annahmen, wußten sie kein Wort, das habe ich erst entdeckt und Herr Franz Hartmann in seinem Paracelsus verwendet. Später wies Herr Franz Lambert die Annahme von sieben Grundteilen bei den Ägyptern und in der Kabbala nach, was indessen ebenso wie meine Entdeckungen für die Echtheit der Theosophie gar nichts beweist, als daß in den ersten beiden Jahren des Bekanntwerdens der Blavatskosophie in Deutschland ein Jagdfieber nach Grundteilen herrschte. Das Zusammentreffen ist ein rein zufälliges und eine durchgehende esoterische Annahme von sieben Grundteilen im Menschen ist nicht im Entferntesten vorhanden. Ich werde den Nachweis führen. Mit der durchgehenden Annahme von sieben Grundteilen aber, die sich einer aus dem andern entwickeln, steht und fällt die ganze Theosophie.
Nach der Sankhyaphilosophie also sind zwar die Seelen aus dem Urgeist – Atma – geflossen, aber wir müssen sie mit Perlen vergleichen, die an eine Schnur gereiht sind. Ein jeder Körper hat seine individuelle Seele, weil sonst jeder Einfluß auf alle zusammen wirken würde, und ebenso hat auch jede Seele ihre Vollkommenheiten und Schwächen, gerade wie eine jede der auf der Schnur verteilten Perlen. Die geistige, „lebende, selbstbewußte“ Seele – jîva, buddhi – ist umhüllt mit einem feinen Leib aus dem feinsten materiellen Äther. Derselbe ist das, was die späteren Philosophen anima sensitiva – bei den Indiern manas – nannten, welches der Sitz der Neigungen und Leidenschaften der Menschen ist, und welchen man durch die geistige Seele, die Vernunft, buddhi, 202beherrschen muß. Die anima sensitiva führt auch den Namen sûkshmasarîra, „feiner Körper“ – also Astralkörper – und ist der Sitz des Selbstbewußtseins; derselbe wird durch innere und äußere Eindrücke angeregt, ist aber des sinnlichen Genusses so lange unfähig, bis er von einem materiellen Körper umgeben ist. – Derselbe – sthûlasarîra – besteht aus den Elementen, wird durch die Zeugung fortgepflanzt und ist sehr vergänglich, während der „feine Körper“ dauerhafter ist und sich durch eine Reihe von Generationen hindurchzieht, gleich wie derselbe Schauspieler die verschiedenen Rollen seines Repertoirs spielt. Endlich aber wird der „feine Körper“ im Äther aufgelöst, während die Vernunft – buddhi – in der Gottheit aufgeht, ohne dabei ihre Individualität zu verlieren. Dies ist die ewige Seligkeit, die Auferstehung in der Lichtwelt.
Nach der Lehre der Brahmanen ist die eigentliche Aufgabe des höheren geistigen Lebens die Contemplation und Meditation, bis die Seele ganz und gar dasjenige erreicht, womit sie sich ausschließlich beschäftigt. Indem sie sich mit allen Kräften in die Natur dessen, womit sie sich beschäftigt, versetzt und darin aufgeht, so muß sie die ganze Kraft ihres Willens dahin richten, den Gebrauch solcher Mittel zu üben, welche einen derartigen magisch-mystischen Rapport hervorrufen, um durch stufenweise Einweihung und fortschreitende Übung jene mystische Vollendung zu erreichen, in welcher ihnen Brahma selbst erscheint und sich mit ihnen vereinigt.
Diese Mittel sind Buße und strenge Askese. Um die Seele ganz von dem Irdischen loszulösen und sie in völlige Freiheit zu setzen, muß der Yogi genannte Asket allen natürlichen Verhältnissen entsagen, sich gänzlich von der Welt zurückziehen und allem Umgang mit Menschen entsagen, durchaus keusch leben und streng fasten. Auch scheint ein anhaltender Aufenthalt im Dunkeln und eine Überladung des Bluts mit Kohlensäure, herbeigeführt durch systematisch verlangsamtes Atmen, die Yoga zu befördern. Unbedingter Gehorsam gegen den Führer – Guru – auf den ansteigenden Stufen der Yoga ist ebenfalls unbedingt erforderlich, um die vollkommene Ruhe der Seele zu erlangen, ebenso wie „der Leib ganz ohne Bewegung, dem Holze gleich, ohne Empfindung und Regung festgehalten und alle seine Pforten der natürlichen Ausgänge verschlossen gehalten werden müssen.“
Übrigens kommen in Manus Gesetzbuch mehrere Stellen vor, welche noch äußere Mittel nennen, die zur Erreichung des inneren Schauens mithelfen sollen, wie das Schauen in Feuer, Sonne oder Mond – also Autohypnose – Opfer, Gesänge und endlich der berühmte Somatrank. Der Somatrank gilt als unerläßlich zur Vollendung der Yoga und soll in jenen magischen Zustand versetzen, in welchem die Yogis sich über alle Welten erheben und – mit Brahma vereint – das All durchschauen. Nach Decandolle ist der Somatrank der Milchsaft der Asclepias acida (Cynanchum viminale), und der genannte Botaniker spricht sich über denselben folgendermaßen aus: „Dieser Saft ist scharf und reizend und kann in größerer Gabe leicht giftig werden, und in manchen Fällen werden die Nerven wie von narkotischen Mitteln afficiert, die besser als erstarrend bezeichnet werden können, da sie die Bewegungsthätigkeit der Nerven hemmen, ohne einen betäubenden Schlaf hervorzurufen.“ Ähnlich sagt Windischmann in seinem bekannten Werk über die Anwendung des heiligen Trankes, daß der Genuß des Somatrankes schon in älterer Zeit als ein heiliger Akt und gleichsam als ein Sakrament betrachtet wurde, wodurch die Vereinigung mit Brahma bewirkt werden sollte, leuchtet aus mehreren Zeugnissen der indischen Schriften ein; öfter heißt es: „Paradschapati selbst trinke diese Milch, die Essenz aller Nahrung und Wahrnehmung, die Milch der Unsterblichkeit.“
Oben wurde der eigentümlichen Methode, durch systematisch gehemmtes Atmen das Blut mit Kohlensäure zu überladen und so ekstatische Zustände zu erzeugen, gedacht. Nach dem Oupnekhata ist der Vorgang folgender: Voraus geht ein Gebet:
„Brahma ist ein unvergängliches Wesen, reines Licht in einer heiligen Wohnung, und so ist auch die denkende Seele eine Offenbarung jener lichtausstrahlenden Kraft. Ich sinne im Geiste jener Lichtkraft – Brahma – nach, durch ein verborgenes Licht geleitet, das in mir selbst wohnt, und durch das ich denke, welches in meinem Herzen ist. Der allerhöchste Brahma, der die sieben Welten erleuchtet, wolle meine Seele mit ihrem Lichte erleuchten.“
Dann heißt es weiter:
„Um die weiße Magudschi (Betrachtung) zu machen, soll man sich auf eine viereckige Basis setzen, auf die Fersen nämlich, und 204dann die neun Pforten verschließen. Die beiden untern durch die Fersen, die Ohren durch die Daumen, die Augen durch die Zeigefinger, die Nase durch die mittleren, die Lippen durch die vier andern Finger. Die Lampe im Gefäß des Körpers wird dann bewahrt vor Licht und Bewegung, und das ganze Gefäß wird Licht. Wie die Schildkröte muß der Mensch alle Sinne in sich hineinziehen, das Herz dann in der Mitte der Öffnung hüten, dann wird Brahma in ihn eintreten als Feuer, Blitz. In dem großen Feuer in der Herzöffnung wird eine kleine Flamme aufwärts lodern, und in ihrer Mitte Atma sein. Und wer alle weltliche Lust und ihre Weisheit in sich zerstreut, wie ein Habicht ist er durch die Fäden des Netzes gebrochen und ist mit Brahma eins geworden. Wie die Flüsse, nachdem sie einen großen Raum durchlaufen, eins werden mit dem ungebundenen Meer, so diese sich absondernden Menschen; sie werden selbst Brahma, selbst Atma. Im Großen der Großen und der Große der Großen ist mit seinem Lichte Alllicht; wer ihn als Brahma erkennt, wird Brahma. Hunderttausendmal hunderttausendfaches Sonnenlicht reicht nicht an das Licht dessen, der Brahmatma geworden ist. Atma selbst zeigt ihm seine Gestalt. Eben darum gelangt nicht jeder zu dieser Höhe, weil Atma ihre Sinne von sich treibt, daß sie nur Äußeres sehen. Wer daher diesen Weg zu Brahma einschlägt, muß aller Welt und Lust entsagen, die Scham nur bedecken, einen Stock nur führen und so viel Almosen nehmen, als zur Fristung des Lebens nothwendig ist. Dies thun aber nur noch die Kleineren; der Große wirft Gefäß und Stock weg und liest auch nicht die Oupnekhata. Brahma erkennt die Luft als seine Decke; er heftet sich an nichts, er ist nicht geschieden und nicht gebunden mit irgend etwas; für ihn ist nicht Tag und nicht Nacht, nichts als Atma, und Brahma ist ihm Alles.“
Analog heißt es in den Upanischads:
„Das Herz wandelt in der Zeit des Wachens an Orten, wohin das Auge, das Ohr und die andern Sinne nicht gelangen und gewährt schon so ein großes Licht. Ebenso wandelt es im Traume an entlegene Orte und zündet den andren Sinnen ein großes Licht an. Im tiefen Schlaf ist es eins und ungetheilt und hat nicht seines Gleichen im Leibe; es ist das Princip aller Sinne. Der Fähige vollbringt seine Werke mittelst des Herzens, und der Erkennende 205erkennt durch das Herz, auch ist es der Beweggrund aller Opfer. Es ist die Leuchte des Leibes und der Mittelpunkt desselben und aller Sinne Mitte. In ihm wohnt die Erinnerung und alle Überlegung. In seinen Banden ist der vergangene, gegenwärtige und zukünftige Zustand der Welt, alles Vergängliche; es selbst aber ist unvergänglich. In der Herzhöhle wohnt die unsterbliche Person nicht größer als ein Daumen, in der Mitte des Geistes, diese Person ist klar wie eine rauchlose Flamme. In dieser Höhle ist Brahmas Wohnung, eine kleine Lotosblume, ein kleiner Raum, der von ätherischem Licht erfüllt ist. Was das sei, was darin ist, sollte erforscht und erkannt werden. Derselbe Äther, wie er außen ist, ist auch innerhalb jenes kleinen Raumes im Herzen und in ihm sind Himmel und Erde enthalten, und das Feuer und der Wind, und Sonne und Mond, und der Blitz und die Gestirne. Alles ist und ist nicht an diesem Ort. Und wenn Einer sagt, daß hierin Alles enthalten ist und alles Verlangenswerthe, was bleibt dann übrig, wenn Brahmas Wohnung, welche im Herzen ist, altert und vergeht? Darauf muß erwidert werden: jener zarte Äther altert nicht und wird nicht getödtet mit dem Leibe. Er ist wahrhaftig und Brahmas Wohnung, in welcher Alles enthalten ist. Er ist der Geist, von allem Übel weit entfernt, dem Alter, der Krankheit, dem Tode nicht unterworfen. Wer diesen Atma nicht erkennt, geht aus der Welt und in alle Welten, seiner nicht mächtig, und zieht aus, den Lohn der Werke zu empfangen, der ihm gebührt. Die aber von hier weg gehen, den Geist erkennend, die gehen ihrer und ihrer Wünsche mächtig und empfangen ewigen Lohn. Wem der Schleier der Unwissenheit und des Irrthums vom Herzen genommen wird, wer die Gestalt des zarten Äthers angenommen hat, dem ist alles Wünschenswerthe gegenwärtig. Wie der Nichtwissende über einen in der Erde verborgenen Schatz wegschreitet und ihn nicht findet, so wissen die Menschen nicht, wohin sie gehen und mit wem sie alle Tage zusammenkommen, wenn sie – in tiefen Schlaf versinkend – wirklich zu Brahma eingehen und einkehren in jenen innern Äther. Wer aber den Geist erreicht, der sieht, wenn er auch äußerlich nicht sieht, der wird gesund, wenn er auch krank ist. Ihm wird die Nacht zum Tag, das Dunkel zum Licht, er ist sich offenbar, und diese offenbare Gegenwart ist die Welt 206des Brahma selbst. Wer sie gewinnt, der ist aller Orten und auf alle Weisen, wie er will, zu jeder Zeit; wenn er sich von aller Anhänglichkeit an die Sinnenwelt geschieden hat, ist er wahrhaftig.“
Nach Manus Gesetzbuch hat die Seele drei Zustände der Erkenntnis: das Wachen, der Traumschlaf und die durch die Yoga hervorgerufene Ekstase.
Das Wachen in der äußern sinnlichen Welt gilt den Indiern nicht als ein wahres Erkennen, denn Unwissenheit und Bethörung walten vor wegen der Anhänglichkeit an äußere Dinge und der Begierde nach deren Besitz. Daher die Habsucht, die Anhänglichkeit an das Vergängliche und sinnlich Handgreifliche, das Trachten nach falschen Gütern, die Unbeständigkeit und das Gemisch von gut und böse, hohem und niedern, Laster und Tugend, Tier und Mensch. Dieser Zustand entspricht der Finsternis nach den verschiedenen Stufen vom ersten Erwachen ins irdische Dasein bis zur Intelligenz und allem Raffinement in den Künsten und Wissenschaften.
Im Traumschlaf herrscht noch der Sonnendienst in Bildern; die Seele schwebt noch im Dämmerlicht in Bewegung zwischen Freude und Leid, Liebe und Haß, zwischen Kühnheit und Furcht vor Gefahren. Das ganze Leben ist ein Traumleben voll Eitelkeit, ohne je das wahre Ziel zu erreichen; jedoch ist es schon der Übergang zum wahren Erwachen in Brahmas Welt.
Die Ekstase öffnet erst das wahre Licht der Erkenntnis, und das rechte Wachen ist ein Schauen eines dem gemeinen Auge unsichtbaren unzugänglichen Lichtes. Hier wird erst das innere Auge aufgeschlossen, und das Sehen ist nicht mehr das sinnliche, dem Zufall und dem natürlichen Licht preisgegebene verwirrbare, sondern es ist das Hellsehen, das Durchschauen der Dinge. – Die Ekstase hat aber verschiedene Grade des innern Erwachens, in welchem die Yogis in tiefen Schlaf versenkt und wie die im Traumschlaf Befangenen der Welt entrückt sind, und in den niedern Stufen herrscht Ohnmacht und Ruhe und halbaufgeschlossener innerer Sinn wie im Traumschlafe. Alle Menschen verfallen täglich in diesen Zustand, aber daraus zurückgekehrt wissen die wenigsten etwas davon und fallen beim Erwachen in die äußere Welt wieder der Unwissenheit anheim.
Nach einer Erzählung der Upanischads antwortete ein Rischi auf die Frage: wer wohl der Größere sei, der wache, der Träume schaue, und wo der Ort der Wonne sei? auf folgende Weise: „Wenn die Sonne untergeht, gehen ihre Strahlen in den Kern zurück; auf dieselbe Weise gehen die Sinne in Manas (den Allsinn) zurück. Die Person sieht nichts, hört nichts, riecht nichts, schmeckt und fühlt nichts, faßt nichts mit der Hand und hat keine Lustbegierde, eine solche Person ist in Supta (im Schlafe). Aber innerhalb der Stadt des Brahma (im Leibe des Schlafenden) sind dann die fünf Pranas leuchtend und wach. So lange die Pforten des Leibes noch offen stehen und das Herz in den Regionen der äußern Sinneswelt umherschweift, erwacht keine wesentliche Selbstheit, denn die Sinne stehen dann geschieden und vereinzelt. Werden sie aber in das Herz hineingezogen, so gehen sie Gemeinschaft ein, und der Mensch erreicht sich selbst im Licht jener Pranas, er ist bei verschlossenen Pforten des Leibes und im tiefen Schlafe – auch bei völliger Erstarrung und Unempfindlichkeit – innerlich wach und genießt die Erkenntnis des Brahma an jedem Tag und zur Zeit des seligen Schlafes. Da sieht er dann, was er im Wachen that, und sah an jedem Ort Alles aufs Neue. Er sieht Alles insgesammt, Gesehenes und Nichtgesehenes, Gehörtes und Nichtgehörtes, Gewußtes und Nichtgewußtes, und weil Atma selbst Urheber aller Handlungen ist, so verrichtet er nun im Schlaf gleichfalls alle Handlungen und nimmt seine ursprüngliche Gestalt wieder an. Um dahin zu gelangen, müssen die Sinne und die Sinnenlust verschlossen sein, auch innerlich im Leibe muß diese Macht in die Pfortader eintreten und der Galle den Ausfluß verschließen, denn das Manas bindet in dieser Zeit jene Ader, welche der Weg der Begierde ist, und der Schlafende sieht dann keinen Traum mehr, sondern er wird dann ganz Atma, lichtartig, und sieht die Dinge, wie sie sind. Er wirkt vernünftig und vollbringt Alles. Er wird mit Brahma Eins.“
So viel über Kosmogonie, Mystik &c. der Inder.
Ich wende mich nun zur indischen Astrologie, über die ich in meinen „Geheimwissenschaften“ schon Einiges sagte.
Eine jede sabäische Religion ist aus der Beobachtung der Gestirne erwachsen, und es gehört zum Glauben der hierhergehörigen Kulte, daß die Himmelskörper die Geschicke der Menschen bestimmen. Deshalb ist und bleibt die Astrologie die Mutter der Astronomie. Es ist ein tiefeingreifender Glaube der sabäischen Religionen, daß die Gestirne belebt, daß sie entweder göttliche Wesen an sich seien, deren Pfad am Himmel die Milchstraße darstellt, weshalb diese bei den Indern sowohl die Sternenbahn, als auch die Götterstraße und der Weg der Frommen genannt wird, oder daß wenigstens die Seelen der Tugendhaften aus ihnen strahlen, so lange ihr Verdienst währt, dann aber als Sternschnuppen herabfallen, um abermals in irdische Körper gebannt zu werden. So sagt Matalis zu Arjunas: „es sind Fromme, welche du in Sternengestalt auf der Erde gesehen hast!“ und diese Vergleichung mit einem gefallenen Stern bei den indischen Dichtern findet nach dieser Ansicht erst einen tiefen Sinn. Ähnlich war die Vorstellung bei einigen Griechen; denn bei Aristophanes heißt es ausdrücklich, daß die Seele zum leuchtenden Stern werde, und auch Origenes kann sich von diesem Stern kaum losreißen.
Werden aber die Gestirne mit diesem Interesse betrachtet, so muß die Astrologie in dem ursprünglichen Sinn der Astrognosie gar bald ein unzertrennlicher Teil der Religion werden, und die Beobachtung muß sich auf die Himmelskörper mit gesteigertem Anteil lenken, um womöglich ihre ewigen Gesetze zu berechnen und die scheinbar regellos zerstreuten Funken in eine kosmische Symmetrie zu bringen.
Die Beobachter waren Priester, durch Muße, höhere Bildung, Kastenverbindung und Beruf am ersten angewiesen, auf alles, was Religion betraf, aufmerksam zu sein, und so konnte es auch der oberflächlichsten Beobachtung nicht entgehen, wie die alles belebende Sonne als Hauptgottheit des Sabäismus im Laufe der Jahreszeiten ihren Einfluß zugleich mit der anscheinenden Bahn veränderte, wie die Sterngruppen zu ihrer Stellung wechselten, und besonders der Mond eine regelmäßige Wanderung zu machen schien am unermeßlichen Himmelsgewölbe, bald dieses, bald jenes Gestirn begrüßend, 209bald im vollen Glanz, bald unscheinbar und ganz verschwindend.
Im Geiste des Orients hüllte man die beobachtete Regelmäßigkeit in populäre Allegorien ein, teils um die Mitteilung der Erfahrungen zu erleichtern, teils um dem Volke den geglaubten Einfluß jener glänzenden Körper auf die Erde bemerklich zu machen.
Dies war der Ursprung der Astrologie.
Fortgesetzte Beobachtungen mußten bald neben Sonne und Mond noch fünf Planeten entdecken lassen, und wirklich geht die Bekanntschaft mit denselben über die uns bekannte Geschichte hinaus. Bereits Homer kennt die Venus, während die Chaldäer besonders Jupiter und Mars verehrten, und aus keinem andern Grund genießt die mystische Zahl Sieben eine solche Verehrung, als aus Rücksicht auf die Zahl der Planeten.
Bei den Indern ist die Siebenzahl hochheilig und spielt in den Mythen eine sehr bedeutende Rolle; dabei will ich nur an die sieben heiligen Rischis, die sieben Rosse des Surya, die sieben Zungen des Agnis, an den siebenköpfigen Drachen und an die sieben Reinigungshöllen erinnern.
Die Planeten werden in den ältesten heiligen Schriften der Indier genannt, und es giebt sogar besondere Gebete an sie. Venus ist eine männliche Gottheit; sie und Merkur sind glückliche Sterne und stehen wie Jupiter, „der Lehrer der Götter“, in hohem Ansehen. Hingegen ist Saturn, „der Langsame“ (Sanis), unheilbringend; ihm ist der Rabe gewidmet, welcher allenthalben als ein Anzeichen des Unglücks, der Trennung und der Regenzeit erscheint.
Die Wochentage werden folgendermaßen unter die Planeten verteilt:
1. | Sonntag | Tag des | Sûryas (Sonne). |
2. | Montag | " | Chandras (Mond). |
3. | Dienstag | " | Mangalas (Mars). |
4. | Mittwoch | " | Buddhas (Merkur). |
5. | Donnerstag | " | Vrihaspatis (Jupiter). |
6. | Freitag | " | Sukras (Venus). |
7. | Sonnabend | " | Sanis (Saturn). |
Der Sonntag war der heiligste Tag; er war der Schöpfungstag unter dem Meridian von Lanka, und mit ihm – um Sonnenaufgang – beginnt die Kalpa oder eine neue Weltperiode.
Die Indier haben einen doppelten Tierkreis, insofern derselbe nämlich sowohl in die zwölf Bilder der Ekliptik, als in achtundzwanzig Mondstationen geteilt ist.
Die Indier nennen den Zodiacus Gestirnkreis (jyotishimandala) oder Zeichenrad (râsichakra), und die Bilder kommen sowohl in den Veden, als im Ramayana und Bhagavadgita vor. Sie sind ursprünglich einfache Kalenderzeichen und beziehen sich auf die klimatischen Verhältnisse, von denen die drei bedeutsamsten Zeichen auf eine periodische Überschwemmung hinweisen. Diese sind:
Der Steinbock, welcher eine Doppelgestalt, halb Bock, halb Fisch, besitzt. Aratus gedenkt des Fischschwanzes noch nicht, wohl aber Eratosthenes, welcher ihn nach geläufigen Ideen Pan nennt. Bei den Indiern ist er eigentlich ein Delphin (makara) und wird dann mit einem Seeungeheuer, welches dem Gotte Varuna geweiht ist, am gewöhnlichsten mit einem Krokodil, verwechselt. Die Bildung des ausgehenden Fischschwanzes kommt hier häufiger vor, unter andern bei der Matsyavatara des Wischnu; um aber das Steigen des Wassers recht anschaulich zu machen, fügt die indische Sphäre das Bild einer Gazelle hinzu.
Der Wassermann gießt aus seiner Urne Ströme Wasser aus, und schon Eratosthenes meint, er scheine seinen Namen von der That zu haben. Im Sanskrit heißt dieses Zeichen Krug (kumbha), welcher in der Hand des Wassermanns die auffallendste Ähnlichkeit mit den ägyptischen Canopuskrügen darbietet. Nach dem periodischen Regen zur Zeit, in welcher die Sonne im Zeichen des Wassermannes steht, folgt im dritten Monat der Regenzeit das völlige Wachsen der Ströme, welches
die Fische andeuten, deren Mythus sich unwandelbar an die syrische Göttin Atargatis – Derketo – knüpft. Im nächsten Monat ist das Wasser so weit abgelaufen, daß man im Zeichen des
Widders das Kleinvieh wieder auf die Weide treiben kann. Der Widder wird bald als der des Bacchus in Libyen, bald als der des Phrixus und der Helle aufgefaßt und wiederum mit Jupiter Ammon in Verbindung gebracht. Sein Charakter als Zeichen der Frühlingsnachtgleiche würde auf ein Entstehen des Tierkreises um etwa 560 v. Chr. hindeuten.
Der Stier ist das natürlichste Zeichen, daß im Frühling das Feld bestellt werden muß; außerdem ist auch in Bezug seiner Reihenfolge auf den Widder zu beobachten, daß im Frühling nach den Schafen die Rinder werfen. Ägyptische Mythen beziehen den Stier auf den Apis; mit größerem Recht haben wir wohl an den zoroastrischen Urstier, Moloch &c. zu denken.
Die Zwillinge erscheinen auf der indischen Sphäre getrennten Geschlechts; jedoch erscheint diese Darstellung jünger als die griechischen Mythen, welche in diesem Sternbild die Dioskuren, Triptolemus und Jasion, Zethus und Amphion, Herkules und Apollo sehen. Bemerkt sei noch, daß sich anstatt der menschlichen Zwillinge, auf welche sich jedoch schon die Asvinau der Indier in den epischen Gedichten zu beziehen scheinen, in indischen Darstellungen zwei Gazellen finden, und das ganze Bild somit die im Frühling üppig grünende Natur anzudeuten scheint.
Die Darstellung des folgenden Zeichens durch einen Krebs ist zwar allverbreitet und uralt, unterliegt aber doch wohl ursprünglich einer falschen Deutung, insofern die ältesten Darstellungen der ägyptischen und indischen Sphäre nicht einen Krebs, sondern den der Sonne geheiligten Scarabäus darstellen, welcher jedoch erst in späterer Zeit als Solstitialzeichen dem Anubis beigesellt wurde.
Die griechische Mythe läßt den Krebs aus dem lernäischen Sumpf hervorgehen und den Herkules bei seinem Kampf gegen die Schlange am Fuße verwunden. Diese Mythe entstand höchst wahrscheinlich erst aus dem Sternbild selbst, um so mehr, als Taschenkrebse – denn einen solchen stellt das Sternbild vor – nur im Meere leben. – In späterer Zeit erklärt Makrobius den Krebs aus der abnehmenden Deklination der Sonne, nachdem sie den Sommersolstitialpunkt erreicht hatte.
Auf der alten Sphäre bezeichnet der Löwe, das Sinnbild der Kraft, den ursprünglichen Kulminationspunkt der Sonne, und hierauf beziehen sich die diesbezüglichen Mythen wie vom nemeischen Löwen usw.
Die Jungfrau mit der Ähre (Spica) ist an sich klar das Bild der Ernte und kann sich, da dem gesamten Altertum das Bild einer Frau als Schnitterin fremd ist, nur auf die Erde als Göttin beziehen, welche ihre Gaben spendet. Darauf beziehen sich auch 212die schwankenden Mythen, welche bald auf Dike, bald auf Asträa, Isis usw. abzielen.
Bekannt ist, daß der ältesten griechischen Sphäre das Zeichen der Wage fehlt, und daß sich an ihrer Stelle die Scheren des Skorpions befinden. Auf der indischen Sphäre jedoch befindet sich die Wage (tulâ) mit zwei Schalen, deren die Goldschmiede sich bedienen und worauf der Totenrichter Yama die Thaten der Menschen abwägt. Außerdem bedeutet sie an sich aequalitas und ist somit das natürlichste Zeichen des Äquinoktium.
Bezüglich des Skorpions finden sich nur wenig Mythen, doch fängt in Ägypten unter ihm das Reich des Typhon an. Am richtigsten ist wohl, bei der Aufstellung dieses Sternbildes daran zu denken, daß im Herbst Indien und Persien von Skorpionen, Schlangen und anderm Gewürm wimmeln; auch wäre es vielleicht angezeigt, an die Kharfesters des Zendavesta zu denken.
Die Entstehung des Sternbildes des Schützen ist sehr zweifelhaft; auf keinen Fall kann die Mythe von den Centauren, Chiron &c. genügen, und auch an einen ägyptischen Ursprung ist wohl kaum zu denken, da das Nilthal ein durchaus pferdearmes Land ist, wohingegen die Entstehung der Centaurenmythe durchaus auf die Ebenen Hochasiens paßt.
Überhaupt steht die Annahme des ägyptischen Ursprungs des Tierkreises in entschiedenem Widerspruch zum dortigen Naturleben, abgesehen von dem Umstand, daß das Alter des Tierkreises von Denderah nicht über die Zeit des Tiberius hinausgeht. Wenn andere Flüsse abnehmen, sagen schon die Alten, so steigt der Nil vom Sommersolstitium bis zum Herbstäquinoktium, und wenn andere Völker Winter haben, ist in Ägypten alles blühend. Die Frühlingsnachtgleiche findet im Widder statt; der Nil steigt im Krebs, und die Überschwemmung dauert bis in das Zeichen der Wage, weshalb der Löwe nicht mehr ein Bild der Sonnenhöhe sein kann. Die Landbestellung fängt im November, also im Zeichen des Schützen an, die Ernte fällt in den März, weshalb der Stier nicht Erntestier sein kann, und im Zeichen der Jungfrau steht das Land unter Wasser. Aus den genannten Ursachen würde ein ägyptischer Ursprung des Tierkreises nur dann annehmbar sein, wenn man das Frühlingsäquinoktium in die Wage, und das Wintersolstitium in den Krebs versetzen 213wollte. Dabei würden aber die so charakteristischen Zeichen des Stiers, des Krebses und des Löwen ihre Bedeutung völlig einbüßen, abgesehen von dem Umstand, daß man die Entstehung des ägyptischen Tierkreises in das Jahr 14272 v. Chr. setzen müßte.
Dahingegen würde die Entstehung des Tierkreises völlig auf das nördliche Indien und Bengalen passen, insofern die Regenmonate (chaturo vârshikan mâsân nach der Ramayana) der Sphäre entsprechend vom November bis Februar fallen. Die Vedas setzen den Frühling (vasanta) unter die Zeichen von den Fischen bis zum Stier sofort nach der Überschwemmung. Die betreffenden drei Monate sind die angenehmsten, und in ihnen beginnen die Pilgerfahrten nach Haridvari bis zum April hin, wo endlich die Zeit der Feldbestellung im Zeichen des Stieres beginnt. Der Tierkreis bietet somit noch gegenwärtig den Indiern einen völligen Naturkalender dar, während er für Ägypten eine nichtssagende Hieroglyphe ist.
Es fragt sich nun endlich noch, ob die Anordnung des Tierkreises getroffen wurde, als noch Bild und Sache zusammenfielen, d. h. mit andern Worten, als der Katasterismus des Widders das Zeichen des Frühlingsäquinoktium war, was um ca. 550 v. Chr. stattfand, oder ob dies früher geschehen sei. Dabei ist der Betrag der Präcession – in 72 Jahren ein Grad – wohl zu berücksichtigen und zu bedenken, das die Präcession eines Zeichens 2160 Jahre, die des ganzen Tierkreises jedoch rund ca. 26 000 Jahre beträgt.
Da nun trotz der Behauptungen des Ktesias, der alten chaldäischen Priester usw. nicht an ein solches Alter der Astronomie zu denken ist, so bleibt nur die Annahme des indischen Ursprungs des Zodiacus übrig, wobei nur das spät entstandene Zeichen der Wage störend wirkt, während alle anderen Zeichen ihre ungezwungene Erklärung finden, wenn mit dem Stier das Jahr sich eröffnete. Die Hitze mit ihren Fiebern wird am drückendsten zur Zeit des Herbstäquinoktium, wenn die Sonne in den Skorpion tritt, gerade wie der Parsismus und die biblische Kosmogonie das Hereinbrechen des Übels unter dem alten Drachen und die neueren Stücke des Zendavesta im Zeichen der Wage annehmen. Im Steinbock steigt die Sonne wie das Wasser der Ströme, welches durch das 214Amphibium Makara angedeutet wird. Der Wassermann gießt seine Ströme herunter, und der Scarabäus erhält dadurch Bedeutung, daß er erst zur Sonne strebt, aber noch nicht deren Kulminationspunkt bezeichnet. Derselbe tritt im Löwen, im astrologischen Haus der Sonne ein, weshalb Herkules auf der Löwenhaut ausruht und in Ägypten der Löwe der Thron des Horus ist. Überhaupt beziehen sich alle siderischen Mythen nur auf diese Sphäre, besonders wenn in ihnen der Stier figuriert, an dessen Stelle in späterer Zeit der Widder oder das Lamm trat.
Die Chinesen beginnen noch heute den Tierkreis mit dem Stier und feiern die Wiederkehr der Sonne im Wassermann, während die Perser die zwölf Bilder des Tierkreises mit den zwölf ersten Buchstaben des Alphabets bezeichnen und für den Stier A, für die Zwillinge B setzen usw. Dabei will ich nochmals daran erinnern, daß im Zendavesta der Urstier, der himmlische Lichtbringer, welcher das Gras wachsen läßt, im Frühjahr geschaffen wird.
Noch deutlicher wird dies bei den Mithramonumenten und bei dem ägyptischen Apis usw. In allen diesen religiösen Mythen, welche das ganze Altertum durchdringen, eröffnet der Stier das Jahr, und es geht mit ihm und dem Frühlingsäquinoktium bei der Weltschöpfung die Umwälzung sämtlicher Gestirne aus. In den Vedas beginnen die Krittikas oder die Plejaden am Halse dieses Sternbildes ebenso wie die 28 Mondnakshatras, eine Anordnung, welche Colebrooke um das Jahr 1400 v. Chr. setzt.
Nur die Ägypter, bei denen die Personifikation der Erde als eine Kuh als eine ihnen ursprünglich fremde Vorstellung vorausgesetzt werden darf, treten hier – durch ihr Klima genötigt – mit der späteren Sphäre allenthalben in Widerspruch.
Der Widder, welcher im koptischen Tierkreis das Reich des Ammon genannt wird, war den Ägyptern bereits das Zeichen des Frühlingsäquinoktium, und die Mythen von Jupiter Ammon sind wie die Sothisperiode wohl kaum so alt als man gewöhnlich annimmt. Der Sirius (Sothis) sollte nach den Anschauungen der Ägypter der Schöpfung der Welt vorgestanden haben, weil sie nach dem astronomischen Jahr des Meton den Jahresanfang in das Sommersolstitium verlegten oder die Schöpfung im Zeichen der Wage geschehen sein ließen, weil sonst die Züge des Osiris keine 215Beziehungen zu dem Land gehabt hätten, denn nach Diodorus Siculus trat, während Osiris in Äthiopien war, der Nil aus seinen Ufern. Dennoch begannen sie die Trauer um Isis, wenn der Nil noch im Steigen war, und die Thränen der Isis vermehrten das Wasser, und Osiris stirbt im Zeichen des Skorpions. Alles dies sind Anschauungen der Perser und Indier von dem Absterben der Natur und dem Sieg des Bösen, welche jedoch mit dem Anfang des Frühlings im Nilthal ohne alle Bedeutung sind.
Alle diese Umstände würden auf eine Entstehung des Tierkreises um etwa 1600 v. Chr. deuten. Das hohe Alter des Tierkreises erhellt auch aus dem Umstand, daß das älteste Jahr 360 Tage zählte. Die Griechen schrieben die Einführung desselben dem Solon zu, während nach Diodor[266] in Ägypten zu Philä täglich ein Gefäß mit Milch aufgestellt wurde, bis die Zahl von 360 erreicht war; eben so viele Priester mußten Wasser in ein durchlöchertes Faß gießen, und der Kriegsrock des Amasis bestand aus Fäden von 360 Drähten. Am Rocke des Hohepriesters befanden sich nach einigen Rabbinen 360 Glöckchen, und in der Kaaba der alten Araber standen 360 Götterbilder; Semiramis baute um Babylon eine Mauer von 360 Stadien Länge, und auch das altpersische Jahr hatte 360 Tage. Bei den Indiern bilden 360 irdische Jahre ein Götterjahr, und noch jetzt ist ein Jahr von 360 Tagen auf Sumatra, Java, in Surate usw. in Gebrauch. Die indische Stunde hat 60 Minuten oder 360 Augenblicke, und es scheint, daß auch die Ägypter ihre Stundeneinteilung diesem Jahre entlehnten. Wenigstens scheint dies aus Ptolemäus zu erhellen, welcher nach den 360 Graden des Tierkreises der Stunde fünfzehn Minuten und der Minute fünfzehn Sekunden, dem Tag also 60 Stunden giebt, während der bürgerliche Tag nur 24 Stunden zählt.
Es bleibt nun noch die indische Lehre zu erwähnen, nach welcher der Tierkreis in 120 Dekatemorien geteilt wird, so daß auf jedes Zeichen zehn entfallen, ferner in 36 Dekanate, deren Herren – die Dekane – die einzelnen menschlichen Glieder analog der Harmonie des Makrokosmos mit dem Mikrokosmos regieren. Ursprünglich entstammte diese Anordnung wohl den Chaldäern, 216weil Psellus und andere sie denselben zuschreiben. Diodorus Siculus nennt dieselben ϑεοὶ βουλαῖοι, und bei den Indiern heißen sie dreskânâs.
Einer der bedeutendsten indischen Astrologen war der um 506 nach Christus lebende Varahamihioas, ein Brahmane zu Udjayini, von seinen Schülern Avantikas genannt, welcher ein reichhaltiges astronomisch-astrologisches Werk schrieb. Der erste Teil desselben enthält die eigentliche Astronomie, und die beiden letzten die Astrologie. Die letztere zerfällt wieder in drei Teile (skandâs), nämlich Tantra, welches die Berechnung der Planetenorte lehrt, alsdann Horâ, das eigentliche Stellen der Nativitäten und das Ermitteln glücklicher Elektionen zu Reisen, Hochzeiten usw. Der dritte Teil enthält die Wetterprognostika (Sâkhâ). Von dem Gesamtwerk sind nur die astrologischen Teile unter dem Namen Vrihatsanhitâ erhalten geblieben und von Bhattatpala kommentiert worden.
Ein anderer berühmter Astrolog war der um 581 n. Chr. lebende Brahmaguptas, welcher großen Einfluß auf die Araber ausübte, und mit welchem namentlich Abumassar in der Theorie von den großen Umläufen des Saturn und Jupiter übereinstimmt.
Noch will ich bemerken, daß es nach Diodorus Siculus und Strabo bereits zur Zeit Alexanders des Großen in Indien astrologische Ephemeriden gab, und daß am Neujahrstage die Astrologen bei Hofe erscheinen mußten, um „die Witterung“ für das Jahr vorauszusagen. Was aber Strabo und Diodorus „Witterung“ nennen, bezieht sich auf die „glücklichen“ und „verbrannten“ Tage (dagdhas), welche bis auf die Neuzeit in der Astrologie eine große Rolle spielen. Es leuchtet ein, daß die Ermittelung dieser Tage, welche an gewisse Konstellationen geknüpft sind, Berechnungen erfordern, weshalb der Astrolog im Sanskrit Rechner (ganakas) oder Zeichenkenner (nimittavid) heißt. Die Astrologie heißt entweder Götterbefragung (devaprasna) oder Nativitätsberechnung (jâtaka), und der Berechner astrologischer Ephemeriden führt den Namen Sâmoatsaras. In Trankebar besteht gegenwärtig noch der Kalender (panchângam) aus fünf Hauptteilen: aus den Titthis, den Wochentagen (vara), den Nakschatras, den Yogas und aus dem astrologischen Teil, der die Kâana und Tyâga oder dasjenige vorschreibt, was an den glücklichen 217oder unglücklichen Tagen zu thun und zu lassen sei. Die Astrologie kommt bereits im Ramayana bei der Geburt des Rama vor, welche unter einer glücklichen Konstellation stattfand, ja aus vielen Stellen alter Sanskritschriften ergiebt sich, daß das Leben der alten Inder durch astrologische Ideen so beherrscht wurde, daß er nichts that, ohne die Planeten zu befragen. Diese Anschauungen mußten sich allenthalben da entwickeln, wo die Gestirne ihren Einfluß auf die Regierung der Welt, auf Charakter und Sitten, auf die künftigen Schicksale, auf die Körperbildung wie auf das ganze Naturleben behaupteten.
Was sonst noch über indische Astrologie zu sagen ist, habe ich in meinen „Geheimwissenschaften“ mitgeteilt.
Sehen wir nun zu, was an verbürgten Resultaten des praktischen Occultismus der Inder in Europa bekannt geworden ist.
Dr. Johannes Baumgarten berichtet in der Sphinx[267]:
„Seitdem Charcot 1878 den wissenschaftlichen Bann gebrochen hat, der auf den Magnetisten (nicht zu verwechseln mit den Magnetiseurs) lastete, sind die ‚Profanen‘ allseitig in das sorgfältig gehütete dunkle Gebiet des Occultismus eingedrungen und haben als Gewinn ihrer Streifzüge eine Reihe sogenannte Entdeckungen von Thatsachen heimgebracht, die seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden, nur der blinden Schulweisheit unbekannt waren, die sie jedoch unter neuen Namen zuerst an das Licht gezogen zu haben wähnen. Keine einzige der durch die Experimente von Charcot, Baurneville, Richet, Liebeault, Bernheim, Dumontpallier, Preyer u. v. a. herausgestellten Hauptthatsachen des Hypnotismus und der Suggestion ist neu; sie lassen sich nachweisen in den Schriften von Du Potet und dessen Schülern; ja manche bei den ersten Mesmeristen und selbst weiter rückwärts im 18. Jahrhundert.“
„Der Brahmane und spätere portugiesische Abbé Faria, der in dem ersten Viertel unseres Jahrhunderts durch seine Experimente in Frankreich Aufsehen erregte und Schüler wie Noizet und Bertrand bildete, stellte die erste Theorie der Suggestion auf. In vielen Dingen steht er bereits auf heutigem wissenschaftlichem Boden. Sein etwas schwer zu lesendes Werk ist eine Fundgrube für Forscher; 218man findet darin: Gedankenübertragung, Lesen geschlossener Bücher oder versiegelter Briefe, Fernsehen, Ortsveränderung der Seele &c.“
„Ein anderer Brahmane Lahanteka, der 1854 und 55 Amerika bereiste, bewies in merkwürdigen Experimenten die direkte Wirkung des Willens auf die äußere Welt und zeigte u. a. wie durch einen einfachen Willensakt die Sinne seiner Zuhörer dergestalt von Illusionen befangen wurden, daß sie glaubten, einen Schwarm von Vögeln durch den Saal fliegen zu sehen und deren Gesang zu hören. Von Gedankenlesen gab er ihnen folgenden Beweis:“
„Lahanteka hatte ihnen zu wiederholten Malen unter zwanzig Münzen diejenige richtig bezeichnet, auf welche sie während seiner Abwesenheit ihre Willenskraft koncentrirt hatten. Da schlug einer, ebenfalls in Abwesenheit des Brahmanen, vor, um ihn zu prüfen, unter den Geldstücken keine Wahl zu treffen und sie ihm so vorzulegen. Lahanteka untersuchte die Münzen genau und erklärte dann, man habe auf keine einzige speziell den Gedanken gerichtet; hierauf betrachtete er eben so genau seine Zuhörer und bezeichnete dann richtig denjenigen, der diese Probe vorgeschlagen hatte.“
„Bei aufmerksamer Lektüre der seit dem 16. Jahrhundert erschienenen Reisebeschreibungen wird man auf eine Menge bisher wenig beachteter occultistischer Thatsachen stoßen, die nicht selten durch ihre Übereinstimmung in den verschiedensten Ländern eine entscheidende Beweiskraft für ihre Wirklichkeit und dadurch vielfach fast den Wert direkter Experimente haben.“
„Erst seit sieben Jahren weiß man genauer, daß in den Bazars des Orients eine geheime Korrespondenzweise bekannt ist, wodurch man Nachrichten in die Ferne senden und daraus erhalten kann. Dieselbe heißt Hindostan und im westlichen Asien Khabar (d. h. arab. Nachrichten).“
„Diese bis jetzt für die Wissenschaft unerklärliche Mitteilung geschieht mit der Schnelligkeit des Blitzes, wie Lord Cameron in seinen ‚Erinnerungen an die Drusen‘ sagt:“
„Fragt euch ein Kaufmann, Türke, Araber, Hindu oder Perser, ob ihr die neuesten Nachrichten kennt, und ihr antwortet verneinend, so teilt er euch diejenigen mit, welche der Khabar eben offenbart hat.“
„Hieraus erklärt sich, wie während des Krimkrieges die Brahmanen 219eher als die Engländer und noch vor dem Eintreffen der telegraphischen Nachricht den Fall Sebastopols und nachher den Abschluß des Friedens von 1856 erfuhren. Das Journal Du Potets erinnert daran, daß 1816 ein kurzer Aufstand unter einigen Völkerschaften im Innern von Hindostan entstand, weil diese – drei Wochen bevor die englische Regierung es erfuhr – die Nachricht von der Niederlage der Engländer am Vormittage von Waterloo erhalten hatten. Kurz darauf traf ebenso schnell die Nachricht vom schließlichen Siege der Engländer ein. An der Thatsache, die in ähnlicher Weise auch in Central- und Nordasien von Reisenden beobachtet wurde, ist kaum zu zweifeln. Aber wie soll man sie erklären? Noch kein wissenschaftlicher Beobachter hat sie untersucht, man ist also auf Vermuthungen beschränkt, da auch von der Benutzung des Hellsehens einer Somnambule dabei nicht die Rede ist.“
„Man könnte denken an den Gebrauch des magischen Spiegels Sarwa anjoun, den die Hindu und Mohammedaner in Indien kennen, und welcher in merkwürdiger Weise an das Experiment des Grafen de Laborde mit dem Magier Achmed in Ägypten erinnert. Die Operationsweise mit diesem Spiegel ist folgende:“
„Man nimmt eine Handvoll von dolichos lablab, welche man über dem Feuer verkohlen läßt und zu Pulver zerreibt und dann mit Biberöl befeuchtet. Hierauf läßt man dieses Präparat in einem neuen irdenen Gefäß, Lota genannt, verbrennen und drückt diese Masse, nachdem man eine gewisse Formel gesprochen hat, in die Hand eines Knaben, der bald darauf darin geheimnisvolle Gestalten und Geister erblickt. – Höchst bemerkenswerth ist, daß eine der ersten Gestalten, welche das Kind erblickt, gewöhnlich die des fourach oder Straßenkehrers ist, dem ein Wasserträger folgt; hierauf kehrt der fourach zurück, breitet einen Teppich aus und es erscheint eine große Schaar von guten und bösen Geistern, bis sich ihr Führer auf einem Throne zeigt und dadurch die Erscheinung zu Ende geht.“
„So geht die Sache in Hindostan vor sich. Nun hat sich aber ganz dasselbe in Kairo beim Experiment Achmeds vor dem Grafen de Laborde gezeigt: Der in seine Hand blickende Knabe beschrieb einen türkischen Soldaten, der einen Platz vor einem Zelte fegte. 220Die Beweise von Fernsicht, welche das Kind gab, waren durchaus überzeugend.“
„Von einem zum Fernsehen gebrauchten Knaben ist weder beim Khabar noch bei den Sannyasis und Hoyis, welche den Sarwa anjoun handhaben, die Rede. Es muß also eine andere Erklärung gesucht werden, und da dürfte denn die von einem Herrn Magliulo 1856 zu Bona in Algerien (jedenfalls im Verkehr mit den dortigen Arabern) gemachte Entdeckung eines höchst einfachen, Ferngesichte erzeugenden Zauberspiegels eine Handhabe bieten. Nach Du Potets Journal (XV, 494) bereitet man diesen Spiegel auf folgende Weise:“
„Man schwärzt mit Tinte in der Höhlung der linken Hand eine Fläche von der Größe eines Zehncentimes-Stückes, gießt 2–3 Tropfen Öl darauf, den Flecken magnetisiert man durch einige Striche mit der rechten Hand, was auch ein anderer eine halbe Minute lang thun kann, hierauf lehnt man die Hand irgendwo an, um sie nicht ermüden zu lassen, und haftet unverwandt den Blick ohne die Augen und Gedanken jemals abschweifen zu lassen, auf den schwarzen Flecken in der linken Hand und erwartet die sicher eintreffenden Erscheinungen und verlangten Fernblicke ab. Personen von nervösem oder lymphatischem Temperamente erhalten dieselben recht bald, vollkommen gesunde und kräftige oft erst nach längerer Zeit.“
„Die Möglichkeit dieser Operationsweise beim Khabar läßt sich nicht ohne weiteres zurückweisen, da eine Reihe ähnlicher Beobachtungen mit anderen sogenannten Zauberspiegeln vorliegen. Das Ganze beschränkt sich auf eine braidistische Konzentration des Blickes und Gedankens, die eine Auto-Hypnose erzeugt, welche bei hysterischen und nervösen Personen die bekannten Erscheinungen unzweifelhaft zur Folge haben. Es kann nicht eindringlich genug darauf aufmerksam gemacht werden, daß diese Auto-Hypnose wie überhaupt alle Auto-Magnetisations-Experimente äußerst gefährlich sind, daß häufig Wahnsinn, selbst Tobsucht eintritt, jedenfalls eine dauernde Disposition zu Delirien und Wahnvorstellungen. Aubin Gauthier machte schon auf die Gefährlichkeit der vor ihm so genannten Ipso-Magnetisation aufmerksam in dem Falle, wo sie die Erzeugung eines somnambulen Zustandes bezwecke. Es treten zuweilen unheimliche Zustände einer Art von fast dämonischer Besessenheit 221mit entsetzlichen Hallucinationen ein, wie sie uns Du Potet beschreibt, der sie an sich selbst erfahren hat. Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht unerwähnt lassen, daß Paul Gibier in seinen beiden letzten Schriften und mehrere andere Sachkenner es für einen höchst gefährlichen Unfug halten, wenn sogenannte Antispiritisten und Hallucinationskünstler in Deutschland umherziehen und mit ihren hypnotistischen Experimenten die unwissende Menge, wozu auch auf diesem Gebiete die meisten Gebildeten gehören, verblüffen. ‚Es sind Kinder‘, sagte er, ‚welche mit Dynamitpatronen spielen.‘“
„Wir gehen jetzt über zur Schilderung einiger occultistischer Merkwürdigkeiten aus Tibet, welche wir den Reisebeschreibungen des Missionars Huc entnehmen. Die Werke dieses Reisenden wurden auf den Index gesetzt und er selbst seiner Stelle als Missionar entkleidet, weil er in naiver Weise die Übereinstimmung einer Reihe katholischer Ceremonien und Gebräuche mit tibetanischen wahrheitsgetreu ans Licht gezogen und ebenso über einige Wunderdinge, die er unter den Lamas mit eigenen Augen gesehen, berichtet hatte. Einiges harrt noch der wissenschaftlichen Erklärung und Bestätigung, anderes, wie die Schaustellungen der Bokte-Lamas, ist heute durch ähnliche Beobachtungen in Kleinasien und Nordafrika vollständig außer Zweifel gesetzt.“
„Wir gehen jetzt zu einer andern occultistischen Thatsache über, deren Bericht dem Missionär Huc[268] den Spott und Hohn der wissenschaftlichen Welt, namentlich der Mediziner, zuzog, die aber heute durch ganz dieselben Beobachtungen in andern Ländern in die Reihe jener zahlreichen, scheinbar unmöglichen und übernatürlichen Thatsachen gerückt worden ist, deren Erklärung auf positiv wissenschaftlichem Boden gegenwärtig teils schon erfolgt ist, teils mit Zuversicht erwartet werden kann. Allerdings wird das Ergründen der letzten atomistischen Vorgänge für uns Erdensöhne ewig ein vergebliches Suchen bleiben; man wird zuletzt immer auf ein unbegriffenes Residuum stoßen, wie dies selbst bei einigen Vorgängen des Telephonierens der Fall sein dürfte.“
„Die in ganz Tibet berühmten Schaustellungen der Bokte-Lamas finden an den großen religiösen Festen in den buddhistischen Klöstern statt. Vor der Tempelthüre im Klosterhof wird ein großer Altar errichtet, welchen zahlreiche im Kreise geordnete Lamas und die dichtgedrängte Schaar der Pilger schweigend umlagern. Der Bokte-Lama, der stets den untern Stufen der Hierarchie angehört, erscheint, schreitet würdevoll zum Altar und setzt sich darauf unter dem Beifallrufen der Menge. Hierauf nimmt er ein großes Messer aus seinem Gürtel und legt es vor sich auf die Kniee. Nun erheben die Lamas, die zu seinen Füßen sitzen, die schrecklichen Anrufungen und Gebete dieser scheußlichen Ceremonie. Unter den fortdauernden Gebeten beginnt der Lama an allen Gliedern zu zittern und mehr und mehr in wahnsinnige Krämpfe zu gerathen. Bald verlieren die Lamas alles Maaß; ihre Stimmen werden begeistert, ihr Gesang wird unordentlich und übereilt; das Hersagen der Gebete geht zuletzt in Schreien und Heulen über.“
„In diesem Augenblick wirft der Bokte die Schürze, mit welcher er umwickelt ist, ab, ebenso seinen Gürtel, ergreift das geheiligte Messer und öffnet sich den Bauch in seiner ganzen Länge. Während das Blut fließt, wirft sich die Menge vor diesem schauderhaften Schauspiel auf die Kniee und man befragt diesen Wahnsinnigen über verborgene Dinge, über zukünftige Ereignisse und dergleichen. Der Bokte giebt auf alle diese Fragen Antworten, die von Jedermann als Orakel betrachtet werden.“
„Ist die fromme Neugierde der zahlreichen Pilger befriedigt, so beginnen die Lamas wieder mit Ernst und Ruhe ihre Gebete herzusagen. Der Bokte nimmt in seiner rechten Hand Blut aus seiner Wunde auf, hält es an seinen Mund, bläst dreimal darüber und wirft es mit einem großen Schrei in die Luft. Dann fährt er rasch mit der Hand über seine Wunde und alles kehrt in seinen früheren Zustand zurück, ohne daß außer einer außerordentlich großen Entkräftung die geringste Spur dieser diabolischen Operation zurückbleibt.“
„Das Bauchaufschneiden – fügt Huc hinzu – ist eine der berühmtesten Siéfas (tibetanisch: verworfene Mittel) der Lamas; andere gleichartige sind weniger volksthümlich und auffallend; sie werden in Privatkreisen und nicht an den großen Festen der Lamaserieen 223gezeigt: so hält man z. B. glühende Eisen ungestraft an die Zunge, bringt sich Schnitte bei, von denen einen Augenblick nachher keine Spur mehr sichtbar ist usw. Allen diesen Schaustellungen muß das Hersagen eines Gebetes vorangehen.“
„Der Missionär, der von seinem Standpunkt aus alles als Wirkungen und Wunder des Teufels erklärt, sagt jedoch ausdrücklich: Wir denken durchaus nicht, daß man diese Thatsachen stets auf Rechnung der Betrügerei setzen kann.“
„Wenn Hucs Bericht über die magischen Wunderheilungen vereinzelt dastände, so würde er sicherlich in das Gebiet der Fabeln verwiesen und der wissenschaftlichen Verwerthung entzogen werden; aber derselbe schließt sich einer langen Reihe ähnlicher Beobachtungen anderer Reisender bis auf die neueste Zeit an, wodurch, wie wir später sehen werden, eine für die Psychologie und Philosophie überaus wichtige Thatsache festgestellt, bewahrheitet und der definitiven wissenschaftlichen Erklärung näher gebracht wird. Wir heben einige dieser Beobachtungen hervor und bemerken dabei, daß wir das ganze Gebiet der christlichen Wunderwirkungen ausschließen. Dieselben sind keine bloßen Schaustellungen, sondern meistens auf sittliche Zwecke gerichtet, und es dürfte daher trotz mancher Analogien eine bloße physiologische und psychologische Erklärung nicht ausreichen.“[269]
„Von den Aissawas, den tanzenden und heulenden Derwischen und der Secte der Ruffais ist bekannt, daß sie sich durch Tänze, krampfhafte Bewegungen, Musik, lange wiederholte Gutturaltöne usw. in epileptische Ekstase versetzen und sich dann unbeschadet die gräßlichsten Wunden beibringen und glühende Eisen belecken. Diedier sah in Cairo die Derwische vom Orden des Scheiks Bedr-Eddin nicht nur sich ohne Schaden spitze Eisen in die Brust, den Kopf und die Augen stoßen, leere Gefäße aus der Ferne mit Wasser füllen, sondern auch am Feste des Propheten auf lange Stangen aufgepfählt, deren eiserne Spitzen zwischen ihren Schultern hervorragten, sich durch die Moschee umhertragen lassen, während die Gläubigen laut beteten oder die Kapitel des Korans hersagten. Kein Beobachter hat genauer und drastischer die grausenhaften Vorstellungen 224der heulenden Derwische geschildert als Theophile Gautier, der sie in Scutari und Pera sah. Der Raum gestattet uns leider nicht, den interessanten Bericht, der das allmähliche Entstehen der Ekstase, ihre wahnsinnigen Gestaltungen und deren Ansteckungsfähigkeit auf die Zuschauer fast photographisch treu schildert, hier wiederzugeben.“
„Seit Tavernier haben zahlreiche Reisende ganz dieselben Vorkommnisse aus Hindostan berichtet; doch dürfte eine Erfahrung, welche ein Oberst und mehrere Marine-Officiere mit den hindostanischen Ruffais machten, weniger bekannt geworden sein. Die Officiere sahen, wie diese Leute sich ohne Schaden Glieder und selbst die Zunge abschnitten, welche sie wieder in den Mund steckten, wo sie augenblicklich anheilte.“[270]
„In andern Theilen Asiens machte man dieselben Beobachtungen. So berichtet der französische Gesandte Gobineau[271], der in Persien Ekstatiker glühende Kohlen in den Mund stecken sah; Bastian[272], der von den burätischen Schamanen berichtet, daß sie unbeschadet ins Feuer springen und glühende Eisen über die Zunge ziehen, bis sich die Hütte mit dem Geruch des verbrannten Fleisches füllt.“
„Zu den vorstehend mitgetheilten Thatsachen giebt die von Carl Rehbinder in der Sphinx 1889, VII, S. 243ff. mitgetheilte, der Pall Mall Gazette (Nr. 3, Januar 1889) entnommene merkwürdige Nachricht von einer ‚Zauberei in Camerun‘ eine sehr willkommene Ergänzung, welche allerdings der heutigen officiellen Wissenschaft etwas ärgerlich, ungeheuerlich und unerklärbar, also absurd fabelhaft vorkommen muß. Doch Thatsachen sind hartnäckig und weichen keiner bloßen Leugnung. – Die Leistungen der schwarzen Zauberin übertrafen alle bekannten Wunderwirkungen der Fakire und Derwische:“
„Nichts von alledem, was ich von ihr sah, sagt der Berichterstatter, konnte übernatürlich im eigentlichen Sinn genannt werden. Sie schien nämlich die Naturkräfte bloß in ihrer Gewalt zu haben, 225ja, wie der eben erzählte Fall (Schweben in der Luft) beweist, ihre Gesetze aufheben, aber nicht umkehren zu können. Sie konnte z. B. einen frisch abgehauenen Arm durch Berührung ihres Stabes und angeblicher Zaubersprüche innerhalb einer Secunde mit dem Stumpf wieder so vereinigen, daß auch nicht eine Spur von einer Verletzung zu sehen war (ganz wie bei den Ruffais oben); als ich sie jedoch aufforderte, unserm Quartiermeister den vor mehreren Jahren verlorenen Vorderarm zu ersetzen, erklärte sie freimüthig, daß sie es nicht im Stande sei. Sie sagte: der Arm ist todt, ich habe nicht die Macht. – Über alles Lebendige hatte sie eine erstaunliche, unmittelbare, Grausen erregende Gewalt. Als sie einst in meiner Gegenwart mit einem boshaft gezischten Fluchwort ihren Stab gegen einen Krieger richtete, schwand dieser förmlich hin: Die Muskeln begannen zusammenzuschrumpfen, und nach ein paar Minuten blieb von dem großen, starken Mann nicht viel mehr übrig als ein Gerippe. – Ebenso verwandelte sich unter dem Zauberstabe eine Frau in ein hartes und kaltes Steinbild im buchstäblichen Sinn des Wortes, wovon ich mich überzeugte, indem ich mit meinem Revolver den ganzen Körper ausklopfte und einen Ton erhielt, als wenn ich Marmor angeschlagen hätte.“
„Rehbinder meint: Das Weib war einfach in hypnotische Katalepsie versetzt; aber der Hypnotismus, ein neues Wort für alte Thatsachen, reicht hier zur Erklärung nicht aus, ebensowenig wie bei der Fernwirkung jenes malabarischen Fakirs Covindasamy, der vor den Augen Jacolliots von der Terrasse des Hauses aus die Hand gegen einen Diener ausstreckte, der aus dem Brunnen inmitten des großen Gartens Wasser heraufzog; zuerst wurde das Brunnenseil unbeweglich, dann als der Mann, im Wahne, das Seil sei bezaubert, mit gellender Stimme Beschwörungen zu singen begann, stockte dieselbe plötzlich in seiner Kehle, er konnte trotz aller Anstrengung kein Wort mehr hervorbringen, bis der Fakir durch Sinkenlassen der Hand den Bann löste. Die magische Wirkung des Fakirs ist derselben Art, wie die der schwarzen Zauberin von Kamerun; die Hypnose, unter welchem Namen man heute eine ganze Reihe verschiedener Zustände und Wirkungen zusammenfaßt, erklärt sie nicht, ebensowenig wie die Kataplexie oder Schrecklähmung Preyers. Suggestion oder Hallucination findet auch nicht dabei statt; die 226Erklärung muß also einen andern Weg suchen, der zu einem occultistischen Arkanum führen dürfte, dessen vollständige Kenntniß auch das Können einschließen und deshalb nur Eingeweihten zugänglich sein würde. Von welchem Ausgangspunkte aus man eine annähernde Kenntniß zu erstreben haben wird, läßt sich jedoch, wie wir sehen werden, mit einiger Sicherheit bestimmen.“
„Jemehr die Aufmerksamkeit sich auf occultistische Thatsachen in Reisebeschreibungen lenkt, desto mehr Bestätigungen viel bisher mit ungläubigem Lächeln als dummer Aberglaube der Beachtung nicht werth gehaltener älterer Berichte werden zu Tage treten. Es mögen hier noch als besonders merkwürdig hervorgehoben werden die noch wenig bekannten occultistischen Vorgänge mit Drusen im Libanon, welche seit Jahrhunderten die Magie und deren Praxis in einem sorgfältig gehüteten geheimen Orden lehren und ausüben. Der ganze Stamm zerfällt in Akkals, Eingeweihte, und Dschahils, Profane, Nichteingeweihte. Die Geheimlehre wird nur mündlich überliefert; die auf den Bibliotheken von London, Paris und Oxford befindlichen drusischen Bücher und Handschriften enthalten wenig darüber. Silvester de Sacy, der sich eingehend damit beschäftigte, fand nicht so viel Zuverlässiges, als Gerard de Nerval (Voyage en Orient, Paris 1867), der einem drusischen Scheik wichtige Dienste leistete, als Gast desselben manche Einzelheiten der Tradition erfuhr und u. A. auch einen drusischen Katechismus veröffentlichte. Einige englische Berichte theilt A. Diezmann mit, worin auch merkwürdige Wunderheilungen, namentlich der Epilepsie und des Wahnsinnes, erwähnt werden. Der Akkal giebt den Kranken, die man zu ihm bringt, durchaus keine Arznei, sondern spricht nur einige Beschwörungsformeln und streicht mit der Hand über sie.“
„Ein Engländer, welcher sechs Monate unter den Drusen verweilte und mit ihnen sehr vertraut wurde, hatte von einem Landsmann, ‚dessen Aussage unbedingten Glauben verdiente‘, erfahren, daß der Scheik Beschir nicht blos Wunderheilungen, sondern auch unerklärliche Zaubereien verrichte. So habe er einen Stock auf dessen Befehl ganz allein und ohne sichtbare Beihilfe von einem Ende des Zimmers zum andern gehen sehen. Ferner wurden in seiner Gegenwart zwei Krüge, ein leerer und ein gefüllter, in zwei 227Ecken des Zimmers einander gegenüberstellt, worauf bald der leere sich in Bewegung setzte, über das Zimmer hin und danach auch der volle sich erhob, dem andern entgegenmarschirte (d. h. sich bewegte) und ihm seinen Inhalt übergab, mit dem der letztere dann an die Stelle zurückkehrte, von welcher er gekommen war. – Durch diese Erzählung neugierig gemacht, beschloß der Berichterstatter, den merkwürdigen Mann näher kennen zu lernen und berichtet darüber:“
„Anfangs lehnte Scheik Beschir mit aller Bestimmtheit meine Bitte ab, mir einige seiner Zauberkräfte zu zeigen, von denen ich so viel gehört, und erklärte, er habe es sich zur Regel gemacht, nichts mehr mit der unsichtbaren Welt zu schaffen zu haben, außer etwa um Heilungen zu bewirken. Nachdem wir aber genauer mit einander bekannt geworden waren, willigte er eines Tages ein, mir eines seiner Kunststücke zu zeigen ... Er nahm einen gewöhnlichen Wasserkrug, murmelte gewisse Beschwörungsformeln in denselben hinein und übergab ihn zwei Personen, die aufs Geradewohl unter den Anwesenden ausgewählt wurden, und die einander gegenüber saßen. Eine Zeit lang rührte sich der Krug nicht, während der Scheik sehr rasch hintereinander, wie es mir vorkam, Verse aus dem Koran sprach und dazu den Takt mit der rechten Hand in die linke schlug. Der Krug blieb noch immer unbeweglich und der Scheik wiederholte seine Verse so ungestüm und schien wegen des Erfolges so aufgeregt zu sein, daß trotz dem kalten Winde, der in das Zimmer blies, in welchem wir saßen, der Schweiß ihm über das Gesicht und den Bart strömte. Endlich begann der Krug sich zu bewegen, anfangs langsam, dann schneller, bis er ziemlich rasch drei- bis viermal herumging. Der Scheik wies triumphirend darauf hin und stellte sein Gemurmel ein, worauf der Krug stehen blieb. Nach einer Pause von etwa einer Minute begann der Scheik seine Beschwörungen von Neuem und wunderbarer Weise drehte sich der Krug ebenfalls sofort wieder. Endlich hörte er auf, nahm den Krug aus den Händen derer, die ihn gehabt hatten und hielt ihn einen Augenblick an mein Ohr, so daß ich deutlich ein singendes Geräusch darin hörte, wie von kochendem Wasser. Darauf goß er das Wasser sorgsam aus, murmelte wieder etwas in den Krug hinein und gab ihn den Dienern, damit sie ihn wieder mit Wasser 228füllten und an den Ort stellten, wo er vorher gestanden hatte, für den Fall, daß Jemand zu trinken wünsche. Ich hätte vorausschicken sollen, daß der Krug einer der gewöhnlichen war, wie man sie in Syrien hat und mit mehreren andern an der Thür stand. Als die Vorstellung zu Ende war, sank der Scheik ganz erschöpft auf den Divan und erklärte, es sei das letzte Mal, daß er sich solcher Anstrengung aussetze und Zauberkünste verrichte, außer wenn es einen Kranken gesund machen könne.“
„Der Scheik, berichtet der Engländer, bereitet sich zu den Heilungen durch längere Fasten vor, die, wie er sagte, nothwendig seien, um die Macht über die Geister zu erlangen, die er dabei brauche. Er ist wohlhabend, nimmt keine Belohnung an; will seine Kunst, die aus der Pharaonenzeit stamme, von einem alten Marokkaner erlernt haben; sie könne nicht für Geld erlangt werden; es lebten jetzt nicht fünfzig Personen in der Welt, welche die wahre Kenntniß davon besäßen; er selbst sei noch ein Anfänger, da er die erforderlichen strengen Fasten nie ohne Nachtheil für seine Gesundheit habe halten können.“
So weit der Engländer.
Oberstlieutenant T. G. Fraser berichtet folgende Erzählung einer Generalin W. in seinem Werke: „Sport and Military life in Western India“ –, übrigens ein Buch, in welchem man nicht leichtgläubige Voreingenommenheit für die übersinnliche Erklärung von Thatsachen vermuten wird. Die Dame beschreibt Fraser als „untadelhaft in Genauigkeit und Aufrichtigkeit, furchtlos und starksinnig, auch so wenig unter dem Einflusse krankhafter oder abergläubischer Einbildung stehend, wie nur irgend Jemand, den er kenne.“ Von Fraser selbst aber sagt u. a. Oberst Malteser C. B. J., daß er „der offenste und zuverlässigste Mann sei, mit dem er je das Glück gehabt habe, in Berührung zu kommen.“ Fraser giebt die Erzählung der Generalin folgendermaßen wieder:
„An einem schwülen Aprilabende stand ich an der Eingangspforte unseres Grundstücks, als ein Birudge, ein Hindubüßer von mittleren Jahren, mit Asche bedeckt, auf der Straße daher kam und an mir vorüberging. Dabei sah er mich einen Augenblick eindringend an, ohne jedoch stehen zu bleiben oder mir zu zeigen, daß er mich kenne. Als er einige Schritte weiter gegangen war, 229wandte er sich um und sagte zu mir: Im Namen Gottes, es ist mir gegeben, Dir zu sagen, was Dein Schicksal sein wird. – Ich rief eine in der Nähe stehende Ordonanz herbei und befahl ihr, dem Manne eine Rupie zu geben. – Nein, sagte der Mann, ich bitte um nichts; aber Dein Schicksal steht für mich auf Deiner Stirn geschrieben, und ich will es Dir, wenn Du es wünscht, enthüllen. – Ich vermuthe, erwiderte ich, Du gewinnst Deinen Unterhalt damit. – Ich kann dies, sagte er dagegen, nur für wenige Personen, Du aber bist eine derselben. – Wirklich? Nun dann laß einmal hören! Sag mir, wer ich bin; wenn Du aber etwas unrichtiges sagst, werde ich Dich bestrafen lassen. – Du bist die Frau des General Sahib, Du hast einen Sohn und eine Tochter! – Ich hatte, warf ich ein, aber ich habe ersteren verloren. – Nein, erwiderte er, es ist wie ich sage. – Nun fahre nur fort. – Du wirst sehr bald das Land verlassen und in Deine Heimath zurückkehren. (Mein Mann hatte indessen sehr häufig erklärt, niemals wieder Indien verlassen zu wollen.) – Nun, wann soll denn das vor sich gehen? – Sehr bald! – Werden wir denn unversehrt daheim ankommen? – Du wirst; aber vierzehn Tage, nachdem Ihr von hier abreist, wird er in Gott ruhen! – Bis dahin hatte ich ihm gleichgültig zugehört, jetzt aber fuhr ich erbost und geängstigt auf: Was sagst Du, Elender? – Nicht ich rede, hohe Frau, nur Dein Schicksal redet. In 18 Tagen wirst Du an Bord sein, und wirst Alles hier verkauft haben bis auf ein einziges Pferd. – Hier, rief ich, ist der Stall; komm und zeige mir das Pferd, von dem Du meinst, daß wir es nicht verkaufen werden. – Er ließ seine Augen schnell an der Reihe der Pferde entlang gleiten, und zeigte sofort auf einen Grauschimmel: das da! (Mein Mann hatte mir dieses Pferd zwei Jahre vorher zum Geburtstage geschenkt.) – Nun, sagte ich, wenn Du doch so viel weißt, sage mir doch, ob ich sicher im Hause anlangen und mein Kind sehen werde? – Ja, Du wirst Deinen Sohn sehen, wenn Du von hier abreisest, aber wirst ihn nicht mehr sprechen; er wird Dir mit einem Tuche von ferne zuwinken. Du wirst in Europa anlangen und dort eine Zeit bleiben, aber Geldschwierigkeiten werden Dich zwingen, hierher zurückzukehren; danach jedoch wirst Du wieder heimkehren und nach einiger Zeit wirst Du das Geld erhalten und glücklich sein.“
„Bis diesen Augenblick ist All und Jedes eingetroffen, genau wie es jener Mann vorhergesagt. Noch an demselben Abend beim Thee sagte plötzlich der General, der so oft seinen Entschluß geäußert hatte, nur in Indien leben und sterben zu wollen: ‚Was würdest Du zu einer Tour nach England sagen? Ich sprach mit F. und er hat mir einen Platz an Bord der *** gesichert, wenn wir zum *** bereit sind; ich habe Lust dazu.‘“
„Ich war so überrascht, daß mir fast die Tasse aus der Hand fiel. Ich starrte meinen Mann an, aber es war nur zu wahr. Noch im Laufe desselben Monats waren die erforderlichen Einrichtungen getroffen, Alles wurde verkauft bis auf den arabischen Grauschimmel, der, da er ein Geburtstagsgeschenk war, an *** gegeben wurde. Wir schifften uns bei vollständiger Gesundheit ein, und als wir eben auf der Höhe des Leuchtthurmes waren, sahen wir in der Ferne ein Boot, das sich vergeblich bemühte, uns einzuholen. Mit dem Fernglas konnten wir in demselben einen Europäer bemerken, der mit einem Taschentuch winkte; nachher stellte sich heraus, daß dies mein Sohn gewesen, dessen Tod uns zwei Monate vorher aus den oberen Provinzen berichtet worden war. Hätte ich ihn damals erkennen können, so wäre ich dadurch gewissermaßen auf das, was folgte, vorbereitet worden. Zehn Tage später fiel der General auf dem Deck nieder, wurde in seine Cabine getragen und starb am vierzehnten Tage nach unserer Abreise, wie der Fakir es richtig vorhergesagt hatte. Ich kam übrigens wohlbehalten daheim an und es muß sich zeigen, ob sich auch der Rest seiner Prophezeiungen erfüllen wird. Jedenfalls sehen Sie, daß ich wieder nach Indien zurückgekehrt bin, um meine Geldangelegenheiten und das Testament des Generals zu ordnen, denn F. wollte mir kein Geld weiter auszahlen.“
Oberst Fraser fügt hinzu: „So weit die Geschichte; sie redet für sich selbst. Bald nachher hörte ich, daß meine verehrte Freundin, die Generalin, wieder nach England abgereist ist.“ – –
Je tiefer man in das occultistische Gebiet, auf dem sich heute eine höchst bedeutende wissenschaftliche Neugestaltung zu vollziehen im Begriff ist, vordringt, auf desto mehr Thatsachen, wiederholen wir, stößt man, die bisher vereinzelt, als unglaublich erschienen sind, deren vergleichende Zusammenstellung jedoch zur Anerkennung 231ihrer Wirklichkeit führt, wenn auch die Wissenschaft dabei noch vor ungelösten Rätseln steht. Wir fahren mit den Belegen dazu fort.
Was die wandelnden Krüge betrifft, welche bei den Drusen im Libanon Wasser herbeischleppen und ausgießen, so erinnern sie auffallend an Berichte der Alten[273] von laufenden Dreifüßen, von Bildsäulen, welche sich automatisch bewegen und an den Höfen der indischen Fürsten bei der Tafel aufwarten. Das Bewirken von Ortsveränderungen lebloser Gegenstände ohne Berührung und aus der Ferne bei Sitzungen mit Medien ist durch zahlreiche Experimente aus letzter Zeit eine so unzweifelhafte Thatsache geworden, daß selbst Vertreter der exakten Wissenschaften, wie Wallace, Crookes und neuerdings Paul Gibier, de Rochas und viele andere dieselbe anerkannt haben, obgleich ihnen, wie allen unbefangenen Forschern dabei zugestoßen ist, was der berühmte Foucault Jahrzehnte vorher prophetisch gesagt hatte: „Le jour, où l'on ferait bouger un fétude de paille sons la seule action de ma volonté, j'en serais épouvanté.“ Die ungläubigsten Beobachter haben bei solchen Sitzungen sehr oft gesehen, wie ohne Berührung Stühle herbeihumpelten, Bücher und Instrumente durch die Luft flogen und Tische sich fußhoch über den Boden erhoben; Thatsachen, die zu derselben Kategorie gehören, wie die durch Berichte von russischen und deutschen Reisenden bekannten ebenso unzweifelhaften fliegenden Tische der Schamanen.
Es ließen sich aus Hindostan, Tibet und China noch eine Reihe ähnlicher, genugsam beglaubigter Vorkommnisse anführen; wir übergehen sie und geben dafür aus neuester Zeit eine Mitteilung von Horace Pelletier, einem Schüler des Obersten de Rochas, welcher mit drei Sensitiven (magnetisch Begabten) occultistische Experimente vornimmt, die ihn zu höchst interessanten Ergebnissen geführt haben.
„Sie wissen“, schreibt er an den Direktor der l'Initation, „daß dank der psychischen Kraft, welche aus dem Körper meiner Sensitiven ausgeht, leblose Gegenstände aus der Ferne und ohne jede Berührung bewegt werden und ihre Stelle verlassen. Diese Gegenstände bleiben nicht bei der bloßen Ortsveränderung, sie drehen 232sich, Kreise beschreibend, um sich selbst, laufen von einem Ende der Tischplatte bis zur andern, kehren selbst zu ihrem Ausgangspunkte zurück, um von neuem mit erstaunlicher Schnelligkeit wieder davon auszugehen; manchmal schnellen sie in die Höhe, springen über den Tischrand und fallen zur Erde.“
„Oft gehorchen sie dem Worte; ja sie gehorchen wirklich; wenn man ihnen befiehlt. Bei allen meinen Sitzungen wiederholt sich diese merkwürdige Thatsache mehrmals, als wenn das Fluidum, welches ihnen die Bewegung mittheilt, mit Verstand begabt wäre.“
„Ich stelle zwei Korkstöpsel mitten auf die Tischplatte, 1½–2 Zoll von einander entfernt, und ich sage zu ihnen: Küßt euch! Sofort drücken sie sich aneinander, nachdem jeder die Hälfte des Zwischenraumes zurückgelegt hat. Nun befehle ich ihnen sich zu trennen, und jeder seines Weges zu gehen. Sie gehorchen pünktlich, trennen sich und, indem jeder eine entgegengesetzte Richtung einschlägt, bewegt er sich bis an den Rand der Tischplatte. – Ich befehle ihnen sich zu vereinigen; sie kehren zu einander zurück und von Neuem drückt der eine sich an den andern. – Hierauf sage ich zu dem einen: Nimm einen Anlauf und springe! Sofort läuft der treue Korkstöpsel, meinem Befehl gehorchend, an den Rand der Tischplatte; aber zuweilen hat er die Entfernung schlecht bemessen und bleibt am Rand stehen. Ich wiederhole meinen Befehl, und er kehrt zu seinem Ausgangspunkt zurück, aber besser berechnend, läuft er mit großer Schnelligkeit, springt wie eine Gemse über den Rand und fällt zu Boden. Ich weiß wohl, daß ich da sonderbare, unerhörte, unglaubliche Dinge erzählte, aber ich übertreibe nichts, ich behaupte nur, was genau wahr ist. Auch habe ich hierfür Zeugen. Bemerken will ich noch, daß meine Sensitiven, während die Dinge vor sich gingen, sich drei Fuß vom Tischchen entfernt befanden und meistens, gelangweilt durch diese von mir unablässig wiederholten Experimente, wenig darauf achteten, plauderten und lachten, ohne sich um das Ergebniß zu kümmern.“
Der Umstand, daß die vorgehend geschilderten Experimente mit ganz gewöhnlichen Krügen, Stöpseln u. dergl. gemacht wurden, kann dieselben weder lächerlich machen, noch deren Bedeutsamkeit für die Erkenntnis der ihnen zu Grunde liegenden, zum Teil noch unbekannten Naturgesetze im mindesten schmälern.
Ich wende mich jetzt zu den Berichten über die Fakire Jacolliots, deren Künste wie die oben erwähnten auf uralten Traditionen beruhen und ähnlich schon im alten Indien geübt wurden, wie wir bei Apollonius von Tyana sehen werden. Ich referiere nach Perty[274], dessen Darstellung in weiteren Kreisen wenig bekannt wurde:
Die Urgeschichte gerade derjenigen alten Völker, welche am meisten auf die klassische und moderne Kultur Einfluß übten, wurde am spätesten, hauptsächlich erst in diesem Jahrhundert aufgeschlossen. Es sind die Indier und die noch älteren Ägypter, Völker mit wesentlich hierarchischen Verfassungen einer mächtigen Priesterschaft, ausgebildeter Geheimlehre, bis ins kleinste geordnetem Ritus und Ceremoniell, deren Sitten, Künste, Meinungen, Philosophie mächtig auf die Perser, Araber, Griechen eingewirkt haben, deren Religionsbegriffe z. B. auch in andern Glaubenslehren, die christliche nicht ausgeschlossen, eingedrungen sind. An die Geister der Vorfahren scheinen schon die Arier in ihren Ursitzen geglaubt zu haben, bei den Indiern wurde dieser Glaube im „Buche der Pitris“ zu einem System ausgebildet. Diese und andere indische Verhältnisse wurden wieder in den letzten Jahren durch den Franzosen Herrn Louis Jacolliot untersucht, der in Pondichery wohnhaft, von hier aus Indien durchstreifte, und Forschungen über seine Geschichte, seine Altertümer und Religion anstellte. Der Teil derselben, welcher die Leser näher interessieren dürfte, führt den Titel: Le spiritisme dans le monde, l'Initiation et les scienses occultes dans l'Inde (Paris 1875) und enthält, sich hauptsächlich auf das Buch der Pitris (Geister) stützend, unter anderem selbstbeobachtete Produktionen der Fakirs, welche mit den spiritualistischen des Abendlandes große Ähnlichkeit haben.
Zum Verkehr mit den Geistern können nur die Eingeweihten, von den Fakirs an, gelangen. Nur durch schwere, lang fortgesetzte Büßungen kommt man zu den oberen Stufen, deren höchste, der Yogi, unermeßlich hoch über den gewöhnlichen Menschen steht. Die Yogis bilden den Rat der Alten, enthalten sich des geschlechtlichen Verkehrs, und so erhaben ist ihr Zustand und Verdienst, daß gewöhnliche Menschen ihn in Tausenden von Generationen und 234Seelenwanderungen nicht erreichen könnten. Das siebenknotige Bambusstäbchen, welches schon die Fakirs immer führen, findet man auch bei den oberen Stufen, und es wird feierlich durch den Oberpriester zugestellt; die sieben Knoten stellen die sieben Stufen der Anrufung und der äußeren Manifestationen vor. Der oberste Priester führt den Namen Brahmatma. Wenn der Guru (Oberpriester) seinen Unterricht vor den Schülern beginnt, die gläubig und verehrend zu seinen Füßen sitzen, so spricht er zu ihnen: Hört! Während der elende Sudra (die unterste Kaste) sich dem Hunde gleich auf sein Lager wirft, der Vaysia die Reichtümer der Erde anzuhäufen denkt, der Tschatrya (Fürst, Krieger) im Frauengemach schläft, ermüdet aber nie gesättigt vom Vergnügen, so ist es jetzt für die Gerechten, die nicht von der unreinen Körperhülle sich wollen beherrschen lassen, Zeit, die Wissenschaft zu studieren.
Die Eingeweihten gelangen zu der ihnen zugeschriebenen Macht durch ein langes Leben der strengsten Askese und zwar zu den verschiedenen Graden ihrer Macht. Zu einer ersten Klasse gehören die Grihastas, die ihre Familien nicht verlassen und die Vermittelung zwischen den Tempeln und dem Volk herstellen, keine magischen Phänomene hervorbringen können, sondern nur die Seelen der Vorfahren, und zwar nur in ihrem Stammbaum anrufen dürfen, um von ihnen Eingebungen zu erhalten; dann die Purohitas, welche, bereits den Tempeln zugeteilt, die gewöhnlichen Priesterfunktionen versehen, bei den Geburten, Ehen, Bestattungen thätig sind, die Familiengeister anrufen, die Horoskope stellen, die Dämonen vertreiben; endlich die Fakirs, die Almosensammler der Tempel, zugleich die Zauberer, welche willkürlich die auffallendsten und unsern sogenannten Naturgesetzen am meisten widersprechenden Wirkungen hervorbringen und zwar mit Hilfe der Pitris, Geister der Vorfahren, zu deren Herbeirufung nach brahmanischer Behauptung sie ermächtigt sind. Für die Eingeweihten der zweiten Klasse, der Sanyassis, und der dritten, der Nirvanys und Yogis ist die Macht ihrem Wesen nach gleich und nur dem Grade nach verschieden. Sie bringen ihre Manifestationen nur im Innern der Tempel, äußerst selten bei sehr vornehmen Personen oder bei seltenen öffentlichen Festen hervor, glauben, daß die sichtbare und unsichtbare Welt ihrem Willen unterworfen sei, daß sie den Elementen gebieten, 235ihren Körper verlassen und wieder in denselben zurückkehren können; ihre orientalische Phantasie kennt keine Schranke und kein Hindernis, und sie werden in Indien gleichsam für Götter gehalten. Man sieht, daß daselbst eine durchgeführte priesterliche Organisation besteht und es wird behauptet, daß in den Krypten der Pagoden die Eingeweihten viele Jahre hindurch einer strengen Disziplin unterworfen werden, welche ihren Organismus physiologisch umstimmt und das reine Fluidum in ihnen vermehrt, welches, Akasa genannt, das Vehikel aller magischen Wirkungen ist. Es war Herrn Jacolliot nicht möglich, über diese verborgenen Vorgänge sich zu unterrichten, und er kann daher nur über die Fakirs Mitteilungen machen. Sogar die Gebets- und Evokationsformeln der höheren Grade wurden nie aufgeschrieben, sondern nur mündlich mitgeteilt, und das „Buch der Pitris“ schweigt hierüber.
Nach brahmanischer Lehre ist jener Akasa, das reine Lebensfluidum – etwa unser Äther – durch die ganze Natur verbreitet und setzt alle belebten und unbelebten, alle sichtbaren und unsichtbaren Wesen miteinander in Verbindung; Elektrizität, Wärme, alle Naturkräfte kommen nur durch den Akasa zur Wirksamkeit. Wer eine größere Quantität desselben besitzt, erlangt Macht über diejenigen, welche davon weniger haben, und über die leblosen Wesen. Selbst die Geister, welche ihre Macht zum Dienst der Menschen anwenden, die imstande sind, sie herbeizurufen, fühlen die allgemeine Verbindung, welche der Akasa unter den Weltdingen herstellt. Für gewisse Brahmanen ist der Akasa das wirkende Prinzip der Weltseele und der Beherrscher aller Seelen, die in inniger Gemeinschaft stehen würden, träte nicht die grobkörperliche Materie bis auf einen gewissen Grad hindernd dazwischen; je mehr von dieser eine Seele sich durch ein beschauliches Wesen frei macht, desto inniger fühlt sie die allgemeine Strömung, welche die sichtbare und unsichtbare Welt durchzieht.
Allgemein bekannt ist die außerordentliche Geschicklichkeit der indischen Fakirs, die man gewöhnlich als Zauberer oder Jongleurs bezeichnet und welchen alle asiatischen Völker eine übernatürliche Kraft zuschreiben. Viele glauben zwar, daß unsere geschicktesten Taschenspieler das Gleiche zu vollbringen vermögen, es bestehen aber zwischen beiden die wesentlichsten Unterschiede, denn der Fakir 236giebt nie Vorstellungen vor größeren Gesellschaften, sondern nur im Innern von Privatwohnungen, hat nie einen Helfer, ist immer ganz unbekleidet mit Ausnahme eines handgroßen, die Geschlechtsteile bedeckenden Lappens, weiß nichts von den tausend Geräten und Apparaten, den Bechern, Büchsen mit doppeltem Boden, Zaubersäcken, präparierten Tischen, eigens eingerichteten Localitäten unserer Taschenspieler. Der Fakir hat gar nichts als ein Bambusstäbchen, dick wie ein Federhalter, mit sieben Knoten in der rechten Hand und ein Pfeifchen von etwa drei Zoll Länge, an einer seiner Haarflechten befestigt, weil er, als ganz unbekleidet, keine Tasche hat, um es darin aufzubewahren. Er operiert, wie man will, sitzend oder aufrecht, auf der Rohrmatte des Salons, auf dem Marmor-, Granit- oder Mörtelboden der Veranda, auf der nackten Erde des Gartens. Hat er zur Hervorrufung lebensmagnetischer und somnambulistischer Zustände eine Person nötig, so nimmt er den nächsten Domestiken dazu, den man ihm bezeichnet, gleichviel ob Indier oder Europäer; bedarf er ein Musikinstrument, Rohr, Papier, Bleistift, so ersucht er darum. Zugleich wiederholt er seine Darstellung, so oft man es verlangt, um sie kontrollieren zu können, und verlangt niemals eine Bezahlung, sondern nimmt das Almosen an, das man ihm für seinen Tempel giebt; alle Fakire der verschiedenen indischen Länder beobachten diese Vorschriften. Glaubt man in der That, fragt Jacolliot, daß unsere Taschenspieler unter diesen Bedingungen etwas leisten könnten?
Derselbe, seit vielen Jahren in Indien, kannte die Phänomene des amerikanischen und europäischen Spiritualismus nicht, hatte in Europa nie einen Tisch sich bewegen sehen, der „übertriebene Glaube an die Unsichtbaren“ erinnerte ihn so sehr an die Ekstasen und Mysterien des Katholicismus, daß er, ein eingefleischter Rationalist, welcher noch jetzt zu sein er behauptet, sich nicht entschließen konnte, bei den Vorgängen in einem Cirkel zugegen zu sein. Die indischen Fakirs, von ihm einfach für Taschenspieler gehalten, hat er immer abgewiesen, hörte aber fortwährend von ihrer wunderbaren Geschicklichkeit sprechen. Als nun in Pondichery einst gegen den Mittag durch den Dobaschy, Kammerdiener, wieder ein Fakir bei ihm gemeldet wurde, entschloß er sich doch, ihn zu empfangen, was in einer der inneren Verandas seines Hauses geschah, wo ihn der Fakir, 237auf den Marmorplatten des Fußbodens kauernd, erwartete. Jacolliot war betroffen über seine Magerkeit, sein fleischloses Gesicht und die halberloschenen Augen erinnerten ihn an die graublauen Augen der Haie des großen Oceans. Der Fakir erhob sich langsam, verneigte sich mit an die Stirne gelegten Händen und murmelte: Ehrerbietigen Gruß, Herr! Ich bin Salvanidin-Odéar, Sohn des Canagareyen-Odéar. Der unsterbliche Wischnu beschütze deine Tage! – Sei gegrüßt Salvanidin-Odéar, Sohn des Canagareyen-Odéar, könntest du sterben am heiligen Ufer des Tucangy, und möge diese Transformation deine letzte sein! erwiderte Jacolliot. – Der Guru der Pagode hat mir diesen Morgen gesagt: geh auf geradewohl Ähren lesen längs den Reisfeldern, und Ganesa, der Schutzgott der Wanderer, hat mich zu Dir geführt. – Sei willkommen! – Was wünschest Du von mir? – Man behauptet, Du könntest leblose Körper bewegen, ohne sie zu berühren; ich möchte gerne dieses Wunder dich vollbringen sehen. – Salvanidin-Odéar hat diese Macht nicht; er ruft seine Geister an, die ihm ihren Beistand gewähren. – Nun wohl, Salvanidin-Odéar, rufe die Geister und zeige mir ihre Macht! – Gleich nach diesen Worten kauerte der Fakir sich wieder auf dem Boden nieder, stellte sein Stäbchen mit den sieben Knoten zwischen seine gekreuzten Beine und bat mich nun, ihm sieben kleine irdene Töpfe mit Erde, sieben dünne Holzstäbchen von je zwei Ellen Länge und sieben beliebige Blätter bringen zu lassen. Dann ließ er die gebrachten Gegenstände, ohne sie selbst zu berühren, durch den Dobaschy etwa zwei Meter von seinen ausgestreckten Armen in eine Linie legen; hierauf mußte der Diener in jeden Topf eines von den Holzstäbchen stecken und über jedes ein in der Mitte durchbohrtes Blatt stülpen, das am Stäbchen hinuntergleitend, den Topf wie einen Deckel bedeckte. Hierauf hob der Fakir die geschlossenen Hände über seinen Kopf und sprach in tamulischer Sprache folgende Anrufung: Mögen alle Mächte, die über das geistige Prinzip des Lebens und über das Prinzip der Materie wachen, mich gegen den Zorn der bösen Geister beschützen, und der unsterbliche Geist Mahatatritandi, der drei Formen hat, mich nicht der Rache Yamas überliefern! – Dann streckte er die Hände gegen die Töpfe und blieb unbeweglich wie in Ekstase, nur von Zeit zu Zeit seine Lippen bewegend, als wenn er innerlich spräche.
Plötzlich schien es Jacolliot, als wenn ein leichter Wind seine eigenen Haare bewege und über sein Gesicht streiche wie der tropische Abendwind nach Untergang der Sonne, und doch bewegten sich die Vorhänge zwischen den Säulen der Veranda nicht; die gleiche Empfindung wiederholte sich mehrmals nach einander. Es war etwa eine Viertelstunde verflossen, wo der Fakir seine Stellung nicht verändert hatte; da stiegen langsam die Feigenblätter an den Holzstäben empor und ließen sich wieder herab, und der Beobachter, näher tretend und gar keine Verbindung zwischen dem Fakir und ihnen findend, fühlte eine gewisse Aufregung; die Blätter unterbrachen ihr Auf- und Absteigen nicht, obschon er mehrmals zwischen den Töpfen und dem Fakir durchging. Jacolliot nahm dann, was ihm unbedenklich zugestanden wurde, die Blätter von den Stäben und diese aus den Töpfen und leerte die ganze Erde auf dem Fußboden aus. Hierauf klingelte Jacolliot dem Koch, ließ sich aus der Küche sieben Fußgläser, aus dem Garten Erde und neue Blätter bringen, teilte selbst ein Bambusrohr in sieben Stücke, die er in die Gläser steckte, über welche er die durchbohrten Blätter stülpte und fragte nun den etwa vier Meter entfernten Fakir, der regungslos dem Allen zugesehen hatte, ob er glaube, daß seine Geister auch jetzt noch wirken könnten. Der Hindu antwortete nicht, sondern streckte nur wie zuvor seine Hände gegen die Gläser aus, und es dauerte keine fünf Minuten, als das Auf- und Absteigen der Blätter von neuem begann. Jacolliot fragte hierauf den Fakir, ob denn die Töpfe und Erde für die Hervorbringung des Phänomens notwendig seien, und als dieser die Frage verneinte, ließ Jacolliot sieben Löcher in ein Brett bohren und steckte in diese die Bambusstücke. Nach kurzer Zeit folgte die Erscheinung mit gleicher Regelmäßigkeit und zwar zwei Stunden hindurch nach vielfach geänderten Versuchen in immer gleicher Weise, so daß Jacolliot sich fragen wollte, ob er nicht selbst unter einer starken magischen Einwirkung stehe. Da sprach der Fakir: Hast Du von den Unsichtbaren nichts zu verlangen, ehe ich mich von ihnen trenne? Jacolliot hatte gehört, daß die europäischen Medien sich für ihre angebliche Unterhaltung mit den Geistern eines Alphabets bedienen, teilte dies dem Hindu mit und fragte, ob man nicht durch ähnliche Mittel eine Verbindung mit jenen herstellen könnte. Wörtlich antwortete der 239Fakir: Frage, was Du wünschest. Haben die Geister Dir nichts zu sagen, so werden die Blätter unbeweglich bleiben; haben sie, welche die Blätter bewegen, Dir ihre Gedanken mitzuteilen, so werden die Blätter an den Stäbchen emporsteigen. Jacolliot zeichnete eiligst das Alphabet auf ein Blatt Papier, da fiel ihm noch ein anderes Mittel ein. Er besaß kupferne Buchstaben und Zahlen auf Zinkplatten gelötet, die er brauchte, seinen Namen und eine Ordnungsnummer auf seine Bücher zu prägen, und warf diese nun alle unter einander in einen kleinen Sack, um eine nach der andern herauszunehmen. Der Fakir hatte seine Anrufungsstellung angenommen, Jacolliot dachte an einen vor fast zwanzig Jahren verstorbenen Freund und nahm nun eine Zinkplatte nach der andern heraus, immer die Buchstaben und Zahlen und zugleich die Blätter beobachtend. Vierzehn von jenen waren schon herausgenommen, als beim Buchstaben A die Blätter schnell bis zum Gipfel der Stäbchen emporstiegen, dann herunterfielen und unbeweglich auf dem Brett liegen blieben, in welchem die Stäbchen steckten. Jacolliot fühlte sich bewegt, denn A war der erste Buchstabe des Namens jenes Verstorbenen. Als der Sack leer war, wurde er wieder mit den Typen gefüllt, und nach und nach, Buchstaben für Buchstaben, erhielt der Beobachter den Satz:
Albain Brunier, mort à Bourg-en-Bresse, 3. Janvier 1856.
Es flimmerte vor seinen Augen, als er dieses Resultat vor sich sah, und er mußte, unfähig, die Beobachtungen diesen Tag länger fortzusetzen, den Fakir für den nächsten Tag zu sich laden.
Nachdem er einen Teil der Nacht über diese Dinge nachgedacht, dann in der folgenden Sitzung die Phänomene des vorigen Tages in gleicher Art hatte wiederholen lassen, bat Jacolliot den Fakir, noch einmal anzufangen, richtete aber sein Verhalten nach einer von ihm gemachten Voraussetzung ein. Er änderte nämlich im Geiste die Buchstaben jener Phrase, wie er meinte, beibehaltend, die Stellung derselben und erhielt so durch dieselbe Prozedur wie am vorigen Tage die Namen:
Halbin Pruniet, mort à Bourg-en-Bresse, 3. Janvier 1856.
Jacolliot wollte auch den Namen der Stadt und den Todestag ändern, gelangte aber nicht dazu, sondern erhielt wieder:
mort à Bourg-en-Bresse, 3. Janvier 1856.
Vierzehn Tage nacheinander ließ Jacolliot den Fakir kommen, welcher die größte Hingebung bewies, und veränderte fortwährend seine Versuche, bald erhielt er Änderungen in den Buchstaben jenes Namens, die denselben ganz unkenntlich machten, bald Modifikationen des Tages, Monats und Jahres des Todes, nie aber eine Änderung im Namen der Stadt, woraus er, immer von der Voraussetzung einer natürlichen Kraft ausgehend, die den Fakir und die Blätter in Verbindung setze, schloß, daß er vielleicht sein Wissen der wahren Orthographie vielleicht nicht bei allen Worten genügend isoliren könne. Er wiederholte dann noch öfter zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Subjekten die Versuche, ohne zu einem andern Resultat zu gelangen. Während einesteils die materiellen Phänomene sich sozusagen konstant reproduzierten, wechselte ebenso konstant die Verschiedenheit in Übertragung der Gedanken, und zwar von ihm gewollte oder ganz gegen seinen Willen eingetretene Verschiedenheit.
In der letzten Sitzung mit dem Fakir machte dieser mit einer gewöhnlichen Pfauenfeder die leere Schale einer Wage sinken, während die andere mit 80 Kilos belastet war; auf einfache Auflegung seiner Hände flog ein Blumenkranz in die Luft; man hörte in dieser unbestimmte Töne, und eine ätherische Hand schrieb in der Luft leuchtende Zeichen, Phänomene, die Jacolliot damals für reine Phantasmagorie hielt und von denen später noch die Rede sein wird. Die erwähnten materiellen Phänomene ließen auch bei der strengsten Untersuchung keinerlei Betrug entdecken, hinsichtlich der psychologischen hat er nichts ganz Festes und Unveränderliches erhalten und neigt sich mit Ausschluß aller natürlichen Einwirkung zu der Ansicht, daß die Phänomene auf einer „fluidischen Gemeinschaft“ zwischen ihm und dem Operateur beruhen. Seine richterlichen Funktionen einerseits und dann die Studien über das alte Indien gestatteten ihm nicht die Fortsetzung dieser Untersuchungen, doch zeichnete er Alles auf, was sich auf die Lehre von den Pitris und den Geisterglauben bezog, ebenso was ihm über die materiellen Wirkungen des Fakirs kund wurde, in der Absicht, das über diese fremdartigen Gegenstände Gefundene später bekannt zu machen, wobei er sich jedoch bloß als Historiker verhalten wollte, da er nach seiner Aussage zu keiner wissenschaftlichen Ansicht hierüber kommen konnte.
Jacolliot glaubt jedoch, daß in der Natur und im Menschen, der in der Welt doch nur ein Atom ist, unermeßliche Kräfte liegen, deren Gesetze man jetzt noch nicht kennt, aber sie entdecken wird, und daß die Zukunft Dinge als Wirklichkeiten erweisen wird, die man jetzt für Träumereien hält, und Phänomene sehen wird, die man jetzt nicht einmal ahnen kann. Man könnte vielleicht einwenden, die Indier hätten seit tausenden von Jahren nicht vermocht, die Gesetze jener Phänomene festzustellen und man solle seine Zeit damit nicht weiter verlieren. Aber bei den Brahmanen, die alles unter den religiösen Glauben gebeugt haben, giebt es eben wegen des Glaubens weder Erfahrung noch wissenschaftliche Prüfung, und was hat, fragt Jacolliot, das Mittelalter, das seine Grundsätze aus dem Text der Bibel holte, von Wissenschaft zu Tag befördert? Man hat in den Pagoden die Dampfkraft gekannt und durch sie Vasen zersprengen lassen, man hat auch einige Äußerungen der Elektrizität beobachtet, ist aber weder zu Eisenbahnen, noch zu Telegraphen gekommen, die freilich auch bei uns von sehr gelehrten Gesellschaften als Schwindel behauptet worden waren. Das, was er in Indien sah, bringt Jacolliot schließlich zum Ausspruch, daß im Menschen eine spezifische Kraft vorhanden sein müsse, die unter einer unbekannten, oft intellektuellen Leitung wirkt, eine Kraft, deren Gesetze durch vorurteilsfreie Männer studiert werden sollten. Und ist es am Ende nicht die gleiche Kraft, welche, durch Erziehung und Leitung entwickelt, die Tempelpriester der alten Völker in den Stand setzte, der Menge durch angebliche Wunder zu imponieren? Dann wäre manches begründet, was uns in den alten Überlieferungen geboten wird, und neben abergläubischen Vorstellungen hätten wir auch reale Wirkung einer natürlichen Kraft vor uns.
Jacolliot hatte den ganzen Abschnitt über diese Gegenstände 1866 in Pondichery geschrieben, und als er das vorliegende Buch für den Druck vorbereitete, anfänglich die Absicht, ihn ganz zu unterdrücken, weil er, der sich vorgenommen, nur einfacher Berichterstatter sein zu wollen, bemerkte, daß er doch Partei für eine nach seiner Meinung eine natürliche, in Wahrheit jedoch übernatürliche Wirkungen erzeugende Kraft genommen habe. Da bekam er durch Gefälligkeit des Dr. Pual den bekannten Artikel von Crookes über die sogen. psychische Kraft im „Quarterly Journal of Science“ 242zu lesen, der während seines Aufenthaltes in Indien erschienen war, und geriet in Erstaunen, als er sah, daß der berühmte englische Chemiker nach seinen Versuchen die Existenz einer Kraft im Menschen förmlich behauptete, die er, Jacolliot, mehrere Jahre früher nur vermutet hatte. Dieses bestimmte ihn, das betreffende Kapitel so zu lassen, wie es ursprünglich geschrieben worden war und demgemäß auch seine hier folgenden Erfahrungen mitzuteilen.
Unter dem indischen Himmel mit seiner Glut und Farbenpracht ist die Gefahr noch größer als bei uns, aus der Sprache nüchterner und objektiver Erzählung in eine solche zu verfallen, welche Sensation zu beabsichtigen scheinen könnte. Am 3. Januar 1866 reiste Jacolliot in einem Dungui, einem landesüblichen Fahrzeug, mit kleiner Kajüte, von Tschandernagore auf dem Hugly ab und gelangte 14 Tage später nach der heiligen Stadt Benares. Zwei Eingeborene, nämlich ein Kammerdiener und ein Koch, begleiteten ihn, ein Bootsführer und sechs Ruderer aus der Fischerkaste bildeten die Bemannung des Fahrzeuges. Jacolliot schilderte mit Begeisterung die Pracht der großen Wallfahrtsstadt der Bekenner der Brahmareligion, in welcher unzählige Pilger aus dem weiten Indien kommen und gehen, mit ihren Tempeln, den Minaretstürmen der Mohammedaner, welche über die Massen der Paläste emporragen, den zahlreichen mächtigen Quadertreppen (Chabs), welche zum Ganges hinabführen, an dessen gekrümmten Ufern sich die Stadt in einer Ausdehnung von fast zwei Stunden hinzieht. Überall lange Arkaden, von Säulen gestützt, hohe Quais, Terrassen mit Balkonen und dazwischen das üppige Laubwerk der Baobabs, Tamarinden und Bananenbäume, vielfach mit vielfarbigen Blütentrauben bedeckt, Gärten voll Blumen in weiten Höfen. Mohammedanische und indische Baukunst mischen sich wundersam in der ganz unregelmäßigen Stadt, in welcher die Waren von Indien und Asien zusammenströmen, in der eine Toleranz ohnegleichen herrscht, so daß die Moslim und Brahmadiener gemeinsam ihre Waschungen im heiligen Strome verrichten. Jacolliot hatte in Tschandernagore einen Mahrattenfürsten kennen gelernt, der sich nach Benares zurückgezogen hatte und ihm nun ein Quartier in seinem prachtvollen siebenstöckigen Palast am Strome, links von der berühmten Moschee Aurengzebs, anwies.
Es ist nicht selten, daß indische Große ihre letzten Jahre in Benares, zurückgezogen von der Welt, hinbringen, und unter den Pilgern giebt es solche, welche in kleinen Säcken die nach der Leichenverbrennung gesammelten Knochenreste der Bagahs oder reicher Personen mitbringen, welche die Reise bezahlen können, beauftragt, sie in den heiligen Strom zu werfen; denn die letzte Hoffnung des Hindu ist, an den Ufern des Ganges zu sterben, oder seine Reste dahin bringen zu lassen. Diesem Umstand verdankt Jacolliot die Bekanntschaft vielleicht des außerordentlichsten Fakirs, den er in Indien getroffen, Covindasamy mit Namen. Er kam von Trivanderam, nicht weit von Kap Comorin, der Südspitze Hindostans, mit dem Auftrage, die Leichenreste eines reichen Malabaren, aus der Kaste der Kaufleute, Commutys, nach Benares zu bringen. Der Fürst, dessen Familie aus dem Süden stammte, war gewöhnt, in den Nebengebäuden seines Palastes die Pilger von Travancor, Maisur, Tandjaor und der alten Mahrattenlande aufzunehmen und hatte Covindasamy, der schon 14 Tage da war, eine kleine Strohhütte am Ufer angewiesen, wo er während einundzwanzig Tagen zu Ehren des Toten jeden Tag morgens und abends seine Waschungen machen sollte. Nachdem sich Jacolliot von seinem guten Willen überzeugt hatte, ließ er ihn eines Tages um die Mittagsstunde, wo Alles im Palast wegen der Hitze Siesta hielt, zu sich in ein Zimmer führen, vor welchem eine Terrasse mit der Aussicht auf den Ganges sich befand, in welcher ein Springbrunnen höchst angenehme Kühlung verbreitete. Nachdem sich der Fakir mit gekreuzten Beinen auf den Boden gekauert, sprach Jacolliot zu ihm, ob er wohl eine Frage an ihn richten könne? – Ich höre, war die Antwort. – Weißt Du, fuhr Jacolliot fort, ob in Dir eine Kraft sich entwickelt, wenn Du die Phänomene hervorbringst, und hast Du nie in Deinem Gehirn oder Deinen Muskeln eine besondere Empfindung erhalten? – Es ist nicht eine natürliche Kraft, die wirkt, antwortete Covindasamy, sondern ich rufe die Seelen der Vorfahren an, und sie sind es, welche ihre Macht zeigen, deren Werkzeug ich nur bin. – Eine Menge Fakirs, welche Jacolliot über den gleichen Punkt befragt hatte, gaben fast die gleiche Antwort, und er ließ nun Covindasamy seine Wirksamkeit beginnen. Derselbe hatte schon Stellung genommen und streckte seine 244Hände in der Richtung gegen eine große, mit Wasser gefüllte Bronzevase aus. Kaum nach 5 Minuten begann die Vase an ihrem Grunde in Schwingungen zu geraten und sich ohne sichtbare Rucke unmerklich dem Zauberer zu nähern, und im Maße wie ihre Entfernung von ihm abnahm, hörte man mehr und mehr metallische Töne aus ihr, als wenn mit einem Stahlstab auf sie geschlagen würde, und diese Töne wurden in einem gegebenen Moment so zahlreich und folgten sich so rasch, als wenn ein Hagelschauer auf ein Zinkdach fiele. Jacolliot verlangte, die Operation leiten zu dürfen, was der Fakir ohne weiteres zugab, und die Vase, stets von ihm beeinflußt, rückte vor oder wieder zurück, oder blieb ruhig, und die Töne stellten ein ununterbrochenes Rollen dar, oder folgten sich langsam und regelmäßig, wie die Stundenschläge einer Uhr, je nach dem Verlangen, welches Jacolliot äußerte; auch geschah eine bestimmte Zahl von Schlägen in einer gegebenen Zeit, und es wurde das Spiel einer Musikdose, welche sich im Palast befand, für die die Hindus so große Liebhaberei hegen, und welche zuerst den Walzer aus dem Freischütz, dann den Marsch aus dem Propheten spielte, im Takt von den Schlägen begleitet. Alles geschah ohne Apparat auf einer Terrasse von einigen Quadratmetern, und die, wie angegeben, bewegte Vase, breit ausgeschweift wie eine Schale und bestimmt, das Wasser des Springbrunnens aufzunehmen, das zu den morgendlichen Waschungen diente, die in Indien ein wahres Bad sind, hatte, wenn ganz leer, ein solches Gewicht, daß kaum zwei Männer sie bewegen konnten. Der Fakir, bis dahin unbeweglich kauernd, erhob sich nun und stützte seine Fingerspitzen auf den Rand der Vase, die nach einigen Augenblicken immer schneller hin und her zu schwanken begann, ohne daß ihr Fuß, der bald die eine, bald die andere Seite auf den Stuckboden setzte, das geringste Geräusch machte. Dabei blieb, was Jacolliot am meisten in Erstaunen setzte, das Wasser in der Vase unbeweglich, als wenn ein starker Druck es hinderte, seinem durch die Bewegung des Behälters fortwährend geänderten Schwerpunkt zu folgen. Dreimal während dieser Schwankungen erhob sich die Vase ganz über den Boden, 7–8 Zoll hoch, und wenn sie auf diesen wieder zurück ging, geschah es ohne wahrnehmbaren Stoß. Die sich gegen den Horizont neigende Sonne mahnte Jacolliot, seine Exkursionen durch die 245Monumente und Ruinen des alten Kassy, des Mittelpunktes geistlicher Macht zu unternehmen, nachdem die Brahminen im Kampf mit den Rajahs ihre weltliche verloren hatten, – und den Fakir, sich im Sivatempel durch die üblichen Gebete auf die Waschungen und Trauerceremonien vorzubereiten, die er jeden Abend am Ufer des heiligen Stromes zu erfüllen hatte. Er versprach, jeden der wenigen Tage seines Bleibens in Benares noch zu kommen, denn Jacolliot hatte sein Herz gewonnen, da er, so lange Jahre im Süden Indiens lebend, das sanfte und wohlklingende Tamul sprach, was in Benares nicht verstanden wurde, der Fakir daher mit ihm sich über sein wunderbares Heimatsland voll alter Denkmäler und herrlicher Vegetation, und über die geheimnisvollen Krypten der Pagode von Trivanderam unterhalten konnte, in welchem er von den Brahminen in die Kunst der Anrufung eingeweiht worden war.
Nachdem dies auch bei der Zusammenkunft am nächsten Tage geschehen, und hierauf Covindasamy sinnend mit gekreuzten Beinen verharrt hatte, stand er plötzlich auf, näherte sich der Bronzevase, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt war, hielt seine Hände über dieses, ohne es zu berühren, und blieb unbeweglich. Vielleicht weil seine Kraft heute schwächer war, verfloß eine Stunde ohne alle sichtbare Wirkung, bis endlich das Wasser wie unter einem leichten Luftzug sich zu runzeln begann; Jacolliot, der seine Hände auf den Rand des Gefäßes gelegt hatte, empfand einen Hauch von Frische, und ein auf das Wasser geworfenes Rosenblatt trieb gegen den Rand. Eigen war dabei, daß die kleinen Wellen sich an der dem Fakir entgegengesetzten Seite bildeten und gegen den Rand, an dem er stand, anschlugen. Nach und nach geriet die Wassermasse wie bei starker Erhitzung in eine sprudelnde Bewegung, überflutete die Hände des Zauberers und manche Wasserstrahlen schossen ein bis zwei Fuß hoch empor. Bat Jacolliot den Fakir, seine Hände vom Wasser zurückzuziehen, so ließ dessen Bewegung allmählich nach, näherte er sie wieder, so nahm sie aufs neue zu.
Der Hindu bat um ein kleines Stäbchen, und Jacolliot gab ihm einen noch nicht angeschnittenen Bleistift, den Covindasamy auf das Wasser legte und der nach einigen Minuten den Händen des Fakirs folgte, wie man eine Magnetnadel durch vorgehaltenes 246Eisen in allen Richtungen zu führen vermag. Dann legte er äußerst leise die Spitze seines Zeigefingers auf die Mitte des Bleistiftes und dieser sank nach wenig Augenblicken unter das Wasser bis auf den Grund der Vase. Jacolliot hatte schon bei manchen Fakirs Erhebungen vom Boden gesehen und bat auch Covindasamy um eine solche. Dieser ergriff ein Rohr von Eisenholz, welches Jacolliot von Ceylon gebracht hatte, stützte die rechte Hand auf den Kopf, schlug die Augen zur Erde und begann seine Evokationen zu sprechen, worauf er sich allmählich, die eine Hand auf den Kopf gestützt, mit nach orientalischer Weise gekreuzten Beinen bis etwa zwei Fuß über den Boden erhob, dabei unbeweglich bleibend in einer Stellung, ähnlich den bronzenen Buddhas, welche jetzt alle Touristen aus dem äußersten Orient mitbringen, während die meisten dieser Statuetten in den Schmelzereien von London angefertigt wurden. Jacolliot vermochte schlechterdings nicht zu begreifen, wie der Fakir über 20 Minuten lang in einer dem Gesetze der Schwere gänzlich widersprechenden Stellung verharren konnte. Als er an diesem Tage Abschied nahm, kündigte er Jacolliot an, daß in dem Augenblick, wo die heiligen Elephanten auf den kupfernen Becken in Sivas Pagode die Mitternachtsstunde schlagen würden, er die Familiengeister der Franguys (Franzosen) anrufen wolle, welche im Schlafzimmer Jacolliots dann ihre Gegenwart anzeigen würden. Um gegen alle Täuschung gesichert zu sein, schickte Jacolliot die beiden Diener auf das Dingui, um dort mit dem Cercar (Bootsführer) und seinen Leuten die Nacht zuzubringen. Der Palast des Peischwa hat Fenster nur nach dem Ganges hin und besteht aus sieben übereinander gebauten Stockwerken, deren Zimmer sich gegen bedeckte Gallerien und Terrassen öffnen. Die Stockwerke sind auf sonderbare Weise untereinander in Verbindung gesetzt; vom untersten führt nämlich eine einzige Freitreppe (Perron) in das nächste obere, und am andern äußersten Ende von diesem wieder ein Perron nach dem dritten Stockwerk und so fort bis zum sechsten, von welchem ein beweglicher Perron durch Ketten, nach Art einer Zugbrücke aufhebbar, in das siebente Stockwerk führt, welches letztere, halb orientalisch und halb europäisch möbliert, der Peischwa seinen fremden Gästen anzuweisen pflegt. Nachdem Jacolliot die Zimmer genau untersucht, die Zugbrücke aufgehoben hatte, war alle Verbindung 247nach außen abgeschnitten. Da schien es ihm um die angegebene Stunde, er höre deutlich zwei Schläge gegen die Mauer seines Zimmers, und als er gegen die Stelle zuging, einen schwachen Schlag, der aus der Glasglocke zu kommen schien, welche die Hängelampe gegen die Mücken und Nachtschmetterlinge schützte, dann noch Geräusch in den Cedernbalken der Decke, worauf alles still war. Er ging dann an das Ende der Terrasse, es war eine der Silbernächte, die man in unserem Klima nicht kennt, der Ganges breitete seinen ungeheuren Teppich zu Füßen der schlafenden Stadt aus, und auf einem der Tritte war eine dunkle Gestalt sichtbar: Der Fakir von Trivanderam, welcher für die Ruhe der Toten betete.
Jacolliot konnte sich nicht überzeugen, daß für die Hervorbringung der so oft von ihm gesehenen Phänomene die Theorie der Hindus, nach welcher die Geister der Vorfahren sie erzeugen, erwiesen sei, versichert aber wiederholt, daß niemand in Hindostan die von den Zauberern angewandten Mittel kennt; die Hindus trennen die materiellen Phänomene nicht von ihrem religiösen Glauben. Jawohl, sagte er zum Fakir, als dieser am nächsten Abend wieder erschien, die Geräusche, welche Du angezeigt hast, haben sich vernehmen lassen, der Fakir ist sehr geschickt. – Der Fakir ist nichts, antwortete Covindasamy höchst kaltblütig, er spricht die Mentrams und die Geister hören ihn. Es waren die Manen Deiner französischen Vorfahren, welche Dich besucht haben. – Du hast also Macht auch über fremde Geister? – Niemand kann den Geistern gebieten. – Ich meine, wie können die Seelen der Franguys die Bitten eines Hindu erhören, sie sind ja nicht von Deiner Kaste? – Es giebt keine Kaste in der obern Welt. – Es war diesmal so wenig als ein andermal möglich, Covindasamys Überzeugung wankend zu machen; er ergriff, ohne weiteres abzuwarten, einen kleinen Schemel von Bambus und setzte sich darauf, die Beine nach Moslimweise gekreuzt, die Arme über die Brust gelegt. Der Kammerdiener (Cansama in Hindustani, das Gleiche was Dobaschy im Tamul) hatte die Terrasse taghell erleuchtet, und so sah auch Jacolliot nach einigen Augenblicken der Willenskonzentration des ganz unbeweglichen Fakirs, den Bambusschemel geräuschlos in kleinen Rucken von etwa 10 Centimeter über den Boden gleiten und in 248etwa 10 Minuten an das Ende der sieben Meter langen Terrasse gelangen, dann sich wieder rückwärts bis zum alten Platz bewegen. Dreimal erfolgte auf Jacolliots Wunsch das gleiche; die Beine des Fakirs waren um die ganze Höhe des Schemels über dem Boden. Die Hitze war an diesem Tag außerordentlich, die kühlende Brise, jeden Abend vom Himalaya kommend, noch nicht eingetreten und der Koch bewegte zur Abkühlung nach Leibeskräften über den mittelst eines Strickes aus Kokosfasern einen enormen Pankah, eine Art beweglichen Fächer, der an einer der mittleren Eisenstangen der Terrasse aufgehängt war. Der Fakir ließ sich den Strick geben, stützte beide Hände auf die Stirne und kauerte sich unter dem Pankah nieder, der bald, ohne daß Covindasamy eine Bewegung gemacht hatte, zuerst sanft, dann immer schneller, wie von Menschenhand bewegt, zu schwingen anfing. Ließ der Zauberer den Strick fahren, so bewegte sich der Pankah langsamer und langsamer, bis er zuletzt still stand. Von drei Blumentöpfen auf der Terrasse, so schwer, daß Manneskraft zur Hebung von einem erforderlich war, wählte Covindasamy einen, legte seine Fingerspitzen auf dessen Rand und bewirkte damit ein regelmäßiges, pendelartiges Hin- und Herbewegen auf seiner Basis und zuletzt schien Jacolliot der Topf sich über den Boden zu erheben und nach dem Willen des Fakirs hin und her zu gehen, ein Phänomen, was Jacolliot auch sehr oft am hellen Tag gesehen hatte.
Derselbe hatte dem Fakir auch so gut als möglich den Lebensmagnetismus und Somnambulismus erklärt, die nach des letzteren Meinung ebenfalls durch Geisterwirkung zustande kommen; er konnte aber keine Zeit finden, hierüber Versuche anzustellen. Er hatte manchmal Gegenstände durch Zauberer fest an den Boden heften sehen, entweder, wie ein englischer Mayor meinte, indem sie durch ihr Fluidum deren spezifisches Gewicht ungemein vermehrten, oder auf unbekannte Weise. Jacolliot, willens den Versuch zu wiederholen, nahm einen kleinen Leuchterstuhl von Teakholz, den er leicht mit Daumen und Zeigefinger aufheben konnte, setzte ihn in die Mitte der Terrasse und fragte den Fakir, ob er ihn hier nicht so befestigen könne, daß er nicht anderswo hin zu bringen sei? Der Malabare, seine beiden Hände auf die obere Platte legend, blieb fast eine Viertelstunde in dieser Stellung, worauf er lächelnd sprach: 249Die Geister sind gekommen, und niemand kann diesen Gueridon ohne ihren Willen verrücken. Jacolliot versuchte dieses, aber das Möbel verrückte sich so wenig, als wenn es durch Klammern am Boden befestigt wäre, und als er seine Anstrengungen verdoppelte, blieb ihm die obere zerbrechliche Platte in den Händen. Als er mit den ein Kreuz bildenden Füßen auch nichts machen konnte, dachte er, wenn das Geräte durch die Hände des Zauberers mit einer Kraft geladen worden sei und diese nicht mehr erneuert werde, so müsse nach einiger Zeit der Gegenstand bewegt werden können. Er bat daher den Fakir, an das Ende der Terrasse zu gehen, und in der That konnte nach einigen Minuten Jacolliot das Möbel verrücken, was Covindasamy damit erklärte, daß die Geister abgegangen seien. „Aber höre, sie kehren wieder zurück.“ Mit diesen Worten legte er seine Hände auf eine der gewaltig großen silberplattierten Kupferplatten, welche die reichen Eingeborenen zu einem gewissen Spiel brauchen, und fast augenblicklich hörte man eine gewaltige Menge starker Laute, als wie von Hagel auf ein Metalldach, und Jacolliot glaubte, ungeachtet es Tag war, eine Anzahl die Platte in allen Richtungen durchkreuzender Flämmchen zu sehen. Nach dem Willen des Fakirs verschwand die Erscheinung und kehrte wieder zurück.
Auf den Gestellen dieser halb europäisch, halb orientalisch möblierten Zimmer standen eine Menge Nippsachen: kleine Windmühlen, welche Schmiedehämmer bewegten, Bleisoldaten, Tierchen in Holz mit grünen Bäumchen, ein frühes Spielzeug der Kinder, und andere Nürnberger Waren, dazwischen wieder wertvolle und künstliche Dinge, alles durcheinander. Jacolliot nahm eine kleine Mühle, die, durch Blasen in Bewegung gesetzt, diese einigen Persönchen mitteilte, und ersuchte Covindasamy, sie ohne Berührung in Bewegung zu setzen. Dies geschah durch bloßes Darüberhalten seiner Hände, und die Bewegung wurde immer schneller, je mehr er die Hände näherte. Jacolliot hing eine Harmonika an einer dünnen Schnur an einen der eisernen Griffe der Terrasse auf, so daß sie etwa zwei Fuß über dem Boden schwebte, und bat den Zauberer, Töne aus ihr zu ziehen, ohne sie zu berühren. Dieser ergriff mit Daumen und Zeigefinger beider Hände die Schnur, an welcher das Instrument schwebte, und ging dann, völlig unbeweglich 250werdend, in sich selbst ein. Bald regte sich das Instrument, das Pfeifenwerk erhielt eine Bewegung von unsichtbarer Hand und man hörte langgezogene reine Töne, doch keine Akkorde. Könntest Du nicht eine Arie erhalten? fragte Jacolliot. – Ich will den Geist eines alten Musikers der Pagoden anrufen, erwiderte dieser höchst kaltblütig. Das Instrument hatte nach Jacolliots Frage sogleich geschwiegen; nach langer Stille regte es sich, gab zuerst wie präludierend, eine Reihe von Akkorden und dann ganz entschieden eine der populärsten Arien der Malabarküste, deren Anfangsworte lauten: Bringe Kleinodien für die Jungfrau von Aruna. Der Fakir, ganz unbeweglich bleibend, hielt nur die Schnur zwischen seinen Fingern; Jacolliot, der beim Instrument niederkniete, sah die Griffe nach Bedürfnis sich auf- und niederbewegen.
Es war für Covindasamy der einundzwanzigste Tag seiner Anwesenheit in Benares gekommen, wo er 24 Stunden lang von einem Sonnenaufgang zum andern im Gebet verharren mußte, um dann nach Trivandaram zurückzukehren. Aber zuvor, sprach er zu Jacolliot, werde ich Dir noch einen Tag und eine Nacht widmen, denn Du warst gut mit mir, und ich, dessen Mund lange verschlossen war, habe in der Sprache mit Dir reden können, die meine Mutter brauchte, als sie mich in einem Bananenblatt in Schlaf wiegte. Alle Indier sprechen nie ohne Bewegung von ihrer Mutter. Als am Vorabend des langen Gebetstages Covindasamy die Terrasse verließ und in einem Gefäß vielfarbige Federn der merkwürdigsten indischen Vögel sah, ergriff er davon eine Hand voll und warf sie so hoch als möglich über seinen Kopf, und als sie herab kommen wollten, machte er mit den Händen Luftstriche unter ihnen, und sowie letzteren eine Feder nahe kam, so drehte sie sich leicht um sich selbst und stieg in Spiralen bis zum Zeltdach der Terrasse empor. Alle folgten der gleichen Richtung, aber einen Augenblick später wollten sie, der Schwere folgend, zu Boden sinken, stiegen aber, kaum auf der Hälfte des Weges angelangt, wieder auf und setzten sich an der Decke fest. Noch einmal erzitterten sie und zeigten eine schwache Neigung zum Herabsinken, aber bald blieben sie vollkommen unbeweglich hängen und gewährten durch ihre Anordnung auf dem Goldgelb der Strohmatte der Decke und ihre bunten Farben einen angenehmen Anblick. Kaum aber war 251der Fakir abgegangen, so fielen sie träg zu Boden, wo sie Jacolliot längere Zeit liegen ließ, um sich zu überzeugen, daß er beim Anblick dieser unbegreiflichen Phänomene nicht das Opfer einer Hallucination geworden sei.
Der Fakir weihte nach Beendigung seiner Mission Jacolliot noch einen Tag für zwei Sitzungen, eine zur Tages-, die andere zur Nachtzeit, jedoch bei voller Beleuchtung, und hatte Jacolliot versprochen, alle Geister, welche ihm beistehen, anzurufen, damit Jacolliot Dinge sehe, die ihm stets unvergeßlich bleiben würden. Covindasamy brachte zur Tagsitzung ein Säckchen sehr feinen Sandes mit, den er auf den Boden leerte und mit der Hand zu einer gleichförmigen Fläche von etwa 50 Quadratcentimeter ausbreitete. Dann ließ er an einem Tisch gegenüber mit Papier und Bleistift Jacolliot Platz nehmen, verlangte ein Stückchen Holz, worauf ihm Jacolliot einen Federhalter reichte, den er vorsichtig auf die Sandfläche legte. Ich rufe, sprach Covindasamy, nun die Geister an; sobald Du den mir gegebenen Gegenstand sich vertikal erheben siehst, so aber, daß sein eines Ende mit dem Sand in Verbindung bleibt, kannst Du auf das Papier beliebige Zeichen machen, und Du wirst sie auf dem Sande nachgebildet sehen. Er streckte dann seine beiden Hände wagerecht vor und murmelte seine geheimen Anrufungen, worauf in kürzester Zeit der Federhalter sich allmählich erhob und zu gleicher Zeit, wo Jacolliot auf sein Papier die bizarrsten Figuren zeichnete, dieselben getreu auf dem Sande kopierte. Hielt Jacolliot an, so stand auch der Federhalter still, und fuhr seinerseits fort, wenn Jacolliot wieder begann; der Fakir, der keine Verbindung mit ihm hatte, blieb vollkommen ruhig. Jacolliot, um zu veranlassen, daß der Fakir nicht einmal die Bewegungen sehen könne, die er mit seinem Bleistift mache, nahm hierauf eine Stellung an, wo dieses unmöglich war, untersuchte hierauf die Zeichnungen auf dem Papier und dem Sande und fand sie ganz identisch. Der Fakir, nachdem er den Sand wieder geglättet hatte, forderte Jacolliot auf, sich ein Wort in der Göttersprache, dem Sanskrit, zu denken und auf dessen Frage, warum gerade in dieser? bemerkte er, daß die Geister sich leichter dieser unsterblichen, den Unreinen verbotenen Sprache bedienen; Jacolliot, der mit Covindasamy über dessen religiöse Anschauungen diskutierte, dachte sich hierauf ein 252Sanskritwort; der Hindu regte sich, erhob sich, und schrieb alsbald: Purucha (der himmlische Erzeuger), das Wort, was Jacolliot gedacht hatte. Und auch eine ganze Phrase: „Adicêtê Vaicuntam Haris (Vischnu schläft auf dem Berge Veikunta)“, die Jacolliot zu denken aufgefordert worden war, wurde geschrieben. Könnte mir wohl der Geist, der Dich inspiriert, fragte Jacolliot, die 243. Sloca des vierten Buches von Manu geben? Er hatte kaum diesen Wunsch ausgesprochen, so setzte sich der Federhalter in Bewegung und schrieb Buchstaben für Buchstaben jener Strophe: „Darmaprâ dánam purucham tapasâ hatakilvisam paralôkam nayati âcou bâsuantam kaçarininan (der Mensch, dessen sämmtliche Handlungen auf Tugend zielen, dessen Sünden durch fromme Akte und Opfer versöhnt werden, gelangt zum himmlischen Aufenthalt, lichtstrahlend und von einem geistigen Leibe bekleidet).“ Jacolliot legte die Hand auf ein kleines geschlossenes Buch, das im Auszug einige Hymnen des Rigveda enthielt und fragte, welches das erste Wort der fünften Zeile der einundzwanzigsten Seite sei? Der Federhalter schrieb „Devadatta (von Gott gegeben)“, und es war so. Willst Du eine Frage in Gedanken stellen, fragte Covindasamy, und Jacolliot nickte einwilligend mit dem Kopfe. Der Stift schrieb auf den Sand: „Vasundara (die Erde).“ Jacolliot hatte in Gedanken gefragt: Was ist unsere gemeinschaftliche Mutter?
Es war 10 Uhr morgens geworden, Licht und Hitze bereits sehr groß, der Spiegel des Ganges warf einen blendenden Glanz. Jacolliot ging mit dem Zauberer an das Ende der Terrasse und sie sahen im Garten einen Koch, der Wasser aus einem Brunnen schöpfte und es in eine Bambusleitung goß, die in einen Badesaal ausmündete. Covindasamy streckte seine Hände in der Richtung des Brunnens aus, und alsbald wollte das Seil des Eimers nicht mehr in der Rolle laufen, trotz des Zornes des Kochs. Wie alle Hindus Widerwärtigkeiten den bösen Geistern zuschreiben und diese dann durch magische Gesänge zu vertreiben suchen, so auch dieser Koch. Kaum hatte er jedoch einige Worte in dem scharfen näselnden Tone hervorgebracht, der uns den orientalischen Gesang so unangenehm macht, so blieben ihm die Worte in der Kehle stecken, und er konnte trotz aller Grimmassen kein einziges mehr sprechen. Nach einigen Minuten ließ der Fakir seine Hände sinken, und der 253Koch erhielt seine Stimme wieder und den Gebrauch seines Seiles. Jacolliot klagte über die Hitze, der Fakir schien ihn nicht zu hören, so tief war er in sich selbst gekehrt. Da sah der erstere einen Fächer von Palmblättern von einem Tisch, auf dem er lag, sich erheben und die Luft um sein Gesicht fächeln, und glaubte harmonische Töne einer Menschenstimme zu hören. Als der Fakir, Abschied nehmend, die Hände über die Brust gekreuzt, im Ausschnitt der Pforte stand, welche von der Terrasse auf den Perron führte, erhob er sich ohne alle Stütze 25–30 Centimeter in die Luft, was Jacolliot dieses Mal genau messen konnte; indem hinter ihm sich ein seidener Vorhang befand, der als Thüre diente und weiße und Goldstreifen hatte; die Füße des Fakirs waren beim nächsten Streifen. Das Erheben, Schweben in der Luft und Wiederherabkommen währte etwas über 8 Minuten, das Beharren im Maximum der Erhebung etwa 5 Minuten. Auf die Frage, ob er dieses Phänomen willkürlich hervorbringen könne, antwortete er mit orientalischer Emphase: „Der Fakir könnte sich bis in die Wolken erheben.“ Obschon er sich schon oft nur als ein Werkzeug der Geister erklärt hatte, enthielt sich Jacolliot doch wieder nicht der Frage, wie er diese Macht der Erhebung erlange? worauf Covindasamy mit einer Sentenz antwortete: Man muß durch Gebete und Betrachtung mit den Pitris in beständiger Verbindung bleiben, dann steigt ein hoher Geist vom Himmel herab.
Jacolliot sah schon öfter die Leistungen der Fakire, einen Einfluß auf das Pflanzenwachstum in der Weise üben, daß dadurch, wie sie behaupten, in wenigen Stunden Resultate erreicht werden, die sonst Monate, selbst Jahre erfordern, wie ähnliches der Missionär Juc auch aus Tibet berichtet. Jacolliot hatte dieses jeder Zeit als ein sehr künstliches Taschenspielerstückchen betrachtet, demselben daher keine nähere Beachtung geschenkt, jetzt wollte er es auch von Covindasamy sehen, dessen Fähigkeiten wirklich wunderbar waren, und alle Aufmerksamkeit darauf wenden. Als der Fakir nachmittags 3 Uhr erschien, glaubte er ihn mit diesem Ansinnen zu überraschen, aber Covindasamy sagte in seiner gewöhnlichen einfachen Weise: Ich stehe zu deinem Befehl. – Wirst Du mich auch die Erde, das Gefäß und den Samen wählen lassen, den Du vor mir treiben lassen willst? – Das Gefäß und den Samen ja! 254Die Erde hingegen muß aus einem Nest der Carias (Termiten) genommen sein. – Der Kammerdiener wurde beauftragt, eine Blumenvase voll Erde und verschiedene Samen zu bringen, und der Fakir bat ihn noch, die Erde zwischen zwei Steinen zu zermalmen, denn sie ist durch den mörtelartigen Speichel der Insekten fast so fest wie Mauerstücke. In weniger als einer Viertelstunde waren die Sachen zur Hand, und Jacolliot schickte den Cansama fort, weil er nicht wollte, daß er mit dem Fakir etwa Gemeinschaft habe. Er gab nun letzterem die Erde, die derselbe mit etwas Wasser anrührte, dabei seine Mentrams murmelnd. Dann verlangte er die Samen und einige Ellen irgend eines weißen Stoffes. Jacolliot ergriff auf geradewohl einen Kern des Melonenbaumes und fragte ihn, ob er ihn zeichnen dürfe? Auf die bejahende Antwort schnitt Jacolliot die äußere Haut dieses, mit Ausnahme der Farbe, einem Kürbiskern ähnlichen, nur ganz dunkelbraunen Kernes leicht ein und übergab ihn nebst einigen Ellen Moskitotuch dem Fakir. – Ich werde bald den Schlaf der Geister schlafen, sagte dieser, schwöre mir, weder mich noch die Vase zu berühren. Nachdem Jacolliot dieses gelobt, pflanzte er den Samenkern in die nun einem flüssigen Schlamm ähnliche Erde, stieß dann sein Stäbchen mit sieben Knoten, dem Attribut des Eingeweihten, ohne das er nie ging, in einen Winkel der Vase und breitete über ihn das Mousselinstück aus. Dann kauerte er sich nieder, streckte beide Hände horizontal über den Apparat und verfiel in vollkommene Katalepsie. Als nach einer halben Stunde, immer die Arme horizontal ausgestreckt, was kein Wacher thun könnte, und selbst nach einer Stunde nicht die geringste Muskelzuckung eintrat und der fast nackte durch die Hitze gebräunte und glänzende Körper einer Bronzestatue glich, wobei die Augen offen und starr waren, konnte Jacolliot, der sich der Beobachtung halber ihm gegenübergesetzt hatte, den Blick dieser halberloschenen Augen nicht mehr ertragen; es schien ihm die ganze Umgebung – der Fakir mit – vor den Augen zu tanzen, ohne Zweifel infolge der zu gespannten Aufmerksamkeit, und er mußte sich an das Ende der Terrasse setzen, wo er abwechselnd auf den Strom und Covindasamy blickte. Endlich nach zwei Stunden machte ein leichter Seufzer ihn erzittern, der Fakir war wieder zum Bewußtsein gekommen, gab ihm ein Zeichen sich 255zu nähern, hob das Mousselintuch weg und zeigte ihm ein frisches junges Stämmchen des Melonenbaumes von etwa 20 Centimeter Höhe. Jacolliots Gedanken erratend, griff er in die Erde, zog vorsichtig die junge Pflanze heraus und zeigte an dem Häutchen, das noch an den Wurzeln hing, den vor zwei Stunden gemachten Einschnitt. Jacolliot bemerkt, der Fakir habe vor seinem Kommen nicht gewußt, was von ihm verlangt würde; er konnte nichts unter Kleidern verbergen, da er fast nackt war, er konnte auch nicht wissen, daß Jacolliot, der ihn während der ganzen Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte, gerade einen Samenkern des Melonenbaumes wählen werde. Es sei dies einer von den Fällen, wo die Sinne keinerlei Betrug zu entdecken vermochten, die Vernunft sich aber doch nicht gefangen geben wolle. Nachdem der Fakir sich einige Augenblicke an seinem Staunen geweidet, sagte er nicht ohne Stolz: „Hätte ich die Anrufungen fortgesetzt, so würde der Melonenbaum in 8 Tagen Blüten und in 14 Früchte gehabt haben.“ – An die Erzählung von Huc und an gewisse Phänomene denkend, die Jacolliot selbst in Carnatic gesehen, sprach er, es gäbe Zauberer, die das Gleiche in zwei Stunden hervorbringen könnten. – „Du irrst, erwiderte Covindasamy, das, wovon Du sprichst, war die Herbeibringung fruchtbarer Bäume durch die Geister; was ich Dir zeigte ist Wachsthum; nie hat das von den Pitris gerichtete reine Fluidum in einem einzigen Tage Keimung, Blüte und Frucht erzeugen können.“ – Jacolliot macht darauf aufmerksam, daß unter dem Himmel Indiens, wenn man den Samen vieler Küchenkräuter um die Morgenröte in feuchtes, der Sonne gut ausgesetztes Erdreich säet, die Pflänzchen schon um Mittag aus der Erde hervorkommen und um 6 Uhr abends fast einen Centimeter hoch sind, daß aber freilich ein Same des Melonenbaumes 14 Tage zur Keimung braucht.
Um zehn Uhr abends an diesem Tage trat Covindasamy wie gewöhnlich schweigend in das Zimmer von Jacolliot, nachdem er auf einer der Stufen der Treppe das Languty abgelegt hatte, jenes kleine Zeugstück, und gewöhnlich seine einzige Bekleidung, und er war nun ganz nackt, sein Bambusstäbchen mit den sieben Knoten an einer seiner langen Haarflechten befestigt. – Nichts Unreines, sagte er, darf den Körper des Anrufenden berühren, wenn er seine 256Fähigkeit, mit den Geistern in Verbindung zu treten, in ihrer ganzen Stärke erhalten will. – Jacolliot kam hierbei der Gedanke, ob nicht die von den Griechen am Indus getroffenen Gymnosophisten eben solche Eingeweihte wie Covindasamy waren. Es wurde an diesem Abend auf der Terrasse und im Schlafzimmer von Jacolliot experimentiert, beide, nur unter sich zusammenhängend, waren nach außen vollständig abgeschlossen, in jeder der beiden Lokalitäten brannte eine Hängelampe mit Kokosöl, in ein Krystallglas eingeschlossen. In allen indischen Häusern findet man kleine kupferne Kohlenbecken, beständig mit glühenden Kohlen gefüllt, um darauf von Zeit zu Zeit einige Prisen eines wohlriechenden Pulvers von Sandelholz, Iriswurzel und Myrte zu verbrennen. Der Fakir stellte ein solches Becken auf die Mitte der Terrasse und daneben eine kupferne Platte mit jenem wohlriechenden Pulver, dann kauerte er sich in gewohnter Stellung mit gekreuzten Armen auf den Boden, begann hierauf eine lange Inkantation in einer unbekannten Sprache, rezitierte seine Mentrams und blieb dann unbeweglich, die linke Hand auf dem Herzen, die rechte auf sein Stäbchen gestützt; von Zeit zu Zeit brachte er die Hand an die Stirne, wie um durch Striche sein Gehirn frei zu machen. Auf einmal mußte Jacolliot erzittern, denn eine schwachleuchtende Wolke bildete sich in seinem Schlafzimmer, aus der nach allen Seiten hin rasch Hände hervorkamen und wiederum in sie zurückgingen; nach einigen Minuten verloren mehrere dieser Hände ihr dunstiges Ansehen und glichen, sich gewissermaßen materialisierend, menschlichen Händen, während die andern leuchtender wurden; erstere waren undurchsichtig und warfen Schatten, die andern so durchsichtig, daß man Gegenstände hindurchsehen konnte; Jacolliot zählte im Ganzen sechzehn. Kaum hatte Jacolliot den Fakir gefragt, ob es nicht möglich wäre, diese Hände zu berühren, so löste sich eine von der Gruppe ab, kam gegen ihn geschwebt und drückte seine dargebotene Hand. Sie war klein, geschmeidig und feucht wie die Hand einer jungen Frau. – „Der Geist ist da, obwohl nur eine seiner Hände sichtbar ist, sprach Covindasamy. Du kannst mit ihm reden, wenn Du es wünschest.“ – Jacolliot fragte lächelnd, ob der Geist, dem diese kleine Hand gehöre, ihm nicht ein Andenken geben wolle? und fühlte darauf jene Hand in der seinen vergehen und sie gegen ein Blumenbouquet 257schweben, eine Rosenknospe abbrechen, welche sie zu seinen Füßen warf, worauf sie verschwand. Während zwei Stunden kamen Dinge vor, ganz geeignet, die Besinnung zu verwirren; bald streifte eine Hand Jacolliots Gesicht oder fächelte ihm mit einem Fächer, bald verbreitete eine andere im Zimmer einen Blumenregen oder zeichnete in der Luft feurige Buchstaben, welche verschwanden, nachdem der letzte erschienen war, wobei wahrhafte Blitzstrahlen durch das Zimmer und die Terrasse fuhren. Zwei der Sanskritsprüche, die Jacolliot rasch mit dem Bleistift aufzeichnete, lauteten: Divyavapur gatwâ (Ich habe einen fluidischen Körper angenommen) und unmittelbar darauf schrieb die Hand: Atmâram crêyasa yoxyatas Dchasya'sya vimô canat (Du wirst das Glück erlangen, wenn du dich von diesem vergänglichen Körper losmachst). Nach und nach verschwanden die Hände, die Wolke hatte in dem Maße abgenommen, als die Hände sich zu materialisieren schienen; an der Stelle, wo die letzte Hand verdunstet war, fand man einen Kranz von jenen stark duftenden Immortellen, welche die Hindus bei allen ihren Ceremonien verwenden.
Einen Augenblick nach dem Verschwinden der Hände, während der Fakir seine Anrufungen eifrig fortsetzte, bildete sich eine dunklere und dichtere Wolke neben dem kleinen Kohlenbecken, das Jacolliot nach dem Wunsch des Hindu stets mit Glut gefüllt erhalten hatte, und allmählich nahm diese Wolke menschliche Form an und erschien als der Schemen eines alten opfernden Brahminen, der neben dem Becken kniete. Er hatte auf der Stirne die dem Wischnu heiligen Zeichen, seine Hände hielt er vereinigt wie beim Opfern über den Kopf, und seine Lippen bewegten sich wie betend. In einem gegebenen Augenblick nahm er eine starke Prise des wohlriechenden Pulvers und warf sie auf die Glut, worauf alsbald ein dichter Rauch alle Räume erfüllte, nach dessen Verschwinden Jacolliot den Schemen zwei Schritte vor sich sah, der ihm seine fleischlose Hand reichte, die Jacolliot grüßend in die seine faßte und – obwohl knöchern und hart – doch warm und lebend fand. „Bist du wohl, fragte er laut, ein früherer Bewohner der Erde?“ Und kaum hatte er diese Frage beendet, als auf der Brust des Schemens glänzend wie Phosphorlicht das Wort Am (Ja) erschien und sogleich wieder verschwand. Und als Jacolliot weiter fragte: „Willst 258du mir kein Zeichen deines Vorübergangs hinterlassen?“ zerriß der Geist seinen aus drei Baumwollenschnüren gemachten Gürtel, gab ihm denselben und verschwand zu seinen Füßen.
Jacolliot glaubte die Sitzung beendet, aber der Fakir dachte noch immer nicht daran, seine Stellung zu verändern. Da hörte ersterer plötzlich eine bizarre Melodie, ausgeführt auf einem Instrument, das ihm die zwei Tage vorher gebrauchte Ziehharmonika zu sein schien, welche jedoch der Peischwa des Abends vorher hatte abholen lassen, und die sich nicht mehr in den Zimmern von Jacolliot befand. Die anfangs fernen Töne erklangen bald wie aus näheren Räumen und zuletzt wie im Schlafzimmer, als Jacolliot längs den Mauern hingleitend das Phantom eines Pagodenmusikers erblickte, welcher, die Harmonika spielend, auf ihr jene einförmigen und klagenden Töne hervorbrachte, wie sie der religiösen Musik der Hindus eigen sind.
Als das Phantom durch das Zimmer und die Terrasse passiert war, verschwand es, und an der Stelle seines Verschwindens lag das von ihm gebrauchte Instrument, in der That die Ziehharmonika des Rajah, und doch waren alle Thüren wohl verschlossen. Covindasamy stand nun auf, in Schweiß reich gebadet, auf das äußerste erschöpft, und doch sollte er in wenig Stunden seine Reise antreten. – „Dank Dir, Malabare, sprach Jacolliot, ihn so mit dem Namen seiner geliebten Heimat anredend –, und möge der, welcher die drei geheimnisvollen Gewalten vereinigt, (die brahmanische Dreifaltigkeit), Deine Reise nach den lieblichen Ländern des Südens beschützen, und mögest Du erfahren, daß während Deiner Abwesenheit Freude und Glück in Deiner Hütte gewohnt haben.“ – Der Fakir antwortete in noch mehr emphatischem Tone, und nachdem er das dargereichte Geschenk empfangen, ohne es anzusehen, selbst ohne dafür zu danken, sprach er melancholisch seinen letzten Salam (Gruß) und verschwand geräuschlos. Als Jacolliot in der ersten Morgenröte von der Terrasse auf den Strom blickte, sah er auf demselben einen schwarzen Punkt und mittelst des Nachtfernrohrs, daß es der Fakir war, der den Fährmann geweckt hatte und nun den Ganges kreuzte, um den Weg nach Trivanderam einzuschlagen und das blaue Meer, die Kokospalmen und seine Hütte wiederzusehen, von der er so oft gesprochen. Nach einigen Stunden Schlafs 259im Hamak erwachend, schien ihm die vergangene Nacht Traum und Hallucination zu sein, aber die Harmonika war da, die geworfenen Blumen bedeckten alle noch die Terrasse, der Immortellenkranz lag noch auf einem Divan, und die Worte, die er in Feuerschrift gesehen, standen in seiner Schreibtafel aufgezeichnet, einen Betrug konnte Jacolliot ebensowenig entdecken als Abbé Huc in Tibet bei den dort gesehenen Produktionen.
Etwa vier Jahre später reiste Jacolliot über Madras, Bellary und Bedjapur nach der Provinz Aurungabad, um den unterirdischen Tempel von Karli zu besuchen, welche berühmten Krypten wie Ellora, Elephantea, Rosach &c. in einem Hügelkranz des Mahrattenlandes liegen, der – mit Forts versehen – Jahrhunderte lang das Eindringen der Moslims gehindert hat. Der Eingang in die in Felsen gehauenen Krypten von Karli befindet sich etwa 300 Fuß über der Basis des Hügels, und man gelangt dahin auf einem Wege, der eher dem Bett eines Bergstroms als einer Straße gleicht und auf eine Terrasse führt, die einen würdigen Vorplatz des prachtvollen Innern bildet. Auf der linken Seite des Porticus steht eine mit unentzifferbaren Charakteren bedeckte massive Säule, die auf ihrem Kapitäl drei noch kaum erkennbare Löwen trägt; auf die Schwelle tretend, hat man einen ungeheuren Vorsaal vor sich, der in seiner ganzen Länge von etwa 600 Schritt mit Arabesken und Skulpturen bedeckt ist; an jeder Seite des Eingangs stehen drei riesige Elephanten mit ihren Cornacs auf Hals und Rücken; das Gewölbe ist durch zwei Reihen von Pfeilern gestützt mit einem Elephanten über jedem, der auf seinem Rücken eine männliche und eine weibliche Gestalt trägt, wie gebeugt unter der ungeheuern auf ihnen ruhenden Last. Dieses imposante dunkle Innere ist nun eine berühmte Wallfahrtsstätte für die Fakirs aus ganz Indien, und manche schlagen ihre Wohnung in der Nähe des Tempels auf, kasteien ihren Leib und leben allein noch der Betrachtung. Tag und Nacht vor flammenden Feuern hingekauert, welche die Gläubigen unterhalten, eine Binde über den Mund, um nicht das geringste Unreine einzuatmen, nichts genießend als einige Körner gerösteten Reis mit Wasser befeuchtet, das durch ein Tuch geseiht wird, magern sie nach und nach zu Skeletten ab, die Geisteskräfte sinken rasch, und ehe ihre letzte Stunde schlägt, haben sie schon eine lange 260Zeit physischer und intellektueller Schwäche durchlebt, die kein Leben mehr ist. Alle Fakirs, welche in der obern Welt die höchsten Transformationen erlangen wollen, müssen ihren Leib diesen schrecklichen Kasteiungen unterwerfen. Man zeigte Jacolliot einen, erst vor wenigen Monaten vom Kap Comorin angekommenen, der, zwischen zwei Glutpfannen liegend, fast schon ganz gefühllos geworden war. Wie erstaunte Jacolliot, als eine breite Narbe auf dem Schädel ihn den Fakir von Trivanderam erkennen ließ, und er fragte ihn in seiner geliebten Sprache des Südens, ob er sich nicht an den Franguy von Benares erinnere. Einen Augenblick schien ein Blitz durch seine fast verloschenen Augen zu zucken, und er murmelte die zwei Sanskritworte, welche in jener Sitzung in feurigen Buchstaben erschienen waren: „Divyavapur gatwâ. Ich habe einen fluidischen Körper angenommen.“ Es war von ihm, den sie nur „Karli Sava, den Leichnam, das Phantom von Karli“ nannten, kein weiteres Zeichen von Aufmerksamkeit zu erlangen. So enden, sagt Jacolliot, in Siechtum und Geistesschwäche die indischen Medien. –
Es ist denkbar, selbst wahrscheinlich, daß Jacolliot manches mit zu lebhaften Farben geschildert hat, und daß eine Gruppierung der Phänomene stattgefunden hat, um die Überzeugung herbeizuführen, daß namentlich vielleicht die Steigerung derselben ein teilweises Produkt späterer Anordnung sei, die Folge nicht gerade in der angegebenen Weise stattgefunden habe. Prüft man aber die einzelnen Fälle für sich, so stimmen sie nach Wegrechnung des Volkscharakters, der natürlichen Umgebungen, des Bodens, auf dem sie spielen, dem Wesen nach mit den übrigen mystischen Erscheinungen der verschiedensten Zeiten und Völker überein und sind nicht mehr und nicht weniger wunderbar als diese, namentlich auch die spiritistischen Phänomene. Diese Übereinstimmung in der innern wesentlichen Beschaffenheit läßt demnach die Angaben Jacolliots so glaubwürdig erscheinen, wie die meisten andern, und wir befinden uns auch ihnen gegenüber in der gleichen Kontroverse einer Hervorbringung durch magische Kräfte lebender Menschen oder in der Regel unsichtbare Wesen, sogenannte Geister, welche die Lebenden, speziell die, welche man Medien nennt, als Organe ihrer Kundgebung brauchen. Man sieht aus den hier mitgeteilten Angaben, 261daß die Indier seit uralter Zeit sich für die letztere Meinung entschieden haben und ihre Pitris, die Geister der Vorfahren, für die hierbei Wirkenden ansehen. Haben sie recht, so muß man schließen, daß bei diesen Kräfte frei werden, die nicht an die sogenannten Naturgesetze gebunden sind, daß sie aber zur Bestätigung derselben in sehr vielen Fällen mit Lebenden in Verbindung treten, nicht sowohl als wenn sie dieselben zur Hervorbringung der Phänomene nötig hätten, als vielmehr durch diese ihr eigenes Dasein zu erweisen und wenigstens teilweise ihre Fähigkeiten dem Verständnis der Lebenden näher zu bringen. – Was aber die Fakirs, Sanyassis, Nirvanys &c. betrifft, so ist kaum daran zu zweifeln, daß manche nicht dazu gelangen werden, das magische Vermögen in sich zu entwickeln, und dadurch der Versuchung verfallen, dasselbe zu simulieren, durch seinen Schein zu täuschen, daß sie von Magiern zu Taschenspielern herabsinken. Dieses würde, wie beim ägyptischen, Zend- und anderem Kultus geschehen ist, in dem Maße zunehmen, als der Brahmanismus seinem Verfall entgegen ginge, wovon jedoch bis jetzt nicht viel zu bemerken ist. Lachten doch schon in der spätern Zeit der Republik römische Auguren, wenn sie sich begegneten, und als die Römer nach Ägypten kamen, waren die Priester nur noch imstande, als Führer zu den alten Herrlichkeiten zu dienen.
Die Erfahrung aller Zeiten hat gelehrt, daß die Übung dieser Dinge für die Lebenden mit Gefahr verbunden ist, und daß sie auf Kosten ihrer Bestimmung für die gegenwärtige Form des Daseins vollzogen wird. Bekannt ist, wie gefährlich z. B. jene das visionäre Vermögen erweckenden Räucherungen sind, von denen schon Benvenuto Cellini erzählt, vor welchen Horst und Eckartshausen warnen und deren Wirkung auch Jacolliot erfahren hat. Um wie viel bedenklicher werden aber jene fortgesetzten asketischen Übungen sein, die in manchen Fällen zur Stigmatisation, in andern sonst zum Hinsiechen des Organismus führen. Wenn ein Trost für solche Hingebung zu finden ist, so wird er darin bestehen, daß durch sie Aufschlüsse über das innerste Wesen der menschlichen Natur erlangt worden sind, die auf anderem Wege nicht zu erhalten waren, und wenn jene Meinung richtig ist, welche die Wirkung oder doch Mitwirkung der nicht mehr im irdischen Leben Wandelnden behauptet, so wäre damit ein empirischer Beweis für die persönliche Fortdauer 262geleistet, ungleich wertvoller als alle Spekulation darüber. Und so hätten die Mystiker aller Zeiten, indem sie irdische Bestimmung wenigstens teilweise verfehlten, sehr oft auch das, was man irdisches Glück nennt, einbüßten, doch nicht umsonst gelebt und entbehrt, sondern der Menschheit einen sehr großen Dienst indirekt erwiesen. Dieses und nicht die vermeinte Gottgefälligkeit der sich jenen abnormen Zuständen Hingebenden oder von ihnen Überwältigten, scheint mir der Gesichtspunkt zu sein, von welchem aus sie zu würdigen sind.
Eine spezielle göttliche Einwirkung muß man wohl bei ihnen allen ausschließen; es erfolgen diese Vorgänge bei einer Gesetzmäßigkeit, wie sie durch die Weltvernunft für alle Gebiete des Seins festgestellt, aber für das in Frage stehende uns noch ganz verschleiert ist. Diese Dinge sind sehr wunderbar, aber kein Wunder im populären Sinn des Worts, wofür sie freilich der fromme Glauben aller Zeiten zu halten geneigt ist. Mit denjenigen aber ist nicht zu rechten, welche bei ihrer gänzlichen Unkenntnis dieses Gebietes mit dem Schlagwort „Betrug“ die Thatsachen vernichten zu können glauben, welche aus Naturgesetzen, die hier nicht gelten, die Unmöglichkeit mystischer Erscheinungen erweisen wollen und den Beifall einer urteilslosen Menge der ernsten und unbefangenen Forschung vorziehen.
So weit Perty. Ich habe seinen Worten nichts hinzuzufügen.
Mehr als in jedem Land des Altertums – Akkad vielleicht ausgenommen – wurde der Occultismus und zwar zumeist in den Zweigen des Somnambulismus und Heilmagnetismus – in Ägypten von den Priestern ausgeübt, deren ganze Lebensweise und Disziplin an die Brahmanen gemahnt. Schon Jamblichus sagt[275]:
„Die Priester verlegen sich nur auf die Erkenntniß Gottes, ihrer selbst und der Wahrheit. Sie beachten nicht einen eitlen Ruhm bei ihren heiligen Handlungen und geben der Phantasie keinen Platz.“
Bekanntlich waren sie gleich den Brahmanen die herrschende Kaste und ihr Rang dem des oft von ihnen beherrschten und ihrer Kaste angehörigen Königs gleichgestellt. Wie die Brahmanen führten sie die strengste Lebensweise und abermals wie diesen waren auch ihnen wiederholte tägliche Waschungen vorgeschrieben. Ihre Kleidung bestand aus Baumwolle und Leinwand, und ihre Sandalen waren aus Papyrus gefertigt. Ihre Diät war zumeist die vegetarische, jedoch genossen sie auch zuweilen Fleisch, welches jedoch vorher von besonders dazu angestellten Beamten besichtigt werden mußte, die dasselbe, wenn sie es für rein und gesund erkannten, mit einem Stempel bezeichneten. Schweinefleisch genossen sie nur zur Zeit des Vollmonds, und Fische – ganz besonders aber Seefische – waren ihnen ebenfalls verboten. Von Pflanzenkost 266waren ihnen die Hülsenfrüchte und Zwiebeln verboten, und zwar – wie Plutarch meint – erstere, weil sie zu stark nähren und Blähungen erzeugen, letztere wegen ihrer stimulierenden Wirkung und weil sie zum Durst reizen. Wein durften sie nach einigen alten Schriftstellern nicht trinken, nach anderen war es jedoch gestattet. Sprengel sucht diesen Widerspruch dergestalt zu erklären[276], daß er annimmt, der Wein sei erst zu Psammetichs Zeiten in Ägypten eingeführt worden und auch dann noch ein Privilegium der höheren Stände gewesen.
Die ägyptischen Priester waren bekanntlich in verschiedene Grade und Klassen geteilt, von denen einige – wie die Fakire – magisch-mediumistische Künste ausübten, andere die Astrologie pflegten, wieder andere magisch-magnetische Heilkunst trieben und Somnambulismus hervorriefen. Sie teilten ihre geheimen Künste keinem nicht zur Kaste gehörenden mit, und lange war es Ausländern unmöglich, in dieselbe aufgenommen zu werden.
Die ersten Fremden, welche der Tradition zufolge in die Tempelgeheimnisse eingeweiht wurden, waren Orpheus, Thales und Pythagoras.
Von letzterem erzählt Porphyrius[277]:
„Pythagoras bat vor seiner Reise nach Ägypten den Polykrates, König von Samos, um ein Empfehlungsschreiben an den ägyptischen König Amasis, damit man ihn dort in die geheimen Lehren der Priester einweihe. Der König gab es ihm, allein die Helipoliten, an die er sich zuerst wendete, schickten ihn nach Memphis, gleichsam zu den Höheren und Älteren. Zu Memphis wurde er unter demselben Vorwand zu den Diospoliten oder Thebanern entlassen. Da diese aus Furcht vor dem König nichts mehr vorzuschützen wußten, kamen sie überein, ihn durch übermäßiges Arbeiten und Druck von seinem Vorhaben abzuwenden. Da aber Pythagoras auf das Pünktlichste Alles erfüllte, so wunderten sie sich darüber so sehr, daß sie ihn einweihten und ihren Geheimnissen beiwohnen ließen, was sonst keinem Fremden gelang.“
Wie allbekannt, spricht die Bibel von ägyptischen Magiern, 267Traumdeutern, und die Hofzauberer Pharaos kennt jedes Kind. Auch Homer deutet Ähnliches an, wenn er singt[278]:
Die Heilgottheiten der Ägypter waren Isis, Horus, Serapis, Osiris, Apis und Phtha.
Bezüglich der Isis sagt Diodorus Siculus[279]:
„Die Aegypter versichern, daß Isis ihnen in der Arzneikunst große Dienste geleistet habe durch heilsame Mittel, die sie entdeckte; daß sie jetzt, wo sie unsterblich geworden, an dem Gottesdienst der Menschen ein besonderes Wohlgefallen habe und sich vorzüglich um ihre Gesundheit bekümmere; daß sie ihnen durch Träume zu Hülfe komme, womit sie ihr ganzes Wohlgefallen offenbare. Die Probe ist darüber festgesetzt nicht durch Fabeln, wie bei den Griechen, sondern durch gewisse Thatsachen. In der That, alle Völker der Erde geben Zeugniß von der Macht dieser Göttin in Bezug auf Heilung von Krankheiten durch ihre Verehrung und Dankbarkeit. Sie zeigt in den Träumen denjenigen, die leidend sind, die für ihre Krankheiten geeigneten Mittel an, und die treue Erfüllung ihrer Verordnungen hat gegen die Erwartung aller Welt Kranke gerettet, die von den Ärzten aufgegeben waren.“
Die berühmtesten Isistempel befanden sich zu Memphis und Busiris.
Horus, der Sohn der Isis, hatte nach dem Glauben der Ägypter von seiner Mutter die Heilkunst erlernt und wurde namentlich in seiner späteren Gestaltung als Harpokrates als Heilgott verehrt. Höhere Verehrung genoß Serapis, dem nach Jablonski zweiundvierzig Tempel geweiht waren, von denen sich die berühmtesten zu Memphis, Canopus und besonders in Alexandria befanden. Strabo sagt von Serapis[280]:
„In seinen Tempeln ist eine große Gottesverehrung, wo viele medicinische Wunder geschehen, an welche die berühmtesten Männer glauben und für sich und andere den Tempelschlaf pflegen.“
Der Serapistempel zu Canopus wurde von den angesehensten Personen mit großer Ehrfurcht besucht und nach Strabo befanden sich im Innern desselben eine Menge Wunderkuren enthaltende Weihetafeln.
Der berühmteste Serapistempel war bekanntlich der zu Alexandria, wo auch die von Kaiser Vespasian ausgeübten magnetischen Heilungen sich ereigneten. Tacitus erzählt dieselben folgendermaßen[281]:
„Als Vespasian sich zu Alexandrien aufhielt, geschahen sehr viele Wunder, wodurch besonders sich die göttliche Gewogenheit und Zuneigung für Vespasian offenbarte. Irgend ein gemeiner und wohlbekannter Blinder von Alexandrien kam auf Anrathen des Gottes Serapis zu den Knieen des Kaisers, mit Thränen um Hülfe rufend. Er bat den Kaiser, daß er seine Augen mit seinem – des Kaisers – Speichel benetzen möchte. Ein anderer an der Hand Gelähmter bat gleichfalls auf Anrathen des Serapis, daß ihn der Kaiser mit seinem Fuß berühren, d. h. mit der Fußsohle treten möchte.“
„Allein Vespasian lachte zuerst, war ungehalten und fürchtete, als jene dringend zu bitten fortfuhren, in den Ruf der Eitelkeit zu kommen; endlich aber wurde er durch ihr Flehen, durch den Zuspruch und durch die Liebkosungen Anderer zur Hoffnung bewegt. Zuletzt ließ er die Ärzte entscheiden, ob eine solche Blindheit und Schwäche durch menschliche Hülfe zu heilen wäre. Die Ärzte 269sprachen hin und her und meinten, die ganze Sehkraft sei noch nicht erloschen[282], und das Gesicht könne wiederkehren, wenn nur die Hindernisse gehoben werden könnten; allein der Kaiser versuchte es vor der Versammlung, und der glückliche Erfolg blieb nicht aus. Jener andere könne seine bösen Gliedmaßen wieder heilen, wenn irgend eine hülfreiche Kraft angewendet würde. Zu diesem göttlichen Dienst könne vielleicht der Kaiser ausersehen sein. Und endlich würde der Ruhm der geleisteten Hülfe immer dem Kaiser bleiben, der Spott aber im Falle des Fehlschlags die armen Kranken treffen. Vespasian vollzog also im Glauben, daß seinem Glücke Alles offen stehe, und daß nichts unmöglich sei, mit freudigem Gesicht vor der aufs Äußerste gespannten Versammlung das Gebot. Der Eine gebrauchte gleich seine Hand und dem Blinden schien das Tageslicht. Alle, die gegenwärtig waren, stimmen bezüglich der Wahrheit mit einander überein, daher erwartet die Lüge umsonst ihren Preis.“
Eine weitere Heilgottheit war Apis, von welchem Plinius berichtet[283]:
„In Aegypten wird ein Ochse, den sie Apis nennen, göttlich verehrt; er hat an der rechten Seite einen glänzenden weißen Fleck, welcher mit dem Neumonde zu wachsen beginnt.[284] Er darf nur ein gewisses Alter erreichen, dann ertränken ihn die Priester und suchen klagend nach einem andern an dessen Stelle. Nachdem sie einen gefunden haben, führen ihn die Priester nach Memphis, wo das Orakel blos durch Zeichen und Deutungen künftige Dinge verkündete. Aus der verschiedenen Haltung, aus den Bewegungen und dem Thun des Ochsen pflegten sie wahrzusagen, indem ihm die Rathfragenden Speise darboten. Aus der verschiedenen Zu- oder Abneigung, solche anzunehmen, leitete man seine Antworten ab.[285] So stieß er z. B. die Hand des Kaisers Augustus von sich, 270worauf derselbe nach kurzer Zeit starb. Apis lebt ganz verborgen; wenn er sich aber einmal losreißt, so treiben die Lictoren das Volk aus dem Wege und eine Herde Knaben begleitet ihn, Loblieder zu seiner Ehre singend, was er zu verstehen scheint.“
Phtha ist das Bild des unendlichen Geistes, der Alles schuf. Er ist ein feines ätherisches Feuer, welches unaufhörlich fortleuchtet, und dessen Glanz weit über den der Sterne und Planeten erhaben ist. Er ist also gewissermaßen das Symbol des Astral- oder odischen Lichtes, welches ja bekanntlich bei somnambulen und heilmagnetischen Vorgängen eine große Rolle spielt. Der berühmteste Phthatempel befand sich zu Memphis und hatte wie die Isistempel die Inschrift: „Ich bin, der ich bin, und kein Sterblicher hat mein Geheimniß entdeckt.“
Über das, was im Innern dieser geheimnisvollen Tempel vorging, haben wir bruchstücksweise überlieferte Nachrichten, denn den Uneingeweihten war der Zutritt gänzlich untersagt, und die Eingeweihten – selbst die Griechen – hielten den abgelegten Schwur des Stillschweigens.
Dennoch wissen wir aber, daß, wie im nächsten Kapitel näher ausgeführt werden soll, Hervorrufung von Somnambulismus und heilmagnetische Praxis eine Hauptrolle spielte. Die Vorbereitung dazu bestand in Fasten, Baden, Reinigung, Salben und Reiben; in an die Götter gerichteten Gebeten und Lobpreisungen, während feierliche Opfer, heilige Ceremonien und geheimnisvolle Musik in tiefer Dunkelheit die Seele der Gläubigen in mystische Schwingungen versetzte.
Vom Priester selbst sagt Jamblichus:
„Ipse sacerdos, antequam det oracula, multa rite peragit sacrificia, observat sanctimonium, lavatur; triduum prorsus abstinet cibo, habitat in secessu, jamque incipit paulatim illuminari mirificeque gaudere.“
Betrachten wir nun das magnetische Verfahren der Ägypter selbst.
Auf der auf der Pariser Nationalbibliothek befindlichen sogen. Bentrosch-Stele von dreitausendjährigem Alter wird die glückliche Heilung der besessenen Tochter eines mesopotamischen Fürsten erzählt, und es kann nicht der mindeste Zweifel obwalten, daß die Heilung durch Hypnotismus und Heilmagnetismus geschah.
Der Text der Bentrosch-Stele lautet nach der Übersetzung des Professor Dr. Lauth in München[287]:
„Siehe, es befand sich Se. Majestät in Nahar gemäß seiner alljährlichen Gepflogenheit. Die Großen jedes Fremdlandes zogen als Gebückte, als Friedfertige mit Opfergaben vor die Geistigkeit Sr. Majestät von den äußersten Hinterländern her. Sie brachten ihre Tribute an Gold, Silber, Lapis Lazuli, Kupfer und allen Holzarten des heiligen Landes auf ihren Rücken; ein jeglicher suchte seinen Nebenmann zu überbieten. Da ließ auch der Fürst des Landes Buchtan herbeigebracht werden seine Tribute und gab ihm seine älteste Tochter an der Spitze derselben, indem er anrief Se. Majestät und das Leben erbat von demselben. Es war dies ein schönes Weib, überaus geschätzt von Sr. Majestät über Alles. Sofort schrieb man ihren Titel als königliche Hauptfrau mit dem 272Namen Ranofru ‚Sonne der Schönheiten‘. Nachdem Se. Majestät der König nach Ägypten gelangt war, vollbrachte er ihr alle Ceremonien, die einer königlichen Hauptfrau gebühren.“
„Im Jahre 15 am 22. Payni[288] geschah es nun, daß sich Se. Majestät in der Stadt Theben befand, der siegreichen, der Gebieterin der Städte, beschäftigt mit Lobpreisungen des Vaters Amun, des Herrn der Throne beider Welten, an seinem schönen Panegyrienfeste im südlichen Apt, seinem Lieblingssitze von Anfang. Da kam man zu sagen Sr. Majestät: ‚Es ist ein Bote des Fürsten von Buchtan da, gekommen mit zahlreichen Geschenken für die Königsfrau‘, und sofort wurde dieser vor Se. Majestät gebracht mit den Geschenken. Alsdann sprach er, den Boden küssend vor Sr. Majestät: ‚Preis Dir, Du Sonne der neun Völker! Gestatte uns zu leben bei Dir! Ich komme zu Dir, o Großkönig, mein Gebieter, in Betreff der Bentrosch, deiner jüngern Schwester von Seiten der Königsfrau Ranofru. Ein Übel ist eingedrungen in ihre Glieder. Möge darum abreisen lassen Deine Majestät einen Sachverständigen, um sie zu besehen.‘ Sofort sprach Se. Majestät: ‚Bringet mir die Schreiber des Hierogrammatenhauses und die Gelehrten der Geheimnisse des Adytum!‘ Sie wurden auf der Stelle herbeigeführt. Da sprach Se. Majestät: ‚Warum hat man Euch rufen lassen? Damit ihr höret dieses Wort: Sofort liefert mir einen Künstler in seinem Herzen, einen Schreiber (Operateur) mit seinen Fingern aus Eurem Kreise.‘ Nachdem nun der Basilicogrammate Thotemhebi vor Se. Majestät getreten war, befahl ihm Se. Majestät, daß er ausziehe gen Buchtan mit diesem Boten. Als nun aber gelangt war der Sachverständige gen Buchtan, traf er die Bentrosch im Zustande einer von einem Dämon Besessenen, und fand sich selbst zu schwach, um mit demselben zu kämpfen. Da sandte der Fürst von Buchtan wiederum einen Boten an Se. Majestät mit den Worten: ‚O Großkönig, mein Herr, es möge befehlen Se. Majestät, daß gebracht werde der Gott Chonsu selber.‘[289] Es 273ereignete sich nun, daß Se. Majestät im Jahre 26 im Monate Pachon[290] zur Zeit der Amunspanegyrie im Innern von Theben sich befand. Da trat Se. Majestät wieder vor Chonsu nofer hotep[291] mit den Worten: ‚O gütiger Herr, ich bin wieder vor dir in Betreff der Tochter des Königs von Buchtan.‘ Sofort wurde gebracht Chonsu nofer hotep zu Chonsu p-ari secher[292], dem großen Gott, welcher vertreibt die Unholde. Alsdann sprach Se. Majestät vor Chonsu nofer hotep: ‚O du gütiger Herr, wenn du doch wendetest dein Antlitz gen Chonsu p-ari secher, welcher vertreibt die Unholde, damit er ziehe gen Buchtan.‘ Zunickung, große, große. Alsdann sprach der König: ‚Gieb deinen Segen mit ihm, damit ich ziehen mache Se. Heiligkeit gen Buchtan, um zu erlösen die Tochter des Fürsten von Buchtan.‘ Zunickung des Hauptes, große, große, von Seiten des Chonsu nofer hotep. Sofort machte er den Segen viermal über den Chonsu p-ari secher. Es befahl dann Se. Majestät, daß man ausziehen mache Chonsu p-ari secher auf einer großen Barke mit fünf Schifflein, einem Wagen und zahlreichen Pferden rechts und links. Als nun gelangt war dieser Gott gen Buchtan in einer Dauer von 1 Jahr 5 Monaten, siehe da kam der Fürst von Buchtan mit seinen Soldaten und Edeln entgegen dem Chonsu p-ari secher, dem Planausführenden. Derselbe that sich auf seinen Bauch, indem er sprach: ‚Du kommst zu uns, du läßt dich bei uns nieder nach der Weisung des Königs Vesu-ma-Ra sotep-en-Ra.‘“
„Sofort begab sich dieser Gott[293] zu dem Ort, wo Bentrosch sich aufhielt. Alsdann machte er den Segen über die Tochter des Fürsten von Buchtan: gut ward sie augenblicklich. Hierauf sprach der Dämon, der mit ihr war, vor Chonsu p-ari secher[294]: ‚Komme in Frieden, großer Gott, welcher vertreibt die Unholde: Deine Stadt ist Buchtan, deine Sklaven sind seine Bewohner; auch ich bin dein Sklave: ich werde fortgehen zu dem Ort, von dem ich ausgezogen bin, um zu befriedigen dein Herz in Betreff dessen, weshalb du gekommen bist. Nun möge Deine Heiligkeit befehlen, daß man 274begehe einen Festtag mit mir und dem Fürsten von Buchtan.‘ Sofort nickte dieser Gott gegen seinen Propheten mit den Worten: ‚Lasse veranstalten den Fürsten von Buchtan ein Speiseopfer vor diesem Dämon.‘ Während nun Chonsu p-ari secher dies mit dem Dämon verhandelte, stand der Fürst mit seinen Soldaten dabei, sich gar sehr fürchtend. Indessen veranstaltete er ein großes Opfer vor Chonsu p-ari secher und vor diesem Dämon; der Fürst von Buchtan hielt ein Freudenfest für sie. Hierauf ging der Dämon in Frieden an den Ort, den er liebte, auf Befehl des Chonsu p-ari secher.“
„Da war der Fürst von Buchtan aufjubelnd über alle Maßen sowie jede Person, welche in Buchtan war. Alsdann überlegte er in seinem Herzen, indem er bei sich sprach: ‚Es könnte werden dieser Gott eine Gabe für Buchtan; ich werde ihn nicht heimziehen lassen nach Ägypten.‘ So blieb derselbe 3 Jahre 9 Monate in Buchtan. Da lag der Fürst von Buchtan einstmals auf seinem Bette und sah träumend, wie dieser Gott herausging aus seinem Hause, in Gestalt eines Goldsperbers aufschwebend himmelwärts gen Chemi. Nachdem er vor Entsetzen aufgewacht war, sagte er sofort zu den Theodulen des Chonsu p-ari secher: ‚Dieser Gott, welcher bei uns weilt, will gen Chemi ziehen. Lasse also seinen Wagen fahren gen Chemi.‘ Alsdann ließ der Fürst von Buchtan fortziehen diesen Gott gen Chemi, indem er ihm mitgab Geschenke, viele von allen guten Dingen, Soldaten und zahlreiche Pferde; sie gelangten in Frieden nach Theben. Alsdann ging Chonsu p-ari secher zum Tempel des Chonsu nofer hotep, und er legte die Geschenke, die ihm der Fürst von Buchtan gegeben hatte, an allen guten Dingen, vor Chonsu nofer hotep; er that nichts in sein eigenes Haus. Es gelangte Chonsu p-ari secher zu seinem Hause in Frieden im Jahre 33 am 19. Mechir[295] des Königs von Ober- und Unterägypten Vesu-ma-Ra sotep-en-Ra, der dieses Denkmal geschaffen hat. Möge er Leben spenden gleich dem Sonnengott immerdar.“
Soweit der Text der Bentrosch-Stele.
Festzuhalten ist, daß Chonsu Heilgott ist, welcher durch geistige, magische Kraft heilt.
Wir sehen aus der Erzählung, daß die Schwägerin eines ägyptischen Königs – es ist Ramses XII. gemeint – erkrankt, resp. besessen ist. Da die Kunst der einheimischen Ärzte nicht geholfen zu haben scheint, so wurde eine Gesandtschaft abgeschickt, um einen der in hohem Rufe stehenden ägyptischen Ärzte herbeizuholen. Ramses läßt sich darauf einen geeigneten Mann bezeichnen, einen – wie Prof. Dr. Lauth übersetzt – „Künstler in seinem Herzen, einen Schreiber (Operateur) mit seinen Fingern.“ – Setzt man nun die Kenntnis des Heilmagnetismus und Hypnotismus bei den Ägyptern voraus, wozu sich die Berechtigung bald ergeben wird, so wird man die Stelle anders übersetzen müssen. Deshalb übersetzt auch der französische Ägyptologe Vicomte de Rougé: „Ein Mann mit intelligentem Herzen, ein Meister mit geschickten Fingern.“ – Allein nach Lambert ist auch dies nicht ganz richtig, insofern „Herz“ für „Wille“ gebraucht wird, und er sagt deshalb[296]:
„Es hat also nach dieser Analyse alle Berechtigung, wenn ich den Befehl des Pharao so verstehe, daß ihm ein Mann bezeichnet werde, der ‚Herr seines Willens und Meister seiner Finger‘ sei. Bei der letzteren Eigenschaft ist jedoch weniger an einen Operateur, als an einen tüchtigen Hypnotiseur und Magnetiseur zu denken, weil ein solcher sowohl mit seiner Hand als mit seinem Willen arbeiten muß.“
Der erwählte ägyptische Hypnotiseur, der älteste, dessen Namen bekannt wurde, hieß Thotemhebi. Als derselbe nach Buchtan kam, gewahrte er, daß Bentrosch besessen war, und versuchte sie ohne Erfolg zu heilen. Es vergingen elf Jahre, ohne daß die Leidende gesund wurde, worauf deren Vater abermals eine Gesandtschaft nach Ägypten schickte mit der Bitte, man möge doch einen Gott nach Buchtan schicken. Wie sich aus dem Zusammenhang klar ergiebt, wird hier „Gott“ euphemistisch für einen Priester der oberen hierarchischen Stufen gebraucht. Der Pharao begiebt sich also nach dem Tempel des Chonsu und bittet den Chonsu nofer hotep, welcher offenbar als Oberpriester zu betrachten ist, er möge den Chonsu 276p-ari secher, einem unter diesem stehenden Priester, seinen Segen oder seine Kraft mitteilen. Dies wird gewährt, und der Chonsu nofer hotep macht die segnende Bestreichung – sa – viermal. Für dieselbe wird folgende Hieroglyphe gebraucht:
Darauf wird der Chonsu p-ari secher nach Buchtan geleitet, wo er die besessene Bentrosch durch eine segnende Bestreichung heilt, die mit folgender Hieroglyphe bezeichnet wird:
Über die Bedeutung dieser Segen lasse ich nun Lambert selbst sprechen:
„Was sind nun diese verschiedenen Segen? Ich denke, ich werde keinem Widerspruch begegnen, wenn ich dieselbe für mesmerische Bestreichungen, und ihre verschiedenen, durch die beiden Hieroglyphen deutlich dargestellten Formen für die Schemata halte, nach denen die Striche geführt wurden. Der Segen ist ja in seiner ursprünglichen Wesenheit wohl nichts Anderes als ein Ausströmenlassen einer Kraft aus seinen Händen.“
„Der einfachere sa-Strich (No. 2) wurde ausgeführt, indem die segnende Gottheit oder der Arzt in der durch die Hieroglyphe gekennzeichneten Art über den Hinterkopf nach den Schultern zu strich, nicht einmal, sondern wiederholt und mit beiden Händen. So spricht die Göttin Muth zu Ramses III. auf einer Abbildung, die sich in Lepsius Denkmälern (III. 21.) veröffentlicht findet: ‚Ich strecke aus meine beiden Arme, um zu machen die sa-Striche 277hinter deinem Haupte.‘ An beiden Seiten des sa-Zeichens sehen wir Knoten oder Verdickungen. Jedenfalls bezeichnen diese die Stellen, wo der Streichende einen Halt in der Bewegung zu machen oder einen besondern Nachdruck auszuüben hatte. Das Gleiche ist an jener Stelle der Fall, wo die Linie des Striches in der Gegend des Genickes sich selbst schneidet. Aus der ganzen Führung des Striches scheint hervorzugehen, daß sich an dieser Stelle des Genickes die Kraft der Streichungen concentriren soll. Warum aber gerade dort? Die Kabbalisten lehren, daß ein kleiner Knochen des Halses, Luz genannt, ‚unverweslich‘ sei, in ihn versenkte sich die Schattengestalt des Nephesch bei dem Verstorbenen, und aus beiden werde der Auferstehungsleib am Ende der Tage gebildet. Dieser Luz der Kabbala ist aber identisch mit dem Uls der ägyptischen Lehre, welcher da liegt, wo das Rückgrat vom Hinterhaupt nach den Schultern eine Einbiegung macht. (Luz heißt im Hebräischen wie Uls im Altägyptischen Einbiegung oder Krümmung.) Es würde zu weit führen, diesen Uls und seinen ganzen Kultus in der Stadt Mendes, wo die Rückgratreliquie des Osiris aufbewahrt wurde, hier zu besprechen. Ich wollte hier nur darauf hinweisen, warum bei dem Akte jenes sa-Striches der Nachdruck auf die hintere Halspartie verlegt wurde, und die Ursache hiervon liegt wohl unzweifelhaft, daß dort eine günstige Stelle zum Erwecken gewisser transscendentaler Kräfte des Menschen gesehen wurde. Vielfache Textstellen bezeugen, daß bei der sa-Bestreichung die Absicht war, inneres Leben zu erwecken.“
„Die andere – complicirtere – Bestreichung (No. 1), welche vom Nofer hotep an dem Ari-secher ausgeführt wird, erstreckte sich vermuthlich über den ganzen Körper, ob aber über die Vorder- oder Rückseite desselben, ist fraglich.“
„Es kommen nun unter den Hieroglyphen noch mehrfache Zeichen vor, die solche Knoten vorstellen, und jedenfalls als ähnliche Manipulationen wie die sa-Striche zu verstehen sind. Ein solches Zeichen ist rod, was ‚festmachen‘ bedeutet. Das dürfte wohl ein Strich gewesen sein, um die Unbeweglichkeit der Extremitäten zu bewirken. Ist dies der Fall, dann geschah diese Action nicht durch einfache gerade Striche, wie bei unsern Hypnotiseuren, 278sondern es wurde, z. B. um den linken Arm ‚festzumachen‘, wohl an der rechten Schulter begonnen, von da eine über den Rumpf gehende Schleife gezogen, die an der linken Schulter endigte, und dann von hier aus ein gerader Strich über den Arm mit einem Halt am Ellenbogengelenk nach den Fingerspitzen zu ausgeführt.“
„Daß der Chonsu nofer hotep die Bestreichung viermal machte, scheint einen ganz besondern Grund zu haben. Es entspricht dies den Bezeichnungen, die in Verbindung mit dem sa-Zeichen No. 1 vorkommen, nämlich tos-sa, ‚den Einfluß herbeiführen‘, tu-sa, ‚den Einfluß mittheilen‘, meh-sa, ‚den Einfluß vermehren‘, und sotep-sa, ‚den Einfluß fixiren‘. Es hat also wohl jede der vier Bestreichungen ihren bestimmten Zweck: die Wirkung wird herbeigeführt, mitgetheilt, vermehrt und fixirt.“
„Nicht ohne Bedeutung ist es, daß der Gott Thot, der später zum Hermes Trismegistos geworden ist, den Beinamen Sa führt. Thot ist ein Gott der Heilkunde, der Ibis ist ihm heilig. Thot ist auch ein Gott der Erkenntniß und zwar besonders der transscendentalen Erkenntniß, und es hat alle Wahrscheinlichkeit für sich, daß er seinen Beinamen Sa deswegen führte, weil in der Hypnose, die ja, wie wir jetzt wissen, durch einen Act, der Sa heißt, herbeigeführt wird, die innere transscendentale Erkenntniß aufgeht. Demnach ist es Gott Thot, welcher in der Hypnose nach der Meinung der Aegypter das innere Schauen und besonders auch als Heilgott die Heilverordnungen eingiebt. – Thot wird vielfach mit Chonsu identificirt und scheint in seiner medicinischen Eigenschaft als Mondgott mit Chonsu nofer hotep vollständig dieselbe Person zu sein. Ich möchte hierzu auch an den Einfluß des Mondes auf Schlafende erinnern.“
Soweit Herr Franz Lambert. Ich möchte noch hinzufügen, daß auch die bekannten Hände der Isis, welche nach Apulejus bei Prozessionen umhergetragen wurden (auf einen Stab gesteckte linke Hände, deren Daumen und zwei erste Finger ausgestreckt, deren drei letzte aber eingeschlagen sind), auf Erzeugung von Hypnose und Somnambulismus hinzudeuten scheinen.
Die magische Heilkunde der Ägypter knüpft, wenn in ihr auch uralte Tempelgeheimnisse des Thot enthalten sein mögen, im Wesentlichen an den mythischen Hermes Trismegistos[297] an und entstammt somit einer verhältnismäßig späten Zeit. Über ihren Ursprung heißt es im hermetischen Asklepius:
„Quoniam ergo proavi nostri multum errabant, contra rationem Deorum increduli et non animadvertentes ad cultum religionemque divinam, invenerunt artem, qua Deos efficerent, cui inventae adjunxerunt virtutem de mundi natura convenientem, eamque miscentes, et quoniam animas facere non poterant, evocantes animas Daemonum vel Angelorum, eas indiderunt imaginibus suis divinisque mysteriis, per quas sola idola et benefaciendi et maleficiendi vires habere potuissent. Avus tuus, o Asclepi, medicinae primus inventor, cui templum consecratum est in monte Lybiae circa littus Crocodilorum, in quo ejus jacet mundanus homo, id est corpus; reliquus enim, vel potius totus, si est homo totus in sensu vitae melior, remeavit in coelum, omnia etiam nunc adjumenta hominibus praestans infirmis numine suo, quae ante solebat Medicinae arte praebere. Hermes, cujus nomen mihi avitum est, sibi cognomen patrium consistens omnes mortales undique venientes adjuvat atque conservat.“
„Constat, o Asclepi, de herbis, lapidibus et de aromatibus vim divinitatis naturalem in se habentibus, et propter hanc causam sacrificiis frequentibus oblectantur numina hymnis quoque et laudibus dulcissimisque sonis in modum coelestis harmoniae, concinnantibus, ut illud, quod est coelesti usu et frequentatione illectum in idola, possit laetum humanitas patiens longe durare per tempora; sic Deorum autor est homo. Et ne putes fortuitos effectus esse terrenorum Deorum, o Asclepi, Dii coelestes inhabitant summa coelestia unusquisque per ordinem, quem accepit complens atque custodiens. Hi vero nostri sigillatim quaedam curantes, quaedam praevidentes, quaedam hortibus et divinatione praedicentes, his pro mado subvenientes humanis, quasi amica cognatione auxiliantur.“
Mit diesen Worten des mythischen Hermes Trismegistos stimmt der spätere Neuplatoniker Proklos (412–485 n. Chr.) völlig überein, wenn er sich folgendermaßen ausspricht:
„Und wenn uns auch der Verstand an sich selbst gleichsam als Gott erscheint, und die Seele von Urbeginn verständig ist, so sind doch die obersten Dämonen höher geartet, sie stehen den Göttern am nächsten, sind gleichförmig und göttlich. Die zweite auf diese folgende Dämonenclasse ist ebenfalls des Intellects theilhaftig; sie stehen den himmlischen Aufsteigungen und Absteigungen vor und überbringen und offenbaren die göttlichen Befehle allen Dingen. Die dritte Dämonenclasse ist jene, welche die Befehle der göttlichen Seelen überbringt und das Band zwischen diesen und den niedern Dingen bildet. Die vierte überbringt die wirkenden Kräfte aller Naturen auf die erzeugten Dinge, flößt den Einzelnen Leben ein, schafft Ordnung, Regel und Wirkung. Die fünfte ist gewissermaßen körperlich und schafft das Äußere der Körper. – Die meisten von ihnen beschäftigen sich mit der Materie und überbringen herabsteigend die Kräfte der himmlischen Materie der irdischen, verbinden beide, bewachen das Irdische sodann und bringen die Verschiedenheit der Formen hervor.“
Nach diesen Grundsätzen wurden göttliche Wesen konstruiert, welche den einzelnen Krankheiten vorstanden, und man richtete an 281dieselben Gebete, Hymnen und Beschwörungen, damit sich ihr Zorn besänftige, und sie die verlorene Gesundheit wieder verliehen. Also ganz dieselbe primitive Anschauung, wie wir sie schon bei den Akkadern fanden, und der wir noch heute bei den Indianern, Negern &c. begegnen.
Die Ägypter betrachten die Welt als ein großes Lebewesen, in welchem alles in wechselseitiger Verbindung stehe, das von einer beständigen Sympathie durchströmt und durch eine Kraft zu einem Leben vereinigt werde.[298] Deshalb suchte man nach Kräften die wechselseitigen Beziehungen und Wirkungen der Dinge zu erforschen, was bei den Krankheiten, da man von dem Grundsatz: similia similibus ausging, zu der von Paracelsus aufgefrischten Lehre von den Signaturen führte. D. h. man schloß aus der Ähnlichkeit irgend eines Teils einer Pflanze, eines Tiers oder Minerals mit irgend einem Glied des menschlichen Körpers, daß ersterer Heilkräfte gegen die Krankheiten des letzteren besitzen müsse. So galt als gegen Hauptkrankheiten und Epilepsie besonders wirksam die Päonienknospe, ferner der Mohn, die Wallnuß, Muskatnuß, Meerzwiebel, der Lerchenschwamm &c. Gegen Augenkrankheiten wurden Augentrost, Habichtskraut, Skabiosen usw. angewendet; gegen Zahnleiden die Zahnwurz, Granatapfelkerne, Zirbelnüsse, die Knöllchen des Feigwarzenkrautes &c., gegen Ohrenleiden die Blätter von der Haselwurz, dem Löffelkraut und der Wassermünze. Dieselben sollten auch gegen Nasenleiden dienen, weil zwischen Ohr und Nase eine besondere – wahrscheinlich aus der Beobachtung der Katarrhe geschlossene – Verwandtschaft bestehe. Für die Kehle galt als heilsam das Wintergrün, der Hirschschwamm und der Zimmt. Für die Lunge war das Lungenkraut signiert; für das Herz die Citrone, der Pfirsich, die Brechnuß und Anthora; für die Leber Äpfel, eine – nicht genannte – Moosart, Birkenschwamm, Eicheln und das Leberkraut; für die Milz das Scolopendrium, die Hirschzunge, Mauerraute, das Milzkraut; für den Magen die Blätter des Alpenveilchens, Ingwer, Galgant; für die Gedärme eine nicht näher genannte Windenart, Calmus, Zimmt; für die Blase die Judenkirsche, Staphisagria, der Nachtschatten; für die Geschlechtsteile die Wurzeln aller 282Orchisarten; für die Gebärmutter die Hohlwurz; für die Nieren der Portulac und das Alpenveilchen; für die Gelenke die Datteln; für die Hände die jetzt Palma Christi genannte Orchideenwurzel.
In ähnlicher Weise wandte man in späterer Zeit in Ägypten den humores peccantes der Galen'schen Humoralpathologie ähnlich gefärbte Pflanzensäfte zur Austreibung der Ersteren an. So gegen die gelbe Galle Kümmel, Crocus, Aloe, Senna, Wermut, Koloquinte, Rhicinus, Rhabarber. Gegen die schwarze Galle allerlei Pflanzen mit dunkelgefärbten Blüten, wie Smilax, rote Melde, Ochsenzunge &c. Gegen überflüssige phlegmatische Feuchtigkeiten Pflanzen mit Milchsaft oder weißen Blüten, weiße Schwämme, wie Lerchenschwamm &c. Gegen die sogenannte rote Galle wurden Pflanzenstoffe von rotem Aussehen, rote Blüten, rote Säfte usw. angewendet, wie rotes Sandelholz, Rotkohl, Alkannawurzel &c.
Der Grundsatz: similia similibus durchzog die ganze Arznei. So wandte man z. B. gegen den Stein einige zubereitete Steinarten, menschliche Blasensteine, die steinigen Concremente in gewissen Fischaugen &c. an; gegen Wunden brauchte man scheinbar von der Natur durchlöcherte Kräuter wie das Johanniskraut. Giftige Schlangen, Spinnen, Scorpione wurden zubereitet, um als Gegengift zu dienen. Gegen allzulebhaften Geschlechtstrieb wandte man Pflanzen an, welche nach alter Anschauung keine Frucht hervorbrachten, wie Salat, Sadebaum, Weide. Umgekehrt suchte man durch saftstrotzende Pflanzenteile – wie Orchideenwurzeln – oder durch den Genuß geiler Tiere, wie des Sperlings und des Skinks die daniederliegende Zeugungskraft zu heben. Das Fleisch gefräßiger Tiere, wie des Wolfs oder des Karpfens genoß man zur Hebung des Appetits, während der Genuß des Fleisches intelligenter Tiere Intelligenz, das träger Trägheit hervorrufen sollte. Endlich wandte man sich durch hervorragende Leistungen auszeichnende Körperteile gewisser Tiere gegen Leiden der entsprechenden menschlichen Körperteile an, wie z. B. Fuchslunge gegen Lungenschwindsucht.
Erscheint uns nun auch bei der Lehre von den Signaturen das Meiste nicht mehr haltbar und barock, so läßt sich jedoch keineswegs in Abrede stellen, daß dem Ganzen ein großer und richtiger Gedanke zu Grund liegt, welcher der Vater der Homöopathie ist; und erinnert es nicht an die Impfung und Serumtherapie, wenn die Ägypter aus giftigen Tieren Gegengifte bereiteten?
Wie allbekannt, nahm man einen Gestirneinfluß auf alles Irdische und mithin auch auf die menschlichen Glieder und Pflanzen an, wobei die Ägypter (doch wohl erst der alexandrinischen Zeit?) nach Ebn Esra besonders die zwölf Zeichen des Tierkreises als maßgebend betrachteten. Auf diese Art entstand eine astrale Botanik und eine astral-botanische Heilkunde, bei welcher die vier Grade der alten Grundeigenschaften der Dinge: warm und trocken, warm und feucht, kalt und trocken, kalt und feucht, besondere Berücksichtigung fanden. Ebn Esra giebt von dieser Lehre folgende Grundzüge[299]:
„Der Widder ist ein männliches, feuriges, warmes und trockenes, das menschliche Haupt beherrschendes Zeichen. Die ihm unterworfenen Pflanzen sind warm und trocken in vier Graden.
Im ersten Grad stehen: der rothe Beifuß, die Betonica Cichorie, die Dürrwurz, der Traubenhollunder, die Münze, der Huflattig und Ehrenpreis. Diese Pflanzen sind nach dem in die Hundstage fallenden Vollmond zu sammeln.
Dem zweiten Grad gehören an: der Spargel, das Johanniskraut, die Schafgarbe, der Wegebreit, die Päonie. Zu sammeln sind sie, wenn sich Sonne und Mond im Krebs befinden.
Dem dritten Grad gehören an: der Lerchenschwamm, Kellerhals, die Coloquinthe, der Enzian, Liguster, Rhicinus, Hollunder. Sie sind Ende Juli und Anfang August[300] zu sammeln.
Dem vierten Grad gehören an: die weiße Nießwurz, der Majoran, der weiße Andorn, die Kresse, der Rosmarin. Sie sind theils im April, theils im September zu sammeln.
Der Stier ist ein weibliches, kaltes, trockenes und irdisches Zeichen; ihm ist Hals und Gurgel unterthan. Die ihm angehörigen Pflanzen sind kalt und trocken.
Dem ersten Grad gehören an: das Milzkraut, Cathera(?), der Gamander, Epheu, die Lilienwurzel, Narcisse, das Engelsüß, 284die Rose, der Baldrian, das Veilchen. Dieselben erweichen die Geschwülste des Halses und der Milz.
Dem zweiten Grad gehören an: das Venushaar, die Judenkirsche, die Aklei, die Eiche und Eichenmistel. Diese Pflanzen sind Wundkräuter.
Dem dritten Grad gehören an: die Ochsen- und Hundszunge, das Carduibenedictenkraut, der Wasserhanf, die Klette, die Doste, Petersilie, der Sanikel, die Braunwurz, Tormentill und das Kreuzkraut. Alle sind Wundkräuter.
Dem vierten Grad gehören an: das Mausöhrchen, Schöllkraut, die Esche, Malve, das Lungenkraut und die Scabiose.
Die Zwillinge sind ein männliches, luftiges, warmes und feuchtes Zeichen, dem die Schultern unterworfen sind. Die ihm zugehörigen Pflanzen sind warm und feucht.
Dem ersten Grad gehören an: der Anis, Althästrauch, Boretsch, Fenchel, Ysop, die Prunelle und Mauerraute.
Dem zweiten Grad: das Farrnkraut, die Linde und Rübe.
Dem dritten Grad: die Vogelmiere, Aronswurz, der Macis, Sauerklee und die Taubnessel.
Dem vierten Grad: der Sauerampfer, die Camille, das Mutterkraut, der Rhabarber.
Der Krebs ist ein weibliches, wässeriges, kaltes und feuchtes Zeichen, dem Brust, Lunge, Rippen und Zwerchfell unterthan sind. Die ihm angehörigen Pflanzen sind kalt und feucht.
Dem ersten Grad gehören an: der Kohl, die Kardendistel, die Bohnen, die Rapunzel, die Weinreben und die Braunwurz.
Dem zweiten Grad: der Erdbeerstrauch, die Tanne, die Zirbelnüsse, der Nachtschatten, die Terebinthe und Mistel.
Dem dritten Grad: die Binse, die Brunnenkresse, der Petersiliensamen, Portulac, die Weide, der Steinbrech und Mauerpfeffer.
Dem vierten Grad: die Muscheln[301], die weiße Coralle, der Krystall, die Perlmutter, die Wasserrose, die Krebsaugen, der Vitriol.
Der Löwe ist ein männliches, feuriges, warmes und trockenes Zeichen, welchem Herz und Magen unterthan sind. Die ihm zugeschriebenen Pflanzen sind warm und trocken.
Dem ersten Grad gehören an: das Basilicum, der Crocus, die Cypresse, Gewürznelke, der Ysop, Lavendel, Wegerich, Sonnenthau und Thymian.
Dem zweiten Grad: die Angelica, das Zweiblatt, die Kornblume, der Galgant, Enzian und Teufelsabbiß.
Dem dritten Grad: die Hundscamille, Pastinakwurz, Münze, Gartenkresse, das Flöhkraut, die Ranunkel und Brennnessel.
Dem vierten Grad: die Birke, der Buchsbaum und Lorbeer.
Die Pflanzen des ersten Grades müssen gesammelt werden, wenn die Sonne in den Fischen, der Mond im Krebs ist; die des zweiten Grades: zu Anfang Mai vor Sonnenaufgang oder zu Ende August; die des dritten Grades, wenn die Sonne im Löwen und der Mond in der Jungfrau, oder wenn die Sonne im Stier und der Mond in den Zwillingen sich befinden, vor Sonnenaufgang; die des vierten Grades, wenn die Sonne in den Fischen und der Mond im Wassermann steht.
Die Jungfrau ist ein weibliches, irdisches, kaltes und trockenes Zeichen, dem der Bauch, die Leber und Eingeweide unterthan sind. Die ihr zugeschriebenen Pflanzen sind kalt und trocken.
Dem ersten Grad gehören an: die Berberitze, Cichorie, der spitze Wegerich, die Birne und der wilde Salbei.
Dem zweiten Grad: der Mangold, die Hagebutten, die Mispel, das Salomonssiegel.
Dem dritten Grad: die Osterluzei und Dürrwurz.
Dem vierten Grad: das Tausendgüldenkraut, die Schlangenzunge, die Schlehe und Schlangenwurz.
Die Wage ist ein männliches, luftiges, warmes und feuchtes Zeichen, welches den Nieren und der Blase vorsteht. Ihr werden folgende warme und feuchte Pflanzen zugeschrieben:
Dem ersten Grad gehören an: das Gänseblümchen, der Bärwurz, der Bocksbart.
Dem zweiten Grad: der Lauch, Türkenbund und das Eisenkraut.
Dem dritten Grad: das Löwenmaul, der Beifuß.
Dem vierten Grad: der Lachenknoblauch, Hühnerdarm, die Haselnuß und Mauerraute.
Der Scorpion ist ein weibliches, wässeriges, kaltes und feuchtes 286Zeichen, welches den Genitalien vorsteht. Ihm werden folgende kalte und feuchte Pflanzen zugeschrieben:
Dem ersten Grad gehören an: das Kreuzkraut, der Weißdorn, die Vogelbeere.
Dem zweiten Grad: die Esche, der Apfelbaum, die Pflaume.
Dem dritten Grad: die Erbse und das Seifenkraut.
Dem vierten Grad: die Melde, das Bingelkraut und die Narcisse.
Der Schütze ist ein männliches, feuriges, warmes und trockenes Zeichen, welchem die Lenden und Schenkel unterthan sind. Ihm werden folgende Pflanzen zugeschrieben:
Dem ersten Grad gehören an: die Zwiebel, der Rettig, der Sesam und die Königskerze.
Dem zweiten Grad: der Lauch, das Liebstöckel.
Dem dritten Grad: die Haselwurz, das Curcume, der Gundermann, die Maulbeere.
Dem vierten Grad: die Eselsgurke, Wolfsmilch und Waldrebe.
Der Steinbock ist ein weibliches, irdisches, kaltes und trockenes Zeichen, welches den Knieen und Sehnen vorsteht. Ihm gehören folgende Pflanzen an:
Dem ersten Grad: die Ringelblume, Schwarzkirsche, der Alant, die Maul- und Heidelbeere.
Dem zweiten Grad: das Scharlachkraut, das Wollkraut.
Dem dritten Grad: der Wasserschwertel, das Täschelkraut, der Kürbis und die Disteln.
Dem vierten Grad: die Nießwurz, das Bilsenkraut, die Mandragora, der Sturmhut, der Nachtschatten und das Läusekraut.
Der Wassermann ist ein männliches, luftiges, warmes und feuchtes Zeichen, welches den Schienbeinen vorsteht. Ihm gehören folgende Pflanzen an:
Dem ersten Grad: die Möhre, die Feige, der Steinklee und die Sanikel.
Dem zweiten Grad: der Kümmel, die Flachsseide, die Rosenwurz, das Mauerkraut.
Dem dritten Grad: die Odermennige, das Mäuseöhrchen, die Gerste, der Steinbrech.
Dem vierten Grad: das Herzgespann und die Mispel.
Die Fische sind ein weibliches, wässeriges, kaltes und feuchtes Zeichen, welches den Füßen vorsteht. Ihm gehören folgende Pflanzen an:
Dem ersten Grad: Die Buche, die Osterluzei, das Kraut, die Myrobalanen und Rüben.
Dem zweiten Grad: Die Artischocke, die Kornblume, das Stächaskraut.
Dem dritten Grad: der Schwarzkümmel und Mohn.
Dem vierten Grad: der Schierling, das Bilsenkraut, der Sturmhut und Nachtschatten.“
Wir dürfen Ebn Esra wohl unbedenklich glauben, daß das eben geschilderte astrologisch-botanische System den Ägyptern der alexandrinischen Zeit entstammt; allein, was uns hier vorliegt – ich habe Ebn Esras Originalwerk nicht auftreiben können[302] – ist offenbar die Bearbeitung desselben durch einen deutschen Arzt des 16. Jahrhunderts. Es kam indessen auch nur auf eine Darstellung des Systems und der Methode an.
Die Berichte, welche das erste Buch Mosis über die Schöpfung der Welt und die älteste Geschichte des Menschengeschlechtes liefert, sind nicht ausschließlich Eigentum der Juden, sondern finden sich bei fast allen Kulturvölkern semitischer und hamitischer Abstammung bereits in uralter Zeit, so bei den Babyloniern, Phöniziern und Ägyptern. Es werden in unsern Tagen an den Ufern des Euphrats ganze Bibliotheken von beschriebenen Thontafeln zu Tage befördert, welche von der Schöpfungsgeschichte, dem Paradiesgarten mit dem Lebensbaume und der Schlange, der Sintflutsage Nachricht geben, und zwar mit einer Übereinstimmung in der Detaillierung, daß ein notwendiger Zusammenhang mit den biblischen Erzählungen unmöglich geleugnet werden kann. In Ägypten sind es weniger zahlreiche und deutliche Überreste, doch darf auch für das alte Pharaonenland die Kenntnis der Flutsage, des Gartens Eden und des Babelturmes als erwiesen betrachtet werden.
Diese merkwürdigen Übereinstimmungen weisen auf die gemeinsame asiatische Urheimat dieser Völker hin und auf die Verwandtschaft aller Nachkommen der Söhne Noahs, Sem, Cham und Japhet, die sich über die benachbarten Länder verbreiten mußten, weil die Heimat die allzu zahlreich Gewordenen nicht mehr zu fassen vermochte. Nach Genesis X, 6 sind die Söhne Chams: Kusch, Mizraim, Put und Kanaan. Diese wanderten nach Westen und wir dürfen für die Nachkommen des Put und Kanaan die Bewohner des Landes Punt und Keft ansehen, die Araber und Phönizier, während Kusch am weitesten nach Süden gelangt und der Stammvater der Äthiopier wurde, und Mizraim sich in Ägypten niederließ.
Die ältesten Abkömmlinge des Mizraim erkennen wir in Ägypten in den prähistorischen Hor-schasu, den Horusdienern, den Gründern der ältesten Stadt des Landes Anu (On der Bibel, Heliopolis der Klassiker), mit theokratischer Regierung, deren letzter Herrscher, Bytes, bis auf 4245 v. Chr. zurückreicht. Die Kultur dieser Hor-schasu muß schon in unvordenklichen Zeiten eine hochentwickelte gewesen sein; in den ältesten Schriften wird auf ihre Epoche als auf ein goldenes Zeitalter hingewiesen und ihr eine Dauer von Myriaden von Jahren zugesprochen, während eine Dauer von 4000 Jahren eine mäßige Schätzung der heutigen Gelehrten ist. Ihnen ist die Gaueinteilung des Landes, Einführung der Gesetze, Erfindung der Künste und Wissenschaften, des Papiers und der Schrift zuzuschreiben. Nach der Hor-schasu beginnt (etwa 4000 v. Chr.) die historische Zeit mit der Regierung von Königen, und wir finden schon unter der ersten Dynastie derselben in Ägypten eine ausgebildete Mythologie, die nur das Produkt langer theosophischer Spekulationen sein kann, mit Tempeln und Pyramiden, welche letztere wieder die Einbalsamierung der Leichen und somit die Lehre von einer Fortdauer der Seele nach dem Tode voraussetzt. – War ein Keim aus der asiatischen Urheimat mitgebracht worden, aus welchem die Priester ihre esoterischen Lehren von Gott, der Welt und den Menschen entwickelten?
Man könnte versucht sein, die jüdische Geheimlehre, die Kabbala, hier in Betracht zu ziehen, die so viele Übereinstimmungen mit dem ägyptischen Emanationssystem der Priesterlehre aufweist, und vermuten, daß der Ursprung beider auf eine solche asiatische Quelle zurückzuführen sei. In der That greifen einige Kabbalisten bezüglich der Entstehung ihrer Lehre bis auf Adam zurück, dagegen nennen andere den Abraham, wieder andere Moses als den ersten, dem die Lehre mitgeteilt worden sei, ganz zu schweigen von den neueren Forschern, von denen jeder zu einem andern Resultate gelangt. – Ich möchte der Wahrscheinlichkeit, daß die Kabbala auf Moses zurückzuführen, demnach ägyptischen Ursprungs sei, vor allen anderen Theorien den Vorzug geben. Die jüdische Nation war als Nomadenfamilie von 70 Gliedern in Ägypten eingewandert (11. Moses 1, 5), und erst während ihres mehr als 400jährigen Aufenthaltes daselbst das große Volk geworden, das nachmals durch 290das rote Meer zog. Moses selbst, in ägyptischer Weisheit erzogen und wie auch sein Bruder Aharon-Levi, in die Geheimnisse der Priester eingeweiht, tritt gleich nach dem Auszuge als Gesetzgeber auf – mit ägyptischen Gesetzen. Die Hierarchie der Leviten, Lebensart und Verrichtungen derselben, die Bestimmungen über reine und unreine Tiere, die Einteilung der Stiftshütte mit dem Allerheiligsten, alles dieses, auch die zehn Gebote, von denen das vierte mit derselben Verheißung bei den Ägyptern vorkommt, ist von Moses nach ägyptischen Vorbildern bestimmt und zum Gesetz erhoben worden. Sollte dagegen Moses die geheime Priesterweisheit selbst seinem Volke ganz und gar vorenthalten haben?
Hieran anknüpfend, will ich im Nachfolgenden den Beweis zu liefern versuchen, daß die Vorstellung vom Menschenwesen, von seinem materiellsten, körperlichsten Prinzip, dem Leib, bis hinauf zu dem höchsten, dem transscendentalen Ich, dem Geist, wie in der jüdischen und sonstigen esoterischen Lehre, so auch wohl in der Priesterlehre der alten Ägypter die gleiche war, daß für alle Zwischenglieder der beiden Extreme, Körper und Geist, sich Bezeichnungen im ägyptischen Totenbuche vorfinden, die für vollständig kongruent mit den Bezeichnungen der jüdischen und indischen Geheimlehren gehalten werden dürfen. – Zuvörderst muß ich jedoch zum besseren Verständnis die altägyptische Vorstellung von dem Schicksal des Menschen nach dem Tode schildern.
Dem griechischen Schriftsteller Stobäos verdanken wir die Schilderung eines Fragmentes aus einer älteren hermetischen Schrift, die einen wichtigen Beitrag zur Seelenlehre enthält. Es wird darin gelehrt, daß:
„Von einer Seele, der des Alls, alle diese Seelen stammen, welche sich, gleichsam verteilt, in der Welt umhertreiben. Diese Seelen erfahren viele Verwandlungen; die, welche jetzt kriechende Geschöpfe sind, verwandeln sich in Wassertiere; aus diesen Wassertieren werden Landtiere, aus diesen Vögel. Aus den Geschöpfen, die oben in der Luft leben, werden die Menschen. Als Menschen aber empfangen sie den Anfang der Unsterblichkeit, indem sie zu Dämonen werden und in den Chor der Götter gelangen.“
Wir erkennen hier die Wanderung eines Ausflusses der Allseele durch die Tierleiber als Präexistenz einerseits und die Fortdauer 291der Seele nach dem Tode des Menschen als Unsterblichkeit andererseits; die Begriffe Seelenwanderung und Unsterblichkeit sind streng auseinander zu halten. Auch die bis auf unsere Tage erhaltenen inschriftlichen Denkmäler des Pharaonenlandes trennen stets diese beiden Begriffe, und zwar so, daß die Unsterblichkeit als ein Zustand dargestellt wird, in welchem die Seele, mit ihrem verklärten Leibe vereinigt, ein ewiges glückliches Dasein genießt, befreit von allen Leiden der irdischen Wesen, während die Seelenwanderung sich auf der Erde vollzieht, in einem steten Wechsel zwischen Tod und Wiederaufleben in einem neuen Körper besteht, wobei die Leiden in den irdischen Körpern, besonders der Schmerz des jedesmaligen Todes, von der Seele ertragen werden müssen. Hand in Hand mit dem göttlichen Ursprung der Seele geht dann die Lehre von einer Belohnung der Guten und einer Bestrafung der Bösen. So heißt es im ersten Kapitel des Totenbuches:
„Da ich für fromm befunden wurde auf Erden und Sorge hatte vor dem Herrn der Götter, darum habe ich erreicht das Land der Wahrheit und Rechtfertigung. Ich erstehe als ein lebender Gott und strahle im Chor der Götter, welche im Himmel wohnen, denn ich bin von ihrem Stamm.“
Der Glaube an „ein ewiges Leben der Gerechten und an einen zweiten Tod der Frevler“, wie sich die Ägypter ausdrücken, setzt ein Gericht voraus, das nach dem Hinscheiden über den Verstorbenen gehalten wird. Dieses Totengericht wird vielfach bildlich dargestellt. Im Saale der zweifachen Wahrheit sitzt Osiris als Totenrichter auf dem Thron, Krummstab und Geißel in den Händen, auf dem Haupt die Federkrone, um den Hals eine Kette mit dem Abzeichen des Oberrichters, einem Täfelchen, welches die Wahrheit genannt wurde. Anbetend tritt der Verstorbene ein, ihn empfängt die Göttin der Wahrheit, Mat. In der Mitte des Saales steht eine Wage, auf deren eine Schale der Verstorbene sein Herz legt. Anubis, der schakalköpfige, legt eine Statuette der Göttin der Gerechtigkeit auf die andere Wagschale. Horus, der sperberköpfige, prüft das Gewicht, und Thot, der ibisköpfige Gott der Schreibkunst, verzeichnet das Resultat der Wägung auf einer Schreibtafel. Osiris spricht das Urteil.
Wurde das Herz zu leicht befunden, so mußte der Verstorbene zum zweitenmal sterben, d. h. sein Herz hat die dreitausendjährige Wanderung durch die verschiedenen Tierleiber, vom Schwein angefangen, von neuem durchzumachen, während die Seele unrettbar der Vernichtung durch die Höllengeister anheimfällt. Bei der Vollstreckung ihrer Strafe tritt in die Seele das transscendentale Wesen des Verdammten als rächender Dämon, erinnert sie an die Verachtung seines Rates, an die Verhöhnung seiner Bitten, züchtigt sie mit der Geißel ihrer Sünden und giebt sie dem Sturme und Wirbelwinde der heraufbeschworenen Elemente preis. Beständig zwischen Himmel und Erde hin und hergeworfen, ohne je ihrem Bannfluche zu entgehen, sucht die verurteilte Seele menschliche Körper heim, um sich in ihnen einzunisten, und sobald sie einen gefunden hat, martert sie diesen, belädt ihn mit Fluch und stürzt ihn in Mordthaten und Irrsinn. Wenn die Seele nach Jahrhunderten schließlich das Ziel ihrer Qualen erreicht, so fällt sie doch nur dem zweiten Tode anheim. In den 75 Abteilungen der Hölle, die in ihrer Einrichtung dem Gehenna oder Ghinam der Kabbala entspricht, werden die Seelen der Verdammten den qualvollsten Martern unterworfen. Sie werden in glühenden Kesseln gebraten, unter den fürchterlichsten Durstesqualen in kaltes Wasser geworfen, versuchen sie zu trinken, so wird das Wasser zu Feuer. Die Speisen, die sich den Hungernden darbieten, verwandeln sich in Schatten. Von roten Dämonen werden sie an Pfähle gebunden und mit Schwertern zerfleischt, mit den Füßen nach oben gehängt, ihnen das Herz aus dem Leibe gerissen usw. – Die Darstellung dieser Qualen der Hölle scheint jedoch nur an die Adresse der großen Menge gerichtet gewesen zu sein, in der esoterischen Lehre dürften die Strafen für immaterielle Wesen doch anders gelautet haben.
Hat der Verstorbene jedoch Gnade gefunden vor den Augen des Osiris, so harren seiner die Freuden des Paradieses, des Gefildes Aalu. Götter erscheinen an seinem Sterbebette, um die Seele in Empfang zu nehmen.
Sie reinigen seinen Körper von allen Makeln, sie richten seine Beine ein und kräftigen seine Gelenke, sie bereiten seinen Körper zur Wiedergeburt vor.
Die Vorstellung, daß am Sterbebette der Frommen Götter 293erscheinen, seine Seele in Empfang zu nehmen und vor Gefahren zu schützen, begegnet uns wieder im Gnostizismus. – So sagt St. Pachomius:
„Wenn jemand im Punkte ist zu sterben, dann kommen zu demselben vier Engel. Gott will durch sie bewirken, daß die Trennung der Seele vom Leibe eine schmerzlose sei. Einer dieser Engel steht zu Häupten, der andere zu Füßen des Hinscheidenden, und zwar in der Stellung von Menschen, die den Körper mit Öl einreiben, bis sich die Seele vom Leibe trennt. Der dritte Engel hält in den Händen ein Tuch von nichtstofflicher Beschaffenheit, in das er die Seele aufnimmt, der vierte endlich singt Hymnen in einer dem Menschen unverständlichen Sprache: so geleiten sie die Seele zu den Sphärenwohnungen.“
Diese Vorstellung ist, wie so vieles im Gnostizismus, eine ächt ägyptische. Zahl und Amt der Engel entsprechen genau denen der vier ägyptischen Totengenien.
Der Verstorbene, welcher bei der Wägung des Herzens von sich sagen konnte, daß er die verschiedenen Sünden nicht begangen und genügend gute Handlungen, die er im Leben verrichtet, zu seinem Herzen auf die Wage legen konnte, führt nun den Namen Osiris und kann seine Reise nach dem Paradiese antreten. Das Vermeiden böser und Verrichten guter Handlungen wurde jedoch nicht für genügend erachtet, um den Verstorbenen des direkten Eintrittes in das Paradies, der Genossenschaft der Götter zu würdigen. Die guten und bösen Handlungen waren nach der Priesterlehre zunächst Ergebnis seiner Neigungen, also Handlungen, die ihren Grund im Herzen haben. Aber nicht nur das Herz, sondern auch der Verstand mußte den Göttern ähnlich sein. Der Verstorbene mußte die Religionslehre kennen, die Namen der Götter wissen und in den Geheimnissen der Priesterlehre bewandert sein. Stand sein Wissen nicht auf dieser Höhe, so mußte er im Zwischenreich längere oder kürzere Zeit verweilen. Wir werden solchen Verstorbenen, den Uschabti, noch begegnen.
Im Westen wurde der Verstorbene begraben, und wie im Westen die Sonne als Osiris untergeht, dann um die untere Hemisphäre, ohne zu leuchten, durch das von Osiris beherrschte Reich Amenti, den dunkeln Hades, das Zwischenreich zieht, um anderen 294Tages als Morgensonne, Horus, im Osten wieder aufzuleuchten, so dachte man sich auch den Weg des Verstorbenen von der westlichen Grabregion nach Osten durch die untere Hemisphäre, Amenti, gehend, worauf er dann am Himmel, jetzt nicht mehr mit dem Namen Osiris, sondern als Horus gleich der Sonne erscheint.
Die Unterwelt Amenti ist zu denken als ein Land, dem obern Land Ägypten etwa gleich mit einem unterirdischen Nil, Gauen und Städten, mit Äckern und Wiesen, jedoch dunkel, ohne leuchtende Sonne. Ebenso ist das Paradies, das Gefilde Aalu, welches der Verstorbene betritt, wenn er die Unterwelt verlassen hat, als ein ähnliches Land zu denken, jedoch mit Abänderungen, welche auf die, vor undenklichen Zeiten von den eingewanderten Ägyptern aus Asien mitgebrachten Paradies-Vorstellungen zurückzuführen sein dürften.
Die Überfahrt von der westlichen Grabesregion nach der unteren Hemisphäre macht der Verstorbene auf der Sonnenbarke des Osiris als dessen Gefährte. Sobald die Barke im verborgenen Lande anlegt, betritt er den „Weg, der unter der Erde ist“. Auf diesem Wege nun begleiten wir unsern Osiris. Er ist noch immer als ein Verstorbener in Mumienform zu denken, er kann nicht sprechen, er ist ohne Erinnerung, ohne Atem und Lebenswärme. In der Region der Unterwelt, die den Namen Nutercherti hat, trifft er als deren Bewohner, die vorhin erwähnten Uschabti. Ich halte diese für die noch nicht an Wissen vollendeten Verstorbenen, gewissermaßen „die armen Seelen des Fegfeuers“. Auch sie sind, wie er, in Mumiengestalt ohne Sprache u. s. f. Der Verstorbene müßte nun eigentlich helfen, die Arbeiten dieses Gaues zu verrichten, „zu bebauen die Felder, zu füllen die Kanäle mit Wasser, zu führen den Sand des Westens nach dem Osten und umgekehrt“. Alles Arbeiten, welche die Uschabti ohne Gebrauch von Händen und Füßen verrichten, nur „vermöge der ihnen innewohnenden Fähigkeiten“, wie es auf den Texten der Uschabtifigurinen heißt. Ist er jedoch bereits geistig höher entwickelt, so genügte es, daß man den Verstorbenen, dessen Name, gefolgt von dem seiner Mutter, fast stets darin bemerkt ist, „Licht ausgestrahlt“, das heißt, daß er bereits ein Geläuterter ist, und daß die Uschabti ihn für fähig erklären sollen, die besagten Arbeiten zu thun. Da aber, wie gesagt, die 295Uschabti noch stumm sind, und die Befähigung nicht aussprechen können, gerade deshalb ist dieselbe auf den Figurinen aufgeschrieben. Die anerkannte Befähigung genügt, der Verstorbene braucht sich nicht im Nutercherti aufzuhalten und kann seinen Weg fortsetzen. Er wandert nun im großen Zuge der Götter. Nach und nach erhält er seinen Mund, d. h. seine Sprache, seine Erinnerung, sein Herz und seine Seele zurück. Er bekämpft Krokodile und allerlei schlimmes Gewürm; er wird bedroht, gebissen zu werden von dem, der das Gesicht nach hinten hat; er stößt den zurück, der den Esel verzehrt; er rettet sich vor der Gefahr, Kot essen zu müssen, – Abenteuer, die zwar recht albern lauten, denen jedoch eine tiefere allegorische Bedeutung zu Grunde liegt. Er kommt auch an den Ort, wo die Gottlosen, die zweifach Toten, sich befinden, und man zeigt ihm ihre Leiden und Qualen, gleichsam um ihm den Wert der himmlischen Freuden noch schätzbarer zu machen. Auch diese Vorstellung findet sich in der Kabbala wieder.
Es würde natürlich zu weit führen, alle Details des Zwischenreiches Amenti, wie auch des nun folgenden Paradieses hier ausführlich zu besprechen, oder auch nur deren Namen anzuführen; auch würde es sehr schwer sein, einen Begriff von diesen Labyrinthen mit allen ihren Gängen, Hallen, Thoren, Städten und Gauen zu geben. In der That war das berühmte, von dem König Amenemha III. erbaute Labyrinth nichts anderes, als eine steinerne Darstellung des Amenti.
An dem Paradies, das wir uns im Bereiche des Sonnengottes Ra, also am Himmel über uns, vorzustellen haben, angekommen, tritt der Verstorbene ein, gefolgt von dem Gotte Thot. Nach den vorgeschriebenen Verbeugungen bringt er den dreimal drei großen Göttern ein Opfer dar. Dann besteigt er die Barke, um auf dem „Wasser des Friedens“ zu fahren, vorbei an Städten und Inseln, und gelangt endlich an den ihm angewiesenen Wohnort, wo er den Göttern der beiden Sonnenberge und dem Herrn des Himmels ein zweites Opfer darbringt. Wir sehen den Verstorbenen im Gefilde des Aalu pflügen, säen und ernten. Das Getreide wird sieben Ellen hoch, die Ähren haben drei Ellen, die Halme vier. Vom Ertrage bringt er dem Hapi, dem Gott der Fruchtbarkeit, ein Dankopfer dar für den reichen Erntesegen. Auf der Reise dahin nimmt 296er in jedem himmlischen Gau die Gestalt und Eigenschaft des Gottes an, der dem Gau vorgeht. Er sproßt als ein reiner Lotus auf dem Wiesengrunde des Ra. Er nimmt die Gestalt des Phtha an, und genießt die Opfer, welche diesem Gotte dargebracht werden. Er erhebt sich in die Lüfte als Horussperber, verwandelt sich in den heiligen Phönix usw.
Der Aufenthalt im Gefilde Aalu soll aber kein ewig dauernder sein, sondern scheint nur ein Lohn zu sein für das menschlich Gute des Verstorbenen. Wie alle Seelen ein Ausfluß der All-Seele sind, so müssen sie auch wieder zur All-Seele zurückkehren, in den höchsten reinsten göttlichen Urzustand. Maspero sagt:
„Es giebt zwei Götterchöre, der eine schweift umher, der andere steht unbeweglich fest. Letzterer bildet die letzte Stufe in der verklärten Weihe der Seele. Auf dieser wurde sie ganz Vernunft“ (richtiger: Dämon = chu), „sie sieht Gott von Angesicht zu Angesicht und versenkt sich in ihn.“
Es erübrigt mir noch, einige Bemerkungen über das Totenbuch beizufügen. – Da dem lebenden Bewohner des schwarzen Landes, wenigstens dem Laien, die Geheimnisse der Priesterlehre streng vorenthalten wurden, der Verstorbene dieselben jedoch zu seinem Heil im Jenseits kennen mußte, so wurden sie auf einer Papyrusrolle niedergeschrieben, und diese nebst verschiedenen Amuletten und Talismanen dem Toten mit ins Grab gegeben. Diese Papyrus führen in der Wissenschaft seit Lepsius den Namen Totenbuch. In der Form und Redaktion, in der uns die erhaltenen Exemplare dieser Papyrus vorliegen, dürfte deren Entstehung wohl nicht über die 18. Dynastie zurückreichen. Einzelne Teile und Kapitel derselben waren jedoch bereits im alten Reiche, in der ersten und vierten Dynastie, bekannt. So heißt es z. B. ausdrücklich im 64. Kapitel:
„Dieses Kapitel wurde gefunden zu Hermopolis, auf einer Alabasterplatte, mit blauer Farbe geschrieben zu Füßen des Gottes Thot, zur Zeit des Königs Menkera durch den Prinzen Hartatef, als er auf einer Reise begriffen war, um die Tempel zu besichtigen. Er trug den Stein in den königlichen Wagen, als er sah, was darauf geschrieben stand. O, großes Geheimniß! Er sah nicht mehr, er hörte nicht mehr, als er dies reine und heilige Kapitel las, er berührte kein Weib mehr und aß weder Fleisch noch Fisch.“
Die ältesten Fragmente, die auf uns gekommen sind, finden sich auf Holzsärgen der 11. Dynastie. – Das Totenbuch wurde von den Priestern sorgfältig geheim gehalten. So heißt es am Schlusse des 162. Kapitels:
„Dieses Buch ist ein großes Geheimniß: Lasse es kein Menschenauge sehen; es wäre das eine große Sünde. Verbirg sein Vorhandensein. Sein Name ist: Buch von der verborgenen Wohnung.“ (Ferner Kapitel 133:) „Laß dieses Buch keines Menschen Antlitz schauen, studire es geheim vor deinem Vater, vor deinen Söhnen, denn wer es verwahrt, der ist ein reiner Geist vor Ra, und es verleiht ihm Macht vor dem Herrn der Götter, da die Götter ihn betrachten, wie einen ihres Gleichen, und die zweifach Toten schauen ihn liegend auf ihrem Antlitz, denn er wird betrachtet als ein Bote des Ra.“
Der Grund der Geheimhaltung dürfte der sein, daß der Mensch nicht im Streben nach Reinigung des Herzens erlahmen, dann auch, daß er sich nicht über die Furcht vor dem letzten Gericht hinwegsetzen sollte, was bei der Kenntnis der geheimnisvollen Kapitel zu befürchten war. Ein weiterer Grund war wohl auch der, daß nicht Mißbrauch damit getrieben werden sollte. Es wird in Papyros Lee und Rollin von dem gottlosen Huy, dem Aufseher der Herden des Ramses, berichtet, welcher dergleichen Schriften aus der Hofbibliothek entwendete und dann mit denselben bösen Zauber versuchte.
Ich komme nun zu meinen Resultaten über die verschiedenen Bezeichnungen für die leiblichen, seelischen und geistigen inhärierenden Bestandteile des Menschen, wie sich solche in der hieroglyphischen Sprache, besonders im Totenbuch, vorfinden, und zu dem Beweise, daß diese mit den Bezeichnungen der Kabbala und des Esoterismus überhaupt übereinstimmen. Letzterer tritt uns in deutscher Darstellung zuerst mit dem Aufblühen der neueren Zeit bei den tonangebenden Männern des 16. und 17. Jahrhunderts, Agrippa, van Helmont und anderen entgegen, findet sich aber wohl am weitestgehenden bei Paracelsus ausgeprägt.
Wie in manchen esoterischen Lehren der Mensch als Monade in einer Siebenteilung sich darstellt, so auch in der ägyptischen 298Priesterlehre. Ich will diese Teile des menschlichen Wesens kurz die sieben Grundteile des Menschen nennen.
Von dem untersten, materiellsten Grundteile, dem Körper, ägyptisch chat, hebräisch guf, bei Paracelsus „Elementarleib“ ausgehend, finden wir als das zweite, das Leibesleben, ägyptisch anch, hebräisch coach ha guf, bei Paracelsus „der Archäus“ oder die „Mumia“. Dieses anch, Leben, wurde als Hauch und Lebenswärme (nifu und bas) gedacht, und da es durch den Tod dem Körper verloren geht, von dem Gott Anubis, dem Wiederbeleber, von neuem dem gerechten Verstorbenen verliehen. Die alten Abbildungen zeigen den Gott Anubis, die Hände wie zum Segnen über den auf der Bahre liegenden Leichnam ausbreitend. Infolgedessen zieht die Seele in Gestalt eines Vogels mit Menschenkopf, mit dem Lebenszeichen und dem Zeichen des Hauches, dem Segel, versehen, in den Körper wieder ein. Dadurch wird aber der Verstorbene nicht ein anch, ein körperlich Lebender, sondern ein sahu, ein geistig Lebender. So sagt ein Text einer Votivtafel in Wien: „Es macht ihn zum sahu der Gott Anubis selbst.“ Bei einer ähnlichen Abbildung lautet die Beischrift: „Die Seele, ihren Körper erblickend, vereinigt sich zu ihrem göttlichen sahu.“
Der dritte Grundteil, in der Kabbala Nephesch, bei Paracelsus „der siderische Mensch“, „Astralleib“ oder Evestrum wird durch die Hieroglyphe ka bezeichnet, welche zwei nach oben ausgebreitete Arme darstellt. Über den ka ist von den Ägyptiologen vielfach geschrieben und gestritten worden. Le Page Renouf und Maspero haben die Bedeutung als Reflex des Menschen nach dem Tode, le double de l'homme, erklärt. Pierret widerspricht dem und findet in ka gerade im Gegenteil die körperliche Substanz, die materielle Person, die Individualität des Leibes. Zieht man die esoterische und kabbalistische Bezeichnung zu Rate, so findet man, daß beide Deutungen nicht unrichtig, aber auch nicht vollständig sind. Ka ist die Persönlichkeit des körperlichen Menschen und zugleich ein Doppelgänger stofflicherer Art, als der geistige Doppelgänger, welchen wir im sechsten Grundteil, dem cheybi, kennen lernen. Ka ist auch die körperliche Erscheinung des Verstorbenen im Hades, dem Zwischenreich; er entspricht somit vollständig dem obersten Gliede im Zelem des Nephesch.
Der Gebrauch der Ägypter, die Leiche auf das sorgfältigste vor Verwesung zu schützen, um dadurch dem Verstorbenen, wie es heißt, die Möglichkeit der astralen Erscheinung zu sichern, setzt voraus, daß in dem mumifizierten Körper etwas Immaterielles als zurückbleibend gedacht wurde, das, mit den höheren Grundteilen in Verbindung tretend, die Erscheinung bewirkt. Es muß angenommen werden, daß den Ägyptern ein ähnliches wie der Habal de garmin der Kabbala, der sich in die Knochen versenkende Zelem des Nephesch, bekannt war. In der That finden wir im 154. Kapitel des Totenbuches die, wenn auch mystisch dunkel gehaltene Bestätigung dessen. Die Vignette, welche dieses Kapitel ziert, stellt den Sonnendiskus dar, der von dem baldachinartigen Himmelsgewölbe auf die Mumie herabsteigt, und von dem es im Texte heißt, daß er sich „in den Leib versenkt“. Einige Zeilen weiter heißt es: „(Dieses ist) das Geheimniß von demjenigen Leben, welches das Ergebnis der Zerstörung des Lebens ist.“ Dieses Leben also, das Resultat des durch den Tod vernichteten anch, kann daher wohl für übereinstimmend mit dem Habal de garmin angesehen werden.
Der vierte Grundteil ist der Wille, das Gemüt, in der Kabbala Ruach, bei Paracelsus „der tierische Geist“. Die Hieroglyphe dafür stellt das Herz dar, mit der Lautung hati und ab. Als der Sitz des Gemütes, des Ethischen im Menschen, sahen wir bereits das Herz auf der Wage im Totengericht; und es wurde dadurch darauf hingewiesen, daß nicht die Seele, sondern das Herz, dessen Ausflüsse die guten und bösen Thaten, die Werke der Barmherzigkeit und die Gebete sind, bei der Wägung in Betracht kommen. Auch als Wille oder tierische Seele finden wir hati im Totenbuch aufgefaßt. Im 26. Kapitel wird dem Verstorbenen sein Herz zurückgegeben, wodurch er die Herrschaft über seine Glieder zurück erhält, und zwar geschieht dies, wie es dort heißt, „zum Besten seines ka“, seines Astralleibes. Dieses „zum Besten seines ka“ ist insofern wichtig, als daraus zur Evidenz hervorgeht, daß der ka, der Astralleib, als die körperliche Form des Verstorbenen in der Unterwelt gedacht wurde.
Der fünfte Grundteil ist die Seele, Neschamah, bei Paracelsus die „verständige Seele“, die Trägerin der Vernunft, des Verstandes und Gedächtnisses, hieroglyphisch dargestellt durch den Sperber mit 300Menschenkopf, bai oder ba. Horapollo lehrt, daß die Psyche, die Seele, ägyptisch bai heißt. Da nun aber das griechische Wort ψυχὴ verschiedene Bedeutung hatte, so: Verstand (ratio), Gemüt (mens) und Leidenschaft (appetitus), dann Lebenskraft (spiritus vitalis), wir aber die letzteren bereits in hati, ab und anch kennen gelernt haben, da ferner ba im Totenbuche nie im Sinne von Gemüt, Leidenschaft oder Lebenskraft gebraucht wird, so bleibt uns für bai nur die Bedeutung Verstand (ratio) übrig, in welchem Sinne es auch vortrefflich mit zu dem Neschamah der Kabbala paßt.
Die Seele ist das oberste Glied unter den dreien, die den Zelem des Ruach ausmachen, und zugleich das unterste Glied im Zelem der Neschamah. Mit dem fünften Grundteil, Seele, schließt die Reihe der Bezeichnungen für die bewußte Person des Menschensubjektes und es beginnt die unbewußte, die transscendentale Person.
Der sechste Grundteil, in der Kabbala chaijah, bei Paracelsus „Geistesseele“, ist hieroglyphisch cheybi, der Schatten, geschrieben durch ein Zeichen, welches den Schattenspender, den Sonnenschirm darstellt (ungefähr in der Form von einem Palmblattfächer). Es entspricht den σκιαὶ und umbrae der klassischen Autoren und ist die Erscheinung der Verstorbenen, die von den Lebenden gesehen aber nicht angefühlt werden kann. Der cheybi wandelt täglich auf Erden umher, sieht seine Angehörigen und freut sich über die an das Grab gebrachten Opfergaben. Häufig kommt die Dualform cheybti vor, mit der Bedeutung, der zweite Schatten, jedenfalls bezieht sich dies auf eine Unterscheidung von dem Astralleib ka, der ja als Doppelgänger auch eine Art von Schatten ist.
Merkwürdig dürfte es sein, daß sehr häufig in den bildlichen Darstellungen der cheybi umgedreht, also das unterste zu oberst dargestellt wird. Ein Fries aus Karnak zeigt Köpfe mit dem Zeichen cheybi bekrönt abwechselnd mit der Geißel, dem heute noch in Ägypten vielgebrauchten Kurbatsch.
Der siebente Grundteil endlich ist der Geist, in den verwandten Lehren jeschida und „der göttliche Gedanke“ der deutschen Mystik, oder bei Paracelsus „der Mensch des neuen Olymps“, ägyptisch geschrieben durch die Hieroglyphe chu, deren Bedeutung: „Der Leuchtende, Strahlende“ ist. Es ist der „Geist“ im höchsten Sinne des Begriffs. Mit cheybi und bai vereint bildet er die Wesenheit 301des verstorbenen Gerechten oder Verdammten (für welche beide der Ausdruck chu gebraucht wird, bei letzteren jedoch mit dem Zusatz moti, der zweifach Tote). Diese Wesenheit ist der gute oder böse Dämon, von dem bereits oben die Rede war. Identisch mit diesen drei obersten Grundteilen erscheinen mir auch die δαίμονες, ήρωες und ψυχαὶ ἄρχοντοι in dem Jamblichus zugeschriebenen de mysteriis liber zu sein.
Eine Bestätigung für die richtige Aufeinanderfolge der einzelnen Prinzipien in der Zusammenstellung, in der ich dieselbe gegeben, findet sich im 92. Kapitel des Totenbuches, woselbst die Bezeichnungen für die geistig-seelischen Grundteile in einer unzweifelhaft absichtlichen Reihenfolge angeführt sind, und zwar immer vom unteren Prinzip ausgehend, zum oberen fortschreitend. So heißt es: „Nicht werde meine Seele gefangen, nicht werde mein Schatten aufgehalten, damit ich den Weg bahne meinem ba, meinem cheybi und meinem chu“. Dieses also sind die drei obersten Grundteile. Ferner erwähne ich die Stelle: „Der Weg der Bösen sei abgelenkt von meinem ka, meinem ba und meinem chu.“ Hier sind also der 3., 5. und 7. Grundteil zusammengestellt, je das oberste Glied aus der körperlichen, der bewußt-geistigen und transscendental-geistigen Triade, außerdem findet sich ein schlagender Beweis für die Richtigkeit meiner Aufstellung im Grabe des Nebunef in Theben. Der Verstorbene ist dargestellt in: Anbetung der vier Totengenien Amasath, Hapi, Tiaumutef und Kebsonuf, welche vier stets in dieser typischen Reihenfolge auftreten. Amasath überreicht dem Verstorbenen seinen ka, Hapi sein ab, Tiaumutef seinen ba und Kebsonuf seinen cheybi.
Es wird nach dem bisher Gesagten als höchst wahrscheinlich gelten müssen, daß sich wesentliche Teile der ägyptischen Seelenlehre mehr oder weniger unmittelbar über die späteren Kulturvölker verbreiteten. Daß Griechenland seine Kunst und Wissenschaft, auch zum Teil seine Gesetze, Staatsverfassungen und Religionsgebräuche aus Ägypten bezogen, wird von den griechischen Schriftstellern selbst zur Genüge bezeugt. Schon Orpheus soll ein Schüler ägyptischer Priester gewesen sein, und die durch ihn gestifteten eleusinischen Geheimnisse erinnern an ägyptische Mysterien. Thales von Milet, der den Joniern eine Sonnenfinsternis genau voraussagte, was er wohl aus eigenem Studium nicht vermocht hätte, hatte Ägypten 302besucht. Pythagoras war mit den größten Anstrengungen in die esoterischen Lehren eingedrungen, indem er selbst ägyptischer Priester wurde. Er verdankte wohl den besten Teil seines Wissens dem Unterricht in den Tempeln. Nebenbei will ich seine Kenntnis der Tetragramme oder magischen Quadrate erwähnen, deren sich auch die Kabbalisten bedienen. Solon, welchem die Hierogrammaten mitteilten, daß der Weltteil Atlantis vor 9000 Jahren vom Meere verschlungen worden sei, dasselbe verschollene Land, das auch in verschiedenen neueren Werken wieder ein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden ist, Solon und ebenso Lykurg gaben Gesetze nach ägyptischen Vorbildern. Auch Platos ist nicht zu vergessen, der mit Weisheit und Philosophie dieses Landes durch seine Reisen dahin wohl vertraut wurde.
In den ersten Jahrhunderten des Christentums ward Ägypten, und speziell Alexandria, noch einmal der Glanzpunkt in der Geschichte der Gelehrsamkeit mit dem Aufblühen des Neuplatonismus und des Gnostizismus; und daß auch die deutschen Mystiker zur Zeit des Wendepunktes unserer Kulturentwickelung durch diese Vermittelung aus der alten Quelle ägyptischer Weisheit schöpften, wird ebenfalls nicht bezweifelt werden können. Ganz besonders hatte Paracelsus vermutlich eine Gelegenheit, unmittelbare Unterweisung in diesen esoterischen Lehren während seiner Orientreise zu genießen. Seitdem nun aber die Sprachforschung der letzten hundert Jahre uns mehr und mehr auch die Schätze altindischer Weisheit erschlossen hat, finden wir selbst in dieser einige charakteristische Züge, welche eine Verwandtschaft mit der ägyptischen Seelenlehre nicht wohl verkennen lassen; so die Anschauung einer Aufwärtsentwickelung der Lebewesen von den niedrigsten Gestaltungen durch unzählige Verkörperungen bis zum Menschen und zum Gotte, ferner die daran anknüpfende Lehre der Seelenwanderung und nicht minder die Einteilung des menschlichen Wesens in verschiedene Grundteile, deren Zahl allerdings je nach den verschiedenen Zeiten und Anschauungen verändert gerechnet wurde.
Ob nun vielleicht auch die Indier aus der ägyptischen Quelle esoterische Weisheit geschöpft haben und wann? Ob in frühester Zeit oder etwa erst um 1300 v. Chr., wo die Handelsverbindung beider Länder ihren Anfang genommen haben dürfte: darüber läßt 303sich Bestimmtes nicht sagen. Soviel dürfte gewiß sein, daß die brahmanischen Weisen einen großen Teil der ägyptischen Priesterweisheit bis zum heutigen Tage besitzen, wo es denjenigen Forschern des Westens, welche nach denselben begehren, allmählich mehr gelingt, in deren Wesen einzudringen. Freilich aber standen wohl nicht ohne Grund auf dem Standbild der Göttin Neith zu Sais, welche die Hüterin der Geheimnisse war, die Worte geschrieben:
„Keiner lüftet jemals meinen Schleier“.
Nach der Kabbala steht alles Existierende im großen wie im kleinen, im einzelnen wie im ganzen, in einer magischen Verbindung. Überall ist das Äußere der Ausdruck des Innern und das Untere die Ausprägung des Höheren, und in derselben Weise, wie das Höhere und Innere nach unten und außen wirkt, so wirkt umgekehrt das Untere und Äußere nach oben und innen magisch zurück. Diese Sympathie bildet das innere Prinzip alles Geschaffenen.
Der Welt des Lichtes steht eine Welt der Finsternis gegenüber, während der Mensch seinen Platz in der Mitte behauptet und als der unterste Ausläufer der Welten sowohl des Lichtes als auch der Finsternis gelten kann. Der Rapport zwischen dem Unteren und dem Höheren wird durch den Kultus, durch die mit rituellen Handlungen verknüpfte Assimilation hergestellt, indem das Untere, welches nur durch sein Oberes existiert, sich demselben gleichförmig zu machen und mit ihm eins zu werden bestrebt ist. Gleichzeitig sucht es von ihm immer mehr Kräfte an sich zu ziehen, um in seinem Geiste zu leben und zu wirken. Es ist also die Möglichkeit der Existenz einer heiligen und einer finstern Magie gegeben.
Es wird aber auch ein Rapport des Innern mit dem Äußern, des Menschen mit der Natur, d. h. eine Naturmagie möglich sein. Bei derselben wird die Beobachtung eines fest bestimmten naturgesetzmäßigen Verhaltens gefordert, um sich mit den Kräften und 308Individualitäten der Natur in Verbindung zu setzen, sowie sich denn auch der Mensch hier durch Anwendung von künstlichen Mitteln auf naturnotwendigem Wege in einen ekstatischen Zustand versetzen muß.
Diese Naturmagie ist an sich weder unrichtig noch böse, kann aber leicht in beide Eigenschaften umschlagen und ist dem Irrtum und Trug leicht ausgesetzt. Nach kabbalistischer Lehre bilden nämlich alle Wesenheiten des Universums eine organisch gegliederte, auf das Innigste verbundene Kette, in welcher die obern Glieder auf die untern, und diese wieder auf jene wirken. Der Mensch aber kann durch die Naturmagie nur mit den untern und äußern Wesen dieser Kette (Merkabah), den Elementarwesen und Astralgeistern, in Verbindung treten, nie aber mit den höheren Intelligenzen, welche sich ihm auf äußerliche Weise durch die unteren getrübten Naturkräfte mitteilen. Die Mitteilungen, welche diese Wesen den Menschen zukommen lassen, sind je nach ihrem höheren oder tieferen Ursprung von sehr verschiedenem Wert, nur bedingungsweise richtige und nichtsweniger als unverbrüchliche Wahrheiten. Selbst die höheren Wesen dieser Klasse haben nur Einsicht in die natürlichen Verhältnisse der Dinge und das Schicksal der Menschen, insofern dasselbe durch ihre früheren Handlungen bedingt ist, während sich das aus den künftigen Thaten Entspringende ihrer Kenntnis entzieht. Die Mitteilungen der untern Wesen dieser Klasse aber sind noch unzuverlässiger, indem ihr Wissen mit jeder tieferen Stufe dunkler und unbestimmter wird, und die am tiefsten stehenden, an die dämonische Region grenzenden Naturgeister und Elementarwesen (Schedim) den Menschen oft geflissentlich belügen. – Die Kabbala kennt also bereits die bedingte Richtigkeit der von ihr dem sogen. Elementarwesen zugeschriebenen mediumistischen Mitteilungen, und konstruiert eine an Kardek erinnernde Geisterleiter, in welcher selbst die hier allerdings außermenschliche Züge tragenden esprits menteurs unverkennbar geschildert sind.
Aber auch zum Bösen kann die Naturmagie führen, weil der Mensch große Gefahr läuft, unter den Einfluß niederer Wesen zu gelangen, die ihn immer tiefer in das Dunkel der Natur führen, ihn moralisch und intellektuell verkommen lassen und alle „Schrecken des Mediumismus“ über ihn heraufbeschwören.
Es dürfte umsomehr am Platze sein, hier eine kurze Übersicht 309über das zu geben, was die Kabbala von den Elementarwesen lehrt, als sich diese Lehren bei den Neuplatonikern, bei Psellus, den mittelalterlichen Magiern, Paracelsus, van Helmont und überhaupt in der ganzen Mystik wiederholen; und von der Kabbala wird die Naturmagie im wesentlichen als von den Elementarwesen abhängig gedacht, weshalb sie dieselbe auch Maase Schedim, das Werk der Elementarwesen, nennt.
Die Kabbala geht von dem Prinzip aus, daß nichts in der Welt ohne geistiges Leben sei und daß, wie sich Paracelsus völlig im Geiste der jüdischen Geheimlehre ausdrückt, „nichts geschaffen ist, das ohne ein Mysterium (bei P. geistiges Leben überhaupt) ist[305]“. Demgemäß läßt sie die Elemente durch Wesen belebt sein, welche sie die Hefen oder Reste des untersten Geistigen nennt und klassifiziert dieselben in Elementarwesen des Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde, welche als Salamander, Sylphen, Undinen und Pygmäen sich durch die ganze Geschichte der Magie ziehen. – Die ersteren sind nach Loria[306] zum Guten weise und unsichtbar, sie haben etwas von der menschlichen Seele an sich, kennen die Geheimnisse der Natur und helfen den Menschen gern. – Die zweite Klasse ähnelt der ersten, nur steht sie auf einer etwas niedrigeren Stufe. – Die dritte Klasse steht noch tiefer und besitzt nach Loria[307] einen pflanzlichen Nephesch (Astralleib), während die vierte Klasse am tiefsten steht und mit einem mineralischen Nephesch bekleidet ist. – Diese beiden letzten Klassen können mit unsern Sinnen leichter wahrgenommen werden, und im ganzen unterscheiden sich die Elementarwesen hauptsächlich nur dadurch von den Menschen, daß ihnen sowohl die höheren geistigen Grundteile als auch der Elementarleib abgehen und sie nur aus einem Ruach und Nephesch bestehen. Darum sind auch diese Elementarwesen der Nahrung bedürftig, welche sie aus den feinsten Teilen der Speisen, aus den Dämpfen der Opfer und Räucherungen ziehen; darum pflanzen sie sich fort und sind der Auflösung unterworfen.[308]
Die letzten beiden Klassen sind meist bösartige Koboldnaturen, die den Menschen necken, verspotten[309] und ihm gerne Schaden zufügen; doch giebt es unter ihnen auch friedlichere Wesen, welche es mit dem Menschen gut meinen und allerlei häusliche Dienste verrichten.[310] – Die Kabbala unterscheidet die Elementarwesen ferner nach ihrem Aufenthaltsort, ob sie nämlich unter Menschen, in Einöden, an unflätigen Orten usw. wohnen, ein Gedanke, welchem wir bei den Sylvestres, Vulcanales usw. des Paracelsus wieder begegnen.
Die oben genannten beiden Koboldklassen bilden nach kabbalistischer Lehre den Übergang aus dem Reiche des Sichtbaren in das Unsichtbare und sind, weil dem Menschen leiblich am nächsten stehend, demselben besonders gefährlich. Sie sind mit mancherlei ungewöhnlichen Kräften und Einsichten in das verborgene Reich der unteren Natur ausgerüstet und entbehren auch nicht einzelner Blicke in die Zukunft und die höhere geistige Naturwelt, weshalb ein Kultus derselben[311] von seiten der jüdischen Zauberer nahe lag, der zum Reiche des Bösen hinabführt. – Ganz besonders sind es widernatürliche sexuelle Verbindungen, Claim, welche diese S'hirim anziehen, weshalb manche Zauberer – Bileam[312] gilt hier κατ' ἐξοχὶν als Beispiel – solche Claim geflissentlich aufsuchen, denn „das Wesen der Zauberei besteht in der Verbindung von Dingen, welche voneinander verschieden sind, und wenn man solche Dinge hierunten verbindet, dann vermischen und verbinden sich ihre oberen Kräfte miteinander und bringen eine wunderbare fremdartige Wirkung hervor. Das Verbot der Claim geht auch dahin usw. Der Mensch muß die Welt lassen nach dem einfachen natürlichen Gange, das ist der Wille Gottes[313]“. – Ich habe wohl kaum nötig, hierzu auf gewisse Vorgänge im modernen Mediumismus hinzuweisen.
Durch diese Claim werden nämlich nach kabbalistischer Lehre unvollkommene Nephesch erzeugt, welche den unreinen Klippoth zur Hilfe dienen und eine Art dämonischer Schemen bilden. – Der gleiche Gedanke wird von Paracelsus und Jung-Stilling wiederholt.[314] – Doch nicht allein durch die Claim werden magische Geburten erzeugt: ein jeder Gedanke, jedes Wort und jede That besitzt eine bleibende und lebende magische Existenz, welche das Reich der Finsternis oder des Lichts auf reale Weise vermehrt.[315] Deshalb wurde auch beim Tode frommer Israeliten ein Exorcismus über die aus ihren Sünden erzeugten Wesen gesprochen, damit diese 312dem Leichnam nicht nahen und ihn nicht zu Grabe geleiten sollten.[316]
Die mit Hilfe der Elementarwesen ausgeführte Magie heißt – wie erwähnt – Maase Schedim, das Werk der Schedim, und ist nicht so strafbar als das Maase Kischuph, die schwarze Magie, weil die Schedim – entgegengesetzt den wirklichen Dämonen – die Menschen nicht in völliges Verderben ziehen. – Interessant ist die Ansicht verschiedener Talmudisten, daß die Schedim zwar nicht die Wesenheit der Dinge verändern, wohl aber die Dinge sammeln und von Ort zu Ort bewegen können.[317] – Die Bringungen, Bewegungsphänomene usw. werden also den Elementarwesen zugeschrieben.
Die eigentliche Naturmagie ist zum großen Teil von der geistigen Stärke und dem Willen abhängig, und die Kabbala lehrt ausdrücklich, daß bei allen Menschen Sehergabe und magische Kraft – wenn auch in verschiedenen Graden – vorhanden ist. Zu allem magischen Wirken wird nach der Kabbala[318] von seiten des Menschen eine feste und starke Kwanah (Willensrichtung, Intention) erfordert, um den höheren geistigen Einfluß an sich zu ziehen und zu seinen Zwecken verwerten zu können, was nur durch Willenskraft möglich ist.
Der Wille des Menschen muß ausschließlich auf seinen Gegenstand gerichtet sein und mit ihm übereinstimmen, indem nur das Verwandte einander anziehen kann.[319] Ferner gehört zu allem magischen Wirken eine starke, lebhafte und klare Vorstellungskraft (Koach ha Dimian), damit die Impressionen aus der geistigen Welt sich tief und lebendig in die Seele eingraben und dort festgehalten werden. Dieselben Bedingungen gehören auch zum richtigen magischen Schauen. Es muß nämlich der Zustand des Geistes, der Seele und des Leibes des Sehers in einer inneren harmonischen Übereinstimmung mit dem innerlich anzuschauenden geistigen Objekt stehen, denn bloß Ähnliches vermag das Ähnliche wahrzunehmen. Deshalb darf die Seele nicht durch weltliche Dinge, Leidenschaften usw. getrübt, sondern muß ganz auf ihr inneres Objekt gerichtet 313sein. Endlich aber muß die Imagination klar, stark und lebhaft sein, damit nach kabbalistischer Lehre die Einzeichnung aus der geistigen Welt (Reschima) sich tief und fest einprägt und nicht verwischt oder durch fremde Vorstellungen entstellt wird. Darum lieben auch die Zauberer die Einsamkeit und suchen sich bei ihren Beschwörungen durch allerlei künstliche Mittel von der Außenwelt abzuziehen und so ihre Imagination zu steigern.
Weil nun zu allem magischen Schauen und Wirken außer der natürlichen Kraft und Stärke des Geistes und der Seele noch ganz besonders notwendig ist, daß die ganze Neigung und Willensintention eine bestimmte feste Richtung hat, und der Mensch sich in völliger Übereinstimmung mit dem Gegenstand seiner Wünsche befindet, so wird in der schwarzen Magie nur derjenige erfolgreich wirken, welcher mit einer hohen geistigen Stärke eine eben so große Verkehrtheit des Willens verbindet. Deshalb sagt auch der Sohar: Der Mensch muß für dergleichen Dinge geordnet sein. Bileam war dazu geordnet, denn er hatte einen Fehler im Auge[320], worunter jedoch nicht bloß ein körperlicher, sondern vielmehr ein moralischer Fehler zu verstehen ist, weil Bileam in der Kabbala als das Prototyp der Wollust, des Stolzes und des Neides gilt. – Überhaupt ist nach dem Sohar die äußere Physiognomie der objektive Ausdruck der Beschaffenheit der Seele[321], welche demnach als organisierendes Prinzip gedacht wird. In dieser Beziehung behauptet dann auch die Kabbala folgerecht, daß jeder Schwarzkünstler etwas Verzerrtes oder Gebrechliches an sich habe.[322]
Der Virtuosität der weißen Magie im Guten entspricht die Virtuosität der Schwarzkunst im Bösen, welche beide besondere Stärke der Seele und des Geistes voraussetzen, weshalb auch die Kabbala – in Hinsicht der Stärke – Bileam dem Moses gleichstellt.[323] Zauberer wie Bileam sind die Priester und Heroen im Reiche der Tumah, und es hat solche überall und zu allen Zeiten gegeben. Die Kabbala rechnet zu ihnen die Nephilim der Tradition und 314die großen Magier der mosaischen Zeit wie Jamnes und Jambres[324] und Balak.[325]
Da nun die Kabbala dem Menschen eine sowohl auf das Schauen als auch auf das Wirken gerichtete magische Kraft beilegt, so tritt die Frage an uns heran, weshalb nach dieser Lehre das Herbeiziehen und die Mitwirkung einer Geisterwelt notwendig wird. Diese Frage wird zwar in der Kabbala selbst nirgends ausdrücklich aufgestellt, aber ihre Beantwortung ergiebt sich leicht aus den Prinzipien der jüdischen Magie: Obschon der Mensch von Natur aus magische Kraft besitzt, so wird doch dieses Vermögen bei weitem erhöht, durch den Einfluß anderer mächtigerer geistiger Wesen, und zwar hat er die Hilfe um so nötiger, wenn er in Sphären gelangen will, für welche seine eigene Kraft nicht ausreicht.
Was nun das magische Schauen betrifft, so muß das Erkennen der äußeren Sinne örtlich oder zeitlich verborgener, oder in natürlicher Verbindung stehender Dinge unterschieden werden von der höheren Divination oder dem Voraussehen künftiger durch die freie Wahl der Menschen bedingter Begebenheiten. Allerdings kann der geistige Mensch durch das Entbundensein von den äußeren Sinnen, durch das innere geistige Wesen der Dinge auf eine für ihn fühl- und bemerkbare Weise affiziert werden[326], infolgedessen er ohne alle fremde Beihilfe unmittelbar das Verborgene durchschaut und aus der Beschaffenheit desselben die dadurch verursachten Wirkungen erkennt. Er vermag daher auch, da nach kabbalistischer Lehre nicht nur jede Handlung eines Menschen eine Reschimah (Einzeichnung) hinterläßt, sondern auch alles Geschehene seit Beginn der Welt sich in den Äther eingräbt, die Zukunft vorauszusehen, insofern sie durch frühere Handlungen bedingt ist. Trotzdem hat diese unvermittelte Seherschaft ihre Grenzen, weil der innere Mensch nur von demjenigen affiziert wird, das ihm verwandt ist. Je freier und höher entwickelt der geistige Mensch, desto weiter wird sich seine eigenste unmittelbare Anschauungs- und Aktionssphäre erstrecken. Wo aber dieselbe endigt, hat er die Hilfe anderer geistiger Wesen nach kabbalistischer 315Lehre nötig, die sein inneres Schauen erweitern und ihm kund thun, was er selbst nicht zu schauen vermag. Darum lehrt die Kabbala auch bei den höheren Graden der niederen Magie den Einfluß und die Einwirkung geistiger Wesen, welche sich gern und leicht zu den Menschen gesellen, die in ihr Gebiet hineinimaginieren.
Anders verhält es sich mit künftigen, vom freien Willen abhängigen Handlungen eines Geschöpfes oder mit dem Ratschluß der Gottheit und ihrem Eingreifen in die Schicksale der Einzelnen wie des Ganzen. Diese Dinge sind nur der Gottheit als dem absoluten selbständigen Urgrund bekannt und werden von derselben den Propheten durch einen freien Willensakt mitgeteilt.[327]
Die Intellektualwelt ist eine in zahllosen Stufen gegliederte Hierarchie von Wesen, welche von der Gottheit nach unten emanieren, die von ihr erhalten und regiert werden und um so höher und geistiger sind, als sie ihrem Urquell näher stehen. Die Gottheit, der absolute Urgrund, offenbart sich allen Geschöpfen, jedem nach seiner Art, auf doppelte Weise, auf eine innerlich subjektive und eine äußere objektive. Vermöge der ersteren erfüllt die Gottheit die Kreatur in der Art, daß der Schöpfer in seiner ganzen Unendlichkeit im Geschöpfe gegenwärtig, demselben innerlich unmittelbar nahe und für dasselbe gleichsam nur allein vorhanden ist. Vermöge der letzteren jedoch ist die Gottheit zwar der eine allgemeine Gott für alle Geschöpfe der intellektuellen und materiellen Welt, aber er befindet sich außerhalb der Geschöpfe und teilt sich denselben auf eine äußerliche geistige Weise mit in der Art, daß die der Gottheit zunächststehende Stufe der Intellektualwelt den göttlichen Einfluß unmittelbar empfängt und mittelbar auf die unteren Stufen überträgt, die sich stufenweise ineinander abspiegeln. So gelangen die göttlichen Offenbarungen nach unten, in welche die niederen Stufen nur so viel Einsicht erlangen als ihnen die oberen mitteilen; endlich empfangen die Offenbarungen – namentlich die unglücklicher Ereignisse – „die Vollzieher der Strenge“ (die finstern Wesen) und zeigen sie, die in baldiger Erfüllung stehen, den Menschen im Traume.[328] 316Deshalb ist nach kabbalistischer Lehre auch in vielen Fällen des finstern magischen Schauens und Wirkens die Beihilfe der Dämonen nötig, welche sich gern freiwillig zu den Menschen gesellen, sobald diese in ihre Sphäre energisch einzugreifen beginnen.
Die schauende Naturmagie ist sowohl auf das äußere Sinnliche, als auch auf das innere Übersinnliche gerichtet. Die äußerlich schauende Magie besteht in den Versuchen, aus den Erscheinungen und Veränderungen in den äußeren sichtbaren Dingen den verborgenen Willen ihrer unsichtbaren Lenker und damit die Zukunft zu erforschen und zerfällt in zwei Abteilungen, deren erste die Aufmerksamkeit auf die oberen himmlischen, die letzte jedoch auf die unteren irdischen Dinge richtet. Die erstere wird Monen, die letztere Nichusch genannt.
Unter Monen versteht man die gesamte Astrologie der Tagewählerei durch astrologische Elektionen. Die Tagewählerei ist verboten, ebenso das unbedingte Vertrauen auf die astrologischen Schicksalssprüche und das Einrichten des Lebens nach den Konstellationen des Himmels. Doch ist die Astrologie als Naturweisheit erlaubt, und der Jude soll die Aussprüche der Astrologen nicht verachten, sondern beherzigen; er darf sie jedoch nicht als untrüglich ansehen, weil alle natürlichen Mantien die Zukunft nur mit bedingter Gewißheit verkünden.[329]
Der Nichusch ist also die wahrsagende Deutung der Erscheinungen und Veränderungen irdischer Dinge und gründet sich darauf, daß nach kabbalistischer Lehre erstens alles beseelt ist und das Himmlische sich dem Irdischen sowohl mitteilt als auch einprägt. Das Innerste der Elemente ist geistiger Natur und von Intelligenzen belebt, welche ihren Einfluß und ihre Wirkung selbst auf die Vögel und vierfüßigen Tiere ausdehnen.[330] Zweitens gründet sich der Nichusch auf den Umstand, daß es keinen reinen Zufall giebt, sondern daß alle Dinge auf der Welt in einem inneren geistigen Zusammenhang stehen und sich aufeinander beziehen.
Der Nichusch schöpft also seine Weissagungen aus allen Reichen der Natur, aus meteorologischen Erscheinungen, aus dem Rauschen 317der Bäume, aus dem Verhalten des Feuers wie der Tiere, besonders der Vögel, aus den Eingeweiden der Opfertiere, den Angängen, Anzeichen usw. und umfaßt bei weitem die meisten der zum Teil noch heute üblichen niederen Wahrsagekünste.
Die innerlich schauende Naturmagie beruht darauf, daß der Mensch durch verschiedene Manipulationen und Methoden seine Sehergabe entwickelt und sich auf künstliche Weise mit der innern Naturwelt in Verbindung setzt. Auch die innerlich schauende Naturmagie zählt verschiedene Stufen, deren unterste Kosem K'samim genannt wird, auf dieser wird ein mehr oder minder klares Hellsehen durch die Kleromantie mit ihren Unterarten[331], sodann durch Hypnotismus und Mesmerismus, also durch das Blicken auf glänzende Gegenstände, Spiegel, blanke Messer und Pfeile, Wasserbecken usw. sowie endlich durch das Auflegen der Hände erzeugt.[332] – Die Kleromantie oder Looswahrsagung beruht jedoch nicht allein auf einer bewirkten inneren Konzentration der Seele, sondern auch gleichzeitig auf der Übereinstimmung des äußeren magischen Aktes mit der inneren Ordnung der Dinge selbst, und wird daher nur insoweit von Erfolg begleitet sein, als diese Übereinstimmung vorhanden oder hergestellt ist.[333] – Bei dem magischen Schauen bedienen sich die Magier vielfach junger Leute, welche noch keinen Umgang mit Frauen gehabt haben, unter der Voraussetzung, daß sich die Unschuld noch in ungetrübter Verbindung mit dem Wesen des Seins befindet.[334]
Die zweite höhere Stufe der schauenden Naturmagie ist das Doresch ha Methim, ein Befragen der Toten, welches jedoch nicht mit der Nekromantie zu verwechseln, sondern eher als eine Art Inspirationsmediumschaft zu betrachten ist. Der Magier sucht nämlich durch Fasten, Beten gewisser Sprüche, Verbrennung von Rauchwerk und Übernachten auf Gräbern eine Art Inkubation und den Rapport mit geistesverwandten Verstorbenen herbeizuführen.[335] – Die dritte und geistige Stufe ist endlich die, auf welcher der Mensch sich nach mystischer Vorbereitung, Abziehung von allem Äußeren und die Anwendung 318heiliger Schemoth (Namen) mit den oberen „Sarim“ (Naturgeistern) in Verbindung setzt, um von ihnen Offenbarungen zu erhalten; also wieder ein inspiriertes Medientum, bei welchem auch die „hohen Geister“ der Spiritisten nicht fehlen.
Die wirkende Naturmagie besteht in der Kunst, auf äußerem, physischem Wege die wirksamen Beziehungen im inneren Elementarnephesch der Dinge zu erregen und so irgend welche Wirkungen und Veränderungen hervorzubringen, wobei sowohl Leben auf Leben wirkt, als auch die Willensrichtung und Willensstärke des Menschen eine bedeutende Rolle spielen. Hierher gehören die magischen Heilungen, die auf Hypnose beruhende Augenverblendung, das Segnen organischer Wesen zur Beförderung ihres Wachstums und Wohlseins und endlich das Chober-Chaber genannte Besprechen resp. Bannen von Menschen und Tieren durch leise geraunte, manchmal keinen Sinn ergebende Zaubersprüche, welche nach Moses Maimonides nur zur Fixierung der Seelenkräfte dienen, nach anderen aber eine innere Kraft besitzen.[336]
Die letzte Stufe der Naturmagie ist die Verbindung mit den Elementarwesen, um mit deren Hilfe Veränderungen sowohl im Leben der allgemeinen als auch der individuellen Natur hervorzubringen. Maimonides schildert einige hierher gehörende magische Gebräuche[337], welche im wesentlichen in einer entsprechenden Lebensweise, im Tragen von aus gewissen Metallen oder Metallmischungen gefertigten Amuletten, sowie in Reinigungen, Opfern und Räucherungen bestanden.
Die schwarze Magie, der Kischuph[338], ist ebenfalls ein schauender und wirkender und wird von der Kabbala zwar als ein Werk der finstern Welt betrachtet, bei welchem sich jedoch der dazu besonders veranlagte Mensch nicht passiv verhält, sondern selbstthätig mitwirkt, weshalb der Seher auch sagt: „Mancher macht Zauberei, und es gelingt ihm, ein anderer macht es ebenso und es gelingt ihm nicht, denn zu solchen Dingen muß der Mensch geordnet sein.“[339]
Der schauende Kischuph besteht nach kabbalistischer Lehre entweder in der Beschwörung der „Satanim“ oder in der eigentlichen Nekromantie. Die Satanim sind gewissermaßen als Schedim auf der tiefsten Stufe zu betrachten, als außer der irdischen Beschränkung lebende, geistig schauende, nicht an die Kategorien der Zeit und des Raumes gebundene Wesen, die insofern einen Blick in die Zukunft haben, als diese nicht von den freien Handlungen der Menschen abhängt, und hintergehen die Zauberer mit Lügen.[340]
Die Beschwörung der Satanim geschieht entweder in der Art, daß durch schamanistisches Tanzen, Toben, Drehen, Heulen, durch Selbstverstümmelung usw. ein ekstatischer Zustand hervorgerufen wird, in welchem die Satanim angeblich von den „Jidonim“ genannten Zauberern Besitz ergreifen und aus ihnen heraussprechen.[341] – Die zweite Art ist die förmliche Beschwörung mit blutigen Opfern und zur Materialisation dienende Räucherungen.[342]
Die Nekromantie geschieht nach der Kabbala durch Einwirkung auf den Habal de Garmin, des eigentlichen Elementarnephesch, welches sich von der Empfängnis an nicht wieder von dem irdischen Stoff trennt, sondern selbst in der Nähe des Grabes bleibt. Der Habal de Garmin, „durch dessen Kraft der Auferstehungsleib gebaut wird[343]“, hat die Gestalt des Körpers, schwebt über dem Grabe und kann von jenen gesehen werden, denen die Augen geöffnet sind.[344] – Da nun nach der Kabbala der Leichnam unter die Herrschaft der finstern Welt fällt, so ist die von den „Ob“ genannten Nekromanten gewünschte und für den Toten mit großer Erschütterung[345] verbundene Erregung des Habal de Garmin für die Satanim ein Leichtes. – Eine andere Art Nekromantie besteht darin, daß 320der Zauberer den Schädel eines Verstorbenen[346] einräuchert und Beschwörungen spricht, worauf der Habal de Garmin zwar nicht sichtbar erscheint, aber mit vernehmlicher Stimme antwortet.[347]
Die wirkende schwarze Magie der Juden besteht der Kabbala zufolge in der Störung der Elemente und des Naturlebens mit Hilfe der Satanim, in Versuchung von Menschen und Tieren, in der Stiftung von Haß und Feindschaft (schädigende Willensmagie), in der Erzeugung von Schmerz, Krankheiten und Tod von Menschen und Vieh durch böse, namentlich mit körperlichen Excretionen geübte Sympathie. Ja, die Kabbala kennt selbst die Lykanthropie und den spezifischen Hexensabbath, wobei gewisse Salben und Öle eine große Rolle spielen.[348]
Die weiße Magie besteht in der Vergeistigung des Menschen durch ein aufrichtiges Streben nach oben, zum Göttlichen hin, wobei dieselbe in dem Maße, als er nichts egoistisch für sich selbst zu erringen strebt, sondern das Heilige nur um dessen willen sucht, aus freier, göttlicher, nur das Reine und Heilige liebender Gnade mit der Kraft des göttlichen Lebens erfüllt wird. Ist nun nach der Kabbala das Nephesch und der Ruach eines solchen Menschen dazu disponiert, so kann dessen N'schamah in Verbindung mit den Engeln und der göttlichen Welt treten und von dieser je nach ihrer Fassungskraft Offenbarungen erhalten und mit magischer Wirkungskraft ausgerüstet werden. Die unmittelbare Verbindung mit der Gottheit, wobei alles Irdische und Stoffliche vergeistigt wird, ist die letzte, höchste Daseinsstufe, die heilige Manie.
Die enthusiastischen Anhänger der Kabbala lassen dieselbe durch die Engel vom Himmel herabgebracht werden, um dem ersten Menschen nach seinem Fall die Mittel zu bezeichnen, wie er seinen ursprünglichen Adel und seine ursprüngliche Glückseligkeit wieder erlangen könne. Andere sind der Meinung, daß der Gesetzgeber der Hebräer, nachdem er sie während seines vierzigtägigen Aufenthaltes auf dem Sinai von Gott selbst empfangen habe, sie den siebenzig Ältesten, mit denen er die Gaben des heiligen Geistes teilte, mitgeteilt habe, und daß sie sich mündlich bis zu der Zeit fortgepflanzt habe, in welcher Esra sie und das Gesetz niederschreiben ließ. Mag man aber mit der skrupulösesten Aufmerksamkeit die Bücher des alten Testamentes durchsehen, so wird man nirgends auf die Spuren einer Geheimlehre oder auf eine tiefere und reinere esoterische Lehre stoßen, welche nur einer kleinen Zahl Auserlesener vorbehalten sei. Das hebräische Volk kannte von seinem Ursprung bis zur Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft – wie alle anderen Nationen in ihrer Jugend – keine anderen Organe der Wahrheit und keine anderen Diener der Gottheit als die Propheten, Priester und Dichter, von denen die beiden letzteren – ungeachtet 322einer gewissen trennenden Verschiedenheit – in dem ersteren aufgehen; der Priester lehrte nicht, sondern wandte sich nur mittelst des Pompes der religiösen Ceremonien an das Auge, und was die die Religion in Form einer Wissenschaft, welche der Sprache der Inspiration den dogmatischen Ton substituiert, lehrenden Theologen anlangt, so wissen wir nur, daß sie – ohne Sonderbezeichnung – in jener Periode überhaupt existierten. In bestimmten Umrissen treten sie erst zu Anfang des dritten Jahrhunderts der christlichen Ära unter der Allgemeinbezeichnung „Thannaïm“ auf, welches Wort „Organe der Tradition“ bezeichnet, kraft deren man alles lehrte, was nicht klar in der heiligen Schrift zum Ausdruck gelangte. Die Thannaïm, die ältesten und geachtetsten der jüdischen Gelehrten, bilden eine lange Kette, deren letztes Glied der heilige Judas, der Verfasser der Mischna ist, in welchem Werk er der Nachwelt alle Aussprüche seiner Vorgänger sammelte und überlieferte. Man zählt zu ihnen die angeblichen Verfasser der ältesten kabbalistischen Bücher, nämlich Joseph ben Akiba und Simon ben Jochai samt ihren Söhnen und Freunden. Unmittelbar nach dem in das Ende des zweiten Jahrhunderts n. Christi fallenden Tod des Judas beginnt eine neue Gelehrtengeneration, welche den Namen Amoraim (אמוראים) führt, weil sie für sich selbst keine Autorität beanspruchen, sondern nur in erklärender Weise die Aussprüche ihrer Vorgänger wiederholen; auch sammelten sie alle noch nicht redigierten Sentenzen derselben. Während der nächsten drei Jahrhunderte hörten diese Kommentare und neuen Traditionen nicht auf, sich in einer wahrhaft wunderbaren Weise zu vermehren und wurden endlich unter dem Namen der Gemara (גמרא) d. h. „Tradition“ gesammelt. In diesen beiden Sammlungen, welche von ihrer Zusammenstellung bis auf unsere Zeit heilig aufbewahrt und unter dem Namen „Talmud“ (Studium, Wissenschaft) vereinigt wurden, müssen wir zweifelsohne die Ideen suchen, welche die Basis des kabbalistischen Systems bilden und Gelegenheit zur Entstehung der Kabbala gaben.
Man findet in der Mischna[350] folgende merkwürdige Stelle.
„Es ist verboten, zwei Personen die Genesis zu erklären, nur 323einer einzigen darf man die Merkaba oder den himmlischen Wagen lehren, und diese sei ein weiser Mann, der ein gutes Verständniß besitze.“
Der Talmud überliefert (Hagiga 13a) eine Bereita, welche nicht in die Mischna des Rabbi Judas aufgenommen wurde, in welcher Rabbi Hiya hinzusetzt: „Aber man kann ihm die ersten Worte der Kapitel erklären.“
Ein Talmudist, Rabbi Zera (a. a. O.) zeigt sich noch strenger, denn er sagt, daß selbst der Hauptinhalt der Kapitel nur Menschen von hoher Würde und außerordentlicher Klugheit mitgeteilt werden dürfe, oder, um die Worte des Originals zu gebrauchen: „welche in sich ein Herz voll Unruhe tragen.“
Augenscheinlich ist hier weder vom Text der Genesis noch von der Vision des Hesekiel, welche derselbe an den Ufern des Flusses Khebar hatte, allein die Rede. Die ganze Schrift war, so zu sagen, in aller Mund, und seit undenklichen Zeiten machten es auch die skrupulösesten Beobachter der Traditionen zur Pflicht, daß sie jährlich mindestens einmal in den Synagogen ganz gelesen werde. Moses selbst hört nicht auf, das Studium des Gesetzes zu empfehlen, unter welchem man allgemein den Pentateuch verstand, und Esra las dasselbe nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft mit lauter Stimme dem versammelten Volke vor. Es ist in der That unmöglich, daß die von uns citierten Worte ein Verbot der Erklärung oder des Suchens eines Verständnisses der Erzählungen der Genesis oder der Vision des Hesekiel enthielten; es handelt sich vielmehr um eine bekannte Auslegung oder Lehre, welche jedoch mit einem gewissen geheimnisvollen Schleier umgeben ist. Es handelt sich um ein Wissen, welches sowohl in seiner Form, als in seinen Prinzipien feststeht, kennt man doch seine Einteilung in verschiedene Kapitel mit ihrem Inhalt. Es ist zu bemerken, daß die Vision des Hesekiel nichts Ähnliches enthält; sie erstreckt sich nicht über mehrere Kapitel, sondern nur über ein einziges und zwar das erste des diesem Propheten zugeschriebenen Buches. Wir sehen weiter, daß diese Geheimlehre zwei Theile enthält, welchen man jedoch nicht gleiche Wichtigkeit beilegte, denn der eine Teil durfte zwei Personen gelehrt werden, der andere jedoch nur einer einzigen, welcher die schwersten Bedingungen auferlegt wurden. Wenn wir 324Maimonides Glauben schenken dürfen, der, obgleich nicht eingeweiht in die Kabbala, weit entfernt ist, deren Existenz zu leugnen, so enthielt die erste Hälfte unter dem Titel: „Geschichte der Genesis oder der Schöpfung“ (מעשה בראשית) die Wissenschaft der Natur, während der zweite, „die Geschichte des Wagens“ (מעשה מרכבה) genannte, eine geheime Theologie lehrte. Diese Anschauung wird von allen Kabbalisten angenommen.
Ich führe hier eine weitere Stelle an, aus welcher dasselbe auf eine nicht weniger evidente Weise hervorgeht:
„Rabbi Jochanan sagte eines Tages zu Rabbi Eliezer: Siehe, ich will dir die Geschichte der Merkaba lehren. Darauf antwortete dieser: Ich bin noch nicht alt genug dazu. Als er das Alter erreicht hatte, starb Rabbi Jochanan, und einige Zeit später sagte Rabbi Assi ebenfalls zu ihm: Siehe, ich will dir die Geschichte der Merkaba lehren. Da antwortete Eliezer: Wenn ich mich dazu würdig gehalten hätte, so würde ich sie von Rabbi Jochanan, deinem Lehrer, gelernt haben.“[351]
Man sieht aus diesen Worten, daß, um in die mysteriöse und heilige Lehre der Merkaba eingeweiht zu werden, weder Intelligenz, noch eine hervorragende Stellung genügte, sondern daß auch dazu ein gewisses fortgeschrittenes Alter nötig war, und selbst wenn man diese auch von den modernen Kabbalisten verlangte Bedingung erfüllte[352], so hielt man sich weder hinsichtlich seiner Intelligenz noch seiner moralischen Kraft für sicher genug, um die Last dieser gefürchteten Geheimnisse auf sich zu nehmen, welche durchaus nicht ohne Gefahr für den positiven Glauben und für die äußere Beobachtung der religiösen Vorschriften waren. Es möge hier ein merkwürdiges im Talmud erzähltes Beispiel folgen, welches uns in allegorischer Sprache folgende Erläuterung giebt:
„Nachdem unser Meister uns belehrt hat, gingen vier in den Garten der Wonne ein, nämlich Ben Azaï, Ben Zoma, Acher und Rabbi Akiba. Ben Azaï warf einen neugierigen Blick hinein und starb. Man kann auf ihn den Spruch der Schrift anwenden: Der 325Tod seiner Heiligen ist werth gehalten vor dem Herrn.[353] Ben Zoma blickte ebenfalls hinein und verlor die Vernunft, und sein Schicksal wird durch den Ausspruch des weisen Salomo gekennzeichnet: Findest du Honig, so iß seiner genug, daß du nicht zu satt werdest und speiest ihn aus.[354] Acher aber richtete Verwirrung unter den Pflanzen an. Nur Akiba ging davon in Frieden.“[355]
Es ist kaum nötig, diesen Text buchstäblich zu verstehen und anzunehmen, es handle sich hier um eine wirkliche Vision des künftigen Lebens, denn erstens ist es ohne Beispiel, daß der Talmud, wenn er vom Paradies spricht, solche mystische Ausdrücke gebraucht, wie sie in obiger Stelle Anwendung finden. Und wie würde sich zweitens damit vereinigen lassen, daß zwei lebende Personen, welche in den Himmel der Auserwählten blicken, den Glauben und die Vernunft verlieren, wie die Erzählung angiebt? Dagegen ist zu bemerken, daß nach den angesehensten Autoritäten der Synagoge der Garten der Wonne, in welchen die vier Rabbinen eingetreten sind, als die mysteriöse Wissenschaft, von welcher wir sprechen, die so schrecklich für schwache Gemüter ist, daß sie dieselben entweder dem Wahnsinn oder den schrecklichsten Verwirrungen der Gottlosigkeit preisgiebt. Das letztere will die Gemara andeuten, wenn sie bezüglich Achers sagt, daß er Verwirrung unter den Pflanzen angerichtet habe. Dieselbe erzählt uns, daß der in den talmudistischen Erzählungen so berühmte Acher ursprünglich einer der Weisesten in Israel war. Sein wahrer Name war Elisa ben Abuja, welcher in Acher[356] umgewandelt wurde, um die Änderung zu kennzeichnen, die sich in ihm vollzog. Denn als er den allegorischen Garten verließ, in welchen ihn eine verhängnisvolle Neugierde geführt hatte, ward er ein ausgesprochener Gottloser; er verlor sich, wie der Text sagt, in der Erzeugung des Bösen, lebte sittenlos und der Welt zum Abscheu, verriet den Glauben, und einige klagen ihn sogar des Kindesmordes an. Und worin bestand die Ursache seines ersten Irrtums? Wohin führten ihn seine Forschungen über die wichtigsten 326Religionsgeheimnisse? Der jerusalemitische Talmud sagt positiv, daß er die beiden obersten Prinzipien anerkannt habe, und der babylonische Talmud, nach welchem wir die obige Erzählung mitteilten, deutet das Gleiche an. Er sagt, daß Acher, als er im Himmel Metatron in all seiner Macht sah, den Engel, welcher unmittelbar nach dem Herrn kommt, betete: „Wenn es möglich ist, so sei mir erlaubt, zwei Mächte anzunehmen.“ Wir wollen uns nicht zu lange bei dieser Sache aufhalten, denn es sind noch viel bedeutungsvollere anzuführen, nur sei bemerkt, daß der Engel oder die Metatron[357] genannte Hypostase eine große Rolle im System der Kabbala spielt. Er ist es, welchem recht eigentlich die Herrschaft der sichtbaren Welt anvertraut ist, er herrscht über alle himmlischen Sphären, die Planeten und Fixsterne sowie über die Engel, welche denselben vorstehen, denn die über ihm stehenden intelligibeln Formen der göttlichen Wesenheit und reinsten Geister sind so immateriell, daß sie keine unmittelbare Wirkung auf körperliche Dinge ausüben können. Auch ist der Zahlenwert seines Namens gleich dem des Allmächtigen. – Zweifelsohne ist die Kabbala weit davon entfernt, einen eigentlichen Dualismus zu lehren, aber die allegorische Manier, mit welcher sie die intelligible Wesenheit Gottes von der das Weltall ordnenden Kraft scheidet, ist sehr geeignet, diesen von der Gemara gekennzeichneten Irrtum hervorzurufen.
Ein letztes, derselben Quelle entnommenes und von Reflexionen des Maimonides begleitetes Citat wird, wie ich hoffe, die Darlegung des wichtigen Punktes abschließen, daß eine Art Philosophie oder religiöser Metaphysik so zu sagen von Mund zu Mund von den Thannaïm oder den ältesten hebräischen Theologen gelehrt wurde. Der Talmud lehrt uns, daß man früher drei Namen besaß, um die göttliche Wesenheit zu bezeichnen und auszudrücken: nämlich das berühmte Tetragrammaton oder den aus vier Buchstaben bestehenden Namen, sodann zwei andere der Bibel unbekannte Namen, von denen der eine aus zwölf und der zweite aus zweiundvierzig Buchstaben zusammengesetzt ist. Das Tetragrammaton, 327dessen Gebrauch der großen Menge allerdings verboten war, fand freie Anwendung im Innern der Schule. „Die Weisen, sagt der Text, lehrten diesen Namen einmal wöchentlich ihren Söhnen und ihren Schülern.“ Der aus zwölf Buchstaben bestehende Namen war anfänglich noch bekannter und verbreiteter. „Man lehrte ihn aller Welt. Aber als die Zahl der Gottlosen sich vermehrte, wurde er nur den verschwiegensten unter den Priestern anvertraut, und diese ließen ihn mit leiser Stimme von ihren Brüdern während der Segnung des Volkes wiederholen.“ Der Name von zweiundvierzig Buchstaben wurde endlich als das heiligste Geheimnis betrachtet. „Man lehrte ihn nur einem Mann von anerkannter Verschwiegenheit, reifem Alter, welcher dem Zorn, der Unmäßigkeit und Eitelkeit unzugänglich und in angenehmem Verkehr mit seines Gleichen lebte.“ „Wer, sagt der Talmud, in dieses göttliche Geheimniß eingeweiht war und dasselbe wachsam, in reinem Herzen bewahrt, kann auf die Liebe Gottes und die Gunst der Menschen zählen; sein Name flößt Achtung ein, sein Wissen darf das Vergessenwerden nicht fürchten und er wird der Erbe beider Welten, der gegenwärtigen und der künftigen.“[358]
Maimonides bemerkt mit viel Scharfsinn, daß in keiner Sprache ein aus zweiundvierzig Buchstaben bestehender Namen existiert, und daß dies im Hebräischen noch unmöglicher sei, da dasselbe keine Vokale besitzt. Er hält sich deshalb zu dem Schluß berechtigt, daß diese zweiundvierzig Buchstaben auf mehrere Worte entfielen, von denen ein jedes eine notwendige Idee oder ein fundamentales Attribut des ewigen Wesens ausdrückte, welche in ihrer Gesamtheit die wahre Definition der göttlichen Wesenheit ergaben. Sagt man alsdann, fährt unser Autor fort, daß der hier in Frage stehende Name der Gegenstand eines Studiums, einer nur den Weisesten vorbehaltenen Lehre war, so will man uns zweifelsohne zu wissen thun, daß mit der Definition der göttlichen Wesenheit notwendige Aufklärungen und gewisse Enthüllungen über die Natur der Gottheit und der Dinge im allgemeinen verbunden waren. Dies ist noch zutreffender für das Tetragrammaton, denn wie wäre es sonst möglich, einem in der Bibel so häufig gebrauchten Wort, von welchem 328diese selbst die Erklärung giebt: „Ich bin, der ich bin“, einen geheimen Sinn unterzulegen, den die Weisesten des Volkes wöchentlich einmal ihren auserlesensten Schülern im Geheimen mitteilten? „Das, was der Talmud die Kenntniß der Namen Gottes nennt, sagt Maimonides, ist nichts als ein guter Theil der Wissenschaft von Gott, oder der Metaphysik, was man die Probe des Vergessens nennt, denn ein Vergessen ist nicht möglich für Ideen, welche ihren Sitz in der aktiven Intelligenz, d. h. in der Vernunft haben.“ Es dürfte schwer sein, sich diesen Reflexionen hinzugeben, wenn nicht die tiefe Wissenschaft und die allgemein anerkannte Autorität der Talmudisten sich nicht schließlich doch an den gesunden Menschenverstand des freien Denkers wendete. Wir wollen hier nur eine einzige Beobachtung anführen, die, wenn auch in den Augen des kritischen Verstandes bestreitbar, doch nicht ohne Wert für die hier behandelte Ideenfolge ist, und die wir als eine geschichtliche Thatsache hinnehmen müssen, nämlich den Umstand, daß die Buchstaben der heiligen zehn Sephiroth der Kabbala zusammengezählt die Zahl zweiundvierzig ergeben. Ist es da nicht erlaubt anzunehmen, daß dies der dreimal heilige Name sei, welchen man selbst den auserlesensten Weisen nur mit Zittern mitteilte? Wir finden eine volle Bestätigung der gemachten Bemerkungen bei Maimonides: Zunächst bildeten die zweiundvierzig Buchstaben nicht nach gewöhnlicher Annahme einen Namen, sondern mehrere Worte. Weiterhin drückt jedes Wort – wenigstens nach der Anschauung der Kabbalisten – ein wesentliches Attribut der göttlichen Natur aus oder, was für sie dasselbe ist, eine der notwendigen Formen des göttlichen Seins. Endlich aber geben alle nach der kabbalistischen Wissenschaft, nach dem Sohar und allen Kommentatoren die exakteste Definition, welche unsere Intelligenz vom Grundprinzip aller Dinge gewähren kann. Diese Art, das Verständnis des göttlichen Wesens zu suchen, ist durch einen Abgrund von der vulgären Gläubigkeit getrennt, und man begreift nun sehr wohl die getroffenen Vorsichtsmaßregeln, daß dieses Geheimwissen nicht aus dem Kreis der Initiierten heraustrete. Doch, es sei nochmals gesagt, ist dies ein Punkt, welchem wir kein besonderes Gewicht beilegen wollen, es möge genügen, daß wir die allen Citaten zu Grund liegende Thatsache zur Evidenz bewiesen haben.
Zur Zeit der Zusammenstellung der Mischna existierte also eine Geheimlehre über die Schöpfung und die Natur der Gottheit. Man einigte sich über die Art der Einteilung dieser Lehre, deren Name bei den nicht Eingeweihten einen frommen Schauder hervorrief. Wäre es nun nicht möglich, genau die Zeit ihres Ursprungs zu bestimmen und so die denselben umgebende Finsternis aufzuhellen? In dieser Beziehung läßt sich folgendes sagen: Nach Ansicht der vertrauenswürdigsten Historiker wurde die Redaktion der Mischna spätestens im Jahre 3949 der Schöpfung oder 189 n. Chr. beendet. Weiterhin müssen wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, daß Judas hanassi nur die Vorschriften und Traditionen der ihm vorausgehenden Thannaïm sammelte, und daß weiterhin die oben mitgeteilten Citate, welche die unvorsichtige Mitteilung der Geheimnisse der Schöpfung und Merkaba verbieten, älter sind, als die Mischna selbst. Es ist wahr, man kennt den Autor obiger Citate nicht, aber eben dieser Umstand ist der sicherste Beweis für ihr Altertum, denn wenn sie nur die Meinung eines Einzelnen aussprächen, so würden sie entweder nicht so viel Gewicht besessen haben, um Autorität werden zu können, oder man würde ihren verantwortlichen Urheber genannt haben. Weiterhin muß eine Lehre selbst älter sein als ein Gesetz, welche ihre allgemeine Bekanntmachung verbietet. Sie mußte bekannt geworden sein und eine gewisse Autorität erworben haben, bevor man die Gefahr ihres Bekanntwerdens nicht sowohl unter dem Volk, als unter den Gelehrten und Weisen in Israel einsah. Wir können also ihre Entstehung unbedenklich mindestens in das Ende des ersten christlichen Jahrhunderts setzen. Es ist dies die Zeit, in welcher Joseph ben Akiba und Simon ben Jochai lebten, welchen die Kabbalisten die Autorschaft ihrer wichtigsten und berühmtesten Bücher zuschreiben. In dieser Zeit lebte auch Rabbi Joseph von Sepphoris, der Verfasser der Idra Rabba, eines der wichtigsten und ältesten Theile des Sohar, welcher zu den vertrautesten Freunden und eifrigsten Schülern des Simon ben Jochai gehörte. Die Idra Rabba ist derjenige kabbalistische Traktat, welchem wir die meisten auf die Merkaba bezüglichen Citate entnahmen. Zu der Zahl der das Alter, wenn nicht der Bücher, so doch der kabbalistischen Ideen bezeugenden Autoritäten gehört auch 330die unter dem Namen des Onkelos vorhandene chaldäische Übersetzung der fünf Bücher Mosis.
Diese berühmte Übersetzung stand von Anfang an in so hohem Ansehen, daß sie für eine göttliche Offenbarung gehalten wurde. Ja der babylonische Talmud nimmt an, daß Moses dieselbe auf dem Sinai gleichzeitig mit dem geschriebenen und dem mündlichen Gesetz erhalten habe, daß sie durch Tradition bis auf die Zeit der Thannaïm gekommen sei, und daß dem Onkelos allein der Ruhm ihrer Niederschrift gebühre. Eine große Anzahl moderner Theologen will in ihr die Grundlage des Christentums sehen und den Namen der zweiten göttlichen Person in dem Wort Mêimra (מימרא) finden, welches in der That „das Wort“, „der Gedanke“, λόγος bedeutet, und welches der Verfasser dem Namen Jehovah substituiert. Thatsache ist, daß in dem ganzen Buch ein der Mischna, dem Talmud, dem ganzen vulgären Judaismus, ja selbst dem Pentateuch entgegengesetzter Geist herrscht; mit einem Wort, die Spuren des Mysticismus sind nicht selten. So wurde es möglich, daß eine Idee an die Stelle einer Sache oder eines Bildes trat, daß der geschriebene Buchstabe dem geistigen Sinn aufgeopfert wurde, und daß der zerstörte Anthropomorphismus die göttlichen Attribute in ihrer Nacktheit sehen ließ.
In einer Zeit, wo der Kultus des Buchstabens bis zur Idololatrie ging, wo die Menschen ihr Leben damit zubrachten, die Verse, Worte und Buchstaben des Gesetzes zu zählen, wo die offiziellen Lehrer, die legitimen Vertreter der Religion nichts Besseres zu thun wußten, als die Intelligenz sowohl als den Willen unter einem Wust äußerlicher Religionsvorschriften zu ersticken, macht uns dieser Abscheu vor allem Materiellen und Positiven, die Gewohnheit, sowohl Grammatik als Geschichte einem hochgeschraubten Idealismus zu opfern, unfehlbar die Existenz einer Geheimlehre klar, welche alle charakteristischen Eigenschaften und Prätensionen des Mysticismus besitzt und die sicher nicht erst von dem Tage stammt, an welchem ihre Existenz verlautbarte.
Ohne der Sache zu viel Gewicht beizulegen, sei noch bemerkt, daß die Kabbalisten ihre Zuflucht zu wenig rationellen Mitteln nahmen, um zu ihren Zwecken zu gelangen und ihre eigenen Ideen 331in die göttliche Offenbarung einzuführen. Eines dieser Mittel bestand in der Bildung eines neuen Alphabets, wobei man die Buchstaben nach ihrem Zahlenwert betrachtete oder sie vielmehr nach einer durch denselben gegebenen Ordnung vertauschte. Diese Methode wird häufig im Talmud angewendet, wurde aber schon weit früher in der chaldäischen Paraphrase des Jonathan ben Usiel gebraucht, eines Schülers und Zeitgenossen von Hillel dem Älteren, welcher während der ersten Regierungsjahre des Herodes in hohem Ansehen stand. Es ist richtig, daß ähnliche Prozeduren unterschiedslos den verschiedensten Ideen dienen können, aber man findet nicht leicht eine künstliche Sprache, deren Schlüssel man sowohl nach seinem Willen verbergen kann, wenn man entschlossen ist, seine Gedanken der großen Menge zu verbergen. Aber, obschon der Talmud oft analoge und weit ältere ähnliche Methoden anwendet, auf welche wir zurückkommen werden, so ist diese doch die seltsamste. Vergleicht man alle zusammen, so kommt man zu dem Schluß, daß vor dem Ende des ersten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung sich geheimnisvoll unter den Juden eine hochverehrte Wissenschaft sich verbreitete, welche von der Mischna, dem Talmud und der heiligen Schrift sehr verschieden ist, eine mystische Lehre, welche von dem Bedürfnis der Reflexion und Selbständigkeit, besser gesagt, der Philosophie, erzeugt wurde, und in welcher man mit Vorliebe die Autorität der Tradition und der heiligen Schrift vereinigt sah.
Die Urheber dieser Lehre, welche man jetzt Kabbalisten nennt, dürfen nicht mit den Essäern verwechselt werden, welche schon bedeutend früher bekannt waren und ihre Gebräuche wie ihren Glauben bis in das Zeitalter Justinians erhielten. Wenn wir Philo und Josephus, den einzigen vertrauenswürdigen Berichterstattern über dieselben Glauben schenken[359], so war der Zweck dieser Sekte lediglich ein moralischer und praktischer; sie strebten die Herrschaft des Geistes der Gleichheit und Brüderlichkeit unter den Menschen an, also das Gleiche, was Christus und die Apostel wollten. Die Kabbala aber ist im Gegenteil nach den uns überlieferten alten Zeugnissen eine durchaus spekulative Wissenschaft, welche die Geheimnisse der Gottheit und der Schöpfung entschleiern will. Die Essäer hingegen 332bildeten eine organisierte Gesellschaft, welche mit den religiösen Bruderschaften des Mittelalters vergleichbar ist; ihre Anschauungen wie ihre Ideen reflektierten sich in ihrem äußern Leben, und sie nahmen alle in ihre Gemeinschaft auf, welche ein reines Leben führten, selbst Frauen und Kinder. Die Kabbalisten waren im Gegensatz zu den Essäern von ihrem ersten Auftreten an in Geheimnisse gehüllt. Erst nach und nach öffneten sie unter tausend Vorsichtsmaßregeln einem neuaufgenommenen Adepten die Thüre ihres Sanktuarium ein wenig, bei dessen Auswahl sie jedoch nur die Elite des Geistes berücksichtigten und darauf sahen, daß sein Alter wie seine Weisheit Garantien für seine Verschwiegenheit boten. Die Essäer scheuten sich ungeachtet der pharisäischen Strenge, mit welcher sie den Sabbath feierten, nicht, öffentlich die Traditionen zu verwerfen und zuzugestehen, daß die Moral weit über dem Kultus stehe, und waren sogar bezüglich desselben weit entfernt, die vom Pentateuch vorgeschriebenen Opfer darzubringen und die anbefohlenen Ceremonien auszuüben. Aber die Adepten der Kabbala banden sich wie die Karmaten unter den Mohammedanern und die meisten christlichen Mystiker streng an die äußerlichen Gebräuche; sie hielten sich genau an die Tradition, welche sie zu ihren Gunsten auslegten, und mehrere von ihnen waren – wie schon gesagt – berühmte Mischnagelehrte, und auch noch in den späteren Zeiten wurden sie selten diesen Geboten der Klugheit untreu.
Wir kommen jetzt zu den Originalschriften, in welchen nach der allgemein verbreiteten Meinung das kabbalistische System seit seiner Entstehung niedergelegt ist. Nach den uns erhaltenen Titeln scheinen sie sehr zahlreich gewesen zu sein, allein wir beschäftigen uns hier nur mit denjenigen, welche vollständig erhalten geblieben sind und unsere Aufmerksamkeit sowohl durch ihre Wichtigkeit als durch ihr Alter fesseln. Dieselben entsprechen also der Überlieferung des Talmud, daß die Kabbala in die Geschichte der Schöpfung und die heilige Merkaba zerfällt. Das eine ist betitelt: „Buch der Schöpfung“ (ספר יצירה) und enthält, ich will nicht sagen ein physikalisches, wohl aber ein kosmologisches System, welches einer Epoche und einem Land entspricht, wo der Geist gewohnt war, alle Naturvorgänge aus einem unmittelbaren Eingreifen der Gottheit zu erklären, und in welcher demgemäß allgemeine Beziehungen und oberflächliche Beobachtungen für Naturwissenschaft galten. Das andere Buch ist „Sohar“ (זהר) „Licht“ genannt nach den Worten des Propheten Daniel[360]: „Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz.“ Der Sohar beschäftigt sich ausschließlich mit Gott, den Geistern und der menschlichen Seele, mit einem Wort, mit der intellektuellen Welt. Wir sind weit von der Annahme entfernt, daß beide Bücher von gleichem Wert und gleicher Wichtigkeit 334sind. Das zweite ist viel umfangreicher, viel reichhaltiger, aber auch viel schwieriger als das erste und verdient eine weit eingehendere Behandlung. Jedoch müssen wir uns zunächst mit dem ersten als dem älteren beschäftigen.
Man hat sich zu Gunsten des Alters des Sepher Jezirah auf den Talmud berufen und dabei viel Scharfsinn vergeblich verschwendet. Wir übergehen also die diesbezüglichen umlaufenden Legenden und Kontroversen mit Stillschweigen und suchen nur den Inhalt des Buches kennen zu lernen. Dies wird genügen, seinen Charakter zu taxieren und seinen frühen Ursprung kennen zu lernen.
1. Das System, welches das Buch Jezirah enthält, entspricht genau den Begriffen, welche man sich nach seinem Titel von ihm machen muß, und wir können zunächst folgenden Satz aufstellen:
„Der Ewige, der Herr der Heerscharen, der Gott Israels, der lebende, allmächtige, allerhöchste Gott, der von Ewigkeit ist, und dessen Name hehr und heilig ist, schuf die Welt durch zweiunddreißig Wege der Weisheit.“
2. Die zur Erklärung des Werks der Schöpfung angewandten Mittel, die den Zahlen und Buchstaben beigelegte Wichtigkeit machen es begreiflich, wie Unwissenheit und Aberglaube in späterer Zeit das angewandte Prinzip mißbrauchten, wie sich die bekannten über die Kabbala umlaufenden Fabeln verbreiteten, und wie die sogenannte praktische Kabbala entstehen konnte, welche durch die Kraft der Buchstaben und Zahlen den Lauf der Natur verändern zu können glaubt.
Die Darstellungsweise des Jezirah ist einfach und schwerfällig, und man findet nicht das Geringste, was einem Beweis oder einer Begründung gleicht; es enthält nur in eine ziemlich regelmäßige Ordnung getheilte Aphorismen, welche ungefähr die gleiche Bündigkeit wie die alten Orakel besitzen. Eine Thatsache ist frappant, daß nämlich das in späterer Zeit ausschließlich für „Seele“ gebrauchte Wort[361] gerade wie im Pentateuch und im ganzen alten Testament überhaupt für den lebenden, von der Seele noch nicht verlassenen Leib gebraucht wird. Außerdem finden sich mehrere Worte fremden Ursprungs. So gehören z. B. die Namen der Planeten und des 335himmlischen Drachens[362] der Sprache der Chaldäer an, welche zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft einen fast allmächtigen Einfluß auf die Juden ausübten. Hingegen wird man keinem der vielen griechischen und arabischen Ausdrücke begegnen, wie sie im Talmud oder in den Werken einer Zeit vorkommen, in welcher die hebräische Sprache bereits in den Dienst der Wissenschaft und Philosophie getreten war. Wir kommen also zu dem Schluß, daß das Buch Jezirah zu einer Zeit, wo die jüdische Civilisation noch nicht an der griechischen und arabischen teilnahm, ja vielleicht schon vor der Entstehung des Christentums abgefaßt wurde. Wir müssen jedoch zugestehen, daß es nicht schwer ist, in dem uns beschäftigenden Werk Spuren der Sprache und Philosophie des Aristoteles nachzuweisen. Nach dem oben citierten Satz, laut welchem der Ewige die Welt auf zweiunddreißig wunderbaren Wegen der Weisheit schuf, gebraucht das Buch Jezirah noch die Ausdrücke: „der, welcher zählt, das Gezählte und die Handlung des Zählens“, was schon die ältesten Kommentatoren durch „Subjekt, Objekt und die Handlung der Reflexion oder das Denken“ auslegen. Es ist unmöglich, sich dabei nicht an den berühmten Satz des zwölften Buches der Metaphysik des Aristoteles zu erinnern: „Die Intelligenz begreift sich selbst, indem sie das Intelligible wahrnimmt, und sie wird selbst intelligibel durch den Akt des Begreifens und Einsehens, insofern nämlich die Intelligenz und das Intelligible identisch sind.“ Jedoch liegt es auf der Hand, daß obige Worte später hinzugesetzt sind, insofern sie weder mit dem Satz selbst, noch im Vorausgehenden und Folgenden; sie kommen überhaupt im ganzen Verlauf des Werkes nicht wieder zum Vorschein, obgleich in demselben in der umfangreichsten Weise von dem Gebrauch der zehn Zahlen und zweiundzwanzig Buchstaben die Rede ist, welche die zweiunddreißig Wege bilden, deren sich die Gottheit bei der Schöpfung bediente. Man begreift endlich kaum, wie sie ihren Platz in einem Werk finden konnten, in welchem nur die Rede von den verschiedenen Beziehungen der verschiedenen Teile der materiellen Welt ist. Was nun die Abweichungen der beiden Manuskripte der Mantuaer Ausgabe[363] 336anlangt, von denen das eine am Schluß des Bandes, das andere inmitten anderer Traktate abgedruckt ist, so sind dieselben nicht im Entferntesten so bedeutend, als manche moderne Kritiker annehmen wollen. Bei einer unparteiischen und eingehenden Vergleichung findet man nur einige unbedeutende Varianten, welche sich bei dem hohen Alter des Sepher Jezirah im Laufe der Jahrhunderte sehr leicht durch die Unaufmerksamkeit der Abschreiber und Kommentatoren einschleichen konnten. Andererseits behandeln die beiden Manuskripte nicht nur denselben Stoff, dasselbe von einem allgemeinen Standpunkt aus betrachtete System, sondern sie haben auch die gleiche Einteilung, die gleiche Kapitelzahl und den gleichen Inhalt der Kapitel; endlich aber sind die gleichen Gedanken mit den gleichen Ausdrücken dargestellt. Aber man findet nicht die gleiche Übereinstimmung in der Zahl und Stellung derjenigen Sätze, welche unter dem Namen Mischna hier und da eingestreut sind. Hier hat man sich nicht vor überflüssigen Wiederholungen gehütet, an der einen Stelle die Sätze unnötig zusammengehäuft und an der andern ungerechtfertigt getrennt und vereinzelt. Endlich erscheint ein Satz klarer als der andere, weniger bezüglich des Wortlautes als hinsichtlich des Gedankenganges. Wir wollen nur eine einzige Stelle anführen, bei welcher dieser letztere Unterschied auffällig hervortritt. Das eine Manuskript sagt ganz einfach, daß der Urbeginn des Alls der Geist des lebendigen Gottes sei; das andere Manuskript fügt hinzu, daß dieser Geist Gottes der heilige Geist sei, welcher gleichzeitig Geist, Stimme und Wort sei. Ohne Zweifel ist dieser Gedanke von hoher Wichtigkeit, aber er fehlt auch nicht in dem Manuskript, wo er weniger klar dargestellt ist, und er bildet, wie wir bald sehen werden, die Grundlage und das Schlußergebnis des ganzen Systems. Übrigens wurde „das Buch der Schöpfung“ zu Anfang des zehnten Jahrhunderts ins Arabische übersetzt und kommentiert von Rabbi Saadiah, einem großen Geist und methodischen, klugen Kopf; derselbe hält es für eines der ältesten und frühesten Denkmäler des menschlichen Geistes. Wir fügen, ohne diesem Zeugnis einen zu großen Wert beizulegen, hinzu, daß die ihm während des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts folgenden Kommentatoren der gleichen Meinung sind.
Wie alle Werke einer weit zurückliegenden Zeit ist auch das 337uns beschäftigende ohne Titel und Namen des Verfassers; jedoch schließt es mit folgenden merkwürdigen Worten:
„Und als Abraham, unser Vater, alle diese Dinge betrachtet, untersucht, ergründet und erforscht hatte, offenbarte sich ihm der Herr der Welt und nannte ihn seinen Freund und machte ein ewiges Bündnis mit ihm und seiner Nachkommenschaft. Und Abraham glaubte an Gott, und dies ward ihm als ein Werk der Gerechtigkeit angerechnet, und der Glanz Gottes fiel auf ihn, denn von ihm sind die Worte gesprochen: Siehe, ich habe dich gekannt, ehe du im Mutterleib gebildet wurdest.“
Diese Stelle kann nicht als eine neue Erfindung gelten, denn sie findet sich in den beiden mantuanischen Texten und den meisten alten Kommentaren. Wahrscheinlich wurde sie im Interesse des „Buches der Schöpfung“ untergeschoben, damit es scheine, als ob der Stammvater der Hebräer der Verfasser dieses Buches sei und durch dasselbe zu dem Gedanken eines einzigen und allmächtigen Gottes gelangt sei. Ferner existiert unter den Juden eine Tradition, nach welcher Abraham große astronomische Kenntnisse besaß und sich allein durch die Betrachtung der Natur zu der Idee des wahren Gottes emporgeschwungen habe. Nichtsdestoweniger hat man bis heute obige Worte auf eine grobmaterielle Weise interpretiert. Man glaubte nämlich, daß Abraham der Verfasser sei und nannte seinen Namen mit einer religiösen Scheu. Folgendes sind die Ausdrücke, mit denen Moses Botril seinen Kommentar des Sepher Jezirah beginnt:
„Unser Vater Abraham, Friede sei mit ihm, schrieb gegen die Weisen seiner Zeit, welche nicht an das Prinzip der Einheit glaubten. Wenigstens sagt so Rabbi Saadiah – das Andenken dieses Gerechten sei gesegnet! – im ersten Kapitel seines Buches, welches den Titel führt: der Stein der Weisen.[364] Ich führe seine eigenen Worte an: Die chaldäischen Weisen bekämpften unsern Vater Abraham um seines Glaubens willen. Die chaldäischen Weisen aber zerfielen in drei Sekten. Die erste glaubte, daß das Weltall zwei in der Art ihrer Thätigkeit durchaus verschiedenen Grundursachen unterworfen sei, von denen die eine zu zerstören versuche, was die 338andere geschaffen habe. Es ist dies die Anschauung der Dualisten, die sich auf ein System stützen, welches auf die Urheber des Guten und des Bösen gegründet ist. Die zweite Sekte nimmt drei Grundprinzipien an, nämlich die eben genannten, welche sich gegenseitig aufheben, und das aus dieser Aufhebung entspringende Nichts. Die dritte Sekte endlich erkennt keinen anderen Gott als die Sonne an, welche sie als das Grundprinzip des Werdens und Vergehens betrachtet.“
Ungeachtet der großen und allgemein respektierten Autorität des Moses Botril können wir seine Meinung nur als eine ganz vereinzelte betrachten, denn an die Stelle des Namens von Abraham ist längst der des Ben Akiba getreten, eines der fanatischsten Träger der Tradition und eines der vielen Märtyrer der Freiheit seines Landes, welcher verdient, zu den bewundernswertesten Helden gezählt zu werden, wie sie je in Athen und Rom eine Rolle spielten. Uns erscheint jedoch diese letztere Annahme ebenso unwahrscheinlich und nicht besser begründet als die erstere. Überall, wo der Talmud Akiba erwähnt, erscheint er als ein fast göttliches, selbst über Moses hinausragendes Wesen, jedoch repräsentiert er sich in keiner Weise als eine der Leuchten der Merkaba oder der Weisheit der Genesis, nichts läßt vermuten, daß er das „Buch der Schöpfung“ geschrieben habe oder irgend ein Buch von ähnlicher Beschaffenheit, und im Gegenteil tadelt man ganz positiv an ihm, daß er von der Gottheit gerade keine sehr erhabenen Anschauungen gehabt habe. So sagt z. B. Rabbi Joseph von Galiläa: „O Akiba, wie sehr vermischest du Gewöhnliches mit der göttlichen Majestät.“ Nur die Begeisterung, welche er einflößte, die Geduld, mit welcher er Regeln für alle Lebenslagen aufstellte, der von ihm vierzig Jahre lang gezeigte religiöse Eifer und endlich der Heroismus seines Todes haben der Tradition ein gewisses Gewicht gegeben; hingegen stimmen die ihm zugeschriebenen vierundzwanzigtausend Schüler durchaus nicht mit dem Verbot der Mischna überein, auch nur das geringste Geheimnis der Kabbala bekannt zu machen.
Einige neuere Kritiker haben geglaubt, es hätten zwei verschiedene Bücher unter dem Titel Sepher Jezirah existiert, von denen das dem Abraham zugeschriebene und im Talmud erwähnte längst verloren gegangen und nur das neuere uns erhalten geblieben sei. 339Morin, der Verfasser der Exercitationes biblicae, entnimmt einem Chronisten des 16. Jahrhunderts folgende Stelle, an welcher sich derselbe über Akiba äußert: „Derselbe hat das Buch der Schöpfung zu Ehren der Kabbala geschrieben; es existierte aber noch ein anderes von Abraham geschriebenes Buch der Schöpfung, über welches Rabbi Moses ben Nachman (abgekürzt Ramban genannt[365]), einen großen und wunderbaren Kommentar schrieb.“ Dieser zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts geschriebene und in der Mantuaer Ausgabe einige Jahre nach der erwähnten Chronik gedruckte Kommentar entspricht auf das Genaueste dem Buche Jezirah, wie wir es noch heute besitzen. Die meisten seiner Ausdrücke sind genau hinübergenommen, und es liegt auf der Hand, daß der von uns genannte Chronist den Kommentar nicht gelesen hat. Endlich ist der erste, welcher an die Stelle des Namens von Abraham den des Akiba setzte, ein Kabbalist des 16. Jahrhunderts, Isaak Delares, welcher in seiner Vorrede zum Sohar fragt: „Wer hat Rabbi Akiba erlaubt, unter dem Namen Mischna das Buch Jezirah zu schreiben, da dasselbe ein Buch ist, welches seit Abraham mündlich überliefert wurde?“ Allerdings ist dieser Ausspruch der Fiktion, welche wir zerstören wollen, entgegenstehend; aber nichtsdestoweniger beruht dieselbe auf der eben genannten Autorität. Der Verfasser des „Buches der Schöpfung“ ist noch nicht entdeckt, und es ist nicht unsere Sache, den über seinem Namen liegenden Schleier zu lüften; ja wir glauben sogar, daß dies bei dem geringen vorliegenden Material unmöglich ist. Diese Ungewißheit kann sich aber nicht auf die im Sepher Jezirah demonstrierten Lehrsätze erstrecken, welche das philosophische Interesse erwecken müssen, das dieser Stoff beanspruchen kann.
Ein lebhaftes Interesse, aber auch große Schwierigkeiten sind mit dem jetzt zu besprechenden litterarischen Denkmal, dem Sohar oder „Buch des Lichtes“, dem Universalkodex der Kabbala verbunden. In der bescheidenen Form eines Kommentars zum Pentateuch berührt er mit großer Unabhängigkeit alle geistigen Fragen und erhebt sich manchmal zu Lehren, welche dem größten Genie unserer Zeit zur Ehre gereichen würden. Aber er ist weit entfernt, sich beständig auf dieser Höhe zu erhalten, sondern steigt oft zu einer Sprache, zu Ausdrücken und Ideen herab, welche den äußersten Grad von Unwissenheit und Aberglauben verraten. Man findet in ihm einerseits die Einfachheit und den naiven Enthusiasmus der biblischen Zeit, andererseits Namen, Thatsachen, Kenntnisse und Gebräuche, welche auf eine ziemlich vorgerückte Epoche des Mittelalters deuten. Diese Ungleichheit der Form wie des Inhalts, die bizarre, die verschiedensten Zeiten ineinander werfende Mischung des Charakters, das fast völlige Schweigen der beiden Talmud und endlich das Fehlen positiver Dokumente bis zum Schluß des 13. Jahrhunderts haben die verschiedensten Meinungen über den Ursprung und den Verfasser dieses Buches aufkommen lassen. Wir wollen zunächst die ältesten und zuverlässigsten Zeugnisse beibringen und sprechen lassen, bevor wir unsere eigene Meinung über diese schwierige Frage kund thun.
Alles, was man über die Entstehung und das Alter der Sohar sagt und vermutet, ist in einer durchaus unparteiischen Weise zwei Schriftstellern entnommen. Der erste derselben, Abraham ben Zakuth (um 1492) sagt in seinem „Buch der Genealogien“:
„Der Sohar, dessen Strahlen die Welt erleuchten und die tiefsten Geheimnisse des Gesetzes und der Kabbala enthüllen, ist nicht das Werk des Simon ben Jochai, obgleich er unter dessen Namen veröffentlicht wurde. Aber es ist von seinen Schülern verfaßt, welche es wiederum ihren Schülern anvertrauten und denselben die Fortsetzung ihrer Arbeit zur Aufgabe machten. Die mit der Wahrheit vollkommen übereinstimmenden Worte des Sohar wurden von Männern niedergeschrieben, welche spät genug lebten, um die Bestimmungen der Mischna und die Vorschriften des mündlichen Gesetzes zu kennen. Dieses Buch wurde erst nach dem Tod von Rabbi Moses ben Nachman (ca. 1309) und Rabbi Ascher (ca. 1320; beide spanische Juden) verbreitet, die es noch nicht kannten.“
Rabbi Gedalia, der Verfasser einer berühmten Chronik unter dem Titel „Kette der Tradition“ sagt:
„Um das Jahr 5500 der Schöpfung (1290 n. Chr.) gab es eine Anzahl Leute, welche annahmen, daß alle im aramäischen Dialekt geschriebenen Theile des Sohar das Werk des Rabbi Simon ben Jochai seien, und daß ihm nur die in heiliger Sprache (dem reinen Hebräisch) abgefaßten nicht zugeschrieben werden dürften. Andere glaubten, daß Rabbi Moses ben Nachman dieses Buch im heiligen Land entdeckt und nach Catalonien geschickt habe, von wo es nach Arragonien und in die Hände des Rabbi Moses von Leon gekommen sei. Wieder Andere waren der Meinung, daß Rabbi Moses von Leon als wohl unterrichteter Mann die Commentare selbst geschrieben und dieselben, um bei den Gelehrten seinen finanziellen Nutzen zu wahren, unter dem Namen des Rabbi Simon ben Jochai und seiner Freunde veröffentlicht habe. Man fügt hinzu, daß er dies gethan habe, weil er arm und von Geschäften erschöpft gewesen sei. Was mich jedoch anlangt, sagt Rabbi Gedalia, so glaube ich, daß alle diese Meinungen grundlos sind, und daß Rabbi Simon ben Jochai mit seinen heiligen Genossen in Wirklichkeit alle diese und noch andere Dinge gesagt haben, daß sie aber zu seiner Zeit noch nicht niedergeschrieben, sondern, nachdem sie lange Zeit in verschiedenen Handschriften umgelaufen waren, gesammelt und geordnet wurden. Man darf sich darüber nicht wundern, denn in gleicher Weise stellten Rabbi Ascher die Gemara und Rabbi 342Judas die Mischna zusammen, deren Manuscripte anfänglich in alle vier Enden der Erde zerstreut waren.“
Wir sehen aus diesen Worten, welchen die moderne Kritik auch nichts Wesentliches hinzuzufügen weiß, daß die uns beschäftigende Frage drei verschiedene Lösungen gefunden hat. Eine Partei schreibt die Urheberschaft des Sohar mit Ausnahme der rein hebräischen Stellen, die übrigens in keiner gedruckten Ausgabe[366] und in keinem bekannten Manuskript vorkommen, dem Rabbi Simon ben Jochai zu. Die andere Partei macht den Sohar zum Werk eines Betrügers, Moses von Leon, und setzt seine Entstehung in den Schluß des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts. Die dritte Partei endlich schlägt einen Mittelweg zwischen beiden Extremen ein: sie läßt Simon ben Jochai die im Sohar enthaltene Philosophie seinen Schülern lehren, welche dieselbe mündlich fortpflanzten, bis nach einigen Jahrhunderten die zerstreuten Niederschriften im Sohar, wie er uns jetzt vorliegt, gesammelt worden seien.
Die erste Anschauung verdient keine ernsthafte Widerlegung, und sie gründet sich auf folgendes dem Talmud entlehnte Faktum[367]:
„Rabbi Jehuda, Rabbi Joseph und Rabbi Simon ben Jochai waren eines Tages versammelt, und bei Ihnen befand sich ein gewisser Jehuda ben Gerim. Da sagte Rabbi Jehuda bezüglich der Römer: Was hat diese Nation groß gemacht? Doch nur das Erbauen von Brücken und die Einrichtung von Märkten und öffentlichen Bädern. – Auf diese Worte hin schwieg Rabbi Joseph, aber Rabbi Simon ben Jochai antwortete: Sie haben dies nur zu ihrem eigenen Nutzen gethan. Sie haben Märkte eingerichtet, um Huren anzulocken; sie haben Brücken gebaut, um Zölle zu erheben, und Bäder, um sich zu erfrischen. Rabbi Jehuda ben Gerim erzählte weiter, was er gehört hatte, und es kam zu den Ohren des Kaisers, welcher befahl: Jehuda, welcher mich gelobt hat, soll erhöht werden; Joseph, welcher schwieg, soll nach Sipora (Sephoris) verbannt, und Simon, welcher mich geschmäht hat, getödtet werden. Daraufhin verbarg sich dieser 343mit seinem Sohn in der Schule, und die Thürhüterin brachte ihm jeden Tag ein Brod und einen Napf Wasser. Aber die Acht, welche auf ihn gelegt war, war sehr schwer, und Simon sprach zu seinem Sohn: Die Frauen sind von schwachem Charakter; deshalb steht zu befürchten, daß unsere Thürhüterin, wenn man ihr mit Fragen zusetzt, uns verräth. Auf diese Betrachtungen hin verließen sie ihr Asyl und verbargen sich in einer Höhle. Dort schuf Gott durch ein Wunder zu ihren Gunsten einen Johannisbrotbaum und eine Quelle. Simon und sein Sohn legten ihre Kleider ab, vergruben sich bis an den Hals in den Sand und brachten ihre Tage mit der Betrachtung des Gesetzes zu. So lebten sie in dieser Höhle zwölf Jahre lang, bis der Prophet Elias am Eingang ihres Zufluchtsortes erschien und ihnen zurief: Wer verkündet dem Sohn des Jochai, daß der Kaiser gestorben und sein Befehl vergessen ist? Darauf gingen sie hinweg, lebten wie andere Menschen und bebauten das Land.“
Während dieser zwölf Jahre der Einsamkeit und Verbannung soll nun nach dem Talmud Simon ben Jochai mit Hilfe seines Sohnes Eleazar das berühmte Werk geschrieben haben, an welches sein Name geknüpft blieb. Aber, selbst wenn man aus dieser Erzählung die beigemengten fabelhaften Umstände ausscheidet, ist es noch immer sehr schwierig, die daraus gezogenen Folgerungen zu rechtfertigen, denn man kann natürlich unmöglich sagen, was die Resultate der Betrachtungen waren, durch welche die beiden Proskribierten ihre Qualen zu vergessen suchten. Endlich findet man im Sohar eine Menge von Thatsachen und Namen, welche Simon ben Jochai, der nicht lang nach der Zerstörung Jerusalems um den Anfang des zweiten christlichen Jahrhunderts starb, unmöglich kennen konnte. Wie konnte er z. B. von den sechs Teilen sprechen[368], in welche die etwa sechzig Jahre später geschriebene Mischna zerfällt? Wie konnte er die Autoren und Vorschriften der Gemara erwähnen[369], welche nach dem Tod des heiligen Judas begonnen und fünfhundert Jahre nach Christus vollendet wurde? Wie konnte er die Namen, die Gesichtspunkte und andere Eigentümlichkeiten 344der Schule von Tiberias kennen, welche erst zu Anfang des sechsten christlichen Jahrhunderts entstand? Ja manche Kritiker wollen sogar die mohammedanischen Araber im Sohar unter dem Namen der Ismaëliten erwähnt finden, und es ist in der That sehr schwer, sich der Beweiskraft folgenden Satzes zu verschließen:
„Der Mond ist sowohl das Zeichen des Guten als des Bösen. Der Vollmond ist das Gute, der Neumond das Böse. Und weil er sowohl das Gute als das Böse in sich begreift, so haben ihn sowohl die Kinder Israels als Ismaels ihrer Rechnung zu Grund gelegt. Wenn eine Mondfinsterniß eintritt, so ist dies ein böses Zeichen für Israel, tritt dagegen eine Sonnenfinsterniß ein, so ist es ein solches für Ismael. Also bewahrheiten sich die Worte des Propheten: Die Weisheit der Weisen wird zu Grunde gehen, und die Klugheit der Klugen wird verdunkelt werden.“
Es muß jedoch bemerkt werden, daß diese Worte nicht im Text, sondern in einem weit jüngeren Kommentar stehen, welcher den Titel führt: „der gute Hirte“, רעיא מהימנא, und daß sie die ersten Herausgeber aus eigener Machtvollkommenheit dem Sohar hinzufügten, weil sie an der betreffenden Stelle eine Lücke zu finden glaubten.
Man hat im Sohar selbst noch eine bestimmtere Stelle finden wollen, welche ein Schüler des Simon ben Jochai aus dem Munde seines Meisters gehört haben will:
„Wehe über den Augen, da Ismael zur Welt geboren wurde und das Zeichen der Beschneidung annahm. Denn was that der Herr, dessen Name gelobt sei? Er schloß die Kinder Ismaels von der himmlischen Verbindung aus. Aber da sie das Verdienst hatten, das Zeichen des Bundes angenommen zu haben, so behielt er ihnen für ihren Theil den Besitz des heiligen Landes vor. Also sind die Kinder Ismaels bestimmt, das heilige Land zu beherrschen, und sie hindern die Kinder Israels dorthin zurückzukehren. Aber dies wird nur bis zu der Zeit dauern, in welcher das Verdienst der Kinder Israels erloschen sein wird. Alsdann werden sie schreckliche Kriege entfesseln, und die Kinder Edoms werden sich gegen sie vereinigen und sie schlagen zu Wasser, zu Land und bei Jerusalem. Der Sieg wird bald auf der einen und bald auf der andern Seite sein, aber das heilige Land wird nicht in die Hände der Kinder Edoms gegeben werden.“
Zum richtigen Verständnis dieser Zeilen sei bemerkt, daß die hebräisch schreibenden jüdischen Schriftsteller unter den Kindern Israels sowohl das heidnische, als das christliche Rom, als auch die Christenheit überhaupt verstehen. Da nun hier nicht vom heidnischen Rom die Rede sein kann, so hat man in dieser Stelle die Niederlagen der Sarazenen gegen die Christen während der Kreuzzüge vor der Eroberung Jerusalems sehen wollen. Was die Prophezeiung des Simon ben Jochai anlangt, so habe ich wohl kaum nötig zu sagen, welches Gewicht sie unserer Ansicht nach besitzt. Auch will ich mich nicht lange bei der Darstellung der heute allgemein bekannten und von der modernen Kritik zur Genüge wiederholten Thatsachen aufhalten. Ich will nur einen für unser endliches Urteil ganz besonders wichtigen Umstand anführen. Um die Überzeugung zu gewinnen, daß Simon ben Jochai nicht der Verfasser des Sohar, und dieses Buch selbst nicht die Frucht dreizehnjähriger Betrachtungen und der Einsamkeit sein kann, genügt es, einige Aufmerksamkeit auf die Erzählungen zu verwenden, welche fast stets mit der Entwickelung des Gedankenganges verbunden sind. So vereinigte nach dem Idra Suta (אדרא זוטא) genannten Fragment, welches eine in jeder Hinsicht bewundernswürdige Episode in dieser ungeheuren Kompilation bildet, Rabbi Simon vor seinem Tode eine kleine Anzahl seiner Schüler und Freunde um sich, unter welchen sich sein Sohn Eleazar befand. Simon sagte zum Letzteren: Du wirst studieren, Rabbi Aba wird schreiben und meine andern Freunde werden stillschweigend ihren Betrachtungen nachhängen. An allen andern Stellen spricht der Meister in den seltensten Fällen; wohl aber sind seine Worte im Munde seiner Söhne und Freunde, welche sich noch nach seinem Tod versammeln, um ihre Erinnerungen auszutauschen und sich gegenseitig über den rechten Glauben zu belehren nach den Worten der heiligen Schrift: Siehe, wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen! – Begegnen sich einige seiner Schüler unterwegs, so dreht sich ihre Unterhaltung sofort um den gewöhnlichen Gegenstand ihrer Betrachtungen und sie beginnen irgend eine Stelle des alten Testaments in einem geistigen Sinn auszulegen. Hier ein Beispiel statt tausend: Rabbi Jehuda und Rabbi Joseph waren unterwegs, und der erstere sprach zu seinem Reisegefährten: Sage mir etwas vom Gesetz, denn wenn der Mensch 346die Worte des Gesetzes betrachtet, so steigt der Geist Gottes zu ihm herab oder geht vor ihm her, um ihn zu führen.[370]
Man pflegt endlich, wie wir bereits oben sagten, Bücher zu citieren, von denen nur vereinzelte Bruchstücke auf uns gekommen sind, die aber notwendiger Weise älter als der Sohar sein müssen. So wollen wir nur folgende Stelle hierhersetzen, von welcher man glauben könnte, daß sie von einem Schüler des Copernicus geschrieben sein müsse, wenn ihr Ursprung nicht mit voller Gewißheit spätestens in das Ende des 13. Jahrhunderts zu setzen wäre[371]:
„Im Buch des Rabbi Hamnuna des Ältern wird vermittelst verschiedener Erklärungen gelehrt, daß sich die Erde um sich selber kreisförmig dreht, daß Einige oben und Andere unten sind, daß alle Menschen nacheinander in gleicher Lage die verschiedenen Stellungen des Himmels zu Gesicht bekommen, daß ein Theil der Erde erleuchtet ist, während der andere in Dunkelheit liegt, daß ein Theil der Menschen Tag hat, während es bei den andern Nacht ist, daß es Gegenden giebt, wo es beständig Tag ist, oder wo wenigstens die Nacht nur wenige Augenblicke dauert.“
Es liegt auf der Hand, daß der Verfasser des Sohar, sei er, wer er sei, gewiß nicht Rabbi Simon ben Jochai sein kann, dessen Tod und letzte Augenblicke darin erzählt werden.
Sind wir aber deshalb genötigt, die Ehre seiner Urheberschaft einem obskuren Rabbi des dreizehnten Jahrhunderts, einem unglückseligen Charlatan, zuschreiben zu müssen, welcher seinem Elend auf eine ebenso unwürdige als unsichere Weise ein Ende machen wollte? Ganz gewiß nicht. Und selbst wenn wir die innerste Natur, den innersten Wert des Buches prüfen, so macht es nicht die mindeste Mühe darzulegen, daß diese Ansicht ebensowenig als die erste begründet ist. Doch müssen wir zu ihrer Widerlegung positive Beweisgründe beizubringen suchen.
Der Sohar ist in aramäischer Sprache geschrieben, welche keinem ausgesprochenen Dialekt angehört. Welche Absicht könnte wohl Rabbi Moses von Leon gehabt haben, als er sich eines Idioms bediente, das zu seiner Zeit gar nicht gebräuchlich war? Wollte 347er, wie ein neuerer, bereits angeführter Kritiker annimmt[372], seinen Erdichtungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit geben, wenn er die Personen des Sohar, unter deren Namen er seine Ideen einschmuggelte, in der Sprache ihrer Zeit reden läßt? Aber selbst, wenn er so ausgedehnte Kenntnisse besessen hätte, so würde er selbst nach der Meinung der von uns hier bekämpften Gegner nicht haben übersehen dürfen, daß Simon ben Jochai und seine Freunde zu den Verfassern der Mischna gehören, deren gewohnte Sprache der jerusalemitische Dialekt war, und welche demnach gewiß hebräisch geschrieben hätten. Er würde sich also gewiß der letzteren Sprache bedient haben, wenn er den Sohar durch Einschmuggelung seiner eigenen Ideen hätte fälschen wollen, welcher Betrug sicher bald entdeckt worden wäre. Da wir aber nirgends etwas dergleichen auf unsere Zeit Gekommenes finden, so braucht uns obige Annahme nicht mehr zu beschäftigen.
Aber sei sie wahr oder falsch, sie dient zur Bekräftigung folgenden Umstandes:
Wir wissen mit größter Gewißheit, daß Moses von Leon in hebräischer Sprache ein kabbalistsches Werk unter dem Titel: „der Name Gottes“ oder einfach „der Name“ (ספר השם) schrieb. Moses Corduero besaß dieses noch handschriftlich erhaltene Werk und bringt daraus mehrere Stellen bei, aus welchen sich ergiebt, daß es ein sehr subtiler und detaillierter Kommentar über einige der dunkelsten Stellen der Lehren des Sohar ist, wie z. B.: Welches sind die verschiedenen Kanäle oder – so zu sagen – Influenzen, wechselseitige Rapporte, welche zwischen den Sephiroth bestehen und die das göttliche Licht oder die Ursubstanz der Dinge von dem einen zum andern führen? Läßt sich nun annehmen, daß derselbe Mann, welcher den Sohar in chaldäisch-syrischer Sprache geschrieben haben soll, um die Schwierigkeiten desselben noch durch den Dialekt zu vermehren, um die in ihm erhaltenen Gedanken dem Volk zu verschleiern, im Hebräischen entschleierte und preisgab, was er in einer selbst von den Gelehrten halbvergessenen Sprache so ängstlich zu verbergen gesucht hatte? Glaubt man wirklich, daß er durch diesen Wechsel der Methode bei seinen Lesern Erfolg erzielt haben 348würde? Es ist in der That viel zu viel Zeit und Mühe mit viel zu gelehrten und komplizierten Kombinationen verschwendet worden, um einen unbedeutenden Mann der dümmsten Widersprüche und gröbsten Anachronismen zu beschuldigen.
Ein anderer Grund zwingt uns, den Sohar für weit älter als Moses von Leon und für nicht europäischen Ursprungs zu halten, nämlich der, daß man nirgends eine Spur aristotelischer Philosophie und keine Erwähnung des Christentums und seines Begründers findet, und es ist doch allbekannt, daß während des 13. und 14. Jahrhunderts in Europa das Christentum und Aristoteles unbeschränkt herrschten. Wie könnte man also annehmen, daß in einer so fanatischen Zeit ein armer spanischer Rabbi, welcher in unverständlicher Sprache über religiöse Stoffe schrieb, der Anklage entgangen wäre, welche so oft gegen spätere Schriftsteller erhoben wurde, nämlich, daß sie sich nicht wie Saadiah, Maimonides und ihre Nachfolger von dem unwiderstehlichen Einfluß der peripatetischen Philosophie hätten frei machen können? Man lese aber alle Kommentare des „Buches der Schöpfung“ und werfe einen Blick auf alle religiösen und philosophischen Schriften seiner Zeit, und man wird überall der Sprache des Organon und der unbeschränkten Herrschaft der Philosophie des Stagyriten begegnen. Das Fehlen dieses Merkmals im Sohar ist aber von einer nicht hoch genug zu schätzenden Bedeutung. Man kann in den zehn Sephiroth, von denen wir weiter unten ausführlich sprechen werden, keine verkappte Nachahmung der aristotelischen Kategorien sehen, weil nämlich die letzteren nur einen logischen Wert besitzen, die ersteren hingegen ein erhabenes metaphysisches System darstellen. Wenn einige Teile der Kabbala ja einem System der griechischen Philosophie ähneln, so ist es das System Platos, welcher ja bekanntlich einem gewissen Mysticismus ergeben war; Plato war aber damals außerhalb seines Vaterlandes sehr wenig bekannt.
Endlich aber bemerken wir, daß die im Sohar gebrauchten Ideen und Ausdrücke, welche zur Erläuterung des kabbalistischen Systems dienen, in weit älteren Schriften als solchen vorkommen, die zu Ende des 12. Jahrhunderts abgefaßt wurden. So ist z. B. der von uns schon genannte Moses Botarel, einer der Kommentatoren des Sepher Jezirah, der die Emanationstheorie nach den 349Anschauungen der Kabbalisten lehrt, von Saadiah wohl gekannt, denn dieser führt folgende Stelle des ihm zugeschriebenen „der Stein der Weisen“ genannten Buches an:
„O du, der du aus den Cisternen schöpfst, hüte dich, wenn man dich versuchen will, die Emanationslehre zu enthüllen, denn dieselbe ist ein großes Geheimniß im Munde der Kabbalisten, und ein anderes Geheimniß ist enthalten in den Worten des Gesetzes: Ihr sollt den Herrn nicht versuchen!“
Aber Saadiah greift die Emanationslehre, welche die Grundlage des ganzen im Sohar entwickelten Systems ist, heftig in seinem „Glauben und Meinen“ betitelten Buch an, wie einwandsfrei aus folgender Stelle desselben hervorgeht[373]:
„Ich bin oft Leuten begegnet, welche die Existenz eines Schöpfers nicht leugnen, aber nicht begreifen, wie unser Geist fassen könne, daß irgend etwas aus nichts geschaffen sei. Da nun der Schöpfer das einzige Wesen ist, welches von Anbeginn an existiert, so muß ihrer Meinung nach das Weltall aus der eigenen Wesenheit des Schöpfers hervorgegangen sein. Diese Leute (Gott behüte euch vor ihren Anschauungen) sind noch sinnlicher als alle andern, von denen wir bisher gesprochen haben.“
Der Sinn dieser Worte wird noch klarer, wenn man in demselben Kapitel liest, daß der Glaube, auf welchen sie anspielen, durch die Worte bei Hiob[374] gerechtfertigt werde: „Woher kommt denn die Weisheit? Und wo ist die Stätte des Verstandes? – Gott weiß den Weg dazu und kennet ihre Stätte.“ Man findet hier in der That die Namen, welche der Sohar den drei ersten und obern Sephiroth weiht, und die alle andern in sich fassen: nämlich die Weisheit, den Verstand und die Stätte. Anstatt Stätte sagen nun die Kabbalisten „das Nichtseiende“ und nennen sie so, weil das Nichtseiende das Unendliche ohne Attribut, Form und Eigenschaft in einem unbegreiflichen Zustand ohne Realität repräsentiert.[375] „Dies ist der aus dem Nichtseienden gezogene Sinn“, sagen die Kabbalisten.
Derselbe Autor giebt uns auch eine psychologische Theorie, welche völlig identisch mit der Simon ben Jochai zugeschriebenen 350ist[376] und lehrt uns, daß das im Sohar[377] enthaltene Dogma der Präexistenz und Rëincarnation zu seiner Zeit von Leuten angenommen worden sei, welche nur dem Namen nach Juden gewesen seien und ihre extravagante Meinungen durch das Zeugnis der heiligen Schrift zu stützen gesucht hätten.
Dies ist jedoch nicht alles, denn der heilige Hieronymus spricht in einem seiner Briefe[378] von den zehn mystischen Namen (decem nomina mystica), durch welche die Engel die Gottheit bezeichneten. Diese von Hieronymus erwähnten und ausgewählten Namen sind aber genau dieselben, mit welchen der Sohar die zehn Sephiroth oder Attribute der Gottheit bezeichnet. Sie mögen hier folgen, wie sie im „Buch des Geheimnisses“ (ספרא דצניעותא), einem der ältesten Fragmente des Sohar enthalten sind und gleichzeitig die Grundprinzipien der Kabbala in sich fassen:
„Wenn der Mensch eine Bitte an den Herrn richten will, so muß er stets die heiligen Namen Gottes anrufen, nämlich: Eheie, Jah, Jehovah, El, Elohim, Jedud, Eloha, Sabaoth, Schadai, Adonai. Dies sind die zehn Sephiroth, welche heißen: Krone, Weisheit, Verstand, Schönheit, Gnade, Gerechtigkeit usw.“
Alle Kabbalisten stimmen darin überein, daß die zehn Namen Gottes und die zehn Sephiroth einunddasselbe sind, nämlich der geistige Teil derselben sei die Wesenheit der göttlichen Emanationen. Hieronymus spricht auch in mehreren seiner Schriften von gewissen hebräischen Traditionen, welche das Paradies, oder, wie es hebräisch heißt: Eden (גן עדן), älter sei als die Welt.[379] Bemerkt sei dazu zunächst, daß bei den Juden keine andern Traditionen ähnlichen Inhalts bekannt waren als die geheimnisvolle Wissenschaft, welche der Talmud „die Geschichte der Schöpfung“ nennt. Was ferner den mit ihrem Namen verbundenen Glauben anlangt, so stimmt derselbe völlig mit dem Sohar überein, wo die höchste Weisheit, das göttliche Wort, durch welches die Schöpfung begonnen und vollendet wurde, das Prinzip aller Intelligenz und des ganzen Lebens, als das wahre oder obere Eden (עדן עלאה) bezeichnet wird. 351Aber ein schwerer als dies alles wiegender Umstand ist, daß die Kabbala sowohl der Sprache als dem Inhalt nach mit allen gnostischen Sekten – namentlich den in Syrien entstandenen – und dem Religionskodex der Nazarener besitzt, welcher vor einigen Jahren entdeckt und aus dem Syrischen in das Lateinische übersetzt wurde. Es sei ferner noch bemerkt, daß die Lehren eines Simon Magus, Elxaï, Bardesanes, Basilides und Valentinus nur bruchstückweise in den Schriften einiger Kirchenväter wie Clemens von Alexandria und Irenäus erhalten sind, die auf keinen Fall einem in der christlichen Litteratur gänzlich unbewanderten Rabbi des 13. Jahrhunderts bekannt waren. Wir sind also zu der Annahme gezwungen, daß der Gnosticismus auf den Sohar nicht sowohl in seiner uns heute vorliegenden Form, als bezüglich der in ihm enthaltenen Traditionen und Theorien einwirkte.
Außer obiger Annahme ist noch die Ansicht zu erwähnen, welche die Kabbala zu einer Nachahmung der mystischen Philosophie der Araber macht und sie zur Zeit der Herrschaft der Khalifen ungefähr zu Anfang des elften Jahrhunderts entstehen läßt, also in einer Epoche, wo sich die ersten Spuren des Mysticismus bei den Arabern zeigen. Diese Konjektur wurde schon im neunten Band der Memoiren der Akademie des Inscriptions ausgesprochen, und auch Tholuck hat sie durch seine große Gelehrsamkeit zu unterstützen gesucht. In einer älteren Schrift[380], worin er den Einfluß der griechischen Philosophie auf die Araber untersucht, kommt Tholuck zu dem Schluß, daß die Emanationslehre den Arabern zu gleicher Zeit wie die Philosophie des Aristoteles bekannt geworden sei. Die letztere jedoch wurde ihnen nur durch die Kommentare des Themistius, Theon von Smyrna, Aeneas von Gaza, Johann Philopon, mit einem Wort, mit alexandrinischen Philosophemen in einer sehr unvollständigen Gestalt überliefert. Dieser vom Stamme des Islam abgelegte Zweig entwickelte sich zu einem ausgedehnten System, ähnlich dem des Plotinos, welcher den Enthusiasmus über die Vernunft setzt, und – indem er alle Wesen aus der Gottheit hervorgehen läßt, dem Menschen als Endziel der Vervollkommnung die 352Ekstase und Verneinung seiner selbst vorschreibt. Diesen halb griechischen, halb arabischen Mysticismus will Tholuck als die Quelle der Kabbala hinstellen.[381] Zu diesem Zweck greift er die Authenticität der kabbalistischen Bücher und vor allem die des Sohar an, welchen er als eine am Schluß des 13. Jahrhunderts entstandene Kompilation betrachtet, obschon er der Kabbala im allgemeinen ein höheres Alter zugesteht. Nachdem er dies außer allen Zweifel gesetzt zu haben glaubt, sucht er die vollkommene Ähnlichkeit der im Sohar enthaltenen Ideen mit denen des arabischen Mysticismus nachzuweisen. Jedoch bringt er kein Argument vor, das von uns nicht schon widerlegt wäre, und wir brauchen uns nur an den letzten und zweifelsohne interessantesten Teil seiner Arbeit zu halten. Dabei sind wir jedoch genötigt, vorausgreifend uns mit den Grundlagen des kabbalistischen Systems zu beschäftigen und daran einige ziemlich trockene Bemerkungen über seinen Ursprung zu knüpfen.
Die erste Beobachtung, welche wir machen, ist die, daß allerdings die hebräischen Lehren den arabischen vollkommen gleichen, ohne daß die ersteren jedoch ein Abklatsch der letzteren zu sein brauchen. Wäre es nicht möglich, daß beide Lehren durch verschiedene Kanäle aus ein und derselben Quelle geflossen sein könnten, welche älter als die arabische und alexandrinische Philosophie ist? Und in der That giebt auch Tholuck zu, daß die Araber mit den Hauptwerken der alexandrinischen Philosophie unbekannt waren, daß sie die Schriften des Plotinus, Jamblichus und Proclus, von denen weder eine syrische noch eine arabische Übersetzung existiert, gar nicht, und von Porphyrius nur einen rein logischen Kommentar, nämlich die Einleitung seiner Abhandlung über die Kategorien kannten. Andererseits aber läßt sich kaum annehmen, daß die im ganzen Altertum unter dem Namen der „orientalischen Weisheit“ so hochberühmte parsistische Religionsphilosophie den Arabern bei ihrer Invasion nicht bekannt geworden wäre, da sie doch offenbar der großen unter der Herrschaft der Abbassiden sich Bahn brechenden Bewegung zu Grunde liegt. Wissen wir doch, daß Avicenna ein Werk über die „orientalische Weisheit“ schrieb, welche ein neuerer Autor auf Grund einiger weniger Citate für eine Zusammenstellung neuplatonischer 353Ideen halten will. Er stützt sich dabei auf folgende Stelle des Al Gazali: „Du mußt wissen, daß zwischen der Körperwelt und der, von welcher wir sprechen (der Geisterwelt), ähnliche Beziehungen obwalten wie zwischen unserm Körper und unserm Schatten.“
Hat sich jener Kritiker nicht in das Gedächtnis zurückgerufen, daß in diesen Worten das Grundprinzip des Mazdeismus formuliert ist, und daß die Juden von ihrer Gefangenschaft an bis zu ihrer Zerstreuung in ununterbrochener Verbindung mit Babylonien standen? Wir wollen uns bei diesem Punkt nicht länger aufhalten, sondern nur sagen, daß der Sohar ganz positiv die „orientalische Weisheit“ wiederholt; er sagt: „diese Weisheit, welche die Söhne des Orients seit der frühesten Zeit kannten“, und citiert aus ihr ein vollständig mit seinen Lehren übereinstimmendes Beispiel. Schließlich kann hier keine Rede von den Arabern sein, welche die hebräischen Schriftsteller unabänderlich „die Kinder Ismaels“ oder „die Kinder Arabiens“ nennen. In solchen Ausdrücken spricht man aber nicht von gleichzeitigen Philosophen und ihren eben erst unter dem Einfluß des Aristoteles und seiner alexandrinischen Kommentatoren entstandenen Lehren. Endlich würde der Sohar den Ursprung seiner Lehren nicht in die älteste Zeit der Menschheit verlegen und sie nicht von Abraham den Söhnen seiner Kebsweiber und von diesen den Völkern des Orients überliefern lassen.
Aber es ist gar nicht nötig, sich dieses Arguments zu bedienen, denn in Wahrheit bieten der arabische Mysticismus und der Sohar viel mehr Unterscheidungs- als Berührungspunkte dar, denn die ersteren beschränken sich nur auf einige in allen mystischen Systemen nachweisbare allgemeine Grundanschauungen, während die metaphysischen Hauptpunkte der beiden Systeme keinen Zweifel über ihre Verschiedenheit aufkommen lassen. So sehen, um das Wichtigste hervorzuheben, die arabischen Mystiker in Gott die Grundsubstanz aller Dinge und die immanente Ursache des Weltalls und sie behaupten, daß sich die Gottheit in dreierlei Weise offenbart habe: Erstens als Einheit oder absolutes Sein, in welchem noch keinerlei Scheidung war. Zweitens als die das Weltall bildenden Objekte, als diese anfingen sich in ihrer Wesenheit und intelligibeln Formen sich zu scheiden und sich vor der göttlichen Intelligenz als gegenwärtig darzustellen. Drittens als das Universum, die reale 354Welt selbst, in welcher die Gottheit sichtbar geworden ist. Das kabbalistische System ist weit davon entfernt, diesen Charakter der Einfachheit aufzuweisen. Zweifelsohne gilt auch in ihm die göttliche Wesenheit als die Grundsubstanz, als die Quelle, aus welcher von Ewigkeit, ohne daß sie erschöpft wird, alles Leben, alles Licht und alles Dasein fließt; aber anstatt der drei Manifestationen, der drei Generalformen des unendlichen Wesens, hat sie deren zehn, nämlich die zehn Sephiroth, welche sich in drei in einer Dreiheit aufgehenden Dreiheiten und eine höchste Form teilen. In ihrer Gesamtheit betrachtet, repräsentieren die Sephiroth nur den ersten Grad, die erste Sphäre des Seins, nämlich das, was man die Welt der Emanationen nennt. Unterhalb derselben befinden sich noch von einander unterschieden in unendlicher Vielfältigkeit die Welt der reinen Geister oder der Schöpfung, die Welt der Sphären und der sie lenkenden Intelligenzen oder die Welt der Formation, und als unterste Stufe endlich die Welt der Arbeit oder Thätigkeit. Die arabischen Mystiker nahmen ebenfalls eine Kollektivseele an, aus welcher alle einzelnen die Welt belebenden Seelen ausgeflossen seien, einen zeugenden Geist, welchen sie den Vater der Geister, den Geist Muhammeds, die Quelle, das Vorbild und die Wesenheit aller andern Geister nennen. In dieser Auffassung des Geistes hat man das Vorbild des Adam Kadmon, den himmlischen Menschen der Kabbalisten sehen wollen. Aber das, was die Kabbalisten mit diesem Namen bezeichnen, ist nicht allein das Prinzip der Intelligenz und des geistigen Lebens; es ist auch das, was sie für über und unter dem Geist stehend ansehen, nämlich die Gesamtheit der Sephiroth oder die ganze Emanationswelt, nämlich das Wesen in seinem abstraktesten und unbegreiflichsten Charakter bis herab zu den bildenden Kräften der Natur, welches sie in diesem Sinn den Punkt oder das Nichtsein nennen. Weiterhin findet man bei den Arabern keine Spur der Metempsychose, welche im kabbalistischen System eine so große Rolle spielt. Vergebens wird man auch in den Werken der arabischen Mystiker die fortlaufenden Allegorien, die beständige Berufung auf die Tradition, die endlosen Geschlechtsregister nach den Worten des heiligen Paulus[382], die gigantischen 355und bizarren Metaphern suchen, welche so ganz mit dem Geist des alten Orients übereinstimmen. Schließlich kommt Tholuck von seiner anfänglich vertretenen Ansicht zurück und meint, es sei unmöglich die Kabbala aus arabischen Quellen abzuleiten, eine Meinungsäußerung, die bei einem philosophisch so geschulten gelehrten Orientalisten ganz besonders ins Gewicht fällt. Hier seine eigenen Worte:
„Was können wir nun aus diesen Analogien schließen? Meines Erachtens sehr wenig. Denn was die beiden Systeme übereinstimmendes haben, findet sich bereits in den ältesten Geheimlehren, in den Büchern der Sabäer und Perser und bei den Neuplatonikern. Im Gegenteil aber ist die ungewöhnliche Form, in welcher uns der Gedankeninhalt der Kabbala entgegentritt, der arabischen Mystik ganz fremd. Um nun zu beweisen, daß die Kabbala wirklich aus der letzteren hervorgegangen wäre, müßte man vor allem die Lehre von den Sephiroth untersuchen; aber von ihnen findet sich bei den arabischen Mystikern, welche nur eine einzige Art und Weise kennen, wie Gott sich selbst offenbart, nicht die mindeste Spur; wohl aber nähert sich hier die Kabbala den Lehren der Sabäer und Gnostiker.“
Ist nun die Unzulässigkeit der Annahme dargethan, daß die Kabbala arabischen Ursprungs sei, so verliert die Meinung, welche den Sohar zu einem Werk des 13. Jahrhunderts machen will, den letzten Halt. Der Sohar enthält ferner, wie wir s. Z. näher darlegen werden, ein philosophisches Werk von höchstem Gedankenflug und einer ungeheuren Ausdehnung; ein solches Werk entsteht aber nicht – so zu sagen – über Nacht in einer Epoche der Unwissenheit und des blinden Glaubens, und namentlich nicht bei einer Menschenklasse, auf welcher der Druck der Verachtung und Verfolgung lastet. Endlich aber begegnen wir im ganzen Mittelalter weder Vorläufern noch Elementen des kabbalistischen Systems, weshalb wir genötigt sind, die Entstehung desselben in das Altertum zurückzuversetzen.
Wir sind nun jetzt bei Jenen angelangt, welche behaupten, daß Simon ben Jochai thatsächlich einer kleinen Anzahl seiner Schüler 356und Freunde, unter welchen sich auch sein Sohn befunden habe, die die Basis des Sohar bildenden metaphysischen und religiösen Lehren mitgeteilt habe. Diese Lehren seien dann als unverletzliche Geheimnisse von Mund zu Mund überliefert und nach und nach niedergeschrieben worden. In neuerer Zeit seien nun diese Traditionen mit Anmerkungen und Kommentaren versehen worden, wodurch sie zum Teil ihre Eigentümlichkeit veränderten, und endlich gegen das Ende des 13. Jahrhunderts hin von Palästina nach Europa gekommen. Wir hoffen, daß diese bisher nur schüchtern als Konjektur vorgetragene Meinung bald den Charakter der völligen Gewißheit annehmen wird.
Wie schon der Verfasser der „die Kette der Tradition“ betitelten Chronik bemerkt, stimmt der Sohar vollkommen mit der Geschichte der übrigen religiösen Denkmäler des jüdischen Volkes überein; sie vereinigt in sich die auf gemeinschaftlicher Grundlage stehenden Traditionen der verschiedenen Zeitalter und die Lehren der verschiedenen Meister, aus denen auch die Mischna wie der jerusalemitische und babylonische Talmud entstanden. Er sagt: „Ich habe die Tradition gehört, dieses Werk sei so umfangreich, daß es in seiner Vollständigkeit zur Belastung eines Kameels genügen würde.“ Es läßt sich nun aber nicht annehmen, daß ein einziger Mann, auch wenn er sein ganzes Leben hindurch über den betreffenden Stoff geschrieben hätte, eine so schreckenerregende Probe seiner Fruchtbarkeit abgelegt haben könne. Endlich aber liest man in den in derselben Sprache geschriebenen und mit dem Sohar gleichalterigen „Supplementen des Sohar“ (תקוני זוהר), daß derselbe nie ganz veröffentlicht worden sei, oder – um uns an den Wortlaut zu halten – erst am Ende der Tage werde veröffentlicht werden.
Beginnt man nun den Sohar selbst zu untersuchen, um ohne Vorurteil einige Aufklärung über seinen Ursprung zu erhalten, so ersieht man bald aus der Ungleichheit des Styls, aus dem Fehlen einer Einheit und Geschlossenheit nicht sowohl des Systems, als der Exposition, der Methode, der Anwendung der allgemeinen Grundsätze wie endlich aus dem Gedankengang im Einzelnen, daß es unmöglich ist, die Autorschaft des Buches einer einzigen Person zuzuschreiben. Wir beschränken uns auf eine kurze Darstellung der hauptsächlichsten Differenzen der drei Hauptteile des Sohar, nämlich 357des „Buches des Geheimnisses“ (ספרא דצניעותא), welches als der älteste Teil gilt; der „großen Versammlung“ (אדרא רבא), in welcher sich Simon ben Jochai inmitten seiner Jünger repräsentiert; und endlich die „kleine Versammlung“ (אדרא זוטא), in welcher Simon auf dem Sterbebett vor seinem Ende drei seiner Schüler zu sich berufen hat, um ihnen seine noch übrigen Lehren mitzuteilen.
Diese drei durch große Zwischenräume in der ungeheuren Sammlung getrennten Werke bilden jedoch ein zusammengehöriges Ganzes sowohl was die Thatsachen, als auch was den Gedankengang des Inhalts anlangt. Man findet darin bald in allegorischer Form, bald in durchaus metaphysischer Sprache eine fortlaufende und glänzende Beschreibung der göttlichen Attribute, ihrer verschiedenen Attribute, der Art und Weise der Schöpfung und der Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen. Jedoch verläßt der Sohar nicht selten diese Höhen der Spekulation, um zu dem äußern und praktischen Leben herabzusteigen und die Beobachtung des Gesetzes und der religiösen Gebräuche zu empfehlen. Häufig begegnet man auch einem Namen, einer Thatsache oder einem Ausdruck, welcher uns die Authenticität dieser Blätter bezweifeln lassen könnte, auf denen die Originalität der Form dem Fluge des Gedankens preisgegeben wird. Das Wort führt immer der Meister, welcher seine Zuhörer nicht mit logischen Gründen, sondern nur durch die Macht seiner Autorität überzeugt. Er demonstriert nicht, er erklärt nicht, er wiederholt nicht, was er von andern gelernt hat, sondern er versichert, und ein jedes seiner Worte wird als ein heiliger Glaubensartikel betrachtet. Diesen Charakter trägt besonders „das Buch des Geheimnisses“, ein sehr ausführliches, aber auch sehr dunkles Resumé des ganzen Werkes. Man könnte von ihm sagen: docebat quasi auctoritatem habens. Im übrigen enthält das Buch anstatt einer fortlaufenden Exposition eine Menge ungeregelter Ideen; anstatt eines festen, konsequent verfolgten Planes, wobei die vom Autor als Belege seiner eigenen Ideen herangezogenen Schriftstellen sich dem Gedankengang anschmiegen müßten, ist der Verlauf des Kommentars untergeordnet und ohne Zusammenhang. Jedoch ist, wie wir bereits bemerkten, die Auslegung der Schrift nur ein Vorwand, und wir werden, ohne den Bannkreis ihrer Ideen zu verlassen, durch den Text von einem Gegenstand zum andern geführt, 358womit sich die Traditionen der Schule des Simon ben Jochai beschäftigte, der, anstatt ein logisch geordnetes System aufzustellen, dem Zeitgeschmack folgend, seine Ideen den Hauptstellen des Pentateuch anpaßte. Diese Ansicht wird noch durch den Umstand bestärkt, daß oft nicht die mindesten Beziehungen zwischen dem betreffenden biblischen Text und den Stellen des Sohar bestehen, welche ihm als Kommentar dienen sollen. Dieselbe Zusammenhangslosigkeit und Unordnung herrscht in der Anordnung des Stoffes, und es finden sich nur eine kleine Anzahl von Stellen, die einen gleichförmigen Charakter zur Schau tragen. Hier herrscht die metaphysische Theologie völlig souverän; aber ungeachtet der kühnsten und hochfliegendsten Theorien begegnet man sehr häufig den materiellsten Details des äußern Kultus oder kindischen Fragen, mit welchen die Gemaristen gleich den Kasuisten anderer Religionen Zeit und Papier zu verschwenden pflegten. Und hierin sind alle Argumente aufgehäuft, deren sich die neueren Kritiker zur Stütze ihrer Anschauungen bedient haben, und wovon wir die Falschheit nachgewiesen zu haben hoffen. Dieser letztere Teil des Sohars endlich weist nach Form und Inhalt die Spuren einer ziemlich neuen Zeit auf, während die Einfachheit wie der gläubige und naive Enthusiasmus der andern Teile an die Zeit und Sprache der Bibel erinnert. Wir wollen als Beispiel nur die Erzählung vom Tode des Simon ben Jochai von Rabbi Aba anführen, welcher derjenige Schüler Simons war, den er mit der Niederschrift seiner Lehren beauftragt hatte:
„Die heilige Leuchte (so wurde nämlich Simon ben Jochai von seinen Schülern genannt) hatte den letzten Satz noch nicht beendet, als seine Worte stockten, während ich dennoch weiter schrieb; ich schrieb noch eine Zeit lang, obschon ich nichts mehr hörte. Ich erhob mein Haupt nicht, denn das Licht war zu hell, als daß ich es hätte betrachten dürfen. Auf einmal vernahm ich eine Stimme, welche sprach: Lange Tage und Jahre des Glücks stehen dir bevor. – Darauf hörte ich eine andere Stimme, welche sprach: Er verlangt dein Leben, und du giebst ihm die Jahre der Ewigkeit. Während des ganzen Tages wird das Feuer nicht vom Hause weichen, und Niemand wird sich ihm wegen des Feuers und Glanzes zu nähern wagen. – Ich habe den ganzen Tag auf der Erde gelegen 359und meinen Klagen freien Lauf gelassen. Als das Feuer verschwunden war, sah ich, daß die heilige Leuchte, der Heiligste der Heiligen, die Erde verlassen hatte. Er lag auf seiner rechten Seite, und sein Antlitz lächelte. Sein Sohn Eleazar stand auf, ergriff seine Hände mit Küssen, und ich hätte gern den Staub gegessen, den seine Füße berührt hatten. Alsdann kamen alle seine Freunde, um ihn zu beklagen; aber keiner von ihnen konnte das Schweigen brechen. Aber endlich flossen ihre Thränen. Rabbi Eleazar warf sich dreimal auf die Erde und konnte nur die Worte hervorbringen: Ach, mein Vater! mein Vater! Rabbi Hiah, der erste seiner Schüler, setzte sich zu seinen Füßen und sprach: Bis heute hat die heilige Leuchte nicht aufgehört uns zu erleuchten und über uns zu wachen, und jetzt können wir nichts weiter thun, als ihm die letzten Ehren zu erzeigen. Rabbi Eleazar und Rabbi Aba standen auf, um ihm sein Sterbekleid anzulegen; alsdann versammelten sich seine Freunde klagend um ihn, und Wohlgerüche durchdufteten das ganze Haus. Er wurde auf die Bahre gelegt, und Rabbi Eleazar verrichtete mit Rabbi Aba dies traurige Geschäft. Als die Bahre aufgehoben wurde, sah man über Simons Antlitz einen feurigen Glanz in der Luft. Darauf hörte man eine Stimme, welche sprach: Kommt und feiert die Hochzeit des Rabbi Simon! – So wurde Rabbi Simon, der Sohn des Jochai, jeden Tag von dem Herrn geehrt, und sein Loos war glücklich in dieser und der andern Welt. Er ist es, von dem gesagt wurde: Ruhe in Frieden nach deinem Ende und erwarte deinen Gewinn am jüngsten Tage!“[383]
Mag man nun auch über den Wert dieser Stelle denken, wie man will, so giebt sie uns doch einen Begriff von dem Ansehen, in welchem Simon ben Jochai bei seinen Schülern stand, und von dem wahrhaft religiösen Kultus, den die ganze kabbalistische Schule mit seinem Namen trieb.
Zweifelsohne aber wird man in dem folgenden Text einen schlagenden Beweis für die von uns vertretene Meinung finden, obschon dieser Text noch nie, weder in älterer noch in neuerer Zeit citiert wurde. Er sagt, nachdem er zwei Klassen von Gelehrten, 360die der Mischna (מארי משנה), und die der Kabbala (מארי קבלה) unterschieden hat:
„Er gehört zu denen, von welchen der Prophet Daniel sagt: Die weisen Männer leuchten wie das Licht des Himmels. Es sind das diejenigen, welche sich mit dem „Buch des Lichtes“ beschäftigen, das gleich der Arche Noah zwei aus einer Stadt und sieben aus einem Königreich in sich vereinigt. Aber manchmal vereinigt sie weder zwei aus einer Stadt, noch zwei aus einer Familie. Auf diese sind die Worte anwendbar: Der ganze Mensch wird in einen Fluß geworfen werden. Dieser Fluß aber ist das Licht dieses Buches.“[384]
Diese Worte erwähnen den Sohar, welcher demnach zu jener Zeit bereits geschrieben und unter demselben Namen wie heute bekannt war. Wir sind also zu dem Schluß gezwungen, daß der Sohar während des Verlaufs mehrerer Jahrhunderte durch die Arbeit verschiedener Generationen von Kabbalisten entstand.
Es möge hier nicht in wörtlicher Übersetzung, die zu viel Raum beanspruchen würde, wohl aber dem Inhalt nach eine durch ihre Beziehungen sehr wertvolle Stelle folgen, welche beweist, daß die Lehren Simon ben Jochais lange Zeit nach seinem Tod in Palästina, wo er gelebt und gelehrt hatte, in Umlauf waren, und daß sogar von Babylon Abgesandte kamen, um seine Worte zu sammeln. Rabbi Joseph und Rabbi Hesekiel waren eines Tages zusammen unterwegs, als die Rede auf den Vers des Predigers Salomonis kam[385]: „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh.“ Die beiden Weisen konnten nicht begreifen, daß Salomo, der weiseste der Menschen, diese Worte geschrieben hätte, welche, um mich des Originalausdrucks zu bedienen, eine offene Thür für die Ungläubigen bilden. Indem sie also sprachen, begegnete ihnen ein Mann, welcher – von den Anstrengungen des langen Weges und dem Sonnenbrand erschöpft – zu trinken begehrte. Sie gaben ihm Wasser und führten ihn zu einer Quelle. Als sich der Fremde gelabt hatte, teilte er 361ihnen mit, daß er ihr Glaubensgenosse sei, und daß er durch die Vermittelung eines seiner Söhne, der das Gesetz studiert habe, in ihre Wissenschaft eingeweiht worden sei. Darauf legten sie ihm die Frage vor, mit welcher sie sich vor seiner Ankunft beschäftigt hatten. Für den von uns hier verfolgten Zweck ist die Mitteilung, wie er sie auflöste, überflüssig; es genüge, daß er großen Beifall fand, und die Rabbinen ihn nicht von sich lassen wollten. Kurze Zeit darauf hatten die beiden Kabbalisten Gelegenheit sich zu überzeugen, daß dieser Mann den „Freunden“ angehörte, mit welchem Namen der Sohar die Adepten der Kabbala bezeichnet, und daß er, obschon einer der größten Gelehrten seiner Zeit, aus Demut seinem Sohn die Ehren zukommen ließ, welche ihm allein gebührten. Er war von den „Freunden“ zu Babylon abgesandt worden, um die Aussprüche des Simon ben Jochai und seiner Schüler zu sammeln. – Alle andern in diesem Buch mitgeteilten Dinge tragen dieselbe Farbe und bewegen sich auf dem gleichen Schauplatz. Noch wollen wir erwähnen, daß auch oft andere orientalische Glaubenssätze, wie solche des Sabäismus und Islam erwähnt werden, daß sich aber nicht die geringste Erwähnung des Christentums findet, und es somit wahrscheinlich wird, daß der Sohar in der gegenwärtig vorliegenden Gestalt erst zu Ende des 13. Jahrhunderts nach Europa kam. Einige der im Sohar enthaltenen Lehren waren, wie das Beispiel des Saadiah beweist, schon lange bekannt, aber es scheint eine Thatsache zu sein, daß vor der Zeit des Moses von Leon und der Reise des Nachmanides nach dem heiligen Land, kein vollständiges Exemplar desselben nach Europa gekommen ist. Was nun den Gedankeninhalt anlangt, so belehrt uns Simon ben Jochai selbst, daß derselbe nicht ihm entstammt, sondern daß er seinen Schülern nur lehrte, was die „Freunde“ in alten Büchern niedergeschrieben hatten. Er citiert hauptsächlich Jeba den Älteren und Hamnuna den Älteren. Er hofft, daß in dem Augenblick, wo er die tiefsten Geheimnisse der Kabbala enthüllen will, ihm der Schatten des Hamnuna von sechzig Gerechten begleitet zuhören werde. Ich bin von der Annahme weit entfernt, daß diese Bücher und Personen in der That ein so hohes Alter repräsentieren, sondern will nur darthun, daß die Verfasser des Sohar den Simon ben Jochai niemals als den Erfinder der kabbalistischen Wissenschaft hinstellen wollten.
Eine andere Thatsache verdient jedoch unsere größte Aufmerksamkeit. Es gab nämlich noch über hundert Jahre nach dem Bekanntwerden des Sohars in Spanien immer noch Leute, welche die kabbalistischen Lehren durch mündliche Tradition überlieferten und überliefert erhalten hatten, wie z. B. Rabbi Moses Botril, welcher sich im Jahre 1409 über die Kabbala und die Vorsichtsmaßregeln, unter denen sie zu lehren sei, folgendermaßen äußert:
„Die Kabbala ist nichts als die reinste und heiligste Philosophie; aber die Sprache der Philosophie ist nicht die der Kabbala. Dieselbe trägt ihren Namen, nicht weil sie von Vernunftschlüssen ausgeht, sondern weil sie durch die Tradition überliefert wird. Und wenn ein Lehrer ihren Inhalt seinem Schüler überliefert hat und nicht das genügende Vertrauen in dessen Weisheit setzt, so wird diesem nicht eher erlaubt, von dieser Wissenschaft zu sprechen, als bis er von seinem Meister dazu autorisiert worden ist. Dieses Recht wird ihm gewährt, d. h. er darf über die Merkaba sprechen, wenn er genügende Proben seiner Intelligenz gegeben hat, und wenn die in seinen Busen gestreuten Samenkörner Frucht getragen haben. Man muß ihm aber Stillschweigen auferlegen, wenn man in ihm nur einen profanen Menschen erkannt hat, welcher noch nicht zu denjenigen gehört, die sich durch ihre Meditationen auszeichnen.“
Der Verfasser dieser Zeilen ignoriert den Namen des Sohar, welcher auch nicht ein einziges Mal in seinem Werk genannt wird. Auf der anderen Seite nennt er aber eine große Anzahl sehr alter dem Orient angehöriger Schriftsteller, wie Rabbi Saadiah, Rabbi Hai und Rabbi Aron, das Oberhaupt der Schule von Babylon. Manchmal spricht er auch davon, daß er seine Weisheit aus dem Munde seines Meisters habe, weshalb nicht anzunehmen ist, daß er seine kabbalistischen Kenntnisse aus den von Nachmanides und Moses von Leon veröffentlichten Manuskripten geschöpft habe. Das System des Simon ben Jochai ist aber vor Anfang des 13. Jahrhunderts der berühmteste Vertreter der kabbalistischen Philosophie, das treu aufbewahrt und in einer Menge von Traditionen fortgepflanzt wurde, welche die Einen niederschrieben, während die andern nach dem Brauch ihrer Väter vorzogen, es in ihrem Gedächtnis zu behalten. Im Sohar selbst finden sich nur die Traditionen, welche dem ersten bis siebenten christlichen Jahrhundert entstammen, ohne 363daß wir jedoch dadurch genötigt würden, die Abfassung des Sohars in jene Zeit zurückzuversetzen. Wohl aber entstammen ihr die einander so ähnlichen und durch den gleichen Geist verbundenen Traditionen, denn damals kannte man schon, wie wir bereits sahen, die Merkaba, d. h. den Teil der Kabbala, mit welchem sich der Sohar ganz besonders beschäftigt; und Simon ben Jochai hatte, wie er selbst sagt, Vorläufer. Wir können unmöglich die Entstehung dieser Traditionen in eine uns nahe liegende Zeit verlegen, da kein einziger Umstand dafür spricht; im Gegenteil stehen den der unsern entgegengesetzten Meinungen unüberwindliche Hindernisse entgegen, unter welchen die von uns angeführten Gründe nicht die geringsten sein dürften.
Es bleiben nun noch zwei Einwürfe zu widerlegen. Man hat eingewendet, daß man während eines so frühen Zeitalters, in welchem unserer Ansicht nach das Hauptmonument des kabbalistischen Systems entstanden ist, unmöglich das Copernikanische System, die Grundlage unserer Weltanschauung, gekannt haben könne, welche Kenntnis zweifelsohne aus der von uns oben citierten Stelle hervorgeht. Wir entgegnen darauf, daß auf alle Fälle, selbst wenn der Sohar eine am Schluß des 13. Jahrhunderts begangene Fälschung wäre, die betreffende Stelle doch lange vor der Geburt des großen preußischen Astronomen bekannt gewesen ist. Auch war diese Weltanschauung schon im klassischen Altertum bekannt, weil Aristoteles dieselbe der pythagoräischen Schule zuschreibt. Er sagt[386]:
„Fast Alle, die den Lauf des Himmels erforscht zu haben, versichern, nehmen an, daß sich die Erde im Mittelpunkt desselben befindet; aber die Philosophen der italischen Schule oder die Pythagoräer lehren gerade das Gegentheil davon. Nach ihrer Meinung nimmt das Feuer die Mitte ein, und die Bewegung der Erde um dasselbe bringt Tag und Nacht hervor.“
Die ersten Kirchenväter haben in ihren Angriffen gegen die heidnische Philosophie diese mit der Genesis unvereinbare Weltanschauung widerlegen zu müssen geglaubt, und Lactanz sagt über dieselbe:
„Ineptum credere esse homines quorum vestigia sint superiora quam capita, aut ibi quae apud nos jacent inversa pendere; fruges et arbores deorsum versus crescere. – Hujus erroris origenem philosophis fuisse quod existimarint rotundum esse mundum.“[387]
Der heilige Augustin drückt sich über denselben Gegenstand mit ähnlichen Worten aus.[388] Endlich aber hatten die ältesten Autoren der Gemara Kenntnis von den Antipoden und der sphärischen Form der Erde, denn man liest im jerusalemitischen Talmud[389], daß Alexander der Große auf seinem Eroberungszug gelernt habe, die Erde sei rund, und daß sie recht gut mit einem Ball verglichen werden könne. Der gegen uns sprechen sollende Umstand spricht also thatsächlich für uns, denn im Mittelalter war das wahre Weltsystem nur sehr wenigen bekannt, während das falsche des Ptolemäus unbeschränkt herrschte.
Man könnte sich auch darüber wundern, daß in dem von uns für den ältesten gehaltenen Teil des Sohar, der Idra Rabba oder großen Versammlung, medizinische Kenntnisse anzutreffen sind, die einer sehr vorgeschrittenen Civilisation anzugehören scheinen. Hier findet sich z. B. folgende bemerkenswerte Stelle, welche einem modernen Lehrbuch der Anatomie entnommen sein könnte[390]:
„Das Hirn inmitten des Schädels wird in drei Theile getheilt, deren jeder einen gesonderten Platz einnimmt. Zu äußerst ist es mit einer sehr zarten Haut bedeckt, auf welche eine harte Haut folgt. Aus der Mitte dieser drei Theile des Gehirns verbreiten sich zweiunddreißig Kanäle auf beiden Seiten durch den ganzen Körper, so daß sie den Körper in allen Punkten umfassen und sich durch alle Theile erstrecken.“
Es ist unmöglich, in diesen Worten sowohl die Hirnhäute mit der Marksubstanz als die zweiunddreißig Nervenpaare zu verkennen, welche sich symmetrisch durch den Körper verteilen, um dem ganzen animalischen Haushalt Leben und Empfindung zuzuführen. Dabei 365ist jedoch zu bemerken, daß der religiöse Zwang der Speisegesetze und die Furcht, etwas Unreines zu genießen, die Juden schon sehr früh zum Studium der Naturgeschichte und Anatomie führen mußte. So giebt es im Talmud eine Vorschrift, daß der Genuß des Fleisches derjenigen Tiere verboten sei, deren Gehirnhäute durchbohrt sind. Jedoch sind die Meinungen über diese Vorschrift geteilt. Einige nehmen an, daß das Verbot nur dann gelte, wenn beide Häute, andere dagegen, wenn nur die dura mater verletzt sei. Wieder andern genügt schon eine Trennung des Zusammenhangs der beiden Häute.[391] In demselben Traktat ist auch vom Rückenmark und seinen Häuten die Rede, wozu bemerkt sei, daß es um die Mitte des zweiten Jahrhunderts unter den Juden bereits Ärzte von Beruf gab, denn im Talmud wird erzählt[392], daß Judas, der Verfasser der Mischna, während dreizehn Jahre an einer Augenkrankheit litt, und daß sein Arzt Rabbi Samuel, einer der eifrigsten Verteidiger der Tradition war, welcher außer der Medizin noch das Studium der Astronomie und Mathematik betrieb, und von dem man zu sagen pflegte, daß er die Bahnen des Himmels gleich den Straßen von Nehardea, seiner Vaterstadt, kannte.
Wir beenden hiermit die bibliographischen Bemerkungen und die äußere Geschichte der Kabbala, deren Bücher nicht, wie die Enthusiasten wollen, übernatürlichen und vorgeschichtlichen Ursprungs sind. Sie sind aber auch nicht, wie eine oberflächliche und parteiische Kritik will, die Erzeugnisse des Betrugs und der schmutzigen Spekulation eines vom Hunger getriebenen Charlatans, welcher ohne eigene Idee und Überzeugung auf eine stupide Gläubigkeit rechnet. Die Bücher Jezirah und Sohar sind, wir sagen es noch einmal, die Erzeugnisse mehrerer Generationen. Sei nun auch der Wert ihrer Lehren, welcher er wolle, so verdienen sie doch als Monumente des freien Denkens zu einer Zeit, wo der religiöse Despotismus mit bleiernem Druck auf den Völkern lastete, alle Ehrfurcht. Aber das ist nicht der Hauptgrund unseres Interesses, sondern der Umstand, daß ihr System einen der wichtigsten Marksteine in der Geschichte des menschlichen Denkens bildet.
Die beiden Bücher, welche wir ungeachtet des Aberglaubens auf der einen und des Skepticismus auf der andern Seite als wahre Monumente der Kabbala erkannt haben, sollen uns allein das Material zu unserer Darstellung der kabbalistischen Lehren liefern, wobei es jedoch nicht selten die Dunkelheit der Texte nötig machen wird, daß wir uns der Kommentare bedienen, denn die zahllosen, ohne Auswahl und Unterschied zu den verschiedensten Zeiten zusammengestellten Fragmente, aus denen diese Bücher bestehen, sind weit davon entfernt, einen einheitlichen Charakter zur Schau zu tragen. Einige von ihnen enthalten nichts als ein mythologisches System, dessen wesentliche Elemente sich bereits im Buche Hiob und den Visionen des Jesaias finden; sie belehren uns mit der größten Ausführlichkeit über die Attribute der Engel und Dämonen und entsprechen zu sehr uralten volkstümlichen Anschauungen, um einer Wissenschaft anzugehören, welche seit ihrem Entstehen als ein schreckliches und unverletzbares Geheimnis galt. Andere und zweifelsohne die am spätesten entstandenen enthalten so knechtische Ideen und einen so ausgesprochenen Pharisäismus, daß man in ihnen nur talmudistische Ideen sehen kann, welche Stolz und Unwissenheit mit den Anschauungen jener berühmten Sekte vermischte, mit deren bloßen Namen schon eine wahre Götzendienerei getrieben wurde. Die bei weitem meisten Fragmente jedoch lehren uns den wahren Glauben der alten Kabbalisten, und sie bilden die Quelle, 367aus welcher – mehr oder weniger von der Philosophie ihrer Zeit beeinflußt – bis auf die Gegenwart deren Schüler und Nachfolger geschöpft haben. Wir bemerken jedoch, daß unsere eben aufgestellte Klassifikation nur den Sohar angeht. Was dagegen das „Buch der Schöpfung“ betrifft, so ist dasselbe, obschon es keinen großen Umfang besitzt und unsern Geist nicht zu schwindelnden Höhen emporhebt, doch von einer durchaus gleichmäßigen Komposition und einer seltenen Originalität. Die Wolken, mit denen dasselbe die Imagination seiner Kommentatoren umgeben zu müssen geglaubt hat, werden sich ganz von selbst zerstreuen, wenn wir, anstatt in ihm die Geheimnisse einer unaussprechlichen Weisheit zu suchen, nichts anderes darin zu finden hoffen als die Anstrengungen, welche die Vernunft im Augenblick ihres Erwachens macht, um den Plan des Universum und das Band zu erkennen, welches ein gemeinsames Grundprinzip mit den Elementen verbindet und vereinigt.
Die Bibel und jedes andere religiöse Denkmal stützt sich nur auf die Gottesidee und macht sich zum Interpreten des göttlichen Willens und Gedankens, wenn sie uns die Welt und die sich auf derselben abspielenden Vorgänge zu erklären versucht. Dies geschieht in der Genesis, wo wir auf den göttlichen Befehl hin das Licht aus der Finsternis hervorbrechen sehen. Als Jehova aus dem Chaos Himmel und Erde geschaffen hatte, betrachtete er sein Werk und fand es seiner würdig; darum heftete er zur Erleuchtung der Erde dem Firmament die Sonne, den Mond und die Sterne an. Dann bläst er dem Staub einen lebenden Odem ein und läßt aus seinen Händen das letzte und schönste der Geschöpfe hervorgehen, welches er nach seinem Bilde geschaffen hatte. In dem Werk dagegen, das wir jetzt analysieren wollen, wird gerade der umgekehrte Weg eingeschlagen, und gerade das erste Vorkommen dieses Unterschiedes ist für die Geschichte des jüdischen Volkes sehr bezeichnend, denn auf diese Weise erhebt es sich durch die Betrachtung der Welt zur Gottesidee, indem durch die das Weltall durchziehende Einheit gleichzeitig die Einheit und Weisheit des Schöpfers dargethan wird. Dies ist der Grund, weshalb unser Buch eigentlich nichts anderes als ein dem Erzvater Abraham in den Mund gelegter Monolog ist, dem Betrachtungen untergeschoben werden, welche den Kultus der Gestirne durch den des Ewigen ersetzen 368sollen. Daß der von uns gekennzeichnete Charakter des Sepher Jezirah sich mit voller Evidenz ergiebt, geht schon aus einer sehr markanten Stelle eines Schriftstellers des zwölften Jahrhunderts hervor. Rabbi Jehuda Halevi sagt nämlich:
„Das Buch Jezirah lehrt uns das Dasein eines einzigen Gottes, indem es uns in der Verschiedenheit und Vielheit die Gegenwart der Einheit und Harmonie zeigt, welche Übereinstimmung nur von einem einzigen Anordner herrühren kann.“
Bisher entspricht das Buch Jezirah völlig den Ansprüchen der Vernunft; aber weiterhin macht es, anstatt die im Universum herrschenden Gesetze zu ergründen, um aus ihnen die Weisheit und den Plan des Schöpfers darzulegen, Anstrengungen, um eine grobe Analogie zwischen den Dingen und Zeichen des göttlichen Gedankens und den Mitteln, durch welche sich die göttliche Weisheit den Menschen kundgiebt, aufzusuchen. Wir müssen jedoch, ehe wir weiter gehen, bemerken, daß der Mysticismus aller Zeiten und Erscheinungsformen ein übertriebenes Gewicht darauf gelegt hat, daß er eine freie Offenbarung der göttlichen Intelligenz, und daß die heilige Schrift kein menschliches Erzeugnis, sondern ein Geschenk der Offenbarung sei.
Das Buch Jezirah sucht dies durch die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets darzuthun, dessen ersten zehn Buchstaben, indem sie ihren eigenen Wert behalten, den Ausdruck der übrigen bilden. Unter einem Gesichtspunkt vereinigt, bilden diese beiden Klassen von Zeichen die „zweiunddreißig wunderbaren Wege der Weisheit“, durch welche, wie der Text sagt, der Ewige, der Herr der Heerschaaren, der Gott Israels, der lebendige Gott, der König des Weltalls, der Gott der Barmherzigkeit und Gnade, der höchste Gott, welcher in Ewigkeit herrscht, der über alles Erhabene und Allerheiligste seinen Namen gegründet hat.
Mit diesen zweiunddreißig Wegen der Weisheit darf man nicht die auf ganz andere Dinge bezüglichen Haarspaltereien der neueren Kabbalisten verwechseln; man muß im Gegenteil drei Formen annehmen, die sich – allerdings in einem dem Zweifel unterworfenen Sinn – an drei Ausdrücke anpassen, welche jedoch – wenigstens ihrem grammatikalischen Ursprung nach – eine große Ähnlichkeit mit dem haben, was die griechische Philosophie 369das Subjekt, das Objekt und den Akt des Denkens nennt. Wir haben oben dargelegt, daß diese Worte nicht im Text enthalten sind; jedoch dürfen wir nicht verschweigen, daß ein angesehener spanischer Schriftsteller[393] diesen Sinn in einer den Gesetzen der Etymologie nicht widersprechenden Weise im Jezirah zu finden glaubt. Er sagt:
„Durch den ersten dieser drei Ausdrücke (Sephar) will man die Zahlen bezeichnen, welche uns allein in den Stand setzen, die Dispositionen und Proportionen abzuschätzen, welche jeder Gegenstand nöthig hat, um das Ziel und den Zweck zu erreichen, zu welchem er geschaffen ist; das Maß seiner Länge, seines Inhalts, seines Gewichtes, seiner Bewegung und Harmonie: alles ist durch die Zahl geregelt. Der zweite Ausdruck (Sipur) bedeutet das Wort oder die Stimme, weil durch das göttliche Wort oder die Stimme des lebendigen Gottes alle Wesen in ihrer innern und äußern Form geschaffen sind, und worauf die Worte anspielen: ‚Gott sprach: es werde Licht, und es ward Licht.‘ Der dritte Ausdruck endlich (Sepher) bedeutet die Schrift; die Schrift Gottes oder das Werk der Schöpfung; das Wort Gottes ist seine Schrift, und der Gedanke Gottes sein Wort. So sind bei Gott Gedanke, Wort und Schrift Eins, während sie beim Menschen Drei sind.“
Diese Erklärung charakterisiert und veredelt sehr schön das bizarre System, welche den Gedanken mit allgemeinen Symbolen zusammenwirft, um ihn gewissermaßen in der Gesamtheit und Vielheit der Schöpfung sichtbar zu machen.
Unter dem Namen der Sephiroth, welche in der Kabbala eine so große Rolle spielen und im Buche Jezirah zuerst genannt werden, versteht man die zehn abstrakten Zahlen oder Numerationen. Sie repräsentieren die allgemeinen und essentiellen Formen der Dinge oder, wenn ich mich so ausdrücken darf, der Kategorien des Weltalls, denn wenn man nach der Kabbala – von welchem Gesichtspunkt aus es auch sei – die ersten Elemente oder unverletzlichen Grundlagen der Welt sucht, so begegnet man stets der Zahl Zehn.
„Es giebt zehn Sephiroth, heißt es im Buche Raziel, zehn und nicht neun, zehn und nicht elf. Du mußt sie mit deinem Verstand 370und deiner Einsicht zu begreifen suchen und an ihnen beständig deine Forschung, deine Spekulation, dein Wissen, dein Denken und deine Imagination üben. Laß die Dinge auf ihrem Urgrund beruhen und halte den Schöpfer für denselben.“
Mit andern Worten: das Walten Gottes und die Existenz der Welt erscheinen in den Augen des Verstandes unter der abstrakten Gestalt von zehn Zahlen, deren jede etwas Unendliches repräsentiert, sei es bezüglich der Ausdehnung, der Dauer oder irgend welcher andern Eigenschaft. Dies scheint wenigstens der Sinn folgender Stelle[394] zu sein:
„Für die zehn Sephiroth giebt es kein Ende, weder in der Zukunft, noch in der Vergangenheit, weder im Guten noch im Bösen, weder in der Höhe, noch in der Tiefe, weder im Osten noch im Westen, weder im Süden, noch im Norden.“
Es verdient bemerkt zu werden, daß hier das Unendliche in zehnerlei Hinsicht betrachtet wird, weshalb wir aus dieser Stelle nicht allein den allgemeinen Charakter der Sephiroth, sondern auch die mit ihnen korrespondierenden Prinzipien und Elemente kennen lernen. Alle diese paarweise einander gegenübergestellten Gesichtspunkte entsprechen jedoch einer einzigen Idee und einem einzigen Unendlichen, denn es heißt[395]:
„Die zehn Sephiroth sind wie die Finger der Hand der Zahl nach zehn, fünf gegen fünf, aber zwischen ihnen hindurch zieht sich das Band der Einheit.“
Diese Worte bestätigen unsern Ausspruch:
Diese Auffassung der zehn Sephiroth, ohne tiefer auf ihre Beziehungen zu den äußeren Dingen einzugehen, hat einen eminent abstrakten und metaphysischen Charakter. Wollten wir hier eine genauere Untersuchung anstellen, so würden wir die Kategorien der Dauer und des Raumes in einer gewissen unabänderlichen Ordnung dem Unendlichen und der absoluten Einheit unterworfen sehen, ohne welche es selbst in der sinnlichen Sphäre weder Gutes noch Böses geben würde. Jedoch geben wir hier eine scheinbar dem Sinnlichen etwas mehr Rechnung tragende Darstellung der zehn Sephiroth:
„Die erste der Sephiroth, Eins, ist der Geist des lebendigen Gottes. Gelobt sei sein Name; gelobt sei der Name dessen, der da lebt in Ewigkeit! Der Geist, die Stimme, das Wort, der heilige Geist.“
„Zwei ist der vom Geist ausgehende Hauch; in ihm sind die zweiundzwanzig Buchstaben, welche jedoch zusammen nur einen Hauch bilden, eingegraben und ausgeprägt.“
„Drei ist das vom Geist oder Hauch kommende Wasser. Im Wasser ergründete er die Finsterniß und Leere; im Wasser bildete er die Erde und den Thon und spannte sie gleich einem Teppich aus, geformt wie eine Mauer und mit einem Dach bedeckt.“
„Vier ist das vom Wasser kommende Feuer, woraus der Ewige den Thron seines Ruhmes, die himmlischen Räder (Ophanim), die Seraphim und dienstbaren Engel bildete. Mit diesen Dreien erbaute der Himmlische seine Wohnung, wie denn geschrieben steht: Er macht die Winde zu seinen Boten und die Feuerflammen zu seinen Dienern.“
Die sechs folgenden Zahlen repräsentieren die vier Enden der Welt oder die Kardinalpunkte des Himmels, die Höhe und die Tiefe. Die Enden der Welt gelten auch als die Embleme der Kombinationen, welche aus den drei ersten Buchstaben des Wortes יהוה gebildet werden können.
An Stelle der verschiedenen Punkte des Raumes, welche angenommen werden, aber nicht reell existieren, kann man die verschiedenen Elemente, aus denen die Welt zusammengesetzt ist, substituieren, die, dem Ewigen entspringend, um so materieller werden, je mehr sie sich von ihrem Urquell entfernen. Hier haben wir die dem populären Glauben, daß die Welt aus nichts geschaffen sei, entgegengesetzte Emanationslehre. Folgende Worte setzen dies außer allem Zweifel:
„Das Ende der Sephiroth ist mit ihrem Anfang verbunden, wie die Flamme mit dem Brand, denn der Herr ist ein einiger Herr, und es giebt keinen andern. Und was sind in Gegenwart des Einigen Namen und Zahlen?“[396]
Um uns nicht vergessen zu lassen, daß hier ein großes Geheimnis verborgen ist, heißt es sogleich weiter:
„Schließe deinen Mund, damit du nicht davon redest, und dein Herz, daß es nicht darüber nachdenke; und ist es dir entschlüpft, so bringe es zurück, denn deshalb wurde der Bund geschlossen.“[397]
Ich füge hinzu, daß diese letzten Worte auf einen Eid anspielen, welchen die Kabbalisten schwuren, um ihre Lehren der großen Menge zu verbergen. Was die erste Stelle anlangt, so wird der in ihr enthaltene einfache Vergleich sehr häufig im Sohar wiederholt, und wir werden ihn dort sowohl auf die Seele als auf Gott angewendet und ausgedehnt wiederfinden. Wir fügen hinzu, daß zu allen Zeiten und in allen Sphären des Seins, sei es im innern Bewußtsein, sei es in der äußern Natur, die Schöpfung auf dem Wege der Emanation mit den Ausstrahlungen des Lichts oder der Flamme verglichen wurden.
Mit dieser Theorie verbindet sich eine andere von äußerst beachtungswertem Charakter, nämlich die, welche das göttliche Wort mit dem heiligen Geist identificiert und es nicht nur als absolute Form, sondern als das zeugende Element und die Substanz des Weltalls betrachtet. Es ist in der That nichts weiter als die Lehre des Onkelos, welcher, um den Anthropomorphismus zu vernichten, an die Stelle der Persönlichkeit Gottes, welcher uns in der Bibel in menschlicher Gestalt entgegentritt, den Gedanken oder die göttliche Inspiration setzt. Auch in unserm vorliegenden Buch wird in klarer und conciser Sprache gesagt, daß der heilige Geist oder der Geist des lebendigen Gottes und die Stimme oder das Wort ein und dasselbe ist; es nimmt nach und nach je nach der Entfernung von seinem Ursprung eine immer materiellere Gestalt an und wird schließlich, um in der Sprache des Aristoteles zu reden, das materielle Prinzip der Dinge. Es ist das Welt gewordene Wort, denn wir müssen uns ins Gedächtnis zurückrufen, daß im Buche Jezirah nur von der Welt, nicht aber vom Menschen und von der Menschheit die Rede ist.
Die Betrachtungen über die zehn Zahlen nehmen einen großen Raum des „Buches der Schöpfung“ ein, und man bemerkt leicht, 373daß sie sich auf das Weltall im allgemeinen, mehr auf die Wesenheit als auf die Form beziehen. Man vergleicht sie mit den verschiedenen Teilen des Weltalls und sucht sie auf ein gemeinsames Grundprinzip und Grundgesetz zurückzuführen. Ihre Basis bilden die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets, welche als äußerliche Zeichen der Ideen eine ungemein große Rolle spielen. Betrachten wir dieselben nach ihrem Klang oder Laut, so stehen sie sozusagen auf der Schwelle der intellektuellen und physischen Welt, denn einesteils werden sie durch ein materielles Element, durch die Luft oder den Hauch hervorgebracht, während sie andererseits die von der Sprache untrennbaren Zeichen und somit die einzig mögliche und unveränderliche Form des Geistes sind. Auch lassen weder der Inhalt des ganzen Systems noch der buchstäbliche Sinn eine andere Deutung der bereits oben citierten Worte zu:
„Die Zahl Zwei (oder das zweite Prinzip des Weltalls) ist der vom Geist ausgehende Hauch; in ihm sind die zweiundzwanzig Buchstaben, welche zusammen nur einen Hauch bilden, eingegraben und ausgeprägt.“
Also spielen hier infolge einer bizarren, aber keineswegs einer gewissen Größe entbehrenden Kombination die Grundelemente der Sprache, die Buchstaben, eine ähnliche Rolle wie die Ideen Platos.
Infolge ihrer Gegenwart und ihres Eindruckes auf die Dinge erkennt man in allen Teilen des Alls das Walten einer höchsten Intelligenz, und durch ihre Vermittelung offenbart sich der heilige Geist in der Natur. Nur dies ist der Sinn folgender Stelle:
„Gott schuf die Seele alles dessen, was ist und sein wird, durch die zweiundzwanzig Buchstaben, indem er ihnen Form und Figur gab und sie auf die verschiedenste Weise kombinierte. Auf dieselben Buchstaben hat der Allerheiligste, gebenedeit sei er, seinen erhabenen und unaussprechlichen Namen gegründet.“
Die Buchstaben werden in drei Klassen geteilt, nämlich in drei Mütter, sieben doppelte und zwölf einfache Buchstaben. Es ist für unsern Zweck ohne Belang, dem Grund dieser sonderbaren Einteilung hier nachzuspüren: es sei nur bemerkt, daß man per fas et nefas die Drei, Sieben und Zwölf im Naturleben wiederfinden will, nämlich: 1. in der allgemeinen Einteilung der Welt; 2. in der Einteilung des Jahres und 3. im Bau des Menschen. – Wir 374finden hier, wenn auch nicht ausdrücklich ausgesprochen, die Idee des Makrokosmus und Mikrokosmus, oder den Glauben, daß der Mensch – so zu sagen – das Bild oder das Resumé des Weltalls sei.
Hinsichtlich der allgemeinen Zusammensetzung der Welt repräsentieren die Mütter oder die Zahl Drei die Elemente Wasser, Luft und Feuer. Das Feuer ist die Substanz des Himmels, und das Wasser wurde, indem es sich verdichtete, die der Erde. Zwischen diesen einander feindlichen Elementen befindet sich die Luft, welche sie trennt, verbindet und beherrscht.[398] Bei der Einteilung des Jahres in die Jahreszeiten begegnen wir der gleichen Signatur: dem Sommer entspricht das Feuer, dem Frühling, der Regenzeit des Orients, das Wasser, und dem gemäßigten Herbst die Luft. Im Bau des menschlichen Körpers entspricht die Drei dem Kopf, dem Herzen oder der Brust und dem Magen oder dem Unterleib, welche Teile ein neuerer Arzt „den Dreifuß des Lebens“ genannt hat. Die Dreizahl erscheint hier wie in allen mystischen Kombinationen als etwas so notwendiges, daß man sie auch zum Symbol des moralischen Menschen gemacht hat, bei welchem das Buch Jezirah „die Ebene des Verdienstes, die Ebene der Schuld und den zwischen beiden stehenden Wegweiser des Gesetzes“ unterscheidet.
Die sieben doppelten Buchstaben repräsentieren die Gegensätze oder wenigstens Dinge, welche zueinander entgegen gesetzten Zwecken dienen können. Es sind zunächst die sieben Planeten, deren Einfluß bald gut und bald böse ist, ferner die sieben Tage und Nächte der Woche und die sieben Pforten des Körpers, nämlich die Augen, Ohren, Nasenlöcher und der Mund. Endlich giebt es siebenerlei Glücks- und Unglücksfälle, welche dem Menschen zustoßen können. Wie man jedoch sieht, ist diese Einteilung eine sehr willkürliche, und wir haben ein längeres Verweilen bei derselben nicht nötig.
Die zwölf einfachen Zahlen, von denen wir noch reden müssen, entsprechen den zwölf Zeichen des Tierkreises, den zwölf Monaten des Jahres, den Hauptgliedern des menschlichen Körpers und den wesentlichsten Verrichtungen des menschlichen Organismus, nämlich: dem Gesicht, dem Gehör, dem Geruch, der Sprache, der Ernährung, 375der Zeugung, des Gefühls, der Bewegung, des Zorns, des Lachens und des Schlafes.[399] – Wir sehen hier den Geist der Untersuchung bei seinem Erwachen und brauchen uns weder über seine kindliche Forschungsweise noch die Resultate zu verwundern, die eben seine Originalität beweisen.
Die durch die Buchstaben des Alphabets dargestellte materielle Form der Intelligenz ist gleichzeitig die Form alles Seienden, denn außer dem Menschen, dem Universum und der Zeit ist nichts als das Unendliche denkbar; deshalb nennen die Gläubigen jene drei „die Zeugen der Wahrheit[400]“. Jedes von ihnen ist ungeachtet der zu beobachtenden Verschiedenheit ein System, welches ein Centrum und gewissermaßen eine Hierarchie besitzt:
„Denn, sagt der Text, die Einheit herrscht über die Drei, die Drei über die Sieben, und die Sieben über die Zwölf; aber ein jeder Teil des Systems ist von dem andern untrennbar.“[401]
Das Universum hat den himmlischen Drachen[402] als Centrum; das Herz ist das Centrum des Menschen, und der Lauf der Himmelszeichen die Basis des Jahres. „Das Erste, sagt der Text, gleicht einem König auf seinem Thron, das Zweite einem König inmitten seiner Unterthanen, und das Dritte einem König in der Schlacht.“[403] Ich glaube, daß man durch diesen Vergleich die vollkommene im Weltall herrschende Regelmäßigkeit und die Gegensätze bezeichnen will, welche im Menschen walten, ohne seine Einheit zu vernichten. Der Text sagt, daß die zwölf Hauptglieder des menschlichen Körpers einander gewissermaßen in Schlachtordnung gegenüberstehen; drei dienen der Liebe, drei dem Haß, drei geben das Leben und drei den Tod. – Dem Guten steht das Böse gegenüber, und das Böse erzeugt nur Böses, wie das Gute nur Gutes. Über diese drei Reiche, über den Menschen, das Universum und die Zeit sowohl als über die Buchstaben und Sephiroth ist der Herr erhaben, welcher in seiner Heiligkeit thront und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Auf diese Worte folgt der Schluß des Buches in einer Art dramatischen Lösung des Ganzen, worin Abraham vom Götzendienst zur Religion des wahren Gottes bekehrt wird.
Das letzte Wort des kabbalistischen Systems ist die Ersetzung jeder Art eines Dualismus durch die absolute Einheit: so des Dualismus der heidnischen Philosophie, welche im Stoff eine ewige Substanz erblickt, deren Gesetze sich nicht stets im Einklang mit dem göttlichen Willen befinden; so aber auch des Dualismus der Bibel, welche im Schöpfungsgedanken wohl die Idee des göttlichen Willens erfaßt und folgegemäß im unendlichen Sein die einzige Ursache und den einzigen realen Ursprung der Welt erblickt, die aber doch die Gottheit und die Welt als zwei absolut verschiedene Dinge auffaßt. Im Sepher Jezirah wird dagegen Gott als das unendliche Sein und infolgedessen als undefinierbar erklärt; Gott steht nach unserm Text in aller Größe seines Wesens und seiner Macht über und nicht unter der Möglichkeit, ihn durch Zahlen und Buchstaben auszudrücken, oder durch irgendwelche unserer Vernunft begreifbare Gesetze des Weltalls. Jedes weltliche Element hat seine Quelle in einem höheren Element, deren gemeinsamer Ursprung das Wort oder der heilige Geist ist. Im Wort finden wir auch die unveränderlichen Zeichen des Gedankens, welche sich in jeder Sphäre des Seins wiederholen und überall die bestimmte Absicht des Schöpfers durchblicken lassen. Und ist dieses Wort, die erste der Zahlen, das erhabenste aller Dinge, die wir wahrnehmen und definieren können, nicht die höchste und absoluteste Offenbarung Gottes oder des Denkens der höchsten Intelligenz? Also ist Gott im tiefsten Sinn und in der höchsten Bedeutung der Stoff und die Form des Weltalls, denn nichts kann ohne ihn existieren, seine Wesenheit ist die Grundwesenheit der Dinge, die alles erfüllt, und alle Dinge sind nur ihr Symbol.
Diese scheinbar so verwegene Folgerung ist die Grundlage der Lehren des Sohar, welcher jedoch einen dem Buche Jezirah völlig entgegengesetzten Weg einschlägt. Denn, anstatt sich nach und nach durch Vergleichung der Formen der Einzelheiten mit denen ihnen übergeordneten emporzuschwingen, beschäftigt er sich sogleich mit dem höchsten Prinzip, mit der universellen Form und der absoluten Einheit, welche er stets als ein unberührbares Axiom betrachtet.
Man könnte allerdings das den Gedankengang der beiden Bücher verbindende Band durch die Art und Weise der Darstellung zerrissen betrachten, obschon in ihnen ein wesentlich synthetischer Charakter vorherrscht. Aber nichtsdestoweniger beginnt der Sohar dort, wo das Buch Jezirah aufhört.
Eine zweite sehr bemerkenswerte Verschiedenheit trennt diese beiden Monumente und erklärt sich durch ein allgemeines Gesetz des menschlichen Geistes: den Zahlen und Buchstaben können wir nämlich die innern Formen, die unveränderlichen Konzeptionen des Denkens, mit einem Wort die Ideen in ihrer edelsten und weitesten Bedeutung substituieren. Das göttliche Wort, anstatt sich ausschließlich in der Natur zu manifestieren, erscheint uns vor allem im Menschen und in der Intelligenz und wird insofern als der urbildliche oder himmlische Mensch, אדם קדמון, bezeichnet. Endlich aber würde, wie wir noch sehen werden, in gewissen Fragmenten von hohem Alter die absolute Einheit oder der Gedanke nicht als die Universalsubstanz bezeichnet und die regelmäßige Entwickelung dieser Potenz nicht an die Stelle der ziemlich groben Emanationstheorie gesetzt werden.
Diese Transformation des Symbols zur Idee, welche die Kabbala vornimmt, wiederholt sich bei allen großen religiösen und philosophischen Systemen, und es genüge hier, an dieser allgemeinen Thatsache die Beziehungen des Sepher Jezirah zu denselben dargethan zu haben.
Da die Autoren, aus deren Arbeiten der Sohar entstand, ihre Ideen in der einfachsten und einer sehr wenig logischen Form darstellten, nämlich in der eines Kommentars zu den fünf Büchern Mosis, so können wir, ohne die ihnen schuldige Achtung zu verletzen, unsere Darstellung nach der uns am geeignetsten scheinenden Weise einrichten. Und zwar müssen wir zunächst ihre Methode der Schriftauslegung betrachten, deren Basis der symbolische Mysticismus ist. Ihr Urteil hierüber formulieren sie mit folgenden Worten:
„Wehe über den Menschen, welcher im Gesetz nur einfache Erzählungen und gewöhnliche Worte sieht. Denn wenn es in Wahrheit nichts weiter als solche enthielte, so könnten wir noch heute ein ebenso bewundernswertes Gesetz aufstellen. Um nur einfache Worte zu finden, brauchten wir uns nur an die irdischen Gesetzgeber zu wenden, bei welchen man oft noch größere Erhabenheit des Ausdrucks findet. Es würde genügen, dieselben nachzuahmen und ein Gesetz nach ihrem Vorgang und Beispiel aufzustellen. Aber dem ist nicht also, denn jedes Wort des Gesetzes hat einen erhabenen Sinn und schließt ein hohes Geheimniß in sich.“
„Die Erzählungen des Gesetzes sind das Kleid des Gesetzes, und Wehe dem, welcher das Kleid für das Gesetz selbst nimmt! In diesem Sinn hat David gesagt: Mein Gott, öffne meine Augen, auf daß ich sehe die Wunder an deinem Gesetz! David wollte mit diesen Worten das unter dem Kleid des Gesetzes Verborgene 379bezeichnen. Es giebt unverständige, die, wenn sie einen Menschen in seinem schönen Kleid sehen, nur auf dieses ihr Augenmerk legen, und doch ist es nur der Körper, welcher dem Kleid Werth verleiht; dem Körper aber giebt die Seele seinen Werth. So hat auch das Gesetz seinen Körper. Es giebt Gebote, welche man den Körper des Gesetzes nennen könnte. Die im Gesetz vorkommenden Erzählungen sind die Kleider, mit welchen dessen Körper bedeckt ist. Die Thoren betrachten nur die Kleider oder die Erzählungen des Gesetzes; sie kennen nichts Anderes und sehen nicht, was unter diesen Kleidern verborgen ist. Die Klugen wenden keine Aufmerksamkeit auf die Kleider, sondern auf den Körper, welchen dieselben bedecken. Die Weisen endlich, die Diener des höchsten Königs, welche auf dem Gipfel des Sinai wohnen, beschäftigen sich nur mit der Seele, welche die Grundlage alles Übrigen ist, nämlich mit dem Gesetz selbst; und in der Zukunft sind sie bereit, die Seele der Seele, welche das Gesetz durchweht, zu betrachten.“[404]
Die Kabbalisten schoben also auf eine den Profanen unbekannte Weise in mysteriösem Sinn den historischen Thatsachen und positiven Geboten, aus denen sich die Schrift zusammensetzt, eine geheime Bedeutung unter. Dies war für sie das einzige Mittel, ihre Freiheit zu bewahren, ohne mit der religiösen Autorität zu brechen, und vielleicht hatten sie dasselbe auch zur Beruhigung ihres Gewissens nötig. In folgendem Passus treffen wir den nämlichen Geist in einer noch bemerkenswerteren Form an:
„Wenn das Gesetz nur aus gewöhnlichen Worten und Erzählungen bestände, wie die von Esau, Hagar, Laban, von Bileam und seiner Eselin, warum würde es dann wohl das Gesetz der Wahrheit, das vollkommene Gesetz, das wahre Wort Gottes heißen? Warum würde es der Weise dann höher schätzen als Gold und Perlen? Es ist eben unter jedem Wort ein erhabener Sinn verborgen, und jede Erzählung lehrt uns etwas Anderes als die Thatsachen, welche sie scheinbar erhält, und dieses erhabene und heilige Gesetz ist das wahre Gesetz.“[405]
Es ist nicht ohne Interesse, daß wir in den Werken eines Kirchenvaters 380einer vollkommen ähnlichen Ausdrucksweise begegnen. So sagt Origenes[406]:
„Si adsideamus litterae et secundum hoc vel quod Judaeis, vel quod vulgo videtur, accipiamus quae in lege scripta sunt, erubesco dicere et confiteri quia tales leges dederit Deus: videbuntur enim magis elegantes et rationabiles hominum leges, verbi gratia, vel Romanorum, vel Atheniensium, vel Lacedaemoniorum.“ –
„Cuinam quaeso sensum habenti convenienter videbitur dictum quod dies prima et secunda et tertia, in quibus et vespera nominatur et mane; fuerint sine sole et sine luna et sine stellis; prima autem dies sine coelo? Quis vero ita idiotes invenitur, ut putet, velut hominem quemdam agricolam, Deum plantasse arbores in Paradiso, in Eden, contra orientem, et arborem vitae plantasse in eo, ita ut manducans quis ex ea arbore vitam percipiat? et rursus ex alia manducans arbore, boni et mali scientiam capitat.“[407]
„Triplicem in Scripturis divinis intelligentiae modum, historicum moralem et mysticum: unde et corpus inesse et animam ac spiritum intelleximus.“[408]
Um nun zwischen dem heiligen Text und ihren willkürlichen Auslegungen plausibel erscheinende Beziehungen herzustellen, griffen die Kabbalisten zu verschiedenen künstlichen Mitteln, welche zwar im Sohar keine Anwendung finden, dafür aber in späterer Zeit in um so höherem Ansehen stehen. Diese Mittel sind an sich wertlos, und wir haben uns mit ihnen nicht zu beschäftigen.
Anstatt dessen suchen wir kennen zu lernen, was in den ältesten Teilen des Sohar über die Natur und die Attribute der Gottheit, über die Schöpfung und die Beziehungen Gottes zur Welt, sowie endlich über den Ursprung, die Natur und die Bestimmung des Menschen gelehrt wird.
Die Kabbalisten haben zweierlei Manier von Gott zu reden, ohne daß dies jedoch der Einheit ihres Gottesgedankens Eintrag thäte. Wenn sie die Gottheit zu definieren suchen, ihre Attribute unterscheiden und uns eine präzise Anschauung ihrer Natur geben wollen, so ist ihre Sprache eine metaphysische und sie besitzt so viel Klarheit, als die Natur der Sache und Sprache mit sich bringt. Manchmal aber begnügen sie sich, die Gottheit als ein unbegreifliches Wesen darzustellen, welches weit über alle Formen erhaben ist, mit denen es die menschliche Imagination zu bekleiden liebt. In diesem Falle ist ihre Ausdrucksweise poetisch und bildlich, wobei gewissermaßen ihre Imagination gegen die erwähnte profane zu Feld zieht. Alle ihre Anstrengungen sind auf die Zerstörung des Anthropomorphismus gerichtet, dem sie gigantische schreckenerregende Proportionen verleihen, um für die Idee des Unendlichen passende Vergleiche aufzustellen.
„Das Buch des Geheimnisses“ ist durchaus in diesem Styl geschrieben, wobei zu bemerken ist, daß die Allegorien oft gleichzeitig Rätsel bilden, wie wir aus folgender Stelle des Idra Rabba darthun wollen: Simon ben Jochai versammelt seine Schüler und sagt ihnen, daß die Zeit gekommen sei, für den Herrn zu arbeiten, d. h. den wahren Sinn des Gesetzes kennen zu lernen; die Tage der Menschen seien gezählt, der Arbeiter nur eine kleine Zahl, und die Stimme des Herrn und Schöpfers treibe zur Eile. Er ermahnt 382sie, die Geheimnisse, welche er ihnen anvertrauen wolle, nicht zu profanieren, setzt sich mitten unter sie auf das Feld unter den Schatten eines Baumes und beginnt unter tiefem Schweigen:
„Und siehe, eine Stimme ertönte, und ihre Kniee erbebten vor Schrecken. Was war diese Stimme? Es waren die Stimmen der himmlischen Versammlung, welche sich vereinigten, um gehört zu werden. Rabbi Simon aber rief voll Freude aus: Herr, ich sage nicht wie einer deiner Propheten[409], daß ich erbebte, als ich deine Stimme hörte, denn es ist nicht mehr die Zeit der Furcht, sondern die der Liebe, wie da geschrieben steht: du wirst den Ewigen, deinen Gott lieben.“[410]
Nach dieser Einleitung, welche weder eines gewissen Pompes noch Interesses ermangelt, folgt eine lange durchaus allegorische Beschreibung der göttlichen Größe. Es mögen hier einige Stellen aus derselben folgen:
„Er ist der Älteste der Alten, das Geheimniß der Geheimnisse, der Unbekannteste der Unbekannten. Er hat die Gestalt, welche ihm gehört und erscheint uns besonders als Greis, als der Älteste der Alten und der Unbekannteste unter den Unbekannten. Aber unter der Gestalt, in welcher er sich uns zu erkennen giebt, bleibt er dennoch der Unbekannte. Sein Kleid ist weiß und sein Anblick glänzend. Er sitzt auf einem Thron von Funken, welcher seinem Willen unterworfen ist. Das weiße Licht seines Hauptes erhellt viermalhunderttausend Welten. Viermalhunderttausend von diesem weißen Licht geborene Welten werden das Erbtheil der Gerechten in der künftigen Welt sein. Jeden Tag entsprossen aus seinem Gehirn dreizehntausend Myriaden Welten, welche ihm ihre Existenz verdanken und deren Last er allein trägt. Von seinem Haupt träuft der Thau, welcher die Todten erweckt und ihnen ein neues Leben bereitet. Darum steht geschrieben: Dein Thau ist der Thau des Lichtes. Er ist die Nahrung der Heiligen vom erhabensten Rang. Er ist das Manna, welches den Gerechten im künftigen Leben bereitet ist. Er steigt herab auf das Feld der heiligen Früchte.[411] Der Anblick dieses Thaues ist glänzend wie Diamanten, deren Farbe 383alle Farben in sich faßt. Die Größe dieses Gesichtes ist dreihundertsiebenzig mal zehntausend Welten. Darum heißt es ‚das große Gesicht‘, denn also ist der Name des Ältesten der Alten.“
Es würde jedoch der Wahrheit nicht entsprechen, wenn wir behaupten wollten, daß alles Übrige nach diesem Beispiel zu beurteilen sei, obschon die Bizarrerie, die Affektation und die orientalische Gewohnheit, die Allegorie auf die Spitze zu treiben, häufig den Adel und die Größe des Ausdrucks überwuchern. So wird z. B. das blendende Haupt, welches den ewigen Herd des Seins und Wissens repräsentieren soll, gewissermaßen zu einer anatomischen Studie, bei welcher weder die Stirn, noch das Gesicht, die Augen, das Gehirn, die Haare und der Bart vergessen sind; alles dies giebt Gelegenheit mit bis ins Unendliche gehenden Zahlen zu spielen, und dies gab Veranlassung, daß von neueren Schriftstellern gegen die Kabbalisten der Vorwurf des Anthropomorphismus und selbst des Materialismus erhoben wurde, obgleich sie denselben in keiner Weise verdienen. Ohne uns dabei weiter aufzuhalten, wollen wir hier einige für die Geschichte des menschlichen Geistes wichtige Stellen des Sohar mitteilen, deren erste – sehr umfangreiche – in Anschluß an die Worte des Jesaias[412]: „Wem wollt ihr denn mich nachbilden, dem ich gleich sei?“ sich mit den zehn Sephiroth oder den Attributen der Gottheit beschäftigt, so lange dieselbe noch in ihrer eigenen Wesenheit verborgen ist:
„Bevor irgend eine Form, irgend ein Bild in dieser Welt geschaffen wurde, war er allein, ohne Form und nichts ihm ähnlich. Und wer konnte ihn erfassen, da er vor der Schöpfung und noch ohne Form war? Daher ist es auch verboten, ihn unter irgend welchem Bild, in irgend einer Gestalt darzustellen, sei sie auch, was sie immer sei, selbst sein heiliger Name oder ein Buchstabe oder ein Punct. Dies ist der Sinn der Worte[413]: ‚So bewahret nun eure Seelen wohl, denn ihr habt kein Gleichniß gesehen des Tages, da der Herr mit euch redete aus dem Feuer auf dem Berge Horeb.‘ Das heißt nämlich: ihr habt nichts gesehen, was ihr in einer Gestalt, einem Bildniß darstellen könntet. Aber nachdem er die Gestalt des 384‚himmlischen Menschen‘ (אדם עלאה) hervorgebracht hatte, bediente er sich der Merkaba (מרכבה) als eines Wagens, um herabzusteigen.“
„Er will unter der Form des heiligen Namens Jehovah genannt sein und giebt sich unter seinen Attributen zu erkennen, deren jedes einen besonderen Namen besitzt, als: Gott der Gnade, Gott der Gerechtigkeit, allmächtiger Gott, Herr der Heerscharen und ‚der, welcher ist‘. Seine Absicht war, seine Eigenschaften zu offenbaren und kund zu thun, wie sich seine Gnade und Barmherzigkeit sowohl auf die Welt als auf die Werke der Menschen erstreckt. Denn wie würden wir ihn erkennen können, wenn er nicht sein Licht allen Kreaturen geoffenbart hätte? Wie könnte man sonst sagen, daß die Welt von seinem Ruhm erfüllt sei? Wehe dem, der es wagt, ihn selbst mit einem seiner Attribute zu vergleichen! Noch weniger aber darf er mit dem Menschen verglichen werden, der auf die Welt gekommen und dem Tode verfallen ist. Man muß ihn als über allen Geschöpfen und allen Attributen stehend erkennen. Wenn man von all diesen Dingen abstrahiert, so bleibt weder Bild, noch Attribut, noch Figur, und er ist dem Meere vergleichbar, dessen Gewässer ohne Grenzen und Form sind; wenn sie sich aber über die Erde ergießen, so bringen sie ein Bild (דמות) hervor, welches sich in folgender Berechnung ausdrücken läßt: Die Quelle der Wässer des Meeres und der Glanz, welchen der Strahl der Sonne darauf wirft, sind zwei. Aus ihnen bildet sich ein riesengroßes Becken, welches in ungeheurer Tiefe ausgehöhlt ist. Dieses Becken ist mit den aus ihrer Quelle entströmenden Gewässern angefüllt; es ist das Meer selbst und kann als das Dritte betrachtet werden. Diese ungeheure Tiefe teilt sich in sieben Kanäle, durch welche sich, wie durch große Gefäße, das Wasser des Meeres ergießt. Die Quelle, der Strom, das Meer und die sieben Kanäle bilden zusammen die Zahl Zehn. Und wenn der Arbeiter, der diese Gefäße gebildet hat, dieselben zerbricht, so kehrt das Wasser zu seiner Quelle zurück, und es bleibt nichts als die vertrockneten wasserlosen Scherben. Die Ursache aller Ursachen hat also die zehn Sephiroth hervorgebracht. Die erste derselben, ‚die Krone‘, ist die Quelle, welche ein endloses Licht ausstrahlt, und von ihr kommt der Name des Unendlichen (אין סוף), En Soph, um die höchste Ursache zu bezeichnen, denn sie hat in dieser Gestalt weder Form noch Figur, und es giebt noch 385kein Mittel, sie zu begreifen, und keine Art und Weise, sie zu erkennen. In diesem Sinn steht geschrieben: ‚Sinnet nicht nach über etwas, das über euch ist.‘ Darauf bildet sich ein Gefäß, das fast wie ein Punkt zusammengedrückt ist, (der Buchstabe י), welches aber dennoch vom göttlichen Licht durchdrungen ist; es ist die Quelle der Weisheit, ja die Weisheit selbst, die Tugend, von welcher die höchste Ursache sich Gott nennt. Diese Quelle bildet alsdann ein Gefäß, unendlich wie das Meer selbst; man nennt es die Weisheit, und von ihm kommt der Name: der allweise Gott. Wir müssen nämlich wissen, daß Gott intelligent und weise seinem eigensten Wesen nach ist, und daß die Weisheit ihren Namen nicht durch sich selbst verdient, sondern durch ihn, der weise ist und das aus ihm emanirende Licht hervorgebracht hat. Nicht durch sie selbst kann man die Intelligenz begreifen, sondern durch ihn, welcher intelligent ist und die Intelligenz mit seiner eigenen Wesenheit erfüllt. Wenn er sich aus ihr zurückzöge, würde sie völlig zu nichte werden. Dies ist der Sinn der Worte[414]: ‚Wie ein Wasser ausläuft aus dem See, und wie ein Strom versieget und vertrocknet.‘ Endlich theilt sich das Meer in sieben Arme, welche sieben kostbare Gefäße bilden, welche genannt werden: die Barmherzigkeit oder die Größe; die Gerechtigkeit oder die Stärke; die Schönheit; der Triumph; der Ruhm; das Reich; der Grund oder die Basis. Aus diesem Grund wird Gott der Große oder der Barmherzige, der Starke, der Prächtige, der Gott des Siegs, der Schöpfer, welchem allein Ruhm gebührt, und der Urgrund aller Dinge genannt. Dies ist das letzte Attribut, welches die Grundlage aller übrigen und der Totalität der Welten bildet. Endlich ist Gott auch der König des Weltalls, denn in seiner Gewalt steht Alles, sei es, daß man die Zahl der Gefäße vermindern oder, je nach der zu treffenden Wahl das Licht, welches er ausstrahlt, vermehren will.“[415]
In diesem Text ist so ziemlich alles enthalten, was die Kabbalisten über die göttliche Natur gedacht haben; jedoch leidet derselbe selbst für die mit der kabbalistischen Ausdrucksweise Vertrauten an großer Unklarheit, weshalb es sich empfiehlt, seinen Inhalt in präciserer 386Ausdrucksweise wiederzugeben, indem wir das im Sohar an verschiedenen Stellen über die göttlichen Attribute Gesagte in einer Anzahl von Fundamentalsätzen zusammenfassen:
1. Gott war, bevor irgend etwas existierte, die unendliche Wesenheit. Deshalb kann er weder als die Gesamtheit der Dinge, noch als die Summe seiner Attribute betrachtet werden. Aber ohne diese Attribute und die von ihnen hervorgebrachten Wirkungen – so zu sagen ohne eine determinierte Form – ist es unmöglich, ihn zu begreifen oder zu erkennen. Dieser Grundsatz ist klar in folgenden Worten ausgesprochen: „Vor der Schöpfung war Gott ohne Gestalt, nichts gleichend, und in diesem Stand war er für die Intelligenz unbegreiflich.“ Aber wir beschränken uns nicht allein auf dieses Zeugnis, sondern hoffen, daß man den gleichen Sinn auch in folgender Stelle wiederfinde: „Bevor sich Gott offenbarte, als alle Dinge noch in ihm verborgen lagen, war er der Unbekannteste unter den Unbekannten. In diesem Stand hatte er keinen andern Namen als den der Frage. Er begann einen unfaßbaren Punkt zu bilden, welcher sein eigener Gedanke war. Alsdann bildete er durch seinen Gedanken eine geheimnißvolle und heilige Form, die er endlich mit einem reichen und glänzenden Kleid bedeckte. Dies ist das Weltall, welches nothwendiger Weise im Namen Gottes enthalten ist.“[416]
Weiterhin heißt es in der Idra Suta:
„Der Älteste der Alten ist gleichzeitig der Unbekannteste der Unbekannten; er ist von allem getrennt und nicht getrennt; er vereinigt in sich Alles, und nichts ist außer ihm. Er besitzt eine Gestalt, ohne daß es möglich ist, sie zu beschreiben. Er giebt Form und Existenz allem, das ist. Er läßt aus seinem Busen zehn Lichtstrahlen ausgehen, welche in der von ihm verliehenen Form erglänzen und alles mit Tageshelle erleuchten. Er ist gewissermaßen ein Pharus, welcher nach allen Seiten seine Strahlen spendet. Der Älteste der Alten, der Unbekannteste der Unbekannten ist ein erhabener Pharus, den man nur an seinem Licht erkennt, welches in überschwenglicher Fülle und Glanz in unsere Augen blitzt; und was man seinen heiligen Namen nennt, ist nichts anderes als dieses Licht.“[417]
2. Die zehn Sephiroth, durch welche sich das unendliche Wesen ursprünglich zu erkennen gab, sind nichts anderes als die Attribute, welche an sich selbst keine substantielle Realität besitzen; jedoch repräsentiert sich in jedem derselben die göttliche Wesenheit, und in ihrer Gesamtheit besteht das erste Attribut, die vollkommenste und erhabenste Offenbarung der Gottheit. Es wird der ursprüngliche oder himmlische Mensch (אדם עלאה, אדם קדמון) genannt und es ist die Gestalt, welche den geheimnißvollen Wagen des Hesekiel lenkt, und von der der irdische Mensch nur eine blasse Kopie ist.[418]
„Die Gestalt des Menschen, sagt Simon ben Jochai zu seinen Schülern, faßt alles in sich, was im Himmel und auf Erden ist, die obern Wesen wie die untern Wesen, und deshalb hat sie auch der Älteste der Alten zu der seinen gemacht. Keine Gestalt, keine Welt kann vor der menschlichen bestehen, denn sie schließt alle Dinge in sich, und alles besteht nur durch sie. Ohne sie würde die Welt nicht bestehen können, und in diesem Sinn sind die Worte zu verstehen: Der Ewige hat die Erde auf die Weisheit gegründet. Aber man muß den obern Menschen (אדם דלעילא) von dem untern Menschen (אדם דלתתא) unterscheiden, von denen keiner ohne den andern bestehen kann. Unter der menschlichen Gestalt ist die Vollkommenheit des Glaubens verborgen, und das ist es, was durch die Menschengestalt, die den Wagen lenkt, ausgedrückt werden soll. Und das ist es, was Daniel mit den Worten kund thun will: Und ich sah des Menschen Sohn kommen mit den Wettern des Himmels und vordringen bis zu dem Alten der Tage und sich vor ihm darstellen.“[419]
Was man also den himmlischen Menschen oder die erste Offenbarung der Gottheit nennt, ist nichts anderes als die absolute Form alles Seienden, die Quelle aller andern Formen oder vielmehr der Ideen; mit einem Wort: der höchste Gedanke, welcher der λόγος oder das Wort genannt wird. So heißt es:
„Die Gestalt des Alten (sein Name sei geheiligt!) ist die einzige Form, welche alle Formen in sich einschließt; sie ist die höchste und geheimnißvollste Weisheit, welche alles Übrige in sich faßt.“[420]
3. Die zehn Sephiroth sind, wenn wir den Verfassern des Sohar Glauben schenken dürfen, bereits im alten Testament durch eben so viele Gott geheiligte Namen gekennzeichnet, welche identisch mit denen sind, welche der heilige Hieronymus in seinem Brief an Marcella erwähnt.[421] Man hat sie auch in der Mischna finden wollen, weil dort gesagt ist, daß Gott die Welt durch zehn Worte geschaffen habe, welche als eben so viele Befehle aus seinem allmächtigen Wort ausgingen.[422] Obschon sie alle gleich notwendig sind, können die Attribute und die Distinktionen, welche sie ausdrücken, uns doch nicht die göttliche Natur in ihrer ganzen Hoheit erkennen lassen, aber sie stellen dieselbe unter verschiedenen Gesichtspunkten dar, welche in der Sprache der Kabbalisten „Gesichter“ (אנפין, פרצופין) genannt werden. Simon ben Jochai und seine Schüler machten sehr häufig von dieser metaphorischen Ausdrucksweise Gebrauch, aber sie mißbrauchten dieselbe nicht, wie ihre neueren Nachfolger. Wir sind genötigt, uns länger bei diesem wichtigsten Punkt der kabbalistischen Wissenschaft aufzuhalten; aber bevor wir den besondern Charakter der einzelnen Sephiroth darlegen, müssen wir einen Blick auf die allgemeine Frage ihrer Wesenheit werfen und mit wenigen Worten die verschiedenen Meinungen darstellen, welche über dieselben bei den Adepten der Kabbala kursieren.
Die Kabbalisten haben zwei Fragen aufgestellt, nämlich: warum giebt es Sephiroth? und was sind die Sephiroth sowohl in ihrer Gesamtheit, als an sich selbst, als auch in ihren Beziehungen zu Gott? Über die erste Frage äußert sich der Sohar sehr positiv, ohne den mindesten Zweifel aufkommen zu lassen. Es giebt so viele Sephiroth als Namen Gottes; beide sind dem Geist nach eins, und die Sephiroth sind nichts als die durch die Namen ausgedrückten Ideen und Dinge. Wenn Gott keine Namen hätte, oder, wenn die ihm gegebenen Namen keine Realitäten bezeichneten, so würde er nicht allein uns unbekannt sein, sondern er würde auch an sich nicht existieren, denn er kann sich selbst nicht ohne Intelligenz begreifen, ohne Weisheit nicht weise sein und ohne Macht nicht handeln. – Die zweite Frage wird nicht in gleich bündiger Weise 389beantwortet. Manche Kabbalisten stützen sich auf den Grundsatz, daß Gott unveränderlich sei, und sehen in den Sephiroth nur die Werkzeuge der göttlichen Allmacht, Geschöpfe einer höheren Natur, welche jedoch vom ersten Wesen durchaus verschieden sind. Es sind dies diejenigen, welche die Sprache der Kabbala mit dem Buchstaben des Gesetzes vereinigen wollen. – Das, was der Sohar En-Soph nennt, nämlich das Unendliche an sich, ist in ihren Augen die Gesamtheit der Sephiroth, nichts mehr und nichts weniger, und jede der letzteren ist nur das Unendliche von einem verschiedenen Standpunkt betrachtet. Zwischen diesen extremen Anschauungen steht ein tieferes und dem Geist der Originale konformeres System, welches die Sephiroth als Werkzeuge, als Geschöpfe und als von der Gottheit verschiedene Wesen betrachtet, die nicht mit ihr verwechselt werden dürfen. Diese Anschauung beruht auf folgendem Ideengang: Gott ist in den Sephiroth gegenwärtig, sonst würde er sich durch dieselben nicht offenbaren können; aber er wohnt nicht ganz in ihnen, und er ist es nicht allein, was man unter diesen sublimen Ideen- und Existenzformen verhüllt. Die Sephiroth an sich können nie den Unendlichen begreiflich machen; das En-Soph, die Quelle aller Formen, besitzt an sich selbst keine, oder um in der dem Sohar heiligen Ausdrucksweise zu sprechen: obschon eine jede Sephire einen bekannten Namen hat, so besitzt er allein doch keinen. Gott bleibt immer das unaussprechliche, unendliche Wesen, welches über allen Welten, selbst über der Emanationswelt thront, die uns seine Gegenwart offenbaren. Die zehn Sephiroth können mit ebensoviel Gefäßen von verschiedener Form verglichen werden oder mit verschieden gefärbten Gläsern. Welches nun auch das Gefäß sei, womit man die göttliche Wesenheit messen will, so wohnt doch die absolute Wesenheit der Dinge beständig in ihm, und das göttliche Licht verändert nicht wie das Sonnenlicht seine Natur nach dem Mittel, durch welches es hindurch geht. Diese Gefäße und Mittel haben an sich keine positive Realität und keine eigene Existenz, sondern sie sind gewissermaßen die Grenzen, in denen die höchste Wesenheit der Dinge eingeschlossen ist, oder die verschiedenen Grade der Dunkelheit, mit denen das göttliche Licht seine unendliche Klarheit verschleiert, um sich anschaubar zu machen. Darum hat man in jeder Sephire zwei Elemente oder vielmehr zwei Gesichtspunkte 390erkennen wollen: der eine, rein äußerliche und negative, welcher den Körper repräsentiert, wird recht eigentlich das Gefäß (כלי) genannt, während der andere, innere positive, den Geist und das Licht bildet. Darum spricht man auch von den zerbrochenen Gefäßen, welche das göttliche Licht entweichen lassen. Dieser auch von Isaak Loriah und Moses Corduero eingenommene Standpunkt wird von letzterem mit viel Logik und Präcision vertreten und bildet die Basis des ganzen metaphysischen Teils der Kabbala.
Nachdem wir nun die allgemeinen Grundsätze festgestellt haben, auf denen die Autorität der Texte und der geschätztesten Kommentare beruhen, müssen wir jetzt die besondere Rolle der einzelnen Sephiroth und ihre Gruppierung nach Trinitäten und Personen betrachten.
Die erste und erhabenste der göttlichen Offenbarungen oder die erste Sephire ist „die Krone“ (כתר), welche so genannt wird, weil sie über allen andern Sephiroth steht. Der Text sagt:
„Sie ist das Princip aller Principien, die geheimnißvolle Weisheit, die über alles erhabene Krone, das Diadem der Diademe.“
Sie ist nicht die verschwommene Totalität ohne Namen und Form, der geheimnißvolle Unbekannte, welcher alle Dinge und selbst die Attribute (אין סוף) hervorgebracht hat. Sie repräsentiert das vom Unendlichen geschiedene Endliche, und sein Name in der Schrift bedeutet „ich bin“ (אהיה), weil es das Wesen an sich selbst ist. Dieses Wesen wird unter einem Gesichtspunkt betrachtet, den keine Untersuchung mehr ergründet, der keine Qualifikation mehr zuläßt, und in welchem alles in einem unteilbaren Punkt zusammenfließt. Aus diesem Grund wird sie auch der primitive Punkt genannt, und es heißt:
„Als der Unbekannteste der Unbekannten sich offenbaren wollte, brachte er einen Punkt hervor; jedoch war dieser Punkt nicht von seinem Busen ausgegangen; der Unendliche war noch durchaus unbekannt, und es strahlte kein Licht.“[423]
Die neueren Kabbalisten erklären dies durch die absolute Konzentration Gottes in seine eigene Substanz. Diese Konzentration 391hat aus sich den Raum, die „primitive Luft“ (אויר קדמון) geboren, welche keine reale Leere, sondern eine gewisse Stufe eines niedern Lichtes der Schöpfung ist. Und durch dasselbe hat die in sich selbst konzentrierte Gottheit alles Endliche geschieden, begrenzt und bestimmt, und von ihm kann man in gewisser Beziehung sagen, daß es durch das Wort „Nichts“ oder „das Nichtseiende“ (אין) bezeichnet wird. Die Idra Suta sagt:
„Wir nennen es also, weil wir es nicht kennen und weil es unmöglich ist, dasselbe in diesem Stand zu erkennen, denn es steigt nicht zu unserer Unwissenheit herab, sondern wohnt über der Weisheit selbst.“[424]
Eine ganz ähnliche Anschauung vertritt Hegel, wenn er sagt[425]:
„Das reine Sein macht den Anfang, weil es sowohl reiner Gedanke, als das unbestimmte einfache Unmittelbare ist, der erste Anfang aber nichts Vermitteltes und weiter Bestimmtes sein kann. Dieses reine Sein ist nun die reine Abstraktion, damit das Absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist.“
Um nun wieder auf die Kabbalisten zurückzukommen, so bildet der Gedanke des Seins oder des Absoluten von diesem Standpunkt aus eine vollständige Form oder – um in ihrer Sprache zu reden – einen Kopf, ein Gesicht. Sie nennen dasselbe „das weiße Gesicht“ (רישא חוורא), weil in ihm gewissermaßen alle Farben, alle Begriffe und alle Bestimmungen zusammenfließen, oder auch „den Alten“ (עתיקא), weil es die erste der Sephiroth ist. In dem letzteren Fall darf es aber nicht mit „dem Ältesten der Alten“ verwechselt werden, d. h. mit dem En-Soph selbst, vor welchem das hellste Licht nur Finsternis ist. Man bezeichnet es im allgemeinen mit dem Ausdruck „das große Gesicht“ (אריך אפיים), zweifelsohne deshalb, weil es alle Eigenschaften, alle intellektuellen und moralischen Qualitäten, alle Formen in sich einschließt; in ähnlichem Sinn heißt es auch „das kleine Gesicht“. Der Text sagt[426]:
„Das Erste ist der Alte. Von Angesicht zu Angesicht gesehen ist er das höchste Haupt, die Quelle alles Lichts, das Princip aller Weisheit, welches nur durch die Einheit definirt werden kann.“
Aus dem Schoß dieser absoluten Einheit, unterschieden von der Vielheit und der relativen Einheit, gehen einander parallel zwei scheinbar verschiedene Prinzipien aus, welche jedoch in Wirklichkeit eine untrennbare Realität bilden; das eine, männlich und aktiv, wird die Weisheit (חכמה), das andere, weiblich und passiv, die Intelligenz (בינה) genannt, und der Text sagt:
„Alles, was existiert, ist durch den Alten – gelobt sei sein Name! – geschaffen worden und kann nur durch das männliche und weibliche Princip bestehen.“[427]
Die Weisheit wird auch der Vater genannt, denn, wie es heißt, hat sie alle Dinge erzeugt. Auf den zweiunddreißig wunderbaren Wegen ergießt sie sich durch das Weltall und verleiht allen Dingen Form und Maß.[428] Die Intelligenz ist die Mutter, denn es steht geschrieben: du wirst die Intelligenz mit dem Namen Mutter nennen.[429] – Aus ihrer geheimnisvollen und ewigen Verbindung entsproßt ein Sohn, welcher nach dem Ausdruck des Originals die Züge des Vaters wie der Mutter trägt und so Zeugnis von beiden giebt. Dieser Sohn der Weisheit und Intelligenz wird wegen seiner doppelten Erbschaft der älteste Sohn Gottes, das Bewußtsein oder die Weisheit (דעת) genannt. Diese drei Personen umfassen und schließen in sich alles, was war, ist und sein wird, und sind in dem weißen Haupt, dem Ältesten der Alten vereinigt, denn er ist Alles, und Alles ist er.[430] – Er wird bald durch drei Häupter dargestellt, welche zusammen nur eines bilden, bald wird er mit dem Gehirn verglichen, welches, ohne seine Einheit zu verlieren, in drei Teile zerfällt, und von dem zweiunddreißig Nervenpaare in den Körper ausgehen, vergleichbar mit den zweiunddreißig Wegen, auf welchen sich die Gottheit dem Universum mitteilt.
„Der Alte, gelobt sei sein Name! besitzt drei Häupter, welche zusammen blos eines bilden; dieses Haupt ist erhaben über alle erhabene Dinge. Und weil der Alte, dessen Name gelobt sei, durch die Zahl drei dargestellt wird, so sind alle übrigen Lichter, welche 393uns mit ihren Strahlen erleuchten (nämlich die übrigen Sephiroth), in der Zahl Drei inbegriffen.“[431]
In der folgenden Stelle werden von der Trinität etwas andere Ausdrücke gebraucht; es figuriert in ihr das En-Soph, aber wir begegnen nicht der Intelligenz, zweifelsohne weil sie nur ein Reflex, eine gewisse Expansion des Logos ist, die hier „die Weisheit“ genannt wird:
„Es giebt drei kunstvoll gebildete Häupter, eines in dem andern und eines über dem andern. Zu ihnen wird gezählt: die geheimnißvolle Weisheit, die verborgene Weisheit, welche nie ohne Schleier erscheint. Diese geheimnißvolle Weisheit ist die Grundlage jeder andern Weisheit. Über dem ersten Haupt ist der Alte, dessen Namen gelobt sei! und welcher das Geheimste der Geheimnisse ist. Darauf kommt das Haupt, welches alle andern Häupter beherrscht, ein Haupt, welches nicht nur eines ist. Was es in sich schließt, weiß Niemand und kann Niemand wissen, denn dies entzieht sich sowohl unserer Weisheit als unserer Unwissenheit. Deshalb wird auch der Alte, dessen Namen gelobt sei! das Nichts genannt.“[432]
Wir haben also auch hier die Einheit des Wesens und die Dreiheit der intellektuellen Offenbarung oder des Denkens, was nachzuweisen war.
Manchmal werden die Bezeichnungen oder, wenn man will, die Personen dieser Trinität als drei aufeinanderfolgende und absolut notwendige Phasen des Denkens und Seins dargestellt, als ein logischer Prozeß, welcher die Welt hervorbringt. Dies ergiebt sich aus folgender Stelle:
„Kommet und sehet: der Gedanke ist die Grundlage alles Seienden; aber der Gedanke ist Anfangs unbekannt und in sich selbst eingeschlossen. Wenn der Gedanke sich zu offenbaren beginnt, so gelangt er zu der Wohnung des Geistes. Er erhält alsdann den Namen der Intelligenz und ist nicht mehr auf sich selbst beschränkt. Der Geist enthüllt sich im Schooß der Geheimnisse, von denen er noch umgeben ist, und geht daraus hervor als eine Stimme, welche die Vereinigung aller himmlischen Dinge ist; diese offenbart 394sich in unterschiedenen und articulirten Worten, denn sie kommt vom Geist. Aber wenn wir alle diese Abstufungen betrachten, so sehen wir, daß Gedanke, Intelligenz, Stimme und Wort Eins sind, daß der Gedanke die Grundlage von allem ist und keine Unterbrechung in ihm stattfinden will. Der Gedanke selbst verbindet sich mit dem Nichts und trennt sich nicht von ihm. Dies ist der Sinn der Worte: Jehovah ist Eins, und sein Name ist Eins.“[433]
Es möge noch eine andere Stelle folgen, welche den gleichen Sinn in einer älteren und originelleren Form enthält:
„Der Name, welcher ‚Ich bin‘ (אהיה) bedeutet, zeigt uns die Vereinigung alles Seienden an; in ihm sind alle Wege der Weisheit noch verborgen und zusammen untrennbar vereinigt. Man kann ihn mit einer Mutter vergleichen, welche in ihrem Schooß alle Dinge trägt und im Begriff ist, sie zu gebären, um den höchsten Namen Gottes zu offenbaren, den der Allmächtige mit den Worten bezeichnete: ‚ich bin, der ich bin‘ (אשר אהיה). Wenn nun endlich alles wohlgebildet aus dem Mutterschooß hervorgegangen ist, wenn jedes Ding an seiner Stelle ist, und man das Einzelne oder das Seiende bezeichnen will, so wird Gott Jehovah genannt oder ‚ich bin der, welcher ist‘ (אהיה אשר אהיה). Dies sind die Geheimnisse des heiligen, Moses geoffenbarten Namens, von welchem sonst Niemand Kenntniß besitzt.“[434]
Das kabbalistische System beruht also nicht nur einfach auf dem Prinzip der Emanation oder der Einheit der Substanz, sondern ist weit ausgedehnter und gewissermaßen mit der Hegelschen Philosophie vergleichbar, auch läßt es sich in mancher Beziehung so zu sagen als eine Verbindung von Ideen Platos und Spinozas bezeichnen.
Um nun endlich darzuthun, daß die neueren Kabbalisten den Traditionen ihrer Vorgänger treu blieben, wollen wir eine Stelle aus dem Kommentar des Moses Corduero zum Sohar anführen:
„Die drei ersten Sephiroth, nämlich die Krone, die Weisheit und die Intelligenz, müssen als ein und dieselbe Sache bezeichnet werden. Die erste repräsentiert die Erkenntniß oder die Wissenschaft, 395die zweite das Erkennende und die dritte das Erkennbare. Um diese Identität zu erklären, muß man wissen, daß die Erkenntniß des Schöpfers nicht die Erkenntniß der Geschöpfe ist, denn bei diesen ist die Erkenntniß vom Erkennenden unterschieden und auf das von diesem getrennte Erkennbare übertragen. Man bezeichnet es auch mit den Ausdrücken: der Gedanke, der Denker und das Gedachte. Im Gegentheil ist der Schöpfer die Erkenntniß selbst und erkennt, was erkennbar ist. Die Art und Weise seines Erkennens geschieht nicht durch Anwendung des Gedankens auf die Dinge, welche außer ihm sind, sondern er erkennt sich selbst und schaut sich in allem Seienden. Es giebt nichts, was nicht mit ihm vereinigt und in seiner eigenen Wesenheit auffindbar ist. Er ist der Typus des ganzen Seins, und alle Dinge existieren in ihm in ihrer reinsten und vollendetsten Form in der Weise, daß die Vollkommenheit der Geschöpfe in dieser Existenz selbst besteht, durch welche sie mit der Quelle ihres Seins vereinigt sind je nach Maßgabe, wie sie sich von einem so vollkommenen und erhabenen Zustand entfernen. Alle Wesenheiten der Welt haben also ihren Ursprung in den Sephiroth, und die Sephiroth sind die Quelle, von welcher sie ausfließen.“
Die sieben Attribute, von welchen wir noch sprechen müssen, und die die neueren Kabbalisten „die Sephiroth der Konstruktion“ nennen, – zweifelsohne weil sie bei der Schöpfung am meisten in Thätigkeit traten, offenbaren sich wie die ersten in Trinitäten, und bei jeder sind zwei Extreme durch ein Mittelglied verbunden. Aus dem Schoße des göttlichen Denkens in ihrer vollendeten Offenbarung geschaffen, gehen zuerst zwei entgegengesetzte Prinzipien hervor, eines männlich und aktiv, das andere weiblich und passiv; in der Gnade oder Barmherzigkeit (חסד) ist das erste anzutreffen, das zweite wird durch die Gerechtigkeit (דין) repräsentiert. Es ist leicht, die Rolle zu erkennen, welche diese Sephiroth im kabbalistischen System spielen, und daß weder Gnade noch Gerechtigkeit in buchstäblichem Sinn genommen werden dürfen; es handelt sich vielmehr um das, was wir Extension und Konzentration des Willens nennen. Aus der ersteren gehen die männlichen und aus der zweiten die weiblichen Seelen hervor. Diese beiden Attribute werden auch „die Arme der Gottheit“ genannt; der eine giebt das Leben und der 396andere den Tod. Die Welt würde nicht bestehen können, wenn sie getrennt wären; es ist unmöglich, daß sie sich trennen, denn nach der Ausdrucksweise des Originals kann die Gerechtigkeit nicht ohne die Gnade bestehen; beide sind zu einem gemeinschaftlichen Wesen vereinigt, welches die Schönheit (תפארת) ist, als deren Symbol die Brust oder das Herz gilt. Es ist eine merkwürdige Thatsache, daß die Schönheit als der Ausdruck und das Resultat aller moralischen Eigenschaften und die Summe des Guten angesehen wird. Die drei folgenden Attribute sind durchaus dynamischer Natur und repräsentieren so zu sagen die Gottheit als Ursache, als allgemeine Kraft und das Urprinzip alles Seins. Die beiden ersten, welche in dieser neuen Sphäre das männliche und weibliche Prinzip repräsentieren, werden übereinstimmend nach einem Schrifttext der Triumph (נצח) und der Ruhm (הוד) genannt. Es würde sehr schwer sein, den eigentlichen Sinn dieser Worte herauszufinden, wenn sie nicht durch folgende Definition erklärt würden:
„Unter dem Triumph und dem Ruhm versteht man die Ausdehnung, die Vervielfältigung und die Stärke, denn alle Kräfte des Universum gehen aus deren Schooß hervor, und deshalb werden diese Sephiroth ‚die Heerschaaren des Ewigen‘ genannt.“[435]
Sie vereinigen sich in einem gemeinsamen Prinzip, welches gewöhnlich durch die Zeugungsorgane repräsentiert wird und das auch das zeugende Element, die Quelle und Wurzel alles Seins darstellt. Man nennt es in dieser Hinsicht das Fundament oder die Basis (יסוד). Der Text sagt:
„Alles kehrt zu der Basis zurück, von der es ausgegangen ist. Alles Mark, aller Saft, alle Macht versammelt sich hier. Alle existierenden Kräfte gehen von hier aus durch die Organe der Zeugung.“[436]
Alle diese drei Attribute bilden gewissermaßen nur ein Gesicht, das der göttlichen Natur, welches die Bibel mit dem Namen „der Herr der Heerschaaren“ bezeichnet.
Was nun die letzte der Sephiroth, „das Reich“ (מלכות), anlangt, so stimmen alle Kabbalisten darin überein, daß dieselbe kein 397neues Attribut bezeichnet, sondern nur die zwischen den übrigen bestehende Harmonie und ihre Herrschaft über die Welt.
Die zehn Sephiroth bilden also in ihrer Gesamtheit den himmlischen oder idealen Menschen oder das, was die neueren Kabbalisten die Emanationswelt nennen. Sie teilen dieselbe in drei Abteilungen, deren jede die Gottheit von einem verschiedenen Standpunkt, aber stets in Gestalt einer unteilbaren Dreieinigkeit darstellt. Die drei ersten sind durchaus intellektueller oder metaphysischer Natur und drücken die absolute Identität der Existenz und des Gedankens aus; sie bilden das, was die neueren Kabbalisten die intelligible Welt nennen. Die folgenden tragen einen moralischen Charakter zur Schau und lassen Gott als die Identität der Güte und Weisheit erscheinen; andererseits zeigen sie uns in der Güte oder vielmehr im höchsten Wesen den Ursprung der Schönheit und Größe oder Erhabenheit. Man nennt sie auch „die Tugenden“ oder „die sensible Welt“ in der erhabensten Bedeutung dieses Wortes. Endlich sehen wir in den letzten dieser Attribute sowohl die allgemeine Vorsehung als den höchsten Künstler, welcher auch die absolute Kraft, die allmächtige Ursache und das zeugende Element alles Seienden ist. Dies sind die letzten Sephiroth, welche die natürliche Welt oder die Natur in ihrer Wesenheit und in ihrem Prinzip, Natura naturans, bildet. Es möge hier eine Stelle folgen, in welcher die verschiedenen Anschauungsstandpunkte auf eine Einheit oder eine oberste Trinität zurückzuführen gesucht werden:
„Um die Wissenschaft der göttlichen Einheit zu erhalten, müssen wir die Flamme betrachten, welche von einem Feuer oder einer angezündeten Lampe emporflackert; man sieht in ihr zwei Lichter: ein weißes und ein dunkles oder blaues. Das weiße schwebt oben und steigt in gerader Linie empor, während sich das blaue darunter befindet und in der Gewalt des weißen zu sein scheint. Beide sind jedoch so vollkommen mit einander vereinigt, daß sie nur eine Flamme bilden. Der Sitz des blauen Lichtes ist am Docht. Das weiße wechselt nicht, sondern bewahrt stets die ihm eigene Natur, aber man unterscheidet verschiedene Nuancen in dem darunter befindlichen blauen, welches sich nach oben an das weiße Licht und nach unten 398an die angezündete Materie anhängt. Alles zusammen bildet jedoch eine Einheit.“[437]
Über den Sinn dieser Allegorie kann kein Zweifel obwalten, und wir fügen hinzu, daß sie in einem andern Teil des Sohar fast buchstäblich wird, um die Natur der menschlichen Seele zu erklären, welche ebenfalls eine Trinität bildet, die eine abgefaßte Kopie der Allerhöchsten ist.
Die letzte Gattung der Trinitäten, welche alle übrigen in sich faßt, giebt uns die ganze Theorie der Sephiroth, und sie ist es auch, welche im Sohar die größte Rolle spielt. Sie wird wie die vorhergehenden durch drei Ausdrücke dargestellt, von denen jeder als Centrum, als höchste Offenbarung, eine der untergeordneten Trinitäten repräsentiert: unter den metaphysischen Attributen ist es die Krone, unter den moralischen die Schönheit, und unter den untergeordneten das Reich. Was aber ist in der kabbalistischen Sprache die Krone? Die Substanz, das eine und absolute Wesen. Was ist die Schönheit? Sie ist, wie die Idra Suta ausdrücklich sagt, der höchste Ausdruck des Lebens und der moralischen Vollkommenheit. Als Emanation der Intelligenz und Gnade wird sie im Orient oft mit der Sonne verglichen, die ihr Licht auf alle Dinge der Welt wirft, und ohne welche dieselbe in Nacht versinken würde; mit einem Wort: sie ist das Ideal. Was ist nun endlich das Reich? Die permanente und immanente Aktion aller vereinigten Sephiroth, die reelle Gegenwart Gottes in der Mitte der Schöpfung, welche Idee durch das Wort „Schechinah“ (שכינה) bezeichnet wird, durch einen Beinamen des Reichs. Sie ist also das absolute ideale Wesen, die immanente Kraft der Dinge oder, wenn man will, die Substanz, der Gedanke und das Leben, d. h. die Vereinigung des Gedankens mit den Objekten. Dies ist der wahre Sinn dieser Trinität. Diese enthält, was die Kabbala „die Säule der Mitte“ nennt, weil sie unter allen Bildern, in die man die Sephiroth gekleidet hat, die Mitte in Gestalt einer geraden Linie oder Säule einnimmt. Diese drei Bezeichnungen werden, wie man leicht ersehen kann, von den „Gesichtern“ oder symbolischen Personifikationen entnommen, und zwar wechselt die Krone nicht einmal den Namen, sondern ist stets 399„das große Gesicht“, der Alte der Tage, der Alte, dessen Name geheiligt ist. Die Schönheit ist der heilige König oder einfach der König und die Schechinah, die göttliche Gegenwart in den Dingen oder die Matrone und Königin. Wenn die eine mit der Sonne, so wird die andere mit dem Mond verglichen, oder nach anderer Ausdrucksweise: die reelle Existenz ist nichts als der Reflex oder das Bild der idealen Schönheit. Die Matrone wird auch mit dem Namen Eva bezeichnet, denn, sagt der Text, sie ist die Mutter aller Dinge, und alles, was hier unten existiert, geht aus ihrem Schoß hervor und wird durch sie gesegnet.[438] – Der König und die Königin, welche man auch „die beiden Gesichter“ nennt[439], bilden zusammen ein Band, dessen Aufgabe es ist, der Welt immer neue Gnade zu spenden und durch ihre Vereinigung das Werk der Schöpfung fortzusetzen und zu vollenden. Aber die gegenseitige Liebe, welche sie zu diesem Werk tragen, offenbart sich auf zweierlei Weise und bringt infolgedessen zweierlei Arten von Früchten hervor. Von oben kommt der Gatte zu der Gattin, so zu sagen die Existenz und das Leben; sie gehen aus aus der Tiefe der intelligibeln Welt und suchen sich in den Naturkörpern zu vermehren. Von unten kommt die Gattin zu dem Gatten, von der realen Welt zur idealen, von der Erde zum Himmel, und sucht im Schoße der Gottheit das, was sie zurückführen kann. Der Sohar selbst giebt uns ein Beispiel der beiden Zeugungsarten in dem Kreislauf, welchen die heiligen Seelen durchlaufen. Die Seele, in ihrer reinsten Wesenheit, in ihrer Wurzel in der Intelligenz betrachtet, unterscheidet sich schon in der universellen Seele. Ist die Seele nun eine männliche, so passiert sie von hier aus das Prinzip der Gnade oder der Expansion; ist sie aber eine weibliche, das der Gerechtigkeit oder Konzentration. Endlich wird sie zur Welt geboren, wo wir durch die Vereinigung des Königs mit der Königin leben, welche, wie der Text sagt, das für die Erzeugung der Seele sind, was Mann und Frau für die Erzeugung des Körpers.[440] Dies ist der Weg, auf welchem die Seele auf die Erde herabsteigt. Und nun folgt der Weg, auf welchem sich die Seele in den Schooß der Gottheit zurückbegiebt. 400Wenn sie ihre Bestimmung vollendet und sich mit allen Tugenden geschmückt hat, so erhebt sie sich durch ihre eigene Bewegung, durch die Liebe, welche sie zur Gottheit trägt, zu dem höchsten Grad der Emanation, wo die reale Existenz sich in Harmonie mit der idealen Form setzt. Der König und die Königin vereinigen sich von neuem, aber aus anderer Ursache und zu einem andern Zweck als das erste Mal.[441] Der Sohar sagt hierüber: „Auf diese Weise ergießt sich das Leben sowohl von oben als von unten, die Quelle erneuert sich, und das immer gefüllte Meer vertheilt seine Gewässer aller Orten.“[442]
Diese Vereinigung findet auch auf eine accidentielle Weise statt. Aber wir würden hierbei die Lehre von der Ekstase, der mystischen Verzückung und der Rëinkarnation berühren, von welcher wir an anderer Stelle sprechen müssen.
Jedoch müßten wir glauben, die Theorie der Sephiroth unvollkommen dargestellt zu haben, wenn wir nicht die Figuren kennzeichneten, unter welchen die Sephiroth unsern Augen dargestellt werden. Im Sohar kommen zum mindesten zwei derselben vor. Die eine besteht aus zehn konzentrischen Kreisen oder – besser gesagt – aus neun, welche um einen Punkt aus ihrem gemeinsamen Mittelpunkt gezogen sind. Die andere ist die Figur des menschlichen Körpers. Die Krone ist der Kopf, die Weisheit das Hirn, die Intelligenz das Herz; der Rumpf und die Brust sind das Symbol der Schönheit, die Arme der Gnade und Gerechtigkeit, und die untern Körperteile entsprechen den übrigen Attributen. Auf diese ganz willkürlichen Beziehungen wird in den Tikunim, den Supplementen des Sohar, die praktische Kabbala begründet, welche durch die verschiedenen Namen Gottes die Krankheiten, welche die einzelnen Körperteile befallen, zu vertreiben sucht. Es ist in der Geschichte des menschlichen Geistes nicht das erste Mal, daß zu einer Zeit des Verfalls die Ideen oft durch die gröbsten Symbole erstickt werden, und die Form an die Stelle des Gedankens tritt. Schließlich kann man die letzte Manier der Darstellung der Sephiroth in drei Gruppen teilen: rechts in einer senkrechten Linie 401stehen die expansiven Attribute, nämlich des Logos oder die Weisheit, die Gnade und Stärke; links in einer Parallellinie befinden sich die des Widerstands und der Konzentration: die Intelligenz oder das Bewußtsein des Logos, die Gerechtigkeit und der Widerstand. In der Mitte befinden sich die substantiellen Attribute, welche wir in der höchsten Trinität gefunden haben. An der Spitze befindet sich die Krone und an der Basis das Reich.[443] Der Sohar spielt oft auf diese Figur an, welche er mit einem Baum vergleicht, dessen Leben und Mark das En-Soph ist; derselbe wird deshalb auch der kabbalistische Baum genannt. Man hat die verschiedenen Seiten dieser Figur auch die Säule der Gerechtigkeit, die Säule der Gnade und die Säule der Mitte genannt. Übrigens betrachtet man die Figur auch nach Horizontallinien, wobei die sekundären Trinitäten entstehen, von denen wir oben gesprochen haben. Außer diesen Figuren sprechen die neueren Kabbalisten auch noch von Kanälen, welche unter einer materiellen Form alle unter den Sephiroth bestehenden Beziehungen und Kombinationen darstellen. Moses Corduero spricht sogar von einem Autor, welcher siebenmalhunderttausend solcher Beziehungen gezählt hat.[444] Diese Subtilitäten können bis zu einem gewissen Grad die Kombinationsgabe interessieren, für die metaphysische Spekulation sind sie jedoch belanglos.
In die Lehre von den Sephiroth mischt der Sohar eine fremdartige Idee, welche in einer noch fremdartigeren Gestalt dargestellt wird, nämlich in der eines Verfalls und einer Wiederherstellung in der Sphäre der Attribute selbst, einer gescheiterten Schöpfung, in welcher Gott herniederstieg, um auf der Erde zu wohnen, weil er sich mit dieser Mittelform zwischen ihm und der Kreatur bekleidet hatte, von welcher die menschliche Gestalt die beste Darstellung ist.
Die verschiedenen Darstellungen, welche die beiden Idra und „das Buch der Geheimnisse“ davon geben, sind ohne Interesse, jedoch wollen wir hier wenigstens die bizarrste derselben mitteilen: Die Genesis spricht von sieben Königen von Edom, welche den Königen Israels vorangingen und einer nach dem andern starben. In diesem bizarren Bild wollen nun die Autoren des Sohar eine 402solche Gedankenordnung sehen, daß ihre Gläubigkeit daraus eine Art Revolution in der unsichtbaren Welt der göttlichen Emanation macht. Unter den Königen von Israel verstehen sie die beiden Gestalten des absoluten Seins, welche als König und Königin bezeichnet werden, und für unsere schwache Intelligenz die Essenz des Wesens selbst repräsentieren. Die Könige von Edom oder, wie man sie auch nennt, die alten Könige sind die Welten, welche bestanden, noch ehe sich die Formen gebildet hatten, um als Mittelglied zwischen der Schöpfung und der göttlichen Wesenheit in ihrer größten Reinheit zu dienen. Schließlich ist das beste Mittel, uns diese dunkle Partie des kabbalistischen Systems, ohne es zu verändern, klar zu machen, wenn wir eine andere in den Fragmenten des Sohar befindliche citieren, welche dieselbe zu erläutern sucht:
„Bevor der Älteste der Alten, welcher das verborgenste der verborgenen Dinge ist, die Gestalten der Könige und der ersten Kronen geschaffen hatte, besaß er weder Grenzen noch Ende. Er bildete also diese Formen nach seiner eigenen Wesenheit. Er spannte vor sich eine Decke aus und bildete auf derselben die Umrisse und Gestalten der Könige ab. Aber dieselben konnten nicht existiren, weil geschrieben steht: Dies sind die Könige, welche im Lande Edom regierten, ehe denn ein König über Israel herrschte. Es handelt sich hier um die idealen Könige und um das ideale Israel. Alle die so geschaffenen Könige hatten ihre Namen, aber sie konnten nicht eher bestehen, als bis der Älteste der Alten herabstieg und sich vor ihren Augen enthüllte.“[445]
Daß in dieser Stelle von einer der unsern vorausgegangenen Schöpfung, von einer früheren Welt die Rede ist, daran kann kein Zweifel sein, und der Sohar teilt uns an einem späteren Ort diese einstimmige Anschauung der neueren Kabbalisten unter den bestimmtesten Ausdrücken mit. Aber warum sind diese früheren Welten verschwunden? Weil Gott nicht in ihrer Mitte regelmäßig und beständig wohnte, oder – wie der Text sagt – weil er nicht zu ihnen herabgestiegen war, weil er sich nicht in einer Gestalt gezeigt hatte, die ihm erlaubte, inmitten der Schöpfung zu bleiben und seine Vereinigung mit ihr fortzusetzen. Die Existenzen, welche 403er damals durch eine spontane Emanation seiner eigenen Wesenheit schuf, werden mit Funken verglichen, welche in ungeordneter Weise von einem Herdfeuer aufflackern und ersterben, wenn sie sich von ihm entfernen.
„Unter den zerstörten Urwelten waren formlose, welche man Funken nennt, weil es sich bei ihnen ähnlich verhält wie bei einem Schmied, der das glühende Eisen hämmert, wobei die Funken umherspringen. Diese Funken sind die Urwelten, welche zerstört wurden und nicht bestehen konnten, weil der Alte, dessen Name geheiligt sei, sich noch nicht mit einer Gestalt bekleidet hatte und der Arbeiter noch nicht an seinem Werke war.“[446]
Und welches ist die Gestalt, ohne welche alle Dauer und alle Organisation der endlichen Existenzen unmöglich ist, und welche so recht eigentlich den Arbeiter in den göttlichen Werken darstellt, die Gestalt, unter welcher die Gottheit sich offenbart und kundgiebt? Es ist die in ihrer höchsten Allgemeinheit verstandene menschliche Gestalt, welche alle moralischen und intellektuellen Attribute unserer Natur in ihrer gesamten Entwickelung und Fortdauer umfaßt, mit einem Wort den Geschlechtsunterschied, den die Verfasser des Sohar sowohl auf die Seele wie auf den Körper anwenden. Dieser so verstandene Geschlechtsunterschied oder vielmehr die Teilung und Reproduktion der menschlichen Gestalt sind für sie das Symbol des universellen Lebens, die regelmäßige und unendliche Entwickelung des Seins, eine regelmäßige und fortgesetzte Schöpfung nicht allein hinsichtlich der Dauer, sondern auch hinsichtlich der aufeinanderfolgenden Realisation aller möglichen Existenzformen.
Wir sind der Grundlage dieser Idee schon früher begegnet, hier folgt aber noch etwas mehr, nämlich die graduelle Expansion des Lebens, des Seins und des göttlichen Gedankens, welche nicht unmittelbar mit der Substanz begonnen hat, welcher im Gegenteil jene tumultuöse, ungeordnete und unorganische Emanation vorausging, von welcher wir eben gesprochen haben.
„Warum wurden jene Urwelten zerstört? Weil der Mensch noch nicht geschaffen war. Da nämlich die menschliche Gestalt alle Dinge in sich einschließt, ist auch Alles in ihr enthalten. Weil nun 404diese Gestalt noch nicht existirte, so konnten die früheren Welten weder bestehen noch sich erhalten, sie zerfielen in Trümmer, ehe die menschliche Gestalt geschaffen wurde, worauf sie aufs Neue, aber unter anderen Namen wiedergeboren wurden.“[447]
Wir wollen nicht abermals die Stellen wiederholen, in welchen von dem Geschlechtsunterschied des idealen Menschen die Rede ist; es genüge, daß von dieser Anschauung an unzähligen Stellen des Sohar die Rede ist, und daß sie auf den charakteristischen Namen „die Wage“ führt. Das Buch des Geheimnisses sagt:
„Ehe die Wage geschaffen wurde, beschauten sich der König und die Königin (die ideale und reale Welt) nicht von Angesicht zu Angesicht, und die alten Könige starben, weil sie nicht existiren konnten. Diese Wage ist an einem Ort aufgehangen, der nicht ist, (das primitive Nichtseiende), denn die auf ihrer Schale existierenden Orte waren noch nicht. Es ist eine ganz innere unsichtbare Wage ohne Stütze. Sie ist das, was nicht ist, was ist und was sein wird. Das trägt diese Wage.“[448]
Wir haben schon in einem früheren Citat gesehen, daß die Könige von Edom, die Urwelten, nicht durchaus verschwunden sind, denn nach dem kabbalistischen System wird nichts absolut geschaffen, und geht nichts absolut unter. Sie haben nur ihren alten Platz verloren, welcher der des aktuellen Universum war. Wenn aber Gott sich außerhalb seiner selbst in menschlicher Gestalt offenbart, erwachen sie wieder um unter andern Namen in das allgemeine System der Schöpfung einzutreten.
„Wenn man sagt, daß die Könige von Edom gestorben sind, so spricht man nicht von einem wirklichen Tod oder von einer vollkommenen Zerstörung, sondern jeder Verlust wird mit dem Namen Tod bezeichnet.“[449]
In Wirklichkeit stiegen sie wieder herab, oder besser gesagt – sie erhoben sich wieder aus dem Nichts, denn sie waren in den äußersten Grad des Universum versetzt worden. Sie repräsentieren die rein passive Existenz, oder, um uns der eigenen Ausdrucksweise 405des Sohar zu bedienen, die Gerechtigkeit ohne irgend welche Beimischung von Gnade, einen Ort der Strenge und Gerechtigkeit[450], wo alles weiblich ohne irgend ein männliches Prinzip, wo alles Widerstand und Trägheit wie in der Materie ist.
Deshalb wurden sie auch die Könige von Edom genannt, denn Edom war diametral Israel entgegengesetzt, welches die Gnade, das Leben, die spirituelle und aktive Existenz repräsentiert. Wir können also, wenn wir die meisten dieser Ausdrücke wörtlich nehmen, mit den neueren Kabbalisten sagen, daß die Urwelten ein Aufenthaltsort für die Bestrafung der Verbrechen geworden sind, und daß von ihnen jene bösartigen Wesen ausgehen, welche der göttlichen Gerechtigkeit zu Werkzeugen dienen. Nichts wird durch diesen Gedanken verändert, denn wie wir bei weiterer Untersuchung des Sohar sehen werden, in welchem die Metempsychose eine so große Rolle spielt, besteht die Züchtigung schuldiger Seelen hauptsächlich in der Wiedergeburt auf niedriger Stufe der Schöpfung und in größerer Sklaverei der Materie. Was die Dämonen anlangt, so wurden sie übereinstimmend mit dem Namen „Hüllen“ (קליפות) bezeichnet und sind weiter nichts als die Materie selbst und die von ihr abhängigen Leidenschaften. Also ist jede Existenzform von der Materie bis zur ewigen Weisheit eine Offenbarung oder, wenn man will, eine Emanation des unendlichen Wesens. Aber es genügt nicht, daß alle Dinge von Gott kommen müssen, um Realität und Bestand zu haben, Gott muß auch beständig inmitten derselben sein, damit er lebe, sich enthülle und von Ewigkeit zu Ewigkeit in ihnen aufs Neue erzeuge, denn wenn er sich von ihnen losmachen wollte, würden sie vergehen wie ein Schatten. Dieser Schatten ist auch ein Teil des göttlichen Wesens; er ist die Grenzmarke, wo Geist und Leben vor unsern Augen verschwinden; er ist das Ende, wie der ideale Mensch der Anfang ist.
Auf diese Grundsätze ist die Kosmologie und Psychologie der Kabbala gegründet.
Was wir über die Anschauungen der Kabbalisten von der göttlichen Natur wissen, nötigt uns, etwas länger bei ihrer Betrachtungsweise der Schöpfung und des Ursprungs der Welt zu verweilen, weil nämlich beides in ihrem Geist ineinander fließt. Wenn sich Gott mit ihr in ihrer unendlichen Totalität, im Gedanken und Sein vereinigt, so ist es gewiß, daß außer ihm nichts existieren und erkannt werden kann, denn Alles, was wir durch die Vernunft oder die Erfahrung erkennen, ist eine teilweise Enthüllung oder ein teilweiser Anblick des absoluten Seins. Die ewige Dauer einer trägen und von ihm getrennten Substanz ist eine Unmöglichkeit, eine Chimäre, und die Schöpfung ist, wie sie gewöhnlich aufgefaßt wird, unmöglich. Diese letzte Konsequenz ist klar in folgenden Worten ausgesprochen:
„Der unteilbare Punkt (das Absolute) hat keine Grenzen und kann nicht erkannt werden. In Folge seiner Stärke und Reinheit hat er sich in sich selbst zurückgezogen und ein Zelt gebildet, das wie ein Vorhang den unteilbaren Punkt bedeckt. Dieses Zelt, obgleich von einem weniger reinen Licht als der Punkt selbst, ist immer noch zu hell, um betrachtet werden zu können. Es hat sich in sich selbst concentriert, und diese Extension dient ihm als Bekleidung. Alles ist also in einer beständig herniedersteigenden Bewegung, welche das Universum geschaffen hat.“[451]
Wir müssen uns ins Gedächtnis zurückrufen, daß das absolute Sein und die sichtbare Natur nur einen einzigen Namen „Gott“ 407haben. Eine andere Stelle deutet uns an, daß die vom Geist ausgehende und mit dem höchsten Gedanken identische Stimme im Grund nichts anderes ist als das Wasser, die Luft und das Feuer, der Norden, der Mittag und alle Kräfte der Natur.[452] Alle diese Elemente und Kräfte sind in einem Ding verbunden, in der vom Geist ausgehenden Stimme. Die Materie endlich, unter einem allgemeinen Gesichtspunkt betrachtet, ist der untere Teil der geheimnisvollen Flamme, von der wir weiter oben gesprochen haben. Durch diese Lehrmeinung suchten sich die Kabbalisten mit dem landläufigen Glauben, daß die Welt aus nichts geschaffen sei zu versöhnen. Aber das Nichts hat für sie einen anderen Sinn als den gewöhnlichen. Es möge folgen, was über diesen Punkt ziemlich deutlich von einem der Kommentatoren des Sepher Jezirah gesagt wird:
„Wenn man zugiebt, daß alle Dinge aus dem Nichts geschaffen sind, so spricht man nicht von dem eigentlichen Nichts, denn niemals kann aus dem Nichtseienden etwas entstehen. Man versteht aber unter dem Nichtseienden das, was nicht seiner Ursache und Wesenheit nach erkannt werden kann, nämlich dasjenige, was wir das primitive Nichtseiende (אין קדמון) nennen, weil es vor der Welt da war. Unter ihm verstehen wir nicht allein die materiellen Objekte, sondern auch die Weisheit, auf welche die Welt gegründet ist. Wenn man nun fragt, was ist das Wesen der Weisheit, und auf welche Weise ist sie in der Weisheit oder der höchsten Krone enthalten? so kann Niemand auf diese Frage antworten, denn in dem Nichtseienden ist kein Unterschied und keine Existenz. Man wird zunächst nicht begreifen, wie die Weisheit mit dem Leben verbunden ist.“[453]
Alle alten und neueren Kabbalisten erklären auf diese Weise das Dogma von der Schöpfung und sagen in daraus sich ergebender Konsequenz: Ex nihilo nihil. Sie glauben weder an eine absolute Vernichtung, noch an eine Schöpfung in der landläufigen Auffassung. Der Sohar sagt:
„Nichts geht in der Welt verloren, selbst nicht der Hauch unseres Mundes. Jedes Ding hat seinen Bestimmungsort, und der Heilige, 408gelobt sei er, läßt dort seine Werke zusammenströmen. Nichts fällt ins Leere, selbst nicht die Stimme des Menschen. Alles hat seinen Bestimmungsort.“[454]
Ein unbekannter Greis sprach diese Worte zu den Schülern des Jochai, und sie erkannten darin einen der geheimnisvollsten Artikel ihres Glaubens, weshalb sie in die Worte ausbrachen:
„O Greis, was hast du gethan? Konntest du nicht Stillschweigen bewahren? Denn jetzt bist du ohne Segel und ohne Mast auf ein uferloses Meer hinausgetragen. Du wolltest fliegen und konntest es nicht, sondern fielst in einen bodenlosen Abgrund.“[455]
Sie führen auch das Beispiel ihres Meisters an, welcher immer gemäßigt in seinen Ausdrücken, sich nicht ohne Mittel zur Rückkehr auf dieses uferlose Meer hinauswagte, d. h. seine Gedanken unter einer Allegorie verbarg. Dieses Mittel wird mit großer Freimütigkeit folgendermaßen kundgegeben:
„Alle Dinge, aus denen die Welt zusammengesetzt ist, der Geist sowohl als der Körper, kehren zu dem Ursprung und der Wurzel zurück, woraus sie entsprossen sind.[456] Sie beginnen aufs Neue am Ende aller Stufen der Schöpfung, welche alle mit ihrem Siegel bezeichnet sind, das man nur mit dem Namen der Einheit bezeichnen kann. Es ist das einzige Wesen ungeachtet der unzähligen Formen, mit denen es bekleidet ist.“[457]
Wenn Gott die Ursache und Substanz oder, wie Spinoza sagen würde, die immanente Ursache des Universum, welches notwendigerweise das Meisterstück der Vervollkommnung, der Weisheit und höchsten Güte ist. Zur Darstellung dieses Gedankens bedienen sich die Kabbalisten einer sehr originellen Ausdrucksweise, wie sie mehrere neuere Mystiker, z. B. Jakob Böhme und St. Martin in ihren Werken anwenden. Sie nennen die Natur eine Segnung und betrachten es als eine sehr bezeichnende Thatsache, daß der Buchstabe, mit welchem das erste Wort des mosaischen Schöpfungsberichtes beginnt (בראשית), auch der Anfangsbuchstabe des Wortes Segen 409(ברכה) ist.[458] – Nichts ist absolut schlecht, nichts ist für immer verdammt, selbst nicht der Erzengel des Bösen, die vergiftete Schlange (חוייא בישא), wie sie denselben manchmal nennen. Es wird die Zeit kommen, wo er seinen Namen und seine Engelsnatur wiedererhalten wird.[459] Schließlich ist die Weisheit hier unten so wenig sichtbar als die Güte, weil das Universum durch das göttliche Wort geschaffen ist und weil es selbst nichts anderes ist als dieses Wort, oder nach der mystischen Ausdrucksweise des Sohar: der artikulierte Ausdruck des göttlichen Gedankens. Es ist, wie wir schon gesehen haben, die Gesamtheit aller Sonderwesen, die in ihrem Keim in den ewigen Formen der höchsten Weisheit existieren. Folgende Worte sind die markanteste Stelle über diese Lehre:
„Der Heilige, gelobt sei er, hatte schon mehrere Welten geschaffen und zerstört, bevor ihm der Schöpfungsgedanke unserer Welt kam. Als nun dieser Gedanke auf dem Punkt angelangt war, sich zu verwirklichen, standen alle Geschöpfe des Weltalls, welche geschaffen werden sollten, vor Gott in ihren wahren Gestalten, wie der Prediger sagt: Was war, wird auch in Zukunft sein, und was sein wird, ist schon gewesen.[460] Jede untere Welt hat Ähnlichkeit mit der obern Welt, und alles, was in der obern Welt existiert, erscheint uns in der untern Welt wie ein Bild, und Alles ist nur Eins.“[461]
Diesen erhabenen Glauben, welchen man – allerdings mehr oder weniger verändert – in allen großen metaphysischen Systemen wiederfindet, haben die Kabbalisten auf ihren Mysticismus zurückgeführt, 410indem sie annehmen, daß Alles eine symbolische Bedeutung besitze, und daß sich alle materiellen Dinge in dem göttlichen Denken oder der menschlichen Intelligenz wiederfinden. Alles, was vom Geist kommt, muß sich äußerlich manifestieren und sichtbar werden.[462] Dies ist die Wurzel des Glaubens an ein himmlisches und ein physiognomisches Alphabet. In folgenden Ausdrücken sprechen die Kabbalisten über das Erstere:
„In der ganzen Ausdehnung des Himmels, der die Welt umgiebt, sind Figuren und Zeichen verborgen, mittelst deren wir die tiefsten und verborgensten Geheimnisse ergründen können. Diese Figuren werden durch die Constellationen und Sterne gebildet, welche für den Weisen ein Gegenstand der Betrachtung und eine Quelle mystischer Freuden sind.[463] Wer sich auf eine Reise begiebt und früh aufsteht, sieht, wenn er aufmerksam den Osten betrachtet, wie diese Buchstaben am Himmel erscheinen; die einen steigen auf, die andern gehen unter. Diese glänzenden Formen sind die Buchstaben, durch welche Gott Himmel und Erde geschaffen hat; sie bilden seinen geheimnißvollen und heiligen Namen.“[464]
Solche Ideen können, wenn sie nicht in einem erhabenen Sinn aufgefaßt werden, einer ernsten Arbeit unwürdig erscheinen. Bevor wir sie aber verurteilen, müssen wir das ganze System des Sohar betrachten, welches voll der glänzendsten und begründetsten Aphorismen ist und sich wohl hütet, gegen unsere intellektuellen Gewohnheiten zu verstoßen, andernfalls würden wir der geschichtlichen Wahrheit untreu werden. Endlich ist noch zu bemerken, daß noch eine große Anzahl ähnlicher Träumereien von dem gleichen Prinzip ausgingen und keineswegs schwachen Köpfen entstammten. Pythagoras und Plato sind hier zu nennen, und alle großen Repräsentanten des Mysticismus, welche in der äußern Natur nur eine lebende Allegorie sehen, nehmen je nach Maßgabe ihrer Intelligenz die Theorie der Zahlen und Ideen an. Es ist dies nur eine Konsequenz ihres allgemeinen metaphysischen Systems oder, wenn es hier gestattet ist, in der philosophischen Sprache unserer Zeit zu reden, ein Urteil a priori, 411welches die Kabbalisten über die Physiognomik abgaben, die ihrer Natur nach schon im Zeitalter des Sokrates bekannt war. Sie sagen:
„Die Physiognomik besteht, wenn wir den Meistern der innern Wissenschaft Glauben schenken dürfen, nicht in der Erkenntniß der sich äußerlich kundgebenden Züge, sondern in der Erkenntniß jener, welche sich auf geheimnißvolle Weise im tiefsten Grund unserer Natur abzeichnen. Die Gesichtszüge verändern oft die Form des innern Gesichts unseres Geistes; der Geist allein aber bringt die die Weisen kennzeichnenden Gesichtszüge hervor; es ist der Geist, welcher ihnen den Ausdruck giebt. Wenn der Geist oder die Seelen von Eden (so nennt man die höchste Weisheit) auswandern, so haben sie alle eine gewisse Gestalt, welche sich später in der Physiognomie ausprägt.“[465]
Auf diese allgemeinen Betrachtungen folgen eine große Anzahl detaillierter Beobachtungen, welche noch heut zu Tage ihre Gültigkeit besitzen. So ist z. B. eine breite und konvexe Stirn das Zeichen eines lebhaften und tiefen Geistes, einer auserlesenen Intelligenz. Eine breite, aber platte Stirn ist ein Zeichen der Dummheit. Eine breite, in eine Spitze auslaufende und an den Seiten zusammengedrückte Stirn ist ein unfehlbares Zeichen eines sehr beschränkten Geistes, welcher jedoch mit einer maßlosen Eitelkeit verbunden sein kann.[466] Endlich werden alle menschlichen Physiognomien in vier Hauptklassen geteilt, welche sich je nach dem Rang, welchen die menschlichen Seelen in der intellektuellen und moralischen Reihenfolge einnehmen von einander entfernen oder sich einander nähern. Diese Figuren werden durch die vier Gestalten des mystischen Wagens des Hesekiel gekennzeichnet: des Menschen, des Löwen, des Ochsen und des Adlers.[467]
Es will uns scheinen, als ob die kabbalistische Dämonologie nichts anderes sei als eine von den verschiedenen Graden des Lebens und der Intelligenz in der äußern Natur abgeleitete Personifikation. Der Glaube an Dämonen und Engel hatte sich seit 412altersgrauer Zeit als eine dem ernsten Dogma von der göttlichen Einheit entgegengesetzte lächerliche Mythologie im menschlichen Glauben festgewurzelt. Warum also hätten sich die Kabbalisten ihrer nicht bedienen sollen, um ihre Ideen über die Beziehungen der Gottheit zur Welt zu verschleiern, da sie sich der Schöpfungslehre bedienten, um gerade das Gegenteil auszudrücken, und der Schrifttexte, um sich von der Autorität der Schrift und Religion zu befreien? Wir haben zu Gunsten dieser Lehre keinen einzigen einwandfreien Text gefunden, aber hier mögen wenigstens einige Wahrscheinlichkeitsgründe folgen:
Erstens ist in drei Fragmenten des Sohar, in den beiden Idra und im Buche des Geheimnisses in verschiedenster Weise sehr viel von der himmlischen und höllischen Hierarchie die Rede, was augenscheinlich eine Erinnerung an die babylonische Gefangenschaft ist. Weiterhin wird in andern Teilen des Sohar von unter dem Menschen stehenden Engeln gesprochen, welche als von einem blinden Impuls angetriebene Kräfte betrachtet werden. Hier eine solche Stelle:
„Gott belebte einen jeden Theil des Firmaments mit einem besondern Geist. Also wurden die himmlischen Heerschaaren gebildet, und sie standen vor ihm. Dies ist mit den Worten ausgedrückt: Mit dem Hauche seines Mundes schuf er die himmlischen Heerschaaren. Die heiligen Engel, welche die Boten des Herrn sind, steigen nur auf einem Weg herab, aber in den Seelen der Gerechten giebt es zwei Wege, welche sich zu einem verbinden. Deshalb steigen die Seelen der Gerechten höher, denn ihr Rang ist ein höherer.“[468]
Die Talmudisten selbst, obgleich sie sich an den Buchstaben halten, bekennen sich zu dem gleichen Grundsatz:
„Die Gerechten stehen höher als die Engel.“[469]
Wir begreifen das, was man mit diesen Geistern, welche die Himmelskörper und Elemente beseelen, sagen will, besser, wenn wir auf ihre Namen und die ihnen zugeschriebenen Verrichtungen Obacht geben.
Vor allen Dingen muß man die rein poetischen Personifikationen, über deren Natur kein Zweifel obwalten kann, ausscheiden. Dies sind jene Engel, deren Namen einer moralischen Eigenschaft oder einer metaphysischen Abstraktion entnommen sind, wie z. B. das gute und böse Verlangen, welche man unsern Augen als reale Personen darstellen will, der Engel der Reinheit (Tahariel), der Barmherzigkeit (Rachmiel), der Gerechtigkeit (Zadkiel), der Befreiung (Padael) und der berühmte Raziel, welcher mit eifersüchtigen Augen die Geheimnisse der kabbalistischen Weisheit bewacht.[470]
Etwas anderes ist der von allen Kabbalisten anerkannte Grundsatz, nach welchem das allgemeine System der Wesen, welche die himmlische Hierarchie bilden, in der dritten Welt, welche „die Welt der Gestaltung“ (Olam Jezirah) genannt wird, beginnt, und die die Fixsterne und Planeten umfaßt. Wie wir schon gesagt haben, ist der Herr dieser unsichtbaren Welt der Engel Metatron, welcher unter dem Throne Gottes steht, und durch den dieser „die Welt der Schöpfung“ oder der reinen Geister (Olam Briah) schuf. Seine Aufgabe ist es, die Einheit, Harmonie und Bewegung zu erhalten. Er ist eine jener blinden unendlichen Kräfte, durch welche man Gott unter dem Namen „Natur“ ersetzen wollte. Unter seinem Befehl stehen Myriaden von Geistern, welche man – zweifelsohne zu Ehren der Sephiroth – in zehn Kategorien geteilt hat. Diese untergeordneten Engel befinden sich in den verschiedenen Teilen der Natur, in jeder Sphäre und in jedem Element, während ihr Herr im Universum thront.
Also beherrscht der eine die Bewegungen der Erde, der andere die des Mondes, und das gleiche findet statt bezüglich der anderen Himmelskörper.[471] Der Engel des Feuers heißt Nuriel, der des Lichts Uriel; ein dritter steht den Jahreszeiten vor, ein vierter der Vegetation. Endlich werden alle Erzeugnisse, alle Kräfte und alle Erscheinungen der Natur auf dieselbe Weise repräsentiert.
Die Absicht dieser Allegorien wird vollkommen klar, wenn es sich um die bösen Geister handelt. Wir haben schon die Aufmerksamkeit auf den Namen gelenkt, welchen man im allgemeinen den 414Mächten dieser Ordnung beilegt. Die Dämonen sind für die Kabbalisten die gröbsten, unvollkommensten Formen, die Hüllen der Existenz, nämlich alles das, welches die Abwesenheit des Lebens, der Intelligenz und der Ordnung darstellt. Also bilden diese Engel wie die zehn Sephiroth, zehn Grade, in denen die Finsternis und die Unreinheit sich mehr und mehr verdichtet wie in den höllischen Kreisen Dantes.[472]
Der erste oder vielmehr die beiden ersten sind nichts anderes, als der Zustand, in welchem uns die Genesis die Erde vor dem Werk der sieben Tage zeigt, nämlich die Abwesenheit jeder sichtbaren Form und aller Organisation. Der dritte ist der Aufenthaltsort der Finsternis, der nämlichen Finsternis, welche im Anfang den Abgrund bedeckte. Alsdann folgt das, was man die sieben Tabernakel oder die eigentliche Hölle nennt, welche unsern Augen eine systematische Reihenfolge aller Unordnungen der moralischen Welt und der daraus folgenden Leiden darbietet. Dort sehen wir jede Leidenschaft des menschlichen Herzens, jedes Laster und jede Schwäche, in einem Dämon personifiziert, zu einem Henker werden, welcher in die Welt entsendet wird. Hier ist die Wollust, die Verführung, der Zorn, die grobe Unreinheit, der Dämon der stummen Gräuel, der Totschlag, der Neid, der Götzendienst und der Stolz. Die sieben höllischen Tabernakel werden bis in das Unendliche geteilt[473]; für jede Art der Verkehrtheit giebt es ein besonderes Reich, und man sieht also den Abgrund sich stufenweise in seiner ganzen Tiefe und Unendlichkeit aufthun. Der Beherrscher dieser finstern Welt, welchen die Bibel Satan nennt, trägt in der Kabbala den Namen Samael, das heißt der Engel des Giftes und des Todes, und der Sohar sagt bestimmt, daß der Engel des Todes, die schlechte Begierde, Satan und die Schlange, welche unsere Mutter Eva verführte, ein und dasselbe sind.[474]
Man giebt auch Satan eine Gattin, welche die Personifikation des Lasters und der Sinnlichkeit ist, denn sie wird in der Kabbala die große Hure oder die Meisterin der Ausschweifungen genannt.[475] 415In der Regel wird sie durch das einfache Symbol der Schlange dargestellt.
Wenn man diese Theorie der Dämonen und der Engel auf die einfachste und allgemeinste Form zurückführen will, so wird man sehen, daß die Kabbalisten in jedem Naturerzeugnis und infolgedessen in der gesamten Natur zwei sehr verschiedene Elemente anerkennen: Ein innerliches, unverderbliches, welches sich ausschließlich der Intelligenz enthüllt, nämlich der Geist, das Leben oder die Form; das andere ist rein äußerlich und materiell, und dessen Symbol der Verfall, die Verfluchung und der Tod.
Man kann diese ganze Theorie mit den Worten Spinozas ausdrücken: Omnia, quamvis diversis gradibus, animata tamen sunt.[476]
Auf diese Weise wird die Dämonologie der Kabbalisten eine notwendige Ergänzung ihrer Metaphysik und erklärt uns vollkommen die Namen, mit welchen man die beiden unteren Welten bezeichnet.
Durch den erhabenen Rang, welchen die Kabbalisten dem Menschen einräumen, empfehlen sie sich nicht nur unserem Interesse, sondern das Studium ihres Systems gewinnt auch eine hohe Wichtigkeit sowohl für die Geschichte der Philosophie als für die der Religion. „Du bist vom Staub und wirst zu Staub werden“, sagt die Genesis, und auf diese Worte des Fluches folgt kein Versprechen einer bessern Zukunft, keine Erwähnung der Seele, welche zu Gott emporsteigt, wenn der Körper zu Erde geworden ist. Nach dem Autor des Pentateuch hat das Urbild der israelitischen Weisheit, der Prediger Salomonis, der Nachwelt folgende fremdartige Parallele hinterlassen:
„Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch; und haben alle einerlei Odem; und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh; denn es ist alles eitel.“[477]
Der Talmud drückt sich manchmal in poetischen Äußerungen über die Belohnungen aus, welche die Gerechten erwarten. Er stellt dieselben dar, sitzend im himmlischen Eden, das Haupt mit Licht umflossen und sich der göttlichen Herrlichkeit freuend. Aber die menschliche Natur sucht er mehr zu erniedrigen als zu adeln.[478]
„Woher kommst du? Von einem Tropfen faulenden Stoffes. Wohin gehst du? In die Mitte des Staubes, der Verderbnis 417und der Würmer. Und vor wem wirst du dich eines Tages rechtfertigen und Rechenschaft geben von deinen Handlungen? Vor demjenigen, welcher herrscht über die Könige der Könige, vor dem Heiligen, gelobt sei er.“[479]
Dieses sind die Worte, welche man in einer Sammlung von Sentenzen liest, welche einem der ältesten und geachtetsten Häupter der talmudistischen Schule zugeschrieben wird. Der Sohar belehrt uns in einer ganz andern Sprache über unsern Ursprung, unsere zukünftige Bestimmung und unsere Beziehungen zum göttlichen Wesen. Er sagt:
„Der Mensch ist die Zusammenfassung und der erhabenste Ausdruck der Schöpfung; deshalb wurde er am sechsten Tag geschaffen. Sobald der Mensch erschien, war alles vollendet, sowohl die obere als die untere Welt, denn alles ist im Menschen zusammengefaßt, er vereinigt in sich alle Formen.“[480]
Aber es ist nicht allein das Bild der Welt, der Universalität der Wesen, die man unter dem absoluten Sein versteht, er ist auch das Bildnis Gottes, betrachtet in der Gesamtheit seiner unendlichen Attribute. Er ist die göttliche Anwesenheit auf der Erde, der himmlische Adam, welcher, von der tiefsten und ersten Dunkelheit ausgehend, den irdischen Adam geschaffen hat.[481]
Es möge hier in erster Linie folgen, in welcherlei Hinsicht der Sohar den Menschen die kleine Welt nennt:
„Glaube nicht, daß der Mensch allein Fleisch, Haut, Knochen und Adern sei. Im Gegentheil: Das, was wirklich den Menschen ausmacht, ist seine Seele, und die Dinge, von denen wir sprachen, die Haut, das Fleisch, die Knochen, die Adern, sind für uns nur ein Kleid, ein Schleier, aber sie sind nicht der Mensch. Wenn der Mensch stirbt, legt er alle Schleier ab, welche ihn bedecken. Jedoch sind diese verschiedenen Theile unseres Körpers übereinstimmend mit den Geheimnissen der höchsten Weisheit. Die Haut entspricht dem Firmament, welches sich allenthalben ausdehnt und alle Dinge wie ein Kleid bedeckt. Das Fleisch entspricht der üblen Seite des 418Universum, die wir weiter oben das rein äußerliche und sinnliche Element genannt haben. Die Knochen und Adern bilden den himmlischen Wagen, die innerlichen Kräfte, die Diener Gottes. Alles dies ist jedoch nur ein Kleid. Denn im Innern ist das Geheimniß des himmlischen Menschen verborgen. Also steigt der irdische Mensch, der himmlische und innere Adam, sowohl hinauf als herab. Es hat dies denselben Sinn, als wie gesagt ist, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf. Aber selbst am Firmament, welches das Weltall einschließt, sehen wir verschiedene durch die Sterne und Planeten gebildete Figuren, welche uns verborgene Dinge und tiefe Geheimnisse ankündigen. Ebenso finden wir auf der Haut, welche unsern Körper umgiebt, Formen und Züge, welche als die Planeten und Sterne unseres Körpers zu betrachten sind. Alle diese Formen haben einen verborgenen Sinn und sind ein Gegenstand der Aufmerksamkeit für die Weisen, welche im Gesicht des Menschen lesen können.“[482]
Allein durch die Gewalt seiner äußern Gestalt, durch den Reflex der Intelligenz und der über seine Züge ausgegossenen Größe macht der Mensch die wildesten Tiere erzittern.[483] Der Engel, welchen Gott Daniel zur Verteidigung gegen die Wut der Löwen sandte, ist nach dem Sohar nichts anderes, als das Gesicht des Propheten, oder die Herrschaft, welche ein reiner Mensch ausübt. Aber er fügt hinzu, daß dieser Vorzug sogleich verschwindet, sobald sich der Mensch durch die Sünde und das Vergessen seiner Pflichten herabsetzt.[484] Wir wollen nicht länger bei diesem Punkt verweilen, weil derselbe, wie wir schon bemerkt haben, durchaus unter die Theorie von der Natur gehört.
An sich selbst betrachtet, das heißt, unter dem Gesichtspunkt der Seele und verglichen mit Gott, bevor derselbe in der Welt sichtbar wurde, ruft uns das menschliche Wesen durch seine Einheit, seine substantielle und seine dreifache Natur vollkommen die höchste Trinität ins Gedächtnis zurück. Er ist aus folgenden Elementen zusammengesetzt:
1. Aus dem Geist, נשמה, welcher den erhabensten Grad seiner Existenz repräsentiert; 2., aus der Seele, רוח, welche das Behältnis des Guten und Bösen, des guten und schlechten Verlangens, mit einem Wort: der moralischen Eigenschaften ist; 3., aus einem gröberen Geist, נפש, welcher in unmittelbarer Verbindung mit dem Körper steht und direkt das verursacht, was der Text „die untern Bewegungen“, d. h. die Handlungen und Instinkte des tierischen Lebens verursacht.
Um zu begreifen, wie sich diese drei Prinzipien oder vielmehr diese drei Grade der menschlichen Existenz, ungeachtet des sie trennenden Abstandes, sich zu einem einzigen Wesen verbinden, wird hier der Vergleich wiederholt, dessen sich schon das Buch der Schöpfung hinsichtlich der göttlichen Attribute bedient. An einer Unzahl von Stellen wird von diesen drei Seelen gesprochen; aber ihrer Klarheit wegen bringen wir nur die folgenden zur Wiedergabe:
„In den drei Dingen, dem Geist, der Seele und dem sinnlichen Leben finden wir ein getreues Bild von dem, was von oben herabsteigt; denn alle drei bilden nur ein einziges Wesen, in welchem alles zu einer Einheit verbunden ist. Das sinnliche Leben besitzt an sich selbst kein Licht und ist deshalb mit dem Körper eng verbunden, welchem es die Freuden und die Nahrung, deren er bedarf, beschafft. Man kann es mit den Worten des Weisen erklären: ‚Es bereitet seinem Haus die Nahrung und weist den Knechten ihr Tagewerk an.‘ Das Haus ist der zu ernährende Körper, und die Knechte sind die Glieder, welche ihm gehorchen. Über das sinnliche Leben erhebt sich die Seele, welche es unterjocht, ihm Gesetze auflegt und erleuchtet, soviel es die Natur bedarf. Das animalische Prinzip steht also unter der Herrschaft der Seele. Über die Seele endlich erhebt sich der Geist, welcher alles beherrscht und auf sie ein Licht des Lebens wirft. Die Seele wird durch dieses Licht erleuchtet, und alles hängt vollkommen vom Geist ab. Nach dem Tod hat sie keine Ruhe; die Thore des Eden werden nicht eher geöffnet, als bis der Geist zu seiner Quelle, dem Ältesten der Alten, zurückgekehrt ist, um von ihm von Ewigkeit zu Ewigkeit erfüllt zu werden, denn alles kehrt zu seiner Quelle zurück.“[485]
Jede dieser drei Seelen hat, wie leicht einzusehen, ihren Ursprung in einem verschiedenen Grad der göttlichen Wesenheit. Die höchste Weisheit, welche auch das himmlische Eden genannt wird, ist der alleinige Ursprung des Geistes. Die Seele kommt nach den Auslegern des Sohar von dem Attribut, welches in sich die Gerechtigkeit und Gnade vereinigt, nämlich von der Schönheit. Das animalische Prinzip endlich, welches sich nie über diese Welt erhebt, hat keine andere Basis als die Attribute der Stärke, welche im Reich zusammengefaßt sind.
Außer diesen drei Elementen kennt der Sohar noch ein anderes von ganz außerordentlicher Natur, auf dessen alten Ursprung wir im weiteren Verlauf zurückkommen werden. Es ist die äußere Form des Menschen, aufgefaßt als eine vom Körper getrennte Existenz, mit einem Wort: die Idee des Körpers mit den persönlichen Zügen, welche uns von den andern unterscheiden. Diese Idee steigt vom Himmel herab und wird sichtbar im Augenblick der Empfängnis.
„In dem Augenblick der irdischen Vereinigung sendet der Heilige, dessen Name gelobt sei, vom Himmel herab eine Form von der Ähnlichkeit des Menschen, welche den Abdruck des göttlichen Siegels trägt. Diese Form hilft bei dem Act, von welchem wir sprechen, und wenn das Auge sehen könnte, was dabei vorgeht, so würde man über seinem Haupt ein dem menschlichen Gesicht vollkommen ähnliches Bild erblicken, welches das Modell ist, nach welchem wir geschaffen sind. Wenn es von dem Herrn nicht herabgesandt wird und nicht über unser Haupt schwebt, so findet keine Zeugung statt, denn es steht geschrieben: ‚Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.‘ Dieses Bild empfing uns bei unserer Ankunft auf der Welt, es entwickelt sich, wenn wir wachsen, und verläßt mit uns die Erde. Sein Ursprung ist im Himmel. Im Augenblick, wo die Seelen ihren himmlischen Aufenthaltsort verlassen, erscheint jede Seele vor dem höchsten König, bekleidet mit einer erhabenen Form, in welche die Züge eingegraben sind, welche sie hier unten tragen soll. Das Bild, von dem wir reden, besteht in dieser erhabenen Form, es kommt als drittes hinter der Seele, es geht uns auf der Erde voraus und erwartet unsere Ankunft 421seit dem Augenblick der Empfängniß; es ist beständig gegenwärtig bei dem Akt der ehelichen Vereinigung.“[486]
Bei den neueren Kabbalisten wird dieses Bild das individuelle Prinzip genannt.
Endlich haben einige unter dem Namen Lebensgeist in die kabbalistische Psychologie ein fünftes Prinzip eingeführt, welches seinen Sitz im Herzen hat, und das der Kombination und Organisation der materiellen Elemente vorsteht und sich gänzlich vom Prinzip des tierischen Lebens, vom sinnlichen Leben unterscheidet, wie bei Aristoteles und den scholastischen Philosophen die negative Seele sich von der sensitiven unterscheidet. Diese Meinung gründet sich auf eine allegorische Stelle des Sohar, wo gesagt wird, daß jede Nacht während unseres Schlafs unsere Seele zum Himmel hinaufsteigt, um Rechenschaft von ihrem Tagewerk abzulegen, und daß in diesem Augenblick der Körper nur von einem im Herzen wohnenden Lebenshauch beseelt wird.[487]
Aber diese beiden letzteren Elemente zählen nichts in unserer geistigen Existenz, welche völlig in der innigen Verbindung des Geistes mit der Seele aufgeht. Was nun die augenblickliche Verbindung dieser beiden oberen Prinzipien mit dem sinnlichen anlangt, wodurch dieselben an die Erde gekettet werden, so wird sie nur als ein Übel angesehen.
Man will dieselbe nicht nach dem Beispiel des Origenes und der Gnostiker für einen Fall oder ein Exil gelten lassen, wohl aber für ein Erziehungsmittel und eine heilsame Probe. In den Augen der Kabbalisten ist es eine Notwendigkeit für die Seele, eine mit ihrer endlichen Natur zusammenhängende Notwendigkeit, eine Rolle im Universum zu spielen, das Schauspiel der Schöpfung zu betrachten, und das Bewußtsein ihrer selbst und ihres Ursprungs zu erhalten, und zurückzukehren ohne sich vollkommen mit der unerschöpflichen Quelle des Lichtes und Lebens zu vermischen, welche man den göttlichen Gedanken nennt. Im andern Fall würde der Geist nicht hernieder steigen können, ohne gleichzeitig die beiden unteren Prinzipien, ja sogar die noch niedriger stehende Materie zu erheben. 422Wenn das menschliche Leben vollendet ist, ist es gewissermaßen eine Art Versöhnung zwischen den beiden äußersten Grenzen der Existenz, in ihrer Gesamtheit betrachtet, zwischen dem Idealen und Realen, zwischen der Form und dem Stoff, oder wie das Original sagt, zwischen dem König und der Königin. Es mögen hier diese beiden zwar in poetischer Form, aber unverkennbar geschilderten Konsequenzen folgen:
„Die Seelen der Gerechten sind über alle Mächte und Diener des Himmels erhöht. Und wenn du fragst, warum sie von einer so erhabenen Stelle auf die Welt herabsteigen und sich von ihrem Ursprung entfernen, so antworte ich darauf: Es ist das Beispiel eines Königs, welchem ein Sohn geboren wird, welchen er auf das Land schickt, damit er dort ernährt und erzogen werde, bis daß er groß geworden und vorbereitet ist zu den im Palast seines Vaters herrschenden Gebräuchen. Wenn man nun dem König meldet, daß die Erziehung seines Sohnes vollendet sei, was wird er wohl in seiner Liebe zu ihm thun? Er läßt, um seine Rückkehr zu feiern, die Königin, seine Mutter, holen, er führt ihn in seinen Palast und freut sich mit ihm den ganzen Tag. Der Heilige, gelobt sei sein Name, hat auch einen Sohn von der Königin; dieser Sohn ist die obere und heilige Seele. Er schickt sie auf das Land, das heißt in diese Welt, um hier groß und eingeführt zu werden in die Gebräuche, welche man im Palast des Königs befolgt. Wenn es nun zur Kenntniß des Königs kommt, daß sein Sohn erwachsen und die Zeit gekommen ist, ihn bei sich einzuführen, was wird er dann in seiner Liebe zu ihm thun? Er läßt ihm zu Ehren die Königin holen und den Sohn in seinen Palast eintreten. So verläßt die Seele die Erde nicht, bevor nicht die Königin sich mit ihr verbunden hat, um sie in den Palast des Königs einzuführen, wo sie ewig wohnen wird. Und doch haben die Landbewohner die Gewohnheit zu weinen, wenn der Sohn des Königs sich von ihnen trennt. Wenn aber ein hellsehender Mann zugegen wäre, so würde er zu ihnen sagen: Warum weint ihr? Ist es nicht der Sohn des Königs? Ist es nicht recht, daß er euch verläßt, um im Palast seines Vaters zu wohnen? Deshalb richtete Moses, welcher die Wahrheit wußte und sah, daß die Landbewohner, das heißt die Menschen zu klagen pflegen, an sie folgende Worte: Ihr seid 423Kinder des Herrn, eures Gottes: Ihr sollt euch nicht Maale stechen, noch kahl scheeren über den Augen über einem Todten.[488] – Wenn alle Gerechte diese Dinge wüßten, so würden sie mit Freuden den Tag erwarten, an dem sie diese Welt verlassen müssen. Und ist es nicht der Gipfel des Ruhmes, wenn die Königin, die Schechinah oder die göttliche Gegenwart, in ihre Mitte herabsteigt, damit sie in den Palast des Königs aufgenommen werden und seine Wonnen schmecken von Ewigkeit zu Ewigkeit.“[489]
Wir finden hier noch in den Beziehungen, welche zwischen Gott, der Natur und der menschlichen Seele bestehen, die nämliche Form der Trinität, welcher wir so oft begegnet sind, und der die Kabbalisten eine viel größere logische Wichtigkeit beilegen, als man nach dem exklusiven Kreis der religiösen Ideen noch erwarten sollte.
Aber nicht allein unter diesem Gesichtspunkt ist die menschliche Natur das Bild Gottes; sie schließt auch auf allen Stufen ihrer Existenz die beiden Prinzipien in sich ein, welche mit Hilfe eines Mittelgliedes aus ihrer Verbindung hervorgeht, wodurch die Trinität, welche das Resultat oder der vollkommenste Ausdruck ist, erzeugt wird. Der himmlische Adam ist das Resultat eines männlichen und weiblichen Prinzips. Dies mußte sein, damit daraus der irdische Mensch entstehen konnte, und diese Unterscheidung findet sowohl hinsichtlich des Körpers, als auch der Seele, in ihrer höchsten Reinheit betrachtet, statt. Der Sohar sagt:
„Jede Form, in welcher man nicht ein männliches und ein weibliches Prinzip findet, ist keine obere und vollkommene Form. Der Heilige, gelobt sei er, schlägt seine Wohnung nur an einem Ort auf, wo diese beiden Prinzipien vollkommen vereinigt sind. Nur von hier und durch diese Vereinigung strömt der Segen herab, wie wir aus folgenden Worten ersehen: Er segnete sie und nannte ihren Namen Adam an dem Tag, an welchem er sie schuf, denn selbst der gegebene Name Mensch kann nur einem Mann und einer Frau werden, welche zu einem einzigen Wesen vereinigt sind.“[490]
Die Seele war ursprünglich so eng mit der höchsten Intelligenz verbunden, daß beide Hälften des menschlichen Wesens, in welchem 424alle Elemente unserer geistigen Natur zusammengefaßt sind, sich unter einander vereinigt befanden, bevor sie auf diese Welt kamen, wohin sie gesandt wurden, um sich selbst zu erkennen und sich von neuem im Schoße der Gottheit zu vereinigen. Dieser Gedanke ist nirgends so rein ausgedrückt als in folgendem Fragment:
„Vor ihrer Herabkunft auf die Erde ist jede Seele und jeder Geist aus einem Mann und einer Frau zusammengesetzt, welche zu einem einzigen Wesen vereinigt sind. Indem sie zur Erde herabsteigen, trennen sich beide Hälften und beseelen verschiedene Körper. Wenn aber die Zeit der Ehe gekommen ist, vereinigt der Heilige, gelobt sei er, welcher alle Seelen und alle Geister kennt, sie wie zuvor, und alsdann bilden sie wie vorher einen einzigen Körper und eine einzige Seele. Aber das sie verbindende Band entspricht den Werken des Menschen und den Wegen, welche er wandelte. Wenn der Mensch rein war und fromm handelte, so wird er sich einer Vereinigung erfreuen, welche vollkommen jener gleicht, die seiner Geburt vorausging.“[491]
Der Autor scheint hier von den Androgynen Platos zu sprechen, deren Name in der alten Tradition der Hebräer bekannt genug ist. Aber wie kommt dieser Punkt der griechischen Philosophie in die Kabbala? Man wird uns die Bemerkung gestatten, daß diese Frage hier präokkupiert erscheint, daß aber der Grundsatz, nach welchem sie gelöst wird, nicht unwürdig eines so großen metaphysischen Systems erscheint: Denn, wenn Mann und Frau ihrer geistigen Natur nach und hinsichtlich der absoluten moralischen Gesetze gleiche Wesen sind, so sind sie hinsichtlich der natürlichen Richtung ihrer Fähigkeiten vollkommen ähnlich, und wir haben allen Grund, mit dem Sohar zu sagen, daß die Trennung der Geschlechter nicht weniger für die Seelen als für die Körper Geltung besitzt.
Der Glaube, welchen wir jetzt klarlegen, ist unzertrennlich von dem Dogma der Präexistenz und bereits mit der Ideenlehre verbunden, indem er genau mit ihr die Existenz und den Gedanken verbindet. Auch ist dieses Dogma mit völliger Klarheit in dem Prinzip klargelegt, worin es seinen Ursprung hat. Wir brauchen nur unsere bescheidene Rolle des Übersetzers beizubehalten:
„In der Zeit, in welcher der Heilige, gelobt sei er, das Universum schaffen wollte, war dasselbe bereits in seinen Gedanken gegenwärtig. Er schuf deshalb die Seelen, welche in der Folge den Menschen gehören sollten. Sie standen alle vor ihm vollkommen in der Form, welche sie nachher in den menschlichen Körpern annehmen sollten. Der Ewige betrachtete eine nach der andern und sah mehrere, welche ihre Wege auf der Welt verderben würden. Wenn ihre Zeit gekommen ist, wird jede dieser Seelen vor den Ewigen gerufen, welcher zu ihnen sagt: Gehe auf den oder jenen Theil der Erde und belebe diesen oder jenen Körper. Die Seele antwortet ihm: O Herr des Weltalls, ich bin glücklich auf der Welt, in welcher ich bin, und ich wünsche sie nicht um eine andere zu verlassen, wo ich jeder Beschmutzung ausgesetzt bin. Alsdann wird der Heilige, gelobt sei er, antworten: Am Tag, an welchem du geschaffen wurdest, hattest du keine andere Bestimmung, als auf die Welt zu gehen, wohin ich dich sandte. Die Seele schlug mit Schmerzen den Weg zur Erde ein und stieg in die Mitte von uns herab.“[492]
Dieselbe Idee finden wir einfacher ausgedrückt in folgender Stelle:
„Insofern vor der Schöpfung alle Dinge im göttlichen Gedanken gegenwärtig waren in den ihnen eigenthümlichen Formen, existirten alle menschlichen Seelen, bevor sie auf diese Welt herabstiegen, in Gott und dem Himmel in der Form, welche sie hier unten beibehielten; und alle, welche zur Erde herabstiegen, wußten dies, bevor sie hier ankamen.“[493]
Man wird leicht mit uns einsehen, daß ein Prinzip von solcher Wichtigkeit nicht irgend welchen Offenbarungen entstammt, um seinen Platz in der Gesamtheit des Systems einzunehmen, im Gegenteil wird es auf eine viel kategorischere Weise gebildet sein müssen.
Wir müssen uns jedoch hüten, die Lehre von der Präexistenz mit derjenigen der moralischen Prädestination zu verwechseln. Mit dieser wird die menschliche Freiheit vollkommen unmöglich; mit jener ist sie nur ein Geheimnis, wozu der heidnische Dualismus und 426das biblische Dogma von der Schöpfung ebensowenig geeignet sind, den Schleier zu lüften, als der Glaube an die absolute Einheit. Dieses Mysterium wird förmlich im Sohar anerkannt:
„Simon ben Jochai sagte zu seinen Schülern: Wenn der Herr, gelobt sei er, in uns nicht das gute und böse Verlangen gelegt hätte, welches uns die heilige Schrift unter dem Bilde des Lichtes und der Finsterniß darstellt, so würde für den Menschen weder Verdienst noch Schuld existiren. Aber warum ist diesem also? fragten seine Schüler. Wäre es nicht besser, wenn für ihn weder Lohn noch Strafe existirten, damit der Mensch nicht sündigen und Böses thun könnte? Nein, entgegnete der Meister, es ist gerecht, daß der Mensch so geschaffen wurde, wie er ist, denn alles, was der Heilige geschaffen hat, gelobt sei er, war nothwendig. Wegen des Menschen wurde das Gesetz der Schöpfung geschaffen. Dieses Gesetz ist ein Kleid der Gottheit. Ohne den Menschen und ohne dieses Gesetz würde die göttliche Gegenwart gewesen sein wie ein Armer, der seine Blöße nicht bedecken kann.“[494]
Mit andern Worten ist die moralische Natur des Menschen die Idee des Guten und Bösen, welche man ohne den Begriff der Freiheit nicht erfassen kann, eine derjenigen Formen, unter welchen wir uns das absolute Wesen vorzustellen gezwungen sind. Wir haben schon oben gesehen, daß Gott die Seelen, welche ihn eines Tages verlassen, schon vor ihrer Ankunft auf der Welt erkennt. Aber der Begriff der Freiheit ist nicht von dieser Meinung abhängig; im Gegenteil, sie existiert schon zu dieser Zeit, und hier möge folgen, wie die freien Geister noch die Ketten der Materie mißbrauchen:
„Alle diejenigen, welche auf der Welt Böses thun, haben schon im Himmel angefangen, sich vom Heiligen, dessen Name gelobt sei, zu entfernen; sie haben sich in den Abgrund gestürzt und sind vor der ihnen bestimmten Zeit zur Erde herabgestiegen. So waren diese Seelen vor ihrer Ankunft unter uns beschaffen.“[495]
Dies ist hinlänglich, um den Begriff der Freiheit mit der Bestimmung der Seele zu verbinden und dem Menschen die Möglichkeit der Verbesserung seiner Fehler zu lassen, ohne ihn für immer 427aus dem Schoße der Gottheit zu verbannen. Deshalb haben die Kabbalisten das pythagoräische Dogma der Metempsychose angenommen, jedoch dasselbe veredelt. Die Seelen müssen, wie alle Sonderexistenzen dieser Welt, zur absoluten Substanz zurückkehren, von welcher sie ausgegangen sind. Darum müssen aber alle Fähigkeiten der Vervollkommnungen, deren unzerstörbarer Keim in ihnen liegt, entwickelt werden; sie müssen durch eine Menge von Proben das Bewußtsein ihrer selbst und ihres Ursprungs gewinnen. Wenn sie diese Bedingungen nicht in einem früheren Leben erfüllt haben, so beginnen sie ein neues und nach diesem ein drittes mit immer neuen Proben, denn alles kommt schließlich darauf an, daß die Seelen immer neue Tugenden erwerben, welche ihnen früher gefehlt traben. Dieses Exil hört auf, wenn wir wollen; nichts aber hindert uns, daß es ewig dauere. Der Text sagt:
„Alle Seelen sind der Probe der Seelenwanderung (Gilgul) unterworfen, und die Menschen wissen nicht, was sie sind in Bezug auf die Wege, welche der Allerhöchste mit ihnen einschlägt. Sie wissen nicht, daß sie für alle Zeiten gerichtet sind, bevor sie auf diese Welt herabkommen und wenn sie dieselbe verlassen. Sie wissen nicht, wieviel Transformationen und geheimnisvolle Proben sie durchmachen müssen, wieviel Seelen und Geister auf diese Welt herabkommen, welche niemals in den Palast des himmlischen Königs zurückkehren; wieviel sie endlich solche Verwandlungen bis zum Stein, welchen man mit der Schleuder wirft, durchmachen müssen. Die Zeit ist endlich gekommen, daß diese Geheimnisse enthüllt würden.“[496]
Auf diese Worte, welche so vollständig mit der Metaphysik des Sohar im Einklang stehen, folgen Details, in denen sich die höchste poetische Imagination kundgiebt, welche vielleicht das Genie Dantes in seinem unsterblichen Werk gesammelt hätte, die aber keinerlei Interesse für die Geschichte der Philosophie besitzen und nichts dem hier kennen zu lernenden System hinzufügen. Wir bemerken hier nur, daß die Seelenwanderung, wenn wir dem heiligen Hieronymus Glauben schenken dürfen, unter den ersten Christen lange Zeit als eine esoterische und traditionelle Lehre im Umlauf 428war, welche nur einer kleinen Anzahl Auserlesener anvertraut wurde: „abscondite quasi in foveis viperarum versari, et quasi haereditario malo serpere in paucis.“ Origenes betrachtet die Seelenwanderung als das einzige Mittel zur Erklärung gewisser biblischer Erzählungen, wie zum Beispiel des Kampfes von Jakob und Esau vor ihrer Geburt, von der Auswahl des Jeremias, als er sich noch im Mutterschoß befand, und einer Menge anderer Erzählungen, welche den Himmel der Ungerechtigkeit anklagen würden, wenn sie nicht durch gute oder böse Handlungen in einem früheren Leben gerechtfertigt würden. Um nun schließlich keinerlei Zweifel über den Ursprung dieses Glaubens aufkommen zu lassen, trägt der Priester von Alexandria Sorge zu sagen, daß es sich hier nicht um die Metempsychose Platos, sondern um eine davon ganz verschiedene und weit erhabenere Theorie handelt.
Weiterhin glauben die neueren Kabbalisten, daß die göttliche Gnade uns in der eigentlichen Metempsychose ein Mittel zur Wiedererlangung des Himmels darbietet. Sie geben an, daß, wenn zwei Seelen die Kraft fehlt, – jede für sich die Vorschriften des Gesetzes zu erfüllen, Gott sie beide in einem einzigen Körper und zu einem Leben verbindet, damit eine die andere ergänze, wie der Blinde den Lahmen. Manchmal hat eine dieser beiden Seelen die Ergänzung einer Tugend nötig, welche in der andern besser und stärker entwickelt ist. Diese wird alsdann gewissermaßen die Mutter der ersteren; sie trägt dieselbe alsdann in ihrem Schoß und ernährt sie wie die Mutter ihr Kind. Dies ist der kabbalistische Sinn der Worte „Trächtigkeit“ oder „Schwangerschaft“, mit welchen diese merkwürdige Verbindung bezeichnet wird, deren philosophischer Sinn sehr schwer zu begreifen ist. Aber lassen wir hier diese Träumereien oder unwichtigen Allegorien und halten wir uns weiter an den Text des Sohar.
Wir wissen bereits, daß die Rückkehr der Seele in den Schoß der Gottheit stets das Ende und die Belohnung aller Proben ist, von denen wir sprachen.[497] Jedoch haben die Autoren des Sohar dabei nicht Halt machen wollen: diese Verbindung, aus welcher für den Schöpfer sowohl als für das Geschöpf unaussprechliche 429Freuden hervorgehen, schien ihnen eine natürliche Thatsache, deren Prinzip in der Natur des Geistes selbst begründet ist; mit einem Wort, sie wollten es durch ein psychologisches System erklären, welches man ohne Ausnahme in allen dem Mysticismus entsprungenen Theorien wiederfindet. Nachdem der Sohar von der menschlichen Natur die blinde Kraft getrennt hat, welche dem tierischen Leben vorsteht, das nie die Erde verläßt und infolgedessen keine Rolle in der Bestimmung der Seele spielt, unterscheidet der Sohar noch zwei Arten des Empfindens und Erkennens. Die beiden ersten sind die Furcht und die Liebe: das direkte und reflektierte Licht, oder das innere und äußere Gesicht; dieses sind die Ausdrücke, welche gewöhnlich zur Bezeichnung der beiden letzteren angewendet werden. Der Text sagt:
„Das innere Gesicht empfängt sein Licht von der höchsten Flamme, welche in Ewigkeit leuchtet, und deren Geheimniß nie entschleiert werden wird, es ist innerlich, weil es von einer verborgenen Quelle stammt; es ist auch erhaben, weil es von oben kommt. Das äußere Gesicht ist nur ein Reflex dieses Lichtes, welches direkt von oben emanirt.“[498]
Als Gott zu Moses sagte, daß er ihn nie von Angesicht, sondern nur von hinten sehen werde, spielt er auf diese beiden Weisen des Erkennens an, welche außerdem noch durch den Baum des Lebens dargestellt werden, welcher die Erkenntnis des Guten und Bösen giebt. Es ist mit einem Wort das, was wir heute die Intuition und die Reflexion nennen. Die Liebe und die Furcht, vom religiösen Standpunkt aus betrachtet, werden in einer sehr bemerkenswerten Weise in folgendem Satz definiert:
„Durch die Furcht wird der Mensch zur Liebe geführt. Ohne Zweifel ist der Mensch, welcher Gott aus Liebe gehorcht, auf der erhabensten Stufe angekommen, und ihm gebührt schon in Folge seiner Heiligkeit das zukünftige Leben; aber man darf nicht glauben, daß Gott aus Furcht dienen, Gott nicht dienen sei. Es ist im Gegentheil eine sehr wichtige Ehrerbietung gegen Gott, daß die Furcht vor Gott zwischen diesem und einer weniger fortgeschrittenen Seele ein gewisses Band herstellt. Es giebt nur eine über die 430Furcht erhabene Stufe, nämlich die Liebe. In der Liebe ist das Geheimniß der Einheit verborgen. Sie ist es, welche die Einen zu den obern Stufen hinauf und die Andern zu den untern hinabzieht. Sie ist es, welche alles Seiende auf die höchste Stufe erhebt, wo Alles nothwendiger Weise vereinigt werden muß. Dies ist der geheimnisvolle Sinn der Worte: Höre, Israel, der Herr, dein Gott, ist ein einiger Gott.“[499]
Wir begreifen auf der Stelle, wenn wir einmal auf diesem höchsten Grad der Vollkommenheit angelangt sind, daß der Geist weder Reflexion noch Furcht mehr kennt, daß vielmehr seine in die Intuition und Liebe eingeschlossene glückliche Existenz ihren individuellen Charakter verloren hat; ohne Interesse, ohne Handlung, ohne Rückkehr zu sich selbst kann sie sich nicht mehr von der göttlichen Wesenheit trennen. Hier möge folgen, wie sie sich zunächst unter dem Gesichtspunkt der Intelligenz darstellt:
„Kommet und sehet: wenn die Seelen an den Ort gekommen sind, welche man den Schatz des Lebens nennt, so erfreuen sie sich jenes glänzenden Lichtes, dessen Herd im höchsten Himmel ist: und so groß ist der von ihm ausgehende Glanz, daß ihn die Seelen nicht würden ertragen können, wenn sie nicht mit einer Lichthülle bekleidet wären. Dank dieser Hülle können sie Angesichts dieses blendenden Herdes bestehen, welcher den Aufenthaltsort des Lebens verklärt. Moses selbst konnte sich ihm nur nähern, um ihn zu betrachten, nachdem er seine irdische Hülle abgelegt hatte.“[500]
Wenn wir nun wissen wollen, wie sich Gott aus Liebe mit der Seele vereinigt, so müssen wir die Worte jenes Greises hören, welchen der Sohar nächst Simon ben Jochai die größte Rolle spielen läßt:
„In einem der geheimsten und erhabensten Orte des Himmels steht ein Palast, welchen man den Palast der Liebe nennt. Von ihm gehen die tiefsten Geheimnisse aus; in ihm sind alle vom himmlischen König geliebten Seelen versammelt; in ihm wohnt der himmlische König, der Heilige, gelobt sei er, mit den heiligen Seelen und vereinigt sich mit ihnen durch Küsse der Liebe.“[501]
Kraft dieser Idee wird der Tod des Gerechten ein Kuß Gottes genannt. Der Text sagt ausdrücklich:
„Dieser Kuß ist die Vereinigung der Seele mit der Substanz, woraus sie entsprungen ist.“[502]
Das gleiche Prinzip macht uns begreiflich, warum die Interpreten des Mysticismus den zärtlichen, aber oft sehr profanen Ausdrücken des Hohenliedes eine so große Verehrung entgegen bringen.
„Mein Geliebter gehört mir, und ich gehöre meinem Geliebten“, sagte Simon ben Jochai vor seinem Tod, und es verdient als wichtig bemerkt zu werden, daß dieser Ausdruck auch die Abhandlung Gersons über die mystische Theologie schließt. Ungeachtet der Überraschung, welche der eben genannte berühmte Name und der große Name Fenelons in Verbindung mit dem Sohar hervorrufen könnte, würden wir keine Mühe haben, darzulegen, daß in den „Betrachtungen über die mystische Theologie“ und in der „Auseinandersetzung der Grundsätze der Heiligen“ es unmöglich ist, etwas anderes zu finden, als diese Theorie der Liebe und Betrachtung, deren Grundzüge wir darlegten. Ihre letzte Konsequenz hat endlich niemand mit solchem Freimut dargestellt wie die Kabbalisten. Unter den verschiedenen Stufen der Existenz, welche man auch die sieben Tabernakel nennt, giebt es eine, welche der Heiligste der Heiligen genannt wird, auf welcher alle Seelen sich mit der höchsten Seele vereinigen und einander ergänzen. Hier kehrt alles zur Einheit und Vollkommenheit zurück; alles verbindet sich zu einem einzigen Gedanken, welcher sich über das Weltall ausdehnt und dasselbe völlig erfüllt. Aber der Grund dieses Gedankens, das Licht, welches sich verbirgt, und das nie verlöscht oder erkannt werden kann, wird nur sichtbar durch den von ihm ausgehenden Gedanken. In diesem Zustand endlich kann die Kreatur nicht mehr vom Schöpfer unterschieden werden; derselbe Gedanke erleuchtet sie, derselbe Wille beseelt sie; die Seele sowohl sich selbst als Gott befehlend und dem Weltall, und was sie befiehlt führt Gott aus.[503]
Es bleibt uns noch zum Beschluß dieser Untersuchung übrig, mit wenig Worten die Meinung der Kabbalisten über ein traditionelles Dogma kennen zu lernen, welches in ihrem System zwar eine sehr untergeordnete Rolle spielt, das aber für die Religionsgeschichte von der höchsten Wichtigkeit ist. Der Sohar erwähnt öfter den Abfall und den Fluch, welchen der Ungehorsam unserer ersten Eltern in die menschliche Natur brachte. Er lehrt uns, daß Adam, indem er der Schlange nachgab, in Wirklichkeit den Tod auf sich, seine Nachkommenschaft und die ganze Natur herab beschwor. Vor seinem Fall war er von größerer Schönheit und Stärke als die Engel. Wenn er einen Körper hatte, so war er nicht von gemeinem Stoff wie der unsere, er hatte keine Bedürfnisse und sinnliche Wünsche. Er wurde durch die höchste Weisheit verklärt, durch diejenige der Boten Gottes von der höchsten Ordnung, welche ihn später aus dem Paradies vertreiben mußten. Man kann jedoch nicht sagen, daß dieses Dogma das nämliche sei, wie das vom Sündenfall. In Wirklichkeit handelt es sich hier, wenn man nur die Nachkommenschaft Adams im Auge hat, weder um ein Verbrechen noch um eine menschliche Tugend, wohl aber um ein erbliches Übel, um eine schreckliche Strafe, welche sich sowohl über die Zukunft als über die Gegenwart erstreckt. Der Text sagt:
„Der reine Mensch ist an sich selbst ein wahres Opfer, welches zur Heilung dienen kann; deshalb werden auch die Gerechten die Reinigungsopfer des Weltalls genannt.“[504]
Die Kabbalisten gehen sogar so weit, den Todesengel als den größten Wohlthäter des Weltalls hinzustellen; denn, sagen sie, er beschützt uns gegen das gegebene Gesetz, er ist die Ursache, daß die Gerechten die erhabenen Schätze erben, welche ihnen für das zukünftige Leben vorbehalten sind.[505] Schließlich ist dieser alte, in der Genesis so positiv ausgedrückte Glaube an den Sündenfall des Menschen in der Kabbala mit großer Geschicklichkeit als eine natürliche Thatsache, als eine Schöpfung der menschlichen Seele dargestellt, welche folgendermaßen erklärt wird:
„Bevor Adam gesündigt hatte, wußte er noch nicht, daß die Weisheit des Lichtes von oben kommt; er war noch nicht vom 433Baum des Lebens getrennt. Aber als er dem Verlangen nachgab, die unteren Dinge kennen zu lernen und in ihre Mitte herabzusteigen, alsdann wurde er verführt, er erkannte das Böse und vergaß das Gute; er trennte sich vom Baume des Lebens. Bevor er dieses gethan hatte, hörte er eine Stimme von oben; er besaß noch die höhere Weisheit und bewahrte noch ihre lichtartige Natur. Aber nach seinem Fall hörte er die Stimme nicht mehr.“[506]
Wie könnte man die Meinung nicht erkennen, welche wir eben darstellten, wenn man uns lehrt, daß Adam und Eva, bevor sie durch die Einflüsterungen der Schlange betrogen wurden, nicht allein von den Bedürfnissen des Körpers befreit waren, sondern sogar nicht einmal einen Körper besaßen; daß sie also sozusagen der Erde gar nicht angehörten? Sie waren beide reine Intelligenzen, glückliche Geister, wie diejenigen, welche den Aufenthaltsort der Gerechten bewohnen. Dies bedeutet die Nacktheit, unter welcher sie uns die heilige Schrift im Stande ihrer Unschuld darstellt. Und wenn der heilige Geschichtsschreiber erzählt, daß ihm der Herr ein Kleid von Fellen anzog, so will dies sagen, daß die Erlaubnis diese Welt zu bewohnen, eine unvorsichtige Neugierde von ihnen war oder vielmehr der Wunsch, das Gute und Böse kennen zu lernen. Gott gab ihnen einen Körper und Sinne. Hier möge eine der zahlreichen Stellen folgen, worin diese auch von Philo und Origenes angenommene Idee in ziemlich klarer Weise dargestellt wird:
„Als Adam, unser erster Vater, den Garten von Eden bewohnte, war er wie im Himmel mit einer Hülle aus dem oberen Licht bekleidet. Als er aus dem Garten von Eden verjagt und gezwungen wurde, sich den Nothwendigkeiten der Welt zu unterwerfen, was geschah dann mit ihm? Gott, sagt uns die Schrift, machte für Adam und seine Frau Kleider von Fellen, denn vorher hatten sie Kleider von Licht, welches in Eden strahlt. Die guten Handlungen, welche der Mensch auf Erden vollbringt, lassen auf ihn einen Theil dieses obern Lichtes herabsteigen, welches im Himmel erglänzt. Es ist dasjenige, welches ihm als Kleid dient, wenn er diese Welt verlassen und vor dem Heiligen, dessen Name gelobt sei, erscheinen muß. Dank diesem Kleid kann er die Wonnen der 434Auserlesenen schmecken und sich von Angesicht zu Angesicht im Spiegel des Lichtes betrachten. Also besitzt die Seele, bevor sie die Vollkommenheit in allen Dingen erlangt, ein verschiedenes Kleid für jede der beiden Welten, welche sie bewohnen muß, eines für die irdische und das andere für die obere Welt.“
Andererseits wissen wir schon, daß der Tod, welcher nichts anderes ist als die Sünde selbst, nicht ein allgemeiner Fluch, sondern nur ein allgemeines Übel ist. Er existiert nicht für den Gerechten, welcher sich mit Gott durch einen Kuß der Liebe verbindet, sondern er trifft nur den Bösen, welcher in dieser Welt alle seine Hoffnungen zurückläßt. Das Dogma vom Sündenfall wird auch von den neueren Kabbalisten, namentlich von Isaak Loriah angenommen, welcher glaubt, daß alle Seelen mit Adam geschaffen wurden und zuerst nur eine und dieselbe Seele bildeten, sämtlich gleich strafbar für den ersten Akt des Ungehorsams sind. Aber in derselben Zeit, worin er sie uns so erniedrigt seit dem Beginn der Schöpfung darstellt, spricht er ihnen die Fähigkeit zu, sich wieder durch sich selbst zu erheben, indem sie alle Gebote Gottes ausführen kann. Über die Verpflichtung, sich diesem niedern Zustand zu entreißen und, so viel in ihrer Macht steht, die Gebote Gottes auszuführen, schreibt das Gesetz vor: „Glaubt und vermehrt euch.“ Hieraus rührt auch die Notwendigkeit her der Metempsychose, denn ein einziges Leben reicht nicht hin, um das Werk der Rehabilitation zu vollbringen. Immer ist, wenn auch stets unter einer andern Form, die Veredelung unserer irdischen Existenz und Heiligung unseres Lebens das einzige Mittel zur Vervollkommnung, wozu sie das Bedürfnis und den Keim in sich trägt.
Es liegt nicht in unserem Plan, ein Urteil über das große, jetzt von uns dargestellte System auszusprechen; denn wir könnten dies nicht thun, ohne daß wir eine profane Hand an die erhabensten Lehren der Philosophie und religiösen Dogmen legen müßten, deren Geheimnis mit Recht hochgeachtet ist. Wir sind hier nur zu der bescheidenen Rolle eines Auslegers bestimmt; aber wir haben wenigstens die Überzeugung, daß, ungeachtet der zahllosen Widerwärtigkeiten, mit denen wir zu kämpfen haben, ungeachtet der kindischen Träumereien, welche jeden Augenblick den erhabensten Ideengang unterbrechen, die geschichtliche Wahrheit sich nicht über uns zu beklagen haben wird.
Wenn wir jetzt auf die einfachste Weise den durchmessenen Raum übersehen wollen, so finden wir, daß sich vom Standpunkt des Sepher Jezirah und des Sohar aus, die Kabbala aus folgenden Elementen zusammensetzt:
1. Indem sie alle Erzählungen und Worte der Schrift als Symbole auffaßt, will sie den Menschen Vertrauen zu sich selbst einflößen; sie setzt die Vernunft an die Stelle der Autorität und läßt die Philosophie in unserer eigenen Brust unter der Obhut der Religion geboren werden.
2. An die Stelle des Glaubens an einen von der Natur unterschiedenen Schöpfer, welcher ungeachtet seiner Allmacht eine Ewigkeit in Unthätigkeit verharren mußte, setzte sie den Gedanken einer universellen, durchaus unendlichen, stets aktiven, immer denkenden Substanz, welche die immanente Ursache des Weltalls ist, die jedoch durch das Weltall nicht ausgefüllt wird, und für welche endlich Schaffen nichts anderes ist, als Denken, Sein und sich selbst Enthüllen.
3. An die Stelle einer rein materiellen, von Gott verschiedenen Welt, welche aus dem Nichts hervorging und bestimmt ist, dahin zurückzukehren, erkennt sie zahllose Formen an, unter denen sich die göttliche Substanz nach den unveränderlichen Gesetzen des Denkens enthüllt und offenbart. Alle existierten ursprünglich in der höchsten Intelligenz vereinigt, bevor sie sich in einer sinnlichen Form realisierten; hierher stammen die beiden Welten, die intelligible oder obere und die untere oder materielle.
4. Der Mensch besitzt von allen Formen die erhabenste und vollkommenste, unter welcher es allein erlaubt ist, Gott darzustellen. Der Mensch dient als Band und Verbindung zwischen Gott und der Natur. Beide reflektieren ihn in seiner doppelten Natur. Also ist alles Begränzte anfänglich in der absoluten Substanz vereinigt, mit welcher es sich dereinst aufs neue verbinden muß, damit sie für die noch möglichen Entwickelungen vorbereitet sei. Aber man muß die absolute und universelle Form des Menschen von der der einzelnen Menschen unterscheiden, welche nur eine schwache Wiedergabe der ersteren ist. Die erstere, gewöhnlich der himmlische Mensch genannt, ist durchaus untrennbar von der göttlichen Natur und deren erste Offenbarung.
In der Kraft und dem Wesen der Seele liegt die Fähigkeit zu wirken auf den Grundstoff (Huli) der Welt, daß sie eine Form (Zurach) vernichten und eine andere hervorbringen kann. Schon durch die Einbildungskraft (Machschaba) vermag der Mensch andern Dingen zu schaden, ja selbst Menschen umzubringen.
Isaak Loriah: Sepher Cch'wanoth, Fol. 46.
Die Lehrer sagen: Wenn einer plötzlich erschrickt, wiewohl er nichts siehet, so sieht doch sein Massel (Genius, transscendentales Subjekt) etwas. Denn ein plötzlich den Menschen überfallender Schrecken ohne bestimmte Ursache giebt einen Beweis, daß wiewohl das Körperliche nichts sieht, dennoch die N'schama, so das Massel ist, welches den Menschen bewegt, etwas siehet. Oft ahnet das Herz die Todesfälle und bösen Nachrichten, die es in der Zukunft treffen, und das Herz trauert ohne bestimmte Gründe, denn die N'schama sieht das, was künftig über den Leib kommt und trauert darüber.
Nischmath Chajim, Fol. 101.
Wenn sich die Heiligen und Wunderthäter in die Einsamkeit begeben und sich mit höheren Geheimnissen beschäftigen, so bilden sie zuerst in der Kraft ihres geistigen Bildungs- und Vorstellungsvermögens die heiligen Namen so, als wenn diese Dinge vor ihnen eingegraben wären, und diese furchtbaren Dinge sind in ihrem Herzen eingegraben. Wenn sie dann verbinden ihr Nephesch mit 437dem oberen Nephesch, so werden diese Dinge vermehrt, quellen auf und offenbaren sich aus sich selbst, weil hier jeder Gedanke aufhört. Wer daher seine Machschaba (Imagination) an einen bösen Gedanken hängt, sündigt mehr als durch die That.
Mairecheth Aeloluth, Fol. 41, 63.
Die That ist im Nephesch, das Wort im Ruach, das Denken in der N'schama. Da jedoch in jeden derselben alle drei enthalten sind, so findet sich auch das Denken im Nephesch, usw.
Kisri Melech, Fol. 53.
Es ist eine Eigenthümlichkeit in der Kraft des Nephesch und seinem Wesen, zu wirken in den Grundstoff der Welt, und Formen zu zerstören und andere hervorzubringen. Es geht die Wirkung von manchem Nephesch in ein anderes Wesen über, so daß der Ruach schon durch seine Imagination Schaden hervorbringen, ja sogar einen Menschen durch die Machschaba töten kann, und um so mehr noch, wenn er zu den Bösaugigten (mal' occhio) gehört. Denn die Kräfte des Menschen sind verschieden, Böses und Gutes hervorzubringen. Sowie die Kraft der Frommen und Wunderthäter groß ist, um Gutes zu thun den Guten, so ist auch durch die andere Seite den bösen sündigen Menschen Gewalt gegeben, jeden, dem sie wollen, Böses zuzufügen durch die Machschaba, durch Wort und That mittelst der Versenkung ihrer inneren und äußeren Sinne.
Een Jacob, Fol. 46.
Auch im Mineralreich, der Erde und den Steinen ist notwendig Leben und Geistiges, und ein Gestirn und Wächter über ihm oben. Denn wenn es nicht so wäre, könnte die Erde nicht Kräuter, Früchte und Samen hervorbringen, in denen Leben ist. Das Leben des Pflanzenreichs ist über dem Leben des Mineralreichs, denn es wächst und wird groß wie der Mensch, und das in ihm wohnende Leben verursacht das Wachsen. Die Thiere stehen noch höher, insofern sich in ihnen das Nephesch deutlich zeigt und schon Ruach genannt wird, wie es heißt: Der Ruach der Thiere geht zur Erde. Das Leben des vernünftigen Menschen aber steht höher als alle.
Etz Hachajim, Fol. 192.
Das allgemeine Buch, in welches alle Handlungen des Menschen auf der Stelle eingeschrieben werden, ist der saphirartige, umkreisende Äther. In ihn graben sich alle einzelne Bewegungen des Menschen ein, sowohl die Blicke des Auges, als auch die Öffnung des Mundes zum Guten wie zum Bösen; selbst die inneren Gedanken des Herzens, die Freude, Traurigkeit u. s. w. bringen im äußern Angesicht nothwendigerweise etwas hervor und wirken auf den Äther ein.
Esarah Maimeroth, Fol. 49.
Auf dem hellenischen Boden beginnt, was auf dem Titel des Gesamtwerkes, dessen letzten Band ich hiermit beginne, als „Occultismus“ bezeichnet ist, in die Philosophie einzumünden. Philosophie ist nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach erst eine Erfindung des griechischen Geistes. Der „Occultismus“ der Griechen fällt daher in gewissem Grade mit einer Geschichte der griechischen Philosophie zusammen, und die folgende Darstellung der letzteren wird sich nur insofern von den gewöhnlichen Darstellungen der griechischen Philosophie unterscheiden, als sie den mystischen Elementen derselben eine größere Beachtung schenkt. Wir treten zwar aus dem Nebel der orientalisch wüsten Phantastik heraus in eine reinere und freiere Atmosphäre. Allein wir werden finden, daß selbst die rationellsten Denker des begabtesten aller antiken Völker von mystischen und transcendentalen Voraussetzungen noch nicht ganz frei waren, und daß mit der Auflösung der griechischen Kraft auch die Philosophie im Neu-Pythagoräerismus und Neu-Platonismus nach dem anfangs so verheißungsvollen Erwachen einer nüchternen, wissenschaftlichen Naturbetrachtung wieder in die Träume und Superstitionen des Asiatismus und zu jenem Mysticismus herabsinkt, der dann auch bei dem Wiedererwachen des wissenschaftlichen Geistes gegen Ausgang des Mittelalters noch einen störenden Einfluß auf den Anfang der neueren Philosophie ausgeübt hat. So z. B. wird Giordano Bruno nur als Neu-Platoniker ganz verständlich.
Erst die moderne Naturwissenschaft hat, beginnend mit Galilei, in stetigem Kampfe gegen die metaphysischen Vorurteile unsere 442positivistische rein wissenschaftliche Denkweise gereift, für welche die Philosophie nichts anderes mehr ist, als Centralisation und denkende Verarbeitung und Verknüpfung aller Erfahrungs-Wissenschaften. Vergl. Comte, Cours de philosophie positive.
Das erste Erwähnen des natur-philosophischen Bewußtseins hat auf jonischem Boden stattgefunden. Hier zum ersten Male wurde in besonnener und verstandesklarer Gedankenhaltung die Frage gestellt nach dem Grunde oder Anfange, aus welchem sich das Vorhandene gestaltet habe, oder auch, wenn man will nach dem „Ding an Sich“ oder dem „reinen Sein“.
Den Zug der ersten Philosophenschule, der sog. jonischen Physiologen oder Physiker, eröffnet Thales von Milet.
Über das Leben dieses Vaters der griechischen Philosophie sind wir wenig, aber doch immer noch verhältnismäßig besser unterrichtet, als über dasjenige mancher späterer, durch unkritische Sagenbildung umwölkter Philosophen, z. B. des Pythagoras. Er entstammt einem thebanischen Geschlecht und ist wahrscheinlich um 640 v. Chr. geboren; jedenfalls war er ein Zeitgenosse des Solon und Crösus. Er war ein Bürger von Milet, sei es, daß er selbst erst dort eingewandert und unter die Bürger aufgenommen war, oder daß bereits sein Vater Examios das Bürgerrecht erlangt hatte. Es steht fest, daß er auch an den politischen Angelegenheiten Milets Anteil genommen hat.
Nach Herodot I., 170, riet er den Joniern vor ihrer Unterwerfung durch die Perser, sich zur Abwehr derselben zu einem Bundesstaat mit einheitlicher Centralregierung zu vereinigen. Er erlangte früh in ganz Griechenland den Ruf großer Kenntnisse und wurde unter die sog. sieben Weisen eingereiht. Eine Anekdote erzählt, daß er anfangs über seinen naturphilosophischen Spekulationen sein Vermögen vernachlässigt habe, dann aber, als ihm dieserhalb Vorwürfe gemacht wurden, um zu beweisen, daß einem 443Philosophen, wenn er nur wolle, auch die praktische Erwerbsthätigkeit eine Kleinigkeit sei, binnen kurzer Zeit durch finanzielle Spekulationen mit Ölpressen sich gewaltige Reichtümer erworben habe.
Zunächst scheint er sich dem bis dahin bei den Griechen noch sehr rückständigen Studium der Mathematik und Astronomie zugewandt zu haben. Diogenes giebt an, er habe zuerst bewiesen, daß die Dreiecke auf dem Kreisdurchmesser rechtwinklig sind; Plinius, er habe zuerst die Höhe der Pyramide aus ihrem Schatten berechnet; Proklus, er habe zuerst bewiesen, daß die Scheitelwinkel einander gleich sind, daß Dreiecke sich gleich sind, wenn sie je zwei Winkel und eine Seite gleich haben, und daß man mittels dieses Satzes die Entfernung von Schiffen auf dem Meere messen könne, auch habe er den in Euklid 440 gegebenen Beweis dafür entdeckt, daß der Durchmesser den Kreis halbiert. Im Altertum kursierte eine Schrift über nautische Astronomie unter seinem Namen, die jedoch Diogenes Laertius einem Samier Phocus zuschreibt. Möglich ist, daß er diese geometrischen und astronomischen Kenntnisse sich bei einer Anwesenheit in Egypten angeeignet hat.[508]
Am berühmtesten ist seine Vorausbestimmung einer zur Zeit des lydischen Königs Alyattes eingetretenen Sonnenfinsternis. Nach Zech's astronomischen Untersuchungen (vgl. Ueberweg's Geschichte der Philosophie I, § 12), hat diese Finsternis am 30. September 161 v. Chr. stattgefunden.
Möglicherweise hat er dabei den Saros, d. h. die von den Chaldäern durch fortgesetzte Beobachtung aufgefundene Periode der Verfinsterungen benutzt, welche 223 synodische Monate oder 6585⅓ Tage umfaßt.
Aristoteles sagt Metaph. I, 3: „Von denen, welche zuerst philosophiert haben, haben die meisten bloß materielle Urgründe angenommen, und zwar Thales, der Urheber dieser Richtung das Wasser. Er schöpfte diese Meinung wahrscheinlich aus der Beobachtung, daß die Nahrung von allem feucht sei, und daß das Warme selbst hieraus werde und das lebende Wesen hierdurch sich erhalte; das, woraus ein anderes wird, ist aber für dieses das 444Prinzip; – ferner aus der Beobachtung, daß der Same seiner Natur nach feucht sei; das Prinzip aber, vermöge dessen das Feuchte feucht sei, sei das Wasser.“
Dazu bemerkt Dühring in seiner kritischen Geschichte der Philosophie (S. 20 u. 22): „Mit vollem Rechte werden die ursprünglichen flüssigen oder gasförmigen Zustände der Natur als Totalitäten gedacht, in denen alles der Anlage nach enthalten war, was in der gegebenen in festen Formen gestalteten Welt anzutreffen ist.“ „Stand es einmal für den Verstand fest, daß das Gegebene seine gegenwärtige Gestalt einem Bildungshergang verdanke und nicht etwa jederzeit ebenso bestanden habe, wie jetzt, so war die nächste Konsequenz des Vorstellens offenbar die, sich nach einem wirklich bildsamen Stoff umzusehen, auf welchen gestaltende Kräfte mit Leichtigkeit wirken können. Das Feste ist erfahrungsmäßig wenig bildsam. Es mußte daher eine der Bethätigung des Kräftespiels günstigere Urbeschaffenheit angenommen werden. Die einzelnen Beobachtungen der natürlichen Gestaltungshergänge mögen das Flüssige als Ausgangspunkt des Festwerdens sowie auch der Verdunstung besonders empfohlen haben. Das Thaletische Wasser erscheint auf diese Weise gar nicht als ein willkürliches Prinzip, sondern als eine für den damaligen Stand des Naturwissens verhältnismäßig gelungene Idee.“
Ich selbst habe in meiner Einleitung zu Brunos Dialogen „Vom Unendlichen“ daran erinnert, daß Thales zu Milet am Strande des Meeres lebte, daß daher sein Grundprinzip aller Dinge der sinnlichen Anschauung seine Anregung verdankt. Denn mehr fast, als selbst der als abgeschlossene Wölbung erscheinende Luftraum vermag das Meer einen gefühlsmäßigen Antrieb zur Unendlichkeits-Idee zu erwecken, wie dies Byron in den schönen Versen seines Childe Harold ausdrückt:
Wir dürfen bei Wasser nur nicht an unser chemisches H2O, sondern an den flüssigen Aggregatzustand denken, um das Grundprinzip des Thales nicht für eine so kindische Vorstellung gelten zu lassen, wie es vielleicht manchem oberflächlichen modernen Beurteiler auf den ersten Blick erscheint.
Ob Thales vom Wasser, als dem Urstoff, die Gottheit oder den Geist unterschieden habe, oder ob er, wie Zeller[509] meint, der Urheber des sog. Hylozoismus war, „sich alle Dinge lebendig gedacht, alle wirkenden Kräfte nach Analogie der menschlichen Seele personifiziert hat“, ist sehr zweifelhaft. Aristoteles bemerkt zwar, er habe gelehrt, daß alles voll von Göttern sei. Ich möchte dem Urteil Dührings den Vorzug geben, wonach eine Unterscheidung des rein Materiellen von affizierenden Kräften oder gar geistigen Potenzen nicht auf dem Wege einer so einfachen Rechenschaft lag, wie sie von den jonischen Naturdenkern ins Auge gefaßt worden ist. Man thut ihnen daher, und insbesondere dem Thales, wohl Unrecht, wenn man ihnen mit Zeller eine unberechtigte Belebung der Materie unterschiebt. Ebenso ist es schlecht beglaubigt, daß er zuerst die Unsterblichkeit der Seelen gelehrt habe. Ebenso unverbürgt und unwahrscheinlich sind folgende Aussprüche, die Diogenes Laertius ihm beilegt: Gott ist das älteste aller Wesen; denn er ist unentstanden. Das Schönste ist das Weltall; denn es ist von Gott erschaffen. Das Größte ist der Raum; denn er umfaßt alles. Das Schnellste ist der Geist; denn er durcheilt das Weltall. Das Stärkste ist die Notwendigkeit; denn sie überwindet alles. Das Weiseste die Zeit; denn sie entdeckt alles. Der Tod unterscheidet sich nicht vom Leben. Als ihn mit Hinweis auf diesen Ausspruch jemand gefragt haben soll: „Warum stirbst du denn nicht?“ soll er geantwortet haben: „Weil es keinen Unterschied ausmacht.“ Auf die Frage, was schwer sei, erwiderte er: 446Sich selbst zu kennen; auf die Frage, was leicht: Einem andern gute Ratschläge zu erteilen; auf die Frage, wie man die harten Schläge des Schicksals am leichtesten ertragen könne, antwortete er: Wenn man sehe, daß es unseren Feinden noch schlechter gehe; und auf die Frage, wie man sein Leben am besten und richtigsten einrichte, wenn man die Fehler, die man an anderen tadelnswert finde, selber vermeide.
Einst sollen Milesische Fischer mit ihrem Netz einen Dreifuß von bewundernswerter Arbeit, ein Werk des Vulkan, aus dem Meere gezogen haben. Um den unter ihnen über das Eigentum entbrannten Streit zu schlichten, sandte man zum Delphischen Orakel. Die Pythia gab zur Antwort:
Man gab daher den Dreifuß dem Thales. Thales gab ihn weiter und so gelangte er schließlich an Solon, der ihn dann mit der Erklärung, daß der Gott der Weiseste sei, nach Delphi geschickt haben soll.
Anaximander, um 610 v. Chr. geboren, soll ein Schüler des Thales gewesen sein. Jedenfalls stand er, als sein Mitbürger und jüngerer Zeitgenosse, unter der geistigen Anregung der Lehren des Thales. Er hat aber einen erheblichen Fortschritt in der Richtung der philosophischen Abstraktion von der sinnlichen Anschauungsweise gemacht. Er nannte zuerst ausdrücklich das materielle Urwesen „Prinzip“ (ἀρχή) und bezeichnete es näher als einen luft- oder gasförmigen, der Masse nach unendlichen Stoff. Andere meinen, er habe den Urstoff als etwas zwischen Luft und Wasser in der Mitte Liegendes gedacht. Vielleicht hat er geglaubt, ein recht vollkommenes Prinzip dadurch zu gewinnen, daß er sich die drei in der gegebenen Welt bestehenden Aggregatzustände in einem chaotischen Urstoff gemischt vorstellte und so einen Schluß auf die Dichtigkeit in der vorausgesetzten Aggregation machte; jedenfalls finden wir, daß sein Urstoff auch als Mischung (μῖγμα) 447bezeichnet wird[510]; und er lehrte, daß die besonderen Stoffe aus dem unendlichen Urstoff durch Entmischung entstanden seien, indem das Verwandte sich vereinigte, die Goldteilchen mit Goldteilchen, Erde mit Erde u. s. w. Dagegen ist die unter den Historikern der Philosophie bestehende Controverse, ob er sich diese Entwicklung der besonderen Stoffe und Dinge rein mechanisch durch Trennung und Verbindung gedacht habe (Ritter), oder dynamisch, so daß die Unterschiede nur potentiell in dem an und für sich gleichartig gasförmigen der Qualität nach unbestimmten Urstoff vorhanden gewesen wären (Herbart), in Ermangelung ausreichender Quellenberichte mit keinerlei Sicherheit zu entscheiden. Aristoteles scheint die Annahme eines qualitätslosen Urstoffs dem Anaximander aufs bestimmteste abzusprechen, wenigstens die Annahme, daß die Dinge aus diesem Urstoff durch bloße Verdünnung oder Verdichtung entstehen.[511] Vielmehr schreibt er ihm die Lehre zu, daß die Entwicklung der Einzelstoffe und Einzeldinge durch Sonderung der im „Unendlichen“ enthaltenen Gegensätze sich vollziehe. Zuerst scheiden sich voneinander Warmes und Kaltes; eine feurige Sphäre umgiebt rings die Luft und die Erde; aus Feuer und Luft bilden sich die Gestirne. Im Mittelpunkt der unendlichen Welt ruht die Erde, unbeweglich wegen des gleichen Abstandes von allen Punkten der Himmelskugel. Die Gestirne sind „himmlische Gottheiten“. Die Erde hat sich aus einem ursprünglich flüssigen Zustande gebildet. Aus dem Feuchten sind unter dem Einfluß der Wärme in stufenweiser Entwickelung die lebenden Wesen hervorgegangen. Da alle lebenden Wesen ursprünglich im Wasser entstanden sind, so nahm er an, daß auch die Landtiere, mit Einschluß des Menschen, zuerst fischartig gewesen und erst infolge der Abtrocknung der Erdoberfläche sich allmählich zu ihrer jetzigen Gestalt entwickelt haben. Ueberweg findet daher nicht mit Unrecht bei ihm die ersten Anfänge des heute vorzugsweise sog. Darwinismus. Ja, Anaximander spricht schon von dem Einfluß der veränderten Lebensbedingungen auf die Entwicklung der Arten.
Die Seele soll er als luftartig bezeichnet haben.
Er lehrte, daß es unendlich viele Welten, d. h. Weltkörper gebe, die zusammen ein Weltsystem bilden, und die er wohl nur deshalb Welten nannte, weil er sie für weit größer und unserem Weltkörper ähnlicher ansah, als die gewöhnliche Meinung. Die Entstehung dieser einzelnen Weltkörper aus dem ursprünglich luft- oder modern genauer gesprochen gasförmigen Zustande suchte er sich mechanisch zu erklären, wahrscheinlich war er dabei auf eine ähnliche Theorie geraten, wie die sog. Wirbeltheorie des Descartes[512]; wenigstens wird berichtet, er habe die Bewegung der Himmelskörper von Luftströmungen hergeleitet, die eine Drehung der Gestirnsphären herbeiführten.
Dühring bemerkt, daß uns die jonischen Philosophen erst in richtiger Beleuchtung erscheinen, wenn wir ihre freilich noch roheren Vorstellungen mit den neueren naturphilosophischen und zugleich naturwissenschaftlichen Ideen über einen denkbar frühesten Zustand des Kosmos vergleichen. „Kant legte in seiner Naturgeschichte des Himmels ebenfalls die Hypothese zu Grunde, alle Weltkörper seien durch Verdichtung aus einem Urnebel entstanden.“[513]
Und jedenfalls hat Bruno so Unrecht nicht, wenn er auf den Rückgang der kosmologischen und insbesondere der kosmogonischen Vorstellungsweise eines Aristoteles gegenüber diesen ersten von Aristoteles stets mit einer gewissen verächtlichen Blasiertheit behandelten „Physikern“ hinweist.
Vergl. meine Übersetzung der Dialoge Brunos Vom Unendlichen und den zahllosen Welten S. 74ff.
Der Weltenentstehung aber entspricht eine Weltenzerstörung. Er lehrt: „Woraus die Dinge entstehen, in eben dasselbe müssen sie auch vergehen, wie es der Billigkeit gemäß ist; denn sie müssen Buße und Strafe geben um der Ungerechtigkeit willen nach der Ordnung der Zeit.“ Man kann hierin ein pessimistisches Element in der Philosophie des Anaximander finden und zwar eben jenes, das bekanntlich Felix Dahn auf modern naturwissenschaftlicher Grundlage in seinem „Odhins Trost“ poetisch ausgesponnen hat. Auf diese Annahme eines dereinstigen Vergehens der Welten weist uns 449auch die Nachricht, daß er eine allmähliche Abnahme und endliche Austrocknung des Meeres angenommen habe; ich verstehe nicht, wie noch Zeller (die Philosophie der Griechen I. S. 202), sagen kann, daß eine solche Vorstellung für uns fremdartig klinge, für uns, denen die Notwendigkeit und Thatsächlichkeit einer solchen Entstehung und allmählichen Vergehung der einzelnen Welten geradezu naturwissenschaftlich bewiesen ist, für uns, die wir insbesondere mit unseren Teleskopen den Mond als Beispiel einer bereits greisenhaft ausgetrockneten und erstorbenen Welt den Augen nahebringen können.
Vielmehr können wir der wissenschaftlich treffenden Intuition des Milesiers unsere Bewunderung nicht versagen.
Auch im Einzelnen soll Anaximander für seine Zeit nicht unerhebliche Kenntnisse auf naturwissenschaftlichem Gebiete besessen haben. Er beschäftigte sich vorwiegend mit Astronomie und Geographie, entwarf nach Eratosthenes eine metallene Erdtafel und eine Himmelskugel; nach Diogenes Laertius II, 1, soll er die Sonnenuhr (γνώμων) erfunden haben; wahrscheinlich hat er jedoch nur, da solche bereits bei den Babyloniern in Gebrauch waren, die Hellenen nur zuerst damit bekannt gemacht.
Näheres siehe bei Teichmüller, Studien S. 1–70.
Anaximenes war nach Diogenes Laertius ein Schüler des Anaximander. Von seinen Lebensumständen wissen wir fast nichts, als daß auch er aus Milet war, ein Sohn des Euristratus, geboren zwischen 529–525 v. Chr. und um die Zeit der Eroberung von Sardes durch die Jonier gestorben (499 v. Chr., also etwa 45 Jahre später, als Anaximander.)
Er hinterließ eine Schrift über die Natur, aus der uns Stobäus den Satz erhalten hat: „Wie unsere Seele Luft ist und unseren ganzen Leib durchdringt, so auch durchdringt und umfaßt eine geistige Luft das Weltall.“ Diese (beseelte) Luft also erklärte er für das Prinzip aller Dinge. Nach der einstimmigen Angabe aller Berichterstatter hat er sich diese Luft als unendlich der Ausdehnung 450nach gedacht und die Dinge aus derselben durch Verdünnung und Verdichtung abgeleitet, oder wie der ihm eigentümliche Ausdruck gelautet zu haben scheint, durch „Zusammenziehung“ und „Nachlassung“. So lehrte er, das Warmwerden und Kaltwerden der Dinge bestehe nur in der Verdünnung und Verdichtung der Luft; verdünnt werde die Luft Feuer, verdichtet Wind und Gewölk, noch mehr verdichtet Wasser, und daraus wieder durch Verdichtung Erde und Stein; alles übrige aber werde aus diesen. Es ist möglich, daß Anaximenes nur durch die Beobachtung des Athems, als einer Bedingung alles tierischen Daseins, dazu geführt ist, in der Luft zunächst das Lebensprinzip und so schließlich das Prinzip aller Dinge überhaupt zu suchen. Die Identifizierung von Leben, Seele und Athem (Odem) ist ja uralt, wie denn sogar die Stammgeschichte der Worte Seele, Geist, anima, psyche, darauf zurückweist. Auch deutet darauf hin die von ihm für die Gleichstellung der Naturkräfte mit dem Lebensprinzip und die Erklärung des Lebensprozesses angeführte naive Bemerkung, wenn wir die Luft mit den Lippen zusammengedrückt aushauchten, würde sie kalt, aus geöffnetem Munde dagegen gehe sie warm hervor.
Ein gewisser Fortschritt über Anaximander ist insofern nicht zu verkennen, als Anaximenes den Versuch machte, eine bestimmtere Vorstellung von dem Prozeß zu gewinnen, durch den sich die Dinge aus dem Urstoff bilden.
Anaximenes soll auch zuerst die Beleuchtung des Mondes durch die Sonne und den Grund der Mondfinsternisse entdeckt haben.[514]
Übrigens dachte er sich die Erde noch als eine runde breite von der Luft getragene Platte, und dieselbe Scheibengestalt schrieb er auch der Sonne und den Gestirnen zu.
Die Schule der jonischen Naturphilosophie erstreckte sich bis in das Zeitalter des Perikles, in dem allmählich die Sophisten an ihre Stelle traten.
Als die drei bedeutendsten späteren Vertreter dieser Richtung werden uns Hippo, Idaeus und Diogenes von Apollonia genannt.
Hippo scheint einer der ersten Naturphilosophen gewesen zu sein, die dem unverständigen Spotte der attischen Komiker, der später für Sokrates so bedenklich wurde, verfallen sind. Zu folgenden Versen aus des Aristophanes Wolken:
bemerkt der Scholiast, daß dies zuerst vom Komiker Kratinos mit Bezug auf den Physiker Hippo gesagt worden sei. Wir können darnach vermuten, daß Hippo längere Zeit in Athen gelebt hat. Seine sonstigen Lebensumstände, insbesondere seine Herkunft, sind ungewiß, er war vielleicht auf Samos oder Melos geboren.
Aristoteles (de anima I. 2) spricht von ihm noch verächtlicher, als von den anderen Physikern oder Physiologen und bemerkt, er habe die Seele für Wasser, vermutlich als Anhänger des Thales, für ein feuchtes Prinzip gehalten. Wahrscheinlich leitete ihn die Beobachtung, daß aller tierischer Same feucht ist. Aus dem flüssigen Aggregatzustand ließ er das „Feuer“ und aus der „Überwindung des Wassers durch das Feuer“ die Welt entstehen, weshalb auch geradezu gesagt wird, seine Prinzipien seien Feuer und Wasser gewesen. Er scheint mehr empirischer Naturforscher, als Naturphilosoph gewesen zu sein und sich hauptsächlich mit der Entwicklungsgeschichte des Fötus und der Lehre von der Erzeugung beschäftigt zu haben.
Wenn der scholastisch denkende Aristoteles ihm den Vorwurf besonderer Einfalt macht, so ist darauf wenig zu geben.
Idaeus aus Himera scheint sich hauptsächlich an Anaximenes angeschlossen zu haben, und ebenso Diogenes von Apollonia (auf Kreta). Von letzterem ist uns ein eingehenderes Fragment bei Simplicius Phys. 32b, 33a erhalten. Er stellte bezüglich des Urwesens nicht nur die Forderung auf, daß dasselbe der gemeinsame Stoff aller Dinge, sondern auch, daß es zugleich ein denkendes Wesen sein müsse, insofern ein Vorgänger (oder auch Nachfolger) des Anaxagoras. Dasjenige, woraus alles besteht, war ihm ein 452ewiger und unveränderlicher Körper, groß und gewaltig und reich an Wissen, das, was man „gewöhnlich die Luft nenne.“ Aus ihm entsteht durch Verdichtung und Verdünnung jegliches Einzeldasein. Zuerst sondert sich aus dem unendlichen Urstoff das Schwere ab, das sich nach unten, und das Leichte, das sich nach oben bewegt. Den Grund der Bewegung sah er im warmen, den Grund der körperlichen Konsistenz in dem kalten und dichten Stoff.
Infolge der Wärme soll das Weltganze in eine Kreisbewegung geraten sein, wodurch auch die Erde ihre runde Gestalt erhielt. Die Erde war in ihrem Urzustand eine weiche und flüssige Masse, die allmählich durch die Sonnenwärme ausgetrocknet ist. Der Erdkörper sei von Gängen durchzogen, in welche die Luft eindringe; werden ihr die Auswege aus denselben verstopft, so entstehen Erdbeben.
Im Gegensatz zu denjenigen Geschichtsschreibern der Philosophie, welche die jonischen Naturphilosophen, zumal sie von eigentlichen metaphysischen Voraussetzungen sich, wie es scheint, ziemlich frei hielten, nach dem Vorgange des Aristoteles mit Geringschätzung betrachten und sich auch über ihre vom Standpunkte des modernen Naturwissens selbstverständlich rohen Vorstellungen belustigen, glaube ich die einzig gerechte Würdigung ihrer unbefangenen und ehrlichen, occultistisch freilich wenig Ausbeute liefernden, Positivität in folgenden Worten Dührings zu finden:
„Wichtiger, als die verhältnismäßige Übereinstimmung, welche unser modernes naturwissenschaftliches Bewußtsein den Vorstellungen der jonischen Denker nahe bringt, ist die Gemeinschaft und Analogie in der Nötigung unserer Ideen zu einer bestimmten Voraussetzung. Heute ist es bekanntlich die astronomische Beobachtung, welche uns besonders mit Rücksicht auf die Abplattung der rotierenden Weltkörper und im Hinblick auf die mechanischen Wirkungen der Drehung bildsamer Massen zu dem Rückschluß nicht bloß berechtigt, sondern nötigt, daß ein weniger fester Aggregatzustand den gegenwärtigen Verhältnissen vorausgegangen sein müsse. Durch derartige Gedankenbewegung greifen wir stetig und zwar immer an der 453Hand der leitenden Thatsachen in eine Vergangenheit des Kosmos zurück, die der uns übrigens bekannten und etwa durch Rechnung rückwärts feststellbaren Verfassung und Beschaffenheit desselben vorausgegangen sein muß. Wo die Fingerzeige der aus der gegenwärtigen Gestaltung sprechenden Züge aufhören, da hat auch die wissenschaftlich begründete und mit ihr eigentlich alle gerechtfertigte Vorstellung eine Schranke. Es ist daher kein Mangel, wenn bei irgend einem Zustande mit den Rückschlüssen Halt gemacht werden muß. Sind wir einmal bei der gasförmigen Gestalt der Welt angelangt, so ist zu einer weiteren Voraussetzung innerhalb dieser Gattung, d. h. in der Geschichte der Natur weder Antrieb noch Anknüpfungspunkt vorhanden. Die Zustände der Materie sind bis zum Extrem durchlaufen und durch den Urnebel hindurch dürfte keine physische Hypothese mehr sichtbar werden. Etwas Unvollkommenes liegt aber in dieser Schranke durchaus nicht. Im Gegenteil lehrt sie uns, daß wir in dieser Richtung in dem, was der engeren Naturphilosophie wesentlich ist, auch nicht weiter gelangen, als die ersten antiken Denker, und daß wir vor ihnen nichts, als die bessere Begründung und Kenntnis des Weges voraus haben. Hierbei bleibt nur noch für die logische Notwendigkeit ein letzter Abschluß offen, und dieser besteht in der unumgänglichen Voraussetzung eines allem zählbaren Wechselspiel der Vorgänge vorangegangenen sich selbst gleichen Zustandes des Weltmediums.“[515]
Die Lehre dieses Philosophen schließt sich zwar insofern noch an die drei bisher behandelten sog. Physiker an, als auch sie allem Seienden eines der sog. vier Elemente als Grundstoff, aus dem alles entstanden sei, zu Grunde legt, nämlich das Feuer. Sie geht aber in ihrer Entwickelung so erheblich über die von den Vorgängern gesteckten Grenzen hinaus und enthält soviel keimkräftige, erst in späteren Perioden der Philosophie-Geschichte von einzelnen Systemen zu einseitiger Entwickelung geförderte Gedanken, daß man ihrer 454Universalität Unrecht thun würde, wollte man Heraclit noch zu den sogenannten Physikern rechnen, wie dies Aristoteles Metaphys. I. 3ff. thut. Heraclit wurde nach Hermann (De philos. Jonic. aetatt S. 10. 22) um 510 v. Chr. zu Ephesus geboren und lebte etwa bis 450 v. Chr.; Zeller dagegen (Philosophie der Griechen I. S. 524) setzt seine Geburt in die Zeit zwischen 530–540 v. Chr. Es steht fest, daß er ein Alter von 60 Jahren erreichte. Er entstammte einer der vornehmsten Familien seiner Vaterstadt, wie schon daraus hervorgeht, daß er das in seiner Familie erbliche Amt eines Opfer-Königs seinem jüngeren Bruder abtrat. Er trat der demokratischen Partei seiner Vaterstadt mit entschieden aristokratischen Grundsätzen entgegen und erfreute sich deshalb keiner großen Popularität. Seine Verbitterung gegen die Mitbürger steigerte sich in hohem Grade, als sein Freund Hermodor verbannt wurde, jener Hermodor, von dem uns der Jurist Pomponius in seiner Rechtsgeschichte Dig. I. 1, 1. 2 § 4 berichtet, daß er den römischen Dezemvirn bei Abfassung der Zwölf-Tafeln an die Hand ging.
Über Heraclits Tod und sonstige Lebensschicksale haben wir nur wenige und teilweise widersprechende Nachrichten. Die Fragmente seiner Schriften hat P. Schuster in den Acta philos. societ. Lipsiensis Tom. III, Leipzig 1873, zusammengestellt.
Man darf behaupten, daß Heraclit seinem Philosophieren schon eine gewisse Erkenntnis-Kritik vorausgehen ließ. „Wenn eine Rede verständig sein soll“, sagt er, „so muß sie sich auf das stützen, was allen gemeinsam ist, das Denken.“[516] Was unsere Sinne wahrnehmen, ist nur die flüchtige Erscheinung, nicht das Wesen. Alle Sinnesempfindung entsteht aus dem Zusammentreffen von zwei Bewegungen, sie ist das gemeinsame Erzeugnis aus der Einwirkung des Gegenstandes auf das Sinnesorgan und der Thätigkeit des Organs; sie zeigt daher nichts bleibendes und an sich seiendes, sondern nur eine Einzelerscheinung, so wie diese in dem gegebenen Falle und für diese bestimmte Wahrnehmung sich darstellt.[517] Schlechte Zeugen sind der Menschen Augen und Ohren, wenn sie unverständige Seelen haben.[518] Gerade dieses Zeugnis aber ist 455es, dem die Menge allein folgt. Daher finden wir bei ihm ähnlich geringschätzige Äußerungen über die große Masse der nicht denkenden Menschen, auch sogar über frühere und gleichzeitige Dichter und Denker, wie sie in ähnlich aristokratischer Geisteshaltung bei Giordano Bruno wiederkehren. Besonders verächtlich erscheint ihm die bloße Vielwisserei. Polymathie noon u didaskei, die bloße Vielwisserei, schafft keine Weisheit.[519] Er will sich begnügen, mit vieler Arbeit weniges zu finden, wie die Goldgräber, nicht leichthin über das Wichtigste urteilen, nicht andere befragen, sondern sich selbst oder vielmehr die Gottheit.[520] Nur wer dem göttlichen Gesetz, der allgemeinen Vernunft, lauscht, kann die Wahrheit finden, wer dagegen dem täuschenden Schein der Sinne und den unsicheren Meinungen der Menschen folgt, dem bleibt sie ewig verborgen.
Wie das Erkennen der Menschen, so ihr Handeln. Darum leben die meisten Menschen dahin wie das Vieh, sie wälzen sich im Schmutze und nähren sich von Erde gleich dem Gewürm, werden geboren, zeugen Kinder und sterben, ohne ein höheres Lebensziel zu verfolgen.[521]
Die meisten Menschen sind für die Wahrheit auch dann taub, wenn man sie ihnen in die Ohren schreit, und wie Hunde bellen sie alles und jedes an, das sie nicht kennen. Besonders durch seine Unglaublichkeit entschlüpft das Wahre zumeist dem Erkanntwerden.[522]
Der Esel frißt eben lieber Spreu, als Gold.
Der Grundfehler der bisherigen Philosophie hat nun nach Heraclit darin bestanden, daß man in den Dingen eine Beharrlichkeit des Seins suchte, die ihnen fremd ist. Vielmehr gibt es nichts festes und bleibendes in der Welt, alles ist in unablässiger Veränderung 456begriffen (τὸ πᾶν ῥεῖ), wie ein Strom, „man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.“[523]
Heraclit ist auch der Urheber des zuerst von Cusanus und Bruno wieder so viel betonten Prinzips der Coincidenz der Gegensätze, das von Hegel als logische Einheit des Widerspruchs mißdeutet wurde. Er selbst hat damit nur das antagonistische Spiel der Naturkräfte bezeichnen wollen, in dem nicht das Gleichgewicht, sondern das Übergewicht und die Störung wesentlich sind und die stetige Bewegung und das Leben erhalten; dagegen stand er den Hegelschen Begriffsverwirrungen fern, und die Darstellung seiner Lehre durch den Junghegelianer Lassalle ist eine arge Verdrehung.[524] Freilich finden wir bei ihm Äußerungen wie: Tag und Nacht sind dasselbe (d. h. es ist Ein Wesen, welches bald licht, bald dunkel ist); Heilsames und Verderbliches, Oberes und Unteres, Anfang und Ende, Sterbliches und Unsterbliches ist dasselbe.[525] Hunger und Sättigung, Anstrengung und Erholung gehören zusammen; aus dem Lebenden wird Totes und aus dem Toten Lebendiges, aus dem Jungen Altes und aus dem Alten Junges u. s. w., nur in der Bewegung beruht alles Leben, besteht überhaupt das Dasein der Dinge, kein Ding ist dieses oder jenes, sondern es wird nur in der beständigen Bewegung des Naturlebens.[526] Während Parmenides dem Begriff des Werdens, als einem vereinigten Widerspruch von Sein und Nichtsein, die Realität abspricht und ihn, ähnlich wie der moderne Philosoph v. Kirchmann in das Wissen verlegt, behauptet also Heraclit: Sein ist Werden.
Wenn nun alles in unaufhörlicher Bewegung und Veränderung begriffen ist, so folgt, daß alles Feuer ist. Offenbar will er, da er sein tieferes philosophisches Bewußtsein noch nicht 457abstrakt ausdrücken kann, seiner Metaphysik damit nur eine sinnlich symbolische Ausdrucksform leihen.[527]
„Diese Welt“, sagt er, „hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern sie war immer und wird sein, ein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen sich entzündend und nach Maßen erlöschend.“[528] Offenbar verstand Heraclit unter dem Feuer nicht bloß das sichtbare Feuer, sondern überhaupt das Warme, Wärmestoff, oder wie seine Nachfolger sagten, „trockene Dünste“, ja geradezu Hauch, die ψυχὴ, also etwa den Äther. Nichts aber wäre verkehrter, als es mit Lassalle in eine metaphysische Abstraktion aufzulösen, wie „die prozessierende Einheit des Sein und Nichtsein.“[529]
Aus dem Urfeuer, dem an sich gestaltlosen Äther, läßt er alle Einzelsubjekte durch Streit (eris) (auch πόλεμος) hervorgehen, welcher der „Vater aller Dinge ist.“[530] Die Welt ist die zerteilte Gottheit, das ἒν διαφερόμενον αὑτὸ αὑτῷ; aber indem sie sich in sich selbst unterscheidet, geht sie auch wieder mit sich zusammen, zu einer Harmonie, die wie die des Bogens und der Leyer auf entgegengesetzter Spannung beruht.[531] In ihr vollzieht sich ein stetiger Doppelprozeß der relativen Materialisierung des Feuergeistes und der Wiedervergeistung der Erde und des Wassers. Denn auch Erde und Wasser, d. h. der feste und flüssige Aggregatzustand, sind nur Erscheinungsformen des Einen, des Feuers; dieses geht in sie über in der ὁδός κάτω, dem Wege nach der Tiefe; es kehrt aber auch Erde und Wasser ins Feuer zurück, in der ὁδός ἄνω, dem Weg nach oben. Des Feuers Tod ist, Wasser zu werden, des Wassers, Erde zu werden, aus Erde aber wird wieder Wasser und aus Wasser Feuer (oder Seele). „Alles wird umgesetzt gegen Feuer und Feuer gegen alles, wie Waaren gegen Gold und Gold gegen Waaren.“[532] Alles Leben bewegt sich also im Kreise; nachdem es 458seine elementarische Beschaffenheit im festen Aggregatzustand am weitesten von der Urform entfernt hat, kehrt es durch die früheren Zwischenstufen schließlich doch zum Anfang zurück. Somit strebt auch die aus dem Streit entstandene Vielheit der Dinge immer wieder zur anfänglichen Einheit zurück; und dies Streben wird von den Dingen empfunden als Zustand der begehrenden Bedürftigkeit, die wiedergewonnene Einheit aber als Sättigung, Eintracht und Friede.[533] Der ewige Kampf und die ewige Versöhnung im steten Strome des Stoffwechsels, im Fluß des Geschehens, wird aber von strenger Gesetzmäßigkeit beherrscht, die er mit dem Namen der Harmonie, der Dike (Gerechtigkeit), des Schicksals, der weltregierenden Weisheit bezeichnet. Er nennt sie auch Zeus oder die Gottheit, unterscheidet aber diese weltbeherrschende Kraft, der er auch kein besonderes Bewußtsein zuschreibt, nicht von der Welt als Ganzem. Seine Weltanschauung läßt sich daher, zumal ihm aller Stoff beseelt ist, als hylozoistischer Monismus oder Pantheismus bezeichnen.[534]
Interessante Anticipationen bieten seine kosmischen Ansichten. Die Sonne ist, sagt er, eine brennende Dunstmasse, deren Feuer durch die aufsteigenden Dünste genährt wird; es findet ein stetiger Zu- und Abfluß an ihrem Körper statt. Man wird versucht, dabei an Robert Mayers Theorie vom Wiederersatz der Sonnenwärme durch Meteormassen zu denken.[535]
Die Welt als Ganzes ist zwar ohne Anfang und Ende; allein die einzelnen Weltsysteme haben ihren Anfang und ihr Ende, aus Feuer entstanden gehen sie in Feuer wieder unter, und zwar, da alles in der Welt sein festes Maß, auch Zeitmaß, hat, nach Ablauf gewisser Perioden. Eine solche Periode nennt Heraclit ein großes Jahr, das er zu 18 000 Sonnenjahren angenommen haben soll.[536]
Man sollte nun glauben, daß ein Monist, wie Heraclit, die Selbständigkeit und Substantialität der Menschenseele konsequent habe leugnen müssen. Aber dem ist nicht so. Sein Pantheismus schließt den Individualismus, wenigstens als relativen, nicht aus, sondern ein.
Der Leib an sich ist starr und leblos, erst durch die Seele wird er bewegt; die Seele aber ist ein unendlicher Teil des menschlichen Wesens, in ihr hat sich das göttliche Feuer in relativ reinster Form erhalten. Je „trockener“ dieses Feuer ist, um so weiser und besser ist die Seele[537], durch Feuchtigkeit wird dagegen das Seelenfeuer verunreinigt und geht die Vernunft verloren, wie die Erscheinungen des Rausches, der „angefeuchteten Seele“ beweisen. Wie übrigens jedes Ding in unablässiger Umwandlung begriffen ist, so auch die Seele, auch sie muß sich vom Feuer außer ihr nähren, das sie durch die Sinnesorgane empfängt. Dieses beweist der Schlaf, der das Licht des Bewußtseins verdunkelt. Und dennoch bewahrt die Seele ihre Identität im Tode. Die Menschen, sagt er, sind sterbliche Götter, die Götter unsterbliche Menschen; unser Leben der Tod der Götter, unser Tod ihr Leben; denn solange der Mensch lebt, ist der göttliche Teil seines Wesens mit den niederen Stoffen verbunden, von denen er im Tode wieder frei wird; die Seelen durchwandern ebenfalls den „Weg nach unten“ und „den Weg nach oben“, sie treten in Leiber ein, weil sie der Veränderung bedürftig sind, und ebenso verlassen sie die Leiber wieder.[538]
Des Menschen wartet nach seinem Tode, was er nicht zu hoffen noch zu glauben wagt.[539]
Die besseren Menschen kehren nach dem Tode als Dämonen in ein reineres Leben zurück, die gewöhnlichen aber sinken weiter zum Hades herab.[540] Übrigens ist alles voll von Seelen und Dämonen.[541]
„Wenn wir leben, sind unsere Seelen tot und in 460unseren Leibern begraben; erst wenn wir sterben, erwachen sie zum vollen Bewußtsein und Leben.“[542]
Der Dämon des Menschen ist sein Gemüt. Von diesem hängt es allein ab, glücklich zu leben und sich in die Weltordnung zu finden.[543] Die Meinung, daß die Gottheit nach Belieben Glück oder Unglück verhänge, vertrug sich nicht mit Heraclits Einsicht in die Gesetzmäßigkeit des Naturlaufs. Wohl aber glaubte er an die Möglichkeit der Weissagung und erkannte z. B. in den Sprüchen der Sibylle eine höhere Eingebung.[544]
In politischer Hinsicht war Heraclit ein Freund der Freiheit, und eben darum ein schroffer Gegner der Demokratie, die auch den Besten nicht zu gehorchen und keine hervorragende Größe zu ertragen weiß.[545]
Er legte seine Bücher über die Natur als ein frommes Opfer im Tempel der großen Diana zu Ephesus nieder.[546]
Creuzer, Symbolik und Mythologie II. 196, hat zuerst die Vermutung ausgesprochen, daß Heraclit ein Schüler der Zoroastrischen Lehre gewesen. „Was ihm der Orient und Egypten in der Religion seines Vaterlandes dargeboten, was er aus eigenem dort erleichterten Verkehr mit dem Morgenlande geschöpft hatte, durchdrang er mit griechischem, scharfen Geiste, begründete er durch eigenes tiefes Denken, brachte es in systematischen Zusammenhang, und machte es fruchtbar für sein Volk.“
„Aus sich hat er also vieles genommen; aber daß er alles aus sich genommen, daß er im strengsten Sinne Erfinder seiner Lehre sei, ist nicht zu glauben.“ „Heraclit geht sichtbar von der Priesterlehre und von Symbolen der Lichtreligionen aus.“
Auch bei Zoroaster ist die Feindschaft, der Streit, der Grund der endlichen Dinge. „Bedeutet doch des Bogens Namen (βίος) Leben, sein Geschäft aber ist der Tod.“[547] Daß diese Sätze in die 461Ephesische Priesterdogmatik aufgenommen waren, wäre schon aus dem nachgewiesenen Zusammenhange der Artemisischen Religion mit dem Feuerdienste Oberasiens wahrscheinlich. „Die ganze Feuerlehre des Ephesers ist in Prinzip und Folgerungen Magismus, besonders sein Satz von der Geburt der Götter aus dem Feuer.“[548] Freilich auch bei den Egyptern finden wir Phtha, das Urfeuer, und selbst die Sonnentheorie des Heraclit.
„Aus den Lichttheorien des Orients hatte er den Inhalt seiner Lehren genommen, von dort nahm er auch seine Bilder.“
„Ob nun dieser Heraclitus einen Zoroaster geschrieben, wie spätere Zeugen wollen, oder nicht, ist gleichgültig. Es ist genug, daß er Zoroastrisch philosophiert hat, daß er gelehrt hat, wie der alte große Lichtlehrer Zerethoschtro, der Stern des Goldes.“
Der Beiname des Dunklen, weil er „nicht redet, nicht verbirgt, sondern andeutet“, findet sich zuerst in der pseudo-aristotelischen Schrift de mundo (c. 5). Sokrates soll gesagt haben, es bedürfe zum Verständnis seiner Schreibweise eines delischen (tüchtigen) Tauchers. Könnte man ihn aber mit Hinsicht auf den Inhalt seiner Lehre, einer Licht- und Feuer-Religion, nicht vielmehr auch den lichten nennen? Auch dadurch würde sich für ihn die Coincidenz des Gegensatzes bestätigen.
Pythagoras gehörte einer etwas früheren Zeit an, als Heraclit. Er steht als Dorer schon dem Stamme nach in einem gewissen Gegensatz zu den Jonischen Philosophen.
Leider ist die Geschichte seines Lebens in ein solches mystisches Dunkel gehüllt, daß in unseren Tagen, wo ja die historische Skepsis auf die denkbar feinste Spitze getrieben worden ist, einzelne Forscher sogar seine Existenz bezweifelt und die Möglichkeit bejaht haben, daß er ein bloßer Kollektivname, eine Personifikation der ganzen orientalischen und nordischen Weisheit sei.[549] Wir sind weit entfernt, diese, ja auch auf vielen anderen Gebieten und besonders durch David Strauß an der Geschichte Jesu bis zur Selbstironie übertriebene Skepsis, welche zum großen Teil der aprioristischen negativen Voreingenommenheit des Materialismus gegen mystische Berichte entspringt, unbedingt zu teilen, müssen aber zugeben, daß die zweifellos historische Persönlichkeit dieses dorischen Denkers dermaßen von Mythen umrankt ist, daß es schwer fällt, einen thatsächlichen Kern aus dem Sagengewirr herauszuschälen. Fest steht, daß er ein Sohn des Mnesarchus war und zu Samos, etwa um 582 v. Chr. geboren ist, von wo aus er erst in späteren Jahren, vielleicht 529 v. Chr. nach Kroton in Unteritalien übersiedelte und hier einen politisch-ethisch-religiösen Geheimbund stiftete. Im übrigen wächst die Reichhaltigkeit der Mitteilungen über ihn nahezu im quadratischen Verhältnisse der zeitlichen Entfernung und somit im umgekehrten der Zuverlässigkeit. Am meisten wissen die fast ein 463Jahrtausend später lebenden sog. Neupythagoräer und Neuplatoniker von ihm zu erzählen, unter denen Jamblichus und Porphyrius sogar eine ausführliche Lebensbeschreibung des Pythagoras liefern.
Von dem ihm zeitlich am nächsten stehenden Heraclit ist uns eine Äußerung über Pythagoras erhalten[550], die eben keine wohlwollende Beurteilung einschließt. Er sagt: „Pythagoras, der Sohn des Mnesarchus, hat Forschung geübt von allen Menschen zumeist, und eklektisch sich seine eigene Wahrheit gebildet, eine Vielwisserei und gelehrte Kunst.“
Nicht unwahrscheinlich ist es daher, daß er, wie dies ja wißbegierige Hellenen, z. B. Solon und Herodot vielfach thaten, auch große Reisen gemacht und insbesondere sich auch in Egypten aufgehalten hat, um sich in die dortige Priesterweisheit einführen zu lassen. Dadurch würde sich sein mit dem, was als logische Grundlage seiner Philosophie berichtet wird, nur unorganisch verknüpfter Glaube an die Seelenwanderung erklären. Jedenfalls aber sind seine Reisen von den Späteren, deren einige ihn sogar bis nach Indien zu den Brahmanen führen[551], sehr übertrieben, und Zeller bemerkt wohl mit Recht, daß „nicht die bestimmte Kenntnis von seinem Verkehr mit auswärtigen Völkern zu der Annahme über den Ursprung seiner Lehre, sondern vielmehr umgekehrt die Voraussetzung von dem auswärtigen Ursprung seiner Lehre zu den Erzählungen über seinen Verkehr mit Barbaren den Anstoß gegeben haben wird.“ Einige bringen ihn sogar mit dem mythischen König der im Norden Griechenlands wohnenden Geten Zamolxis in Verbindung.[552]
Jedenfalls hat er keine Schriften hinterlassen, und die Behauptung des Jamblichus, es seien wohl Schriften vorhanden gewesen, aber bis auf Philolaos streng als Geheimnis der Schule bewahrt worden, verdient wenig Glauben.[553]
Für den von ihm gestifteten Geheimbund wurde dessen politische (aristokratische) Richtung verhängnisvoll. Derselbe wurde durch eine blutige demokratische Revolution, den Aufstand der sog. „Kyloner“ 464vernichtet; bei einer Beratung im Hause des Milo zu Metapont sollen seine sämtlichen Anhänger mit Ausnahme der Tarentiner Archippus und Lysis umgekommen sein, da die Gegner das Haus umstellten und anzündeten. Unwahrscheinlich ist der Bericht, daß Pythagoras selbst bei dieser Veranlassung geendet habe, da diese sog. Kylonischen Unruhen mindestens 100 Jahre nach seiner Geburt datiert werden müssen.
Zuverlässige Mitteilungen über seine Lehre bieten uns nur Plato und Aristoteles.
Darnach scheint dieselbe rationelle und mystische Elemente in wunderlichstem Grade verquickt zu haben. Einerseits müssen wir annehmen, daß die Mathematik und zwar die Geometrie in erster Linie ihm nicht unbedeutende Fortschritte verdankt. Bekannt ist ja die Erzählung, daß er den wichtigen nach ihm benannten Satz von der Flächengleichheit des Hypotenusenquadrats und der Kathetenquadrate entdeckt und zum Dank dafür den Göttern eine Stierhekatombe geopfert hat, woher das bon mot, daß seitdem alle Ochsen zittern, so oft eine neue Wahrheit entdeckt wird.
Auch werden die einfachsten Zahlenbestimmungen der musikalischen Harmonie auf ihn zurückgeführt. Die Beobachtung der letzteren hat vermutlich den Ausgangspunkt seiner Grundlehre gebildet.
Weil die Pythagoräer zwischen den Zahlen und den Dingen manche Ähnlichkeit entdeckten, sagt Aristoteles[554], so hielten sie die Elemente der Zahlen für die Elemente der Dinge selbst; sie sahen in der Zahl sowohl den Stoff als die Eigenschaften der Dinge. Das Rationelle an dieser Einsicht beschränkt sich auf die Erheblichkeit der quantitativen Beziehungen in der Konstitution der Dinge und in der Beschaffenheit der Phänomene, die ja in der That eine Grundlage des Verständnisses alles Daseins ist.
Alles weitere ist nur aus der im Anfange der menschlichen Denkarbeit, wie es scheint, ganz unvermeidlich gewesenen und auch für uns Modernen immer noch eine bedenkliche Klippe des Verstandes bildenden Hypostasierung oder Verdinglichung abstrakter Begriffe zu erklären. In der Ausführung dieser Zahlenphilosophie treffen wir nur auf zahlenmystische Spielereien und Deuteleien. 465So ist die sog. Tetraktys, die Zahlengruppe 1, 2, 3, 4, deren Summe 10 giebt, Gegenstand besonderer Heilighaltung gewesen, da sie die Grundzahl der Menschenseele bilde. Diese spielerische Symbolik wurde besonders auf die moralischen Erscheinungen übertragen; so sollen sie die Gerechtigkeit bald auf die Zahl 3, bald auf die 4, bald auf die 5, bald auf die 9 zurückgeführt haben. Weil alle Zahlen sich in ungerade und gerade teilen, so fand man darin einen weiteren grundlegenden Wesensunterschied, indem man das Ungerade dem Begrenzten, das Gerade dem Unbegrenzten gleichsetzte. Das Begrenzte ist das Bessere und Vollkommene, das Unbegrenzte und Gerade das Unvollkommene.
In 10 Gegengrundsätzen stellten sie die erste, höchst willkürliche Tafel sogenannter Kategorien auf:
1. Grenze und Unbegrenztes. 2. Ungerades und Gerades. 3. Eins und Vielheit. 4. Rechtes und Linkes. 5. Männliches und Weibliches. 6. Ruhendes und Bewegtes. 7. Gerades und Krummes. 8. Licht und Finsternis. 9. Gutes und Böses. 10. Quadrat und Rechteck.
Über die Theologie der alten Pythagoräer läßt sich nichts Sicheres feststellen. „So unleugbar die Pythagoräer an Götter geglaubt haben, und so wahrscheinlich es ist, daß auch sie der monotheistischen Richtung, welche seit Xenophanes in der griechischen Philosophie so bedeutenden Einfluß gewann, soweit gefolgt sind, um aus der Vielheit der Götter die Einheit (ὁ ϑεός, τὸ ϑεῖον) stärker, als die gewöhnliche Volksreligion, herauszuheben, so gering scheint doch die Bedeutung der Gottesidee für ihr philosophisches System gewesen zu sein, und in die Untersuchung über die letzten Gründe scheinen sie dieselbe nicht tiefer verflochten zu haben.“[555]
Auch die kosmologischen Einsichten des Pythagoras bezw. der ältesten Pythagoräer werden vielfach mit Rücksicht auf spätere Unterschiebungen und infolge allzu günstiger Deutung der wenigen unklaren Überlieferungen stark überschätzt.
Das Weltgebäude selbst dachten sich die Pythagoräer als eine Kugel. Im Mittelpunkt derselben nahmen sie ein Centralfeuer 466an. Um dieses sollen zehn himmlische Körper sich von West nach Ost bewegen, zunächst die 5 Planeten Merkur, Venus, Mars, Saturn und Jupiter, dann die Sonne, der Mond und die Erde. Als zehnten Himmelskörper, wohl nur, um die heilige Zehnzahl voll zu machen, setzten sie dann eine sog. Gegenerde, antichthon; der äußerste Umkreis aber wird durch eine feurige Region, das Empyreum, gebildet.[556] Das ganze System erhält sein Licht und seine Wärme mittelbar vom Centralfeuer und unmittelbar von der Sonne.
Wenn einzelne Historiker der Astronomie in der sog. Gegenerde die andere Halbkugel der Erde sehen wollen und dem Pythagoras schon die nachweisbar erst von Heraclides Ponticus, Ekphant, Plato und Hicetas behauptete Axendrehung der Erde als bekannt zuschreiben, so ist das, wie gesagt, eine zu günstige Auslegung. Nur die Kugelform der Erde ist den alten Pythagoräern bekannt gewesen. Mit dieser Anschauung vom Bau der Welt verband sich nun die berühmte Lehre von der Harmonie der Sphären.
Jedes der Gestirne bringt durch seinen Umschwung um das im Mittelpunkt stehende Centralfeuer einen eigenartigen Ton hervor, da jeder schnell bewegte Körper einen Ton erzeugt. Diese Töne der Planeten setzen sich zu einer Harmonie zusammen; daß wir von dieser Sphärenharmonie, die man sich durch eine Anzahl verschieden abgestimmter Brummkreisel veranschaulichen könnte, nichts hören, erklärte man durch die Bemerkung, es gehe uns damit wie den Bewohnern einer Mühle; da wir das gleiche Geräusch von Geburt an unausgesetzt vernehmen, so kämen wir nie in den Fall, sein Dasein am Gegensatz der Stille zu bemerken.
Was die Psychologie des Pythagoras betrifft, so ist unstreitig zunächst seine Lehre von der Seelenwanderung, die man unrichtig gewöhnlich als Metempsychose, also wörtlich übersetzt „Umbeseelung“ bezeichnet, während man richtiger von einer Metensomatose, d. h. Umkörperung reden sollte. Pythagoras wurde dieser Lehre wegen schon von Xenophanes verspottet[557]; und in der 467That scheint die Seelenwanderungslehre der alten Pythagoräer sich von der krassesten Form dieses Aberglaubens, der sogar eine Wanderung der Menschenseele in Tier- und Pflanzenleiber für möglich hielt, nicht sehr weit entfernt zu haben. Andererseits berichtet auch Aristoteles in seiner Psychologie, einige von den Pythagoräern hätten die Seelen in den Sonnenstäubchen oder auch in dem, was diese bewege, gesucht.[558]
Gleichzeitig wurde auch der Glaube an unterirdische Wohnsitze der Abgeschiedenen festgehalten, und nach Aelian V. H. IV. 17 soll Pythagoras sogar die Erdbeben von Wanderungen (συνοδοι) der Toten hergeleitet haben. Vielleicht läßt sich der Seelenwanderungsglauben und der an einen Aufenthalt im Hades so zusammenreimen, wie dies später bei Plato und Vergil geschieht, daß nämlich ein Teil der Seelen vor dem Wiedereintritt in einen Körper sich durch Strafen und Qualen im Hades, der dann also als Fegefeuer dient, läutern muß.
Ob die Pythagorärer sich die Verbindung der Seele mit ihrem Leibe durch Wahl, wie später Plato, oder durch natürliche Verwandtschaft oder durch den Willen der Gottheit bestimmt dachten, ist nicht klar zu stellen. Wahrscheinlich war ihre Lehre in dieser Richtung noch nicht fest ausgebildet. Ebenso wenig wissen wir, ob und wieso sie ihre Seelenwanderungslehre mit der Grundlehre des Systems, wofern man ihnen überhaupt ein System zuschreiben darf, von den Zahlen in Verbindung gebracht haben.
Wenn nämlich einerseits berichtet wird, Pythagoras habe die Seele als Harmonie des Körpers aufgefaßt, so könnte man daraus auf eine die Unvergänglichkeit der Seele leugnende materialistische Psychologie schließen.
Denn sofern die Harmonie das Produkt einer Zusammensetzung ist, muß sie ja zweifellos mit der Auflösung des Zusammenhangs untergehen. Andererseits ist aber doch der Pythagoräische Unsterblichkeitsglaube zu gut beglaubigt. Da sie die Zahl hypostasierten, wird man bei ihnen vielleicht den Keim jener späteren neuplatonischen Definition der Seele als einer idealen oder sich selbst „bewegenden“ Zahl voraussetzen dürfen, die eine große Rolle 468bei Plotin und später noch bei Bruno spielt.[559] Dem modernen Kritizismus freilich, dem die Zahl ein subjektiver Beziehungsbegriff ist, muß eine solche Verdinglichung derselben ganz unverständlich erscheinen. Allein die Hypostasierung der Gedankenbewegung ist ja eben das eigentliche Element aller Spekulationsdichtung.
Endlich haben nach Angabe des Aristotelikers Eudemos[560] die Pythagoräer schon jene eigentümliche Lehre von einer Wiederbringung aller Dinge und Ereignisse aufgestellt, die dann mit besonderer Vorliebe von einigen Stoikern und Neuplatonikern kultiviert worden ist und die in unserem Jahrhundert eine der Beachtung meistens infolge der abstrakten Fassung entgangene merkwürdige Neubegründung durch einen deutschen Philosophen erhalten hat, bei dem man eine solche mystische Konzeption am allerwenigsten vermuten möchte, nämlich durch den Realisten v. Kirchmann. Vergl. dessen Schrift: Die Unsterblichkeit, Berlin 1865. IV, 3. Die Wiederkehr des Wissens. S. 130: „Wenn irgend ein Wirksames fortschreitend das Wissen in dem Sein erweckt, so ist es sehr wohl möglich, daß solcher Ursachen nicht bloß eine besteht, sondern daß mehrere in gewissen Abständen einander folgen. Die Wirkung würde dann die sein, daß das Sein des Menschen nach seinem Tode nicht für alle Ewigkeit zur Bewußtlosigkeit verdammt bliebe, sondern daß mit dem Eintritt eines zweiten Lichtstreifens, welcher in gleicher Weise fortschritte, das Sein des Menschen wieder mit dem Bewußtsein sich verbinden würde. Wäre dieser zweite Lichtstreifen dem ersten durchaus gleich, so würde das bewußte Leben des Menschen ganz in derselben Weise sich dann wiederholen, wie er es bereits das erste Mal durchlebt hat; dieselbe Jugend, dasselbe Alter, dieselben Handlungen, dieselben Freuden und Leiden würden noch einmal von ihm wiederholt werden. Dies zweite Leben wäre nur eine genaue Wiederholung des ersten.“ – Eine wenig verlockende Aussicht! Man sieht, es kann nichts so Wunderliches erdacht werden, was nicht irgend ein Philosoph auch einmal alles Ernstes für erwiesen oder wenigstens probabel erkennte! Die ausführlichste Darstellung dieser Idee giebt „Synesios, die Aegypter 469oder die Vorsehung“. Vergl. auch Bruno, de Triplici minimo, c. l. v. 170–174.
Die ägyptische, pythagoräische Seelenwanderungslehre, die wir als Metensomatose (Umkörperung) bezeichnet haben, mußte bei den gebildeten Griechen schon früh Anstoß erregen. Man versuchte ihr daher allmählich eine bloß allegorische Deutung zu geben, unter Anspielung auf die homerische Wendung von der Zauberin Kirke, welche Menschen in Tierleiber verwandelte. So erzählt Xenophon in seinen Memorabilien des Sokrates 3, 7, daß letzterer oft scherzend geäußert habe, er glaube „Kirke habe dadurch Leute zu Schweinen gemacht, daß sie ihnen vieles vorgesetzt habe, Odysseus aber sei darum nicht zum Schweine geworden, weil er auf die Warnung des Hermes und aus eigener Enthaltsamkeit sich vor dem übermäßigen Genusse der Speisen gehütet habe.“
Plato entwickelte hieraus die feinere und mehr pantheistisch zu denkende Lehre von der Palingenesie, deren Unterschied von der groben Umkörperung darin besteht, daß sie nur annimmt, daß die allgemeine oder die Weltseele in allen wechselnden Erscheinungen der Körperwelt wirksam bleibe.[561]
Als der erste Pythagoräer, der die Lehre seines Meisters in einer Schrift dargestellt hat, gilt Philolaos, ein Zeitgenosse des Sokrates. Die von dieser Schrift überlieferten Fragmente, denen aber fremdartige Elemente beigemischt zu sein scheinen, hat Boeckh zusammengestellt. (Philolaos des Pythagoräers Lehren nebst den Bruchstücken seines Werkes. Berlin 1819.) Ein anderer Jünger des Pythagoras, der Arzt und Anatom Alkmäon, ein Krotoniate, wird von Aristoteles und Theophrast erwähnt und soll zuerst den Sitz der Seele in's Gehirn verlegt haben, zu dem alle Empfindungen von den Sinnesorganen aus durch Kanäle hingeleitet würden. Der 470schon erwähnte Lysis, der sich beim Brande des Milonischen Hauses rettete, begab sich nach Theben und wurde dort der Lehrer des Epaminondas. Vielleicht war dieser Lysis Verfasser der sog. goldenen Sprüche des Pythagoras. Außerdem werden als ältere Pythagoräer noch genannt der Tarentiner Eurytus, der Architekt Hippodamus aus Milet, ein Zeitgenosse des Sokrates und Epicharmus von Kos, endlich jener Tarentiner Archytas, dessen mathematisch-physikalische Kenntnisse und Tod auf dem Meere Horaz in der Ode 18, Buch I, mit den Versen verewigt hat:
Die Pythagoräer sollen sich durch besondere Mäßigkeit im Genuß von Nahrungsmitteln und einfache Kleidung ausgezeichnet haben. Ob sie, wie später behauptet worden ist, ganz vegetarisch lebten und sexuelle Enthaltsamkeit forderten, ist zweifelhaft.[562] Wenigstens Gellius, Noctes Atticae IV, 11 schreibt: Es ist eine alte, aber falsche Ansicht, der Philosoph Pythagoras habe keine Fleischspeisen genossen und sich auch jener Bohne enthalten, welche die Griechen cyamus nennen (sog. große oder Saubohne, ein besonders bei den Westfalen mit Schinken oder Speck beliebtes Gemüse). In dieser unrichtigen Meinung hat Cicero im ersten Buch von dem Ahnungsvermögen folgendes geschrieben:
Plato schreibt daher vor, daß man sich in solcher Leibesverfassung schlafen legen solle, daß alles, was die Seele in Irrtum und Unruhe bringen könne, vermieden sei. Und deshalb soll auch den Pythagoräern verboten sein, Bohnen zu essen, da diese leicht starke Blähungen erzeugen, was für Leute, die nach geistiger Ruhe trachten, widerwärtig sein muß. So zwar Cicero. Aber Aristoxenos, 471ein in der alten Litteraturgeschichte sehr gelehrter Mann, der Hörer des Philosophen Aristoteles, behauptet, daß Pythagoras gerade keine andere Hülsenfrucht öfter gegessen habe, als die Bohne, da dieselben langsam abführend und erleichternd wirkten. Die eigenen Worte des Aristoteles lauten: „Pythagoras liebte unter den Hülsenfrüchten am meisten die Bohne. Denn sie sei abführend und erleichternd. Deshalb aß er sie am meisten.“
Derselbe Aristoxenos berichtet auch, daß er gern Schweinefleisch und Lammfleisch gegessen. Er scheint dies von dem Pythagoräer Xenophilus, seinem Freunde, und einigen anderen Zeitgenossen des Pythagoras erfahren zu haben. Die Ursache des Irrtums hinsichtlich des Bohnenverbots wird in einem Gedichte des Empedocles, das die Pythagoräische Lehre betrifft, gefunden:
Hier haben die meisten angenommen, sei die Hülsenfrucht der Bohne gemeint. Die aber, welche die Verse des Empedocles scharfsinniger auslegen, wollen an dieser Stelle unter Bohnen die Geschlechtsteile verstanden wissen, welche von den Pythagoräern wegen der (im Griechischen) auffälligen etymologischen Verwandtschaft (κύαμοι, quod sint αἴτιοι τοῦ κυεῖν) so genannt seien.
Empedocles habe daher die Menschen nicht vor dem Genuß der Bohnen, sondern vor der geschlechtlichen Ausschweifung warnen wollen.
Allgemein bekannt ist, daß Pythagoras behauptet haben soll, er sei in einem früheren Leben Euphorbus gewesen; weniger, was Clearchus berichtet, daß er später als Pyrrhus, dann als Aethalides und zuletzt als ein schönes Weib, namens Alco, das sich der Prostitution ergeben habe, sich wieder verkörpert habe.
Die zuletzt von Gellius erwähnte Fabel zeigt deutlich, bis zu welchem Grade in späteren Zeiten die Person des Pythagoras zum Gestell abgeschmacktester Fabeleien mißbraucht wurde, gewiß kein beneidenswertes posthumes Schicksal für einen Philosophen.
Vielleicht aber hat Pythagoras selbst einige Veranlassung zu den über ihn berichteten Mythen gegeben. Denn nach einer Äußerung des Plutarch, der ihn übrigens sogar in ganz unhistorischer Weise mit Numa in Verbindung bringt, möchte man annehmen, daß er es nicht verschmäht hat, ungefähr wie die modernen Theosophen, 472seinen theoretischen Lehren durch „magische“ Künste Nachdruck zu verschaffen. Plutarch erzählt, daß er einen Adler abgerichtet und ihn durch gewisse Worte mitten im Fluge aufgehalten und zu sich herabgelockt habe, – wir hätten in ihm also das historische Vorbild des bekannten Mannes „mit Speck unterm Hut“; – nach Aelian IV, 17 hätte schon Aristoteles erzählt, daß Pythagoras einmal gleichzeitig in Kroton und Metapont gesehen worden sei (also Doppelgängerei oder sog. Majavi-Rupa nach Art der berüchtigten Blavatzki-Mahatmas fin de siècle), aus dem Wasser eines Brunnens soll er ein Erdbeben drei Tage vor seinem Eintritt prophezeit haben; mit der Seele eines Freundes soll er nach dessen Tode in fortwährendem Verkehr gestanden und last not least eine goldene Hüfte gehabt haben und einmal von einem veritablen Flußgott angeredet worden sein.[563]
Der um das Jahr 270 vor Christi Geburt lebende Epigrammendichter Timon von Phlius, ein Freund des Königs Antigonus von Makedonien widmete ihm daher folgende Denkschrift:
Als Eleaten bezeichnet man vornehmlich drei Philosophen, die sämmtlich in Elea, einer Stadt Unteritaliens lebten und lehrten. Der Gedankenkreis dieser Männer ist, wie Eugen Dühring[564] mit Recht bemerkt, der subtilste, dessen die gesammte griechische Philosophie sich rühmen kann.
Wir finden bei ihnen bereits erkenntniskritische und weltschematische Probleme erörtert, wie sie die moderne Philosophie erst mit Kant ernstlich wieder aufgenommen hat. Im allgemeinen läßt sich die Eleatik als der erste unbeholfene Versuch eines idealistischen Monismus bezeichnen. Ihr einziges Endziel bildet die Erkenntnis des „reinen Sein“, welches der bestimmungslose Grund alles Werdens ist, während das empirische Sein, das räumlich-zeitliche Dasein nur Erscheinung ist. Indem sie damit schließlich zu dem Satze kommt: „Nur das Sein ist und das Nichtsein, das Werden, ist gar nicht“, bildet sie die dialektische Antithese zu der geschilderten objektiv-realistischen Weltanschauung des Joniers Heraclit.
Durch ihre entschieden logische Richtung blieb die Eleatik mehr als der Pythagoräismus und Platonismus vor occultistischen Trübungen bewahrt. In einer Geschichte des Occultismus in demjenigen Sinne, in welchem Kiesewetter dieses Werk auffaßte, können sie daher keinen „Ehrenplatz“ beanspruchen. Wenn ich ihnen gleichwohl eine Stelle in diesem Bande einräume, so geschieht dies nicht sowohl aus meiner persönlichen, größeren Sympathie mit diesen wirklich rationellen Denkern, welche zugleich in wohlthuendem Gegensatz zu den Pythagoräern von jeder Wichtigthuerei mit „Geheimwissen“ 474und jeder „Geheimbündelei“ sich frei hielten, als um darauf hinzuweisen, daß der griechische Geist ursprünglich in der That kräftig genug gewesen ist, die größten Probleme des philosophischen Denkens wenigstens festzustellen, sodaß wir nur bedauern müssen, daß sein vorzeitiges Altern und die durch orientalische Einflüsse in Verbindung mit der zersetzenden Sophistik verursachte Entartung die Gedankenkeime der Eleatik nicht zur Entwickelung gelangen ließ.
Der Begründer der eleatischen Schule ist Xenophanes. Als seine Vaterstadt wird Kolophon genannt. Er wanderte frühzeitig in die phokäische Kolonie Elea, deren Gründung er in einem aus 2000 Hexametern bestehenden Gedicht besungen haben soll, aus. Der größere Teil seiner langjährigen Wirksamkeit ist in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts vor Chr. zu versetzen. Lucian giebt seine Lebensdauer auf 91 Jahre an. Seine philosophischen Ansichten legte er in einem Lehrgedicht „über die Natur“ nieder, von dem uns zerstreute Fragmente erhalten sind.[565]
Xenophanes ist zwar von einer allen Forschungswert und die Wahrheitsliebe selbst vernichtenden Skepsis weit entfernt; allein er meint, daß die Wahrheit nur allmählich und mühsam entdeckt werden kann; er glaubt, daß eine vollkommene Sicherheit des Wissens selbstverständlich nur in philosophischen, besonders metaphysischen Dingen unmöglich ist und will deshalb auch seine eigenen Ansichten nur als wahrscheinlich bezeichnen.[566]
In diesem Sinne behauptet er zunächst die Einheit der Welt und nennt das Weltganze Gott. Er ist der Urheber des ἓν καὶ πᾶν, des „Eins und Alles“. Er scheint sich aber diese Einheit 475der Welt nicht in gewöhnlicher pantheistischer (unbewußter), sondern in theistischer Wesenheit gedacht zu haben; denn der Eine Gott ist ihm „ganz Auge, ganz Ohr, ganz Sinn und Bewußtsein.“[567] Entschieden tritt sein reiner Monotheismus der Vielgötterei entgegen und besonders tadelt er, fast wie ein Apostel des Christentums, daß die alten Dichter den „Göttern“ so mancherlei Unsittlichkeiten angedichtet haben.[568]
Die Menschen scheinen sich ihre Götter nach ihrem eigenen Bilde geschaffen zu haben.
Jeder stellt sich die Götter so vor, wie er selbst ist, der Neger schwarz und plattnasig, der Thracier blauäugig und rothhaarig, und wenn die Pferde und Ochsen malen könnten, so würden sie dieselben ohne Zweifel als Pferde und Ochsen darstellen.
Von seinen physikalischen Ansichten wird mitgeteilt, daß er angenommen habe, daß die Erde sich nach unten, wie auch die Luft nach oben hin unbegrenzt weit hin erstrecke; wahrscheinlich hat er indeß die Kugelform der Erde gelehrt. Das Vorkommen versteinerter Seetiere in den Bergwerken von Syrakus führte ihn zu der Annahme, daß das Meer das Land bedeckt haben müsse.
Parmenides war ein Schüler des Xenophanes (geboren etwa 515 v. Chr. zu Elea). Auch er legte seine philosophischen Gedanken in poetischer Form nieder, indem er ein Lehrgedicht „über die Natur“ verfaßte.
Dasselbe zerfiel in zwei Hauptteile, in die Lehre vom Sein (der Wahrheit) und vom Schein. Das Nichts kann kein Objekt des Denkens sein. Folglich ist Denken und Sein identisch. Das Seiende kann ferner nicht anfangen oder aufhören, zu sein. Denn es kann doch aus dem Nichtseienden nicht entstanden sein und also auch nicht in Nichtsein übergehen. Es ist ferner unteilbar und unbeweglich, und da es nicht unvollendet und mangelhaft 476sein kann, muß es begrenzt sein. Obwohl nun Parmenides für seiend nur dieses Eine unteilbare, den Raum ausfüllende, unbewegliche Wesen erklärt, geht er doch im zweiten Teil seines Gedichtes auf die „nichtseiende“ Erscheinungswelt über, um seine „Ansichten“ über dieselbe darzustellen. Er betont dabei ausdrücklich, daß diese Ansichten keine philosophische Wahrheit im engsten Sinne, sondern nur die Gestalt bieten, in welcher in dem denkenden Geiste die nicht seiende Erscheinungswelt sich spiegelt.
Seine kosmologische Anschauung scheint sich von der pythagoräischen nicht unterschieden zu haben.
Doch werden uns neben diesen einige nicht uninteressante anthropologische Bemerkungen überliefert. So soll er sich die erste Entstehung des Menschen als eine Entwickelung aus dem Erdschlamm durch die Sonnenwärme herbeigeführt gedacht haben.
Überhaupt aber scheint er, insofern der Vorläufer der Naturphilosophie des Telesius[569], alle Erscheinungen der Natur aus zwei unveränderlichen Gegensätzen, die Aristoteles als Warmes und Kaltes, als Feuer und Erde bezeichnet, abgeleitet zu haben. Von diesen beiden, bemerkt Aristoteles weiter, stellte er das Warme mit dem Seienden, das Kalte mit dem Nichtseienden in Parallele. Alle Dinge sind ihm aus diesen Gegensätzen gemischt; je mehr Feuer, destomehr Sein, Leben und Bewußtsein.
Zeno, der Eleat, wohl zu unterscheiden von dem etwa ein Jahrhundert später geborenen Begründer der stoischen Schule Zeno aus Cittium, ist durch seine bekannten logischen Argumente zur indirekten Beweisführung der eleatischen Hauptlehre von der Einheit des Seins berühmt:
Wir können nur bedauern, daß uns die eleatische Philosophie nur bruchstückweise, besonders in den Schriften des Aristoteles, der sich eingehend mit ihrer Widerlegung beschäftigt, erhalten ist. Denn wir sehen, daß in ihr der menschliche Geist zum ersten Male mit echt philosophischer Besonnenheit die höchsten Probleme des rein logischen und erkenntniskritischen Denkens, die Frage nach der Einheit des Seins, dem Wesen von Raum und Zeit, dem Verhältnis von Wirklichkeit und Erscheinung, dem Begriff der Unendlichkeit sich wenigstens formuliert hat. Die deutliche Formulierung der Aufgabe ist aber der erste große Schritt zur Lösung. Es kann nun hier nicht der Ort sein, auch noch zu untersuchen, wie weit die ersten Schritte zur Lösung der Aufgabe selbst von den Eleaten in der Richtung des selbst heute noch keineswegs erreichten Endziels geführt haben; selbstverständlich können diese ersten Schritte nur höchst unsicher und unbeholfen gewesen sein. Eine vortreffliche 478Würdigung der Eleatischen Gedanken bietet Dühring in seiner Geschichte der Philosophie I, S. 34–50, und ich hebe aus den Bemerkungen dieses eminent kritischen Philosophen nur folgende Sätze hervor: „Der Begriff des einheitlichen Seins repräsentiert die höchste zusammenfassende Kraft des Denkens und die größte Energie der spekulativen Synthese.“ – Die Hauptschwierigkeit, auf welche zuerst aufmerksam gemacht zu haben, ein besonderes Verdienst der Eleaten ist, liegt in der Idee des Unendlichen. „Die zwingende Kraft und die eigentliche Schlüssigkeit der Eleatischen Wendungen ist in der That in jener logischen Notwendigkeit zu suchen, die nicht gestattet, das Unendliche als vollendet, die Unzahl als gleichsam abgezählt und abgeschlossen zu denken. Hier liegt die Kraft und Schärfe der Eleatischen Dialektik verborgen, nicht aber in anderen untergeordneten Umständen und Hilfsmitteln der Darlegung. Es ist der falsche Unendlichkeitsbegriff, der sich überall und auch da, wo er zunächst garnicht sichtbar ist, als die wahre Ursache der Unvereinbarkeiten erweist. Er ist es, der die Idee der Veränderung und Vielheit verdächtig macht. Er verschuldet die Unzerlegbarkeit der Bewegung. Auf seine Fassung wird in letzter Instanz bei jeder Wendung zurückgegriffen, und der Widersinn einer absolvierten Unendlichkeit ist der logische Obersatz und das leitende Prinzip aller gegen die gemeine Vorstellung gerichteten Ansprüche.“
Das nun, was Dühring in seinen philosophischen Systemschriften als „Gesetz der bestimmten Anzahl“ erwiesen hat und wodurch sich der bisher herrschende falsche Unendlichkeitsbegriff ausgemerzt findet, ist auch der Schlüssel, zu den Rätseln der Eleaten, überdies aber, was mehr bedeutet, der Eröffner eines richtigen logischen Seins- und Weltschematismus.
Hierin liegt auch von dem kritischen Standpunkte aus, den der Herausgeber zum „Occultismus“ einnimmt, schließlich die Berechtigung, den Eleaten einen Platz innerhalb einer Geschichte des „Occultismus“ einzuräumen. Denn bei denjenigen feineren Wendungen der occultistischen oder „mystischen“ Geistesrichtung, die sich über das wüste Ideendelirium der Kabbalisten und ähnlicher „Offenbarungen“ einer intellektuellen Anschauung (lucus a non lucendo) zum Versuche einer logischen Rechtfertigung erheben, ist es ja allemal 479der falsche Unendlichkeitsbegriff, der den Ausgangspunkt oder richtiger Eingangspunkt in ein Labyrinth bildet, aus dem kein Ausweg möglich ist. Mit vollem Rechte hat daher du Prel selbst Kant, der auf die eleatischen Fragen auch nur eine traum-idealistische Antwort zu geben verstand, als Mystiker in Anspruch nehmen können.[571] Auch ist ja das Sinnbild jener falschen Unendlichkeit, die sich selber in den Schwanz beißende Schlange, das Symbol der neubuddhistischen Theosophie. Von der ernsten Rechenschaft freilich, welche sich die Eleaten über die angedeuteten Probleme zu geben versuchten, findet man bei diesen Neu-Buddhisten europäischer Abstammung keine Spur. Vielmehr dient ihnen der Hinweis auf die bloß phänomenale Seite der Wirklichkeit nur zur Rechtfertigung jeglicher, auch der wüstesten traumhaften Lebensauffassung. Die Eleaten aber sind, wie richtig Dühring bemerkt, ungeachtet ihrer noch nicht genügenden Klärung über den Begriff des Seins und seines Verhältnisses zum Denken, doch weit entfernt gewesen, die gegenständliche Existenz der Dinge zu leugnen. Sie waren empirisch Realisten und nur transcendentale Idealisten.
Vergl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Kehrbach S. 55, 56). „Offenbar kann es sich in keiner philosophischen Vorstellung um die Leugnung der Existenz überhaupt, sondern stets nur um die Rangordnung der Realitäten handeln.“[572]
Mit Empedocles tritt uns ein „Philosoph“, wenn wir ihn so nennen dürfen, entgegen, der zwischen Heraclit und der eleatischen Schule eine selbständige Stelle einnimmt und die anscheinend unversöhnbaren Gegensätze dieser beiden Richtungen, sofern ersterer alle Beharrlichkeit der Substanz aufhob und das Sein als ewiges Werden bezeichnet, letztere aber die Bewegung und Veränderung leugnete, augenscheinlich zu überbrücken versucht. „Occultistisch“ ist Empedocles jedenfalls interessant, weil die über ihn erhaltenen biographischen Notizen ähnlich, wie diejenigen über Pythagoras, ganz abnorme Dinge bieten, die in der That, soweit sie nicht, wie bei Pythagoras, großenteils auf fabuloser Übertreibung beruhen, die Vermutung nahe legen, daß Empedocles ein Praktiker auf dem Gebiete der sog. Geheimwissenschaften gewesen ist, und zwar eine Faust-Natur, die es sich nicht versagen konnte, sich ein wenig als Wundermann aufzuspielen, was freilich seine moralische Qualität in weniger günstigem Lichte erscheinen läßt.
Empedocles ist um 490 v. Chr. zu Agrigent auf Sizilien geboren. Er entstammte einem reichen und vornehmen Geschlecht. Dies geht schon daraus hervor, daß sein gleichnamiger Großvater bei den olympischen Festspielen mit einem Viergespann den Sieg davontrug, bekanntlich bei den alten Hellenen nicht nur ein Zeichen feinster Aristokratie, sondern auch eine der unvergeßlichsten Auszeichnungen, würdig plastischer und poetischer Verewigung. Irrtümlich haben spätere diesen Sieg dem „Philosophen“ selber zugeschrieben.
Ungeachtet seiner aristokratischen Abstammung und entgegen der sonstigen Haltung griechischer Denker scheint er sich politisch zur demokratischen Fraktion gehalten zu haben. Er soll die ihm angebotene Tyrannis verschmäht haben[573]; mußte aber gleichwohl die Wandelbarkeit der Volksgunst erfahren und verließ wahrscheinlich infolge eines Verbannungsbeschlusses Agrigent, um dann im Peloponnes, vielleicht durch einen Sturz vom Wagen, sein Leben zu enden.
Empedocles scheint stellenweise weniger ein Philosoph als vielmehr ein richtiger Medizin-Mann im Sinne des Indianer-Jargons gewesen zu sein, und zwar ein solcher, der eine teilweise vielleicht ganz rationelle hygienische Technik, um sich ein größeres Ansehen bei der gläubigen Masse zu verschaffen, mit dem Humbug eines Paracelsus vereinigte.
Ein historischer Kern steckt gewiß in der Erzählung, daß er die Stadt Selinunt, die infolge von Verjauchung eines sie durchströmenden Flüßchens durch Pestilenz heimgesucht wurde, dadurch von dieser Pestilenz befreite, daß er, und zwar, wie hinzugefügt wird, auf eigene Kosten zwei Nachbarflüsse mit dem verjauchten Flußbett durch Kanäle vereinigte und so durch vermehrten Zufluß das verpestete Wasser aus der Stadt ableitete. Die Selinuntier haben zum Andenken daran Denkmünzen geprägt, deren zwei uns erhalten sind. Eine Abbildung derselben, welche das Ereignis sinnbildlich darstellen und den Philosophen neben dem Fernhintreffer Apollo, den Erreger der Epidemie, auf einem Wagen zeigen, wie er dem unheilstiftenden Gotte in die Zügel fällt, findet man in Karstens Empedoclis Carminum reliquiae S. 23.
Das höchste Interesse gläubiger Occultisten fordert aber die Erzählung heraus, daß er seine Vaterstadt, die von trockenen Winden dermaßen heimgesucht wurde, daß alle Früchte verdarben, von diesen schädlichen Winden befreite, eine That, die ihm sogar den Ehrennamen κωλυσανέμας oder ventos arcendi artifex eintrug. Nach einer Mitteilung des Thimaeus soll er dies durch Einfangen der Winde in Eselhäuten erreicht haben, was beinahe an eine bekannte Erzählung von den Schöppenstedtern 482erinnert. Mir persönlich erscheint die Erzählung der angeblich wunderbaren Heilung eines hysterischen Frauenzimmers namens Panthea von Atemlosigkeit (ἄπνοια) und totenähnlicher Starre glaubhafter, die, wie Heraclides berichtet, ihn in den Ruf brachte, Tote zum Leben erwecken zu können.[574] Über die hypnotische Technik muß er in hohem Grade verfügt haben. Denn als einst in seiner Gegenwart ein rasender junger Mann einen seiner Gastfreunde mit gezücktem Schwerte durchbohren wollte, soll er denselben durch bloßes Anstimmen eines besänftigenden Zaubersangs sofort entwaffnet haben.[575]
Es ist unleugbar, daß Empedocles selber sich den Besitz übernatürlicher Weisheit und magischer Kräfte und zwar mit ziemlich charlatanmäßiger Großsprecherei zugeschrieben hat, er suchte schon durch seine äußerliche Erscheinung Aufsehen zu erregen, trug, wie auch heute noch gern derartige „Brüder“, ungeschorenes langes Haupthaar, affektierte in stets salbungsvoller Rede eine tragische schauspielerische Würde und kleidete sich nur in langen Purpurgewändern, die er mit weithin klingenden Erzschellen besetzt hatte, stets hatte er bei öffentlichem Auftreten einen Lorbeerzweig in der Hand und das Haupt mit einer Priesterbinde umwunden. Er schreibt sich in seinen „Gedichten“ selber die Macht zu, Alter und Krankheit zu heilen, Winde zu beschwichtigen und zu erregen, Regen und Trockenheit herbeizuführen, ja er sagt:
Er ist wenn nicht gar der Begründer, so doch einer der bedeutendsten Vertreter einer noch zu Platos Zeit in Griechenland häufigen Klasse von Charlatanen, der sog. Goëten. Unter Goëtie[576] verstand man die Kunst, mittelst gewisser in heulendem Tone gesungener Beschwörungsformeln allerhand Zauber zu verüben, die Seelen Verstorbener zu citieren, die Götter zu bewegen, dem Menschen 483dienstbar zu sein und eventuell, wie wir sehen, selbst Wetter zu machen; sie erinnert lebhaft an den modus operandi der indianischen Medizin-Männer.
Aus diesem Auftreten wird uns denn auch der Mythus über seinen Tod erklärlich, er soll nämlich nach einer Erzählung plötzlich bei einem Gastmahl verschwunden sein und durch eine übernatürliche Stimme verkündet haben, er sei zu den Göttern entrückt, nach einer anderen bekannteren Anekdote soll er sich in den Krater des Ätna gestürzt haben.
Die wenig ansprechende, aber nach den Berichten unzweifelhafte Charlatanerie des Empedocles ist psychologisch um so auffälliger, als wir, sobald wir seinem Gedankenkreise näher treten, Symptome einer oft genialen, wenn auch unreinen und wüsten Denker-Phantasie nicht verkennen können. Empedocles fordert insofern unwillkürlich zur Vergleichung mit einem viel späteren „Dichter“-Philosophen, nämlich mit Giordano Bruno, heraus, dem ja bei aller intellektuellen und moralischen Größe im übrigen ebenfalls ein kleiner Hang zur Großsprecherei und Überschwenglichkeit anhaftet. Wie Bruno vereinigt Empedocles abgesehen von der poetischen Darstellungsform mit interessanten allgemeinen Gesichtspunkten einzelne überraschende Treffer einer wissenschaftlichen Phantasie in Einzelheiten. Zunächst erklärt er die Entstehung für einen leeren Namen und weist hierdurch die gemeine Vorstellung von einer Schöpfung aus nichts zurück.
Es ist ein grobsinnlicher Irrtum, meint er, wenn man ein Wesen ins Leben treten sieht, anzunehmen, es sei etwas, was vorher nicht da war, es sei entstanden; und umgekehrt, wenn man es untergehen sieht, zu glauben, ein Seiendes habe aufgehört zu sein. Denn woher könnte der Gesamtheit des Wirklichen etwas hinzukommen, und wo sollte das, was ist, hinkommen? Es ist ja nirgends ein Leeres, in das es sich auflösen könnte, und was es auch werde, immer wird wieder etwas daraus werden.
Was wir Entstehung nennen, ist in Wahrheit nur Verbindung, Mischung, was wir Vergehen nennen, in Wahrheit nur Trennung der Stoffe. Immer wird nur entweder (im Fall des Entstehens) Eines aus Vielem, oder umgekehrt (im Fall des Vergehens) Vieles aus Einem. Der Kreislauf des Stoffwechsels ist also 484vielleicht zum ersten Male von Empedocles deutlich erkannt. Aus 4 Elementen, Erde, Wasser, Luft und Feuer, ist alles zusammengesetzt. Diese 4 Grundstoffe sind gleich ursprünglich, ungeworden und unvergänglich, sie bestehen aus qualitativ gleichartigen Teilen, ohne sich selbst in ihrer Beschaffenheit zu ändern, durchlaufen sie die verschiedenen Verbindungen, in die sie durch den Kreislauf des Stoffes gebracht werden.
Er beschreibt das Feuer als warm und glänzend, die Luft als flüssig und durchsichtig, das Wasser als dunkel und kalt, die Erde als schwer und hart; er legt der Erde eine natürliche Bewegung nach unten, dem Feuer nach oben bei. Erst Giordano Bruno, der übrigens selber bis über die Ohren in Empedocleischen Vorstellungen steckte, hat in seiner naturphilosophischen Hauptschrift vom Unendlichen, dem All und den Welten, diese Lehre von den 4 Elementen, soweit sie gegen die Aristotelisch-Kopernikanische Weltanschauung verwertet wurde, zu erschüttern versucht. (Vgl. S. 192 meiner Übersetzung dieser Dialoge.) Er bemerkt: „Die alte Unterscheidung der Elemente beruht nicht auf natürlichen, sondern logischen Unterschieden.“ Ich möchte freilich diese Bemerkung dahin berichtigen, daß sie auch nicht auf logischen Erwägungen, sondern neben einer oberflächlichen Beobachtung wohl in erster Linie auf mystischen Ideen, nämlich auf der Pythagoräischen Wertschätzung der Vierzahl beruhte. Eine solche langdauernde Bedeutung konnten zahlensymbolische Spielereien in der Geschichte des menschlichen Wissens erhalten! Noch heute hat ja der vulgäre Sprachgebrauch die Tradition des griechischen Dichter-Philosophen nicht verlassen. Empedocles bezeichnet die Elemente mit mythologischen Namen, das Feuer ist für ihn Zeus oder Hephästus, die anderen erhalten die Namen Here, Aidoneus und Nestis.
Als treibende Kräfte aber für die stetige Bewegung der Elemente in der Mischung und Entmischung setzt Empedocles zwei, die wir als Attraktionskraft einerseits und Repulsionskraft andrerseits bezeichnen würden; er aber nennt sie in affektiver Auffassung Liebe und Haß.
Wenn man sich nicht mit der rein objektiven Auffassung der Kräfte begnügen will, so liegt in der That in dieser Auffassung der Kraftbeziehungen ein auch heute noch naturphilosophisch zulässiger 486Gedanke, nämlich die Voraussetzung, daß in den realen Elementen innere Zustände irgend welcher nach Analogie der psychischen Triebe zu denkenden Art vorhanden sind, welche den räumlichen Entfernungen entsprechen und das nächste wirksame Glied sind, von dem die Größen der bewegenden Kräfte, welche die Elemente ausüben, in jedem Augenblicke entspringen. Denn wenn die Entfernung z y zwischen den Atomen z und y zunächst nichts weiter ist, als die Vorstellung, die ein Beobachter sich bildet, indem er den räumlichen Ort des y durch Ausgehen von dem Orte des z zu erreichen sucht und sich dabei der Größe der Veränderung bewußt wird, die der Zustand seiner Sinne dabei erfährt; – so muß doch auch z selbst, wenn es sich nach der Entfernung richten soll, etwas von ihr merken, d. h. es selber muß innerlich anders affiziert sein, wenn ihre Größe p und anders, wenn sie q beträgt. Was soll es sonst heißen, die Entfernung bestehe für z und y? (Vgl. Lotze, Grundzüge der Naturphilosophie S. 25.)
Die Attraktion oder Liebe personifiziert unser Dichter als Afrodite.
Im Urwesen freilich, dem Sphairos (er denkt es sich kugelförmig, da die Kugel das vollkommenste stereometrische Gebilde), oder der Gottheit, sind die 4 Elemente, die Urwurzeln aller Dinge, noch in vollkommener Unterschiedslosigkeit und Einheit beisammen, kraft der in ihm waltenden Liebe, und die Schöpfung der Welt ist nichts anderes, als Entwickelung und Zerrissenwerden der Gottheit aus der Einheit in die Vielheit.
Zunächst geht durch die hereintretende Zwietracht die Einheit des Sphairos auseinander in die Vierheit der Elemente, aus denen dann Afrodite oder die Liebe die ganze harmonische Weltbildung und die Einzelwesen hervorbringt.
In der ursprünglichen Einheit:
noch die Erde, das Wasser und die Luft;
Indem sich die Elemente trennen, wird der Leib der Gottheit zerrissen, oder, wie der Dichter Claudian[577] sagt: Empedocles:
Die kosmischen Vorstellungen des Empedocles sind wüst und kindisch, obwohl sie einzelne für die damalige Zeit auffällige Ahnungen wahrer Sachverhalte einschließen.
So soll er behauptet haben, daß das Licht der Sonne eine gewisse Zeit gebraucht, um zu uns zu gelangen.[578] Im übrigen aber hält er die Sonne für einen gasartigen 488Körper, der, angeblich so groß wie die Erde, die Strahlen des Feuers aus der ihn umgebenden lichten Hemisphäre wie ein Brennspiegel sammle und zurückstrahle; ähnlich sollte der Mond aus krystallartig gehärteter Luft bestehen; seine Gestalt jedoch sei die einer Scheibe. Daß der Mond sein Licht von der Sonne erhält, war ihm bekannt; auch wurden von ihm die Sonnenfinsternisse durch Dazwischentreten des Mondes erklärt.
Geradezu wie eine antizipatorische Persiflage auf die zur Zeit noch moderne Darwinistische Theorie aber nimmt sich die Anschauung des Empedocles von der Entstehung der organischen Wesen und ihrer Gattungen aus. Er ist ein Anhänger der Urzeugung: Die organischen Wesen sind aus dem Schlamm entstanden, und Ovid hatte jedenfalls nicht Pythagoras, sondern Empedocles in der Vorstellung, wenn er Metam. I, 422ff., schreibt:
Ferner XV, 374ff.:
Ebenso „dichtet“ Empedocles:
Was wird man aber erst zu folgender Antizipation der Lehre von der indirekten Auslese oder Selektion des Zweckmäßigen sagen, die ja, um die Voraussetzung eines bewußten Schöpfers zu umgehen, als Hauptstütze der modernen Entwickelungslehre gilt?
Ueberweg[579] meint wohl mit Recht, der Unterschied dieser Hypothese des Empedocles von derjenigen Häckels sei nur ein relativer; jedenfalls liegt die Erinnerung an den Häckelschen Urschleim und dessen Bathybius bei Lektüre dieser grotesken Schöpfungspoesie sehr nahe.
Auch einige sonstige physiologische Lehren des Empedocles bieten ein ähnliches Interesse für eine vergleichende Theorie spekulativer Naturphilosopheme, wie sie sich zu allen Zeiten, auch heute noch bei Leuten, denen die Elemente der Physik ein kabbalistisches Geheimnis geblieben sind, wiederholt finden. So z. B. seine Theorie des Sehens. Zufolge dieser Theorie müßten wir eigentlich im Dunkeln am besten sehen können. Er meint nämlich, daß das Sehen durch eine Ausströmung von Strahlen aus dem Auge zu den Gegenständen hin geschehe, „feine Netze halten im Auge die 490Masse des umherschwimmenden Wassers zurück, die Feuerteilchen aber springen in langen Strahlen heraus, bis sie den Gegenstand erreichen und ihn gewissermaßen wie weit vorgestreckte Fühlhörner betasten.“ Er vergleicht deshalb das Auge mit einer Laterne.
Auch spätere Naturphilosophen, wie Bruno, sehen wir noch diese seltsame Optik, die das Sehen auf eine aktive per radios ab oculo statt per radios ad oculum vermittelte Thätigkeit zurückführt, lehren und damit gleichzeitig allerhand occultistische Annahmen über die Wirkung des bösen Blicks u. s. w. als thatsächliche Verhältnisse und Naturerscheinungen erklären. Auch Bruno lehrt, daß das Sehen eine Thätigkeit des „Nervengeistes“ ist, der zuerst mittels der vom Auge ausgehenden Strahlen sich nach außen hin verbreitet und von den verschiedensten, mit verschiedenen Empfindungen beseelten Objekten berührt wird, und sich dann wieder zusammenzieht (wie wenn z. B. eine Schnecke ihre Fühlhörner nach der Berührung wieder einzieht).
Bekanntlich ist diese ante-Newtonische Optik auch den modernen Spiritisten außerordentlich bequem. Denn da die schwierigeren spiritistischen Experimente, wie z. B. die sog. Materialisationen, der Apport von Gegenständen u. s. w. niemals zu stande kommen, wenn ein kritischer Zuschauer ein Auge auf den modus operandi des sog. Mediums hat, so sagt die moderne spiritistische Theorie, daß der feindselige Magnetismus des Auges, also jene vom Auge ausgehenden Sehstrahlen à la Empedocles-Bruno die Entwickelung der mediumistischen Kräfte verhindern; man muß vielmehr solange 491die Augen schließen oder nach einer anderen Richtung schauen, bis eins, zwei, drei, hocus pocus fidibus, die phänomenale Aktion des Mediums in die dreidimensionale Sphäre einzugreifen Zeit und Gelegenheit gefunden hat.
Ich komme nun endlich auf die Krone der Empedocleischen Philosophie, auf seine Seelenwanderungslehre. Man wird allerdings erstaunt sein, wie so dem bisher geschilderten Rumpfe ein solches Haupt (einem Pferde das Haupt der Ziege) entwachsen konnte. Denn gewiß hat man alle Veranlassung, nach den bisherigen Prämissen zu erwarten, daß Empedocles so etwas wie eine unsterbliche Einzelseele nicht kenne und vielmehr nur die Unsterblichkeit der 4 Elemente annehme. Allein, es giebt eben auch individuelle notwendige Inkonsequenzen! Für Empedocles ist das Dogma von der Seele und ihren Wanderungen eine solche notwendige Inkonsequenz, sei es nun, daß ihn das Bedürfnis seines Herzens oder die bei Leugnung der Seelensubstanz schwer zu rechtfertigende Goëtie oder Nekromantik, d. h. der antike Spiritismus, zur Annahme derselben führte. Schon im Altertum haben Schriftsteller, welche die Seelenwanderung für eine so tiefsinnige Idee erachteten, wie beispielsweise unter den modernen Denkern der Verfasser der 100 Thesen über die Erziehung des Menschengeschlechts, Ephraim Lessing, die Frage aufgeworfen, ob dieselbe bei Empedocles auch eine originale Konzeption war; ja einige gingen soweit, ihn des geistigen Diebstahls (λογοκλοπεία) an der occultistischen Ideenschatzkammer der Pythagoräer zu beschuldigen[580]; und neuerdings hat noch Professor Gladisch gemeint, auch Empedocles könne diese Lehre, wie manches andere, z. B. seine Kosmogonie und Optik, nur der Weisheit der Egypter entlehnt haben.[581] Aber warum sollte die Wahrscheinlichkeit einer solchen Superstition nicht gerade dadurch gewinnen, daß die verschiedensten großen Denker ganz selbständig zu derselben Vorstellungsweise gelangt wären?
Empedocles also schreibt:
Dann ruft er aus:
Und er betrachtet die Welt als eine finstere Höhle, indem er die Mächte, welche die Seele hierher geleiten, sagen läßt:
und er schreibt von seinem ersten Eintritte in dieselbe, von seiner Geburt:
(Shakespeare beging also vielleicht eine λογοκλοπεία an Empedocles, als er schrieb:
Nachdem aber die Seele in das irdische Dasein verbannt ist, muß sie hier durch alle Arten der sterblichen Geschöpfe wandern, selbst in Pflanzen eingehen:
Aber während andere Seelen auf dem Wege nach unten sind und immer schlimmeren Metamorphosen entgegengehen, z. B.:
hat Empedocles auf dem Wege nach oben schon die nächsthöchste Stufe des „Mahatma“ erlangt, nämlich:
Und so ruft er denn schließlich gar, seine Göttlichkeit vorausnehmend seinen Mitbürgern zu:
Aus seinem Seelenwanderungsglauben entsprang – insofern war er anscheinend konsequenter als Pythagoras – auch sein strenger Vegetarismus. Mit Hinsicht auf das Fleischessen ruft er aus:
So soll denn auch Empedocles einmal, als er dem gewöhnlichen Gebrauche nach hätte einen Ochsen opfern müssen, einen solchen aus Myrrhen und sonstigen kostbaren Salben haben herstellen und nach der Opferung unter das Volk verteilen lassen.
Da nach seiner Seelenwanderungstheorie auch die Pflanzen von Menschenseelen bewohnt werden können, so war freilich auch sein Vegetarismus wiederum nur eine Halbheit.
Möglicherweise erleben wir es noch, wenn erst einmal die moderne Chemie das große Problem der Herstellung von Nahrungsmitteln auf chemischem Wege aus Mineralien, aus Steinen und Erde gelöst haben wird, daß dann sogar der Vegetarier einer fortgeschrittenen Sekte von Mineralophagen oder Chemikalienessern in demselben 494grausamen Lichte erscheinen wird, in welchem jetzt dem theosophisch gebildeten Vegetarier der Fleischesser oder Tierleichenverzehrer dasteht.
Eine Mittelstellung zwischen Philosophie und „Theologie“ (in antikem Sinne) oder auch Priestertum und einem Sehertum, wie es Empedocles vertrat, nimmt auch Pherekydes von der Insel Syros ein, welchen Cicero den ersten Lehrer der Unsterblichkeit nennt.[582] Seine Geburt setzt Suidas in die Zeit zwischen 600–596 v. Chr. (Ol. 45). Diogenes nennt ihn einen Schüler des Weisen Pittakus. Derselbe berichtet folgende Geschichten über seine Sehergabe: Als er einst am Strande von Samos wandelte und ein Schiff mit vollen Segeln vorbeifahren sah, weissagte er, dasselbe werde binnen kurzer Frist zu Grunde gehen; und so geschah es alsbald vor seinen Augen. Ein anderes Mal soll er aus dem Geschmack des Brunnenwassers ein Erdbeben vorausgesagt haben. Einem Gastfreunde in Messina riet er, möglichst bald mit seiner Familie auszuwandern. Dieser befolgte den Rat nicht, und kurze Zeit darauf wurde Messina von Feinden erobert und jener mit der ganzen Einwohnerschaft als Kriegsgefangener verkauft.
Er soll ein Alter von 83 Jahren erreicht haben, und für das Ansehen, das er genoß, bürgt der Bericht, daß ihm als Grabschrift folgende Worte gesetzt seien:
Eine Schrift „über den Ursprung der Dinge“ von ihm scheint noch dem Cicero bekannt gewesen zu sein. In derselben bezeichnete er als das erste, was immer war, Zeus, Chronos und Chthon.
Zeus ist der höchste weltschöpferische Gott und zugleich der höchste Himmel, vielleicht der Äther.
Unter Chthon, meint Conrad (De Pherecydis Syrii aetate atque cosmologia, Koblenz 1857), ist das Chaos, der Urstoff, zu verstehen, der alle Stoffe, außer dem Äther, in sich enthalten habe; Zeller dagegen nimmt an, es sei dabei nur an die Erde als solche zu denken. Unter dem Chronos versteht man gewöhnlich die Zeit. Zeller, a. a. O., S. 73 bemerkt jedoch, daß es kaum glaublich sei, daß ein so altertümlicher Denker den abstrakten Begriff der Zeit unter den ersten Urgründen aufgeführt hatte; Chronos bringt nämlich aus seinem Samen Feuer, Wind und Wasser hervor. Schwerlich soll damit nur gesagt sein, diese seien im Laufe der Zeit entstanden. Daher meint Zeller, im Widerspruch mit Conrad und Brandis (Gesch. der Entw. der griech. Philosophie), daß Chronos richtiger Kronos zu schreiben und als Gott der heißen Jahreszeit und des Sonnenbrandes zu denken sei, jedenfalls als ein realer Bestandteil der Welt.
Diese drei Urwesen erzeugten zahlreiche weitere Götter in fünf Geschlechtern. Preller glaubt (Rh. Museum 382), es sollen damit fünf Mischungsverhältnisse der Elementarsubstanzen (Äther, Feuer, Luft, Wasser, Erde) bezeichnet werden, in denen je eine derselben vorherrschend sei. Zeus verwandelt sich zum Zwecke der Weltbildung in Eros. Die weltbildende Kraft ist die Liebe. Er machte ein großes Gewand, in das er die Erde und den Okeanos einwob und spannte dieses über einen von Flügeln getragenen Eichbaum, d. h. er bekleidete das im Weltraum schwebende Erdgerüst (daher die Flügel des Eichbaums) mit der mannigfach wechselnden Oberfläche des Landes und der Seeen. Dieser Weltbildung widerstrebte Ophioneus, als Repräsentant der untergeordneten Naturkräfte, aber das Götterheer unter Chronos stürzt ihn in die Meerestiefe und behauptet den Himmel.
Pherekydes ist nur um deswillen interessant, weil wir aus den wenigen abgerissenen Sätzen, die uns von seiner Lehre überliefert sind, entnehmen können, daß man sich bemühte den mythologischen Vorstellungen, insbesondere der sog. Theogonie eine esoterische Deutung zu geben. Doch geht Conrad, a. a. O., wohl zu weit, wenn er dem Pherekydes geradezu eine der aristotelischen nahestehende Naturansicht beilegt. Inwieweit egyptische Einflüsse auf seine Anschauungen gewirkt haben, ist schwer festzustellen; Suidas 496läßt ihn die Geheimschriften der Phöniker benutzen, Josephus (e. Ap. I 2) zählt ihn zu den Schülern der Egypter und Chaldäer.
Zu den hervorragendsten praktischen Mystikern der antiken Welt hat unstreitig jener Epimenides von Kreta gehört, dessen historische Existenz ebenso unzweifelhaft ist, wie einzelne über sein Leben berichtete Wunderdinge auf Übertreibungen beruhen werden. Die Alten nennen ihn einen Jatromanten, einen Seher-Arzt. Er soll in Knossus auf Kreta geboren sein. Sein Vater, den einige Phaestios, andere Dosiades, noch andere Agesarkos nennen, soll ihn einmal fortgeschickt haben, um ein Schaf zu holen; auf diesem Wege soll er vor der Mittagshitze in einer Höhle Schatten und Erholung gesucht haben und hier, wo niemand ihn suchte und fand, in einen tiefen Schlaf gesunken sein, aus dem er erst nach 57 Jahren erwacht sein soll. Als er nach Ablauf dieser Zeit erwachte, berichtet die Sage[583], suchte er erst, den Zeitverlauf nicht ahnend, das Schaf und kehrte, als er es nicht fand, nach der Stadt zurück. Sein Erstaunen war nicht gering, als er alles verändert fand und zu Hause nur noch seinen jüngsten Bruder, der mittlerweile ein Greis geworden war, antraf, der ihn nicht wiedererkannte.
Das etwaige Wahre an dieser Geschichte, die an die Erzählungen indischer Reisender von den „schlafenden Fakiren“ erinnert, wird freilich für immer der kritischen Forschung entzogen bleiben. Ein Mediziner könnte vielleicht an einen eklatanten Fall der in unseren Tagen vielfach beobachteten sog. Nona denken, einer auf noch unerforschten centralen Störungen beruhenden Schlafsucht, von der man Fälle registriert hat, die sich über viele Jahre hinaus erstreckt haben.[584]
Die Geschichte oder Fabel hat Goethe zum Stoff eines Festspiels gedient:
Die Entwicklung der Sehergabe wird hier auf den fraglichen Tiefschlaf in folgenden Versen zurückgeführt:
Historisch beglaubigt ist, daß er von Kreta nach Athen berufen wurde, um hier eine epidemische Geisteskrankheit zu heilen, wie auf dieselbe Art ein anderer Jatromant, sein Landsmann und Zeitgenosse Phaletas einige Jahre zuvor nach Sparta berufen war, um durch die Wirkung seiner Musik und religiöse Hymnen eine Pestilenz aufhören zu machen. Die Athener beunruhigten sich nämlich wegen des sog. Kylonischen Frevels, über den uns Thucydides I. 126 folgendes erzählt:
„Es lebte in Athen ein gewisser Kylon, ein Mann, der in den olympischen Spielen gesiegt hatte und aus einem der ältesten und mächtigsten Häuser war und die Tochter eines Megarers, namens Theagenes, geheiratet hatte, welcher damals als Tyrann zu Megara herrschte. Dieser hatte von dem Orakel zu Delphi auf Befragen die Antwort erhalten, er sollte sich an dem größten Feste des Zeus der Burg zu Athen bemächtigen. Er ließ demzufolge sich von Theagenes Söldner geben, vermochte seine Freunde, seinen Absichten beizutreten und wartete sodann nur, bis die in der Peloponnes gefeierten olympischen Spiele wieder herankamen; da besetzte er die Burg in der Absicht, die Herrschaft an sich zu reißen. Dies hielt er nämlich als das größte Fest des Zeus, welches ihn gewissermaßen noch näher anginge, da er in den olympischen Spielen den Preis erhalten habe. Ob aber das größte Fest in Attika oder sonst wo gemeint sein sollte, darüber hatte er sich weiter keine Gedanken gemacht, und das Orakel hatte auch nichts davon gesagt, indem sonst auch die Athener dem Zeus Meilichios außerhalb der Stadt ein großes Fest unter dem Namen Diasia feiern, an welchem alles Volk in der Stadt haufenweise opfert, und zwar viele keine Schlachtopfer, sondern Opfer von den eigenen Landesfrüchten. Kylon griff also, ohne an der Richtigkeit seiner Gedanken zu zweifeln, das Werk an. Die Athener vom Lande eilten zwar auf die erste Nachricht davon mit gesamter Hand zur Gegenwehr herbei und sperrten sie auf der Burg ein; allein nach Verlauf einiger Zeit ließen sie sich durch Beschwerden bei der Belagerung ermüden und zogen größtenteils ab, bevollmächtigten dagegen die neuen Archonten, die Wachen zur Besetzung der Zugänge sammt allen übrigen Veranstaltungen nach eigenem Belieben und Gutdünken einzurichten. Diese neun Regenten hatten diese Zeit über den größten Teil der Regierungsgeschäfte unter Händen. Kylon und diejenigen, welche mit ihm eingesperrt waren, befanden sich durch den Abgang von Wasser und Lebensmitteln gar bald in schlechten Umständen. Inzwischen fand er selbst nebst seinem Bruder Mittel zu entkommen. Die übrigen, die immer mehr ins Gedränge gerieten, so daß auch schon einige Hungers starben, setzten sich als Schutzflehende an den auf der Burg befindlichen Altar. Die Athener, welche die Wache hatten, hießen sie davon weggehen; und als sie sahen, daß sie in 499dem Tempel sterben wollten, führten sie dieselben unter dem Versprechen, ihnen kein Leid anthun zu wollen, hinaus und töteten sie; andere, welche zu den Altären der ehrwürdigen Göttinnen ihre Zuflucht genommen hatten, richteten sie im Vorbeigehen ebenfalls hin.“
Die Folge dieses Frevels am Heiligtum des Asylrechts war eine epidemische Gewissensangst, die besonders bei dem weiblichen Teile der Bevölkerung sehr beängstigende Formen angenommen haben soll. Die Frauen wurden durch Hallucinationen, Visionen, Auditionen beängstigt, und es traten alle nur denkbaren Symptome hysterischer Melancholie und Krämpfe massenhaft auf.
Epimenides kam nun nach Athen, um die Stadt zu „reinigen und zu entsühnen“. Er gründete zu dem Ende neue Kapellen und richtete verschiedene Reinigungsceremonien ein, ganz besonders aber regelte er den Dienst der Frauen so, daß er die heftigen Impulse, die diese aufgeregt hatten, beruhigte. Grote in seiner griechischen Geschichte bemerkt dazu: „Wir wissen kaum etwas Genaueres über sein Thun; aber die Thatsache seines Besuchs und die heilsame Wirkung, die er durch Wegschaffung der religiösen Verzweiflung, welche die Athener niederdrückte, hervorgebracht, sind wohl bezeugt. Überdies besaß Epimenides die Klugheit, sich mit Solon zu vereinigen, und während er so viele wertvolle Ratschläge erhalten mochte, unterstützte er indirekt die Erhöhung des Rufes des Solon selbst, dessen konstitutionelle Reform sich jetzt schnell vollendete. Er blieb lange genug in Athen, um einen gemütlicheren Ton der religiösen Gefühle vollständig wieder herzustellen, und reiste dann ab, allgemeine Dankbarkeit und Bewunderung mit sich nehmend, schlug aber mit Ausnahme eines Zweiges vom heiligen Ölbaum auf der Akropolis jede andere Belohnung aus“.
Nach einer Angabe, welche schon während der Zeit des Xenophanes von Kolophon gangbar war, soll er das ungewöhnliche Alter von 154 Jahren erreicht haben; und die Kreter (sprüchwörtlich „böse Lügner und faule Bäuche“) wagten sogar zu behaupten, er habe 300 Jahre gelebt. Sie rühmten ihn nicht nur als Weisen und geistigen Purifikator, sondern auch als Dichter; sehr lange 500„Dichtungen“ mystischen Inhalts wurden ihm zugeschrieben. Sowohl Plato, als auch Cicero betrachten den Epimenides in demselben Lichte, als einen Seher, der unter temporären ekstatischen Zufällen die Zukunft habe vorausverkünden können. Nach Aristoteles dagegen gab Epimenides selber an, von den Göttern keine höhere Gabe empfangen zu haben, als die unbekannten Phänomene der Vergangenheit zu erraten.[585]
Plato (Kratyl. p. 905, Phaedr. p. 244) glaubte fest an Epimenides als gottbegeisterten Seher in der vergangenen Zeit, in Bezug auf die jedoch, welche zu seinen Lebzeiten Ansprüche auf übersinnliche Kräfte vorbrachten, war er weniger leichtgläubig. Er, wie Euripides und Theophrast, behandelten die Orpheotelesten der späteren Zeit mit gebührender Verachtung.[586]
Wäre Epimenides selbst in jenen Tagen, in welchen die Aufklärung der Massen große Fortschritte gemacht hatte, nach Athen gekommen, so würde wahrscheinlich das Wunder suggestiver Massenheilung auch ausgeblieben sein, und er würde sich nur vereinzelter Erfolge bei älteren Weibern und in rückständigen entlegenen Dörfern haben rühmen können, wie dieselben Bauchredner und Medizinleute, welche Plato verspottet.
Nur die Vergangenheit ist es, die solche Erscheinungen idealisiert.
Über die Lehren des Epimenides berichtet Damascius[587] und Eudemus, er habe zwei erste Gründe angenommen, die Luft und die Nacht[588], von diesen sei als drittes der Tartarus erzeugt worden. Von ihnen sollen, wie es scheint, zwei weitere nicht näher bezeichnete Wesen hervorgebracht sein, aus deren Verbindung das Weltei entstanden sei; eine Bezeichnung der Himmelskugel, die in vielen Kosmogonieen vorkommt, und die sich sehr natürlich ergab, wenn die Weltentstehung einmal der tierischen Lebensentwickelung analog vorgestellt wurde. Aus dem Weltei seien dann weitere Erzeugungen hervorgegangen.
Persönlichkeiten, wie Empedocles, Pherekydes von Syros und Epimenides bilden ein Mittelglied zwischen der Philosophie und dem Esoterismus der griechischen Religionslehren, der bekanntlich seinen Sitz in den verschiedenen Mysterien oder Geheimkulten hatte.
Diese Mysterien bilden immer noch eins der größten kulturhistorischen und psychologischen Probleme des Altertums.
Die Berufung des Epimenides von Kreta nach Athen hatte vermutlich nebenbei den Zweck, die übrigens uralten, möglicherweise bis in das 15. Jahrhundert v. Chr. zurückdatierenden cerealischen Mysterien wieder zu reorganisieren.
Man hat nämlich ursprünglich die bacchischen und cerealischen Mysterien zu unterscheiden.
Die allgemeine religiöse Idee beider war zwar dieselbe. Beide führen auch auf orientalische, sehr weit, vielleicht bis Indien reichende Einflüsse zurück. Der Geheimdienst der Ceres und Proserpina ist aber nach Attika jedenfalls von Kreta, dem Vaterlande des Epimenides aus importiert worden. Kreta hat für die Verbindung mit dem Orient die glücklichste Lage, es war eine der ersten Niederlassungen phönizischer Kolonisten, es empfing früh egyptische Lehren, und vermutlich hat die Kultur der Hellenen von hier aus ihre erste Anregung erhalten. Thucydides berichtet, daß Minos der erste gewesen, „der eine Flotte in See hatte, wie er denn das jetzt sog. griechische Meer größtenteils beherrschte, auch die cykladischen Inseln unter seiner Botmäßigkeit standen, von welchen er die meisten zuerst 502angebaut hat, indem er die Karier daraus vertrieb und seine Söhne als Häupter der neuen Kolonien einsetzte.“[589]
Cadmus, Phönix und Cilix, angeblich Oheime des Minos, schlagen dem orientalischen Mystizismus die Brücke von Asien nach Europa.
Wolfgang Menzel[590] meint, daß die Mysterien mit einer demokratischen Tendenz verbunden gewesen, daß sie einen geheimen Kampf der Humanität gegen Priester- und Kriegerkaste, des Liberalismus gegen die Vorrechte, etwa nach Art unserer modernen Freimaurerei, geführt hätten. So paradox diese Behauptung klingt und so übertrieben sie in ihrer modernen Ausdrucksweise erscheinen muß, so kann ich nicht in Abrede stellen, daß wenigstens die Geschichte Athens und Thebens einen gewissen inneren Zusammenhang zwischen der (älteren) Demokratie, die man wohl als Liberalismus bezeichnen kann, und den Geheimkulten aufweist. Ich erinnerte schon an die Beziehungen Solons, der ja im Sinne einer gemäßigten Demokratie reformierte, zu Epimenides. Ferner ist sicher, daß die demokratische Verschwörung des Pelopidas und Epaminondas ihren Ausgangspunkt in Eleusis nahm[591] und beinahe durch einen Hierophanten vorzeitig verraten wäre.
Auch der Buddhismus hatte ja eine soziale Nebentendenz. Uns interessieren jedoch hier nicht die politisch-sozialen Nebenbeziehungen, sondern die Lehren.
In der Schöpfungslehre der bacchischen Mysterien erscheint zunächst Chronos, die niemals alternde Zeit in Schlangengestalt. Dieser Chronos zeugte das unbegrenzte Chaos nebst dem feuchten Äther und dem finstern Erebus, und darin erzeugte er ein Ei, das in eine Wolke oder in ein Gewand gehüllt war, welches nachher zerriß. Aus dem Ei ging Phanes hervor, ein Mannweib, auch Protogonos und Pan genannt. Man stellte ihn dar mit goldenen Flügeln, auf den Schultern mit Stierköpfen und auf dem Kopfe 503mit einer Schlange. Als „Aeon“ wird er auch mit Osiris identifiziert. Er ist die demiurgische Ursache oder der Anlaß zur Weltschöpfung. Er wird nämlich vom Zeus, den er erzeugte, verschlungen, die Urbilder aller Dinge, die Phanes in sich hatte, werden jetzt alle in Zeus sichtbar, d. h. Zeus bringt alles Lebendige aus sich hervor. In der sog. hieratischen Poesie, in jenen Versen, die dem sagenhaften Sänger Orpheus zugeschrieben wurden, heißt es daher:
Die Ahnung der göttlichen Einheit wird also in dem Bilde eines körperlichen Ganzen, eines Riesenkörpers ausgeprägt. Übrigens werden in fast allen heidnischen Religionen die ältesten Gottheiten androgyn mannweiblich gedacht.
Das zweifellos nach Egypten zurückweisende Symbol dieser aus sich selbst alles Lebendige hervorbringenden Gottheit war seltsamer Weise der Scarabäus, d. h. der Mist-Käfer; weshalb der Dichter Pamphos sogar singt:
Erst später zeigt die Trennung der Geschlechter, indem dem Zeus ein weibliches Wesen untergeordnet wird, einen unmerklichen Übergang zum Anthropomorphismus.
Dieses weibliche Urwesen heißt Chthonia (von χϑών = unbegrenzter Grund und Boden, Materie), das dann durch Zeus' Umarmungen befruchtet, Mutter Erde (Gäa) wird und im Jahreslaufe Alles hervorbringt.
So sangen die Peleiaden, jene Wahrsagerinnen des Orakels zu Dodona, wo Pelasger und Hellenen unter der heiligen Eiche Belehrungen über Jupiters Ratschluß einholten:
Von diesem Zeus und der Gäa geht nun Dionysos aus, der übrigens seinem Wesen nach identisch ist mit Zeus selber.
Zeus soll nach einer alten Mythe als Schlange zu der unter einem Felsen verborgenen und von zwei Drachen bewachten Persephone eingeschlichen sein und mit ihr den Zagreus gezeugt haben.
Sehr bemerkenswert für die Herkunft dieser Götterbegriffe ist der naive Bericht des Herodot II. 52: „Es brachten die Pelasger, wie ich zu Dodona vernommen, anfänglich unter Gebeten den Göttern Opfer aller Art. Jedoch legten sie keinem von jenen einen Beinamen oder Namen bei, dieweil sie noch niemals dergleichen gehört hatten. Götter benannten sie dieselben und deshalb, weil sie alle Dinge in Harmonie gesetzt und alle Einteilungen gemacht. Später, nach Ablauf geraumer Zeit, erfuhren sie die aus Egypten gekommenen Namen der übrigen Götter, des Dionysius Namen erfuhren sie aber viel später.“
Möglicherweise ist der Dionysische Geheimkult indischen Ursprungs.[592] Nach Arrian Ind. Kap. 5 zieht Dionysios nach Indien. Bei seiner Rückkunft nach Griechenland weiht er dem Apollo eine Schale mit der Inschrift: „Dionysos, der Sohn der Semele und des Zeus von Indien her weihet sie dem Apollo, dem Delphier.“
Nachdem Zeus den Zagreus erzeugt hat, trachtet die eifersüchtige Here, ihn zu verderben und sendet Titanen aus, ihn umzubringen. Zagreus betrachtete sich gerade als Stier in einem Spiegel, als die Titanen kamen, und verwandelte sich dann vergeblich in alle mögliche Gestalten, er wurde von den Titanen zerrissen. (Dieselbe Sage vom Zerreißen wiederholt sich bei dem mythischen Sänger Orpheus selbst, den die bacchantischen Weiber, die Mänaden zerreißen.) Nur sein Herz rettet Pallas Athene und bringt es dem Vater Zeus, der dann aus Zorn mit seinen Blitzen die ganze Erde verbrennt, so daß erst die Sündflut das Feuer wieder löschen kann. Das Herz des Zagreus wird in einen Becher gelegt, und als Semele daraus trinkt, wird sie Mutter des Dionysos.
Dieser Dionysos-Zagreus ist die Vielheit d. h. das in vielen Formen sich darstellende All, in Luft, Wasser, Erde, Pflanzen und Tieren.
Apollo sammelt die Glieder des Dionysos wieder: er ist die Einheit, die der Natur in ihrer Entwickelung vorsteht, um sie vor Zersplitterung zu bewahren und wieder an das Eine zu befestigen.
In sieben Teile war Zagreus zerstückelt. Die Siebenzahl ist daher gleicher Weise dem Dionysos und dem Apoll heilig. Dionysos ist nach Macrob[593] der Inbegriff aller Seelen. Der Becher, aus dem die Semele trinkt, heißt auch Quelle der Seelen. Man unterschied übrigens zwei solcher Becher. Die Alten haben sie auch als Sternbilder an den Himmel versetzt, den einen nahe am Zeichen des Krebses, den andern sahen sie in der Urne des Wassermanns. Der erste heißt Dionysoskelch, bei den Platonikern der Leben erzeugende Becher. Manilius (astron. V. 116) nennt ihn den Becher der Geburt. Durch den Trunk aus ihm vergißt die Seele ihre höhere Natur und sinkt in die Zeitlichkeit hinab, indem sie in einen irdischen Leib eingeschlossen wird. Aus dem zweiten Becher trinkt man wiederum die Vergessenheit des Irdischen und findet sich dadurch in der alten Heimat wieder.
Der erste Becher heißt auch der Teilungsbecher, die aus ihm geflossenen Seelen müssen in die Individualität treten, sie müssen in die Geburt herab. Einige Seelen kommen herab, weil sie noch nicht hienieden waren, zur Erhaltung der Weltökonomie; das sind die Neulingsseelen (mentes novellae).[594] Andere müssen zur Strafe herab; andere geben sich freiwillig der Neigung zur Erde hin. Diese Neigung ist Folge des Blicks in den Spiegel, in den Dionysos gesehen, ehe er sich zum Schaffen der Dinge gewendet. Der Becher wird auch mit dem Spiegel selbst identifiziert; und bei Nonnus ist es die Liebesgöttin Afrodite, die dem Dionysos den Becher reicht. Ob Afrodite oder Persephone genannt wird, ist übrigens gleichgültig. Das Wesentliche ist die Einführung eines passiven, die Erschaffung bedingenden, weiblichen Prinzips. Der Spiegelbecher ist das Organ dieses Prinzips und wird daher realistischer 506auch durch das weibliche Organ dargestellt, wie umgekehrt der Phallus, das männliche Zeugungsorgan, das Symbol des Dionysos ist. Wir treffen hier lediglich die rohe indische Natursymbolik des Lingam und der Yoni wieder.
Je mehr die Seelen aus dem Becher der (sinnlichen) Liebe trinken, um so mehr werden sie berauscht, um so mehr erblaßt das Andenken an ihre höhere Abkunft. Edlere Seelen nippen nur an dem Kelch der Sinnlichkeit und sinken daher nicht so tief in tierische Gemeinheit herab, wie die meisten anderen Menschen. – Anders die unedlen, die das Feuchte, (die Materie) lieben, die daher auch wohl Najaden genannt werden. Diese „feuchten“ Seelen weilen gerne in dieser sinnlichen, formenreichen Welt, wie in einer Grotte, die in tausendfarbigem Gestein das volle Leben zurückspiegelt. Diese Welt der Sinnlichkeit, die Welt des Scheins, ist die täuschende Maja, indisch Maya-Bharani; in der Priestersprache wird Proserpina auch Maja genannt. Sie wird auch als Weberin bezeichnet, welche den materiellen Leib webt. Je mehr die Seelen am irdischen Dasein hängen, desto mehr Leiber, wie Kleider. Plato, Gorgias 523. Die Seele hängt sich gleichsam an den zuerst gesponnenen Lebensfaden; dann spinnt die Göttin weiter und webt das Kleid fertig. Das unfertige Gespinnst aber ist der bloße Schattenleib als Gespenst, das eben daher seinen Namen hat. Von Persephone (Maja, Proserpina) kommt das Leiblichwerden der Seele, von Dionysos die Beseelung des Leibes.
Als zeugendes Prinzip ist Dionysos in der Mysterienlehre auch Sonnengott. Und so wird die Vorstellung von der Seelenbahn auch mit der Sonnenbahn durch den Tierkreis verknüpft. Dionysos als Sonnengott wandelt jährlich die doppelte Bahn, den Weg des Winters und den des Sommers. Und dieselbe Bahn ist den Seelen vorgezeichnet. Aus dem Centrum des Himmels treten sie im Zeichen des Krebses in der Sommersonnenwende in die Erdenwelt ein, nach dem Tode aber steigen sie im Zeichen des Steinbocks wieder durch dieselbe Milchstraße zur himmlischen Welt empor.
Hier trinken sie dann aus dem schon erwähnten zweiten Becher, dem Becher der Reinigung oder Wiedergeburt, der als die Urne des Wassermanns am Sternenhimmel dargestellt ist. Wenn nämlich die Sonne in dieses Zeichen tritt, wird die Natur im Frühling wiedergeboren 507und damit wird die Wiedergeburt der verstorbenen Menschen im Himmel verglichen.
Dionysos hat also einen doppelten Charakter. Er ist einmal das Prinzip der Zeugung, der Versinnlichung, der „Wille zum Leben“, der Gott der Weltbejahung, sodann aber auch der mystische Vertreter der Weltverneinung, der Entsinnlichung, der Erlösung, welche letztere ja in allen mystischen Systemen als Wiedergeburt oder zweite Geburt bezeichnet wird.
Daher finden wir in seinen Mysterien die beiden Gegensätze, auf die alle Mystik hinausläuft, Lust und Unlust, Sünde und Entsühnung eng aneinander gerückt. Bacchantische Ausgelassenheit wird von leidenschaftlicher Trauer und Klage abgelöst und umgekehrt.
In Verbindung damit steht seine spezielle Bedeutung als Gott des Weines und der Liebe. Man vergleiche hierüber die geistreichen Bemerkungen Wolfgang Menzels (Vorchristl. Unsterblichkeitslehre, S. 90–96.) Auch der Wein spielt ja eine doppelte Rolle, er begeistert und steigert die Seelen zu „dithyrambischer“ Ekstase, verwandelt Wasser in Feuer, er berauscht und läßt im Rausche die Welt schöner erscheinen, andrerseits wirkt der Rausch Vergessenheit auch der sittlichen Pflichten. Aus dem Weindunst wird ein zweiter Schleier der Maja gewebt.
Gleichzeitig hat der Wein selber in der Gärung eine Art Wiedergeburt durchgemacht. Aus dem sich zersetzenden Traubensaft entsteht der edlere feurige Trank, und wenn der Mensch davon trinkt, erhebt er sich über seine gemeine Wirklichkeit:
singt Pindar, und in reizender Weise deutet Apollonius den Zusammenhang zwischen dem Becher der Lust und dem Schleier der Maja an, wenn er von letzterem singt:
Umgekehrt hatte der Wein in den Dionysos-Mysterien eine sakramentale Bedeutung, die einer Transsubstantiation aus dem Zeitlichen ins Ewige. Was die erstere Bedeutung des Weins betrifft, so bietet darüber Nork, vergleichende Mythologie S. 177ff. seltsame etymologische Bemerkungen. Er erinnert an den indischen Gott Shiwa, der den Palmenwein erfand und auch der Thränengott (Rutren) hieß; er weist auf die Verwandtschaft hin zwischen Bacchus und dem semitischen bacca = weinen, vergißt aber merkwürdigerweise unser deutsches Weinen mit Wein zusammenzubringen. Dagegen ist ihm Ariadne das semitische ari edna = Wollust des Löwen und er bemerkt S. 178:
„Bacchus, nachdem er mit Ariadne gebuhlt, fällt in die Gewalt der Titanen – d. h. die Ichheit, die als Selbstheit, als Besonderheit mit selbstischem, dem Allwillen entgegenstrebenden Wollen verstanden wird, weswegen am Ende aller Dinge, in welchem die Wesen wieder in Gott übergehen, der Zustand ist, wo Niemand ‚Ich‘ sagt.“
Ich möchte glauben, daß der Mythus von der Ariadne, der in den Mysterien mit Vorliebe pantomimisch dargestellt wird, jedenfalls auch die umgekehrte Bedeutung, nämlich das Erwachen der Seele symbolisieren sollte. Gerade auf Sarkophagen finden wir häufig Scenen dargestellt, wie den der schlafenden Ariadne nahenden Gott; oder Bacchus umarmt die schöne Ariadne, setzt ihr den Kranz auf und reicht ihr den Becher, daneben steht der schöne Knabe Staphilos, ihr gemeinschaftliches Kind, der „Traubengeist“.
Creuzer, der die Dionysos-Mysterien aus Indien stammen läßt (Dionysos ist ihm Dewanachi, der Entwilderer Indiens) giebt folgende spekulative Analyse der fraglichen indischen Ideen (Symbolik I. S. 399):
a) Das erste Sein vor und über Allem.
b) Die Liebe, die das erste Sein in sich aufgenommen, der es sich hingegeben hat. Mithin
c) Gott, geschieden in ein Liebendes und in ein Geliebtes.
d) Diese Spaltung ist der Urbestand der Dinge.
Die Dinge sind und sind nicht, sie sind nur in der Trennung und durch sie, sie sind nicht auf dem Standpunkte über der Trennung. Die Liebe ist Weltmutter, aber was sie geboren hat, ist im bloßen Schein geboren, es ist ein Scheinbild, es sind Zaubergärten, die mit dem Beschwörungsworte in sich selbst versinken. Das Eine aber bleibt: Parabrahma, der Selbständige.
Diese spekulative Auflösung nimmt die realen Dinge als Kunstgebilde der Liebe im Scheine, mithin ist sie a) ästhetisch, b) sie hat sich aber ganz natürlich aus dem ersten naiven Naturmythus entwickelt. Hiernach ist die schaffende Gottheit Welt-Lingam. Der Grund des Zeugens und Schaffens kann in nichts anderem liegen, als in der Liebe; und davon giebt sich nun die gesteigerte Spekulation die angeführte Rechenschaft.
Während die bacchischen oder dionysischen Mysterien an das männliche Naturprinzip anknüpfen, gehen die cerealischen vom weiblichen aus; sie knüpfen an die Erntefeste an, während die bacchischen ursprünglich Winzerfeste waren.
In Attika haben sich freilich allmählich in den Eleusinien, in denen auch Jakchos (Bacchos) seine große Rolle spielt, beide vermischt; jedoch blieb Demeter (Ceres) die Hauptgottheit der Eleusinien. Über die Eleusinischen Mysterien sind wir verhältnismäßig am besten unterrichtet, da sie im Altertum den größten Ruhm erlangten, und daher vielfache Andeutungen über ihre Feier von Dichtern, Philosophen und Historikern gegeben worden sind. Die Zulassung zu ihnen wurde allen Hellenen gewährt, von welchem Stamme oder Staate sie auch sein mochten.
Sie bestanden aus zwei durch einen halbjährigen Zwischenraum getrennten Feiern. Die erste derselben, die sog. kleinen Mysterien wurden im Monat Anthesterion, der etwa unserem Februar entspricht, begangen, also im Frühling, sie waren vorzugsweise der Kora oder Persephone, der Tochter der Ceres, und dem Jakchos oder Dionysos, der als Bruder der Kora galt, gewidmet. Diese Feier wurde zu Agra, einer Vorstadt Athens, am Ilissus begangen. Ihr ging eine Reinigung vorauf, zu der das Wasser des Ilissus diente – Die großen Mysterien fielen in die Mitte des Monats Boëdromion, September, und dauerten nahezu 14 Tage. Der erste Tag hieß Tag der Versammlung. Die Mysten versammelten sich in der Stadt. Am zweiten Tag begaben sie sich mit dem Ruf ἁλαδε μύσται, „an das Meer, ihr Mysten“, an den Strand, um im Meerwasser die vorbereitende Reinigung vorzunehmen. Die folgenden Tage wurden mit mancherlei Umzügen, Opfern und Andachtsübungen in Heiligtümern der Demeter, Persephone und des Jakchos ausgefüllt. Am 20. Boëdromion begab man sich dann in feierlicher Prozession von Athen nach Eleusis. Die Prozession nahm fast einen ganzen Tag in Anspruch, da an einer großen Anzahl von „Stationen“, z. B. beim Grabmal des Eumolpos, bei dem wilden Feigenbaum, wo einst Pluto mit der geraubten Proserpina in die Unterwelt hinabgefahren sein sollte, beim Tempel des Triptolemos längerer Aufenthalt zur Vollziehung gottesdienstlicher Handlungen genommen wurde. Sie schloß damit, daß das Bild des Jakchos in den Weihetempel zu Eleusis, das Telesterion, gebracht wurde. Am folgenden Tage und in der Nacht wurden verschiedene Festakte, über die wir nichts näheres wissen, teils im Freien, teils im Peribolos des Telesterion begangen. Hierbei wechselte ausgelassene Lust und gegenseitige Neckerei beider Geschlechter, wobei die Frauen vielfach jene Handlung der Baubo oder Jambe wiederholten, durch die nach dem Mythos Ceres zuerst in ihrer Traurigkeit getröstet sein soll, mit feierlichem Ernst und andächtiger Sammlung. Einige Ahnung von diesem Treiben verschafft uns die Schilderung Herodots I. 60 vom egyptischen Isisfest. „Einige von den Weibern haben Klappern und klappern damit, einige Männer aber spielen die Flöte, und die übrigen Weiber und Männer singen und klatschen in die Hände; etliche verhöhnen die Weiber und etliche tanzen, etliche aber stehen auf und heben 511die Kleider in die Höhe.“ (Die Baubo oder Jambe entlockte nämlich durch eine unanständige Entblößung der Demeter das erste Lächeln.) In den Fröschen des Aristophanes wird uns der Chorgesang der Mysten und ihr ausgelassenes Treiben durch folgende Verse geschildert:
Chor:
Chorführer:
I. Halbchor:
II. Halbchor:
Chorführer:
I. Halbchor:
II. Halbchor:
Chorführer:
Einzelne des Chores:
Der ganze Chor:
Einzelne:
Der ganze Chor:
Einzelne:
Chorführer:
Chor:
An einzelnen Tagen mußten die Mysten fasten, doch nur bis zum Anbruch der Nacht. Alsdann genossen sie zuerst den Kykeon[595], einen Mischtrank aus Mehl und Wasser, der mit Polei und anderen Zuthaten gewürzt war, und darauf, wozu sie Lust hatten mit Ausnahme gewisser verbotener Speisen.[596] Es wurde auch etwas Speise aus einer Kiste genommen, und nachdem man davon gekostet, in einen Korb und aus diesem wieder in die Kiste gelegt. Darauf bezieht sich die Formel, die als Erkennungszeichen für die Mysten gedient haben soll: „Ich fastete, ich trank den Kykeon, ich nahm aus der Kiste, ich kostete, ich legte in den Korb und aus dem Korbe in die Kiste.“ Die Speise, die man der Kiste entnahm, war wahrscheinlich Sesamkuchen. Solche Kuchen wurden für die Feier in einer eigentümlichen Form, worüber später bei den Thesmophorien näheres, gebacken. Man meint, die Kiste bedeutete die Erde, aus der der Mensch seine Nahrung entnimmt, von der er einen Teil verzehrt, einen anderen in der Scheuer (dem Korbe) verwahrt, um ihn dann aus dieser, als Saatkorn, der Erde zurückzugeben.
Im Telesterion selbst, in Räumen, die nur für die Mysten selbst zugänglich waren, – jeder einzelne wird sich hier haben legitimieren 516müssen, nachdem durch den Ruf des Hierokeryx, des heiligen Herolds, allen Profanen geboten war, sich zu entfernen, – fanden dann diejenigen liturgischen Akte statt, die den eigentlichen Hauptteil der Mysterien ausmachten, – die letzte Weihe, epopteia genannt. Nach einer Wiederholung des Mysten-Eides, der Formeln, der sogen. kleinen Weihen, der Reinigung, des Glückwunsches an die Initiierten (Neueingeweihten) fand im Vortempel die letzte Vorbereitung für diese letzte Weihe statt. Darauf: „alle Schrecken der Nacht, Blitze, die durchs Dunkel zuckten“ (Saintecroix I. p. 348. Dio Chrysost. Op. XII. V. I, p. 387. Reiske), Stimmen und furchtbare Töne, Schreckgestalten, Todesangst (Plutarch, Fragm. de anima p. 136). „Einige werden zu Boden geworfen, bei den Haaren ergriffen, geschlagen, ohne in der Finsternis den Thäter entdecken zu können.“ (Achill. Tatian, V. 23). Endlich wird der Vorhang hinweggezogen, der bisher das Allerheiligste verhüllt hat. Dieser Schlußakt heißt autopsie „Selbstschau“. Ein taghelles Licht strahlt aus dem Allerheiligsten hervor, die Priester stehen da in stattlichem und bedeutungsvollem Schmuck, Chöre von Sängern und Musikern im Hintergrunde: der Hierophant tritt hervor und zeigt die Heiligtümer, jedes einzeln, und offenbart, was über ihre Bedeutung nur den Eingeweihten zu wissen vergönnt ist: die Chöre lassen ihre Lieder zur Verherrlichung der Götter und ihrer Macht und Segensgaben erschallen.
„Wir mögen begreifen“, bemerkt Schoemann, griech. Altertümer II, 376, dessen Darstellung ich im wesentlichen folgte, „wie die Gläubigen, denen jene Heiligtümer, jene Götter wirklich als Götter gelten, aufs Tiefste davon ergriffen und von frommen Gefühlen erfüllt werden konnten. Dann aber lassen ausdrückliche Zeugnisse uns nicht daran zweifeln, daß dieses Zeigen der Heiligtümer und die sich daran schließenden Vorträge und Gesänge keineswegs alles waren, sondern, daß es auch nachahmende Darstellungen gegeben habe, durch welche, was in den heiligen Sagen von den Thaten und Leiden der Götter überliefert war, in lebendiger Vergegenwärtigung der Schauenden vor die Augen trat.“ – „Es ist übrigens wohl anzunehmen, daß die Enthüllungen der mystischen Heiligtümer und die mimischen Darstellungen der heiligen Geschichten nicht alle in einer und derselben Nacht stattfanden, und nicht alle Mysten 517auf einmal zugelassen wurden, um zur Epoptie zu gelangen, sondern daß sie in verschiedenen Abteilungen an die Reihe kamen.“
Vorgestellt wurden wahrscheinlich 1. das Blumenpflücken und die Entführung der Kore (Persephone). Vgl. Ovid. Metamorph. V, v. 340–675. Kore spielt mit den Okeaninen. Auf grüner Wiese spielen die Götterkinder, Blumen pflückend, Krokos, Veilchen, Rosen, und was sonst Griechenlands Fluren beim ersten Frühlinge Anmutiges darbieten. Da läßt Gäa den verhängnisvollen Narciß wachsen. Kore greift darnach; alsbald weicht die Erde unter ihren Füßen und sie wird eine Beute des Hades-Aïdoneus.
2. Das Suchen der Demeter: sie hört den letzten Schrei der Tochter, da ergreift sie heftigster Schmerz. Es ist der Schmerz einer Mutter, der man ihr Liebstes geraubt. Zerrissen der Schleier, die Locken gelöst, verhüllt in das schwarze Gewand der Trauer, eilt die Göttin in fliegender Hast über Land und Meer, immer spähend ohne Auskunft zu finden. Denn niemand wagt es, ihr die Wahrheit zu sagen, „weder ein Gott, noch ein Mensch, noch ein Vogel.“
3. Demeters Ankunft in Eleusis: Sie tilgt das Göttliche an ihrer Erscheinung und wird eine gemeine Magd, bei hohen Jahren, von adeligem Aussehen, aber leidend und des Trostes bedürftig. So war sie lange unter den Menschen umhergeirrt, ungesellig, einsam in ihrem Grame. So kommt sie nach Eleusis und setzt sich an der Landstraße, neben dem Brunnen der Jungfrauen. Hier wird sie von der Baubo aufgenommen, die auch Jambe[597] genannt wird, der Frau des Dysaules. Der Name Dysaules verrät die Unwirtlichkeit der Lebensart, die Demeter vorfand. Es waren arme Menschen, die unbekannt mit dem Segen des Ackerbaues von Beeren und Eicheln lebten. Baubo bedeutet Pflegerin, Amme des Jakchos, des eleusinischen Dionysos oder Zagreus, den Kore vor ihrer Entführung geboren hatte. Baubo ist es, die nun der Göttin den Kykeon reicht und sie durch eine unzüchtige Geberde wieder zum Lachen bringt. Daher das Kleideraufheben der Frauen und das Trinken des Mischtrankes in den ausgelassenen Episoden der Feier. Demeter übernimmt nun die Pflege des Kindes, dem sie, indem sie 518es ins Feuer hält, die Unsterblichkeit zu verschaffen sucht; das Fleischliche als Sitz des Sterblichen soll weggebrannt werden.
4. Das Wiederfinden der Persephone und die Stiftung des Ackerbaues. Von dem Schweinehirten Eubulos erfährt Demeter den Ort, wo Pluton mit der Kore in den Hades hinabgefahren. Eubulos und Triptolemos hatten ihre Heerden dort geweidet, darum konnten sie Bericht geben. Demeter geht darauf selbst in den Hades und führt die Kore wieder aus der Unterwelt empor. – Aus Dankbarkeit übergiebt sie dem Eubulos und Triptolemos die ersten Cerealien und unterweist sie im Pflügen und Säen, und zwar in einem doppelten Sinne.[598]
Zum Schluß Einsetzung der Mysterien, wobei Dysaules, Eumolpos, Triptolemos die ersten Priester werden. Gegen Ende der Feierlichkeiten wurden zwei thönerne Gefäße mit Wein gefüllt und das eine nach Osten, das andere nach Westen unter Aussprechen mystischer Formeln ausgegossen. Auch bekränzten sich die Mysten mit Myrten.
Endlich erfolgte der Beschluß, indem der Hierophant die Entlassungsformel sprach. Diese Formel, welche κόγξ ὄμπαξ (conx ompax) lautete, hat zu seltsamen Deutungen Veranlassung gegeben. Die griechische Bedeutung und Herkunft der Worte ist nicht nachweisbar. Nicht geringes Aufsehen machte es nun, als Mitte dieses Jahrhunderts der Engländer Wilforce in κόγξ ὄμπαξ die indische Formel wiederzufinden glaubte, womit die Braminen noch jetzt ihre gottesdienstlichen Versammlungen schließen. Diese lautet: Canscha-Om-Pacsha. Canscha bezeichnet den Ort des höchsten Sehnens; Om das heilige Wort, womit die höchste Gottheit, das ewige Wesen, bezeichnet wird; Pacsha heißt Wechselung, Wanderung, Reihe, Ordnung, Pflicht.
Forscher, wie Muenter, Creuzer (Symbolik IV. 399), Schelling, glaubten hiermit sei das Rätsel gelöst und zugleich sei damit die Herkunft der Mysterien von Indien bestätigt. Dagegen machte Lobeck in seinem höchst gelehrten lateinisch geschriebenen Buche Aglaophamus sive de theologiae mysticae graecorum causis, diese Ableitung lächerlich. Obwohl der Versuch Lobecks seinerseits 519eine rein griechische Entstehung der Worte aus Naturlauten, die das Umkippen der Wasseruhr nachahmen sollen, zu versuchen, mir auch sehr zweifelhaft erscheint, möchte ich doch die Annahme einer indischen Herkunft der fraglichen Entlassungsworte für ebenso gewagt erachten.
Noch gewagter und meines Erachtens in verschiedenen Richtungen noch leichter widerlegbar ist freilich der Versuch du Prels (die Mystik der alten Griechen S. 68–120), zur Erklärung der Mysterien, wenigstens der Eleusinischen, den Spiritismus heranzuziehen. Er nimmt an, daß jene geheimen Weihen, die wir eben beschrieben, nichts anderes als spiritistische Sitzungen mit allen dazu gehörigen „physikalischen“ und „dämonischen“ Phänomenen, „Materialisationen“, usw. gewesen seien. Schon die große Menge der Beteiligten sollte diese Annahme selbst für einen von der Möglichkeit derartiger „spiritistischer“ Phänomene überzeugten „Occultisten“ ausschließen. Eigentlich spiritistische oder diesen analoge hypnotische Manipulationen mögen bei einzelnen der späteren besonderen Geheim-Conventikel syrischen und egyptischen Ursprungs zumal in der Zeit des Verfalls der hellenischen Kultur üblich gewesen sein; im Rahmen der staatlich offiziellen Eleusinien erscheinen sie undenkbar. Vielmehr sind die Erscheinungen der eleusinischen Epoptie zweifellos durchweg auf theatralische Vorstellungen ohne jeden Nebengedanken bewußter Täuschung zurückzuführen und insofern den mittelalterlichen kirchlichen Mysterien, deren Reste wir z. B. in den Oberammergauer Passionsspielen vor uns haben, gleich zu stellen. Was gezeigt wurde, war wesentlich dramatische und mimische Symbolik. Vielleicht war dieselbe in der nachklassischen Zeit auch mit belehrenden, die „Allegorie“ direkt erläuternden Vorträgen verbunden, für die vorchristliche Zeit steht nach den gründlichen Untersuchungen Lobecks a. a. O. das Gegenteil fest; damals wurde das Verständnis des tieferen Sinnes entweder vorausgesetzt oder der privaten Erklärung, etwa durch den Mystagogen d. h. diejenige Person, welche die Einführung des Einzelnen in den Geheimkult vermittelte, überlassen. Wir dürfen uns freilich keine zu geringschätzige Ansicht über die Theatertechnik der alten Griechen machen; dieselben verfügten über außerordentlich sinnreiche Theatermaschinen. (Vgl. die Skene der Hellenen, von Gymnasiallehrer R. Kuhlenbeck, 520Gymnasial-Programm, Osnabrück 1875.) In den Fundamenten des von Perikles erbauten, 20–30 000 Menschen fassenden Weihetempels zu Eleusis hat man sogar interessante Überreste der Maschinenräume, von denen aus die mystischen Phantasmagorien[599] ins Werk gesetzt worden sind, nachgewiesen. (S. Wheler, Chandler Reisen in Griechenland, Leipzig 1777.) Die gewaltige Wirkung ästhetisch-sinnlicher Symbolik, die wir ja heutzutage noch an der Eindrucksfähigkeit des katholischen Kultus beobachten können, erklärt aber auch genügend den überzeugenden unvergeßlichen Eindruck der heiligen Handlungen auf die einer ästhetischen Entzückung mit allem künstlerischen Raffinement durch eine Reihe von systematisch darauf abzielenden Festlichkeiten immer näher geführten Epopten. Vgl. Schillers Marie Stuart:
Mortimer:
So wird es uns begreiflich, wenn Pindar[600] singt:
oder Sophokles:
oder wenn Isocrates schreibt, daß die, welche in die eleusinischen Mysterien eingeweiht sind, beseligende Hoffnungen bezüglich des Lebensendes und der ganzen Ewigkeit erlangen; und Cicero: „Athen hat zwar manches Vortreffliche geschaffen, aber gewiß nichts Besseres, als jene Mysterien, durch die wir aus einer rohen und uncivilisierten Lebensweise zur wahren Bildung geführt sind und in die wahren Prinzipien des Lebens eingeweiht, über das Rätsel des Lebens aufgeklärt werden, sodaß wir nicht nur mit größerer Freude das Leben zu genießen, sondern auch mit besserer Hoffnung zu sterben gelernt haben.“
Was war denn nun der wesentliche Inhalt der Lehre, die der Eingeweihte aus den Symbolen und dramatischen Handlungen der eleusinischen Mysterien entnahm? Zunächst allerdings nichts „occultistisches“, sondern die civilisatorische Bedeutung des Ackerbaues, wie sie Schiller in seinem Gedicht: das „eleusinische Fest“ so unübertrefflich schildert.
Vor allem verehrte man in der Demeter die unerschöpfliche üppige ewig jugendliche Naturkraft, die starke, nährende Mutter der lebenden Wesen; und dementsprechend trug die Feier vorwiegend den Charakter des freudigen Erntefestes.
Soweit geht die Lehre auf vollste Lebensbejahung, auf einen genußreichen Optimismus.
Aber dem Herbste folgt der Winter, dem Leben der Tod. Und so hat das Erntefest auch seine Kehrseite. Hier nun setzt der Mythus vom Raub der Persephone ein, und damit zugleich der tiefere „occultistische“ Kern der Geheimlehre. Die Vegetation der Erde verfällt dem Tode; allein gleichzeitig ist die Hoffnung auf ihre Wiederkehr im Kreislauf des Jahres, die Hoffnung auf das neue Erwachen im Frühling begründet. Die Saat wird in die Erde gesenkt, aber nur um aus scheinbarer Verwesung aufs Neue zu erblühen. So entnimmt der Mensch für sich selber aus der Natur die Hoffnung der eigenen Unsterblichkeit, der Wiederkehr zum Leben. Aus dem einfachen Erntefeste wird so eine Feier der Unsterblichkeit. In welcher Weise man sich diese Unsterblichkeit denken wollte, das wurde in der klassischen Zeit dem einzelnen überlassen. Vgl. Preller, Demeter und Persephone, S. 233. Man zog nach dem uralten Symbol des Saatkorns auch andere Natur-Analogien 523z. B. die der Raupe, aus deren Puppe der Schmetterling des nächsten Jahres entsteht, herbei, und nachweislich ist ja die reizende Sage von Eros und Psyche ebenfalls ein Zubehör des eleusinischen Dichtungskreises.
Später nahm man zumeist das irdische Dasein selber für das niedere, aus dem der Tod für die Eingeweihten wenigstens den Aufgang zu einem besseren himmlischen Dasein eröffnet. „Was der Mythus Unterwelt nennt“, schreibt W. Menzel a. a. O. S. 29, „ist unsere sichtbare mit Menschen und anderen Geschöpfen erfüllte Oberwelt und als untere nur deshalb bezeichnet, weil die himmlische Welt über ihr liegt. Das in die Erde begrabene Saatkorn, welches wieder zum Licht emporgrünt, ist nur ein Sinnbild der aus dem Himmel ins irdische Dasein gefallenen, aber wieder zu ihm zurückkehrenden Seele.“ Persephone wird damit eine Personifikation der Menschheit, die vom Himmel herabsank. „Demeter wird die himmlische Mutter, welche über ihre in unsere irdische Natur verbannten Kinder wacht, ganz wie die deutsche Göttin Bertha über ihre Heimchen.“
Wie sich der dionysische Geheimdienst (durch Jakchos) allmählich mit der eleusinischen, ursprünglich rein cerealischen Feier verquickt, so wird auch Ceres, Demeter eine Gottheit mit doppeltem Charakter, wie Dionys, eine Gottheit der Erniedrigung und Erhöhung. Es giebt einen Aufgang und Niedergang der Geister, und über diesem waltet die Allmutter, Demeter und die Königin der Geister, die Manenkönigin Persephone. Ob man sich nach dem Tode wieder zu weiterem Niedergang oder zum Aufgang wendet, das hängt von der Erkenntnis ab, vom Wiedererinnern des göttlichen Ursprungs, aus dem Neugierde zum Fall und Vergessenheit führte (Eros und Psyche). Diese Erkenntnis verschafft die Weihe. „Nur die in den Mysterien Eingeweihten, die durch Reinigungen und Belehrungen sich der Erreichung höherer Erkenntnisstufen würdig gemacht haben, erfreuen sich schon in diesem Leben aller Vorteile der Gesetzlichkeit und Civilisation, und werden die Einzigen sein, denen die Unsterblichkeit und die ewigen Freuden im Himmel zu teil werden“; ihnen allein „strahlt Sonnenglanz und Lichtes Helle.“
Creuzer, Symbolik IV § 21 giebt folgende spekulative Analyse des Inhalts der eleusinischen Lehre auf Grund der Theologumenen des Nicomachus: Die Pythagoräer haben die Zweiheit (Dyas) auch Demetra und Eleusinia genannt. – Darum ist sie die heilige Zahl der Ehe und heißt auch Mutter und Amme (Maria). Nach Plotinos ist die Seele eine Zahl, hervorgetreten und abgefallen aus dem Einen. Warum, fragt er, ist das Eins nicht in sich geblieben, und warum das Viele daraus hervorgeflossen? – Die Weltseele ist schon ein Abfall aus der Einheit, die Menschenseele wird gar, durch eine Trunkenheit schwindelnd gemacht, herabgezogen in den Leib, Ceres (Demeter) aber ist die Erdseele, und heißt bestimmt Dyas. Die Dyas ist die Mutter der Zahl und heißt weiblich, und als solche alma mater, Nährmutter. Insofern aber das weibliche Prinzip nicht außer, sondern noch in der Einheit ist, ist es die Kraft in Zeus (ἀρετή); es ist Hecate (Kore), die das Jungfräuliche nicht lassen will, Artemis die reine Jungfrau, Minerva in Jupiters Haupt. Das sind die drei Jungfrauen der alten Mysterien. Aber wenn Kore sich mit Zeus und Pluto begattet, so heißt das nach Eleusinischer Lehre: Die Kore ist Lebensquell im Weltall. Sie webt; ihr Gewebe ist die Schöpfung beseelter Wesen. Aber Minerva ist auch ganz in ihr. Minerva ist in ihr φιλόσοφος φιλοπόλεμος, Krieg- und Weisheit liebende, und sie in der Minerva. Kore ist aber auch die Kraft, die von der Demeter nach unten wirkt, die zeugende Seele; als Jungfräuliche aber in der Höhe die Zurückführerin der Seelen nach oben. Nun werden wir wohl von selbst die verschiedenen Namen der Dyas bei den Pythagoräern (offenbar Orphische Lehre und zugleich Lehre der Eleusinien) verstehen, welche nichts als mythische Ausdrücke für theologische sind: ἡ μυϑοπλαστία ϑεολογεῖ, sagt Nicomachus.
Diese Namengebung ist aber nicht blindlings ersonnen, sondern sie hat sich an Tradition und alte Lehre gehalten. Wir wissen jetzt den Grund, warum die Dyas Demeter hieß und Eleusinia. Das war die Weltmutter, die einst den bunten Becher der geteilten Natur ausgeleert hatte; Isis, die ihrem Sohne Horus den Naturbecher reicht. Es war die Erdseele, die Materie, die Weberin materieller Leiber; die Nährmutter, die das Samenkorn 525und mit ihm geteilten Besitz und Hader und Tod gebracht. Die Toten sind Demetrier. Die obere Kore führt sie wieder aus dem Vielen durch das Zwei in das Eine zurück. Das Widerstreben des sich in der bunten Welt gestaltenden Menschengeistes stellt die Eleusinische Lehre in Bildern dar. Es bedarf Kämpfe und Reinigungen: Das ist der Kampf und Krieg von Eleusis, und darum nannte, von der Haderstadt Eleusis, der Pythagoräer die Zweiheit und Zwietracht Demeter und Eleusine.
Zu den cerealischen Mysterien gehörten auch die Thesmophorien. Die Feier derselben verdient sowohl ihres eigentümlichen Charakters wegen, der sie vor den Eleusinien auszeichnet, – es handelt sich nämlich um ein ausschließlich von Frauen begangenes Fest –, als auch deshalb noch besonders dargestellt zu werden, weil in ihr eine von den bloß agrarischen und auf das Jenseits bezüglichen Symbolen sehr verschiedene, sozusagen soziale Beziehung des Demeterkultus zu Tage tritt. Sie bietet interessante kulturgeschichtliche Momente. Der Beiname Thesmophoros, d. h. Gesetzgeberin[602], kennzeichnet die Demeter als Stifterin des Gesetzes. Θεσμοί, Satzungen, heißen die ältesten Gesetze, z. B. die des Draco. In den Thesmophorien wird der Ackerbau als das fruchtbarste Prinzip der Humanität, als Anfang allseitiger Veredelung, als Grenze zwischen dem unstäten Nomadenleben und zwischen dem auf feste Wohnsitze gegründeten geordneten Familien- und Staatsleben gefeiert. Die Gedanken, welchen Schiller in seiner Ballade: „Das Eleusische Fest“ eine so klassische poetische Einkleidung gegeben hat, bilden eigentlich weniger den Hintergrund der eigentlichen Eleusinien, als vielmehr der Thesmophorien.
Als wichtigste Satzung aber, als Fundament des geordneten Familienlebens und des Staates galt auch den Griechen die Ehe.
Darum ist es vor allem die Ehe und alles, was mit dieser zusammenhängt, was den Gegenstand der Thesmophorien bildet. Man kann sie als das Mysterium der Ehe bezeichnen. „Die rechtmäßige, gesetzliche Ehe“, schreibt W. Menzel, a. a. O. S. 19, „verhielt sich zur wilden Ehe oder zum Concubinat, wie die geregelt auf dem Acker stehende goldne Saat zum wilden Unkraut der Steppe und des Waldes. Die edlere Gesittung, die aus der ehelichen Pflicht erwächst, wurde so hoch angeschlagen, als sie es verdient, und lange, bevor Schiller sang: Ehret die Frauen! wurden sie in Hellas auf die würdigste Weise verehrt.“
Dabei vergißt freilich W. Menzel zu bemerken, daß die natürlich-geschlechtliche Basis der Ehe in den Thesmophorien in einer so unzweideutigen Weise hervorgekehrt und in den Vordergrund gestellt wurde, wie es unserer germanischen christlich gesitteten Anschauung fast unbegreiflich erscheinen muß.
sagt zwar Goethe.
Einige Einzelheiten der Thesmophorien müssen uns aber bezweifeln lassen, ob dieses Dichterwort auch schon für die edlen Frauen des Altertums Geltung beanspruchen darf; – jedenfalls werden etwaige Leserinnen, denen übrigens geraten werden darf, diesen Abschnitt über die Thesmophorien zu überschlagen, falls sie ihn dennoch lesen, stellenweise Veranlassung haben, über den Mangel an Dezenz bei den althellenischen Frauen sich zu entrüsten. Wenn ich selbst keinen Anstand nehme, auch über diese grobsinnlichen Natürlichkeiten der Thesmophorien Bericht zu erstatten, so bedarf ich wohl bei dem vorwiegend kulturgeschichtlichen Standpunkte meiner Arbeit keiner Entschuldigung. Es ist von nicht geringem Interesse, den gewaltigen Fortschritt zu konstatieren, den die christliche Religion und daneben vor allem der bessere Volkstypus der Germanen, der für die christliche Religion erst den angemessenen Boden bot, für die Erziehung und Würde des Weibes bezeichnet. In unserer dem Christentum leider nicht eben sehr günstig gesinnten Zeit kann eine getreue Schilderung der Thesmophorien als Warnungszeichen gelten dafür, wie weit eine rein naturalistische Weltanschauung, – eine solche war ja diejenige des heidnischen Altertums im vollsten Sinne, – selbst dann, wenn sie die Heiligkeit der Ehe feiern will, das Weib erniedrigte.
Die Thesmophorien waren eine uralte Feier; ihre Stiftung war in mythisches Dunkel gehüllt, nach Herodot (II, 171) ist sie noch vor diejenige der Eleusinien, mindestens 1568 Jahre vor Christi Geburt zurückzudatieren. „Auch über die Weihen der Demeter, die bei den Hellenen Thesmophoria oder Gesetzgebung heißen“, schreibt Herodot, „auch darüber halte ich reinen Mund, ohne was zu sagen davon erlaubt ist. Die Töchter des Danaos brachten dieselben aus Egypten mit und lehrten sie den pelasgischen Weibern.“
Die Thesmophorien waren ein Saatfest; sie fielen in den Monat Pyanepsion, nach dem herbstlichen Äquinoktium, in dem der Acker neugepflügt und das Winterkorn gesät wurde.
Das Pflügen und Säen hatte bei den alten Hellenen von jeher die Nebenbedeutung der geschlechtlichen Vereinigung. So sagt Kreon in der Antigone des Sophokles unter Anspielung auf diese Zweideutigkeit zum Hämon:
Und Demeter galt daher ganz besonders auch als die Göttin dieses Schluß-Mysteriums der „Liebe“, in weit bevorzugterem Sinne, als selbst Afrodite, die in ihrer hellenischen Idealisierung viel mehr eine Göttin der Schönheit und des Liebreizes, als der bloßen Fortpflanzung ist. Darum unterweist sie selber nach dem Mythos ihre Schützlinge, den Celeus, den Jasion oder Triptolemos nicht nur im Pflügen und Säen in rein agronomischer, sondern auch in dieser übertragenen Bedeutung, wie es Goethe in der 12. seiner römischen Elegieen mit folgenden Versen beschreibt:
Um dieses „Geheimnis“ nun drehte sich das ganze Thun und Treiben des Frauenfestes der Herbstsaat, allerdings mit der Einschränkung, daß zugleich die gesetzlich geheiligte eheliche Form derselben gefeiert, die ungesetzliche aber verpönt wurde.[603]
So soll nach Clemens (Alex. Strom. IV. p. 619) die athenische Priesterin Theano, gefragt: wie viel Tage eine Frau, die ihrem Manne beigewohnt habe, warten müsse, ehe sie dem Fest der Thesmophorien vorstehen dürfe, geantwortet haben: keinen. Als man sie aber frug, an welchem Tage sie dem Feste beiwohnen dürfe, nachdem sie einen andern Mann umarmt hätte, antwortete sie: niemals.
Mit dieser Anekdote ist freilich der sicher beglaubigte Umstand nicht gut zu vereinigen, daß zur Vorbereitung des Festes (paraskeve) vorerst neuntägige Enthaltung von geschlechtlichem Verkehr überhaupt gehört hat. So schreibt z. B. Ovid. Metam. X. 430ff.:
Creuzer (Symbolik IV. 374) findet darin eine Anspielung auf die neuntägige Ungewißheit und Trauer der Ceres über das Verschwinden der Persephone.
Ein eigenartiges Licht auf die natürliche Sinnlichkeit der griechischen Frau wirft nun dabei die Nachricht, daß die Frauen sich diese Enthaltsamkeit erleichterten, indem sie auf allerlei Kräutern saßen und ruhten, denen besondere Kräfte zur Abstumpfung des Geschlechtstriebes zugeschrieben wurden. Unter andern zählte man dazu das κνέωρον, aus der Gattung Daphne, den λύγος, eine Weidenart (agnus castus, Keuschlamm), κονύζα oder κνύζα (erigeron graveolens). In Milet war die Fichte der Demeter heilig und wurden deren Zweige zu demselben Gebrauche verwandt. (Vgl. Preller, Demeter und Persephone S. 345 Nr. 36.) Den Genuß der Granate mußten die Frauen in dieser Vorbereitungszeit meiden, da derselben eine entgegengesetzte Wirkung beigelegt wurde, weshalb sie gerade umgekehrt als Symbol bei der Hochzeit ihre Rolle spielte und gemeinsam von den Neuverehelichten genossen wurde. Als Persephone in der Unterwelt von der Granate gekostet hat, verliert sie die Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr:
Seltsamerweise aber bucken sie in derselben Zeit Festkuchen aus feinem Weizenmehl, Sesam und Honig, sog. μύλλοι, die eine sehr obscöne Form hatten, nämlich teils die männliche des Phallus, teils die des weiblichen Organs. Vgl. Athenaeus XIV. 647. Nach Delaur, Des divinités generatrices p. 226 hat diese Sitte sich in einigen Gegenden Frankreichs erhalten: Dans plusieurs 530parties de la France on fabrique des pains, qui ont la figure du Phallus. On en trouve de cette forme dans le ci-devans Bas-Limousin et notamment à Brires. Quelque fois ces pains on „miches“ out les formes du sexe feminin; tels sont ceux que l'on fabrique à Clermont en Auvergne et ailleurs. Näheres bei Lobeck, Aglaophamus p. 1067ff. Bryerinus Campagius (de re cibar. VII. 7. 402. 1560) rügt, daß sich diese Unsitte auch in den christlichen Zeiten noch erhalten hat, „adeo degeneravere boni mores, ut etiam Christianis obscoena et pudenda in cibis placeant; sunt enim quos cunnos saccharatos appellent.“
Das eigentliche Fest, zu dem man sich so vorbereitete, dauerte fünf[604], oder nach Wellauer (De Thesmophor.) drei Tage. Wie bereits gesagt, nahmen nur Frauen an der Feier teil, kein Mann durfte nahen, bei strenger Strafe. Am ersten Festtage, dem 9. Pyanepsion (Oktober?) zogen die Frauen in zwanglosen einzelnen Zügen nach Halimus. Dieser Ort lag am Strande des Meeres. Vermutlich nahmen sie hier zum Zwecke der Reinigung und Entsühnung Bäder und Waschungen im Meere vor.[605]
Der Tag hieß στήνιαι (Sthenien) angeblich wegen der Neckereien und Scherze, welche die einzelnen sich begegnenden Züge miteinander ausübten. Vermutlich sangen sie keineswegs immer sehr anständige Lieder, die sogar mit allerlei unanständigen Geberden illustriert wurden. Man versammelte sich vor und in dem uralten Tempel der Göttin, wo dann eine nächtliche Orgie gefeiert wurde. Einiges Licht auf die Art der Feier in Halimus wirft ein erst im Jahre 1870 entdecktes Scholion zu Lucian, Dial. meretr. II. 1 (Rohde, Rhein. Museum N. F. 25). Die Frauen versenkten neben den Backwerken der vorhin geschilderten Gestalt lebende Ferkel in eine Grube. Angeblich geschah letzteres zur Erinnerung daran, daß Eubulos an der Stelle, wo Pluto die Proserpina zur Unterwelt 531entführte, gerade eine Schweineheerde hütete und daß diese in den sich öffnenden Erdschlund mit hinabgerissen wurde. Das Ferkel hat aber im Griechischen auch noch eine andere den bildlichen Darstellungen der genannten Backwerke durchaus kongruente Nebenbedeutung, wie aus des Aristophanes Acharnern V. 755–785 deutlich erhellt. Darum wurde es mit Vorliebe der Demeter geopfert. Es ist ein Sinnbild der Fruchtbarkeit.
Die Orgie in Halimus zeichnete sich durch große Ausgelassenheit aus. Man denke sich die Frauen Athens, in der übrigen Zeit des Jahres meist in ihrer Häuslichkeit eingeschlossen, jetzt plötzlich für einige Tage völlig der strengen Obhut entledigt und unter sich beim Opfermahl schwelgend, wobei fast aller Witz sich um den einen, durch eine neuntägige Enthaltsamkeit nur um so mehr erregten, Gedanken des Festes drehte. Besonders wird allseitig berichtet, daß die Handlung der Baubo, durch welche diese die Ceres zuerst in ihrer Trauer erheiterte, von den Weibern mit Vorliebe bei dieser Gelegenheit nachgeahmt wurde. Daß dies auch bei dem Jakchoszuge der Eleusinien vorkam, wurde schon oben erwähnt. Hier, wo nur Frauen unter sich waren, geschah es in weit rückhaltloserer Weise. Genaueres darüber hat der Philologe Lobeck in seinem klassischen leider lateinisch geschriebenen Werke Aglaophamus II. e. 6 zusammengestellt. Das deutlichste Licht darauf werfen einige Kirchenväter, die gerade diese schamlose Seite altheidnischer Feste in geschicktester Weise zum Angriffspunkte gegen den Paganismus benutzt haben. Ich citiere den Arnobius, ohne mich jedoch aus begreiflichen Gründen zu einer Übersetzung der von jeder modernen Prüderie allzuweit entfernten Stelle zu bequemen: Baubo accipit hospitio Cererem; sitienti ad ores oggerit potionem cinnum; aversatur et respuit dea. – Tum vertit Baubo artes et quam serio non quibat (poterat) allicere, ludibriorum statuit exhilarare miraculis; partem illam corporis, per quam sexus femineum sobolem solet prodere, facit in speciem laevigari (levigari) nondum duri atque striculi pusionis, redit ad deam tristem et retegit se ipsam,
Etwas anders heißt es in den angeblichen Versen des Orpheus:
Auch belustigte man sich mit Tänzen, über deren Charakter schon die Benennung derselben nicht den mindesten Zweifel gestattet. Einer dieser Tänze hieß κνίσμος (Reiz und Lüsternheit), ein anderer ὄκλασμα (Niederkauern und Spreizen der Beine). Man spielte das χαλκιδικόν διῶγμα (Greifspiel). Vor allem wurden auch Scenen aus der heiligen Geschichte der Demeter, der Raub der Kore, die Scenen mit Eubulos usw. mimisch aufgeführt. Am folgenden Tag begab man sich in feierlicher Prozession zur Stadt zurück. Hierbei trugen ausgewählte Frauen die Satzungen der Demeter, welche sich auf das eheliche Mysterium bezogen, Schriftrollen in Kapseln auf den Köpfen. Unter anderen Bildern und Symbolen, Phallus usw., trug man dabei ein Kolossalbild der κτείς[606] (kteis) 533voran, welches nichts anderes war als eine keineswegs bloß symbolische, sondern äußerst naturalistische Abbildung des „holden Geheimnisses“ der Ceres, der „weiblichen Scham“.
Creuzer bemerkt (Symbolik IV) zu diesen Schamlosigkeiten: „Man darf die naive Freiheit dieser Gebräuche nicht mit unserem Maßstabe des Schicklichen messen.“
Am folgenden Festtage schlug die Ausgelassenheit in höchste Andacht um; man nannte ihn Νηστεία von dem strengen Fasten, das an diesem Tage bis zum Eintritt der Nacht gewahrt wurde. In der Nacht begann dann wieder der Orgiasmus, Chorgesänge und Reigen unter Fackelbeleuchtung. Der dritte Tag hieß καλλιγένεια (Calligeneia) vielleicht wegen der von Demeter erflehten Geburt schöner Kinder. „Die ganze Gruppe der von den Thesmophoriazusen gefeierten Gottheiten nennt Aristophanes in seiner gleichnamigen Komödie: Demeter und Kore, beide unter dem Epithet Thesmophoros, Plutos, Kalligeneia, Ge Kurotrophos, Hermes und die Chariten. Daraus kann man auf den Inhalt der Gebete schließen, um Segen der Flur und des Ackers, besonders aber der Kindererzeugung und Geburt. Dahin gehört auch die Kalligeneia. Sie wird als Tochter oder Dienerin der Demeter oder sonst erklärt, ist aber wohl weiter nichts, als die Demeter selbst in einer besonderen Beziehung, als die Mutter des schönen Kindes nämlich, der lieblichen Kore, darum vornehmlich von den Frauen gerufen, welche ihren Geburten gleiche Anmut wünschen.“[607]
Von den Chorgesängen der Frauen hat uns möglicherweise Aristophanes in jenem Stücke einige mehr oder weniger echte Beispiele überliefert. Vor dem Thesmophorentempel singt die Heroldin (6. Scene):
Derselbe Komiker schildert uns in drastischer Weise, wie die Entdeckung gemacht wird, daß Mnesilochus, ein Freund des Weiberfeindes Euripides, über den die Frauen bei seiner Thesmophorienfeier zu Gericht sitzen, sich in Weibertracht eingeschlichen hat, und kennzeichnet diese That „als ein Beispiel trotzatmenden Hohns, unheiligen Thuns, ungöttlichen Sinns.“ – Das Schlußopfer des Festes hieß ζημία, nach Wellauers Vermutung, weil es zur Sühne etwaiger Vergehungen während der Feier dargebracht ward.
Außer den eleusinischen waren die samothrakischen Mysterien in Griechenland am berühmtesten. Sie werden als Orgien der Kabiren zuerst von Herodot erwähnt; zu besonderem Ansehen gelangten sie erst im dritten und vierten Jahrhundert, wo Philipp II. von Makedonien und Olympias sich aufnehmen ließen. Freilich standen sie bei vielen Hellenen als Mysterien halbbarbarischen Ursprungs nicht im besten Rufe, und Demosthenes macht es in seiner Rede für die Krone seinem makedonisch gesinnten Gegner Aeschines zum Vorwurf, Orpheotelest oder Orphiker, – so nannte man jene samothrakischen Mysten, in deren Geheimlehre die sagenhafte Gestalt des Sängers Orpheus eine Hauptrolle spielt, – gewesen zu sein. „Als du zum Manne herangewachsen warest“, so redet Demosthenes den Aeschines an, „lasest du deiner Mutter bei ihren Weihungen die (orphischen) Bücher vor, und halfest ihr auch bei den übrigen Einrichtungen, indem du zur Nachtzeit die Nebris (das Hirschfell) umhingst, ihnen aus dem Mischkrug einschenktest, sie mit Thon und Kleie beschmierend sühntest, und ihnen dann nach der Reinigung 535gebotest aufzustehen und zu sagen: ‚Ich entrann dem Übel und fand das Bessere;‘ – bei Tage aber die schönen, mit Kränzen von Fenchel und Weißpappel geschmückten Festzüge durch die Straßen führtest und die dickbackigen Schlangen drücktest und über dem Kopfe schwenktest, Evoe Saboi! rufend und dazu tanzend: Hyes Attes, Attes Hyes!; von den alten Weibern als Vorsteher und Anführer und Kistosträger begrüßt, und mit Kuchen, Bretzeln und Semmelbrod dafür belohnt.“
Im wesentlichen waren diese Mysterien offenbar eine Todesfeier des Dionysios; seine Zerreißung durch die Titanen, sein Tod und seine Bestattung, und seine Wiederauferweckung als nunmehrigen Beherrschers der Unterwelt und Totenrichters wurde mimisch dargestellt. Sie zerfielen daher ähnlich wie die eleusinischen in zwei Teile, in den ernsten und düsteren Nachtdienst und den lustigen heiteren Tagdienst.
Der erstere endete, da eine Leichenfeier nach orientalischen Begriffen verunreinigt, mit Sühnungen und Reinigungen durch Gebete und Waschungen, und hierbei wurden jene Worte gesprochen, die Demosthenes erwähnt: „Ich entrann dem Übel und fand das Bessere.“
Der Tagdienst versinnlichte die Hoffnungen einer künftigen Seligkeit, die man ausdrücklich als das glückliche Loos der Eingeweihten betrachtete. Als geheiligte Dionysosdiener (Bacchen) begaben sie sich in Festzügen zu den Tempeln, um Dankopfer darzubringen; mit Weißpappel und Fenchel bekränzt, während die begleitende Menge Nartheken- und Kistoszweige in den Händen trug (der Kistos, cistus, war ein Strauch mit rosenfarbigen Blüten), unter den Jubelrufen: Hyes Attes usw.: „Er lebt der Vermißte, der Vermißte lebt!“
Die „Orphiker“ waren, wie alle anderen Mysten zur strengen Geheimhaltung der mit ihrem mystischen Kultus verknüpften Lehre verbunden.
Daß nämlich ein bestimmter Ideenkreis mit dem samothrakischen Weihedienst verbunden war, berichtet schon Herodot II. 51. „Wer in die samothrakischen Mysterien eingeweiht ist, weiß, was ich meine“, ist freilich alles, was er sagt. Offenbar war er selber in sie eingeweiht und scheute sich deshalb etwas Näheres mitzuteilen. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber ist diese Lehre in dem als „heilige Sage“ 536bezeichneten Gedichte niedergelegt, das man in der alexandrinischen Periode allgemein dem Pythagoras als Verfasser zuschob; die Pythagoräer jener Zeit waren sämtlich Orphiker.
Man wird sich dieses Gedicht bei der feierlichen Aufnahme in den Kreis der Mysten gesprochen zu denken haben:
Hiermit endete der moralische Teil der heiligen „Sage“, den wir wohl auch nur in seinen Hauptumrissen besitzen, wenn er gleich offenbar weniger lückenhaft erhalten ist, als der erste metaphysische Teil. Es folgten nun noch einige Verse, die sogenannten „Orphischen Schwüre“, welche das Ganze abschlossen. Sie scheinen, – denn etwas ganz Bestimmtes läßt sich aus dem kurzen, gerade der wesentlichen End-Zeilen entbehrenden Fragmente nicht festsetzen, – den Leser beschworen zu haben, entweder nichts an dem Buche zu ändern, oder seinen Inhalt geheim zu halten. Was uns überliefert wird, lautet nach Beseitigung einiger späteren Entstellungen:
und muß etwa so ergänzt werden:
Aus der etwas narkotischen Atmosphäre der Mysterien und ihrer symbolischen träumerischen Geheimlehre, – wenn man überhaupt von einer mit ihnen verknüpften „Lehre“ sprechen will –, wenden wir uns gern wieder zur Entwicklung der griechischen Philosophie zurück, deren klassische Blüte in Athen sich in derselben Zeit entfaltete, in der diese Stadt, das „Auge von Hellas“ unter der Leitung des Perikles ihr kurzes, aber in der Weltgeschichte unvergleichlich dastehendes Ideal eines ästhetischen Gemeinwesens erfüllt. Hier war es der Philosoph Anaxagoras, der, wie Aristoteles (Metaphysik I. 3) hervorhebt, „als der Erste vor Jedermann den Satz aussprach, wie in den lebenden Wesen, so wohne auch in der Natur eine Vernunft, und diese sei die Ursache der gesammten Weltordnung, ein Satz, welcher gegenüber den früheren sinn- und haltlosen Behauptungen eigentlich erst die Periode des nüchternen Denkens eröffnete.“
Seine eigenen Zeitgenossen geben diesem Manne, der wie Plutarch, Leben des Perikles Kap. 4 berichtet, „den meisten Umgang mit Perikles hatte, der ihm jene Kraft, jenen festen und standhaften Muth, das Volk zu leiten, beibrachte und überhaupt seinen Charakter zu einer besonderen Würde und Vollkommenheit erhob, den Beinamen Nus, Verstand, entweder aus Bewunderung über seine großen und ungemeinen Einsichten in der Naturkunde, oder weil er zuerst als Prinzip der Einrichtung des Weltalls nicht den Zufall noch die Notwendigkeit, sondern einen reinen, lauteren Verstand annahm, der aus allen anderen zusammengemischten Dingen die gleichartigen Theile absonderte.“
Anaxagoras war 500 v. Chr. Geburt zu Klazomenä in Jonien geboren; sein Vater, Hegesibulos, besaß hier ein nicht unbedeutendes Vermögen und ansehnliche politische Stellung. Anaxagoras verließ jedoch in frühem Mannesalter seine Vaterstadt und begab sich nach Athen, wo er, wie gesagt, ein Vertrauter des Perikles wurde. Die Naturforschung betrachtete er als seinen eigentlichen Lebensberuf; besonders die Astronomie. Er versuchte die Sonnenfinsternisse aus natürlichen Ursachen zu erklären und nahm der Sonne ihre Göttlichkeit, indem er sie für eine glühende Metallmasse erklärte, die größer sei als der Peloponnes. Auch soll er versucht haben, eine Kometentheorie zu liefern, und gewiß ist, daß er vom Monde behauptet hat, derselbe habe, ähnlich wie die Erde, Berge und Thäler und sei wahrscheinlich bewohnt. Vermuthlich gaben diese naturwissenschaftlichen weit mehr als seine eigentlich philosophischen Behauptungen den Feinden des Perikles, die dadurch mehr diesen, als den Philosophen selbst treffen wollten, den Anlaß, ihn kurz vor Ausbruch des peloponnesischen Krieges in eine Anklage wegen Leugnung der Staatsgötter zu verwickeln.
Sein beredter und einflußreicher Gönner vermochte ihn nicht vor einer Verurteilung zu schützen, er wurde mit einer Geldstrafe von 5 Talenten belegt und aus der Stadt verwiesen. Er begab sich darauf nach Lampsacus, wo er in hohem Alter, angeblich infolge freiwilliger Nahrungsenthaltung, sein Leben beschloß.
Seine Weltanschauung kann, sofern er ausdrücklich den Geist, Verstand oder die Vernunft, welche den Kosmos gestaltet, nicht für unbewußt erklärt, sondern sagt, daß derselbe „aus seinem Wissen und nach seiner Vorherbestimmung die Welt gebildet habe“, als deistische und dualistische bezeichnet werden. Übrigens machte er, wie wir aus Platos Phädon und Aristoteles erfahren, von dem teleologischen Prinzip nur einen sparsamen Gebrauch; wo er mit einer rein mechanischen Erklärung auskommen konnte, gab er dieser in echt naturwissenschaftlicher Denkart den Vorzug. Dem uranfänglichen Geist stand nach seiner Lehre als passives Prinzip die ewige Materie gegenüber; der Geist wirkte auf diese, aus deren Chaos er den Kosmos gestaltete, seit dieser ersten Schöpfungsthat nur, wie Zeller sagt, noch als „Maschinengott“ ein.
Was die Konstruktion des Begriffs der Materie betrifft, so nahm er abweichend von den übrigens an seine eigene nüchterne Naturforschung anknüpfenden Atomistikern, welche die einfachsten Körper für die ursprünglichsten hielten, umgekehrt für jedes besondere Ding gleichnamige Urelemente an, so daß z. B. Erde, Stein, Gold, Blut, Knochen, aus unendlich kleinen ebenso individuell bestimmten Erd-, Stein-, Gold-, Blut-, Knochenteilchen bestehe und man in der Teilung der Körper immer auf etwas Gleichartiges komme. Diese Urstoffe wurden von ihm oder seinen Nachfolgern Homöomerien genannt. In der Wirklichkeit kommen diese Grundstoffe jedoch niemals ganz rein und abgesondert von allen andern vor; allen ist fremdartiges beigemischt. In Allen ist Alles oder jeder Materienteil ist ein Universum im Kleinen. Wenn uns ein Gegenstand irgend eine Eigenschaft mit Ausschluß anderer zu besitzen scheint, so rührt dies nur daher, weil von den entsprechenden Homöomerien mehr in ihm sind, als von anderen; in Wahrheit hat aber jedes Ding Stoffe jeder Art in sich. Nur der Geist ist nicht in allen Dingen; sondern nur in einigen, welche eine Seele haben. Da der Geist allein das ist, was die Bewegung hervorbringt, so hat jedes sich selbst bewegende Wesen eine Seele. Darum legt er auch schon den Pflanzen, sofern Wachstum Bewegung ist, Leben (Seele) und sogar eine schwache Empfindung bei. Bezüglich der Entstehung des organischen Lebens und der Entwicklung der Arten traf er ungeachtet seines grundsätzlich teleologischen Ausgangspunkts mit Empedocles zusammen, von dem er dagegen als Leugner aller übernatürlichen Wunder und Vorbedeutungen erheblich abwich. Er leugnete, wie es scheint, die Unsterblichkeit der geistigen Individualität, da diese körperlich bedingt sei; nur der unpersönliche Geist als solcher sei ewig.
Die Atomistiker, welche Ritter in seiner Geschichte der Philosophie sehr übelwollend behandelt und kaum noch für Philosophen gelten lassen möchte, bezeichnen in Wahrheit die besonnenste und streng wissenschaftlich genommen höchste Stufe der Natur-Philosophie des Altertums. Ihr eigentlicher Begründer war Leucippos, von dessen Leben und genaueren Ansichten uns aber so wenig überliefert ist, daß er nur als der Lehrer seines großen Schülers Demokrit genannt zu werden verdient. Der Zeitpunkt der Geburt des Demokrit ist ungewiß, zwischen 424 bis 460 v. Chr. Sein Geburtsort war Abdera, eine Stadt, die später zwar in den Ruf eines antiken Schilda oder Schöppenstedt gekommen ist, damals aber durch Bildung und Wohlstand ausgezeichnet war. Sein Vater war reich genug, um den Xerxes und dessen Armee auf dem Rückzuge nach der Schlacht bei Salamis einige Tage zu verpflegen. Demokrit hat jedenfalls in seiner Jugend mehrere Jahre auf Reisen zu wissenschaftlichen Zwecken in Asien und Afrika verwendet. Er soll sogar auf diesen Reisen das ererbte Dritteil des großen väterlichen Vermögens verbraucht haben. Diogenes Laertius behauptet, daß er schon als Knabe Unterricht durch Magier bekommen habe; dann Jahre lang in Egypten zugebracht, sogar Äthiopien und Indien besucht habe. Den Unterricht des Leucippos hatte er bereits vor diesen Reisen genossen. Nach der Rückkehr von denselben ließ er sich wieder in Abdera nieder, von wo aus er gelegentlich auch Athen besucht hat. Die Erzählung von seiner Selbstblendung (Gellius N. A. X, 17) verdankt vielleicht einer mißverständlichen Deutung seiner Äußerungen über die Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung 545ihre Entstehung; schon Plutarch hat sie als Lüge bezeichnet.
Demokrit starb hochbetagt in Abdera. Er hinterließ eine große Anzahl von Schriften und kann, nach dem Verzeichnis derselben zu schließen, das Laertius uns hinterlassen hat, als einer der produktivsten Denker des griechischen Altertums bezeichnet werden; auch haben wir allen Grund den Verlust seiner Schriften zu beklagen, weil dieselben nach dem Urteil kompetenter Zeitgenossen und Nachfolger sich sowohl durch ihre wissenschaftliche Strenge wie auch durch formelle Schönheit der Sprache ausgezeichnet haben sollen.
Sein Denken richtete sich nicht, wie das fast aller seiner Vorgänger in der Philosophie, besonders der Eleaten, von vornherein auf das einheitliche Sein, vielmehr zunächst auf die Bestandteile der Zusammensetzung der materiellen Wirklichkeit, welcher er den leeren Raum als Repräsentanten des Nichtseins gegenüberstellt. Allerdings faßt er auch dieses Nichtsein, diesen leeren Raum nicht als völlige Negation des Seins auf; vielmehr schreibt er ausdrücklich auch dem Leeren eine objektive Realität zu und in diesem Sinne behauptet er im Gegensatz zu den Eleaten ausdrücklich, „das Sein sei um nichts realer als das Nichts“.
Dasjenige Sein im Sinne materieller Wirklichkeit nun, welches dem leeren Raum als dessen Erfüllung gegenübersteht, ist kein zusammenhängendes, sondern besteht aus unzähligen Atomen: diese letzten Elemente des Seienden sind ihrer Substanz nach schlechthin einfach, qualitativ gleichartig und unveränderlich; sie unterscheiden sich aber in quantitativer Beziehung, hinsichtlich ihrer Form, Größe und Lage, auch Schwere.
Sie sind daher keineswegs, wie dies in der neueren Gestaltung der wissenschaftlichen Atomistik vielfach behauptet wird, mathematische Punkte, sondern Körper von gewisser Größe, nur zu klein, um mit dem Sinne wahrgenommen zu werden.
Schwere, richtiger Gewicht, kommt ihnen zu, da sie eine conditio sine qua non der Körperlichkeit überhaupt ist; und das Gewicht der wahrnehmbaren Körper ist eben nur das Produkt der sie zusammensetzenden Atomgewichte.
„Wenn es scheint, ein größerer Körper sei leichter, als ein kleinerer, so rührt dies nur daher, daß er 546zwischen den einzelnen Atomen oder Atomverbindungen mehr leeren Zwischenraum enthält, daß also seine Masse in Wahrheit geringer ist, als die der anderen.“[613]
Das Leere dachte Demokrit sich unbegrenzt, die Zahl der von ihm umfaßten Atome unendlich.
Alle sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge nun sind in letztem Grunde ausschließlich auf die Menge, die Größe, die Gestalt und das räumliche Verhältnis der Atome zurückzuführen, und ebenso jede Veränderung der Einzelkörper als solcher auf eine Veränderung ihrer Atomverbindungen. So hat bereits Demokrit den unendlich wichtigen Schritt gemacht, alle qualitativen Eigenschaften und Veränderungen auf quantitative Beziehungen zurückzuführen, ein Schritt, der, wenn er auch philosophisch zum Irrtum führt, sofern der Materialismus darin die letzte Aufklärung des Welträtsels findet, doch die Voraussetzung einer wirklich wissenschaftlichen Naturforschung bildet, da nur so die Anwendung der Mathematik auf ihre Objekte möglich wird und positive Ergebnisse immer erst bei Rückführung eines Naturphänomens auf seine bestimmten quantitativen Verhältnisse zu erwarten sind. Ich erinnere an die enorme Bedeutung der quantitativen Bestimmung der Schwere durch Galilei, des Wärme-Äquivalents durch R. Mayer.
Außerdem aber enthält diese Behauptung Demokrits einen ganz außerordentlichen Fortschritt in der Erkenntnistheorie, der irrtümlich häufig erst einem Locke zugeschrieben wird.
Demokrit unterschied nämlich klar zwischen primären und sekundären Eigenschaften der Dinge; die sekundären Eigenschaften, Farbe, Geruch, Geschmack, Wärme, Kälte usw. erkannte er als bloß subjektive Wirkungen der Atome auf unser Empfindungsorgan. Die Lehre von den „vier Elementen“ hatte natürlich innerhalb dieser atomistischen Theorie keinen Platz mehr.
Aus den „zufälligen“ Bewegungen der Atome leitete nun Demokrit die Entstehung der Welten her; für den „Zufall“ könnten wir auch die Naturnotwendigkeit setzen; ausgeschlossen sein soll damit nur der Anteil eines zweckbildenden Geistes, der Verstand des Anaxagoras.
Durch die Bewegung der Atome wird einerseits das gleichartige zusammengeführt; denn, was an Schwere und Gestalt gleich ist, wird eben deshalb an die gleichen Orte sinken oder getrieben werden; andrerseits werden auch, wenn verschiedengestaltete Körperchen durcheinander geschüttelt werden, viele von ihnen aneinanderhängen und sich ineinander verwickeln und ihren Lauf gegenseitig hemmen, so daß auch manche an einem Orte festgehalten werden, der ihrer Natur an sich nicht gemäß ist, und so kommt es zur Bildung zusammengesetzter Körper, zur Wirbelbewegung und zur Störung des Gleichgewichts d. h. zu all jenen vielfältigen sich kreuzenden Bewegungen des Wachstums, der Ernährung, des Vergehens, welchen ein wechselndes subjektives Empfinden korrespondiert. Soweit deckt sich seine rein mechanische Naturerklärung fast durchaus mit den Grundzügen des modernen Materialismus. Allein ein erheblicher Unterschied zwischen Demokrit und unseren modernen Materialisten besteht darin, daß ersterer einen besonderen Seelenstoff annahm, der aus den feinsten, rundesten, glattsten und daher beweglichsten Atomen bestehe. Ja, er glaubt sogar an eine Unsterblichkeit der Seele, und zwar an eine Auferstehung der Toten und wird deswegen von Plinius verspottet. (Plin. H. N. VII, c. 56.)
Man wird diesen scheinbaren Widerspruch in seinem System auf seine Studienreisen im Orient zurückzuführen haben und auf seine Erfahrungen bei den Magiern des Ostens. Findet sich doch unter dem Verzeichnis seiner Schriften von Diogenes Laertius auch eine solche über die Litteratur der Babylonier, die, wie Röth, Geschichte der abendländischen Philosophie I, 362, meint, wohl nichts als ein Bericht über die Lehre der Magier gewesen ist.
Auch Philostratus versichert in seinem Leben des Apollonius von Tyana, daß Demokrit ein Schüler der Magier gewesen, und läßt sogar den Apollonius in seiner Apologie behaupten, daß er durch magische Künste Abdera von einer Pest befreit habe. Vielleicht liegt der letzteren Behauptung ein ähnlicher historischer Kern zu Grunde, wie der gleichen Erzählung von Empedocles. Es wird sich weniger um eigentliche Magie, als um Verwertung seiner physikalischen und medizinischen, vielleicht auch psychologischen Kenntnisse gehandelt haben.
Ich erwähnte schon oben, daß der Professor Ritter den Atomistikern in seiner Geschichte der Philosophie keine wohlwollende Behandlung zu teil werden läßt; derselbe schreibt in der Allgem. Encyklopädie von Ersch und Gruber sogar: „Er bewegte sich in derselben Richtung, in welcher um die Zeit des Sokrates viele waren, denen die Wissenschaft fast nur als ein Spiel der Vorstellungsweise erschien. Wenn er gleich selbst die Künste dieser Männer, welche gewöhnlich unter dem Namen der Sophisten zusammengefaßt werden, in starken Ausdrücken tadelte, so war er doch von ihrer Denkart nicht fern.“
Diesen Vorwurf, den auch Schleiermacher erhebt, hat Zeller in seiner Philosophie der Griechen, S. 943–959, gründlich zurückgewiesen.
Ich hebe aus letzterer folgenden Satz hervor:
„Im allgemeinen muß über die Zusammenstellung der Atomistik mit der Sophistik bemerkt werden, daß dieselbe auf einem allzu unbestimmten Begriff der Sophistik beruht. Sophistik wird jede Denkweise genannt, in der man die rechte wissenschaftliche Gesinnung vermißt. Dies ist aber nicht das geschichtliche Wesen der Sophistik, dieses besteht vielmehr in der Zurückziehung des Denkens aus der objektiven Forschung, in seiner Beschränkung auf eine einseitig subjektive, gegen die wissenschaftliche Wahrheit gleichgültige Reflexion, in der Behauptung, daß alle unsere Vorstellungen bloß subjektive Erscheinungen, alle sittlichen Begriffe und Grundsätze willkürliche Satzungen seien. Von allen diesen Zügen findet sich nichts bei den Atomistikern.“
Im übrigen verdienen die Sophisten hier nur insofern berührt zu werden, als dieselben ihre Hauptaufgabe im Gelderwerb durch Verbreitung einer Art von rein negativer Aufklärung suchten, deren Mittelpunkt der bodenloseste Skepticismus war; außerdem durch ihre damit zusammenhängende frivole Disputiersucht. Die bekanntesten dieser Virtuosen der Deputierkunst waren Gorgias und Protagoras, letzterer allerdings ein Landsmann des Demokrit.
Der berühmteste Satz des Protagoras ist der: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind.“
Damit wurde der subjektivistische Grundsatz aufgestellt: „Jedes Ding ist für jedes Individuum so, wie es erscheint, aber es ist so auch nur für dies Individuum und genauer für dessen augenblicklichen Wahrnehmungszustand.“
Wenn Hegel irgendwo (W. W. XIV. 5ff.) ein berechtigtes Moment in der Wirksamkeit dieser Leute hervorgehoben haben soll, so wird er dies hoffentlich nur in dem Sinne gemeint haben, daß durch ihre Wirksamkeit der Hauptanstoß für die gewaltige Persönlichkeit des Sokrates gegeben worden ist, dem eingebildeten Scheinwissen und der sophistischen Halbbildung überhaupt den Streit zu verkünden und diesem Streite ihr Leben zu widmen und zu opfern.
Von Sokrates wurde schon im Altertum gesagt, daß er die Philosophie vom Himmel zur Erde zurückgerufen habe; man wollte damit sagen, daß er die philosophische Forschung nicht auf die Erkenntnis des Welträtsels, sondern auf diejenige des Menschenrätsels beschränkt wissen wollte.
„Er redete“, schreibt sein Schüler Xenophon, „nicht wie die Meisten, über die Natur des Weltalls, indem er darüber Betrachtungen angestellt hätte, was es mit dem von den Philosophen so genannten Kosmos für eine Bewandtnis habe und nach welchen Naturgesetzen alle Himmelserscheinungen vor sich gehen, sondern er hielt sogar diejenigen, welche über solche Dinge grübelten, für thöricht.“
Auch bildete nicht etwa der Mensch im Sinne der psychologischen Forschung den Gegenstand seines Interesses, sondern dieses war ausschließlich die Moral. Ein hervorragender Platz in der Geschichte der Philosophie gebührt ihm daher, abgesehen von seiner Begründung der dialektischen Methode und den dadurch jedenfalls gelegten Grundstein der Logik wesentlich nur vom Standpunkte der praktischen Philosophie aus. Für bloße Physiker oder gar bloße Metaphysiker ist deshalb die Weisheit des Sokrates in der That, wie Schopenhauer schreibt, Parerg. und Paralipomen. I 13, „ein bloßer Glaubensartikel.“ Schopenhauer aber, der doch mehr sein wollte, als dieses, der vielmehr zahlreiche geistvolle Beiträge zur Ethik und Lebensweisheit geschrieben hat, hätte einige seiner Bemerkungen über Sokrates besser ungeschrieben gelassen. So meint er z. B.: „Nach Lukianos hätte Sokrates einen dicken Bauch gehabt, 551welches eben nicht zu den Abzeichen des Genies gehört.“ – Ferner gleitet er zu der Bemerkung herab, es stehe zweifelhaft hinsichtlich seiner hohen Geistesfähigkeiten, weil er nichts geschrieben habe. Ich habe mir an dieser Stelle meiner Schopenhauer-Ausgabe die Randnote nicht versagen können: O si tacuisses usw.! Schopenhauer, der allerdings selber seine eigene Theorie in der Praxis verleugnete, hatte eben von der Philosophie nur einen halben Begriff, er verlegte sie ausschließlich in die Sphäre der Vorstellung. Er hätte aber von Sokrates lernen können und sollen, daß die echte Philosophie auf dem Zusammenwirken beider, überhaupt in der Wirklichkeit untrennbaren Seiten des Menschenwesens, des Wollens und Vorstellens beruht. „Die philosophische Gesinnung“, sagt sehr schön Dühring, „leitet zu dem entsprechenden Wissen, und das errungene Wissen wirkt seinerseits auf die Willensrichtung maßgebend und veredelnd zurück.“
Richtig ist freilich, daß auch Sokrates sich einer Einseitigkeit schuldig machte, wenn er nach jenem Berichte des Xenophon wirklich die ernste naturwissenschaftliche und naturphilosophische Forschung verachtete. Allein diese Einseitigkeit kann uns angesichts der geringen positiven Erfolge des ihm vorliegenden bloßen Spekulierens in hohem Grade entschuldbar erscheinen.
Wäre unsere Aufgabe die, eine Geschichte der griechischen Philosophie zu schreiben, so würde Sokrates geradezu den Mittelpunkt unserer Darstellung bilden, obwohl er nichts Schriftliches hinterlassen hat und seine Lehren deshalb indirekt aus den Schriften seiner Schüler konstruiert werden müßten. Wir würden uns dann mit der schwierigen Aufgabe befassen müssen, den wahren Sokrates aus der idealisierenden und subjektiv gefärbten Darstellung seines begabtesten Schülers, Platos, und aus den gewiß wahrheitsgetreuen, aber unzulänglichen Memorabilien des vielfach beschränkten und der Größe seines Lehrers nicht gewachsenen Xenophon herauszuarbeiten.
Glücklicherweise aber gestattet uns die Aufgabe dieses Buches nicht einmal, dieses Problem zu berühren. Ja, wenn es sich um die Lehren des Sokrates handelte, so würde es gerechtfertigt erscheinen, ihn in diesem Buche überhaupt zu übergehen, da hier eben nur diejenigen Lehren der griechischen Philosophie in Betracht 552kommen können, welche irgend welche, wenn auch noch so entfernte Beziehungen zum „Occultismus“ haben. Nun aber stellt uns gerade Sokrates weniger durch seine Lehren, als vielmehr durch sein Leben und seine Persönlichkeit eines der interessantesten occultistischen Probleme.
Der Leser, den ich selbstverständlich als bekannt mit den wichtigsten Daten des Sokratischen Lebens voraussetze, wird schon wissen, daß ich damit auf das viel erörterte Problem des sog. Genius oder „Dämon“ des Sokrates komme.
Am liebsten würde ich mich freilich auch der Besprechung dieses Gegenstandes durch den einfachen Hinweis auf die gerade vom occultistischen Standpunkte aus denselben gründlichst und lichtvoll beleuchtenden Ausführungen du Prels in seiner Mystik der alten Griechen entledigen, vgl. auch Sphinx IV, 22 und 24, wie ich denn überhaupt in diesem Bande den praktischen Occultismus der Griechen, da derselbe in jener „Mystik der alten Griechen“ seinen berufensten Bearbeiter gefunden hat, absichtlich bei Seite lasse und nur die Theorie berücksichtige. Dennoch würde eine völlige Übergehung gerade des Sokrates im Zusammenhange unserer Darstellung vielleicht als Lücke empfunden werden; denn immerhin hat sich diese doch bislang am Leitfaden der Philosophie-Geschichte fortbewegt, und ein direkter Sprung von Demokrit auf Plato könnte unmotiviert erscheinen.
Wir dürfen deshalb die Stellung des Sokrates zum Gegenstand der occultistischen Forschung nicht unerwähnt lassen. Zunächst ist es nun schon an sich bemerkenswert, daß ein so nüchterner und gewiß von reinster Wahrheitsliebe bis zum Märtyrertum beseelter Denker, mindestens doch einer der aufgeklärtesten Köpfe seines Zeitalters nachweislich dem Glauben an die Orakel ernstlich gehuldigt hat. Wir wissen, daß er den Xenophon, als derselbe ihn um seine Meinung fragte, ob es für ihn ratsam sei, sich der Expedition des jüngeren Cyrus anzuschließen, ausdrücklich an das Orakel zu Delphi verwies. Unmöglich können wir annehmen, daß er dies lediglich gethan, um eine verantwortliche Raterteilung von sich auf einen beliebigen Dritten abzuwälzen. Auch berichtet Xenophon in seinen Memorabilien über ihn folgendes:
„Es hat böses Blut gemacht, daß Sokrates sagte, das Dämonium gebe ihm Andeutungen, weshalb eben ganz besonders sie, wie ich glaube, ihn beschuldigt haben, daß er fremde Gottheiten einführe. – Aber er führte damit ebensowenig etwas Neues ein, als all' die anderen, welche an Weissagungen glauben; – und vielen seiner Freunde gab er den Rath, dieses zu thun, jenes aber nicht zu thun, weil ihm das Dämonium eine Andeutung gäbe; und denen, die ihm folgten, gereichte es zum Nutzen, diejenigen aber, die ihm nicht folgten, bereuten es. – Die notwendigen Dinge riet er so zu thun, wie er glaubte, daß sie am besten gethan sein würden; hinsichtlich alles dessen aber, dessen Ausgang unberechenbar war, verwies er sie an das Orakel, um zu fragen, ob sie es unternehmen dürften. Auch diejenigen, welche Haus- und Staatsangelegenheiten gut verwalten wollten, könnten, sagte er, der Weissagekunst nicht entbehren, obwohl er so etwas, wie ein Zimmermann, ein Schmied, ein Landmann, ein Beherrscher der Menschen oder einer, der dergleichen Arbeiten zu prüfen versteht, oder ein Rechenkünstler, ein Hausverwalter oder ein Heerführer zu werden, für erlernbar hielt und glaubte, es könne auch schon durch menschliche Einsicht gewonnen werden. – Das Wichtigste aber von dem, was dabei in Betracht kommt, sagte er, haben die Götter sich selbst vorbehalten und den Menschen nicht offenbart. Denn weder könne der wissen, welcher seinen Acker gut bestellt habe, wer die Früchte einernten werde, noch wisse der, welcher sich ein schönes Haus gebaut habe, wer darin wohnen werde, auch wisse ein Feldherr nicht, ob seine Kriegsführung Heil bringen werde, und der Staatsmann wisse nicht, ob er mit gutem Erfolge an der Spitze des Staates stehe; auch wisse der nicht, welcher ein schönes Weib geheiratet hat, um sich desselben zu erfreuen, ob es ihm dereinst nicht Kummer bereiten werde; auch könne der nicht, welcher zu Verwandten einflußreiche Männer im Staate habe, wissen, ob er nicht gerade durch diese des Staates verlustig gehen könnte. Diejenigen aber, welche glaubten, daß nichts von alledem von der Einwirkung der Götter abhängig sei, sondern alles Sache der menschlichen Einsicht sei, hielt er für verrückt; für verrückt aber auch diejenigen, welche Weissagungen in solchen Dingen haben wollten, welche die Götter den Menschen zur Erlernung und zur Beurteilung 554übergeben hätten. Wenn z. B. einer fragte, ob es besser sei, einen des Fahrens Kundigen beim Fuhrwerk anzunehmen oder einen Unkundigen, oder ob es besser sei, einen, der das Steuern verstünde, auf sein Schiff zu nehmen oder einen, der es nicht verstünde, – ein solcher, wie auch diejenigen, welche Dinge, die durch Zählen, durch Abmessen oder durch Abwägen man sich aneignen könne, von den Göttern erfragten, – alle diese hielt er für Frevler. Er behauptete, daß man alles das, was uns die Götter zur Erlernung und zur Ausführung gegeben hätten, erlernen müssen; das aber, was den Menschen unergründlich sei, müsse man mit Hilfe der Weissagekunst von den Göttern zu erfragen versuchen; denn die Götter gäben denjenigen Zeichen, welchen sie gnädig seien.“
Auch aus Platos Schriften können wir eine nicht geringe Anzahl von Selbstzeugnissen des Sokrates über das Dämonium, das er sich zuschrieb, entnehmen.
Dem Alkibiades gegenüber, dessen Vormund Perikles war, rühmt er sich (Plato, Alkibiad. 1), daß er in seinem Dämonium einen besseren Vormund besitze. In seiner Verteidigungsrede, die Plato jedenfalls in möglichst getreuem Anschluß an seine eigenen Worte uns wiedergiebt, sagt er, um sein grundsätzliches Fernhalten von Politik zu erklären: „Der Grund davon liegt in dem, was Ihr mich oft und bei vielen Gelegenheiten sagen hörtet, daß etwas Göttliches und Dämonisches sich mir vernehmen lasse ... Das begann bei mir schon von meinen Knabenjahren an; eine Stimme läßt sich vernehmen, und wenn sie sich vernehmen läßt, warnt sie mich stets vor dem, was ich zu thun im Begriffe bin, treibt aber mich nie an; das ist es, was mich abmahnt, mit öffentlichen Angelegenheiten mich zu befassen.“ – So motiviert er auch sein Verhalten in dem Prozesse selbst: „Mir, verehrter Richter, widerfuhr etwas Wundersames. Die weissagende Stimme nämlich, die ich zu vernehmen pflege, mahnte mich in der ganzen früheren Zeit sehr häufig ab, und zwar bei sehr geringfügigen Veranlassungen, wenn ich etwas Verkehrtes zu thun im Begriffe war. Jetzt aber ist mir das begegnet, was ihr selbst seht, und manche für das größte Unglück halten möchten, und was wirklich dafür gilt“ – seine Verurteilung nämlich; – 555„doch mich mahnte weder, als ich am heutigen Morgen vom Hause wegging, der Wink des Gottes ab, noch als ich hier heraufstieg zum Gerichtshof, noch bei meiner Rede, wenn ich irgend etwas zu sagen im Begriffe war, obwohl er fürwahr bei anderen Vorträgen häufig mitten in der Rede mich zurückhielt. Jetzt aber, bei der Verhandlung selbst, hat er mich nirgends von etwas, was ich that oder sagte, abgemahnt. Wie erkläre ich nun diese Erscheinung? Das will ich Euch sagen: zu meinem Heile scheint mir, was mir widerfuhr, sich begeben zu haben, und unmöglich haben diejenigen von uns die richtige Ansicht, die annehmen, das Sterben sei ein Übel. Dafür wurde mir ein starker Beleg; notwendig nämlich hätte das gewöhnliche Zeichen mich abgemahnt, war ich im Begriffe, etwas Unheilbringendes zu thun.“
Als Sokrates einst das Lyceum verlassen wollte und eben aufstand, berichtet Plato, Euthydem. 2, wurde ihm das gewöhnliche dämonische Zeichen zu teil. Er setzte sich also wieder nieder, und in der That kamen bald darauf Euthydemos und dessen Bruder Dionysodor herbei.
Plutarch de genio Socratis erzählt: Als Sokrates mit verschiedenen Freunden zum Wahrsager Eutyphron gegangen war, blieb er auf einmal stehen und kehrte nach einiger Besinnung durch eine andere Gasse um, die voraufgegangenen Freunde zurückrufend, da sein Genius ihn hindere, weiter zu gehen. Die meisten kehrten mit ihm um; die andern, um den Genius einmal Lügen zu strafen, gingen den geraden Weg fort, begegneten aber einer Herde Schweine und wurden, da nicht ausgewichen werden konnte, zu Boden geworfen und mit Schmutz bedeckt. Im Theages des Plato berichtet Sokrates selbst: „Mir ist nämlich durch die göttliche Fügung von meinen Knabenjahren an etwas dämonisches zugesellt: das besteht in einer Stimme, die stets, wenn sie sich vernehmen läßt, von dem, was ich unternehmen will, mir abrät, doch nie zu etwas mich antreibt. Auch wenn einer meiner Freunde sich über etwas mit mir bespricht, und die Stimme sich vernehmen läßt, hält sie ihn davon ab und gestattet ihm nicht, es zu unternehmen. Und dafür kann ich auch Zeugen aufstellen .... Wollt ihr ferner den Bruder des Timarchos, den Kleitomachos, befragen, was Timarchos zu ihm sagte, als er auf dem geraden Wege sich befand, durch Henkershand 556zu sterben, er und der Wettrenner Euathlos, der den Timarchos auf seiner Flucht bei sich aufnahm? Dieser wird euch nämlich erzählen, daß jener zu ihm sprach: Gewiß, lieber Kleitomachos, sagte er, gehe ich jetzt dem Tod entgegen, weil ich auf den Sokrates nicht hören wollte. Warum sagte denn das nun wohl Timarchos? Das will ich euch sagen. Als vom Zechgelage Timarchos und Philemon, der Sohn des Philemonides, sich erhoben, um den Nikias, den Sohn des Heroskamandros, umzubringen, – ein Anschlag, von dem sonst niemand wußte, – sagte Timarchos im Aufstehen zu mir: Was meinst Du, lieber Sokrates? Zecht ihr nur; ich aber muß mich irgendwohin aufmachen, doch bin ich, wenn es gelingt, bald wieder da. Da erhob sich die Stimme in mir und ich sagte zu ihm: Stehe doch nicht auf, denn ich habe die gewöhnliche dämonische Wahrnehmung empfangen. Und er verweilte noch. Nachdem er eine Weile gewartet, machte er wieder Anstalt zu gehen, und sagte mir: Ich gehe nun, lieber Sokrates. Die Stimme wurde wieder laut, daher nötigte ich ihn wieder, zu verweilen. Das dritte Mal stand er, weil ich es nicht bemerken sollte, ohne mir etwas zu sagen, auf, sondern paßte, um von mir nicht bemerkt zu werden, den Augenblick ab, wo meine Aufmerksamkeit eine andere Richtung hatte, entfernte sich schleunigst und führte das aus, weshalb er jetzt dem Tode entgegenging. Darum sagte er das, was ich euch jetzt erzähle, zu seinem Bruder, er geht jetzt zum Tode weil er mir nicht glaubte. Demzufolge werdet ihr noch jetzt über die Ereignisse in Sikelion von vielen hören, was ich über den Untergang des Heeres äußerte. Doch Vergangenes wollt ihr von den davon Unterrichteten vernehmen; aber auch jetzt könnt ihr das Zeichen erproben, ob es von Bedeutung ist. Als nämlich der schöne Samion in das Feld zog, erhielt ich das Zeichen; nun ist er, um unter Prasyllos zu fechten, auf dem geraden Wege nach Ephesos und Jonien. Darum glaube ich, daß er entweder umkommen oder etwas dem Ähnliches erfahren wird, und ich bin auch wegen des übrigen Heeres in großer Besorgnis. Das hab ich dir aber erzählt, weil die Einwirkung dieses Dämonischen auch über den Umgang der mit mir Verkehrenden alles entscheidet.“
Dieses Dämonion nun, offenbar eine der bestbeglaubigten Thatsachen aus der Geschichte des Occultismus, hat bereits im Altertum 557zu den verschiedensten Hypothesen Anlaß gegeben, Plutarch, Maximus Tyrius, Apulejus haben darüber geschrieben. Bei den Alten überwiegt die Auslegung, daß Sokrates von einem Dämon, einem göttlichen Wesen inspiriert gewesen sei. – Völlig ratlos steht die moderne vulgäre Psychologie dem Problem gegenüber. Die seichte rein negative Aufklärung ging daher soweit, die gut beglaubigten Thatsachen zu leugnen und einen Mann von dem sittlichen Ernste eines Sokrates zum Komödianten zu stempeln.
Barthélemy, (voyage du jeune Anarchis c. 67) meint, daß Sokrates mit seinem Dämonion nur Spaß gemacht habe; Plessing (Osiris und Socrates 185) erklärt es für eine bewußte Erfindung. Der französische Arzt Lelut (Le démon de Socrate) wittert darin ein Symptom des Irrsinns. Ihm folgt Lombroso (Genie und Irrsinn). Die meisten Philologen und Philosophen finden sich dem Problem gegenüber mit unbestimmten vagen Redensarten ab. Zeller schreibt (II. 1, 65): „Die dämonische Stimme zeigt sich (vielmehr) im allgemeinen als die Form, welche das lebhafte, aber nicht zur klaren Erkenntnis seiner Gründe aufgeschlossene Gefühl von der Unangemessenheit einer Handlung für das eigene Bewußtsein des Sokrates annahm.“ Der Philologe Cron (Einleitung zu Platons Apologie S. 17): „Daß Sokrates darunter kein besonderes, für sich bestehendes Wesen, sondern nur eine Offenbarung der göttlichen Liebe und Güte verstand, geht aus allen authentischen Berichten unwiderstehlich hervor.“
Etwas weniger seicht, aber noch mehr die Unbegreiflichkeit des Phänomens konstatierend, drückt sich Dühring, krit. Geschichte der Philosophie S. 87, aus: „Dieser Dämon oder Genius, der in wichtigen Fällen ihm als allein zureichender Erklärungsgrund der übrigens unmotivierten Entscheidung galt, ist offenbar nichts anderes, als die instinktive Ergänzung zu den bewußten und rein nach klaren Verstandesgesichtspunkten bemessenen Gründen gewesen. Manche haben dieses Prinzip mit dem bloßen Takt verwechselt, welcher für den einzelnen Fall über die Unzulänglichkeit allgemeiner Regeln hinweghilft. Allein der Takt ist nur eine Art Gefühl, dessen Bestandteile nicht gesondert vorgestellt werden. Er ist nur eine bestimmte Form des gewöhnlichen, meist äußerlich und offen daliegenden Urteils, während der dunkle Antrieb, den Sokrates meinte, 558gar nichts mit der individuellen Geschicklichkeit des Verhaltens zu thun hat, sondern nur diejenigen unbewußten Motive betrifft, die sich nicht als gewöhnliche verstandesmäßige Gründe begreifen lassen. Es ist das Unbegreifliche, – was in der Form des Dämonischen sich unwillkürlich auszugleichen sucht.“
Allein es ist mir zweifelhaft, ob diese Unbegreiflichkeit sich nicht vielleicht nur für den Standpunkt der materialistischen Psychologie ergiebt. Ich habe zwar die „spiritistische“ Deutung der eleusinischen Mysterien, welche du Prel a. a. O. zu geben versucht, desavouieren zu müssen geglaubt. Was dagegen das Dämonion des Sokrates betrifft, so glaube ich, daß du Prel, der hier nicht bis zum Spiritismus ausgreift, sondern lediglich im Rahmen seiner, die dramatische Spaltung des Ich als fruchtbaren Erklärungsgrund vieler rätselhafter Erscheinungen des Seelenlebens verwertenden „Philosophie der Mystik“ bleibt, in dem citierten Buche die beste Auflösung des Problems liefert. Ich schließe daher dieses Kapitel mit folgendem Citat aus du Prels Mystik der alten Griechen, S. 136ff.:
„Demnach ist die dramatische Spaltung des Ich nicht nur die psychologische Formel zur Erklärung unseres Traumlebens, sondern auch die metaphysische Formel zur Erklärung des Menschen. Unsere Existenz, ohne ein bloßer Traum zu sein, hat doch die Formel des Traumlebens. Unser irdisches Wesen ist nur die Hälfte unseres eigentlichen Wesens, dessen andere Hälfte für uns transscendental bleibt, hinter dem irdischen Bewußtsein liegt. Wir gleichen also einem Doppelstern, ohne unsern dunkeln Begleiter zu erkennen. Tritt in unseren Träumen eine zweite Figur neben uns auf, so gehört diese zwar auch unserem Wesen an, aber nur einen Teil dieses unseres Wesens haben wir in diese Traumfigur versenkt und nur im anderen Teile erkennen wir unser eigenes Ich. Darum reden wir im Traume mit solchen Figuren wie mit fremden Wesen, wiewohl die beiden Personen durch ein gemeinschaftliches Subjekt zusammengehalten sind und beim Erwachen in der That wieder zusammenrinnen. In eine Traumfigur können wir schon darum nie ganz versenkt sein, weil deren meistens mehrere vorhanden sind, deren jede nur einen Teil unseres Wesens objektiviert. Nicht einmal in die Gesamtheit der Figuren sind wir ganz ausgegossen, sonst wäre es nicht möglich, daß wir auch noch selbst auf der Bühne 559uns bewegen; es bliebe für uns nur mehr der Anteil eines vollständig objektiven Zuschauers, was in jenen Träumen, darin wir uns auf der Bühne nicht mit befinden, teilweise allerdings der Fall ist. Diese im Traume bloß psychologische Thatsache der Spaltung wird als eine außerhalb des Traumes metaphysische erwiesen durch die transscendentalen Fähigkeiten unserer Seele, die aus dem irdischen Bewußtsein nicht abzuleiten sind. Dies ist der Grund, warum Kant gerade gelegentlich seiner Schrift über den Seher Swedenborg dahin gelangte, die hier vorgetragene Formel zur Erklärung des Menschenrätsels in ganz klaren Sätzen auszusprechen. Die Rationalisten sehen in dieser Schrift Kants – ‚Träume eines Geistersehers‘ – nur eine Verspottung des Geisterglaubens; sie übersehen dabei, daß von diesem Spott mindestens ein Geist ganz unberührt bleibt, der Geist des Menschen im Sinne eines transscendentalen Subjekts. Ein solches bezweifelt Kant nicht nur nicht, sondern er behauptet es mit großer Entschiedenheit: ‚Ich gestehe, daß ich sehr geneigt bin, das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten und meine Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen.‘ .... ‚Die menschliche Seele würde daher schon in dem gegenwärtigen Leben als verknüpft mit zwei Welten zugleich müssen angesehen werden, von welchen sie, sofern sie zur persönlichen Einheit mit einem Körper verbunden ist, die materielle allein klar empfindet, dagegen als ein Glied der Geisterwelt die reinen Einflüsse immaterieller Naturen empfängt und verteilt, so daß, sobald jene Verbindung aufgehört hat, die Gemeinschaft, darin sie jederzeit mit geistigen Naturen steht, allein übrig bleibt und sich ihrem Bewußtsein zum klaren Anschauen eröffnen müßte.‘ .... ‚Es wird künftig, ich weiß nicht, wo oder wann, noch bewiesen werden, daß die menschliche Seele auch in diesem Leben in einer unauflöslichen verknüpften Gemeinschaft mit allen immateriellen Naturen der Geisterwelt stehe, daß sie wechselweise in diese wirke und von ihnen Eindrücke empfange, deren sie sich aber als Mensch nicht bewußt, so lange alles wohl steht.‘ .... ‚Es ist demnach zwar einerlei Subjekt, was der sichtbaren und unsichtbaren Welt zugleich als ein Glied angehört, aber nicht eben dieselbe Person, weil die Vorstellungen der einen, ihrer verschiedenen Beschaffenheit wegen, keine begleitenden Ideen von denen der anderen Welt sind, 560und daher, was ich als Geist denke, von mir als Mensch nicht erinnert wird.‘
Aus diesen so klaren und bestimmten Sätzen ergiebt sich, daß meine Behauptung, die dramatische Spaltung des Ich, die im Traum als psychologische Formel auftritt, sei zugleich die metaphysische Formel des Menschen, mit den Ansichten Kants übereinstimmt, aber auch mit dem, was Kant in der Lehre von der dritten Antinomie sagt; er hat demnach diese seine Ansicht auch noch in seinem Alter aufrecht erhalten. Sogar des von mir gebrauchten Ausdrucks ‚transscendentales Subjekt‘ bedient er sich, wenn er sagt, daß ‚das transscendentale Subjekt uns empirisch unbekannt ist‘, d. h. also, daß unser Selbstbewußtsein nur auf einen Teil unseres Wesens, auf die irdische Person sich erstreckt, daß unser Wesen über das Selbstbewußtsein hinausragt.
Einen Verkehr mit unserem transscendentalen Subjekt und durch dessen Vermittlung mit den transscendenten Subjekten, d. h. mit dem Geisterreich, hält nun Kant nicht für möglich ‚so lange alles wohl steht‘; damit ist aber gesagt, daß er ihn für möglich hält in abnormen Zuständen: ‚Diese Ungleichartigkeit der geistigen Vorstellungen und deren, die zum leiblichen Leben des Menschen gehören, darf indessen nicht als ein so großes Hindernis angesehen werden, daß sie alle Möglichkeit aufhebe, sich bisweilen der Einflüsse von seiten der Geisterwelt sogar in diesem Leben bewußt zu werden. Noch leichter müßte daher ein Übergang einer Vorstellung unseres eigenen transscendentalen Subjekts in das sinnliche Bewußtsein eintreten; denn in beiden Fällen der dramatischen Spaltung, in der psychologischen, wie in der metaphysischen, ist die Empfindungsschwelle die Bruchfläche der Spaltung; diese Empfindungsschwelle ist aber beweglich, schon im gewöhnlichen Traum, mehr noch im Somnambulismus, und daß dieses im Wachen geradezu unmöglich sei, läßt sich in keiner Weise begründen; wohl aber ist vorweg zu erwarten, daß transscendentale Vorstellungen, die während des Wachens die Empfindungsschwelle überschreiten, an Bestimmtheit verlieren und vielleicht nur teilweise zum Bewußtsein kommen.‘
Damit ist nun auch das Rätsel des Sokratischen Dämonions erklärt. Sokrates war ein Mensch von beweglicher 561Empfindungsschwelle, so daß er sich transscendentaler Einflüsse bewußt werden konnte, die sich auf die Folgen seiner Handlungen bezogen. Daß nun das transscendentale Subjekt fernsehend ist, zeigt sich in häufigen Fällen bei Somnambulen. Diese zeigen sogar eine gesteigerte Form des Sokratischen Dämonions. Bei Sokrates trat dasselbe in der abgeschwächten Form bloßer Ahnungen ins Bewußtsein, und es verhielt sich nur abhaltend, nicht antreibend. Diese beiden Merkmale lassen sich auf die gemeinschaftliche Ursache zurückführen, daß das Dämonion sich im Wachen und darum in abgeschwächter Form geltend machte.
Sokrates selbst sagt, daß die innere Stimme sich nur geltend machte, wenn er etwas in den Folgen Unangemessenes und Nachteiliges thun wollte. Nun ist es ein alter Erfahrungssatz der Mystik, daß das Fernsehen, wenn es spontan eintritt, auf die Schattenseiten der Zukunft sich richtet. Gerade solche Ferngesichte aber müssen begreiflicherweise mit dem größten Gefühlswert versehen sein, und weil ihnen ein größerer Reiz zu Grunde liegt, müssen sie mit größerer Leichtigkeit auch die Empfindungsschwelle überschreiten. Wenn aber selbst das Ferngesicht als solches nicht ins Bewußtsein tritt, so muß doch die damit verbundene Gefühlserregung bewußt werden, die dann aber nur mehr als von der beabsichtigten Handlung Abhaltendes, als ein innerhalb des Bewußtseins unmotiviertes Gefühl sich geltend machen wird. Dies war eben bei Sokrates der Fall. Nur die Gefühlswirkung des Ferngesichts war ihm bewußt.
Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß alle Fälle von Ahnungen auf solchen abgeschwächten Ferngesichten beruhen, die nur mit ihrem Gefühlswert über die Empfindungsschwelle treten, während die Vision unbewußt wird. Denn ein Motiv muß diesen Gefühlserregungen zu Grunde liegen, und es ist wohl kein anderes denkbar als eine Vision, wir müßten denn zur Inspiration greifen. Den Schein einer fremden Inspiration müssen allerdings Ahnungen selbst dann haben, wenn sie auf ein bloßes Angstgefühl beschränkt bleiben, weil eben das transscendentale Bewußtsein vom irdischen abgegangen ist. Eine Steigerung schon ist es, wenn, wie bei Sokrates, zum abhaltenden Gefühl in dramatischer Spaltung die innere Stimme hinzukommt, die gleich einer fremden vernommen 562wird. Bei noch höherer Steigerung nimmt der Abmahner plastische Gestalt an; dies scheint aber bei Sokrates niemals eingetreten zu sein, er hörte nur immer die Stimme, sein Dämonion kam aber nie zur Sichtbarkeit.
Das Dämonion des Sokrates ist also ein dramatisiertes Ahnen, eine abgeschwächte fernsehende Erkenntnis von der Unangemessenheit einer beabsichtigten Handlung; dieses transscendentale Fernsehen, ins Bewußtsein nur als Ahnung dringend, scheint aber immer erst dann eingetreten zu sein, wenn er eben im Begriffe war, die betreffende Handlung zu begehen.“
Das sokratische Prinzip hatte zwar der naturwissenschaftlichen Metaphysik, die in Demokrit ihren Höhepunkt erreichte, ein Ende gemacht; nicht aber der Metaphysik überhaupt. Vielmehr, wie später unmittelbar an Kant, dessen Prinzip in vieler Hinsicht an Sokrates erinnert, eine besonders lebhafte Thätigkeit der metaphysischen Forschung anknüpft, so auch schon an Sokrates.
Zweifellos der begabteste aller Schüler des Sokrates ist Platon, der Vater des Idealismus.
Er war als Sohn des Ariston, eines Atheners von vornehmster Geburt, der seinen Stammbaum auf König Kodrus zurückführen konnte, im Jahre 427 zu Ägina geboren. Er soll zuerst nach seinem väterlichen Großvater Aristoteles genannt sein und den Namen Platon erst als Beinamen (wegen seiner breiten Brust) im Gymnasium erhalten haben. Von der Natur mit allen körperlichen und geistigen Vorzügen begabt, empfing er die sorgfältigste Erziehung. Im Jünglingsalter widmete er sich zuerst der Dichtkunst. Von diesen poetischen Versuchen aber brachte ihn Sokrates ab, mit dem er angeblich schon in seinem zwanzigsten Jahre in vertrautesten Umgang trat. Die Sage hat diesen Moment durch einen Traum des Sokrates ausgeschmückt, von einem Schwan, der aus seinem Busen auffliege.
Als ihm am Tage nach diesem Traum Plato von seinem Vater zum Unterricht zugeführt wurde, soll er den Traum sofort erzählt und Plato als den Schwan bezeichnet haben.
Der Tod des Sokrates machte auf ihn einen erschütternden Eindruck und verklärte das Bild seines Meisters zu dem Ideal 564des vollkommensten Weisen, welches in fast sämtlichen seiner zahlreichen Schriften in der Rolle des Sokrates auftritt. Er ging nach diesem Ereignis zunächst mit anderen Schülern seines Meisters zu Euklides nach Megara. Bald darauf trat er eine große Reise an, die ihn jedenfalls zuerst nach Kyrene und nach Ägypten führte. Mit Unrecht wird bezweifelt, daß er sich hier lange Zeit aufgehalten und in die Geheimlehren der Priester habe einweihen lassen; die Nachrichten der alten Schriftsteller über diesen Punkt, auch indirekte Zeugnisse unmittelbarer Zeitgenossen, wie z. B. des Isokrates, sind unanfechtbar. Diogenes Laert. (III. 7) berichtet, er habe auch die persischen Magier besuchen wollen, sei aber durch den Krieg daran verhindert worden. Daß er sich im Innern Asiens längere Zeit aufgehalten hat, bestätigt auch Cicero (Tusc. IV. 19).
Nach Rückkehr von Ägypten oder Asien unternahm er seine erste Reise nach Unteritalien und Sizilien, um mit den dortigen Pythagoräern in näheren Verkehr zu treten. Diese Reise führte ihn an den Hof des bekannten Tyrannen von Syrakus, Dionysios des Älteren. Er schloß hier einen engen Freundschaftsbund mit Dion und wurde durch diesen in die politischen Gegensätze und Parteiungen, die zu Syrakus herrschten, hineingezogen, was für ihn bedenkliche Folgen hatte. Der Tyrann ließ ihn festnehmen, lieferte ihn als Kriegsgefangenen den Spartanern aus und diese ließen den Philosophen in Ägina als Sklaven verkaufen. Ein Kyrenaiker namens Annikeris soll ihn dann frei gekauft haben. Im Alter von vierzig Jahren (387) kehrte er nach Athen zurück und gründete hier in dem akademischen Gymnasium eine philosophische Schule, in der er teils in der dialogischen Methode des Sokrates, teils auch durch Vorträge seine Philosophie verbreitete. Diese Lehrthätigkeit wurde aber durch zweimaligen längeren Aufenthalt in Sizilien unterbrochen.
Zunächst kehrte er nach dem Tode des älteren Dionysios auf den Wunsch des Dion, dem der jüngere Dionysios anfänglich sehr gewogen war, nach Syrakus zurück. Dionysios wurde anfangs leidenschaftlich für Plato eingenommen und nahm sich dessen Lehren und Beispiele zu Herzen; „wie ein wildes Tier“, sagt Plutarch (Dion 16), „mit der Zeit das Betasten der Menschen ertragen 565lernt, so gewöhnte sich auch Dionysios so an Platons Umgang und Lehren, daß er ihn möglichst lange in Sizilien zurückhielt und eine gewisse tyrannische Liebe gegen ihn hegte, indem er verlangte, Plato solle ihn allein lieben und bewundern und dem Dion vorziehen.“ Allein als Dion schließlich vom Dionys verbannt wurde, auch die Bemühungen Platos, dessen Rückkehr durchzusetzen und den Tyrannen zur Entsagung auf die Alleinherrschaft und zur Einführung einer platonischen Aristokratie zu bestimmen, sich als nutzlos erwiesen, verließ Plato Syrakus. Zum dritten Male freilich kehrte er auf die dringenden Bitten Dions und seiner pythagoräischen Freunde im Jahre 361 v. Chr. an den Hof des Dionysios zurück; von letzterem anfangs mit großer Freude aufgenommen, geriet er jedoch, bei seinen unablässigen Bemühungen, denselben wieder mit Dion und dessen politischen Grundsätzen zu versöhnen, infolge einer Verstimmung des Tyrannen wiederum in persönliche Gefahr. Nur das energische Eintreten der Pythagoräer, die, an ihrer Spitze Archytas, die damals nicht geringe Macht Tarents für ihn engagierten, scheint ihn gerettet zu haben. Er kehrte nach Athen zurück, wo er fortan unter Fernhaltung von jeder politischen Thätigkeit nach dem Vorgange des Sokrates, – die Demokratie Athens war ihm seit der Verurteilung des Sokrates in höchstem Maße verhaßt und selbst über die besten Staatsmänner seiner Vaterstadt, wie z. B. Perikles, enthalten seine Schriften nur bittere Urteile –, sich mit größtem Eifer der wissenschaftlichen Lehrtätigkeit in der Akademie und der Abfassung von Schriften widmete.
In ungeschwächter Geisteskraft erreichte er das 81. Lebensjahr und starb 348 v. Chr. nach Diogenes III. 2, bei einem Gastmahl, nach Cicero (Senect. 5), falls dessen Angabe wörtlich zu nehmen ist, schreibend.
Schon das Altertum, das als besondere Merkwürdigkeit auch seine angeblich unverletzte Virginität hervorhebt, bewunderte ihn wie einen Heros.
In der That hat er, wie kein anderer, die schöne Lebensführung des Hellenentums durch eine Tiefe des geistigen Daseins geadelt, die ihn am Horizonte der menschlichen Weltanschauung für alle Zeiten als Stern erster Größe strahlen läßt.
Platos Lehre wird nicht mit Unrecht als die vollkommenste Gestalt der hellenischen Philosophie, als ihre höchste Blüte bezeichnet, wenn man gleichzeitig zugiebt, daß die höchste Blüte auch regelmäßig den Wendepunkt und Übergang zum Verfall in sich birgt.
Schwegler will drei Entwicklungsperioden seiner Lehre unterscheiden; in die erste verlegt er die kleinen Gespräche, welche lediglich praktisch sittliche Fragen in sokratischer Weise behandeln, so den Charmides, der die Mäßigung, den Lysis, der die Freundschaft, den Laches, der die Tapferkeit behandelt, und schließlich den Gorgias, der gegen die sophistische Identificierung von Lust und Tugend, Gutem und Angenehmen gerichtet ist.
Hier haben diese rein ethischen Schriften, da sie jeder Beziehung zum „Occultismus“ ermangeln, kein Interesse. In die zweite verlegt er die als Vermittlung mit der Eleatik sich vollziehende Aufstellung und dialektische Begründung der Ideenlehre.
Ihre Hauptschriften sind der Theätet, der Sophist und der Politikos, vor allem aber der Parmenides. Von diesem letzteren Dialog, der ziemlich einstimmig für den ontologisch wichtigsten von allen erklärt wird, läßt Plato den Sokrates mit dem Eleaten Dialektik treiben, und der wesentliche Gedankengang ist nach einem von August Niemann (Sphinx IV. 22) gemachten Auszug folgendes: „Wenn ihr sagt, daß die Gottheit nur Eins sei, so stimme ich euch zu. Als Vielheit würde Gott sich selbst sowohl gleich als ungleich sein, sich also von sich selbst unterscheiden, was unmöglich zu denken ist. Daran ist aber auch nichts zu verwundern, sondern die Einheit Gottes liegt auf der Hand. Zu verwundern ist aber, daß verschiedene Begriffe, welche unversöhnlich einander gegenüberstehen, innerhalb des All-Einen zu finden sind. Ihr sagt freilich, daß ja auch der Mensch diese miteinander streitenden Begriffe in sich trägt, indem er in einer Hinsicht Ähnlichkeit, in anderer Hinsicht Unähnlichkeit besitzt, wie er auch zugleich Einheit und Vielheit in sich trägt. Einer bin ich unter der Menge, vieles bin ich, weil ich eine rechte und linke Seite u. s. w. habe. Aber was ich sagen will, ist noch ein anderes. Alles, was ähnlich ist, ist insofern und in dem Grade ähnlich, als es an der Ähnlichkeit selbst, an der 567Idee der Ähnlichkeit teil hat. Durch die Parusie der Ähnlichkeit ist das Ähnliche ähnlich. Und so ist es auch mit dem Gleichen, dem Schönen und allen derartigen. Nun kann ja der Mensch ganz gewiß, so wie jedes Ding, zugleich an allen möglichen Ideeen teilhaben; die Ideeen aber bleiben immer dieselben und haben nur an sich selbst teil. Wir müssen daher die Ideeen von den Dingen absondern und jedes für sich betrachten. Was mich nun, wie gesagt, in Verwunderung setzt, ist das, daß die Ideeen, obwohl für immer geschieden, doch in der Gottheit vereinigt sind.“
Hierauf antwortet Parmenides: „Wenn ich dich recht verstehe, so nimmst du also eine für sich bestehende Idee des Gerechten, des Schönen, des Guten u. s. w. an, und ebenso Ideeen von allem anderen, welche gesondert von dem sinnlich Wahrnehmbaren sind. Zum Beispiel eine Idee des Menschen würdest du annehmen, welcher etwas anderes ist, als irgend ein wirklich lebender Mensch, eine Idee des Feuers, des Wassers und aller Dinge. In deinen Gedanken entsteht eine Ideeenwelt und diese nennst du Gott, während du die sinnlich wahrnehmbare Welt nur insofern benennen willst, als sie an der Ideeenwelt teil hat. Doch habe ich meine Bedenken hinsichtlich deiner Ansicht.“ – Als solche Bedenken führt er dann an, daß erstens, wenn alles an den Ideeen teil habe, jedes auch an der ganzen Welt teil haben müsse. Wenn jemand mutig sei, insofern er an der Idee des Mutes teil habe, so müßte die Idee des Mutes, da ja alle Menschen und auch die Tiere in größerem oder geringerem Maße mutig seien, in allen Erscheinungen ganz auftreten, also in unzählige Vielheiten aufgelöst werden.
Zweitens würde beim Vergleich der Dinge mit den Ideeen die Parusie eines Dritten erforderlich sein, mit welchem die Vergleichung geschähe, und das Fortschreiten der Untersuchung würde unermeßliche Vielheiten erzeugen.
Drittens müßte die größte Schwierigkeit erst aus der Unmöglichkeit der Erkennbarkeit der Ideeen entstehen. Denn es habe den Anschein, als ob die Ideeen infolge der ihnen zuerteilten Beschaffenheit sich nicht bei uns befinden könnten, weil dadurch ihr Fürsichbestehen aufhören würde, und als ob auch diejenigen Ideeen, welche ihre Beschaffenheit nur in Wechselbeziehung untereinander 568hätten, ihre Natur nur untereinander, aber nicht in Bezug auf ihre Abbilder, die Dinge geltend machen würden. So wenig also die Gottheit vom Menschen erkannt werden könne, so wenig könne der Mensch von der Gottheit erkannt werden. – Trotz aller dieser selbst gemachten Einwürfe schließt er mit dem Satze, daß überhaupt jede ernste Philosophie unmöglich sei, wenn man die Ideeenlehre verwerfe.
Wir sind damit nicht nur bei dem schwierigsten Teile der platonischen Philosophie, über deren Sinn noch immer die verschiedensten Auffassungen streiten, sondern vielleicht bei dem schwierigsten Teile der Philosophie überhaupt angelangt. Denn um diesen Angelpunkt dreht sich der immer noch endgiltig nicht entschiedene Streit zwischen Nominalismus und Realismus, wie man es im Mittelalter, oder Idealismus und Realismus, wie man es in etwas verschobener Namensbedeutung bezüglich des letzteren, in der modernen Philosophie bezeichnet. Bruno, de umbris idearum, und ihm folgend Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung II. S. 417ff., auch Dühring, krit. Geschichte der Philosophie S. 101ff. wollen in den Platonischen Ideeen nichts anderes finden, als das, was wir empirisch redend die Spezies oder Art nennen.
Unrichtig ist dies gerade nicht, aber es deckt nicht die ganze Bedeutung der platonischen Ideeen; denn wenn dieselben auch keineswegs mit den Allgemeinbegriffen zu verwechseln sind, und Plato gewiß keine Ideeen z. B. von Artefakten angenommen hat, so gehören doch vor allem auch die Ideeen der Moral und Ästhetik zur Ideenwelt, und Kant (Kritik der reinen Vernunft II. 1) hebt mit Recht hervor, daß gerade auf praktischem Gebiete Plato die vorzüglichste Bedeutung seiner Ideeenlehre suchte. Die große Frage ist nun, einmal wie Plato sich das Sein der Ideeen gedacht habe, ob er sie „hypostasiert“ und ihnen eine höhere über den Dingen schwebende, von der empirischen Wirklichkeit getrennte Existenz zugeschrieben hat oder nicht; sodann, wie er sich ihr Verhältnis zur Gottheit gedacht habe, welche letztere Frage zusammenfällt mit der nach der theologischen Grundlage seiner Weltanschauung.
Den ersten Teil dieser Frage scheint mir am klarsten und zutreffendsten Lotze in seiner Metaphysik S. 513 zu beantworten:
„So wenig jemand sagen kann, wie es gemacht wird, daß Etwas ist oder Etwas geschieht, ebenso wenig läßt sich angeben, wie es gemacht wird, daß eine Wahrheit gelte; man muß auch diesen Begriff als einen durchaus nur auf sich beruhenden Grundbegriff ansehen, von dem jeder wissen kann, was er mit ihm meint, den wir aber nicht durch eine Konstruktion aus Bestandteilen erzeugen können, welche ihn selbst nicht bereits enthielten.
Von hier aus scheint mir Licht auf eine befremdliche Angabe zu fallen, die in der Geschichte der Philosophie überliefert wird: Platon habe den Ideeen, zu deren Bewußtsein er sich erhoben, ein Dasein abgesondert von den Dingen, und doch, nach der Meinung derer, die ihn so verstanden, ähnlich dem Sein der Dinge, zugeschrieben. Es ist seltsam, wie friedlich die hergebrachte Bewunderung des Platonischen Tiefsinns sich damit verträgt, ihm eine so widersinnige Meinung zuzutrauen; man würde von jener zurückkommen müssen, wenn Platon wirklich diese gelehrt und nicht nur einen begreiflichen und verzeihlichen Anlaß zu einem so großen Mißverständnis gegeben hätte. Der Ausdruck philosophischer Gedanken ist von der Leistungsfähigkeit der gegebenen Sprache abhängig, und es ist kaum vermeidlich, zur Bezeichnung dessen, was man meint, Worte zu benutzen, welche diese eigentlich nur für Verwandtes, was man nicht meint, ausgeprägt hat, dann vorzüglich, wenn ein neues Gebiet eröffnet wird und die Dringlichkeit der Unterscheidung des gemeinten von jenem anderen noch wenig empfunden werden kann. Hierin scheint mir der Grund jenes Mißverständnisses zu liegen. Nichts sonst wollte Platon lehren, als die Geltung von Wahrheiten, abgesehen davon, ob sie an irgend einem Gegenstande der Außenwelt, als dessen Art zu sein, sich bestätigen; die ewig sich selbst gleiche Bedeutung der Ideeen, die immer sind, was sie sind, gleichviel ob es Dinge giebt, die durch Teilnahme an ihnen sie in dieser Außenwelt zur Erscheinung bringen, oder ob es Geister giebt, welche ihnen, indem sie sie denken, die Wirklichkeit eines sich ereignenden Seelenzustandes geben. Aber der griechischen Sprache fehlte damals und noch später ein Ausdruck für diesen Begriff des Geltens, der kein Sein einschließt; 570eben dieser des Seins trat allenthalben, sehr häufig unschädlich, hier verhängnisvoll an seine Stelle. Jeder für das Denken faßbare Inhalt, wenn man ihn als etwas mit sich Einiges von anderem Verschiedenes und Abgeschlossenes betrachten wollte, alles, wofür die Sprache der Schule später den nicht üblen Namen des Gedankendinges erfunden hat, war dem Griechen ein Seiendes, ὂν oder οὐσία; und wenn der Unterschied einer wirklich geltenden Wahrheit von einer angeblichen in Frage kam, so war auch jene ein ὂντως ὂν –; anders als in dieser beständigen Vermischung mit der Wirklichkeit des Seins hat die Sprache des alten Griechenlands jene Wirklichkeit der bloßen Geltung niemals zu bezeichnen gewußt; unter dieser Vermischung hat auch der Ausdruck des Platonischen Gedankens gelitten.
Man überzeugt sich leicht, daß alles, was von den Ideeen gesagt wird, unter der Voraussetzung, die wir machten, sich als natürlich und notwendig ergiebt, und daß die verschiedenen Wendungen, die in der Darstellung ihres Wesens genommen werden, eben darauf hinauslaufen, den Begriff, zu dessen Bezeichnung ein einziger Ausdruck fehlte, durch viele einander zu Hilfe kommende und beschränkende zu erschöpfen. Ewig, weder entstehend noch vergehend (ἀίδια, ἀγέννητα, άνώλεϑρα), mußten die Ideeen genannt werden gegenüber dem Fluß des Heraklit, der auch ihren Sinn schien mit sich fortreißen zu sollen; die Wirklichkeit des Seins allerdings kommt ihnen bald zu, bald nicht zu, je nachdem vergängliche Dinge sich mit ihnen schmücken oder nicht; die Wirklichkeit der Geltung aber, welche ihre eigne Weise der Wirklichkeit ist, bleibt unberührt von diesem Wechsel; diese Unabhängigkeit von aller Zeit, in Vergleichung gebracht mit dem, was in der Zeit entsteht und vergeht, konnte nicht wohl anders als durch das zeitliche und doch die Macht der Zeit negierende Prädikat der Ewigkeit ausgesprochen werden, ebenso wie wir das, was an sich nicht gelte und gelten könnte, an seinem Niemalsvorkommen in aller Zeit am leichtesten erkennen würden. Trennbar oder getrennt von den Dingen (χωρὶς τῶν ὄντων), heißen die Ideeen zunächst begreiflich, weil das Bild (εῖδος) ihres Inhalts unserer Erinnerung vorstellbar bleibt, auch nachdem in der Wirklichkeit des Seins die Dinge verschwunden sind, durch deren Anregung es in uns entstanden war; 571dann aber, weil unter jenem Inhalt nur das verstanden war, was in allgemeiner Gestalt faßbar, in verschiedenen Erscheinungen der äußern Wirklichkeit sich selbst gleich vorkommt, und deshalb unabhängig ist von jedem einzelnen Beispiele seiner sinnlichen Verwirklichung. Aber es war nicht die Meinung Platons, daß die Ideeen nur von den Dingen unabhängig, dagegen in ihrer Weise der Wirklichkeit abhängig sein sollten von dem Geiste, welcher sie denkt; Wirklichkeit des Seins genießen sie freilich nur in dem Augenblicke, in welchem sie, als Gegenstände oder Erzeugnisse eines eben geschehenden Vorstellens, Bestandteile dieser veränderlichen Welt des Seins und Geschehens werden; aber wir alle sind überzeugt, in diesem Augenblicke, in welchem wir den Inhalt einer Wahrheit denken, ihn nicht erst geschaffen, sondern nur ihn anerkannt zu haben; auch als wir ihn nicht dachten, galt er und wird gelten, abgetrennt von allem Seienden, von den Dingen sowohl als von uns, und gleichviel, ob er je in der Wirklichkeit des Seins eine erscheinende Anwendung findet oder in der Wirklichkeit des Gedachtwerdens zum Gegenstand einer Erkenntnis wird; so denken wir alle von der Wahrheit, sobald wir sie suchen und suchend vielleicht ihre Unzugänglichkeit für jede wenigstens menschliche Erkenntnis beklagen; auch die niemals vorgestellte gilt nicht minder, als der kleine Teil von ihr, der in unsere Gedanken eingeht. In etwas anderer Form, und gegen Protagoras, wird die selbständige Geltung der Ideeen hervorgehoben, wenn sie als an sich seiend was sie sind (αὐτὰ καϑ' αὐτὰ ὄντα) der Relativität entzogen werden, in die sie der berühmte Ausspruch dieses Sophisten verwickeln wollte. Zugegeben selbst, daß die Lehre desselben, auf sinnliche Empfindungen beschränkt, ihre gute Gültigkeit hat, und daß Platon sie in dieser Beziehung mißverständlich bekämpft, zugegeben also, daß jede sinnliche Empfindung für den, der sie hat, so gut eine Wahrheit ist, wie eine abweichende andere für den, der diese andere hat, so würde doch Platon mit Recht behaupten, weder der eine noch der andere könne diese oder jene Empfindung haben, ohne daß dasjenige, was er in ihr empfindet, Rot oder Blau, Süß oder Bitter, ein an sich Etwas und immer dasselbe Etwas bedeutender Bestandteil einer Welt von Ideeen sei; sie bildet gleichsam den beständigen unerschöpflichen Vorrat, aus dem jedem Dinge der 572Außenwelt alle die noch so verschiedenen Prädikate, mit denen es sich wechselnd bekleidet, und ebenso jedem Geist die verschiedenen Zustände zugeteilt werden, die er soll erfahren können; unmöglich ist es dagegen, daß ein einzelnes Subjekt etwas empfinde oder vorstelle, dessen Inhalt nicht in dieser allgemeinen Welt des Denkbaren seine bestimmte Stelle, seine Verwandtschaften und Unterschiede gegen anderes ein für allemal besäße, sondern eine zu dieser ganzen Welt beziehungslose, nirgends sonst heimische Sonderbarkeit dieses einen Subjekts bliebe. Ist nun durch diese Ausdrücke für die selbständige Gültigkeit der Ideen gesorgt, so ist auch hinlänglich vorgebaut, daß diese Gültigkeit nicht mit der Wirklichkeit des Seins verwechselt werde, die nur einem beharrlichen Dinge zugeschrieben werden könnte. Wenn die Ideeen in einem intelligiblen überhimmlischen Ort (νοητὸς, ὑπερουράνιος τόπος) ihre Heimat haben sollen, wenn sie anderseits ausdrücklich noch als nirgends wohnend bezeichnet werden, so ist für jeden, der die Anschauungsweise des griechischen Altertums versteht, vollkommen hinlänglich ausgedrückt, daß sie zu dem nicht gehören, was wir reale Welt nennen; was nicht im Raume ist, das ist für den Griechen nicht, und wenn Platon die Ideeen in diese unräumliche Heimat verweist, so liegt darin nicht ein Versuch, ihre bloße Geltung zu irgend einer Art von seiender Wirklichkeit zu hypostasieren, sondern die deutliche Anstrengung, jeden solchen Versuch von vornherein abzuwehren. Auch dies steht nicht entgegen, daß die Ideeen als Einheiten (ἑνάδες, μονάδες) aufgeführt werden; denn keine Veranlassung liegt vor, diese Bezeichnung in dem Sinne atomistischer Vorstellungen, sei es auf körperliche Unteilbarkeit, sei es auf eine der Persönlichkeit ähnliche Selbstheit zu deuten; vielmehr dem Sinne jeder Idee, und nicht jeder einfachen blos, sondern auch jeder zusammengesetzten, kommt es zu, durch Vereinigung des in ihm zusammengehörigen und durch Ausschließung alles Fremden sich als Einheit zu beweisen. Dennoch aber, obgleich alle diese Äußerungen darin übereinstimmen, daß Platon nur die ewige Gültigkeit der Ideeen, niemals aber ihr Sein behauptete, dennoch blieb ihm auf die Frage: was sie denn seien, zuletzt nichts übrig, als sie doch wieder unter den Allgemeinbegriff der οὐσία zu bringen, und so war dem Mißverständnis eine Thür geöffnet, das seitdem sich fortgepflanzt hat, obschon man 573nie anzugeben wußte, was denn das eigentlich sei, wozu Platon durch die ihm schuld gegebene Hypostase seine Ideeen hypostasiert haben sollte.“
Über das Verhältnis der Ideeenwelt zur Gottheit und die „theologische“ Seite des „Systems“, – wenn man bei Plato von einem System reden darf –, geben uns diejenigen Schriften Auskunft, welche in die von Schwegler angenommene dritte und letzte Periode seiner Entwicklung fallen, nämlich in die Zeit nach seiner Heimkehr in die Vaterstadt bis zu seinem Tode; es sind dies in erster Linie der Phädrus, Philebus, die Republik und der Dialog von den Gesetzen. Äußerlich kennzeichnet diese Schlußperiode seines geistigen Schaffens sich durch das Überhandnehmen der mythischen Form.
Die wichtigsten hier in Betracht kommenden Sätze sind folgende: Den Schöpfer und Vater des Weltalls zu finden, ist schwer, und wenn man ihn gefunden, mit allen darüber zu sprechen, unmöglich: alte heilige Überlieferungen bezeichnen ihn als den Gott der Götter, der nach Gesetzen regiert, als den Anfang, die Mitte und das Ende aller Dinge. In der Natur dieses Gottes wohnt eine königliche Seele, und in dieser ein königlicher Verstand, welcher die oberste Ursache alles Guten, Wahren und Schönen ist. Alle Wesen stimmen darin überein, daß dieser bewunderungswürdige Verstand der König des Himmels und der Erde sei; daß nicht wie die Menge wähnt, eine blind wirkende Natur und Notwendigkeit, sondern der göttliche seiner selbst bewußte Verstand, um eines guten Endzwecks willen, das Weltall geordnet habe, und daß ohne Gott diese Weltordnung ganz unmöglich wäre.
Wie nun ein Künstler, bevor er sein Kunstwerk sinnlich ausführt, sich zuvor eine Idee desselben bildet, nach welcher er das Werk ausführt: so hat auch Gott, der größte und beste aller Künstler, ehe er diese sichtbare Welt und in ihr die einzelnen Dinge gebildet, zuvor die Ideeen derselben konzipiert, und diese göttlichen Ideeen und geistigen Vorbilder sind das der Erscheinungswelt vorangehende, wahre, ewige, allein reale Wesen der Dinge; die einzelnen sogenannten wirklichen Dinge, die wir durch die Sinne wahrnehmen, sind nur Abbilder, vorübergehende vergängliche Erscheinungen jener göttlichen Ideeen. 574Es giebt also zwei Welten, eine göttliche Ideeenwelt, die Welt der ewigen substanziellen Gedanken Gottes, und eine irdische Erscheinungswelt, die Welt der wandelbaren Formen; die Welt des ewig Seienden und ewig sich Gleichbleibenden, und die Welt des zeitlichen Werdens, des Entstehenden und Vergehenden, der Zeugung und des Todes. Die erscheinenden Dinge in dieser Welt sind nur die Wirkungen der wahren Existenzen in jener Welt; jedes Ding hat seine Idee in Gott, diese göttlichen Ideeen sind das Original, die irdischen Phänomene die Kopieen. In der Ideeenwelt aber ist die oberste nur mit Mühe erkennbare Ursache alles Wahren und Schönen die Idee des Guten, der Urheber des Guten aber ist Gott, der sich selbst immerdar gleich und mit sich identisch ist, und der allein auch vollkommenste Erkenntnis besitzt.
Wäre dieser Gott neidisch, so hätte er sich an sich selbst genügen lassen und nichts außer sich ins Leben gerufen; da er aber nicht neidisch, sondern neidlos gütig ist, so hat er auch das Nichtsein an dem Reichtum seines Seins teilnehmen, und das Einzelne, Unvollkommene um der Vollkommenheit und Glückseligkeit des Ganzen willen entstehen lassen: er hat gleichsam wie ein reicher Mann ein armes Mädchen, das Nichtseiende sich zur Braut erwählt und mit ihr, aus Liebe, die Welt erzeugt. Die Unvollkommenheit aller irdischen Dinge hat daher ihren Grund darin, daß in ihnen zwar etwas Göttliches, Ewiges, Wirkliches, aber auch etwas Ungöttliches, Vergängliches, Nichtiges; daß in ihnen Sein und Nichtsein, Freiheit und Notwendigkeit gemischt ist. Das Nichtsein, aus dem die Dinge hervorgerufen sind, klebt ihnen noch an, ja es ist ganz unmöglich, daß sie absolut vollkommen seien; denn nur Gott ist dieses, nichts geschaffenes. Man muß demnach zwei Arten von Ursachen unterscheiden, eine naturnotwendige, leibliche, und eine göttliche, seelische: die göttliche muß man in allen Dingen aufsuchen, um, so viel die menschliche Natur es zuläßt, ein glückseliges Leben zu erlangen; die naturnotwendige aber nur um jener willen. Die göttliche ist die eigentliche Ursache, die naturnotwendige die Hilfsursache zur irdischen Geburt. Die stofflichen Entstehungsgründe oder Urelemente der Dinge, des Menschen wie aller übrigen Wesen, lassen eine logische Erklärung nicht zu, es ist unmöglich, diese Urstoffe durch Worte zu 575definieren, sie sind ihrer Natur nach unerklärlich, unsere Sprache hat für sie kein adäquates Wort.
Der Mensch nun, das am meisten zur Gottesverehrung befähigte unter allen Geschöpfen, ist ursprünglich nicht eine irdische, sondern eine himmlische Pflanze; unter allen Besitztümern, die er hat, ist nächst den Göttern seine Seele sein wertvollstes göttlichstes Eigentum, ja das eigentliche Wesen des Menschen: ihre Ausbildung ist daher Menschen und Göttern das teuerste: denn ihr allein kommt, wie die Priester und alte göttliche Dichter lehren, wahres unsterbliches Sein zu: sie gehört zu den ersten Existenzen, und ist älter und früher als alle Körper, und hat vor ihrem gegenwärtigen Leben in einer höheren Region gelebt und die Wahrheit geschaut: so daß, da die ganze Natur unter sich verwandt ist, was sie in dem irdischen Leben lernt, eigentlich nur eine Wiedererinnerung dessen ist, was sie in einem vorirdischen Leben schon einmal gewußt hat. In der Seele aber, als die oberste Seelenkraft wohnt der reine denkende Geist, der, wie er vom Himmel in den Menschen herabgekommen ist, den Menschen auch wieder von der Erde in den Himmel emporhebt, als der einem jeden von Gott geschenkte Schutzgeist. Dieser spezifisch geistige Teil der menschlichen Seele, der göttliche Geist in uns, läßt sich nicht genügen an dem Einzelnen, Vielen, Veränderlichen, Sinnlichen, sondern fühlt sich erst dann befriedigt und gesättigt, wenn er vorgedrungen ist bis zu dem Urgrunde, der ewigen Wesenheit der Dinge und der ewigen Wahrheit, welchen beiden er selbst verwandt und homogen ist. Liebe zu dem ewig Seienden, zu der ewigen Weisheit, und zu der ewigen Wahrheit, sind dem Menschen von Natur eingeboren: sein denkender Geist strebt ebenso natürlich nach Erkenntnis der Wahrheit, wie das sonnenartige Auge des Menschen nach Licht; und wie diesem die Finsternis, so ist jenem die Unwissenheit zuwider. Die echt philosophischen Naturen haben darum ihr Denken nicht auf die Welt des Werdens, sondern auf das ewig und unveränderlich Seiende gerichtet: sie sind vor allem bestrebt die ewige Wesenheit der Dinge zu erkennen, die obersten Ursachen in der göttlichen Ideenwelt; nicht dasjenige, was zwischen Entstehen und Vergehen hin und her schwankt, die vorübergehende Erscheinungswelt.
Dieses ist das ursprüngliche Verhältnis der menschlichen Seele 576und in dieser des menschlichen Geistes zu Gott und dem Weltall. Ursprünglich, in Kraft und Fortwirkung ihres göttlichen Ursprungs, sind die Menschen viel wahrhaftiger, großherziger, vollkommener gewesen als später, wo der Anteil Gottes in ihnen, durch die fortgesetzte Vermischung mit der sterblichen Natur, immer schwächer geworden, und der menschliche Charakter immer stärker hervorgetreten ist. So kommt es, daß jetzt allerdings, wie der Meerdämon Glaukos von dem Seewasser angefressen und durch das Seetang und Muschelwerk, was sich ihm angesetzt, fast unkenntlich geworden ist, auch die menschliche Seele in dem gegenwärtigen Leben, in dem Meer der Todeswelt, durch vielfache Übel ihre ursprüngliche Reinheit und Schönheit fast ganz verloren hat, und wenn sie diese wiedergewinnen will, zuerst aus dem Meere, in welchem sie versunken ist, sich erheben und alles ihr fremdartige Anhängsel abwerfen muß. Reinigung der Seele von den Leidenschaften, Loslösung von den Banden des Leibes und allem Irdischen, ist darum die notwendige Vorbedingung jedes echten Philosophierens. Denn nur mit reiner Seele können wir das Reine, Wahre, Ewige berühren, nur dann mit der Seele selbst das wahre ewige Wesen der Dinge schauen und erkennen. Wer darum wahrhaft philosophisch gesinnt, und wirklich in Freiheit und Muße auferzogen ist, der trachtet so schnell als möglich aus dem Irdischen in das Überirdische sich zu flüchten. Diese Flucht bringt ihn dann zur möglichst größten Verähnlichung mit Gott, diese Verähnlichung aber besteht darin, daß er mit Wissen und Willen gerecht und fromm ist. Dieses zu erkennen ist die wahre Weisheit und Tugend; darin unwissend zu sein, offenbarer Unverstand und Schlechtigkeit.
Hier freilich dürfte am meisten die Lehre Platos von der Unsterblichkeit der Seele interessieren. Als Quellen kommen dafür hauptsächlich die Dialoge „Phaedon“, „der Staat“, „Phaedrus“, „Timaeus“ und das „Gastmahl“ in Betracht.
Im Phaedon läßt er Sokrates in dem unmittelbar vor seinem Tode geführten letzten Gespräch davon ausgehen, daß der Tod der Gegensatz des Lebens sei. Der Tod ist eben die Trennung der Seele vom Körper, und da der Körper nur die Wahrnehmungen 577trübt, ein ersehnenswertes Ziel. Der Weise hofft durch den Tod mit den Göttern und mit den dahingegangenen guten Menschen vereinigt zu werden. Erst nach der Trennung vom Körper wird die Seele, losgelöst von allem Sinnlichen, die Wahrheit erkennen. In den eleusinischen Mysterien werde bildlich angedeutet, „daß, wer uneingeweiht und ungeheiligt in den Hades kommt, im Schlamm liegen, der Gereinigte und Geheiligte aber, wenn er dorthin kommt, mit den Göttern wohnen wird.“
Nach altem Glauben kommen die Seelen von hier in den Hades, kehren aber vom Hades wieder hierher zurück.
Da alles aus Gegensätzen entsteht, der Gegensatz des Lebens aber der Tod ist, so müssen die Seelen auch im Tode irgendwo sein, von wo aus sie wieder zum Leben erwachen.
Wäre dem nicht so, so würde eben entweder das Lebendigsein oder das Todtsein ausschließlich bestehen.
Ferner, da das Lernen nur Rückerinnerung ist, eine Voraussetzung, die Plato mehrfach durch Vorführung empirischer Beispiele der sokratischen Dialektik zu beweisen versucht, so muß die Seele, bevor sie in diesen Leib kam, irgendwo bestanden und das, dessen sie sich jetzt im Lernen wieder erinnert, gewußt haben.
Auf den Einwurf eines Teilnehmers am Gespräch, ob denn die Seele nicht im Tode sich auflösen könne, erwidert Sokrates, die Seele sei nichts Zusammengesetztes, sie sei eine der selbständigen, sich immer gleichbleibenden Ideeen und sei wegen ihrer angeborenen Herrschaft über den Körper dem Göttlichen gleich. Auch gehe ja nicht einmal das Körperliche im Tode zu Grunde, löse sich vielmehr nur in seine unteilbaren Bestandteile auf. Warum sollte die an sich unteilbare Seele zu Grunde gehen?
Übrigens gelangt nur die gereinigte Seele wieder ins Göttliche zurück, die nicht gereinigte wird auf's neue in das irdische Gebiet des Sichtbaren herabgezogen und hat zu ihrer Läuterung nur Wandlungen zu bestehen; ja sie kann zu diesem Ende in Tierleiber übergehen und zwar wahrscheinlich jedesmal in solche, die ihren im Vorleben ausgebildeten Neigungen am meisten angepaßt sind, z. B. können Schlemmer als Schweine, Ungerechte und Räuber als Wölfe sich „metensomatisieren.“
Heftige Begierden und Leidenschaften lenken auch die Seele auf begehrliche und leidenschaftliche Gedanken, und solche Gedanken „nageln die Seele gleichsam an den als Werkzeug dafür geeigneten Körper an.“
Nur der von allen Sinneseindrücken Losgelöste kann in die „Gattung“ der Götter kommen.
Auch das sittliche Gefühl streite für die Fortdauer der Seele nach dem Tode, deren Vernichtung ja nur für den Schlechten ein Gewinn sein würde.
In mythischer Einkleidung schildert Sokrates den Hades mit topographischer Genauigkeit: Die vom Körper getrennten Seelen werden, nachdem sie ihr Urteil vom Totenrichter empfangen, von Dämonen, die besseren von Göttern selbst in ihre neuen Wohnsitze geleitet, welche sich je nach ihrem Vorleben verschieden gestalten; die ganz Schlechten werden sogleich in den Tartarus geschleudert, die Reuigen irren lange umher und werden in bestimmten Zeitläufen in die Nähe der von ihnen gekränkten geführt, so daß sie dieselben um Verzeihung anflehen können; wird ihnen diese jetzt oder nach wiederholtem Irrgang zu teil, so kommen sie an bessere Wohnorte. Solche, die zwar sträflich gelebt, aber doch Gutes aufzuweisen haben, wandern, nachdem sie endlich gereinigt worden sind, zu neuem Lebenslauf auf die Erde.
Nur, wer philosophisch gedacht und gelebt, kann in die reinen Sphären, abgeklärt von allem Irdischen, gelangen. Zu solchem reinen philosophischen Denken und Leben, zum Verzichten auf alles, was auch nur teilweise davon ablenken könnte, mahnt Sokrates seine Schüler und schließt mit den Worten: „schön ist der Kampfpreis und groß die Hoffnung.“
In dem Dialog über den Staat ist der Gedankengang der Unsterblichkeits-Spekulation folgender: Wenn etwas zu Grunde geht, so kann dies nur durch das ihm innewohnende Schlechte geschehen; aber das der Seele innewohnende Schlechte vernichtet ja dieselbe nicht, wie solches beim Leibe der Fall sein kann. Der Zerstörende und Verderbende ist das Schlechte, der Bewahrende und Nutzbringende aber das Gute; eines schließt das andere aus. 579Finden wir nun etwas, das durch das Schlechte zwar geschädigt, aber nicht vernichtet werden kann, so müssen wir das wohl für unzerstörbar halten. Ein solches nun ist offenbar die Seele. Die Seele wird durch Ungerechtigkeit und andere Schlechtigkeit allerdings gefährdet, aber zu einer Auflösung derselben, wie dies beim Körper durch ihre betreffenden Übel geschehe, kommt es darum bei der Seele nicht.(?) Überhaupt giebt es für jedes Ding nur ein eigentümlich Zerstörendes; so kann das Fieber nur den Körper schädigen und zerstören, nicht aber die Seele. Nun aber (ein Beweis wird nicht einmal versucht), meint Plato, kann die Seele weder durch eigenes noch durch fremdes Schlechte zu Grunde gerichtet werden, ist demnach ein immerwährendes, ein Unsterbliches.
Man sieht, wie auch hier die „Beweisführung“ ebenso wie im Phädon nur in einer sich im Kreise drehenden Beteuerung des Dogmas besteht.
Das Unsterbliche ist aber nach Plato dem Göttlichen verwandt und kann in seiner Reinheit nur dann betrachtet werden, wenn es von allen Schlacken vollständig befreit ist, d. h. nach der Loslösung vom Leibe. Doch schon in diesem Leben wird das Streben nach Gerechtigkeit von den Göttern gesehen, denen dasselbe ja nur angenehm sein kann; sie sorgen dafür, daß denen, die nach Gerechtigkeit streben, alles, wenn nicht hier, – denn hier triumphiert oft das Ungerechte, – so doch nach dem Tode zum Guten ausschlagen wird. Auch diese Deduktion schließt mit einem vom Darsteller selber als Gesicht eines Scheintoten bezeichneten Bericht über das Jenseits.
„Ich werde Dir“, sagt Sokrates, „keine Erzählung eines Alkinoos mitteilen, sondern die eines wackeren Mannes, des Er, des Sohnes des Armenios, eines Pamphyliers, der einst im Kriege geblieben war und, als am zehnten Tage die Toten, die bereits verwest waren, aufgehoben wurden, wohlerhalten aufgehoben ward, dann nach Hause geschafft, um bestattet zu werden, am zwölften auf dem Scheiterhaufen wieder auflebte und nach seinem Wiederaufleben erzählte, was er dort gesehen.
Er sagte aber, er sei, nachdem seine Seele ihn verlassen, mit vielen gewandelt und sie seien an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei aneinander grenzende Öffnungen gewesen und 580ebenso am Himmel oben zwei andere gegenüber; Richter aber hätten zwischen diesen gesessen, welche, je nachdem sie ihren Urteilsspruch gethan, den Gerechten befohlen hätten, den Weg nach rechts und nach oben durch den Himmel einzuschlagen, wobei sie ihnen vorn Zeichen der beurteilten Thaten angeheftet, den Ungerechten dagegen den nach links und nach unten, ebenfalls mit Zeichen hinten von Allem, was sie gethan. Als er aber herangetreten sei, hätten sie gesagt, er müsse den Menschen die dortigen Dinge verkünden, und sie forderten ihn auf alles an diesem Orte zu hören und zu beschauen. Er habe nun daselbst gesehen, wie durch jede von beiden Öffnungen im Himmel und der Erde die Seelen fortgingen, nachdem ihnen das Urteil gesprochen, bei den anderen aber sie aus der einen hervorkamen aus der Erde voll Schmutz und Staub, aus der anderen aber andere rein herabstiegen aus dem Himmel. Und die jedesmal ankommenden hätten wie von einer langen Reise herzukommen geschienen, wären vergnügt nach der Wiese abgegangen, hätten sich da wie bei einer Festversammlung gelagert, die sich gekannt einander begrüßt, die aus der Erde kommenden sich bei den anderen nach den dortigen Verhältnissen und die aus dem Himmel kommenden nach denen bei jenen erkundigt. Da hätten sie sich nun einander erzählt, die einen unter Jammern und Thränen, indem sie sich erinnerten, wie Vieles und Welcherlei sie gelitten und gesehen bei ihrer Wanderung unter der Erde – die Wanderung sei aber eine tausendjährige – die aus dem Himmel dagegen hätten von herrlichen Genüssen erzählt und von Anblicken von unbeschreiblicher Schönheit.
Das Meiste nun davon zu erzählen, o Glaukon, würde zuviel Zeit erfordern, die Hauptsache aber, sagte er, sei dieses, daß jeder für alles Unrecht, was er jemals und gegen wen immer verübt, der Reihe nach Strafe erlitten habe, für jedes zehnfach – das aber finde statt allemal nach einem Zeitraum von hundert Jahren, weil dieses die Dauer des menschlichen Lebens sei, – damit sie so zehnfach die Buße für das Unrecht entrichteten, zum Beispiel, wenn manche am Tode Vieler Schuld waren, indem sie entweder Städte oder Kriegsheere verrieten und in Knechtschaft gestürzt hatten, oder sonst an einem Elend mitschuldig waren, sie von allen diesen zehnfache 581Pein für jedes erduldeten, und wiederum, wenn sie irgend Wohlthaten erwiesen hatten und gerecht und fromm gewesen waren, nach demselben Maßstabe den verdienten Lohn erhielten. Von denen aber, die gleich nach ihrer Geburt starben und nur kurze Zeit lebten, erzählte er anderes, was nicht der Erwähnung wert ist. Für Ruchlosigkeit dagegen und Ehrfurcht gegen Götter und Eltern und für eigenhändigen Mord (Selbstmord?) erwähnte er noch größere Vergeltungen. Er sagte nämlich, er sei zugegen gewesen, wie einer von einem anderen gefragt wurde, wo Ardiäos der Große wäre. Dieser Ardiäos aber wäre in irgend einer Stadt Pamphyliens Gewaltherrscher gewesen, tausend Jahre vor jener Zeit, und hatte seinen greisen Vater und älteren Bruder getötet und noch vielen anderen Frevel verübt, wie man sagte. Der Gefragte nun, erzählte er, habe gesagt: Er ist nicht gekommen und wird auch nicht hierher kommen.
Wir sahen nämlich unter den schrecklichen Schauspielen ja auch dieses mit an: Als wir nahe an der Mündung und im Begriff waren emporzusteigen und das andere alles überstanden hatten, erblickten wir plötzlich jene und andere, von denen fast die Meisten Gewaltherrscher waren; es gab aber auch einige Privatleute darunter aus der Zahl derer, die große Frevel begangen hatten; und als diese meinten, daß sie eben emporsteigen könnten, nahm sie die Mündung nicht auf, sondern brüllte laut auf, so oft einer von den in Bezug auf Schlechtigkeit Unverbesserlichen oder, der nicht hinreichend Strafe erlitten, Anstalt machte emporzusteigen. Da waren nun, fuhr er fort, wilde, feurig aussehende Männer bei der Hand, welche, als sie den Ton vernahmen, die einen ergriffen und wegführten, dem Ardiäos aber und anderen banden sie Hände, Füße und Kopf zusammen, warfen sie nieder, schunden sie, schleiften sie seitwärts vom Wege und zerfleischten sie auf Dornen, wobei sie jedesmal Vorübergehenden anzeigten, weswegen sie abgeführt würden und wohin sie sollten geworfen werden. Hier nun, erzählte er weiter, sei unter vielen und mannigfachen Ängsten, die sie gehabt, diese überwiegend gewesen, es möchte für jeden, wenn er hinaufsteigen wollte, jener Ton sich vernehmen lassen, und höchst vergnügt sei ein jeder, wenn er nicht vernommen worden, hinaufgestiegen. 582Und die Strafen und die Züchtigungen seien irgend derartige, und diesen wieder entsprechend die Belohnungen.
Nachdem aber denen auf der Wiese jedem sieben Tage verstrichen, müßten sie am achten von dort aufbrechen und weiter wandern, und sie kämen am vierten Tage dahin, von wo man von oben ein durch den ganzen Himmel und die Erde gespanntes gerades Licht erblicke, wie eine Säule, am meisten dem Regenbogen vergleichbar, aber glänzender und reiner; und zu diesem seien sie gekommen, nachdem sie eine Tagereise weiter gegangen, und hätten dort gesehen, wie nach der Mitte des Lichtes hin vom Himmel her die Enden seiner (des Himmels) Bänder gespannt seien; denn es sei dieses Licht das Band des Himmels, welches ebenso, wie die Gurte der Dreirudrer, den ganzen Umkreis zusammenhalte; an die beiden Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit gespannt, vermittelst welcher alle Umdrehungen geschehen, und an dieser sei die Stange und der Hacken von Stahl, der Wirtel[614] aber gemischt aus dieser und anderen Arten. Die Beschaffenheit aber des Wirtels sei folgende: an Gestalt dieselbe, wie bei uns hier; nach dem aber, was er sagte, muß man sich ihn so vorstellen, als wenn in einem großen, hohlen und durch und durch ausgemeißelten Wirtel ein anderer eben solcher kleinerer eingepaßt wäre, geradeso wie die Gefäße, welche ineinander passen, und ebenso ein anderer dritter, vierter und noch vier andere. Denn acht Wirtel seien es im ganzen, die ineinander liegen, ihre Ränder von oben als Kreise zeigen uns einen zusammenhängenden Rücken eines einzigen Wirtels um die Stange herumbilden; diese aber sei mitten durch den achten hindurchgetrieben. Der erste und äußerste Wirtel nun habe den breitesten Kreis des Randes, der sechste den zweiten, den dritten der vierte, den vierten der achte, den fünften der siebente, den sechsten der fünfte, den siebenten der dritte, den achten der zweite. Und der des größten sei bunt, der des siebenten der glänzendste, der des achten habe seine Farbe von der Beleuchtung des siebenten, der des zweiten und fünften seien einander ähnlich, gelblicher als jene, der dritte habe die weißeste Farbe, der vierte sei rötlich, der zweite an Weiße der sechste. Es bewege sich aber nun bei ihrer Drehung die Spindel 583ganz in ein und derselben Richtung im Kreise, bei dem Umschwunge des Ganzen aber drehen sich die sieben inneren Kreise in einer dem Ganzen entgegengesetzten Richtung ruhig herum, und von diesen selbst gehe am schnellsten der achte, dann folgten und zugleich miteinander der siebente, sechste und fünfte, als der dritte seinem Schwunge nach kreise, wie ihnen geschienen, der vierte, als vierter der dritte und als fünfter der zweite. Sie selbst (die Spindel) aber drehe sich in dem Schoße der Notwendigkeit.
Auf den Kreisen derselben ferner stehe oben auf jedem eine Sirene, welche sich mit herumdrehe, Eine Stimme, Einen Ton von sich gebend, und aus allen, die acht seien, stimme zusammen eine Harmonie.[615] Drei andere aber säßen da ringsum in gleicher Entfernung voneinander, jede auf einem Throne, nämlich die Töchter der Notwendigkeit, die Mören, in weißen Gewändern und mit Kränzen auf dem Haupte, Lachesis, Klotho und Atropos, und sängen zur Harmonie der Sirenen, Lachesis das Vergangene, Klotho das Gegenwärtige, Atropos das Zukünftige. Klotho nun greife von Zeit zu Zeit mit der rechten Hand zu und drehe den äußeren Umschwung der Spindel mit herum, Atropos aber wiederum mit der linken in gleicher Weise die inneren Umläufe, und Lachesis fasse abwechselnd jeden von beiden mit jeder der beiden Hände.
Nachdem sie nun angekommen, hätten sie sogleich zur Lachesis gehen müssen. Da habe sie ein Dolmetscher zuerst in Ordnung auseinander gestellt, dann aus der Lachesis Schoße Lose und Muster von Lebensweisen genommen, sei damit auf eine hohe Bühne gestiegen und habe gesagt: ‚Dies ist die Rede der Tochter der Notwendigkeit, der Jungfrau Lachesis: Ihr Eintagsseelen, es beginnt ein anderer todtbringender Umlauf des sterblichen Geschlechts. Nicht euch wird ein Dämon sich erlesen, sondern ihr werdet Euch einen Dämon wählen. Wen aber zuerst das Los getroffen hat, der wähle sich zuerst eine Lebensweise, mit der er aus Notwendigkeit verbunden sein wird. Die Tugend aber ist herrenlos, und je nachdem sie ein Jeglicher ehrt oder geringschätzt, wird er mehr oder weniger von ihr haben. Die Schuld trifft den Wähler, Gott ist schuldlos.‘ – Nach diesen Worten habe er nach allen hin die 584Lose geworfen und jeder habe das neben ihn gefallene aufgehoben, nur er nicht; ihm habe es jener nicht gestattet; wer aber es aufgehoben, dem sei es klar gewesen, die wievielste Stelle er getroffen. Hierauf habe er wiederum die Muster der Lebensweisen vor ihnen auf die Erde hingelegt, die an Zahl die Anwesenden überstiegen, und zwar von allen Arten, nämlich Lebensweisen von allen Tieren, ja auch die menschlichen insgesamt. Denn Gewaltherrschaften seien darunter gewesen, teils lebenslängliche, teils auch mitten inne zu Grunde gehende und in Armut, Verbannung und Bettelhaftigkeit endende; ebenso auch angesehener Männer Lebensweisen, teils wegen ihres Äußern in Bezug auf Schönheit und außerdem auf Körperkraft und Kampftüchtigkeit, teils wegen ihrer Abstammung und ihrer Vorfahren Tugenden, desgleichen Lebensweisen unangesehener Männer in derselben Beziehung, und in gleicher Weise auch von Frauen; eine Rangordnung der Seele aber habe dabei nicht stattgefunden, weil notwendig die, welche eine andere Lebensweise wählt, eine andere Beschaffenheit erhält; das Andere aber teils miteinander sowohl als mit Reichtum und Armut, teils mit Krankheit, teils mit Gesundheit gemischt, noch Anderes aber liege auch in der Mitte zwischen diesen.
Hier nun, wie es scheint, lieber Glaukon, liegt die ganze Gefahr für einen Menschen, und deswegen ist zumeist dafür Sorge zu tragen, daß jeder von uns mit Hintansetzung der anderen Kenntnisse diese Kenntnisse sowohl suche als lerne, ob er nämlich irgendwoher zu lernen und ausfindig zu machen imstande ist, wer ihn fähig und kundig machen könne, eine gute und schlechte Lebensweise zu unterscheiden und so nach Möglichkeit stets überall die bessere zu wählen, indem er erwägt, wie sich alles jetzt eben Gesagte sowohl miteinander zusammengestellt als getrennt in Bezug auf Trefflichkeit einer Lebensweise verhält, und zu wissen, was Schönheit mit Armut oder Reichtum vermischt und bei welcher Seelenbeschaffenheit sie Böses oder Gutes bewirkt, und was edle und unedle Abkunft, Zurückgezogenheit und Staatsämter, körperliche Kraft und Schwäche, Gelehrigkeit und Ungelehrigkeit und alles Derartige von dem, was von Natur der Seele anhaftet und dazu erworben ist, durch gegenseitige Vermischung bewirkt, so daß er aus diesem Allen einen Schluß ziehend in Hinblick auf die Natur der Seele imstande ist, die schlechtere und die bessere Lebensweise zu 585wählen, schlechter diejenige nennend, welche sie (die Seele) dahin führen wird, daß sie ungerechter, besser aber diejenige, welche dahin, daß sie gerechter wird; alles Übrige aber wird er unbeachtet lassen. Denn wir haben gesehen, daß dieses sowohl für das Leben als nach dem Tode die beste Wahl ist. Unerschütterlich fest also an dieser Meinung muß er hängen und so in den Hades gehen, damit er sich auch dort nicht von Reichtum und derartigen Übeln aus der Fassung bringen lasse und nicht in Gewaltherrschaften und andere dergleichen Geschäfte geratend viel unheilbares Übel anrichte, selbst aber noch größeres erdulde, sondern immer die zwischen solchen in der Mitte stehende Lebensweise zu wählen verstehe und das Übermaß nach beiden Seiten hin zu meiden sowohl in diesem Leben hier nach Möglichkeit, als auch in jenem künftigen; denn so wird der Mensch am glücklichsten.
Und so berichtete er denn auch damals als Bote von dorther, daß der Dolmetscher also gesprochen habe: Auch dem zuletzt Herantretenden, wenn er mit Verstand gewählt hat, mit Anstrengung sein Leben führt, liegt eine annehmbare Lebensweise bereit, keine schlechte. Weder der zuerst Wählende sei sorglos, noch wer zuletzt, mutlos. Als jener dies gesprochen, erzählte er weiter, sei der, welcher zuerst gelost, herangetreten und habe sich die größte Gewaltherrschaft gewählt, und zwar habe er aus Unverstand und Gierigkeit nicht alles gehörig erwägend die Wahl getroffen, sondern es sei ihm entgangen, daß das Verzehren seiner eigenen Kinder und anderes Unheil als Geschick damit verbunden sei; nachdem er es in Muße betrachtet, habe er sich vor die Brust geschlagen und seine Wahl bejammert, da er dem nicht treu geblieben, was der Dolmetscher vorher verkündet hatte; denn nicht sich habe er die Schuld des Unheils beigelegt, sondern dem Schicksal, den Dämonen und allem eher, als sich selbst. Er sei aber einer von denen gewesen, die aus dem Himmel gekommen, der in einer geordneten Verfassung sein früheres Leben zugebracht und nur durch Gewöhnung ohne Weisheitsliebe der Tugend teilhaftig gewesen. Es lieferten aber, könne man sagen, die aus dem Himmel Gekommenen beinahe nicht die geringere Zahl derer, die von solchem befangen wären, da sie keine Erfahrung in Mühseligkeiten hätten; die meisten dagegen von den aus der Erde Gekommenen 586träfen, inwiefern sie sowohl selbst Mühseligkeiten überstanden, als auch andere darin gesehen, ihre Wahlen nicht so auf den ersten Anlauf. Daher erführen denn auch die meisten Seelen einen Wechsel zwischen Bösem und Gutem, und auch durch den Zufall des Loses; denn wenn jemand stets, so oft er in das Leben hier träte, sich auf vernünftige Weise der Weisheitsliebe befleißigte und ihn das Los zur Wahl nur nicht unter den letzten träfe, so scheint es nach dem, was von dorther berichtet wurde, daß er nicht nur hier glücklich sein, sondern auch die Wanderung von hier nach dort und wieder zurück nicht auf unterirdischem und rauhem Pfade, sondern auf glattem und himmlischem stattfinden würde. Dieses Schauspiel nämlich, erzählte er, sei sehenswert gewesen, wie die einzelnen Seelen sich ihre Lebensweisen gewählt hätten; denn es sei kläglich, lächerlich und wunderlich anzusehen gewesen. Denn sie hätten nach der Gewohnheit ihres früheren Lebens meistenteils die Wahl getroffen. So habe er gesehen, wie die Seele, welche einst die des Orpheus gewesen, sich das Leben eines Schwanes wählte, indem sie aus Haß gegen das weibliche Geschlecht[616] wegen des durch diese erlittenen Todes nicht habe von einem Weibe erzeugt geboren werden wollen; ferner habe er die Seele des Thamyras[617] das Leben einer Nachtigall wählen sehen; er habe aber auch gesehen, wie ein Schwan zur Wahl eines menschlichen Lebens überging, und andere musikliebende Tiere ebenso. Eine Seele aber, welcher das Los an zwanzigster Stelle fiel, habe sich das Leben eines Löwen gewählt, und das sei die des telamonischen Ajas gewesen, welche eingedenk des Urteilspruches über die Waffen vermied, ein Mensch zu werden. Nächst diesem sei die Seele des Agamemnon gekommen, und auch diese habe aus Feindschaft 587gegen das menschliche Geschlecht wegen des Erlittenen das Leben eines Adlers gelost. Inmitten aber habe die Seele der Atalante gelost, und da sie große Ehrenbezeugungen eines Wettkämpfers gesehen, habe sie nicht vorübergehen können, sondern zugegriffen. Nach dieser habe er die des Epiros, des Sohnes des Panopeus, in die Natur einer kunstreichen Frau sich begeben, weit unter den letzten aber die des Possenreißers Thersites in einen Affen einkehren sehen. Aus Zufall aber sei die des Odysseus beim Losen unter allen die letzte gewesen und so an die Wahl gegangen, in Erinnerung an die früheren Mühen des Ehrgeizes ledig sei sie lange Zeit herumgegangen, um das Leben eines Privatmannes, der sich von öffentlichen Geschäften zurückgezogen, zu suchen, habe es mit Mühe irgendwo liegend und von anderen vernachlässigt gefunden und bei dessen Anblick gesagt, sie würde ebenso gehandelt haben, auch wenn sie das erste Los bekommen hätte, und es vergnügt gewählt.
Außerdem seien nun auch aus den Tieren in gleicher Weise welche in Menschen und eine andere Art in die andern übergegangen, die ungerechten in die wilden und die gerechten in die zahmen, und so seien Mischungen aller Art vorgekommen.
Nachdem nun aber alle Seelen ihre Lebensweisen gewählt, seien sie in der Ordnung, wie sie gelost, zur Lachesis hinzugetreten; diese aber habe einem jeden den Dämon, den er sich gewählt, zum Hüter seines Lebens und zum Vollstrecker des Gewählten mitgegeben. Dieser nun habe sie zuerst zur Klotho unter die Hand derselben und unter die Herumdrehung des Wirbels der Spindel geführt, um das Geschick, welches sie nach dem Lose sich gewählt, zu befestigen, und nachdem er diese berührt, habe er sie wieder zur Spinnerei der Atropos geführt, um das Zugesponnene unabänderlich zu machen.
Von da aber sei er nun ohne sich umzudrehen unter den Thron der Notwendigkeit gegangen, und als er durch diesen hindurchgegangen und auch die anderen durch gewesen, seien sie dann sämtlich auf das Feld der Vergessenheit durch furchtbare Hitze und Stickluft gewandert; denn es sei dasselbe leer von Bäumen und Allem, was die Erde erzeugt. Sie hätten sich 588also, da es schon Abend geworden, am Flusse[618] sorgenlos gelagert, dessen Wasser kein Gefäß halten könne. Ein gewisses Maß nun von diesem Wasser sei für alle nötig gewesen; die sich aber durch Überlegung nicht bewahrt, hätten über das Maß getrunken; sobald aber einer davon getrunken, habe er alles vergessen.
Nachdem sie sich aber zur Ruhe begeben und es Mitternacht geworden, sei Donner und Erdbeben entstanden, und plötzlich seien sie von dannen flimmernd, wie Sterne, der eine dahin, der andere dorthin, hinaufgefahren zu ihrer Geburt. Er selbst aber sei zwar verhindert worden, von dem Wasser zu trinken; wie und auf welche Weise jedoch er wieder in seinen Körper gekommen, wisse er nicht, sondern plötzlich die Augen aufschlagend habe er sich des morgens auf dem Scheiterhaufen liegen gesehen.“
Ich habe mir nicht versagen können, diese ganze, in ihrer poetischen Anschaulichkeit an Dante's göttliche Komödie erinnernde Stelle den Lesern in wörtlicher Übersetzung mitzuteilen, einmal weil sie das beste Beispiel der mythischen Darstellungsform ist, in die Plato, der größte Dichter unter den Denkern, seine esoterische Philosophie einzukleiden liebt; sodann weil dieser Mythos gerade die bedeutendsten Probleme der Transcendental-Philosophie beantworten will, so insbesondere das Problem der Freiheit des Willens und seiner Vereinbarkeit mit der empirischen Notwendigkeit alles Geschehens.
Wir sehen hier Plato als Vorgänger Kants und Schopenhauers, er will die Antinomie der Notwendigkeit alles empirischen Geschehens einerseits und der Wahlfreiheit und Verantwortlichkeit andererseits dadurch lösen, daß er letztere in das transcendente Sein verlegte. Bekanntlich leugnen sowohl Kant wie Schopenhauer auf Grund des Causalitätsgesetzes die Freiheit des menschlichen Willens in empirischer Beziehung; jede Handlung ist durch die beiden Faktoren, Charakter und Motiv, schlechthin bestimmt. Das Thun folgt ganz und gar aus dem Sein – operari sequitur 589esse –, der Charakter aber ist empirisch, – denn er wird erst an seinen Früchten, den Thaten, langsam im Verlauf des Lebens erkannt –, er ist konstant –, denn es ändert sich wohl mit der Erziehung der Vorrat möglicher Motive, d. h. die Erkenntnis, nicht aber der Charakter selbst, – er ist endlich angeboren; denn die Verschiedenheit des Handelns zweier Menschen von gleicher Erziehung, Bildung u. s. w. ist nur durch einen essentiellen Unterschied ihres Charakters erklärbar.
Um nun aber das dennoch vorhandene „völlig deutliche und sichere Gefühl der Verantwortlichkeit“ und Reue zu erklären, meinen sie, das Gefühl der Verantwortlichkeit gehe auf das Sein des Menschen; dasselbe sei für seinen angeborenen Charakter verantwortlich; und dieser kann natürlich nur wieder unter Voraussetzung einer vorgeburtlichen Wahl des Charakters bejaht werden. Der „intelligible“ Charakter, der Wille als Ding an sich, welcher aus der Realität der Erscheinungswelt hinausgerückt ist, hat sich nach Kant und Schopenhauer absolut frei selbst bestimmt. – Diese in ihrer abstrakten modernen Fassung sehr schwer verständliche Lehre unserer beiden berühmtesten deutschen Metaphysiker läßt sich nur durch obigen Mythos einigermaßen veranschaulichen; man kann darnach wenigstens ahnen, wie sie sich die Sache gedacht haben, wenngleich damit für die logische Zuverlässigkeit jener transcendentalen Lösung des Problems wenig gewonnen wird. Aber historisch wenigstens wird uns jenes Kantisch-Schopenhauersche Dogma begreiflich, wenn wir uns erinnern, daß beide Philosophen, auch Schopenhauer, dessen Leugnung der individuellen Unsterblichkeit nur eine scheinbare, auf die Erscheinung d. h. auf die empirische Individualität beschränkte ist, auf Platos Schultern stehen. Plato aber knüpft, wie nach den früher mitgeteilten Bruchstücken des Heraclit, Empedocles u. s. w. kaum hervorgehoben zu werden braucht, unmittelbar an die traditionelle, wahrscheinlich aus Egypten stammende Geheimlehre an.
Im Gespräche „Phaedrus“ wird die Unsterblichkeit der Seele von Plato in folgender Weise begründet (c. 24): „Jede Seele ist unsterblich. Denn das immerwährend Bewegte ist unsterblich; hingegen, was ein anderes bewegt und von einem anderen bewegt wird, hat, weil es einen Ruhepunkt der Bewegung hat, 590auch einen Ruhepunkt des Lebens; allein das sich selbst Bewegende, insofern es sich selbst nicht verläßt, hört niemals auf, bewegt zu werden, sondern auch für das übrige, was bewegt wird, ist dieses die Quelle und der Anfang der Bewegung; der Anfang aber ist ungeworden; denn aus einem Anfang muß alles Werdende werden, er selbst aber aus nichts; denn wenn der Anfang aus etwas würde, so würde er auch nicht von Anfang aus werden; da er aber ein Ungewordenes ist, so ist dies auch ein Unvergängliches; denn wäre ja der Anfang einmal zu Grunde gegangen, so würde weder er selbst aus etwas noch ein anderes aus ihm mehr werden, wofern das Gesamte aus einem Anfang werden soll. So also ist im Anfang der Bewegung das selbst sich Bewegende; von diesem aber ist es weder möglich, daß es zu Grunde gehe, noch daß es werde, oder es müßte das ganze Himmelsgebäude und jedes Werden überhaupt zusammenstürzend stillstehen und niemals mehr hernach etwas haben, von wo aus sie wieder in Bewegung gesetzt und werden könnten. Indem sich aber als unsterblich dasjenige gezeigt hat, was von sich selbst bewegt wird, so wird man eben dies als Wesen und Begriff der Seele zu bezeichnen keine Scheu haben; denn jeder Körper, für welchen das Bewegtwerden von außen kommt, ist unbeseelt, derjenige aber, für welchen es von innen aus ihm selbst sich ergiebt, ist beseelt, eben als wäre dies die Natur der Seele. Wenn aber dies sich so verhält, daß nichts anderes das selbst sich selbst Bewegende ist als Seele, so dürfte notwendig etwas Ungewordenes und Unsterbliches die Seele sein.“
Man sieht, wie derselbe Plato, der uns, sobald er mythisch schreibt, durch seine poetische Begabung ergötzt, so oft er dialektisch zu beweisen versucht, nichts anderes zustande bringt, als ein äußerst unerquickliches Drehen im Kreise vorgefaßter Behauptungen. Die Seele soll nun einmal unsterblich sein. Darum ist sie ein sich selbst Bewegendes. Ein sich selbst Bewegendes ist unsterblich. Darum ist die Seele unsterblich!
Im Timäus erhebt sich seine Darstellung des Unsterblichkeitsdogmas stellenweise allerdings in unbewußtem Widerspruch mit der „Beweisführung“ im Phädrus wieder zu einer ergreifenden poetischen Form (§ 55): „Als der Vater, welcher das All erzeugt hatte, es ansah, wie es belebt und bewegt und ein Bild der 591ewigen Götter geworden war, da empfand er Wohlgefallen daran, und in dieser Freude beschloß er dann, es noch mehr seinem Vorbilde ähnlich zu machen. Die Natur der höchsten Lebendigen war aber eine ewige (ohne Anfang), und diese auf das Entstandene vollständig zu übertragen, war eben nicht möglich.“
Er schuf die Sterne mit verschiedenen Umlaufszeiten als Werkzeuge der Zeit, ebenso Sonne und Mond; sie alle sind beseelt, sind Götter. Was die Volksgötter betrifft, so hält er es für das Beste, an dem bisherigen Glauben an sie festzuhalten, da die Erzählungen über sie von ihren Kindern herrühren. Nachdem nun Gott so alle Untergötter gebildet hat, spricht er zu ihnen (§ 67): „Göttliche Göttersöhne, deren Bildner ich bin und Vater von Werken, welche durch mich entstanden, unauflösbar sind, weil ich es so will, – ihr seid, weil ihr entstanden seid, zwar nicht schlechterdings unsterblich und unauflösbar, aber ihr sollt nicht aufgelöst noch des Todesgeschickes teilhaftig werden!“ – Diese Stelle hatte wohl Giordano Bruno im Auge, als er im Dialog cena de la ceneri I. 191 schrieb: Ma a costoro (i. e. mondi) come crede Platone me Timeo, e crediamo ancor noi (im Dialog von den Welten scheint er es, dem Anaximander S. 448 oben folgend, nicht mehr zu glauben) è stato detto del primo principio: voi siete dissolubili, ma non vi dissolverete![619]
Er trägt ihnen nun auf, zur Vervollständigung und in Nachahmung seiner Thätigkeit „die drei sterblichen Geschlechter“ zu schaffen, was er ja selbst nicht könne, da sie sonst nach seinem Urbild Götter würden, d. h. ohne Anfang, und fährt fort (§ 68): „So viel an ihnen dem Unsterblichen gleichnamig zu sein verdient, nämlich das göttlich zu Nennende und Leitende in ihnen, soweit sie stets dem 592Rechte und euch zu folgen geneigt sind, von dem will ich die Samen und Keime selber bilden und euch dann übergeben; in ihren übrigen Teilen aber sollt ihr, indem ihr mit diesem Unsterblichen Sterbliches verwebt, die lebendigen Geschöpfe vollenden.“
Zur Bildung der Seelensubstanz nimmt Gott dann Überreste derselben Bestandteile, aus welchen die Seele des Alls gebildet war, aber von minderer Reinheit. Sobald die Seelen in die Leiber kamen, entstanden Wahrnehmung und Empfindung, Erregung und die aus Lust und Schmerz gemischte Liebe. Wenn die Menschen ihre Erregungen beherrschen, leben sie gerecht, lassen sie sich aber von ihnen beherrschen, ungerecht.
„Wer die ihm zugemessene Zeit hindurch gerecht gelebt hat, der soll in die Behausung des ihm verwandten Gestirns zurückkehren und ein seliges und seiner Gewohnheit entsprechendes Leben führen; wer aber in diesem Leben gefehlt, kommt für einen nächsten Lebenslauf in den nächst niederen Grad des weiblichen Körpers und wenn es ihm dann noch nicht gelingt, sich von dem ihm anklebenden Schlechten zu befreien, so wird er so lange zu neuen Existenzen in die durch seine Laster ihm verwandten Tiere verwandelt werden, bis es ihm endlich gelingt, durch die Vernunft des Schlechten Herr zu werden und zu seiner früheren, edelsten Beschaffenheit zurückzukehren.“
In einem späteren Teile des Timäus wiederholt Plato, daß Gott sich vorbehalten habe, das Göttliche im Menschen selbst zu bilden, die Entstehung des Sterblichen aber seinen eigenen Erzeugten aufgetragen habe. § 164: „Diese nun, in Nachahmung seiner, umwölbten die überkommene unsterbliche Grundlage der Seele ringsherum mit einem sterblichen Körper“, und legten im Körper noch eine andere Art von Seele, die sterbliche an, „welche gefährliche und der blinden Notwendigkeit folgende Eindrücke aufnimmt, die Lust, die stärkste Lockspeise des Bösen, dann den Schmerz, den Verscheucher des Guten, ferner Mut und Furcht, zwei thörichte Ratgeber, schwer zu besänftigenden Zorn und leicht verlockende Hoffnung“, endlich die Triebe. Aus Scheu, das Göttliche, das in den Kopf verpflanzt wurde, durch Berührung mit dem minder Edlen zu beflecken, wurde zwischen den Kopf und den übrigen Körper der Hals eingeschoben; in die Brust wurde der edlere Teil der 593sterblichen Seele verpflanzt, während der Teil der Seele, der Begierde nach Speise und Trank trägt, in die Gegend zwischen Zwergfell und Nabel versetzt und hier angebunden wird, „wie ein wildes Tier, das aber wegen der Verbindung, in welcher es mit dem Ganzen steht, notwendig ernährt werden mußte, wenn einmal ein Geschlecht sterblicher Wesen entstehen sollte.“ In der „Königsburg“ des Kopfes aber thront die unsterbliche Seele, die lenkt und erforscht, was zum gemeinsamen Besten des irdischen Wesens frommt, wie ein „Schutzgeist“, der (§ 236) „uns über die Erde zur Verwandtschaft mit den Gestirnen erhebt, als Geschöpfe, die nicht irdischen, sondern überirdischen Ursprungs sind.“ „Wer sich den Begierden oder dem Ehrgeize hingiebt, wird nur sterbliche Meinungen in sich erzeugen“, und zieht nur das Sterbliche in sich groß; wer dagegen die Kraft des Wissens vor allen anderen Kräften seiner Seele geübt hat, wird unsterbliche und göttliche Gedanken in sich tragen, und wird, soweit die menschliche Natur der Unsterblichkeit fähig ist, solche erreichen und glückselig sein.
Ohne jede Anspielung auf das Dogma von der Seelenwanderung behandelt Plato das Unsterblichkeitsproblem im „Gastmahl“, hier läßt er den Sokrates folgende, diesem durch die weise Diotima aus Mantinea erteilte Offenbarung in einer Lobrede auf den Eros wiedergeben: Eros sei eigentlich, da er das Verlangen nach dem Schönen und Guten personifiziere, also noch nicht im Besitze derselben sei, noch kein Gott, sondern nur ein großer Dämon zu nennen. Dieser Dämon ist es, der den Göttern die Bitten und Aufträge der Menschen, den Menschen aber die Aufträge, Vergeltungen und Belohnungen der Götter vermittelt. Er ist das Prinzip der Wahrsagung und der priesterlichen Kunst. Denn Gott verkehrt nicht unmittelbar mit Menschen, Eros vermittelt den Verkehr mit ihm, ob nun die Menschen schlafen oder wachen. Eros ist der Sohn der „Penia“ (Armut) und des Überflusses „Poros“. Als der „Liebende“ ist er nicht an sich schön und gut, sondern er sehnt sich nach dem Schönen und Guten, weil er es wenigstens noch nicht dauernd besitzt. Um des Schönen und Guten immerwährend teilhaft zu werden, muß ein geistiges Gebären eintreten, 594das aber nur durch eine Übereinstimmung des Göttlichen mit dem Schönen möglich wird. „Ein Weltschicksal und ein geburtshelfendes Wesen ist die Schönheit für alles Entstehen.“ Dieser Vorgang ist aber etwas Göttliches, und dieses wohnt dem lebenden Wesen, welches sterblich ist, als etwas unsterbliches inne. Wenn aber Eros sich nach dem Guten und Schönen sehnt, so kann er, wie im leiblichen den Wunsch nach Fortdauer der Gattung, auch den Wunsch nach (individueller) Fortdauer im geistigen Sinne nicht aufgeben: er wünscht, unsterblich zu sein(!) Nun aber verändert sich der Mensch zwar geistig und körperlich, – in Neigungen, Streben und Kenntnissen, sowie im leiblichen Wachsen, – unaufhörlich und bleibt doch fortwährend derselbe. Alles Sterbliche wird so bewahrt, nicht dadurch, daß es ganz und gar identisch bleibt, wie das Göttliche, sondern dadurch, daß es bei seinem Entweichen und Veralten ein anderes, neues, gerade wie es selbst, zurückläßt. „Durch diese Veranstaltung hat das Sterbliche an Unsterblichkeit teil, sowohl in seinem Körper als auch in allem Übrigen, das Unsterbliche aber durch eine andere.“ In dieser Weise z. B. streben die Ehrgeizigen mit Hintansetzung alles anderen darnach, ein unsterbliches Andenken zu hinterlassen; so wäre nicht Alkeste für Admetos, Patroklos für Achilles, so wäre nicht Kodros gestorben, wenn sie nicht nach unsterblichen Andenken gestrebt hätten. Die geistigen Kinder stehen unendlich höher, als die leiblichen, und wer hätte nicht gewünscht, Kinder zu hinterlassen, wie dies Homer und Hesiod, Solon und Lykurg mit ihren Schöpfungen gethan! Solchen Vätern habe man wohl auch Tempel errichtet, nicht aber Vätern leiblicher Kinder. Wer geistige Kinder erzeugen wolle, der müsse sich früh bemühen, an Schönem Gefallen zu finden, und aufsteigen vom körperlich Schönen zu schönen Gedanken, Reden, Kenntnissen, und so werde er endlich bei der „Kenntnis des Urschönen“ anlangen. „Wer aber das Urschöne lauter, rein und unvermischt geschaut, wird nur Vortrefflichkeit erzeugen. Hat er aber wahre Vortrefflichkeit erzeugt und aufgenährt, so ist es sein Anteil, daß er gottgeliebt, und wenn je irgend ein anderer Mensch, auch er unsterblich wird.“ –
Wir haben im Gastmahl den ersten Keim jener ästhetischen Mystik, die später hauptsächlich von Plotin, endlich von Giordano 595Bruno in seinen eroici fuori und zuletzt von Schiller (Ideal und Leben, Briefe über ästhet. Erziehung) gepflegt worden ist; offenbar knüpft Plato an die zum Mythenkreise der eleusinischen Mysterien gehörige Fabel von Eros und Psyche an, deren esoterische Tendenz ich in meinem gleichnamigen Gedichte (Verlag von Rauert & Rocco) neugestaltet und in folgenden Schlußversen zum Ausdruck gebracht habe:
Es kann schon nach den wenigen mitgeteilten Auszügen aus seinen Hauptschriften nicht auffallen, daß die Unsterblichkeitsidee Platos zu vielfachen Kontroversen Anlaß gegeben hat. Besonders dreht sich der Streit darum, ob er Seele und Leib, Geist und Materie einander gegenüberstellt habe, also „Dualist“ gewesen oder ob er als Monist zu betrachten sei und die Einheit des Ganzen gelehrt habe, ferner ob er eine individuelle (persönliche) Unsterblichkeit oder nur eine Unsterblichkeit der in den Einzelnen sich offenbarenden Idee, der Gattung niederen oder höheren Grades, habe lehren wollen.
Uns scheint, daß dieser Streit um deswillen niemals mit streng geschichtlicher Kritik erledigt werden kann, weil nichts wahrscheinlicher ist, als daß Plato in verschiedenen Zeiten und bei Abfassung verschiedener Schriften in der That verschieden darüber gedacht hat. Auf ein streng gegliedertes Gedankensystem ist es ihm eben niemals angekommen. Am besten charakterisiert ihn wohl Dühring, krit. Geschichte der Philosophie, S. 100, 101: „Für die dichtende Phantasie ist Vieles vereinbar, was für den weniger losgebundenen Verstand bei näherer Untersuchung als Widerspruch hervortritt. Die künstlerische Darstellung kann daher eine Fülle von Ideen dialogisch vorführen, ohne daß sie genötigt wäre, in jedem Falle 596selbst einen markierten Standpunkt einzunehmen. Ihre Stärke wird vielmehr in der lebendigen, dem Wesen der dichterischen Vertiefung entsprechenden Reproduktion der mannigfaltigsten Gedanken zu suchen sein. Löst sie diese Aufgabe noch mit jener besonderen Grazie, die dem in Rede stehenden Philosophen einen großen Teil seines Zaubers verliehen hat, so wird man füglich hinreichend befriedigt sein, wenn man anstatt der strengeren Systematik nur einen leitenden Grundgedanken eigner Konzeption antrifft. Ein solcher Gedanke, der an sich gleichsam den Rohstoff zu dem strengsten System abgeben könnte, ist bei Plato die Vorstellung von einer den edelsten Typus der Existenzen enthaltenden, schöpferisch wirksamen und für die Gestaltung der Dinge vorbildlichen Idee. Die Erfassung der ideellen Muster, hinter denen das wirkliche Dasein mit seinen Gestaltungen zurückbleibt, diese metaphysische künstlerische Vertiefung in das, was aus den lebendigen Gestalten der Natur und besonders aus der Erscheinung der Menschen spricht, macht nicht nur Platos Eigentümlichkeit aus, sondern stimmt vollkommen mit dem dichterisch gearteten Wesen seines ganzen Philosophierens, ja sogar mit einem Grundzuge des griechischen Geistes überein.“
Dieser leitende Grundbegriff ist das einzige, was neben dem ästhetischen Genusse, den uns die Lektüre seiner Schriften bereitet, einen Plato auch für die moderne wissenschaftliche und im edleren Sinne positivistische Philosophie wertvoll erscheinen läßt.
Im übrigen mag A. Niemann, (Die Menschenseele, Platons esoterische Lehre; Sphinx IV, 22) geschichtsphilosophisch das Richtige getroffen haben, wenn er die Hauptsätze dieses Philosophen kurz dahin resümiert:
1. Ein jeder Mensch will stets das Gute und thut das Böse nur unfreiwillig.
2. Das Gute für den Menschen ist die Tugend, und die menschliche Tugend ist die vollkommene Beschaffenheit des Menschen.
3. Die Tugend des Menschen ist Tugend durch die Parusie der göttlichen Tugend; vollkommen ist nur diese, die menschliche aber nicht.
4. Der Mensch ist Eins, wie Gott Eins ist, sein Leib ist die Erscheinung seiner Seele, wie die sichtbare Welt die Erscheinung der Gottheit ist. (An diesem „Monismus“ der Seelenlehre Platons, als seine esoterische Theorie hält Niemann im Gegensatz zu dem seiner Ansicht nach mehr exoterisch geschriebenen Dialog Phädons hauptsächlich unter Berufung auf den oben erwähnten Dialog: Parmenides fest.)
5. Die Seele des Menschen ist ohne Anfang und kehrt, je nach ihrer größeren oder geringeren Vollkommenheit in bestimmten Zwischenräumen in menschlichen Körpern auf Erden wieder, während ihr in den Zwischenräumen der Anblick des Seienden, der idealen Tugend vergönnt wird.
6. Das menschliche Bewußtsein ist ein Zustand der Erinnerung an das Seiende und wird geweckt durch den Anblick der Erscheinungen im Himmel (Gestirne) und auf Erden, die ein Spiegelbild des Seienden sind.
7. Die Gottheit vernachlässigt und versäumt nichts, sie sorgt für das Kleine wie für das Große und bringt die Seelen der Menschen immer an den für sie geeigneten Platz.
Niemann schließt dieses Resümé mit der Bemerkung: „Anders, als in solcher Allgemeinheit über Platos Philosophie zu reden, ist unmöglich für jeden, der nicht mit Sehergabe ausgerüstet seine Schriften liest. Denn die wichtigsten und entscheidenden Stellen sind stets nur den ‚Bacchen‘ verständlich gewesen; sie bilden offenbar eine Geheimlehre.“
Die Fachphilosophie ist immer noch geneigt, in Aristoteles den vollendetsten Vertreter des griechischen Denkertums zu erblicken. Diesem Urteil können wir unmöglich beipflichten. Aristoteles war lediglich im vollkommensten Sinne das, was man einen Polyhistor oder Vielwisser nennt; wenn man will, ein Universal-Gelehrter, auf keinen Fall aber ein Universalgenie. Seine Belesenheit ist eine erstaunliche, und schon Plato soll ihm den Beinamen „der Leser“ gegeben haben. Für uns liegt aber darin, daß wir durch Aristoteles indirekt die Lehren der früheren griechischen Denker kennen lernen können, da er nach der Art eines gründlichen Gelehrten die ihm im weitesten Sinne zugänglich gewesene Litteratur verwertet hat, seine beste Seite. Seine eigenen Lehren, obwohl wir ihnen ein gewisses Maß methodischer Schärfe und Gründlichkeit nicht absprechen wollen und können, sind in wichtigen Punkten nichts weniger als klar und originell. Andererseits hat aber bekanntlich der in ihnen vorwaltende rein formell logische Charakter nicht wenig zur Begründung der Scholastik beigetragen, mit deren letzten Resten erst unsere modernste Ära aufgeräumt hat; beispielsweise kleben dem großen Philosophen Kant die scholastischen Eierschalen noch in einem solchen Grade an, daß Schiller bei demselben (in einem Briefe an Körner) nicht mit Unrecht etwas „Mönchisches“ konstatieren konnte. Die Morgenröte der modernen Zeit, die Renaissance, begann daher mit einem heftigen Kampfe gegen die wissenschaftliche Autorität des Aristoteles. Das Mittelalter kannte eben von den gesamten Denkarbeiten des Altertums kaum etwas Anderes als die Schriften des Aristoteles. Ein Plato wurde erst durch die 599byzantinischen Gelehrten, welche nach der Eroberung Konstantinopels ihre Zuflucht in Italien suchten und damit den ersten Anstoß zur Renaissance d. h. zur Wiedergeburt der Wissenschaft und Kunst gaben, im vollen Umfange bekannt. Besonders war es Georgios Gemistos (Plethon), der den Neuplatonismus und damit eine erste prinzipielle Gegnerschaft gegen den Aristotelismus des Mittelalters wiedererweckte. Der erste bedeutende Platoniker des Abendlandes erstand dann in Marsilius Ficinus. Bei den Scholastikern ging die Vergötterung des Aristoteles in der That ins Unglaubliche; jeder Zweifel an seine Allwissenheit galt geradezu als crimen laesae majestatis. Die Werke des Aristoteles und noch dazu in ihrer unkritischen aus dem Arabischen übersetzten Form bildeten die Bibel, den papiernen Pabst, der jeden Fortschritt der Wissenschaft hemmte. Man bedenke, daß Ramus, ein Zeitgenosse Brunos, welcher die Autorität des Aristoteles auf logischem Gebiete anzufechten wagte, wie Bruno auf physischem oder naturphilosophischem, bloß deshalb als ein Opfer eines Meuchelmords auf dem Katheder fiel. (1572.) Diese Überschätzung übernahm die europäische Scholastik von den Arabern. Der arabische Kommentator des Aristoteles, Averroës, von den Scholastikern auch schlechthin der Kommentator genannt, schreibt in seiner Vorrede zur Aristotel. Physik:
Complevit, quia nullus eorum, qui secuti sunt eum usque ad hoc tempus, quod est mille et quingentorum annorum, quidquam addidit, nec invenies in ejus verbis errorem alicujus quantitatis, et talem esse virtutem in individuo uno miraculosum et extraneum extitit, et haec dispositio, cum in uno homine reperitur, dignus est esse divinus magis quam humanus. – Aristotelis doctrina Summa Veritas, quoniam ejus intellectus fuit finis humani intellectus. 1. Destruct. disp. 3.
Noch Malebranche, recherche de la verité II. c. 23 hält es für erforderlich, gegen die allgemeine Anbetung des Aristoteles, deren psychologische Wurzel er in der ansteckenden Wirkung der Phantasie findet, zu polemisieren. Augenscheinlich verwertet er dabei einen Gedanken Giordano Bruno's, wenn er z. B. schreibt:
On ne considère pas qu' Aristote, Platon, Epicure étaient hommes comme nous et de même espèce que nous: 600et de plus qu' au temps, où nous sommes, le monde est plus âgé de deux mille ans, qu'il a plus d'expérience, qu'il doit être plus éclairé et que c'est la vieilleisse du monde et l'expérience, qui font découvrir la vérité.
Dieser geistreiche Gedanke, der ähnlich bei Bacon von Verulam, bei Pascal und Descartes wiederholt wird, findet sich zuerst bei Bruno, cena de ceneri (IV. 1.) Vergl. Brunnhofer, Festschrift zur Feier der am 9. Juni 1889 in Rom stattgehabten Enthüllung des Bruno-Denkmals (Rauer & Rocco 1890).
Übrigens wird Bruno und vor allem Ramus, Pascal, Malebranche in begreiflicher Weise oft ungerecht gegen Aristoteles, und Lewes (Aristoteles, ein Abschnitt aus der Geschichte der Wissenschaft S. VII) dürfte den Streit um die richtige Würdigung dieses immerhin eminenten philosophischen Vielwissers am besten in dem Boileau'schen Verse erledigt haben:
Aristoteles war im Jahr 384 zu Stagira, einer Stadt Thraciens geboren. Mit Recht nennt ihn daher Bernays (Dial. d. Aristot. 2, 55) einen Halbgriechen. Wer wenigstens die große naturwüchsige Bedeutung der Rasse nicht verkennt und zugleich einiges Gefühl für die entscheidendsten Eigentümlichkeiten des reinhellenischen Typus besitzt, wird in Anbetracht der Thatsache, daß die Bevölkerung Thraciens und Makedoniens nur sehr dünn mit hellenischem Blute gemischt war, diese auch schon von W. Humboldt gemachte Bemerkung nicht mißbilligen. Auch bei den sog. deutschen Denkern d. h. bei denen, die innerhalb des geographischen Deutschlands gelebt und geschrieben haben, ist es oft von Interesse, ihre unzweifelhaft undeutsche Denkungsart aus dem bedenklichen Mischcharakter großer Teile[620] der deutschen Bevölkerung zu erklären; so z. B. ist der sorbisch-slawische Typus der sog. kursächsischen Bevölkerung (Thüringen, Königreich und Provinz Sachsen) in einem „Nietzsche“ unverkennbar.
Der Vater des Aristoteles war Leibarzt des makedonischen Königs, und es scheint der ärztliche Beruf ein altes Erbteil seines Geschlechts gewesen zu sein. Nach dem Tode seiner Eltern soll ein gewisser Proxenos aus Atarneus seine Erziehung übernommen haben. In seinem achtzehnten Lebensjahr kam Aristoteles nach Athen, wo er in den Schülerkreis Platos eintrat, dem er bis zu dessen Tode (347) angehört hat. Einige Zeit vor Platos Tode soll jedoch bereits ein Zerwürfnis zwischen ihm und dem Meister ausgebrochen sein. Nach einem Berichte Aelians (V. H. III. 19) soll Aristoteles, als Plato bereits 80jährig und deshalb schwachen Gedächtnisses gewesen, während Xenokrates und Speusippos, die Lieblingsschüler und Vertreter des bejahrten Meisters, abwesend waren, von einer durch ihn gebildeten Clique unterstützt, mit Plato eine Streitunterredung angefangen und den Greis dabei in böswilliger Weise so in die Enge getrieben haben, daß sich dieser aus den Hallen der Akademie in seinen Garten zurückgezogen habe. Erst nach drei Monaten, als Xenokrates zurückkam, habe dieser den Aristoteles genötigt, den streitigen Raum Plato wieder zu überlassen. Die Erzählung kennzeichnet wenigstens den Beginn kleinlicher Gelehrten-Konkurrenz, wie sie seit dem mit Aristoteles gewissermaßen beginnenden Zeitalter der Alexandriner den Verfall der Philosophie zu einer bloßen Schulweisheit begleitet. Daß übrigens Plato den Aristoteles nicht gerade zu seinen berufensten Schülern gerechnet hat, ist auch abgesehen von der ziemlich gut verbürgten Bezeichnung desselben als „bloßer Leser“ schon aus einem Vergleich der grundsätzlich verschiedenen Naturen, die auch auf die philosophische Auffassung zurückwirken mußten, mehr als bloß wahrscheinlich. Nach dem Tode Platos begab er sich mit dem Platoniker Xenokrates nach Mysien zum Fürsten Hermias, wo er drei Jahre verblieb. Als Hermias durch Verrat in die Gewalt der Perser geriet, nahm Aristoteles, der inzwischen die Pythias, nach einigen eine Nichte, nach anderen eine Schwester des befreundeten Fürsten geheiratet hatte, seine Zuflucht zunächst nach Mytilene. Von hier aus wurde er 343 oder 342 v. Chr. von Philipp an den makedonischen Hof berufen, um die Erziehung des jungen, damals 13jährigen Alexander zu leiten, welcher er sich bis zu dessen 16. Lebensjahre widmete. Der Unterricht mußte aufhören, weil 602Alexander schon in diesem Lebensjahre von seinem Vater zum Reichsverweser bestellt wurde. Aristoteles scheint sich jetzt zunächst in seine Vaterstadt zurückgezogen zu haben, von wo er jedoch bald nach dem Ende Philipps, jedenfalls vor Beginn des großen Eroberungsfeldzugs Alexanders nach Athen übersiedelte. Hier gründete er im Lyceum seine eigene Schule, deren Mitglieder infolge der Aristotelischen Gewohnheit, die Unterredungen im Auf- und Abgehen in den Promenadengängen des Lyceum zu führen, den Namen Peripatetiker erhielten.
Die Hilfsmittel, deren er zu seinen weitschichtigen, das ganze damalige Wissensgebiet umfassenden Arbeiten bedurfte, bot ihm Alexanders königliche Freigebigkeit im größten Maßstabe; Plinius berichtet, Alexander habe ihm alle Fischer, Jäger und Vogelsteller seines Reiches, alle Aufseher königlicher Jagden, Fischteiche, Heerden u. s. w., mehrere tausend Menschen allein zu Zwecken naturgeschichtlicher Forschungen zur Verfügung gestellt. Auch war Aristoteles, der übrigens selber wohlhabend war, durch jene Hülfsquelle nicht nur in der Lage, sich die kostspieligste Privatbibliothek anzuschaffen, sondern auch über die Verfassungen und Gesetze ausländischer Staaten mühsame Erkundigungen einzuziehen, wofür auch das erst kürzlich wiederentdeckte Buch über den Staat der Athener einen Beweis liefert.
In den letzten Lebensjahren trübte sich das Verhältnis zu seinem edlen Zögling und Begünstiger, hauptsächlich wohl, weil Kallisthenes, ein Verwandter des Aristoteles, den dieser selbst dem Könige als Begleiter empfohlen hatte, mit Recht oder Unrecht in den Verdacht geriet, sich an einer Verschwörung gegen das Leben Alexanders beteiligt zu haben, und infolge dieser Anklage das Leben verlor.
Nach dem Tode Alexanders, nach zwölfjähriger Wirksamkeit als Lehrer und Schriftsteller in Athen, wurde er durch eine Anklage wegen Atheismus, die von der national-hellenischen Partei (Demosthenes) ausging und die Religion wohl nur zum Vorwand nahm, veranlaßt, sich nach Chalcis auf Euböa zurückzuziehen. Hier erlag er schon im folgenden Jahre, im Sommer 322, einer Krankheit. Die Erzählung, er habe sich in den Euripus gestürzt, weil es ihm nicht gelungen sei, die Erscheinungen der Ebbe und Flut zu erklären, 603ist, wie Dühring (Krit. Gesch. der Phil., S. 115) bemerkt, mindestens gut erfunden. „Sie kennzeichnet uns jenen Sinn, der die Theorie als Attribut der Götter nahm und in ihr den Schwerpunkt des höchsten Lebens voraussetzte.“
Aristoteles hat außerordentlich[621] viele Schriften hinterlassen; etwa der sechste Teil seiner Werke mag uns erhalten sein; allerdings auch dieser nur in einer sehr fragwürdigen Gestalt, die dem Streit über Echtheit und Authentizität sowohl ganzer unter seinem Namen kursierender Schriften, wie auch einzelner Abschnitte großen Spielraum läßt. Die auffälligen Unordnungen und nicht seltenen Wiederholungen in einer und derselben Schrift scheinen die Vermutung zu unterstützen, daß wir größtenteils nur mündliche, von Schülern redigierte Vorträge vor uns haben.
Schon das Altertum teilte seine Schriften ihrem Werte nach in zwei Klassen, in exoterische und esoterische ein, welche letztere auch akroamatische genannt wurden. Aristoteles soll nämlich im Lyceum des Morgens vor einer größeren Anzahl von Zuhörern in populärer Weise seine Lehren, besonders diejenigen über Logik, Rhetorik, Politik und Naturgeschichte vorgetragen, abends aber in vertrauterem Kreise seine eigentlichen metaphysischen, wir dürfen auch geradezu sagen „occultistischen“ Theorien entwickelt haben. Die letzteren Vorträge nannte man akroamatische. Offenbar lag es jedoch dem Aristoteles nicht sehr an ihrer Geheimhaltung; denn daß er sie selber noch veröffentlicht hat, beweist ein schon von Andronikus mitgeteilter Brief Alexanders an ihn, in dem dieser ihm wegen der Veröffentlichung der akroamatischen Schriften (gewissermaßen collegia privatissima) Vorwürfe macht. Aristoteles erwidert darauf, daß er sich in seinen akroamatischen Schriften absichtlich einer Darstellungsform bedient habe, die sie andern, als seinen Schülern unverständlich mache. (Gellius XX, 5).
Da uns nur diejenigen Schriften des Universalgelehrten des Altertums interessieren, die eine occultistische Beziehung im Sinne 604der Vorrede haben, so gehen uns wesentlich nur die Bücher über Metaphysik, Physik, sowie die über Psychologie und über Schlaf und über Träume an, während wir gerade die verdienstlichste Seite der aristotelischen Arbeitsleistung, diejenige über Logik, Ethik, Politik und Ästhetik links liegen lassen müssen.
Um den metaphysischen Standpunkt des Aristoteles zu verstehen, muß man von seiner Kritik der Platonischen Ideeenlehre ausgehen. Die Annahme von Ideeen ist nach Aristoteles nicht begründet. Denn unter den platonischen Beweisen für dieselbe ist keiner, der nicht von entscheidenden Einwürfen getroffen würde, und was durch die Ideeen erreicht werden soll, das ist auch ohne dieselben zu erlangen; ihr Inhalt ist ganz derselbe, wie der der diesseitigen Dinge, im Begriff des Menschen „an sich“ z. B. sind dieselben Merkmale enthalten, wie im Begriff des Menschen überhaupt, er unterscheidet sich von diesem nur durch das Wort „an sich“. Die Ideeen sind eine unzulässige Hypostasierung, eine überflüssige Verdoppelung der Dinge in der Welt. Dies gilt sogar von ethischen, für die auch Kant die Gültigkeit der Ideeenkonzeption in Anspruch nimmt. Auch die ethischen Begriffe lassen sich nicht schlechthin von ihren Gegenständen trennen: es kann keine für sich bestehende Idee des Guten geben; denn der Begriff des Guten kommt in allen möglichen Kategorien vor, und bestimmt sich je nach verschiedenen Fällen verschieden. Auch sind die Bestimmungen der Urbildlichkeit und der Teilnahme, auf die Plato das Verhältnis der Ideeen zum empirischen Sein zurückführt, leere Bilder. Vor allem fehlt den platonischen Ideeen das bewegende Prinzip, ohne das doch kein Werden und keine Naturerklärung möglich ist.
Die Wissenschaft hat es mit dem Wirklichen zu thun. Die allgemeinen Begriffe aber bezeichnen immer nur gewisse Eigenschaften der Dinge, sind nur Prädikats-, – nicht Subjektsbegriffe; und auch wenn eine Anzahl solcher Eigenschaftsbegriffe zum Gattungsbegriff zusammengefaßt wird, so erhalten wir nur ein nomen, keine Substanz. Substantiell ist nur das Einzelwesen.
Dennoch aber kehrt Aristoteles, indem er nun das Einzelwesen und seine Entstehung zu begreifen versucht, wieder zu einem unsinnlichen Träger der Einzelwirklichkeit zurück, der der Platonischen Idee, abgesehen von den Allgemeinbegriffen, so ähnlich 605ist, wie ein Ei dem andern, nur daß er sie mit Aktualität d. h. mit schaffender Thätigkeit ausrüstet; und diese neue Aristotelische Idee heißt Form. So gewiß die Wahrnehmung etwas anderes ist, als das Wissen, sagt er mit Plato, so gewiß muß auch der Gegenstand des Wissens ein anderer sein, als die sinnlichen Dinge. Alles Sinnliche ist vergänglich und veränderlich, es ist ein Zufälliges, das so oder anders sein kann; das Wissen dagegen bedarf eines Gegenstandes, der ebenso unveränderlich und notwendig ist, wie es selbst. Dieser Gegenstand aber ist die Form; und diese ist zugleich die unentbehrliche Bedingung alles Werdens; alles Werden wird aus etwas zu etwas, das Werden besteht darin, daß ein Stoff eine bestimmte Form annimmt; diese Form muß daher von jedem Werden als das Ziel desselben gegeben sein, und allem Gewordenen als ungewordene Form vorausgehen.[622]
Aus demselben Grunde aber muß der Form der Stoff, als etwas ebenfalls ewig Vorhandenes, Ungewordenes gegenüberstehen. Der Stoff oder die Materie ist das Substrat, die Möglichkeit des Werdens passiv, die Form aktiv.
Die Materie des Aristoteles ist eine vom modernen, besonders vom materialistischen Materien-Begriff wohl zu unterscheidende metaphysische Abstraktion. Sie ist das völlig Prädikatlose, Unbestimmte, Unterschiedslose, Dasjenige, was allem Werden als Bleibendes zu Grunde liegt und die entgegengesetzten Formen annimmt, das, was alles der Möglichkeit nach und nichts der Wirklichkeit nach ist, das rein potentielle Sein ohne alle und jede Aktualität. Da das Bestimmungslose nicht erkannt werden kann, so ist die Materie als solche unerkennbar. Alle Eigenschaften der Dinge, alle Bestimmtheit, Begrenzung und Erkennbarkeit fallen auf die Seite der Form. Jene völlige Bestimmungslosigkeit und Unerkennbarkeit gilt eben nur von der ersten Materie, dem Stoff an sich, welcher allen Dingen zu Grunde liegt. Es hat aber andererseits auch jedes Ding seinen eigentümlichen letzten Stoff, und zwischen beiden liegen alle stofflichen Gestaltungen in der Mitte, welche der Grundstoff durchlaufen muß, um der bestimmte Stoff zu werden, mit dem sich die Form des Dings unmittelbar verbindet. Die 606Elemente z. B., welche den Stoff aller anderen Körper enthalten, sind Formen des Urstoffs; das Erz, welches der Stoff einer Bildsäule ist, hat als dieses Metall seine eigentümliche Form; die Seele ist zwar die Form ihres Körpers, in ihrem höchsten und von der Materie entferntesten Teile sind aber wieder zwei Elemente zu unterscheiden, die sich untereinander wie Form und Stoff verhalten.
Die Form stellt sich in der Erscheinung unter der Gestalt einer dreifachen Ursächlichkeit dar, im Stoffe liegt der Grund alles Leidens und aller Unvollkommenheit, der Naturnotwendigkeit und des Zufalls.
Die reine Form bezeichnet Aristoteles auch mit der unübersetzbaren Formel τὸ τὶ ἦν εἶναι, wörtlich „das was war Sein“. Gewöhnlich legt man dieselbe aus als das Sein, was dem Gewesensein entspricht und daher das sich gleich Bleibende ist, der Begriff des Wesens, der reine Begriff.
Der Begriff jedes Dings ist von seinem Zwecke nicht verschieden, da alle Zweckthätigkeit der Verwirklichung eines Begriffes gilt; zugleich ist derselbe auch die bewegende Ursache, mag er nun das Ding als seine Seele von innen heraus in Bewegung setzen oder mag ihm seine Bewegung von außen kommen. Die reine Form, welche, da alles gegebene Sein, alle Einzelsubstanz, Alles, was ein Dieses ist, aus Form und Stoff besteht, im gegebenen Reiche des bestimmten Seins nicht existiert, ist also die oberste Ursache oder die Gottheit, die den höchsten Zweck der Welt und den Grund ihrer Bewegung vereinigt.
Der reine Stoff andrerseits ist das der Form widerstrebende; von ihm rührt alle Zufälligkeit und Unvollkommenheit in der Natur her. Zufällig ist nämlich das, was einem Dinge gleichsehr zukommen und nicht zukommen kann, τὸ συμβεβηκός, was nicht in seinem Wesen enthalten und durch die Notwendigkeit seines Wesens gesetzt ist, was daher weder notwendig noch in der Regel stattfindet. Allem Einzelsein haftet daher eine Unvollkommenheit an. Daß aller Stoff Form werde, alles Vermögen Wirklichkeit, alles Sein Wissen, ist zwar eine Forderung der Vernunft und das Ziel alles Werdens, – aber unvollziehbar, da die Materie als „Beraubung“ der Form (στέρησις) niemals ganz zur Wirklichkeit und somit zur Erkenntnis kommen kann.
In dem hier klar werdenden Dualismus zwischen Form und Stoff liegt eine Schwierigkeit, ja ein Widerspruch, der uns auch die Zweideutigkeit vieler einzelner Sätze des Systems begreiflich macht. Mit Recht bemerkt schon Locke, daß die Gelehrten über die wahre Meinung des Aristoteles in vielen der wichtigsten Punkten wohl niemals einig werden würden.
Einmal soll nach Aristoteles, – im Gegensatz zu Plato, – nur das Einzelwesen für etwas Substantielles im vollen Sinne gelten. Der Grund des Einzelwesens, des Bestimmten, aber soll in der Form als dem Bestimmenden liegen. Volle und ursprüngliche Wirklichkeit soll nur der Form zukommen, der Stoff soll nur die bloße Möglichkeit desjenigen sein, dessen Wirklichkeit die Form ist. Die Form wird also der Substanz gleich gesetzt. Dann wird aber doch wieder der Stoff als die Unterlage alles Seins, als das Beharrliche im Wechsel bezeichnet; und indem die reine Form immer ein Allgemeines bleibt, das Einzelwesen erst durch Verbindung derselben mit der Materie entsteht, wird also der eigenschafts- und bedingungslose Stoff als dasjenige statuiert, was die individuelle Bestimmtheit der Einzelwesen erzeugt.
Einerseits polemisiert Aristoteles gegen den platonischen Idealismus, wonach das wahre Wesen der Dinge, die doch erst durch den Stoff wirklich werden, in der Form sucht. Bald erscheint die Form, bald jedoch wieder das aus Form und Stoff zusammengesetzte Einzelwesen als das Wirkliche.
Diese Doppeldeutigkeit macht sich zunächst fühlbar, wenn es sich darum handelt, eine klare Vorstellung von dem Gottesbegriff des Aristoteles und dem Verhältnis Gottes zur Welt zu beschaffen.
Gott ist die reine Form, der erste Beweger, schlechthin unkörperlich, unteilbar und außer dem Raume, reine Energie. Eine schlechthin unkörperliche Substanz ist eine bloß denkende Substanz. Gott ist absolute Denkthätigkeit. Er denkt sich selbst; sein Denken ist Denken des Denkens. Aristoteles gilt insofern als der erste wissenschaftliche Begründer des Theismus; denn er will die Gottheit als selbstbewußten (reinen) Geist gefaßt wissen.
Wie aber kann dieser bloß denkende reine Geist zugleich der erste Beweger sein? Hierauf antwortet er: „Gott bewegt die Welt also: was begehrt und gedacht wird, bewegt, ohne sich zu bewegen. 608Dieses beides aber ist auf der höchsten Stufe dasselbe (der absolute Gegenstand des Denkens ist ebendamit das absolute Begehrenswerte, das Gute schlechthin); denn Gegenstand des Verlangens ist das anscheinend Schöne, ursprünglicher Gegenstand des Wollens das wirklich Schöne, das Begehren aber hat in der Vorstellung (vom Wert des Gegenstands) seinen Grund, nicht diese in jenem. Das erste mithin ist der Gedanke. Das Denken aber wird vom Denkbaren bewegt, an und für sich denkbar aber ist nur die eine Reihe, und in dieser ist das erste das Wesen, und zwar das einfache und schlechthin wirkliche.“ „Die Zweckursache bewegt nur das Geliebte, und durch das (von ihr) bewegte bewegt sie das übrige.“ Gott ist also das erste Bewegende nur, sofern er der absolute Zweck der Welt ist, gleichsam der Regent, dessen Willen alles gehorcht, der aber nicht selbst Hand anlegt. Dieses ist er aber deshalb, weil er die absolute Form ist. Wie die Form überhaupt die Materie dadurch bewegt, daß sie dieselbe sollicitiert, sich aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit zu entwickeln, so kann auch die Wirksamkeit Gottes auf die Welt keine andere sein.
Aber die Vorstellung, daß der Bewegte ein natürliches Verlangen nach dem Bewegenden habe, ist offenbar höchst unklar. Wie soll ferner, wenn doch nach der eigenen Annahme des Philosophen das Bewegte immer vom Bewegenden berührt werden muß, der unräumliche erste Beweger die räumliche Welt berühren? Wenn ferner Aristoteles unter der Gottheit die höchsten Formen, insbesondere die Geister, welche die himmlischen Sphären bewegen und beseelen, für unentstanden erklärt, ebenso wie den unvergänglichen Teil der menschlichen Seelen, wie soll das Verhältnis dieser Formen zur reinen Form einerseits, zu Gott, und zur Materie andrerseits gedacht werden? Mit Recht bemerkt Schwegler, Geschichte der Philosophie S. 95: „Man sieht nicht, warum der letzte Grund der Bewegung, was der absolute Geist zunächst einzig ist, auch als persönliches Wesen gedacht werden müsse, man sieht nicht, wie Etwas bewegende Ursache und doch selbst unbewegt, Ursache alles Werdens, d. h. des Vergehens und Entstehens, und doch sich selbst gleichbleibende Energie, ein Bewegungsprinzip ohne Vermögen (Potenzialität) sein könne: denn das Bewegende muß doch in einem Verhältnisse des Leidens und Thuns mit dem Bewegten 609stehen.“ Überhaupt hat Aristoteles, was schon aus diesen widersprechenden Bestimmungen hervorgeht, das Verhältnis zwischen Gott und Welt nicht vollständig und folgerichtig durchgebildet. Da er den absoluten Geist einseitig nur als beschauende theoretische Vernunft bestimmt, und alles Thun und Handeln, weil dieses einen unvollendeten Zweck voraussetzt, von ihm als dem vollendeten Zwecke ausschließt, so fehlt das rechte Motiv seiner Thätigkeit in Beziehung auf die Welt. Bei seinem nur theoretischen Verhalten ist er nicht wahrhafter erster Beweger; außerweltlich und unbewegt, was er seinem Wesen nach ist, geht er nicht einmal mit seiner Thätigkeit ins Weltleben ein; und da auch die Materie ihrerseits nie ganz zur Form wird, so offenbart sich auch hier der unvermittelte Dualismus zwischen dem göttlichen Geist und dem unerkennbaren Ansich des Stoffs.
Noch mehr tritt diese Unklarheit des Aristotelischen Dualismus hervor in seiner, hier wohl am meisten interessierenden Seelenlehre. Die uns erhaltene Aristotelische Psychologie gilt zwar mit Recht als das erste wissenschaftliche Werk über diesen Gegenstand; zweifelsohne gehört sie zu den esoterischen oder akroamatischen Schriften und ist eine seiner bedeutendsten Leistungen. Sie enthält auch manche vortreffliche Bemerkung und dauernd anerkannte Sätze. Berühmt ist vor allem der erste Satz: „Wenn das Wissen zu dem Schönen und Ehrenwerten zu rechnen ist, das eine Wissen aber mehr als das andere dazu gehört, sei es wegen seiner Genauigkeit oder weil sein Gegenstand besser und bewundernswert ist, so möchte ich wohl aus beiden Gründen der Seelenlehre den ersten Rang mit einräumen; denn die Kenntnis der Seele scheint für die Wahrheit viel zu nützen; hauptsächlich in Bezug auf die Natur; denn die Seele ist gleichsam der Anfang der lebenden Wesen.“
In der That steht die Psychologie an einem Punkte, wo die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaften sich schneiden; sie bildet die natürliche Grundlage, auf welcher die idealen Geisteswissenschaften, die Logik und die Ethik, nebst ihren Verzweigungen, auch die Jurisprudenz, aufbauen müssen. Allein die Psychologie des Aristoteles stellt zumeist bloße Begriffsschalen als bequeme Auskunftsmittel hin, wo es gilt, den Mangel eines Gedankeninhalts zu verdecken und dem allgemeinen Gefühl, daß über eine Frage doch irgend etwas aufgestellt werden müsse, Rechnung zu tragen.
Für eine solche leere Begriffsschale müssen wir vor allem die weltberühmte Definition erklären: „Die Seele ist die erste vollendete Wirklichkeit eines dem Vermögen nach lebenden Naturkörpers und zwar eines solchen, welcher Organe hat.“ (de anima II, 1–4). Die Seele ist die Form oder Entelechie des Leibes. Wenn du Prel, monist. Seelenlehre cap. IV., in Aristoteles den Begründer einer monistischen Seelenlehre sieht, so hat er nur insoweit Recht, als nach Aristoteles auch die Physiologie nur ein Teil der Psychologie ist. Sobald wir aber der Aristotelischen Psychologie näher treten, zeigt sich, daß sein dualistischer Standpunkt ihn auch hier in den Hauptfragen zu keiner klaren Stellungnahme gelangen läßt, und wird es begreiflich, daß von jeher die Aristoteles-Gelehrten z. B. darüber nicht einig geworden sind, ob und wieweit die Unsterblichkeit der Menschenseele von ihm behauptet oder verneint werden sollte.
Anscheinend geht er zunächst aus von der Einheit, nicht Einerleiheit der Seele nicht etwa mit der Materie, wohl aber mit dem belebten Leibe. Man kann nicht, insofern protestiert er gegen den Pythagoräischen Seelenwanderungsglauben, jede beliebige Seele in jeden beliebigen Leib stecken. Die Seele ist die Entelechie ihres Leibes d. h. die Entfaltung dessen, was in dem lebendigen Leibe als Potenz angelegt ist. Dieser Satz klingt ganz monistisch, und selbst ein Materialist könnte ihn unterschreiben. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet er die Ernährung und Fortpflanzung als das Eigentümliche der Pflanzenseele, die Empfindung und die Selbstbewegung als das Hinzukommende der Tierseele. Allein bei der Menschenseele reicht er damit nicht aus. Sie kann nur nach der animalischen Seite hin als Entelechie des Leibes begriffen werden. Sie ist nicht etwa die vollkommenste Tierseele, wie der menschliche Leib der vollkommenste Leib ist. Es ist etwas in ihr, was sich so nicht erklären läßt und wodurch sie die Sphäre des Sinnlichen überschreitet. Dies Übersinnliche ist die Vernunft, der Intellekt. Aristoteles meint, daß dem Gedanken nicht, wie jedem animalischen Seelenakt, eine leibliche Funktion entspreche. Die animalische Seele hat zwar einen rein physischen Ursprung. Indem er als Naturforscher den Prozeß der Zeugung verfolgt, sucht er nachzuweisen, daß das Zusammenwirken des männlichen und weiblichen Faktors ohne Hinzutritt irgend eines Dritten hinreichend 611sein müsse, um eine neue animalische Seele hervorzubringen. Indem das Männliche als thätige Ursache zu dem Weiblichen als der leidenden hinzutritt, entsteht sofort diejenige Wirkung, welche der Natur beider entspricht, es entwickelt sich aus ihnen das, was sie an sich sind, nicht weil die Stoffe, die sie enthalten, räumlich nach dem gleichartigen hinstreben, sondern weil jedes, wenn es einmal in Bewegung gesetzt ist, sich in der Richtung bewegt, zu der es die Anlage trägt, weil schon im Samen die Seele der Möglichkeit und dem Keime nach gesetzt ist. Die wirkenden Kräfte, deren sich die Natur hierbei bedient, sind die Wärme und Kälte; das Maß und die Richtung dieser Kräfte ist aber durch die Natur des Zeugungsstoffes und der in ihm angelegten Erzeugnisse bestimmt: aus jedem Keim entwickelt sich ein Wesen derselben Art, wie das, von welchem er herstammt, weil im Blut, als dem unmittelbaren Nahrungsstoff, der Trieb zur Bildung eines Leibes von dieser bestimmten Art liegt, und weil eben dieser Trieb im Samen fortwirkt; und daher kommt es, daß nicht bloß der Gattungscharakter, sondern auch der der Einzelnen durch die Zeugung sich fortpflanzt. Hat hiebei der männliche Samen, von welchem der Anstoß zur Entwicklung ausgeht, die Kraft, den ihm gegebenen Stoff vollständig zu zeitigen, so folgt das Kind dem Geschlecht des Vaters; fehlt es ihm hiezu an der nötigen Wärme, so entsteht ein Wesen von kälterer Natur, ein Weib. Dies nämlich ist es, was die beiden Geschlechter in letzter Beziehung unterscheidet, die größere oder geringere Lebenswärme; die wärmere Natur vermag das Blut zu Samen zu verkochen, die kältere ist darauf beschränkt, in den Katamenien den rohen Stoff zur Fortpflanzung herzugeben; das Weib ist ein unfertiger, auf einer tieferen Entwicklungsstufe stehen gebliebener Mann. Nach dieser Fähigkeit richten sich die Geschlechtsorgane; diese sind mithin nicht die Ursache, sondern nur die Erscheinung des Geschlechtsunterschieds; sein letzter Grund liegt vielmehr in der Beschaffenheit des Lebensprinzips und des Centralorgans, worin dieses seinen Sitz hat, und wenn er auch erst mit dem Hervortreten der Geschlechtsteile zur Vollendung kommt, so ist er doch schon beim ersten Anfang der Entwicklung in der Bildung des Herzens begründet.
Ganz anders als mit der vegetativen Seele aber verhält es 612sich nach Ansicht des Aristoteles mit der Vernunft. Sie ist es einzig und allein, die als ein Göttliches von außen hereinkommt. (ϑυράϑεν ἐπεισίεται.)
Ob er aber jenes von außen hinzutretende Göttliche und allein Unvergängliche in der Menschenseele als persönliche Substanz dachte oder, wie Alexander von Aphrodisias und später besonders der Kommentator Averroës meint, als bloßes Hereinspielen und Hereinwirken eines pantheistisch zu denkenden Weltgeistes in das rein sinnliche, mit dem Tode dem gänzlichen Untergange geweihte Individuum, darüber wird wohl immer Streit bleiben.
Schloßmann, das Vergängliche und Unvergängliche in der menschlichen Seele nach Aristoteles, Halle 1873, meint, daß Aristoteles ähnlich wie Kant (und neuerdings du Prel) der mystischen Conception von einem intelligiblen (idealen) und empirischen Ich gehuldigt habe. Er verweist selber zur Unterstützung dieser Duplicitätstheorie auf die Spontaneität des Genies. „Woher die Macht jenes geistigen Triebes, welchem die Menschheit so viele bleibende geistige Eroberungen verdankt? Solchen Erscheinungen gegenüber (und wer kann sie alle herzählen?) wird jede bloß empirische und insbesondere die materialistische Erklärung, die sie sämtlich aus einer mechanischen Bewegung des Stoffes ableiten will, zur puren Ungereimtheit. Wir stehen hier vor den geheimnisvollen Tiefen der intelligiblen Welt. Gerade das Bewußtsein davon hat den ächten Genius immer, mitten in dem Gefühle seiner Kraft, zugleich demütig gemacht. Göthe, indem er vor der größeren dichterischen Schöpfermacht Shakespeares sich beugt, Tieck aber bei aller Anerkennung, die er ihm zu teil werden läßt, unter sich selber stellt, fügt hinzu: Ich darf das frei sagen, ich habe mich ja nicht selbst gemacht. – Ebenso sind Vernunft und Gewissen in unser aller geistigem Dasein etwas, das wir nicht gemacht haben, geistige Mächte, welche aus der Tiefe unseres eigenen Bewußtseins emporsteigend auf unser freithätiges Ich beständig und unmerklich treibend eindringen. Daher geraten wir mit jedem Denkakt in den Bereich der Denkgesetze, welche unsre Vernunft, ohne daß wir hierüber reflektieren, zur Geltung bringt; mit jedem Willensakt in den Bereich der sittlichen Gesetze, welche unser Gewissen, wie wir alle aus Erfahrung wissen, auch im Fall unseres Widerstrebens aufrecht erhält. 613Dies führt, namentlich auf sittlichem Gebiet, zu dem Begriff eines idealen, eines inwendigen Menschen, nach welchem der äußere, empirisch gegebene Mensch sich gestalten, bezw. sich umgestalten soll. Eben jener inwendige Mensch ist, wie wir ihn wahrhaft erkennen, nach Göthe schlechthinige Autorität für uns. – Für dieses ethische Verhältnis wird ein Analogon aus der ästhetischen Sphäre zur Erläuterung dienen können. Ein feiner und zartsinniger Beobachter hat mit Recht gesagt, daß der ächte lyrische Dichter nicht eine bloße Kopie der Eindrücke seines empirischen Ich giebt, sondern daß in ihm gleichsam ein ideales Ich dies empirische belauscht, gewisse Elemente desselben mit nicht minder unerbittlicher Strenge zurückweist und nur den Duft, den Wiederhall, die ätherischen Nachklänge der Wirklichkeit in sein Spiegelbild aufnimmt. Erst diese zweite Seele, fügt er hinzu, macht den Dichter.[623] – Eine solche zweite Seele ist es, die auch den sittlichen Menschen macht. Auch hier belauscht gleichsam ein ideales Ich das empirische, weist gewisse Elemente desselben mit nicht minder unerbittlicher Strenge zurück und entwirft auch seinerseits von ihm ein ideales Spiegelbild, aber nicht um sich an dem ästhetischen Wohlgefallen daran genügen zu lassen, sondern um dessen Verwirklichung, wenn es sein muß, im hartnäckigen Kampfe, dem empirischen Ich abzuringen.“ – „Dem idealen Ich entspricht bei Aristoteles der thätige Intellekt (der νοῦς ποιητικός), den er ja auch als eine zweite Art von Seele bezeichnet und im Gehorsam gegen welche er die Sittlichkeit bestehen läßt. Dem empirischen Ich entspricht der leidentliche Intellekt (der νοῦς παϑητικός). Bei Kant ist analog die Unterscheidung zwischen dem intellektuellen oder intelligiblen Ich und dem sinnlichen Ich, von welchen er jenes als das bestimmende, also thätige, dieses als das bestimmte, also leidentliche denkt. Einmal wirft er die Bemerkung hin, daß durch solche Unterscheidung eines doppelten Ich zwei Subjekte (also gewissermaßen zwei Hypostasen) in einer Persönlichkeit vorausgesetzt zu werden scheinen.“[624]
Der leidentliche Intellekt des Aristoteles gehört der vorübergehenden Erscheinung an; er ist keine eigene selbständig geistige Substanz, sondern nichts als eine Ausstrahlung, die der thätige Intellekt, als die einzige geistige Substanz im Menschen in der Sphäre des Sinnlichen dadurch hervorbringt, daß er sich mit dem beseelten Körper verbindet. Sobald diese Verbindung sich löst, verschwindet damit zugleich der leidentliche Intellekt und unser empirisches sinnliches Ich. Nicht aber das intelligible Ich, der thätige Intellekt, der gleichsam hinter und über jenem den unvergänglichen Wesensgrund bildet. Dieser gleicht nach dem Bilde eines griechischen Kommentators alsdann „einem Künstler, der seine Werkzeuge weggeworfen hat, dessen Wirksamkeit aber fortdauert, nämlich in rein geistiger, nicht stofflicher und werkzeuglich vermittelter Weise.“[625]
Ob hiernach Aristoteles eine individuelle Unsterblichkeit angenommen oder geleugnet habe, gehört zu den zahllosen wohl niemals zu Ende kommenden Streitfragen der Aristoteles-Gelehrten.
Es wiederholt sich hier der bereits hervorgehobene logische Defekt seines Dualismus zwischen Form und Stoff. Wie es schon in seiner Metaphysik unentschieden bleibt, ob der Grund des Einzelseins in der Form oder im Stoff liege, so bleibt es erst recht in seiner Psychologie im Dunkeln, ob die Persönlichkeit in den höheren oder den niederen Seelenkräften, in dem unsterblichen oder sterblichen Teile unserer Natur liegt. Einerseits scheint es, daß der thätige Intellekt, die Vernunft als solche, der reine Geist nicht der Sitz der Persönlichkeit sein kann; denn alle Bestimmtheit, alle Lebendigkeit des persönlichen Daseins, der ganze auf der Wechselwirkung zwischen Welt und Mensch, auf Veränderung und Entwicklung gegründete Inhalt der Persönlichkeit fällt ja auf die Seite der Sinnlichkeit, ist empirisches Ich. Selbst das Denken ist ja ohne Phantasiebilder nicht möglich, von denen nach Untergang der empfindenden Seele nicht mehr die Rede sein kann. Und selbst wenn man mit Aristoteles an eine Fortdauer der reinen Denkthätigkeit nach dem Tode glauben wollte, wie soll man sich die Identität des 615Geisteslebens nach dem Tode mit dem jetzigen vorstellen? Zeller, Philosophie der Griechen II, S. 607, bemerkt aber mit Recht: „Und doch kann die Persönlichkeit eines vernünftigen Wesens und seine freie Selbstbestimmung nicht in seiner sinnlichen Natur liegen. Wo sie aber dann liege, darnach fragen wir (Aristoteles) vergebens: wie die Vernunft von ‚außen her‘ (ϑυράϑεν) zu der sinnlichen Seele hinzutritt und beim Tode sich wieder von ihr abtrennt, so fehlt es beiden auch während des Lebens an der inneren Einheit, und was der Philosoph über die leidende Vernunft und den Willen sagt, ist in seiner unsicheren Haltung nicht geeignet, zwischen den ungleichartigen Teilen des menschlichen Wesens die wissenschaftliche Vermittlung zu bilden.“
Anstatt der erste Begründer einer monistischen Seelenlehre zu sein, laboriert also Aristoteles, der scheinbar eine Einheit zwischen Leib und Seele vertritt, auf der anderen Seite selber an einem unversöhnlichen Dualismus zwischen (animalischer) Seele und Geist. Offenbar liegt dies an einer sein ganzes System kennzeichnenden Überschätzung des rein theoretischen, abstrakten Denkvermögens und Verkennung der hohen geistigen und sittlichen Bedeutung, die auch das scheinbar Niedrige, die Sinnlichkeit, im Menschen beansprucht.
Eine andere Anschauung hatten Plato und die Mysterien von dem unvergänglichen Teile der Seele, und diesen, nicht dem Aristoteles, der richtiger von Averroës vertreten sein dürfte, folgten die christlichen Aristoteliker des Mittelalters, wenn sie, im Anschluß unter anderem auch an die bekannten Worte des Paulus, den Geist nach dem Tode als Gefäß der zu rettenden Persönlichkeit eine verklärte Leiblichkeit nach sich ziehen lassen. Zu ihnen gehört Dante, wenn er schildert, wie in den durch Zeugung und Geburt entstehenden menschlichen Leib, und zwar in das Gehirn, ein göttlicher Hauch sich einsenkt und sich so ein einheitliches Seelenwesen gleichsam anbildet, und dabei im dichterischen Gleichnis auf die Sonnenglut verweist, die mit dem Saft des Weinstocks verbunden den Wein entstehen läßt:
Er läßt dann jenes Seelenwesen, wenn die Parze den Lebensfaden abschneidet, sich vom Leibe lösend Göttliches und Menschliches mit sich hinwegnehmen:
und hebt hervor, daß alsdann Gedächtnis, Intellekt und Willen sich steigern, während nur die niederen animalischen Kräfte ersterben. So kommt er sogar zur Annahme eines Astralleibes,
Den Alten war zwar diese Vorstellung bis auf den Vergleich mit dem Weine die normale, vor allem, wie wir sehen, in den Mysterien vorausgesetzte, wie denn auch der in die eleusinischen Mysterien eingeweihte Pindar[626] singt:
Aristoteles teilte diese Anschauung nicht, wie denn auch seine Schrift „über den Schlaf“ eine durchaus rationalistische Theorie der Träume entwickelt. Der Schlaf, sagt er, ist Gebundenheit, das Wachen freie Wirksamkeit des Wahrnehmungsvermögens; beide Wechselzustände kommen daher nur bei den Wesen vor, welche der Sinneswahrnehmung fähig sind, bei ihnen aber auch ganz allgemein; denn das Wahrnehmungsvermögen kann unmöglich immer wirksam sein, ohne daß sich seine Kraft zeitweise erschöpfte. Der Zweck des Schlafes ist die Erhaltung des Lebens, die Erholung, 617welche ihrerseits wieder dem höheren Zwecke der wachen Thätigkeit dient. Seine natürliche Ursache liegt in dem Ernährungsprozeß. Die Lebenswärme treibt die aus der Nahrung sich entwickelnden Dämpfe nach oben; indem sie sich hier ansammeln, beschweren sie den Kopf und erzeugen zunächst die Schläfrigkeit; am Gehirn sich abkühlend, sinken sie dann wieder nach unten und bewirken eine Erkältung des Herzens, in deren Folge die Thätigkeit dieses allgemeinsten Empfindungsorgans ins Stocken gerät. Dieser Zustand dauert so lange, bis die Nahrung verdaut, und das reinere für die oberen Teile des Körpers bestimmte Blut von dem dickeren, nach unten zu führenden, ausgeschieden ist. Aus den inneren Bewegungen der Sinneswerkzeuge, welche nach dem Aufhören der äußeren Eindrücke fortdauern, entstehen die Träume: im wachen Zustand verschwinden diese Bewegungen hinter den Sinnes- und Denkthätigkeiten, im Schlaf dagegen, und besonders gegen das Ende desselben, nachdem die anfängliche Unruhe im Blut sich gelegt hat, treten sie deutlicher hervor. Es kann daher geschehen, daß eine innere Bewegung im Körper, welche man wachend nicht wahrnimmt, sich im Traum ankündigt, oder daß der Traum umgekehrt durch die Bilder, welche er der Seele vorführt, zu einer späteren Handlung den Anstoß giebt; es ist auch möglich, daß während des Schlafs sinnliche Eindrücke an uns gelangen, die bei Tage, in der bewegteren Luft, unsere Sinne nicht getroffen hätten oder von uns nicht bemerkt worden wären; und insofern lassen sich gewisse weissagende Träume auf natürlichem Weg erklären; was aber darüber hinausgeht, ist für ein zufälliges Zusammentreffen zu halten, wie denn auch deshalb viele Träume nicht eintreffen.
Allerdings hat Aristoteles nach Arist. Divin c. 2. sogar eine Schrift „über weissagende Träume“, περὶ τῆς καϑ'ὕπνον μαντικῆς, verfaßt, der zufolge das Ahnungsvermögen, das sich in weissagenden Träumen und enthusiastischen Zuständen offenbart, nur eine unklare Äußerung jener Kraft sein sollte, die als thätiger Verstand das Band zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Geist bilde (vergl. Cicero, Divin. I. 38, 81.); auch hat uns Sextus Empiricus (vergl. Math. IX. 20) ein Fragment aus seinem Dialog Eudemos aufbewahrt, in dem es heißt, im Schlafe gelange erst die Seele zum rechten Beisichsein (καϑ' ἑαυτῆν γίνεται) und werde ihrer 618eigenen Natur teilhaftig (τὴν ἴδιον φύσιν ἀπολαμβάνει); daher könne sie alsdann weissagen und das Zukünftige vorherverkünden. In einen solchen Zustand trete sie noch vollkommener ein, wenn sie im Tode sich ganz vom Körper trenne. Sie kehre alsdann gleichsam in ihre Heimat zurück.
Der klaffende Widerspruch dieser letzteren Sätze mit den vorstehenden liegt auf der Hand und bildet ein weiteres Rätsel für die Aristoteliker.
Zeller, Philosophie der Griechen S. 552, u. f. meint nun, die letzteren Äußerungen könnten nicht als der Ausdruck der wissenschaftlichen Überzeugung des Aristoteles betrachtet werden, vielmehr spreche er in denselben wohl nur eine Meinung aus, die, wie er glaubte, zur Entstehung des Götterglaubens Veranlassung gegeben habe. „Sollte er aber auch dieser Meinung zur Zeit der Abfassung jenes Gesprächs einen ernstlichen Wert beigelegt haben, so wäre dies nur einer von den vielen Beweisen für die Gewalt, welche die platonischen Anschauungen damals auf ihn ausübten.“
Für mich und vermutlich für die meisten Leser kann es wenig Interesse haben, welche Ansicht er über diesen Gegenstand zuerst oder zuletzt, scheinbar oder wirklich gehegt hat. Möglicherweise war die eine esoterisch, die andere exoterisch gemeint; sein Verhalten erinnert in der That etwas an das berüchtigte System der „doppelten Buchführung in philosophischen Fragen“, das auch in unserem Jahrhundert empfohlen worden ist.
Möglich ist es ja aber auch, daß ihm dasselbe, was auch heutzutage noch vielen ehrlichen Forschern, passiert ist, zu verschiedenen Zeiten verschieden, bald skeptisch, bald gläubig über diese occultistischen Thatsachen zu denken, deren allgemeingültige wissenschaftliche Konstatierung leider immer noch unmöglich erscheint.
Während sich unsere Darstellung der occultistischen Lehren der Griechen geradezu als ein, wenn auch einseitig aufgefaßter, Abriß der Geschichte der alten Philosophie geben konnte und mußte, wird die Form der occultistischen Anschauungen wieder eine völlig andere, indem wir den italischen Boden betreten. Wenn man nicht etwa die Jurisprudenz mit den Römern, die dies beanspruchten, als einen praktischen Zweig der Philosophie gelten lassen will, so haben die Römer in der Philosophie, wie auf wissenschaftlichem Gebiete überhaupt nichts Ursprüngliches aufzuweisen. Sämtliche lateinische Philosophen, von Cicero bis auf Boëthius, sind entweder als bloße Eklektiker oder bestenfalls als Schüler der einen oder anderen griechischen Philosophenschule zu bezeichnen.
Anders verhält es sich mit der Religion der Römer. Diese zeigt einen entschieden selbständigen, streng national gefärbten Typus, der allerdings seit der Berührung mit dem Hellenismus, etwa seit dem zweiten punischen Kriege, durch künstliche Assimilation mit der griechischen Mythologie etwas verwischt wurde. Dennoch ist diese, hauptsächlich von den Dichtern durch oft willkürliche Namensvertauschungen und Gleichstellungen ursprünglich verschiedener Götterbegriffe versuchte Verähnlichung nie dahin gelangt, die ursprüngliche 622Selbständigkeit der römischen Religion, die sich durch eine Art juristischer Systematik auszeichnet, verkennen zu lassen. Vor allem blieb stets bis in die letzten Zeiten hinein ein Unterschied des rituellen Kultus im eigentlich römischen Gottesdienste sichtbar. Andrerseits hat freilich kein Staat in toleranterem Maße fremden Gottesdiensten Aufnahme gewährt und durch solche seine eigene National-Religion geradezu überwuchern lassen, als der römische seit dem Beginn seiner Weltherrschaft.
In der Urzeit des römischen Volkes scheint aber der einzige Einfluß, den die Römer in Sachen der Religion und überhaupt der übersinnlichen Angelegenheiten von Außen zugelassen haben, auf das rätselhafte Volk der Etrusker sich zu beschränken. Doch darf auch dieser Einfluß nicht überschätzt werden. Die Nachricht des Livius IX, 36, daß in der ältesten Zeit römische Jünglinge in der etruskischen Sprache und Litteratur, sowie später in der griechischen unterrichtet seien, steht vereinzelt da; jene Unterweisung in der Sprache des Nachbarvolks beschränkte sich wohl nur auf eine geringe Anzahl der vornehmsten, zum Priesterstande berufenen Jünglinge (vergl. Cicero über die Weissagung), zu dem einzigen Zwecke, die nachweisbar allerdings von den Etruskern übernommenen Künste der Opferschau, für deren Ausübung man sich in Rom anfangs mit gedungenen Etruskern behalf, ferner die Theorie der Blitze, worüber später mehr, zu erlernen.
Gleichwohl fordert das Volk der Etrusker, oder wie sie selber sich nannten, Rasen, schon um der bestimmten Zweige des praktischen Occultismus willen, die von den Römern übernommen wurden, unsere Aufmerksamkeit heraus. Es ist bislang ebensowenig gelungen, ihre Sprache zu entziffern, als ihre ethnologische Verwandtschaft festzustellen. Die etruskische Inschrift eines in Caere ausgegrabenen Thongefäßes lautet:
minice dumamimadumaramlisiaedipurenaiedecraisiepanamine dunastavhelefu.
Die verschiedensten Idiome sind auf Stammesverwandtschaft mit den etruskischen vergeblich geprüft worden, wenn auch einige Spuren darauf hinzudeuten scheinen, daß die Etrusker im allgemeinen den Indogermanen beizuzählen sind. Vielleicht hängt der Name des etruskischen Zeus Tina oder Tinia mit dem sanskritischen dina, 623Tag zusammen. Übrigens schreibt schon Dionysios: „die Etrusker stehen keinem Volke gleich an Sprache und Sitte.“
Wahrscheinlich ist es, daß die Etrusker über die rätischen Alpen nach Italien gekommen sind, da die ältesten in Tirol und Graubündten nachweisbaren Ansiedler bis in die historische Zeit etruskisch redeten und auch ihr Name auf den der Rasen anklingt. Nach Herodot sollen sie freilich aus Asien eingewanderte Lyder sein, allein schon Dionysios erklärt diese Erzählung bei der großen Verschiedenheit zwischen Religion, Gesetz, Sitte und Sprache der Lyder von ihnen für ein unmögliches Märchen.
Mit Mommsen dürfen wir es übrigens für zuverlässig halten, daß das letzte Königsgeschlecht, das über die Römer herrschte, das der Tarquinier aus Etrurien entsprossen ist.
Die Anschauungen der Etrusker wurzelten mehr als die irgend eines anderen bekannten Volkes des Altertums im eigentlich occultistischen Gedankenkreise. Insofern zeigen sie eine gewisse Ähnlichkeit mit den Egyptern, von denen sie sonst nach Sprache, Sitte und Verfassung entschieden zu trennen sind. Die Nekromantie und schwarze Magie scheint ihr eigenstes Element gewesen zu sein. Der Totenkultus scheint bei ihnen eine noch größere Rolle gespielt zu haben, als bei den Egyptern. Es gab eine Unzahl von Todesgenien, deren furchtbare Bilder an den Mauern der Totenstädte, auf den Sarkophagen u. s. w. uns entgegenstarren. Sie sind dargestellt, wie sie die armen Menschenseelen verfolgen, peinigen und trotz alles Flehens entführen, archaistische Höllenbreughel; sehr selten sieht man auch gute Geister die Seelen freundlich einladen, auch gute und böse sich um dieselben streiten. Die Totenstädte der Egypter übertrafen die Städte der Lebenden an Ausdehnung und wurden mit größerem architektonischen Aufwand, als jene, ausgeschmückt. „Aus den Trümmern, die vom etruskischen Sacralwesen auf uns gekommen sind“, schreibt Mommsen, röm. Gesch. I, S. 180, „redet eine düstere und dennoch langweilige Mystik, Zahlenspiel und Zeichendeuterei und jene feierliche Inthronisierung des reinen Aberwitzes, die zu allen Zeiten ihr Publikum findet. Wir kennen zwar den etruskischen Kult bei weitem nicht in solcher Vollständigkeit und Reinheit wie den latinischen; aber mag die spätere Grübelei auch manches erst hineingetragen haben und mögen auch gerade die 624düstern und phantastischen, von dem latinischen Kult am meisten sich entfernenden Sätze uns vorzugsweise überliefert sein, was beides in der That nicht wohl zu bezweifeln ist, so bleibt immer noch genug übrig, um die Mystik und Barbarei dieses Kultus als im innersten Wesen des etruskischen Volkes begründet zu bezeichnen. – Ein innerlicher Gegensatz des sehr ungenügend bekannten etruskischen Gottheitsbegriffes zu dem italischen läßt sich nicht erfassen; aber bestimmt treten unter den etruskischen Göttern die bösen und schadenfrohen in den Vordergrund, wie dann auch der Kult grausam ist und namentlich das Opfern der Gefangenen einschließt, – so schlachtete man in Caere die gefangenen Phokaeer, in Tarquinii die gefangenen Römer. Statt der stillen in den Räumen der Tiefe friedlich schaltenden Welt der abgeschiedenen „guten Geister“, wie die Latiner sie sich dachten, erscheint hier eine wahre Hölle, in die die armen Seelen zur Peinigung durch Schläge und Schlangen abgeholt werden von dem Totenführer, einer wilden halb tierischen Greisengestalt mit Flügeln und einem großen Hammer; einer Gestalt, die man später in Rom bei den Kampfspielen verwandte, um den Mann zu kostümieren, der die Leichen der Erschlagenen vom Kampfplatze wegschaffte. So fest ist mit diesem Zustand der Schatten die Pein verbunden, daß es sogar eine Erlösung daraus giebt, die nach gewissen geheimnisvollen Opfern die arme Seele versetzt unter die oberen Götter. Es ist merkwürdig, daß um ihre Unterwelt zu bevölkern, die Etrusker früh von den Griechen deren finsterste Vorstellung entlehnten, wie denn die acheruntische Lehre und der Charun eine große Rolle in der etruskischen Weisheit spielen. – Aber vor allen Dingen beschäftigt den Etrusker die Deutung der Zeichen und Wunder. Die Römer vernahmen wohl auch in der Natur die Stimme der Götter; allein ihr Vogelschauer verstand nur die einfachen Zeichen und erkannte nur im allgemeinen, ob die Handlung Glück oder Unglück bringen werde. Störungen im Laufe der Natur galten ihm als unglückbringend und hemmten die Handlung, wie zum Beispiel bei Blitz und Donner die Volksversammlung auseinanderging, und man suchte auch wohl sie zu beseitigen, wie zum Beispiel die Mißgeburt schleunigst getötet ward. Aber jenseits der Tiber begnügte man sich damit nicht. Der tiefsinnige Etrusker las aus den Blitzen und aus den Eingeweiden 625der Opfertiere dem gläubigen Mann seine Zukunft bis ins Einzelne heraus und je seltsamer die Göttersprache, je auffallender das Zeichen und Wunder, desto sicherer gab er an, was es verkünde und wie man das Unheil etwa abwenden könne. So entstanden die Blitzlehre, die Haruspicin, die Wunderdeutung, alle ausgesponnen mit der ganzen Haarspalterei des im Absurden lustwandelnden Verstandes, vor allem die Blitzwissenschaft. Ein Zwerg von Kindergestalt mit grauen Haaren, der von einem Ackersmann bei Tarquinii war ausgepflügt worden, Tages genannt – man sollte meinen, daß das zugleich kindische und altersschwache Treiben in ihm sich selber habe verspotten wollen, – also Tages, hatte sie zuerst den Etruskern verraten und war dann sogleich gestorben. Seine Schüler und Nachfolger lehrten, welche Götter Blitze zu schleudern pflegten; wie man am Quartier des Himmels und an der Farbe den Blitz eines jeden Gottes erkenne; ob der Blitz einen dauernden Zustand andeute oder ein einzelnes Ereignis und wenn dieses, ob dasselbe ein unabänderlich datiertes sei oder durch Kunst sich verschieben lasse bis zu einer gewissen Grenze; wie man den eingeschlagenen Blitz bestatte oder den drohenden einzuschlagen zwinge, und dergleichen wundersame Künste mehr, denen man gelegentlich die Sportulierungsgelüste anmerkt. Wie tief dies Gaukelspiel dem römischen Wesen widerstand, zeigt, daß, selbst als man später in Rom es benutzte, doch nie ein Versuch gemacht ward es einzubürgern; in dieser Epoche genügten den Römern wohl noch die einheimischen und die griechischen Orakel. – Höher als die römische Religion steht die etruskische insofern, als sie von dem, was den Römern völlig mangelt, einer in religiöse Formen gehüllten Spekulation wenigstens einen Anfang entwickelt hat. Über der Welt mit ihren Göttern walten die verhüllten Götter, die der etruskische Jupiter selber befragt; jene Welt aber ist endlich und wird, wie sie entstanden ist, so auch wieder vergehen nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums, dessen Abschnitte die Saecula sind. Über den geistigen Gehalt, den diese etruskische Kosmogonie und Philosophie einmal 626gehabt haben mag, ist schwer zu urteilen, doch scheint auch ihnen ein geistloser Fatalismus und ein plattes Zahlenspiel von Haus aus eigen gewesen zu sein.“
Die obersten Götter des etruskischen Volkes, die „Verhüllten“ durften nicht mit Namen genannt werden. Nach ihnen kamen zwölf Gottheiten der Oberwelt, an deren Spitze Tina (Zeus?) stand, dieselben erinnern, ebenso wie die Blitzwissenschaft, auffällig an die obersten Götter der Akkader und sind augenscheinlich nichts anderes, als die zwölf Monate oder zwölf Zeichen des Tierkreises (Planetengötter), vergl. Teil I dieses Werkes (S. 7 und 53), ferner Müller, die Etrusker (2 Bände); dann die Gottheiten der Unterwelt, vor allem Mantus und Mania, denen in ältester Zeit sogar Kinderopfer dargebracht sein sollen, an deren Stelle erst in römischer Zeit Mohn- und Kohlköpfe substituiert wurden.
In seinen Göttern spiegelt sich der Mensch. Diese nicht erst von Feuerbach, sondern wie wir sahen, schon von Xenophanes (S. 475 oben) erkannte Wahrheit bestätigt sich auch, wenn wir die religiösen Vorstellungen der Römer Revue passieren lassen. Man erwarte daher von den praktischen, fast ganz auf die Beherrschung der diesseitigen Welt gerichteten Römern keine tiefsinnige Mystik, wie sie uns bei den Orientalen und teilweise auch bei den Griechen, später auch wieder bei den Germanen entgegentritt. Von den träumerisch-phantastischen, ja unheimlichen Etruskern übernahmen zwar die Römer einige Praktiken, mit denen sie den abergläubischen Sinn der Menge unmerklicher unter das Joch der Politik bringen konnten; ihre religiöse Weltanschauung selbst trägt einen durchweg klaren, wesentlich nur die wichtigsten Naturerscheinungen und Interessen ihres, ursprünglich mit Ackerbau und Hirtenleben einerseits und Krieg andererseits verwachsenen Lebens symbolisierenden naturalistischen und fast rationalistischen Charakter. Die Religion steht durchaus im Dienste der irdischen Zwecke, vor allem des Staates, nicht umgekehrt. Allerdings drängt sie sich, um den staatlichen Dingen die nötige Weihe zu geben, überall vor, aber wenn durch diesen Schein verleitet, Hartung, ein Philologe, über die Religion der Römer schreibt, „man müsse den älteren Römern nachrühmen, daß sie eine so allgemeine, so durchreichende und so unerschütterliche Religiosität besessen und geübt haben, wie kein anderes Volk der Erde“, so verfehlt ein besserer Kenner des eigentlich römischen Geistes, der Jurist R. v. Ihering, Geist des römischen 628Rechts, § 21, nicht, die Kehrseite der Medaille aufzuweisen und von frühzeitigem Formalismus und Jesuitismus, man könnte auch sagen Machiavellismus der Römer in Beziehung auf die Religion zu sprechen. Die Religion der Römer ward schon sehr früh mit ihrem gesamten Apparat von in den Willen der Staatsregierung gegebenen geistlichen Beamten, Zeichen, Nichtigkeitgründen u. s. w. ein politisches Institut; und Mommsen, römische Geschichte I, S. 160, macht auf das Schwanken der römischen Religionsvorstellungen im Laufe der Geschichte aufmerksam; „der Staat und das Geschlecht, das einzelne Naturereignis, wie die einzelne geistige Thätigkeit, jeder Mensch, jeder Ort und Gegenstand, ja jede Handlung innerhalb des römischen Rechtskreises kehren in der römischen Götterwelt wieder; und wie der Bestand der irdischen Dinge flutet im ewigen Kommen und Gehen, so schwankt auch mit ihm der Götterkreis.“
Den Vorrang unter den männlichen Göttern der ältesten Anschauungsform beanspruchen Jupiter, Mars und Quirinus. Diese drei wurden am heiligsten verehrt; sie waren die eigentlichen Schutzgottheiten Roms gegen auswärtige Feinde. So lautete ein altes Gesetz der Numa, das uns Festus aufbewahrt hat: „Unter wessen Anführung in der Schlacht die vornehmste Beute gewonnen wird, der soll dem Jupiter Feretrius einen Ochsen schlachten, und dem der sie gewonnen dreihundert Pfund geben; für die zweite soll er an dem Altar des Mars auf dem Marsfelde Suovetaurilien nach Belieben schlachten, für die dritte dem Quirinus ein männliches Lamm.“
Jupiter, aus Djovis pater entstanden, bedeutet zunächst Himmelsvater, als Quell des Lichtes; ihm sind alle Luftveränderungen, Regen und Gewitter, Blitz und Donner unterworfen. Darum heißt er auch, je nachdem er seine Macht äußert, Pluvius, Fulgurator, Tonans, Imbricitor, Serenator. Der heiligste Eid lautete, indem der Schwörende einen Kieselstein in die Hand nahm und auf das Opfertier schleuderte: „wenn ich mit Wissen und Willen einen Meineid schwöre, so soll mich Jupiter also schlagen (ferito), wie ich hier dieses Opfertier schlage, und so will ich aus Staat und Heimat also hinausgeworfen werden, wie dieser Stein da!“
Bei langdauernder Dürre brachte man ihm ein Opfer dar, 629das aquilicium oder Wasserentlockung hieß; da dasselbe mit gewissen magischen Ceremonien verbunden war, ließ man es durch einen Etrurier (Tusker) verrichten. Über diese magischen Ceremonien ist uns aus Labeo, der die tuskische Disziplin des Tages und Bacis in 15 Büchern erläutert hat, nur folgendes erhalten: „Wenn die Leberfasern eine Sondarach-Farbe zeigen, dann müssen die rinnenden Steine (manales petrae) in Bewegung gesetzt werden.“
Als höchster Gott heißt er Optimus Maximus, und sein Tempel ist als höchster auf dem Kapitol gegründet. Ihm gelten die Triumphzüge nach jedem Siege. Zu seinen Ehren wurden auch die berühmten Kapitolinischen Spiele gefeiert, und auf dem Giebel des Kapitolinischen Tempels prangte ein großes Viergespann, wie es die Wettfahrer bei diesen Spielen hatten. Etrurien soll durch ein solches frühzeitig die hohe Bestimmung seines Nachbarstaates erfahren haben. Als einst zu Veji dem Jupiter ähnliche Wettspiele, wie man sie zu Rom zu feiern pflegte, gehalten wurden, fingen die Rosse des siegenden Viergespanns plötzlich, wie von einem unsichtbaren Dämon getrieben, zu laufen an, und eilten unaufhaltsam nach Rom zu. Dort warfen sie den Tuskerjüngling, welcher den Namen Ratumena führte, beim Tarpejischen Thore ab, das sodann nach demselben umgetauft wurde, und rasteten nicht eher, als bis sie dreimal um den Tempel des Jupiter Kapitolinus gefahren waren.
Als Herr des Himmels und Lenker der Welt steht er allen irdischen und menschlichen Angelegenheiten vor und pflegt deshalb bei jedem Beginn einer wichtigen Handlung begrüßt zu werden. Ihm sind alle Vollmondstage heilig (die Iden), außerdem die sämtlichen Weinfeste.
Zu Zeiten der Not gelobte man ihm bisweilen den ganzen Ertrag eines Zweiges der Landwirtschaft oder gar die Erstlingsgeburten eines Frühlings, des sog. ver sacrum als Opfer. Eigentlich gehören dazu auch die in diesem Frühjahr geborenen Menschen. Weil es aber zu grausam gewesen wäre, so viele unschuldige Kinder abzuschlachten, so ließ man sie groß werden, und trieb sie dann in einem Frühjahr miteinander, verhüllten Gesichtes, über die Grenze; jene gingen dann aufs Geradewohl, wohin ihr Genius sie führte, 630und auf diese Weise soll manche Kolonie entstanden sein. Augenscheinlich war dieser Weihefrühling ein Mittel, der Übervölkerung und Nahrungsnot durch geeignete Kolonisation vorzubeugen und durch solche zugleich den Staat zu expandieren. Uhland hat ihn zum Vorwurf einer glänzenden Ballade gemacht, in der der Priester den Ersatz des blutigen Opfers durch die Auswanderung mit folgenden Worten begründet:
Jupiter ist ferner Beschützer des Rechts und der Tugend, als Gott der Treue, Dius Fidius auch besonders des Ehebundes; – da später die Schwurformel me Dius Fidius identisch mit dem aus der Fremde eingedrungenen me Hercle wurde, hat man fälschlich diesen Gottesbegriff später auf Hercules übertragen. Nach Augustin (IV, 23) hätten die Römer auch einen gewissen rätselhaften (nescio quem) Summanus noch höher als Jupiter selbst geehrt. Indeß kann dieser Summanus schwerlich ein anderer, als Jupiter gewesen sein, zumal die Römer, wie Augustin berichtet, ihm die nächtlichen Blitze zuschrieben.
Der römische Mars ist in vieler Hinsicht eher mit der griechischen Pallas Athene als mit Ares, dem Kriegsgott zu vergleichen. Den bloßen Krieg personifizierte Bellona, eine weibliche Gottheit. Mars symbolisiert mehr das stetige Gerüstetsein zum Krieg, als den blutigen Kampf; darauf deutet schon der Wortstamm Mavors, Marmar, verwandt mit arma und dem sanskritischen wârajâmi d. h. schützen. Ihm war ein uraltes Heiligtum auf dem Berg Quirinus geweiht, alle vier Jahre wurde auf dem Marsfelde eine (militärische) Schätzung der ganzen Bürgerschaft vorgenommen, wobei ein Stier, ein Widder und ein Bock dreimal um das ganze Heer herumgeführt und dann geopfert wurde; dies war das erwähnte suovetaurilium. Sein Hauptfest fand im Frühling statt, das eingeleitet durch das Pferderennen, equirria am 27. Februar, im März selbst an den Tagen des Schildschmiedens (mamuralia), des Waffentanzes (quinquatrus) und der Drommetenweihe (tubilustrium) seine Haupttage hatte. Hierbei spielten die Salier eine Hauptrolle, wörtlich „Tänzer“, d. h. eine aus zwölf Mann bestehende geistliche Brüderschaft. Dieser anzugehören, rechneten sich die vornehmsten Männer, wie P. Scipio zur Ehre; ihr Anzug war eine bunte Tunika, über welche um die Brust ein breiter eherner Gurt gelegt wurde, eine verbrämte Toga, mittelst Hefteln gabinisch aufgeschürzt, eine eherne Spitzhaube (apex) und ein Schwert. In der rechten Hand hielten sie ein ehernes Stäbchen, in der linken den Schild, der an einem Riemen um den Hals hing. Dieser hatte ungefähr die Gestalt einer arabischen 8; daher wohl sein Name ancile (ἄγκυλος). Einer von diesen Schilden sollte zu einer Zeit, da eine Seuche in Rom wütete, vom Himmel gefallen sein, Numa 632hatte dann auf Anraten der Nymphe Egeria durch den Waffenschmied Mamurius die elf anderen diesem so täuschend nachmachen lassen, daß niemand mehr den echten vom unechten unterscheiden konnte. In der Prozession ging auch ein Mann, rings mit dicken Häuten umhangen, der den Mamurius vorstellte und ganz unbekümmert mit Stangen auf seinen Lederpanzer hauen und stoßen ließ. Das Debüt der Priesterschaft bestand in einem Waffentanz und Absingung von uralten Liedern, deren Sprache die Gelehrten zur Zeit Cäsars bereits nicht mehr völlig entziffern konnten. Von dem Waffentanze selber sagt Plutarch (Numa c. 13): „Das Meiste bei diesem Tanze haben die Füße zu thun und man sieht mit Vergnügen den Bewegungen der Tänzer zu, da sie nach einem geschwinden, lebhaften Takte allerhand Krümmungen und Wendungen machen, die eine besondere Stärke und Leichtigkeit verraten.“ Noch heute dürften uns die sog. Pyrrhischen Tänze der Arnauten und einiger anderer neugriechischer Stämme ein analoges Bild dieser uralten kulturhistorisch interessanten Tanzart gewähren. Die Salier waren von Dienern begleitet, denen sie in den Pausen die Ancilia übergaben. Dionysios erzählt, wie sogar ein römischer Prätor diesen Dienst seinem Vater ohne Widerrede leistete und dessen Schild trug, während sechs Lictoren ihm voranzogen.
Quirinus war der Genius der gesamten römischen Bürgerschaft (Quiriten). Vor seinem Heiligtum standen zwei Myrten, als Bundessymbole, die eine die patrizische, die andere die plebejische genannt. Sein Fest, die Quirinalia, wurde am 17. Februar gefeiert. Dieses Fest hieß auch das Fest der Dummen. Die Ursache dieses Namens gibt Ovid (Fasten II. 475) folgendermaßen an: „Vernimm auch, warum derselbe Tag das Fest der Dummen heißt. Die Ursach ist zwar gering, aber passend doch. Das Land unserer Vorfahren hatte keine geschickten Bebauer: wilde Kriege ermüdeten die thätigen Männer. Größern Ruhm erntete man durch Schwerdt, als durch die gekrümmte Pflugschaar; wenig trug der Acker, von dem Besitzer nicht geachtet. Doch Dinkel säten die Alten, und ernteten Dinkel: abgemäht brachte man Dinkel, als Erstlinge der Ceres dar. Durch Erfahrung belehrt legten sie ihn zum Dörren ans Feuer: litten aber durch eigne Fehler vielen Schaden. Denn statt des Dinkels kehrten sie bald schwarze Asche zusammen, bald 633brannten sie wohl gar mit Feuer ihre Hütten nieder. Daher schuf man sich die Göttin Fornax. Fröhlich aber beten zu ihr die Landbewohner, ihre Früchte nach Ordnung zu bereiten. Jetzt kündigt die Fornacalien mit feyerlichen Worten der Curie Maximus an: denn einen bestimmten festlichen Tag macht er nicht. Auf dem Forum wird jede Curie auf den vielen herumhängenden Täfelchen mit bestimmten Zeichen angedeutet. Aber der unwissende Teil des Volkes kennt seine Curie nicht und hält daher das zu feiernde Fest am Ende des Tages.“
Zur Seite Jupiters steht Juno, als Lichtgöttin auch Lucina genannt, die Himmelsgöttin, der Genius des Weibes. Das Hauptfest derselben, die Matronalien, wurde am 1. März, welcher Tag deshalb die Kalenden der Frauen hieß, von den Frauen gefeiert, der Sage nach zum Andenken an die Stiftung der Ehe durch Romulus und an das Verdienst der Frauen bei Vermittelung der Feindseligkeiten ihrer Sabinischen Väter und Brüder nach dem bekannten Raube. Sein Hauptgegenstand war Feier der Geschlechtsliebe und Gebet um ehelichen Segen. „Ja jetzt weicht endlich der Winter“, singt Ovid (Fasten III. 167ff.), „und von lauer Sonne erwärmt thauet der Schnee. Laub vom Froste gestreift bekleidet frisch die Bäume, und die lebende Knospe blüht aus dem zarten Rebenschoß hervor. Jetzt auch sucht sich das dichtsprossende Kraut, das lange die Erde barg, eine himmlische Bahn, um sich zur Luft zu erheben. Fruchttragend ist jetzt die Flur; jetzt ist die Zeit zur Erzeugung: jetzt werden auf grünem Gesproß die Nester und Häuschen von Vögeln gebaut. Mit Recht feiern Latiums Mütter diese Zeit, ihre Niederkunft fordert Kampf und Gelübde. – Günstig ist meine Mutter den Verlobten; drum ehret mich die Schaar der Mütter. Bringt der Göttin Blumen! An blühenden Kräutern ergötzt sich die Göttin: umkränzt euer Haar mit jungen Blumen! Flehet zu ihr: Du hast uns, Lucina, das Tageslicht gegeben. Sei auch dem Gelübde der Gebärenden hold! Doch welche Mutter schwanger ist, die bete mit aufgelöstem Haare: die Göttin möge sanft ihre Geburt erleichtern!“
Ein anderes Fest zu ihren Ehren wurde an den Nonen des Juli bei dem sog. Ziegenbaume gefeiert. Es war dies der alte Feigenbaum auf dem Comitium, ficus Ruminalis, unter dem vor Alters 634die Zwillinge Romulus und Remus von einer Wölfin gesäugt sein sollten. Die Feige (fica) hat übrigens noch jetzt in Italien eine Nebenbedeutung allerintimster Natur; der italienische Dichter Molza hat sie in einem aus wohlgefügten Terzinen bestehenden Lehrgedicht, der sog. Ficheis, besungen und noch dazu einen sehr deutlichen Kommentar verfaßt, in dem ebenfalls an den ficus Ruminalis als principio della Città di Roma erinnert wird. Die Feige bedeutet die weibliche „Natur“. Neben diesem Feigenbaum stand ein Ziegenbock, als Sinnbild der männlichen Zeugungskraft. „Verehelichte, was wartest Du?“ singt bei Gelegenheit dieses Festtages Ovid in den Fasten, „Du wirst nicht durch kräftige Kräuter, nicht durch Gebete, nicht durch Zaubergesänge Mutter werden. Es war eine Zeit, wo nach hartem Verhängnis die Mütter nur selten Pfänder der Geburt erzeugten. Was nützt mir's, rief Romulus, neun sabinische Mädchen geraubt zu haben. Da sprach die Göttin (Juno) in ihrem Haine wundersame Worte. In italische Mütter, rief sie, dringe ein haariger Bock ein! Es staunte der Haufe erschreckt über die zweideutigen Worte. Ein Seher war da; sein Name ist vergessen, er war eben als Fremdling aus etruskischem Lande gekommen. Dieser schlachtet einen Bock; auf seine Belehrung reichten die Frauen ihren Rücken zum Schlag mit den ausgeschnittenen Riemen dar. Der Mond nahm bei dem zehnten Umlauf neue Hörner wieder, und es waren Gatten auf einmal Väter und Verehelichte Mütter.“
Zu diesem Feigenbaum also wallfahrteten die römischen Matronen, unter ausgelassenen Scherzen, (ich erinnere an die griechischen Thesmophorien S. 531), allerlei männliche, glückbringende Namen rufend, wie Lucius, Gajus u. s. w. Beim Feigenbaum angelangt verrichtete man ein Opfer, wobei Saft des Feigenbaums anstatt der Milch gebraucht wurde, und schmauste, von seinen Ästen beschattet und mit seinen Zweigen geschmückt.
Weil der Ziegenbock Symbol männlicher Zeugungskraft war, so galt die Berührung alles dessen, was von ihm kam, als ein Mittel, die Fruchtbarkeit zu fördern und den Einflüssen dieselbe hindernder Dämonen entgegenzuwirken.
Ein ähnliches Fest, das zugleich die römische Religion als eine ursprüngliche Hirtenreligion kennzeichnet, waren die Lupercalien.
In der Nähe jenes sog. Ziegenfeigenbaums war nämlich auch dem Gotte Lupercus ein Altar errichtet, der im Bildnisse nackt und mit einem Ziegenfell um die Schultern dargestellt war. Dieser Gott war, wie richtig Hartung vermutet, ebenso wie der Seher und Augur Picus nur eine gleichsam zur besonderen Person verdichtete losgetrennte Eigenschaft des Mars.
Seine Gattin Luperca war die Wölfin, die dem Romulus und Remus sich als Amme bot. Im Jahre 446 wurde zum Andenken an jene mythische Begebenheit ein Erzbild derselben mit den saugenden Zwillingen bei dem Feigenbaum aufgestellt. Dieses Erzbild ist bis auf den heutigen Tag erhalten, die berühmte Wölfin des Kapitols.
Offenbar handelt es sich bei Lupercus und Luperca, also Wortbildungen von lupus und lupar, ebenfalls nur um Symbolisierungen des männlichen und weiblichen Begattungstriebes; lupa bedeutet sowohl Wölfin als Buhlerin; daher auch die Ableitung lupanar, worüber jedes Lexikon Auskunft erteilt. Lupercus führte auch den Zunamen Innuus (von inire = Bespringen).
Am 15. Februar fanden sich nun beim Feigenbaum zwei Priesterkollegien ein, die sog. Fabii und Quinctilii, Jünglinge aus patrizischen Geschlechtern, verrichteten ein Opfer von Ziegen und jungen Hunden, Tieren die sich durch starken Begattungstrieb auszeichnen, zerschnitten die Ziegenfelle in Lappen und Riemen, gebrauchten erstere zur oberflächlichen Umhüllung ihres sonst nackten Körpers und nahmen letztere als Geißeln zur Hand, mit denen sie dann die Stadt durchliefen und alle Frauenzimmer, die ihnen begegneten, schlugen. Besonders solche, die an Unfruchtbarkeit litten, stellten sich ihnen gerne in den Weg. Vgl. Shakespeare's Julius Cäsar I. 2. Cäsar:
Von dieser symbolischen Handlung, die man inire oder auch februare nannte, erhielt nicht nur der Monat Februar, in dem sie stattfand, seinen Namen, sondern auch Juno, der die Ehe heilig 636war, wurde Februata genannt, und wiederum nannte man das Ziegenfell, weil die Bildnisse der Göttin gleichfalls mit demselben bekleidet waren, Rock der Juno.
Außerdem führte Juno, als Ehegattin, den Beinamen Juga, auch Unxia; letztere Bezeichnung hing mit einer Ceremonie zusammen, von der das Wort uxor = Ehefrau abgeleitet ist.
Wenn nämlich die Jungfrau bei der Hochzeit die Schwelle des Hauses ihres Gatten überschritt, mußte sie zuvor die Pfosten mit Wolle umwinden und mit Öl oder Fett salben (ungere). Ein weiterer Zuname war Cinxia, weil der Leib der neuvermählten Jungfrau mit einem wollenen Gürtel gebunden war, dessen Knoten der Bräutigam zu lösen hatte.
Der Juno untergeordnete Hilfsgenien waren Subigus (id est deus qui adest, ut nova nupta a viro subigatur), Prema (id est dea, quae facit, ut ne virgo se commoveat, quando a sponso premitur), Pertunda (id est dea, quae in primo concubitu naturam feminae pertundere dicitur), und endlich Perfica (welches Wort entweder mit fica, siehe oben S. 634, oder mit perficere = vollenden zusammenhängt).
Man sieht also, wie die Römer den Akt der Begattung bis aufs einzelste analysierten und besondere Genien darfür aufstellten.
Nach der Konzeption war es wieder Juno Fluonia, die den menses Einhalt that, bis endlich Juno Lucina die Geburt ans Tageslicht förderte.
Übrigens war es nicht bloß die Fruchtbarkeit, sondern auch die Heiligkeit der Ehe, die dieser Göttin am Herzen lag. Unkeuschheit und alle ungeordnete Befriedigung des Geschlechtstriebes war ihr ein Gräuel. Ein Gesetz des Numa lautet also:
„Eine Buhlerin soll den Altar der Juno nicht anrühren: thut sie es, so soll sie der Juno mit herabhängenden Haaren ein weibliches Lamm schlachten.“
Ungeachtet all der unverhüllten Natürlichkeit, die aus den mitgeteilten Kultushandlungen hervorleuchtet, galt bekanntlich den alten Römern die Ehe in demselben Maße als heilig, in dem sie den späteren Römern der Kaiserzeit profan und frivol war; die gestörte Eintracht zwischen den Ehegatten stellt Juno Conciliatrix oder Viriplaca wieder her, die einen Tempel auf dem Palatin besaß; 637und da sie die Ehen beständig erhielt, verdiente sie auch den Beinamen Manturna; es ist bekannt, daß in Rom fünfhundert und zwanzig Jahre lang keine Ehescheidung vorfiel.
Eine spezifisch römische Gottheit war sodann der zweiköpfige Janus. Ihn charakterisieren wir wohl am besten, mit den Worten Ovids (Fasten I. 90ff.): „Doch für welchen Gott soll ich Dich ausgeben, zweigestalteter Janus? Denn kein dir ähnliches Wesen besitzt Griechenland. Sage zugleich die Ursache, warum du allein von den Himmlischen das was dir von hinten ist, erblickst, und das, was vorn ist. Ich nahm die Tafeln, und als ich es bei mir im Sinne überdachte, schien mir heller als vorher meine Wohnung zu sein. Darauf erschien plötzlich der heilige Janus, wundersam zu schauen, mit doppeltem Bilde, darstellend meinen Augen sein zwiefaches Antlitz. Ich staunte, fühlte vor Angst erstarrt meine Haare, und eiskalt mein Herz vom überraschenden Schauer. Er, ein Scepter in der Rechten, und in der Linken einen Schlüssel, sprach aus dem vorderen Antlitz zu mir diese Worte: Entferne deine Furcht, o Sänger, der du bemüht um die Tage bist, höre, was du bittest, und fasse meine Worte in deine Seele. Mich nannten die Alten (denn ein uraltes Wesen bin ich) Chaos. Siehe, welche längst vergangene Begebenheiten ich verkündige! Diese durchsichtbare Luft und die noch dann übrigen Körper, Feuer, Wasser und Erde, waren einst nur ein Chaos. Sobald aber diese Masse in einem Streite ihrer Lage sich trennte, und aufgelöst in neue Wohnörter ging, so erhob sich das Feuer in die Höhe, der benachbarte Raum nahm die Luft ein, und im mittlern Raume lagerten sich das Meer und die Erde. Damals nahm ich wieder, der ich eine Kugel gewesen war und eine bildlose Masse, Gestalt an, und göttliche Glieder. Auch noch jetzt ist ein kleines Merkmal der einst verwirrten Gestalt übrig; denn es wird an mir dieselbe Gestalt vorwärts und rückwärts gesehen. Vernimm nun die andere Ursache der angenommenen Gestalt, damit du diese und meine Geschäfte kennest. Alles, was du nur siehst, Himmel, Meer, Wolken und Erde, ist alles von meiner Hand verschlossen oder steht offen durch sie: bei mir allein ist die Bewachung der weiten Welt, und 638mein ist das Recht, die Angeln zu drehen. Wenn es gefällt, aus ruhiger Wohnung den Frieden zu schicken, so wandelt er frei und ununterbrochen auf der ganzen Erde; aber von mordbringendem Blute wird der weite Erdkreis erfüllt werden, wenn nicht starrende Schlösser die erregten Kriege verwahren. Ich bewache die Thore des Himmels mit den gütigen Horen, und selbst Jupiter geht und kehrt zurück durch meinen Dienst. Darum werde ich Janus genannt; und bringt mir der Priester auf den Altar cerealische Kuchen und mit Salz vermischten Dinkel: so wirst du meine Namen belachen, denn bald heiße ich dann im Munde des Priesters Patulcius und bald Clusius. Denn wisse, es wollte jenes rohe Altertum durch den abwechselnden Namen meine verschiedenen Ämter andeuten. Erzählt hab ich dir meine Gewalt: so vernimm nun den Grund meiner Bildung. Doch auch du erkennst ihn schon zum Teil. Jede Thür hat von innen und außen doppelte Seiten, deren eine nach dem Volke, die andere aber nach dem Hausgotte blickt. Und so wie bei euch der Wächter der Thür, sitzend an der Schwelle des Eingangs des Hauses, allein Aus- und Eingang bemerkt: so erblicke auch ich, der Pförtner des himmlischen Hofes, die Gegenden von Osten und Westen zugleich. Hekates Antlitz siehst du nach dreien Seiten zu wenden, um die in drei Wege zerschnittenen Straßen zu schützen; drum kann auch ich, um durch des Nackens Beugung nicht Zeit zu verlieren, ohne des Körpers Bewegung nach zwei Seiten blicken. So sprach er, und zeigte durch Miene, daß er, wenn ich wünschte noch mehr zu erforschen, sehr bereitwillig gegen mich sein würde. Mut faßte ich, und dankte unerschrocken dem Gotte, und sprach wenige Worte zur Erde hinschauend: Sage mir, wohlauf, warum das neue Jahr mit Kälte beginnt, das wohl besser mit dem Frühling begänne; dann blüht alles, dann ist das Alter der Zeit verjüngt; und aus fruchtschwangerem Rebenschoß bläht sich der junge Keim: der Baum wird von neu gesproßten Reben bekleidet, und ragend erhebt sich über den Boden der Halm der Saat: Vögel bezaubern dann auch die laue Luft mit Konzerten, und auf den Wiesen spielt und ist fröhlich das Vieh. Dann ist lieblich die Sonne und es naht sich die fremde Schwalbe, und erbaut unter erhabenem Gebälk ihr Häuschen aus Koth. Dann läßt der Acker Bestellung zu, und wird 639durch den Pflugschar verjüngt. Dieses müßte mit Recht des Jahres Verjüngung heißen. Wortreich hatt' ich gefragt: er aber, ohne mich lange zu verweilen, schränkte seine Rede auf diese zwei Verse ein:
Aber warum bist du im Frieden verborgen, und warum eröffnest du deinen Tempel bei erregten Kriegen? Er weilte nicht; vom Gefragten gab er mir den Grund an. – Damit dem Volke, wenn es zum Krieg geeilt ist, die Rückkehr offen stehe, steht auch meine Thür offen und das Schloß ist hinweg. Im Frieden verschließ' ich die Thore, damit nirgends der Ausgang vergönnt sei; und lange werde ich unter Cäsars göttlichem Schutze verschlossen bleiben. Sprachs, und erhebend die Augen, die hier und dort hinblickten, sah er alles, was auf dem weiten Erdkreise lebte. Friede wars, und schon hatte der Rhein, die Ursache deines Triumphs, Germanikus! dir seinen Strom zur Knechtschaft übergeben. O Janus, mache ewig den Frieden, und ewig dauernd die Friedensstifter; und gewähre, daß der Dichter sein Werk nicht unvollendet lasse!“
Unmittelbar an Janus reiht sich der Gott Saturn.
Nach der euhemeristischen Auffassung waren bekanntlich sämmtliche Götter in früheren Zeiten als Könige oder Herren auf Erden inkarniert gewesen. So war auch Janus ein italischer König; während seiner Regierung kam Saturn nach Italien, wurde von ihm gastlich aufgenommen und siedelte sich gegenüber dem Kapitolinischen Berge auf dem Janiculum an, der damals der Saturnische Berg hieß. (Hier war der Tempel des Saturn.) Saturn war es, der die Bewohner Italiens den Ackerbau lehrte, sie von der wilden Lebensweise entwöhnte und zur Ordnung und friedlichen Beschäftigung anleitete. Er vertritt also bei den Lateinern die Stelle, welche bei den Griechen eine weibliche Gottheit, Demeter, behauptet. Das Regiment des Saturn war das goldene Zeitalter. Zur Erinnerung daran feierten die Römer im Dezember, wo man die Feldarbeiten des verflossenen Jahres sämtlich beendet 640und die des neuen noch nicht begonnen hatte, das heiterste aller Feste, die Saturnalien, an dem das goldene Zeitalter so zu sagen wenigstens für einen Tag wieder aufleben sollte. An diesem Feste sollte wieder Freiheit und Gleichheit herrschen, wie in jenen Tagen. Darum ließ man während seiner Feier die Sklaven in Herrenkleidern und Hüten gehen, die das Zeichen der Freiheit waren, forderte keine Dienstleistungen von ihnen, bediente sie vielmehr selbst bei Tische. Unter Saturns Regierung hatte es noch kein Eigentum gegeben, alles war gemeinsam. Daher stellte man an den Saturnalien Schmausereien an, zu denen jedermann willkommen war, und beschenkte sich reichlich. Vor allem wurden die Kinder nicht vergessen, denen Puppen und Bilderchen geschenkt wurden.
Überall ertönte der jedes böse Omen verscheuchende Ruf: Io Saturnalia! io bona Saturnalia! Es herrschte eine Art Narrenfreiheit, wie heutzutage im Karneval.
Da das Fest um die Zeit der Wintersonnenwende fiel, ist die Beziehung Saturns auf das Sonnenjahr klar, und Saturn wurde daher später von den meisten mit dem griechischen Chronos, dem Gott der Zeit identifiziert. Der alte Saturn ist aber wesentlich nur ein Gott des Ackerbaus.
Als solcher eröffnet er einen ganzen Zug, den Feldbau, Weinbau und die Viehzucht beschützender Götter und Göttinnen.
Seine Gattin zunächst heißt Ops, gleichbedeutend mit Fülle, Reichtum und Wohlstand.
Zu diesen gesellten sich Vertumnus und Pomona, als Obstgöttinnen.
Endlich wurden frühzeitig aus Griechenland eingeführt Ceres, Liber und Libera.
Daß Ceres sehr früh rezipiert worden, bezeugt Cicero (p. Balb. 24): „Den Dienst der Ceres“, sagt er, „haben unsere Altvordern mit großer Reinheit und Heiligkeit besorgt wissen wollen. Da er aus Griechenland entlehnt war, so wurde er auch immer durch griechische Priesterinnen ausgeübt, und alles mit griechischen Namen benannt. Wenn aber die Person, welche den Ritus angab und verrichtete, immerhin aus Griechenland berufen wurde, so wollten sie dennoch, daß dieselbe die Opfer, die zum Heile der 641Bürger gebracht wurden, auch als Bürgerin verrichte, um die unsterblichen Götter zwar mit fremder Kenntnis aber doch mit eigener und einheimischer Frömmigkeit zu verehren. Ich finde, daß diese Priesterinnen gewöhnlich aus Neapel oder Velia verschrieben wurden, welche Staaten ohne Zweifel damals mit Rom im Bündnis standen.“
Doch scheint das lateinische Wort Ceres, das an Stelle des griechischen Demeter trat, – sein etymologischer Zusammenhang ist freilich unklar –, anzudeuten, daß die fremde Göttin mit einer schon bekannten einheimischen verschmolzen worden ist.
Liber und Libera sind Bacchus und Ariadne.
Das Wort Liber „frei“ scheint anzudeuten, daß die Sendung des Bacchus im Sinne einer freieren Lebensführung aufgefaßt wurde. An seinem Feste, den Liberalien wechselten die geschlechtsreif gewordenen jungen Römer ihr kindliches Kleid mit der männlichen Toga. Auffällig ist auch, daß liberi die Kinder und liberi die Freien ein lateinisches Wort sind, wie Hartung, Religion der Römer S. 138, bemerkt, „hat um der guten Vorbedeutung willen das Volk, dem die Freiheit für das höchste Gut des Lebens galt, die Kinder mit diesem Namen bezeichnet.“ Varro freilich deutet das Wort auf den zügellosen Liebesgenuß und die Ausgelassenheit, die bei der Verehrung dieser Gottheiten üblich war, in sehr drastischer Ausdrucksform („Liber“, qui marem effuso semine liberat, Augustin VII. 2). Allerdings nahm sein Kultus in Italien, zumal in Süditalien, eine mindestens so zügellose Wendung, wie der Bacchus- und Dionysos-Kult in Griechenland.
„Auch die Ausomischen Landleute“, sagt Vergil, Georg. II. 380ff., „feiern nicht minder als die attischen das Fest mit Knittelversen und ausgelassenen Scherzen, machen sich Fratzengesichter von ausgehöhlter Rinde, rufen dich Bacchus an in fröhlichen Liedern, und hängen dir zu Ehren Schaukelbilderchen auf hohen Fichten auf. Davon gedeihen alle Weinberge zu reichem Ertrage, füllen sich Thäler und Gründe und Hügel, zu denen der Gott sein herrliches Antlitz gewendet hat. Darum wollen wir mit Gebühr des Bacchus Lob feiern mit herkömmlichen Liedern, und ihm gefüllte Schüsseln und Kuchen darbringen, und beim Horne geführt stehe der Bock vor dem Altar, und sein fettes Eingeweide brate am Spieß.“ 642Hierzu muß eine Schilderung gefügt werden, welche Augustin (VII. 21) von demselben Feste entwirft: „Welchen Grad von Schändlichkeit die Verehrung des Liber erstiegen hat, ist schwer zu sagen. Unter Anderem, was zu erzählen zu umständlich wäre, meldet Varro, daß auf den Straßen Italiens gewisse Ceremonien mit so großer Schändlichkeit begangen wurden, daß man zu Ehren des Liber männliche Schamteile verehrte, und die Liederlichkeit nicht wenigstens in der doch noch etwas verschämteren Heimlichkeit, sondern auf offener Straße ihr Wesen trieb. Denn dieses scheußliche Glied wurde in den Festtagen des Liber mit großer Wichtigkeit auf ein Gestell gepflanzt und erst auf dem Lande die Wege und Straßen entlang und hernach bis in die Stadt herumgeschleppt. In dem Städtchen Lavinium aber wurde dem Liber allein ein ganzer Monat gewidmet, wo alle Tage die unzüchtigsten Reden zu hören waren, bis das Glied über den Marktplatz getragen und wieder an Ort und Stelle gebracht war: und diesem unehrbaren Gliede mußte die ehrbarste Matrone vor den Augen aller Welt einen Kranz aufsetzen. Freilich, so mußte der Gott Liber zum Gedeihen der Aussaaten günstig gemacht, so der Einfluß böser Dämonen von den Feldern getrieben werden, daß die Matrone auf offener Straße zu thun gezwungen wurde, was der Lustdirne im Theater nicht zu gestatten war, wenn Matronen zusähen!“
Noch gegen Ausgang des Mittelalters herrschte bei der Weinlese in Unteritalien ein an diese alten Bacchusfeiern stark erinnernder Ton; so schreibt z. B. in seiner Geschichte Nolas (Historia Nolana lib. III. c. 14) Ambrogio Leone: „Die Winzer scheinen an dem Tage, wo sie die Traubenlese besorgen und überhaupt während der ganzen Weinernte voller Bacchustaumel und geradezu toll zu sein. Dreierlei Dinge üben sie gegen alles gewöhnliche Maß aus, Essen, Weinlese und übermütigen Lärm. Ja, auf dem Felde selbst, wo sie Traube schneiden, rufen sie unaufhörlich schamlose Worte und sprechen von unzüchtigen Dingen, als wenn ihre Gier nur auf unsittlichste Wollust gerichtet wäre. Es ist Landessitte, diese Ungebundenheit zu dulden. Wenn aber einer darüber mit ihnen schelten 643sollte, so lachen sie ihn aus und strecken wohl gar die Zunge vor ihm aus; keine Scham; alle Ehrbarkeit scheint ausgetilgt zu sein, die größte Zügellosigkeit in Reden und allgemeine Ausgelassenheit wird zur Schau getragen. Kurz, sie treten nicht mehr wie Menschen, sondern wie Satyre und Bacchuspriester auf.“
Man nannte die unzüchtigen Lieder und Verse, die bei diesen Festen improvisiert wurden, fescenninisch; vermutlich hängt das Wort zusammen mit fascinum = Phallus (italienisch fescina, zugleich ein phallusartig geformter Korb zum Traubenpflücken[628]). Jedenfalls ist diese Ableitung natürlicher, als die bisher bei den Philologen beliebte von der in Unteritalien belegenen Stadt Fescennium (Georges' Lexikon).
Die geistreichsten Verse der Art hat wohl ein Zeitgenosse Bruno's, der neapolitanische Dichter Tansillo in seinem aus formvollendeten Ottave Rime bestehenden „Winzer“ (vendemmiatore) gedichtet; er entschuldigt ihren allerdings bedenklich obscönen Inhalt in der Vorrede, wie folgt: „In jedem anderen Lande, als dem meinen, wohin diese Reime gebracht würden, würden sie ihre Anmut verlieren, wenn sie solche überhaupt besitzen; und dies zumal, wenn sie Leuten in die Hände fielen, die den Brauch meiner Heimat nicht kennen. Dieser Brauch gestattet nämlich zur Zeit der Weinlese dem niedrigsten Arbeiter, dem vornehmsten Herrn und der vornehmsten Dame die gröbsten Anstößigkeiten zu sagen, zumal wenn er (der Winzer) auf der Leiter an einem Baum[629] steht und die Trauben pflückt und die nun zufällig Vorüberkommenden anredet, und in dieser Situation ist mein Winzer zu denken, der die Trauben schneidet und den unten stehenden Frauen zuwirft.“
Mit der griechischen Afrodite hat eine Ähnlichkeit die römische Göttin der Blüten und Blumen, Flora.
Die spätere euhemeristische Mythologie erzählte, Flora sei ein besonders schönes Freudenmädchen gewesen, das sich durch Preisgebung seiner Reize ein sehr großes Vermögen erworben und dieses dann als Erbschaft dem römischen Volke hinterlassen habe. Übrigens gehörte ihr Dienst zu den ältesten in Rom, und wenn jene Erzählung von dem patriotischen Testament eines Freudenmädchens auch historisch begründet sein mag, so kann sie doch nicht zur Erklärung des Floralienfestes dienen, das gegen Ende April (vom 28. April bis 1. Mai) gefeiert wurde. Allerdings spielten an diesem Feste, das ebenfalls mit besonderer „Freiheit des Scherzes“, wie Ovid sagt, begangen wurde, die Freudenmädchen eine hervorragende Rolle in Rom; sie ergötzten das Volk mit obscönen Tänzen, pflegten sich vor aller Augen ganz zu entkleiden und jungen Hasen und Rehen nachzujagen oder Ringkämpfe aufzuführen. „Warum aber der Stand der öffentlichen Buhlerinnen die Spiele der Flora besonders ehrt“, sagt Ovid, „davon ist der Grund leicht zu erkennen. Sie ist nicht Göttin vom ernsten und vielversprechenden Haufen, sie wünscht, ihr Fest stehe dem plebejischen Chore frei. Auch fordert sie auf, die Blüte des Alters, so lange sie dauert, zu genießen: die Dornen verachtet man, wenn sie abgefallen sind.“ – Auch die anderen Frauen und Mädchen trugen an diesem Feste gegen sonstige Sitte auffallend bunte Kleider und nahmen einen freieren Scherz nicht übel. „Ganz wird die Schläfe mit festgenähten Kränzen umwunden“, singt Ovid, „und der kostbare Tisch wird von darauf gestreuten Rosen verdeckt. Berauscht tanzt der Gast, das Haar umflochten mit Lindenbast und übt die Kunst des Weintrinkens in maßlosem Grade. Trunken tanzt er an des schönen Liebchen harter Schwelle. Um sein gesalbtes Haupthaar hängen weiche Kränze. Bacchus liebt Blumen; daß Kränze dem Bacchus gefielen, kannst Du aus dem Gestirne der Ariadne entnehmen.“ – Bis tief in die Nacht hinein wurden die Spiele fortgesetzt, bei Fackelschein, „entweder weil von purpurnen Blumen die Fluren leuchten“, sagt Flora bei Ovid, „scheint sich der Fackelschein für meine festlichen Tage zu schicken, oder weil weder die Blüte noch die Flamme von matter Farbe ist, und beider Glanz die Augen auf sich zieht, oder weil nächtliche Freiheit meinen Vergnügungen gemäßer ist. Die dritte Ursache ist näher der Wahrheit.“
Andrerseits ist aber auch wieder die römische Venus keineswegs kongruent mit der reizendsten aller antiken Göttergestalten, der griechischen Afrodite. Erst spätere Dichter, wie besonders Lucretius, dessen Widmungsverse an die Venus berühmt sind, und Ovid haben überhaupt die Venus der Römer zu der Bedeutung erhoben, welche sie jetzt noch in unserem mythologischen Vorstellungskreise beansprucht. Vielleicht nicht ohne Einfluß darauf war die Tradition der Julier, die ja bekanntlich ihren Stammbaum auf Aeneas, den Sohn der Afrodite-Venus und des Anchises zurückführten. – Aber während Venus Afrodite eine von hellenischer Ästhetik zur Göttin der Schönheit verklärte Naturgottheit war, symbolisierte oder personifizierte die Venus der alten Römer, wiewohl auch sie schon den Begriff des Reizes und der Anmut (venustas) mit einschloß, doch in erster Linie nur den Sinnengenuß und stand insofern nicht viel höher als Volupia, die eigentliche Göttin der Wollust. In den Kapellen der letzteren pflegte man merkwürdigerweise Bildsäulen eines geradezu entgegengesetzten Wesens mit aufzustellen, nämlich der Angeronia oder Angstgöttin, deren Mund verschlossen und versiegelt war; vielleicht glaubte man sich diesen gefürchteten Dämon dadurch gerade geneigt zu machen und fernzuhalten, daß man ihn im Tempel der Wonne aufstellte.
Das Fest der Venus ward am 1. April begangen, welcher Monat ihr besonders geweiht war und nach Ovids Meinung auch nach ihr benannt ist (Aprilis, Aphrilis, ἀφριλις, Aphrodite).
An diesem Tage pflegten die Frauen das Marmorbild der Göttin zu entkleiden und in Myrtenwasser zu baden und dann mit Rosen und goldenen Ketten zu schmücken. Die Myrte ist bekanntlich der Strauch der Venus, weshalb heutzutage noch der Myrtenkranz das Haupt der Bräute schmückt. Auch führt Venus von der Myrte den Namen Murtea. Auch pflegten sich die „Mütter und Schwiegertöchter Latiums, und die, von denen Binden und lange Gewande fern sind“ (die Buhlerinnen) unter grünender Myrte zu baden. „Denn“, erzählt Ovid, „am Ufer trocknete einst Venus nackt die triefenden Haare; der Satyrn schalkhafter Haufen bemerkt die Göttin. Sie sah es und verhüllte ihren Körper mit vorgepflanzten Myrten. Gesichert war sie durch das, was sie that und gebietet nun Euch, es nachzuahmen.“
Andere Beinamen der Venus waren Placida, Genitrix, Verticordia (Herzenswenderin), Calva und Cloacina. Die beiden letzteren Namen haben zu manchen Deutungen Anlaß gegeben; wahrscheinlich bedeutet calva nicht die „kahle“, „geschorene“, sondern kommt von calvere = foppen, und bezieht sich auf die Launen der Verliebten. Cloacina aber kommt nicht, wie boshafter Weise einige Kirchenväter meinen, direkt von Cloake, sondern hängt mit cloare = reinigen, zusammen.
„Wenn nämlich der strenggesetzliche Römer eine Göttin des fleischlichen Liebesgenusses verehrte“, meint Hartung a. a. O. 250, „so läßt sich denken, daß er dabei keine ungeregelte Wollust beabsichtigte und die Lustgöttin nicht um der Lust selbst, sondern um der dabei zu wünschenden Reinheit willen anrief. Diese Reinhaltung nun wurde dem Charakter der alten Römer gemäß zumeist äußerlich und körperlich geübt, so daß Abspülung und Abwaschung, vielleicht auch, wie Plinius andeutet, Beräucherung mit Myrtenreis, nach jedesmaligem Genusse die Hauptsache war: und zu diesem Zwecke wurde die Venus Cloacina verehrt.“ – Ein Fragezeichen scheint mir hinter diese Gelehrten-Hypothese nicht unangebracht.
Unter den weiblichen Gottheiten ist noch zu erwähnen Minerva, die ganz der griechischen Pallas entspricht, der jungfräuliche Typus der überlegenden, erfindenden Geisteskraft; sodann vor allem Vesta, die griechische Hestia, die Göttin des Herdfeuers. In ihrem auf dem Forum befindlichen runden Tempel, – nach Plutarch rund, weil er das Weltall vorstellt, in dessen Mitte die Pythagoräer das Feuer setzen, wurde das unauslöschliche Feuer von den sechs vestalischen Jungfrauen gehütet. Die Jungfräulichkeit der Vestalinnen soll nach Plutarch, der bemerkt, daß der Dienst der Hestia in Griechenland vielmehr Witwen anvertraut wurde, deshalb gefordert sein, weil man das reine und unvergängliche Wesen des Feuers nur reinen und unbefleckten Körpern anvertrauen wollte oder zwischen der Jungfrauschaft und der Unfruchtbarkeit dieses Elements einige Ähnlichkeit zu finden glaubte. Die Vestalinnen, welche aus den vornehmsten Mädchen im jugendlichen Alter von sechs bis zehn Jahren ausgeloost wurden, wurden für die ihnen zur strengsten 647Pflicht gemachte Keuschheit durch zahllose Vorrechte entschädigt. Plutarch zählt als solche auf, daß sie noch bei Lebzeiten des Vaters ein Testament machen durften, und – eine in Ansehung des Keuschheitsgelübdes sonderbare Fiktion –, jus trium liberorum besaßen, d. h. alle erbrechtlichen Vorteile, sowie die Freiheit von Vormundschaft, die für andere weibliche Personen mit dem Besitz dreier Kinder verbunden waren. Wenn sie öffentlich erschienen, ging ein Liktor vor ihnen her. Begegnete eine Vestalin zufällig einem zum Tode geführten Verbrecher, so wurde diesem das Leben geschenkt. Doch mußte die Vestalin schwören, daß die Begegnung nicht absichtlich veranlaßt war. Der Bruch des Keuschheitsgelübdes bei den Vestalinnen wurde streng geahndet, der Verführer zu Tode gegeißelt, die Priesterin lebendig begraben.
Gleichzeitig mit dem Dienste der Vesta soll derjenige des eigentlichen Feuergotts Vulcan von Romulus und Tatius gegründet sein. Über den Kultus dieses Gottes, der keine große Rolle spielte, ist nur zu bemerken, daß ihm seltsamer Weise mit Vorliebe Fische geopfert wurden, um durch die Bewohner des feuchten Elements die Gewalt des Feuergeistes gleichsam auf magische Weise zu besänftigen.
Die ursprüngliche Hirtenreligion kennzeichnet endlich die Verehrung des Faunus, dessen Wesen Dionysius, röm. Gesch. V, 16, mit den Worten bezeichnet: „Die Römer schreiben diesem Dämon alles Panische und alle gespenstischen Erscheinungen zu, die in wechselnden Gestalten den Menschen zu Gesichte kommen, und betrachten alle seltsamen, das Gehör erschreckenden Rufe als sein Werk.“ Der Name bezeichnete allmählich nicht mehr ein Individuum, sondern eine ganze Gattung, die Faune oder Silvane, lüsterne koboldartige Wesen, von denen es hieß, daß sie mit Vorliebe die Nymphen, aber auch Frauen im Schlafe zu überfallen liebten. Wegen dieser Eigenschaft führten sie die Beinamen Ficarii[630] und Incubi. Hartung meint, daß Alpdrücken und ähnliche Traumerscheinungen den psychologischen Ursprung dieser Dämonengattung gebildet haben.
Die Tochter des Faunus, Fauna, auch Fatua oder Oma genannt, wurde als gute Göttin, bona Dea, verehrt. Sie 648bildet einen seltsamen Kontrast zu ihrem Vater durch ihre Keuschheit, die sie bis zu dem Grade wahrte, daß nicht einmal der Name einer Mannsperson in ihrer Nähe genannt werden durfte. Der Grund war ihr Prophetentum. Denn bekanntlich ist eine allgemein geglaubte occultistische Voraussetzung der Sehergabe die unbedingte sexuelle Enthaltsamkeit. Ihr Fest wurde nur von Frauen begangen, und zwar im Hause des jedesmaligen Praetor urbanus. Das Haus desselben mußte dann von allen Personen männlichen Geschlechts geräumt werden, nicht einmal Bildnisse derselben wurden geduldet. Die Frauen mußten sich durch mehrtägige Enthaltung zum Feste vorbereiten. Die Feier selbst, die von Vestalinnen geleitet wurde, endete damit, daß die Frauen durch Musik und übermäßigen Weingenuß sich berauschten, um in einen Zustand ekstatischer Verzückung zu geraten. Das Fest hatte große Ähnlichkeit mit den Thesmophorien oder auch mit orphischen Geheimkulten. Hiernach kann man die Größe des Skandals ermessen, den der Demagoge und Wüstling Clodius, der bekannte Gegner Ciceros und Freund Cäsars, dadurch bereitete, daß er, als dieses Fest im Hause Cäsars gefeiert wurde, der gerade Prätor war, begünstigt von der Pompeja, Cäsars Gemahlin, mit der er im ehebrecherischen Einverständnis stand, sich als Harfenspielerin verkleidet einschlich. Vergl. Plutarch, Leben Cäsars, Kap. 9 u. 10. Ciceros Briefe an Attikus I, 13.
Der eigentliche Hirtengott aber war Pales, den merkwürdigerweise einige Dichter, z. B. Ovid, als weibliche Gottheit bezeichnen, sodaß spätere ihn sogar für einen Zwittergott erklärten. Der spätere Gott der Gärten, Priapus, ist jedoch, wie schon sein Beiname als Gott von Lampsacus bezeugt, eine griechische Erfindung. Dagegen war der Phalluskult, der sich später mit dieser Göttergestalt verknüpft, schon der ältesten Zeit nicht fremd. Seine altrömische Bezeichnung war Fascinum und der ihn führende Gott hieß Fascinus, auch Mutinus oder Tutinus. Er galt als kräftigstes Mittel gegen jede böse magische Einwirkung und sein Bild wurde aus diesem Grunde im Haus und Hof, auf dem Herde und bei jeder Einfriedigung (Hortus), daher Gartengott, aufgepflanzt.
Um der Ehe Glück und Segen zu verbürgen, mußte sich sogar 649die Braut vor der Hochzeitsnacht auf den kolossalen Fascinus am Herde setzen. Daß die sog. fescenninischen Verse ihre Bezeichnung dem Fascinus verdanken, also nur ein anderes Wort für Priapejen sind, wurde schon erwähnt. Praefiscine, die Anrufung des Fascinus, war der übliche Ausruf der Römer, wenn sie etwas lobten oder für gut befanden, und hatte etwa die Bedeutung der deutschen Volksredensart: „Unberufen, unbeschrieen, dreimal unter'm Tisch geklopft!“
Wir könnten diese mythologische Gallerie noch durch eine ganze Reihe von Göttern und Genien zweiten Ranges vervollständigen, z. B. die Anna Perenna, welche Gesundheit und unversiegliche Lebensdauer symbolisiert, und die in Mädchengesellschaften mit Rücksicht auf ein verliebtes Abenteuer, das Mars mit ihr hatte, durch zotige Lieder gefeiert wurde, ferner die Acca Laurentia, bei der es sich ebenso um die Apotheose eines Freudenmädchens handelt, wie bei der Flora. Vgl. Plutarch, Romulus Kap. 5:
„Ein Tempelaufseher des Herkules kam einst, vermutlich aus langer Weile auf den Einfall, mit dem Gotte Würfel zu spielen und machte dabei aus, wenn er gewönne, sollte der Gott ihm irgend etwas zu gute thun, verlöre er aber, so wollte er ihm eine gute Mahlzeit bereiten und überdies ein schönes Mädchen verschaffen, um bei ihr zu schlafen. Auf diese Bedingung warf er zuerst für Herkules und dann für sich selbst, und da fand sichs, daß er verloren hatte. Der Tempelaufseher, der es für seine Pflicht hielt, das, was ausgemacht war, genau zu erfüllen, veranstaltete für den Gott ein Abendessen und mietete die Laurentia, ein im besten Rufe stehendes schönes Freudenmädchen. Diese bewirtete er im Tempel, wo er ein Bett bereitet hatte, und nach Tische schloß er sie ein, als wenn nun der Gott zu ihr kommen sollte. Herkules, sagt man, besuchte sie auch wirklich und befahl ihr, des Morgens auf den Markt zu gehen und den ersten, der ihr begegnen würde, sich durch einen Kuß zum Freunde zu machen. Es begegnete ihr ein Bürger, namens Tarrutius, der schon ziemlich bei Jahren war, aber ein ansehnliches Vermögen besaß und bisher ohne Frau und Kinder gelebt hatte. Dieser Mann machte mit ihr 650Bekanntschaft und gewann sie so lieb, daß er sie bei seinem Tode zur Erbin seiner bedeutenden und schönen Güter einsetzte, wovon sie dann später den größten Teil durch ein Vermächtnis dem Volke zuwandte. Sie soll, da sie schon in großem Rufe stand und für eine besondere Freundin der Göttin gehalten wurde, gerade an dem Orte verschwunden sein, wo die ältere Larentia begraben lag.“ – Diese ältere Larentia aber war die Wölfin (lupa), die den Romulus gesäugt hatte. Dabei verfehlt Plutarch nicht zu erinnern, daß Lupa bei den Lateinern sowohl eine Wölfin als ein geiles Frauenzimmer bedeute. An diese Larentia, die auch Laurentia genannt wird, knüpfte sich die Entstehung einer den bereits erwähnten Luperci ähnlichen Priesterbrüderschaft, der sog. Arvalbrüder. Dieselbe soll nämlich vom Romulus (oder Herkules) zwölf Söhne gehabt haben, mit denen sie alljährlich einmal einen Umzug um die Felder hielt und für die Fruchtbarkeit des Landes betete. Die diesem Vorbilde entsprechend gestiftete, aus 12 Personen bestehende Arvalbrüderschaft trug als Abzeichen Ährenkränze mit weißen Binden und hielt alljährlich einen Umzug durch die Felder, worauf sie zur Entsündigung der Felder das suovetaurilium opferte.
Da wir auf die unterirdischen Götter, zu denen übrigens die Acca Laurentia in einer ähnlichen Beziehung stand, wie die griechische Proserpina, im folgenden Kapitel kommen, dürfen wir hiermit unsere Skizze des römischen Götterwesens abschließen.
Kaum ein anderes Wort ist mit verschiedeneren Ideeen und Gefühlen je nach Zeit, Ort, Rasse, Kulturentwickelung und endlich Individualität vergesellschaftet, als das kaum noch eine bestimmte Definition zulassende Wort „Religion“. Ein feinfühliger Christ wird mit vollem Rechte dieses Wort als mißbräuchlich angewandt bezeichnen auf ein Göttersystem, wie das in diesem Kapitel skizzierte römische, das sich bis zur Vergöttlichung von Freudenmädchen verstiegen habe. Er mag eben durch den Kontrast die geistige Höhe des Christentums um so angemessener schätzen lernen.
Allein er darf sich dadurch nicht zu einem ungerechten Urteil über die sittliche Bedeutung der heidnischen Religionen und der römischen insbesondere hinreißen lassen.
Alle heidnischen Religionen und so auch die römische, sind eben reine Naturreligionen. Die Natur und ihre Kräfte werden in anthropomorpher Weise personifiziert, und wie diese Phantasiethätigkeit ausfällt, das hängt eben von dem mehr oder weniger edlen Typus des Menschen ab. Nun läßt sich keineswegs behaupten, daß die römische Naturreligion auf einem besonders niedrigen sittlichen Niveau gestanden hat; wenngleich die orientalischen Religionen stellenweise den Anschein größerer spekulativer Tiefe an sich tragen, so sind ihre Gedanken- und Phantasiebildungen darum weder reiner noch inniger. Selbstverständlich bildet in jeder reinen Naturreligion die Fruchtbarkeit und Zeugungskraft und somit das Natürlich-Geschlechtliche den wichtigsten Gegenstand der Andacht. Der Phallusdienst z. B. erstreckte sich über ganz Asien und nahm wohl die wüstesten orgiastischen Formen bei den von Natur wollüstig und zerfahren veranlagten semitischen Stämmen an (Mylitta- und Kybele-Dienst). Bei den Römern hielt er sich stets in relativ sehr anständigen Schranken. Die geschlechtliche Sinnlichkeit des Römers war stark, aber, so lange sie nicht durch schlechte internationale Einflüsse corrumpiert ward, naturwüchsig gesund und forderte gesetzliches Maß und Ordnung. Erwähnt wurde bereits die lange Jahrhunderte hindurch streng gewahrte Heiligkeit der Ehe. Nicht die unbefangene Natürlichkeit in sexuellen Angelegenheiten, sondern das naturwidrig Raffinierte, was sich ja oft gerade mit asketischen Enthaltsamkeits-Tendenzen als anderem Extrem vereint, ist das allgemein Unsittliche. Die fescenninischen Verse und krassen Priapejen der Römer sind nicht so unsittlich, wie manche mit äußerlicher Eleganz geschriebene hochmoderne Litteraturerzeugnisse. Oder war etwa das germanische Mittelalter, das an vielen Dingen keinen Anstoß nahm, die heute auszusprechen, ein arger Verstoß ist, darum sittenloser, als die Neuzeit, in der ernstliche Schriftsteller die Frage diskutieren können, ob nicht z. B. die Ehe vielfach zu einer konventionellen Lüge geworden sei? Man kann sogar behaupten, daß das gesetzliche und im engeren Sinne moralische Gefühl die Römer weit länger vor der Ansteckung mit den wüsten Formen des orientalischen, mystisch angehauchten Wollustkultus bewahrt hat, als das mehr bloß ästhetische Maß die Hellenen. Wenn die Griechen es als die erste und 652höchste Pflicht betrachteten, daß alles, was zur Verehrung der Götter geschehe, schön sei, glaubten die Römer mit konservativer Zähigkeit und peinlichster Sorgfalt darauf achten zu müssen, daß alles exakt und pünktlich sei. Allerdings wurde die subjektive Religion bei ihnen von der positiven, dem Kultus, völlig absorbiert, wie dies in gewissem Grade ja auch im Gegensatz zu den vielen anderen Abzweigungen des Christenthums sich noch im römischen Katholizismus wiederholt. Noch in den Zeiten des schon begonnenen Verfalls der römischen Religion schrieb der Geschichtsschreiber Dionysius (II. 18), indem er die römische Religion der griechischen gegenüberstellt:
„Der Stifter des römischen Staates hat die von den Göttern überlieferten Sagen, welche Verunglimpfungen und Lästerungen derselben enthalten, als nichtswürdig, unnütz und ungebührlich, und nicht einmal rechtschaffener Menschen, geschweige Götter würdig, samt und sonders verbannt, und es so eingerichtet, daß die Menschen von den Göttern nur das Edelste und Beste erzählen und sich einbilden, und ihnen keine solchen Eigenschaften andichten, welche seliger Wesen unwürdig sind. Denn man weiß bei den Römern nichts von Entmannung des Uranus durch seine eigenen Söhne, nichts von der Kinderverschlingung des Kronos aus Furcht vor deren Nachstellungen, nichts von Entthronung und Einkerkerung im Tartarus, die Zeus an seinem eigenen Vater verübt habe, nichts von der Götter Kämpfen, Verwundungen, Fesselungen und Knechtsdiensten bei den Menschen, und es wird bei ihnen kein Fest in Trauerkleidern und mit Wehklagen begangen, wo sich die Weiber unter Weinen und Schreien die Brüste zerschlagen über das Verschwinden einer Gottheit, wie die Griechen bei dem Raube der Persephone und den Leiden des Dionysos und anderen dergleichen Gelegenheiten thun; auch erblickt man bei ihnen, trotzdem, daß die Sitten bereits verdorben sind, kein Außersichgeraten und Verrücktthun, kein Bettelpriestertum, kein Begeistertsein noch geheime Weihen, kein Durchnachten der Männer mit den Frauen in Heiligtümern, kurz nichts von allen diesen Gaukeleien und Schwärmereien, sondern statt dessen bloß Andacht und Achtsamkeit auf Worte und Handlungen in allen religiösen Verrichtungen, wie bei keinem anderen Volke der Griechen oder Barbaren.“
Allerdings ist nicht zu verkennen, daß eben diese äußerlich gesetzliche Auffassung der Religion ein wirklich religiös fühlendes Gemüt abstoßend berührt, wenn dabei die Einsicht hervortritt, daß die gebildeten Römer in Ermangelung jeder spekulativen Vertiefung des Religionsinhalts, wie sie den gebildeten Griechen sich in den Mysterien frühzeitig darbot, dieselbe als eine bloß politische Staatseinrichtung betrachtet haben. Der Geschichtsschreiber Polybius freilich, der dieses Verhältnis klar durchschaute, findet gerade deshalb die römische Staatskunst ebenso wie nach ihm Machiavelli besonders bewundernswert: „Den größten Vorzug“, schreibt er (VI, 56), „scheint mir die römische Politik hinsichtlich ihrer Religionsmaximen zu haben: und zwar giebt, wie mich dünkt, gerade die Sache, welche man anderwärts tadelnswert findet, dem römischen Staat seine Festigkeit, ich meine den Aberglauben. Denn dieser Punkt ist mit einer solchen Wichtigkeit behandelt und dergestalt mit dem öffentlichen und Privatleben verwebt, daß nichts darüber geht. Hierüber mögen sich nun manche wundern: mir aber scheint dies um der Menge willen geschehen zu sein. Wenn freilich der Staat ein Zusammentritt lauter Weiser wäre, so hätte man dergleichen Mittel nicht nötig: nun aber die Menge immer wetterwendisch ist und regellosen Begierden, unvernünftigen Leidenschaften und stürmischen Aufregungen gehorcht, so bleibt nichts übrig, als sie durch blinde Furcht und solches Gaukelspiel im Zaum zu halten. Darum scheinen mir die Alten den Glauben an die Götter und die Vorstellungen von der Hölle keineswegs aus Unverstand und Unüberlegtheit der Menge eingeprägt zu haben, vielmehr die Jetzigen ihn unverständig und unbesonnen zu verbannen.“
Diese politische Weisheit dürfte erstens fehlgreifen in ihrer geschichtlichen Ansicht, sofern sie eine Religion, die naturwüchsig aus dem Volke hervorgegangen, als ein Machwerk politischer Kunst erklärt. Sie dürfte aber auch pragmatisch nur für Staatswesen zutreffen, die von vornherein auf eine unnatürliche demokratische Grundlage gestellt sind und deshalb unsichtbarer, trügerischer, im schlechtesten Sinne „politischer“ Mittel bedürfen, um die Menge zu leiten. Richtig ist zwar, daß kein Staat und kein Volk ohne irgend welche Volksmetaphysik auskommen kann, und daß daher 654jeder vernünftige Politiker alle Art rein negativer sog. Volksaufklärung verurteilen wird. Aber andrerseits ist auch eine rein negative Aufklärung der herrschenden Gruppen im Staate auf die Dauer unhaltbar und dem Staate verderblich; denn unmöglich läßt sich durch Heuchelei der Staat erhalten. Ohne Metaphysik keine Ethik, und ohne irgend welchen Glauben an Übersinnliches keine Moral. Der Moral bedürfen auch die regierenden Elemente, ja diese erst recht. Gerechtfertigt ist nur die Forderung, daß die gebildeten Elemente eines Volkes nicht dem voreiligen Bedürfnis nachgeben sollen, der nur für gröbere Vorstellungen reifen Masse ihre wissenschaftlich geläuterte Weltanschauung einzuflößen. Denn Einreißen ist leichter als Aufbauen.
Das lehrt auch die Gegenwart, in der wesentlich die immermehr zunehmende Religionslosigkeit der Massen eine soziale Gefahr heraufzubeschwören scheint.
Dafür, daß wenigstens der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit aus einer allgemein menschlichen Prädisposition hervorgeht, scheint mir kaum eine kulturhistorische Thatsache eindringlicher zu sprechen, als die hervorragende Rolle, die dieser Glaube in sehr ausgeprägter Form bei den nüchternen, so ganz auf das Diesseits gerichteten Römern gespielt hat, deren fast metaphysikfreie, rein naturalistische, nur die Interessen des natürlichen und bürgerlichen Lebens hypostasierende Religion uns das vorstehende Kapitel im Umriß zeichnete. Offenbar muß dieser Glaube, wenn ihn sogar ein so sehr vom Zwecktriebe beherrschtes und durch ihn zur Weltherrschaft berufenes Volk in ganz besonderem Grade kultivierte, eine sozial sehr zweckmäßige Eigenschaft sein, eine Eigenschaft, die sich im Kampf der Völker ums Dasein bewährt. – Hängt nicht aber das Wort Wahrheit sprachgeschichtlich mit bewähren zusammen, und sollte nicht der Schluß gerechtfertigt sein, daß ein Glaube, der sich praktisch für Völker und Individuen als zweckmäßig bewährt, unmöglich eitel sein kann? Oder giebt es auch zweckmäßige Irrtümer und Wahnideeen? Vielleicht ist dieser mein Gedanke nur eine modernere Fassung dessen, was Kant mit seinem Beweise aus den Postulaten der praktischen Vernunft sagen wollte.
Genien, Laren oder Manen und Lemuren bezeichnen in der lateinischen Sprache drei Klassen oder Zustände des unsterblichen Teils der menschlichen Individualität.
Genius kommt von gignere = zeugen. Genius ist der schon vor der Geburt existierende transcendentale Keim und Kern des Menschenwesens und damit zugleich das Göttliche und Unvergängliche im Individuum. Hören wir darüber den nicht aus griechischer Philosophie, sondern aus altrömischer Religionskunde schöpfenden Varro: Der Mensch, sagt er, besteht aus drei Teilen, erstlich dem vegetabilischen ohne Sinn und Empfindung, zweitens dem animalischen mit Sinn und Empfindung aber ohne Selbstbewußtsein, drittens dem geistigen mit Vernunft und Selbstbewußtsein. Alle drei zeigen sich in der menschlichen Natur vereinigt, nämlich die erste in den Nägeln, Haaren und Gebeinen, die zweite in den Sinnesorganen, Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl, die dritte im Geiste. Die dritte ist es, die im Menschen genius, der das Leben zeugende, im Universum deus, Gott heißt. Denn auch im Universum sind die analogen Teile wiederzufinden, insofern z. B. die Erde mit dem Steinreiche den Gebeinen, Sonne, Mond und Sterne den Sinnesorganen, dem Geist oder Genius aber der alles durchdringende Äther, welcher auch den Gestirnen, der Erde und dem Meere emanierte Teile seines Wesens als besondere Gottheiten mitteilt, entsprechen.
Daß dies nicht pythagoräisch-platonische Philosopheme, sondern echtrömische, wahrscheinlich aus uralt arischen Traditionen und von jenen Philosophen selber nur übernommene Sätze sind, ist leicht zu beweisen.
Der Genius, der sich, wie das transcendentale Ich du Prels nur teilweise in die irdische Erscheinung versenkt, ist der Führer des persönlichen Schicksals, das Instinktartige, Unbewußte im Menschen, daher genius fatalis oder auch direkt fatum genannt. Vergl. Horatius, epistol. II. 2, 178. Genius est deus, cujus in tutela ut quisque natus est vivit; hic sive quod ut genamur curat sive quod una gignitur nobiscum sive etiam quod nos genitos suscipit ac tuetur certe a gignendo genius appellatur (Censorinus de die natali c. 3).
Da er als transcendentaler göttlicher Teil über die irdische Erscheinung hinausragt, genießt er auch seit urältester Zeit göttliche 657Verehrung. Bei keiner festlichen Gelegenheit vergaß man, seinem Genius zu opfern. „Beim Erntefest“, bezeugt Horaz (Epist. II. 1, 40) „opfert man dem mit den Lebensjahren geizenden Genius und treibt fescenninische Späße“; letzteres, da Genius zugleich die Bedeutung „zeugungskräftig“ hat, weshalb auch bei Hochzeiten dieselbe Sitte. Sein alljährlich wiederkehrendes Fest ist der Geburtstag. An diesem brachte man ihm Opferschrot, Kuchen, Honig, Wein, Weihrauch und Kränze, aber kein blutiges Opfer dar. Vor allem gedachte man seiner, wie bemerkt, auch bei Hochzeiten, da als Zweck der Ehe die Erzielung kongenialer Nachkommen galt; daher weihte man ihm das Brautbett, das nach altherkömmlicher Sitte mit Togen im Atrium gebreitet und lectus genialis genannt wurde. Einer der heiligsten Schwüre war der beim eigenen oder beim Genius einer geliebten Person. Der Jurist Ulpian bezeugt ein kaiserliches Gesetz, das den, der in Geldsachen beim Genius des Kaisers schwört und eidbrüchig wird, mit Stockschlägen bedroht.
Das Sinnbild des Genius war die Schlange, die, weil sie sich mit jedem Jahre verjüngt, das sich immer erneuernde Leben verdeutlicht. Hierdurch wird uns eine mehrfach verbürgte Erzählung vom Tode des Vaters der Gracchen, als Muster römischer Gattenliebe verständlich. Jener erblickte einst in seinem Ehebette ein Schlangenpaar und befragte die Weissager wegen der Bedeutung des Zeichens. Diese rieten ihm, eine davon zu töten, mit dem Bemerken, wenn er die männliche töte, würde er, wenn er die weibliche töte, seine Gattin, die berühmte Cornelia, binnen kurzem sterben. Er tötete die männliche und starb bald darnach an einer plötzlichen Krankheit. Cicero, der (de divinatione) diese Erzählung erwähnt, wirft allerdings die nicht unmotivierte Frage auf, warum er nicht beide entgegen dem Rate der Seher am Leben gelassen. Übrigens wurde der Genius auch als angehender Jüngling, geflügelt, nackt oder mit einem gestirnten Gewande, mit Blumen oder einem Wachholderzweige dargestellt.
Manen, wohl nicht von manere = bleiben, sondern von manis = milde, sind die frommen guten Seelen der Abgeschiedenen, also die wieder mit dem Genius vereinten, um den Inhalt des Erdenlebens bereicherten Geister. Sie sind dasselbe, was die Genien, aber vom postmortalen Standpunkt aus. Darum wird 658auch ihnen göttliche Verehrung zu teil. „Wenn ich einst tot bin“, schreibt Cornelia, die Tochter des großen Scipio, des eben erwähnten Vaters der Gracchen Gattin, an ihren Sohn Cajus, „so wirst du mir opfern (parentabis) und die Gottheit deiner Mutter anrufen. Wird es dich dann nicht beschämen, die Bitten eines Geistes anzuflehen, den du, als er noch lebte und gegenwärtig war, nicht beachtet und verschmäht hast?“ (Cornelius Nepos fragm.) Der berühmte Rechtsgelehrte Labeo, der zur Zeit des Augustus lebte, Begründer der bedeutenden Rechtsschule der sog. Prokulejaner, hat eine besondere, leider nicht erhaltene Schrift über die Manen und ihre Verehrung verfaßt (de diis, quibus origo animalis est) d. h. über die in göttliche Geister verwandelten Menschenseelen.
Die göttliche Verehrung der Abgeschiedenen begann am achten Tage nach dem Tode, wenigstens erst nach der Bestattungsfeierlichkeit. Denn bis zur Bestattung, die eben den Zweck hatte, den letzten noch vorhandenen magischen oder „magnetischen“ Zusammenhang der Seele mit der unreinen Leiche zu lösen, konnte sich der Geist noch nicht in die himmlischen Höhen begeben. Die Leiche pflegte man sieben Tage lang in einem nur diesem Zwecke bestimmten Nebenraume des Vestibüls im römischen Hause aufgebahrt zu halten. Während dieser Zeit galt das Haus als unrein, ein Cypressenbaum vor der Thür warnte diejenigen, die Befleckung zu scheuen hatten, vor dem Eintritt. Am achten Tage wurde die Leiche in feierlichem Zuge zur Brandstätte, – Feuerbestattung bildete die, jedoch nicht ausnahmslose, Regel, – getragen, wo der Scheiterhaufen in Form eines Altars errichtet war. Die Verbrennung hatte denselben Sinn, wie diejenige des Herkules auf dem Oeta, damit sich das Ewige zum Himmel erheben möge,
Darum sprach man, sobald die Verbrennung beendet war: unser Vater, Bruder, Gatte usw. ist allbereits ein Gott. Die Reste wurden dann unter Thränen und Klagen und Anrufung der Hingeschiedenen mit Wein gelöscht, in den Schooß gesammelt, mit Milch abgespült, in einem reinen Leinentuche gelüftet, in die Urne gelegt und nebst Thränenfläschchen, Weihrauch und Spezereien in der 659Grabstätte beigesetzt. – Nunmehr kehrte man nach Haus zurück, welches inzwischen gründlich gefegt und gescheuert war, schritt über ein Feuer und ließ sich durch Lorbeerwedel mit Wasser besprengen und war gereinigt. Der große Wert, den die Römer, wie die Griechen, auf eine angemessene Bestattung legten (justa facere), wird verständlich durch den Glauben, daß die Seele vorher keine endgültige Ruhe finde; die Erde beherbergte keinen, der ihr nicht durch feierliche Ceremonien von symbolischer Kraft übergeben war. Nach Ablauf einer Woche wurde dann das erste Totenfest der Hinterbliebenen gefeiert, die sog. feriae denicales, zu dem selbst einem Soldaten der Urlaub nicht verweigert werden konnte. Man ehrte die Verstorbenen durch einen Leichenschmaus, durch Absingung von Lobliedern, durch Anzündung von Räucherkerzen und Weinspenden auf ihrem Grabe und Bekränzung desselben mit Blumengewinden.
„Dieses Fest“, sagt Cicero (de legibus II, 22) „darf nur auf solche Tage verlegt werden, an welchen nicht bereits ein anderes Fest stattfindet, und die ganze priesterliche Einrichtung des Kultus zeugt von seiner großen Wichtigkeit und Heiligkeit.“
Aber neben diesem besonderen Totenfest fand am 19. Februar jeden Jahres ein allgemeines Totenfest statt, die sog. Feralia oder Parentalia, ein Vorbild unserer „Aller-Seelenfeier“. Allgemein brachte man an diesem Tage den lieben Toten Opfer dar. Doch waren die Manen genügsam. „Leicht versöhnt sind die Seelen der Väter“, sagt Ovid (Fast. II, 535), „nur kleines begehren die Manen. Hinreichend ist die Platte des Altars bedeckt mit hingestreuten Kränzen, und gestreute Früchte und wenige Körner von Salz, auch in Wein getränktes Getreide und ungebundene Veilchen. Doch größere Geschenke verbiete ich nicht: aber auch schon hierdurch ist der Schatten versöhnbar. Füge, wenn der Altar erbaut ist, noch Gebete und die üblichen Formeln hinzu.“ – „So lange dieses Fest währt (sechs Tage), so lange weilt, ehelose Mädchen: es erwarte die fichtene Fackel heilige Tage, verbirg, Gott Hymen deine Fackeln und entferne sie von jenen traurigen Flammen: denn andere Fackeln haben die traurigen Gräber. Auch verschließe man die Tempel und verberge die Götter: von Weihrauch sollen deren Altäre nicht rauchen und die Herde vom Feuer nicht lodern. Denn 660jetzt irren umher die luftigen Seelen: jetzt nähren sich die Schatten von dargebrachten Speisen.“ Man ging eben von der Überzeugung aus, daß der Zusammenhang und die Sympathie der Verwandtschaft und Liebe keineswegs durch das Band des Todes zerrissen sei, einerseits bedurfte die Seele, um zu dem höheren Zustande empor zu steigen, der magischen Beihülfe ihrer hinterbliebenen Angehörigen, die durch Opfer, Ceremonien und vor allem durch Gebete ihre Gewissen beruhigten in dem Bewußtsein dadurch noch etwas für die verstorbenen Lieben zu thun; andererseits aber glaubte man, daß die Seelen der Hingeschiedenen selber noch den vollsten Anteil am Heile ihrer Hinterbliebenen nähmen, und wenn man sie um Schutz und Beistand anflehe, hilfreich mit ihrer geistigen Kraft in der Nähe weilten. Aus diesem Grunde und da man zugleich annahm, daß die Reliquien und Überreste der Toten ein magisches Band seien, um ihre Gegenwart zu sichern, liebte man es, die Toten, wenn nicht gar im eigenen Hause, so doch in möglichster Nähe, auf der eigenen Besitzung zu bestatten. Wo immer ein Toter bestattet war, war der Ort heilig und schied aus dem Rechtsverkehr aus, durfte weder verkauft noch vertauscht werden; er stand im Eigentum der Toten. Der Verehrung der Ahnen (lares domestici) war im Atrium der Altar und das kleine Oratorium gewidmet, das wir fast in jedem pompejanischen Hause finden.
An allen Festtagen, die Kalenden, Nonen und Iden jedes Monats nicht ausgenommen, wurde den Toten geopfert und ein frischer Kranz um ihren Herd gelegt. Nichts liebten die Toten mehr als Blumen. Lieblich schildert ein solches Larenopfer und die davon gehoffte Wirkung für das Glück des Hauses die Ode von Horaz:
Nichts ist abgeschmackter und unrichtiger, als wenn man hin und wieder einen besser in der Geschichte der Juden, deren Pietätlosigkeit gegen Tote so groß war, daß die Gelehrten noch nicht eins sind, ob das alte Testament überall die Unsterblichkeit der Seele gelehrt habe, als in der des klassischen Altertums bewanderten christlichen Geistlichen predigen hört, wie z. B. Luther, von den „unseligen Heiden, die keinen Trost für des Todes Bitterkeit wußten“. Umgekehrt ist es eine kulturgeschichtliche Thatsache, daß die Pietät gegen die Hingeschiedenen zuerst durch die Christen, welche, so uneinig sie auch über den Zustand der Seelen nach dem Tode augenscheinlich gewesen sind, meistens dem aus persisch-pharisäischen Vorstellungskreisen entnommenen Glauben an fleischliche Auferstehung anhingen und bis dahin einen sog. Seelenschlaf (pannychie) voraussetzten, aus der Mode kam; den ersten Christen erschien der Manen- und Penatenkult als Abgötterei. Der Tote wurde begraben und bald vergessen; vor allem aber gab man den Zusammenhang mit den nicht christlich gewesenen und somit ewiger Verdammnis verfallenen Ahnen auf, soweit nicht etwa stellenweise griechische und römische Pietät, die auch das Dogma der sog. Höllenfahrt 662Christi motiviert haben wird, den übrigens sehr zweifelhaften Ausweg ergriffen haben mag, sich „über“, wie Luther schlecht übersetzt, richtiger wohl „für“ oder „im Namen“ der Toten taufen zu lassen. (Corinth. I. 15, V. 29.) Erst später gab die römische Kirche dem im Volke nachhaltig wurzelnden Glauben an einen unzerreißbaren Zusammenhang der Liebe zwischen den Verstorbenen und Hinterbliebenen insoweit nach, als sie das „Aller-Seelenfest“ und die „Totenmessen“ einführte. Es blieb aber jetzt die düstere Vorstellung von einem qualvollen Zustande der abgeschiedenen Seelen im Fegefeuer maßgebend, der durch diese kirchlichen Gnadenmittel gemildert werden könnte. Immerhin hat die katholische Kirche durch diese, kulturgeschichtlich an den alten Römerglauben anzuknüpfende Institution einen das Gemüt sehr ansprechenden Vorzug vor dem Protestantismus, der den Glauben an die Unsterblichkeit zu einer kalten Abstraktion verflüchtigt und ebenfalls erst lange nach Luther, dessen grobsinnliche und wenig logische Natur niemals zu einer ganz klaren Lehre über das Jenseits gelangte, wieder in der Feier des sog. Totensonntags ein schwächliches Surrogat für die Allerseelenfeier gesucht hat.
Die jetzt im Katholizismus vorherrschende düstere Auffassung des jenseitigen Seelenzustandes war übrigens auch den Römern nicht fremd. Ihr entspricht die dritte Klasse der Abgeschiedenen, der sog. Lemuren, d. h. der friedlosen Gespenster, zu deren Beruhigung das Fest der Lemuralien (vom 9. bis 13. Mai) gefeiert ward.
„Wenn schon Mitternacht ist und dem Schlafe Stille darbeut,“ sagt Ovid (Fasten V. 430ff.), „und der Hund und ihr mancherlei Vögel stille schweigt, so erhebt sich, wer eingedenk des alten Brauchs und gottesfürchtig ist: seine beiden Füße fesseln keine Bande. Er giebt Zeichen mit den Fingern dicht angefügt, den Daumen in der Mitte, damit nicht ein leichter Schatten, wenn er ruhig wäre, ihm entgegen käme. Dreimal bespritzt er mit dem Wasser eines Gottes die reinen Hände, dreht sich um, und nimmt in den Mund schwarze Bohnen. Er wirft sie umgedreht; aber während er wirft, spricht er: das hier bringe ich: mit diesen Bohnen löse ich mich und die Meinen. Das spricht er neunmal, nicht zurückschauend. Der Schatten, glaubt man, lese sie auf und folge, wenn keiner zurückblickt. Darauf wieder besprengt er sich mit Wasser, und schlägt 663klirrend temesäische Erze zusammen, und fleht, daß der Schatten aus seiner Wohnung gehen möchte. Hat er neunmal gesprochen: Geht heraus, ihr Männer der Väter! so blickt er zurück, und hält die Opfer für heilig geendigt. Woher der Tag benannt ist, und woher der Ursprung des Namens, weiß ich nicht. Von einem Gotte müssen wir's erfahren. Du der Pleiade Erzeugter, belehre uns, ehrwürdig durch deinen mächtigen Stab! Oft hast du den Königspalast des stygischen Zeus gesehen. Erfleht erschien der Träger des Stabs: Vernimm die Ursach des Namens! Von ihm selbst, dem Gotte, hab' ich die Ursache erfahren. Wie Romulus die Schatten seines Bruders im Leichenhügel verborgen, und dem unglücklichen Springer Remus das Todtenopfer vollendet, so besprengte der unglückliche Faustulus und Acca mit fliegenden Haaren die verbrannten Gebeine mit ihren Thränen. Drauf kehrten sie traurig beim Anfang der Dämmerung nach Hause zurück, und legten sich in diesem Zustande nieder aufs harte Lager. Remus blutiger Schatten schien vor dem Lager zu stehen, und mit leisem Gemurmel diese Worte zu reden: Auf dann, sehet, was ich nun sei, ich die Hälfte von euch und der andere Teil des Gelübdes; wie und wer ich soeben war, während ich, hätte ich nur Vögel gesehen, die mir Herrschaft verhießen, der größte in meinem Volke sein konnte. Jetzt bin ich entflohen den Flammen des Scheiterhaufens, bin ein leeres Schattenbild. Das ist die Gestalt von jenem Remus zurückgelassen. Ach! wo ist Vater Mars? wenn ihr anders die Wahrheit geredet habt, und jener den Ausgesetzten die Euter einer Wölfin vergönnte? Den eine Wölfin erhielt, den hat eine frevelnde Hand eines Mitbürgers gemordet. O wie viel sanfter war sie? Wüthrich Celer, unter Wunden gieb deinen grausamen Geist auf, und betritt, wie ich, das Unterreich mit Blut befleckt! Das war der Wille meines Bruders nicht: auch er besaß, wie ich, gleiche Liebe. Thränen, nur das vermocht er, vergoß er um meinen Tod. Ihn fleht bei seinen Thränen, ihn bei eurer Erhaltung, daß er feierlich mit festlicher Ehre den Tag auszeichne! Wie er den Auftrag gab, wünschten sie ihn zu umfassen, und streckten aus die Arme. Den greifenden Händen entfloh der flüchtige Schatten. Sobald das fliehende Bild den Schlaf mit sich entführte, so berichten beide dem König den Befehl seines Bruders. 664Romulus gehorchte und nannte den Tag Remuria, an dem den begrabenen Ahnen Todtenopfer gebracht werden. Der harte Buchstabe, der erste im ganzen Namen, ist in der langen Zeit in einen gelinden verändert worden. Bald auch nannte man der Schweigenden Seelen Lemuren, das ist des Wortes Sinn, das seine Bedeutung. Doch die Tempel verschlossen die Alten an jenen Tagen, so wie man sie noch jetzt zur Leichenzeit verschlossen sieht. Auch war dies nicht die Zeit schicklich zu fackeln einer Verwittweten noch einem Mädchen. Lange lebte die nicht, die hier sich verhüllte. Darum sagt auch der große Haufe: (wenn dir Sprichwörter gefallen): Schlechter Mädchen Ehe fällt in den Monat Mai.“
Während Jupiter Herr der Genien ist, ist Saturn Herr der übrigen guten Geister. Im übrigen steht die gesamte Unterwelt unter dem Szepter des Orcus, der auch Dis, Jupiter Stygius heißt, identisch mit dem Pluton der Griechen. Dessen Gattin, von den späteren Dichtern mit Proserpina identifiziert und gewöhnlich auch so genannt, hieß mit ihrem altlateinischen Namen Libitina, Lubentia oder Lubia. Ihr Tempel diente zur Aufbewahrung aller zu Leichenbegängnissen erforderlichen Gerätschaften; ihre Priester, die libitinarii fungierten als Leichenführer, führten auch das Totenregister. Sonderbarerweise wird diese Libitina vielfach mit der Lustgöttin Venus identifiziert, so daß man von einer Venus Libitina liest, was an die gleichzeitige Beziehung der griechischen Demeter zum Tode und zur Zeugung erinnert.
Noch heutzutage muß dem Nordländer, der Italien zum ersten Male bereist, die große Verbreitung des Glaubens an schwarze Magie, insbesondere den bösen Blick (mal occhio), ferner an die Bedeutsamkeit gewisser Tage, Stunden, Zahlen u. s. w., und an bedeutsame symbolische Handlungen auffallen. Es ist ein Erbteil der alten Latiner und Etrusker. Nirgends werden, selbst von Angehörigen der sog. gebildeten Stände, besonders freilich von Frauen mehr Amulette gegen Zauber, Behexung u. s. w. getragen, als in Italien. Man kann sich denken, wie viel verbreiteter dieser, durch das Christentum einigermaßen gedämpfte Aberglauben in der heidnischen Zeit gewesen ist. Hatte doch selbst der allgemeine Brauch der Bulla bei den römischen Jünglingen nur in diesem Glauben seinen Grund. Die Bulla war eine hohle, runde, inwendig mit magischen Präservativmitteln gegen Behexung und Neid gefüllte goldene Kugel. Eine solche trugen auch die Triumphatoren, die ja ganz besonders dem Neid und bösen Blick ausgesetzt zu sein besorgen mußten.
Beim Anfange eines jeden wichtigeren Geschäftes achtete man auf alle nur erdenklichen Zeichen (omina), die man teils für günstig, teils für ungünstig hielt. Da ein ungünstiges Zeichen, das von dem Handelnden nicht beobachtet wurde, auch keine Bedeutung für ihn hatte, so pflegte der Römer beim Opfer sich das Gesicht zu verhüllen, um kein Zeichen wahrzunehmen und beim Aussprechen feierlicher Gebete, Eidesformeln u. s. w. einen Flötenbläser spielen zu lassen, um auch die Ohren zu sichern.
So gingen dem Opferkönig und den Priestern Herolde (praeclamitatores) vorauf, welche mit dem Rufe: hoc age! „Habt Acht!“ die Leute, bis der Priester vorüber wäre, von der Arbeit abzulassen mahnten; denn abgesehen davon, daß die Arbeit an sich nicht zur Feier paßte, war die Einstellung derselben nötig, weil bei vielen Beschäftigungen, z. B. beim Schlagen, Hämmern und Sägen Mißtöne erzeugt werden konnten, die unheilkündend waren und ein Fest entheiligten, ebenso wie Klage und Wehrufe, Hader, Zank, Scheltworte und Flüche. Darum ertönte auch vor jedem Opfer der Ruf des Herolds: „Habet Acht auf Gedanken und Worte!“
Doch war glücklicher Weise die Zahl glückverheißender Omina nicht geringer, als die der ungünstigen; und das Beste war, daß nach römischer Auffassung die Geistesgegenwart des Beobachtenden es durchaus in ihrer Gewalt hatte, ein Zeichen anzunehmen (accipio omen) oder zurückzuweisen (ad me non pertinet). So war z. B. das Niesen ein göttliches Zeichen. Der Römer pflegte es sofort mit einem accipio omen aufzunehmen. Ich bin überzeugt, daß die Römer, hätten sie den Schnupftaback schon gekannt, reichlich von ihm bei wichtigen Angelegenheiten, im Senat oder in der Volksversammlung, selbst bei Opfern und religiösen Handlungen Gebrauch gemacht haben würden. Gewiß würde jeder Senator seine Schnupftabacksdose bei sich geführt haben. Auch konnte man der sich zunächst aufdrängenden ungünstigen Bedeutung eine passende günstige substituieren, die Kraft des bösen Zeichens brechen und seine anscheinende Drohung in eine Verheißung verwandeln. Durch solche Geistesgegenwart haben große Männer sich nicht selten zu Herren der Situation gemacht, indem sie es verstanden, den schlechten Eindruck, den irgend ein anscheinend ungünstiges Omen auf ihre Umgebung machte, in sein Gegenteil umzukehren. Bekannt ist z. B., daß Cäsar, als er an der afrikanischen Küste aus dem Schiff springend zu Boden stürzte, die Worte sprach: „Ich fasse Dich, Afrika!“ Der Legat Marcellus rief, als beim Beginn einer von ihm geleiteten Attacke gegen Viridomarus sein Pferd, vom Waffenblitz geblendet und vom Getöse scheu geworden auf die Seite sprang, frohlockend aus: sein Pferd habe gegen die Sonne zu die Schwenkung des Betens gemacht.
Durch Schlauheit und Betrug konnte man sich sogar ein Zeichen aneignen, das einem Anderen zu teil geworden war. Ein Beispiel der Art erzählt Livius I, 45 und Plinius (siehe folgende Seite!).
Kein Römer hat diesen Aberglauben witziger verspottet, als Cicero in seiner Schrift über die Weissagung.
„O, unglaublicher Unsinn!“ ruft er aus, „Wie kannst Du, wenn du darauf achtest, freien Mutes sein, um zu einer Unternehmung nicht den Aberglauben, sondern die Vernunft zum Führer zu haben? – Sollen wir bei unseren Handlungen auf das Anstoßen des Fußes, auf das Zerreißen eines Fußriemens und auf das Niesen Acht geben?“ – Wie tief dieser Aberglaube gleichwohl auch in den gebildeten Römern der späteren Zeit wurzelte, beweist nichts mehr als die folgende Ausführung des Naturforschers Plinius, desselben, der den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele mehrfach verspottet, der aber in seiner Naturgeschichte (H. N. XXVIII, 3) über die Kraft symbolischer Sprüche und Handlungen folgendes bemerkt:
„Es ist eine große und noch immer unentschiedene Frage, ob Worte und Zaubersprüche eine Wirkung haben. Zwar die persönliche Überzeugung aller Vernünftigen verwirft sie, allein im Allgemeinen beharrt die Praxis jeder Zeit fest auf dem Glauben, ohne sich daran zu kehren. Hält man doch die Schlachtung der Opfer, sowie auch die Befragung der Götter ohne Gebet für ungültig. Man hat obendrein besondere Formeln für Erforschungsopfer, besondere für Abwendungsopfer, besondere für Erflehungsopfer, und wir sahen, wie die höchsten Obrigkeiten bestimmte Gebete sprachen, so daß einer die Worte aus dem Buch vorsagte, damit nichts ausgelassen oder verstellt würde, ein zweiter als Hüter aufgestellt war, welcher aufmerkte, ein dritter den Anwesenden gebieten mußte, daß sie auf ihre Worte Acht geben sollten: zugleich spielte der Pfeifer, damit man ja keinen unrechten Laut vernehmen möchte; und man weiß von beiderlei Fällen merkwürdige Beispiele, daß nämlich, so oft ein widerwärtiger Laut störend dazwischentönte oder der Betende irr wurde, plötzlich von den Eingeweiden der Kopf (der Leber) oder das Herz verschwand, oder sich verdoppelte in der Zeit, wo das Opfertier dastand. Erhalten ist als ein ungeheures Beispiel, der Spruch der Decier, des Vaters und des 668Sohnes, mit dem sie sich weihten; vorhanden ist das Gebet der der Unzucht beschuldigten Vestalin Tuccia, mittelst dessen sie im Jahr der Stadt 609 (140 vor Chr.) Wasser im Sieb trug; ja selbst unsere Zeit hat es noch erlebt, daß auf dem Rindermarkt ein Grieche und eine Griechin, oder Mitglieder anderer Nationen, mit denen man damals zu thun hatte, lebendig eingegraben wurden, und wer die Gebetsformel solcher Opfer liest, welche der Vorsteher des Kollegiums der fünfzehn dabei vorzusprechen pflegt, der wird wahrlich die Wirksamkeit der Sprüche, die durch eine achthundertunddreißig-jährige Erfahrung bestätigt ist, nicht leugnen mögen. Wir glauben noch heutzutage, daß unsere Vestalinnen entlaufene Sklaven, wenn sie die Stadt noch nicht verlassen haben, durch Gebete zu bannen vermögen: und giebt man nur einmal dem Grundsatze Raum, daß die Götter Gebete erhören und sich durch sie bewegen lassen, so kann man dasselbe nicht mehr in Abrede stellen. Rücksichtlich dieser ganzen Streitfrage haben unsere Vorfahren stets nur diese Überzeugung gehegt, und sogar das Schwerste nicht für unmöglich gehalten, nämlich Blitze zu entlocken, wie seines Orts von uns gezeigt worden ist. Lucius Piso meldet im ersten Buch seiner Annalen, der König Tullus Hostilius habe nach Numa's Vorschrift den Jupiter durch dieselben Ceremonien, wie dieser vom Himmel herabzuziehen versucht: weil er aber im Ritus etwas versah, so sei er vom Blitze erschlagen worden; viele andere melden, daß durch Worte das Schicksal mächtiger Staaten und die Bedeutung der sie betreffenden Anzeichen verändert zu werden vermögen. Als man z. B. den Grund zum Tarpeischen Tempel grabend, einen Menschenkopf gefunden hatte, so versuchte der berühmte Etrurische Seher Olenus Calenus, an den man darum Gesandte geschickt hatte, dieses vortreffliche und glückliche Anzeichen durch die zweideutige Einrichtung seiner Fragen auf sein Volk hinüberzuspielen. Er beschrieb nämlich erst den Umriß des Tempels vor sich im Sande, und sprach dann: ‚Also hier, sagt ihr, Römer, hier soll der Tempel des besten und höchsten Jupiters stehen? Hier hat man den Kopf gefunden‘: und die Annalen behaupten einstimmig, daß das Anzeichen auf Etrurien übergegangen wäre, hätten nicht die römischen Gesandten, durch des Sehers einen Sohn im Voraus gewarnt, geantwortet: ‚Nicht eben hier, sondern 669zu Rom, sagen wir, ist der Kopf gefunden worden.‘ Dasselbe geschah noch ein anderes Mal, als das thönerne Viergespann, welches für das Giebelfeld desselben Heiligtums bestimmt war, im Ofen so anschwoll, und auch damals wurde das Anzeichen auf gleiche Weise für Rom gerettet. Dies möge genug sein, um durch Beispiele darzuthun, daß die Bedeutung der Anzeichen erstlich in unserer Gewalt ist, und zweitens nur in der Art stattfindet, als man sie angenommen hat. Denn in der Disciplin der Auguren wenigstens gilt es für ausgemacht, daß weder ein widerwärtiges noch auch irgend ein anderes Anzeichen Wirkung für den habe, welcher bei dem Beginn irgend eines Geschäftes sagt, daß er es nicht bemerkt habe: und dies ist eine der größten Wohlthaten der göttlichen Gnade. Stehen nicht ferner schon in den zwölf Tafelgesetzen die Worte: wer Früchte behext, und wieder an einer anderen Stelle: wer einen bösen Zauberspruch spricht? Verrius Flaccus führt glaubwürdige Gewährsmänner dafür an, daß man bei der Bestürmung von Städten vor allem die Schutzgottheiten durch die römischen Priester herauszubeschwören pflegte, und ihnen einen gleichen oder noch ansehnlicheren Dienst als zu Rom versprach. Und diese Ceremonie ist in der Disciplin der Auguren noch erhalten, auch ist bekannt, daß eben darum die Schutzgottheit Roms verheimlicht wurde, damit von den Feinden nicht ein gleiches vorgenommen werden möchte. Der Furcht, durch Verwünschungen behext werden zu können, entschlägt sich niemand: Beweis dafür ist, daß jedermann die Schalen der Eier und Austern, die er ausgeschlürft hat, sogleich zerbricht oder mit dem Löffel durchstößt. Darum haben Theocrit im Griechischen, Catull und zuletzt Vergil im Lateinischen Nachahmungen von Liebeszauberliedern gegeben. Viele glauben, daß man auf diese Weise Töpferwaren bersten machen kann, etliche sogar, daß die Schlangen ihrerseits einen Gegenzauber anzuwenden verstünden, welches die einzige Verstandesäußerung dieser Tiere sei, und daß sich dieselben bei dem Liede der Marsen zusammenziehen, selbst während der Nachtruhe. Auch Wände werden durch Besprechung des Feuers demselben zur Grenze gesetzt. Dabei ist es schwer zu sagen, ob die schwerauszusprechenden fremden Wörter oder die seltsamen lateinischen dem Glauben mehr Eintrag thun, die der Geschmack 670nicht umhin kann lächerlich zu finden, während man etwas Großartiges erwartet, das da würdig wäre, einen Gott zu rühren, ja zu nötigen. Homer erzählt, wie Odysseus das rinnende Blut an einer Schenkelwunde durch einen Spruch gestillt habe; Theophrast lehrt, daß sich das Hüftweh damit heilen lasse; Cato hat einen Spruch hinterlassen, der gegen Verrenkung helfen soll, Marcus Varro einen gegen das Podagra; der Diktator Cäsar soll, nachdem er einmal mit dem Wagen gefährlich umgeworfen worden war, jedesmal nach dem Einsteigen durch dreimaliges Hersagen eines Spruches Gefahrlosigkeit seiner Reise eingeleitet haben, was jetzt bekanntlich von den meisten geschieht. Wir wollen diesen Punkt noch durch Berufung auf das persönliche Bewußtsein eines jeden zu erweisen suchen. Warum weihen wir nämlich den ersten Tag des Jahres durch gegenseitige Glückwünschungen ein? warum wählen wir bei öffentlichen Sühnopfern sogar zu Führern der Schlachtopfer nur solche, welche glückbedeutende Namen tragen? warum begegnet man zum Teil den Behexungen durch einen ganz eigentümlichen Gottesdienst, indem man die griechische Nemesis anruft, deren Bildnis zu dem Behuf in Rom auf dem Kapitolium aufgestellt ist, ohngeachtet der Name nicht einmal lateinisch ist? warum beteuert man, wenn man von Verstorbenen spricht, daß man ihr Andenken nicht verunglimpfen wolle? warum glaubt man, daß die ungeraden Zahlen zu allen Dingen wirksamer seien, und erkennt dies beim Fieber in dem Einhalten der Tage? warum sprechen wir bei den Erstlingen des Obstes: dies sei altes, wir möchten neues? warum wünschen wir beim Niesen Wohlsein? was auch Cäsar Tiberius, der doch bekanntlich ein sehr unfreundlicher Mann war, im Wagen beobachtet wissen wollte; und manche halten es für besser, wenn man beim Grüßen den Namen dazu sage. Es wird angenommen, daß sogar die Abwesenden es durch das Klingen der Ohren spüren, wenn von ihnen gesprochen wird. Attalus behauptet, wenn man beim Erblicken eines Skorpions die Zahl zwei spreche, so sei er gebannt und könne nicht stechen. – –
Es ist ferner offenbar, daß auch viele ceremoniöse Handlungen von Wirksamkeit sind. Einer besänftigt die Herzensangst, indem er Speichel hinter das Ohr streicht: das Sprichwort heißt uns, wenn wir jemand wohlwollen, den Daumen drücken: beim Beten legen 671wir die Rechte an den Mund und drehen uns mit dem ganzen Körper herum: das Wetterleuchten durch den Ton zu verehren, welcher durch das Einziehen der Luft bei zusammengedrückten Lippen entsteht, ist übereinstimmende Sitte der Völker. Wenn beim Essen eine Feuersbrunst genannt wird, so gießt man, um die Vorbedeutung abzuwenden, Wasser unter den Tisch: den Boden zu kehren, während ein Gast auf dem Heimwege begriffen ist, den Tisch oder das Gestell wegzutragen, während er trinkt, wird für eine sehr schlimme Vorbedeutung gehalten. Es ist von einem sehr vornehmen Manne, Servius Sulpicius, eine Abhandlung darüber vorhanden, warum man den Tisch nicht stehen lassen soll: denn noch zählte man nicht mehr Tische als Gäste. Sodann gilt es für ein widerwärtiges Anzeichen, ein Gerücht oder den Tisch durch Niesen zurückzurufen, im Fall man nachher nicht noch etwas kostet, oder überhaupt gar nichts ißt. Diese Gebräuche schreiben sich aus einer Zeit her, welche die Götter bei jedem Geschäft und zu jeder Stunde gegenwärtig glaubte, und deren Verdienst sie auch unserem verderbten Geschlechte noch gnädig erhält. Wenn die Tafel plötzlich schwieg, so fiel dies nicht auf, außer bei gleicher Zahl der Gäste, und der Schaden ging an dem Rufe dessen aus, der daran schuld war: eine aus der Hand gefallene Speise wurde jedenfalls wieder über die Tafel gereicht, und man durfte nicht, um sie zu reinigen, daran blasen; ja es sind eigens dafür Augurien eingerichtet, bei welchen Worten oder Gedanken einem dies begegnet ist. Zu dem Verwünschtesten gehört es z. B., wenn es einem Pontifex beim Festmahle des Dis widerfährt. Etwa das Gefallene wieder auf den Tisch zu legen oder den Lar zu verbrennen, fordert Sühne. – – Ein ländliches Gesetz verbietet auf den meisten italienischen Landgütern, daß die Weiber, wenn sie über die Straße gehen, die Spindel nicht drehen und überhaupt nicht aufgedeckt tragen sollen, weil dies den allgemeinen Erwartungen, besonders von den Feldfrüchten, zuwider ist. Der Konsul M. Servilius Nonianus pflegte vor nicht langer Zeit, wenn er eine Augenkrankheit besorgte, ehe er noch davon sprach oder jemand anderes sie ihm ankündigte, die zwei griechischen Buchstaben Π und Α auf ein Papier zu schreiben, und dieses, mit einem Faden umwickelt, um den Hals zu hängen; der dreimalige Konsul Mucianus 672nahm das nämliche mit einer lebendigen Mücke in einem weißen Stückchen Leinwand vor, und sie rühmten beide, daß dies sie von der Krankheit bewahre. Man hat Sprüche gegen den Hagel, gegen alle Gattungen von Krankheiten und gegen Brandschäden, deren manche bewährt sind: aber sie mitzuteilen hält uns eine starke Scheu ab wegen der großen Verschiedenheit der Ansichten. Darum halte es mit diesen Dingen ein jeder nach seinem Gutdünken!“
Wie in Griechenland, so sah sich also auch in Rom der Staat selber genötigt, dem allgemeinen Volksglauben an Vorzeichen, Weissagungen und Prophetenkünste Rechnung zu tragen. Während aber in Griechenland vielfach ein unabhängiges Priestertum durch die Orakel einen oft recht bedenklichen Einfluß auf die Politik erlangte, so daß gerade die hervorragendsten Staatsmänner, ich erinnere an Themistokles und Demosthenes nur in offener Opposition gegen den religiösen Glauben der Menge und durch Verdächtigung des Orakels, dem z. B. Demosthenes Bestechlichkeit vorwirft, ihre Zwecke behaupten konnten, hat es die römische Staatskunst verstanden, das gesamte Orakel- und Zeichenwesen schließlich zu einem gefügigen Werkzeug ihrer eigenen Zwecke herabzudrücken. Alle mit der Überwachung desselben betrauten Personen, die Pontifices, die Auguren, die Fetialen und die Bewahrer der sibyllinischen Bücher standen unter ihrer Aufsicht; alle diese Personen hatten großen Einfluß auf das Volk, aber derselbe war bedingt durch eine von der Staatsbehörde an sie gerichtete Aufforderung, in Funktion zu treten; sie antworteten nur, wenn sie gefragt wurden; ihnen selbst fehlte jede Initiative. Der Beamte konnte, wenn er wollte, die Auspicien allein vornehmen oder einen Zeichendeuter zuziehen, der nicht zum Kollegium der Auguren gehörte; eine ohne seine Aufforderung von einem Augur vorgenommene Beobachtung band ihn nicht.
Alles in Allem, die römische Staatskunst hat es verstanden, die Lehre und das „Recht“ der Vorzeichen, – dem Römer gestaltet sich alles zum Recht, – so einzurichten, daß nicht die Menschen den Zeichen, sondern die Zeichen den Menschen untergeben waren.
Diese Bemerkung muß den „Occultismus“ der Römer in den Augen des modernen, gläubigen „Occultisten“ degradieren, in demselben Grade, in dem sie die Staatsklugheit der Römer in den Augen des Politikers erhöht. Allein ich darf ihre Schärfe dadurch abstumpfen, daß ich zugebe, in der älteren Zeit, in der das Staats- und Rechtsprinzip, das wesentlichste Charakteristikum des Römers, das bei ihm schließlich geradezu, wie v. Ihering sagt, an Stelle der Religion trat, noch nicht zum völligen Durchbruch gelangt war, muß selbstverständlich die Sache anders gelegen haben. „Jene Augurenkunst des Romulus“, dies giebt sogar der feine Spötter Cicero zu, „war ländlich, nicht politisch und nicht erdichtet für den Glauben des Pöbels, sondern von Kundigen empfangen und den Nachkommen überliefert.“ Darum bleibt dies ganze Gebiet nicht nur für den eigentlichen „Occultisten“, sondern auch für den Kulturhistoriker und Psychologen interessant. Denn so leicht es auch ist, die Divination überhaupt aus dem naiven Wunsche des Menschen abzuleiten, den Schleier der Zukunft zu lichten und in der Umgebung überall bedeutsame Zeichen der Götter zu wittern, so rätselhaft bleiben doch die besonderen Formen, die einzelnen, oft so bizarren Wege und Methoden, durch welche dieser allgemeine Trieb sich zu befriedigen versucht.
Das eigentliche Orakelwesen, meint Mommsen, röm. Geschichte I, 177, sei nach Latium erst durch die Griechen eingeführt. „Die Sprache der römischen Götter beschränkte sich im Ganzen auf Ja und Nein und höchstens auf die Darlegung ihres Willens durch das – wie es scheint, ursprünglich italische – Werfen der Loose[631]; während seit sehr alter Zeit, wenngleich dennoch wohl erst infolge der aus dem Osten empfangenen Anregung die redseligeren Griechengötter wirkliche Wahlsprüche erteilten.“
Ein solches uraltes Loosorakel, Orakel der Fortuna, befand sich in Präneste, während sich in Antium ein anderes Orakel der Fortuna befand, wo das Bildnis dieser Göttin – o diva, gratum quae regis Antium, singt Horaz, – auf Fragen nickend antwortete.
Doch erscheint es mir zweifelhaft, ob Mommsen mit der Herleitung der übrigen italischen Orakel von den Griechen Recht hat, und zwar deshalb, weil nicht der Gott Apoll, wie bei den Griechen, sondern der zweifellos echt latinische Hirtengott Faunus und seine Gemahlin, die aus diesem Grunde die Beinamen fatuus und fatua[632] trugen, nach römischer Auffassung die vorzugsweise weissagenden Gottheiten waren. Darum fanden sich die Standpunkte der altitalischen Orakel in Wäldern. Eines der ältesten und berühmtesten dieser Orakel war dasjenige zu Tibur, dem heutigen Tivoli. Vergil, Aeneis VII, 85ff. beschreibt die hier übliche Methode der Wahrsagung in folgenden Versen:
Daß es sich hier um somnambule Zustände handelte, ist unzweifelhaft; der Befragende, wie der Priester, mußte sich vorher des Fleischgenusses und des Beischlafs enthalten, die Finger von Ringen befreit haben und in ein schlichtes Gewand kleiden. Der 676Priester brachte dann ein Schaf und andere Gaben zum Opfer, der Befragende legte sich, nachdem zuvor sein Haupt dreimal mit reinem Quellwasser besprengt war, auf das Vließ des Schafes zur Nachtzeit in der Nähe des rauschenden Wasserfalls und im Bereich der betäubenden (mephitischen) Bodenausdünstung nieder, um somnambule Träume zu erlangen.
Ein anderes seit der Urzeit berühmtes Orakel war zu Cumae, wo der Gott sich durch eine alte aber jungfräuliche Frau, die Sibylle, offenbarte, welche übrigens ihre Verkündungen der Regel nach nicht, wie die Priesterin in Delfi mündlich, sondern schriftlich überlieferte. Dieses beschreibt ebenfalls Vergil (Aeneis III, 441ff.):
Vorzugsweise auf eine Cumäische Sibylle Amalthea führte man die Orakel zurück, die der römische Senat als „sibyllinische Weissagungen“ aufbewahrte und von Zeit zu Zeit zu konsultieren pflegte. Schon einem der Tarquinier soll einst ein geheimnisvolles Weib genaht sein und ihm neun Bücher Weissagungen zum Ankauf angeboten haben, und als er nicht sogleich auf ihre Forderung einging, erst drei und dann wieder drei jener Bücher verbrannt haben, bis schließlich der König die drei übrig gebliebenen aus ihren Händen nahm, worauf sie auf unerklärliche Weise vor seinen Augen verschwand. – Einzelne der in den sibyllinischen Büchern überlieferten Orakel wurden aber auch von Albunea, einer ehemaligen Sibylle zu Tibur hergeleitet, die ihre Aufzeichnungen 677in das Wasser des gleichnamigen Bergstroms warf, wo sie von Fragenden aufgefischt wurden.
Die sog. sibyllinischen Bücher verwahrte man bis zum Jahre 670 im Erdgeschoß des Jupitertempels in einem steinernen Kasten. Zur Lesung und Ausdeutung derselben wurde in frühester Zeit ein eigenes nur den Augurn und Pontifices im Range nachstehendes Kollegium von zwei Sachverständigen (duoviri sacris faciundis) bestellt. Leider wurden sie in diesem Jahre mit dem Tempel selbst ein Raub der Flammen. Man stellte aber jetzt alsbald aus den allenthalben verbreiteten angeblichen Abschriften eine neue, gesichtete und gereinigte Sammlung zusammen. Um dem Mißbrauch, der mit den übrigen im Volke kursierenden unechten sibyllinischen Büchern getrieben wurde, zu steuern, befahl noch Kaiser Augustus an einem Tage dieselben sämtlich dem städtischen Prätor auszuliefern, er ließ dann 2000 für unecht erkannte verbrennen, die echten aber in zwei vergoldeten Schränken im Apollotempel niederlegen, und er setzte statt der frühern duoviri s. f. eine neue Kommission von fünfzehn Männern ein, um sie zu beaufsichtigen.
Die zwei Priester, die früher, und die Fünfzehner, die seit Augustus die Obhut über die sibyllinischen Bücher hatten, durften nur auf Befehl des Senats und im Beisein obrigkeitlicher Personen in denselben nachschlagen und dem Volke keine Orakel eigenmächtig mitteilen. Nur in Zeiten der Gefahr und Not, zumal wenn ungewöhnliche Zeichen die Gemüter aufregten, nahm man zu ihnen die Zuflucht. Vermutlich fand dabei kein Durchlesen und keine Auswahl des passend erscheinenden statt, sondern ließ man, indem man nach einiger ceremoniöser Vorbereitung die Schriftrolle aufs Geradewohl öffnete, den Zufall walten, wobei es natürlich immer möglich blieb, das zufällig entgegenkommende als ungeeignet abzulehnen. Die Orakel waren ja, wie alle Orakel, unbestimmt genug abgefaßt, um so ziemlich auf alle Fälle zu passen. Übrigens sollen sie sogar Prophezeiungen von den Weltaltern und einer schließlichen Rückkehr zum Anfangszustande (apocatastasis), die sich ebensowohl in den Bewegungen der Weltkörper wie in dem Zustande der Menschheit vollziehen werde, enthalten haben. Nach Tacitus soll in ihnen die Prophezeiung sich gefunden haben, daß einem aus Judäa Kommenden die Weltherrschaft beschieden sei, was allgemein schon 678von den Kirchenvätern auf Christus bezogen worden ist. Wahrscheinlich zitiert auch Vergil nur eine sibyllinische Weissagung in den Versen:
Verse, die ja ebenfalls frühzeitig auf Christus und die mit ihm begonnene neue Weltperiode gedeutet worden sind.
Übrigens wandte man sich auch frühzeitig an den delfischen Apollo; italische Städte wie Spina und Cäre hatten im delfischen Heiligtum wie viele andere mit demselben in regelmäßigem Verkehr stehende Gemeinden ihre eigenen Schatzhäuser. Außerdem zeugt dafür die frühe Aufnahme des mit dem delfischen Orakel eng zusammenhängenden griechischen Wortes thesaurus in die lateinische Sprache und die älteste römische Form des Namens Apollon Aperta, der Eröffner, eine etymologisierende Entstellung des dorischen Apollon, deren Barbarei eben ihr hohes Alter verrät.
Da nach der Anschauung der Alten Zeus-Jupiter, der Himmelsvater, der Beherrscher der Atmosphäre, der höchste Gott und Lenker aller irdischen Geschicke war, so wird es begreiflich, daß sie den Erscheinungen des Luftraums die größte Aufmerksamkeit zuwenden zu müssen glaubten, weil sie nun einmal von dem Glauben beseelt waren, daß der Gott ihnen seinen Willen durch Zeichen kundgeben wolle. Erklärlich wird es daher auch, daß die Segler der Lüfte, die Vögel, in ihren Augen als bevorzugte Boten dieses höchsten Gottes erschienen und neben anderen eigentlich meteorologischen Phänomenen zwar nicht immer als die vornehmsten, so doch als die häufigsten Träger der göttlichen Zeichensprache betrachtet wurden. Denominatio fit a potiori. Man nannte jedes Himmelszeichen auspicium, wenn es sich ungesucht darbot, augurium, wenn es absichtlich eingeholt und erbeten war. Beide Worte aber sind Zusammensetzungen mit avis = der Vogel. Avis wurde geradezu mit omen gleichbedeutend gebracht. – Diesen Brauch, der offenbar in die dunkle arische Vorzeit zurückreicht, in der Italiker und Griechen sich noch nicht auf ihrer Wanderung getrennt hatten, finden wir bereits bei den Homerischen Griechen; und daß es schon damals im edelsten Sinne starke Geister gab, die diese Superstition verachteten, beweisen die unsterblichen Worte Hektors (Ilias XII, 236–243):
Wörtlich heißt hier der letzte berühmte Vers im Griechischen:
d. h. ein Vogel (weissagender Vogel) ist der beste, zu kämpfen für den vaterländischen Boden! Voß, dessen Übersetzung ich citiere, hat eben von der schon im Griechischen üblichen Verallgemeinerung der Wortbedeutung Gebrauch gemacht.
Bei den Römern scheint dieser starke Geist Hektors anfänglich nicht geherrscht zu haben und erst allmählich und zwar, wie wir bereits im vierten Kapitel zu Anfang hervorhoben, auf Umwegen zur Geltung gebracht zu sein. Der römische Staat hatte im Priesterkollegium der Auguren öffentliche Diener angestellt, die bei jeder wichtigen Staatsangelegenheit, als „Ausleger und Verkündiger des höchsten Jupiters“ alle Arten von Himmelszeichen, insbesondere aber den Flug der Vögel zu beobachten hatten. Auf den ersten Blick muß die Macht dieser Priester sehr groß erscheinen, da weder in inneren noch in äußeren Angelegenheiten irgend etwas ohne die Bestätigung ihrer Zeichen vollführt werden durfte, und sie jedem Beginnen die Weihe gaben, weshalb der Ausdruck unter den Auspicien jemandes fungieren, der ja noch heutzutage nicht ungewöhnlich ist, geradezu gleichbedeutend wurde mit „in jemandes Diensten stehen“. Cicero (de leg. II, 8 und 12) sagt von ihnen: „Es müssen zwei Arten von Priestern vorhanden sein, die eine für den Gottesdienst, die andere zur Auslegung der vom Staat anerkannten Weissagungen. Aber die Ausleger des höchsten und besten Jupiters, die öffentlichen Auguren, sollen in Zeichen und Vorbedeutungen das Zukünftige sehen, die Disziplin festhalten, Priester, Felder und Wälder und das Heil des Volkes weihen, allen Volksvertretern im Krieg und Frieden die beobachteten Zeichen ankündigen, und diese ihnen gehorchen, vorhersehen, was die Götter erzürnt, und demselben begegnen, des Himmels Blitze nach abgemessenen 681Räumen bestimmen, Stadt und Land in Tempel ausgeschieden und geweiht haben, und was ein Augur für unrecht, sündhaft, fehlerhaft und greuelhaft bezeichnet hat, das soll ungültig und nichtig sein, und wer dawider handelt des Todes schuldig.“ – „Groß und herrlich ist im Staate das Recht der Auguren, wo es mit Ansehen und Einfluß begabt ist. Denn was ist höher, als Versammlungen, die von den höchsten Gewalten im Heere und den höchsten Mächten im Staate angeordnet sind, während ihrer Dauer auflösen oder nach ihrer Schließung verwerfen? Was ist würdevoller als die Vereitlung eines Unternehmens durch das Wort eines einzigen Augurs ‚Ein ander Mal!‘ Was ist erhabener als die Macht zu bestimmen, daß Konsuln ihr Amt niederlegen? Was ist heiliger als das Recht, die Erlaubnis zu Verhandlungen mit dem Volke geben und nehmen, und ein nicht nach Gebühr beantragtes Gesetz ungültig machen zu können?“
Der Glaube der alten Römer an die Unfehlbarkeit der Auspicien war so unerschütterlich, daß sie, wenn ein Unternehmen trotz guter Zeichen nicht glücklich von Statten ging, lieber eine fehlerhafte Beobachtung voraussetzten. Oft mußten daher die Feldherrn, wenn ihnen ein Unfall begegnet war, um neue Zeichen einzuholen (nova auspicia captare), nach Rom zurückkehren.
Die Kunst der Auguren galt als Geheimwissenschaft.
Über ihr Verfahren ist uns folgendes bekannt: Man unterschied städtische und ländliche Auspicien. Die ersteren wurden innerhalb des pomoeriums vorgenommen, d. h. innerhalb des Umkreises, den Romulus und Remus in der uralten Form der Städtegründung mittelst eines Pfluges gezogen hatten. Die städtischen Auspicien wurden in der Regel auf einem bestimmten Platze des Kapitols, der ein für allemal diesem Zwecke geweiht war, dem sog. auguraculum, vorgenommen. – Nur Feldherrn durften außerhalb des Stadtkreises sog. ländliche Auspicien anstellen lassen. Auch dann mußte der Augur erst einen bestimmten Platz einweihen, den man templum nannte. Innerhalb dieses Raumes schied er wieder einen kleineren zur Aufschlagung seines Zeltes aus. Auf letzteren bezieht sich die Äußerung des Servius: „Andere verstehen unter 682templum nicht bloß einen verschließbaren, sondern auch einen mit Pfählen oder Spießen und dergleichen abgesteckten und mit Fellen oder etwas Ähnlichem verhängten Raum, der durch Spruchformeln geweiht ist (ecfatus). Mehr als einen Ausgang darf derselbe nicht haben, weil dort der Auspicierende sich lagern muß.“ Man wählte dafür am liebsten hohe, selten von Menschen besuchte Berggipfel, die man wegen der weiten Aussicht tesca (von tueri) nannte.
Sodann wurde der ganze von hieraus sichtbare Himmelsraum mittels des Krummstabes (lituus)[633], dem Vorbilde des noch jetzt von den katholischen Bischöfen geführten Bischofsstabes, in zwei Teile gedanklich zerlegt. Den Krummstab in der Hand, das Haupt verhüllt, wendete der Augur zuerst sein Gesicht nach Osten und grenzte unter Gebeten die Gegend von Westen nach Osten ab, indem er von sich aus zu einem am Horizonte hervorragenden Punkte eine Linie gezogen dachte. Was nördlich dieser Linie lag, nannte er die linke, was südlich, die rechte Seite. In den meisten Fällen galten die Vögel, die von rechts kamen, für günstige (dextra auspicia prospera). Doch kam es auch auf die Gattung an; z. B. gewährte die Krähe, wenn sie von links kam, der Rabe, wenn er von rechts kam, Zustimmung. Der beste Vogel war der Vogel Jupiters, der Adler, wenn er von rechts kam.
Übrigens beobachtete man nicht nur den Flug der Vögel, sondern auch das Fressen der eigens zum Zwecke der Auspicien gehaltenen heiligen Hühner. Von letzteren bemerkt daher mit feiner Ironie Plinius (H. N. X. 21): „Sie sind es, welche unsere Beamten alltäglich regieren, und ihnen ihre Behausungen verschließen oder aufriegeln, die die römischen Fasces antreiben oder zurückhalten, Schlachten gebieten oder verhindern, die Einleiter aller errungenen Siege auf dem ganzen Erdkreise: sie zumal sind es, die den Gebietern dieser Welt gebieten.“ – Wir haben freilich schon angedeutet, wie diese Bedeutung des Vogelflugs und der heiligen Hühner wenigstens in der historischen Zeit nur eine sehr scheinbare gewesen ist. Wenn auch das Beispiel jenes Claudiers, der, als ihm vor Beginn einer Schlacht gemeldet wurde, die heiligen Hühner wollten nicht fressen, diese mit der Bemerkung, nun so 683mögen sie saufen, ins Meer werfen ließ, keine Billigung fand, so pflegte man doch kein Auspicium mehr als dieses in seiner Hand zu haben. Dasselbe war günstig, wenn die Hühner recht hurtig aus dem Käfig sprangen, sich munter geberdeten und so gierig über das Fressen herfielen, daß ihnen ganze Brocken des vorgesetzten zähen Breies (puls) aus den Schnäbeln fielen.
Cicero, der selber Augur war, schreibt über die Auspicien in seinem Buche über die Weissagung (de divinatione II, 33): „Doch sehen wir zuerst die Auspicien. Ein schwer zu bekämpfender Punkt für einen Augur. Für einen Marsischen vielleicht; aber für einen Römischen äußerst leicht. Denn wir sind nicht Auguren der Art, daß wir aus der Beobachtung der Vögel und sonstigen Zeichen die Zukunft verkündigten. Wiewohl ich dennoch glaube, Romulus, der die Stadt mit Auspicien erbaute, habe die Meinung gehabt, daß es für das Vorhersehen der Dinge eine Augurenwissenschaft gebe, – denn das Altertum hat in vielen Punkten geirrt, – die wir jetzt teils durch Gebrauch, teils durch die Lehre, teils durch die Zeit verändert sehen. Es wird aber wegen des Volksglaubens und zum großen Vorteil des Staats Brauch, Religion, Wissenschaft, Recht der Auguren und die Würde des Kollegiums beibehalten. Allerdings sind die Konsuln P. Claudius und L. Junius höchst strafwürdig, indem sie gegen die Auspicien ausschifften. Sie hätten der Regierung gehorchen sollen und die väterliche Sitte nicht so hartnäckig verschmähen. Mit Recht hat also den einen das Weltgericht verurteilt, und der andere sich selbst entleibt. Flaminius gehorchte den Auspicien nicht; er ging daher mit dem Heer zu Grunde. Aber ein Jahr später gehorchte Paulus: ist er darum weniger im Treffen bei Cannae samt dem Heere gefallen? Und, gebe es Auspicien, wie es keine giebt: so sind wenigstens die, deren wir uns bedienen, Tripudium oder Wetterzeichen, Schatten von Auspicien, Auspicien auf keine Weise.
‚O, Fabius, ich begehre, daß du mir auspicieren helfest.‘ Er antwortet: ‚Ich hab's gehört.‘ Hierzu wurde bei unsern Vätern ein Sachverständiger genommen, jetzt ein jeder. Notwendig muß aber der ein Sachverständiger sein, der wissen will, was Silentium ist. Denn Silentium nennen wir bei den Auspicien dasjenige, was frei von allem Mangel ist. Dieß zu verstehen ist Eigenschaft 684eines vollkommenen Augurs. Wenn aber der Auspicierende dem, der zum Auspicium genommen wird, also geboten hat: ‚Sage, ob dir Silentium vorhanden zu sein scheint?‘ so sieht dieser weder rechts noch links, und antwortet sogleich: Es scheine Silentium vorhanden zu sein. Darauf spricht jener: ‚Sage, ob die Vögel fressen?‘ ‚Sie fressen?‘ Welche Vögel? oder wo? Es hat, heißt es, in einem Käfig Hühner gebracht der Mann, der davon der Hühnermann (pullarius) heißt. Diese Vögel sind also die Boten Jupiters. Ob sie fressen oder nicht? was kommt darauf an? Für die Auspicien nichts. Weil aber, wenn sie fressen, es notwendig ist, daß ihnen etwas aus dem Maul fällt und auf die Erde schlägt, terram pavire, so hat man dies zuerst Terripavium, hierauf Terripudium genannt, und das heißt jetzo Tripudium. Wenn also der Brocken dem Huhn aus dem Maul fällt, so verkündigen sie dem Auspicierenden das Tripudium faustissimum.“
„Kann nun ein solches Auspicium etwas göttliches haben, das so erzwungen und abgepreßt ist? Daß die ältesten Auguren sich dessen nicht bedient, dafür ist Beweis ein alter Spruch des Kollegiums, den wir haben, daß jeder Vogel ein Tripudium machen könne. Dann wäre es also wohl ein Auspicium, wenn es ihm frei stünde, sich anzuzeichen: dann könnte jener Vogel Dolmetscher und Trabant Jupiters scheinen. Jetzt aber, wenn er in einen Käfig eingeschlossen und vor Hunger ohnmächtig, auf die Mußbrocken stürzt, und wenn ihm etwas aus dem Schnabel fällt, hältst du das für ein Auspicium, oder glaubst du, daß Romulus auf diese Art zu auspicieren gepflegt habe? Glaubst du nicht, daß diejenigen, welche auspicierten, auch die Wetterzeichen zu beobachten pflegten? Nun befehlen sie dem Hühnermann. Der sagt ihnen Antwort.“
Eine andere in Rom minder geachtete, nichtsdestoweniger aber eben so oft in Funktion tretende Gattung von offiziellen Weissagern waren die Opferschauer oder haruspices.
Es scheint, daß das haruspicium nach Rom von den Etruskern eingeführt worden ist, wenngleich daneben dieselbe Praxis der Eingeweideschau beim Opfern auch bei vielen asiatischen Völkern und bei den Griechen bestanden hat. Jedenfalls beweist der Umstand, 685daß die Haruspices gedungene Ausländer waren, daß es sich um eine nicht ursprünglich nationale Übung handelte. Die Römer wollten eben nichts entbehren, was in Fällen der Not von Bedeutung sein konnte. Übrigens soll schon der ältere Cato, ein Mann von sonst streng religiöser Gesinnung geäußert haben, er wundere sich, wie ein Haruspex den andern ohne Lachen ansehen könne. Erwähnung verdient auch ein von Cicero überliefertes Wort Hannibals; als der König Prusias, bei dem Hannibal in der Verbannung lebte, sich weigerte, ein nach Hannibals Rat günstiges Terrain zu einem Treffen zu benutzen, weil „die Eingeweide es verböten“, sagte er: „Willst du einem Stückchen Kalbfleisch lieber als einem ergrauten Feldherrn glauben?“ – Ungeachtet aller Aufklärung und alles Gespöttes hielt sich der Brauch gleichwohl noch lange im römischen Heere; Cäsar zwar gab wenig darauf und setzte, obwohl von dem vornehmsten Haruspex gewarnt, im Bürgerkriege gegen Pompejus nach Afrika über. Während desselben stand bekanntlich Cicero auf des Pompejus Seite, und er schreibt seinem Bruder: „In diesem Bürgerkrieg, o ihr Unsterblichen! wie vieles trog! welche Antworten der Haruspices wurden uns von Rom geschickt! was hat man nicht dem Pompejus gesagt! Denn dieser glaubte stark an Eingeweide und Wunderzeichen. Ich habe nicht Lust zu erzählen und es ist auch nicht nötig, am wenigsten dir, der du dabei warst. Du siehst inzwischen, daß alles den entgegengesetzten Ausgang von den Prophezeiungen genommen.“
Interessant ist es schließlich noch, auf die Beobachtung der Blitze zu kommen. Denn aus einer Stelle in den naturwissenschaftlichen Untersuchungen des Seneca (quaest. nat. 49) müssen wir folgern, daß bereits die alten Etrusker, die Lehrmeister der Römer in dieser Art von Auspicien, es verstanden haben, durch gewisse uns genauer nicht bekannte elektrische Experimente Blitze herabzuziehen oder gar zu erzeugen. Sonderbarerweise taucht hier der Jahrtausende später in der Geschichte der Elektrizitätslehre so berühmt gewordene Name Volta – die Geschichte macht manchmal derartige Witze, – zum erstenmale auf. Plinius berichtet nämlich über diese Sache folgende 686(H. N. II, 54): „In den Annalen wird berichtet, daß man durch gewisse Ceremonien und Sprüche den Blitz erzwingen oder entlocken könne. Es ist eine alte Sage Etruriens, daß man ihn entlockt habe, als ein Zauberer, namens Volta, nach Verheerung des Landes endlich sogar die Stadt Volsinii damit bedrohte: auch sei er vom König Porsenna herabgezogen worden und vor diesem öfters durch Numa, wie L. Piso im ersten Buche seiner Annalen meldet, und Tullus Hostilius sei, als er dies nachmachen wollte und in der Ceremonie fehlte, vom Blitz erschlagen worden. Wir haben ferner Haine, Altäre und Ceremonien, in denen man neben einem Jupiter Stator, Tonans und Feretrius auch einen Elicius genannt hört.“ Feretrius ist der einschlagende Jupiter, Elicius der herabgelockte, also etwa der mittels Blitzleiters aufgefangene Blitz.
Die Operation des Numa beschreibt uns Ovid (Fast. III, 325ff.) in folgender Weise: „Dich Jupiter locken sie vom Himmel herab. Daher verehren dich auch die Nachkommen unter dem Namen Elicius (der Herabzulockende). Die Wipfel des aventinischen Waldes, so erzählt man allgemein, zitterten, und niedersank die Erde von Jupiters Last gebeugt. Des Königs Herz klopft, blutlos wird seine ganze Brust, und sträubend starren die Haare. Sobald sein Mut wiederkehrte, sprach er: ‚König und Vater der erhabenen Götter, entdecke sichere Versöhnungsmittel deines Blitzes, wenn wir immer mit heiligen Händen die dir geweihten Altäre berührt haben, und wenn auch das, was ich wünsche, geheiligt meine Zunge fleht!‘ Durch Wink versprach er's dem Flehenden, doch mit entferntem Umschweife verbarg er die Wahrheit, und schreckte durch schwankenden Ausspruch den König. ‚Einen Kopf haue ab‘, sprach er. Und ihm erwiderte der König: ‚Ich will gehorchen: Ein Zwiebelkopf aus meinen Gärten gegraben, soll abgehauen werden.‘ Jener setzte hinzu: ‚Von einem Menschen!‘ Und er erwiderte ihm: ‚das oberste Haupthaar.‘ Er forderte eine Seele und ihm antwortete Numa: ‚die eines Fisches.‘ Er lachte und sprach: ‚Damit versühne, o Mann, würdig der Teilnahme an meiner Unterredung, meine Geschosse. Doch, wenn morgen der Gott von Cynthos seine ganze Scheibe dargestellt hat, so will ich dir sichere Pfänder eurer Herrschaft senden.‘ Sprachs, und oben der Äther wurde, sagt man, von gewaltigem Donner erschüttert; 687und nun verließ er den betenden Numa. Seelenfroh kehrt dieser wieder und erzählt den Quiriten den Vorfall. Zaudernd und schwer war ihr Glaube an diese Erzählung. ‚Wahrlich glauben wird man nur, sprach er, wenn meine Rede Erfüllung begleitet.‘ Siehe, höre wer da ist, was morgen geschieht. Wenn der Gott von Cynthos ganz seine Scheibe dem Erdball dargestellt hat, will uns Jupiter sichere Pfänder unserer Herrschaft senden. Voller Zweifel gehen sie heim, und zögernd dünkt ihnen die Versprechung: vom kommenden Tage hängt die Gewißheit der Rede ab. Noch weich und vom Frühthau bereift war die Erde, als vor seines Königs Schwelle das Volk erschien. Er trat hervor und setzte sich mitten im Kreise auf einen ehernen Thron. Unzählbar standen die Männer um ihn stillschweigend. Soeben erschien am äußersten Rande Phöbus, und schon zagten von Hoffnung und Furcht geängstigt ihre Seelen. Er erhub sich, und das Haupt umhüllt mit schneeweißer Hülle, reckte er empor seine Hände, die die Götter schon kannten, und rief nun also: ‚Es ist gekommen die Zeit des verheißenen Geschenkes: gewähre Jupiter deiner Rede die versprochene Wahrheit!‘ Indeß er so spricht, hatte die Sonne ihre ganze Scheibe aufgetaucht, und es ertönte von der Axe des Äthers ein furchtbares Krachen. Dreimal donnerte der Gott vom hohen Gewölbe, dreimal loderten Blitze. Glaubet meiner Erzählung: Wunder berichte ich, aber doch geschehene Wunder.“
Wenn man also nicht entweder an thatsächliche Wettermagie (Wetterhexen usw.) glauben, oder annehmen kann, daß jene Berichte der Annalen auf leeren Fabeln beruhen, so liegt die Vermutung nahe, daß den alten Etruskern und den in deren Geheimlehre eingeweihten römischen Priestern auf Grund zufälliger empirischer Beobachtung einige elektrische Phänomene bekannt gewesen sind, wie sie später einen Franklin zur Erfindung des Blitzableiters führten. Diese geringen Keime wirklicher naturwissenschaftlicher Kenntnis können sich sehr wohl mit einem System des rohsten Aberglaubens 688verquickt haben, so daß die Praktiker jener einfachen Manipulationen selber ihre Wirksamkeit für eine magische ansahen und den dabei gebrauchten Formeln und Ceremonien ebenso große Bedeutung beilegten, wie den wirklich kausal wirksamen Operationen. Auch heutzutage wiederholt sich ja noch auf dem Gebiete des Hypnotismus dieselbe Erscheinung, und was war die Alchemie und Astrologie des Mittelalters anderes, als ein sonderbares Gemisch wüster Vorstellungen und Phantasien aus einigen wenigen zufällig erlangten Kenntnissen von chemischer und astronomischer Bedeutung.
Wenn man nun auch aus geschichts-wissenschaftlichem Interesse bedauern mag, daß uns nichts Genaueres über die Methode des Blitzableitens der Alten überliefert ist, so würde man doch jedenfalls sehr fehlgreifen, wollte man im übrigen all zu tiefe Geheimnisse in der etruskischen Lehre von den Blitzen wittern. Nach Plinius sollen die Etrusker zwölferlei verschiedene Blitze unterschieden haben; Seneca dagegen schreibt (naturales quaestiones II, 41): „Die Etrusker legen dem Jupiter dreierlei Blitze bei; die erste Gattung warne und sei gnädig, und Jupiter werfe sie auf eigenen Rat; die zweite werfe er gleichfalls, doch nur nach Beschluß seines Staatsrats (ex consilii sententia), indem er die zwölf Götter berufe, und dieselbe fromme zwar, doch nicht ohne Ahndung; die dritte vollends werfe er nur nach Befragung der sog. höheren oder verhüllten Mächte, und dieselbe verheere und hemme und verwandle unbarmherzig den jedesmaligen Zustand der Einzelnen wie des Ganzen; denn das Feuer lasse nichts bestehen.“
Es geht übrigens aus sonstigen Angaben der alten Schriftsteller (Plinius, Festus, Ammianus) hervor, daß die Blitze, welche die Etrusker in ihrer Blitztheorie behandelten, durchaus nicht blos eigentliche Blitze waren, daß sie vielmehr auch Sternschnuppen, Irrlichter, plötzliche Lähmungen oder Schlagflüsse als verschiedene Gattungen von Blitzen betrachtet haben.
Die Römer hatten von den zwölferlei Blitzen der etruskischen Lehre nur zwei oder drei angenommen, deren Unterschied lediglich durch die Zeiten – Nacht, Tag und Zwielicht – bestimmt wurde.
Alle Gegenstände, die vom Blitze berührt waren, galten als 689heilig. Vom Blitze getroffenes Erdreich faßte der Pontifex zusammen (ignes colligere), verbarg es unter Flüstern gewisser Gebetsformeln unter dem Boden und grub einen Stein, in den sich der Blitz verwandelt haben sollte, ohne Zweifel einen Kiesel, mit hinein (fulgur condere). Man umgab dann den Ort zum Schutze mit einer Mauer und versah ihn mit einem Altar, um zu opfern; der Ort, der puteal genannt wurde, durfte nicht überdacht werden. Man glaubte, wer ein so geheiligtes Erdreich aufwühle, werde von den Göttern mit Wahnsinn gestraft werden.
Wenn Bäume vom Blitz getroffen waren, ohne zu verbrennen, so trug man Sorge, daß sie nicht ausstarben. Ein solcher Baum war der schon erwähnte Feigenbaum, ficus ruminalis, auf dem Forum. „Wenn dieser Baum verdorrt“, sagt Plinius, „so tragen die Priester immer wieder Sorge, daß er erneuert wird.“[634]
Ein anderer derartiger Baum, eine Kornelkirsche, stand am Palatinischen Hügel. Wenn jemand bemerkte, daß derselbe der Feuchtigkeit entbehre, so brauchte er nur „Wasser“ zu rufen, und auf der Stelle kamen diejenigen, die es vernommen hatten, mit Gefäßen herbei, um ihn zu begießen.[635]
War gar ein Mensch vom Blitze berührt worden ohne getötet zu werden, so galt er als ganz besonderer Liebling der Götter; wurde er aber getötet, so durfte seine Leiche weder verbrannt noch anderswo bestattet werden; sie wurde auf der Stelle, wo man sie fand, beerdigt.
Von
Karl Kiesewetter.
Wie bereits im Vorwort bemerkt, ist das folgende achte Buch das einzige, das der leider so plötzlich aus seiner Arbeit abgerufene Herausgeber des Gesamtwerkes über die Geschichte des Occultismus für diesen zweiten Band bereits im Manuskript fertiggestellt hatte. Meine Arbeit an diesem achten Buch beschränkt sich auf die Ordnung der mir allerdings in sehr ungeordnetem Zustande übersandten Manuskripte in die im folgenden gewahrte Reihenfolge, die der vom Verfasser beabsichtigten Disposition entsprechen dürfte; stellenweise habe ich einige Lücken aus früheren Einzelaufsätzen Kiesewetters (Sphinx) ergänzt. Dagegen ist sonst der ganze Inhalt des achten Buchs geistiger Nachlaß Kiesewetters; ich muß daher auch die wissenschaftliche Verantwortung für den Inhalt ablehnen. Wenn hierdurch der einheitliche Charakter dieses Bandes des „Occultismus des Altertums“ unterbrochen wird, da selbstverständlich die Auffassung Kiesewetters mit der meinigen nicht immer kongruiert, so wird dies der Leser gern in den Kauf nehmen in Anbetracht der unzweifelhaften Gründlichkeit und Belesenheit des verstorbenen Gelehrten, dessen posthume Arbeit hier eingeschaltet wird. Die Wertschätzung, welche Kiesewetter den offenbar von ihm mit besonderer Vorliebe und daher antizipatorisch behandelten Alexandrinern, Neupythagoräern und Neuplatonikern angedeihen ließ, kann ich persönlich nicht teilen; ich würde mich daher zu einer so eingehenden Berücksichtigung dieser Mystiker niemals haben entschließen können. Umsomehr freue ich mich, anstatt einer eigenen Bearbeitung derselben die äußerst gründliche Berichterstattung Kiesewetters über diese Periode der Philosophie den Lesern bieten zu können. Denn wenn ich auch diese Periode als diejenige des äußersten Verfalls des ursprünglich hoffnungsreicheren philosophischen Geistes des griechischen Altertums betrachte, so verdient sie vielleicht doch trotzdem eine gewisse Beachtung. Und je unerquicklicher das Studium der konfusen und geschmacklosen Originalwerke, besonders der wüsten Exsudate eines Philo, ist, um so dankbarer dürfen wir einer bei aller subjektiven Vorliebe doch so objektiv gehaltenen auszugsweisen Darstellung sein, wie sie der leider so früh dahingeschiedene fleißige Gelehrte uns im folgenden bietet.
L. K.
Alexandria ist die wissenschaftliche Metropole des klassischen Altertums. Bald nach seiner Gründung durch den großen Makedonier entstanden daselbst eine Anzahl wissenschaftlicher Anstalten, in welchen Gelehrte aller Art durch die Freigebigkeit des Fürstengeschlechts der Ptolemäer als Staatspensionäre sorgenlos und ungestört ihren Studien lebten. Die wichtigste dieser Anstalten war das Museion mit einer 250 v. Chr. schon 400 000 Rollen zählenden Bibliothek, welche zwar bei der Belagerung Alexandrias durch Julius Cäsar in Flammen aufging, aber durch Marc Anton, der Kleopatra die 200 000 Rollen starke Bibliothek der Könige von Pergamon schenkte, zum Teil wieder ersetzt wurde. In zweiter Linie ist das Serapeion zu nennen, dessen Bibliothek zu oben genannter Zeit etwa 45 000 Rollen stark war.
An diesen Quellen holten sich 700 Jahre lang die berühmtesten Philosophen, Theologen, Philologen, Astronomen, Mathematiker und Ärzte ihre Bildung, bis Caracalla das Museion schloß und die Pensionen der Gelehrten einzog, bis im Jahre 389 der fanatische 694christliche Patriarch Theophilos das Serapeion verbrannte und der arabische Feldherr Amru im Jahre 642 mit den noch übrigen 300 000 Rollen der ptolemäischen Bibliothek viertausend Bäder sechs Monate lang heizte.
In Alexandria, der den Verkehr des Morgen- und Abendlandes vermittelnden Weltstadt, fand zuerst die Verschmelzung griechischer Philosophie und uralt-orientalischer Weltanschauung statt, welche als „alexandrinische Philosophie“ bezeichnet wird. Im letzten vorchristlichen und ersten christlichen Jahrhundert erscheint uns dieselbe als eine Verbindung altjüdischer Glaubenssätze, platonischer Ideeen und buddhistischer Elemente. Dieser große Einfluß des Judentums kann uns nicht Wunder nehmen, wenn wir bedenken, daß sich zur Zeit des Augustus eine Million Juden in Ägypten aufhielten und sich namentlich in Alexandria mit griechischer Kultur und Wissenschaft befreundet hatten. In Alexandria entstand die griechische Übersetzung des alten Testaments durch die siebenzig Dolmetscher (die Septuaginta), und hier bildete der Jude Philo, die griechische Philosophie mit den heiligen Büchern des Judentums durch allegorische Auslegungen in Übereinstimmung bringend, die oben genannte alexandrinische Philosophie oder – besser gesagt – Theosophie aus.
Von Philos Leben wissen wir sehr wenig. Nach seinen eigenen Angaben und denen des Kirchenvaters Hieronymus stammte Philo aus einer sehr angesehenen und reichen Priesterfamilie und wurde um 20 v. Chr. zu Alexandria geboren. In seiner Jugend lebte er ausschließlich den Wissenschaften und stiller Beschaulichkeit; später jedoch sah er sich genötigt, im Interesse seiner Glaubensgenossen in den Gang der öffentlichen Geschäfte einzugreifen. Die Veranlassung war folgende: Die etwa siebenzigtausend Köpfe starke Judengemeinde zu Alexandria lebte – wie überall, wo starke Judengemeinden mit Andersgläubigen zusammenlebten, – wegen ihres Wuchers und sonstigen üblen Eigenschaften – mit den griechisch-ägyptischen Einwohnern in solchem Unfrieden, daß im ersten Regierungsjahre Caligulas unter dem Präfekten Flaccus eine blutige Judenverfolgung ausbrach. Sie wurde zwar gedämpft, aber der Haß glomm unter der Asche fort. Als nun später Caligula göttliche Verehrung verlangte, welche die hellenischen Alexandriner willig leisteten, die Juden aber 695auf Grund ihrer religiösen Vorschriften verweigerten, kam eine noch grimmigere Verfolgung zum Ausbruch. Der Pöbel fiel unter dem Schein, des Kaisers Sache zu verfechten, über die Juden her, und der Präfekt Flaccus that dem Wüten desselben keinen Einhalt. In ihrer Not entschloß sich die alexandrinische Judengemeinde, an den Urheber ihrer Leiden, an Caligula selbst, eine Gesandtschaft zu schicken, die dessen Wohlwollen und Schutz erflehen sollte. Philo nebst vier anderen bildete diese Gesandtschaft, welche jedoch nicht nur nichts ausrichtete, sondern sogar längere Zeit in großer Lebensgefahr schwebte. Ja, sie mußte sogar erleben, daß Caligula dem Statthalter von Syrien, Petronius, befahl, die kaiserliche Bildsäule im Tempel zu Jerusalem aufzustellen. – Diese Umstände berichtet Philo selbst in seinem Buch De legatione ad Cajum. – Wie Josephus erzählt[636], führte jedoch Petronius den kaiserlichen Befehl nicht aus und wurde zum Tode verurteilt, sein Leben verdankt er nur der schnellen Ermordung Caligulas. – Wie Eusebius in seiner Kirchengeschichte berichtet, soll Philo nach Caligulas Tod seine Schrift De legatione ad Cajum im Senat vorgelesen haben; allein es ist im höchsten Grad unwahrscheinlich, daß ein Jude der höchsten römischen Behörde eine von grimmigstem Römerhaß strotzende Schmähschrift hätte zur Kenntnis bringen dürfen. Unwahrscheinlich ist auch die Angabe, daß Philo in Rom Petrus kennen gelernt habe und Christ geworden sei. Hingegen ist gewiß, daß Philo Palästina besuchte, um der Essäer willen, deren Kopfzahl er in seinem Buch Quod omnis probus liber auf viertausend angiebt. An dieser Stelle will ich wenigstens der talmudistischen Tradition Erwähnung thun, daß der jugendliche Jesus während des Aufenthaltes seiner vor den Nachstellungen des Panthera – nicht des Herodes – geflohenen Eltern in Ägypten, Schüler Philos gewesen sei.[637] – Philo starb um 45 n. Chr.
Philo hat sehr viel geschrieben, jedoch liegt eine spezielle Anführung 696seiner Schriften um so weniger in unserer Absicht, als die wichtigsten derselben doch im Laufe unserer Darstellung genannt werden müssen. Die philonischen Schriften zerfallen in historische, philosophische, politische und allegorische, und wenn auch seit etwa zweihundert Jahren von alexandrinischen Juden Versuche gemacht worden waren, das alte Testament esoterisch zu deuten, so ist doch Philo als der eigentliche Vater der theosophischen Allegorie zu betrachten. Er sagt über dieselbe[638]:
„Damit wir die Zeugung und Geburt der Tugend beschreiben können, sollen die Abergläubischen ihre Ohren verschließen oder sich entfernen, denn wir lehren göttliche Mysterien, aber nur solchen Seelen, welche ihrer würdig sind. Dies sind diejenigen, welche ungeschminkte Frömmigkeit ohne Prunk üben. Jenen andern aber, welche von einer unheilbaren Krankheit, nämlich dem Pochen auf den Klang der Worte, dem Kleben an Namen, der Gaukelei mit Gebräuchen befallen sind und sonst nichts höheres ahnen, wollen wir die heiligen Geheimnisse nicht mittheilen.“
Alles wird Philo zum Symbol: so ist ihm Adam der niedere sinnliche Mensch überhaupt, Kain die Selbstsucht, Abel die Gottergebenheit, Enoch die Hoffnung, Jenoch die Buße und Noah die Gerechtigkeit. Abraham wird zum Symbol der durch Erziehung weise gewordenen Seele, Isaak der von Natur aus weisen und Jakob der durch mystische Übung weise gewordenen. Sarah ist das Sinnbild der eingeborenen Tugend, Joseph das des politischen Treibens und Moses die höchste Darstellung des prophetischen Geistes. – Ägypten ist das Symbol des Leibes, Kanaan der Frömmigkeit; die wilde Taube ist Sinnbild der göttlichen Weisheit, die zahme der menschlichen; das Lamm ist das Bild der reinen Seele, weil es unter allen Tieren das reinste ist[639], usw. usw.
Die in der Genesis erzählten Schicksale der Urväter und Patriarchen werden als die verschiedenartigen Veränderungen, Gestaltungen und Entwickelungen der im Menschen vorhandenen seelisch-geistigen Kräfte in einer Weise dargestellt, die sowohl an Jakob 697Böhme als an die älteste indische Geheimlehre erinnert. Folgende Beispiele mögen dies erläutern. Über die Geburt Kains sagt Philo[640]:
„Man muß sich oft über das Ungewöhnliche in der Darstellung unseres Gesetzgebers wundern, denn wenn er vom ersten Menschen reden will, der von Menschen und nicht von Gott – wie die zwei Urmenschen – abstammt, und den er zuvor garnicht genannt hat: so setzt er dessen Namen geradezu her, als wäre er längst bekannt und würde jetzt nicht zum erstenmal genannt. ‚Sie gebar den Kain.‘ Man möchte fragen, was für ein Kain ist dies? Hast du vorher das Geringste über ihn gesagt? Und doch kennst du die richtige Stellung der Namen so gut, denn nur einige Verse weiter unten kann man es dir an einem Beispiel von derselben Person nachweisen: Adam erkannte Eva, sein Weib, und sie gebar ihm einen Sohn, und er nannte seinen Namen Seth! Hättest du nicht viel eher bei dem Erstgeborenen der Söhne Adams und aller Menschen sein Geschlecht angeben sollen, ob es weiblich oder männlich, und dann erst den Namen hinten ansetzen? Da es nun am Tage liegt, daß der Gesetzgeber nicht aus Unkenntniß von der gewöhnlichen Sprechweise abwich, so ist es billig, daß wir nach der Ursache dieser Eigenheit fragen. Sie scheint mir folgende zu sein: Die übrigen Menschen gebrauchen Namen, die dem nicht entsprechen, was bezeichnet werden soll. Bei Moses hingegen sind die Namen klare Spiegel der Sachen, so daß beide eins sind. Unter anderem ist unsere Stelle ein deutlicher Beleg für diese Behauptung. Wenn nämlich unser Geist, der hier Adam genannt wird, mit der sinnlichen Kraft zusammen trifft, durch welche alles Belebte lebt (die hier Eva heißt), und nach Vereinigung strebend, sich ihr naht, so empfängt die Seele die sinnlichen Gegenstände wie in einem Netze und macht auf sie Jagd, mit den Augen auf die Farben, mit den Ohren auf die Töne, mit der Nase auf die Düfte, mit dem Gaumen auf die Gegenstände des Geschmacks, mit dem Tastsinn auf die Körper. Von allen dem wird sie schwanger und gebiert alsdann das schwerste der seelischen Übel: den Wahn. Denn sie wähnt Alles, was sie sinnlich empfindet mit den Augen, den Ohren, dem Geruch, dem Geschmack, dem Gefühl sei ihr Eigentum, 698und der Geist Erfinder und künstlicher Darsteller aller Dinge. Dies widerfährt jedoch der Seele nicht ohne Grund, denn es war einst eine Zeit, wo der Geist mit der sinnlichen Kraft noch nicht verkehrte, noch mit ihr vereinigt war, sondern den einsamen Tieren gleich für sich lebte. Damals nur blos mit sich beschäftigt, hatte er keine Berührung mit dem Körper, noch besaß er in ihm ein Werkzeug, durch das er auf die Außenwelt Jagd machen konnte; so war er blind und unvermögend, und zwar nicht etwa blos in der Art, in der man einen Blinden der Sinne beraubt nennt, – sondern alle und jede sinnliche Kraft war ihm genommen, so daß er als wahrhaft unvermögend, als die Hälfte einer vollkommenen Seele, ohne die Fähigkeit, die Außenwelt zu erkennen, als das unselige Bruchstück eines Ganzen ohne Unterstützung der Sinnesorgane dastand. Deswegen befand er sich auch in dichter Unwissenheit über die Körperwelt, weil ihm nichts Äußerliches erscheinen konnte. Da ihm nun Gott nicht nur das Übersinnliche, sondern auch die sinnliche Welt offenbaren wollte, machte er ihn erst zu einem Ganzen, indem er seine zweite Hälfte, die sinnliche Kraft, ihm zuführte, welche in der Schrift mit dem Gattungsnamen Weib und mit dem speciellen Namen Eva bezeichnet wird. Diese goß gleich bei ihrer Vereinigung mit ihm durch alle ihre Teile – wie durch Oeffnungen – Licht in vollem Maaße in den Geist, zerstreute die lange Nacht und gab ihrem Herrn auf diese Weise die Möglichkeit, die äußere Welt genau und klar anzuschauen. Der Geist seinerseits, wie von hellem Tageslicht erleuchtet, das plötzlich durch die Nacht bricht, oder wie ein Mensch, der urplötzlich vom Schlafe erwacht, oder wie ein Blinder, der mit einem Mal das Gesicht erhält, eilte schnell auf alle Wunder zu, die sich ihm darboten, beschaute den Himmel, die Erde, die Pflanzen, die Thiere, ihre Gestalt, Eigenschaften, Kräfte, Lage, Bewegung, Wirkung, ihr Thun, ihre Veränderungen, ihr Entstehen und Vergehen; das eine sah er, das andere hörte er, wieder anderes noch kostete, betastete er, und was Lust in ihm erregte, suchte er auf, was Schmerz, verabscheute er.
Nachdem er auf diese Weise hier und dort hingeschaut und sich und seine Kräfte wahrgenommen hatte, gerieth er in denselben Irrthum wie Alexander von Makedonien. Von diesem erzählt man, er habe sich in dem Wahn, Asien und Europa schon zu besitzen, 699auf einen erhabenen Ort gestellt, wo er beide Ufer sehen konnte, um sich geschaut und dann ausgerufen: Was da ist und was dort ist, gehört mein! ein Ausspruch, der kaum eines Knaben würdig war, aber einem König übel anstand. Lange schon vor ihm widerfuhr dasselbe dem Menschengeiste, denn als die sinnliche Kraft mit ihm vereint wurde, und die ganze Körperwelt durch diese Vermählung offenbar geworden war, meinte er nun, daß Alles ihm gehöre und nichts einem Anderen. Dies ist eine falsche Geistesrichtung, welche Moses mit dem Namen Kain oder Besitz bezeichnet, und welche voll Thorheit – oder besser – voll Gottlosigkeit ist. Denn anstatt Gott die Ehre zu geben und von ihm Alles abhängig zu machen, hält sie Alles für eigenen Besitz der Menschenseele, die nicht einmal sich selbst besitzt, ja nicht einmal sich selbst nach ihrem wahren Wesen kennt.“
Ein weiteres höchst charakteristisches Beispiel seiner allegorischen Methode giebt Philo in seiner Schrift De vita Abrahami.[641] Hier erzählt er die Reisen Abrahams von Chaldäa nach Haran und von Haran nach Palästina zuerst dem biblischen Text gemäß und fährt dann folgendermaßen fort:
„Jene Reisen sind nach den Gesetzen der Allegorie Symbole einer die Tugend liebenden und den wahren Gott suchenden Seele. Die Chaldäer trieben von jeher Gestirndienst und hielten die Welt – namentlich die Sterne – für Gott und verehrten so das Geschöpf anstatt des Schöpfers. In diesem Irrtum war jene Seele auch befangen, weil sie Gott nicht kannte. Daher heißt es: Abraham wohnte zu Ur in Chaldäa. Nachdem sie nun lange diesen Wahn gehegt hatte, begann ihr das Licht aufzudämmern, und sie sah – obschon noch dunkel – ein, daß ein Wagenlenker[642] über dieser Welt walten müsse. Damit diese Ahnung klarer in ihr werde, ruft ihr nun das Wort Gottes also zu: Großes wird oft durch Kleines erkannt. Darum laß die chaldäische Grübelei, laß das ewige Sternschauen; wende deinen Blick weg von der großen Stadt, nämlich von der Welt, auf eine kleine, dich selbst, dann wirst du den Lenker aller Dinge erkennen. 700Deshalb heißt es, Abraham sei zuerst von Chaldäa nach Haran gewandert. Denn Haran bedeutet Höhlen, und diese sind ein Symbol der fünf Sinne. Der Sinn des Aufrufs zur Wanderung ist aber folgender: Wenn du deine Sinne betrachtest, so wirst du erkennen, daß sie nichts wirken und nichts thun, es sei denn, daß der Geist – einem Wunderthäter gleich – ihre Kraft erregt, richtet und befruchtet. An diesem Beispiel kannst du lernen, daß über der Welt und den sichtbaren Gliedern des Ganzen ein Geist walten muß, da ja auch deine Glieder, die fünf Sinne, ohne den Geist im Innern nichts vermögen. Daß jener Weltgeist unsichtbar ist, darf dich nicht stören, denn dein eigener Geist ist es ja auch. Die Richtigkeit dieser Erklärung wird gleich durch folgende Worte des Textes bewiesen, wo es heißt: Gott erschien dem Abraham. Vorher, als der Geist noch im chaldäischen Irrtum befangen war, konnte ihm Gott nicht erscheinen, wohl aber jetzt, da er die Wahrheit zu erkennen begann. Es heißt aber: ‚Gott erschien dem Weisen und nicht, der Weise sah Gott‘, denn Niemand kann Gott begreifen, als sofern sich dieser selbst zu erkennen giebt. Für diese Erklärung spricht auch die Änderung des Namens; zwar wird nur ein A dem vorigen hinzugefügt, aber es ist ein großes Geheimniß in diesem kleinen Buchstaben verborgen: Vorher heißt jene Seele Abram, d. h. der in die Höhe strebende Vater; jetzt aber heißt er Abraham, d. h. der auserlesene Vater des Schalls. Mit diesem Namen wird der Weise bezeichnet; denn Schall ist gleich Rede, Vater des Schalls gleich Geist, weil dieser es ist, der die Rede aussendet. Das Beiwort ‚auserlesen‘ bezeichnet die Vortrefflichkeit jenes Geistes. Die zweite Wanderung endlich, nämlich die von Haran nach Palästina, ist von der vollständigen Erkenntniß des höchsten Wesens zu verstehen, die jene Seele zuletzt errang.“
An einem andern Ort[643] spricht sich Philo über die mystische Reise nach Haran folgendermaßen aus:
„So lange der Asket in den Sinnen lebt, d. h., wenn er nach 701Haran kommt, denn dieser Name bedeutet die Höhlung der fünf Sinne, begegnet er dem göttlichen Logos nicht. Es heißt aber weiter, er sei dem Logos begegnet, als die Sonne unterging; Sonne bedeutet nämlich in diesem Fall den obersten Gott, und der Sinn ist dieser: Wenn das göttliche Licht, die reine Erkenntniß Gottes, untergegangen, so sehen wir den Logos; wenn jenes aber leuchtet, so schauen wir die reine intelligible Welt. Andere fassen diese Stelle so auf: Die Sonne ist der menschliche Verstand mitsammt den Sinnen, der Logos das Ebenbild der höchsten Gottheit, welches erst dann erkannt wird, wenn das menschliche Licht der Sinne untergegangen ist.“
Halten wir diese Stelle fest und den Umstand, daß Philo die Welt die große, den Menschen aber die kleine Stadt nennt, so sehen wir ganz einwandfrei, daß diese Spekulationen indischen Ursprungs sind. So heißt es in Windischmanns bekanntem Werk[644] über die Ekstase der indischen Sonnen- und Mondkinder:
„Wenn die Sinne in den Manas (Allsinn) zusammengehen, sieht der Seher nichts mit den Augen, hört nichts mit den Ohren, fühlt nichts, schmeckt nichts; aber innerhalb der Stadt des Brahma sind die fünf Pranas leuchtend und schwach, und der Seher erreicht sich selbst im Licht bei den verschlossenen Pforten des Leibes. Da sieht er dann, was er im Wachen sah und that, er sieht Geschehenes und nicht Geschehenes, Gewußtes und nicht Gewußtes, und weil Atma (der Geist, Philos Logos,) Urheber aller Handlungen selbst ist, so verrichtet er im Schlafe gleichfalls alle Handlungen und nimmt auch die ursprüngliche Gestalt des Lichtes wieder an und er wird wie Brahma selbst leuchtend.“
In den Upanischads heißt es:
„Manas (der Menschengeist) wandelt in der Zeit des Wachens an Orten, wohin das Auge, das Ohr und die anderen Sinne nicht gelangen, und gewährt schon so ein großes Licht. Ebenso wandelt er auch im Traume an entlegene Orte und zündet den anderen Sinnen ein großes Licht an. Im tiefen Schlafe ist er eins und ungeteilt und hat nicht seines Gleichen im Leibe; er ist das Prinzip aller Sinne. Der Fähige vollbringt seine Werke mittelst des Manas, 702und der Erkennende erkennt durch dasselbe. – Es ist die Leuchte des Leibes und die Mitte desselben und aller Sinne Mittelpunkt. In seinen Banden ist der vergangene, gegenwärtige und zukünftige Zustand der Welt, alles Vergängliche; Manas selbst aber vergeht nicht im Tode. In der Herzhöhle wohnt die unsterbliche Person – in der Mitte des Geistes –, diese Person, das innere Licht ist klar wie eine rauchlose Flamme. In dieser Höhle ist Brahmas Wohnung, eine kleine Lotosblume, ein kleiner Raum, der mit Akasa erfüllt ist. Derselbe Akasa, wie er außen ist, ist auch innerhalb jenes kleinen Raumes im Herzen, und in ihm sind der Himmel und die Erde enthalten, und das Feuer und der Wind, und Sonne und Mond, und der Blitz und die Gestirne. – Er ist wahrhaftig und Brahmas Wohnung, in welcher Alles enthalten ist. – Wer diesen Atma nicht erkennt, geht aus der Welt und in alle Welten, seiner nicht mächtig, und zieht aus, den Lohn der Werke zu empfangen, der ihm gebührt. Die aber, den Geist erkennend, von hier hinweggehen, die gehen ihrer und ihrer Wünsche mächtig und empfangen ewigen Lohn. Wenn der Schleier des Irrthums und der Mißerkenntniß vom Herzen genommen wird, wer die Gestalt des zarten Akasa angenommen hat, dem ist alles Wünschenswerthe gegenwärtig. Ihm wird die Nacht zum Tag, das Dunkel zum Licht, er ist sich offenbar, und diese offenbare Gegenwart ist die Welt des Brahma selbst.“
Die Praxis der mystischen „Reise nach Haran“, um des Logos oder Atma teilhaftig zu werden, wird bekanntlich in den Upanischaden am aller ausführlichsten geschildert.
Soviel über Philos Allegorie, die zur indischen Mystik hinüberführt. – Wir wenden uns nun zu Philos Spekulationen über die Gottheit, den Logos und die intelligible Welt.
Gott ist das absolute Wesen, rein in sich abgeschlossen, und ohne Beziehung auf etwas Endliches. Er ist die Seele des Weltalls, er bleibt uns ein Geheimnis, und man darf sich nicht erkühnen, etwas von ihm oder über ihn zu sagen, als daß er sei.[645] Das einzig würdige Symbol Gottes unter den endlichen Dingen ist das intellektuelle Licht und die menschliche Seele.[646]
Gott und die Materie sind die beiden von Ewigkeit bestehenden Prinzipien; Gott ist die unendliche Intelligenz, welche die Formen – resp. Ideeen – von allen möglichen Dingen in sich enthält, die Materie ist der formlose Stoff, der ungeachtet seiner Subsistenz durch den Mangel an aller Form ein Unding für den Verstand ist. Form und Leben erhielt die Materie durch Gott.[647]
Gott ist das reale Wesen, welches wegen seiner Unendlichkeit von keinem endlichen Wesen erkannt werden kann, er ist nicht im Raum, nicht in der Zeit, außerhalb der Sinnenwelt und durch kein Prädikat eines endlichen Wesens denkbar. Er kann nur gedacht werden als das Reale ohne bestimmte Realität. Man weiß nur, daß Gott ist, nicht was er ist.[648]
Gott ist die hypostasierte Ewigkeit, denn in ihm ist nichts vergangen, gegenwärtig und künftig, er ist ohne Anfang und Ende, in seinem ganzen Wesen unveränderlich. Er ist das Urlicht, aus dessen Strahlen alle endlichen denkenden Wesen ausgegangen sind.[649]
Als unendliche Intelligenz umfaßt Gott alle Ideeen von allen möglichen Dingen; aber eine Idee Gottes ist nichts anderes als das Ding selbst. Was er denkt, erhält durch sein bloßes Denken Realität.
Gott kann in seinem Verhältnis zur Welt hauptsächlich nach vier Begriffen dargestellt werden, nämlich in Hinsicht der Macht, der Weisheit, der Heiligkeit und der Liebe.
Philo hebt die Allmacht oft hervor, besonders in Verbindung mit der σοφία, der Weisheit; die Heiligkeit Gottes berührt er weniger, weil er sie für selbstverständlich hält. Hingegen setzt er etwas Höheres an ihre Stelle, nämlich die Reinheit. Am meisten aber verbreitet er sich über die Güte und Liebe Gottes, weshalb man in gewisser Beziehung Philos Theosophie die Morgenröte des Christentums nennen kann.[650]
Aus Güte und Liebe hat Gott die Welt geschaffen, er erfüllt alles mit seiner liebenden Macht; seine Güte hält die Welt zusammen und ist selbst die Harmonie der Welt. Alles Gute in dieser Welt, geistiges und leibliches, ist sein Geschenk und seine Gnade. Besonders aber erstreckt sich die Fülle der göttlichen Gnade auf die Menschen, und wenn seine Liebe nicht wäre, würden sie alle dem Verderben anheim fallen. Alle Güter, welche die Menschen besitzen, jede Tugend, Frömmigkeit, Wohlwollen, Gerechtigkeit, Glauben usw., sind Gottes Geschenk, weshalb es Philo auch an unzähligen Orten für die größte Sünde erklärt, wenn der Mensch sich selbst etwas Gutes zuschreibt und dasselbe nicht von Gott ableitet.
Philo erklärt an einer Menge Stellen seiner Schriften Gott seinem Wesen nach für völlig unbegreiflich, dennoch aber giebt er zu, daß eine gewisse Erkenntnis Gottes jedem Menschen möglich ist und von jedem gefordert werden kann, obschon Viele derselben durch eigene Schuld entbehren, nämlich: die Erkenntnis, daß Gott sei und die Gewißheit seiner Existenz. Diese Erkenntnis kann auf zweierlei Weise stattfinden, nämlich durch ein mystisches Schauen, bei welcher höchsten Stufe der Erkenntnis die Selbstthätigkeit des Menschen zwar nicht ausgeschlossen ist, bei der aber Gott dem Menschen entgegengekommen und das Meiste thun muß. – Die zweite – niedrigere – Stufe der Gotteserkenntnis beruht auf Schlüssen aus den Werken auf den Urheber.
Der Verstand Gottes, der Logos, welcher alle Ideeen in sich begreift, ist die ideale Welt. Diese ist das Ebenbild Gottes, sein erstgeborener Sohn, denn sie geht unmittelbar aus dem Wesen Gottes hervor und muß daher ebenso vollkommen sein wie die höchste Intelligenz selbst. Philo nennt diese personifizierte Verstandeswelt auch noch den Erzengel, (die Engel überhaupt nennt er vielfach λόγοι), weil sie die erste aller ausgeschlossenen Intelligenzen ist, oder den himmlischen Menschen, den Aufgang der Sonne.[651]
Der Logos ist das Muster, nach welchem Gott die sichtbare Welt schuf. Die göttliche Kraft, durch welche diese gebildet wurde, ist der nach außen wirkende Logos, welcher mit der Sprache verglichen werden kann.
An anderer Stelle[652] sagt Philo vom Logos:
„Zwischen Gott und dem göttlichen Logos ist kein Zwischenraum, Beide sind unendlich nahe. Der Logos ist der Wagenlenker der göttlichen Kräfte, der Herr des Wagens aber ist der Sprechende, der dem Lenker des Wagens seine Bahn vorschreibt.“
Der Logos ist die Nahrung der Seelen und wird von Philo mit dem Manna der Wüste verglichen:
„Siehst du nun, was die Nahrung der Seele ist, nämlich das allerfüllende Wort Gottes, das dem Thaue gleich die ganze Erde bedeckt und Alles erfüllt. Aber nicht überall zeigt sich dieser Logos, sondern nur da, wo Leidenschaft und Bosheit ferne sind; er ist so fein zu erfassen und zu ergreifen, klar und rein anzuschauen; er ist wie Coriander. Die Landleute sagen nämlich von dieser Frucht, wenn man sie auch in zahllose Theile zerschneide, so gehe doch ein jeder derselben so gut auf wie ein ganzes Korn. So ist es auch mit dem göttlichen Wort. Es ist im Ganzen fruchtbringend, aber auch jedem einzelnen Theile nach, und wäre es auch der kleinste. Darum gleicht es auch dem Augapfel, denn wie dieser als ein so gar kleines Ding alle Zonen der Erde, das unermeßliche Meer und den unbegrenzten Luftraum überschaut, so ist auch der göttliche Logos über alles scharfblickend und im Stande Alles zu schauen; ja er ist es, durch den wir allein Wahrheit sehen können. Deshalb läßt sich auch das Beiwort ‚weiß‘, welches im Texte dem Manna gegeben wird, auf ihn übertragen. Denn was ist lichter und klarer als der göttliche Logos, durch dessen Besitz es jeder Seele, die sich nach dem geistigen Lichte sehnt, erst möglich wird, die innere Finsterniß zu zerstreuen.“
„Etwas Eigenes geschieht aber mit diesem Logos; wenn er nämlich eine Seele zu sich ruft, so bewirkt er, daß alles Irdische, Sinnliche und Leibliche in ihr zusammenfriert. Deswegen heißt es 706auch im Text, es war wie Eis auf dem Felde. Die Seelen fragen sich, was der Logos sei, nachdem sie seine Wirkung bereits erfahren haben. Oft geht es auch in andern Dingen so, oft wissen wir nicht, woher der Geschmack kommt, der unsere Zunge mit Süßigkeit erfüllt, oft kennen wir den Geruch nicht, der uns ergötzt. Dasselbe widerfährt nun auch der Seele; eine hohe Freude wird ihr zu Teil, aber sie weiß nicht, woher sie kommt. Diesen Aufschluß giebt ihr der heilige Prophet Moses: ‚Dies ist das Brot‘, sagt er, ‚die Nahrung, die Gott der Seele gegeben hat, sein Wort, sein Logos, denn in Wahrheit ist dies das Brot, das er uns gegeben hat; dies ist sein Wort.‘ Auch im Deuteronomion sagt er: ‚Er hat dich geplagt und hungern lassen, aber dann mit Manna gespeiset, das deine Väter nicht kannten, auf daß dir offenbar würde, daß der Mensch nicht vom Brode allein lebt, sondern von einem jeglichen Wort, das aus des Herrn Munde geht.‘ Diese Plage ist ein Werk der Gnade, denn durch die Strafe reinigt er unsere Seelen, wenn er uns nämlich die Sinnenlust entzieht, vermeinen wir geplagt zu werden; aber eben damit erweist er sich uns gnädig. Er schickt auch Hunger über uns, nicht nur einen Hunger nach Tugend, sondern den, welcher die Bosheit und die Leidenschaft züchtigt; denn zum Beweise, daß er es gut mit uns meint, heißt es ja, er sättigt uns mit Manna, d. h. mit seinem Wort, das Alles in sich faßt, und reines Sein ist. Manna heißt eigentlich ‚Etwas‘, das ist das reine Sein, das allgemeinste Wesen; denn der göttliche Logos ist über der ganzen Welt und allgemeiner als alle Kreaturen. Diesen Logos kannten die Väter nicht, d. h. nicht die wahren Väter, sondern nur die Alten an Jahren, nicht an Weisheit; diejenigen, die zu den Propheten sprachen: Gieb uns einen Führer, daß wir zurückkehren zur Leidenschaft, d. h. nach Ägypten. So werde es dann der Seele kund, daß der Mensch nach dem Ebenbilde nicht vom Brode allein lebt, sondern von jeglichem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt, d. h., daß er sowohl durch den ganzen Logos genährt wird, als auch durch einen Teil von ihm. Denn Mund ist ein Sinnbild der Rede, Wort aber ein Teil derselben. Die Seele der Vollkommenheit wird durch den ganzen Logos genährt, wir aber wollen zufrieden sein, wenn uns nur ein Teil des göttlichen Wortes zukommt.“
An anderer Stelle nennt Philo den Logos das Vaterland weiser Seelen und sagt zur Erklärung der Aufforderung Jakobs, Laban zu verlassen (Genes. XXXI, 3), daß der Befehl, Jakob solle sich von Laban kehren, heiße, der Geist des Asketen solle sich nicht mehr mit den sinnlichen Dingen und den Eigenschaften der Körperwelt (Laban) abgeben; sondern sich in das Vaterhaus, d. h. zum heiligen Logos, dem Wohnort weiser Seelen wenden.[653]
In einem andern Gleichnis nennt Philo den Logos noch den Regentau und Steuermann der Weisen, ja das Triebrad im innern Wesen der Gottheit und der Geisterwelt, welchem Gott bei der Schöpfung der Welt sein allmächtiges „Werde“ anvertraute.[654]
Aus Gott emanieren unzählige Kräfte und Geister, welche die intelligible Welt als Urbild und Ideal der sichtbaren Körperwelt hervorbrachten. Unter diesen höheren himmlischen Geistern steht eine unermeßliche Menge niederer, welche Engel genannt werden.
Diese Geister haben verschiedene Geschäfte; sie dienen dem Allmächtigen und haben so tiefe Einsichten, daß ihnen nichts verborgen bleibt. Sie sind Verkünder der göttlichen Befehle und Überbringer der Gebete vor den Thron Gottes. Ihre Existenz ist geboten, denn es ist notwendig, daß die ganze Schöpfung belebt sei, und daß jeder Teil der Welt die ihm angemessenen Bewohner habe.
Von den Geistern, welche die Luft bewohnen, sind einige den Menschen gefährlich durch Einflößung sündlicher Begierden und Leidenschaften, andere jedoch dienen dazu, in der Seele des Menschen den Trieb zur Unsterblichkeit und Verachtung alles Irdischen zu erwecken. Und diesem muß man durch ihre unmittelbare Einwirkung auch die menschliche Seele das Geschäft der Inspiration zueignen.[655]
Die Geister aller Klassen und Ordnungen sind Mittelwesen und Mittelspersonen zwischen Gott und den Menschen, Verkündiger der über sie ergangenen göttlichen Ratschlüsse u. s. w. Mit einem Wort, die Geisterwelt ist nach Philo ein intelligibler Staat, worin die Angelegenheiten des sichtbaren Universums und namentlich des Menschen betrieben werden.
Der Mensch ist eines unmittelbaren vertrauten Umganges mit der Geisterwelt und dem Logos durch eigene Kraft fähig, wozu ihm die durch die Askese vermittelte höchste Erkenntnis des Wahren und Guten verhilft. Ist dann die menschliche Seele in Verbindung mit der Geisterwelt – und namentlich durch den Einfluß des Logos – zur Erkenntnis der eigentlichen Grundideeen gelangt, wovon wir durch die Sinne nur eine oberflächliche Kenntnis erhalten, so erhebt sie sich über sich selbst, tritt mit dem Logos in Gemeinschaft; sie hat den höchsten Gipfel der reinsten Erkenntnis erstiegen, und ihr Flug ist hinfort himmelwärts gerichtet.
Die Art und Weise wie Philo den Menschen in verschiedene Grundteile teilt, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der sog. esoterischen Lehre. Diese Ähnlichkeit mag wohl daher rühren, daß, wie später nachzuweisen, Philo der Sekte der Essäer angehörte, welche bekanntlich unter den Juden durch buddhistische Missionäre gestiftet worden war.[656]
Der Mensch besteht nach Philo aus Körper und Seele.
Der Körper σῶμα (rupa der Inder, chat der Ägypter, guf der Hebräer, elementarische Leib des Paracelsus) ist aus den vier Elementen zusammengesetzt und darum sterblich.[657]
Die Seele (ψυχὴ) des Menschen zerfällt in einen unvernünftigen und einen vernünftigen Teil. Zu den ersteren gehört der „Sitz der Leidenschaft“ (τὸ ϑυμικὸν) und der Sitz der physischen Begierden (τὸ ἐπιϑυμητικὸν). Dieser Teil der Seele ist sterblich und hat seinen Sitz im Blut[658]; er kann also sehr wohl mit dem Kama rupa der Inder, Ab der Ägypter, Ruach der Hebräer und dem Evestrum oder siderischen Menschen des Paracelsus verglichen werden.
Insofern dieser Teil der Seele und der Körper sterblich sind, nennt Philo den Menschen ein vernünftiges sterbliches Tier.
Der niederste Grundteil der vernünftigen Seele ist nach Philo das Sprachvermögen[659], eine Unterscheidung, die sonst nirgends gemacht 710wird. Da aber die Sprache den Menschen vom Tiere zunächst unterscheidet, so könnte man das „Sprachvermögen“ Philos vielleicht mit der Menschenseele der Inders (manas, ba, Neschamah, spiritus etc.) identifizieren.
Der zweite Teil der vernünftigen Seele ist das „Vermögen der Sinne“ (ψυχὴ αἰσϑητικὴ), die wir mit Chaibi der Ägypter, chaijah der Hebräer und der Vernunft (Intellectus) der mittelalterlichen Mystiker vergleichen können.
Der höchste Grundteil des Menschen endlich ist der „Verstand“, νοῦς, λόγος, cha der Ägypter, jeschida der Hebräer, der „göttliche Gedanke“ Agrippas und der Mensch des Olympi novi des Paracelsus, welcher „ein unzertrennlicher Teil der stetigen Natur der Gottheit ist“.[660]
Unter den bisher aufgezählten sechs Grundteilen haben wir den Astralkörper vermißt; aber auch von diesem findet sich eine Spur bei Philo, insofern er sagt, die Seele sei in Ätherstoff, d. h. ein fünftes Element, aus dem Himmel und Gestirne geschaffen worden, in ein heiliges, unverlöschliches Feuer gehüllt.[661]
Daß Philo auch die Lebenskraft kannte, ergiebt sich aus folgender Stelle[662]:
„Oft in seinen Schriften erklärt Moses das Blut für das Wesen der Seele; sagt er doch geradezu: die Seele alles Fleisches 711ist Blut. Hingegen heißt es bei der Schöpfung des ersten Menschen: Gott blies ihm den Hauch des Lebens ein, und der Mensch ward zur lebendigen Seele. Diese Worte beweisen, daß die Substanz der Seele Geist ist. Da nun Moses immer mit sich übereinstimmt, so muß er einen guten Grund zu diesem scheinbaren Widerspruch gehabt haben. Dieser ist auch vorhanden, denn jeder von uns ist eine Zweiheit, ein Tier und ein Mensch. Jedem von diesen beiden Bestandteilen kommt eine besondere Kraft zu. Dem einen die Lebenskraft, durch welche wir leben, dem andern die Kraft der Vernunft, durch welche wir vernünftig sind. An der Lebenskraft haben auch die unvernünftigen Tiere Anteil. Vorsteher und nicht Teilhaber der anderen ist Gott. Jene Kraft nun, welche wir mit den Tieren teilen, hat das Blut zum Sitz erwählt. Die andere dagegen ist eins mit dem Geiste. Deshalb sagt Moses (Deuteron. XII, 23): ‚die Seele des Fleisches ist Blut‘, indem er wohl weiß, daß die Natur des Fleisches keinen Teil am Geiste, sondern nur am Leben hat.“
Philo unterscheidet also hier eine ψυχὴ λογικὴ und ψυχὴ σαρκικὴ, welch' Letztere mit der Lebenskraft identisch ist.
Den menschlichen Verstand (νοῦς) bildete Gott sich selbst oder seinem Logos vollkommen ähnlich und macht ihn somit zu seinem Ebenbild (εἴκων), und insofern kann man sagen, daß der Mensch dem Geist nach Gott und dem Logos verwandt sei, ebenso wie sein Körper der äußeren Natur gleicht.[663] Wir finden also hier zum erstenmal die später von Paracelsus ausgeführte Parallele zwischen dem Mikrokosmus und Makrokosmus aufgestellt.
Da dieser unsterbliche Teil des Menschen schon vor der Schöpfung des sterblichen Teils in der Gottheit existierte, so bedeutet das Wort Mosis, daß Gott dem Menschen einen lebendigen Odem in seine Nase blies, nichts anderes als die Absendung des νοῦς von seinem seligen Sitz in der Gottheit in den menschlichen Körper, um diesen wie eine Kolonie zu bewohnen.[664]
Das Böse ließ Gott entstehen, um das Gute desto mehr hervorzuheben, und verband beide im Menschen, der das Gute nicht 712erkennen kann, ohne das Böse zu wissen.[665] Der Mensch ist also ein Wesen von gemischter Natur. Sein „Verstand“ ist nämlich vor seiner Verbindung mit dem Körper gut und rein[666]; seine Sinne sind ihrer Natur nach weder gut noch böse, sondern von einer mittleren Art, die bei den Guten gut, bei den Bösen böse ist. Die Begierden und Leidenschaften jedoch, der unvernünftige Teil der Seele, und vorzüglich die Wollust sind wie der Körper böse und Gott verhaßt.[667] Die Seele befindet sich daher gewissermaßen in einem Gefängnisse, dessen Wächter die Leidenschaften und Begierden sind, oder in einem Sarge oder Grabe, aus dem sie sich nur durch Entäußerung der Sinnlichkeit befreien kann.[668]
Der Körper hindert die Tugend, weshalb die Seele diesen, die Lüste, Begierden, Sinne und Rede fliehen und verlassen muß, weil bei ihnen das Böse sich aufhält. Sie muß sich zu der Gottheit erheben, d. h. sie muß ihre Gedanken allein auf übersinnliche Gegenstände richten und sich nicht mehr mit irdischen Dingen beschäftigen, als die äußerste Notwendigkeit erfordert.[669] – Wenn wir den Körper fliehen, so leben wir der Natur gemäß, wir verähnlichen uns der Gottheit, soweit uns dies möglich ist, und gelangen dadurch zum höchsten Gipfel der Glückseligkeit.[670]
In sehr prägnanter Weise spricht sich Philo über die Punkte an einer Stelle aus[671], wo er die Prophezeiung (Genes. XV, 13) erklärt: „Das sollst du wissen, daß dein Same wird fremd sein in einem Lande, das nicht sein ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahre.“ Er sagt:
„Das Erste, was uns in diesen Worten vorgehalten wird, ist die Lehre, daß der Fromme im Leibe nicht wie in seiner Heimat wohnen, sondern ihn als ein fremdes Land ansehen soll. Zweitens liegt darin, daß die Knechtschaft, Unterdrückung und arge Demütigung der Seele in der irdischen Wohnung des Leibes ihren Grund hat, denn die Leidenschaften sind der Seele völlig fremd, sie erwachsen 713aus dem Fleische, in welchem sie wurzeln.“ – Nun fährt Philo, die Sklaverei in den Banden des Leibes beschreibend, weiter fort: „Vierhundert Jahre dauert die Knechtschaft. Diese Worte sind auf die Zahl der hauptsächlichsten Leidenschaften zu deuten, deren es vier giebt. Wenn die Wollust über uns herrscht, so wird der Geist von leerem Winde aufgeblasen und übermütig; gebietet aber die Begierde in uns, so zieht die Sehnsucht nach abwesenden Genüssen in die Seele ein und würgt und plagt sie durch trügerische Hoffnungen. Denn sie dürstet dann immerwährend und kann doch ihren Durst nicht löschen, so daß sie Qualen des Tantalus erdulden muß. Sind wir aber in der Knechtschaft der Traurigkeit, so wird die Seele zusammengeschnürt und eingeengt, und sie ist einem Baume zu vergleichen, von welchem die Blüten und die Blätter abfallen. Sind wir endlich im Banne der Furcht, so vermag Niemand zu bleiben, sondern darf nur in schleuniger Flucht Rettung erhoffen. Die Begierde hat nämlich eine anziehende Kraft und zwingt uns, das Ersehnte zu verfolgen, auch wenn es vor uns flieht. Die Furcht dagegen trennt uns von ihrem Gegenstand. Die Herrschaft der genannten Leidenschaften übt schweren Druck auf ihren Sklaven aus, bis Gott, der große Richter, den Bedrückten von seinem Bedrücker trennt, um jenem seine Freiheit zu geben und über diesen die wohlverdiente Strafe zu verhängen. Denn es heißt ja (Genes. XV, 14): ‚Das Volk, das sie bedrückte, will ich richten, und dann sollen sie ausziehen mit großem Gute.‘ Es ist notwendig, daß der Sterbliche dem Volk der Leidenschaft unterworfen werde und das vom Geborenwerden unzertrennliche Los erdulde. Aber es ist auch der Wille Gottes, die Not unseres Geschlechtes zu erleichtern. Wenn wir daher auch in der Knechtschaft des Leibes das Unvermeidliche erdulden, so thut Gott seinerseits, was ihm zu thun obliegt: er bereitet Freiheit den Seelen, welche sich flehend an ihn wenden; ja, er löst sie nicht allein aus dem Gefängnis, sondern giebt ihnen auch Zehrung auf die Reise mit, was im Texte άποσκευὴ (Gut) heißt. Was ist dies nun? Wenn der vom Himmel stammende Geist in die Not des Leibes gebannt wird und sich von keiner Lust und – wie ein Weichling – unterjochen läßt, sondern wie ein Mann nicht zum Leiden, sondern zur That bereit, kräftig nach Freiheit strebt und alle Wissenschaften rüstig betreibt, so nimmt er beim Abschied und Hingang in sein Vaterland all' jenes Wesen mit, welches hier άποσκευὴ genannt wird.“
Jedem der drei Hauptteile der Seele setzte Gott eine Tugend zur Seite, um ihn zu regieren: dem Verstand die Klugheit, den Leidenschaften die Tapferkeit und den Begierden die Mäßigung, wozu dann, wenn jene die Oberhand haben, noch die Gerechtigkeit kommt, welche insgesamt in der Güte des Charakters ihren gemeinsamen Ursprung haben.[672]
Die Seele ist von Gott nicht den Gesetzen der Notwendigkeit unterworfen worden. Als Himmelsgeborener ist der Mensch frei und in nichts zeigt sich sein göttlicher Ursprung so schön, als in der göttlichen Freiheit, die ihm vor allen anderen Kreaturen zu teil wurde. In dieser Hinsicht sagt Philo[673]:
„Der Mensch besteht aus dem nämlichen Stoff, aus welchem die Naturen des Himmels geschaffen wurden, und er ist deshalb unvergänglich. Denn ihn allein hat Gott der Freiheit gewürdigt und für ihn die Bande der Notwendigkeit, die alle Geschöpfe fesseln, aufgehoben; er hat ihn an dem herrlichsten eigenen Vorzug, soviel der Mensch davon fassen kann, teilnehmen lassen. Deswegen ist er aber auch zurechnungsfähig. Den Tieren und Pflanzen kann man weder Fruchtbarkeit als Verdienst, noch Unfruchtbarkeit als Schuld annehmen, aber er allein verdient Tadel, wenn er Böses thut, und wird auch dafür bestraft.“ – Ähnlich lautet eine andere Stelle[674]: „Um seiner Gerechtigkeit willen hat Gott der menschlichen Seele den Geist eingehaucht, denn wäre dem Menschen das wahre Leben nicht eingegeben worden, und wäre er somit zur Tugend unfähig gewesen, so hätte er, wenn er für seine Sünden bestraft wurde, sagen können, daß er ungerecht bestraft werde, und Gott selbst sei an seinen Vergehungen schuld, weil er ihm die Möglichkeit Gutes zu thun nicht verliehen, denn Fehler ohne Freiheit seien keine Fehler.“
Wegen ihrer göttlichen Eigenschaften wird die Seele der „Tempel Gottes“ genannt. So heißt es[675]:
„Das wahrhaft Gute hat in nichts Äußerem seinen Sitz, weder im Körper noch in der Seele, sondern allein in dem königlichen Geiste. Denn da Gott wegen seiner Milde und Liebe das Gute in die Welt einführen wollte, so hat er keinen würdigeren Tempel gefunden als den menschlichen Geist.“
Philo hält den Zustand des jetzigen Menschen für sehr verschieden von dem des idealen, wie er aus der Hand des Schöpfers kam. Diese Spekulation über den Zustand des idealen Menschen vor dem Fall (Adam), über den Sündenfall, seine Folgen &c. durchziehen die ganze christliche Mystik und finden namentlich auch bei Jakob Böhme ihren Niederschlag. Da sie somit jedermann bekannt sein werden, bedürfen sie hier einer flüchtigen Erwähnung.[676]
Adam war vollkommen an Leib und Seele: Die Schönheit seines Leibes folgt aus drei Gründen: Erstens waren in der jugendfrischen Schöpfung alle Stoffe weit vollkommener und reiner als später; zweitens wählte Gott aus den besten Teilen des Stoffes das Vorzüglichste aus, um das Gefäß einer unsterblichen Seele zu bilden, drittens war der Schöpfer selbst der vorzüglichste Werkmeister. Der hohe Adel der Seele Adams folgt daraus, daß sie Gott nach nichts Sichtbarem, sondern nach seinem Ebenbilde schuf. Darum mußte sie als Abbild des Vollkommensten notwendig selbst vollkommen sein. Die jetzigen Menschen sind nur von Menschen erzeugt und nicht – wie Adam – von Gott selbst geschaffen. Soweit aber Gott den Menschen übertrifft, um so höher muß auch ein göttliches Geschöpf über ein menschliches erhaben sein.[677]
Adam war fernerhin gleich bei seinem Eintritt in die Welt König der sichtbaren Natur, über die er eine unbeschränkte Herrschaft 716ausübte[678], und er bewies diese Herrschaft gleich anfangs dadurch, daß er allen Dingen Namen gab.[679] – Auch lebte er im Umgang mit den Bürgern der Geisterwelt und bestrebte sich, alle Befehle der Gottheit zu vollziehen, auf dem Wege der Tugend sich zur Verähnlichung mit ihr emporzuschwingen, da Gottes Geist reichlich auf ihn herabströmte.[680]
Mit dem Sündenfall trat ein völliger Umschwung ein. Dennoch wird derselbe nicht als eine unermeßliche Schuld Adams, sondern als eine Folge seiner schwachen und sterblichen Natur dargestellt.[681]
Anlaß zum Sündenfall gab das Weib. Solange Adam allein lebte, war er schuldlos, als aber das Weib geschaffen wurde, eilte er auf dasselbe zu, voll Freude über die befreundete Gestalt, und umarmte sie. Aus dieser Umarmung entstand die Liebe, und aus der Liebe die Wollust. Diese ist der Keim aller Laster, und sie bewirkte, daß Adam ein unsterbliches und seliges Leben mit einem unglücklichen und sterblichen vertauschen mußte.[682]
Außer dieser sich an den Bibeltext anschließenden Darstellung des Sündenfalls hat Philo noch eine allegorische Erklärung: Nach der Genesis ist der Ort des Sündenfalls das Paradies, der Garten Gottes; Verführerin ist die Schlange, und der Anlaß des Falls das Verbot, vom Baume der Erkenntnis zu essen. Dies alles erklärt Philo für ein Bild: das Paradies ist die Seele, die in demselben wachsenden Pflanzen sind die Tugenden, der Baum des Lebens ist die erste der Tugenden, nämlich die Ehrfurcht gegen 717Gott, und der Baum der Erkenntnis endlich ist die Klugheit. Die Schlange ist die Wollust, welche den Menschen zur Sünde verführt. Unter dem Mann versteht Philo den Verstand des Menschen, unter dem Weib die Sinne, bei denen sich die Wollust einschmeichelt, um dadurch den Verstand zu betrügen und zum Bösen zu verführen.[683]
Mit dem Fall begann eine Reihe von Übeln über die Menschen hereinzubrechen. Das Weib fand seine Strafe in den Schmerzen der Geburt, in den Beschwerden der Kindererziehung und in der Unterwürfigkeit unter den Willen des Mannes; der Mann in der Arbeit und Sorge um den nötigsten Lebensunterhalt.[684]
Selbst die Erde wurde wegen des Sündenfalls bestraft, und sie bringt ihre Früchte nicht mehr so dar, wie sie dieselben ohne die Sünden der Menschen getragen hätte. Denn die Erde würde auch ohne Ackerbau alles im Überflusse erzeugt haben, wenn nicht die Laster über die Tugend die Oberhand gewonnen und die Gottheit genötigt hätten, der unaufhörlichen Mitteilung ihrer Güter eine Grenze zu setzen, um sie nicht an Unwürdige zu verschwenden und den Menschen durch einen von Müßiggang und Überfluß erzeugten Mutwillen in noch größeres Sündenelend zu stürzen.[685] – Würden die Menschen aufhören, den göttlichen Gesetzen entgegen zu handeln, und ein göttliches Leben führen, so würde auch die erste Fruchtbarkeit wieder eintreten.
Seit Adam artet das Menschengeschlecht von Generation zu Generation immer mehr aus[686], wie das erste Bild, das nach dem Urbild gemacht wurde, noch am meisten demselben ähnlich sieht, während die späteren, nach Abbildern gemachten Kopien immer schwächer und unkenntlicher werden, oder wie in einer Reihe von Eisenstäben, die an einem Magnetstein aufgehängt sind, derjenige die meiste magnetische Kraft bewahrt, welcher den Stein unmittelbar berührt, die tiefer hängenden aber immer weniger. – Doch haben die späteren Menschen das Ebenbild Gottes nicht ganz verloren, sondern es ist nur verdunkelt worden. Diese Verwandtschaft besteht 718in der vernünftigen Seele; dem Körper nach sind wir mit der Welt verwandt; er ist aus allen Elementen zusammengesetzt und faßt alle Eigenschaften derselben in sich. Deshalb macht er den Menschen zu einem Proteus, welcher gleich gut auf dem Lande, im Wasser, in der Luft und im Feuer leben kann.[687] – Außerdem aber haben die späteren Menschen von der Herrschaft, welche Adam in vollem Maße über die Natur besaß, wenigstens die Gewalt über die Tiere behalten.[688]
Unzählig sind die den Sterblichen angeborenen Übel, unter denen Philo die Leidenschaften und Begierden, nicht die spezifische Erbsünde versteht, obschon er einen gewissen Einfluß des Sündenfalls auf die Nachkommenschaft zugiebt. Von diesen Übeln können wir uns nie gänzlich losreißen; wir können sie nicht vertilgen, sondern müssen sie nur zu mildern suchen. Bei Jedem, sei er auch noch so gut, ist durch die Geburt selbst das Sündigen mit seiner Natur verwebt, und Niemand kann daher ohne zu sündigen, sein Leben beenden.[689] In den ersten sieben Lebensjahren freilich[690] haben wir noch eine unverdorbene Natur, weil die Seele noch unausgebildet ist, und weder die Begriffe des Guten noch des Bösen in ihr haften. Im darauf folgenden Knabenalter jedoch fangen wir gleich an, ein sündiges Leben zu führen, indem wir teils das Böse aus uns selbst heraus erzeugen, teils von andern begierig aufnehmen. Auch ohne Lehrer lernt die Seele das Böse von selbst und richtet sich durch ihre stete Fruchtbarkeit an Lastern zu Grund, denn die Seele des Menschen strebt, wie Moses sagt, von Jugend auf den Bösen nach.[691]
Auf diese Weise müßten wir von den Leidenschaften hingerissen und notwendig von den uns anhängenden Übeln besiegt werden. Allein, der Mensch ist nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen und 719deshalb dazu bestimmt, Gott nachzuahmen oder ihm immer ähnlicher zu werden.[692] Damit der Mensch nun, welcher von Natur verdorben ist, zu diesem Ziele gelangen könne, muß Gott sich seiner annehmen.[693] – Dies thut Gott auf zweierlei Art: Erstens dadurch, daß er dem Menschen die Tugenden, die göttlichen Kräfte, in die Seele pflanzte, welche ganz besonders noch durch die Beschäftigung mit den Wissenschaften angezogen werden. In diesem Sinne sagt Philo[694]:
„Die Menschenseele ist ein Tempel des unsichtbaren Gottes; wenn sie nämlich durch die vorbereitenden Wissenschaften[695] gehörig vorbereitet ist, so dürfen wir frohe Hoffnung schöpfen und die Ankunft der göttlichen Kräfte erwarten. Diese steigen herab, um uns zu heiligen und zu reinigen nach dem Befehle ihres himmlischen Vaters. Wenn sie dann in die tugendliebende Seele eingezogen sind, säen sie in ihr die Saat der Seligkeit.“
Zweitens aber thut sich Gott von oben und außen auf verschiedene Weise kund, indem er dem hülfsbedürftigen Menschen entweder seine Engel, den Logos (λόγος), den göttlichen Geist (πνεῦμα ἅγιον) oder die göttliche Weisheit (σοφία) schickt; ja er sagt sogar, daß Gott selbst in die Seelen herabsteigt.[696] Daß Gott sich Allen durch seinen Geist kundgebe, sagt Philo mit folgenden Worten[697]:
„Der Herr sprach: mein Geist soll in den Menschen nicht bleiben ewiglich, weil sie Fleisch sind. Wohl kehrt er ein, aber nicht immer bleibt er auf ihnen; denn wer ist so vernünftig oder seelenlos, daß er nie, freiwillig oder unfreiwillig, einen Begriff des höchsten Gutes erhalten habe? Auch zu den Verruchtesten schwebt oft plötzlich das Schöne in flüchtiger Erscheinung herab, 720aber sie sind nicht imstande, dasselbe festzuhalten, und bald entflieht es wieder. Es wäre auch gar nicht zu ihnen gekommen, wenn nicht in der Absicht, jene Menschen, welche das Laster anstatt der Tugend erwählen, zu überführen. Nur bei denen allein, die sich vom Körper loszureißen streben, bleibt der heilige Geist beständig.“
Durch den Logos erleuchtet und belehrt Gott die Menschen ins besondere über sich selbst; er sendet ihnen in die tugendhaften Seelen wie einen erquickenden Strom, heilt durch ihn die Krankheiten der Seele, flößt ihr seine heiligen Gesetze ein, muntert sie auf und stärkt sie zur Beobachtung derselben. Er wohnt und lebt in tugendhaften Seelen; er selbst ist vollkommen rein und keiner Sünde fähig. Er ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen.[698] Er ist weder ungeschaffen wie Gott, noch auf dieselbe Art wie die Menschen geschaffen. Sehr charakteristisch für die Auffassung des Logos im Christentum sind Philos eigene Worte[699]:
„Gott läßt seine Weisheit sanft in tugendhafte Seelen herniederströmen, sie sichert dieselben vor allen unangenehmen Empfindungen, läßt aber in rohe unwissende Seelen die Strafe gleich einem reißenden Strom herniederstürzen. Aber dem uralten Logos, dem vornehmsten Gesandten Gottes, hat der Vater, welcher Alles zeugte, den ausgezeichneten Auftrag gegeben, daß er auf einer Grenze zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen stehen sollte. Er fleht den Unsterblichen für den stets fehlenden Sterblichen um Gnade an und ist der Abgesandte des höchsten Königs an seine Unterthanen. Er freut sich seines Auftrags, er rühmt sich desselben und spricht: Ich stehe mitten zwischen euch und dem Herrn (Numeri 4816). Er ist weder ungezeugt wie Gott, noch gezeugt wie wir; er steht in der Mitte zwischen zwei Extremen und ist bei beiden ein Bürge; bei dem Schöpfer steht er dafür, daß niemals das ganze Geschlecht von ihm abfallen und in Unordnung zurückstürzen werde; dem Geschöpf hingegen verbürgt er, daß es die gewisse Hoffnung haben soll, der gnädige Gott werde immer für sein eigenes Werk Sorge tragen.“
Philo betrachtet den Ornat des Hohepriesters als Symbol des Weltalls, und den aus zwölf Steinen bestehenden Brustschild (Urim und Thummim), das heilige Orakel, als das Symbol des Logos, welcher das ganze Weltall zusammenhält und regiert; „denn“, setzt er hinzu, „es war notwendig, daß derjenige, welcher vor den Vater der Welt treten wollte, (der Hohepriester im Allerheiligsten) sich dessen mit vollkommener Tugend begabten Sohnes als Fürsprecher bediene zur Vergebung der Sünden und zur Mitteilung reichlicher Güter.“[700] – – –
So viel über die direkten göttlichen Hülfen.
Die Menschen dagegen müssen ihrerseits, falls sie Kräfte genug dazu besitzen, im dritten Menschenalter (vgl. oben) durch den Unterricht (μάθησις) in den Vorbereitungswissenschaften zur Philosophie ihren Verstand zu schärfen und an Betrachtungen zu gewöhnen suchen. Darauf müsse eine angestrengte Übung folgen (ἄσκησις), die in einem anhaltenden Kampf zwischen Sinnlichkeit und Vernunft besteht, bis die Gottheit, wenn wir eine Zeit lang Stand gehalten haben, dem Guten das Übergewicht verleiht.[701]
In diesem Sinne sagt Philo[702]:
„Zur Tugend gelangt man entweder durch Natur, durch Askese oder durch Unterricht. Deswegen schreibt Moses von drei weisen Stammeshäuptern unseres Geschlechts, die zwar nicht denselben Weg einschlugen, aber zu demselben Ziele gelangten. Der älteste derselben, Abraham, strebte auf dem Wege des Unterrichts zur Tugend; der zweite, Isaak, erreichte sie durch die angeborene Kraft oder durch die Natur; der dritte, Jakob, durch asketische Übungen. Es gibt also drei Arten, um zur Weisheit zu gelangen, und von diesen berühren sich die beiden äußersten am nächsten. Die Askese ist nämlich eine Tochter des Unterrichts; die Natur dagegen ist zwar als ihre gemeinschaftliche Wurzel beiden verwandt, aber sie hat den entschiedensten Vorzug vor ihnen. Daher konnte nun Isaak, nachdem er durch die Natur eines Bessern belehrt war, der Vater Jakobs werden, der sich durch die Askese emporarbeitete. Nur ist weder Abraham noch Jakob als 722Mensch, sondern beide sind als Seelenkräfte zu nehmen, jener für diejenige Kraft des Geistes, die sich zum Unterricht hindrängt, dieser für die Willigkeit zur Askese. Wenn aber der Asket kräftig nach dem Ziele läuft und hell zu schauen beginnt, was er vorher nur im Dunkeln und wie im Traume sah, so wird sein Name Jacob, ‚der Fersenstoßer‘, in den höhern Israel, ‚Beschauer Gottes‘, umgewandelt, und dann ist nicht mehr der lernende Abraham, sondern Isaak, der selbstgelehrte Natursohn, sein Vater.“
Das Verhältniß zwischen Askese und Unterricht bestimmt Philo folgendermaßen genauer[703]:
„Wer auf dem Wege des Unterrichts reif wird, bleibt, vom Gedächtnis und einer glücklichen Natur unterstützt, fest bei dem Erlernten. Der Asket läßt manchmal nach, wenn er sich mit Anstrengung geübt hat, um die erschöpften Kräfte wieder zu ersetzen, wie es die Athleten zu thun gewohnt sind. Außerdem erreicht der, welcher auf dem Wege des Unterrichts nach Tugend strebt, auch dadurch Unveränderlichkeit, daß er einen unsterblichen Lehrer, den Logos, hat und unsterblichen Unterricht von ihm empfängt. Der Asket dagegen hat nur seinen eigenen freien Willen für sich, welchen er anstrengt, um das den Kreaturen angeborene Verderben auszutreiben. Aber wenn er auch das Ziel bis zur Vollendung erreicht, so fällt er doch zuweilen, von den Anstrengungen ermattet, in das frühere Übel zurück. Der Asket ist mehr im Kampf geübt, jener aber glücklicher, denn er hat einen Andern zum Lehrer, während der Asket aus sich herausarbeitet und mit Eifer und fortgesetzter Anstrengung in das Wesen der Dingen einzudringen sucht.“
Das Verhältnis des Unterrichts und der Askese zur Natur (φύσις) bestimmt Philo folgendermaßen[704]:
„Die erlernte und durch Übung errungene Tugend ist der Vervollkommnung fähig, denn der, welcher Unterricht nimmt, strebt nach Kenntnissen, die er noch nicht besitzt, der Asket dagegen nach den Kränzen und Preisen des Kampfes; doch das selbstgelehrte Geschlecht der Natursöhne ist von vornherein vollendet.“
Nach diesen Stellen nimmt der Asket die unterste Stufe der 723nach Vollendung Strebenden ein, und seine Eigentümlichkeit besteht darin, daß er sich unaufhörlich bemüht, durch eigene Kraft sein Ziel zu erreichen. In diesem Sinne sagt Philo[705]:
„In der Himmelsleiter, welche Jacob im Traume sah, schaute er ein Bild seines eigenen Lebens: denn die Askese ist ihrer Natur nach ungleich; bald steigt sie in die Höhe, bald sinkt sie wieder herab, bald fährt sie mit gutem Winde, bald kämpft sie mit schlechtem, bald ist der Asket voll Leben, bald ist er tot und begraben, so daß sich die Worte Homers auf ihn anwenden lassen:
‚Daß die Beid' abwechselnd den einen Tag um den andern leben und wieder sterben.‘[706]
In der That ist ihr Leben von dieser Art. Die Weisen haben nämlich den Himmel zur Wohnung erhalten, da sie unausgesetzt in die Höhe streben, die Schlechten aber die Höhlen des Hades, weil sie vom Anfang bis zum Ende auf den Tod hinarbeiten und sich an der Verwesung erfreuen. Der in die Mitte zwischen beide gestellte Asket dagegen steigt wie auf einer Leiter auf und ab, bald von seiner besseren Natur emporgehoben, bald wieder durch die schlechtere herabgedrückt, bis der Schiedsrichter und Herr aller Kämpfe dem bessern Teil den Sieg verleiht und den schlechtern auf immer zerstört.“
Der Gegenstand der Askese ist also, wie aus den angeführten Stellen ersichtlich ist, die Wissenschaft und praktische Übung der Tugend, welche hauptsächlich in der Unterdrückung des Fleisches und seiner Lüste besteht. So sagt Philo[707]:
„Die Worte (Genesis XXVIII, 11) ‚und er nahm einen Stein des Orts und legte ihn zu seinen Häupten‘ haben auch nach der wörtlichen Erklärung einen guten Sinn: sie bezeichnen das harte und rauhe Leben des Asketen. Diese betrachten Mäßigung, die Kunst mit wenigem zu leben, als die Grundpfeiler des Lebens, sie verachten Geld und Ruhm, selbst die Speise und Trank, insofern sie der Hunger nicht zwingt, davon zu kosten; sie sind im Dienste der Tugend gleichgültig gegen Kälte und Hitze und von kostbaren Kleidern wissen sie nichts.“
Die drei genannten Wege sind darin gleich, daß der Tugendhafte, mag er nun durch Askese oder Unterricht nach oben streben, oder von Natur aus schon das Höchste besitzen, sich dem Leibe, als Quelle alles Bösen, soviel als möglich entzieht.
Philo spricht sich folgendermaßen sehr prägnant über dieses Thema aus:
„Nur die guten und weisen Menschen sind wahrhaft Gottes Geschöpfe. Der heilige Chor solcher Männer giebt aber nicht nur den Besitz äußerer Güter auf, sondern auch das Fleisch verachten sie. Die Athleten freilich, welche den Körper gegen die Seele auftürmen, strotzen von Kraft und Gesundheit; aber die Tugendkämpfer sind mager, bleich und abgezehrt; sie suchen die Körpermasse in Seelenkraft umzubilden, um ganz Geist zu werden. Das Irdische wird mit Recht vernichtet, wenn man Gott gefallen will; aber selten, doch nicht unmöglich, ist dies Geschlecht auf Erden zu finden.“[708]
„Ein jeder muß den Bruder des Geistes, den Leib, den nächsten des vernünftigen Teils der Seele, den unvernünftigen, töten. Denn nur dann kann der Geist in uns Diener Gottes werden, wenn erstens der Mensch ganz in Seele aufgelöst wird, dadurch, daß der verbrüderte Leib samt seinen Begierden weichen muß; zweitens, wenn die Seele ihr Nächstes, nämlich den unvernünftigen Teil (τὸ ἄλογο τῆς ψυχῆς μέρος), aufgiebt. Dieser teilt sich wie ein Strom in fünf Arme, die Sinne, und rührt diese durch die Macht der Leidenschaften auf. Endlich muß noch die Vernunft ihren angrenzenden Nachbar, die Rede, entfernen, sodaß nur das innere – geistige – Sprechen übrig bleibt, erlöst von den Sinnen, erlöst vom Leibe, erlöst von der Rede des Mundes. Denn nur, wenn der Geist auf diese Weise für sich allein lebt, kann er das Wesen rein und ungestört verehren.“[709] Damit nun Außenstehende nicht meinen könnten, Philo verlange eine gänzliche Trennung vom Leibe und somit eine Art Selbstmord, sagt derselbe an anderer Stelle[710]:
„Verlaß den Leib, die Sinne und die Erde, soll nicht heißen: 725trenne dich wesentlich von ihnen, sondern es heißt bloß: entferne dich geistig von diesen Dingen, laß dich nicht von ihnen beherrschen, denn es sind deine Unterthanen!“
Es ist aber nicht genug, daß sich die Seele vom Leib, den Sinnen und der Rede los sagt, sie muß, wenn es ihr möglich ist, aus sich selbst herausgehen.
Philo sagt deshalb in Beziehung auf den Spruch (Genesis XV, 4.): „Und siehe, der Herr sprach zu ihm: Er soll nicht dein Erbe sein, sondern der von deinem Leibe kommen wird, soll dein Erbe sein“[711]:
„Wer wird deine Erbe sein? Nicht der Geist, der freiwillig im Gefängnis des Leibes verharrt, sondern der sich von diesen Banden befreit, der außerhalb der Mauern heraustritt und womöglich sich selbst verläßt. Denn es heißt ja: der aus dir herausgeht, wird dich beerben. Wenn du also die göttlichen Güter zu erben wünschest, o Seele, so verlasse nicht allein die Erde, d. h. den Leib, die Verwandtschaft, d. h. die Sinne, das Vaterhaus oder die Rede, sondern fliehe dich selbst, gehe aus dir heraus wie die Korybanten, die von göttlicher Begeisterung trunken sind. Denn nur da ist die Erbschaft himmlischer Güter, wo die begeisterungsvolle Seele nicht mehr bei sich selbst ist, sondern in göttlicher Liebe schwelgt und, von der Weisheit geleitet, hinauf zum Vater gezogen wird.“
Anderswo heißt es[712]:
„Der Geist, der nach Freiheit strebt, muß alles Sinnliche, wie die Organe, die Täuschungen eines sophistischen Verstandes verlassen, ja sich selber muß er aufgeben. Deshalb ruft auch die Schrift, das Los eines solchen Geistes preisend, aus: ‚Der Herr, der Gott des Himmels, der mich von meines Vaters Hause genommen hat!‘[713] Wer noch im Leibe und unter dem sterblichen Geschlecht wohnt, darf Gott nicht nahen, sondern nur derjenige vermag es, den Gott aus diesen Banden befreit. Deshalb geht auch die Seelenfreude, Isaak mit Namen, hinaus, wenn sie allein mit Gott 726sein will, sich und den eigenen Geist fliehend, denn es heißt[714]: ‚Isaak ging hinaus aufs Feld gegen Abend um zu beten.‘ Und auch Moses, die prophetische Rede spricht[715]: ‚Wenn ich aus der Stadt, d. h. der Seele hinausgehe, will ich meine Hände ausbreiten‘; d. h. ich will alle meine Handlungen dem Herrn, vor dem keine Bosheit verborgen bleibt, vorlegen und ihn zum Zeugen und Richter derselben machen. Wenn nämlich die Seele sich ihrer selbst ganz entäußert und Gott hingegeben hat, so hört das Getümmel der Sinne auf, welches durch die äußeren Gegenstände angeregt wird, und es herrscht vollkommene Ruhe. Aber dies geschieht nur dann, wenn die Seele aus sich selbst heraustritt und Gott ihre Handlungen und Gedanken weiht.“
Zur Erklärung dieser Stelle führe ich einen Ausspruch Philos an, in welchem er sagt[716], der Geist könne in dem nämlichen Augenblick dem Wesen nach im Körper zu Alexandria sein, der Kraft nach aber in Sizilien oder in Italien oder gar im Himmel, sobald er nämlich über diese Gegenstände nachdenke.
Der Zweck des Heraustretens aus dem eigenen Ich ist das Verlangen, in Gott zu versinken, was Philo in einem schönen Bilde in Bezug auf die Worte Hanna's (I. Sam. 1, 15) „Ich bin ein betrübtes Weib, Wein und starke Getränke habe ich nicht getrunken, sondern ich habe mein Herz vor dem Herrn ausgeschüttet“, sagt[717]:
„Anna behauptet, daß sie keinen Wein, noch anderes starkes Getränke zu sich nehme, und rühmt sich der Nüchternheit ihres Lebens. In der That ist es auch viel, einen freien, reinen, von keiner Leidenschaft trunkenen Sinn zu bewahren. Wem dieses gelingt, der mag sich selbst als reines Trankopfer dem Herrn ausgießen. Denn was bedeuten die Worte: ich will meine Seele dem Herrn ausgießen, anders als: ich will mich heiligen; dadurch nämlich, daß die Bande, welche die eiteln Sorgen des Lebens um uns schlingen, gesprengt werden, damit der Geist aus sich selbst heraustrete, die Grenzen des Weltalls erreiche und selbst den himmlischen Anblick des Ungezeugten genieße.“
Diese außerordentliche Höhe der Vollendung kann nur nach langen Kämpfen erreicht werden[718], und Philo unterscheidet daher drei Stufen des Fortschritts: nämlich den Anfänger (ὅ ἀρχόμενος), den Fortschreitenden (ὅ προκόπτος) und den Vollendeten (ὅ τέλειος).
Der Vollendete ist der wahre Gottmensch (ἄνϑρωπος ϑεοῦ), weil er sich Gott zum Eigentum hingegeben. Er ist mehr als ein Mensch und bildet das Mittelglied zwischen Gott und dem sterblichen Geschlecht.[719]
Ihm kommen wegen dieser innigen Verbindung mit Gott auch wahrhaft göttliche Eigenschaften zu, so die Unveränderlichkeit und die Freude, deren Wesen Philo sehr schön beschreibt[720]:
„Demjenigen, der Tugend durch Natur, ohne Anstrengung und Kampf zum Eigentum erhielt, ward als Preis die Freude zu Teil, denn er wurde, wie die Griechen sagen, γέλος, wie die Chaldäer, Isaak genannt. Das Lachen ist nämlich das sichtbare Zeichen unsichtbarer innerer Freude. Freude aber ist die beste und edelste der menschlichen Empfindungen, durch welche die Seele ganz und gar mit Wohlgefallen erfüllt wird, indem sie sich ihres himmlischen Vaters erfreut, ja selbst über das, was nicht zu unserer Lust ausfällt, wenn es nur nicht aus Bosheit, sondern zum Wohl des Ganzen geschieht. Denn wie ein Arzt bei großen und gefährlichen Krankheiten oft Teile des Körpers ablöst, um das Ganze zu retten, oder wie ein Steuermann einen Teil seiner Ladung zur Rettung des Übrigen ins Meer wirft, ohne daß Jemand einen solchen Steuermann tadelt, so muß man auf ähnliche Weise überall das Urwesen bewundern und alles, was in der Welt geschieht, lobpreisen und sich daran erfreuen, nur das ausgenommen, wobei Bosheit im Spiel ist, ohne daran zu denken, ob etwas uns Vorteil bringe, sondern ob die Welt gleich einem wohlgeordneten Staat zum Heile des Ganzen regiert werde.“
Außer der Freude wird noch der Friede das Eigentum des Weisen genannt, und neben diesen Gütern des Herzens und Gemüts sind noch die höchsten Schätze des Geistes Eigentum des Vollendeten. 728Vollendung der Weisheit aber besteht im Schauen Gottes, welches nur den Vollkommenen zu Teil wird. Über die Art dieses Schauens drückt Philo sich nicht bestimmt aus, sondern nennt es gewöhnlich eine unvollkommene und nur annähernde Erkenntnis.[721]
Nur einige wenige Menschen bedürfen der Anstrengung des Unterrichts und der Askese nicht, da sie Gott schon vor Geburt, noch ehe sie etwas Gutes gethan haben konnten, vortrefflich ausbildete und zu einem bessern Schicksal bestimmte.[722] Es sind dies die vollkommenen göttlichen Menschen. Über diese sagt Philo[723]:
„Die Stelle (Genesis VI. 4): ‚Es waren auch zu den Zeiten Riesen auf Erden‘ sei nicht wörtlich zu nehmen, als wären damals wirklich Riesen auf Erden gewesen; sondern die Schrift will uns mit diesen Worten andeuten, daß es dreierlei Menschen gibt: irdische, himmlische und göttliche. Die irdischen sind die, welche in das Fleisch versunken sind und nur das treiben, was Lust erregt. Himmlische Menschen sind alle Freunde der Kunst, der Wissenschaft und Weisheit, denn das Himmlische in uns ist der Geist. Der Geist aber beschäftigt sich mit himmlischen Dingen, mit den Wissenschaften und Künsten, um sich durch Betrachtung der übersinnlichen Dinge zu üben und zu stärken. Göttliche Menschen endlich sind die Priester und Propheten, welche es verschmähten, Bürger der Erde zu werden, sondern, alles Sichtbare und Sinnliche überfliegend, in die geistige Welt einwanderten und sich in den Staat unvergänglicher Ideen einschreiben ließen. – Ein solcher Mann Gottes hängt an seinem Gott allein, folgt ihm und richtet nach ihm die Pfade seines Lebens. Die Söhne der Erde aber haben seinen Geist aus seinem Besitz, nämlich der Denkkraft, ausgetrieben und graben aus den finstern Schachten des unbeseelten Fleisches. Auf sie läßt sich der Ausspruch des Gesetzgebers anwenden: ‚Beide werden zu einem Fleische‘ (vgl. Genesis, II. 24); ‚sie haben das herrlichste Gepräge verfälscht, die bessere Stellung verlassen und sind Überläufer geworden zum Schlechten und Entgegengesetzten.‘“
Den „Söhnen der Erde“, welche nicht Kraft genug besitzen, sich aus eigener Kraft in die Höhe zu schwingen, können fünf Hilfsmittel dienen, nämlich: die schaffende, herrschende, gebietende und verbietende Kraft sowie die der göttlichen Gnade, denn wer einsieht, daß Gott die Welt geschaffen hat, wird von Liebe zu ihm hingerissen; wer weiß, daß Gott der Herr des Geschaffenen ist, wird wie der Unterthan durch die Furcht vor dem König und wie ein Kind, wenn nicht durch Liebe, doch durch die Furcht vor den zügelnden Zwangsmitteln des Vaters – von der Sünde zurückgehalten, wer überzeugt ist, daß Gott gnädig ist, wird aus Hoffnung auf Vergebung sich bessern; und wer endlich glaubt, daß Gott Gesetzgeber ist, wird entweder seinen Geboten gehorchen, oder doch wenigstens seine Verbote nicht übertreten.[724]
Die in den Sünden Verharrenden straft Gott nicht gleich nach seiner Güte, sondern läßt ihnen Zeit zur Bekehrung und Verbesserung ihrer Fehler oder schiebt doch die Strafe wegen der unter ihnen wohnenden Rechtschaffenen auf, da diese ein Lösegeld für die Bösen sind, die sie durch Unterricht auf bessere Wege zu bringen suchen und teils durch ihre guten Erfolge, teils durch ihre Person, um welche herum die Gottheit lauter Wohlthaten verbreitet, die Strafe abwenden. Sobald die Sündigen sich zu bessern beginnen, vergiebt ihnen die göttliche Gnade nach ihrer Gerechtigkeit, ohne sich darum bitten zu lassen.[725]
Wer aber an der Sünde wie an einer unheilbaren Krankheit darnieder liegt, der muß beständig sein nie aufhörendes Unglück tragen, verstoßen in die Gegend der Gottlosen, um hartes unaufhörliches Unglück zu leiden.[726] Diese Gegend ist jedoch nicht der fabelhafte Hades, sondern der Sitz der Lüste, Begierden und alles Bösen.[727] Die Menschen glauben zwar, der Tod sei das Ende aller Strafen, da er doch vor dem Tribunal der Gottheit kaum der Anfang davon ist; denn es giebt eine doppelte Art des 730Todes: die Trennung der Seele vom Körper, eine, wo nicht gute, so doch gleichgültige Sache, und das Ersterben in Sünden, welches durchaus übel und je länger desto übler wird. Dieser ewige Tod besteht in einer beständigen hoffnungslosen Traurigkeit und Furcht.[728]
Die Tugendhaften dagegen, welche ein gutes praktisches Leben führten, belohnt Gott im Alter mit einem einsamen der Betrachtung geweihten Leben, wodurch sie zum endlichen Ziele ihres Strebens, zur wahren Weisheit und Erkenntnis Gottes gelangen durch wahre Freude und Glückseligkeit und Heimsuchung ihrer Seelen durch die Gottheit, deren Tempel sie sind.[729]
Diejenigen Seelen, welche nach der Vollendung ihrer irdischen Laufbahn noch starke Reize zum Bewohnen der von Natur aus bösen Körper empfinden, kehren nach dem Tode wieder in andere zurück. Die aber des eiteln Lebens völlig überdrüssig sind, betrachten den Körper als ein Gefängnis oder Grabmal, in welches sie sich nur aus Wißbegierde einschließen ließen[730]; sie erheben sich schnell zum Äther und wohnen dort von Ewigkeit zu Ewigkeit.[731]
Die für die Geschichte der Gnosis wichtigen Grundprinzipien der Hermeneutik Philos sind die folgenden:
Der höchste Zweck der göttlichen Offenbarungen ist der, dem Menschen die ewigen Wahrheiten mitzuteilen, die sich auf den Geist als den wahren Menschen (νοητα) beziehen und diesen dadurch mit Gott und der Geisterwelt (κοσμος νοητος) in Verbindung zu setzen. Um nun den Menschen, der doch ohne die Erweckung seines geistigen inneren Sinnes von dem Göttlichen nichts vernehmen kann, nach und nach aus sich selbst zu erwecken und auch zum Nutzen derer, die zu dieser höchsten Stufe des religiösen Lebens noch nicht gelangt sind, zu wirken, sind diese höheren Wahrheiten in die Hülle einer zur sittlichen Belehrung und Besserung dienlichen Geschichte und praktischen Religionseinrichtungen eingekleidet worden.
Jene höhern Wahrheiten sind die eigentliche Seele des Ganzen, das Reale, welches nichts weiter suchen läßt (το σωμα); die Geschichte ist im Verhältnis dazu nur ein Schatten (σκια). Für diejenigen, welche nur das in die Augen Fallende betrachten, hat das Ganze auch historischen Sinn; höher aber stehen Diejenigen, welche in die innere Natur, die verborgene Kraft, das wahrhaft Reale einzudringen fähig sind. Das scheinbar Böse oder Unmoralische in den somatischen oder noëtischen Offenbarungen fügt sich höherer Harmonie als gut oder ist allegorisch zu deuten.
In der Theosophie Philos findet sich die allen orientalischen Systemen gemeinsame Unterscheidung zwischen einem verborgenen, in sich verschlossenen, unbegreiflichen, über jede Bezeichnung und Abbildung erhabenen Wesen der Gottheit und dessen Offenbarungen, als dem ersten Übergangspunkt zur Schöpfung, dem Grund aller Lebensentwicklung (ὁ ὢν, τὸ ὂν).
Jehovah und seine Offenbarung oder der Inbegriff aller im Wesen Gottes verborgenen Kräfte (δυνάμεις τοῦ ὄντος, λόγος τοῦ ὄντος), wobei Philo immer den Gegensatz vor Augen hat zwischen einem εἷναι, in sich selbst sein, und λέγεσϑαι, ausgesprochen, geoffenbart werden: Die unmittelbare Wirkung des verborgenen und insofern noch nicht schaffenden Gottes, nicht die Welt, sondern der λόγος, durch den er alles hervorgebracht.
Alles Dasein und alles Erkennen ist eine Offenbarung desjenigen, der in sich selbst unsichtbar, alles ans Licht fördert. Die Gottheit ist der Urquell alles Lichts, von welchem Strahlen nach allen Seiten hin ausgehen. Vermöge dieser Strahlen hat Gott Leben aus sich hervorgebracht, wirkt durch dieselbe immerfort im Weltall und teilt sich dem Empfänglichen mit, diese Strahlen sind δυνάμεις τοῦ ὄντος. Vermöge derselben ist Gott überall gegenwärtig, denn kein Platz der Schöpfung ist von seinen Kräften unerfüllt; durch diese verknüpft er alles mit unsichtbaren Banden; daher ist er überall und nirgends, überall nämlich durch die Allerfüllung seiner Kräfte, und doch nirgends, weil das Wesen Gottes als solches nirgends erscheinen kann.
Wo also von Theophanien die Rede ist, da ist es nicht das ὀν oder der ὠν, sondern eine δυναμις, die in Erscheinung trat. Nicht der ὀυσιωδης ϑεος, sondern seine δο ξα, Schechinah, die ihn repräsentierenden Kräfte oder höchsten Geister kamen herab.
Als ὠν ist Gott der ὀνομαστος oder ἀκατονομαστος, über jede Bezeichnung erhaben und nur in seinen einzelnen Kräften bezeichnet, diese Kräfte sind daher eben so viele Namen des an und für sich Unnennbaren. Diese Kräfte sind teils die verschiedenen Relationen, in denen der unbegreifliche ὠν, der endlichen Vernunft aktiv erscheint, teils die einzelnen Vollkommenheiten höchst potenziert als Individualitäten.
Insofern das ὀν an und für sich über jede Bezeichnung erhaben ist und nur nach den von denselben ausstrahlenden Kräften bezeichnet werden kann, welche alle der λογος in sich schließt, nennt er ihn vorzugsweise ὀνομα τον ϑεου und zugleich πολυωνυμος, als ἀρχαγγελος, weil er nicht blos eine einzelne göttliche Kraft darstellt, sondern alle in sich faßt, die ἀρχη, das erste Glied und das erste Prinzip in der Kette der Lebensentwickelung, in dem das ὀν an und für sich mit derselben in keine Berührung kommt, wie die Gnostiker sich deutlich ausdrückten, nicht ἀρχη sondern προαρχη ist der höchste Gottesbetrachter, das Ideal der höchsten Kontemplation. Dasselbe, was er von οὐρανιος σοφια als ὁρασις ϑεου sagt, diese personifizierte himmlische Weisheit als Inbegriff der himmlischen Tugenden, welche Gott aus seinem himmlischen Licht auf ewig unauslöschlich hervorgehen ließ.
Wie der λογος, die allgemeine Offenbarung des ὀν das allgemeine ἐικων του ὀντος, so ist im Besondern jeder Engel eine Offenbarung Gottes, jeder Geist eine Offenbarung des verborgenen Gottes. Philo definiert daher einen Engel als ἐικων του ὀντος, und so definierten die Valentinianer einen Engel als λογον ἐπαγγελιαν ἐχοντα του ὀντος. Der λογος als der allgemeine Gottesoffenbarer heißt eben in dieser Beziehung im Verhältnis zu den einzelnen λογοις ἀρχαγγελοις.
Auch der Geist, der eigentliche Mensch im Menschen, hat dieselbe Bestimmung, Gott zu offenbaren und göttliches Leben in sich aufzunehmen und aus sich zu verbreiten. Die Seelen sind nicht verschieden von den himmlischen Geistern, sondern himmlische Wesen, in die zeitliche ihrer Natur fremdartige Welt herabgesunken. Der menschliche Geist ist also auch ein Bild des ὀν, aber nicht unmittelbar, denn der unmittelbare Abdruck des Bildes des verborgenen Gottes ist nur sein λογος, jede endliche Vernunft nur ein Abbild und Offenbarung jener höchsten Gottesvernunft. Nach dem Bilde des höchsten Allvaters kann nichts Sterbliches geschaffen werden, sondern nur nach dem Bilde des zweiten Gottes, welches der λογος ist. Der Charakter der Vernunft in den menschlichen Seelen mußte von dem höchsten λογος eingeprägt werden, weil ὁπρωτος λογος ϑεος höher ist als jede vernünftige Natur, so konnte dem über 734den λογος Erhabenen, der den höchsten und vor allen anderen ausgezeichneten Platz einnimmt, nicht Geschaffenes ähnlich gebildet werden.
Der Mensch ist also das Bild und der Abdruck eines himmlischen und ewigen Offenbarers der verborgenen Gottheit; das Menschliche soll vergöttlicht werden, Offenbarung göttlichen Lebens in menschlicher Form, wie das Leben des verborgenen Gottes dem Menschen nur nahe gebracht werden konnte in menschlicher Form. Der λογος wurde daher angesehen als das Urbild der Menschen, der Mittelpunkt aller Offenbarung des göttlichen Lebens, das weiter entwickelt und individualisiert erscheint in der Menschheit; der λογος ist also der Urmensch, der himmlische Mensch, ὁ ϑειας ἀδιαφορων εἰκονος.
Es giebt zweierlei Erkenntnis der Gottheit.
1. Das Erkennen des ὀν nicht als solches, nicht in seinem verborgenen Wesen, sondern in seiner Offenbarung, in seinem ewigen Wort, welches Ursache und beseelendes Prinzip der ganzen Schöpfung ist, durch die Schöpfung selbst, die Offenbarung darstellend, durch einzelne Geister als göttliche Gesandte, durch einzelne von Gott erregte Gedanken und Lehren.
2. Das Erkennen des ὀν in sich selbst. Trotzdem das ὀν an und für sich ein Gegenstand wissenschaftlich-logischer Erkenntnis sein kann, trotzdem sich von demselben kein Verstandesbegriff geben und überhaupt nichts prädizieren läßt, so giebt es doch eine unmittelbare Offenbarung, erhaben über alle Verstandeserkenntnis, über alle mittelbare Offenbarung desselben, über alle analogische von der Schöpfung auf den Schöpfer schließende Erkenntnis, wodurch der Geist eine über allen λογος und alles λογικον erhabene Gewißheit und Klarheit erhält.
Philo drückt diesen Gegenstand aus durch: Erkennen Gottes, des ὀν, in sich selbst und in seinem Schatten (Leg. Alleg. p. 79): „Diejenigen, welche so denken, erkennen Gott aus seinem Schatten (der Schöpfung); es giebt aber einen vollkommeneren und gereinigteren Geist, der, eingeweiht in die großen Mysterien, nicht aus den Werken die Ursache erkennt, wie aus dem Schatten des Wahrhaften, sondern über alles Erstandene sich erhebend, die klare Offenbarung des Ewigen erhält, daß er ihn selbst in sich selbst erkenne, und 735zugleich dessen Schatten, den λογος und diese Welt.“ Das ὀν wird vielmehr in seiner klaren Selbstoffenbarung erkannt, als durch Argumente bewiesen.
In Rücksicht auf die doppelte Erkenntnis des ὀν in sich selbst und das durch den λογος offenbarten, giebt es zwei Standpunkte der religiösen Betrachtung: den Standpunkt der ὑιοι ϑεου in eigentlichem Sinn, welchen die unmittelbare Anschauung des ὀν zu Teil geworden und der του λογου ὑιοι. Diesen zwei Standpunkten der Religionserkenntnis entsprechen zwei verschiedene Standpunkte der praktischen Gottesverehrung. Die ϑεου δια, welche die höchste Gotteserkenntnis erlangt haben, finden allein in der Gemeinschaft mit ihm Beseligung und dienen ihm nur um seiner selbst willen, von der Liebe zu ihm beseelt. Die λογου ὑιοι, welche Gott noch nicht nach seinem Wesen, sondern nur nach seinen Werken oder seiner Thätigkeit erkannt haben, sind noch nicht fähig, das Beseligende der Gemeinschaft mit Gott zu erfahren, noch nicht empfänglich für die höchsten Triebfedern der Religion. Sie müssen noch durch Hoffnung und Furcht angetrieben und erzogen werden, und Gott läßt sich zu diesen ihren Bedürfnissen herab. Aber von ihm selbst unmittelbar kann keine Strafe herrühren; er ist nur die Quelle des Segens und der Beseligung für alle Empfänglichen, und vollzieht die Strafgerichte über die, welche dadurch erzogen werden können, durch dienende Geister.
Es giebt also eine Religion der πνευματικα und eine Religion der ψυχικοι; die πνευματικοι erkennen das ὀν und die ψυχικοι einen dieses repräsentierenden Geist, welchem deren Erziehung und Regierung übertragen wurde.
Dieser die Gottheit repräsentierende Engel, der Erzieher und Zuchtmeister der Welt, ist der Demiurgos.
Als Eins erscheint das ὀν, wenn die Seele vollkommen gereinigt, nicht nur über die Vielheit, sondern auch über die der Einheit am nächsten verwandte Zweiheit sich erhebt, zu der reinen und selbstgenugsamen Idee.
Als Drei erscheint der Seele das ὀν nicht unmittelbar wie es in sich selbst ist, sondern nur mittelbar als schaffend und herrschend.
Die Juden sind das dem ὀν geweihte Volk[732], welches dieser selbst regiert, während die andern Völker andere Kräfte Gottes zu ihren Vorstehern haben; aber auch Israel zerfällt in einen ἰσραηλ αἰς ϑητος und einen ἰσραηλ νοητος. Der ersten Klasse offenbart sich Gott durch seine Engel, weil sie der reinen geistigen Gottesverehrung nicht fähig sind. Den rein geistigen und seiner Verehrung geweihten Seelen kann sich Gott offenbaren, wie er in sich selbst ist; er geht mit ihnen um, wie der Freund mit dem Freunde; denen aber, die noch im Körper sind, offenbart sich Gott unter der Gestalt der Engel, nicht als ob er seine Natur verwandle, sondern indem er die Vorstellung bei ihnen erregt, daß das Bild das Urbild selbst sei. So wie diejenigen, welche die Sonne nicht selbst betrachten können, ihr Bild im Widerschein für sie selbst halten, so sehen diese Gottes Bild, seinen Engel, für ihn selbst an.
Gott und seine Kräfte können sich in scheinbar sinnlichen Formen der Menschheit offenbaren, die jedoch kein reales Dasein haben; die höheren Naturen nehmen mannigfach wandelbare Formen an je nach den Bedürfnissen derer, denen sie erscheinen.
Es ist notwendig, daß die ganze Schöpfung belebt sei, denn Gott, die Urquelle alles Lebens und die Summe aller Kräfte, ist überall gegenwärtig; darum wird auch jeder Teil der Schöpfung ihm angemessene Bewohner haben.
Diese Geisterwelt ist ein intelligibler Staat, worin die Angelegenheiten des κοσμος αἰςϑητος und besonders der Menschheit erledigt werden.
Die Mitte dieses intellektuellen Staates hat den λογος inne, der erhabenste aller Geister der aktive ὀν. Er ist das Triebrad im innern Wesen der Gottheit wie der gesamten Geisterwelt. Gott vertraute ihm bei der Schöpfung das allmächtige Werde! an, und also entstand die Welt durch ihn. Er schuf die Formen der Dinge durch seine Weisheit, denn er ist der Sohn der Weisheit, vom Vater gezeugt, ehe die Welt erschaffen worden. Er vereinigte Macht und Güte bei der Schöpfung und machte dadurch Gott zum höchsten Guten. Er führte zur Bezeichnung seiner Eigenschaften und Kräfte dem Namen πολυωνυμος.
Der Mensch ist fähig, in eine unmittelbare Gemeinschaft und einen vertrauten Umgang mit den Kräften des ὠν zu kommen, 737wozu die moralische Güte und die Askese die Haupterfordernisse sind. Durch diesen Umgang wird die Seele hoher Macht und Kenntnisse teilhaftig. Denn, wenn der Menschengeist auch durch eigene Kraft vieler Künste und Wissenschaften fähig ist, so vermag er doch nur durch übersinnliche Hülfe wahrhaft begeistert zu werden, und nur vermittelst dieses Umgangs gelangt er zur wahren Erkenntnis des Guten und Wahren. Ist die Seele durch ihre Verbindung mit der Geisterwelt und namentlich durch den Einfluß des Logos zur Erkenntnis der eigentlichen Grundideeen der Dinge gelangt, dann erhebt sie sich über sich selbst, tritt mit dem Logos in Gemeinschaft und ersteigt den Gipfel der reinsten Erkenntnis; ihr Flug ist fortan nur himmelwärts gerichtet.
Die Sittenlehre der alexandrinischen Propheten ist das Gesamtprodukt des väterlichen Glaubens, der platonischen Philosophie und der Zeitverhältnisse, insofern der politische Druck, welcher auf den Juden lastete, einige ihrer Leute zwang, im eigenen Innern den Trost und die Befriedigung zu suchen, die ihnen die Außenwelt versagt, daher ihre Mystik.
Als Anhänger Platos flüchteten sich so die Mystiker unter den alexandrinischen Juden in die innere Geisteswelt, und die Entfremdung von der Welt, die Abtötung des Leibes wurden zur höchsten Tugend. Doch als Juden, die im unerschütterlichen Glauben an ihr Gesetz aufgewachsen waren, gaben sie nur die irdischen Hoffnungen der nächsten Zeit auf und erwarteten nach den alten Verheißungen eine herrliche Zukunft voll Glück, in welcher ihr Glaube die ganze Welt beherrschen werde. So wurde die Hoffnung, daß einst bessere Zeiten kommen würden, der Glaube, daß der Gott der Väter sein Volk nicht verlassen werde, das Merkmal der echten Juden, und wenn ihr in der Fremde von allen irdischen Genüssen abgekehrtes Gemüt nicht ersterben sollte, mußte jene tiefe, in allen Systemen der Mystik wiederkehrende Liebe die Leere des von der Außenwelt unbefriedigten Judengemüts ausfüllen.
Nur aus diesen allgemeinen Verhältnissen läßt es sich erklären, warum wir in beinahe allen übriggebliebenen Denkmälern der alexandrinischen Theosophie neben den platonischen Tugenden den Glauben, die Liebe, die Hoffnung und die Befreiung von den Fesseln des Fleisches als die höchsten Güter genannt finden. – So viel über die jüdischen Mystiker in Alexandria.
Es ist nun der Nachweis zu führen, daß die alexandrinische Theosophie, die Lehre Philos, nach Palästina verpflanzt wurde. Dieser Beweis ergiebt sich daraus, daß die Sekte der Therapeuten der alexandrinischen Mystik zugethan war und daß die Essäer, wenn sie nicht von ihnen abstammen, doch auf das Engste mit ihnen zusammenhängen.
Daß die Therapeuten die theosophischen Anschauungen Philos teilten, geht aus dem großen Lob hervor, welches dieser ihnen spendet; denn in einer religiös so bewegten Zeit, wie die Philos war, wird nicht leicht ein Mystiker von so ausgeprägten Anschauungen wie Philo eine religiöse Partei loben, deren Lehren nicht mit den seinen harmonieren. Philo sagt von den Therapeuten[733]:
„Das an das Schauen gewöhnte Geschlecht der Therapeuten möge fortwährend nach der Erkenntnis des Höchsten streben, es möge die sichtbare Sonne überfliegen und nie seinem Berufe untreu werden, welcher zur vollkommenen Glückseligkeit führt. Denn diejenigen, welche sich der Beschauung weihen, – nicht aus Gewohnheit oder durch äußere Anforderungen bewogen, sondern von himmlischer Liebe ergriffen, – sind wie Korybanten höherer Begeisterung voll, bis sie das Ersehnte erschauen. Und weil sie aus heiliger Sehnsucht nach dem seligen und ewigen Leben schon hier der sterblichen Hülle abgestorben zu sein glauben, überlassen sie freiwillig alle Habe ihren Söhnen, Töchtern, sonstigen Verwandten und Freunden.“
Zeugt nun schon dieser und mancher andere Ausspruch Philos für die Wahrscheinlichkeit der Gleichheit seiner religiösen Anschauungen mit denen der Therapeuten, so läßt sich dieselbe auch thatsächlich nachweisen. Dazu ist jedoch notwendig, daß wir Philos Nachrichten von den Therapeuten vollständig wiedergeben. Er sagt[734]:
„Wenn sie ihr Vermögen abgetreten haben, fliehen sie – von keinem Reize mehr zurückgehalten – unaufhaltsam weg von Brüdern, Kindern, Weibern, Eltern, von ihren Verwandten und Freunden, von dem Orte, wo sie geboren und erzogen wurden. Denn sie kennen den verderblichen Einfluß, welchen die Gewohnheit auf 740bessere Entschlüsse ausübt. Sie wandern auch nicht nur in eine andere Stadt wie unglückliche oder schlechte Sklaven, die ihren seitherigen Herrn um Verkauf bitten und damit keine Freiheit, sondern nur einen Wechsel der Knechtschaft erreichen: vielmehr eilen sie hinweg von allen Städten (denn jede – auch die besser eingerichtete – ist voll Lärm, voll Unheil und Unruhen aller Art, welche ein Mann nicht mehr ertragen kann, der einmal die Weisheit gekostet hat), in Gärten und entlegene Landhäuser, um die Einsamkeit zu genießen, nicht als ob sie die Menschen haßten, sondern weil sie wissen, daß der Umgang mit Andersgesinnten, der in der Welt nicht vermieden werden kann, Verderben bringt.“
„Das Geschlecht der Therapeuten ist über die ganze Erde verbreitet, denn Hellas und die Länder der Barbaren sollten einer so edeln Anstalt nicht entbehren. In größter Anzahl aber finden sie sich in Ägypten, in jedem der sogenannten νομὰ und endlich in der Nähe von Alexandria. Die besten unter allen Therapeuten eilen – als in die gemeinsame Heimat – an einen schönen Ort, der über dem See Möris auf einer sanften Anhöhe liegt und hinsichtlich der Sicherheit wie der gesunden Luft alle Vorzüge vereinigt. Für die Sicherheit sorgen nämlich die umherliegenden Höfe und Dörfer, und seine gesunde Luft verdankt der Ort den Winden, die sowohl vom See her, welcher ins Meer ausmündet, als auch von dem nahen Ozean wehn. Die Lüfte vom See her sind fein, die vom Meer her dichter, die Mischung beider ist der Gesundheit sehr zuträglich. Die Häuser dieses Ortes sind sehr einfach und nur auf die notwendigsten Bedürfnisse berechnet, nämlich zum Schutz gegen die Kälte, sowie gegen die Glut und Sonne. Sie stehen nicht so nahe aneinander wie in den Städten, denn Nachbarschaft ist beschwerlich für die, welche die Einsamkeit suchen; aber sie sind auch nicht sehr weit voneinander entfernt, teils weil ihre Bewohner Gemeinschaft mit einander haben wollen, teils zur Sicherheit und gegenseitigen Unterstützung bei Angriffen von Räubern. In jedem Hause ist ein Heiligtum, das sie Semneion oder Monasterion nennen, in welchem Jeder in tiefer Einsamkeit die Geheimnisse des geweihten Lebens übt. Sie bringen nichts in dieselben, was zur Notdurft des Lebens gehört, keine Speise, keinen Trank; sie beschäftigen sich dort allein mit Gesetzen und Orakeln, von Propheten erteilt, mit Lobgesängen 741auf Gott und solchen Dingen, durch welche Wissenschaft und Frömmigkeit gefördert werden. Das Denken an Gott weicht nie aus ihren Seelen, so daß sie auch im Traume nichts anderes als die hohe Schönheit der göttlichen Tugenden und Kräfte schauen. Viele reden selbst im Schlafe von den herrlichen Lehren heiliger Philosophie.[735] Zweimal beten sie täglich mit der Morgenröte und gegen den Abend. Wenn die Sonne emporsteigt, flehen sie um einen wahrhaft guten Tag, daß nämlich das himmlische Licht in ihren Seelen aufgehe. Wenn sie untergeht, bitten sie, daß ihre Seelen gänzlich befreit von der Last der Sinnesorgane und der äußeren Welt, in ihr innerstes Heiligtum versenkt, die Wahrheit erschauen mögen. Die Zeit zwischen Morgenröte und Abend wird von ihnen religiöser Übung geweiht. Mit den heiligen Schriften beschäftigt, suchen sie Weisheit, indem sie den heiligen Urkunden einen tieferen Sinn unterlegen, denn sie glauben, daß die Worte Sinnbilder einer tiefer liegenden Wahrheit seien, die nur angedeutet, nicht ausgesprochen ist. Sie besitzen auch Schriften alter Weisen, der Stifter ihrer Sekte, welche viele allegorische Denkmale hinterlassen haben. Nach Anleitung dieser suchen sie die verborgene Weisheit auf. Außerdem aber dichten sie selbst auch Gesänge, auch Loblieder auf Gott in mannigfachem Metrum, je nach dem es der Gegenstand erfordert. Sechs Tage lang sind sie, jeder für sich, in der Einsamkeit, in den oben beschriebenen Monasterien beschäftigt, ohne je die Schwelle des Hauses zu überschreiten, ja selbst ohne hinauszugehen. Am siebenten kommen sie zusammen und setzen sich nieder nach ihrem Alter in anständiger Stellung, die Hände einwärts gekehrt, die Rechte zwischen Brust und Kinn, die Linke an die Hüfte geschmiegt. Der Älteste und Erfahrenste tritt auf und spricht mit ruhigem Blick und gelassener Stimme, nicht wie die heutigen Rhetoren und Sophisten auf künstliches Gerede bedacht; sondern gründlich den höheren Sinn der heiligen Schriften entwickelnd, in einem Vortrag, der nicht blos am Ohr vorübereilt, sondern in die Seele eindringt und bleibend wirkt. Die Andern hören ruhig zu und geben ihren Beifall nur im Winken der Augenlider und des Hauptes zu erkennen. Das gemeinschaftliche Semneion, in welchem 742sie sich am siebenten Tage versammeln, besteht aus zwei getrennten Flügeln, deren einer für die Männer, der andere für die Weiber bestimmt ist. Denn auch Weiber, die von demselben Eifer beseelt sind und die gleiche Lebensart erwählt haben, hören zu. Die Mauer zwischen beiden Betsälen erstreckt sich drei oder vier Ellen hoch nach Art einer Schutzwehr. Der obere Raum bis zum Dach ist freigelassen. Diese Einrichtung hat zwei Gründe: Erstlich, daß der Anstand, der sich für Weiber ziemt, gewahrt werde; und zweitens, damit letztere doch die Stimme des Sprechenden leichter vernehmen können.“
„Die Enthaltsamkeit erachten sie für den Grund aller Tugenden, auf welchen die andern gebaut werden müssen. Vor Sonnenuntergang nimmt keiner von ihnen Speise oder Trank zu sich, denn sie betrachten die Beschäftigung mit Weisheit als das einzige würdige Werk des Lichts, die körperliche Notdurft dagegen als eine Sache der Finsternis, weshalb sie jener die Tage, dieser einen kurzen Teil der Nacht widmen. Einige von ihnen, die inbrünstiger nach Weisheit streben, denken erst nach drei Tagen an Nahrung; andere sind so ganz den Tiefen des Wissens hingegeben, welches reichlich ihre Seelen nährt, daß sie doppelt so lange ausharren und kaum am sechsten Tage notdürftige Kost zu sich nehmen. Sie gleichen hierin den Cicaden, die, wie man sagt, sich von Luft nähren, weil – wie ich glaube – der Gesang ihre Bedürfnisse stillt. Den siebenten Tag betrachten sie als das heiligste Fest und feiern ihn hoch. Nächst der Seele gönnen sie an demselben auch dem Leibe bessere Pflege, als wollten sie selbst dem tierischen Teile unseres Wesens Ruhe von der anhaltenden Anstrengung gewähren. Ihre Kost ist einfach: Brot und als Zusatz etwas Salz; wer sich recht gütlich thun will, nimmt ein wenig Ysop dazu. Ihr Trank ist Quellwasser. Sie begnügen sich, die zwei Gebieter, welche die Natur über uns verhängt, den Hunger und Durst, zu befriedigen, ohne ihnen zu schmeicheln. Nur das Nötigste, ohne welches man nicht leben könnte, gewähren sie ihnen. Deshalb essen sie, um nicht zu hungern und trinken, um nicht zu dürsten. Überfüllung betrachten sie als gleich schädlich für Leib und Seele.“
„Zur Bedeckung gehören Kleider und Wohnung; von letzterer haben wir schon gesagt, daß sie schmucklos, ohne besondere Zurüstung 743und nur auf das Bedürfnis berechnet sei. Ebenso verhält es sich auch mit ihrer Kleidung. Sie dient ihnen blos zum Schirm gegen Hitze und Kälte; im Winter ein dichtes Oberkleid aus zottigem Fell, im Sommer ein Gewand mit Ärmeln oder ein Stück Leinwand. Denn auf alle Weise sind sie dem Prunke feind, wohl wissend, daß Lüge Quell des Prunkes, Wahrheit Quell der Prunklosigkeit ist. Aus der Lüge strömen die vielfachen Arten des Bösen, aus der Wahrheit dagegen der Reichtum himmlischer und irdischer Güter.“
„Der Üppigkeit der anderen Nationen will ich die gemeinsamen Mahle der Therapeuten entgegenstellen, welche sich und ihr ganzes Leben der Weisheit und Frischung nach den heiligen Vorschriften des Propheten Moses geweiht haben. Am siebenten Sabbath kommen sie zusammen, indem sie nicht nur die einfache Siebenzahl, sondern auch deren Kraft (Quadrat) ehren; denn sie wissen, daß sie ewig rein und jungfräulich ist. Dieser Tag wird begangen als Vorfeier des hocherhabenen Festes der Fünfzig (Tage – Pfingsten), dieser heiligsten und mit der Natur der Dinge innigst verbundenen Zahl, die aus der Kraft des rechtwinkeligen Dreiecks entstanden, Urquell der Schöpfung aller Wesen ist. Wenn sie in weißen Gewändern, heiter, doch mit Ernst, versammelt sind, so stellen sie sich auf ein Zeichen des Ephemereuten (so heißen diejenigen, denen dieses Geschäft obliegt) in größter Ordnung längs der Wand hin auf, heben die Augen und Hände zum Himmel empor; jene, weil sie gelehrt wurden, das wahrhaft Sehenswerte zu schauen, diese, weil sie rein von Frevel und durch keinen ungerechten Erwerb befleckt sind, und flehen zu Gott, daß ihr Mahl ihm angenehm sein möge. Nach dem Gebet legen sie sich nieder in einer Reihenfolge, welche die Zeit des Eintritts in die Gesellschaft bestimmt; denn nicht das natürliche Alter halten sie in Ehren – vielmehr gilt ihnen der Greis, der erst spät die geweihte Lebensart ergriff, für ein Kind –, sondern Diejenigen haben den Vorzug, welche sich von Jugend auf der theoretischen Weise, dem schönsten und göttlichsten Leben geweiht haben und darin erstarkt sind. Auch Frauen feiern das Mahl mit, meist alte Jungfrauen, die nicht – wie gewisse Priesterinnen unter den Griechen – blos aus äußerem Zwang ihre Jungfräulichkeit bewahrten, sondern aus heiligem 744Eifer die Weisheit sich zur Gefährtin auserkoren und die Lüste des Körpers bei Seite setzten, nicht nach sterblichen Sprößlingen begierig, sondern nach unsterblichen, welche nur eine gottliebende Seele gebären kann, wenn der Vater der Welt seine geistigen Strahlen und mit ihnen die Erkenntnis höherer Weisheit über sie ergießt.“
„Die Teilnehmer des Mahles sind in zwei abgesonderte Reihen geordnet: rechts die Männer und links die Weiber. Zum Lager dienen ihnen weder prächtige noch weiche Teppiche, sondern ganz gewöhnliche Decken mit einer Unterlage von Papyrus, welche auf der Seite, wo die Ellenbogen zu liegen kommen, etwas erhöht ist, damit man sich leichter aufstützen kann. Denn eben so weit von spartanischer Strenge entfernt als von Schwelgerei und Nachgiebigkeit gegen die Lüste, bewahren sie die Mittelstraße, wie es sich für freie Menschen geziemt. Sie werden nicht von Sklaven bedient, denn sie glauben, die Knechtschaft sei der Natur zuwider. Diese hat alle Menschen zur Freiheit bestimmt, und erst die Ungerechtigkeit und Habsucht und der wilde Trieb, mehr zu sein als Andere, aus welchem alles Böse entstanden ist, hat die Herrschaft über diese Schwachen den Gewaltigen in die Hände gespielt. Bei diesen heiligen Mahlen dagegen ist keiner Knecht, sondern Freie dienen, nicht aus Zwang, noch auf Befehle harrend, sondern mit bereitwilligem Eifer den Wünschen zuvorkommend. Denn auch nicht der erste beste wird zu diesem Dienst auserkoren, sondern die vorzüglichsten Jünglinge aus der Gesellschaft warten den ältern Mitgliedern wie Söhne ihren Vätern und Müttern mit der größten Freudigkeit auf. Dieselben treten auch nicht aufgeschürzt, sondern mit hängendem Gewande in den Saal, um jede Spur zu vertilgen, die an Sklavendienste erinnern könnte. Ich weiß, daß Manche hierüber lachen werden, aber freilich nur solche, die selbst der Thränen wert sind. Wein wird an diesen festlichen Tagen nicht aufgetragen, sondern nur klares Wasser, kalt für die Mehrzahl, warm für diejenigen unter den Älteren, die sich gütlich thun wollen. Auch keine blutige Speise kommt auf den Tisch, sondern Brot als Hauptgericht, Salz als Zugemüse, und bisweilen essen die Üppigsten etwas Ysop dazu. Denn wie die Priester nur nüchtern opfern dürfen, so hat diese die Vernunft gelehrt, nüchtern zu leben. Der Wein verleitet zu Unverstand, und üppige Speisen reizen die Begierden, diese unersättlichen Tiere.“
Im Originaltext befindet sich hier eine Lücke, dann heißt es weiter:
„Die tiefste Stille herrscht; Keiner wagt einen Laut von sich zu geben oder stark zu atmen. Sofort wirft einer die Frage auf über Stellen aus den heiligen Schriften oder löst eine solche von andern gegebene, ohne sich im geringsten brüsten zu wollen. Denn er strebt nicht nach dem Ruhm der Beredtsamkeit, sondern er will tiefe Belehrung von anderen oder, wenn er diese schon besitzt, so beabsichtigt er, dieselbe denjenigen mitzuteilen, die zwar nicht so scharf sehen wie er, aber doch dieselbe Wißbegierde haben. Deshalb verweilt der Redende auch länger bei seinen Sätzen, um seine Gedanken den Zuhörern einzuprägen. Denn wenn die Erklärung zu schnell forteilt, so kann der Zuhörer nicht gleichen Schritt halten und muß zurückbleiben, wodurch ihm der Sinn des Vortrags entgeht. Die Übrigen hängen am Munde des Redners und hören ihm in ruhiger Haltung zu. Wenn sie seine Worte verstehen, so geben sie dies mit einem Blick oder einem Wink zu verstehen; den Beifall drücken sie durch heitere Mienen oder durch eine sanfte Wendung des Gesichts, den Zweifel durch ruhiges Schütteln des Hauptes oder durch ein Zeichen mit den Fingerspitzen der rechten Hand aus. Die zum Dienst herumstehenden Jünglinge geben übrigens so gut acht, wie die zum Mahl gelagerten Alten. Bei Erklärung der heiligen Schriften bedienen sie sich immer der allegorischen Weise, denn sie betrachten die ganze Gesetzgebung als ein organisches Wesen, indem sie mit den Worten den Leib, mit der Seele aber den tiefern unter den Worten verhüllten Sinn vergleichen; in diesen schaue die vernünftige Seele, durch die Worte, wie durch einen Spiegel hindurchblickend, hohe verborgene Gedanken.“
„Wenn der Wortführer genug gesprochen und seinen Zweck erreicht hat, so klatschen alle mit den Händen zum Zeichen ihrer Zufriedenheit. Sofort steht ein anderer auf und singt einen Lobgesang auf Gott, der entweder von ihm selbst gedichtet oder von alten Dichtern der Gesellschaft verfaßt wurde. Denn dieselben haben viele Hymnen in allen Versmaßen und Weisen hinterlassen. Wenn der erste geendet hat, singt ein anderer der Reihe nach, während die Übrigen in größter Stille zu hören; nur die Endsilben 746der Verse und den Chor singen sie mit. Wenn alle fertig sind, so bringen die Jünglinge den oben genannten Tisch herein, auf welchem die hochheilige Speise liegt, nämlich gesäuertes Brot mit Salz und Ysop, zur Unterscheidung von dem geweihten Tisch im heiligen Vorhof zu Jerusalem. Auf diesem nämlich liegt ungesäuertes Brot mit Salz ohne Beimischung von Ysop. Denn es ist billig, daß die reinsten und einfachsten Speisen ausschließliches Eigentum des auserlesenen Priestertums seien zur Belohnung der heiligen Dienste; die anderen dagegen mögen immerhin nach Ähnlichem streben, aber ohne jenes ungesäuerte Brot zu genießen, welches nur den Besten, den Priestern zu Jerusalem, zum Zeichen des Vorrangs gebührt.“
„Nach dem Mahle begehen sie die heilige Nachfeier und zwar auf folgende Weise: Alle erheben sich gleichzeitig und bilden mitten im Saale zwei Chöre, deren einer aus Männern, der andere aus Frauen besteht. Zu Führern und Vorsängern werden für beide die Tüchtigsten und Melodienreichsten gewählt. Sofort stimmen sie Hymnen an in allen Versmaßen und Weisen, bald zusammensingend, bald im Wechselgesang sich ablösend. Nachdem jeder der beiden Chöre für sich zur Genüge gesungen hat, so mischen sich Männer und Weiber, wie bei den bacchischen Festen, trunken von göttlicher Liebe, durcheinander und werden aus zweien ein Chor, ebenso wie dies einst am roten Meere geschah wegen des dort geschehenen Wunders. Damals nämlich vereinigten sich die israelitischen Männer und Frauen zu einem Chorus, Danklieder auf Gott den Erretter singend, wobei Moses die Männer und die Prophetin Mirjam die Frauen anführte. Diesen alten Chorus haben die Therapeuten zum Vorbild genommen bei dieser Feier, in deren Wechselgesängen die tiefen Töne der Männer mit den hohen weiblichen Stimmen zur schönen Harmonie verschmelzen. Schön sind die Gedanken, schön sind die Ausdrücke, ehrwürdig die Teilnehmenden. Denn das gemeinschaftliche Ziel der Worte, der Gedanken und der Sänger ist Frömmigkeit. So bringen sie die ganze Nacht hin in heiliger Trunkenheit, auf welche keine Beschwerde des Leibes noch Schlafsucht folgt; sondern lebhafter als sie waren, da sie die heilige Feier begannen, wenden sie sich morgens mit dem Gesicht und dem ganzen Körper gen Aufgang, und sobald die Sonne emporsteigt, 747heben sie die Hände gen Himmel empor und flehen um hellen Schein der inneren Sinne, um Wahrheit und Schärfe des geistigen Auges. Nach diesem Gebet zieht sich jeder in seine stille Zelle zurück, um sich wiederum mit der gewohnten Philosophie zu beschäftigen.“
Das ist, was Philo über die Lebensweise der Therapeuten mitteilt. Über ihre Dogmen erfahren wir sehr wenig. Gott ist ihnen das Urlicht; Ebenbild desselben und intelligibler, die menschlichen Seelen erleuchtender Abglanz ist die Sophia oder der Logos, dessen sichtbares Abbild wiederum die Sonne ist.[736] Wie Gott Licht ist, so ist die Materie der Quell aller Finsternis und alles Bösen. Die Seelen sind präexistierend und kehren nach dem Tode in ihre himmlische Heimat zurück. Die höchste Tugend ist ἐγκράτεια, die Entfernung vom Fleische. Deshalb enthalten sich die Therapeuten so sehr als möglich der Speisen und genießen nur die einfachsten. Fleisch verabscheuen sie und nur Pflanzenkost ist ihnen erlaubt; darum fliehen sie auch die Ehe und alle Lust. Neben der Enthaltsamkeit preisen sie die göttliche Liebe. Das Ersehnte ist die wahre „innere Erkenntnis Gottes und des Himmels“.[737]
Wie offen am Tage liegt, huldigen die Therapeuten den gleichen Grundsätzen wie Philo, nur daß sie dieselben auch bis zu ihren äußersten Konsequenzen praktisch durchführen, ähnlich wie die mit ihnen eng verwandten oder identischen Essäer in Palästina.
Die Essäer entäußern sich des persönlichen Eigentums wie die Therapeuten und leben in Gütergemeinschaft.[738] Josephus äußert sich darüber u. a.[739]:
„Sie haben sich nicht nur in einer Stadt gesammelt, sondern in jeder Stadt wohnen viele. Den Ordensmitgliedern, die von auswärts kommen, steht das Haus eines jeden Mitgliedes offen, und er kann darin schalten wie in seinem Eigentum; sie gehen deshalb bei solchen Ordensgenossen, die sie nie sahen, so ein, als 748wären es ihre nächsten Verwandten. Darum nahmen auch die Essäer keine Bedürfnisse irgend welcher Art mit sich, sondern tragen nur Waffen wegen der Räuber. Außerdem ist in jeder Stadt vom Orden ein Verwalter ausdrücklich wegen der Fremden angestellt, welcher ihnen Kleider und Lebensbedürfnisse reicht.“
Die Essäer enthielten sich der Ehe, ebenso wie die Therapeuten und duldeten wie diese keine Sklaven.[740] – Beide Genossenschaften haben eine Rangordnung ihrer Mitglieder nach der Zeit ihres Eintritts in die Gesellschaft und machen einen Unterschied zwischen Novizen und älteren Mitgliedern. Josephus unterscheidet vier Stufen oder Grade![741] Ὁ ζηλῶν, der Neuling, der sich zur Aufnahme meldet und zwei Jahre lang ohne Verbindung mit den Ordensmitgliedern leben muß; ὁ προσιὼν, der Novize, der noch zwei Jahre lang Prüfungen bestehen muß; endlich ὁ συμβιωτὴς, welcher an den heiligen Mahlen Anteil nimmt. Dieser Grad zerfiel nach Josephus in zwei nicht namhaft gemachte Unterabteilungen.
Beide Sekten stehen mit strengen Regeln unter Vorgesetzten, die bei Josephus[742] ἐπιμεληταὶ und bei Philo – wie schon gesagt – ἐφημερευταὶ heißen. Beide Sekten tragen dieselbe Kleidung; beide beten zu gleicher Zeit und auf dieselbe Weise, nämlich bei Sonnenaufgang mit gegen die Sonne gewandtem Gesichte. Beide feiern geheimnisvolle heilige Mahle; Josephus beschreibt die Essäer folgendermaßen[743]:
„Wenn sie von ihren Geschäften zurückkommen, waschen sie den Leib sorgfältig ab; erst nach diesen Weihungen betreten sie den Speisesaal; von welchem alle Nichtessäer sorgfältig ausgeschlossen sind. Denn rein müssen sie sein, ehe sie in dieses Heiligtum eingehen dürfen. Vor dem Mahle spricht der Priester ein Gebet; vorher darf Niemand eine Speise berühren. Dasselbe geschieht auch nachher; denn am Anfang und am Ende verehren sie Gott als Geber der Speisen. Nach dem Mahle ziehen sie die 749Kleider, die sie während desselben als heilige Gewänder getragen haben, wieder aus. Ebenso halten sie es mit dem Abendessen. Kein Geräusch noch Lärm herrscht bei diesen Mahlen, ein jeglicher tritt dem Andern das Wort ab, sodaß niemals zwei zu gleicher Zeit reden; darum erscheint den Außenstehenden das im Saale herrschende Schweigen als ein schauerliches Geheimnis.“
Daß die Mahle der Essäer im höchsten Ansehen standen, beweist folgende Stelle Philos[744]:
„Die blutigsten Tyrannen Judäas, welche ihre Unterthanen mit unsäglicher Grausamkeit wie wilde Tiere zerfleischten, konnten den Essäern nichts anhaben. Sie mußten ihre Mahle und ihre über alles Lob erhabene Gemeinschaft ehren.“
Die auffallende Gleichheit der Gebräuche beider Sekten beweist ihre innige Verwandtschaft, die sich auch in ihren Dogmen nachweisen läßt: Sie verehren beide Gott als das höchste Licht und nehmen ein Mittelwesen, den Logos, bei den Essäern Memra di Jaweh an.[745]
Die Essäer halten wie die Therapeuten den Leib für die größte Unreinigkeit und nehmen eine Präexistenz der Seelen an. In diesem Sinne heißt es bei Josephus[746]:
„Der Glaube steht bei ihnen fest, daß die Leiber vergänglich seien, die Seelen dagegen ewig und unsterblich fortdauern. Dieselben steigen nämlich, von einem natürlichen Reize herniedergezogen, aus dem reinsten Äther herab und werden in die Leiber wie in ein Gefängnis eingeschlossen. Sie (die Essäer) lehren, daß die Seelen, wenn sie aus den Leibesbanden erlöst sind, voll Wonne in die Höhe empor schweben gleich Gefangenen, die aus langer Knechtschaft erlöst werden. Dabei denken sie sich das Schicksal der hinübergegangenen Seelen als verschieden: den Guten weisen sie ihren Aufenthalt an einem Ort an, der nicht durch Regen, Kälte oder Hitze belästigt wird und fortwährend von einem vom Meer her säuselnden Zephyr Kühlung empfängt; den Bösen dagegen eine finstere unfreundliche Behausung unter der Erde, wo sie unablässige Strafe erdulden.“
(Diese Vorstellung involviert die Annahme eines Astralleibes, weil sonst die Seele keine Ortsempfindung haben könnte.)
Es bleibt noch übrig, die Identität der Moral bei den Therapeuten und Essäern nachzuweisen. Philo sagt über erstere[747]:
„Richtschnur bei allem, was sie lehren und ausüben, sind ihnen folgende drei Dinge: Liebe zu Gott, zur Tugend und zu den Menschen. Beweis für die Liebe zu Gott ist die makellose Heiligkeit ihres ganzen Lebens, ihre Scheu vor Eiden und der Lüge, sowie die Überzeugung, daß Gott nur Urheber des Guten und nicht des Bösen sei. Ihre Liebe zur Tugend bekunden sie durch Gleichgiltigkeit gegen Gewinn, Ruhm, Vergnügen, durch Mäßigkeit und Ausdauer, außerdem noch durch Genügsamkeit, Bedürfnislosigkeit, Demut, Biedersinn und Geradheit. Ihre Liebe zu den Nebenmenschen beweisen sie durch Wohlwollen, durch Anspruchslosigkeit und endlich durch ihre Gütergemeinschaft.“
Ähnlich sagt Josephus von den Essäern[748]:
„Sie dürfen nichts ohne die Einwilligung ihres Vorstehers thun. Nur zwei Dinge sind ihrem eigenen Gutdünken überlassen, nämlich Unterstützung des Nächsten und Erbarmen. Den Gutgesinnten beizuspringen, wenn sie in Not sind und den Hungerigen Brot zu reichen, steht Jedem frei. Dagegen dürfen sie ihren Verwandten nichts geben ohne Erlaubnis ihres Vorgesetzten. Sie sind gerechte Verwalter des Hasses; sie bezähmen den Jähzorn, üben Glauben und sind Diener des Friedens. Ihr gegebenes Wort halten sie gewissenhaft. Auch sie feiern die Liebe über Alles; sie ist der wahre Quell des gottgefälligen Handelns. Das Ziel ihres Strebens aber ist die Heiligkeit, zu welcher sie durch Entfernung vom Fleische, durch Herrschaft der Vernunft und echten Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit gelangen.“[749]
Aber selbst bis auf den Namen erstreckt sich die Übereinstimmung beider Genossenschaften, denn das Wort ἐσσαῖος stammt von dem syrochaldäischen Verbum אסא heilen, verpflegen, ab und ist also nichts als die wörtliche Übersetzung von ϑεραπευτὴς.
Ohne die innigste Verwandtschaft, ja ohne gleichen Ursprung wäre die nachgewiesene Übereinstimmung zwischen Therapeuten und Essäern nicht möglich, wie schon Philo sich äußerte[750], indem er beide Orden als Zweige eines Stammes erklärt, nur mit dem Unterschiede, daß die einen mehr Theoretiker und die andern mehr Praktiker seien.
Im ersten Jahrhundert vor Christus suchte die Philosophensekte der Neupythagoräer die Lehren des Pythagoras zu erneuern, wobei sie jedoch sich vielfach an Plato, Aristoteles und die Stoiker anlehnten und andererseits bei den orientalischen Religionssystemen Anleihen machten. Diese eklektischen Lehren suchten sie alsdann auf Pythagoras zurückzuführen, wodurch die Nachrichten über die eigentliche Philosophie des großen Weisen vielfach entstellt wurden. Diese Bestrebungen brachten eine reichhaltige, jedoch meist nur fragmentarisch erhaltene Litteratur hervor, als deren erster Vertreter der römische Prätor zu Alexandria Publius Nigidius Figulus († 45 v. Chr.) gilt.
Der wichtigste Neupythagoräer ist Apollonius von Tyana, mit welchem wir uns jetzt eingehend zu beschäftigen haben.
Wenn überhaupt bei einer historischen Persönlichkeit, so hat bei Apollonius von Tyana das allbekannte Schillersche Wort seine Berechtigung:
Was hat man nicht alles aus der uns überlieferten Biographie dieses neupythagoräischen Philosophen machen wollen! Die eine Partei sagt: das Buch ist ein Märchenbuch, und meint, Apollonius habe gar nicht existiert; die andere Partei ist hingegen der Ansicht, 753daß Apollonius wohl existiert habe, daß aber der geringe geschichtliche Kern seiner Biographie zu einem historischen Roman ausgesponnen worden sei. Wieder andere meinen, die Persönlichkeit des Apollonius sei von Philostratus nur benutzt worden, um dem Christenheiland einen Heidenheiland feindlich gegenüber zu stellen, während ihn eine letzte Partei im Geiste des Synkretismus als eine freundliche Parallele Christi betrachtet.
In diesem Parallelismus liegt die Ursache, weshalb die Gestalt des Tyanäers bis auf die Neuzeit nicht in der rechten Beleuchtung stand. Allerdings ist zwischen beiden Persönlichkeiten, Jesus von Nazareth und Apollonius von Tyana, auf dem Gebiet des Übersinnlichen eine Ähnlichkeit vorhanden, die mithin jedoch nicht in der Sphäre des Religiös-Dogmatischen, sondern in der des Anthropologisch-Magischen wurzelt. Bei beiden Personen kamen zahlreiche „Wunder“ vor, zu deren richtiger Auffassung und Erklärung auf lange Zeit der Schlüssel fehlte; man sah ihre übersinnlichen Fähigkeiten nicht als etwas Menschliches, durch geeignetes Leben und geistige Übung Erworbenes an, sondern betrachtete dieselben nur vom Standpunkte der göttlichen Sendung eines jeden von ihnen. Die Anhänger beider suchten durch diese Erscheinungen ihren göttlichen Ursprung darzuthun; keine Partei zweifelte an den von ihrem Gegner vorgebrachten Berichten, sondern suchte sich dieselben von ihrem dogmatischen Standpunkte aus zurecht zu legen.
So stellt schon der unter Diokletian lebende Statthalter von Bithynien Hierokles in seinem „Wort der Wahrheitsliebe“[751] Apollonius und Christus einander gegenüber, weist dazu ferner auf den Prokonnesier Aristeas und Pythagoras hin und sagt: „Wir halten einen solchen Wunderthäter nicht für einen Gott, sondern für einen von den Göttern geliebten Menschen.“
Gegen diese Auffassung argumentierte Eusebius von Cäsarea, der die erste Kirchengeschichte – nach Hases Worten – „im Gefühl des großen Umschwungs seines Zeitalters mit allen Vorurteilen, aber auch mit allen Hilfsmitteln desselben verfaßte“, in der unten genannten Schrift von seinem Standpunkt aus in derselben 754Weise wie Hierokles. Er setzt die Thatsächlichkeit der Apollonischen Wunder voraus, welcher er jedoch, weil die heidnischen Götter zu bösen Dämonen geworden waren, als durch Zauber bewirkt ansieht, und sagt: „Ich war bisher der Meinung, daß der Tyanäer ein in menschlichen Dingen weiser Mann war, und halte diesen Ausspruch auch jetzt noch gern fest; ich lasse es gern geschehen, wenn man ihn jedem Philosophen zur Seite stellt, wofern man nur mit allen mythisch lautenden Erzählungen fern bleibt. Wenn aber ein Damis aus Assyrien oder ein Philostratus oder irgend ein Geschichtsschreiber oder Logograph es sich herausnimmt, diese Grenzen zu überschreiten und eine Ansicht aufzustellen, welche über das Gebiet der Philosophie weit hinausgeht, indem er zwar den Worten nach den Vorwurf der Magie abwehrt, der Sache selbst nach aber dem Manne noch mehr zur Last legt, als mit Worten und die pythagoräische Lebensweise als Maske über ihn wirft, so kommt dann kein Philosoph zum Vorschein, wohl aber ein mit der Löwenhaut verhüllter Esel, und man sieht nichts anderes, als einen Zauberer anstatt eines Philosophen.“
Und so blieb es. Seit der „Galiläer gesiegt hatte“, galt der Tyanäer als Zauberer, bis die Aufklärungsperiode ihn so gut wie Jesus von Nazareth zum Betrüger zu stempeln versuchte und schließlich sogar die geschichtliche Existenz beider bezweifelte.
Doch auch heidnische Philosophen huldigten dem Glauben an die Zauberei des Apollonius, wie Möragenes, welcher eine (verloren gegangene) Biographie des Tyanäers schrieb, in der er nach Origenes[752] sagte, daß selbst einige nicht unbedeutende Philosophen derselben zum Opfer gefallen wären. Dieser Ansicht stellt Philostratus seine Biographie des Apollonius entgegen, worin er diesen als einen Weisen schildert, welcher seine außerordentliche magische Kraft nur einer ihn auf eine höhere, übermenschliche Stufe erhebenden Philosophie zu verdanken hat.
Die Zweifel an der Existenz des Apollonius sind seit Neander und Baur geschwunden, die Auffassung seiner Persönlichkeit und Lehre aber ist bei Philosophen und Theologen noch heute so unklar wie vor siebzehnhundert Jahren, wofür wir den Grund in 755den von Philostratus geschilderten übersinnlichen Erscheinungen zu suchen haben, welche die Orthodoxie als teuflisch ansieht, während die neuere Wissenschaft gar nichts mit derselben anzufangen weiß und deshalb an dem Tyanäer mit einem abwehrenden Seitenblick vorübergeht.
Nur ein Schriftsteller hat einen richtigen Fingerzeig gegeben, nämlich Eduard Baltzer[753], welcher sagt: „Eine Gruppe nur vermisse ich noch unter allen denen, die in der Apolloniusfrage Stellung genommen haben: das sind die jüngsten Kinder unserer Zeit, – die Spiritisten. Gerade ihnen aber kann ich einen großen Genuß und Triumph versprechen. Ist doch Apollonius – wer hätte es gedacht, – ein entschiedener Spiritist, – ja, können sie doch hier die Entdeckung machen, daß ihr Spiritismus nichts anderes ist, als die alte Magie in allerneuester Auflage.“
Abgesehen von der Schlußbemerkung hat Baltzer in gewissem Sinne Recht: die bei Apollonius zu Tage tretenden übersinnlichen Erscheinungen sind von ähnlicher Natur wie die modernen auch; ob sie aber alle spiritistische oder selbst mediumistische genannt werden dürfen, ist eine andere Frage. Bevor wir jedoch auf diese und eine Besprechung der Phänomene überhaupt eingehen, müssen wir noch einige Worte über Philostratus selbst und die Entstehung seines Buches sagen.
Kaiser Septimius Severus (193–211) war ein eifriger Liebhaber der Magie und Mantik, ein erfahrener Augur und Traumdeuter und endlich ein tiefgelehrter Astrolog. Er hatte als Statthalter des lionesischen Galliens seine erste Gemahlin verloren und ging bei der Wahl seiner zweiten von dem astrologischen Grundsatz aus, daß deren Nativität eine glückliche und mit der seinigen harmonierende sein müsse. Als er nun erfuhr, daß ein junges Mädchen zu Emesa in Syrien eine derartige Nativität, welche ihr außerdem noch den Thron verheiße, besitze, warb er um deren Hand und erhielt sie. Dieses Mädchen, Julia Domna, vereinigte in der That alle von den Sternen verheißenen Güter in ihrer Person. Sie erfreute sich selbst im vorgerückten Alter 756noch großer körperlicher Schönheit und verknüpfte mit scharfem Verstand und festem Charakter lebhaften Wissensdrang und hinreißende Liebenswürdigkeit. Julia Domna interessierte sich als Beschützerin der Wissenschaften besonders für Kunst und Philosophie und war die Freundin eines jeden auftauchenden Genius.
Julia Domna umgab sich mit einer aus Philosophen, Gelehrten und Künstlern aller Art bestehenden Tafelrunde, zu welcher auch der neupythagoräische, in Athen gebildete Philosoph Philostratus von Lemnos gehörte. Philostratus war einer der vielgelesensten Schriftsteller, was durch seinen klassischen Styl und Geist, seine Belesenheit und Vielseitigkeit, sowie endlich durch sein Bestreben, altrömische Sitte und Charaktertüchtigkeit wieder herzustellen, gerechtfertigt wird. Dieser Philosoph erhielt von der Kaiserin den Auftrag, das Leben des Apollonius zu beschreiben, und benutzte bei seiner Arbeit die Memoiren eines Schülers des Apollonius mit Namen Damis. Über dessen Persönlichkeit wie über die ihm vorliegende Apollonische Litteratur sagt Philostratus selbst[754]: „In der alten Stadt Ninive lebte einst ein Mann von ziemlicher Weisheit mit Namen Damis. Er war ein Schüler des Apollonius, beschrieb dessen Reisen, an denen er, wie er selbst versichert, teilgenommen, und verzeichnet dessen Reden, Ansichten und Weissagungen. Ein Verwandter dieses Damis brachte die Memoiren, welche bis dahin ganz unbekannt geblieben waren, zur Kenntnis der Kaiserin Julia. Diese Fürstin, zu deren Umgebung ich gehörte, denn sie liebte und pflegte litterarische Unterhaltungen sehr, befahl mir, diese Denkschriften umzuarbeiten und zum Vortrag zu bringen, denn der Ninivit sprach wohl sachlich, aber sein Stil war schlecht. Dazu kam noch eine Schrift des Maximus von Aegä, welche alles umfaßt, was des Apollonius Aufenthalt in Aegä betrifft; auch giebt es noch ein Testament des Apollonius, aus welchem zu ersehen ist, daß die Philosophie sein Abgott war. Dagegen darf man dem Möragenes nicht folgen, der zwar auch vier Bücher über Apollonius schrieb, aber mit großer Unkunde. Somit habe ich gesagt, wie ich den zerstreuten Stoff zusammengefügt und um seine Einordnung bemüht war. Möge diese Schrift nun dem 757Manne, dem sie gilt, zur Ehre gereichen, den wißbegierigen Lesern aber zur Förderung: wenigstens sollen sie lernen können, wovon sie noch nie gehört.“ Mit diesen Worten ist die Tendenz der Schrift des Philostratus bezeichnet. Was aber seine Glaubwürdigkeit anlangt, so sind auch hier natürlich die Meinungen sehr geteilt. Das rein Geschichtliche betreffend, sind die Zweifel fast allseitig gehoben, und Baur hat einige vorhandene Anachronismen befriedigend erklärt. Ja dieser berühmte Theologe nimmt sogar für den Kern des Werkes, die philostratischen Berichte über Indien, die volle Glaubwürdigkeit in Anspruch und sagt[755]:
„Wenn uns aber auch die Betrachtung des philostratischen Werkes an und für sich über die Beantwortung der Frage in Zweifel lassen mag, wie weit wir in demjenigen, was Philostratus über Indien meldet, entweder nur romanhafte Dichtung oder historische Wahrheit voraus zu setzen haben, so muß uns doch, wie es scheint, unsere jetzige Kunde Indiens eine ziemlich sichere Antwort auf diese Frage geben. Die Übereinstimmung des Werkes mit dem anders woher Beurkundeten kann als die beste Widerlegung des Vorwurfs angesehen werden, welchen selbst noch einer der neuesten Schriftsteller über Indien (Bohlen: das alte Indien) wiederholt, Philostratus habe alles, was er in seinem Leben des Apollonius über Indien vorbringt, aus ähnlichen Romanen kompiliert, nach Art der Schriften ausgeschmückt und mit Angereimtheiten erstickt.“
Im ähnlichen Sinne äußert sich Baltzer im Nachwort seines Werkes[756] folgendermaßen: „Ein Mann wie Philostratus, der an den Musenhof einer edlen Kaiserin berufen wird, der letztere als besonderer Vertrauter auf ihren Reisen begleitet, der als ein vortrefflicher Schriftsteller und gelehrter Kenner seiner Zeit damals wie heute anerkannt ist und der den Auftrag von seiner hohen Herrin erhält, über den Apollonius eine kritische Denkschrift zu verfassen – von einem solchen Mann muß man annehmen, daß er in seinem Werke, ‚Apollonius von Tyana‘, das uns in unbestrittener Echtheit vorliegt, so viel an ihm war, die 758Wahrheit in geeigneter Form hat sagen wollen. Demgemäß verfährt er. Er legt seine Absicht und Plan vor; er nennt und kritisiert seine Quellen; er überarbeitet das reichlich vorliegende Material; er komponiert und redigiert seinem Auftrag gemäß; er ist mit Liebe und Fleiß bei der Sache; unterscheidet seine Absicht von der überlieferten; er läßt seine Quellen in verbessertem Style reden und kritisiert Dunkles mit hellem Blick, natürlich im Geiste seiner Zeit, dessen Kind auch er ist, wie wir Kinder des Geistes unserer Zeit sind.“
Philostratus vollendete seine Biographie etwa um das Jahr 217.
Wir wenden uns nun, dem Gange der Lebensgeschichte unseres Helden folgend, zur Besprechung der sehr lehrreichen übersinnlichen Erscheinungen, um dieselben unter die Thatsachen der magischen Thätigkeit des Menschengeistes einzureichen.
Geboren wurde Apollonius als der Sohn eines gleichnamigen Vaters aus alter und reicher Familie um die Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. zu Tyana, einer durch die Intelligenz und den Wohlstand ihrer Bürger hervorragenden Stadt Kappadoziens, und seine Geburt umgaukeln Wundermären, wie diejenige Gautama Buddhas und Jesu Christi: Als seine Mutter mit ihm schwanger ging, erschien ihr der ägyptische Gott Proteus, den auch Homer besingt. Sie aber frug ihn ohne Furcht, was sie gebären würde. Er sprach: „Mich.“ Sie frug: „Wer bist du denn?“ Und er sagte: „Proteus, der ägyptische Gott.“[757] – Wir haben in dieser Erzählung eine Parallele zur Verkündigung Mariä, und eben deshalb wurde dieselbe als eine plumpe Nachahmung angesehen, was sie indessen nicht zu sein braucht. In jener religiös erregten Zeit des ersten Jahrhunderts konnten sehrwohl beide schon durch ihren Zustand besonders zu Visionen geneigten Mütter Jesu Christi und des Apollonius starke Vorahnungen von der künftigen Bedeutung ihrer Kinder haben, welche sich ihnen in geschaute Bilder umsetzten. Jeder religiöse Seher aber erhält naturgemäß seine Offenbarung von daher, woher sie nach seinem Glauben kommen muß. Der fernstehende Teil des gespaltenen Ichs tritt dem Visionär als redende Persönlichkeit gegenüber und so empfängt die Israelitin 759Maria die Botschaft des persisch-jüdischen Gabriel, die kappadozische Mutter des Apollonius die des ägyptisch-griechischen Proteus. Ebenso erhalten die romanischen Spiritisten ihre Offenbarungen von „Geistern“, welche kardekistische Reincarnationstheorie predigen, wie Proteus die altklassische lehrt.
Der hochbegabte Knabe wurde mit 14 Jahren von seinem Vater nach Tarsus zu dem Rhetor Euthydemus gebracht, mit welchem er nach dem durch seinen Aeskulaptempel berühmten Aegä verzog, um sich dort mit mehr Muße der Philosophie widmen zu können, als dies in dem lebenslustigen bewegten Tarsus möglich war. Hier hörte er die Vorträge des epikuräischen Philosophen Euxenus über die Lehren des Pythagoras, welche ihn dermaßen begeisterten, daß er wie Pythagoras zu leben beschloß. „Er verschmähte alle tierischen Nahrungsmittel als unrein und geisttötend und genoß nur Vegetabilien, die er für rein hielt, weil sie die Erde unmittelbar hervorbringt. Den Wein erklärte er zwar für ein reines Getränk, da es von so edlem Gewächse stamme, aber er sei der menschlichen Geistesklarheit feind, da er den Aether der Seele trübe. Nächst dieser Fürsorge für Körperreinheit ging er mit nackten Füßen und trug, da er tierische Kleidungsstücke verwarf, nur linnenes Gewand und lebte im Tempel. Die Diener des Tempels aber bewunderten ihn, und als Aeskulap einst zum Priester sagte, er freue sich, daß Apollonius Zeuge seiner Heilungen sei, da ging diese Kunde aus, und die Cilicier und andere Umwohner kamen nach Aegä.“[758]
Apollonius huldigte also einer streng vegetarischen Lebensweise und wurde in die Mysterien des Aeskulapdienstes eingeweiht, bei welchen, wie bei allen Mysterien, die schauenden und heilenden Fähigkeiten des Menschen gepflegt wurden. Auch einige hierauf bezügliche Fälle erzählt Philostratus: Ein wassersüchtiger Schlemmer erhielt nach langem vergeblichen Harren im Aeskulaptempel das Traumorakel: „Wenn du mit Apollonius sprechen wolltest, so würde dir wohler werden“, und wurde von diesem geheilt, indem er an ein streng vegetarisches Leben gewöhnt wurde. – Einen einäugigen cilicischen Ehebrecher wies Apollonius von der Schwelle des Tempels zurück, wo derselbe die Wiedererlangung seiner Sehkraft 760erhoffte: In der Nacht hatte der Priester einen Traum, worin Aeskulap die Aussage des Apollonius bestätigte und hinzufügte, daß die Gattin dem ertappten Sünder mit einer Spange ein Auge ausgeschlagen habe. – Diese Erzählung findet Parallelen in dem Durchschauen anderer von seiten neuerer Seher, wie Zschokke, Duncan, Campbell u. a. m. Als eine weitere Probe des Fernsehens berichtet Philostratus[759], daß Apollonius den Statthalter von Cilicien, einem der in Griechenland so zahlreichen widernatürlichen Wüstlinge, seine nahe Hinrichtung weissagte, welche auch nach drei Tagen erfolgte, weil sich derselbe mit dem König Archelaus von Kappadozien in eine Verschwörung gegen die Römer eingelassen hatte.
Nach dieser Zeit widmete sich Apollonius fünf Jahre lang dem „pythagoräischen Stillschweigen“ und gestand von dieser Zeit, daß sie der mühevollste Teil seines Lebens gewesen sei; denn er hätte viel zu sagen gehabt und habe nicht gesprochen, auch viel hören müssen, was ihn hätte in Zorn setzen mögen, und er habe es überhört; oft gereizt die Leute zu geißeln, habe er zu sich selbst gesagt: Dulde nur, Herz und Zunge! und habe die verletzendsten Reden unwiderlegt gelassen. Gleichzeitig entsagte er aller Liebe und dem Geschlechtsgenuß.[760] Durch diese asketische Lebensweise gelangte er zu solchem Ansehen, daß er selbst in dem leichtlebigen Cilicien und Pamphilien Aufstände durch sein persönliches Auftreten schlichtete.
Nach der Beendigung seiner Schweigezeit ging Apollonius nach Antiochien und nahm seinen Aufenthalt im Tempel des daphnischen Apollo, wo er „bei Sonnenaufgang für sich allein war, und was er da that, erfuhr nur, wer ein vierjähriges Schweigen vollendet hatte“. Dabei suchte er auf das Volk veredelnd einzuwirken, aber nicht in der zudringlich überredenden Weise des Sokrates, sondern „wie ein Gesetzgeber, welcher das, was seine Überzeugung ist, für die Menge zum Gesetz erhebt“. Danach ging er mit sich selbst zu Rate wegen einer größeren Reise und sein Sinn stand nach den Brahmanen Indiens; doch auch die Magier Babylons 761zu besuchen, galt ihm für einen Gewinn. Er teilte seinen Plan seinen sieben Jüngern mit, zu denen er, als sie ihn von der Reise abhalten wollten, sagte: „Zu Beratern habe ich mir die Götter erkoren. Euch wollte ich nur prüfen, ob ihr zu dem, was ich vorhabe, auch Mut besäßet. Da ihr den nun nicht habt, so lebt wohl! Bleibt aber dem Studium ergeben! Ich muß hingehen, wohin mich die Weisheit und mein Genius ziehen!“[761]
Apollonius verließ Antiochien und begab sich mit zwei Sklaven, Schreibern seines Vaters, auf den Weg nach Babylon. In Ninive schloß sich ihm Damis an, welcher sagte: „Laß mich, Apollonius, mit dir ziehen. Folge du deinem Gotte, ich folge dir!“ und sich ihm wegen seiner Sprachkenntnisse als nützlicher Reisegefährte empfahl. Apollonius entgegnete: „Ich, Freund, verstehe diese Sprachen alle, ohne sie erlernt zu haben.“ Als der Ninivit darüber erstaunte, fügte er hinzu: „Wundere dich nicht, daß ich die Sprachen der Menschen kenne, ich verstehe ja auch all ihr Schweigen.“ Er wollte damit seine Fähigkeit des Gedankenlesens kennzeichnen. Über seine Reise führte Apollonius ein „Brosamen“ (ἐκφατνισματὰ) genanntes Tagebuch[762], welches leider verloren gegangen ist.
Als Apollonius in der Nähe Babylons in die kissische Gegend kam, offenbarte sich ihm die Gottheit in einem Traum, dessen Auslegung ein interessantes Beispiel griechischer Traumsymbolik ist: „Vom Meere ausgeworfene Fische schnellten auf dem Lande umher, ließen ein menschliches Jammern hören und wehklagten, daß sie aus ihrer Wohnung gegangen. Einen Delphin aber, der nach dem Ufer schwamm, flehten sie an, dies Elend von ihnen abzuwenden, und weinten dabei wie Menschen, die in der Fremde sind. Nicht im geringsten betroffen über diesen Traum, überlegte er doch bei sich, was das sei. Um aber Damis zu erschrecken, dessen Ängstlichkeit er kannte, erzählte er ihm den Traum, indem er sich stellte, wie wenn er selbst von dem zu erwartenden Unglück erschrocken sei. Damis schrie auf, als ob er schon alles vor Augen habe, und riet dem Apollonius, nicht weiter zu gehen, daß wir, sagte er, nicht etwa auch wie die Fische aus unserm Elemente herausgeraten, umkommen 762und in der Fremde jammern, in der Not einen König oder sonstigen Machthaber anflehen müssen, und dieser uns mißachtet, wie der Delphin die Fische. Apollonius aber lachte und sprach: Du bist noch kein Philosoph, wenn du dergleichen fürchtest. Ich will dir sagen, was der Traum bedeutet: Eretrier aus Euböa sind es, die dies kissische Land hier bewohnen, vor 500 Jahren von Darius aus Euböa hinweggeführt. Diese sollen bei ihrer Wegführung, wie der Traum anzeigt, das Schicksal der Fische gehabt haben, indem sie förmlich umgarnt und alle eingefangen wurden. Es scheint also, die Götter befehlen mir, zu ihnen zu gehen und mich ihrer anzunehmen; vielleicht auch sind es die Seelen der Hellenen, die dieses Los hier traf, welche mich zum Frommen des Landes herbei rufen.“[763]
Infolge seines Traumes begab sich Apollonius nach Kissia, wo er den Gottesdienst verbesserte und viel zur Erleichterung des Loses der griechischen Kolonisten beitrug.
Endlich gelangte er nach Babylon und trat mit den Magiern in Verbindung, von denen er sagt, daß sie – jedoch nicht alle – Weise seien; er verkehrte mit ihnen insgeheim in den Mittags- und Mitternachtsstunden. Vom König Bardanes, der seine Ankunft im Traum vorausgesehen hatte, wurde Apollonius sehr gut aufgenommen und sagte demselben kraft seiner Sehergabe ein Verbrechen voraus, bei welchem einer seiner Eunuchen am nächsten Tage werde in flagranti ergriffen werden. Der Erfolg bestätigte diese Wahrsagung. Auf die Frage nach seiner Lehre entgegnete Apollonius dem Könige: „Meine Weisheit ist die des Pythagoras, des Mannes von Samos, der mich so die Götter ehren, sie, die sichtbaren und unsichtbaren, verstehen, mit ihnen reden und mich in diese Pflanzenstoffe zu kleiden lehrte. Denn dies Gewand ist nicht vom Schaf geschoren, sondern rein vom Reinen wuchs dieses Linnen, ein Geschenk des Wassers und der Erde. Dazu auch trage ich dieses lange Haar nach des Pythagoras Art; und der tierischen Speise mich zu enthalten, lehrt mich seine Weisheit. Trinkgenoß und Gesellschafter bei Spiel und Festgelage werde ich weder Dir 763noch irgend jemand sein. Dunkle und schwere Lebensrätsel aber kann ich lösen, denn ich weiß nicht nur, was zu thun ist, sondern ich sehe es auch voraus.“[764]
Von Bardanes mit Kameelen und Reisevorräten ausgerüstet, machte sich Apollonius auf den Weg nach Indien.
Nachdem Apollonius den Küenlün überschritten, stieg er in das Flußbett des Indus zurück und gelangte mit seinen Begleitern nach Taxila, wo er von dem durch die Brahmanen gebildeten philosophischen König Phraotes II. auf das beste aufgenommen wurde. Mit diesem hielt unser Philosoph während seines vom Gesetz gestatteten dreitägigen Aufenthaltes in Taxila lange philosophische Gespräche, die sich im wesentlichen um die Vorzüge der „naturgemäßen Lebensweise“ drehten. Von Interesse für uns ist nur die Äußerung des Apollonius über die Enthaltsamkeit vom Wein, welche das Wahrträumen der Seele begünstigen solle. Apollonius sagt: „Aber auch die Prophetien der Träume, die in der menschlichen Natur das Göttlichste zu sein scheinen, durchschaut die Seele leichter, die nicht vom Wein umnebelt ist und sie rein und in klarer Betrachtung aufnimmt. Die Erklärer solcher Traumgesichte, von den Dichtern Traumdeuter genannt, legen daher kein Traumbild aus, ohne vorher zu fragen, um welche Stunde man es gehabt. War's in der Frühe, im Morgenschlummer, so deuten sie es, weil dann die Seele ganz frei vom Geiste des Weins, gesunde Träume schaut; war's aber im ersten Schlafe oder um Mitternacht, wo die Seele noch vom Wein schwer und dunkel ist, so lehnen sie das Deuten ab und thun wohl daran.“ Von Phraotes mit Lebensmitteln, frischen Kameelen und einem Empfehlungsschreiben an den Obersten der Brahminen und Lehrer des Phraotes, Jarchas, versehen, machte sich Apollonius mit seinen Begleitern auf, um diese priesterlichen Gelehrten auf „dem Berge der Weisen“ jenseits des Hyphasis aufzusuchen.
Der Berg der Weisen wird als mit Wolken umgeben und so hoch wie die Akropolis geschildert; von den Brahmanen sagt Apollonius[765]: „Die indischen Brahmanen sah ich, wie sie auf Erden 764wohnen und doch nicht auf Erden, in der Festung und doch ohne Befestigung, ohne Eigentum und doch alles besitzend.“ Damis dagegen erzählt von ihnen, daß sie auf einem Lager auserlesener Pflanzen auf der Erde schliefen, um den Kopf eine weiße Binde und auf dem Leibe ein der Exomis der Cyniker ähnliches Gewand von weißer Baumwolle trügen, das Haar lang wachsen ließen und Ringe und Stäbe als Abzeichen führten; auch habe er, Damis, sie öfter zwei Ellen hoch in der Luft wandeln sehen. – Dieses Schweben erinnert an das bekannte sich in die Luft erheben der Fakire, sowie an die Levitation bei Hexen und Medien und bedarf keiner weiteren Erörterung. Ring und Stab ist schon im Gesetz des Manu das Abzeichen der Brahmanen. Dieselben waren eifrige Vegetarier, gestatteten aber ihren Besuchern, wenn dieselben es wünschten, den Fleisch- und Weingenuß.
Als Apollonius zu den Brahmanen kam, wurde er von dem auf ehernem Throne sitzenden Jarchas, welcher den Brief des Königs forderte, griechisch angeredet. „Als Apollonius über sein Vorauswissen erstaunte, sagte jener, es fehle in dem Brief ein Buchstabe, ein Delta, das der Briefschreiber ausgelassen habe; und es fand sich, daß dem so war.“[766]
Als weiteres Beispiel seiner Sehergabe soll dann Jarchas dem Apollonius seine Abstammung väterlicher- und mütterlicherseits, ferner wie er Damis gefunden, und alles was sie unterwegs gethan und erfahren, in richtigem Zusammenhang dargestellt haben, als ob er dabei gewesen wäre. Als aber Apollonius nun erstaunt frug, woher er das alles wisse, entgegnete jener: „Auch du kommst mit solchem Wissen, aber keinem vollkommenen.“ – „Und wirst du mich dieses vollkommene Wissen lehren?“ – „Gern und neidlos“, erwiderte Jarchas, „denn dies ist weiser als Wissenswertes zu verbergen oder darüber zu täuschen. Übrigens bist du Apollonius, von Mnemosyne gesegnet, der Göttin, die wir unter allem am meisten lieben.“ Als später die Brahmanen zum Opfer gingen, badeten, salbten und bekränzten sie sich und zogen begeistert zum Heiligtum, wo sie sich – Jarchas an der Spitze – in Chorordnung aufstellten und mit ihren Stäben auf den Boden stießen, 765welcher „wie eine Woge zwei Ellen hoch anschwoll“. – Dieses wahrscheinlich auf subjektiven ekstatischen Empfindungen beruhende Phänomen des Anschwellens und Erbebens der Erde kommt in der Magie und Theurgie sehr oft vor, so besonders in den Jamblichus zugeschriebenen Büchern „über die ägyptischen Mysterien“[767], dann in zahlreichen mittelalterlichen Zauberbüchern, welche von der Geisterbeschwörung handeln, wie die Clavicula Salomonis, ferner in dem mit ihr in engem Zusammenhange stehenden Buche Arbatel, in dem Paracelsus zugeschriebenen „Büchlein von olympischer Geisterbeschwörung“, in dem sog. 4. Buch der Occulta Philosophia, in der Pseudomonarchia Dämonum; auch in einigen Ausgaben des sog. Höllenzwangs u. s. w.
In einer folgenden Unterhaltung bezeichnet Jarchas als den Grundpfeiler aller Weisheit die Selbsterkenntnis des Pythagoras und bekennt sich zur Reincarnationstheorie dieser Philosophen und der Ägypter. Sich selbst soll Jarchas als den reincarnierten Achilles und einen seiner Gefährten für Palamedes gehalten haben. Bei einem Gastmahl, dem auch Damis beiwohnte, gab Jarchas eine interessante Zusammenfassung seiner Lebensanschauung und erwähnte dem Apollonius gegenüber u. a. den Akasa: „Den Äther, aus welchem die Götter geboren sein müssen, denn alles, was Luft atmet, ist sterblich, aber das Ätherische ist unsterblich und göttlich.“ „So soll ich das All als Lebendiges betrachten?“ frug Apollonius. „Allerdings“, sagte Jarchas, „wenigstens, wenn du gesunde Einsicht hast, denn alles Leben kommt von ihm.“ – „Sollen wir nun das All weiblicher oder männlicher Natur erachten?“ „Beides“, erwiderte Jarchas, „denn indem es sich selbst befruchtet, ist es Vater und Mutter zugleich und liebt sich selbst heißer, als eines das andre jemals. Dies ist aber durchaus nicht widersinnig. Denn wie Hände und Füße zur Bewegung des Lebendigen mitwirken, und zu der Seele, die es bewegt, so glauben wir, daß auch alle Teile des Alls durch die Weltseele zu allem mitwirken, was einen Anfang nimmt und geboren wird. Denn auch die Leiden einer Dürre werden durch diese Weltseele bewirkt, wenn die sinkende Tugend der Menschen ehrlos handelt. Aber das lebendige All 766behandelt nicht mit einer Hand, sondern mit vielen, unsagbar vielen, und – unbeweglich durch seine Größe – ist es doch leicht zu zügeln und zu lenken.“[768]
In folgendem Vorfall haben wir die erste, rein mediumistische Thatsache, welche uns in der Geschichte des Apollonius berichtet wird: Zu den Brahmanen kam eine Frau und bat dieselben, daß sie ihrem sechzehnjährigen Sohne helfen möchten, welcher seit zwei Jahren besessen sei. Der Dämon treibe den Knaben hinaus in die Einöde, wo derselbe seine Mutter nicht mehr erkenne, mit rauher Mannesstimme spreche und mit „fremden Augen“ dareinschaue.[769] Alles bekannte charakteristische Erscheinungen.
Auf die Frage der Brahmanen, ob die Mutter versucht habe, den Knaben mitzubringen, entgegnete dieselbe, daß sie es nicht gewagt habe, weil der Dämon den Knaben diesfalls zu töten drohe. – Auch hier haben wir einen Zug, welcher sich bei den Besessenen und Somnambulen aller Zeiten wiederholt. Jarchas giebt der Mutter einen Brief mit Drohungen an den Geist mit, durch welchen der Knabe von seiner Besessenheit befreit wird.
In den folgenden Zeilen haben wir unzweifelhaft einen der ältesten Fälle der Ausübung des Heilmesmerismus, welcher nur selten citiert wird: „Auch ein Lahmer kam, dreißig Jahre alt, ein eifriger Löwenjäger. Als ihn ein Löwe anfiel, hatte er sich einen Schenkel ausgerenkt, und das Bein war krank; aber durch Streichen mit der Hand wurde er wieder in den Stand gesetzt ordentlich zu gehen.“[770]
Dem Jarchas werden u. a. auch mancherlei Auslassungen über die Sehergabe in den Mund gelegt, sie habe für den Menschen viel Gutes, ihre größte Leistung aber sei die Heilkunde. „Die weisen Asklepiaden würden zu ihrer Kenntnis nie gelangt sein, wäre Asklepios nicht ein Sohn Apollos gewesen, nach dessen Offenbarungen er die in Krankheiten dienlichen Mittel bereitet (Heilinstinkt der Somnambulen), seine Kinder belehrt und seinen Genossen gezeigt hätte, was bei eiternden Wunden und was bei trockenen angewendet 767werden muß, durch welche trinkbare Arznei Wassersucht abgewendet, wie Blutfluß gestillt, Auszehrung und andere innere Leiden geheilt werden können. Auch die Heilungen durch Gifte, und deren bewußte Anwendung in Krankheitsfällen sind nur der Sehergabe zu danken. Ohne die Gabe des Voraussehens, meine ich, würden die Menschen nie gewagt haben, den heilsamen Mitteln die allergiftigsten beizumischen.“[771]
Nach viermonatlichem Aufenthalt verließ Apollonius die Brahmanen und begab sich längs des Indus an die Küste des erythräischen Meeres.
Er fuhr sodann über dieses und das persische Meer, sowie den Euphrat hinauf nach Babylon zu Bardanes, begab sich über Ninive nach Antiochien und Seleucia und segelte von dort nach Cypern und Jonien, „vielbewundert und hochgeehrt von denen, welche Weisheit zu schätzen wissen“.[772]
Über die nächstfolgenden Ereignisse im Leben des Apollonius ist wenig zu sagen, denn die bekannte Erzählung, laut welcher unser Seher „aus der Sprache der Sperlinge“ ersehen haben soll, daß in einer Gasse zu Ephesus ein Sack Weizen aufgegangen war, läßt eine so einfache Erklärung zu, daß wir nicht nötig haben, zum Hellsehen behufs Aufstellung dieser Begebenheit zu greifen. Ist dieses nun wahrscheinlich ein ganz natürliches Ereignis, so ist offenbar der Bericht von der Vertreibung der Pest zu Ephesus, wo Apollonius den in Gestalt eines Bettlers erscheinenden Pestdämon steinigen ließ, worauf unter den Steinhaufen anstatt des Leichnams des Bettlers der eines Molosserhundes zum Vorschein kam, entweder nur ein Mythus oder die Entstellung irgend eines nicht mehr erkennbaren Vorfalls. Ebenso haben wir es wohl im Nachstehenden nur mit einem, vielleicht etwas übertriebenen Traumbild zu thun.
Apollonius hatte sich nach Pergamon begeben, wo er die Beter im Aeskulaptempel belehrte, was sie zu thun hätten, um günstige Träume zu erhalten, und wo er auf dem Grabhügel des Achilles nächtigte, um sich mit dessen Geist zu unterreden. Derselbe erschien ihm in überirdischer Schönheit achtunggebietend und 768von heiterem Angesicht, glänzend, in einer übermenschlichen Größe usw.[773] Wenn die Wesenheit des Achilles in Jarchas reincarniert gewesen sein soll, so könnte sie füglich dem Apollonius nur als eine rein subjektive Vision erscheinen.
In Athen traf Apollonius einen besessenen Jüngling, zu dem er sagte: „Nicht du frevelst hier, sondern der böse Geist, von dem du besessen bist, ohne daß du es weißt.“ – Als nun Apollonius ihn scharf und zornig anblickte, schrie der Dämon auf wie ein Gebrannter oder Gefolterter und schwur, den Jüngling loszulassen und nie wieder einen Menschen zu überfallen. Als aber Apollonius zu ihm sprach wie ein zorniger Herr zu einem schamlos bösen Knecht und ihm befahl, sichtbar auszufahren, da rief er aus: „Das Standbild will ich umwerfen!“ und wies auf eine Statue bei der Königshalle. Wirklich geriet diese in Bewegung und stürzte um.[774] Welches Schrecken und welches Staunen! Wer mags beschreiben! Der Jüngling aber rieb sich die Augen wie ein Erwachender, sah nach der Sonne und war verlegen, weil aller Augen auf ihn sahen. Von da an aber erschien er nicht mehr so wild und maßlos wie vorher, sondern seine gesunde Natur kam wieder hervor, wie nach dem Gebrauch eines Heilmittels.[775]
Diese Erzählung gleicht so vollkommen den Mitteilungen aller Zeiten über vorgenommene Exorcismen, daß man kein Wort zu ihrer Erläuterung nötig hat. Nur zu dem Umwerfen der Statue wollen wir eine Parallele aus der Autobiographie des Bürgermeisters Barth. Sastrow zu Stralsund beibringen, welche Gustav Freitag im 5. Bande seiner „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ mitteilt. Der Vorfall trug sich im Jahre 1529 zu und betrifft eine besessene Magd Sastrows: „Mit dem Exorcismo trieb er (der Teufel) sein lautes Gespött; denn als der Priester ihn beschwor, daß er ausfahren sollte, sagte er: ja er wolle weichen, er müsse ja wohl das Feld räumen, aber er forderte allerlei, was man ihm mitzunehmen erlauben sollte; wenn ihm das Geforderte abgeschlagen würde, stünde ihm das Bleiben frei. Es stand einer unter den 769Anwesenden, welcher den Hut aufbehielt, als diese beteten, da begehrte er von den Predigern, ihm zu erlauben, daß er den Hut vom Kopfe nehmen dürfte, den Hut wollte er mit sich nehmen und weichen. Ich trage Sorge, wäre es ihm von Gott gestattet worden, Haut und Haar hätten mit dem Hut gehen müssen. Zuletzt, als er wußte, daß seine Zeit, die Magd zu plagen, verflossen war, und vermerkte, daß unser Herrgott das demütige Gebet der gegenwärtigen Leute gnädiglich erhörte, forderte er gar spöttlich eine Tafel Glas aus dem Fenster über der Turmuhr, und als ihm eine Raute aus demselben erlaubt wurde, hat sich dieselbe zusehends mit einem Klange abgelöst und ist davon geflogen. Nach der Zeit hat man nichts Böses bei der Magd vermerkt. Sie hat auf dem Dorfe einen Mann bekommen und von ihm Kinder erhalten.“[776]
Auf Kreta gab Apollonius abermals eine Probe seines Fernsehens, denn als ein Erdbeben entstand, rief er den Leuten zu: „Fürchtet euch nicht, denn das Meer hat ein Land geboren.“ Nach einigen Tagen kamen Leute aus Kydonia, welche berichteten, daß während des Erdbebens sich in der Meerenge zwischen Thera und Kreta eine neue Insel gebildet habe.[777]
Ein weiterer hierher gehöriger Fall ereignete sich in Rom, wohin sich Apollonius von Kreta aus begeben hatte. „Als es nämlich bei einer Sonnenfinsternis donnerte, was bei Finsternissen selten zu geschehen scheint, hatte er zum Himmel aufblickend gesagt: ‚Etwas Großes wird geschehen.‘ Niemand verstand das Wort, aber drei Tage später verstanden es alle. Als nämlich Nero gerade bei Tische saß, fuhr ein Blitz auf die Tafel und schlug ihm den Becher aus der Hand, den er gerade zum Munde führte. Daß der Kaiser so mit dem Tode bedroht und doch nicht getroffen wurde, hatte Apollonius mit dem ‚geschehen und nicht geschehen‘ gemeint.“[778]
Durch diese Prophezeiung hatte Apollonius den Verdacht des Tigellinus erweckt, welcher ihn einkerkern ließ. Als dieser Präfekt 770jedoch die Anklageschrift verlesen wollte, fand er zu seinem Erstaunen das von ihm selbst geschriebene Blatt leer. Nach Philostratus hat sich ein gleicher Fall in dem spätern Prozeß des Apollonius unter Domitian zugetragen.[779] Dieser mythisch erscheinende Zug findet Parallelen in zahlreichen Heiligenlegenden und Sagen.
Wir können hier Apollonius nicht auf allen seinen Kreuz- und Querzügen begleiten, sondern müssen uns darauf beschränken, die in das Gebiet des Übersinnlichen gehörenden Berichte aus seinem Leben mitzuteilen, soweit wir dazu Parallelen in der Kulturgeschichte oder in der gegenwärtigen Erfahrung nachweisen können. Deshalb wenden wir uns zu folgender Voraussage des Philosophen: Als Nero geflohen und Vindex tot war, fragten seine Gefährten: „Wem wird nun die Herrschaft zufallen?“ „Vielen Thebanern“, antwortete Apollonius, denn er verglich Vitellius, Galba und Otho, welche die Macht nur kurze Zeit an sich rissen, mit jenen Thebanern, welche auch nur sehr kurze Zeit an der Spitze Griechenlands gestanden hatten.[780] Apollonius sagte dann zu seinen Freunden: „Sehet Roms drei Herrscher, die ich neulich Thebaner nannte! Keiner wird Alleinherrscher werden, sondern in und um Rom werden sie herrschen und umkommen und schneller ihre Rollen wechseln als die Tyrannen auf der Bühne.“ – Das Wort erfüllte sich bald: Galba kam in Rom um, kaum zur Herrschaft gelangt, Vitellius starb nach einem Herrschaftstraume; Otho starb im westlichen Gallien, und nicht einmal ein glänzendes Begräbnis ward ihm zu teil, denn er liegt bestattet wie ein gewöhnlicher Mensch; so wandte sich das Geschick dieser drei innerhalb eines einzigen Jahres.[781]
Apollonius begab sich über Ägypten, wo er durch seine Sehergabe einen wegen Straßenraubes unschuldig Verurteilten befreite[782], nach Äthiopien, um die Weisheit der dortigen Gymnosophisten kennen zu lernen, von welchen er jedoch sehr enttäuscht wurde. In dem ganzen Abschnitte ist nur die Rede des Apollonius an seinen Schüler Thespesion merkwürdig, in welcher er die geistige Entwickelung 771an der Hand der Askese lehrt[783], und in deren Verlauf er seinem Schüler bezüglich der Wundersucht seiner Zeit das auch heute noch geltende Mahnwort zuruft: „Mit dem Glauben an Unglaubliches entsagt man der Vernunft!“[784]
Beiläufige Erwähnung verdient noch die Erzählung von dem durch Apollonius gebannten Satyrgespenst, welches in einem Dorf an den oberen Nilkatarakten die Frauen unsichtbarerweise mit seiner Liebe verfolgte und dann tötete. Apollonius befahl, um das Gespenst zu bannen, einen Trog mit Wein zu füllen, den der Satyr trinken und sich darauf entfernen würde. Als der Satyr zur Stelle beschworen worden war, „blieb er zwar unsichtbar, aber der Wein verschwand, als ob er getrunken würde“.[785] Dieser Bericht ist offenbar wieder fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt, erinnert aber auffallend an den slavischen Vampyrglauben und die sogenannten Incubusvorgänge, sowie besonders an die von Horst im ersten Band seiner „Zauberbibliothek“ mitgeteilte Geschichte des Arnod Paole. Das eigentümliche Verschwinden von Flüssigkeiten kommt auch im modernen Mediumismus vor.
Von Ägypten nach Griechenland zurückgekehrt, sagte er dem Titus voraus, daß ihm „der Tod aus dem Meere kommen werde“, wie dem Odysseus, was seine Schüler so deuteten, als ob der Kaiser wie Odysseus durch den Stachel eines Rochens tödlich verletzt werde.[786] Angeblich aber wurde Titus durch Domitian mit einem Seehasen vergiftet.
In Smyrna hatte Apollonius geweissagt, daß Nerva der Nachfolger Domitians sein werde, was durch einen Schüler des Philosophen, Euphrates, nach Rom verraten worden war, worauf der Kaiser die Verhaftung und Transportation des Apollonius nach Rom befahl. Der Weise aber sah dies „auf übersinnliche Weise wie gewöhnlich voraus“, ging unter Segel und fuhr nach Rom.[787]
Von dem Aufenthalt des Apollonius in Rom und seinen Schicksalen im Gefängnis und vor Gericht ist hier nur zu erwähnen, daß Philostratus 772beiläufig erzählt, Apollonius habe sich einmal im Gefängnisse seiner Fesseln auf übersinnliche Weise[788] entledigt. Dies gehört bekanntlich zu den am häufigsten vorkommenden mediumistischen Erscheinungen.
Der Prozeß endigte damit, daß Apollonius vom Kaiser freigesprochen und aufgefordert wurde, an seinem Hofe zu bleiben. Der Philosoph aber bat um seine Unabhängigkeit, forderte vom Kaiser eine bessere Führung der Regierung und „verschwand aus dem Gerichtssaal“.[789] – Als gegen Abend desselben Tages seine Schüler im Nymphäum zu Dikäarchia um ihren Lehrer wehklagten und verzweifelten, ihn wiederzusehen, erschien er plötzlich unter ihnen und überzeugte sie, die ihn für einen Geist hielten, von seiner leiblichen Existenz.[790]
Man hat in dieser gewiß sehr ausgeschmückten Begebenheit eine Parallele zum Wiedererscheinen Christi unter den Jüngern sehen wollen, aber offenbar – weil ja Apollonius nicht gestorben war – mit Unrecht. Eher dürfte sie eine Parallele zur Befreiung des Petrus und der andern Apostel aus dem Gefängnis sein, wie sie die Apostelgeschichte mehrfach erzählt.[791] – Mythisch ist ebenfalls der Zug, daß Apollonius sieben Tage in der Höhle des Trophonius geweilt und als Kern aller Weisheit ein die Lehren des Pythagoras enthaltendes Buch herausgebracht habe.[792] Auf geschichtlicher Grundlage beruht aber wahrscheinlich die Aufgabe, daß Apollonius zu Ephesus die Ermordung des Domitian in dem Augenblick verkündete, als sie zu Rom vor sich ging. Diese Voraussage erregte Zweifel der Ungewißheit, aber bald belehrten Eilboten die Epheser über die Wahrheit des Gesichtes.[793]
Mit dieser Erzählung schließt Philostratus die Biographie des Philosophen. Über dessen Tod teilt er keine näheren Umstände mit. Apollonius wird einerseits als Gott und Wundermann überschätzt, andererseits als Betrüger oder Narr unterschätzt. Wir aber sehen in ihm nur einen nach pythagoräischer Weise lebenden Philosophen. Er entwickelte offenbar in sich die in jedem Menschen vorhandenen übersinnlichen Kräfte und Fähigkeiten.
Schon die Schüler des Sokrates sprachen gern von einem schöneren Leben in der Vergangenheit fremder Völker und sahen in demselben ihr Ideal, welches sie mit der jünglingsfrischen Kraft des Hellenentums in die Wirklichkeit zu übertragen suchten. Als nun die Griechen unter Alexander einen großen Teil Asiens unterjocht hatten und mit der wunderbaren Kultur des Orients bekannt geworden waren, da begann die Philosophie Indiens allmählich Einfluß auf die Lehren des Abendlandes zu gewinnen, und die bildungsstolzen Griechen sahen mit Staunen, daß ihre hochgerühmte Kultur nur der schwache Abglanz einer früheren viel höher entwickelten war, an welche alte halbverklungene Sagen noch erinnerten. Diesen konnte aber auch vor allem Plato eine innere Wahrheit nicht absprechen.
So entstand und verbreitete sich die hohe Meinung von dem heiligen Leben und der tiefen Weisheit der Inder; auch dachte man sich diese mit den phönicischen, ägyptischen und jüdischen Priestern in einem gewissen Zusammenhang stehend, der vielleicht durch eine besondere Geheimlehre vermittelt würde. Jener äußere Anstoß, welcher durch die Feldzüge Alexanders gegeben wurde, hat wohl am meisten zum Kulturaustausch des Orients und Occidents mitgewirkt, 774wobei wir freilich nicht übersehen dürfen, daß auch die Mysterien und sonstige von Osten herüberkommende Geheimkulte als wichtige Faktoren zur Vermittelung des religiösen und philosophischen Lebens beider Weltteile beitrugen; jedoch weiß man noch immer zu wenig über die Geheimnisse, als daß man ihren Einfluß auf das geistige Streben jener Zeiten mit Sicherheit bestimmen könnte.
Endlich aber wirkt noch ein drittes sehr zu beachtendes Moment mit an dieser so merkwürdigen Verschmelzung entgegengesetzter Anschauungen, nämlich der Zerfall der religiösen Vorstellungen und wissenschaftlichen Begriffe, die Trennung der Philosophie und der Religion bei den Griechen. Die griechische Religion hatte durch ihre dem Künstlerischen sich zuneigende Ausbildung das Bedeutsame ihrer alten Formen verloren, und eine willkürliche Deutung der alten Bilder konnte ihren wirklichen Sinn nicht ersetzen. Es war also das Bedürfnis nach religiösen Neuerungen, welche dem Herzen wie dem Verstande genügten, das Bedürfnis nach einer Versöhnung der Wissenschaft mit der Religion gegeben, und in der Erkenntnis der tiefen orientalischen Weisheit glaubte man die Befriedigung desselben finden zu können. Daher rührt es denn auch, daß je länger, desto häufiger Griechen von gelehrter Bildung Zugang zu den öffentlichen und geheimen Kulten der Orientalen suchten und fanden, wobei sie die alt-orientalischen Lehren mit den eigenen Überlieferungen verglichen, sie vertieften und zu verschmelzen suchten. Es war die Zeit der Ausbildung der Kabbala und des Keimes der grundlegenden Anschauungen der späteren neupythagoräischen, gnostischen und neuplatonischen Schulen. Kleinasien und Alexandria waren der Hauptschauplatz dieses Ringens und endlichen Verschmelzens der entgegengesetzten Weltanschauungen.
Solange jedoch das Römerreich noch innerlich gesund war und das Griechentum sich einer verhältnismäßigen Blüte erfreute, kamen diese eklektischen Systeme zu keiner größeren Bedeutung. Erst als der Kaiserzeit die Kultur der alten Welt verfaulte und einem übertünchten Grabe glich, als eine Stütze der alten Gesellschaft nach der andern brach und alle Welt Rettung aus dem Chaos suchte, erst dann gelangten die genannten in den innersten Bedürfnissen der Menschennatur wurzelnden philosophischen Richtungen durch die gleichen Umstände zur Geltung, welche auch dem Christentum seine welthistorische Stellung erobern halfen.
Unter den bedeutendern Schriftstellern älterer Zeit, die dem Neoplatonismus die Bahn brachen und bei welchen die diesem angehörige und eigentümliche Geistesrichtung offen zu Tage trat, sind in erster Linie Plutarch (ca. 50–120 n. Chr.) und der zur Zeit der Antonine lebende L. Apulejus zu nennen. Von diesem Zeitalter an gelangte die mystische eklektische Philosophie zu immer größerer Bedeutung und verkündete sich besonders in der Sehnsucht nach einer mystischen Vereinigung mit dem Göttlichen, die teils durch Askese, teils durch Theurgie gewonnen werden sollte und gegen welche das äußere Leben als ein leeres Schattenbild zurücktrat.
Die Aufgabe der mystisch-eklektischen Philosophie war die Erschließung jener dunkeln Gebiete, an deren Grenzen die Logik der Schulen eben noch heranreicht, welche uns aber verläßt, sobald wir die Schwelle des Avernus überschritten haben. Über diese Gebiete fand man bei den Philosophen teils nur Andeutungen in Bildern oder Mythen, teils auch bestimmte geäußerte Meinungen, welche, wie jene Andeutungen nicht verkennen ließen, nicht in ihrem buchstäblichen Sinne aufgefaßt sein wollten. Je mehr man nun bei der Betrachtung der „letzten Dinge“ – um hier vergleichungsweise diesen christlich-dogmatischen Ausdruck zu gebrauchen – sich genötigt sah, die Aussprüche der Philosophen allegorisch aufzufassen, um so mehr kam man zu der Überzeugung, daß im Grunde alle oder doch die tiefsten Philosophen miteinander einig seien und nur denselben Sinn in verschiedenen Formeln ausgedrückt hätten. Und in der That finden wir bei den alten Philosophen an den äußersten Grenzen der Forschung mehr Einigkeit als bei Untersuchungen, welche sich der Mannigfaltigkeit weltlicher Erscheinungen zuwenden. In dem Drang, das Geheimnis des Absoluten und seines Verhältnisses zum Relativen, des Göttlichen zum Weltlichen anschaulich zu machen, näherte sich der griechische Philosoph den Quellen orientalischer Mystik, und der orientalische Priester bediente sich zur Verbreitung seines transscendentalen Wissens der Waffen, welche griechische Rhetorik und Dialektik geschliffen hatten. Es bildete sich eine rhetorische Lehre aus, welche den Kern der älteren Systeme eklektisch umfaßte und ihre Weisheit zum Teil unter symbolischer Hülle offenbarte.
Da ferner nun das Abendland und der Orient ganz verschiedene Forschungsmethoden befolgen, indem nämlich der europäische Philosoph und besonders der auf alle Künste der Dialektik eingehetzte Altgrieche an der Hand des logischen Beweises Schritt vor Schritt vorwärts geht und das als nicht existierend betrachtet, was nicht logisch bewiesen werden kann, indem er vom Besondern auf das Allgemeine schließt, sucht der Mystiker des Orients durch Autopsie zur Vereinigung mit dem Allgemeinen und zur Erkenntnis und Beherrschung des Besondern zu gelangen; durch das Anschauen des Absoluten ist der Mystiker individuell überzeugt, und der logische Beweis wird für ihn überflüssig. Der Weg und das Mittel zur Autopsie ist die Askese, die möglichste Vermeidung aller Verunreinigung durch die Materie. Die möglichste Steigerung in der Enthaltsamkeit vor sinnlichen Genüssen, die gänzliche Abtötung der sinnlichen Triebe, die Kasteiung des Fleisches wird zum Mittel, durch Anschauung des Heils wie des Wissens teilhaftig zu werden, denn jemehr der Mensch dem Sinnlichen erstirbt, desto mehr lebt er im Geistigen. Damit ist zugleich die innere Notwendigkeit der für den Neoplatonismus so charakteristischen Verachtung aller Außendinge, welche wir – allerdings aus ganz anderen Gründen – auch bei den Cynikern und Stoikern finden, gegeben, die in ihrer extremen Auffassung die neoplatonische Lehre nicht lebensfähig werden ließ.
Es erhellt, daß bei dem vorwiegend mystisch-kontemplativen Charakter der neuplatonischen Philosophie die Fähigkeiten und Kräfte des transscendentalen Bewußtseins in hohem Grade ausgebildet und die auf diese Ausbildung hinzielenden Mittel sowie die davon abhängigen Beobachtungen sehr zahlreich werden mußten. Auf diese bisher meist als Aberglaube und Schwärmerei verlachten Dinge, welche durch die Thatsachen des Occultismus und Mediumismus erklärt werden, wollen wir hier besonders die Aufmerksamkeit unserer Leser richten, indem wir kurz das schildern, was vom Leben der wichtigsten Neuplatoniker bekannt ist, und dabei ihre Lehre berücksichtigen, soweit sie unserem hier verfolgten Zwecke dient.
Der eigentliche Begründer des Neuplatonismus ist der etwa 777190 n. Chr. von christlichen Eltern geborene Ammonios Sakkas, welcher nach Eusebius[794] sich dem Heidentume zuwandte, als er selbständig zu denken begonnen hatte. Von seinem Leben wissen wir sehr wenig, weil er selbst keine schriftlichen Aufzeichnungen machte und er sowohl als seine Schüler auf Außendinge nicht den mindesten Wert legte. Wie Hierokles und Porphyrius erzählen, erwarb Ammonios in Alexandria sich seinen Unterhalt durch Sacktragen, woher er den Namen Sakkas erhielt, und lehrte dabei eine Philosophie, welche die Übereinstimmung des Plato und Aristoteles in allen Punkten nachzuweisen suchte. Diese Lehre scheint eine esoterische gewesen zu sein, denn Porphyrius berichtet im Leben des Plotinus, daß sich die drei Schüler des Ammonios Erennios, Origenes (welcher nicht mit dem bekannten Kirchenvater zu verwechseln ist) und Plotinos verbunden hätten, die Lehren ihres Meisters nicht zu veröffentlichen. Erennios und Origenes brachen jedoch dieses Versprechen durch die Herausgabe jetzt verloren gegangener Schriften, worauf sich auch Plotinos seines Versprechens für entbunden hielt und nun die Schriften verfaßte, welche wir noch jetzt von ihm besitzen. Als ein vierter Schüler des Ammonios wird ein Grammatiker Longinos genannt.
Der Bedeutendste von allen ist Plotinos, welcher im Jahre 205 zu Lykopolis in Ägypten geboren ward.
Er erhielt seine wissenschaftliche Bildung zu Alexandria, wo er im 28. Jahre seines Lebens Philosophie zu studieren begann. In Ammonios Sakkas fand Plotin den gesuchten Mann, der ihm Ehrfurcht vor orientalischer Weisheit und heißes Verlangen nach derselben einflößte. Deshalb nahm auch Plotin, nachdem er elf Jahre den Unterricht des Ammonios genossen hatte, teil an dem Feldzuge, welchen Kaiser Gordianus (der Enkel) gegen die Perser eröffnete, um bei dieser Gelegenheit die persische und indische Philosophie an der Quelle studieren zu können. Als jedoch Gordian im Jahre 244 ermordet worden war, ging Plotin nach Antiochia und später nach Rom, wo er als Lehrer der Philosophie auftrat.
Im Anfang scheint die neue Schule nicht besonders prosperiert zu haben, denn Amelios, ein Zögling unseres Philosophen, berichtet, 778daß dieselbe voll Unruhe, Geschwätz und Lärmen, dabei aber schlecht besucht gewesen sei. Im Laufe der Zeit kam jedoch Plotin zu hohem Ansehen, wie die Namen zahlreicher Schüler beiderlei Geschlechts bezeugen. Ihm hörten nicht nur römische Ritter und Senatoren, sondern auch eine große Menge der vornehmsten Damen zu, von denen eine, namens Gemina, Plotin zeitweilig in ihr Haus aufnahm.
Unser Philosoph erfreute sich des allgemeinsten Vertrauens, so daß er als „ein heiliger, göttlicher Fürsorger“ von den edelsten Männern als Testamentsvollstrecker und Vormund ihrer Kinder eingesetzt wurde. Sein Haus war daher mit vornehmen jungen Leuten beiderlei Geschlechts überfüllt, deren Erziehung er leitete und deren Güter er auf das gewissenhafteste verwaltete, „um – wie er sagte – ihnen wenigstens ihre zeitlichen Schätze ungeschmälert übergeben zu können, wenn sie keinen Geschmack an der Philosophie und den himmlischen Dingen finden sollten“. Sehr häufig wurde Plotin als Schiedsrichter angerufen, welchem Amte er mit so großer Klugheit vorstand, daß er sich dabei nach der Versicherung seines Schülers Porphyrius (in vita Plotini), während seiner sechsundzwanzig in Rom verlebten Jahre auch nicht einen einzigen Menschen zum Feind machte.
Selbst Kaiser Gallienus (259–268), eines der nichtswürdigsten Ungeheuer, welche den römischen Kaiserthron schändeten, und dessen Gemahlin Salonina waren für die Ideeen Plotins derart begeistert, daß sie eine verfallene Stadt in Kampanien wieder aufbauen und Plotin nebst seinen Schülern schenken wollten. Diese Stadt sollte Platonopolis genannt und nach den von Plato entwickelten politischen und ethischen Prinzipien regiert werden. Porphyrius berichtet in seinem Leben Plotins mit nicht geringem Unwillen, daß dieser schöne Plan durch einige Hofleute vereitelt worden sei, welche den Plotin beneidet und Plato nicht den Ruhm eines Gesetzgebers gegönnt hätten.
Plotin lebte bis zum Jahre 270 in Rom, zog sich dann, von einer Krankheit befallen, nach Kampanien zurück und starb, indem er dem ihn besuchenden Arzt Eustochius die Worte zurief: „Ich führe jetzt den in mir wohnenden Gott der im Weltall lebenden Gottheit zu!“ – In demselben Augenblick kam, so erzählt die 779allegorische Legende, unter dem Bett eine drachenartige Schlange, welche für den Genius Plotins gehalten wurde, hervor und verschwand durch eine in der Wand befindliche Öffnung.
Nach Porphyrius hatte Plotin sein göttliches Auge beständig auf den ihn begleitenden Genius gerichtet und lebte „recht eigentlich in einer wesentlichen und realen Gemeinschaft mit der Geisterwelt“. Von dem hohen Werte und der Wichtigkeit dieses geistigen Lebens und Verkehrs im Gegensatz zu seiner äußeren Persönlichkeit war denn auch Plotin so durchdrungen, daß er seinen Freunden und Schülern weder den Tag noch den Ort seiner Geburt nannte, weil es schon zu viel sei, über solche irdische Dinge auch nur ein Wort zu verlieren. Alles phänomenale Sein ist ihm ein Elend, ein Irrtum und ein niedriger Zustand, von welchem sich der Mensch losmachen muß, damit er durch die „Tugend“ zu Gott zurückkehre. Dieser Gipfel der Tugend, auf welchem sich die Seele mit Gott vereinigt, wird nur erreicht durch die Askese. Deshalb enthielt sich auch Plotin aller Fleischspeisen, nicht selten auch des Brotes, und fastete oft so lange, daß er sich andauernde Schlaflosigkeit zuzog. Er gönnte sich nicht das regelmäßige Bad, wie es doch bei seinen Landsleuten Sitte war, und unterließ zuletzt selbst die üblichen Abreibungen seinem Körpers, die einzige Pflege, welche er demselben noch hatte zu teil werden lassen. Es schien ihm eine unerträgliche Eitelkeit, von dem Schattenbilde seines Körpers eine Abbildung machen zu lassen, welche eine längere Dauer als das Original habe. Als nachahmungswürdiges Muster eines Weisen empfahl Plotinus seinen Schülern den römischen Senator Rogatianus, welcher durch ihn so bekehrt worden war, daß er seine Sklaven freiließ, sein Vermögen verschenkte, sein Prätorenamt aufgab und nicht einmal in seinem eigenen Hause wohnte, sondern bei seinen Freunden schlief und speiste. – Alle späteren Neuplatoniker eiferten ihrem Meister in dieser übertriebenen Selbstentsagung, bei welcher indischer Einfluß unverkennbar ist, nach und genossen weder Fleisch noch Wein, noch die Freuden der Liebe, welche sie als die größten Hindernisse eines heiligen Lebens und der innigen Vereinigung mit Gott ansahen.
Porphyrius berichtet denn auch, daß während seiner sechsjährigen Lehrzeit bei Plotin dieser, sein Meister, viermal der „Vereinigung 780mit Gott“ gewürdigt worden sei, während ihm – Porphyrius – dieses Glück im ganzen Leben nur einmal zu teil ward. Wie sein Biograph ferner berichtet, war Plotin hellsehend und hatte die Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen, er wußte Diebstähle zu verkünden so gut wie die Zukunft und sagte seinen Schülern ihre Gedanken.
Bei folgendem von Porphyrius berichteten merkwürdigen Beispiel von der hohen Entwickelung der magischen Seelenkräfte Plotins müssen wir etwas länger verweilen: Olympius aus Alexandria, ein auf unsern Philosophen neidischer Schüler des Ammonios, suchte denselben durch magische Künste an seiner Gesundheit zu schädigen, überzeugte sich jedoch sehr bald, daß sein Beginnen vergeblich sei, und sagte zu seinen Bekannten: „Welch eine machtvolle Seele besitzt nicht dieser Plotin, denn alle gegen sie gerichteten Künste prallen von ihr ab und auf den Angreifenden zurück!“ Plotin empfand jedoch die magische Einwirkung durch ein Gefühl, als ob ihm Glied um Glied wie ein lederner Beutel zusammengeschnürt werde.
Man hat diese Erzählung sehr häufig als ein Beispiel des bei den Neuplatonikern herrschenden Aberglaubens angeführt, damit aber, wie mir scheint, den ehrlichen, wenn auch schwärmerischen, doch immerhin sehr hoch entwickelten Männern Unrecht gethan. Gehen wir von der Thatsache der nicht durch äußere Sinne vermittelten Gedankenübertragung aus, um jenen Bericht zu erklären, so kommen wir zu folgenden Schlüssen: Wenn die Seele auf die Seele wirkt, so kann dieser Eindruck entweder die Bewußtseinsschwelle des Beeinflußten überschreiten, dann bildet er sich zum Gedanken aus; oder aber er bleibt an der Schwelle des Bewußtseins stehen, dann ruft er nur ein dumpfes, unklares Empfinden 781hervor.[795] Das eigentümliche Gefühl der Zusammenschnürung, welches Plotin empfand, ist daher sehr wohl zu begreifen und findet überdies seine Analogie in den krampfartigen Erscheinungen, wie sie bei allen „magischen“ Zuständen vom Somnambulismus bis zur Besessenheit vorkommen.
Die Schriften des Plotin sind uns ziemlich vollständig erhalten geblieben, und zwar in der Bearbeitung des Porphyrius, welche dieser im Auftrag seines Lehrers übernahm, weil derselbe durch Augenschwäche von der Revision seiner Werke abgehalten wurde. Porphyrius fand einzelne wenig zusammenhängende Bücher vor, welche er in sechs Enneaden zusammenstellte, je nach der Verschiedenheit des Inhalts, wobei er die äußere Form verbesserte und noch einiges, jetzt nicht mehr näher Bestimmbare hinzufügte. Dies ist höchst wahrscheinlich die Bearbeitung der Plotinischen Schriften, welche wir noch besitzen. Andere von den schon genannten Schülern des Plotin Amelios und Eustochios veranstaltete Bearbeitungen sind verloren gegangen.
Da nun Plotin der eigentliche Philosoph der neuplatonischen Schule ist, während alle Späteren mit Ausnahme des Proklos mehr Theurgen oder Magier[796] zu nennen sind, so wird es geeignet sein, hier eine kurze Darstellung des plotinischen Lehrgebäudes zu geben, wobei wir uns möglichst an die Worte des Philosophen selbst zu halten vorziehen.
Gott ist der Realgrund aller Dinge, und es giebt nur eine Art von Substanzen, nämlich vorstellende; Raum und Materie ist nichts als Schein des Realen, der Schatten der Geister. Die Welt 782ist ewig wie Gott. Gott ist keinem Menschen und überhaupt keinem Wesen fern. Er ist das reine urwesentliche Licht und macht die Basis alles Seins und Denkens aus; er ist die Einheit, welche jedem Denken vorausgeht und demselben das Objekt giebt.[797]
Der Intellekt (νοῦς) ist ein Bild des (All)-Einen, denn als Erzeugtes muß es Ähnlichkeit von dem Erzeugenden empfangen und behalten; der Intellekt ist nur dadurch geworden, daß er das Eine schaute. Daher ist auch im Intellekt Einheit, und die Einheit ist die Möglichkeit aller Dinge. Der Intellekt schaut auf das Eine, wodurch ihm ein Objekt des Erkennens gegeben ist; es ist die zum Erkennen erforderliche Doppelheit, Objekt und Subjekt, vorhanden. Ebenso wie der Intellekt das Anschauungsvermögen von dem Einen erhalten hat, so ergießt sich diese Kraft wieder von dem Intellekt aus und erzeugt andere, ihr ähnliche, nur minder vollkommene Intellekte.[798]
Da indessen der Intellekt das Erkennen nicht von sich, sondern von dem Einen hat, so muß auch in dem Einen als in der Quelle alles Erkennens zwar nicht Erkenntnis, wodurch die Einfachheit aufgehoben würde, aber doch etwas Ähnliches sein, gleichsam ein Schauen und Wissen ohne Doppelheit. Das Eine sieht nicht nach außen auf andere Dinge, sondern nur auf sich selbst. Es liebt in sich den reinen Glanz, das reine Licht, welches es selbst ist. Der Intellekt ist das Produkt des Einen, und das Eine ist sein eigenes Produkt.[799]
Das Licht ist die ursprüngliche, ruhige, stätige, unveränderliche Thätigkeit des Urwesens, das aus ihm unmittelbar und unaufhörlich Ausströmende, ein Lichtkreis, durch welchen alles erleuchtet wird und seine Form erhält. Dieser das Eine umgebende Lichtkreis ist der Intellekt.[800]
Der Intellekt umfaßt alle möglichen Objekte, d. h. die ganze Verstandeswelt, oder ist vielmehr die Verstandeswelt selbst. Intellekt und Realität umfassen alles Sein und Leben.[801]
Die Verstandeswelt ist das Muster und Vorbild der Sinnenwelt. Alles, was in dieser wirklich ist, muß daher auch in der Verstandeswelt enthalten sein, jedoch nur der Form nach. In der Verstandeswelt ist daher auch ein mit Sternen besäeter Himmel, eine Erde mit allen möglichen Pflanzen und Tieren, Wasser und Meer in bleibendem Flusse und Leben mit allen Wassertieren und die Luft mit den ihr lebenden Wesen. Denn was aus dem Intellekt kommt, ist Leben; die Verstandeswelt ist daher auch ein lebendes Wesen, ein Welttier.[802]
Alle die Verstandeswelt ausmachenden Verstandeswesen müssen etwas Gemeinschaftliches und etwas Individuelles haben, denn weil sie im Intellekt existieren, ohne durch den Raum getrennt zu sein, so können sie allein durch das ihnen Eigentümliche unterschieden sein, wodurch sie zu besondern Dingen werden. Dieses Individuelle ist die Form, die Gestalt. Wo nun Gestalt ist, da giebt es auch etwas Gestaltetes, d. h. durch die Form Bestimmbares und Bestimmtes. Dies ist die Materie, d. h. nicht die sinnliche, sondern die übersinnliche. Denn auch das hat die Verstandeswelt mit der Sinnenwelt überein, daß sie aus Form und Materie besteht. Abstrahiert man in Gedanken von den Formen, durch welche die Verstandeswelt ein mannigfaltig gestaltetes Ganze geworden ist, so bleibt nichts übrig als das Gestaltlose und Unbestimmte, welches die Gestalt annimmt und gleichsam trägt.[803]
Durch die Thätigkeit und schöpferische Kraft des Intellekts entsteht die Verstandeswelt, welche nur in ihm existiert. Die Thätigkeit, durch welche die Verstandeswelt wirklich geworden ist, ist eine innere und auf das Innere gerichtete. Soll nun auch eine äußere Welt entstehen, welche sich auf die Verstandeswelt als auf ihr Muster bezieht, so muß außer dem Einen und dem Intellekt noch ein drittes vorhanden sein, dessen Thätigkeit nicht nach innen, sondern nach außen gerichtet ist. Dies ist die Seele.[804]
Die Seele ist Produkt des Intellekts, sowie der Intellekt Produkt 784des Einen ist. Nach dem Grundsatz, daß alles Reale aus sich selbst ein anderes Reale erzeugt, was dem Grade der Vollkommenheit nach dem Erzeugenden am nächsten, aber doch nicht ganz gleich kommt, bringt auch der Intellekt etwas hervor, was ihm am nächsten kommt. Die Seele ist ein Gedanke, eine Thätigkeit des Intellekt.[805]
Die Seele steht im dritten Grad von dem Einen ab und ist daher unvollkommener als der Intellekt. Sie ist auch ein Leben, Denken und Thätigsein wie der Intellekt, aber in einem niedern Grade. Erstens geht die Seele nicht ohne Veränderung hervor. Zweitens ist ihr Denken und Schauen dunkler, denn sie erblickt die Objekte nicht in sich, sondern in dem Intellekte. Drittens ist ihr Wirken nicht eine innere, sondern eine nach außen gerichtete Thätigkeit; sie bringt etwas außer sich hervor, was nun nicht mehr ein reines, sondern ein schon vermischtes und getrübtes Sein hat.[806]
Auch die Seele ist wie die Intellekte eine Art Licht, aber nicht ein selbstleuchtendes, sondern von einem andern erleuchtetes. Das Eine ist das einfache, reine Licht selbst, welches sich in den Intellekt ergießt. Die Seele empfängt das Licht vom Intellekt.[807]
Nach den ewigen Gesetzen der Ordnung und Harmonie des Ganzen lösten sich alle Seelen, eine jede zu der bestimmten Zeit, vermöge eines natürlichen Dranges und wie durch den Ruf eines Herolds oder Beschwörers erweckt, von dem Intellekt ab und traten zum erstenmal in das System unserer Welt, in die Gemeinschaft mit den Körpern ein. Indem sie aus ihrer göttlichen Urquelle ausflossen, kamen sie in den Himmel oder den Aufenthaltsort der sichtbaren Götter, wo sie ein Gewand aus ätherischem Stoff gewebt erhielten oder annahmen. Hier am Saume des unsichtbaren Universum, wo die Seelen gleichsam zwei Welten berührten und das niedrigste Glied der intelligibeln wie das höchste der materiellen ausmachten, verweilten sie nicht immer, sondern senkten sich nach eben den Gesetzen, nach welchen sie aus der Mutter 785aller Seelen hervorgegangen waren, auf unsere Erde herab. Auf einer jeden neuen Stufe des Herabsteigens empfingen sie einen neuen Körper und wurden also in dem großen zwischen Himmel und Erde ausgespannten Raume mit einem luftigen, auf dem Wohnplatz sterblichen Geschöpfe mit einem dichten irdischen Gewand bekleidet.[808]
Durch die Thätigkeit der Seele entstehen andere Seelen als Arten der einen. Die Kräfte derselben sind von doppelter Art. Einige sind auf das obere gerichtet wie die Vernunft, andere auf das Niedere wie die verstandesmäßigen Kräfte; die unterste ist die auf die Materie gerichtete und sie bildende Kraft, die Empfindung nämlich und vegetative Kraft.[809]
Alles Wirken der Natur hat die Erkenntnis zum Endzweck. Denn was in der Natur hervorgebracht wird, hat eine übersinnliche Form, wodurch die Materie eine Gestalt erhält, damit sie ein Objekt der Erkenntnis werde.[810] Die Natur ist also nichts anderes als eine Seele, welche wiederum das Produkt einer höheren und mächtigeren Seele ist.[811] In der ganzen Natur ist nur eine der Qualität nach identische Kraft wirksam: die Seele, die Vorstellungskraft; nur eine und dieselbe Wirkungsart: die Bildung, das Anschauen. Es herrscht also derselbe Prozeß im innern Menschen wie in der äußeren Natur.[812]
Alle Materie wird von der Seele innerlich gestaltet; alle Elemente sind von ihrem Leben erfüllt, welches innerlich vorhanden ist, auch wenn es nicht in die Erscheinung tritt. Die Erde gleicht dem Holze eines Baumes, welche eine belebende Natur in sich trägt, die Steine sind wie abgeschnittene Zweige. In den Gestirnen wie in der Erde als Weltkörper findet sich göttliches Leben und Vernunft. Die sinnliche Welt ist sowohl im einzelnen als im ganzen beseelt, und eben diese Seele ist das Wesentliche an ihr.[813]
Die Verstandeswelt ist ein unveränderliches, absolutes, lebendes Ganze, in welchem keine Trennung durch den Raum, kein Wechsel in der Zeit stattfindet. Sie enthält alles, was ist, aber kein Werden noch Vergangensein. Sie ist in keinem Raum und bedarf keines Raumes, denn sie ist in sich vollständig, sich durchaus gleich und sich selbst erfüllend. Wenn man sagt, die Verstandeswelt ist allenthalben, so heißt das nichts anderes als, sie ist in dem Sein und daher in sich selbst.[814]
Die Verstandeswelt ist nichts anderes als das Geisterreich. Es giebt erstens einen höchsten Intellekt, welcher in sich alle möglichen Intellekte und Objekte in potentia enthält; der Wirklichkeit nach giebt es aber ebenso viele einzelne Intellekte, als im höchsten Intellekt der Möglichkeit nach enthalten sind. So wie es einen höchsten Intellekt giebt, so giebt es auch eine höchste Weltseele und viele einzelne Seelen, und jene verhält sich zu den vielen wie die Gattung zu den Arten. Die Arten unterscheiden sich untereinander, ob sie gleich alle aus der Gattung entspringen; es muß also zum Gattungsbegriff noch etwas hinzukommen, damit die Arten näher bestimmt werden. Ebenso muß auch zum Intellekt etwas hinzukommen, daß daraus die Weltseele entspringe, und die einzelnen Seelen müssen vollkommener oder unvollkommener in Rücksicht auf das Denkvermögen sein, sonst würden es eben nicht verschiedene Arten von Seelen sein.[815]
Es giebt nichts durchaus Vernunftloses in der Natur. Auch die Tiere, welche wir für unvernünftig halten, scheinen nur vernunftlos zu sein. Denn Vernunft ist dasjenige, in welchem und aus welchem alles ist; wie sollte also etwas der Vernunft Entgegengesetztes existieren können? Wir stoßen uns daran, daß die Tiere ihre Vernunft auf eine ganz andere Art äußern, als die Menschen, und wollen ihnen daher gar keine Vernunft einräumen, weil sie nicht die unsere ist. Es giebt unzählige Arten des Lebens, der Thätigkeit und der Vernunft, welche untereinander 787verschieden sind. Und dann darf man auch nicht vergessen, daß auch der sichtbare Mensch nicht so lebt und auf dieselbe Art vernünftig ist als der Mensch in der Verstandeswelt. Wir rechnen zum Wesen der Vernunft das Schließen und Beurteilen; dort ist aber die Vernunft ein anderer und über das Schließen weit erhabener Vorgang, nämlich ein unmittelbares Anschauen in vollkommenster Deutlichkeit.[816]
Der Endpunkt der Vernunftthätigkeit ist der äußere Gegenstand, z. B. ein einzelnes Tier. Denn wenn sich die Kräfte entfalten und in ihrer Entfaltung fortschreiten, so verlieren sie immer etwas und werden niedriger; es entstehen unvollkommene Produkte; aber selbst aus dem, was diesen fehlt, wissen sie noch etwas hinzuzusetzen, um das Fehlende zu ergänzen. Weil z. B. das bloße Sein zum Leben nicht hinlänglich ist, so kamen Krallen, Schnäbel, Hörner und Zähne zum Vorschein.[817] Auf diese Art hebt sich die im Herabsteigen unvollkommener gewordene Vernunft wieder durch Zulänglichkeit empor.[818]
Ist die Verstandeswelt, in welcher alles bestimmt und notwendig ist, ein Ausfluß des Urwesens; ist die Sinnenwelt wieder ein Ausfluß der Verstandeswelt; ist die Zufälligkeit und Veränderlichkeit der Dinge in derselben eine unvermeidliche Folge ihres Abstandes vom Urwesen und dieser Abstand im Grade der Vollkommenheit ein Naturgesetz; ist das durch die Thätigkeit der drei Prinzipien alles Seins nicht in der Zeit entstandene Weltganze ein großes lebendiges Wesen, in welchem Einheit und Zusammenhang ist, wo auch das Entfernteste einander nahe ist und kein Teil wirken kann, ohne daß auch die entfernteren Teile in Mitleidenschaft kommen, weil im Ganzen eine Seele ist, welche ihre Thätigkeit auf alle einzelnen, das große Ganze ausmachenden Teile erstreckt, so wird es eine natürliche Magie und Mantik geben, weil alles in einem natürlichen Zusammenhang steht und das Ganze eine Mannigfaltigkeit von Kräften ist, die einander auf die vielfachste Weise anziehen und abstoßen und durch eine Kraft zu einem Leben vereinigt werden.[819]
Alle Seelen samt der Weltseele sind Amphibien, welche sich bald dem Sinnlichen zuwenden und mit ihm verflochten an seinen Schicksalen teilnehmen, bald ihrem Ursprunge, der Vernunft, anhängen und mit ihr vereinigt werden. Die Seele spaltet sich, indem ihre niederen Teile immer weiter abwärts steigen, während die besseren bis über den Himmel hinausragen.[820]
Die Einkörperung der Seele wird dadurch bewirkt, daß sie dem Körper etwas abgiebt, ohne deswegen ihm anzugehören. Deshalb nimmt auch nur der mit dem Körper vermischte Teil der Seele an ihrem Leiden teil. Die bösen Regungen entspringen nur diesem Teil, weshalb auch die Strafen nur dies zusammengesetzte Wesen, das belebte Tier oder das Scheinbild der Seele, nicht aber den eigentlichen Menschen treffen und berühren. Da nun die Seele um so gröbere Hüllen anzieht, je mehr sie sich dem Niedern zuwendet, und da die Strafen nur die äußern Hüllen treffen, so muß der eigentliche Mensch durch ein wiederholtes Leben gereinigt werden, in dessen Zwischenräumen die Hüllen an besonderen Orten der Qual vernichtet und gereinigt werden, währenddem die reine Seele zum Vater hinaufsteigt, und wieder zur Erde herabkommt, wenn der geeignete Zeitpunkt einer neuen leiblichen Existenz naht.[821]
Unser Verstandesdenken lehnt sich an Begriffe und Begriffserklärungen an, welche durchaus nicht die wahre Grundlage der vollkommenen Einsicht sind, weil sie zu viel Gemeinschaft mit dem verständigen Denken und dem Sinnlichen haben. Darum muß sich die Seele in das Begrifflose flüchten und sich entschließen, jeden Begriff und jede Erkenntnis aufzugeben, wenn sie zum Urersten gelangen will, denn das Eine ist eine unbegreifliche Kraft. Wir müssen uns frei machen von der Mannigfaltigkeit der Gedanken, welche uns zum Sinnlichen führen, sowie von jeder Rede; denn das, was über das All erhaben ist, geht auch über die Rede und die ehrwürdigste Vernunft hinaus; wir widersprechen uns, wenn wir von ihm etwas aussagen. Nur durch ein unmittelbares 789Schauen, nur durch Gegenwart kann das Eine gewonnen werden. Das Schauen ist besser als Wissenschaft, denn alle Wissenschaft ist eine Vielheit und nicht die wahre Einheit, welcher allein das Gute zukommt.[822]
Es giebt zwei Wege, um die Menschen zum Schauen des Einen, Ersten und Höchsten hinzuführen. Man muß erstens die Ursache zeigen, warum die Seele jetzt solche Dinge schätzt und man muß sie zweitens über ihren Ursprung und ihre Würde belehren. Mit dem letzteren muß man anfangen, denn es geht daraus auch die erste Belehrung hervor. Es bringt uns auch dem Ziele aller Nachforschung nahe und führt uns auf dieser Laufbahn eine beträchtliche Strecke weiter. Denn das Forschende ist die Seele, welcher das Anschauen nicht gelehrt und gegeben werden kann, was vielmehr durch ihre eigene Anstrengung zu Stande gebracht werden muß. Gelangt der Mensch nicht zu dieser Anschauung, so empfängt er auch nicht das wahre Licht, welches die ganze Welt erleuchtet, er wird nicht davon affiziert und hat gleichsam nicht das Gefühl der Liebe, durch welches der Liebende sich im Anblick seiner Geliebten verliert. Zwar ist das Eine von keinem entfernt, wohl aber jedem gegenwärtig oder nicht. Gegenwärtig ist es nur denen, welche fähig und vorbereitet sind, dasselbe zu empfangen, zu berühren und zu umfassen durch die Ähnlichkeit und Verwandtschaft des von ihm empfangenen Vermögens. Ist mit einem Wort, die Seele so beschaffen wie damals, als sie von dem Einen entsprossen war, dann kann sie das Eine in der Art anschauen, wie es seiner Natur nach angeschaut zu werden vermag. Ist Einer wegen der ihm anklebenden, die Seele belastenden Hindernisse, oder weil die Vernunft nicht gehörig den Weg zeigt und die Überzeugung von jenem Wesen hervorbringt, noch nicht dahin gelangt, der messe sich selbst die Schuld bei und suche sich von allem loszureißen und völlig Eins zu sein.[823]
Willst du dies Eine aber durch dein Denken finden, so mußt du dein Denken von allen andern außer dir abstrahieren, weil es kein Merkmal mit irgend einem Gegenstand gemein hat. Soll 790die Seele es ganz und rein umfassen, so muß sie sich von allen Eindrücken, Figuren, Gestalten und Formen gereinigt haben; sie muß nichts, auch sich selbst nicht denken. Gott ist allen zugegen, auch denen, die ihn nicht erkennen. Aber sie fliehen ihn, sie treten aus Gott oder vielmehr aus sich selbst heraus. Sie können also den nicht erfassen, den sie fliehen, sie suchen nach einem anderen, nachdem sie sich selbst verloren haben.[824]
Schreitet die Seele auf dem Wege fort, daß sie der Vereinigung mit Gott teilhaftig wird, und erkennet sie, daß sie die wahre Urquelle des Lebens hat und keines Dinges mehr bedürfe, sondern vielmehr alles andere von sich legen und nur allein in ihm sein und leben und selbst das sein müsse, was das Eine ist; strebt sie, aus diesem irdischen Sein zu entfliehen, um Gott ganz und mit jedem Teil zu umfassen: dann kann sie sich und ihn schauen, so weit nämlich dieses Schauen überhaupt möglich ist. Sie sieht sich nämlich als verklärt, erfüllt mit dem übersinnlichen Lichte, oder vielmehr als das reine, schwerelose leichte Licht selbst, als einen gewordenen oder vielmehr seienden Gott, der jetzt hervorstrahle, aber dann verdunkelt werde, wenn das Licht wieder seine Schwere erhält.[825]
Warum bleibt aber die Seele nicht auf dieser hohen Stufe stehen? Weil sie noch nicht ganz aus dem Irdischen heraus gegangen ist. Doch ist auch ihr zuweilen ein ununterbrochenes Anschauen vergönnt, wenn sie gar keine Störungen mehr von dem Körper erhält. Nicht das Subjekt der Anschauung, sondern das andere ist es, was stört; denn das Anschauende ist bei dem Anschauen ganz unthätig, Denken und Schließen ruhen. Das Anschauen und das Anschauende sind nicht mehr Vernunft, sondern stehen vor und über der Vernunft wie das Angeschaute selbst. Schaut sich die Seele so an, so wird sie inne werden, daß sie mit dem Angeschauten eins und völlig einfach geworden ist. Denn das Objekt und Subjekt sind jetzt nicht mehr zwei, auch unterscheidet sich die Seele nicht; die Seele ist auch nicht mehr sie selbst, sondern sie wird das, was sie angeschaut; sie geht in das Objekt 791über, sowie ein Punkt in Berührung mit einem Punkte ein Punkt ist und nicht zwei, sondern nur in der Getrenntheit als zweiter existiert. Darum ist auch dieser Zustand etwas Unbegreifliches. Denn wie soll man dem Andern das Angeschaute als etwas Verschiedenes verständlich machen, da es, als man es anschaute, nicht verschieden, sondern mit dem Subjekt identisch war.[826] – Insofern nun die Seele in inniger Vereinigung das Eine angeschaut hat, trägt sie selbst das Bild des Einen in sich, wenn sie wieder zu sich selbst kommt. Sie war aber auch selbst das Eine und fand nicht die geringste Differenz in Beziehung auf sich und andere Dinge. Denn in ihr war keine Bewegung, kein Gefühl, keine Begierde nach etwas anderem, indem sie in diesem Zustand der Erhöhung war, auch kein Denken und kein Begreifen. Sie war nicht mehr sie selbst, wenn man so sagen darf, sondern aus sich gerissen, entzückt, in einem bewegungslosen Zustande, in ihrem eigenen Wesen ruhend, zu nichts sich hinneigend, sondern völlig ruhend und gleichsam die Ruhe selbst; nicht mehr selbst etwas von dem Schönen, sondern das Schöne schon übersteigend, auch schon über die Fülle der Tugenden hinaus, sowie einer, der in das Allerheiligste eingegangen und die Statuen des Tempels hinter sich gelassen hat, welche dann, wenn er wieder herauskommt, die ersten Anschauungen sind, die sich in ihm wiederum darstellen. Dieses sind der Ordnung nach die zweiten Anschauungen nach der ersten innigen Anschauung und Vereinigung, deren Gegenstand kein Bild ist. Doch vielleicht ist dieses nicht einmal Anschauung, sondern eine andere Art des Sehens, ein Heraustreten aus sich selbst, eine Vereinfachung und Erhöhung seiner selbst, ein Ringen nach Berührung und Ruhe. Indem aber die Seele aus sich selbst herausgeht, geht sie nicht etwa in das Nichtreale; aber in der entgegengesetzten Richtung kommt sie nicht in etwas anderes, sondern in sich selbst, und ist nur in sich selbst; sie ist gewissermaßen nicht mehr Wesenheit, sondern noch über die Wesenheit erhaben.[827]
Dies sind – soweit sie sich aus den ziemlich zusammenhanglosen Enneaden zusammenstellen lassen – die Grundzüge von Plotins Philosophie. Im nächsten Kapitel werden wir uns zu den späteren Neuplatonikern wenden, deren Leben sowie deren Lehren und Beobachtungen vom höchsten Interesse sind angesichts der neuerdings wiederum begonnenen Erforschung des übersinnlichen Seelenlebens.
Der bedeutendste unter den Schülern des Plotin war der im Jahre 233 n. Chr. zu Batanea in Syrien geborene Malchus Porphyrius, welcher bis zu seinem dreißigsten Lebensjahre in der Rhetorik, Grammatik und neuplatonischen Philosophie von Longinus unterrichtet wurde. Als er 263 nach Rom kam, begann er mit Plotin einen Streit über die Ideeenlehre des Plato, wurde aber von Plotins Schüler Amelios widerlegt und zu einem der eifrigsten Anhänger seines früheren Gegners gemacht. Nachdem Porphyrius sechs Jahre als Schüler Plotins zu Rom gelebt hatte, ging er, weil ein Anfall tiefer Melancholie einen Ortswechsel für ihn wünschenswert machte, nach Sizilien, wo er bis zu dem 270 erfolgten Tode des Plotins blieb. Hierauf kehrte er nach Rom zurück und verweilte daselbst bis zu seinem Ende im Jahre 304 n. Chr.
Das äußere Leben Porphyrius verlief noch ereignisloser als das des Plotin; er rühmt sich auch, nur ein einziges Mal im 68. Lebensjahre der Vereinigung mit Gott gewürdigt worden zu sein, während seinem Lehrer diese glückliche Ekstase (welche wir uns ähnlich wie die der Yogis und Fakire zu denken haben) viermal widerfahren sei.[828]
Schriftstellerisch wirkte Porphyrius durch die Herausgabe der plotinischen Enneaden; durch eine kurze Aufstellung der Hauptlehrsätze 794der neuplatonischen Schule, seine Sentenzen; durch seine bekannte Schrift über die Enthaltung vom Tierfleisch; endlich durch seine Biographie des Plotin und den berühmten Brief an den Priester Anebo.
Das Hauptbestreben des Porphyrius ist der sittlichen Übung zugekehrt, welche uns von den leidenden Stimmungen der Seele befreien soll; diese betrachtet er als die schrecklichsten und gottlosesten Tyrannen, von welchen wir uns selbst mit Verlust unseres ganzen Körpers losmachen sollen. Mithin ist auch bei Porphyrius die Askese der Weg zur Vollendung der höchsten menschlichen Aufgabe. Er sagt darüber[829]: Die eingekörperte Seele ist einem Reisenden ähnlich, der sich lange unter fremden Völkern aufgehalten und nicht nur seine vaterländischen Sitten verlernt, sondern auch ausländische angenommen hat. Wenn dieser in seine Heimat zurückkehren und von seinen Freunden und Verwandten gütig aufgenommen werden will, so bemüht er sich, alles Fremde, welches sich ihm während seiner Entfernung angehängt hat, abzulegen, um seine ehemalige Art zu denken und zu leben wieder zu erhalten. Auf eben diese Weise muß die in den Körper verbannte Seele, wenn sie sich zu ihrem himmlischen Vaterland erheben will, alles ausziehen, was sie von sterblicher Natur an sich genommen hat und was die Ursache ihrer Verweisung oder ihres Herabsinkens in die Materie geworden ist. Sie muß sich bemühen, nicht nur die äußere gröbere Decke, sondern auch die innern Hüllen, in welche sie gekleidet ist[830], allmählich auszutrocknen und abzuwerfen, damit sie leicht und gleichsam nackt in die ewige Wohnung der Seligkeit eingehen kann.
Es giebt zwei giftige Zauberquellen, aus welchen der Mensch eine gänzliche Vergessenheit seines ehemaligen und gegenwärtigen Zustandes und seiner wahren Bestimmung trinkt, nämlich sinnlicher Schmerz und sinnliche Lust. Durch beide, vorzüglich aber durch letztere und die aus ihnen entspringenden Begierden und Leidenschaften, wird die Seele gleichsam verkörpert und wie durch eben so viele Hefte oder Nägel an den Leib geschmiedet; auch das aus 795der Luft gewebte Vehikel der Seele wird durch sie gemästet und schwerer gemacht. Man muß daher alles vermeiden, wodurch Sinnlichkeit gereizt wird, weil da, wo Sinnlichkeit herrscht, die lautere Vernunft und der reine Verstand absterben. Man muß also nie zum bloßen Vergnügen, sondern nur zur äußersten Notdurft essen und trinken, weil überflüssige und besonders tierische Nahrung die Seele fester an die Materie bindet und von der Gottheit wie den göttlichen Dingen abzieht. – Als ein Priester der Gottheit suche sich der Weise in ihrem großen Tempel, der Welt, vor aller Befleckung zu bewahren und vergehe sich nie so weit, daß er, der sich so oft dem Vater des Lebens naht, selbst ein Grab toter Körper werde. Er friste daher sein leibliches Leben allein durch den Genuß der reinen Geschenke, welche ihm die mütterliche Erde darbietet. Noch ähnlicher würden wir Gott werden, wenn wir auch die Pflanzen schonen könnten und ihrer Nahrung nicht bedürften.
Ebenso wie vor dem Fleisch scheuten sich die Neuplatoniker vor dem Wein und vor dem Geschlechtsgenuß, weshalb auch die meisten unvermählt blieben. Nur Porphyrius hatte zu Rom eine gewisse Marcella, die Witwe eines seiner Freunde geheiratet, aber wie sein Biograph Eunapius bemerkt, „nicht um seines eigenen Vergnügens willen, oder um Kinder zu zeugen, sondern um den Kindern seines verstorbenen Freundes eine anständige Erziehung zu geben“. Daß derartige, wenn auch ursprünglich edeln Motiven entstammende, so doch alle Lebensverhältnisse auf den Kopf stellende Bestrebungen im lebenslustigen klassischen Altertum nicht viel Freunde fanden, liegt auf der Hand; daß aber eine solche Hyperaskese ebenso wie das der gleichen Zeit entstammende christliche Mönchswesen überhaupt Boden fassen konnte, ist psychologisch nur als Reaktion gegen den wüsten Taumel der Kaiserzeit zu erklären.
In den Sentenzen, worin Porphyrius die Lehre seiner Schule zusammenfaßt, hebt er ganz besonders den Unterschied zwischen dem Unkörperlichen und Körperlichen hervor. Das Unkörperliche beherrscht das Körperliche und ist daher, obgleich nicht im Raum, so doch seiner Kraft nach überall gegenwärtig; das körperliche Sein kann dasselbe nicht hindern, den Körpern gegenwärtig zu sein, welchen es will. Daher hat auch die Seele das Vermögen, überallhin 796ihre Kraft auszustrecken; sie ist von unendlicher Kraft, und ein jeder Teil derselben, wenn er von Vermischung mit der Materie rein ist, vermag alles und ist überall gegenwärtig. – Die Dinge wirken nicht nur durch Berührung in der Nähe, sondern auch in der Entfernung, sofern sie eine Seele haben, welche als Unkörperliches vom Körper nicht eingeschlossen sein kann wie das Wild vom Tiergarten oder eine Flüssigkeit von einem Schlauche. – Wegen der wesentlichen Einheit und Identität mit dem höchsten kann die Seele durch ihre ins Unendliche gehende Thätigkeit alles bewirken, alles erfinden. Daher vermag selbst eine individuelle Seele alles, wenn sie vom Körper gereinigt wird.[831]
Porphyrius blieb wie Plotin noch bei der Entgegensetzung des Körpers und der Seele stehen, und kam daher auch nicht dazu, über die Möglichkeit eines Astralleibes eingehendere Spekulationen anzustellen. Berücksichtigen wir aber die beiden obigen Stellen und bedenken wir auch, daß Porphyrius von einem πνευμα oder Luftkörper spricht, an welchen die Seele der Dämonen gebunden ist, so wird es wahrscheinlich, daß auch ihm schon die Idee eines Astralleibes dunkel vorschwebte, die dann von den spätern Neuplatonikern weiter ausgebildet wurde.
Seine Dämonologie entwickelt Porphyrius in seiner Schrift De Abstinentia.[832] Er teilt die Dämonen in menschenfreundliche, gute, und menschenfeindliche, böse. Beide sind mit einem feinen geistigen aber veränderlichen und vergänglichen Körper bekleidet und unterscheiden sich noch dadurch, daß die guten Dämonen stets Meister ihres Körpers bleiben, während die bösen von ihm beherrscht werden. Erstere sind als die Beschützer von Menschen, Tieren und Gewächsen, als Regierer der Jahreszeiten, die Lehrer nützlicher Künste und Beschäftigungen, als Verkünder der Zukunft und Geber aller irdischen Güter zu verehren; die letzteren hingegen sind die Ursache aller Unfälle, welche den Menschen und Tieren begegnen. Sie verursachen Erdbeben, Überschwemmungen, Seuchen, Hungersnot und suchen die Menschen zu überreden, daß alle diese Übel von den guten aber erzürnten Göttern herrühren. Sie entzünden im Menschen alle unmäßigen gehässigen Begierden 797und Leidenschaften, reizen ihn zu Ausschweifungen, Aufruhr und Krieg und verführen ihn zu Tieropfern, von deren fetten Dämpfen sie sich mästen. Darum muß sich auch ein weiser Mann vor dem Schlachten und Opfern empfindender Geschöpfe hüten, damit er nicht böse Dämonen herbeilocke und an sich ziehe.
Bei der Betrachtung dieser in kurzen Zügen dargestellten Dämonologie würde man versucht sein zu glauben, daß Porphyrius ein jedes ins Gebiet des Transscendentalen gehörende Phänomen für eine Äußerung der Thätigkeit guter oder böser Dämonen ansähe; und doch regt er mit einer schon von Jamblichus gerügten Inkonsequenz in seinem Brief an Anebo Spekulationen ganz entgegengesetzter Art an und sucht – wovon wir schon oben einen Beweis hatten – die Ursache aller „mystischen“ Erscheinungen in einer fernwirkenden und fernsehenden Kraft der Seele. Der Brief an Anebo kann als erster schüchterner Versuch einer Psychophysik gelten.[833]
Porphyrius richtet diesen Brief an den Phthapriester Anebo, und verlangt von diesem Auskunft über eine große Menge zweifelhafter, die griechische Theologie betreffender Fragen, welche in der Mehrzahl nur noch historisches Interesse besitzen und Teilnahme für die kühne Skepsis des Verfassers erregen. Vor allen Dingen erregt dem Porphyrius die Behauptung Bedenken, daß sich die mächtigen Götter und Dämonen durch Magie zwingen lassen sollten, den Menschen zu manchmal recht nichtigen und sündigen Diensten zu stehen. Er sagt: „Mich bringt vorzüglich das in Verlegenheit, wie die Götter und Geister, welche als mächtigere Wesen herbeigerufen werden, sich doch wie schwächere befehlen lassen. – Sind die Götter von allen Leiden frei, so sind ihre Anrufungen, Beschwörungen &c. eitel und vergebens; noch mehr aber die theurgischen Mittel, durch die man sie zwingt. Was keinem Leiden (Affiziertwerden) unterworfen ist, kann auch nicht gezwungen werden. Wie vieles geschieht nun nicht in den theurgischen Zeremonien, was die Götter und Dämonen als leidend darstellt?“
Am wichtigsten sind die Auslassungen des Porphyrius über die Divination, welche ihm – ganz im Gegensatz zu seinem Zeitalter – durchaus keine Thätigkeitsäußerung der Götter und Dämonen, 798sondern des Menschengeistes zu sein scheint. „Das räumliche und zeitliche Fernsehen, Mantik, kann aus ganz natürlichen Ursachen geschehen, denn weil die ganze Natur in Wechselwirkung steht, so braucht nur der innere Funke geweckt zu werden, um die Teile den Ganzen zu überschauen. Dies ist eine natürliche Eigenschaft des Menschen, welche sich unter gewissen Umständen entwickelt.“
„Was geschieht in der Mantik? Oft stellen wir uns im Schlafe durch Träume das Künftige vor, ohne daß wir in einer Ekstase sind, denn der Körper liegt ruhig; aber gleichwohl begreifen wir das Künftige nicht so wie im wachen Zustande.“
„Viele sehen das Künftige durch Begeisterung und göttliche Eingebung voraus; sie wachen zwar, und ihre Sinne sind thätig, aber sie begreifen sich selbst nicht oder wenigstens nicht so wie in einem wachen Zustande.“ (Ekstase.)
„Von denen, welche außer sich sind, werden einige begeistert, wenn sie Zymbeln, Pauken oder gewisse Lieder hören, wie die Korybanten, die in die Mysterien des Bacchus Sabazius und der Göttermutter Eingeweihten; andere, wenn sie ein gewisses Wasser trinken, wie die Priester des Apollo Klarius zu Kolophon; andere, wenn sie über den Öffnungen gewisser Höhlen sitzen, wie die delphischen Priesterinnen; andere durch die Dünste, welche aus dem Wasser aufsteigen, wie die Priesterinnen des Branchidischen Orakels; andere, wenn sie auf Charakteren stehen, wie diejenigen, welche Eingebungen erhalten. Andere sind ihrer selbst im übrigen bewußt, aber ihre Phantasie ist begeistert, wobei bald die Finsternis, bald gewisse Getränke, bald gewisse Wortformeln und Umstände mitwirken. Einige werden an einem verschlossenen, andere an einem freien oder von der Sonne beschienenen Ort begeistert. Einige verschaffen sich durch die Eingeweide der Opfertiere, andere durch Vögel, andere durch die Kenntnis des Himmels den Blick in die Zukunft.“
„Ich frage also: wie und wodurch wird die Mantik bewirkt? Alle Wahrsager[834] behaupten, ein Vorherwissen des Künftigen sei uns durch Götter oder Dämonen möglich, und es könne kein Wesen das Künftige wissen, wenn es nicht Urheber desselben sei. 799Dann wundert mich aber, wie sich die göttliche Natur zum Dienst der Menschen herablassen kann, daß es auch Wahrsager durch das Mehl giebt?“
„In Rücksicht auf die Ursachen der Mantik ist es ein Problem, ob Gott oder ein Engel[835] oder Dämon oder wer sonst bei den Erscheinungen, Wahrsagungen und allen religiösen Handlungen gegenwärtig ist, durch uns selbst, durch die zwingende Kraft der Anrufungen oder des Citierens herbeigezogen wird.“
„Ist es nicht vielleicht die Seele, welche dieses voraussagt und sich vorstellt, wie einige sagen, so daß es Veränderungen der Seele sind, welche durch kleine Funken erweckt werden?“
„Vielleicht ist die Wahrsagung ein gemischter Vorgang, welcher zum Teil durch unsere Seele, zum Teil von außen durch Eingebung bestimmt ist.“
„Ob nicht die Seele durch solche Bewegungen und Funken das Vermögen, das Künftige sich vorzustellen, in sich erzeugt? Ob nicht das aus der Materie, vorzüglich der Tierwelt, in uns Aufgenommene durch seine inneren Kräfte Dämonengebilde darstellt und konstituiert?“
„Daß ein gewisser Zustand der Seele Ursache der Mantik ist, erhellt daraus, daß die Sinne gebunden und unterdrückt sind, daß gewisse Dünste und Dämpfe und die Citationsformeln gebraucht werden, daß nicht alle Menschen, sondern nur zartere und jüngere zur Mantik am tauglichsten sind.“
„Daß eine gewisse Verrückung des Verstandes die Ursache der Mantik ist, beweist der Wahnsinn und die Verrücktheit in Krankheiten, das Fasten, die durch Ergießung gewisser Säfte im Körper oder durch krankhafte Bewegungen des Körpers entstandenen Einbildungen. Der Mittelzustand beweist es, wo man nicht recht bei sich und auch nicht recht außer sich ist, endlich die durch Magie künstlich hervorgebrachten Vorstellungen.“[836]
„Die Natur, die Kunst, die natürliche Verbindung der Teile des Universum, daß sie gleichsam ein großes Tier ausmachen, bietet 800gewisse Vorhersagungen künftiger Begebenheiten und ihrer Folge dar. Es giebt Körper, welche so beschaffen sind, daß der eine die Vorstellung einer künftigen auf einen andern Körper sich beziehenden Begebenheit erweckt.“
Dies ist der Inhalt des Briefes an Anebo, soweit er für uns von Wichtigkeit ist. Im folgenden verbreitet sich der Verfasser über jetzt unwesentliche mythologisch-theurgische Spitzfindigkeiten, deren Wiederholung zwecklos wäre; jedoch wollen wir nicht unterlassen zu erwähnen, daß die Neuplatoniker, wie die Spiritisten von der strikten Observanz, Esprits menteurs kannten, wie folgende Stelle des anebontischen Briefes beweist: „Einige behaupten, außer uns sei eine Gattung von Wesen, welche unsere Wünsche erhören und von betrüglicher Natur sind, alle Gestalten und Formen annehmen, die Rolle der Götter, Dämonen und abgeschiedener Seelen spielen und dadurch alle scheinbaren Güter und Übel hervorbringen können.“
Diese Lehre griff auch Jamblichus auf und bildete sie in seinem berühmten Werk De mysteriis Aegyptiorum weiter aus.
Vom äußeren Leben des Jamblichus wissen wir trotz der ziemlich ausführlichen Biographie des Eunapius sehr wenig und zwar nur, daß er aus Chalkis in Cölesyrien gebürtig war, im Orient viele Schüler um sich versammelte und im Jahre 333 starb. Er stand bei seinen Zeitgenossen, welche ihn nur den „göttlichen“ nennen, wegen seiner Wunder in hohen Ehren. So soll er beim Beten nach der Erzählung des Eunapius sich über zehn Ellen hoch in die Luft erhoben haben, wobei er in einem goldfarbenen Lichte erglänzte. In den heißen Bädern zu Gadara soll er vor den Augen seiner Schüler aus Wasserdampf die Knabengestalten des Eros und Anteros haben entstehen lassen, welche sich dann an ihn, wie an ihren Vater schmiegten und wieder zerflossen. (Wenn diese Erzählung einen historischen Hintergrund hat, was sich wegen Mangels genauerer Nachrichten nicht entscheiden läßt, so hätten wir in ihr vielleicht „Materialisation“ zu sehen.)[837] Endlich aber soll Jamblichus fernsehend gewesen sein und seinen Schülern, als er an einem Sommerabend mit ihnen nach der Stadt zurückkehrte, (nach welcher sagt Eunapius nicht) gesagt haben, daß der Weg 801durch eine auf demselben zu Grabe getragene Leiche verunreinigt worden sei, was sich nachher bestätigte. – Das ist alles, was man vom Leben Jamblichus weiß.[838]
In seiner Schrift De mysteriis Aegyptiorum sucht derselbe alle von Porphyrius im Briefe an Anebo gestellten Fragen im Namen des Priesters Abammon zu beantworten. Er verteidigt alle Gebräuche der Magie im allgemeinen wie der Theurgie im besonderen als Mittel zu der über allen Verstand gehenden Anschauung des Höchsten, und läßt die ganze ägyptisch-griechisch-römisch-hebräische Götter-, Dämonen- und Engelwelt vor unsern erstaunten Augen Revue passieren.
Wenn Porphyrius behauptete, die Götter würden durch den Gehorsam gegen die magische Einwirkung des Theurgen in einen leidenden Zustand versetzt, so macht ihm Jamblichus den Vorwurf, daß er dabei einen Unterschied zwischen dem Leidenden und dem Leidenlosen mache, welcher auf die höhern Wesen nicht passe. Die Lehre von der mystisch-theurgischen Vereinigung mit dem absolut Guten dehnt er so aus, daß daraus auch die „Henosis“ mit allen höhern Wesen folgt, für deren Dasein kein Beweis erbracht zu werden brauche, weil wir dasselbe eben unmittelbar durch die Vereinigung erfahren.[839] Die Götter sind nicht nur im Himmel, sondern überall, teilen sich also auch dem Theurgen mit und belehren ihn über ihr Wesen und ihre Verehrung. Auf diese göttliche Mitteilung, welche Hermes den Priestern machte, werden alle Mysterien mit ihrer geheimen Bedeutung zurückgeführt.[840] Darauf beruht auch der heilige Enthusiasmus, in welchem der Mensch nicht mehr das tierische, nicht mehr das menschliche, sondern ein höheres Dasein lebt, wie Jamblichus an Beispielen zeigt, welche beweisen, daß er die Abänderung der organischen Gesetze sehr gut kennt, welche magisch-mediumistische Zustände im Gefolge haben. Er spricht[841] von den vom „göttlichen Hauch Berührten“, welche vom Feuer weder Brandwunden noch Schmerzempfindung erleiden; welche es nicht fühlen, wenn sie durch Schwerter, Beile, Lanzen und Messer 802verwundet werden; die ohne Schaden zu nehmen ins Feuer fallen oder – wie der Priester bei den castabalischen Festen – auf wunderbare Weise über Flüsse schwimmen. Im (folgenden) 5. Kapitel schildert Jamblichus noch einige fein beobachtete Merkmale der Ekstase: „Einige von den Begeisterten werden am ganzen Leibe bewegt, einige an gewissen Gliedern, andere hingegen bleiben völlig in Ruhe, zuweilen vernahmen sie eine wohlgeordnete Musik, einen Tanz oder harmonischen Gesang, zuweilen das Gegenteil; zuweilen scheint ihr Körper in die Höhe zu wachsen, zuweilen in die Breite, zuweilen scheint er in der Luft zu schweben. Zuweilen vernehmen sie eine wohlklingende Stimme und wiederum durch Zwischenräume oder Stillschweigen getrennte Töne und vieles andere.“[842]
Die Vereinigung mit dem Göttlichen beruht wesentlich darauf, daß die vom Körper abgetrennte Seele leidenfrei ist. Selbst wenn sie in den Körper hinabsteigt, leidet sie nicht, noch auch ihre Gedanken, welche Ideeen, d. h. geistige Wesenheiten sind. In ihnen sind wir mit den Göttern vereinigt. Die innige Vereinigung aber zwischen der menschlichen Seele und Gott vermag kein Gedanke auszudrücken. Der, welcher dieses göttliche Werk vollzieht, ist nicht verschieden von dem, auf welchen er es richtet, von der Gottheit, es ist kein Unterschied vorhanden von dem Rufenden und dem Gerufenen, dem Befehlenden und dem Ausführer der Befehle, zwischen dem Höheren und Geringeren.[843]
In dieser Weise spricht sich Jamblichus ganz übereinstimmend mit den indischen Mystikern aus. Es heben sich auf diese Art alle Zweifel des Porphyrius über die Macht, welche die Theurgen über die Götter ausüben würden. Die Götter werden nicht zu uns herabgerufen, sondern wir heben uns durch Askese, Gebet, Betrachtung und Anrufung zu ihnen empor. Die alles zusammenhaltende Liebe verbindet uns mit ihnen.[844]
„Wenn die Seele sich mit den Göttern zu vereinigen strebt, so erhält sie die Macht und Fähigkeit alles zu erkennen, was war und was sein wird, sie durchschaut alle Zeiten, betrachtet alles in ihnen Geschehende und ordnet es in gebührender Weise; sie empfängt 803die Macht zu heilen und zu verbessern. Kranke Körper heilt sie und richtet es zum Guten, wenn die Menschen Unordnungen und Fehler begehen. Sie erfindet Künste, spricht Recht und erfindet Gesetze. So werden im Tempel des Aeskulap durch göttliche Träume Heilmittel offenbart. – Das ganze Heer Alexanders wäre zu Grunde gegangen, wenn nicht nächtlicherweile Dionysius erschienen wäre und Heilmittel gegen das schwere Übel gezeigt hätte.“[845]
Wie man sieht, kannte Jamblichus den Somnambulismus in seinem ganzen Umfang und legte besonders Wert auf dessen heilend wirkende Äußerungen, auf den „Traum als Arzt“, wie sie du Prel kurz und treffend bezeichnet.
Alle Mantik ist eine Gabe der Gottheit, und die menschliche Seele besitzt an sich keine intuitiven Fähigkeiten, sondern nur die Gabe, sich mit der Gottheit vereinigen zu können und dann in und mit ihr das Geschehende zu erschauen. Es giebt aber auch eine trügerische Pseudomantik, bei welcher die Idole trügerische Bilder in Spiegeln hervorrufen. Diese Idole sind Schattenbilder, welche auf wunderbare Weise (fabrica prodigiosa) durch den Lauf des Himmels und nicht durch die menschliche Seele, welche tierische Materie in sich aufgenommen hat, geschaffen werden. Jamblichus bestreitet hierin die obige Annahme des Porphyrius, die menschliche Seele sei göttlicher Natur und könne nur Wahres und Gutes schaffen; auch nähren sich die Idole nicht vom Dampf der Materie, sondern werden durch Räucherungen vertrieben.[846]
Jamblichus war der erste Neuplatoniker, bei welchem sich die sichere Spur von der Annahme eines Astralleibes findet. Er schreibt diesem auch die Vermittelung des divinatorischen Vermögens zu, indem er von der künstlich bewirkten Mantik spricht. Er sagt[847]: „Diese ganze so vielgestaltige Gattung der Mantik kann man – wie irgendwo gethan – mit dem Begriff Erleuchtung bezeichnen, denn sie erfüllt mit göttlichem Licht das ätherische und glänzende Vehikel (αὐγοειδὲς ὄχημα), welches die Seele umgiebt.“ Hier finden wir auch zum erstenmale den Körper der Seele als eine Art Licht bezeichnet, ein Gedanke, welcher, wie wir bald sehen werden, von den späteren Neuplatonikern weiter ausgebildet wurde.
Die bis in den modernen Spiritismus hinein spukende Lehre der Truggeister wurde zuerst von Jamblichus († 333), aufgenommen, welcher die Einmischung der Truggeister von theurgischen Kunstfehlern abhängig macht, indem er in seiner den Brief an Anebo beantwortenden Schrift De mysteriis Aegyptiorum sagt[848]:
„Götter, Engel und gute Dämonen erscheinen nur unter angenommenen wahren Bildern; denn so wesentlich das Licht mit der Sonne vereinigt ist, so wesentlich ist mit ihnen Wahrheit, Güte und Vollkommenheit verbunden. Die bösen Dämonen bedienen sich aber öfter falscher Bilder, um in höherem Rang zu erscheinen und die Theurgen zu täuschen. – Wenn etwas in der theurgischen Kunst versehen worden und anstatt der verlangten wahren Erscheinungen falsche zum Vorschein kommen, so nehmen in diesem Fall die untern und unvollkommenen Geister leicht die Gestalt der höhern an. So entstehen oft eine Menge großer und gefährlicher Irrtümer beim Citieren der Geister. Wer solchen falschen Erscheinungen traut, wird in Irrtümer und Täuschungen gestürzt und von der wahren Erkenntnis Gottes abgeführt. Denn warum erscheinen sie? Etwa um denen, die sie citieren, einen Vorteil zu gewähren? Nein, sondern um sie zu hintergehen und ihnen zu schaden, denn aus einer Lüge kann kein Nutzen erwartet werden. Die göttliche Natur, als die ewige Quelle des Seins und der Wahrheit, läßt in kein anderes Objekt ein täuschendes Bild von sich übergehen.“[849]
Im übrigen ist die Schrift des Jamblichus De mysteriis Aegyptiorum nur eine Beantwortung der von Porphyrius in seinem Brief an Anebo aufgeworfenen Zweifelsfragen, worin die Theurgie nicht als Ausfluß philosophischer Spekulation, sondern als Erfahrungswissenschaft, welche die „drastische Vereinigung“ mit Gott und der Geisterwelt hervorbringt und direktes Erkennen im Gefolge hat, dargestellt wird:
„Es giebt eine reale, innige, wirksame Vereinigung mit Gott und der gesamten ihm unterworfenen oder von ihm ausfließenden Geisterwelt der Untergottheiten, Dämonen, Engel, Heroen und Seelen, welche durch keine Vernunfterkenntnis erlangt werden kann, sondern allein durch gewisse geheimnisvolle theurgische Handlungen, Ceremonien und Worte, die eben deshalb, weil diese Wirkungen auf keiner Vernunfterkenntnis beruhen, Symbole und Synthemata (also magische Charaktere &c.) genannt werden, deren Kenntnis und Anwendung durch die Theurgie den Priestern allein als Vorrecht zukommt, ein göttliches Geschenk und Offenbarung ist und deshalb den Menschen weiter aufwärts führt als alle Erkenntnis durch Vernunft und Philosophie.“[850]
Die Götter bilden die höchste und die menschlichen Seelen die niedrigste Stufe in der Geisterhierarchie des Jamblichus; die Mittelstufe nehmen die Dämonen ein.
Die Dämonen sind von den Göttern abhängig und ihrer Natur nach viel geringer und unvollkommener; sie sind Diener der Götter und Vollstrecker ihres Willens. Sie haben einen weiten Wirkungskreis und stellen das Unsichtbare und Unaussprechliche der Götter in Worten und Werken dar, gestalten das Formlose in Formen und offenbaren in Begriffen das alle Begriffe Übersteigende. Sie empfangen alles Gute, dessen sie teilhaftig oder ihrer Natur nach fähig sind, von den Göttern und teilen es wieder den unter ihnen stehenden Geschlechtern der Dinge mit. Somit erfüllen die Dämonen samt den Heroen den Zwischenraum zwischen den Göttern und Menschen und verbinden sie miteinander.[851]
Die verschiedenen Geisterwelten offenbaren sich dem Menschen, welcher im Besitz der wahren Praxis der rechten Theurgie ist, und ihre Erscheinungen sind ihrem Rang nach verschieden.[852] – Sie entsprechen dem Wesen, den Kräften und Wirkungen der verschiedenen Götter- und Geisterarten, wonach sich die Art und Weise richtet, wie sie durch Beschwörungen sichtbar werden, Wirkungen äußern und die ihnen angemessenen Gestalten, sowie die ihnen eigentümlichen Unterscheidungsmerkmale erblicken lassen.
Die Mitteilung dieser charakteristischen Kennzeichen der verschiedenen Geisterklassen ist nun das Prachtstück der theurgischen Weisheit des Jamblichus.
Die Erscheinungen der Götter sind in ihrer Art homogen, die der Dämonen mannigfaltig, die der Engel einartiger als die der Dämonen, jedoch unvollkommener als die der Götter. Die Erscheinungen der Erzengel kommen denen der Götter am nächsten. Die Erscheinungen der Fürsten der Elemente unter dem Mond sind zwar mannigfaltig, aber doch einer gewissen Bestimmtheit und Ordnung nicht entbehrend; die Erscheinungen der Fürsten der Materie jedoch sind mannigfaltiger als jene; die der Seelen sind die mannigfaltigsten.
Die Erscheinungen der Götter bestrahlen das Gesicht mit einem wohlthätigen Licht; die der Erzengel sind zugleich kraftvoll und mild, lieblich die der Engel, furchtbar die der Dämonen, milder die der Heroen. Die Erscheinungen der Fürsten der Elemente betäuben, die der Fürsten der Materie sind widrig und öfter den sie Schauenden gefährlich[853]; die Erscheinungen der Seelen sind denen der Heroen ähnlich, aber schwächer.
Die Götter zeigen in ihren Erscheinungen eine gewisse Stetigkeit und Ordnung, die Erzengel dabei noch eine gewisse Kraft, die Engel Anmut und Ruhe mit einiger Beweglichkeit vereinigt; die Dämonen zeigen stürmische Bewegung und Unordnung, die Weltfürsten (Fürsten der Elemente) eine in sich ruhende Stätigkeit, die Fürsten der Materie Tumult, die der Heroen Nachgiebigkeit gegen die Bewegung, während die der Seelen noch beweglicher sind.
Die Erscheinungen der Götter sind zuweilen so groß, daß sie Sonne und Mond verhüllen, und bei ihrem Herabsteigen ruht die Erde nicht mehr fest. Wenn die Erzengel erscheinen, so werden einige Teile der Welt bewegt, und ein Licht geht als Vorläufer vor ihnen her. Kleiner und beschränkter ist die die Engel begleitende Lichterscheinung, noch kleiner stufenweise die der Fürsten der Welt und der Materie, der Heroen, der Seelen.
Die Bilder der Weltfürsten sind unermeßlich groß, die der Fürsten der Materie prahlerisch und aufgeblasen; die Bilder der Seelen sind ungleich groß, jedoch kleiner als die der Heroen. Überhaupt richtet sich die Größe und Beschaffenheit der Erscheinungen stets nach der Größe der Kräfte oder Gewalten, welche sie repräsentieren. An den Erscheinungen der Götter zeigen sich die Bilder der Wahrheit deutlich, glänzend und bestimmt ausgeprägt. Die Bilder der Erzengel sind wahr und erhaben. Die Engel behalten zwar immer die bestimmte Gestalt, welcher jedoch vollständige Bestimmtheit mangelt. Die Bilder der Dämonen sind undeutlich und noch unbestimmter die der Heroen. Die Bilder der Weltfürsten sind deutlich, die der Fürsten der Materie dunkel und verworren, beide aber gebieterisch. Die Bilder der Seelen sind schattenartig.[854]
In den Göttererscheinungen liegt die Kraft, die Seele vollkommen zu reinigen. Die Erzengel erheben die Seelen, die Engel lösen sie von den Banden der Materie, die Dämonen ziehen sie in das Naturgetriebe herab, die Heroen verwickeln sie in Sorgen und zeitliche Dinge, die Weltfürsten verhelfen ihr zur Herrschaft über die weltlichen und die Elementarfürsten zu der über die materiellen Dinge.[855] Die erscheinenden Seelen streben zur Erzeugung und Fortbildung (also Reincarnation).
Die Götter besitzen die Kraft, die Materie auf einmal zu verzehren; die Erzengel, solche nach und nach aufzuzehren; die 808Engel, von derselben loszumachen und die Menschen davon abzuziehen; die Dämonen, sie täuschend auszuschmücken; die Heroen, ihr das rechte Maß anzupassen; die Weltfürsten zeigen sie in ihrer Erhabenheit; die Fürsten der Materie sind ganz mit Materie erfüllt. Die reinen Seelen kommen von aller Materie rein und die unreinen als von Materie erfüllt zur Anschauung.[856]
Die Gegenwart der Götter schenkt unserm Körper Gesundheit, der Seele Tugend, der Vernunft Reinheit, höhere Kräfte, göttliche Liebe, überschwängliche Freude; sie stellt das, was nicht Körper ist, den Augen der Seele durch die Augen des Körpers dar, als wäre es Körper. Die Erscheinungen der Erzengel gewähren dasselbe, jedoch nicht jedesmal und nicht Allen, ebenso nicht Allen in gleichem Grade. Weiter geben sie intellektuelle Betrachtung und ausdauernde Kraft. – Die Erscheinung der Engel ist von beschränkter Wirkung, denn die Kraft, womit sie erscheinen, steht noch weiter von dem vollkommenen Licht ab, welches alle Kraft in sich erhält. Jedoch gewährt sie uns Weisheit, Forschungstrieb, Tugend, Ordnung und Ebenmaß. Die Erscheinung der Dämonen beschwert den Körper, plagt ihn mit Krankheiten, zieht die Seele in die Natur herab, reißt sie nicht vom Körper und der ihm anhängenden Sinnlichkeit los und befreit nicht von den Banden des Fatum. – Die Erscheinung der Heroen erweckt zu einzelnen großen und edlen Thaten. Die Weltfürsten geben bei ihrem Erscheinen die Güter der Welt[857] und die glänzenden Auszeichnungen dieses Lebens; die Fürsten der Materie dagegen materielle und irdische Güter, Schätze, Geld usw.[858] – Das Anschauen der reinen und in die Ordnung der Engel aufgenommenen Seelen ist für den Geist erhebend und heilsam, es erweckt die heilige Hoffnung und schenkt Alles, wonach diese strebt. Die Erscheinung der unreinen Seele dagegen zieht zum Vergänglichen herab, verdirbt die Kräfte der Hoffnung und erfüllt mit Leidenschaften, welche an den Körper fesseln.[859]
Das Gefolge der Geisterhierarchie richtet sich bei den Erscheinungen 809nach dem Rang und der Würde der erscheinenden Geister. Die Götter erscheinen in der Umgebung der Götter und Erzengel; die Erzengel in der Begleitung von Engeln, welche ihnen als Vorläufer, Diener und Trabanten beigegeben sind. Die guten Dämonen stellen uns die weltlichen Güter dar, mit denen sie uns begaben; die bösen und rächenden Dämonen jedoch die verschiedenen Arten der Übel und Strafen. Außerdem werden sie noch von einem Gewimmel wilder, grauenerregender, schädlicher und blutsaugender Tiere umgeben.[860]
Das Licht, welches die Götter bei ihren Erscheinungen umfließt, ist so fein, daß die Theurgen bei der Anschauung dieses göttlichen Feuers gewöhnlich in Ohnmacht fallen. Auch die Erzengel strahlen ein so feines Licht aus, daß es dem dasselbe Einatmenden beschwerlich fällt. Die Engel dagegen teilen der Luft keine beschwerlichen Eigenschaften mehr mit. Bei der Erscheinung der Dämonen wird die Luft nicht verändert, auch begleitet sie nur so viel Licht, als nötig ist, ihr Bild zur Darstellung zu bringen. Bei der Erscheinung der Heroen werden zuweilen einzelne Landstriche erschüttert, jedoch wird die Luft nicht dünner und für den Theurgen nicht atembar. Die Erscheinung der Weltfürsten umschwärmt auf eine dem Theurgen fast unerträgliche Weise ein Gewühl von weltlichen und irdischen Bildern, ohne daß jedoch die Luft eine merkliche Veränderung erlitte. Bei der Erscheinung der Seelen ist die sie umfließende sichtbare Luft mit ihnen verwandt und nimmt, indem sie sich an sie schmiegt, gleichsam ihre Umrisse an, weshalb sie denn auch luft- und schattenartig erscheinen.[861]
Dies ist der Kern des theurgisch-dämonologischen Systems von Jamblichus, in welchem alle späteren Systeme bis auf Allan Kardecs „Echelle spirite“ vorhanden sind. Ist bei den älteren Theurgen das Streben nach der mystischen Henosis vorherrschend, so tritt bei Jamblichus der eigentliche Geisterverkehr lebhaft hervor, und auch der Verkehr mit den bösen Dämonen wird eingehend besprochen, welcher von jetzt an in aller späteren Theurgie der vorherrschende bleibt.
Der bedeutendste Neuplatoniker der spätern Zeit ist der von lykischen Eltern zu Byzanz 412 geborene Proklus, welcher zu Alexandria und später zu Athen durch den jüngern Plutarch und Syrianos eine gründliche Erziehung genoß. Sein Leben war ganz der neuplatonischen Lehre gewidmet, und nach dem Tode des Syrianos war er dessen Nachfolger und die Hauptstütze seiner Schule. Er zeichnete sich durch große schriftstellerische Thätigkeit auf dem Gebiete der heidnischen Theologie und durch strenge Askese aus. Er nahm bis zu seinem 485 erfolgten Tode monatlich mehrmals reinigende Bäder im Meer, fastete am letzten Tage der Monate und feierte die Zeit des Neumondes aufs prächtigste. Auch beobachtete Proklus genau die heiligen Tage der Ägypter, sang orphische und chaldäische Hymnen und diente den Göttern aller Völker, denn er pflegte zu sagen, der Philosoph solle nicht allein ein Verehrer der Götter seiner Stadt oder einiger Völker, sondern ein Priester der ganzen Welt sein.
Infolge seiner Frömmigkeit gelangte Proklus zur Anschauung allerdings nicht des Einen Höchsten, aber doch der Athene, des Apollo, des Asklepios, der Hekate und der platonischen Ideeen. Er hatte zahlreiche vorbedeutende, oft in Gedichten sich kundgebende Träume, in deren einem ihm offenbart wurde, daß er zur hermetischen Kette der Philosophen gehöre und in früherer Incarnation der Pythagoräer Nikomachos gewesen sei. Sein Gebet war heilkräftig und soll sowohl einen wohlthätigen Regen haben herbeiziehen, wie auch schädliche Erdbeben abwenden können.
Darum genoß auch Proklus bei seinen Anhängern hohe Verehrung. Ein hoher Staatsbeamter mit Namen Rufinus wohnte einstmals einer Vorlesung des Philosophen bei und sah dessen Haupt von göttlichem Lichte umstrahlt. Sobald der Meister aufhörte zu reden, fiel Rufinus vor ihm wie vor einem Gotte nieder und beteuerte mit heiligem Eide sein gehabtes Gesicht.
Da jedoch die Gesetze der christlichen Kaiser gegen die Ausübung der heidnischen Religionen sehr streng waren, so war Proklus genötigt, seine Lehren in geheimer abendlicher Versammlung vorzutragen und mußte sogar einmal eine Zeit lang aus Athen flüchten. – So berichtet sein Schüler Marinos in der Vita Procli.
Von der Philosophie des Proklus können uns nur einige psychologische 811Spekulationen interessieren. Er denkt sich ähnlich den indischen Philosophen der Vedantalehre, die Seele mit feinern und gröbern Hüllen umgeben, welche göttliche, von der ersten unveränderlichen Ursache herrührende, unveränderliche Körper sind, die immer dieselbe Gestalt und Größe haben, obgleich sie durch Zusatz oder Ausscheidung von anderen Körpern veränderlich erscheinen. – Er führt keinen Grund an, weshalb die Seele mit solchen Hüllen umgeben sei, und macht auch weiter keinen praktischen Gebrauch von dieser Annahme außer um gewisse sichtbare Erscheinungen der Seele (die Doppelgänger?) und die Notwendigkeit der Reincarnation zu erklären.
Proklus spricht nur an einigen Stellen seines Alcibiades von der Reincarnation auf eine beiläufige Weise; wahrscheinlich gehörte die Lehre von der Reincarnation zu den esoterisch vorgetragenen. Er sagt: „Wie würde die Seele fehlen und sündigen und sich wieder zum Göttlichen erheben können, wenn nicht sie und ihre Vernunft und die Freiheit ihres Willens an der Vermischung mit den Leiden teil hätten, wenn sie nicht im Zeitlichen wäre und die materiellen Kleider umnähme und wieder ablegte nach gewissen Perioden der Zeit.“[862] Je mehr sich die Seele von den äußeren Hüllen befreit hat, desto höher steigt sie.[863]
Beiläufig verdient noch erwähnt zu werden, daß Proklus die Dämonen in fünf Klassen teilte, welche der schon genannte Psellus noch um eine vermehrte; außerdem machte Proklus einen Geschlechtsunterschied bei den Dämonen, wobei sich wieder orientalischer Einfluß geltend macht.
Kurze Erwähnung müssen wir noch der „allsehenden“ Sosipatra, der Gattin des sonst unbedeutenden Neuplatonikers Eustathius schenken, welche in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts lebte.
Eustathius wählte Sosipatra zu seiner Gattin, ward aber, wie Eunap sich ausdrückt, durch deren unbeschreibliche Weisheit so sehr in Schatten gestellt, daß er an ihrer Seite nicht als 812ein Denker und Philosoph, sondern als ein äußerst unbedeutender Mann erschien. Ihr Vaterland war Asien, die Gegend um Ephesus, welche den Fluß Kayfar bewässerte. Als kleines Kind schon veredelte sie gleichsam alles um sich her durch ihre ausnehmende Schönheit und Schamhaftigkeit, und ihr Vater, der sehr reich war, that alles, was er vermochte, ihr die beste Erziehung zu geben.[864]
„Da kamen“, heißt es nun am eben angeführten Orte wörtlich weiter, „in ihrem fünften Jahre zwei in Pelz gekleidete und große Taschen tragende Greise auf eines der Landgüter ihres Vaters, und überredeten den Verwalter desselben, ihnen die Besorgung des Weinbergs allein zu überlassen.“ Der überaus reichliche Ertrag erweckte den Gedanken bei ihm, es müsse ein Wunder und eine Gottheit dabei im Spiele sein. Der Vater der Sosipatra ehrte die beiden Fremden durch eine treffliche Mahlzeit, und bezeigte seine Unzufriedenheit über die übrigen Arbeiter, daß sie nicht eben so viel Fleiß auf die ihnen obliegenden Zweige der Landwirtschaft gewendet hätten. Hierauf nahmen die Fremdlinge, welche durch die Gestalt und das liebenswürdige Benehmen der beim Mahle anwesenden Sosipatra bezaubert waren, das Wort. „Die übrigen Geheimnisse und Schätze verborgener Weisheit“, sagten sie, „behalten wir für uns. Das alles, was du soeben von uns als eine empfangene Wohlthat, oder als Probe von unserer Geschicklichkeit so sehr rühmtest, ist nur eine Kleinigkeit und ein geringes Kinderspiel im Vergleich mit dem, was wir sonst noch vermögen. Willst du, daß wir dir für die Ehre, welche du uns erzeigest, und für die Geschenke, welche wir von dir empfangen haben, ein Gegengeschenk machen, nicht mit vergänglichen Gütern, sondern mit etwas Höherem, das über dich und dein Leben hinausgeht, und bis an den Himmel und die Sterne reichet, so übergieb uns, als den wahren Eltern und Erziehern, fünf Jahre lang diese Sosipatra. Du sollst und darfst dich aber diese ganze Zeit hindurch nicht um sie bekümmern, noch jenes Landgut auch nur mit einem Fuße betreten. Alsdann wird nach Verlauf dieser Zeit deine Tochter nicht allein ein hochgebildetes weibliches und menschliches Wesen sein, sondern du wirst unfehlbar in ihr auch noch etwas Anderes und Höheres ahnen. 813Hast du nun guten Mut und Vertrauen zu uns, so nimm unseren Vorschlag willig an, bist du aber mißtrauisch, so wollen wir – nichts gesagt haben.“
„Stillschweigend und bestürzt übergab ihnen der Vater hierauf seine Tochter. Dann rief er seinen Verwalter und befahl ihm, den Fremdlingen alles zu reichen, was sie nur immer verlangen würden, und sich um nichts weiter zu bekümmern, machte sich als ein Flüchtiger noch vor Anbruch des Tages auf, und verließ die Tochter und das Landgut. Die Männer, es mögen nun Heroen oder Dämonen, oder noch höhere Geister gewesen sein, nahmen das Mädchen und weiheten es ein – in welche Mysterien? und Wozu? das vermochte niemand, auch der Allerneugierigste nicht, jemals zu erforschen.“
„Als nun die festgesetzte Zeit herum war, kam der Vater auf das Landgut. Er kannte seine Tochter nicht mehr, so außerordentlich hatte sie sich in Absicht auf Größe, Wuchs und äußerliche Schönheit verändert. Auch sie erkannte ihren Vater kaum mehr. Er fiel vor ihr nieder auf seine Kniee, so sehr glaubte er ein anderes Wesen vor sich zu sehen. Jetzt erschienen auch die beiden Lehrer. Du kannst, sagten sie, deine Tochter alles fragen, was du immer willst. Ach! Vater, fiel Sosipatra ihnen in die Rede, frage mich doch etwas, frage mich doch, wie dir's auf dem Wege gegangen ist. Sie erzählte ihm darauf alle Vorfälle, Reden, Besorgnisse, Drohungen u. s. f., kurz alles, was auf der Reise vorgekommen war, so genau, als wenn sie selbst mit in dem Wagen gesessen hätte.“
„Der Vater war ganz außer sich vor Erstaunen, und glaubte fest, seine Tochter sei – eine Göttin. Er fiel vor den Männern nieder und bat, sie möchten doch sagen, wer sie wären (damit er sie auf gehörige Weise verehren könne). Nach langem Zögern, denn so gefiel es vielleicht der Gottheit, sagten sie endlich, aber nur durch dunkle Andeutungen und mit niedergeschlagenem Gesicht, sie wären nicht ganz uneingeweiht in die chaldäische Weisheit. Hierauf fiel er abermals auf seine Kniee und bat, sie möchten doch geruhen, die Herren von dem Gute zu sein, und seine Tochter bei sich zu behalten, um derselben ihre Bildung noch länger angedeihen zu lassen, und sie noch vollkommener einzuweihen. Sie 814nickten mit dem Kopfe, sagten es aber nicht mit Worten zu. Der Vater glaubte indessen, ihr Versprechen erhalten zu haben, und war darüber so froh und vergnügt, als wäre ihm ein Orakelspruch zu teil geworden. Was er aber aus der ganzen Sache machen sollte, das wußte er durchaus nicht. Mit Begeisterung pries er den Homer, daß er ein großes und herrliches Geheimnis ausgesprochen habe in den Worten:
„Denn auch er glaubte von Göttern in Gestalt von Fremdlingen einen Besuch erhalten zu haben. Voll von diesen Gedanken schlief er vergnügt ein. Die Greise aber führten nach der Mahlzeit das Mädchen auf ihr Zimmer, übergaben ihr sorgfältig das Gewand, in welchem sie eingeweiht worden war, nebst noch einigen andern Sachen, ließen ihr ein Kästchen versiegeln und thaten noch einige Bücher hinzu. Sosipatra freute sich ungemein darüber, und liebte überhaupt die fremden Männer wie ihren eigenen Vater.“
„Am folgenden Tage morgens frühe, als die Thüren geöffnet wurden, und jedermann an seine Arbeit ging, gingen auch die zwei Greise, wie gewöhnlich aus, das Mädchen aber lief zu dem Vater mit der fröhlichen Nachricht, und ließ das Kästchen und die Bücher zu ihm tragen. Der Vater erstaunte über die kostbaren Schätze, welche er fand, und ließ die Männer rufen. Aber sie waren nirgends zu finden. Was ist das? sagte er zur Tochter. Nachsinnend eine Weile, erwiderte diese: Ach, jetzt verstehe ich, was sie mir sagten, als sie mir dies Alles mit Thränen in den Augen übergaben. Betrachte dieses öfters, sagten sie, wir werden bald eine Reise auf das westliche Meer machen, und alsdann sofort wieder zurückkehren.“
„Alles dieses beweist offenbar, daß die Fremdlinge Geister oder höhere Wesen waren. Der Vater nahm diese eingeweihte und divinatorische Tochter zu sich, ließ sie ganz nach ihrem Willen leben, und bekümmerte sich um ihr Thun und Lassen weiter nicht im Geringsten; nur war er mit ihrem stillen Wesen nicht ganz zufrieden. Als sie das reifere Alter erreicht hatte, wußte sie, ohne andere 815Lehrer gehabt zu haben, die Schriften der Dichter, Philosophen und Redner alle auswendig, und was andere mit großer Anstrengung und vielem Schweiße kaum mittelmäßig erlernen und begreifen, darüber wußte sie sich so leicht und gewandt auszudrücken, als ob es nur ganz unbedeutende Aufgaben wären. Die Fremdlinge aber kehrten niemals wieder zurück“ usw.[865]
Durch die Litteratur des Occultismus zieht sich eine Reihe von Schriften, in welchen die mystische Entwickelung des Menschengeistes esoterisch dargestellt und systematisch gelehrt wird. Da es nun unsere Aufgabe ist, das Feld der Mystik in seinem ganzen Umfang zu durchstreifen, so dürfte es vielleicht am Platze sein, diese heute meist vergessenen Schriften aus dem Staube der Jahrhunderte und Jahrtausende hervorzuziehen und der theoretischen wie der praktischen Forschung zugänglich zu machen; vielleicht erregt dieses Unternehmen um so mehr das Interesse der Beteiligten, als die neuere hierher gehörige Litteratur, wie sie z. B. von Kerening vertreten wird, kaum etwas Besseres aufzuweisen hat.
In erster Reihe sind die sogenannten goldenen Sprüche des Pythagoras hierher zu rechnen, welche, wenn auch vielleicht nicht in ihrer Gesamtheit von Pythagoras selbst herstammend, doch ganz zweifelsohne geistiges Eigentum der alten und neuen pythagoräischen Schule waren. Sie lehren die mystische Entwickelung des Geistes und hier treffen alle Kennzeichen zusammen, mit denen Cornelius Agrippa die letztere charakterisiert, indem er sagt[866]: „Dieser (höhere) Einfluß wird uns aber nur dann zu teil, wenn wir uns von den die Seele niederdrückenden Hindernissen, von den fleischlichen und 817irdischen Beschäftigungen und von jeder von außen kommenden Aufregung frei machen. Wie ein triefendes und unreines Auge die allzustark leuchtenden Gegenstände nicht anschauen kann, so wird auch der das Göttliche nicht fassen können, der die Reinigung der Seele vernachlässigt. Man muß aber schritt- und gleichsam stufenweise zu dieser Reinheit des Herzens gelangen, denn nicht jeder Neueingeweihte wird sogleich den vollen Glanz dieser Mysterien fassen, sondern die Seele ist allmählich daran zu gewöhnen, bis in uns die Kraft des Verstandes sich entfaltet, und dieser, dem göttlichen Lichte zugekehrt, sich mit ihm vereinigt. Wenn nun die menschliche Seele gehörig gereinigt und geheiligt ist, so tritt sie von allen störenden Einflüssen ungehindert in freier Bewegung hervor, erhebt sich nach oben, erkennt das Göttliche und unterrichtet sich sogar selbst, wenn sie gleich den Unterricht anderswoher zu erhalten scheint. Sie bedarf alsdann weder einer Erinnerung noch Belehrung, sondern durch ihren Geist, welcher das Haupt und der Lenker der Seele ist, ahmt sie von selbst die Engel nach und erreicht nicht erst allmählich, nicht in einer bestimmten Zeit, sondern in einem Augenblicke das, was sie wünscht.“
In den ersten vierundfünfzig Strophen der goldenen Sprüche wird nun diese „stufenweise Reinigung des Herzens“ gelehrt, während in den letzten zweiunddreißig die durch Selbstzucht erreichte geistige Macht und Freiheit des Adepten geschildert wird. – Unser moralisch-mystisches Lehrgedicht hat nach den etwas modernisierten Übersetzungen von Schultheß[867] folgenden Wortlaut:
Diese pythagoräischen Verse wurden von dem Neuplatoniker Hierokles ausführlich kommentiert. Derselbe wurde 410 geboren, war ein Schüler des Plutarch von Athen, lehrte zu Alexandria und starb um das Jahr 476. Von seinem Leben ist so gut wie nichts bekannt, und nur Suidas überliefert uns einen einzigen Zug aus seinem Leben, welcher jedoch unsern Philosophen in stoischer Größe erscheinen läßt: Auf einer Reise nach Byzanz wurde er in dieser Stadt von der Regierung (vermutlich wegen Streitigkeiten mit christlichen Priestern) zur Geißelung verurteilt, welche auf das strengste an ihm vollzogen wurde. Als nun ein Gerichtsbeamter voll Wohlgefallen der Exekution zusah, fing Hierokles eine Hand voll seines den Riemen der Peitschenhiebe entströmenden Blutes auf und warf es demselben mit homerischen Worten ins Gesicht: „Nimm, Cyklop, und trink eins; auf Menschenfleisch ist der Wein gut.“
Der Erfolg dieser That war, daß Hierokles sofort aus Byzanz verbannt wurde und nach Alexandria zurückkehrte, wo er unter dem Beifall seiner Schüler ungehindert wie früher Philosophie weiter lehrte.
Wenden wir uns zu dem Kommentar des Hierokles. Nach ihm besteht die Philosophie in der Reinigung und der Vervollkommnung des menschlichen Lebens; in der Reinigung von der Sinnlichkeit und dem materiellen Leibe, in der Vervollkommnung des unsterblichen Menschen zur Gottheit, wodurch der Mensch der wahren Glückseligkeit teilhaftig wird. Auf den Weg zur Vergöttlichung führen den Philosophen gewisse kurzgefaßte Grundsätze 821oder Kunstregeln, unter denen die pythagoräischen Verse den ersten Rang einnahmen, weil sie sowohl die Grundbegriffe der thätigen als der beschaulichen Philosophie enthalten und den Menschen – nach den Worten des „Timäus“ – in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen.
Die Gebote der thätigen Tugend werden zuerst genannt, weil Trägheit und Sinnlichkeit überwunden sein müssen, bevor sich der Mensch mit den höheren göttlichen Tugenden bekannt machen kann; denn ebensowenig als ein unreines Auge den Glanz der Sonne erträgt, ebensowenig vermag eine Seele ohne Besitz praktischer Tugend ihren Blick auf den Glanz der Wahrheit zu richten.
Die thätige (politische) Tugend wird die menschliche genannt, die Befolgung ihrer Gebote führt uns auf den Weg der beschaulichen göttlichen Tugend und Philosophie (V. 50–54). Man muß also zunächst Mensch werden, um sich zum Gott entwickeln zu können; zu dem ersten machen uns die thätigen, und zum letzteren – vom Leichteren zum Schwereren emporsteigend – die beschaulichen Tugenden.
Die Vorschriften der thätigen Tugend sind so vielfach und reden in so hohem Grade für sich selbst, daß wir den zu ihnen gehörigen langen Kommentar bis zu den Versen 36–38 übergehen können, worin Pflege der Gesundheit und Mäßigkeit empfohlen wird, um den Körper zu einem brauchbaren Instrument der Weisheit zu machen. Hierokles sagt: „Damit dann sein (des Philosophen) Leib ein Instrument der Weisheit abgeben möge, wird er denselben durchaus also nähren und gewöhnen, daß dabei vorzüglich für die Seele, zunächst aber und um ihretwillen für den Leib gesorgt sei. Denn er wird niemals den Leib, die Maschine, in größeren Ehren halten als die Seele, welche dieselbe braucht. Er wird aber eben darum die Maschine durchaus nicht vernachlässigen, weil die Seele sie braucht, sondern er wird in der rechten Ordnung für die Gesundheit des Leibes, mit Rücksicht auf die Seele, deren Werkzeug er ist, Sorge tragen. Er wird sich deshalb nicht aller Speisen ohne Unterschied bedienen, sondern nur solcher, die erlaubt sind zu essen[868]; denn es giebt Speisen, die nicht erlaubt sind zu essen, weil 822sie den Leib beschweren und den Geist der Seele, mit dem sie in engerem Bande steht, in gröbere Leidenschaften hinschleppen.“
Unter diesem Geist der Seele verstehen die Neuplatoniker einen inneren, mit der vernünftigen Seele in engerem Zusammenhang als der äußere Zellenleib stehenden geistigen oder ätherischen Leib, welcher Glanzleib oder der geistige Wagen der Seele genannt wird. Nach neuplatonischer Ansicht verliert der Astralleib seinen Glanz und seine Leichtigkeit, wenn er zu salzige oder zu fette Speisen genießt; durch diesen Genuß wird der Glanzleib getrübt, und der Wagen, auf welchem die Seele zur Gottheit emporfahren soll, versagt seinen Dienst. – Zum Verständnis der durch gesperrten Druck hervorgehobenen Stelle des Hierokles diene die Anmerkung, daß Pythagoras und Plato nach Diogenes Laërtius die Seele in zwei Teile teilten, in einen vernünftigen – λόγον – und einen unvernünftigen Teil – ἄλογον – welch letzterer wieder in den zornigen – θυμικόν – und begierigen – ἐπιθυμικόν – zerfiel und sich also mit obigem „Geist der Seele“ deckt.
Derartige Speisen wird also der Philosoph meiden und hinsichtlich der erlaubten Jahreszeit, Land, Alter und Gesundheit berücksichtigen, sowie auch bedenken, „ob er ein Anfänger im philosophischen Leben sei, oder schon die Höhe desselben erstiegen habe; er wird also durch Maßhalten allen Schaden vermeiden und alle Vorteile für die nach Vollkommenheit strebende Seele zu erringen suchen.“ „Denn wenn sie (auf ihrem glänzenden Wagen) zur Vernunft hinauffährt, muß es um sie her von Leidenschaften ganz windstille sein, ihre untern Triebe müssen sich in der besten Ordnung und tiefsten Unterthänigkeit befinden, damit die höheren Seelenkräfte in ihren Betrachtungen ungestört bleiben.“
Die Verse 50–55 stellen den Jünger auf die Grenze zwischen der praktischen und theoretischen Tugend, zwischen den niedern Zustand eines Menschen und den höheren eines Gottes. Daß aber die theoretische Wahrheit zu diesem hohen Ziele führe, bezeugen die Verse ausdrücklich, mit welchen unser Dichter dieses Lehrgedicht beschließt:
Diese Dinge führen auf den Weg zur göttlichen Tugend, sie „werden dich Gott ähnlich machen vermittelst der wissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge, den die Erforschung der Ursachen der wirklichen Dinge führt, weil die ersten Ursachen in der Weisheit und Kraft des Schöpfergottes liegen, zum höchsten Gipfel der Gotteserkenntnis, welche die Ähnlichkeit mit Gott mit sich bringt.“
Der Verfasser verheißt den in praktischer und theoretischer Tugend Geübten nicht nur die Kenntnis aller von der Tetrade geschaffenen Wesen, sondern auch ihrer unterscheidenden und gemeinsamen Merkmale und sagt: „Eine wissenschaftliche Kenntnis aber von diesen Wesen gelingt denen, welche die praktische Tugend mit theoretischer Wahrheit ausschmücken und ihre menschliche Rechtschaffenheit zu göttlicher Tugend erhöhen; denn dadurch erlangt man Ähnlichkeit mit Gott, wenn man die Dinge kennt, wie sie ihr Dasein und ihren Rang von Gott selbst erhalten haben. Weil aber die körperliche Natur diese sichtbare Welt ausmacht und der Herrschaft der vernünftigen Wesen untergeordnet ist, so kündigt unser Lehrer in den folgenden Versen (61–64) an, daß man in der gehörigen Ordnung nun auch zu dem Gut der physiologischen Wissenschaft gelangen werde.“
Die höheren Regionen der Welt sind mit Gestirnen geziert und mit reinen Intelligenzen bevölkert, die Erde aber ist mit Leben und Empfindung besitzenden Tieren und Pflanzen besetzt. Zwischen jene Intelligenzen und diese bloßen Lebewesen ist der Mensch als Amphibium, als das letzte Wesen der obern und das erste Wesen der untern Klassen gesetzt. Bald pflegt er Umgang mit den Unsterblichen und tritt durch die Rückkehr zur Vernunft (νοῦς) wieder in seinen ursprünglichen Stand ein; bald gesellt er sich zu den sterblichen Wesen, läßt die göttlichen Gesetze außer acht und sinkt von der ihm zukommenden Würde herab. Weil er der untersten Klasse der denkenden Wesen angehört, so besitzt er von Natur aus das Vermögen nicht, zu jeder Zeit und stets gleich vernünftig zu denken, und steht deshalb an Rang unter höheren Intelligenzen, denen er sich jedoch zu assimilieren vermag, obschon er „von Natur ist und bleibt ein niedrigeres Wesen als die unsterblichen Götter und Helden des Äthers“.
Gerade infolge seiner Doppelstellung aber vermag der Mensch 824die Stufenfolge der Klassen der denkenden Wesen zu erkennen und wahrzunehmen, daß die Natur überall sich selber gleich bleibt, daß dem so sei „nach ewigen Rechten, nach dem göttlichen Ideal, weil ihnen (allen Geschöpfen) Gott diese und keine andere Wirklichkeit gegeben hat, weil er alles, seien es körperliche oder unkörperliche Wesen, nach den Maßregeln seines Planes angeordnet hat“.
Aus der Kenntnis der körperlichen und unkörperlichen Schöpfung erwächst dem Weisen der Gewinn, daß er nichts Eitles hofft und daß ihm nichts verborgen bleibt.
Wer nun aber zur Erkenntnis der Doppelnatur des Menschen, die ihn hinauf und hinab zieht, gelangt ist, der versteht, „wie selbst erwähltes Übel die Menschen plage, daß sie aus eigenem Entschluß elend und mühselig sind“; denn sie lassen sich sowohl durch einen jähen Trieb in das körperliche Leben herabziehen, als auch im körperlichen Leben in Leidenschaften verstricken, die sie an die Erde binden, während sie sich doch zeitig von ihr loslösen könnten; sie nehmen das Gute nicht wahr und wollen sich auch nicht belehren lassen. Diejenigen aber, denen es ernst ist, Gutes zu lernen oder zu entdecken, die sich von dem Übel frei zu machen wissen, diese werden der Plagen des irdischen Lebens los und ledig und „wandern hinüber in den reinen Äther“.
Die Thoren gleichen Walzen, die bergab rollen und überall auf Hindernisse stoßen; sie geraten durch ihre erdwärts treibenden Handlungen in tausend Übel und wissen sich weder zu raten noch zu helfen, weil sie stets grundsatzlos handeln. Es giebt keinen Zufall des menschlichen Lebens, der dem Thoren nicht Anlaß zum Bösen werde, weil das Laster sein selbstgewähltes Teil ist, und er weder auf das göttliche Licht schauen, noch auch von den wahren Gütern hören will. Unsere Erlösung wird aber sicher erfolgen, wenn wir zur Selbsterkenntnis gelangen und einsehen lernen, daß ein göttliches Wesen in uns wohne. Diese Befreiung von allen Übeln ist jedoch denen möglich, welche sich mit der Betrachtung der wahren Güter befassen und von der Philosophie, „der heiligen Mutter“, in der Befolgung ihrer Pflichten unterweisen lassen.
Das vernünftige Geisteswesen ist – nach neuplatonischer Anschauung – ursprünglich mit einem (Astral-) Leib vereinigt geschaffen worden und zwar derart, daß es weder der Leib selbst, 825noch ohne Leib ist, sondern an sich zwar etwas Unkörperliches ist, daß er aber doch ein Körper mit seinem ganzen Wesen und zu seiner Beschaffenheit gehört. Höhere Intelligenzen und Menschen, beide sind Wesen, die aus einer vernünftigen Seele und einem anerschaffenen Lichtleibe bestehen.
Zur Vervollkommnung der Seele dienen Wahrheit und Tugend, zur Reinigung unseres Glanzleibes hingegen die Fortschaffung jeder Befleckung, welche wir uns durch die Gemeinschaft mit der Materie zugezogen haben; ferner der Gebrauch heiliger Reinigungsmittel und endlich die von Gott uns eingepflanzte Stärke, die uns zum Rückflug von hinnen den Schwung giebt. Darüber belehren uns die Verse 80–83, welche uns alle überflüssige Verunreinigung durch die Materie untersagen und uns den Gebrauch der mystischen Reinigung und der uns eingepflanzten Stärke zur Befreiung der Seele empfehlen. Diese Reinigung erstreckt sich auf Speise und Trank, ja auf die ganze Pflege unseres sterblichen Leibes, innerhalb dessen unser Glanzleib wohnt, dem äußern seelenlosen Körper Leben einhaucht und ihn zur Übereinstimmung mit ihm selbst heranbildet: „Der immaterielle Leib ist ein lebendiges Wesen und die wirkende Ursache des Lebens, welches der materielle Leib besitzt und wodurch unser sterbliches Tier seine Vollständigkeit erreicht, das aus dem sinnlichen Leben und dem materiellen Leib zusammengesetzt ist, ein Schattenbild des Menschen, der aus einem vernünftigen Wesen und einem immateriellen Leibe besteht.“
Die mystische Reinigung bedient sich körperlicher Mittel, um den sein eigenes Leben besitzenden „Glanzleib“ zu heilen und anzutreiben, daß er sich von der Materie scheide und seinen Rückflug in den Himmelsäther, dorthin nehme, wo er früher glücklich war. Alle Ceremonien dieser Reinigung, wenn mit Ernst ausgeübt wird, sind in den Gesetzen der Tugend und Wahrheit gegründet. Dabei ist die Hauptsache, daß der Mensch sich allmählich gewöhnt, irdische Dinge zu missen und sich mit immateriellen zu beschäftigen, wenn er sich von den Befleckungen reinigt, die er sich durch sein Leben im materiellen Körper so zahlreich zuzog. Durch diese Bemühungen lebt er gewissermaßen wieder auf und kommt wieder zu sich.
Von
L. Kuhlenbeck.
Den Kiesewetterschen Darstellungen der neuplatonischen Philosophie schließe ich hier eine Studie über den einzigen und letzten Neuplatoniker an, der als Repräsentant des völligen Verfalls der griechischen Philosophie dennoch seiner Persönlichkeit wegen meine Teilnahme in Anspruch nimmt. Diese Teilnahme gilt freilich in erster Linie einer Frauengestalt, die das tragische Ende des Hellenismus überhaupt, in einer die Poesie und Kunst mehr als die Wissenschaft herausfordernden Weise gewissermaßen symbolisch abschloß, der Hypatia. Nicht nur die platonische Philosophie, das ganze geistig sinnliche Hellas hatte sich in dieser Frauengestalt von gleich vollendeter Schönheit des Leibes und der Seele individualisiert, wie um sich der Welt noch einmal vor dem Scheiden in sichtbarer Verkörperung zu zeigen.
So besingt sie der Epigrammatist Palladas, und dem Grade nach bleibt kaum einer ihrer gelehrten Zeitgenossen hinter solchem Lobe zurück. Dieser Abendstern hellenischer Geisteskultur aber, diese 827jungfräuliche Philosophin, wurde auf Anstiften des christlichen Patriarchen Cyrillus zu Alexandria von christlichen Mönchen im März des Jahres 415 in eine christliche Kirche geschleift und daselbst zerfleischt und zerrissen, wie eine Hindin von einer Meute ausgehungerter Steppenwölfe, – und selbst von ihrem geistigen Wesen, von ihren Schriften ist kein Jota vor dem Spürsinn kirchlicher Gedankenpolizei auf die Nachwelt gerettet.
Wenn man indeß die Meisterin nach einem ihrer begeistertsten Schüler beurteilen darf, so verdient schon um deswillen das Leben und das in seinen der Nachwelt erhaltenen Schriften sich mitteilende Denken eines Mannes unser wärmstes Interesse, der auch als Bischof derselben Kirche und in demselben Patriarchat, dessen Oberhirt der Anstifter ihrer Ermordung war, nicht müde wurde, sich zu rühmen, „ihres Geistes einen Hauch verspürt zu haben“. Wir dürfen uns glücklich schätzen, wenn wenigstens durch einen solchen Planeten einige reflektierte Strahlen ihrer sonst in ewige Nacht versunkenen Geistessonne noch zu uns gelangen. Dieser Schüler ist Synesios.
Zwischen der großen Syrte und der an der Westgrenze Ägyptens beginnenden lybischen Wüste erhebt sich das Plateau von Barka, landschaftlich der schönste Teil des nördlichen Afrika. Im Altertum hieß es Cyrenaica oder Pentapolis, Cyrenaica nach der Hauptstadt Cyrene, Pentapolis, weil einschließlich Cyrene fünf große Städte, nämlich außer der genannten Berenice, Ptolemais, Arsinoe, und Apollonia, sämtlich Kolonieen dorischer Griechen, hier eine bundesstaatliche Gemeinschaft darstellten. Die höchste Blüte geistigen Lebens und materiellen Wohlstandes scheint die Pentapolis um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. erreicht zu haben, als die ursprüngliche Königsherrschaft durch eine demokratische Republik beseitigt ward; doch besingt noch Pindar ihre zahlreichen Sieger bei den olympischen Spielen, und der Geograph Eratosthenes, der Dichter Kallimachus, die Philosophen Aristipp, Karneades und Antipater verbürgten durch ihre Werke eine nicht nur blutsverwandtschaftliche, sondern auch geistige Ebenbürtigkeit ihres lybischen Vaterlandes mit dem übrigen Hellas. Seine politische Unabhängigkeit wahrte der Fünf-Städtebund, wenn auch allmählich seine ökonomische 828Bedeutung von der alles überwuchernden Handelsmacht Karthagos überflügelt und selbst erdrückt wurde, bis zum Tode des großen Alexander, in dessen Universal-Monarchie er aus panhellenistischer Begeisterung freiwillig eintrat. Darnach aber geriet er unter die Gewalt des Ptolemäus von Ägypten, und dieser brachte mit Ansiedlung einer Menge Juden, denen er leider noch dazu volle bürgerliche Gleichberechtigung mit den Hellenen verlieh, so zu sagen, den Schwamm ins Holz. Jeder Historiker und auch die Gegenwart weiß, was solche Gleichberechtigung der Juden innerhalb eines nationalen Organismus bedeutet; auf dem künstlich geschaffenen Nährboden vermehrten sich die Juden in kurzer Zeit unglaublich und nutzten die bürgerliche Gleichberechtigung zur Aussaugung der Volkskräfte noch weit gründlicher aus, als das römische Reich, dem Cyrenaica etwa von 66 v. Chr. als Provinz einverleibt war, seine Herrschaft. Dazu kam ihr gerade in jenen Zeiten besonders hochflutender Religionsfanatismus, der in der Pentapolis unter der Regierung Trajans ihren angeborenen Menschenhaß zu einem Messias-Putsch fortriß, welcher in der Scheußlichkeit gipfelte, in einer einzigen Verschwörungsnacht mehr als 200 000 Griechen meuchlerisch abzuschlachten. Freilich suchte der Kaiser diese Greuelthaten gebührend zu strafen; die dadurch nur noch mehr geschürten Rassenkämpfe beschleunigten aber wiederum die völlige Verarmung und Entvölkerung des Landes.
Bei der Teilung des römischen Reichs durch Theodosius ward die Cyrenaica der oströmischen Hälfte, also dem Arcadius, zugewiesen. Fünfzehn Jahre vor diesem Ereignis, etwa um 370, war Synesios in Cyrene als Sohn eines Decurio von hocharistokratisch-dorischer Herkunft, – sein Stammbaum führte bis auf Herakles zurück, – geboren. Die Geburts- und Bildungs-Aristokratie der Griechen und Römer widerstand am längsten dem schließlich gewaltsam aufdringlichen Bekehrungseifer des Christentums, und so bekannte sich auch die Familie des Synesios, den grausamen, aber gerade ihrer Grausamkeit wegen zur Zeit noch undurchführbaren Intoleranzerlassen eines Constantin und Theodosius trotzend, noch zum Glauben an die Götter ihrer Ahnen. Bei der Nähe Alexandrias ist nichts begreiflicher, als daß Synesios wie auch sein Bruder Euoptius, sobald sie das Jünglingsalter erreicht hatten, von ihrem Vater 829nach dem dortigen Musensitz gesandt wurden, um von den schönen Lippen einer Hypatia, zu deren Füßen sich die Elite der heidnischen Jugend aus allen Provinzen des Weltreichs versammelte, die letzte und glänzendste Vertheidigung ihrer zum Tode verurteilten hellenischen Weltanschauung zu vernehmen. Vermutlich erst der Tod seines Vaters hat ihn in die Heimat zurückberufen. Den kaum 30jährigen betrauten nun seine Mitbürger mit der ebenso ehrenvollen wie schwierigen Aufgabe, als Wortführer einer Landesabordnung dem Kaiser in Konstantinopel einen goldenen Huldigungskranz zu überreichen und dabei, die Hauptsache, eine Erleichterung der nachgerade dem verarmten Vaterlande unerschwinglich gewordenen Abgaben zu erbitten.
Drei Jahre hat Synesios in Konstantinopel geweilt, bevor es ihm gelang, überhaupt erst eine Audienz beim Kaiser zu erwirken und endlich seine Aufgabe zu erfüllen. In diesem Zeitraum hatte er allzu reichliche Gelegenheit gehabt, aus unmittelbarer Nähe jene Mumie des Cäsarismus zu studieren, zu vernehmen, wie der vermorschte Bau des nunmehr halbierten Weltreichs bereits in allen Fugen seinem Ruin entgegen stöhnte, und ein naiver Ideologe, glaubt sich der Schüler einer Hypatia berufen, den Versuch zu wagen, nochmals einen Funken antiker Heldengesinnung und Staatsweisheit, „und wär's auch eine Feuerflocke Wahrheit nur, in des Despoten Seele kühn zu werfen“, welcher, wie er wähnte, den Kaiser bestimmen möchte, den Staat zu reorganisieren und das längst besiegelte Schicksal abzuwenden.
So hielt er dann bei der Überreichung des goldenen Kranzes seine denkwürdige Rede „über die Herrscherpflichten“, mit Bezug auf welche er sich mit Recht rühmt, daß auch in den Zeiten des freien Griechenlands vor einem Königsthron kaum jemals eine freimütigere Rede gesprochen sei. „Die Philosophie verlangt durch ihn Gehör und will nützen mit ihren ernsten, alle Schmeichelei verschmähenden Worten, die sogar das Recht des Tadels für sich in Anspruch nehmen.“ – Wie weit der Redner das Recht des Tadels zu üben wagt, mag aus seiner Schilderung des byzantinischen Hoflebens entnommen werden: „Die Könige ergeben sich einem schlaffen, unwürdigen Genußleben, ihre gewöhnliche Umgebung besteht aus Spaßmachern, Zwergen und Verschnittenen, die allein freien Zutritt 830haben, deren fades Geschwätz ihren Geist wie in einem Nebel gefangen hält, ihn der ernsteren Rede entfremdet und gegen die Verständigen im Volke mit Mißtrauen erfüllt. Dazu kommt die übertriebene Pracht in der äußeren Kleidung der Könige. Sie gehen einher in Purpur und Gold, mit kostbaren Steinen und Perlen über und über besäet, so daß sie einem buntschimmernden Pfau gleichen, ja sie verschmähen es sogar, ihren Fuß auf den bloßen Boden zu setzen, und lassen ihn mit Goldsand bestreuen, den ganze Schiffsladungen aus fernen Landen herbeiführen müssen. Sie führen in ihren Gemächern ein Leben wie die Eidechsen, die mit Mühe einmal an die Sonne hervorkommen, um nur nicht von den Menschen als Mensch erkannt zu werden. Und doch sind sie jetzt viel schlechter daran, als damals, wo sie an der Spitze der Heere sich im staubigen Felde bewegten, verbrannt von der Sonne, in schmuckloser Kleidung.“ Er fordert den Kaiser auf, sowohl sich selbst als auch das Volk wiederum an die Waffen sich zu gewöhnen: „Ehe man duldet, daß die Scythen hier in Waffen gehen, müßte man Männer vom lieben Ackerbau entbieten, um für denselben zu kämpfen, und so viele ausheben, daß man auch den Philosophen aus seiner Studirstube, den Handwerker aus seiner Werkstatt aufstehen heißt, den Kaufmann aus seinem Laden; und die Drohnenschar des Volkes, das in allzulanger Muße sein Leben im Theater hinbringt, wollen wir überreden, auch einmal ernst zu werden, bevor sie vom Lachen zum Weinen gelangen; denn weder die Rücksicht auf schlechte noch bessere Leute darf uns ein Hindernis sein, daß die Kraft (ῥάμη) den Römern (ῥωμαῖοις) wieder zu eigen werde.“
Bei all ihrer inhaltlichen und formellen Vortrefflichkeit kann diese Marquis-Posa-Rede des Synesios uns nur komisch berühren; – wenn schon ein Plato einen Herrscher von Syrakus Jahre lang vergeblich unterrichtete, wie mochte dieser neuplatonische Epigone sich vermessen, durch eine Predigt einen Arcadius zu Größerem aufzufordern, als Julian vermocht hatte, ihn bestimmen zu wollen, diesen Staats-Kadaver in eine platonische Republik umzuschaffen! Es ist in der That schon bewundernswert, daß diese Rede dem Kaiser so zu sagen zum einen Ohr hinein und zum andern hinausging, ohne den verwegenen Sprecher zu gefährden, ja sogar ohne auch nur sein diplomatisches Anliegen zu vereiteln. Der geforderte 831Steuererlaß wurde nämlich bewilligt. Übrigens hat Synesios auch gar bald an seinem Beruf, staatsphilosophische Ideale am byzantinischen Hofe zu verwirklichen, verzweifelt. Als nicht nur der Einfluß des Konsul Aurelian, seines Gönners, durch gegnerische Kabalen, bei denen sogar ein leiblicher Bruder eben dieses Aurelian und die Kaiserin Eudoxia die Haupt-Intriguanten waren, und durch die damit in geheimen Einverständnissen stehende Militär-Revolution des Gothen Gainas erschüttert wurde, sondern als auch, gleichsam mitempfindend mit den politischen Ereignissen, in Konstantinopel ein Erdbeben den Boden unter den Füßen wanken machte, da schüttelte er den Goldsandstaub von seinen Schuhen und verließ zu Schiff das Babylon am goldenen Horne.
In sein Vaterland zurückgekehrt, veröffentlichte er zunächst eine Schrift, welche nur als geistige Frucht seiner byzantinischen Erlebnisse zu verstehen ist. Sie betitelt sich: „Die Ägypter, oder über die Vorsehung“ und vereint die Erörterung schwieriger philosophischer Probleme wie Vorsehung und Weltregierung, Dasein und Ursprung des bösen mit einer allegorischen Darstellung der Zeitbegebenheiten. Das Skelett bildet die in euhemeristischer Auffassung dargestellte Mythe von Osiris und Typhon. Beide Brüder sind Söhne eines ägyptischen Königs. Ihre Seelen aber entstammen entgegengesetzten Quellen. Osiris entstammt dem Lichtreich und hat sich nur incarnirt, um anderen im Erdenthal ringenden Seelen behilflich zu sein, den Aufgang zum Reiche des Lichts zu finden. Aber Typhons Seele entstammt jenen niederen Regionen des Seins, „wo Neid und Zorn und die Scharen der anderen Keren auf dem Unheilgefild in Dunkel und Finsternis schweifen.“ (Verse des Empedocles.)
Der König erkannte bald die verschiedene Gemütsart seiner Söhne und ließ deshalb noch vor seinem Tode, um etwaigen Ansprüchen des Typhon vorzubeugen, den Osiris durch freie Volkswahl als seinen Nachfolger betätigen. Bei dieser Wahl waren alle Götter zugegen und von den Göttern selbst und seinem eigenen Vater empfing jetzt Osiris den Rat, seinen verderbliche Anschläge brütenden Bruder unschädlich zu machen, da er sonst eine unzeitige Bruderliebe werde schwer zu bedauern haben. Osiris jedoch wies solchen Ratschlag mit Entrüstung von sich und meinte, die Vorsehung der Götter werde ihm auch gegen etwaige böse Pläne seines Bruders in Zukunft zur Seite stehen.
„Hierin irrst du“, entgegnete sein Vater, „denn der göttliche Teil der Welt ist mit anderem beschäftigt, indem er größtenteils der ersten ihm einwohnenden Kraft gemäß wirkt und im reinen Anschauen der intelligiblen Schönheit lebt; – nur zu bestimmten Zeiten senden sie einige der Ihrigen herab, um den Anstoß zu einer guten Bewegung im Staatsleben zu geben.“ – – – „Und deshalb können gute Seelen nur spärlich hier sichtbar werden, denn ihre Seligkeit besteht in etwas anderem. Das Genießen im Anblick der ersten Welt ist seliger, als das Ordnen der Schlechteren; denn dies ist Abwendung, jenes ist Hinwendung. Du bist ja wohl eingeweiht in das heilige Geheimnis, wonach die Seele über zwei Augenpaare verfügt, von denen das untere sich schließen muß, wenn das obere sieht, und wenn dieses sich schließt, die Reihe des Sichöffnens an jenes kömmt.[869] Dies, glaube mir, ist eigentlich ein Sinnbild der beschaulichen und praktischen Thätigkeit, indem die mittleren Wesen abwechselnd beides verrichten, die vollkommenen aber mehr dem besseren zugewandt bleiben und mit dem schlechteren nur in Berührung kommen, soweit es nötig ist.“ – – – „Und du, eine göttliche Seele unter Dämonen, die als erdgeborene natürlich feindlich gesinnt sind, wenn einer fremde Gesetze in ihrem Gebiet beobachtet, du mußt bedenken, von wannen du bist und daß du hier in der Welt einen Dienst erfüllst. Du mußt selber kämpfen, nicht nur gegen andere, sondern der schwerste Kampf ist mit dem unvernünftigen Teil der Seele; denn die Dämonen suchen vor allem die Begierden und Regungen des Zorns mit den zugehörigen Lastern zu entflammen, indem sie den Seelen durch die ihnen verwandten Teile sich nahen, welche auf natürliche Weise ihre Anwesenheit empfinden, sich regen und von ihnen Kräfte empfangen, durch die sie sich der Vernunft entziehen, bis sie die ganze Seele beherrschen. Dies ist der größte Kampf.“ – – – „Und von oben herab schauen die Götter diesem schönen Kampfe zu, in welchem du siegen wirst. 833Möchte es auch in dem zweiten Kampfe der Fall sein. Doch ich fürchte, du hast diese besiegt und wirst in jenem überwältigt werden. Denn wenn die Dämonen an dem ersten Kampfe verzweifeln, dann rüsten sie sich mit aller Macht zum zweiten Kampf, um das himmlische Reis auf Erden, das die Götter fremden Zweigen aufgepfropft haben, umzuhauen und als nicht zu ihnen gehörig von der Erde zu vertilgen. Denn sie schämen sich der ersten Niederlage und wenn sie im Innern nicht zum Ziele kommen, versuchen sie nun von außen heranzukommen mit Krieg und Aufruhr und was sonst den Körper beschädigt.“ – – – „Du aber darfst den Göttern nicht weiter lästig werden, da du dich mit deinen eigenen Mitteln erhalten kannst. Für sie geziemt es sich nicht immer aus ihrer eigentlichen Sphäre herauszutreten, und deine Gebote würden sündhaft sein, wolltest du sie dadurch nötigen, vor der bestimmten Zeit wieder herabzukommen, um für das irdische zu sorgen. – Deshalb dürfen die Menschen über ihre selbstgewählten Leiden nicht unwillig werden, sie dürfen den Göttern keinen Vorwurf machen, daß sich ihre Vorsehung nicht um sie kümmert. Denn die Vorsehung verlangt, daß sie auch ihre eigenen Kräfte anwenden. Die Vorsehung gleicht nicht der Mutter eines neugeborenen Kindes, die sich bemühen muß, das abzuwehren, was ihm zustoßen und schädlich sein könnte, weil es noch unvollkommen und hilflos ist, sondern sie gleicht einer Mutter, die ihr Kind aufgezogen und ausgerüstet hat und es nun auffordert, seine Kräfte zu gebrauchen und das Übel von sich abzuhalten.“ Nach solchen Worten verschwand der Vater mit den Göttern. Osiris begann nun seine Regierung, mußte aber schließlich einer offenen Empörung Typhons weichen, kaum, daß er noch das nackte Leben in die Verbannung rettete.
Es würde mich hier zu weit führen, wollte ich nun noch die Herrschaft Typhons und den weiteren Verlauf dieses philosophischen Romanes auch nur in gedrängtem Auszuge wiedergeben, zumal dies keinen Sinn haben könnte ohne gleichzeitiges Eingehen auf die mannigfaltigen, für uns natürlich oft sehr schwer zu deutenden zeitgeschichtlichen Anspielungen. Nur soviel mag hier bemerkt werden, daß unter Osiris vermutlich auf den vorhin genannten Aurelian, unter Typhon aber auf dessen leiblichen, ihm feindlich gesinnten Bruder angespielt wird. Durch eine die Schrift abschließende Betrachtung 834über die Wiederkehr derselben oder analoger Ereignisse im Kreislauf der Zeiten wird die allegorische zeitgeschichtliche Tendenz der Erzählung noch deutlich gekennzeichnet.
Nach seiner Rückkehr fand Synesios zunächst für das von ihm selber über jede praktische Thätigkeit geschätzte rein beschauliche Leben wenig Zeit und Ruhe; der Steuererlaß allein konnte einem Lande wenig nützen, das durch die elende Militär-Verwaltung des verfallenden Reichs den Raubzügen der afrikanischen Nomadenstämme völlig preisgegeben war. Vor allem beunruhigte der kriegerische Stamm der Maceten das von regulären Streitkräften völlig entblößte Land. Unser Philosoph widmete sich nun mit allem Heroismus seiner angestammten Heraklidennatur der Verteidigung und selbständigen Reorganisation seines Vaterlandes, er bildete aus Bauern und selbst Sklaven eine Art Landsturm und bestand, ein wackerer Reiter, manches blutige Treffen mit den streifenden Beduinenscharen. Aus diesen kriegerischen Tagen datiert sein folgender Brief an Hypatia:
„Wenn der Verstorbenen man auch vergißt in des Hades Behausung, so werde ich dagegen auch dort meiner lieben Hypatia gedenken, ich, der ich jetzt von den Leiden meines Vaterlandes umringt seiner überdrüssig bin, weil ich täglich feindliche Waffen sehe, Menschen hingeschlachtet wie Opfervieh, und eine von der Verwesung der Leichen verpestete Luft einatme, und selbst erwarten muß, daß es mir ebenso geht; denn wer kann noch froher Hoffnung sein, wenn sogar die uns umgebende Luft so schaudervoll ist, verdunkelt vom Schatten der leichenfressenden Vögel; – und dennoch hänge ich mit Liebe an meiner Heimat. Was soll ich auch machen, als geborener Lybier, wenn ich die nicht unrühmlichen Gräber meiner Vorfahren vor Augen habe? doch deinetwegen, glaube ich fest, könnte ich mein Vaterland verlassen, und sobald ich dazu Zeit gewinne, auswandern.“ – Allmählich verzogen sich die Kriegsstürme etwas vor der mannhaften Führung der neugebildeten Landwehr, und Synesios kaufte sich sogar ein Landgut in unmittelbarer Nähe der feindlichen Grenze. Er führte ein Weib heim und lebte Jahre lang einer zwischen Jagd, Ackerbau und Philosophie geteilten, nur von vereinzelten Fehden mit jenem Wüstenvolk gestörten Muße. Jetzt schrieb er auch sein verloren gegangenes Werk über 835die Jagd. Den in dieser ländlichen Zurückgezogenheit freilich zu entbehrenden persönlichen Verkehr mit gebildeten Freunden ersetzte er durch einen ausgebreiteten regen Briefwechsel. Die 154 uns erhaltenen Briefe des Synesios sind ein wertvoller Schatz der hellenistischen Litteratur und ihr Verfasser muß für einen der geistvollsten Briefsteller aller Zeiten gelten; jeder seiner Briefe, so natürlich und naiv er der Feder entflossen zu sein scheint, ist doch ein kleines Kunstwerk, dessen Lesen auch heute noch einen inhaltlich und formell begründeten Reiz gewährt. Sieben dieser Briefe sind an Hypatia gerichtet, die meisten übrigen an seinen Freund Herculian oder seinen Bruder Euoptius, mit welchen beiden ihn das Bewußtsein verbindet, den Trank der Weisheit aus der lautersten Quelle geschöpft zu haben. Aus einem an Euoptius, der in Phykus, der Hafenstadt von Cyrene, wohnte, gerichteten Briefe, in welchem er denselben einladet zur Erholung nach seinem Landgut zu kommen, entnehme ich folgende idyllische Schilderung dieses Tuskulums: „Was ist es auch besonderes, sich im Ufersand auszustrecken, der einzige Zeitvertreib, den Ihr habt! Denn wohin wollt Ihr Euch sonst wenden? Wie schön ist es hier dagegen, sich unter den Schatten eines Baumes zu begeben! Und wenn es einem nicht mehr behagt, dann kann man Baum mit Baum, ja einen ganzen Hain mit einem anderen vertauschen. Wie schön ist es hier, das vorbeifließende Flüßchen zu durchschreiten! Wie lieblich, wenn der Zephyr sanft die Zweige bewegt! Welche Mannigfaltigkeit im Gesange der Vögel, in der Färbung der Blumen, in dem Strauch- und Buschwerk der Wiese, alles duftet in Wohlgerüchen, es sind die Säfte eines gesunden Bodens. Und die Grotte der Nymphen vermag ich nicht zu preisen, dazu bedarf es eines Theokrit.“ Weiter schildert er seinen Umgang mit dem naiv biederen Landvolk, das sich von den großen Seeschiffen keine Vorstellung machen kann, das einen Kaiser nur vom Steuerzahlen kennt, „von denen einige noch glauben, es herrsche der Atride Agamemnon, der einst nach Troja zog“, und das sich am abendlichen Herdfeuer mit Vorliebe vom schlauen Odysseus erzählt, „als habe er den Cyklopen erst kürzlich geblendet und sich vom Widder aus der Höhle schleppen lassen.“ In dieser Muße fand er auch Zeit und Stimmung, eine sophistische Abhandlung „Das Lob der Kahlheit“ zu schreiben, eine von attischem Witz 836sprühende Trostschrift für alle, denen „eigener Mondschein vom Haupte zu leuchten beginnt“. Seine Sophistik gipfelt darin, die Kahlköpfigkeit ein göttliches Prädikat zu nennen: „Kahlköpfige können als gottähnlich bezeichnet werden, und wenn man von einem Mondchen spricht bei beginnender Glatze, so könnte man einen vollkommenen Kahlkopf ebenso gut eine Sonne nennen, denn er strahlt in vollkommenem Kreise fortwährend dem Himmel entgegen, und dieser Glanz ist entschieden etwas den Göttern verwandtes. Warum auch sonst trüge der katholische Priester seine Rasur?“
Die wichtigsten seiner damals verfaßten Schriften sind der Dion und die Abhandlung über die Träume. Beide Schriften hat er vor der Veröffentlichung der Hypatia zur Prüfung vorgelegt. Das Begleitschreiben, mit welchem er sie der geliebten Lehrerin einsandte, giebt eine persönliche Begründung ihrer Abfassung, und da ich dieses zur Einleitung einer besonderen Besprechung der Abhandlung über die Träume voraussenden werde, darf hier auch bezüglich des Dion einstweilen die Bemerkung genügen, daß diese Schrift einem Sohne gewidmet ist, dessen Geburt Synesios damals auf Grund eines Traumes erst erwartete. Da wir wissen, daß ihm im Jahre 404 bei Belagerung seines Landhauses durch die Maceten ein Sohn geboren wurde, dürfen wir ihre Abfassung vielleicht in das Jahr 403 zurückverlegen. Sie enthält in der Einkleidung eines Essay's über den Stoiker Dio Chrysostomus, (lebte zur Zeit Trajans,) einem Lieblings-Autor des Synesios, welcher seiner allgemeinen Bildung und schönen Darstellung wegen von vielen nicht unter die Philosophen, sondern unter die Sophisten gerechnet wurde, eine maßvolle Polemik gegen das Christentum vom ästhetisch-kulturfreundlichen Standpunkt aus und eine Verteidigungsrede für die Musen gegen ihre Verächter.
Doch bald riß den Philosophen wieder der Strom des praktischen Lebens in seine Fluten und Wirbel. Zunächst verstärkten sich aufs neue die kriegerischen Einfälle der Maceten, denen sich nun gar der weit gefährlichere Stamm der Isaurier anschloß, und Synesios ward genötigt, die Feder und den Bogen mit schwereren Waffen zu vertauschen, ja er mußte seinen Landsitz an der Grenze dauernd preisgeben, ohne daß wir mit Sicherheit wüßten, ob er jetzt seinen Wohnsitz nach der Stadt Cyrene oder nach Ptolemais verlegt habe.
Aber eine vollständige Wendung seines Lebenslaufes trat alsbald mit einem Ereignis ein, welches, wie wir aus seinen Briefen ersehen, sein Lebensglück dauernd vernichtete. Auf das Jahr 409 hatte ihm sein Traum-Orakel den Tod prophezeit. Dieses Orakel verwirklichte sich in anderer Weise, als er gedacht.
Es geschah in diesem Jahre, daß man ihn, den kriegstüchtigen Herakliden, den Liebhaber der Jagd, den freimütigen Philosophen, den begeisterten Anhänger der Hypatia und Anwalt des klassischen Heidentums, trotz allen Widerstrebens zum katholischen Bischof preßte, fast wie der ihm auch sonst nicht ganz unähnliche Ritter Götz von Berlichingen von aufständischen Bauern zu ihrem Anführer gepreßt sein soll.
Um die Möglichkeit dieser Wendung nur einigermaßen verständlich zu machen, ist daran zu erinnern, daß in jenen Zeiten des staatlichen Verfalles, wenn irgendwo, so besonders in einer solchen, vor dem Beginn der rings anflutenden Völkerwanderung militärisch entblößten Provinz des römischen Reiches, wie Cyrenaica, die Bischofswürde von größerer politischer als kirchlicher Bedeutung war. Jene Präfekten, die der ohnmächtige kaiserliche Absolutismus über die Provinzen stellte, waren in der Regel eben mächtig genug, das ihnen verliehene Amt zu schamloser Selbstbereicherung und Erpressung zu mißbrauchen, und standen nicht selten gar in hochverräterischen Beziehungen zu feindlichen Barbarenhäuptlingen. Die überwiegend bereits christliche Bevölkerung suchte und fand ihren einzigen Schutz und Zusammenhang innerhalb der so gewaltig erstarkten kirchlichen Gemeinschaft; die Kirche war ihr forum und comitium; noch lag die Wahl des Bischofs, wenn auch oberpriesterlicher Bestätigung bedürfend, bei den Gemeinden.
Die Pentapolis aber bedurfte in jenen Zeiten dringend eines Mannes, der einerseits einem gewaltthätigen Ungeheuer, dem Präfekten Andronicus, und andererseits den räuberischen Grenznachbarn streitbar entgegenträte; auch fand man ja noch im Mittelalter keinen Anstoß daran, daß ein Bischof nicht nur den Krummstab und die Monstranz zu halten, sondern auch unter Umständen Schwert und Schild zu führen verstehe. Der wackerste Mann, ein wahrer ἀνὴρ καλὸς κἀγαϑός, in der ganzen Provinz war Synesios, 838und Synesios war ein Patriot. So hatten ihn dann seine Mitbürger, welche, „sehend, wie viel Unrecht geschieht, indem sie Recht suchen, und wie viel Unheil durch wütende Menschen angerichtet wird“, einen Hauptmann suchten, der das Volk in Ordnung halte, aufgefaßt.
Dies und eine diplomatische Connivenz des Patriarchen zu Alexandria mag das Rätsel lösen. Es ist sicher, daß Synesios an einem und demselben Tage die Taufe und Ordination erhalten hat. Eine Conjectural-Biographie, wie sie der Theologe Neander und Dr. Volkmann in ihren Schriften über die allmähliche innerliche Bekehrung des Philosophen auf hundert Druckseiten entwickeln, dürfte sich ganz einfach durch einen ausführlichen Brief des Neugetauften an seinen Bruder Euoptius erledigen, aus welchem ich nur folgende allgemein interessante Stelle hervorhebe. Nachdem er zuvor seine wesentlichsten Abweichungen von der christlichen Dogmatik, den Glauben an die Ewigkeit der Welt und die Unerschaffenheit, Präexistenz der Seele, betont hat, schreibt er: „Die priesterliche Stellung also kann ich nur übernehmen, indem ich zu Hause philosophiere, äußerlich aber mich den Mythen anbequeme, so daß ich zwar nicht ausdrücklich lehre, aber auch nichts an der Lehre ändere und es bei der vorhandenen Lehre bewenden lasse. Denn was haben Volk und Philosophie mit einander zu schaffen?“ – „Wie das Auge nur zu seinem Nachteile der vollen Einwirkung des Lichts ausgesetzt wird, und wie für Leute mit kranken Augen die Dunkelheit nützlicher ist, so mag auch der Irrtum für das Volk von Nutzen sein.(?) Verlangen sie aber, daß ich mich selbst in diesem Sinne ändern soll, daß der Priester die Vorstellungen des Volks teilen müsse, so erkläre ich, daß ich in Betreff der Dogmen keinen falschen Schein auf mich laden mag. Die Wahrheit ist Gott verwandt, dem gegenüber ich in allen Stücken ohne Schuld sein will. In diesem einen Punkte will ich keine falsche Rolle spielen. Denn, da ich ein Freund des Sports bin, von Kindheit an hat man mir meine leidenschaftliche Vorliebe für Waffen und Pferde vorgeworfen, so wird es mich betrüben, – ja, wie wird mir zu Mute sein, wenn ich meine liebsten Hunde ohne Jagd sehe, meinen Bogen von Würmern zerfressen, – aber ich werde es ertragen, 839wenn Gott es mir auferlegt, – meine Überzeugungen aber werde ich nicht verleugnen und zwischen meiner Zunge und meinem Denken soll kein Widerspruch sein.“ Zum Schluß heißt es dann: „Sorge dafür, daß mein Brief in die Kanzlei kommt und jenem mitgeteilt wird!“ Mit der Kanzlei kann nur die Kanzlei des Patriarchen gemeint sein.
Der Patriarch also scheint diesen esoterischen Vorbehalt zugelassen zu haben: Synesios wurde als Bischof und zwar als Metropolit, der erste von 15 Bischöfen in der Pentapolis bestätigt.
Unmöglich konnte jedoch dieser unvermittelte Übergang vom heidnischen Philosophen zum christlich-katholischen Bischof ohne schwerere äußerliche und innerliche Konflikte und tragischere Folgen bleiben, als den in jenem Briefe so schmerzlich betonten Verzicht auf die Freuden der Jagd. Zwar den rein politischen Erwartungen seiner Mitbürger suchte er in uneigennützigster Pflichttreue genug zu thun. Jenem Präfekten Andronicus, der, wie das Exkommunikationsdekret sagt, „zur härtesten Plage der Pentapolis geworden war, härter als Erdbeben, Heuschrecken, Pest, Feuer und Krieg, indem er sich begierig auf das stürzte, was sie übrig gelassen hatten, und zuerst ganz unerhörte Arten von Marterwerkzeugen in das Land eingeführt hatte, Werkzeuge zum Zerfleischen der Finger und Füße, ja des ganzen Leibes, mit denen er alle Glieder seiner Schlachtopfer auf das grausamste verrenkte und verstümmelte“, diesem Tyrannen konnte er jetzt mit der ganzen Machtfülle seines hohen Kirchenamts entgegentreten. Er belegte ihn mit dem Interdict. Als der Bösewicht hierdurch gebrochen und gedemütigt nun seinerseits bei Synesios um Schutz gegen allzu harte Verfolger bat, vergaß er jedoch nicht, in wahrhaft christlicher Feindesliebe, sein Unglück zu erleichtern, und legte sogar eine Fürbitte beim Patriarchen ein. Ward es ihm somit auch leicht, die christliche Moral in vorbildlicher Reinheit zu üben, so fiel es ihm doch um so schwerer, sich in die christlichen Dogmen und priesterlichen Formen zu schicken, vor allem sich in seinen amtlichen Äußerungen die geforderte priesterliche Salbung zu geben und sich des Kanzeltons zu bedienen.
„Wenn ich euch nichts von allem zu sagen habe, was ihr sonst zu hören gewohnt seid, so müßt ihr es mir zu gute halten und 840vielmehr euch selbst anklagen, daß ihr einem in der heiligen Schrift unbewanderten Manne vor solchen, die derselben kundig sind, den Vorzug gegeben habt“, schreibt er an seine Amtsgenossen. Auch trug er, als einst ein Priester durch Errichtung einer Kapelle und Mißbrauch der Kirchenweihe einen strategisch zur Landesverteidigung unentbehrlichen Punkt in seinen Besitz gebracht hatte, kein Bedenken, gegen die abergläubische Scheu seiner Amtsbrüder, welche glaubten diese Weihe trotz ihrer gemeinschädlichen und rechtswidrigen Entstehung respektieren zu müssen, mit folgenden Worten zu eifern: „Man muß den Aberglauben von der Frömmigkeit unterscheiden. Er ist ein Laster, das mit der Maske einer Tugend auftritt, aber von der Philosophie als die dritte Form der Gottlosigkeit längst erkannt ist. Heilig ist, was gerecht und gut ist. Vor der bloßen Einweihung kann ich keine ehrfurchtsvolle Scheu empfinden.“
Ernstere innere Konflikte mit seiner Überzeugung scheinen doch nicht ausgeblieben zu sein; die Taufe hatte, wie denn auch Luther sagt: „Wasser thut's freilich nicht“, den alten Heiden nicht ertränkt. Nur so wird der Wunsch erklärlich, den er in einem seiner Briefe ausdrückt, daß er doch in jenem Jahre lieber wirklich gestorben wäre, wie sein Traum es verheißen, als Bischof geworden.
Ein begeisterter Verehrer Hypatias blieb er bis zuletzt. Dagegen scheint allerdings das Interesse der letzteren für ihn seit seinem Übertritt zum Christentum erkaltet zu sein, wie er sich dann als Bischof in seinen Briefen überhaupt beklagt, daß seine alten Freunde ihn verlassen haben, obgleich er derselbe geblieben sei. Dies und harte Familienschicksale – er verlor seine Gattin und sämtliche Kinder – brachen ihn geistig und körperlich. Recht deutlich spiegelt sein letzter Brief an Hypatia diesen Zustand. „Vom Krankenlager aus datiere ich diesen Brief an dich und wünsche, daß du ihn gesund empfangen mögest, du meine Mutter, meine Schwester und Lehrerin, und durch dies alles meine Wohlthäterin, der Inbegriff alles dessen, was es für mich ehrwürdiges giebt. Meine körperliche Schwäche rührt von meinem Seelenleiden her. Die Erinnerung an den Verlust meiner Kinder reibt mich allmählich auf. Nur so lange hätte Synesios am Leben bleiben sollen, wie er frei war von den Leiden des Lebens. Die sind nun auf einmal wie ein aufgehaltener Strom über mich hereingebrochen, und die 841Annehmlichkeit meines Lebens ist umgeschlagen. O, daß doch mein Leben oder die Erinnerung an das Grab meiner Kinder ein Ende nähme! Bleib du nur gesund und empfiehl mich deinen glücklichen Freunden, vom Vater Theon und dem Bruder Anastasios ab der Reihe nach, und wenn einer dazu getreten ist, der dir lieb ist. Ich muß es ihm Dank wissen, daß er dir lieb ist. Grüße auch ihn, wie meinen liebsten Freund. Wenn du dir noch etwas aus meinen Angelegenheiten machst, so thust du wohl daran! Wo nicht, – so mache auch ich mir nichts daraus.“
Wir kennen nicht das genaue Datum seines Todes und wissen daher auch nicht, ob das grauenvolle Ende seiner geliebten Hypatia noch zu seinen Ohren gekommen. Wenn, – so wird es nach dem so schmerzlich beklagten Verlust seiner Söhne gewiß der härteste Schlag gewesen sein, der sein Herz getroffen.
Welche Kontraste vereinigt doch diese Periode der Geschichte! Dieselbe Zeit, welche diesen männlichen, kriegsgeübten Philosophen, der neben dem Schwert von Eisen doch auch das Schwert des Geistes zu führen verstanden, zum Bischof machte, ja dasselbe Patriarchat, das diese Bischofswahl trotz des offenen esoterischen Vorbehaltes gegen wesentliche Glaubenssätze betätigte, ließ dessen Lehrerin, Hypatia, ein Weib, in Stücke zerreißen! Oder welch' ein Weib muß jene gewesen sein, die nicht nur einen solchen Schüler gebildet hat, sondern auch solchen Hasses und solchen Martyriums gewürdigt worden ist!
In seiner bischöflichen Lebensperiode hat Synesios, wenn wir von den Briefen absehen, prosaische Schriften nicht mehr verfaßt. Wohl aber stammen aus dieser Zeit seine Hymnen, die ihn zwar keineswegs als bedeutenden Dichter, doch als einen gefühlsinnigen Mystiker kennzeichnen.
In den sog. „Geschichten der Philosophie“ wird Synesios meistens nicht mit gezählt. Auch bieten seine Schriften nach denjenigen eines Plotinos und Jamblichos, deren Werke uns größtenteils erhalten sind, kein erhebliches wissenschaftliches Interesse, da sie der philosophischen Originalität und Tiefe entbehren. Litterarisch 842jedoch müssen sie als einige der besten Erzeugnisse des spätesten Hellenismus gelten. Derjenige aber, der nicht nur in den Systemen der Schulen, sondern auch in Thaten und Gesinnungen Philosophie zu würdigen weiß, wird in seiner Geschichte der Philosophie auch einem Synesios einen Platz vergönnen. In ihm lebte eine schöne Seele im Sinne platonischer Philosophie, und sein vorwiegendster Charakterzug ist ein durchaus liebenswürdiger Heroismus.
Insbesondere die Schrift über die Träume.
Unter den uns erhaltenen Schriften des Synesios verdient neben dem philosophischen Roman „Dion“ seine Abhandlung „über die Träume“ am meisten Beachtung.
Aus der letzteren ersehen wir, daß merkwürdigerweise Synesios, diese entschieden auf praktische Unternehmungen angelegte Natur, der seinem eigenen Geständnis nach den Harnisch dem Bischofsmantel, das Roß dem Schreibstuhl und die Lanze der Feder vorzog, ein „Träumer“ gewesen ist, der das „Träumen“ systematisch betrieb und darüber Buch führte. Und es ist nur zu bedauern, daß das Traumtagebuch dieses interessanten Mannes sich nicht als Supplement seiner Abhandlung über die Träume auf die Nachwelt gerettet hat.
Synesios widmet seine Schrift über die Träume zugleich mit dem ungefähr gleichzeitig vollendeten Essay über Dio seiner geliebten und verehrten Lehrerin Hypatia. Vor der Veröffentlichung übersandte er sie derselben zur Begutachtung mit einem ausführlichen Briefe, aus dem ich, er ist uns ganz erhalten, – folgendes hier der Wiedergabe für wert achten möchte: „Ich habe in diesem Jahre zwei Bücher fertig bekommen, zu dem einen durch Gott, zu dem andern durch die Schmähung der Menschen veranlaßt. Denn 843sowohl unter den Leuten, die den weißen Mantel tragen, als unter denen, welche in der schwarzen Kutte einhergehen, haben mich einige eines Vergehens gegen die Philosophie beschuldigt, weil ich auf Schönheit im Ausdruck und auf Rhythmus achte, auf die rhetorischen Figuren, und etwas über Homer sagen will. Als ob ein Freund der Weisheit ein Feind der Rede sein müßte, und sich nur mit den göttlichen Dingen befassen dürfte. Sie selbst befassen sich freilich nur mit der beschaulichen Betrachtung des Intelligiblen. – Sie erklären, ich sei nur zu litterarischen Spielereien befähigt, und sind zu diesem ungünstigen Urteil veranlaßt worden, seitdem meine Schrift über die Jagd, ich weiß nicht wie, in die Öffentlichkeit gelangt ist und bei einigen jungen Leuten, die auf korrekte, geschmackvolle Darstellung etwas geben, großen Beifall gefunden hat, ebenso wie einige sorgfältig gearbeitete Gedichte. – Unter diesen Gegnern sind die einen, deren Frechheit in ihrer Unwissenheit ihren Grund hat, sofort bei der Hand, über Gott zu reden. Kommt man mit ihnen zusammen, so bekommt man von ihnen allerlei verkehrte Syllogismen zu hören, und auch, wenn man kein Verlangen darnach hat, so überschütten sie einen doch mit ihren Reden, wobei sie, wie ich glaube, ihre ganz besonderen Interessen verfolgen; aus ihrer Zahl werden nämlich in den Städten die Schulmeister und Priester genommen. Du kennst wohl diesen oberflächlichen Menschenschlag, der ein wirkliches wissenschaftliches Streben scheel ansieht. Sie möchten mich gern zu ihrem Schüler haben und versichern, sie würden mich dann in kurzer Zeit zu einem ausgezeichneten Theologen machen, der Tag und Nacht in einem fort zu reden vermöchte.
Die anderen haben zwar mehr Einsicht, sind aber noch viel erbärmlichere Sophisten, als diese. Du weißt, daß manche Leute, die sich in den Schulen völlig ausgegeben haben, oder durch irgend sonst einen Einfall dazu veranlaßt wurden, im Mittag ihres Lebens als Philosophen aufzutreten, – sich einen gewaltigen Anstrich zu geben wissen. Wie ist doch ihre Augenbraue hoch emporgezogen. Die Hand stützt das bärtige Kinn, und der ehrwürdige Ausdruck ihres Gesichts übertrifft die Bildnisse des Xenocrates. – Diese Leute betrachten es als einen gegen sie gerichteten Angriff, wenn einer, der für einen Philosophen gilt, auch zu reden versteht. Denn nur so lange können sie ihre angenommene Rolle behaupten, solange man glaubt, daß sie innerlich voller Weisheit stecken.
Beide Klassen von Leuten haben mir also vorgeworfen, daß ich mich mit wertlosen Dingen beschäftige, die einen, weil ich nicht dasselbe schwatze, wie sie, die andern, weil ich meinen Mund nicht verschlossen halte und mir keinen Ochsen auf die Zunge gelegt habe, wie es im Sprichwort heißt. Gegen sie habe ich den Dion verfaßt und bin dem Reden der einen und dem Schweigen der andern entgegengetreten. Die andere Schrift (über die Träume) habe ich auf Gottes Veranlassung geschrieben und Gott hat sie gut geheißen. Sie ist ein Denkmal meiner Dankbarkeit gegen das Vermögen der Phantasie? Ich habe in ihr Untersuchungen über den ganzen vorstellenden Teil der Seele angestellt und einige andere Punkte behandelt, mit denen sich bis jetzt die Philosophie der Hellenen noch nicht befaßt hat. Doch wozu bedarf es weiterer Worte über dieselbe? Die ganze Schrift ist in einer Nacht ausgearbeitet oder vielmehr in dem übrigen Teile einer Nacht, die mir ein Traumbild gebracht hatte, daß ich sie eben schreiben sollte. An einigen Stellen, etwa zwei oder dreimal, bin ich gleichsam ein anderer gewesen, zugleich mit dem Anwesenden mein eigener Zuhörer. Und jetzt, so oft ich an die Schrift herantrete, wird mir ganz wunderbar zu Mute, und es umtönt mich, wie der Dichter sagt, eine Art göttlicher Stimme. Ob dies nun eine Empfindung ist, die ich allein dabei habe, oder ob sie auch bei einem anderen Leser sich einstellt, das sollst du mir gleichfalls mitteilen; denn du sollst sie zuerst unter den Hellenen nach mir lesen. Ich schicke dir also diese beiden bis jetzt unveröffentlichten Schriften.“
Da beide Schriften veröffentlicht wurden, dürfen wir vielleicht annehmen, daß Hypatia sie als in ihrem Geiste geschrieben genehmigt und gut geheißen hat. Die Abhandlung über die Träume geht aus von einer Betrachtung des Wesens und der Arten magischer Divination überhaupt (1). Die verschiedensten Mittel lassen sich benutzen, um die Zukunft zu erschließen. Der Astrologe glaubt sie aus den Sternen, der Opferpriester aus den Eingeweiden der Tiere, der Augur aus dem Fluge der Vögel, der Chiromantiker aus den Linien der Handfläche, und mancher andere aus allerlei zufälligen Vorfällen (omina) entziffern zu können (2). Die Divination 845oder wenigstens der Wunsch, eine solche Kunst zu üben, ist ein unvertilgbares Merkmal der Menschennatur, gerade dadurch unterscheiden sich die Menschen von den in dumpfem Genuß des Augenblicks aufgehenden Tieren, indem sie sich so der reinen, Zeit und Ewigkeit überschauenden Intelligenz der Götter zu nähern suchen (3). An und für sich muß die Möglichkeit der Divination und jeder einzelnen ihrer gedachten Arten aus dem Monismus des Weltalls erhellen. Die Welt ist ein Organismus, in dem alles mit allem, räumlich und zeitlich in ursächlichem und sympathischen Zusammenhang steht. Nun empfindet ja auch innerhalb des menschlichen Sonder-Organismus, wenn irgend eines seiner Glieder erkrankt, z. B. ein Finger, oftmals ein von diesem sehr entfernter Körperteil, z. B. die Hüfte einen sympathischen Schmerz (4). Das berühmte Wort des Archimedes: „Gieb mir einen Punkt außerhalb der Welt, wenn ich auf sie wirken soll“, gilt nicht für die Magie und Divination. Die Seele muß passiv mitleiden, muß innerhalb des Ganzen stehen, um magische Einflüsse zu wirken oder zu empfinden. Dagegen von den reinen Göttern, den erhabensten Intelligenzen, die sich überhalb dieser Erscheinungswelt befinden, gilt eher das homerische Wort vom Zeus:
Ein kaiserliches Gesetz verbietet freilich, die auf äußerlichen Mitteln beruhende Magie und Divination auch nur zu besprechen. Doch ist die vollkommenste Art der Divination eine innerliche, subjektive, nämlich die Divination des Traumes (6). Die Fähigkeit dieser Prophetie schlummert in jedermanns Seele. Während nämlich der vernünftige Geist (νοῦς) die Formen des Seins enthält, schließt die Seele (ψυχή) die Formen des Werdens ein. Der Geist ist ein ewig seiendes, die Seele ein ewig werdendes Wesen. Die Seele nun enthält zwar sämtliche Formen des Werdens, die meisten jedoch in zeitlich latenter Weise; nur die jedesmal zuträglichen läßt sie dem Bewußtsein erscheinen. Der Spiegel aber, in dem sich die Bilder, welche ihren Sitz in der Seele haben, zeigen, heißt Phantasie. Ebenso wie wir von der organisierenden Thätigkeit der unbewußten Vernunft in uns nur soweit ein Bewußtsein haben, als letztere uns freiwillig davon mitzuteilen für gut befindet, 846erhalten wir auch von den Vorstellungen, Bildern, die in der „ersten“ Seele vorhanden sind, Kenntnis nur, soviel und soweit die Phantasie, welche ihre Bilder von dort empfängt, solche uns widerspiegelt. Die Phantasie ist eine das Gebiet der Natur berührende, niedere, vermittelnde Form des Seelenwesens. Die Phantasie ist eigentlich die Sinnlichkeit selber. Wir können Farben sehen, Töne hören, überhaupt alle sinnlichen Empfindungen haben, auch wenn die dafür geschaffenen körperlichen Organe unthätig sind. Das wenigstens beweist der Traum. Die Phantasie also ist sowohl das Organ, das für den wachenden Organismus dessen Verkehr mit der Außenwelt vermittelt, als auch das eigentliche Traumorgan, und sofern letzteres der Körperorgane nicht bedarf, können wir durch sie in direkten Verkehr mit der körperlosen Geisterwelt treten. So ist denn auch schon manch' einer unwissend eingeschlafen und hat, im Traume von den Musen belehrt, wissenschaftliche Probleme gelöst oder poetische Leistungen zu Tage gebracht, deren er vorhin nicht fähig erschien, weshalb auch schon ein sibyllinischer Spruch behauptet:
Wie alle einzelnen Sinne, so muß auch die seelische Grundlage der Sinnlichkeit überhaupt, die Phantasie in verschiedenen Graden der Gesundheit und Stärke vorhanden sein. Sie kann zu gröberer Stofflichkeit und Dunkelheit herabsinken, sie kann aber auch gereinigt und geläutert werden. Im ersteren Fall wird sie nur trübe und ungewisse, im letzteren klare und bestimmte Abbilder zeigen. Die Phantasie ist eigentlich der Seelenleib, der Wagen, welcher die Seele aufwärts oder abwärts fährt, oder auch das Fittichpaar, welches die Seele trägt. Die tugendhafte Seele wird leicht und schwebt mit den Schwingen ihrer geläuterten Phantasie aufwärts, indes die sündhafte, deren Phantasie von unreinen stofflichen Bildern beschwert ist, tiefer sinkt (9). Schlimmer ist es für sie, wenn sie dieses Sinken gar nicht einmal mehr empfindet. Glücklich sind noch diejenigen Seelen zu schätzen, denen der dumpfe Schmerz der Reue und Gewissensqual einen Stachel zur Umkehr nach oben, 847eine Erinnerung an die verlassene Heimat und Heimweh schafft. Denn nicht im Sterben, beim Austritt aus diesem Erdenleben, trinkt nach des Synesios Ansicht die Seele aus dem Lethestrom die Vergessenheit ihres Vorlebens, sondern umgekehrt bei der Geburt, bei dem Eintritt in dieses niedere Dasein, trinkt sie das Vergessen ihrer göttlichen Herkunft und ihrer Bestimmung aus dem Becher der Sinnlichkeit. Freigeboren verkauft sie sich auf bestimmte Zeit in die Sklaverei, wehe ihr, wenn sie nun, vielleicht gefesselt von der Schönheit eines Mitsklaven, ihrer angeborenen Freiheit ganz vergißt, und um bei jener zu bleiben, auch nach Ablauf der gesetzten Frist es vorzieht, als Sklavin bei dem gemeinschaftlichen Herrn zu bleiben. Dagegen haben die Arbeiten des Herakles und ähnliche Heroensagen keine andere esoterische Bedeutung, als das Bemühen der edleren, ihres Ursprungs instinktiv eingedenken Seele, die Knechtschaft durch ehrliche Arbeit abzuverdienen.
Die Seele dagegen, welche zum reineren Ursprung zurückkehrt, führt auch die Phantasie, die sich Synesios zugleich als Astralleib oder Ätherleib zu denken scheint, mit aufwärts. Daß die seelische Leiblichkeit, die Phantasie-Gestalt der Seele selber bestimmt sei, des göttlichen Daseins teilhaftig zu werden, findet seinen Ausdruck auch in den Versen der Sibylle:
Die Blume des Stoffes ist eben nichts anderes, als die Gestalt der Seele, ihr Phantasie- oder Ätherleib, welcher unsterblich ist, wie die Seele selbst (11).
Mit den Schwingen der Phantasie vermag die Seele den ganzen unendlichen Raum zu durchschweben, indem sie mit den Örtern die Zustände und Lebensbedingungen und Lebensgewohnheiten wechselt und umgekehrt. Wenn sie aber ihren ursprünglichen Adel und ihre völlige Unschuld wieder zurückerlangt, wird sie das Gefäß der reinen Wahrheit, die auch die vollendete Schönheit ist, rein, licht und unvergänglich. Göttlich, wie sie alsdann wieder ist, braucht sie nur zu wollen, um die Zukunft zu erkennen. Sinkt sie dagegen in die tieferen Regionen, so wird sie umhüllt mit Finsternis, Unwissenheit, Irrtum und Lüge, und wird immer unfähiger, die Dinge zu unterscheiden (12).
Das beste Mittel nun, die Phantasie zu läutern und ihre Schwingen zu kräftigen, ist ein spekulatives Leben. Wahre Philosophie verfeinert die Seele und nähert sie Gott nach dem Gesetze fortschreitender Entwicklung und zunehmender Anziehungskraft und Wahlverwandtschaft; eine solche Seele tritt in immer unmittelbareren Verkehr mit Gott. Wessen Einbildungskraft rein und gut geregelt ist, der erhält sowohl wachend wie träumend nur getreue Abbilder der Dinge, und wessen Phantasie nur getreue Abbilder der Dinge zumal im Traume erhält, der kann zugleich ruhig sein über den Zustand und das Los seiner Seele, er ist der Gottheit näher (13).
Im Vorstehenden ist die philosophische Bedeutung der Träume gegeben. Die Träume sind aber auch für das praktische Leben vom größten Wert. Denn wer wahre Träume haben will, muß ein nüchternes und keusches Leben führen, wer sein Bett zu einem delphischen Dreifuß machen will, muß sich hüten, es zum Zeugen nächtlicher Ausschweifungen zu machen, er bereite seinen Schlaf durch Gebete vor (14).
Auch macht der Verkehr der Seele mit Gott im Traum die Seele mit nichten ungeschickter für das irdische praktische Leben, umgekehrt wird die Seele von der Höhe aus weit besser alles überschauen, was darunten ist, als wenn sie selber stets nur am Boden klebt. Darum wünscht Synesios die Kunst der Traumdivination vor allem seinen Kindern zu hinterlassen, sie werden dann niemals nötig haben, die weite und beschwerliche Reise nach Delphi zu machen, sie brauchen nur den Schlaf so aufzusuchen, wie die keusche Penelope, von der Homer (Odyssee XVII, 48) sagt:
Während Hierophanten und Magier sich unter dem Vorwande äußerlicher Mittel, deren sie dazu bedürfen, für ihre Weissagungen oft schwere Summen bezahlen lassen, bedarf man zur Traum-Divination keines ägyptischen Vogels, keines Knochens aus Iberien, keiner Pflanze aus Kreta noch auch irgend einer Rarität vom tiefsten Meeresgrunde, man bedarf überhaupt keines Talismans, man legt sich schlafen, – das ist alles; im übrigen ist man sein 849eigenes Werkzeug. Auch kennt die Gottheit, die sich im Traum der reinen Seele offenbart, keine Unterschiede des Standes und Reichtums. Und, was das beste ist, kein Tyrann hat je daran gedacht, das Träumen innerhalb seines Staates zu verbieten und mit Strafe zu belegen (15).
Der Unglückliche wird durch Träume getröstet und erquickt, und faßt neue Hoffnungen, selbst der Gefesselte im Kerker, im Traume fühlt er sich seiner Bande entledigt und genießt eine unbeschränkte Freiheit (16). Die Träume sind entweder unmittelbare Wahrträume, – solche haben schon manchem Denker ein Problem gelöst, das er wachend zu denken sich vergeblich bemüht hatte. Auch Synesios selbst hat solchen Träumen vieles zu verdanken gehabt; besonders während seines dreijährigen Aufenthalts in Konstantinopel haben sie ihm viel genützt, indem sie ihm die Ränke und Intriguen der Gegner seiner diplomatischen Mission enthüllten; aber selbst in seiner Lieblingsbeschäftigung, der Jagd, haben sie sich ihm häufig dienstbar erwiesen, indem sie ihm die Fährten und Schlupfwinkel des Wildes entdeckten, ihm auch besondere Mittel und Wege zeigten, dasselbe zu finden und zu stellen.
Die meisten Träume sind jedoch symbolischer Natur und erfordern eine besondere Kunst, die Kunst der Traumdeutung. Diese Kunst ist nur durch eigene Erfahrung und Beobachtung zu finden (19). Wie wir einen bevorstehenden Wechsel der Witterung aus gewissen Anzeichen folgern können, so können wir aus bestimmten Symbolen des Traumlebens bevorstehende Ereignisse entnehmen. Wir brauchen einen Feldherrn oder König nicht selber zu sehen, um seine Ankunft zu erfahren; Vorreiter eilen ihm voraus und kündigen sie an; ebenso werfen bedeutende Ereignisse ihre Schatten voraus. Auch der Schiffer entnimmt ja aus bestimmten Anzeichen, künstlichen oder natürlichen Merkzeichen des Fahrwassers die Nähe eines Hafens oder einer gefährlichen Stelle (20, 21).
Diese Traumsymbolik ist aber durchaus individueller Natur, auf allgemeine Traumregeln ist kein Verlaß. „Es giebt Menschen, die sich kleine Bibliotheken über Traumdeutung anschaffen. Ich für mein Teil lache über alle diese Abhandlungen und halte sie für völlig wertlos. Die Phantasie der Menschen ist nicht einmal so gleichartig wie der Bau und die Physiognomie ihrer Leiber, 850welche immerhin noch den Gegenstand einer allgemein wissenschaftlichen Beobachtung bilden kann. Wenn eine Phemonoe oder ein Melampus oder sonst ein Wahrsager allgemeine Regeln der Traumdeutung aufzustellen wagt, möchte ich fragen, ob denn etwa auf konvexe oder konkave Linsen, oder Spiegel aus verschiedenem Stoffe die Gegenstände auf gleiche Weise widerspiegeln. Da jeder von uns seine ganz besondere Sinnesart hat, ist es unmöglich, daß dieselbe Traumvision für alle dieselbe Bedeutung habe.“ (22, 23).
Um sich nun eine individuell gültige Traumsymbolik zu verschaffen, soll man ein Tagebuch führen, in das man alle Erlebnisse verzeichnet, die nach irgend einem Traumbilde sich ereignen. Ein solches Tagebuch wird nicht nur ein unmittelbares und psychologisches Interesse erhalten, es wird auch sonst von praktischem Nutzen sein, uns in der Selbsterkenntnis fördern und selbst zur stilistischen Bildung und zur Unterstützung unseres Gedächtnisses dienlich sein können (24). Synesios berichtet nun, daß er ein solches Traumtagebuch seit langen Jahren mit größter Genauigkeit und nicht ohne häufigen praktischen Nutzen geführt habe.
Dies der wesentliche Inhalt der Abhandlung des Synesios über die Träume. Wenn ich dieselben hier für mitteilungswert halte, so liegt der Grund nicht nur in dem rein geschichtlichen Interesse, daß wir in ihr die einzige auf uns gekommene Schrift der neuplatonischen Philosophie besitzen, welche sich ex professo mit diesem Gegenstande, wenigstens mit seiner psychologischen Deduktion befaßt. Denn das gelehrte Werk des Artemidorus, Oneirocriticon, enthält zwar eine umfassende Sammlung der antiken Ansichten über die Traumsymbolik, vertieft sich aber nicht in die psychologische Ursache der Traumbildung und vertritt keine besondere philosophische Lehrmeinung. Es ist nicht ohne Interesse zu bemerken, daß Synesios in seiner Auffassung der Phantasie als des Traumorgans und als eines zugleich gestaltenden Grundvermögens der Seele dieselbe Ansicht vertritt, welche erst kürzlich der jüngere Fichte in seiner heutzutage viel zu wenig gewürdigten Anthropologie und Psychologie mit großem Aufwande deutscher Gelehrtengründlichkeit und empirischer Beobachtung zu begründen versucht hat. Auch 851Fichte (vergl. dessen Psychologie, Kap. III ff., ferner dessen Seelenfrage, pag. 108ff.) kennzeichnet die Phantasie als die eigentliche zugleich vorstellende und gestaltende Triebkraft der Seele, sie ist ihm, ebenso wie dem Synesios, der eigentliche Urleib oder „Ätherleib“ des Menschen. Als solche bethätigt sie sich (1) in der vorbewußten Leibesgestaltung und Mimik.
Daß sie zugleich in hohem Grade der Sympathie unterliegt, erklärt sich durch die Ansteckung der Phantasiethätigkeit, durch den seelischen Rapport zwischen Mutter und Kind, auch der unleugbare Einfluß, den das Phantasieleben der Mutter auf die Leibesgestaltung des Kindes ausübt (Versehen, Ähnlichkeit und Vererbung). Andererseits aber rechtfertigt sich durch ihren individuellen Charakter auch wiederum die aller Vererbung zum Trotz so oft auffallende besondere Individualität der Gestaltung.
2) Sodann bethätigt sie sich als unwillkürliche, aber doch die Bewußtseinsschwelle häufig überschreitende traumbildende Triebkraft.
Ihre Darstellungsform ist, abgesehen von den hellsehenden Wahrträumen, die der Symbolik; die Leibesform ist nichts als ein Symbol der Seele.
3) Ihre höchste Leistungsfähigkeit erreicht sie in der bewußten ästhetischen Bildungskraft des Dichters und Künstlers.
Man vergleiche ferner „die Symbolik des Traumes“ von Fr. G. H. v. Schubert. Leipzig (Brockhaus), 1840.
Die Persönlichkeit des Synesios bildete in gewissem Sinne ein Bindeglied zwischen heidnischer Philosophie und dem Christentum. Es wäre aber irrig, anzunehmen, daß Synesios eine Ausnahme mit seiner eigentümlichen Mischung antik-heidnischer Philosophie und christlicher Theologie gebildet habe. Im Gegenteil ist diese Spezies von Heiden-Christen so alt wie die Geschichte der christlichen Kirche, welche in den ersten Jahrhunderten geradezu eine ihrer bedenklichsten Gefahren in dieser Verwirrung gesehen hat. Allgemein pflegt man die philosophisch-heidnische Verunstaltung christlicher Gedanken als Gnosticismus zu bezeichnen. Man bezeichnete Christen, welche γνωσις = Erkenntnis, nicht bloß πιστις = Glauben wollten, als Gnostiker. Wahrscheinlich wird schon im neuen Testament davor gewarnt; das Evangelium Johannis wird nur unter diesem Gesichtspunkt ganz verständlich. In den Pastoralbriefen finden sich zahlreiche Stellen, die darauf hinweisen. Die Hauptquellen des Gnosticismus sind: Irenaeus, Widerlegung des fälschlich sich so nennenden Gnosticismus; ferner die sog. philosophumena Originis. Letztere Schrift ist wahrscheinlich verfaßt von einem Schüler des Irenäus, namens Hyppolitus.
Die occultistisch-philosophischen Gedanken des Gnosticismus sind folgende: Er nimmt den Begriff vom Menschen, wie ihn das Christentum voraussetzt, an; der Mensch als moralisch-religiöses Wesen stammt von Gott und ist Gottes Ebenbild. Gott ist Güte und Geist. Wenn aber Gott Güte und Geist ist, woher kommt die Materie und das Böse? Haben sie irgendwelchen Zusammenhang 853mit Gott? Nein; sie können nicht von Gott sein. Denn die Wirkung muß der Ursache ähnlich sein. Das Böse und die Materie sind aber Gott entgegengesetzt, das Böse dem Guten, die Materie dem Geist. Woher sind sie denn? Nach der einen Richtung ist die Materie von Ewigkeit her, und die Materie ist zugleich der Grund der Unvollkommenheit.
Andere Gnostiker geben eine andere Antwort; sie knüpfen an die Emanationsvorstellung an: nach ihr gehen von Gott Geister hervor und aus den Geistern wieder andere u. s. w. Jede folgende Emanation ist aber geringer, als die vorhergehende, wie ja auch das Licht, je mehr es sich vom Mittelpunkte entfernt, desto schwächer wird. Die Grenze der Emanation ist die Materie. Durch diese Lehre vermied man die Schöpfung aus Nichts. Diese ist der denkenden Menschheit von jeher ein harter Gedanke gewesen, da er keine Analogie hat. – Eine andere Frage war: Wie kommt der Geist in die Materie? Denn diese ist ja nicht von Gott oder doch unendlich entfernt von Gott. – Antwort: Er kommt auf die Erde durch eine sittliche That, er kommt darauf durch einen Abfall, er ist ein Fremdling auf der Erde. Zur Erlösung der gefallenen Geister erscheint dann Christus, er, ein reiner Geist, kommt aus Erbarmen hernieder, er bringt die wahre Gotteserkenntnis; diese macht selig, und diese allein.
Die Moral der Gnostiker war meist sehr streng, strenger, als die Kirche verlangte. Sie war Askese, unbedingte Entfernung von der Materie und allen sinnlichen Genüssen. Denn die Verstrickung in der Materie war es ja, die den edlen Geist des Menschen hemmt und fern hält von Gott. Nach den Gnostikern ist der Gott der Juden nicht der höchste. Er hat ja die Welt erschaffen, diese Materie. Ferner ist der Gott der Juden ja der Gott des Zornes. Der wahre Gott ist der Gott der Liebe. – Damit verbunden war der Doketismus, die Lehre, daß Christus nur einen Scheinleib gehabt und nur zum Scheine gelitten habe und gekreuzigt sei. Denn als reiner Geist dürfte er sich mit der Materie nicht beflecken.
Die Darstellung der Gnostiker war mythologischer Art, wüst und für uns ungenießbar, ähnlich der des Juden Philo. Aber für die damalige Geschmacklosigkeit der philosophastrischen Schriftstellerei fiel das nicht auf; auch der Neuplatonismus kleidet sich ja mit Vorliebe in ein mythologisches Gewand.
Die Namen der Gnostiker aufzuzählen, lohnt sich nicht der Mühe. Einer der berühmtesten war Valentin, der um 140 n. Chr. in Rom lehrte.
Nächst diesem war der bedeutendste Mani, der Stifter der Manichäersekte. Mani stammte aus Persien, er lebte und lehrte gegen Ende des 3. Jahrhunderts. Sein Dualismus beruht auf demselben Gedanken, wie der Zarathustras, dessen Lehre er mit dem Christentum zu verschmelzen suchte.
Der Kirchenvater Augustin ist zehn Jahre lang Manichäer gewesen.
Wir bringen Kelten und Germanen unter einem „Buche“ zusammen, weil beide Rassen innerhalb der arischen Gesammtrasse sich nicht nur räumlich, sondern auch verwandtschaftlich besonders nahe gestanden haben. Die Kelten werden uns von den alten Schriftstellern als hochgewachsene Menschen mit blauen Augen und blondem oder rötlichem Haar geschildert. Menschen von kampflustiger, ritterlicher Gesinnung, aber deren unbändige Leidenschaftlichkeit und Rivalitätssucht, wie besonders Cäsars Kommentarien beweisen, zum Untergang ihrer staatlichen Bildungen und somit zuletzt zum Untergang der Art und Sprache führte, so daß das Keltenblut jetzt nur noch als allerdings erheblicher Mischbestandteil im Franzosen und Briten von Bedeutung ist.
Abgesehen von einzelnen seltsamen Absplitterungen, z. B. den Galatern in Kleinasien, nahmen die Kelten oder Galler, wie sie selbst sich nannten, – jetzt hat sich das Stammwort nur noch in den „Gäler“ erhalten, – zur Zeit, wo die erste historische Kunde von ihnen auftritt, etwa das Gebiet des heutigen Frankreich, Nordspanien, Nord-Italien und Britannien und Irland ein.
Offenbar standen sie, ebenso wie die vielfach auch gar zu barbarisch aufgefaßten Germanen, deren höhere Gesittung schon Justus Möser nachgewiesen hat, auf einer nicht unverächtlichen 858Zivilisationsstufe. Das beweist schon ihr Äußeres. Ihre Kleidung bestand aus bunten wollenen Leibröcken, über die sie einen Gürtel von Gold oder Silber trugen, aus langen Hosen und kurzem Flausmantel; goldene Bänder zierten die Handwurzeln und den Arm, goldene Ringe die Finger und Ketten von gleichem Metall den Hals. Mannshohe Lederschilde mit bunten Malereien, eherne Helme mit wappenmäßigen Zierraten, eiserne Panzer, oft aus Draht geflochten, lange starke Schwerter, an eisernen Ketten an der Seite getragen, und Stoßlanzen ihre Waffen. Sie waren berühmt wegen ihrer Geschicklichkeit in der Herstellung von Glaswaren, auch als Goldschmiede und Münzmeister.
Das Religionssystem der Kelten würde gewiß, da es eine besonders hochentwickelte Geheimlehre dieser hocharistokratisch angelegten Rasse war, vom occultistischen Gesichtspunkte aus unser Interesse ganz besonders in Anspruch nehmen, wenn wir nur mehr glaubwürdige Berichte über seine Einzelheiten besäßen. So aber liegt die Gefahr nahe, den sog. Neo-Druidismus, der von einigen modernen wälischen Schriftstellern erfunden ist, kritiklos mit der alten Geheimlehre der Kelten zu verwechseln.
Wir werden uns daher zunächst lieber mit einer zwar allgemeinen, aber zuverlässig getreuen Skizzierung ihres Systems begnügen.
Die echten Kelten zerfielen in die beiden Stände der Druiden und Krieger. Das gemeine Volk, auch seinem Äußeren nach teilweise als von anderem Aussehen geschildert, – schwarzhaarig, kleiner gebaut, – bestand wohl größtenteils aus der autochthonen unterworfenen Rasse.
Während der Krieger-Adel sich ausschließlich der Waffenübung und der Jagd widmete, waren die Druiden im Besitz aller religiösen und profanen Wissenschaften, Priester, Rechtsgelehrte, Naturforscher und Philosophen in einer Person. Dies erinnert auffällig an das indische Verhältnis der Braminenkaste zur Kriegerkaste der Kschatriyas.
Der Name „Druiden“ wird meistens, aber mit Unwahrscheinlichkeit, von dem griechischen δρυς = Eiche hergeleitet, da die keltischen Heiligtümer mit Vorliebe in Eichenhainen angelegt seien; wahrscheinlicher stammt er vom keltischen Dryw, wälisch Derwydd, in Wallis heute noch das Wort für einen „weisen Mann“.
Die Druiden scheinen zwar meistens verheiratet gewesen zu sein und einzeln unter ihren Mitbürgern gewohnt zu haben, obwohl andererseits auch klösterliche Vereinigungen erwähnt werden[870], jedenfalls aber standen sie in strenger Ordenszucht. Sie trugen eine besondere Ordenstracht; kurzes Haupthaar, den Bart aber lang. Die höheren Grade trugen golddurchwirkte Kleider, goldene Halsketten, Armspangen. Ihre Insignien waren ein weißer Stab, Slatan drui eachd oder Zauberstab genannt; ferner die Druidenknöpfe, deren Verschiedenheit vielleicht mit der Höhe des Grades zusammenhing, und das in Gold gefaßte Schlangenei, vermutlich die Auszeichnung des höchsten Grades.
In einzelnen uns bewahrten Darstellungen trägt der Druide auch das Bild des gehörnten Mondes, wie er sechs Tage nach dem Neumonde erscheint, in der Hand, oder ein Füllhorn mit darüberschwebendem Monde. In allen Abbildungen erblickt man aber auf den Schuhen des Druiden das sog. Pentalpha, nämlich zwei sich durchkreuzende Dreiecke:
Jeder freie und edle Jüngling konnte in den Druidenorden aufgenommen werden. Der Unterricht wurde durchweg nur mündlich erteilt, weil man den Gebrauch der Schrift, den man selbstverständlich sehr wohl kannte, bei dem Charakter der Geheimlehre, der durch die Schrift bedroht ward, für unerlaubt und schädlich hielt. Auch meinte man, daß nur durch das lebendige Wort, nicht durch den toten Buchstaben sich das Heilige tief und unvertilgbar dem Geiste einpräge. Durch den Gebrauch der Schrift würde auch das Gedächtnis geschwächt und eine oberflächliche Buchgelehrsamkeit 860gezüchtet. Sofern die Druiden sich der Schrift bedienten, benutzten sie die griechischen Schriftzeichen, die ja auch auf dem Pentalpha erscheinen. Außerdem bedienten sie sich der Runen- oder Stabschrift. – Die Unterrichtsplätze waren abgelegene Wälder und Höhlen, und der Unterricht selbst dauert zwanzig Jahre. Ihr Wissen muß in manchen Richtungen von großer Tiefe gewesen sein; so spricht sich z. B. Quintus Cicero, der bekannte Unterfeldherr Cäsars und Bruder des Redners, indem er sich seines vertrauten Umgangs mit dem Druiden Divitiacus rühmt, voll Bewunderung darüber aus. Da indeß ihre Wissenschaft Geheimlehre war, ist uns wenig Zuverlässiges darüber erhalten. Aus Macrob. Sat. I, 21 läßt sich schließen, daß sie die Kugelgestalt der Erde gelehrt haben.
Astronomie war eine ihrer Hauptwissenschaften; Cäsar sagt, daß sie über die Größe und Gestalt der Erde Untersuchungen anstellten. Sie zählten die Zeit nicht nach Tagen, sondern nach Nächten, was sich in der englischen Sprache (fortnight) noch erhalten hat. Nach Diodor, der uns mitteilt, daß sie in Übereinstimmung mit dem Jahre des Meton, den Mondcyklus auf 19 Jahre berechnet haben und sich eingehend mit den Erhöhungen der Mondkugel beschäftigen, möchte man annehmen, daß ihnen schon der Gebrauch vergrößernder Linsen zur Fernsicht bekannt gewesen. Richter bei Ersch und Gruber S. 490 möchte die sog. Druidenknöpfe, aus Krystall oder Glas geschliffene Linsen, die man bis zu 1½ Zoll Durchmesser findet, damit in Zusammenhang bringen.
Nach Strabon (IV, 4) nahmen sie an, die Welt sei aus Nichts entstanden, sie sei unvergänglich, aber Feuer und Wasser werde dereinst alles überwältigen.
Dies sowie das symbolische Schlangenei, ein Sinnbild der Welt, erinnert sowohl an den indischen wie an den ägyptischen Occultismus.
Besondere Achtung genoß ihre ärztliche Kenntnis.
Unter den mannigfachen Heilkräutern, deren Entdeckung ihnen Plinius (H. N. VIII, 41. XXV. XXV. XXX. XXXII.) zuschreibt, nahm die Mistel[871] die erste Stelle ein.
„Unbekannt mit der Natur der Schmarotzerpflanzen“, meint 861Richter a. a. O., „mußte es ihnen als ein Wunder erscheinen, daß dieselbe nicht auf dem Boden, wie alle anderen Pflanzen, sondern auf Bäumen wuchs und hier ohne Samen erzeugt zu sein schien.“ „Vorzüglich gesucht war die auf Eichen wachsende Mistel. Denn die Eiche war im gallischen Glauben der heiligste Baum, Eichenlaub ward bei jedem Gottesdienste gebraucht; in Eichenwäldern wohnten die Druiden, unter Eichen hielten sie ihre Gerichtsstätte. Was aus ihr hervorkam, war ein Zeichen göttlicher Gnade, und da überdies die Mistel selten auf Eichen gefunden wird, so galt eine solche umsomehr als göttliches Geschenk. Sie wurde mit großer Feierlichkeit abgenommen und zwar am sechsten Tage nach dem Neumonde; unter dem Baume wurde zuerst ein Opfer und ein Mahl bereitet und nach dem Schmause ein zum ersten Male unter das Joch gekommenes Rinderpaar herbeigeführt. Dann stieg der Druide im weißen Gewande auf den Baum, schnitt die Mistel mit einer goldenen Sichel ab und ließ sie in einem weißen Manteltuche auffangen. Nun wurden die Rinder geschlachtet und die Götter angerufen, daß sie denen, welchen sie diese Gabe erteilt, dieselbe zum Heile gedeihen lassen möchten. Die Mistel wurde teils allein, teils mit anderen Stoffen gemischt gebraucht, so wohl äußerlich als innerlich. Man wandte sie gegen Geschwulst, Verhärtung, Kröpfe, Geschwüre, und Klauenfäule an; sie reinigte das Rindvieh und machte es fett, sie war ein Mittel gegen alle Gifte, und war sie im Neumonde gesammelt und zwar ohne Gebrauch des Messers und ohne daß sie die Erde berührte, so half sie gegen die fallende Sucht. Sie machte sogar alle Tiere und die Weiber fruchtbar, wenn sie dieselbe bei sich trugen. Daher hieß sie in der Sprache der Druiden die Alles Heilende.“
Die Druiden sollen ihre Lehrsätze immer in Triaden, d. h. in drei miteinander verbundenen Sätzen geordnet haben.
Bezüglich der Seele soll die druidische Triade in folgenden drei Sätzen bestanden haben: 1. die Seele ist unsterblich; 2. sie wandert nach dem Tode in andere Körper; 3. nach einem bestimmten Zeitraum von Jahren wird sie wieder leben und wiedergeboren werden.
Richter meint, daß dieser bestimmte Zeitraum dem Ortschilong oder Geburtswechsel im Buddhismus entspreche, nach dessen Vollendung die gereinigte Seele wieder in den göttlichen Schooß zurückkehrt. Jedenfalls fiel den Römern die außerordentliche Festigkeit des Glaubens der Gallier an Fortdauer nach dem Tode auf; die Druiden lehrten vor allem, so berichten sie, daß man den Tod nicht zu scheuen habe, da die Seele nicht sterben könne. Daher müsse der Mensch im Kampfe mit den Feinden nicht feig sich zurückziehen, sondern mutig und tapfer streiten. Mit den Toten verbrannte oder begrub man alles, was ihm im Leben lieb gewesen war, Tiere, Sklaven, Klienten. Auch Angehörige folgten ihm freiwillig auf den Scheiterhaufen, um in der anderen Welt wieder mit ihm zu leben. Vergl. Caesar de bello Gallico, VI, 18. Pomp. Mel. III, 2. Man gab den Toten sogar Briefe mit an verstorbene Freunde, und wenn geborgtes Geld vom Schuldner bei seinem Leben nicht wieder bezahlt werden konnte, so nahm man gar eine Anweisung auf das Jenseits an, in der Überzeugung, daß ihr der Schuldner dort wenigstens gerecht werden werde. Diod. Sic. V, 28. Valer. Maximus II, 6.
Die Druiden im weiteren Sinn zerfielen in drei Abteilungen: 1. die Druiden im engeren Sinn, die eigentlichen Priester, 2. die Barden, heilige Sänger, 3. die Vates oder Seher.
An der Spitze des ganzen Ordens stand ein Oberdruide, Hoherpriester, Coibhi oder Coibhi Druidh. Dieser regierte unumschränkt und lebenslänglich, wurde aber gewählt, wie es scheint, gewöhnlich durch allgemeinen Zuruf, Akklamation, eine Wahlart, die ja auch jetzt noch bei der Papstwahl zulässig ist und hier als besonders heilig erscheint, da man annimmt, daß sie auf Veranlassung des heiligen Geistes stattfindet. – Waren die Stimmen geteilt, so entschied die Mehrzahl oder das Los, oder auch gar der bei den Kelten beliebte Zweikampf.
Der Oberdruide wählte zur Besorgung der weltlichen Angelegenheiten den Vergobret. Dieses keltische Wort = feargobreith ist nach Möbius zusammengesetzt aus fear = vir, go = ad, breith, bread, brawd = judicium, so daß es nach dieser Ableitung einen Richter bedeutet. Noch bis zur französischen Revolution führte 863der Maire von Autun den Titel Verg oder Vierg. Um sich ein würdigeres Aussehen zu geben, sollen die Vergobreten ihren Bart mit Goldstaub gepudert haben.
Die gallischen Druiden wurden unter der späteren Zeit der römischen Herrschaft Professoren, wodurch ein hauptsächlicher Teil ihres früheren Amtes, der Unterricht ihnen blieb. Sie bildeten in denselben Städten, die früher ihre heiligen Örter waren, Lehrerkollegien, die an Stelle der früheren Druidenklöster traten. Noch zu Ausonius Zeiten hatten manche gallische Professoren ihre Abstammung nicht vergessen; darum nannten sie sich romanisiert nach jenen Gottheiten, deren Tempel ihre Vorfahren zu besorgen gehabt, z. B. Apollinaris, Delphidius, Phoebicius, Namen, die anzeigen, daß solche Männer aus Priestergeschlechtern stammen, die dem gallischen Apollo-Belen ergeben waren. Vergl. Ausonius, professores IV, v. 7.
Ein häßlicher Makel, der an dem Gottesdienst der sonst anscheinend geistig so hoch stehenden Druiden klebt, ist die Vorliebe für Menschenopfer.
„Das ganze gallische Volk“, schreibt Cäsar, „ist außerordentlich dem Opferdienst ergeben. Darum schlachten oder geloben diejenigen, die in schweren Krankheiten liegen oder in Schlachten und Gefahren sich befinden, Menschen zu Opfern, welche die Druiden verrichten. Denn sie glauben, daß der Geist der unsterblichen Götter nicht anders befriedigt und versöhnt werden könne, als wenn für das Leben des einen Menschen das des andern hingegeben würde. Sie haben daher auch Staatsopfer dieser Art. Bei einigen gallischen Völkern giebt es Bilder von ungeheurer Größe, deren Gliedmaßen mit Weiden geflochten sind und mit lebendigen Menschen angefüllt werden, die dann durch Verbrennung des hölzernen Bildes getötet werden. Sie glauben, daß die Todesstrafe der auf der That ergriffenen Diebe, Räuber und Verbrecher überhaupt den Göttern angenehm sei, aber, wenn sie dergleichen Leute nicht haben, so geht es auch an die Unschuldigen.“ Caesar, de bello Gallico VI, c. 16.
Die Staatsopfer wurden nach Diodor Sic. V, 31. 32. zum Zweck der Erforschung der Zukunft dargebracht; man hieb dem Opfer mit einem Schwert in die Herzgrube und ließ ihn fallen, aus dem Fall, den krampfhaften Zuckungen der Glieder und der Blutung glaubte man die Zukunft erschließen zu können.
Die Hauptgottheit, die in der exoterischen Druidenreligion verehrt wurde, nennt Cäsar Merkur. Der gallische Name scheint Teutates gewesen zu sein.
Die römische Bezeichnung desselben als Merkur wird begreiflich, wenn wir erfahren, daß Teutates Seelenführer war.
Die Seelenlehre aber, insbesondere die Lehre von der Seelenwanderung bildete die Hauptsache im keltischen Volksglauben.
Nach dem Vordersatz der über Teutates berichteten druidischen Triade war er der allgemeine oder Weltgeist, nach dem Mittelsatz Seelenführer und nach dem Schlußsatze das Getriebe der lebendigen Welt.
Die zweite Gottheit war Esus oder Hesus, romanisiert Mars. Die Triade über ihn lautet: 1. Vor der Schlacht wird ihm meistens die Kriegsbeute gelobt; 2. nach derselben die gefangenen Tiere geopfert; 3. das Übrige (Waffen und Geräte) auf Einen Ort zusammengetragen.
Die dritte allgemeine Gottheit hieß Taranis (vom keltischen Taran, der Donner), von den Römern als Jupiter gedeutet.
Nächst dieser Trias, die meistens auf die Ober-, Mittel- und Unterwelt bezogen wird, war der von Cäsar als Apollo bezeichnete Belin, Belen oder Abelio der wichtigste. Orakelwesen und Heilkunst war seine Hauptfunktion. Eine Mondgöttin, Belisana, scheint der egyptischen Isis oder der Minerva ähnlich gedacht zu sein.
Eine große Rolle im keltischen Volksglauben spielten die Geister und Gespenster, besonders eine Art von Incubi, gallisch Dusii genannt, ein Wort, das noch im englischen Duce oder Dewce, Teufel, nachklingt. Die Gallier gaben ihnen eine Gestalt wie den Frauen und glaubten, sie beschliefen die Frauen unter der Gestalt ihrer Liebhaber.
Schon zu Cäsars Zeit war der Hauptsitz des Druidentums England; ganz besonders heilig war ihm die Insel Mona.[872] Hier, und abgesehen von Man, in Wales haben sich auch die meisten Denkmäler des keltischen Glaubens erhalten; und zwar nicht nur die berühmten Steindenkmäler; auch das Bardentum hat sich wenigstens in Wales unter oberflächlicher christlicher Gewandung bis weit in die christliche Ära hinein erhalten und es soll nach den Nachrichten von W. Owen und Williams (vergl. Mona, S. 468) das Druidentum in dieser Form sogar bis auf unsere Zeit fortgesetzt worden sein (Neo-Druidism). Es soll nämlich gegen Ende des 13. Jahrhunderts von alten Anhängern der druidischen Geheimlehren des sog. bardischen Kollegium in Glamorgan gestiftet sein. Owen freilich bemerkt dazu, es sei zwar Thatsache, daß die wälischen Barden nicht ausgerottet worden und insbesondere, daß 866sich neue Gesellschaften, die an das alte Bardentum der Druiden anknüpften, im dreizehnten Jahrhundert gebildet haben, daß jedoch der Stuhl von Glamorgan sich weit überschätzt und kein alt-druidisches Bardentum mehr bewahrt habe.[873]
Doch mag dem sein, wie ihm wolle, so verdanken wir wenigstens dem wälischen Bardentum die Rettung uralter keltischer Litteraturstücke, unter denen eine Art keltischer Edda, The Myvyrian, archaeology of Wales, collected out of ancient manuscripts, London 1801–1807, an der Spitze steht.
Und aus dieser Litteratur lassen sich Rückschlüsse auf einige Teile druidischer Geheimlehren machen. Fast alle der uns erhaltenen Bardenlieder sind Triaden, d. h. ihr Inhalt ist in drei Teilen geordnet. Eine der interessantesten mythologischen Triaden ist die von Hu gadarn, dem mächtigen Hu.
Hu (sprich Hy) war ein Führer, der der Tyrannei widerstrebte und daher das Volk von Defrobani, aus dem Lande ewiger Feindschaft, nach Wales brachte. Er lehrte das Volk den Ackerbau und war einer von den drei großen Werkmeistern, weil er sein Volk in gesellschaftliche Ordnung brachte. Er bestimmte als einer von den drei Meistern des Gesanges die Dichtkunst zur Bewahrerin der Wissenschaft. Mit seinen Buckelochsen (Yehain Banaweg) verrichtete Hu eine der drei großen Heldenthaten, er ließ nämlich den Avanc (Biber) aus dem Llyn Llion (der Wasserflut) herausziehen, wodurch die Überschwemmung der Erde aufhörte.
Nach Owen heißt Defrobani Sommerland und soll darunter, weil die Triaden den Zusatz haben „wo nun Konstantinopel steht“, die heutige Krim(?) verstanden werden. Andere wollen Hu, da von einer Überschwemmung die Rede ist, mit der Sintflut in Verbindung bringen. Mone legt dem Mythus eine tiefere Bedeutung zu Grunde: Nicht eine Flut-, sondern eine Schöpfungssage ist im Hu gadarn aufbewahrt. Wasser ist der Anfang aller Dinge, der Biber (Avanc) ein heimatliches Wassertier Bild für die Ursache 867des Wassers; so lange er in demselben lebt, nimmt er nicht ab, nur der starke Hu war imstande, ihn mit seinen drei Ochsen herauszuziehen, wodurch die Flut sank und die Welt erschaffen ward. Er hat also die Natur der Schöpfungsstoffe geteilt in Festes und Flüssiges, wofür der Biber, der mit dem Leibe dem Lande, mit dem Schwanze dem Wasser angehört, ein zutreffendes Bild bietet. Die Welt erhebt sich auch bei den Kelten, wie bei den Germanen im Frühjahr; denn der Stier (Buckelochse) ist das Sternbild des Frühlings; er trieb den Biber heraus, d. h. er brachte den Kern der Welt zur Krystallisation. Nach Erschaffung der Welt, d. h. nach der Teilung der Weltkräfte ordnet sie der weise Hu; der Stier, der die Welt erschaffen half, wird nun von seinem Herrn zur Jahresordnung bestimmt; er bringt das Jahr, zieht den Pflug wie der Biber und ruft dadurch Heil und Segen aus der Erde, wie einst aus dem Wasser hervor. Die Ordnung der Welt ist die Harmonie der Sphären, das himmlische Saitenspiel, darum Hu auch der Erfinder des Gesanges, und dieser soll ein Sinnbild des Einklangs der Welt sein. Auch Staat und Gesellschaft sind Anstalten des mächtigen Hu; denn sie sind Folgen der Weltordnung, und seine Feindschaft gegen die Tyrannei, d. h. gegen die über ihre Grenzen getretenen Kräfte, hängt damit zusammen. Darum ist er auch der Eroberung feind, denn sie schreitet über Maß und Ordnung, und sein Volk soll in Gerechtigkeit und Frieden leben.
„Hu“, singt der Barde Jolo Goch, „ist der Herr, der bereitwillige Beschützer, der König und Geber des Weines und Ruhmes, Kaiser über Land und Meere und des Leben alles dessen, was in der Welt ist. Er ist der größte, der Herr über uns, wie wir redlich glauben, und der Gott des Geheimnisses. Licht ist sein Weg und Rad, ein Teil desselben Sonnenscheins sein Wagen, groß ist er in Land und Meeren, der größte, den ich sehen werde, größer als die Welten.“
Darnach war Hu die Gotteinheit der britischen Kelten. Im Tode heißt er Aeddon; dieser Name erinnert an Adonai und Adonis; sein Tod ist eine bloße Verwandlung, keine Zerstörung. Es gab Mysterien vom Tode des Hu, ähnlich den griechisch-thrakischen Mysterien vom Tode des Zagreus-Dionys.
In Verbindung mit diesem Mysterium stand die Geschichte des Taliesin. Taliesin bezeichnet eine ganze druidische Priesterschaft, deren Orden sich „vom Kessel der Ceridwen“ nannte.
Ceridwen war nach dieser Geschichte ein zauberkräftiges Weib, das um seinen Sohn, einen ungestalten Menschen, schöner zu machen, einen Zauberkessel bereitete. Aber Gwion, der Sohn der Gevreang, störte sie in diesem Beginnen. Eines Tages, während Ceridwen Kräuter suchte und mit sich selber murmelte, begab es sich, daß drei Tropfen des kräftigen Wassers (aus dem Kessel) flogen und auf den Finger Gwions niederfielen, sie brannten ihn und er steckte den Finger in den Mund. Wie diese köstlichen Tropfen seine Lippen berührten, so waren seinem Blick alle Ereignisse der Zukunft geöffnet und er sah klar ein, daß seine größte Sorge sein mußte, sich vor der List Ceridwens zu bewahren, deren Kenntnis so groß war. Er floh heimwärts mit der größten Furcht. Der Kessel teilte sich in zwei Hälften; denn alles Wasser darin, außer den drei kräftigen Tropfen, war giftig, so daß es die Rosse des Gwyddno Garanhir vergiftete, die aus der Rinne tranken, worein sich der Kessel von selbst entleert hatte. (Darum hieß nachher dieser Ablauf das Gift der Rosse des Gwyddno.) In dem Augenblicke kam Ceridwen herein und sah, daß ihre ganze Jahresarbeit verloren sei, sie nahm einen Rührstock und schlug dem blinden Morda so aufs Haupt, daß eines seiner Augen auf seine Wange fiel. „Du hast mich ungerecht verunstaltet“, rief Morda, „du siehst ja, daß ich unschuldig bin, dein Verlust ist nicht durch meinen Fehler verursacht.“ „Wahrlich, sprach Ceridwen, Gwion der Kleine war es, der mich beraubte.“ Sogleich verfolgte sie ihn, aber Gwion sah sie aus der Ferne, verwandelte sich in einen Hasen und verdoppelte seine Schnelligkeit; allein Ceridwen wurde sogleich eine Jagdhündin, zwang ihn umzuwenden und jagte ihn gegen einen Fluß. Er lief hinein und wurde ein Fisch, aber seine schlaue Feindin ein Otterweibchen und verfolgte ihn im Wasser, so daß er genötigt ward, Vogelgestalt anzunehmen und sich in die Luft zu erheben. Aber dies Element gab ihm keinen Zufluchtsort, denn das Weib ward ein flinker Falk, kam ihm nach und wollte ihn erfassen. Zitternd vor Todesfurcht sah er grad einen Haufen glatten Weizen auf einer Tenne, er ließ sich mitten hineinfallen und ward ein Weizenkorn. Ceridwen aber nahm die Gestalt einer schwarzen Henne mit hohem Kamm, flog zum Weizen herab, scharrte ihn 869auseinander, erkannte das Korn und verschlang es. Und, wie die Geschichte weiter sagt, sie ward schwanger von ihm neun Monate, und als sie von ihm entbunden wurde, so fand sie ein so liebliches Kind an ihm, daß sie keinen Gedanken mehr hatte, es umzubringen. Sie setzte ihn daher in ein Boot, bedeckt mit einem Fell, und auf Anstiften ihres Mannes warf sie das Schifflein ins Meer am 29. April. Um diese Zeit stand das Fischwehr des Gwyddno zwischen Dyve und Aberystwyth bei seinem eigenen Schlosse. Es war herkömmlich, in diesem Wehre jedes Jahr am ersten Mai Fische von hundert Pfund Wert zu fangen. Gwyddno hatte einen einzigen Sohn, Elphin, den unglücklichsten und ärmsten Jüngling. Dies war ein großes Herzeleid für seinen Vater, welcher nach und nach glaubte, daß er zur Unglücksstunde geboren sei. Die Ratgeber überredeten indeß den Vater, seinen Sohn diesmal die Reuse ziehen zu lassen, gleichsam zur Probe, ob denn irgend einmal ein gutes Schicksal seiner warte, und er doch etwas bekäme, um in der Welt aufzutreten. Am nächsten Tage, es war der erste Mai, untersuchte Elphin die Reuse und fand nichts, doch als er wegging, sah er das Boot bedeckt mit dem Fell auf dem Pfade des Dammes ruhen. Einer der Fischer sagte zu ihm: „So ganz und gar unglücklich bist du noch nicht gewesen, als du diese Nacht geworden, aber nun hast du die Kraft der Reuse zerstört, worin man am ersten Mai jedesmal hundert Pfund Wert fing.“ „Wie so?“ sprach Elphin, „das Boot mag leicht den Wert von hundert Pfund enthalten.“ Das Fell ward aufgehoben, und der Öffner erblickte den Vorderkopf eines Kindes, und sagte zu Elphin: „sieh die strahlende Stirne!“ „Strahlenstirne (Taliesin) sei denn sein Namen!“ erwiderte der Fürst, der das Kind in seine Arme nahm und es seines eigenen Unglücks wegen bemitleidete. Er setzte es hinter sich auf sein Roß, als wenn es im bequemsten Stuhl säße. Gleich darauf dichtete das Kind ein Lied zum Trost und Lobe des Elphin, und zu gleicher Zeit weissagte es ihm seinen künftigen Ruhm. (Die Tröstung war das erste Lied, das Taliesin sang, um den Elphin zu erheitern, der über sein Mißgeschick beim Reusenzug sich grämte, noch mehr, weil er dachte, daß die Welt das Mißlingen und Unglück ihm allein zuschieben würde.)
Elphin brachte das Kind in die Burg und zeigte es seinem 870Vater, der es fragte: ob es ein menschliches Wesen oder ein Geist sei? Hierauf antwortete es in folgendem Liede. „Ich bin Elphin's erster Hausbarde und meine Urheimat ist das Land der Cherubim; der himmlische Johannes nannte mich Herddin, zuletzt jeder König Taliesin. Ich war neun volle Monate im Leibe der Mutter Ceridwen, vorher war ich der kleine Gwion, jetzt bin ich Taliesin. Mit meinem Herren war ich in der höheren Welt, als Lucifer fiel in die höllische Tiefe. Ich trug vor Alexander ein Banner; ich kenne die Namen der Sterne von Nord nach Süd; ich war im Kreise des Gwdion (Gwydion), im Tetragrammaton; ich begleitete den Hean in die Tiefe des Thales Ebron; ich war in Canaan, als Absalon erschlagen ward; ich war im Hofe von Don, ehe Gwdion geboren wurde, ein Geselle des Heli und Henoch; ich war beim Kreuzverdammungsurteil des gnadenreichen Gottessohnes; ich war Oberaufseher beim Werke vom Nimrods Thurm; ich war die dreifache Umwälzung im Kreise des Arianod; ich war in der Arche mit Noah und Alpha; ich sah die Zerstörung von Sodoma und Gomorra. Ich war in Afrika, ehe Rom erbauet ward, ich kam hierher zu den Überresten von Troja (d. h. nach Britannien). Ich war mit meinem Herrn in der Eselskrippe; ich stärkte den Moses durch des Jordans Fluß; ich war am Firmament mit Maria Magdalena. Ich wurde mit Geist begabt vom Kessel der Ceridwen; ich war ein Harfenbarde zu Teon (oder Lleon) in Lochlyn. Ich litt Hunger für den Sohn der Jungfrau. Ich war im weißen Berge (dem Tower in London) im Hofe des Cynvelyn in Ketten und Banden Jahr und Tag. Ich wohnte im Königreich der Dreieinigkeit. Es ist unbekannt, ob mein Leib Fleisch oder Fisch. Ich war ein Lehrer der ganzen Welt und bleibe bis zum jüngsten Tag im Angesicht der Erde. Ich saß auf dem erschütterten Stuhl zu Caer Sidin, der beständig sich umdrehte zwischen drei Elementen; ist es nicht ein Weltwunder, daß er nicht einen Glanz zurückstrahlt?“ Gwyddno, erstaunt über des Knaben Entwickelung, begehrte einen anderen Gesang und bekam zur Antwort: „Wasser hat die Eigenschaft, daß es Segen bringt; es ist nützlich, recht an Gott zu denken; es ist gut, inbrünstig zu Gott zu beten, weil die Gnaden, die von ihm ausgehen, nicht gehindert werden können. Dreimal bin ich geboren; ich weiß, wie man nachzudenken hat; es ist traurig, daß 871die Menschen nicht kommen, all die Wissenschaften der Welt zu suchen, die in meiner Brust gesammelt sind, denn ich kenne alles, das gewesen, und alles, das sein wird.“
Diese Geschichte des Taliesin ist einmal der Stufengang des Lehrlings bis zur höchsten Weihe, sodann die Geschichte des geheimen Ordens vom Kessel der Ceridwen und endlich die Naturgeschichte selbst. Gwyddno ist offenbar der höchste Einweiher in das Mysterium der Ceridwen.
Die Wasserfahrt war demnach ein Abbild der Fahrt des Hu und des Taliesin, die dritte Geburt, die jeder Eingeweihte erfahren mußte, wie der Meister des Ordens Taliesin. Der zweiten Geburt gingen manche schwere Prüfungen voraus, und von der ersten oder natürlichen Geburt bis zur zweiten war der Mensch als ungestaltet und schwarz angesehen, nach seinem Vorbilde, dem Avayddu, bis ihm nach jahrelangem Unterricht die drei Lebenstropfen zu Teil wurden, bis der Durst nach Wissenschaft bei ihm eintrat. Dagegen Ceridwen ist Wrach, oder Hexe, eine Furie, sie ist die Materie, die gewaltsam ihr Teil vom erwachten Geiste zurückfordert, sie ist der Tod, und ihr Kessel oder Schiff die Erde, worin der Mensch begraben wird. Sie ist die Mutter Natur, die das hilflose und ungeistige Kind (Avayddu) zur Schönheit, d. h. zur Geistigkeit entwickelt, dieser Entwickelung Bild ist der jahrelang kochende Kessel, aber der erwachte Geist entflieht der Materie, er kennt ihre Nachstellungen und entkommt ihr. Gwion ist dieser erwachte Geist, und heißt nicht mit Unrecht der kleine, nämlich der Jüngling, der in die Schule der Druiden geht. Seine Verwandlungen sind eben so viele Läuterungen, bis er als reines Weizenkorn von der schwarzen Henne, von der Mutter Erde aufgenommen wird. Nun ist er leiblich tot, bei seiner ersten Wiedergeburt tritt er in einen höheren Grad geistiger Wirksamkeit ein. Die erste Wiedergeburt geschah durch feierliches Hervortreten aus dem Cromlech, der etwa bildlich der Kamm der schwarzen Henne war. Die dritte Geburt des Lehrlings war an das Wiederaufleben der Erde, an den ersten Mai geknüpft, also durch die Frühlingsnachtgleiche bedingt. Wie tief diese Mysterien gegründet und wie viel 872umfassend ihre Lehren gewesen, zeigt nicht nur die Menge der dabei beteiligten Wesen, sondern auch deren weitgreifende Verwandtschaft durch die ganze Sage, und muß jeden zu dem Geständnis nötigen, daß von dem großen Lehrgebäude des Kesselordens uns nur wenig erklärlich und verständlich geblieben.
Diese Beispiele aus dem reichhaltigen Inhalt der keltischen Bardendichtungen mögen genügen, um das Urteil Mones zu verstehen, der seine Mitteilungen daraus mit den Sätzen schließt:
„Es ist eine weite Aussicht, die sich uns eröffnet, eine vielgestaltige Welt, an deren Thoren wir stehen, ein heiliger Tempelkreis, in den wir treten. Wir müssen mit reinem Herzen, das nicht auf Schlechtigkeit ausgeht, mit gelehrigem Geiste, dem nicht Hochmut und Vorurteil das höhere Licht verschlossen, kommen, wie Arthur und Cri, die in das Heiligtum aufgenommen wurden. Unglauben, wie er auch durch Unverständigkeit beschönigt wird, zerstört ebenso die Einsicht in das geistige Leben der Vorwelt, als der Glauben ohne Gründlichkeit, der, wenn er in der Nacht des Altertums einige Lichter erblickt, nun frohlockend meint, es bedürfe nur seiner Ansicht und Einbildung, um aus den zerstreuten und von ferne gesehenen Lichtern der Mitwelt einen Tag hinzuzaubern, wie er im Altertum gewesen. Bewahre sich vor beidem, wem es um die Sache ernst ist! Man braucht in sie weder Liebe noch Haß hineinzutragen, da Ein Ergebnis, das nicht mehr bestritten und bezweifelt werden kann, mehr als hinreichend ist, uns gerecht im Urteil zu machen, dieses nämlich, daß mit dem nordeuropäischen Heidentum, vorzüglich mit dem deutschen und keltischen, eine große Menge und Tiefe der Wissenschaften der Vorwelt verloren gegangen ist.“
Unsere Aufgabe, den Occultismus der Germanen darzustellen, würde eine sehr komplizierte sein, wenn wir uns dabei genau an die Entwicklungsgeschichte der germanischen Mythologie halten und die Vorstellungen und Bezeichnungen der einzelnen germanischen Stämme getrennt halten wollten.
Die kritische Forschung ist in dieser Richtung noch keineswegs zu allgemein anerkannten Ergebnissen gelangt.
Unsere Quellen über die vorchristliche Zeit sind äußerst dürftig. Erst die nordische Forschung, insbesondere die durch die Edda angeregte, hat uns reichhaltigeren Stoff gebracht. Über diese aber äußert sich wohl mit Recht Golther, Götterglaube und Göttersagen der Germanen, S. 1, dahin: „Gerade diejenige Götterlehre, welche im Aufbau abgerundet und vollkommen, von erhabenen Gedanken erfüllt, von sittlicher Anschauung getragen erscheint, die norwegisch-isländische, die auch den Deutschen und überhaupt einmal allen Germanen angehört haben sollte, gilt jetzt vielmehr als eine eigentümliche Neuschöpfung der Nordleute, als der letzte krönende Abschluß einer Entwicklung, an deren Anfang eine irrige Ansicht sie gestellt hatte.“ Dennoch ziehen wir es vor, unseren Lesern diesen Abschluß der Entwicklung zu bieten, anstatt ihn mit zweifelhaften Hypothesen darüber zu behelligen, wie viel von dem hier Gebotenen zur Zeit Cäsars, oder zur Zeit der Völkerwanderung bei dem oder jenem Zweige der germanischen Völkerfamilie schon ausgebildet gewesen sein mag. Denn jedenfalls ist im Keime mehr oder weniger Alles, was uns die Edda in vollendeter poetischer Ausgestaltung bietet, bei den Germanen gemeinsames Stammgut gewesen.
Die germanische Mythologie verleugnet ihren uralten arischen Ursprung nirgends, es finden sich sogar Anklänge an die altindische Weltanschauung, die größte Verwandtschaft aber bezeugt sie zu den Glaubenslehren der Perser. Denn der Dualismus eines bösen und guten Weltprinzips, ewiger Kampf zwischen Licht und Finsternis kennzeichnet die germanische Weltauffassung nicht minder wie die persische; nur daß sich in der Ausprägung derselben im Einzelnen überall ein besserer, heroischer und poetischer Typus bewährt, dem man auch anmerkt, daß frühzeitige Auswanderung in die nordischen Breiten Europas ihn vor der unreinen Infektion mit dem schlechten Asiatismus bewahrte, der die Perser als Magismus entnervt hat.
Als einheitliches Weltprinzip waltet auch über dem Dualismus Allvater, der für die Ewigkeit den Sieg des Guten verbürgt, wenngleich er, ähnlich dem persischen Urgeist Zaruana akarana sich aus der zeitlichen Schöpfung zurückzieht und diese Welt dem Kampf der unteren, selber vergänglichen Götter überläßt.
Lassen wir den Skalden (der Edda) die Schöpfung schildern: Abgrund (Ginnungagap) war, und war nicht Tag und war nicht Nacht, und der Abgrund war gähnende Kluft, ohne Anfang und ohne Ende. Allvater, der Ungeschaffene, Unangeschaute, wohnte in der Tiefe und sann, und was er sann, das ward.
Da entstand nordwärts im Unermeßlichen, wo Finsternis ist und Eiseskälte, Niflheim (Nebelheim) und südwärts Muspelheim (Glutheim), feurig glühend von unendlichen Gluten. In Niflheim that sich auf der Brunnen Hwergelmir, der brausende 875Kessel, und daraus ergossen zwölf Höllenflüsse (Eliwagar) ihre eiskalten Wogen. – Das flüssige Element ist der Urstoff der Welt. – Aber die wilden Wasser erstarrten bald in der grimmigen Kälte zu Eis, und die Schollen rollten übereinander und hinunter in die unermeßliche Kluft und weiter südwärts gen Muspelheim. Über ihnen brausten, die Eisberge aufwühlend Sturmwetter von Niflheim her; doch strahlte wohlthätige Wärme von Glutheim herüber in Ginnungagap, und wie die wallenden Schollen davon erweicht wurden, da belebte sich, was vorher ohne Leben war, und es entstand ein Ungeheuer, ein roher und ungeschlachter Riese; Ymir nannten ihn die Alten, d. h. den Tosenden; er war zweigeschlechtig, entsetzlich dem Anblick. Er schuf aus eigener Kraft andere Ungetüme, die ihm glichen, die Hrimthursen oder Frostriesen (Eisriesen, Reifriesen).
Ungeheure und ungefüge Naturgewalten herrschten in der Urzeit der Welt.
Zugleich mit Ymir war aus dem schmelzenden Eise eine große Kuh entstanden, Audhumla (die Milchreiche). Aus ihren Eutern rannen vier Milchströme, Nahrung spendend dem schrecklichen Ymir und den Hrimthursen. (Er ist die allnährende Natur.) Sie fand nicht andere Weide als an dem Salze der Eisfelsen, die sie leckte. Darauf erschienen von ihrem Lecken am ersten Tage Haupthaar, am zweiten das Haupt, am dritten das ganze Menschengebild. Es war Buri oder Bör (der Geborene), die erste geschaffene, geistige, vollkommene Gestalt, welche sich nun mit der rohen Naturkraft vermählt und den Geist ordnend und regierend hervortreten läßt. Er erzeugt nämlich mit der Hrimthursentochter Bestla drei Söhne: Odin (Geist, beseelende Lebenskraft), Wile (Verstand und Willen), We (Empfindung und Gefühl).
Sofort entbrennt zwischen diesen Söhnen des Bör und dem Ymir ein Kampf; Ymir wird erschlagen und in seinem Blute ertrinken alle anderen Hrimthursen, bis auf einen, Bergelmir, der 876sich mit seiner Familie (wie Noah) auf einem Boote rettet und Stammvater der Jötunen wird, eines Riesengeschlechts, das im fernen Osten haust.
Die neuen Alleinherrscher, Börs Söhne, die sich Asen nannten, d. h. Stützen und Pfeiler der Welt, schufen nun nach Allvaters Willen, aus Ymirs Fleische die Erde, aus dem Blute die See, aus den Gebeinen die Berge, aus dem krausen Haare die Bäume. Die Hirnschale wölbten sie hoch empor zum Himmelsgewölbe, unter dem als Gehirn das Gewölke schwimmt. Dann bauten die Asen aus des Riesen Brauen Midgard (das Reich der Mitte) zur Wohnung den Menschenkindern, die noch ungeboren im Schoße der Zeit schliefen, wie es im Grimnismal der älteren Edda heißt.
Denn noch herrschte die Allmutter Nacht, eines Riesen Tochter und dunkel wie das Riesengeschlecht. Flammende Funken von Muspelheim sprühten irr und wirr durcheinander; denn die Sonne wußte nicht ihren Sitz, noch der Mond seinen Malweg, noch die Sterne ihre Stätte. Die Asen wandelten die Lichtfunken in Sterne und festigten sie am Himmelsbogen, die dunkle Nacht aber hob Allvater zum Himmel empor und gab ihr das Roß Hrimfaxi (Reifmähne), von dessen Gebiß reichlich Tau in die Thäler rinnt, damit es ihren dunklen Wagen ziehe, wenn sie über das Weltall fahrend den duldenden Wesen Schlummer bringt. Ihrem dritten Gatten Dallinger (Dämmerung), der von Asen stammte, gebar sie den glänzenden Tag.
Zu dieser Zeit wuchsen auf in der Halle des Vaters, der Mundilföri (Achsenschwinger) zwei liebliche Kinder, Sol (Sonne) und Mani (Mond). Als sie zur Jugendblüte heranreiften wunderte sich alle Welt über ihre Schönheit, und der Vater in seinem Stolze verglich sie mit den seligen Göttern. Aber die Asen, dem Übermute zürnend, nahmen die blühenden Geschwister von der Erde weg, damit sie am Himmel in schönerem Glanze leuchten möchten. Also fährt Sol im Sonnenwagen, den die Asen von Muspels sprühenden Funken erbauten. Zwei edle Hengste, Armaker (Frühwach) und Alswider (Allgeschwind), ziehen ihren feurigen Wagen, dessen Gluten der Schild Swalin (Kühlung) dämpft, damit nicht vor der Zeit Himmel und Erde in Flammen vergehen, denn
So folgt die schöne Sol dem lichten Tage, wenn er, Liebesworte mit ihr tauschend, durch die Wogen des Himmels eilt. Skinfaxi (Lichtmähne), das edle Roß, zieht des Gebieters goldenen Wagen in raschem Fluge dahin und seine Mähne erleuchtet Luft und Erde.
Der dunklen Nacht folgt Mani mit dem Mondwagen. Als er nun einstmals über ein ödes Waldland hinfuhr, sah er zwei Kinder, Bil (die Schwindende, der abnehmende Mond) und Hyuki (der Belebte, der zunehmende Mond). Sie trugen schwere Wassereimer und schienen ganz erschöpft. Doch schleppten sie die Last mühsam fort, weil ihr harter Vater sie noch in später Nacht zur Arbeit zwang. Mitleidig umfing sie Mani mit seinen Strahlen und nahm sie zu sich in seinen himmlischen Wagen, wo man sie noch von der Erde aus sehen kann.
Sol und Mani dürfen in ihrem Fluge nicht weilen; denn der grimmige Wolf Sköll verfolgt sie durch die Himmelsräume, bis sie sich am Abend in die Fluten des Meeres birgt, und der entsetzliche Hati jagt dem Meere nach. Wenn die Wölfe der ersehnten Beute nahe kommen, so erblassen die leuchtenden Himmelsbewohner und verlieren ihren Schein, das nennen unkundige Menschen Sonnen- oder Mondfinsternis. Den schrecklichen Hati gebar und mästet mit andern Wölfen seiner Art ein Riesenweib, das weit östlich in Jarwider sitzt und Göttern und Menschen ein Grauen ist. Von ihrer Brut ist Managarm (Mondhund) der furchtbarste, der einst am Ende der Tage den Mond würgt und die Säle der Himmlischen mit Blut bespritzt, wie es in der dunklen Orakelsprache der Völnspa heißt:
Linde Lüfte bringt säuselnd Swasuder (Sanft-Süd) holdselig von Angesicht; sein Sohn ist der blumenbekränzte Sommer. Doch folgt ihm bald der grimmige Riese Windswaler, mit dem Winter, seinem Erzeugten. Die ziehen fort und fort nacheinander durch alle Zeiten, bis die Götter vergehen. Auch sitzt am Ende des Himmels der ungeheure Riese Hräswelger (Leichenschwelger) im Adlerkleid und schlägt die Schwingen, davon der Sturmwind über die Völker der Erde tost.
Wir sehen, daß die Sonne früher auch bei den Germanen als männliches Wesen personifiziert wurde; indeß erscheint an Stelle Sols schon frühzeitig die weibliche Sunna.
Allvater, fährt die Sage fort, wohnte in der Tiefe und sann, und was er sann, das ward. Da erstand, unberührt von der Faust dieser Gewalt, die Esche Yggdrasil, der Baum der Welten, der Zeiten und des Lebens. Ihre Zweige breitet sie aus bis in den Himmel, ihr Wipfel überschattet Walhalla, die Halle der seligen Helden. Drei mächtige Wurzeln nähren und tragen den Stamm; die eine reicht gen Niflheim; unter ihr herrscht über das Reich der Schatten die bleiche finstere Hel, und da sprudelt der urweltliche Brunnen Hwergelmir, in dessen Tiefen die Geheimnisse der vorweltlichen Dinge verborgen ruhen, die weder Menschen noch Götter noch Riesen zu ergründen vermögen. Die andere Wurzel zieht gen Jötenheim, wo Mimirs Born quillt, in dem die Kunde von der Urwelt, von der Entstehung, dem Werden der Dinge sich birgt. Da sitzt Mimir (Erinnerung), der weise Jote, und trinkt alle Tage von der Flut, die er mit Walhallas Pfande schöpft. Denn er selbst, Odin, der sinnende Ase, kam einstmals zu dem Wächter des Brunnens, einen Trunk begehrend, und Mimir verlangte und erhielt dafür ein Auge des nach urweltlicher Weisheit spähenden Gottes zum Pfand. Die dritte Wurzel breitet sich gen Midgard aus, der Stätte der sterblichen Menschen.
Daselbst quillt und wallt das Wasser des Urd-Borns, der die Geheimnisse des Entstehens und Vergehens der irdischen Dinge umschließt. Wenn die Völker und ihre Herrscher die Tiefen ergründen und den plaudernden Fluten lauschen wollten, würden sie mit verjüngter Kraft zu neuen Thaten schreiten. Auch ziehen in dem Brunnen zwei silberne Schwäne ihre Kreise; die sind still und stumm, wie die Vergangenheit, die nicht gehört, wie die Zukunft, die nicht beachtet wird.
Dem Urd-Born entstiegen, sitzen am Ufer ernst und schweigend die drei Nornen: Urd (Vergangenheit), Werdandi (Gegenwart) und Skuld (Zukunft). „Sie spinnen und weben der Neugeborenen Fäden, härene und seidene und etliche von Gold, einen aber gen Norden, der unzerreißbar, unentrinnbar des Lebens Leid bedeutet und den Niedergang zur Hel.“
Der Mythus vom Weltbaum ist unverkennbar uralten arischen Ursprungs. Er erinnert an Platons Weltachse, Republik X. 619. Vgl. S. 582 oben. Offenbar haben wir hier den indischen Lingam, dessen sinnbildliche Darstellung sich noch in der berühmten Irminsäule, dem Heiligtum der Sachsen, das Karl der Große zerstörte, wiederfindet.
„Der Todesgöttin sind die Schicksalsschwestern verwandt. In grauer Urzeit geboren, wurden sie von Joten aufgepflegt, bis sie ans Licht des Tages traten und nun, am Urd-Born sitzend, den Wechsel der Zeit verkündigen. Sie begießen den Lebensbaum mit dem heiligen Wasser der Quelle, daß er nicht der Fäulnis erliege; aber sie wissen und verkündigen es auch, wie alles Leben dem Untergang sich zuneigt, dem auch die seligen Götter nicht entrinnen können.“ – „An den Blättern der Weltesche zehrt der Hirsch Eikthyrner, gleichwie das umrollende Jahr an der Dauer der Welt und der endlosen Zeit; vier andere Hirsche, Dain und Dwalin, Dumaier und Durnthor, nähren sich von den Knospen und Sprossen, wie die Jahreszeiten Stunden und Tage verzehren und sie doch nicht mindern. Von Helheim herab aber bäumt sich der Drache Nidhöggr und unzähliges Gewürm, die Wurzel benagend.“
„Können wir nichts thun, um den Lebensbaum zu schützen?“ fragten einst Odin die anderen Asen.
„Gegen den großen Hirsch und die übrigen genügt die Arbeit der Nornen“, antwortete Jener, „denn was die Schwäche der Weltlenker und das beständige Schwinden der erschaffenen Wesen dem Werke des Geistes schadet, das wird durch das Walten der Weltgeschichte ersetzt. Aber das Grundübel ist unheilbar; dem Werke klebt der vergängliche Stoff an. Zwar nur eine Wurzel des Baumes steht in Niflheim, allein, wenn es Nidhöggr erst gelungen ist, diese zu untergraben, so werden andere, geistige Feinde den Stamm leicht zum Wanken bringen. Gegen sie, welche bald hereinbrechen werden, habe ich einen treuen Wächter auf die Spitze des Baumes gestellt. Ihr seht dort meinen Adler horsten und zwischen seinen Augen sitzt ein Falke. So schaut er ohne Unterlaß mit doppelter Sehkraft aus. Damit er nie einschlummere, läuft jenes Eichhörnchen beständig am Stamme auf und ab.“
Sonderbarer Weise findet man auch im deutschen Aberglauben eine hohe Bedeutung des Tannenwipfels und eine Beziehung des Eichbaumes auf denselben. In dem „sympathetischen Mischmasch“ (1715, S. 82) und in den 138 Geheimnissen (Frankfurt und Leipzig 1726) heißt es, der höchste Tannenzapfen am Baum mache schußfrei und, wenn ein Eichhörnchen davon es esse, könne es auf keine Weise getroffen werden. Daher trage man auch solche Zapfen im Kriege bei sich, um schußfest zu werden. (W. Menzel, vorchristl. Unsterblichkeitslehre S. 71.)
„Nidhöggr“, fährt Odin fort, „läßt dem Wächter keine Ruhe: denn der Lindwurm ist grimmig, daß durch die Wachsamkeit des Adlers seinem dereinstigen Verbündeten und dadurch auch ihm das Werk erschwert wird. Wilde Lästerungen stößt er deswegen unaufhörlich gegen die Asen aus; das Eichhörnchen hinterbringt sie dem Adler, der ihm kräftige Drohungen zurückschickt. Der Zorn über die frevle Zerstörungswut hält das Auge des Geistes wach gegen die nahende Versuchung; dieser Zorn wird aber nur unterhalten, wenn schnelle Gedanken beständig zwischen Himmel und Erde hin und her eilen und Himmlisches und Irdisches gegen einander halten. Was der Adler nicht erschaut, das werden mir 881meine beiden Raben künden. Sie heißen Hugin, d. h. der Gedanke und Mimir, d. h. Erinnerung. Täglich sollen sie um die Welt fliegen und mir alles melden, was vorgeht. Gegen unsere zukünftigen Feinde bin ich gerüstet; bisher beherrschte Liebe die Welt; von nun an muß Furcht hinzukommen. Yggr, d. h. Schrecken, wird bald mein Name sein, und der Baum, der mich getragen, heiße Baum des Schreckens: Yggr drasil.“
Die Edda (Wöluspa) schildert uns 12 Weltteile oder Himmelsfesten, die vermutlich den 12 Sternbildern des Tierkreises entsprechen. 1) Midgard, die Erde, ist schon genannt. Auf und über der Erde ist 2) Wanaheim, der Wohnplatz eines jüngeren Göttergeschlechts, in denen sich die Natur der Asen vermischte mit der Natur der Jötunen. Wahn war ihr Wesen, d. h. unbewußtes Schauen und Sinnen. Man erklärt sie vielfach für die Götter des Gemüts, der sinnlichen Triebe, einzelne halten sie auch für die Götter der Wasserwelt, unter deren Herrschaft das Meer und die Flüsse standen. Unter der Erde ist 3) Schwarzelfenheim, der Aufenthalt der von Loki geschaffenen Zwerge. Durch dieses gelangt man zum Totenreich, 4) Helheim, welches von 5) Niflheim begrenzt wird. Südwärts liegt das erwähnte 6) Muspelheim, wo Surtur mit dem Flammenschwert herrscht und Muspels Söhne wohnen. Über Midgard im sonnenhellen Raum liegt 7) Lichtelfenheim, der Aufenthalt der Lichtelfen, Zwerge, die sich von den Erdzwergen durch ihre lichte Hautfarbe unterscheiden und die Gefilde Asgards schmücken und für die Asen arbeiten, wie die Erdzwerge für Widar und Hödur. Über diesem aber wölbt sich 8) Asgard, die Burg der Asen, von Gold und glänzendem Gestein erglänzend und in ewigem Frühling grünend. Dieses trennt ein breiter Strom von 9) Jötunheim, dem Aufenthalt der zauberkundigen Joten. Daneben werden noch genannt 10) Glidskialf, der Hochsitz Odins, 11) Gladsheim (Glanzheim), der Hof Odins, der auch Walhall umschließt, und 12) Himmelsburg, wo Heimdal wohnt, der Wächter der Götter.
Der höchste der Asen, der Göttervater, der nächst dem ungeschaffenen Allvater die von ihm geschaffene Welt während ihrer ganzen Dauer regiert, ist Odin, von Wolfgang Menzel treffend als eine Personifikation der Zeit und zugleich des absoluten freien Willens charakterisiert, ein Gott, der an sich weder gut noch böse, doch im Verlaufe der Zeitlichkeit mancherlei Unrecht verübt und schließlich nicht ohne Schuld den Untergang dieser Welt herbeiführen muß. Odin ist der deutsche Wodan, der Himmelsgott, gewöhnlich einäugig gedacht; denn der Himmel hat nur ein Auge, die Sonne; ein breiter Hut beschattet seine Stirn, die Wolke, sein Mantel ist blau mit goldenen Sternen bestickt.
Die Römer (Cäsar und Tacitus) identifizierten ihn mit Merkur; denn sie berichten, Merkur sei der höchste Gott der Germanen. Dies wird nur erklärlich, wenn man bedenkt, daß bei den Römern Merkur als Totenführer gilt. Ein Führer der Seelen war aber auch Odin-Wodan; denn die Seele dachte man sich als ein luftartiges Wesen. Nach dem Tode führt Odin sie in sein luftiges Reich. – In dieser Eigenschaft als Luftgeist und Führer abgeschiedener Seelen hat Wodan sich am längsten in der deutschen Volkssage erhalten. Es ist der im Sturm jagende Wode, der wilde Jäger, der in lokalen Sagen noch jetzt als Hackelbaraud, Rodensteiner erscheint und das Gespensterheer über die Wälder dahin führt.
Während aber in den späteren vom Christentum beeinflußten Sagen die Seelenführung Odins einen unheimlichen Charakter angenommen hat, war sie im Heidentum vor allem eine Führung der heldenhaften Seelen. Odin ist der große Heerführer. „Gieb uns den Sieg, Heervater“, flehten betend und opfernd die Fürsten der Vandalen zu Wodan.
In Odins Himmelsburg war ja auch Walhalla, eine ungeheuere große Totenhalle, in die alle Könige, Helden und zur Waffenehre berechtigten freien Männer nach ihrem Tode aufgenommen wurden, als die sog. Einherier (Genossen des Heeres, Waffenbrüder). Sie werden an der Tafel, an der Odin allein Wein trinkt, sie aber Bier, von den schönen Walkyren (Totenwählerinnen, Wunschmädchen) bedient, ziehen dann auch abwechselnd hinaus auf die Ebene Ida, um männliche Spiele zu treiben und 884miteinander zu kämpfen, weil ihnen schon im Leben Kampf immer das liebste gewesen. – Außer der Walhalla gab es nach der Edda noch andere Himmel, einen der Frauen, der Jungfrauen und einen sehr großen für das gemeine Volk. Nach Walhall gelangten nur Helden und diese auch nur, wenn sie im Kampfe gefallen waren oder sich auf dem Sterbebette wenigstens noch mit einer Lanze verwundet hatten.
Derselbe Odin, der Führer der Helden, ist nur bezeichnend für die germanische Schätzung der Dichtkunst – „es soll der Dichter mit dem König (Helden) gehen“, – noch der Gott der Dichtkunst, und wieder bezeichnend für das Volk der Dichter und Denker, der Gott der Weisheit. Eigentümlich ist die Erzählung der Edda vom Dichtertrank, in dessen Besitz Odin sich mit Unrecht und Arglist zu setzen wußte. Die Asen und Vanen, d. h. vielleicht die sittlichen und physischen Mächte, hatten sich zu Anfang bekämpft. Es wurde aber zuletzt Frieden geschlossen, und dies geschah, indem beide Teile in ein Gefäß spuckten. Dieses Friedenszeichen schufen die Asen nachher in einen Mann um, namens Quasir, der so weise war, daß er auf alle Fragen, die man an ihn richtete, Antwort zu geben wußte. Quasir fuhr nun weit im Lande umher, die Menschen zu unterrichten und überall rühmte man seine Weisheit und seinen Verstand, so daß sein Ruhm sich weithin verbreitete. Einstmals kam er zu zwei Zwergen, namens Fialar und Galar; diese waren neidisch auf seinen Ruhm, und töteten ihn deshalb. Sein Blut ließen sie in zwei Fässer rinnen, die Son und Boden hießen, und in einem Kessel, den sie Odrärer nannten. In dieses Blut mischten sie Honig, und daraus entstand ein herrlicher Met, welcher die Eigenschaft hatte, daß er die, welche davon tranken, zu Dichtern und weisen Männern machte.
Dieser Zaubertrank kam schließlich in den Besitz des Riesen Suttang, der ihn in einem Felsen, namens Huitberg verbarg. Er selbst kostete nicht einmal davon, denn er war zu geizig dazu. Seine Tochter, die schöne Gunlödi, stellte er als Wächterin bei dem Met und verbot ihr streng, davon etwas zu genießen. Davon hat die Dichtkunst auch die Namen: Quasirs Blut, Zwergtrank, Odreers oder Bodens oder Sons Naß, Huitbergs Met oder Naß.
Odin hatte von diesem wunderbaren Getränk gehört, und obschon er selbst die Gabe der Dichtkunst und die Weisheit in einem hohen Grade besaß, wollte er doch von diesem Met kosten, um noch weiser zu werden.
Er machte sich daher auf den Weg nach dem Riesenlande, und zwar ohne alle Begleitung, und kam an einen Ort, an dem neun Riesen das Heu abmäheten. Obgleich der mächtigste Gott, getrauete er sich doch nicht, die neun Riesen zu bekämpfen, und suchte daher durch List ihrer Herr zu werden.
Er fragte sie nämlich, ob er ihnen mit seinem kostbaren Wetzsteine die Sensen wetzen solle, und die Riesen willigten ein. Odin nahm darauf einen Wetzstein aus der Tasche, und machte die Sensen darauf so scharf, daß die Riesen darüber sehr erfreut waren; aber nun wollten sie auch den Wetzstein haben. Odin sagte, wer ihn kaufen wolle, solle geben, was billig sei. Jeder sagte darauf, daß er ihn kaufen wolle, und sie gerieten darüber in Streit. Da warf Odin den Stein in die Luft, und nun griffen alle darnach, und sie kamen derart ins Handgemenge, daß sie sich mit ihrem Eisen töteten.
Odin setzte nun seinen Weg fort und kam des Abends zu einem Riesen, namens Bangi, einem Bruder Suttangs; er hatte hier wieder eine andere Gestalt angenommen und nannte sich Bölwerk.
Bangi, der den Götterfürsten nicht erkannte, nahm ihn sehr gut auf, und erzählte ihm, auf welche Weise er neun seiner Knechte verloren habe, und wie er nun nicht wisse, woher er Arbeiter nehmen solle. Da erbot sich Bölwerk, bei ihm zu bleiben während des ganzen Sommers, und ebensoviel zu arbeiten, als die neun Knechte gearbeitet hatten; doch sollte ihm Bangi zum Lohne dafür am Ende des Sommers einen Trunk aus Suttangs Met verschaffen. Bangi antwortete, daß er nicht Herr über den Met sei, versprach ihm jedoch, mit ihm zu seinem Bruder zu gehen und diesen darum zu bitten, denn einen so tüchtigen Arbeiter wollte er nicht so leicht wieder ziehen lassen.
Während des Sommers arbeitete Bölwerk für neun; als aber der Winter herankam, verlangte er seinen Lohn. Beide begaben sich nun zu Suttang; Bangi erzählte seinem Bruder, was Bölwerk 886für ihn gethan und was er ihm versprochen hatte, und bat ihn nun um einen Trunk von dem Dichtermet, aber Suttang schlug die Bitte geradezu ab, und sagte, daß niemand von seinem Met kosten solle.
Darauf sagte dann Bölwerk zu Bangi, daß sie es nun durch List versuchen müßten, um den Met zu bekommen, und Bangi war damit zufrieden.
Beide machten sich nun auf den Weg zu dem Felsen, in welchem der Dichtertrank eingeschlossen war. Als sie dort angekommen waren, zog Bölwerk einen Bohrer hervor, der Rati genannt war, und gebot Bangi, mit diesem scharfen Bohrer den Felsen zu durchbohren. Bangi that es, und nach einiger Zeit sagte er, der Fels sei nun durchbohrt. Aber Bölwerk blies in das gebohrte Loch, und da ihm die Spähne ins Gesicht flogen, merkte er, daß ihn Bangi betrügen wolle. Er verlangte daher, daß Bangi den Felsen vollständig durchbohren solle, und er mußte es thun. Als Bölwerk nun wieder hineinblies, flogen die Spähne ins Innere des Felsens. Schnell verwandelte sich nun Bölwerk in eine Schlange, und kroch durch das Loch. Bangi stieß ihm den Bohrer nach, aber ohne ihn zu treffen.
Als Bölwerk nun in dem Felsen angekommen war, nahm er eine Gestalt an, in welcher er der Gunlödi so außerordentlich gefiel, daß sie ihm nichts verweigern konnte. Während dreier Tage und dreier Nächte blieb er in dem Felsen. Beim ersten Trank leerte er den Kessel Odrärer, beim zweiten das Faß Boden und beim dritten das Faß Son. Hierauf verwandelte er sich in einen Adler, flog eiligst davon, und ließ die betrogene Gunlödi in Verzweiflung zurück.
Unterdeß hatte Suttang Kunde erhalten von dem, was geschehen war. Schnell verwandelte er sich ebenfalls in einen Adler, und flog ihm nach. Die Asen sahen Odin schon in weiter Ferne; sie bemerkten aber auch, daß Suttang ihn verfolgte, und daß Odin durch den in reichlichem Maße genossenen Met schwerfällig geworden. Sie setzten deshalb schnell Gefäße in den Hof, in welche Odin, als er den Asgard erreichte, den Met ausspie. So gelangte Odin zu dem Dichtermet. Odin gab davon den Asen und allen guten Dichtern. Dies ist der Ursprung von dem, was wir Dichtkunst, Odins Fang oder Fund, oder der Asen Gabe und Trank nennen.
So weit die Erzählung in der jüngeren Edda. In der Havamal wird dieselbe Mythe wenn auch nicht so vollständig erzählt, aber weit schöner ausgeschmückt:
Ähnlich raubt nach indischen Mythen der Gott Indra den im Wolkenberge gefesselten Met und bringt ihn in Falkengestalt zu den Sterblichen.
„Ich weiß“, so spricht in einer der rätselhaftesten und tiefsinnigsten Dichtungen der Edda Odin, „daß ich hing am Baume der Welt neun lange Nächte, vom Speer verwundet, den Odin geweiht, ich selber mir selbst. Am Baume hing ich, des Wurzel keiner kennt. Man bot mir nicht Brot noch Trank. Da, in die Tiefe spähend, empfing ich Runen und sank vom Baume nieder. Vom Ahn, dem Urriesen, lernt' ich der Lieder neun, und trinkend den Mut aus Odrörers Born, gewann ich Gestalt und Bildung und begann zu denken. Wort aus dem Wort verlieh mir das Wort; Werk aus dem Werk verlieh mir das Werk. – Runen sollst Du finden, o Menschenkind, Ratstäbe, mächtige Stäbe, die Götter schufen, und die der allwaltende Herrscher eingeschnitten hat. Er schnitt sie ein zur Richtschnur den Völkern, dann entwich er von wannen er wiederkehrt.“ – Dieser Mythus wird von Mannhardt folgendermaßen gedeutet: „Der sinnende Gottesgeist, – Odin, – schwebt am Weltbaum außerweltlich über der zeitlich-materiellen Welt. Er blickt nieder in die Tiefen der Schöpfung und sucht Runen, d. h. die Eigenart, die Wesenheit der Dinge zu erforschen. Er 889leidet Pein: vom Speer verwundet, ohne Brot und Trank neun lange Nächte. Denn jede Geburt bringt Schmerz und bedarf der Zeit, um zu reifen. Wie er die Runen erkennt und erfaßt, sinkt er herab, er sich selbst zum Opfer bringend. Der Geist taucht in die unbeseelte Materie, wird innerweltlich, wächst und gedeiht im endlosen Leben durch das Leben, Wort aus dem Wort und Werk aus dem Werk. Er durchdringt und beherrscht die Welt, da er aller Dinge eigenste Art erkannt hat. Er beherrscht sie durch Lieder, welche die Runen lebendig, zauberkräftig machen; denn neun Hauptlieder hat er von dem urweltlichen Riesen erlernt und hat von Gunlöds Wundermet getrunken. Es ist die Sprache des Gesanges, die, wie in der hellenischen Orpheussage nicht bloß das menschliche Gemüt, sondern sogar leblose, unbeseelte Dinge belebt.“ – Der runenkundige Gott ist zugleich der Zauberkundige. Eins der ältesten altdeutschen Sprachdenkmale ist jener Zauberspruch:
Sogar zu Mimirs Born war Odin hinabgestiegen, um den Grund aller Dinge zu erfahren. Heimlich fuhr er dahin und begehrte einen Trunk aus Mimirs Born. Aber der Riese verlangte dafür ein Auge des Gottes. So groß war dessen Durst nach Erkenntnis, 890daß er das eine Auge dafür gab. Mimir hatte vordem wohl Kunde von den ältesten Zeiten gehabt; allein die Einsicht in das Geschehende hatte ihm gefehlt; von nun ab benutzte er das Auge Odins als Trinkhorn, und aus des Geistes Auge trank er Einsicht vom Quell des Gedächtnisses. – Odin aber kehrte grübelnd und sinnend zurück. Vieles war ihm klar geworden; doch sah er ein, daß niemand Allvaters Ratschlüsse aus der Natur endlicher Wesen erschließen kann, und wenn er die Schöpfung bis zum ersten Keimpunkt zurückverfolgt. Als die Asen ihn fragten, wodurch er sein Auge verloren, zeigte er auf die großen Lichter, welche Tag und Nacht erhellen, und „Wißt ihr“, fragte er sie, „warum nur eine Sonne und ein Mond an meinem Himmel steht? Seht, ihr Ebenbild schaut euch aus dem Gewässer entgegen. Ein Auge des Himmels wacht über der Welt; das andere ist versenkt in das Meer der Zeiten, in den Urstoff der Dinge.“
Ein tieferer Sinn dieses Mythus vom einen Auge Odins, dessen anderes er bei Mimir zum Pfande ließ, scheint mir durch die spekulative Hypothese vom transscendentalen Ich gegeben zu sein, die wir bereits bei Plato und Aristoteles berührten, die Kant und endlich du Prel in der Lehre vom Doppel-Ich, dessen eine Hälfte im Transscendenten liegt, modernisiert hat. (Vergl. S. 832 und 613 oben.)
Nächst Odin-Wodan nehmen Thor und Loki die bedeutendste Stelle im germanischen Götterhimmel ein.
Thor, Thunaras, ahd. Donar, ist ebenfalls Himmelsherrscher, aber eine von dem höheren umfassenden Begriffe Odins abgespaltene Rolle, nämlich als Herr des Gewitters. Nach ihm trägt der Donnerstag noch heute seinen Namen. Auf einem von Böcken gezogenen Wagen fuhr er durch die Wolken dahin, der einschlagende Blitz war sein Geschoß, gedacht als steinerner Wurfhammer. Sein Charakter vereint Kampflust und Gutmütigkeit; letztere läßt ihn oftmals das Opfer von Trug und Lug werden. Ihm galt vor allem das Gebet und der Kriegsgesang der Germanen beim Auszug in die Schlacht.
Nach Mone (S. 404) ist Thor „das Übergewicht der allgemeinen organischen Lebenskraft über die unorganische Materie oder 891mit anderen Worten der kämpfende Sonnenheld“. Letzteres würde uns begreiflich machen, warum die Römer in ihm nicht nur ihren Jupiter tonans, sondern mehrfach auch ihren Herkules wiederzuerkennen glaubten.
Er war ein Sohn Odins und der Erde, was ganz physikalisch durch die aus der Erde aufsteigenden Gewitterwolken gedeutet werden könnte. Er versinnbildlicht auch die Fruchtbarkeit, als zeugendes Prinzip; denn die blonde Sif, die Ernte ist sein Weib, nämlich im Sommer; im Winter heißt sein Weib Jarasaxa (Eisenschwert oder Pflugschar). Kraft ist seine hervorstechendste Eigenschaft. Thrudheimr (Kraftwald) ist der Name seines Wohnsitzes, er wandert gern mit einem Tragkorb auf dem Rücken zu Fuß einher, ißt und trinkt unmäßig, ist leidenschaftlich, und wenn er zürnt, schnaubt er in seinen roten Bart, daß es wie Donner durch die Wolken schallt.
Er ist der Hauptfeind des Riesengeschlechts. Als er einst schlief, – im Winter ist seine Kraft abwesend –, stahl ihm der Riese Thrymr, der Starke, seinen Hammer (Mjöllnir) und verbarg ihn tief in der Erde. Er wollte durch Vorenthaltung des Hammers sich die Göttin Freyja zur Frau erpressen. Auf Heimdallrs Rat legte nun Thor Freyjas Gewand an und nahm den listigen Loki, der sich als Magd verkleidet hatte, mit ins Thursenland, das Thrymr beherrschte. Von Thrymr sehnsuchtsvoll empfangen, fiel er diesem auf durch unmäßiges Trinken und Essen, einen ganzen Ochsen aß er und acht Lachse und alle Kuchen, die den Weibern bestimmt waren. Da hob Thrymr seinen Schleier und prallte entsetzt zurück, da er Thors furchtbar funkelnde Augen erblickte. Doch gebot er, den Hammer zu bringen um die Braut zu weihen.
Da lacht dem verkleideten Thor das Herz, als er seinen Hammer wiedersieht; er ergreift ihn, erschlägt den Riesenfürsten und zerschmettert das ganze Geschlecht.
Mone findet in dieser Sage eine Anspielung auf die Idee der Wiedergeburt: „da Heimdallr die Seelen zur Wiedergeburt der Frau (Freyja) überliefert, so muß Thor selbst eine Frau werden, wenn er (der Winterschlaf ist der Tod) wiedergeboren sein, d. h. zu seinem Hammer gelangen will.“ Einfacher und natürlicher scheint es mir, darin nichts anderes als das Erwachen des Frühlings zu finden.
Loki, der Endiger, von riesischer Abkunft, ist der Anstifter jeglichen Unheils bei Göttern und Menschen, scheinbar zunächst ein treuer Gefährte der anderen Asen, schön wie Lucifer, hat er im Anfang der Zeiten mit Odin Blutsbrüderschaft getrunken. Doch weil er vom Herzen eines bösen Weibes getrunken, ist er schwanger geworden und hat die Ungeheuer, den Fenriswolf, die Midgardschlange und die Totengöttin Hel geboren. Er selbst pflegt sich unter den verschiedensten Verwandlungen zu zeigen, ein Geist, der stets dem Widerspruch und der Verneinung dient. Er heißt auch Loptr (Luft) und Lodorr (Hitze); Funkenspiel und zitternde Luftbewegung bringt heute noch nordischer Volksglaube mit Lokis Namen in Verbindung. Loki ist das Feuer, das der Sturm aus dem Holze entfacht. Denn seine Eltern heißen Farbauti, der gefährlich Schlagende und Nal, Nadel am Nadelbaum.
Loki ist es, der bekanntlich den Balder, diese reinste Lichtgestalt unter den Asen, den guten Gott durch den blinden Hödur töten läßt, wie es die jüngere Edda 49 schildert: Balder, der Gute, hatte schwere Träume, sein Leben sei in Gefahr. Da hielten die Asen Rat, um ihn zu schützen, und Frigg, seine Mutter, nahm Eide von allen Elementen, Steinen, Pflanzen, Tieren, Krankheiten und Giften, daß sie Balder verschonen sollten. Die Asen stellten darauf den Balder in die Mitte, warfen und schlugen nach ihm mit allen möglichen Werkzeugen und konnten ihn nicht verletzen. Loki aber, der die Gestalt eines alten Weibes angenommen hatte, lockte der Frigg das Geheimnis ab, ob ihrem Sohn doch vielleicht etwas schaden könne. Unvorsichtig vertraute ihm Frigg, von einer 893Mistel allein, die auf einem gewissen Baum wachse, habe sie keinen Eid genommen, da dieselbe ihr zu jung vorgekommen sei. Da pflückte Loki die Mistel ab und gab sie dem Hödur, der ein Bruder des Balder und von großer Stärke, aber blind war. Als nun alle Asen schon versucht hatten, den Balder zu verletzen, sollte es auch der blinde Hödur versuchen; kaum aber berührte er ihn mit der Mistel, so fiel der schöne Bruder tot zu Boden. Seine Leiche wurde von den Asen in ein großes Schiff gebracht und verbrannt. – Die Götter entsandten Hermordr, einen anderen Bruder Balders, nach Hel, der Totengöttin, um den Gestorbenen aus ihrer Macht zurückzulösen. Hel knüpfte die Auslösung an die Bedingung, daß alle Wesen, lebende und tote, um Balder weinen. Das thaten sie auch mit Ausnahme des Riesenweibes Tök, einer Vermummung Lokis, und somit konnte Balder nicht wieder zur Welt kommen.
Die Deutung dieses Mythus bietet viele Schwierigkeiten. Im allgemeinen kann Uhlands Erklärung, Sagenforschungen I, 144ff. als die natürlichste gelten, der Balder als das Licht und den Sommer, den blinden Hödur als die Nacht und den Winter, Balders Tod als die Schwächung der Sonne in der Sonnenmitte, Nanna als die Pflanzenwelt, die mit dem Sommer stirbt, deutet. Aber unerklärlich steht die in der Druidenlehre so wichtige Mistel da. – Nach Professor Kauffmann und Professor Golther haben wir es nur mit einer erst spät zur Göttersage umgewandelten Heldensage zu thun, die ursprünglicher und echter bei Grammaticus überliefert ist, wo Balder, ein Held, mit Kriegsmacht in das Land des Gevarus eindringt, um sich Nanna, seine Geliebte zu erkämpfen. Er fällt hier durch das Schwert Hothers, welches Mistilteinn heißt. Dies Wort sei später als Mistelzweig mißverstanden.
Indeß erscheint mir diese Hypothese schon anticipatorisch bei W. Menzel, vorchristl. Unsterblichkeitslehre widerlegt zu sein. Wahrscheinlich ist doch, daß der esoterische Kern der Mythe ähnlich wie derjenige des Osiris- und Zagreus-Dionysios-Mysteriums die Wiedergeburt und die Wiederbringung aller Dinge betrifft. – Die Asen wollten den Loki für seine Frevel sofort töten. Aber Odin, der schon vorher den Tod Balders bei seinem Ritt nach Niflheim erkundet 894hatte, hindert die Ermordung Lokis. Er weiß, daß alles sich nach dem Schicksal erfüllen muß, daß Loki dereinst diese Welt zerstören wird, daß aber in der darnach erstehenden neuen Welt Balder herrschen soll. Loki ward nun, wie sein Sohn, der Fenriswolf, gebunden mit einem Geisterbande. So lange diese Bande nicht reißen, so lange besteht die Welt. Nach dem nordischen Glauben sind wir aber schon im sechsten Alter der Welt, eine Idee, die im ganzen Mittelalter Volksglaube war, wonach sieben Weltalter einander folgen sollen. Wenn Loki oder der Teufel wieder los wird, dann kommt das Ende der Welt.
Erwähnung verdient unter den männlichen Asen neben Hoenir, Uller, Bragi, dem Skaldengott, Aegir, der die Ruhe des Meeres personificiert. In Aegirs durch Frieden geheiligter Halle sind die Götter gern zu Gast und zechen; statt des erleuchtenden Feuers dient hier strahlendes Gold. Im Leuchten des windstillen Meeres mochte man, meint Uhland, den Glanz des versunkenen Goldes spielen sehen. Erwähnung verdient sodann noch Freyr, welcher die Sehnsucht des Mannes nach dem Weibe darstellt. Er wirbt lange vergeblich um Gerdur, deren Wesen am besten als weibliche Schamhaftigkeit bezeichnet wird, bis er schließlich mit Hilfe magischer Mittel, die sein Diener Skirnir anwendet, sie überwindet. Endlich ist noch Heimdallr zu erwähnen, eine nordische Form des deutschen Ziu, der über die Welt leuchtende. Auf den Himmelsbergen am Regenbogen, der als Brücke Himmel und Erde verbindet, ist sein Wohnsitz. Er hütet diese Brücke, daß diese bösen Riesen von der Erde nicht hinaufsteigen, um den Himmel zu stürmen. Wie Loki das zerstörende, ist Heimdallr das erhaltende Prinzip. Nach W. Menzel vertritt er innerhalb der Zeitlichkeit die Beziehung zur Ewigkeit, die Fortdauer, das Leben der Menschheit überhaupt. Deshalb wird er auch unter dem Namen Rigr als Vater des Menschengeschlechts gedacht.
Unter den weiblichen Gottheiten steht als Urgöttin, als die große Lebensmutter, an der Spitze Frigg, das Weib Odin-Wodans, von der der Freitag (dies Veneris) seinen Namen hat. Sie ist die Göttin der Liebe und des Kindersegens. Als 895jüngere Schöpfung der isländischen Dichtung (nach Golther) steht ihr Freyja zur Seite, die vielfach mit ihr verwechselt wird. Freyja ist das weibliche Seitenstück zu Freyr. Ihr Mann war Odr, ihr Saal heißt Saßrymnir, sie fährt aus mit zwei Katzen, nimmt huldvoll die Bitten der Menschen auf und ist eine Freundin der Liebeslieder. Odr ist die stürmische und feurige Begierde (dem Wort nach die Wut, der Sache nach die Geilheit), Freyja aber die Wollust, Venus libitina. Der gemeinsame Kinder, eine Tochter, heißt Hnoß (Genuß). Um den kostbaren Halsschmuck Brisingamen zu erwerben, gab sie sich dem Volk der Zwerge preis (Venus pandemos). Dagegen haßt sie die Riesen, die eben so sehr nach ihr begehren, aber von Loki durch ein Wolkenbild getäuscht werden. Wie Venus (libitina) ist sie auch eine Todesgöttin, welche die Gestorbenen mit Odin teilt, und weil sehr viele den Tod der Wollust sterben, d. h. die Lust genießen, so heißt ihre Wohnung Fólkwángar (Volksaufnahme). Freyja selbst dagegen kann gar nicht sterben; es heißt vielmehr, sie wird alle Götter überleben.
W. Menzel erklärt sie daher als die Sonne, welche nach dem Weltende wieder scheinen soll, also in Ewigkeit fortdauert, wenn Odin mit allen Asen längst todt sind. Sie heißt auch Mardöll, Gefen (Hingebung), Hörn (Hure). Durch den durch ihre Buhlerei mit den Zwergen erworbenen Halsschmuck fesselte sie ihren Gatten ganz an sich, bis er einmal erfuhr, um welchen Preis sie denselben erlangt hatte, worauf er sie entrüstet verließ. Als sie erwachte, fand sie ihn nicht mehr, aber auch ihr Halsschmuck war verschwunden und im tiefsten Jammer suchte sie nun den entflohenen Gatten alle Länder durchirrend. Die Thränen, die sie weinte, wurden Perlen und Gold. Endlich nach langen Jahren fand sie den Gatten wieder, er gab ihr den Schmuck zurück und nahm sie wieder zu sich, weil er in der ganzen Welt keine Schönere gefunden. Als umherirrende Bertha erkennt man sie in den deutschen Sagen wieder.
Als Frühlingssonne wird Freyja zur Ostara, die wir am besten durch F. Dahns schöne Verse charakterisieren:
Prof. Kaufmann freilich (deutsche Mythologie S. 106) behauptet, daß von einer Göttin Ostara in der Überlieferung des Altertums eine Spur nicht zu finden sei.
Dagegen berichtet uns die Edda von Iduna, der „vorwissenden Göttin“, daß sie von der Esche Yggdrasil, die sie mit ihrem heiligen Wasser zu bethauen pflegte, herabgesunken sei.
Auch Iduna ist nichts anderes, als die immer wiederkehrende (id = wieder) Sonne. Nachdem die Asen vergebens alle Mühe erschöpft haben, Iduna zum Himmel zurückzurufen, sagt die Edda (im Rabenzauber) weiter, will Odin die Asen nicht schlafen lassen, sondern versammelt sie noch in der Nacht zu neuer Beratung. Aber Nörvi, der Vater der Nacht, schlägt mit dorniger Rute (dem Schlafdorn) die Völker ringsumher, und auch die Asen nicken unwillkürlich 897ein, selbst der Wächter Heimdallr wird schlaftrunken. Am Morgen aber geht die Sonne prächtig am Himmel auf, die Nacht entflieht und froh und erfrischt steigt Heimdallr wieder zu den Himmelsbergen.
Iduna verwahrt wunderbare Äpfel, von denen die Götter essen, um sich ewig jung zu erhalten. Einst hatte mit Lokis Hilfe der mächtige Riese Thiassi Iduna nebst ihren Äpfeln geraubt. Da fingen die Götter sämtlich zu altern an und zwangen Loki, um jeden Preis die Iduna mit ihren Äpfeln zurückzubringen. Er unternahm es, indem er als Falke in Thiassis Wohnung flog, Iduna in eine Nuß verwandelte und sie in seinen Klauen forttrug. Zwar verfolgte ihn der Riese Thiassi, als Adler, die Götter aber hielten ihn durch ein Feuer auf, worin er verbrannte. Uhland deutet diesen Mythus, indem er unter Thiassi, der alles kleben d. h. gefrieren macht, den Winter, unter Iduna und ihren Äpfeln die Vegetationskraft, das Naturleben versteht, welches im Winter verschwindet, und unter dem Falken den heiteren Frühlingshimmel, unter der Nuß den Keim der wiederverjüngten Pflanzenwelt. Darum liebt man es noch heute, den Tannenbaum am Weihnachtsfest, der winterlichen Sonnenwende, mit vergoldeten Nüssen zu schmücken.
Die Äpfel erinnern an die von Herakles den Hesperiden geraubten Äpfel, die Athene wieder in den Garten derselben zurückversetzt. Auch Athene ist das ewige, jungfräuliche Licht der Sonne, und W. Menzel (vorchristl. Unsterblichkeitslehre S. 99) glaubt sogar auf den Gleichklang der Namen Iduna, Athene aufmerksam machen zu sollen.
Die eigenartigste Idee der altgermanischen Glaubenslehre ist die Götterdämmerung oder Ragnarök (der letzte Weltbrand).
Gemeinsame Überzeugung aller deutschen Völker war, daß Welt, Völker und Menschen dereinst im Feuer untergehen werden, um einer neuen besseren Weltschöpfung Platz zu machen.
Dieser Glaube an einen Weltuntergang findet sich freilich auch bei andern Rassen, aber der germanische Weltuntergangsglaube hat einen heroischen Charakter. Unsere Vorfahren meinten nämlich nicht, sie würden wie Schafe im Stalle verbrennen, sondern mitten im Brande wollten sie noch kämpfen.
„Nun lese mit Bedacht der Nibelungen Not“, schreibt Mone, a. a. O. S. 447, „wenn man schaudert über einen nicht durch Zufall, sondern durch Freiheit herbeigeführten Untergang, so muß man erstaunen über die Unerschütterlichkeit der Heldenseelen, die der Edelmut ihres Feindes bis zu Thränen rührt, die aber vor keinem Tode, vor keiner Qual zittern, die durch Not wohl bis zur Gräßlichkeit getrieben werden, daß sie das Blut der gefallenen Feinde trinken; die aber, weit entfernt sich der Feigheit und Verzweiflung zu überlassen, lachend den Tod verhöhnen, und bis auf den letzten Hauch ihren Mut bewahren. Ist je eine Religion geeignet, allem Schicksal Trotz zu bieten, ist je der Satz der Freiheit zu einer durchdringenden und großartigen Überzeugung geworden, so ist es im deutschen Glauben geschehen, wo die Welt aus Gottes Freiheit hervorgegangen und darum durch ihre 899eigene Freiheit zertrümmert wird. Kein europäisches Volk, selbst die Griechen und Römer nicht, haben einen Volksglauben von dieser Größe aufzuweisen.“
Der Anfang des Endes wird der Fimbulwinter sein, da fällt Schnee von allen Seiten, große Kälte, scharfe Winde, kein Blick der Sonne, so folgen drei Winter nacheinander. Dann folgen drei Jahre voll Krieg, die Menschen bringen sich untereinander um, der Bruder schont des Bruders, der Vater des Sohnes nicht.
Dann verbrennt die Weltesche Yggdrasil, die große Achse, die Erde und Himmel zusammenhält.
Doch lassen wir die Edda selber reden:
„Hrymr fährt von Osten, vor sich hält er den Schild, Hormungandr wälzet sich mit Riesenzorn, die Wogen schlägt die Schlange, der Adler schreit und zerreißt die Leichen, Naglfar wird los. Dies Schiff fährt von Osten, kommen werden Muspells Leute auf das Meer, und Loki steuert. Der Thorheit Kinder fahren alle mit Fenrir und ihn begleitet auf der Fahrt Bifrosts Bruder. Surtur fährt von Süden mit schweifender Flamme, die Sonne scheint vom Schwerte der Schlachtgötter; die Erde bebt und alle Gebirge, ausgerissen werden die Bäume, die Felsenberge zerklüpften, alle Fesseln und Bande brechen und reißen, das Meer strömt auf das Land, die Riesenweiber stürzen zusammen, Menschen betreten den 900Höllenweg und der Himmel zerspaltet. Wie dann mit den Asen, wie dann mit den Alfen? Die ganze Riesenwelt erschallt, die Asen sitzen im Gericht, die wegweisen Zwerge stöhnen vor den Steinthüren. Wisset ihr etwas mehr? Mit gaffendem Rachen kommt Fenrir, der Oberkiefer steht am Himmel an, der untere auf der Erde, Feuer brennen ihm aus Augen und Nase, die Midgardschlange bläst so viel Gift aus, daß alle Luft und See verpestet wird, sie ist ein grausenhafter Anblick und steht dem Wolfe zur Seite. Muspells Söhne reiten über Bifröst, Surtur voran, um ihn brennendes Feuer, worauf die Brücke zerbricht. Sie kommen auf das Feld Vigride, da erscheinen auch Fenrir, Midgardzormr, Loki mit allem Gesinde der Held und Hrymr mit allen Hrimthursen.
Die Asen ziehen ihr Kriegskleid an und alle Einherier und reiten hinaus auf das Schlachtfeld, Odin voran mit dem goldenen Helm, der schönen Brünne und dem Zauberspieß Gungmirs. Ihm zur Seite ziehen Thor und Freyr, keiner kann aber dem andern helfen, weil jeder die letzte Kraft gegen seinen eigenen Feind anstrengen muß. Odin kämpft mit Fenrir lang und hart, Thor mit der Erdschlange, die er mit seinem Hammer erschlägt; aber neun Fuß davon fällt er selbst todt nieder vom Gifte, das sie gegen ihn ausgeblasen. Freyr steht gegen den Surtur, aber da er sein gutes Schwert weggegeben, so fällt er nach furchtbarem Streite, Tyr gegen den Hund Garmr und der Kampf mit diesem Ungeheuer endet mit dem Tode beider. Fenrir verschlingt den Odin lebendig, aber der gewaltige Sohn Sigföders, Widar tritt mit seinem Schuh dem Ungetüm in den Unterkiefer, zerreißt ihm den Rachen, stößt ihm sein Schwert ins Herz und rächet so seinen Vater Odin. Zuletzt fallen Heimdallr und Loki im Zweikampf, Surtur verbrennt dann die ganze Welt, die Sonne wird schwarz, die Erde sinkt ins Meer, vom Himmel fallen die heiteren Sterne, Rauch wallt auf vom Feuer, die hohe Flamme fliegt bis zum Himmel.“
Nach diesem Weltuntergang wird Allvater einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.
Die tiefe esoterische Idee, welche auch der Mythe vom Weltbrande zu Grunde liegt, ist die der Wiedergeburt.
„Wenn Himmel und Erde“, fährt die Edda fort, „und alle Welt verbrannt ist, wenn alle Götter, alle Einherier und alles Menschengeschlecht tot, so wird jeder Mensch in einer der (neuen) Welten leben alle Zeiten hindurch. Denn es giebt manche guten und manche bösen Stätten; da sind drei Säle, der des Sindri-Geschlechtes steht nordwärts von rotem Golde gemacht, der andere ist ein Biersaal der Riesen, steht auf Okolnir und heißt Brimir; in diesen Sälen werden die guten und gerechten Menschen wohnen. Fern von der Sonne steht der dritte Saal am Leichenstrand (Naströnd), die Thüre gen Norden gekehrt. Gifttropfen fallen zum Fenster hinein, geflochten ist der Saal von Schlangenrücken, die Köpfe aber stehen einwärts und blasen Gift aus, sodaß Giftströme durch den Saal fließen, Mörder und solche, die eines anderen Braut ins Ohr raunen. Da saugt der Nidhöggr hingegangene Leichen aus und zerreißt der Wolf die Menschen.“
Sindri entspricht dem Urdaborn und ist mit Gold gedeckt zur Anspielung auf das leuchtende Muspelheim; Brimir ist ein Trinksaal der Riesen zur Erinnerung an Ymirs Entstehung und entspricht dem Mimirs Born und Ginnungagap; der Schlangensaal weist auf die Schlangen im Hvergelmir und Niflheim zurück. Zur Erklärung schreibt Mone (a. a. O. S. 468): In der Schöpfung ist Bewußtlosigkeit der erschaffenen Wesen, im Leben entwickelt sich das Bewußtsein, darum ist es ein beständiger Streit zwischen Wahrheit und Wahn, der Weltbrand ist die Vollendung des Bewußtseins. Da die Lebenspflicht Kampf, und dieser, wie oben gezeigt, sowohl leiblich als geistig ist, so tritt mit dem Bewußtsein die Überzeugung von Verdienst und Schuld und die Notwendigkeit von Lohn und Strafe ein, die drei Säle der Wiedergeburt sind also die Orte des Lohnes, des Zwischenzustandes oder der Vorbereitung zum Lohne, und der Strafe (im Christentum Himmel, Fegfeuer, Hölle), Gedanken, die natürlich bei den drei Brunnen des Lebens noch nicht vorkommen konnten. Aus den obigen Worten der Edda erhellt, daß die guten Menschen in den Sindri, die gerechten in den Brimir, die sündhaften in den Schlangensaal kommen. Umsonst wird dieser Unterschied nicht sein, in ihm liegen folgende Gedanken. Die Güte ist die wahre Tugend, die allein 902belohnt wird, die ihr Vorbild am Balder hat, der darum ausdrücklich der Gute genannt ist. Sie besteht in dem durch sittlichen Kampf errungenen thätigen Willen zur Tugend, die Gerechtigkeit aber erwirbt durch den Kampf mit dem Bösen kein größeres sittliches Eigentum, sondern bewahret nur ihren Besitz, wer sich aber feig vom Bösen überwinden läßt, der ist ein Sünder und verspielt sein sittliches Vermögen an den Teufel. Derselbe Gedanke ist im Evangelium durch die Knechte und ihre Talente bezeichnet. Auf drei Sünden wird der Nachdruck gelegt, auf Meineid, Mord, Ehebruch, dieser ist zwar ein Zusatz, aber so gültig wie die Quelle. Die drei Sünden heben die Grundlagen des Lebens, Wahrheit, Persönlichkeit und Fortpflanzung auf; da die Strafe im Aussaugen und Zerreißen der Leichen besteht, so heißt dies mit anderen Worten, die Sünder verlieren in der anderen Welt ihre Selbständigkeit oder Persönlichkeit, ihr Körperliches wird aufgelöst und in die allgemeine Materie zurückgeworfen, ihre Seele ist dadurch in der Wanderung gehemmt, weil ihr Leib, statt vollkommen zu werden, wieder in seine Urstoffe aufgelöst wird. Solche Seelen irren deswegen als Gespenster umher, bis ihre Strafzeit vorüber und sie wieder einen Leib finden. Die Gespenster sind also eine mikrokosmische Folgerung aus dem Weltbrande und der Wiedergeburt. Von den Guten heißt es nie, daß ihr Körper in jener Welt zerstört würde, im Gegenteil haben schon die Einherier einen so vollkommenen Leib, daß er durch Wunden nicht getötet wird, und die Gerechten trinken in voller Gesundheit Bier im Saale Brimir, während Nidhöggr Leichen aussaugt, denen die Seele entflohen (nair framgeingnir, Vol. 45). Man kann hieraus die Stufen der Seelenwanderung erkennen: wer nach seinem Tode Einherier wird, kommt nach dem Weltbrand in den Sindri, wen die Hel verwahrte, der gelangt in den Brimir, wo Bier getrunken wird wie in Walhall. Also kommen die Gerechten erst nach dem Weltbrand auf jene Stufe, auf der die Einherier schon vor demselben standen; die Verbrecher aber, die nach dem Tode an den Leichenstrand gelangen, gehen nach dem Weltbrand in den Schlangensaal und müssen die irdische Laufbahn und Prüfung von vorn wieder anfangen. Hieraus folgt, daß die Guten nicht mehr auf die Erde zurückkommen, wohl aber die Gerechten und Bösen, daß also die Welt notwendig immer 903schlechter wird und die Vorzeit besser war, was beides noch jetzt vielfach deutscher Volksglauben ist. Es scheint ein altgermanischer Glaubenssatz gewesen zu sein, daß jeder Gerechte und Verbrecher wiedergeboren werde, bis die Welt untergehe, welcher Sünder sich bis dahin nicht gebessert hätte, der würde in den Schlangensaal kommen. Dies bestärkt auch eine Stelle im Havamal, wo nur zwei Dinge, der gute Ruf (die Tugend) und der Urteilsspruch über den Toten als unsterblich angeführt werden:
Den ferneren Verlauf der Wiedergeburt erzählen die Urkunden mit vieler Bedeutsamkeit: „Auf steigt die Erde zum zweitenmal, herrlich grün aus dem Meere, Wasserfälle stürzen, Adler fliegt darüber, fängt Fische an Felsen. Sich versammeln die Asen auf dem Idafelde, urteilen über den mächtigen Staub, erinnern sich an die Machtbeschlüsse und an Fimbultyrs alte Runen. Da werden die Asen die wunderbaren goldenen Tafeln im Grase finden, die in den Urtagen die Geschlechter hatten, der Volksheer der Götter und Fjölnirs Kind. Ungesäet werden die Ackerfrüchte wachsen, alles Übel vergehen, Balder kommen und bewohnen mit Hödur Hropters Siegessaal und das Heiligtum der Seelengötter. Da kann Hönir sein Loos wählen und es bewohnen die Söhne zweier Brüder das weite Windheim. Schöner als die Sonne ist ein Saal mit Gold gedeckt am hohen Gimli, darin werden gute Seelen wohnen und durch die Tage der Zeiten Seligkeit genießen. Da kommt der Reiche zum Göttergerichte, der Starke von oben, der 905alles regiert, versöhnet die Gerichte, schlichtet die Streite, setzet Wehrgelt, wie es sein soll. Fliegend kommt der dunkle Drache, die glänzende Natter der Tiefe von den Nithafelsen, Nidhöggr trägt in den Flügeln die Leichen und fliegt über den Grund.“
Nach der jüngeren Edda treten Vidar und Vali zuerst nach dem Weltbrand auf, unversehrt und unbeschädigt von Surturs Flamme bewohnen sie den Idawall, wo vordem Asgard gewesen. Darauf kommen Thors Söhne Möthi und Magni mit dem Mjöllnir, sodann Balder und Hödur von der Hel, alle setzen sich zusammen, erzählen einander, erinnern sich an ihre Runen und reden von den Geschichten, die vorher waren, vom Midgardzorne und Fenriswolf. Da finden sie im Grase die Goldtafeln, welche die Asen gehabt. Zwei Menschen, Lif und Lifthrasir, bleiben verborgen im Hügel des Hoddmimir und nähren sich vom Morgenthau, von ihnen kommt das künftige Menschengeschlecht. Auch die Sonne gebiert eine Tochter vor ihrem Untergang, welche die Laufbahn der Mutter einnimmt. Drei Gesellschaften der Jungfrauen des Mavgthrasir schweifen über das Land, sie sind allein Schutzgeister derer, die in der Welt sind, obschon sie bei den Joten erzogen werden. Von den alten Göttern bleibt nur Njördr übrig, er kommt aber nicht zu den Göttersöhnen auf das Idafeld, sondern kehrt nach Wanaheim zurück. Auch der zweite Himmel Andlängr und der dritte Vidblainn, den die Lichtelfen bewohnen, bleibt von Surturs Flamme unversehrt. Da die guten Menschen in den Saal Gimli kommen und dieser am südlichen Ende des untersten oder ersten Himmels steht, so muß man ihn wohl als das Thor und den Eingang zu den höheren Himmeln ansehen.
Bei der ersten Geburt der Planetenwelt waren alle Kräfte vereinigt, daher keine Erinnerung, so wird jeder auf diese Welt geboren, er weiß nicht, wie und wo er vorher gewesen. Aber die Einheit der Kräfte bleibt in jedem Menschen ungetrennt (als das Weltganze Ymir getötet wurde), darum blieb die Selbständigkeit und Persönlichkeit. Die Stoffe, die zur Wiedergeburt kommen, sind also nicht eine Masse von Kräften, sondern Persönlichkeiten. Bei der Wiedergeburt bleibt daher die Erinnerung des vorigen Zustandes, darum heißt es, die Asen, die übrig bleiben, hätten Urteil und Erinnerung über die Vergangenheit, jenes bezieht sich auf den 906mächtigen Weltbaum, die Materie, welche verurteilt, d. h. aufs neue einer höheren Schöpferkraft in der verjüngten Erde gebeugt wird, dieses geht auf die Krafturstoffe, die Schöpfung selbst, welche durch die Zauberei, die Runen Fimbultyrs (Odins) hervorgebracht wurde (moldthinur, megin dómar, rúnar Vol. 60). Die wundersamen Spieltafeln, welche sie finden, sind das Gegenstück zu dem Spiel der Asen am Anfang der Welt, aber jetzt kommen keine Riesenmägde mehr, welche die Asen verderben, denn die Tafeln sind schon selbst von Gold, und die Asen bekommen dadurch keinen Mangel mehr. Darum werden auch nicht mehr Zwerge geschaffen, die der Fruchtbarkeit des Bodens vorstehen und die Saat herauftreiben, sondern es heißt sogleich weiter, daß die Früchte ungesäet wachsen, darum verschwindet auch alles Böse, denn Müh' und Sorge und Kampf haben aufgehört. Darum kommt auch Balder und Hödur wieder, die den irdischen Tod ausgehalten, der Erde sich zum Opfer gebracht, darum jetzt auch das Heiligtum der Seelengötter bewohnen, wo kein Tod mehr ist. Von den alten Göttern bleibt niemand übrig als Odins Söhne und Enkel, in ihnen ist er wiedergeboren, darum ist ihr Überleben im Grunde auch das seinige. Weil er durch seinen Schöpferdrang ganz in die Materie versunken, so ist er auch dem Untergang ausgesetzt und nur seine reinen Emanationen Balder die Güte, Vidar die Ewigkeit, Vali die Seele, Havdr die Besserung überleben ihn.
Der Welttod ist ein Zurückgehen in einen dem ersten Chaos ähnlichen Zustand, die Wiedergeburt eine höhere Schöpfung.
Nach der von Kiesewetter zu Grunde gelegten Disposition sollte das X. Buch seines Occultismus des Altertums über den Occultismus der barbarischen Völker handeln. Dem Wunsche des Herrn Verlegers, die Disposition des verstorbenen Gelehrten zu respektieren und auch dieses X. Buch mit einem der im Prospekt angekündigten Überschrift entsprechenden Inhalt zu versehen, stemmte sich bei mir zunächst das Bedenken entgegen, daß ja doch als „barbarische“ Völker im Sinne des Altertums die Mehrzahl der bereits von Kiesewetter im I. Bande und von mir im II. Bande behandelten Nationen zu gelten haben. Zweifellos galt dem Griechen und Römer der Babylonier, Chaldäer, Assyrer, Meder, Perser, Inder, Ägypter und Hebräer (I. Band) und mehr noch der im II. Bande von mir behandelte Kelte und Germane als Barbar. Ursprünglich bedeutete Barbar ja wohl nichts anderes als Fremdling. Dieser Begriff hat sich dann allmählich mit dem der Unkultur verknüpft. Will man nun den eben genannten Nationen des Altertums einen gewissen Grad von Kultur nicht absprechen und sie als primitive Kulturvölker gelten lassen, so kann man allerdings von ihnen noch eine zweite Klasse von Völkern selbstverständlich auch im Altertum unterscheiden, die dann als „barbarische“ im prägnanten Sinne bezeichnet werden könnten; allein es ist dabei zu beachten, daß dann dieser Begriff doch ein recht relativer und unsicherer ist. Es scheint noch das Beste, ihn mit demjenigen der „Naturvölker“ zu identifizieren. Will man dies, so hat es aber eigentlich keinen Sinn, die Naturvölker des Altertums, von denen wir fast gar nichts wissen, besonders zu behandeln.
Der „Occultismus der Naturvölker“ überhaupt würde nun eine kulturwissenschaftlich gewiß dankbare und interessante Aufgabe darstellen, aber eine solche, die im Rahmen einer Unterabteilung eines Werkes, wie es im „Occultismus des Altertums“ vorliegt, unmöglich ihren entsprechenden Raum finden kann.
Aus diesem Grunde darf und muß ich mich wohl begnügen, hier mit einigen Notizen, wie sie uns in der wenig reichhaltigen und unsicheren alten Litteratur über die den Griechen und Römern bekannten Naturvölker des Altertums, abgesehen von den schon behandelten, offenbar bereits einen gewissen Kulturgrad aufweisenden, geboten werden, aufzuwarten.
Auf dem Niveau des Naturvolkes haben wir uns augenscheinlich vor allem die Skythen zu denken, von denen uns Herodot wohl die ältesten fabelhaften Berichte bringt.
Nach Müllenhoff, deutsche Altertumskunde III, S. 30ff. waren die Skythen Slawen: „Da die Slawen erst nach dem Anfang unserer Zeitrechnung als Ostnachbarn der Germanen genannt werden, so scheint es möglich, daß die Skythen oder Sarmaten, oder wenn beide Völker eines Stammes, daß beide ihre Ahnen und Vorfahren die West- und Ostslawen waren.“
Nach Ansicht anderer Forscher waren es Mongolen. Dies erscheint mir wahrscheinlicher, obwohl die Frage wissenschaftlich genau schwer zu entscheiden ist. Sie werden uns nämlich, Männer wie Weiber, die im Äußeren kaum zu unterscheiden waren, als dicke, schlaffe, aufgedunsene Gestalten geschildert, von braungelber Farbe. Ihre Kleidung, Winter und Sommer dieselbe, bestand aus weiten Hosen, Gürteln oder Wehrgehenken und spitzigen oft bis auf die Schultern herabhängenden Mützen. Offenbar ist die von Herodot geschilderte Kopfbedeckung dieselbe, die jetzt noch bei den Baschkiren und Kirgisen üblich ist. Ihre Nahrung war höchst einfach und bestand aus den Fleisch ihres Herdenviehs, auch der Pferde, das noch jetzt bei Kalmücken und Baschkiren als Leckerbissen gilt, und vor allem aus Stutenmilch, aus der sie auch Butter und Käse bereiteten, wie noch jetzt jene Steppenvölker. Wenn Herodot erzählt, daß sie dem Weingenuß sehr ergeben waren, so kann dies nur das aus Stutenmilch bereitete berauschende Getränk gewesen sein, 911jener Milchbranntwein, der noch jetzt bei den Kalmücken beliebt ist. – Sie bauten unter anderem mit Vorliebe Hanf, dessen sie sich zu den bei ihnen üblichen Schwitzbädern bedienten.
„Städte und Festungen haben die Skythen nicht, ihre wandernden Wohnungen befinden sich vielmehr auf kleinen vier- oder sechsrädrigen mit zwei oder drei Paar Ochsen bespannten und mit Filz bezogenen Wagen“ (Herodot IV, 46), also eine treue Schilderung der heutigen Kibitken der nomadischen Steppenvölker, in welchen Weiber und Kinder den ganzen Tag über hocken, während die Männer zu Pferde umherschweifen.
Nach Herodot I, 215 lebten sie monogamisch, und nur die Könige hatten noch Nebenweiber; nach Hippokrates, I, 1, p. 560 aber lebten sie polygamisch, sofern sie sich der Sklavinnen als Nebenweiber bedienten, übrigens war nach Hippokrates teils wegen des beständigen Reitens der Männer und der sitzenden Lebensweise der Frauen, teils wegen der ganzen Körperkonstitution überhaupt, ihr Fortpflanzungstrieb sowohl als ihre Zeugungskraft sehr gering.
Ihre Verfassung war monarchisch; und zwar herrschte über sämtliche Skythen ein König; doch scheinen unter demselben auch Unter-Könige über die einzelnen Stämme geherrscht zu haben.
Die Religion der Skythen war ein primitiver Polytheismus. Herodot nennt uns folgende Götternamen: Παπαῖος (Papa = Zeus), Θαμιμασάδας (= Poseidon), dem bloß die königlichen Mythen opfern, Ὀιτόσυρος (= Apollo), Αρτιμπασα (= Afrodite), Ταβιτί (= Hestia), und Ἀπία (= Gäla) und bemerkt, daß sie außerdem noch den Ares und Herakles, am meisten aber unter allen die Vesta und nächst ihr den Zeus und die Erde verehrt hätten, während nach anderen Angaben der Kultus des Ares (dessen skythischen Namen er nicht nennt) der verbreitetste war. Diesem brachten sie unter dem Symbol eines auf einem ungeheuer großen Gerüste von Reisig aufgestellten eisernen Schwertes feierliche Opfer, und zwar mit Vorliebe Menschenopfer. Von besonderen Priestern ist nirgends die Rede. Dagegen spielen Wahrsager eine wichtige Rolle. Diese, die augenscheinlich den heutigen Schamanen entsprechen, beschreibt Herodot IV, 6. 7. 68 wie folgt: „Wahrsager haben die Skythen viele, die wahrsagen aus einer Menge Weidenruten auf folgende Art: sie bringen große Bündel Ruten herbei, die legen 912sie auf die Erde und machen sie auseinander und legen jede Rute besonders und nun weissagen sie. Und indem sie also sprechen, wickeln sie die Ruten wieder zusammen und legen sie wieder auf einen Haufen, eine nach der anderen. Das ist ihre Weissagung von ihren Vätern her; die Enareer aber, die Mannweiber, wollen ihre Wahrsagung von der Aphrodite haben. Sie wahrsagen aber aus Lindenrinde. Die Rinde nämlich schneidet er in drei Stücke und flicht sie sich durch die Finger und wickelt sie wieder ab, und dann sagt er seinen Spruch. Wenn aber der König der Skythen krank wird, so läßt er drei der angesehensten von allen Wahrsagern zu sich rufen, die ihm auf die beschriebene Art wahrsagen. Und sie sagen gewöhnlich immer, der und der, und dabei nennen sie dann einen Bürger, der bei des Königs Hausgöttern einen falschen Schwur gethan hätte. Es ist aber allgemeiner Brauch bei den Skythen, bei des Königs Hausgöttern zu schwören, wenn sie einen recht hohen Schwur thun wollen. Alsobald wird der, den sie des Meineides geziehen, ergriffen und vorgeführt, und wenn er ankommt, sagen ihm die Wahrsager auf den Kopf, es wäre offenbar aus der Wahrsagung, daß er einen falschen Schwur gethan bei des Königs Hausgöttern, und deswegen wäre der König krank und beklagte sich bitterlich. Der aber leugnet und sagt, er habe nicht falsch geschworen. Und wenn dieser leugnet, so läßt der König ein Paar andere Weissager holen, und wenn nun auch diese, nachdem sie in die Wahrsagung gesehen, ihn des Meineides verurteilen, so schneiden sie jenem gleich den Kopf ab, und seine Güter teilen die ersten Wahrsager unter sich. Wenn aber die dazu berufenen Wahrsager ihn freisprechen, so müssen andere Wahrsager kommen, und immer wieder andere. Wenn nun die meisten Stimmen den Menschen freisprechen, so trifft jene ersten Wahrsager selber das Todesurteil. Man bringt dieselben nun auf folgende Art zu Tode: Sie packen einen Wagen voll Reisig und spannen Ochsen davor und binden den Wahrsagern die Füße und binden ihnen die Hände auf den Rücken und knebeln ihnen den Mund zu und stecken sie mitten in das Reisig. Dann zünden sie dasselbe an und machen die Ochsen wild und jagen sie von dannen. Viele von den Ochsen nun verbrennen mit den Wahrsagern, viele aber kommen mit einer Versengung davon, wenn die Deichsel verbrannt ist. Auf diese Art 913verbrennen sie auch aus anderen Gründen die Wahrsager und nennen sie Lügenwahrsager. Die aber der König umbringen läßt, deren Söhne werden auch nicht verschont, sondern das, was männlich ist, tötet er; den Weibern aber thut er nichts zu Leide.“
Offenbar haben wir hier dieselbe Rolle, welche noch heute bei den afrikanischen Negern der Fetischpriester spielt. Diejenigen, die neuerdings den Gebrauch sog. Medien, hypnotisierter oder somnambuler angeblicher hellsehender Individuen oder auch nur des Hypnotismus zur Erzwingung von Geständnissen im Dienste der Polizei und Kriminalrechtspflege vorgeschlagen haben, ahnen schwerlich, zu welchen primitiven Brutalitäten des sog. Gottesurteils sie damit die Rechtspflege zurückführen würden.
Aus dem Volke der Skythen hat die griechische Litteratur zwei Namen die Unsterblichkeit gesichert, weil ihre Träger nach Griechenland kamen und dort durch den Kontrast ihrer Naturwüchsigkeit mit der griechischen Kultur Aufsehen erregten, Toxaris und Anacharsis. Beide sollen zur Zeit Solons nach Athen gekommen sein. Toxaris ist durch ein Gespräch Lukians, das jedoch wohl mehr den bloßen Namen zur Etikette eigener witziger Einfälle gebraucht, verewigt. Geschichtlicher erscheint die Persönlichkeit des Anacharsis, der sogar zu der Ehre gelangte, den sog. sieben Weisen beigezählt zu werden.
Anacharsis war der Sohn des Skythenkönigs Gaurus und einer griechischen Mutter, von letzterer mit der griechischen Sprache bekannt gemacht, verließ er sein Vaterland, das am schwarzen Meere lag, und begab sich (589 v. Chr.) nach Athen. Hier soll ihn sein Landsmann Toxaris mit Solon bekannt gemacht haben, und die Reinheit seiner Sitten, sein Scharfsinn, seine Wißbegierde soll ihn so beliebt gemacht haben, daß er das athenische Bürgerrecht erlangte. Ja, er soll sogar in die eleusinischen Mysterien eingeweiht worden sein. Nach Herodots Erzählung kam er nach seiner Rückkehr ins Vaterland durch die Hand seines eigenen Bruders Saulius, der inzwischen König geworden war, ums Leben, weil er durch seine Neigung zu den Mysterien Mißfallen erregte.
Unter den naiven Aussprüchen, durch die er in Athen Aufsehen 914erregte, sind folgende bemerkenswert: Solons Gesetze nannte er Spinnweben, worin die Schwachen sich fingen, die aber die Starken leicht zerrissen. Über die Einrichtung, wichtige Angelegenheiten von den Prytanen untersuchen zu lassen, ehe sie an die Volksversammlung gebracht würden, bemerkte er, daß demnach die Klugen beratschlagten und die Dummen entschieden. „Der Weinstock“, sagte er, „trägt dreierlei Trauben, die Trunkenheit, die Wollust und die Reue.“ Als ihm jemand seine Herkunft aus Skythien vorwarf, erwiderte er: „Du hast Recht, mir gereicht mein Vaterland, Du aber gereichst Deinem Vaterlande zur Schande.“ Die Abbildungen, die sich von ihm auf alten Kunstdenkmälern finden, tragen die Inschrift: Linguam, ventrem, veretrum, contine.[874]
Bekanntlich bildet seine Figur den Gegenstand der geistvollen voyage d'Anacharsis von J. J. Barthélémy, welche 1788 erschien und zu den beliebtesten Schriften gegen Ende des vorigen Jahrhunderts zählte.
Ausdrücklich unterscheidet Herodot von den Skythen, welche der Perserkönig Darius bekriegte, die ebenfalls nomadischen Massageten, im Kampf gegen welche Kyros fiel.
Wahrscheinlich waren dies die Vorfahren der Turkomannen; ihr Gebiet lag zwischen dem Aralsee und dem Kaspischen Meere.
Über die Religion derselben berichtet er nur, daß sie die Sonne anbeteten, der sie mit Vorliebe Pferde opferten, „weil man dem schnellsten Gott das schnellste Geschöpf darbringen müsse“.
Anscheinend lebte dieses Volk noch zur Zeit des Herodot im Zustande des sog. Mutterrechts. Denn es herrschte bei ihnen als Königin ein Weib, zur Zeit des Kyros die Tomyris, die des gefallenen Kyros Kopf in einen Schlauch mit Menschenblut tauchen ließ mit den Worten: „Nun sättige dich endlich in Menschenblut.“
„Ein jeglicher“, schreibt Herodot, „freit ein Weib, aber doch sind die Weiber Gemeingut. Denn was die Hellenen von den Skythen erzählen, das thun nicht die Skythen, sondern die Massageten. 915Nämlich, wenn ein Massaget Lust hat zu einer Frau, so hängt er seinen Köcher an den Wagen und beschläft sie ohne alle Scham.“
Sehr zweifelhaft ist die Rassenqualität der Geten.
Man hat diese vielfach mit dem germanischen Volke der Gothen identifiziert; allein Müllenhoff (a. a. O. S. 125ff.) hat wohl ausreichend nachgewiesen, daß die Gründe dafür nicht stichhaltig sind, daß vielmehr ihre Verwandtschaft mit den Slawen, wenn auch allenfalls nicht streng erweislich, doch wahrscheinlicher ist. Die Geten waren eine thrakische Völkerschaft auf der Nordseite des Haemus bis zur Donau und werden zuerst von Herodot (IV, 93–96) erwähnt. Herodot kennzeichnet sie als die sich für unsterblich haltenden – τοὺς ἀϑανατίζοντας – und dieses Epitheton wurde später fast zu einem Beinamen für sie. „Sie meinen“, sagt Herodot, „daß sie nicht sterben, sondern mit dem Tode zum Gott (δαίμων) Zamolxis kommen; einige von ihnen halten diesen für Gebeleizis. Alle fünf Jahre senden sie einen Boten, den sie durch das Los erwählen, an den Zamolxis ab und tragen ihm ihr jedesmaliges Anliegen auf. Dies machen sie so: Einige stellen sich mit drei Speeren hin, andere fassen den Abzusendenden, nachdem er seinen Auftrag erhalten, an Händen und Füßen und werfen ihn in die Höhe auf die Lanzen; stirbt er, so scheint der Gott gnädig zu sein; stirbt er nicht, so schelten sie den Boten einen schlechten Mann und senden einen Andern ab.“ Dieselben Thraker, setzt Herodot noch hinzu, schießen mit Pfeilen gegen Donner und Blitz, hierauf gegen den Himmel und drohen dem Gott (Zeus), indem sie glauben, es gebe keinen andern, als den ihrigen. – Die Griechen am Hellespont und Pontus hatten von Zamolxis schon ein halbes Märchen ausgebildet: er sei in Wahrheit ein Sklave des Pythagoras auf Samos gewesen, habe nach seiner Freilassung viele Schätze erworben und zurückgekehrt in sein Vaterland seine rohen Landsleute mit den Annehmlichkeiten des griechischen Lebens bekannt gemacht. Aber indem er einen Saal gebaut und die vornehmsten des Landes darin bewirtete, habe er sie zugleich belehrt, daß sie und ihre Nachkommen nicht stürben, sondern dereinst an einen Ort kämen, wo sie in Ewigkeit sein und alles Gute haben würden. Um sie davon zu überzeugen, hätte er sich drei Jahre lang in einem unterirdischen Gemache 916verborgen gehalten, während welcher Zeit die Thraker ihn wie einen Verstorbenen vermißt und betrauert, dann aber sei er im vierten Jahre wieder zum Vorschein gekommen. „Ich will“, sagt Herodot 4, 96, „dagegen gerade nicht ungläubig sein, aber auch nicht zu sehr daran glauben; ich meine, daß Zalmoxis um viele Jahre früher war als Pythagoras. Ich lasse es aber gut sein, ob er ein Mensch war oder ob er ein bei den Geten einheimischer Gott ist.“ Daß diese Erzählung abgesehen von den Elementen des getischen Volksglaubens, die sie aufnahm, im wesentlichen eine Erfindung der Griechen ist, liegt auf der Hand, es müßte denn Zamolxis die Fremden in das Geheimnis eingeweiht haben, das seine Landsleute überführen und täuschen sollte. War der Kern der getischen Religion ein eigentümlicher Unsterblichkeitsglaube, so lag für die Griechen der Gedanke an Pythagoras, den Unsterblichkeits- und Metempsychosenlehrer, nahe, und die Vermittelung konnte dann nicht natürlicher als durch einen thrakischen Sklaven geschehen sein. Den Gott aber mochte man um so eher als Menschen auffassen, weil offenbar ihre Glaubenssätze bei den Geten selbst für seine Lehren und Satzungen galten. Platon im Charmides p. 157 läßt den aus dem Heerlager vor Potidaea zu Anfang des peloponnesischen Krieges heimkehrenden Sokrates sagen, er habe dort im Heere von einem der thrakischen Ärzte des Zamolxis – so lautet der Name bei allen spätern – die ja, wie man sage, sogar unsterblich machen könnten, einen Krankheitssegen kennen gelernt. Es sagte dieser Thraker, daß die hellenischen Ärzte Recht hätten, wenn sie behaupteten, ein Glied könne, ohne daß man zugleich den ganzen Körper in Behandlung nehme, nicht geheilt werden. „Aber Zamolxis, unser König, der ein Gott ist, sprach er, sagt, daß wie man die Augen nicht ohne den Kopf und den Kopf nicht ohne den Leib zu heilen anfangen muß, so auch nicht den Leib ohne die Seele; denn alles gehe von der Seele aus, Gutes und Böses; die Segen aber und Lieder, mit denen man die Seele behandeln müsse, das seien gute Lehren.“ Und weiterhin p. 158 heißt es noch „wenn Du nüchtern und mäßig bist, so bedarf es weder der Segen des Zamolxis noch der des hyperboreischen Abaris.“ Mag die Anekdote wahr oder erst von Plato erfunden sein, so setzt sie die Vorstellung von einem Lehrmeister Zamolxis voraus. Bei Diodor 9171, 94, dessen Quelle hier aller Wahrscheinlichkeit nach die Aegyptiaca des Hecataeus von Abdera (um 320) waren, stehen daher auch Zamolxis und die κοινή Ἑστία, die gemeine Herdgöttin, bei den sogenannten Geten, die unsterblich machen, neben Zoroaster, Moses und ähnlichen Nomotheten. Mnaseas von Patrae (um 200) sagte, daß die Geten den Kronos, d. h. den Herrscher im goldenen Zeitalter und über die Inseln der Seligen (D. A. 1, 63f.) verehrten und ihn Zamolxis nannten, Müller T. H. G. 3, p. 153, vgl. Diog. Laert. 8, 1; Hesych. s. v. Zamolxis, ferner Strabo p. 297f. Endlich finden wir aus einer unbekannten Quelle eine Relation, die zwar in Betreff des Pythagoras mit der Erzählung der pontischen Griechen bei Herodot übereinstimmt, ja sogar die Reisen des Zamolxis bis Ägypten ausdehnt, im übrigen aber selbständig und offenbar aus unmittelbarer Kunde den Bericht Herodots ergänzt. Es wird erzählt, ein Gete namens Zamolxis habe dem Pythagoras als Knecht gedient und von ihm einiges von der Himmelskunde erlernt, anderes von den Ägyptern, bis zu welchen er streifte. Nach Hause zurückgekehrt, sei er von den Fürsten und dem Volke hoch geehrt, da er ihnen die Vorzeichen vorhersagte; zuletzt habe er den König beredet, ihn zum Genossen seiner Herrschaft anzunehmen als einen, der den Willen der Götter zu verkündigen im Stande sei. Anfangs sei er nur zum Priester des am meisten bei ihnen geehrten Gottes bestellt, darnach selbst Gott genannt worden. Er habe sich in einer allen andern unzugänglichen Höhlenfeste angesiedelt und dort gelebt, wenig in Verkehr mit der Außenwelt, nur mit dem Könige und seinen Dienern. Der König aber habe mit ihm zusammengehalten, weil er gesehen, daß die Leute ihm viel besser als früher gehorchten, seit er seine Befehle nach dem Rate der Götter erteilte. („Diese Sitte dauerte fort sogar bis auf unsere Zeit, indem sich immer einer fand, der dem Könige als Rat zur Seite stand und bei den Geten Gott hieß.“) Auch der Berg wurde heilig gehalten und so benannt; er heißt aber κωγαίονον, wie der vorbeifließende Fluß. Es ist schon von Mannert (alte Geogr. 2. 203) und Uckert (Skythien S. 602) bemerkt, daß diese Stelle – etwa bis auf den eingeklammerten Satz, der mindestens eine Modifikation von Strabos Hand erfahren hat – auf die alten Geten am Haemus, nicht aber wie Strabo meint auf Daken zu beziehen ist. Sieht 918man von der pragmatisierenden, euhemeristischen Auffassung ab, – denn diese bleibt, auch wenn man mit Herodot die Frage, ob Zamolxis ein Gott oder ein Mensch gewesen, unentschieden läßt, was bei dem Stande der Überlieferung in der That das Rätlichste scheint, sie sieht so aus als wenn Zamolxis dem höhern Gott Gebeleizis nur substituiert, nicht eine Hypostase in mythologischem Sinne von ihm ist, – so ergiebt sich die Thatsache, daß wie für die Thraker südlich von Haemus bei den Bessern oder freien Thrakern ein Heiligtum und Orakel des Dionisos (Herod. 7, 111, vgl. Thuc. 2, 96, Plin. 4. § 40, Strabo p. 318, 331 fr. 48, Sueton Aug. 94, Dio 51, 25), so bei den Geten auf der Nordseite des Gebirges und für die zu ihnen gehörenden Völkerschaften ein ähnliches des Zamolxis bestand. Antonius Diogenes (bei Phot. cod. 166 p. 110 Bekk.) erzählte, daß Astraeus, ein Genosse des Zamolxis, zu diesem, als er schon bei den Geten für einen Gott galt, mit zwei andern gereist sei und daß diese Orakel über ihr Geschick erhalten hätten, daß Astraeus aber beim Zamolxis zurückgeblieben und von den Geten hochgeehrt sei. Der Name Astraeus soll wohl die Stern- und Himmelskunde des Gottes andeuten, die bei Strabo ihm zugeschrieben wird. Ähnlich bezieht sich auf eine andere Seite seines Wesens wohl die Hestia, die wie wir sahen bei Diodor neben ihm steht; Suidas s. v. nennt sogar eine Göttin Zamolxis.
Daß ihm ein vollständiger Kultus zu teil wurde, erhellt nicht nur aus dem, was Herodot mitteilt, sondern auch aus einer Stelle in der vit. Pythagor. des Porphyrius § 14, 15, die sich offenbar noch auf echte alte Überlieferungen stützt, es wird hier nämlich ganz der herrschenden Auffassung des Zamolxis als eines Nomotheten gemäß die ganze Einrichtung des Kultus auf ihn selbst zurückgeführt. Pythagoras hatte einen Sklaven, den er aus Thrake gekauft, Zamolxis mit Namen; denn ihm war bei seiner Geburt ein Bärenfell übergeworfen, die Thraker aber nennen ein Fell ζαλμός. Pythagoras hatte ihn lieb und unterwies ihn in der Lehre von den himmlischen Dingen – τὴν μετέωρον ϑεωρίαν –, auch in allem was das Opferwesen und sonst den Götterdienst angeht. Einige aber sagen, daß er auch Thales geheißen habe. Als Herakles verehren ihn die Barbaren. Dionysiphanes (ein unbekannter Schriftsteller) gibt an, er sei zwar des Pythagoras Knecht gewesen, 919aber Räubern in die Hände gefallen und stigmatisiert habe er sein Angesicht verbunden wegen der Male; einige sagen, daß der Name Zamolxis bedeute fremder Mann. Wie es sich auch mit diesen Deutungen verhalten mag – die durch ζαλμός – (sanskr. tscharma, griech. δερμα?) rechtfertigt jedesfalls die herodoteische Namenform Ζαλμόξις –, so giebt Hesychius s. v. noch an, daß nicht nur ein Name für Kronos, sondern auch für einen Tanz und für ein Lied oder einen Gesang gewesen, was ebenfalls auf den Kultus hinweist und sich nur aus den Anrufungen des Gottes bei den ihm zu Ehren angestellten Tänzen und Gesängen erklärt. Was sonst noch bei Lucian, Julian, den Kirchenvätern und andern über Zamolxis vorkommt, ist ohne Wert, da es kaum etwas Neues und Eigentümliches bietet, was nicht auf eine mißverständliche oder ungenaue Auffassung der Angaben Herodots sich zurückführen ließe. Man findet die Stellen sowie die Ansichten und Meinungen der neueren sehr vollständig nachgewiesen in der Dissertation de Zamolxide von Athan. Serg. Rhonsopoulus (Gottingae 1852).
Nächst dem Zamolxisdienste soll den Griechen an den Geten besonders ihre Vielweiberei und Unmäßigkeit in der Geschlechtsliebe aufgefallen sein. Hecataeus von Milet soll dafür der erste Zeuge sein, indem er (fr. 144) das homerische Kabesos (II, 13, 363) auf die gleichnamige Stadt jenseits des thrakischen Haemus deutete, doch S. Meineke zu Steph. Byz. 344. 15. Herodot 5, 5. 6 und Heraklides Ponticus (Polit. 28), beides vollgültige Zeugen (vgl. Xenoph. Anab. 7, 2, 38), schildern aber die Vielweiberei und was damit zusammenhängt als allgemein thrakische Sitte und der Komiker Menander bei Strab. p. 297 läßt seinen getischen Sklaven auch nur als Thraker sprechen:
Noch viel zweifelhafter und dunkler ist alles, was die Alten von noch höher nach Norden belegenen Erdstrichen und den dort wohnhaften Völkern, den Kimmeriern und vor allem von den Hyperboräern zu berichten wissen. Vielleicht kann man als Hyperboräer die Bewohner Skandinaviens gelten lassen. Ein Hyperboräer soll der mythische Abaris gewesen sein, der angeblich etwa um das Jahr 570 v. Chr. (Lobeck) nach Griechenland kam, wie erzählt wird, durch eine ihm von Apollo gegebene Offenbarung veranlaßt. Er soll mit Pythagoras bekannt geworden sein. „Als Abaris von den Hyperboräern, unerfahren in der hellenischen Bildung und Sprache schon in Jahren vorgerückt ankam, so führte ihn Pythagoras nicht durch mannigfache Betrachtungen in seine Geheimwissenschaft ein, sondern statt des Stillschweigens und des so lange Zeit nötigen Zuhörens und der übrigen Prüfungen machte er ihn schnell durch ein abgekürztes Verfahren zum Anhören seiner Lehrsätze geschickt und lehrte ihn die Schrift über die Natur und die andere über die Götter in aller Kürze verstehen.“ (Jamblichus, de vita Pythagor. § 136.) Abaris erregte nicht nur durch seine fremde Kleidung, sondern mehr noch durch seine „occultistischen“ Gaben großes Aufsehen in Griechenland. Er zog, wie Epimenides, wahrsagend und Orakel sprechend umher, trat als Sühner auf, befreite Sparta von einer Pest und heilte viele Krankheiten durch seine Zaubergesänge. Ja, es wird berichtet, daß er auf einem von Apollo empfangenen Pfeile die Luft durchflog, überhaupt ein Luftwandler (ἀιϑροβάτης) war.
Toland vermutet daher, er sei ein Druide gewesen, und die Hyperboräer seien auf den Hebriden zu suchen. Dagegen möchte Creuzer (Symbolik II, Anhang) ihn zu einer bloßen Personifikation der aus den Kaukasusländern hergekommenen Schrift verflüchtigen. Der Pfeil soll die „Rune“ sein, der Pfeilfahrer Abaris = Runa, Seher, Schreiber. Dazu bemerkt mit Recht Guigniaut in seiner französischen Übersetzung des Creuzerschen Buchs: Nous ne nous dissimulons pas que cette interpretation du mythe d'Abaris est singulièrement hasardée.
Mehr ethnographisch und kulturhistorisch als occultistisch 921interessant sind die Mitteilungen der Alten, insbesondere Herodots über andere jenseits des den Griechen bekannten orbis terrarum wohnhaften Naturvölker, so z. B. die Taurer, die wegen ihrer Menschenopfer gefürchtet waren, die Agathyrsen, die „üppigsten Menschen; mit ihren Weibern begatten sie sich alle gemeinschaftlich, damit sie aller Brüder sind und als Blutsverwandte weder Neid noch Feindschaft wider einander hegen.“ (Herodot I, 104.) Auch die Neurer werden als gefürchtete Zauberer genannt; „denn die Skythen erzählten von ihnen, daß in jedem Jahre ein Neurer ein Wolf wird auf wenige Tage und dann nimmt er wiederum seine alte Gestalt an. Ich glaube dies zwar nicht, aber sie sagen es nichts destoweniger und schwören darauf.“ (Herodot I, 105.)
Fußnoten:
[1] F. Lenormant: Die Geheimwissenschaften Asiens. Jena 1878. S. 23.
[2] II. 30.
[3] Western Asia Inscriptions. IV. 33. Z. 36–48.
[4] Speziellen Nachweis gab ich in meinem Faustbuch, S. 153ff.
[5] Der Höllengöttin.
[6] Diese Vorstellung kommt bekanntlich auch im Hexenwesen vor.
[7] dito.
[8] Vgl. Jesaias 13, 21.
[9] Die Krankheit wurde von den A. zuweilen als persönliches Wesen gedacht.
[10] Punkte bedeuten Verstümmelungen des Urtextes.
[11] Eas Gemahlin.
[13] Western Asia Inscriptions. IV. 16. 2.
[14] Beiname Eas.
[15] Western Asia Inscriptions. IV. 6. Col. 5.
[16] I. 181.
[17] Western Asia Inscriptions. IV. 3. Col. 2. Z. 3–26.
[18] Demnach wurde die magische Heilkunde auch von Frauen ausgeübt.
[19] D. h. man magnetisierte die Kameelshaut wie heute zu Tage Papier oder Watte.
[20] Auch hier begegnen wir einer Transplantation der Krankheit in die Elemente.
[21] Jes. 34. 13, 14.
[22] Nergal.
[23] dito.
[24] um-uruk.
[25] Tiamat.
[26] Essai de commentaire des fragments cosmogoniques de Bérose.
[27] II. 30.
[28] Western Asia Inscriptions. IV. 56. Col. 1.
[29] Western Asia Inscriptions. IV. 56. Col. 2.
[30] Also die Zauberei mit den ausgeschnittenen Fußstapfen wie im Mittelalter.
[31] Nestelknüpfen.
[32] Slane: Prolegomènes d'Ibn Chaldûn. T. I. p. 177.
[33] Vgl. in meinen Geheimwissenschaften S. 636ff. die von Paracelsus und Carrichter geschilderten Hexenkünste.
[34] Western Asia Inscriptions. IV. 7.
[35] Vgl. Dantes: Lasciate ogni speranza voich'entrate.
[36] D. h. die Sonne während ihrer nächtlichen Wanderung.
[37] Der Feruer entspricht also ungefähr dem transscendentalen Subjekt du Prels.
[38] II. 30.
[39] Sanch. 42. Ed. Orelli.
[40] Saturn entsprach schwarz, Jupiter blau, Mars roth, der Sonne gelb, Venus grün, Mercur grau oder bunt und dem Mond weiß.
[41] Origenes contra Celsum. VI. S. 646.
[42] Western Asia Inscriptions. III. 52. 3.
[43] II. 29.
[44] De Divinatione. I. 41.
[45] Prediger Salomonis. X. 20.
[46] Hesekiel. XXI. 26.
[47] Deuteron. 18. 11.
[48] Cicero: De Divinatione. I. 43. II. 35.
[49] Loc. cit. 41.
[50] Loc. cit. I. 33.
[51] Loc. cit. II. 23.
[52] Levit. XIX. 26.
[53] Jerem. X. 2.
[54] Hist. nat. II. 70. 81. II. 20. 18. 43. 52. 17.
[55] Johannes Lydus: De ostentis. 21. S. 86. Ed. Kase.
[56] Lenormant: Choix de textes cunéiformes. Bd. IV.
[57] Plinius: Hist. nat. 52. 53.
[58] Müller: Die Etrusker. Bd. II. S. 162–178.
[59] Plinius: Loc. cit.
[60] II. 30.
[61] De operatione Daemonum.
[62] Also ähnlich wie die spiritistischen Klopflaute.
[63] Psellus: De operatione Daemonum.
[64] Richt. IX. 37.
[65] II. Sam. V. 25.
[66] Richt. IV. 5.
[67] Macrob. Saturn. II. 16.
[68] Apud. Phot. Bibl. cod. 94. Ed. Becker.
[69] De re rustica. III. 17. 4.
[70] Cicero: De Divinatione. II. 46.
[71] Western Asia Inscriptions. III. 562.
[72] In meinem Faustbuch und den Geheimwissenschaften.
[73] Ant. Jud. IV. 14. 2.
[74] Herodot I. 132.
[75] Inschrift von Behistan. Taf. I. § 10–14.
[76] I. 131. III. 16.
[77] Damascius: De principiis. 125.
[78] De Is. et Osir. Ed. Reiske. S. 369.
[79] VII. 114.
[80] I. 103. 120. VII. 19.
[81] De vit. philos. prooem. 6.
[82] Plinius: Hist. nat. XXX. 2.
[83] Loc. cit. XXX. 5.
[84] Nach Kleukers Zendavesta. Th. III.
[85] Vgl. die biblische „Wurzel Jesse“, ferner 4 Mos. 24. 17 und zahlreiche Parallelen aus der Geburtsgeschichte Christi.
[86] Symbol der Mondsichel. Auch in der jüdischen Geheimlehre ist Michael der Erzengel des Mondes.
[87] Vgl. Jes. 7, 14.; Ev. Matth. 1, 20–23.; Luc. 1, 31ff.
[88] Vgl. die Offenbarung Johannis.
[89] Duzakh ist der Aufenthaltsort der Verdammten und Dews. Doch wird am Ende der Welt Ahuramazdâ den Duzakh vernichten. Vendid. Farg. XIX. II. No. XVIII.
[90] Vgl. das oben über die Wahrsagung aus Neugeborenen Mitgeteilte.
[91] Izeschné, Ha. 42.
[92] Vendid. Farg. 19.
[93] Kurzweg „Teufel“.
[94] Also in Wirklichkeit vielleicht der Oberste der medischen Magier.
[95] Man bemerke die Parallele zu Herodes.
[96] Jupiter.
[97] Venus.
[98] Der zweite Amschaspand.
[99] Wahrscheinlich Darius Sohn des Hystaspes.
[100] Zerduscht-nameh. Kap. 14.
[101] Nach der Tradition wurde Zoroaster 77 Jahre alt. Kleuker setzt seine Geburt in das Jahr 589.
[102] Ich kürze hier Kleukers weitläufige Darstellung der Tradition ab. Beim Übergang über den Araxes verrichtete Zoroaster ein ähnliches Wunder wie Moses, indem er nämlich seine Anhänger trockenen Fußes durch den Fluß führte.
[103] Dieses Fest wurde während der fünf letzten Tage des Jahres gefeiert.
[104] Zoroasters Vetter.
[105] Der zweite Monat des Jahres.
[106] Der fünfzehnte Tag.
[107] Das kaspische Meer.
[108] Zerduscht-nameh. Kap. 21.
[109] Vendid. Farg. 19.
[110] Zerduscht-nameh. Kap. 22. Die Amschaspands entsprechen den Planetengöttern und Erzengeln.
[111] A. a. O., Kap. 25.
[112] A. a. O., Kap. 59.
[113] Nach Bahman-Jescht bat Zoroaster Ahuramazdâ zweimal um Unsterblichkeit.
[114] Zerduscht-nameh. Kap. 60 u. 61.
[115] Nach der Tradition Djemschid, der sich am Schluß seiner Regierung wollte anbeten lassen.
[116] Zerduscht-nameh. Kap. 25. Vgl. die Versuchungsgeschichte Christi.
[117] Zerduscht-nameh. Kap. 25.
[118] Berühmter Destur-Mobed (gelehrter Priester). Gewissermaßen eine Reincarnation Zoroasters; eine Art neuer Buddha.
[119] Zerduscht-nameh. Kap. 28.
[120] Vgl. die später zu erwähnende kabbalistische Lehre von der Schachi nach.
[121] Diese Engelämter gingen in die jüdische Geheimlehre über. Nach der Kabbala herrscht Hariel über die nützlichen Tiere. Vgl. Berith Menucha. Fol. 37a.
[122] Ized des Feuers; bei den Juden Jehuel. Ber. Men. loc. cit.
[123] Destur=Gelehrter, Mobed=Priester, Herbed=Initiierter.
[124] Feuertempel.
[125] Ized der Metalle; bei den Juden Azazel. Vgl. Buch Henoch.
[126] Ized der Reinheit; den Juden unbekannt.
[127] Ized des Wassers; bei den Juden Michael. Ber. Men. l. c.
[128] Ized der Gewächse; bei den Juden Alpiel. Ber. Men. l. c.
[129] Vgl. Ev. Matth. 28, 19.
[130] Der heilige aus 72 kameelhaarenen Fäden bestehende Gürtel der Parsen.
[131] Oberster der Ized, mit Silik-mulu-khi, dem Demiurgos, Logos usw. usw. vergleichbar. Herr des Lichtes und der Sonne, Geber alles Guten usw.
[132] Contra Celsum. Lib. VI.
[133] Die betr. Stelle steht: Vendidad, I. Fargard, und lautet: „Der elfte Ort und die Stadt des Überflusses, die ich, der ich Ahuramazdâ bin, schuf, war Heetomeante, die Stadt der Verständigen und Glücklichen. Aber der totschwangere Angrômainyus brachte daselbst Magie in Gang, die häßliche Kunst. Sie macht allerlei Blendschein und giebt alles. Sie scheint groß, aber wenn sie sich auch mit der höchsten Gewalt aufstellt, so kommt sie doch vom Urgrunde des Bösen, vom Vater alles Unglücks. Weit ist sie von dem Großen, von dem der Gutes thut.“
[134] Nach Kleuker im Jahre 549 v. Chr.
[135] Zerduscht-nameh. Kap. 37. Vgl. Lucas 2, 46 usw.
[136] Ahuramazdâ heißt auch der 1., 8., 15. und 23. Tag jeden Monats.
[137] Aufenthaltsort der Dews und Verdammten; Hölle.
[138] Nach Abu Djafar soll Gustaspes ursprünglich dem Sabäismus gehuldigt haben.
[139] Fünfzig Pfund.
[140] Also die mediumistischen Erscheinungen der Feuerfestigkeit und des forcirten Pflanzenwachstums.
[141] Die persischen Zauberer bedienten sich also derselben Stoffe wie die Hexen des Mittelalters.
[142] dito.
[143] Zoroaster verlangt also wie Christus als Vorbedingung Glauben.
[144] Wir begegnen hier also Spuren der Physiognomik.
[145] Vermutlich um der Seelenwanderung zu entgehen.
[146] Ized der Krieger.
[147] Keim der guten Werke.
[148] An dieser Stelle ist vermutlich unter den verschiedenen Arten des Feuers auch das Feuer Burzin verstanden, welches im Bun-Dehesch (siehe nächsten Abschnitt) als ganz besonders heilig bezeichnet wird. Es wird vom Blitz entzündet und das „Feuer der Feldarbeiter“ genannt, weil es von diesen ganz besonders verehrt wird. Gustaspes errichtete ihm ein Dadgah (Heiligtum) auf dem Berge Revan in Khorasan.
[149] D. h. der Anhänger der protomedischen Religion.
[150] Im Zoroastrismus ist das Himmlische das Vorbild des Irdischen.
[151] Die ebene Oberfläche des Wassers ist Sinnbild des Eben- und Gleichmaßes, des Maßhaltens.
[152] Verschiedene Arten von Feuer, welche durch Sonnenbrand, den Blitz und das Aneinanderreiben von Hölzern entzündet und besonders verehrt wurden.
[153] dito.
[154] dito.
[155] Nicht mit Kaschmir zu verwechseln.
[156] Zoroaster stand der Annahme nach in den dreißiger Jahren.
[157] Abteilung, Kapitel, des Zendavesta.
[158] Vermutlich eine Art Yogis.
[159] Aban Jescht, Kap. 26 u. 27.
[160] Kl. Ravaets, Fol. 63.
[162] Man vergleiche damit du Prels Abhandlung über den Genius des Sokrates.
[163] Der Sirius, welcher als Stier mit goldenen Hörnern gedacht wird.
[164] Niedere Höllengeister, Dämonen.
[165] α-Orionis.
[166] Wie die sieben Amschaspands mit den Planeten zusammenhängen, so die 28 Izeds vermutlich mit den 28 Mondstationen. S. meine Geheimwissenschaften S. 288.
[167] Erhabener mythischer Berg. – Das Gebirge Elburs.
[168] Der Adam Kadmon der Kabbalisten.
[169] Auch nach der Kabbala ist Adam anfangs Androgyn.
[170] Den Wechsel der Jahreszeiten feiernde Feste.
[172] Hier ist also das Prinzip des Karma bereits ausgesprochen.
[173] Also Scheol, Hades &c.
[174] Hier haben wir den Ursprung der „Auferstehung des Fleisches“.
[175] Honover.
[176] Geogr. L. I. 15.
[177] Die Parsen sagen: „Wenn der Mensch geboren wird, so stellt sich Angrômainyus seiner Seele dar wie Meschia, dem Stammvater des Menschengeschlechts und spricht wie zu diesem: Ich bin Herr und Schöpfer der Natur! Das glaubt die Seele und wird verunreinigt.“
[178] Ein Mund und Kinn verhüllender Schleier.
[179] In seiner Anlage uralt und mutmaßlich von Zoroaster herrührend.
[180] Dieser Gedanke ging bekanntlich in das Christentum über.
[181] In der Kabbala wohnt Jehovah in der Lichtwelt Aziluth auf dem Funkenthron.
[182] Mondstationen.
[183] Beiname des Angrômainyus.
[184] Tageszeit von Mittag bis drei Uhr Nachmittag.
[185] Gebete.
[186] Der erste Monat des Jahres.
[187] Der ideale Urmensch. Nach dem Bun-Dehesch befand sich bei dessen Schöpfung die Sonne im Lamm, Mercur und Venus in den Fischen, der Mond im Stier, Saturn in der Wage, Jupiter im Krebs und Mars im Steinbock.
[188] Zwei Dews.
[189] Wasser des Lebens.
[190] Dew des Todes.
[191] Der Widder
[192] Es sind die sechs aufsteigenden und sechs absteigenden Zeichen des Tierkreises gemeint.
[193] Der Umkreis der Erde wird in sieben Keschwars geteilt. Der Satz heißt also, daß jeder Stern einen halben Tag über der Erde ist.
[194] Schalttage.
[195] Die neunte Mondstation (12°51' bis 25°43' ♋).
[196] Es handelt sich vermutlich um das Rückläufigwerden eines Planeten.
[197] Der Leben und Segen spendende Ized der Bäume.
[198] Der Ized des Wassers.
[199] Vielleicht Venus zur Zeit des größten Glanzes, wo sie zuweilen bei Tag sichtbar ist.
[200] Also die Sintflut.
[201] Der Okeanos.
[202] Der den Regen hemmende Dew.
[203] Dew, Helfer des Apevesch.
[204] Ized, Helfer Taschters.
[205] Beiname von Apevesch.
[206] Entsprechend dem biblischen Baum des Lebens.
[207] Ich übergehe die sich hier anschließende mystische Geographie des Bun-Dehesch.
[208] Rhabarber.
[209] Ein Flächenraum von etwa 55 000 Quadratfuß. Das Paradies.
[210] Vermutlich Antilope.
[211] Auch die Neuplatoniker suchten sich bei ihren theurgischen Operationen durch den mystischen Einfluß gewisser Tiere gegen böse Geister zu schützen.
[212] Es sind die Geschlechtsteile gemeint.
[213] Der isolierte Ort, wohin sich Frauen und Mädchen während der Menstruation begeben.
[214] Ein toter Körper, ein Stück davon.
[215] Der Glaube, daß der Blick menstruierender Frauen Flüssigkeiten verunreinige, Wein umschlagen, Spiegel erblinden und Rasiermesser abstumpfen lasse, war noch sehr lange verbreitet. Vgl. Agrippa von Nettesheim: Occulta Philosophia, Lib. I, cap. 42.
[216] Unreinheiten, Auswurfstoffe.
[217] Gebet.
[218] Gurzscher, Comet. Ich brauche wohl kaum auf die Merkwürdigkeit dieser Stelle hinzuweisen.
[219] Opfer.
[220] Niederer Diener des Kultus.
[221] dito.
[222] Das Band, mit welchem das heilige Bareçma zusammengebunden ist.
[223] Ich bemerke, daß man bis in die neueste Zeit Magismus &c. und Mazdeismus ineinander warf.
[224] Proklos: Theologia Platonis II. cap. 29.
[225] Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß von diesen Anschauungen der ganze Gebrauch der Formeln, Beschwörungen und Charaktere in der Theurgie abhängt.
[226] Man sieht also, daß die Karmalehre keineswegs buddhistisch ist.
[227] Die Orakel sind bei Psellos meist in gebundener Rede abgefaßt.
[228] Man denke an die zehn Sephiroth der Kabbala.
[229] Also der Astralkörper.
[230] Diese angeblich spiritistisch-theosophische Lehre ist also in Wahrheit uralt.
[231] Gewöhnlich in folgender lateinischer Fassung: Ergo ex finibus terrae prosiliunt canes terrestres, nunquam verum corpus mortali homini monstrantes.
[232] Die Aphorismen scheinen demnach, wie auch nach dem Kommentar zum vorigen Aphorismus zu schließen, zum Gebrauch bei den Mysterien bestimmt gewesen zu sein.
[233] Zrvâna-akarana.
[234] Die Feruer.
[235] Wir haben also wieder den Gegensatz zwischen Feruer und Seelen.
[236] Ahuramazdâ wurde bei den Gnostikern und Neuplatonikern zum Demiurgos.
[237] Die Henosis, die mystische Vereinigung mit Gott.
[238] Es ist wohl der Feruer gemeint.
[239] Der Satz bezieht sich wohl auf gewisse Gefahren, welche die Ekstase im Gefolge hat.
[240] D. h. der zu erkennende Gegenstand ist außerhalb des Geistes.
[241] Nämlich Gott selbst.
[242] III. 11.
[243] Eusebius: Praep. Ev. 6. 10.
[244] Asiatic Researches. VII. 279. VIII. 396. 494.
[245] Upanishad, bei Carey Sansc. Gramm. p. 903.
[246] Colebrooke: As. Res. VIII. 431.
[247] A. a. O. S. 405.
[248] Lacroce: Indisches Christentum. S. 613.
[249] A. a. O. S. 603.
[250] Parabodh. Chandrod in Rhodes' „Hindus“ II. S. 350.
[251] Bhartrihari in Roger „Offene Thür“ S. 492.
[252] A. a. O.
[253] As. Res. VIII. 421.
[254] A. a. O. 402.
[255] Philosophum. Tom. I. p. 904.
[256] Pag. 94.
[257] As. Res. VIII. p. 404. 440.
[258] Upnekh. I. 25. 213. II. 172. 251.
[259] II. 77. 2.
[260] I. 8–13.
[261] Markandeya puran, cap. 43.
[262] II. 75. 13ff.
[263] Manus Gesetz 12, 25.
[264] Goldene Sprüche des Pythagoras, V. 85 u. 86.
[265] 2. 22.
[266] Diodorus Siculus I. 22.
[267] Jahrgang 1891.
[268] M. Huc: Souvenir d'un voyage dans la Tartaric, le Thibet et la Chine. Paris 1853, p. 321–325.
[269] Dies möchte ich stark bezweifeln. Carl Kiesewetter.
[270] Ausführlich steht der Bericht in meinen Geheimwissenschaften, S. 567ff.
[271] Voyage en Asie. Paris 1867.
[272] Geographische und ethnographische Bilder. Jena 1875. S. 406.
[273] S. später den Abschnitt über Apollonius von Tyana.
[274] Vgl. Psychische Studien, Jahrgang 1875, S. 300ff.
[275] De myster. Aegypt. ed. Gale. pag. 173.
[276] Geschichte der Medizin. Bd. I. S. 72.
[277] De vita Pythagorae.
[278] Odyssee, IV. 218–232.
[279] Lib. I.
[280] XVI. 801.
[281] Hist. Lib. IV, cap. 8.
[282] Nach Sueton war keine Hoffnung, daß die Sehkraft wieder hergestellt werden könnte.
[283] Hist. nat. III. 46.
[284] Nach Herodot (Lib. III) war der Apis schwarz, hatte auf der Stirne einen viereckigen weißen Flecken, auf dem Rücken das Bild eines Adlers, eine knopfartige Drüse am Hals und zweifarbige Haare am Schweif.
[285] Man pflegte den Apis auch über den Ausgang von Krankheiten zu befragen.
[286] Nach den Arbeiten des Herrn Franz Lambert in der Sphinx. Bd. V. u. IV.
[287] Sitzungsbericht der Königl. Bayr. Akademie der Wissenschaften d. d. 6. Februar 1875.
[288] Payni ist der zehnte Monat des ägyptischen Jahres und beginnt mit dem 26. Mai des julianischen Kalenders. Die Jahreszahl bezieht sich auf die Regierung des Pharao.
[289] Chonsu, ursprünglich Mondgott, ist ebenfalls ein Heilgott der Ägypter.
[290] Der mit dem 26. April des julianischen Kalenders beginnende neunte Monat des ägyptischen Jahres.
[291] Vermutlich ein oberer Grad der Chonsupriester.
[292] dito.
[293] Der Priester wird euphemistisch Gott genannt.
[294] Wir haben hier also das bekannte dämonische Sprechen der Besessenen.
[295] Der sechste mit dem 26. Januar jul. Kal. beginnende ägyptische Monat.
[296] Sphinx, Bd. V. S. 6.
[297] Über Hermes Trismegistos und die hermetische Litteratur s. den betr. Abschnitt. Über die Astrologie der Ägypter vgl. meine Geheimwissenschaften.
[298] Jamblichus: De mysteriis Aegypt.
[299] Vgl. dessen Characterismi plantarum graduum XII signorum Zodiaci Characterismos et membra hominis comparati. – Der Leibarzt Kaiser Maximilians II., B. Carrichter, gab dieses Buch als von ihm verfaßt unter dem Titel Botanica astralis heraus.
[300] Nach unserm Kalender.
[301] Man betrachtete diese als pflanzliche Gebilde. Ich erinnere an die Entenmuschel, welche bekanntlich auf Bäumen wachsen sollte.
[302] Ich zitiere nach Ath. Kirchers Oedipus Aegyptiacus. Tom. III. Syntagma de Medicina Hieroglyphica.
[303] Vgl. Sphinx. Bd. IV. Heft 23.
[304] Nach den in der Kabbala denudata gesammelten Werken, Frank-Jellineks Kabbala usw.
[305] Vgl. Paracelsus: Das Buch von den Nymphen usw. Kap. 1.
[306] Etz Chajim. Fol. 248.
[307] Emek ha Melech. Fol. 85.
[308] „Die Schedim wohnen in der Luft, in den oberen, inneren Kreisen der Elemente. Sie wissen das Zukünftige durch die Vorsteher der Gestirne, wissen aber nur um die nahe Zukunft. Weil sie einen feinen geistigen Leib haben, so ist ihre Nahrung ebenso fein. Ihre Speisen und Getränke bestehen in dem Geruch des Feuers und der Feuchtigkeit des Wassers. Dies ist das Wesen des Rauchwerkes, welches man ihnen räuchert, denn dieses ist ihre Speise. Sie genießen davon, verbinden sich dann mit den Menschen und machen ihnen die Zukunft bekannt. Die Stufe dieser Ruchim ist: Manche bestehen aus Feuer allein, andere aus Feuer und Luft, andere aus Feuer, Luft und Wasser, und andere, welche außer den drei Elementen noch aus feiner Erde zusammengesetzt sind. Nach der Feinheit ihres Leibes richtet sich der Grad ihres Geistigen.“ (Nischmath Chajim, Fol. 118.) – „Die Engel oder Seelen der Verstorbenen, wenn sie sich herunterlassen wollen in die Welt, dann nehmen sie an etwas aus den vier Elementen, etwas nach Art des Körpers, so daß sie den Anwesenden erscheinen als Mensch oder als ein anderes Geschöpf und in solchen Gestalten zeigen sie sich den Propheten sowie anderen Menschen und selbst den Bösen, wie die Männer von Sodom die Engel gesehen. Dies ist das Geheimnis des Gewandes. – Daher haben die Zauberer und die Totenbefrager nötig Rauchwerk und Dünste, damit sie die Luft bereiten, daß sich in ihr ausfunkeln die Dinge, die sich in der Luft herablassen. Deshalb erscheinen die Toten oft in ihrer Gestalt dem Menschen selbst im Wachen.“ (Raibad zum Sepher Jezirah, Fol. 7.) – „So ist die Ordnung der bösen Seite. Man ordnet für sie einen Tisch mit Speisen und Getränken und Zauberwerken, und macht Rauch vor dem Tisch. Dann versammeln sich alle unreinen Ruchim und machen bekannt, was die Zauberer wünschen.“ (Sohar Balak, Fol. 192.) – Ein Hauptmaterialisationsmittel war das Blut, weshalb auch der zauberische Gebrauch des „Essens beim Blut“ geübt wurde.
[309] „Die obersten hängen in der Luft, die untersten sind diejenigen, welche die Menschen verspotten und ihnen Bedrängnisse im Traum machen. Sie sind so frech wie der Hund. (Dieser Ausdruck findet sich bei Paracelsus, de occulta philosophia wörtlich wieder.) Es giebt eine höhere Stufe über ihnen, welche den Menschen Dinge bekannt machen, die teils wahr, teils unwahr sind; und alles, was wahr ist, geht doch nur auf die nächste Zeit.“ (Sohar Waiikra, Fol. 25.)
[310] Also Hauskobolde, Heimchen, Wichtel usw.
[311] Es sind die S'hirim der Bibel, welche Luther mit Feldteufel übersetzt. Vgl. 3. Mos. 17, 7 und Jes. 15, 21.
[312] Vgl. Sohar Chaja Sarah. Fol. 125.
[313] Bchai. Fol. 95.
[314] Von den unsichtbaren Werken. Lib. III. und Scenen aus dem Geisterreiche. II. 1.
[315] Sohar Bereschith. Fol. 35.
[316] Sepher ha Chajim. Fol. 230.
[317] Sanhedrin. Fol. 68.
[318] Nischmath Chajim. Fol. 122.
[319] Maireheth Elahuth. Fol. 42.
[320] Tractat Aboth. Abschn. 5.
[321] Sohar Tithro. Fol. 78.
[322] Sohar Emor. Fol. 76.
[323] Sohar Balak. Fol. 193.
[324] 2 Timoth. 3, 8.
[325] 4 Mos. 22.
[326] Dieses Affiziertwerden des Menschen ist zwar ein immerwährendes, das jedoch nicht stets zum Bewußtsein kommt.
[327] Vgl. Jes. 46, 10 und Daniel 2, 27–30.
[328] Nischmath Chajim. Fol. 122 u. 132.
[329] Tract. Pesachim. Fol. 91.
[330] Nischmath Chajim. Fol. 132. Etz Chajim. Fol. 248.
[331] 5 Moses 18, 10. More Nebuchim 3. Hosea 4, 12.
[332] Hesekiel 21, 26. Nischm. Chaj. Fol. 126.
[333] Nischmath Chajim a. a. O.
[334] Sohar Ci Thise. Fol. 191.
[335] Tract. Sanhedrin. Fol. 66. Hilch. Abodah sarah 6, 14.
[336] A. a. O. 6, 10.
[337] More Nebuchim. Th. 3, Abschn. 29.
[338] P'kudai. Fol. 237.
[339] Hilch. Abodah sarah 6, 10.
[340] Midrasch Tanchumah. Fol. 29.
[341] Hilch. Abodah sarah 6, 1.
[342] Ben Dior. Anm. z. Sepher Jezirah. Fol. 5. Nischm. Chaj. Fol. 1.
[343] K'bod Melech. Fol. 230. Der Habal de Garmin ist für die Auferstehung dasselbe organisierende Prinzip, welches der Elementarnephesch für den lebenden ist.
[344] Vgl. Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde § 209 und Eckartshausens bekanntes Rauchwerk.
[345] 1. Sam. 28, 15.
[346] Es sind die Teravhim gemeint.
[347] Hilch. Abodah sarah 6, 1.
[348] Nischm. Chaj. Fol. 133.
[349] Vorher würde eigentlich die Bibel zu behandeln sein. Wegen Überfülle des Stoffes werde ich dies in einem besonderen Buch: Der Occultismus in der heiligen Schrift thun.
[350] Tractat Hagiga.
[351] Tractat Hagiga 12a.
[352] Dieselben erlauben vor dem vierzigsten Jahr weder die Lektüre des Sohar, noch eines anderen kabbalistischen Buches.
[353] Psalm 116, 15.
[354] Sprüche 25, 16.
[355] Tract. Hagiga 14b.
[356] Das Wort Acher (אחר) heißt wörtlich: ein Anderer, ein anderer Mensch.
[357] Frank leitet Metatron von μετὰ ϑρόνον ab, allein Metatron ist offenbar der parsische Mithra.
[358] Bab. Talmud. Tract. Berachoth.
[360] Daniel 12, 3.
[361] Nämlich Nephesch.
[362] Es ist die die Ekliptik im „Drachenkopf“ und „Drachenschwanz“ schneidende Mondbahn gemeint.
[363] Mantuae, 1562. Fol.
[364] Also ein Buch von ziemlich neuem Ursprung.
[365] Es ist Maimonides gemeint.
[366] Die beiden ersten Drucke des Sohar erschienen 1559 zu Cremona und Mantua.
[367] Talmud Babyl. tract. sabbat. M. und Fol. 34.
[368] Mant. Ausgabe. Tl. III. Fol. 26 u. 29.
[369] A. a. O. Fol. 153.
[370] Sohar. Tl. I. Fol. 113.
[371] A. a. O. Tl. III. Fol. 10.
[372] Morin: Exercitationes biblicae. Lib. II. Ex. 9. cap. 5.
[373] Glaube und Meinung. Tl. I. Kap. 4.
[374] Sohar. Tl. II. Fol. 42 u. 43.
[375] Hiob. 28. V. 20 u. 23.
[376] Glauben und Wissen. Tl. III. Kap. 2.
[377] A. a. O. Kap. 7.
[378] Hieron. ad Marcell. Ep. 136. Tom. III. Opp. omn.
[379] Tl. II. Fol. 99.
[380] Commentatio devi, quam graeca philosophia in theologiam tam Muhammedanorum, tam Iudaeorum exercuerit. Part. I. Hamburg 1835. 4°.
[381] De ortu Cabbalae. Part. II. Hamburg 1837.
[382] Es ist schwer, bei folgender Stelle des h. Paulus nicht an die Kabbala zu denken: Auch nicht Acht hätten auf die Fabeln und der Geschlechte Register, die kein Ende haben, und bringen Fragen auf, mehr denn Besserung zu Gott im Glauben (1. Thim. 1. 4.)
[383] Mant. Ausg. Tl. III. Fol. 296.
[384] Tl. III. Fol. 153.
[385] Kap. 3. V. 19.
[386] De coelo. Lib. II. cap. 13.
[387] Opp. Lib. III. cap. 24.
[388] De civitate Dei. Lib. XVI. cap. 9.
[389] Aboda Zarah. cap. 3.
[390] Eine sehr gewagte Behauptung Franks. C. K.
[391] Talm. Babyl. Tract. Chulin. cap. III.
[392] Schalscheleth hakabbalah. Fol. 24.
[393] Cuzary. Discors. 4. § 25.
[394] Jezirah, Kap. 1. Prop. 4.
[395] Jezirah, Kap. 1. Prop. 3.
[396] Propos. 5.
[397] Kap. 1, Propos. 6.
[398] Kap. III. Propos. 3.
[399] Kap. 4. Propos. 1. 2. 3.
[400] Kap. 5. Propos. 1 u. 2.
[401] Kap. 6. Propos. 3.
[402] Kap. 6. Propos. 2.
[403] Kap. 6. Propos. 2.
[404] Sohar, Tl. III. Fol. 152.
[405] A. a. O. Fol. 149.
[406] Homil. 7 in Levit.
[407] περὶ ἄρχῶν. Lib. IV.
[408] Homil. 5 in Levit.
[409] Habak. III. 1.
[410] Sohar. Tl. III. Fol. 128.
[411] So heißen die Adepten der Kabbala.
[412] Jesaias 40. 25.
[413] Deuteron. 4. 15.
[414] Hiob 14, 11.
[415] Sohar, Tl. II. Fol. 42 u. 43.
[416] Sohar, Tl. I. Fol. 105.
[417] Sohar, Tl. III. Fol. 288.
[418] Idra Rabba. Fol. 114.
[419] Idra Rabba. Fol. 144.
[420] Idra Suta. Fol. 288.
[421] Sohar, Tl. III, Fol. 11.
[422] Pirke, Aboth. V. 1.
[423] Sohar, Tl. I, Fol. 2.
[424] Sohar, Tl. III, Fol. 288.
[425] Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften. §§ 86 u. 87.
[426] Sohar, Tl. III, Fol. 292.
[427] Sohar, Tl. III, Fol. 291.
[428] A. a. O.
[429] A. a. O.
[430] Sohar, Tl. III, Fol. 291.
[431] Sohar, Tl. III, Fol. 288.
[432] Sohar. A. a. O.
[433] Sohar, Tl. I, Fol. 246.
[434] Sohar, Tl. III, Fol. 65.
[435] Sohar, Tl. III, Fol. 296.
[436] A. a. O.
[437] Sohar, Tl. I, Fol. 51.
[438] Idra Suta, am Schluß.
[439] Sohar, Tl. III, Fol. 10.
[440] Sohar, Tl. III, Fol. 7.
[441] Pardes Rimonim. Fol. 60–64.
[442] Sohar, Tl. I, Fol. 60–70.
[443] Vgl. Pardes Rimonim. Fol. 34–39.
[444] Pardes Rimonim. Fol. 42. u. 43.
[445] Idra Rabba. Tl. III, Fol. 148.
[446] Idra Suta. Fol. 292.
[447] Idra Rabba. Fol. 135.
[448] Buch des Geheimnisses. Kap. 1.
[449] Idra Rabba. Fol. 135.
[450] Idra Rabba. Fol. 142.
[451] Sohar, Tl. I, Fol. 20.
[452] Sohar. Fol. 246.
[453] Kommentar des Abraham ben Daud zum Sepher Jezirah. Pag. 65.
[454] Sohar, Tl. II, Fol. 100.
[455] Sohar. A. a. O.
[456] Sohar, Tl. II, Fol. 218.
[457] Sohar, Tl. I, Fol. 21.
[458] Sohar, Tl. I, Fol. 205.
[459] Sein mystischer Name ist Samael (סמאל). Von ihm wird in der Zukunft die erste Hälfte, welche Gift bedeutet, wegfallen; die zweite Hälfte hingegen ist allen Engelnaturen gemein. Dieselbe Idee wird auch noch in einer andern Weise ausgedrückt: Nachdem durch kabbalistische Berechnung dargethan worden ist, daß der Name Gottes alle Himmelsgegenden mit Ausnahme des Nordens umfaßt, welcher den Dämonen als Strafort überwiesen ist, wird gesagt, daß man am Ende der Tage auch diese Gegend im göttlichen Namen finden wird. Die Hölle wird verschwinden und es wird weder Strafe, noch Leiden, noch Schuldige mehr geben. Das Leben wird ein endloser Sabbath sein. Vgl. Pardes Rimonim, Fol. 10, Emek Hamelech, Kap. 1.
[460] Sohar, Tl. III, Fol. 61.
[461] Sohar, Tl. II, Fol. 20.
[462] Sohar, Tl. II, Fol. 20.
[463] Sohar, Tl. II, Fol. 74.
[464] Sohar, Tl. II, Fol. 76.
[465] Sohar, Tl. II, Fol. 75.
[466] A. a. O. Fol. 73–75.
[467] A. a. O. Fol. 73.
[468] Sohar, Tl. III, Fol. 68.
[469] Talmud. babyl. Tract. Sanhedrin. cap. 11.
[470] Sohar, Tl. I, Fol. 42.
[471] Sohar, Tl. I, Fol. 42ff.
[472] Tikunim-Tikun. 15. Fol. 36.
[473] Vgl. Sohar, Tl. II, Fol. 255–259.
[474] Sohar, Tl. I, Fol. 35.
[475] Sie wird im Talmud Lilith genannt.
[476] Ethica.
[477] Prediger Sal., Kap. III, V. 19.
[478] Talm. Bab. Tract. Berachoth 17.
[479] Talm. Bab. Tract. der Väter. Kap. 3.
[480] Sohar, Tl. III, Fol. 48.
[481] Sohar, Tl. II, Fol. 70.
[482] Sohar, Tl. II, Fol. 76a.
[483] Sohar, Tl. I, Fol. 191.
[484] A. a. O.
[485] Sohar, Tl. II, Fol. 142.
[486] Sohar, Tl. III, Fol. 107.
[487] Sohar, Tl. I, Sect. לרלר.
[488] Deuteron. 14. 1.
[489] Sohar, Tl. I, Fol. 245.
[490] Sohar, Tl. I, Fol. 55.
[491] Sohar, Tl. I, Fol. 98.
[492] Sohar, Tl. II, Fol. 96.
[493] Sohar, Tl. III, Fol. 61.
[494] Sohar, Tl. I, Fol. 23.
[495] Sohar, Tl. III, Fol. 61.
[496] Sohar, Tl. II, Fol. 99.
[497] Sohar, Tl. II, Fol. 99.
[498] Sohar, Tl. II, Fol. 208.
[499] Sohar, Tl. II, Fol. 216.
[500] Sohar, Tl. I, Fol. 66.
[501] Sohar, Tl. II, Fol. 94.
[502] Sohar, Tl. I, Fol. 168.
[503] Sohar, Tl. I, Fol. 48.
[504] Sohar, Tl. I, Fol. 145.
[505] Sohar, Tl. III, Fol. 85.
[506] Sohar, Tl. I, Fol. 52.
[507] Ich gebe diese kleine Sammlung von Aphorismen als Wurzel so manches „modernen“ Glaubens.
[508] Zeller, Philosophie der Griechen I. 169.
[509] Philosophie der Griechen I. 175.
[510] Aristoteles, Metaphys. XII. 2.
[511] Geschichte der Philosophie I. 41.
[512] Vergl. Curtesius, principi III, cap. 55–89.
[513] Dühring, Geschichte der Philosophie S. 23.
[514] Eudemus bei Theo (bezw. Dercyllides) Astronom. S. 324.
[515] Dühring, Geschichte der Philosophie S. 24.
[516] Fr. 18. b. Stob. Floril. 3, 84.
[517] Theophrast, De sensu 1.
[518] Fr. 22.
[519] Diog. IX. I. πολυμαϑὶη νόον οὺ φύει. Procl. in Tim. p. 31.
[520] Fr. 73, 66, 67.
[521] Fr. 55. Lucian V. auct. 14. Die Ähnlichkeit einzelner dieser Sätze mit oft wiederholten Ausführungen Giordano Brunos ist auffallend. Man vergl. meine Lichtstrahlen aus Bruno's Werken. S. 1–3, S. 77, „bloß zu leben, ihr Lebenszweck, Des Weges Ziel der Weg“ u. s. w.
[522] Fr. 12. Clemens Strom. V. 591. ἀπιστίη γάρ διαφυγγάνει μὴ γιγνώσκεσδαι.
[523] Plato Theät. 160. Kratylus, ein Lehrer Platos überbot diesen Satz seines Lehrers Heraclit durch die Behauptung, man könne nicht einmal einmal in denselben Fluß steigen, ein Extrem, dessen Konsequenz Aristoteles verspottet, wenn er sagt, Kratylus habe zuletzt nichts mehr sagen zu dürfen geglaubt, sondern nur den Finger bewegt.
[524] Vgl. Dühring, Geschichte der Philosophie. S. 28.
[525] Fr. 39.
[526] Plato, Theät. 152.
[527] Vergl. Zeller, Philosophie der Griechen I. S. 536.
[528] Fr. 25.
[529] Lassalle, Die Philosophie Heracleitos des Dunklen I. 361.
[530] Plut. Is. et Os. 48.
[531] Plut. Is. et Os. C. 45.
[532] Fr. 41.
[533] Diogenes L. IX. 18.
[534] Vgl. Zeller, Philos. der Griechen I. 555. Ueberweg, Geschichte der Philosophie I. S. 48.
[535] Vgl. J. R. Mayer „Beiträge zur Dynamik des Himmels.“ (Mechanik der Wärme 159.) Auch Giordano Bruno, Vom Unendlichen, dem All und zahllosen Welten, übers. von Kuhlenbeck und meine Anmerkung dazu S. 91.
[536] Stob. Ekl. I. 264.
[537] Stob. Florileg. 5, 120.
[538] Stob. Ekl. I. 906.
[539] Fr. 52b.
[540] Plat. facies lunae 1. 28.
[541] Diog. IX. 7.
[542] Sext. Emp. Pyrrh. Hypotyp. III, 230.
[543] Fr. 57. Stob. Floril. 104, 23. ἦϑος ἀνϑρώπῳ δαίμων.
[544] Fr. 70. Fr. 9. Zeller, a. a. O. S. 592.
[545] Cic. Tusc. V. 36, 105.
[546] Diog. Laert. IX. 6.
[547] Etymolog. m in βίος u. Eustath. ad Iliad. I. p. 31. Deutsch ist das Wortspiel nicht wiederzugeben.
[548] Augustin de civit. Dei VI, 5.
[549] W. Menzel, die vorchristliche Unsterblichkeitslehre II. 40.
[550] Diogenes Laert. VIII. 6.
[551] Apulejus, Florid. II. 15.
[552] Zeller, Philosophie der Griechen I. S. 26.
[553] W. Menzel, die vorchristliche Unsterblichkeitslehre I. 94.
[554] Metaphysik. I. 5.
[555] Zeller, Philosophie der Griechen I. 322.
[556] Aristoteles, De coelo II. 13. Vgl. auch meine Vorrede zu Giordano Brunos Dialoge vom Unendlichen, dem All und den Welten. S. III. Berlin 1893. (Lüstenöder.)
[557] Diogenes Laert. VIII. 36.
[558] Aristoteles de anima. I. 2.
[559] Bruno, degli eroici furori. I. 16.
[560] Simplicius, zur Physik des Aristoteles 173a.
[561] Vergl. Creuzer, Symbolik I. 144. Wenn angenommen wird, Plato und die älteren Platoniker, Plotinus inbegriffen, hätten eine willkürliche Seelenwanderung (Metensomatose) gelehrt, so hat Plotinus jedenfalls in seinen späteren Jahren sich sehr skeptisch und mit großer Zurückhaltung darüber geäußert, d. h. zu einer Zeit, wo er in den Geist von Platos Werken am tiefsten eingedrungen war. Eben deswegen und wegen der Incongruenz einer solchen Lehre mit einem Geiste, wie Plato war, möchte ich auch bezweifeln, daß er wenigstens als gereifter Philosoph im Ernste so etwas behauptet habe.
[562] Diogenes L. VIII. 19 u. 20.
[563] Die Quellen siehe bei Zeller, Philosophie der Griechen I. 265 not. 3.
[564] Krit. Geschichte der Philosophie, S. 19.
[565] Fülleborn, Fragmente aus den Gedichten des Xenophanes und Parmenides, Beiträge zur Geschichte der Philosophie. Jena 1795.
[566] Fr. 14.
[567] Fr. 1.
[568] Fr. 7.
[569] Vgl. Fiorentino, Bernardino Telesio ossia studi storici su l'idea della natura.
[570] Vgl. Ueberweg, Geschichte der Philosophie I. § 20.
[571] Sphinx, VI. 33 (1888).
[572] Dühring, a. a. O. S. 37.
[573] Diogenes L. VIII. 63–67.
[574] Diog. Laert. VIII. 60.
[575] Boethius de music. cap. 1.
[576] Diese Goëtie wurde, wie Kiesewetter bereits im I. Bande S. 73 bemerkt hatte, zur Zeit der Perserkriege durch die Magie des Persers Osthanes abgelöst.
[577] Aristotel. de anima II. 6.
[578] Aristotel. de anima II. 6.
[579] Geschichte der Philosophie a. a. O.
[580] Vgl. Zeller, Philosophie der Griechen I, S. 667.
[581] Noacks Jahrbücher für spekulative Philosophie II, 2.
[582] Cicero, Tusc. I. 16. 38. Diese Annahme gründete sich wohl nur darauf, daß man keine ältern Schriften, als die des Pherekydes kannte, die diese Lehre enthielten. Vergl. Zeller, a. a. O. I. 56.
[583] Diogenes Laert. I. 10.
[584] Vgl. Ebstein, Einige Bemerkungen über die sog. Nona. (Berliner Medizinische Wochenschrift 1891, Nr. 41.) Charcot, Leçons de mardi à la Salpetrière. Paris 1889. p. 63ff. Löwenfeld, Über hysterische Schlafzustände (Archiv für Psychiatrie XXII.)
[585] Plato de Legibus I. 642. Cicero, de Dio. I. 18. Aristoteles, Rhetor. III. 17.
[586] Plato de republ. II. p. 364.
[587] De principiis 383.
[588] Die hier, nach der Weise der hesiodischen Theogonie eine geschlechtliche Syzygie bilden, die Luft (griechisch Ὁ ἀήρ) ist der männliche, die Nacht das weibliche Urwesen.
[589] Thucydid. I. c. 4.
[590] Die vorchristliche Unsterblichkeitslehre. S. 62.
[591] Vgl. Plutarch, Pelopidas, cap. 10.
[592] Creuzer, Symbolik. S. 497.
[593] Somnium Scipionis I, 12.
[594] Lucretius.
[595] Von κυκᾷν d. h. eine Mischung, die durch Schütteln entstanden. Er ist teils Medizin, teils Zaubermittel, κῦφι bei den egyptischen Mysterien. Bildlich nennen die Philosophen das kosmische Ineinander der Elemente bisweilen Kykeon, so Heraclit b. Lucian, vit. auct. § 15. Vgl. Preller, Demeter und Persephone. S. 98.
[596] Man enthielt sich von Geflügel, Fischen und Bohnen, der Granaten und Äpfel. Vgl. du Prel, Mystik der alten Griechen, S. 104, der hier einen Zusammenhang mit „Mediumität“ vermuten möchte.
[597] Nach Preller ist Jambe nichts als eine Personifikation des Jambus in der Bedeutung des Spottgedichts.
[598] Preller, a. a. O. S. 138. not. 22. Näheres siehe später!
[599] Besonders verstand man es auch, energische Lichteffekte durch Wechsel von Licht und Finsternis zu erzielen.
[600] Fragm. 116.
[601] Orphica No. 40.
[602] Ganz richtig ist diese Worterklärung nicht; Gesetzgeberin würde eigentlich Thesmothetes heißen. φορος bezieht sich auf das Tragen der Satzungen im körperlichen Sinne; die Weiber trugen nämlich die „Gesetze“ der Ceres und ihre Symbole in Prozession herum.
[603] „Nicht Liebe überhaupt erregte und förderte Ceres, gleich der Afrodite nur die treue Turteltaube war ihr angenehm; nur die Liebe des ehelichen Paares erfreute sich ihrer Segnungen. Diese beziehen sich dann auf dieselben Stufen weiblicher Passivität, welche Demeter selbst, freilich nur gleichsam, doch alljährlich zu ertragen hat. Denn Säen und Pflügen schien den Griechen ein Schwängern der Erde zu sein; die Göttin Erde selbst schien um die Saatzeit den Keim neuer Pflanzung in brünstiger Liebe aufzunehmen (ad conceptum impetus terrae Plin. N. H. 18.) Preller, Demeter S. 354.“
[604] Preller, a. a. O. S. 339.
[605] Nach Mommsens Heortologie sollen heute noch Badegewohnheiten der Mohammedanerinnen an die Gebräuche der Thesmophorien erinnern; unter allerhand Neckereien und Scherzen fahren die Türkinnen ans Meer, nehmen Speisen und Getränke mit und ergötzen sich nach dem Bade in ausgelassenster Weise.
[606] κτείς bedeutet wörtlich zunächst Kamm, dann eine Muschelart (Kamm-Muschel). Diese letztere Bedeutung führt dann weiter: Vgl. Hofmann v. Hofmannswaldau, die Schooß der Geliebten:
[607] Preller, a. a. O. 346.
[608] Die Vierfaltigkeit, die Urgottheit.
[609] Des Urgeistes.
[610] Des unendlichen Raumes.
[611] Die Weltkugel.
[612] Der Urgottheit.
[613] Aristoteles de coelo IV, 203. 8b. 35.
[614] Ring oder Rolle, wodurch Spindel oder Spule umschwingen.
[615] Die berühmte Harmonie der Sphären.
[616] Der Sänger Orpheus wurde von Mänaden zerrissen, angeblich weil er nicht stark genug gewesen, den Tod für Eurydike zu ertragen; Plato, Symp. 7, oder weil er die erotische Liebe bei den Thrakern eingeführt. In Wahrheit ist dieser Tod eine Nachbildung der Sage von der Zerreißung des Zagreus (siehe S. 492ff. 535 oben!), dessen Priester Orpheus ist.
[617] Thamyras, wie Orpheus, ein thrakischer (mystischer) Dichter, der nach der Sage sich in einen Wettstreit mit den Musen einließ und besiegt seiner Laute und des Augenlichts beraubt wurde. Vgl. Ovid. amores III. VII. 62.
[618] Der bekannte Lethe-Strom.
[619] M. E. zeigt sich hier schlagend, wie der Unsterblichkeitsglaube lediglich aus dem Gefühl der Wertschätzung hervorgeht. Ein zwingender Beweis der Unsterblichkeit läßt sich nicht führen; ebensowenig freilich auch ein Gegenbeweis. Gewöhnlich wird letzterer in dem mephistophelischen Satze gefunden: „Alles, was entsteht, ist wert, daß es zu Grunde geht“; und daher das Bestreben so vieler Metaphysiker, die Seele zu den unentstandenen Urelementen des Seins zu rechnen. Jener Satz von der Vergänglichkeit alles Entstandenen kann sich auch nur auf eine empirische Induktion berufen, deren Beweiskraft keineswegs zwingend ist. Vgl. meine Anmerkung zu Brunos Dialog vom Unendlichen. Nr. 35. S. 9 u. 97.
[620] Rein germanisch sind nur die Niedersachsen, Westfalen und Friesen im Nordwesten, und die Tyroler bezw. Oberbaiern im Süden.
[621] Ptolemäus schätzte den Gesamtumfang der aristotelischen Werke auf 1000 Bände.
[622] Metaph. III. 4.
[623] A. Vinet, sur le Jocelyn de M. de Lamartine in Essais de philosophie morale, Paris 1837, p. 271, 275.
[624] Vergl. Schloßmann, a. a. O. S. 13.
[625] Alex. Aphrodis. de anima.
[626] Pindar, bei Bergk fragm. 108.
[627] αἴῶνος εἴδωλον.
[629] In Süditalien werden bekanntlich die Reben nicht an kleinen Pfählen, sondern hoch von Baum zu Baum auf den Feldern gezogen.
[631] Sors von serere reihen. Es waren wahrscheinlich an einer Schnur gereihte Holztäfelchen, die geworfen verschiedenartige Figuren bildeten; was an die Runen erinnert.
[632] von fatum = schicksalredend = fari.
[633] lituus bedeutete zunächst die gekrümmte Kriegstrompete.
[634] Plinius, H. N. XVI, 20.
[635] Plutarch, Romulus c. 20.
[636] Antiq. jud. Lib. XVIII. cap. VIII.
[637] Daß daran nichts Wahres ist, bedarf wohl kaum einer Bemerkung, wenngleich der Halbtheologe B. Bauer sich zu dem Versuch verstiegen hat, das Christentum als Ableger des Alexandrinertums erklären zu wollen. Die beste Abfertigung dieser Gelehrtenhypothese findet man bei Dühring, Ersatz der Religion, S. 18. – L. K.
[638] De Cherubim II. 24.
[639] Vgl. De sacrificiis Abelis et Cain. II. 73. Vita Abrahami. V. 234–240. De nominum mutatione IV. 426 etc.
[640] De Cherubim II. 30–36.
[641] V. 260–270.
[642] Also das bekannte platonische Bild.
[643] De somniis. V. 34.
[644] Die Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte.
[645] De nominum mutatione. IV. 332.
[646] De somniis. Lib. I. V. 34–36.
[647] De opificio mundi. 4.
[648] De confusione linguarum 340.
[649] De somniis 576.
[650] Nach meiner Ansicht hat das Christentum, als eine wesentlich praktische Geistesrevolution nicht nur gegen eine bestimmte Richtung, sondern gegen das Schriftgelehrtentum überhaupt, nichts mit einer rein theoretischen Aneignung griechischer Philosopheme durch einen jüdischen saft- und kraftlosen Gelehrten zu thun; erst die Gnostiker und Manichäer traten in Beziehung zu diesen alexandrinischen Exsudaten. – L. K.
[651] Leg. alleg. I. 46. II. 93. De sacrificio Abel et Kain.
[652] De profugis. IV. 268.
[653] De migratione Abrahami III, 424.
[654] Ebendas. III, 440.
[655] Vergl. De confus. ling. 271. De profugis 359. De Abraham 287. De somniis 455. De Gigant. 222–224.
[656] Hinter dem „bekanntlich“ sowie überhaupt hinter diesem Satze darf nüchterne Geschichtsforschung getrost ein Fragezeichen setzen. – L. K.
[657] De opificio mundi 33.
[658] De eo quod detur 170. De somniis I, 170.
[659] De eo quod detur 170, 172. De somniis 578.
[660] De eo quod detur 170, 172. De somniis 578.
[661] De confus. ling. 342. De somniis I, 16. sagt Philo noch: „Von den vier Theilen, (Philo rechnet die von ihm gemachten Unterabtheilungen nicht als selbständige Theile) aus welchen der Mensch besteht, sind drei, nämlich der Leib, die Sinne und die Rede, begreiflich; der vierte aber, der Geist, ist nicht begreiflich. Was ist er seinem Wesen nach? Geist, Blut oder gar Leib? Leib ist er nicht, sondern unkörperlich, ist er aber Grenze, Gestalt, Zahl, Thätigkeit, Harmonie oder etwas Ähnliches? Und kommt er bei der Geburt schon ausgebildet in uns hinein, oder wird die Feuernatur in uns, wie Eisen in der Schmiede durch kaltes Wasser – zur festen Masse? weshalb auch ψυχὴ von ψύχος abgeleitet sein dürfte. Und weiter: erlischt er, wenn wir sterben und geht mit dem Leib zu Grunde, oder überlebt er ihn, oder ist er gar unvergänglich?“ – So schwankend sich auch Philo in diesen Worten ausspricht, so leuchtet doch die Meinung durch, daß der Geist ein Theil des göttlichen Äthers oder in diesen gekleidet sei.
[662] Quod deterior. potior. incid. soleat II, 196, 198.
[663] De opificio mundi 33.
[664] Loco cit. 31.
[665] Vgl. Paracelsus De natura rerum: „Denn wer kann wissen, was gut ist, ohne zu wissen, was böse ist.“
[666] De allegor. III, 80.
[667] De allegor. III, 71.
[668] De allegor. 68.
[669] De allegor. I, 59. De profugis 459.
[670] De Decalogo 754.
[671] Quis rerum divin. heres sit IV, 118.
[672] De allegor. 52–54.
[673] Quod Deus sit immutabilis II, 408.
[674] Leg. allegor. 142.
[675] De nobilitate II, 437. Vgl. auch den freimaurerischen Mythus vom salomonischen Tempelbau.
[676] De opificio mundi I, 92.
[677] De opificio mundi I, 92.
[678] Loco cit. I, 100. Vgl. auch folgende Stelle aus Poiret Göttliche Haushaltung, Frankfurt und Leipzig, 1714. 8°. III, 314: „Uranfänglich vermochte der Mensch durch Geberde und Wort in der Kraft seiner Imagination und seines Willens die gesammte Körperwelt zu beherrschen. Sowie wir jetzt unsere Glieder bewegen können, wenn wir wollen, indem aus uns verborgene Kräfte in sie fließen, welche dieselben in Bewegung setzen, ebenso konnte der Mensch durch verborgene geistige Ausflüsse der Körperwelt befehlen, nämlich denjenigen Gegenständen, welche in seiner Nähe oder ihm gegenwärtig waren. – Ebenso konnte der Mensch die sichtbare Welt auch durch seine Stimme allein beherrschen. Es war blos eine Erneuerung dieser ursprünglichen Natur des Menschen, wenn die Heiligen der alten Zeiten in Übereinstimmung mit ihrer Willens- und Imaginationskraft so große Dinge durch die Macht der Stimme oder des Wortes verrichteten, wenn z. B. Noah die Thiere zu sich in die Arche rief, Josua der Sonne und Moses dem rothen Meer befahl. Der Mensch hat die Sprache ursprünglich nicht zu dem Zweck allein erhalten, um seines Gleichen durch sie seine Gedanken mitzutheilen, denn das konnte er ursprünglich durch eine verborgene Wirkung oder durch das alleinige Verlangen bewerkstelligen, einem andern seine Gedanken kund zu thun.“
[679] Loco cit. I, 100.
[680] Loco cit. I, 98.
[681] De opificio mundi I, 102.
[682] Loco cit. 108.
[683] De opificio mundi 104, 108.
[684] Loco cit. I, 114.
[685] Loco cit. I, 116.
[686] Dieser Satz ist natürlich nicht im darwinistischen, sondern im ethischen Sinn zu verstehen.
[687] De opificia mundi I, 98. „Συγκέκριτα γὰρ ἐκ τῶν αὐτῶν, γῆς, καὶ δατος, καὶ ἀέρος, καὶ πυρὸς.“ Das Feuer zielt wohl auf den ätherischen Astralkörper, da im Altertum der Äther als Feuer gedacht wurde.
[688] Loco cit. I, 100.
[689] De sacrif. Abel 149.
[690] Philo legt hier die klimatischen Jahre der Astrologie zu Grund, nämlich das 7., 14., 21., 28., 35., &c.
[691] Quis rerum divin. heres sit 522, 523.
[692] De migrat. Abrah. III, 470.
[693] Quis rerum divin. heres sit 522, 523.
[694] De Cherubim II, 56.
[695] Philo nennt hier nach Pythagoras nur Grammatik, Rhetorik und Musik. Er hätte statt dessen sagen sollen: occulte Schulung.
[696] Man vergleiche mit diesen Personifikationen der Gottheit die christliche Dreieinigkeit. Die Sophia ist die weibliche Potenz der Gottheit, Maria vergleichbar. – Über obige Stelle s. De somniis 587.
[697] De gigantibus 364.
[698] De profugis 562.
[699] Quis rerum divin. heres sit I, 501.
[700] De Mose III, 155.
[701] Quis rer. divin. heres sit 522. De somniis 588, 590.
[702] De somniis I, 74.
[703] De nominum mutatione 356.
[704] De nominum mutatione 358.
[705] De somniis V, 68.
[706] Odyssee XI, 303.
[707] De somniis V, 56.
[708] De nominum mutatione IV, 334.
[709] De profugis IV, 264.
[710] De migrat. Abrah. III, 410.
[711] Quis rerum divin. heres sit IV, 30.
[712] Leg. alleg. I, 268.
[713] Genes. XXIV, 7.
[714] Genes. XXIV, 63.
[715] Exod. IX, 29.
[716] Leg. allegor. I, 154.
[717] De ebrietate III, 238.
[718] Porphyrius berichtet z. B. von Plotinos, daß dieser während sechs Jahren nur viermal zur Anschauung gelangte.
[719] De nominum mutatione IV, 332.
[720] De praemiis et poenis II, 413.
[721] De Dekalogo II. 198.
[722] De allegor. III, 76. Die Stelle scheint sich auf Präexistenz zu beziehen.
[723] De gigantibus II, 382.
[724] De profugis 466.
[725] De sacrific. Abel.
[726] De Cherubim 108.
[727] De congr. pagan. 432.
[728] De praemiis et poenis 921.
[729] De Cherubim 124.
[730] De confusione linguarum 331.
[731] De somniis 586.
[732] Hier kennzeichnet sich Philos Hebräerhochmut. – L. K.
[733] De vita contemplativa II, 473. Ed. Mangey.
[734] De vita contemplativa II, 474.
[735] Also als somnambule Seher.
[736] Also ein zoroastrischer Gedanke.
[737] De vita contemplativa II, 475ff. γνῶσις τῶν ϑείων καὶ ουρανίων.
[738] Josephus: De bello Jud. II, cap. 8. Philo: Quod omnis probus liber sit II, 458.
[739] Loco cit.
[740] Josephus: Antiq. Jud. Lib. XVIII, 1. Philo: Loco cit. 457.
[741] Josephus: Antiq. Jud. Lib. II, cap. 8, § 7.
[742] Loco cit. § 8.
[743] Philo: Quod omnis probus liber 459.
[744] Philo: Quod omnis probus liber 459.
[745] Josephus: Antiq. Jud. Lib. II, cap. 8, § 7.
[746] Loco cit. § 11.
[747] Quod omnis probus liber II, 458.
[748] Loco cit. § 6.
[749] De vita contemplativa II, 471.
[750] Loco cit.
[751] Φιλαλήϑης λόγος. Vgl. Opp. Philostr. ed Gotofr. Olear. Lips. 1709. Vol. I., p. 428 sq.
[752] Contra Celsum VI, 48.
[753] Apollonius von Tyana. Nach dem Griechischen des Philostratus. Rudolst. 1885. S. 5.
[754] Vita Apollonii. Lib. I, 1. 3.
[755] Ap. v. T. und Christus. Tüb. 1832. S. 215.
[756] A. a. O. S. 386.
[757] Vita Apoll. Lib. I, 2, 4–6.
[758] Vita Apollon. Lib. I, 3, 8.
[759] Lib. I, 3, 9, 10, 12.
[760] Lib. I, 3, 14, 15.
[761] Lib. I, 4, 16–18.
[762] Lib. I, 5, 19.
[763] Lib. I, 5, 23. Vgl. auch Herodot VI, 13, 119.
[764] Lib. I, 6, 23–37.
[765] Lib. III, 10, 15.
[766] Lib. III, 10, 16, 17.
[767] De myster. Aeg. II, cap. 7.
[768] Lib. III, 10, 34.
[769] A. a. O. 38.
[770] Lib. III, 10, 39.
[771] A. a. O. 44.
[772] Lib. III, 11, 58.
[773] Lib. IV, 12, 16.
[774] Lib. IV, 12, 20.
[775] A. a. O. 21.
[776] Ähnliche Vorfälle teilt auch Frommann: De Fascinatione. Norimb. 1675. 4°. mit.
[777] Lib. IV, 12, 34.
[778] A. a. O. 13, 43.
[779] A. a. O. 44.
[780] Lib. IV, 15, 11.
[781] A. a. O. 13.
[782] Lib. V, 16, 24.
[783] Lib. VI, 17, 11.
[784] A. a. O. 13.
[785] A. a. O. 27.
[786] Lib. VI, 18, 32.
[787] Lib. VII, 19, 9, 10.
[788] A. a. O. 20, 38.
[789] Lib. VIII, 21, 5.
[790] Lib. VIII, 23, 12.
[791] Ap. Gesch. 5, 19. 12, 7.
[792] Lib. VIII, 23, 19.
[793] A. a. O. 23, 26, 27.
[794] Hist. eccl. VI, 19.
[795] Die Gedankenübertragung ist in solchem Falle stets von der Willensthätigkeit des Übertragenden abhängig. Ist also der Wille des Übertragenden ein böser, bleibt der übertragene Gedanke an der Schwelle des Bewußtseins stehen und setzt er sich nur in körperliche Empfindung um, so wird eine derartige psychische Operation stets irgendwelche Krankheitserscheinungen im Gefolge haben, die um so greller sich geltend machen, je schwächer die Seelenkräfte des Objekts und je stärker die des Operierenden sind. Dies zugegeben, kann der Fall gedacht werden, daß A auf B in dieser Weise nachteilig einwirkt, so lange die Empfindung bei B nicht zum Bewußtsein gekommen ist; wenn dies aber geschehen ist und B eine stärkere psychische Kraft besitzt als A, so wird B auf gleiche Weise reziprok wirken können, denn wie Paracelsus schon eben so naiv als richtig sagt: „der stärkere Geist überwindet den schwächeren, der stärkere wehrt sich besser und macht sich den schwächern unterthan.“ Auf diese einfache Formel läßt sich die ganze heilende wie schadende Magie, das Maleficium, der böse Blick, das Beschreien und endlich der Heilmagnetismus zurückführen. Darin begründet sich auch die alte Erfahrung, daß Frauen, Kinder, Tiere &c., bei denen der Wille und überhaupt die psychischen Kräfte wenig oder gar nicht zur Entwickelung gelangten, als der „Bezauberung“ ganz besonders unterworfen gelten.
[796] Vielleicht auch nur Experimentalpsychologen.
[797] Enn. V. Lib. V. cap. 7.
[798] Enn. V. Lib. I, cap. 7. Lib. II, cap. 1.
[799] Enn. IV. Lib. III, cap. 17.
[800] Enn. V. Lib. I, cap. 4.
[801] Enn. III. Lib. II, cap. 1.
[802] Enn. V. Lib. IX, cap. 9. VI. Lib. VII, cap. 12.
[803] Enn. II. Lib. IV, cap. 4.
[804] Enn. III. Lib. V, cap. 3. V. Lib. I. cap. 6 u. 10. Lib. II, cap. 1.
[805] Enn. V. Lib. I, cap. 6.
[806] Enn. V. Lib. I, cap. 7.
[807] Enn. V. Lib. VI, cap. 4.
[808] Plotinos opusc. Stob. Eclog. Phys. pag. 113.
[809] Enn. VI. Lib. II, cap. 22.
[810] Loc. cit., cap. 3.
[811] Enn. VI. Lib. VII, cap. 14.
[812] Enn. III. Lib. VIII, cap. 2.
[813] Loc. cit., cap. 2.
[814] Enn. VI. Lib. IV, cap. 2.
[815] Enn. IV. Lib. VIII, cap. 3.
[816] Enn. VI. Lib. VII, cap. 9.
[817] Sollte man nicht meinen, Plotin habe in seiner mystischen Ausdrucksweise den Kampf ums Dasein und die Vererbungstheorie antizipiert?
[818] Loco cit.
[819] Enn. IV. Lib. IV, cap. 60.
[820] Enn. IV. Lib. VIII, cap. 8. Lib. VIII. cap. 4.
[821] Enn. I. Lib. I, cap. 12.
[822] Enn. V. Lib. III, cap. 13 u. 14.
[823] Loco cit.
[824] Enn. VI. Lib. IX. cap. 7.
[825] Loco cit.
[826] Enn. VI. Lib. IX, cap. 10.
[827] Enn. V. Lib. II, cap. 1.
[828] Porphyrius: Vita Plotini 18.
[829] De abstinentia I, 30. I, 59. II, 45, 53.
[830] Diese und die im Folgenden hervorgehobene Stelle sind die einzigen Spuren von der Lehre eines Seelenkörpers bei Porphyrius.
[831] Sentenz 2, 3, 38, 39. Stobaeus: Eclog. phys. Th. II, pag. 822.
[832] II, cap. 57 bis zum Schluß.
[833] Dieser Satz Kiesewetters läßt auf einen sonderbaren Begriff desselben von „Psychophysik“ schließen. – L. K.
[834] Vates.
[835] Die Neuplatoniker haben auch die persisch-jüdische Vorstellung guter Dämonen als Engel und Erzengel in ihre Pneumatologie aufgenommen.
[836] Offenbar kannte Porphyrius die Erscheinungen des Hypnotismus und Mesmerismus.
[837] Wohl eher mit einer Hallucination. – L. K.
[838] Wie mir scheint mehr als genug. – L. K.
[839] De myst. Aegypt. Sect. I, cap. 5.
[840] De myst. Aegypt. Sect. I, cap. 3.
[841] Loco cit. S. I, c. I, 21.
[842] Sect. III, cap. 4. Nichts seltenes in Irrenhäusern. – L. K.
[843] De myst. Aegypt. I, 10. III, 3.
[844] Loc. cit. I, 12, 13, 15. V, 23.
[845] Loco cit. III, 3.
[846] Loco cit. III, 22, 28, 29.
[847] Sect. III, cap. 14.
[848] Sect. II, cap. 10.
[849] Die Theorie der Truggeister finden wir bereits bei Paulus vor, welcher (2. Cor. 11, 14) vom Satan spricht, der sich in einen Engel des Lichts verstellt. Augustin sagt in der Civitas Dei, B. XIX, cap. 9: „Es ist gewiß, daß jene Philosophen, welche die Götter zu ihren Vertrauten zu haben glaubten, unter böse Geister geraten waren, von denen sie betrogen wurden.“ – Psellus sagt in seiner Schrift De operatione Daemonum: „Ante adventum boni spiritus frequens Daemonum coetus affluet et varii generis variaeque formae spectra daemonica praecurrant et appareant, ab omnibus partibus elementorum excitata, partim ac omnibus lunaris cursus portionibus composita etc. imo cum laetitia et gratia quadam blanditiae saepius occurentia, speciem bonitatis Initiato praebent.“ Reuchlin (De verbo mirificio. Lib. II, cap. 1.) fürchtet nichts mehr als diesen Betrug der Geister, und Luther sagt in seinen Tischreden, er wisse nicht, ob er dem lieben Gott dafür danken solle, wenn er ihm einen Engel ins Haus schickte, denn er würde sich kaum des Gedankens enthalten können, ob es nicht vielleicht der Teufel sei, und so erzählte er denn auch bei dieser Gelegenheit einige diesbezügliche erbauliche Anekdoten.
[850] De myst. Aegypt. Sect. I, cap. 21.
[851] Loco cit., Sect. I, cap. 21.
[852] L. c. Sect. I, cap. 9.
[853] Die Fürsten der Materie bei Jamblichus gleichen völlig den 7 höllischen Großfürsten des Höllenzwangs.
[854] Aus vorstehendem „Kaff“ wird es, wenn Leute wie Jamblichus auch mit zu den „Philosophen“ gezählt werden, wohl verständlich, wie verächtlich auch dieses Wort werden konnte. Tiefer konnte die griechische Philosophie wohl nicht sinken. – L. K.
[855] Ganz wie im Höllenzwang.
[856] De myst. Aegypt. Sect. II, cap. 3–5.
[857] De myst. Aegypt. Sect. II, cap. 6 u. 9.
[858] Sect. II, cap. 7. Ganz wie im Höllenzwang.
[859] Die gleiche Idee herrscht noch im modernen Spiritismus.
[860] Wie im Höllenzwang.
[861] De myst. Aegypt. Sect. II, cap. 8.
[862] In Alcib. p. 76.
[863] L. cit. 89.
[864] Edit. Commel. Paris 1596. P. 56, 59.
[865] Diese Probe der vollständigen Paralyse des Neuplatonismus dürfte genügen. – L. K.
[866] Occult. Phil. Lib. III, cap. 53.
[867] Zürich, 1776. 8°.
[868] Im pythagoräischen Sinn.
[869] Wir haben hier also wieder einen eigenartigen Vergleich für die Doppelnatur des Menschen, die Lehre von einem transcendenten und empirischen Ich, wie sie schon den alten Mysterien nicht unbekannt gewesen zu sein scheint, dann bei Plato, Aristoteles und neuerdings bei Kant und du Prel sich vertreten findet. Vergl. S. 558ff., S. 613ff. oben.
[870] Ammian XV, 9.
[871] Viscum L. album, spielt noch jetzt als mistle-toe bei der Weihnachtsfeier in England eine Rolle.
[872] Das heutige Anglesey.
[873] Wer sich für den sog. Neo-Druidismus, der zur Zeit wie eine Abart des Freimaurerwesens erscheint, des Näheren interessiert, sei auf den Aufsatz von Paulo „Enthüllungen aus den Druiden-Logen“ in der Kritik, Wochenschau des öffentlichen Lebens (Berlin) III. Jahrgang Nr. 65. (25. I. 1896) S. 153–160 aufmerksam gemacht.
[874] Übe Enthaltsamkeit mit Zunge, Magen und –!
Anmerkungen zur Transkription:
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Für die Fußnoten 98, 497 und 595 gab es auf den betreffenden Buchseiten keinen Hinweis; in diesen Fällen habe ich die Hinweise an den Stellen eingefügt, die mir als die wahrscheinlichsten erschienen.
Im Buch war der Inhalt der Seiten 917 und 918 vertauscht, dies wurde berichtigt.
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