The Project Gutenberg eBook of Jenseits der Schriftkultur — Band 2

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Title: Jenseits der Schriftkultur — Band 2

Author: Mihai Nadin

Release date: August 1, 2003 [eBook #4372]
Most recently updated: August 22, 2012

Language: German

Credits: Produced by Michael Pullen

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK JENSEITS DER SCHRIFTKULTUR — BAND 2 ***

Produced by Michael Pullen

Jenseits der Schriftkultur
(C)1999 by Mihai Nadin

Das Zeitalter des Augenblicks

Aus dem Englischen von Norbert Greiner

Inhalt

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
EINLEITUNG: SCHRIFTKULTUR IN EINER SICH WANDELNDEN WELT
Alternativen

Jenseits der Schriftkultur

BUCH I.

KAPITEL 1: DIE KLUFT ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN

Kontrastfiguren
Taste wählen—drücken
Das Leben ist schneller geworden
Aufgeladene Schriftkultur
Der Mensch entwirft, der Mensch verwirft.
Jenseits der Schriftkultur
Ein bewegliches Ziel
Der weise Fuchs
"Und zwischen uns der Abgrund"
Wiedersehen mit Malthus
In den Fesseln der Schriftkultur

KAPITEL 2: DIE USA—SINNBILD FÜR DIE KULTUR DER SCHRIFTLOSIGKEIT

Dem Handel zuliebe
"Das Beste von dem, was nützlich ist und schön"
Das Rückspiegelsyndrom

BUCH II.

KAPITEL 1: VON DEN ZEICHEN ZUR SPRACHE

Wiedersehen mit semeion
Erste Zeichenspuren
Skala und Schwelle
Zeichen und Werkzeuge

KAPITEL 2: VON DER MÜNDLICHKEIT ZUR SCHRIFTLICHKEIT

Individuelles und kollektives Gedächtnis
Kulturelles Gedächtnis
Existenzrahmen
Entfremdung von der Unmittelbarkeit

KAPITEL 3: MÜNDLICHKEIT UND SCHRIFT IN UNSERER ZEIT: WAS VERSTEHEN WIR, WENN WIR SPRACHE VERSTEHEN?

Bestätigung als Feedback
Mündlichkeit und die Anfänge der Schrift
Annahmen
Wie wichtig ist Literalität?
Was ist Verstehen?
Worte über Bilder

KAPITEL 4: DIE FUNKTIONSWEISE DER SPRACHE

Ausdruck, Kommunikation, Bedeutung
Die Gedankenmaschine
Schrift und der Ausdruck von Gedanken
Zukunft und Vergangenheit
Wissen und Verstehen
Eindeutig, zweideutig, mehrdeutig
Die Visualisierung von Gedanken
Buchstabenkulturen und Aphasie

KAPITEL 5: SPRACHE UND LOGIK

Logiken hinter der Logik
Die Pluralität intellektueller Strukturen
Die Logik von Handlungen
Sampling
Memetischer Optimismus

BUCH III.

KAPITEL 1: SCHRIFTKULTUR, SPRACHE UND MARKT

Vorbemerkungen
Products "R" Us
Die Sprache des Marktes
Die Sprache der Produkte
Handel und Schriftkultur
Wessen Markt? Wessen Freiheit?
Neue Märkte, Neue Sprachen
Alphabetismus und das Transiente
Markt, Werbung, Schriftlichkeit

KAPITEL 2: SPRACHE UND ARBEITSWELT

Innerhalb und außerhalb der Welt
Wir sind, was wir tun
Maschine und Schriftkultur
Der Wegwerfmensch
Die Skala der Arbeit und die Skala der Sprache
Angeborene Heuristik
Alternativen
Vermittlung der Vermittlung

KAPITEL 3: SCHRIFTKULTUR, BILDUNG UND AUSBILDUNG

Das Höchste und das Beste
Das Ideal und das Leben
Relevanz
Tempel des Wissens
Kohärenz und Verbindung
Viele Fragen
Eine Kompromißformel
Kindheit
Welche Alternativen?

BUCH IV.

KAPITEL 1: SPRACHE UND BILD

Wie viele Worte in einem Blick?
Das mechanische und das elektronische Auge
Wer hat Angst vor der Lokomotive?
Hier und dort gleichzeitig
Visualisierung

KAPITEL 2: DER PROFESSIONELLE SIEGER

Sport und Selbstkonstituierung
Sprache und körperliche Leistung
Der illiterate Athlet
Ideeller und profaner Gewinn

KAPITEL 3: WISSENSCHAFT UND PHILOSOPHIE - MEHR FRAGEN ALS ANTWORTEN

Rationalität, Vernunft und die Skala der Dinge
Die verlorene Balance
Gedanken über das Denken
Quo vadis, Wissenschaft?
Raum und Zeit: befreite Geiseln
Kohärenz und Diversität
Computationale Wissenschaft
Wie wir uns selbst wegerklären
Die Effizienz der Wissenschaft
Die Erforschung des Virtuellen
Die Sprache der Weisheit
In wissenschaftlichem Gewand
Wer braucht Philosophie und wozu?

KAPITEL 4: EIN GESPÜR FÜR DESIGN

Die Zukunft zeichnen
Die Emanzipation
Konvergenz und Divergenz
Der neue Designer
Virtuelles Design

KAPITEL 5: POLITIK: SO VIEL ANFANG WAR NOCH NIE

Die Permissivität der kommerziellen Demokratie
Wie ist es dazu gekommen?
Politische Sprachen
Kann Schriftlichkeit zum Scheitern der Politik führen?
Die Krabben haben pfeifen gelernt
Von Stammeshäuptlingen, Königen und Präsidenten
Rhetorik und Politik
Die Justiz beurteilen
Das programmierte Parlament
Eine Schlacht, die wir gewinnen müssen

KAPITEL 6: GEHORSAM IST ALLES

Der erste Krieg jenseits der Schriftkultur
Krieg als praktische Erfahrung
Das Militär als Institution
Vom schriftgebundenen zum schriftlosen Krieg
Der Nintendo-Krieg
Blicke, die töten können

BUCH V.

KAPITEL 1: DIE INTERAKTIVE ZUKUNFT: DER EINZELNE, DIE GEMEINSCHAFT UND DIE GESELLSCHAFT IM ZEIT-ALTER DES INTERNETS

Das Überwinden der Schriftkultur
Das Sein in der Sprache
Die Mauer hinter der Mauer
Die Botschaft ist das Medium
Von der Demokratie zur Medio-kratie
Selbstorganisation
Die Lösung ist das Problem. Oder ist das Problem die Lösung?
Der Umgang mit den Wahlmöglichkeiten
Der richtige Umgang mit den Wahlmöglichkeiten
Abwägungen
Aus Schnittstellen lernen

KAPITEL 2: EINE VORSTELLUNG VON DER ZUKUNFT

Kognitive Energie
Falsche Vermutungen
Netzwerke kognitiver Energie
Unebenheiten und Schlaglöcher
Die Universität des Zweifels
Interaktives Lernen
Die Begleichung der Rechnung
Ein Weckruf
Konsum und Interaktion
Unerwartete Gelegenheiten

NACHWORT: UMBRUCH VERLANGT UMDENKEN
LITERATURHINWEISE
PERSONENREGISTER
ÜBER DEN AUTOR

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Unsere Welt ist in Unordnung geraten. Die Arbeitslosigkeit ist eine große Belastung für alle. Sozialleistungen werden weiter drastisch gekürzt. Das Universitätssystem befindet sich im Umbruch. Politik, Wirtschaft und Arbeitswelt durchlaufen Veränderungen, die sich nicht nach dem gewohnten ordentlichen Muster des sogenannten Fortschritts richten. Gleichwohl verfolgen Politiker aller Couleur politische Programme, die mit den eigentlichen Problemen und Herausforderungen in Deutschland (und in Europa) nicht das Geringste zu tun haben. Das vorliegende Buch möchte sich diesen Herausforderungen widmen, aus einer Perspektive, die die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung betont.

Wenn man eine Hypothese vorstellt, benötigt man ein geeignetes Prüffeld. In meinen Augen ist Deutschland am besten dafür geeignet. In keinem anderen Land der Welt läßt sich die Dramatik des Umbruchs so unmittelbar verfolgen wie hier. In Deutschland treffen die Kräfte und Werte, die zu den großen historischen Errungenschaften und den katastrophalen historischen Fehlleistungen dieses Landes geführt haben, mit den neuen Kräften und Werten, die das Gesicht der Welt verändern, gewissermaßen in Reinform zusammen.

An Ordnung, Disziplin und Fortschritt gewöhnt, beklagen die Bürger heute eine allgegenwärtige lähmende Bürokratie, die von Regierung und Verwaltung ausgeht. Früher galt das, verbunden mit dem Namen Bismarcks, als gute deutsche Tugend, eine der vielen Qualitätsmaschinen Made in Germany. Im Verlauf der Zeit aber wurde der Bürger abhängig von ihr und konnte sich nicht vorstellen, jemals ohne sie auszukommen. Die Mehrheit schreckt vor Alternativen zurück und möchte nicht einmal über sie nachdenken. Geprägt von Technik und Qualitätsarbeit ist die Vorstellung, daß das Industriezeitalter seinem Ende entgegengeht, den meisten eine Schreckensvision. Sie würden eher ihre Schrebergärten hergeben als die digitale Autobahn zu akzeptieren, die doch die Staus auf ihren richtigen Autobahnen zu den Hauptverkehrszeiten abbauen könnte—ich betone das könnte. Noch immer lebt es sich gut durch den Export eines technischen und wissenschaftlichen Know-how, dessen Glanzzeit allerdings vorüber ist.

Als ein hochzivilisiertes Land ist Deutschland fest entschlossen, den barbarischen Teil seiner Vergangenheit hinter sich zu lassen. Der Klarheit halber sei gesagt, was ich unter barbarisch verstehe: Hitler-Deutschland verdient keinen anderen Namen, ebensowenig wie alle anderen Äußerungen von Aggression, Antisemitismus und Rassismus, die noch immer nicht der Vergangenheit angehören. Aber bis heute hat man nicht verstanden, daß eben jene pragmatische Struktur, die die industrielle Kraft Deutschlands begründete, auch die destruktiven Kräfte begünstigte. (Man denke nur an die Technologieexporte, die die wahnsinnigen Führer ölreicher Länder erst jüngst in die Hände bekommen haben.) Das wiedervereinigte Deutschland ist bereit, in einer Welt mit globalen Aufgaben und globalen Problemen Verantwortung zu übernehmen. Es setzt sich unter anderem für den Schutz des tropischen Regenwaldes ein und zahlt für Werte—den Schutz der Umwelt—statt für Produkte. Aber die politischen Führer Deutschlands und mit ihnen große Teile der Bevölkerung haben noch nicht begriffen, daß der Osten des Landes nicht unbedingt ein Duplikat des Westens werden muß, damit beide Teile zusammenpassen. Differenz, d. h. Andersartigkeit, ist eine Qualität, die sich in Deutschland keiner großen Wertschätzung erfreut. Verlorene Chancen sind der Preis, den Deutschland für diese preußische Tugend der Gleichmacherei bezahlen muß.

Die englische Originalfassung dieses Buches wurde 1997 auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt und in der Folge von der Kritik wohlwollend aufgenommen. Dank der großzügigen Unterstützung durch die Mittelsten-Scheid Stiftung Wuppertal und die Alfred und Cläre Pott Stiftung Essen, für die ich an dieser Stelle noch einmal Dank sage, konnte dann Anfang 1998 die Realisierung des von Beginn an bestehenden Plans einer deutschsprachigen Ausgabe konkret ins Auge gefaßt werden. Und nachdem Prof. Dr. Norbert Greiner, bei dem ich mich hier ebenfalls herzlich bedanken möchte, für die Übersetzung gewonnen war, konnte zügig an die Erarbeitung einer gegenüber der englischen Ausgabe deutlich komprimierten und stärker auf den deutschsprachigen Diskussionskontext zugeschnittenen deutschen Ausgabe gegangen werden. Einige Kapitel der Originalausgabe sind in der deutschsprachigen Edition entfallen, andere wurden stark überarbeitet. Entfallen sind vor allem solche Kapitel, die sich in ihren inhaltlichen Bezügen einem deutschen Leser nicht unmittelbar erschließen würden. Ein Nachwort, das sich ausschließlich an die deutschen Leser wendet, wurde ergänzt.

Die deutsche Fassung ist also eigentlich ein anderes Buch. Wer das Thema erweitern und vertiefen möchte, ist selbstverständich eingeladen, auf die englische Version zurückzugreifen, in die 15 Jahre intensiver Forschung, Beobachtung und Erfahrung mit der neuen Technologie und der amerikanischen Kultur eingegangen sind. Ein Vorzug der kompakten deutschen Version liegt darin, daß die jüngsten Entwicklungen—die so schnell vergessen sein werden wie alle anderen Tagesthemen—Fortsetzungen meiner Argumente darstellen und sie gewissermaßen kommentieren. Sie haben wenig miteinander zu tun und sind dennoch in den folgenden Kapiteln antizipiert: Guildos Auftritt beim Grand Prix dEurovision (liebt er uns eigentlich immer noch, und warum ist das so wichtig?), die enttäuschende Leistung der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft (standen sich im Endspiel Brasilien und Frankreich oder Nike und Adidas gegenüber?), die Asienkrise, das Ergebnis der Bundestagswahlen, der Euro, neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie, die jüngsten Arbeitslosenzahlen, die Ökosteuer und vieles mehr. Wer sich der Mühe einer gründlichen Lektüre des vorliegenden Buches unterzieht, wird sich auf diese Entwicklungen einen eigenen Reim machen können, sehr viel besser als die Mediengurus, die uns das Denken abnehmen wollen. Zumindest wird er über die wortreichen Artikel halbgebildeter Akademiker und opportunistischer Journalisten schmunzeln, die allzeit bereit sind, anderen zu erklären, was sie selbst nicht verstehen.

Wie in der englischen Version möchte ich auch meine deutschen Leser einladen, mit mir in Kontakt zu treten und mir ihre kritischen Kommentare oder Fragen per e-mail zukommen zu lassen: nadin@acm.org. Im Einklang mit dem Ziel des Buches, für die Kommunikation jenseits der Schriftkultur das schriftkulturelle Eins-zu-Viele-Verhältnis (Autor:Leser) zu überwinden, wird für dieses Buch im World Wide Web ein Forum eingerichtet. Die Zukunft gehört der Interaktion zwischen Vielen.

Wuppertal, im November 1998

Mihai Nadin

BUCH II.

Kapitel 1:

Von den Zeichen zur Sprache

Sprachen sind, ebenso wie die jeweiligen Schriftkulturen und die auf ihnen gründende Bildung, untereinander sehr verschieden. Die Unterschiede gehen weit über Wortklang, Alphabet, Buchstabenfolge und Satzstrukturen hinaus. Manche Sprachen weisen nuancierte Unterscheidungen für Farben, Formen, Geschlechtsbezeichnungen, Mengenbezeichnungen und Naturphänomene auf, während allgemeine Aussagen nur schwer in ihnen zu formulieren sind. Wir wissen aus der Anthropologie, daß eine Sprache die jeweilige Lebenswelt ihres eigenen Sprachraums lexikalisch differenzierter widerspiegelt als andere Sprachen. Die verschiedenen Bezeichnungen für Schnee in Eskimosprachen oder für Kamel im Arabischen sind geläufige Beispiele. Sprachen kategorisieren die Wirklichkeit. Und eine Sprache erscheint umso fremder, je fremder dem Betrachter die in ihr erfaßte Wirklichkeit ist. So führt auch die Beherrschung der chinesischen Sprache (d. h. in ihr gebildet zu sein), zu etwas anderem als die Beherrschung etwa des Englischen oder eines afrikanischen Stammesdialekts. Schon diese Beispiele zeigen, daß die praktische Erfahrung, durch die eine Sprache hervorgebracht wird, Teil des allgemeinen pragmatischen Handlungsraums des Menschen ist.

Eine abstrakte Sprache gibt es nicht. Doch trotz der zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen den Sprachen ist die Sprachfähigkeit der gemeinsame Nenner der Spezies homo sapiens und ein konstitutives Element der Dynamik dieser Spezies. Wir sind unsere Sprache. Die Feststellung, daß die Sprache dem Leben folgt und es nachbildet, trifft nur die halbe Wahrheit. Denn zugleich bildet sich auch in der Verwendung der Sprache das Leben heraus. Beide beeinflussen sich gegenseitig, letztlich hängt der Mensch von jenem pragmatischen Handlungszusammenhang ab, innerhalb dessen er seine biologische Struktur in den praktischen Akt der Selbstdefinition überträgt.

Die Gründe für Veränderungen im dynamischen Zustand einer Sprache können wir aus jenen (biologischen, sozialen, kulturellen) Bereichen erschließen, die Sprache hervorgebracht haben, die Unterschiede in der Sprachverwendung hervorgerufen und die Anlässe für Veränderungen der Lebensumstände gegeben haben. Die Notwendigkeit zur Veränderung und die Kräfte, die die Veränderung tragen, dürfen dabei nicht verwechselt werden, obwohl die Trennung zwischen ihnen nicht immer ganz leicht ist. Veränderte Arbeitsgewohnheiten und Lebensformen sind ebenso wie die Sprache, die sie ausdrückt, an den pragmatischen Rahmen unserer beständigen Selbstkonstituierung gebunden. Noch immer verfügen wir über zehn Finger—eine Strukturgegebenheit des menschlichen Körpers, die sich in das Dezimalsystem übertragen hat—, aber das binäre Zahlensystem ist heute vermutlich vorherrschend. Das besagt nichts anderes, als daß neue Wörter immer dann geprägt werden, wenn die Umstände dies erfordern, und der Vergessenheit anheimfallen, wenn sie nicht länger benötigt werden. Oft ermöglichen neue Wörter und neue Ausdrucksformen erst neue Lebens- und Arbeitsformen; sie bilden dann nicht nur Leben ab, sondern öffnen ihm mögliche Entwicklungswege.

Die Sprache erlaubt dem Menschen erlernbare und kulturell tradierbare Organisationsformen, die ihn vom instinktiven Verhalten des Tieres unterscheiden. Über den Ursprung der Sprache ist damit noch nichts gesagt, und nichts darüber, warum die instinktive und genetisch vererbte Organisationsform der Tierwelt für die sprachlich vermittelte Organisationsform des Menschen weder hinreicht noch dieser gleichwertig ist. Sprache ist mehr als ein bloßer Archivierungsort, sie ist ein Mittel zum Entwurf von Wirklichkeit, ein Instrument zur Hervorbringung neuer Instrumente und deren Evaluierung.

Doch wir müssen Sprache in einem noch allgemeineren Rahmen betrachten. Sprachen entwickeln sich wie die Menschen, die sie benutzen. Auch das Aussterben von Sprachen gibt Aufschluß darüber, wie das Leben einer Sprache an das Leben derer gebunden ist, die sie entwickelt und erforderlich gemacht und schließlich durch andere Mittel ersetzt haben. Die anthropologische, archäologische und genetische Forschung, die sich mit den vorsprachlichen Stadien menschlichen Lebens befaßt, konzentriert sich auf die Gegenstände, die man für primitive Verrichtungen verwendete. Aus diesem Zusammenhang wissen wir recht zuverlässig, daß vor der Entwicklung relativ stabiler und repetitiver Strukturen die Menschen Laute und körpersprachliche Formen der Mimik und Gestik einsetzten, und zwar wohl ziemlich genau so, wie wir es heute von Kleinkindern kennen. Aus den frühen Stadien der Menschheit ist ein reicher Fundus an Handlungsmustern und Verhaltenscodes überliefert, die durchaus eine gewisse Kohäsion aufweisen. Unsere Vorfahren aus grauer Vorzeit entwickelten bereits für den Zweck der Nahrungsversorgung und als Reaktion auf Veränderungen in den Lebensbedingungen, die sich auf die Ernährungs- und Schutzbedürfnisse auswirkten, bestimmte regelhafte Verhaltensformen.

In vorsprachlicher Zeit fungierten Werkzeuge offenbar auch als Zeichen und Kommunikationsmittel. Viele Wissenschaftler glauben allerdings, daß die Erfindung von Werkzeugen ohne Wörter, also vor der Existenz von Sprache, nicht möglich war. Ihnen zufolge sind die zur Herstellung von Werkzeugen und die zur Herausbildung des werkzeugmachenden Menschen (homo faber) erforderlichen kognitiven Prozesse sprachlicher Natur. Das Werkzeug als Verlängerung des Arms stelle eine Art von Verallgemeinerung dar, die nur durch Sprache möglich wurde. Es könnte aber durchaus sein, daß natürliche Formen der "Notation" (Fußabdrücke, Bißeindrücke und solche Steingebilde, die manche bereits für Werkzeuge halten) der Sprache vorausgingen. Solche Notierungen dürfen auch als Extension der biologischen Gegebenheiten des Menschen gelten und entsprechen einem kognitiven Entwicklungsstand und einer Existenzskala, die auf die Herausbildung von Sprache hinführte.

Die vorliegenden Erkenntnisse über die Entstehung von Schriftsystemen lassen nachvollziehen, wie sich lautliche und gestische Muster zu graphischen Darstellungen entwickelt haben, und zugleich auch, wie mit dem Entstehen der Schrift neue Erfahrungshorizonte und eine breitere Skala menschlicher Tätigkeit erschlossen wurden. Entsprechende Rückschlüsse können wir auch aus aussterbenden Sprachen ziehen, die weniger wegen ihrer Grammatik oder Phonetik interessant sind als wegen des erkennbaren Zusammenhangs, der zwischen ihnen und einer entsprechenden Erfahrungswelt, einer zugrundeliegenden biologischen Struktur und der Skala der menschlichen Erfahrungen und ihrer Veränderungen besteht.

Der hier getroffenen Unterscheidung zwischen vorsprachlicher Notation, Sprachentstehung, Entstehung von Schriftsystemen und aussterbenden Sprachen entspricht ein Unterschied zwischen Arten und Typen menschlicher Ausdrucksweise, Interaktion und Interpretation von allem, was die Menschen zur Anerkennung der sie umgebenden Wirklichkeit heranziehen. Auf sich oder andere aufmerksam zu machen erfordert noch keine Sprache. Hierfür reichen Laute, Gesten können das Signal verstärken. In jedem artikulierten Laut und in jeder Geste projiziert sich der Mensch auf irgendeine Weise. In Höhe, Timbre, Umfang und Dauer eines Lautes bleibt Individualität bewahrt; Gesten können langsam oder schnell, zögernd oder aggressiv oder in einer Mischung von alldem ausgeführt werden. Wird aber ein bestimmter Laut oder eine Lautfolge bzw. eine bestimmte Geste oder Gestenfolge auf die Bezeichnung eines bestimmten Gegenstandes festgelegt, so wird aus diesem stabilisierten Ausdruck das, was wir im Nachhinein ein Zeichen nennen.

Wiedersehen mit semeion

Das Interesse an menschlichen Zeichensystemen reicht bis weit in die Antike zurück. Doch heute verzeichnen wir ein verstärktes Interesse an Fragen der Semiotik, jener Disziplin, die sich mit Zeichen (griechisch semeion) beschäftigt. Der Grund hierfür liegt in der rasanten Zunahme von Ausdrucks- und Kommunikationsformen, die nicht mehr auf die Mittel der natürlichen Sprache zurückgreifen. Auch die Interaktion zwischen Menschen und immer komplexer werdenden Maschinen hat semiotische Fragen ganz neuer Art aufgeworfen.

Die Sprache—in mündlicher und schriftlicher Form—ist wohl das komplexeste Zeichensystem, das wir kennen. Das Wort Sprache bezieht sich zwar auch auf andere Zeichensysteme, stellt aber keineswegs eine Synthese aller dieser Zeichensysteme dar. Den Entwicklungsprozeß der Sprachlichkeit können wir als eine fortschreitende Projektion des Individuums auf seine Lebensumwelt verstehen. Das Zeichen Ich als Bezeichnung der eigenen Individualität—die sich von anderen Ichs unterscheidet, mit denen man kooperiert, konkurriert oder kämpft—können wir wahrscheinlich als erstes Zeichen voraussetzen. Es bestand zusammen mit dem Zeichen für das andere; denn Ich kann nur in Relation zu dem anderen definiert werden. In einer als das andere erfahrenen Welt zeichneten sich Einheiten ab, die entweder gefährlich und bedrohlich, hilfreich oder kooperativ waren. Solche qualifizierenden Eigenschaften konnte man nicht einfach zum Identifikationsmerkmal machen. Sie stellten Projektionen des Subjekts dar, das seine Umwelt erkannte, interpretierte oder fehldeutete.

Um meine These von der pragmatischen Natur von Sprache und Schriftlichkeit zu belegen, muß ich mich noch etwas näher mit dem vorsprachlichen Stadium befassen. Mein Interesse beschränkt sich dabei auf die Natur der Sprache, was indes ihre Entstehung und die Bedingungen dafür mit einschließt. Auf das, was wir gemeinhin als Werkzeug bezeichnen, und auf rudimentäre Verhaltenskodes (in Bezug auf Sexualität, Schutzbedürfnis und Nahrungssuche) habe ich bereits hingewiesen. Es gibt für dieses Stadium genügend historisch gesichertes Material und eine ganze Reihe bekannter Tatsachen (Klimawechsel, das Aussterben von Tieren und Planzen), die sich auf dieses Stadium ausgewirkt haben. Schlußfolgerungen aus Lebensformen, die denen ähneln, die wir für die frühen menschlichen Lebensformen halten, ergänzen unser Wissen darüber, wie sich Zeichen als Ausdruck einer Identität herausgebildet haben. Diese Zeichen bilden eine Objektwelt ab und drücken daneben eine Bewußtheit von einer Welt aus, die durch die biologische Veranlagung des Menschen ermöglicht wurde.

Allgemein wird Sprechen verstanden als Erklärung von Gedanken mittels Zeichen, die für diesen Zweck entwickelt wurden. Gleichzeitig wird das Denken als seiner Natur nach von Wörtern und Zeichen unabhängig verstanden. Meiner Meinung nach ist der Übergang vom Natur- zum Kulturzustand, d. h. von Reaktionen auf natürliche Reize zu Reflexion und Bewußtheit, durch Kontinuität und Diskontinuität gleichermaßen gekennzeichnet. Die Kontinuität liegt in der biologischen Struktur, die in den Interaktionsraum des Menschen mit ähnlichen oder unähnlichen Einheiten übertragen wurde. Die Diskontinuität ergibt sich aus Veränderungen in der Gehirngröße, des aufrechten Gangs und der Funktion der Hände. Das vorsprachliche (prädiskursive) Stadium ist seiner Natur nach unmittelbar. Das diskursive Stadium, das den manifesten Gedanken ermöglicht, ist durch Sprachzeichen vermittelt.

Die Zeichen, mit denen die Menschen des vorsprachlichen Entwicklungsstadiums ihre Wirklichkeit in ihren Existenzrahmen übertrugen, drückten durch die ihnen eigene Energie und Plastizität das aus, was die Menschen damals waren. Sie brachten vor allem das zum Ausdruck, was im anderen—in anderen Gegenständen oder anderen Lebewesen—als gleich erfahren wurde, und Gleichheit war allen Zeichen gemein. Direkte Interaktion und Unmittelbarkeit, Aktion und Reaktion waren vorherrschend. Das Unerwartete oder Verzögerte war das Unbekannte, Mysteriöse. Die Skala des menschlichen Lebens war klein. Jedes Geschehen, jeder Vollzug bestand aus wenigen Schritten und war von begrenzter Dauer. Zeichen der Gegenwärtigkeit, einer allen gemeinsamen Raum- und Zeiterfahrung, wurden zum Ausdruck der Interaktion. Zeichen bezogen sich auf das Hier und Jetzt des gemeinsam erfahrenen Lebens und drückten auf unmittelbare Weise Dauer, Nähe und Intervalle aus, lange bevor sich die heutigen Vorstellungen von Raum und Zeit herausgebildet haben. Mithilfe solcher Unterscheidungen durch Zeichen konnte Abwesendes oder Bevorstehendes angedeutet bzw. die Dynamik sich wiederholender Vorgänge ausgedrückt werden. Nach diesen frühen Formen des Selbstausdrucks erst konnte die Darstellungsfunktion von Zeichen entwickelt werden: ein hoher Schrei, der nicht nur Schmerz ausdrückte, sondern vor einer Gefahr warnte, die Schmerz bewirken konnte; ein erhobener Arm, der über die Bekundung von Präsenz hinaus Aufmerksamkeit forderte; Farbe auf der Haut nicht nur als Ausdruck der Freude an einer Frucht oder Pflanze, sondern als Ankündigung und Antizipation bevorstehender ähnlicher Freuden—kurz, Anweisungen, ja sogar Instruktionen, die man befolgen, lernen und nachahmen konnte.

Als Teil des auf diese Weise zum Ausdruck Gebrachten entwarfen die Individuen in der Verwendung des Ausdrucks nicht nur sich selbst, sondern auch ihre auf diese begrenzte Welt bezogene Erfahrung. Zeichen, die Bezüge zu Ereignissen herstellten (Wolken zu Regen, Hufschlag zu Tieren, Blasen auf der Wasseroberfläche für Fische), stellten nicht nur diese Ereignisse dar, sondern drückten gleichzeitig die mit anderen gemeinsame Erfahrung in der Lebenswelt aus. Erfahrungsaustausch über das Hier und Jetzt hinaus, also der Übergang von direkter und unmittelbarer zu indirekter und vermittelter Interaktion, bezeichnet den nächsten kognitiven Entwicklungsschritt. Er konnte vollzogen werden, als gemeinsam verwendete Zeichen auf eine allen gemeinsame Erfahrung bezogen wurden und sich daraus Regeln ergaben, nach denen neue Zeichen für neue Erfahrungen erzeugt werden konnten. Jedes Zeichen ist ein biologisches Zeugnis über seinen eigenen Entstehungsprozeß und über die Skala der menschlichen Erfahrung. Das Flüstern erreicht einen, vielleicht zwei Zuhörer, die nahe beieinander stehen. Ein Schrei entspricht einer anderen Skala. Insofern birgt jedes Zeichen seine eigene Geschichte in Kurzform und vollzieht den Brückenschlag vom Natur- zum Kulturzustand des Menschen.

Abfolgen, etwa die Aufeinanderfolge von Lauten oder sprachlichen Äußerungen, oder Zeichenverknüpfungen wie in Bildern lassen eine höhere Stufe der kognitiven Entwicklung erkennen. Die Beziehungen zwischen solchen Abfolgen oder Verknüpfungen und der sie hervorbringenden praktischen Erfahrung sind nicht mehr intuitiver Art. Aus dem Verständnis solcher Zeichenbeziehungen praktische Regeln abzuleiten, gehörte zu den wesentlichen Interaktionserfahrungen der Benutzer solcher Zeichensysteme. An einem späteren Entwicklungspunkt ist die unmittelbare Erfahrungskomponente nur noch indirekt in der Sprache gegenwärtig. Sprache ist nachgerade das Ergebnis dieser Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Zeichen zu den Beziehungen zwischen Zeichen. In ihrer primitivsten Form war Grammatik nicht ein System von Regeln über die Zusammensetzung von Zeichen (Syntax) oder darüber, wie Zeichen etwas bezeichnen (Semantik), sondern darüber, wie bestimmte Umstände neue Zeichen entstehen ließen, die ihre Erfahrungsqualität beibehielten—also Pragmatik.

Sprache entwickelte sich folglich als eine Vermittlungsinstanz zwischen stabilisierter Erfahrung (Wiederholungsmuster in Arbeits- und Interaktionsabläufen) und Zukunft (durchbrochene Muster). Die Zeichen bewahrten zunächst die Konkretheit des Anlasses, der sie hervorbrachte. Mit zunehmender Sprachbenutzung jedoch wurde die unmittelbare individuelle Projektion aufgegeben. Der Verallgemeinerungsgrad der Sprache insgesamt wurde viel größer als derjenige ihrer einzelnen Komponenten (der einzelnen Zeichen) oder irgendwelcher anderer Zeichen. Doch selbst auf dieser allgemeinen Ebene der Sprache behielt das Zeichensystem seine charakteristische pragmatische Funktion bei: nämlich die Herausbildung praktischer Erfahrungen, nicht die Bereitstellung von Mitteln für die gemeinsame Kategorisierung von Erfahrungen. In jedem Zeichen und mehr noch in jeder Sprache treffen biologische und artifizielle Aspekte aufeinander. Dominiert das biologische Element, vollziehen sich Zeichenerfahrungen als Reaktionen. Dominiert das kulturelle Element, wird die Zeichen- oder Spracherfahrung zu einer Form der Interpretation, also zu einer Fortsetzung der semiotischen Erfahrung. Jegliche Interpretation entspricht dem unabschließbaren Prozeß der ausdifferenzierenden Abtrennung vom Biologischen und ist gleichbedeutend mit der Herausbildung von Kultur. Unter dem Begriff der Kultur verstehen wir die Natur des Menschen und ihre Objektivierung in Erzeugnissen, Organisationsformen, Gedanken, Haltungen, Werten und Kunstwerken.

Die praktische Erfahrung der Zeichenbildung—von der Verwendung von Zweigen, Felsbrocken und Pelzen bis zu den ersten primitiven Gravierungen (auf Stein, Knochen und Holz), von Lauten und Gesten bis zur Sprachartikulation—trug zu Veränderungen des Lebensalltags bei (Jagd, Schutzsuche, gemeinschaftliche Verrichtungen) und damit letztlich zur Veränderung des Menschen. In einer von inhaltsschweren Details gekennzeichneten Welt, in der die Menschen ihre Identität durch Kampf um Lebensressourcen und in der kreativen Suche nach besseren Alternativen fanden, veränderte sich zwar nicht die verfügbare Information, aber die lebenspraktischen Implikationen der Details traten zunehmend ins Bewußtsein. Die Aneignung von Wissen vollzog sich durch dessen Anwendung in der Arbeit; jede daraus abgeleitete Erfahrung eröffnete neue Interaktionsmuster.

Zeichen ermöglichten die kollektive Teilhabe an der Erfahrung. Die genetische Übermittlung von Wissen lief relativ langsam ab. Sie beherrschte die Anfangsstadien der menschlichen Entwicklung, als der Mensch den Mustern seiner natürlichen Umgebung seine eigenen Handlungsmuster einprägte. Die semiotische, insbesondere die sprachliche, Wissensvermittlung verläuft schneller, kann indes die Vererbung nicht ersetzen. Wir können die Spuren des menschlichen Lebens etwa 2,5 Millionen Jahre zurückverfolgen, die der Sprachanfänge etwa 200000 Jahre. Formen der Landwirtschaft als etablierte Erfahrung und Lebensform entwickelten sich vor etwa 19000, Schriftformen vor etwa 5000 Jahren (nach Schätzung einiger Gelehrter vor etwa 10000 Jahren). Den immer kürzeren Zyklen der Menschheitsentwicklung entspricht dabei die Tatsache, daß neben den genetischen zunehmend auch andere Mittel am Entwicklungsprozeß beteiligt waren. Was wir heute als unsere geistigen Fähigkeiten bezeichnen, ist das Ergebnis eines relativ kurzen, komprimierten Entwicklungsprozesses. Erste Zeichenspuren Zeichen können aufgezeichnet werden—in und auf unterschiedlichsten Materialien; das gleiche gilt für die Sprache, die indes nicht in Form eines Schriftsystems entstand. Der Ishango Knochen aus Afrika ist einige tausend Jahre älter als jedes Schriftsystem; mit den Quipu-Schnüren nahmen die Inkas eine chronologische und statistische Erfassung von Menschen, Tieren und Waren vor; auch in China, Japan und Indien kannte man Aufzeichnungsmethoden, die der Schriftlichkeit vorausgingen.

Die polygenetische Herausbildung von Schriftsprache ist in mancherlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen bot sie eine neue, vom individuellen Sprecher losgelöste Vermittlungsinstanz. Zum zweiten schuf sie einen im Vergleich zum mündlichen Ausdruck höheren Allgemeinheitsgrad, der unabhängig von Zeit, Raum und anderen Aufzeichnungsmethoden war. Und drittens trug alles, was in Zeichen und darüber hinaus in ausformulierte Sprache hineinprojiziert wurde, zur Formation von Bedeutung bei—als Ergebnis des Verstehens von Sprache, das sich aus ihrer Verwendung ergab. Erst dadurch erhielt die Sprache ihre semantische und syntaktische Dimension.

Wenn wir Fragen der Schriftkultur und der Sprachentstehung verknüpfen, dann ist deren gemeinsame Grundlage die Schriftsprache. Gleichwohl geben uns Vorgänge, die der Schriftsprachlichkeit vorausgingen, Aufschlüsse darüber, welche Faktoren die Schriftsprache erforderlich machten und warum manche Kulturen niemals eine Schriftsprache entwickelt haben. Dies wiederum könnte trotz des weit zurückliegenden Zeitrahmens (von tausenden von Jahren) erklären, warum Schreiben und Lesen nicht notwendigerweise unser heutiges und zukünftiges Leben und Arbeiten beherrschen müssen. Zumindest könnten wir das Verhältnis zwischen Mensch, Sprache und Dasein besser verstehen. Wir betrachten das Wort als etwas selbstverständlich Gegebenes und fragen uns, ob es je einen Menschen ohne Wort gegeben hat. Als das Wort aber erst einmal durch die Möglichkeit seiner Aufzeichnung etabliert war, beeinflußte es nicht nur die zukünftige Entwicklung, sondern auch das Verständnis der Vergangenheit.

Das Wort bemächtigt sich der Vergangenheit und verleiht den Erklärungen, die die Existenz des Wortes voraussetzen, ihre Legitimität. Es beruht auf einem Notationssystem, das zugleich eine Art eingebautes Gedächtnis und ein Mechanismus für Assoziationen, Permutationen und Substitutionen ist. Wenn wir aber die Ursprünge des Lesens und Schreibens so weit zurückverlegen, dann erweist sich der Gegensatz von Schriftlichkeit und Schriftlosigkeit als Strukturmerkmal nur einer der zahlreichen menschlichen Entwicklungsperioden. In einer so weiten zeitlichen Perspektive widerspricht unsere Auffassung von Notation (zu der wir auch Bilder, den Ishango Knochen, die Quipu-Schnüre, die Vinca-Figuren usw. zählen) dem logokratischen Sprachmodell. Ein- und mehrsilbige Sprachelemente, hörbare Lautfolgen (und entsprechende Atemtechniken, die Pausen vorsehen und Synchronisierungsmechanismen ermöglichen) sowie natürliche Mnemotechniken (Kiesel, Astknoten, Steingestalten usw.) sind dem Wort vorausgehende Komponenten einer vorsprachlichen Notation. Sie entsprechen allesamt einem durch direkte Interaktion gekennzeichneten Entwicklungsstadium. Sie beziehen sich auf eine kleine Skala menschlichen Handelns, in welcher Zeit und Raum noch in Form natürlicher Strukturen (Tag-Nacht, nah-fern, usw.) eingeteilt werden können.

Der entscheidende Entwicklungsschritt in der Selbstkonstituierung des
Menschen wurde mit dem Übergang von aus der Natur ausgewählten
Zeichen zum Bezeichnen vollzogen, ein Prozeß, der zu etablierten
Klangmustern und schließlich zum Wort führte. Diese Veränderung
führte lineare Beziehungen in einen sich als zufällig oder chaotisch
darbietenden Bereich ein. Auch entwickelten sich neue Formen der
Interaktion: Namensgebung (durch Assoziation, etwa wenn Clans die
Namen von Tieren trugen), Ordnen und Zählen (zunächst die paarweise
Zuordnung der gezählten Gegenstände zu anderen Gegenständen) oder die
Aufzeichnung von Regelmäßigkeiten (des Wetters, der
Himmelsbeschaffenheit, biologischer Zyklen), soweit sie sich auf das
Ergebnis praktischer Tätigkeiten auswirkten.

Skala und Schwelle

Auf den vorangegangenen Seiten ist der Begriff der Skala als wichtiger Parameter der Menschheitsentwicklung wiederholt verwendet worden. Da er für die Erklärung großer Veränderungen im menschlichen Handeln von zentraler Bedeutung ist, soll er etwas näher erläutert werden. So geht die Entwicklung von präverbalen Zeichen zu Notationsformen und in unserer Zeit von Alphabetismus zu einem Stadium jenseits der Schriftlichkeit (PostAlphabetismus) einher mit einer Fortentwicklung der (Erfahrungs- und Handlungs-) Skala des Menschen. Reine Zahlen—etwa darüber, wie viele Menschen in einem bestimmten Gebiet leben oder in einem bestimmten praktischen Erfahrungszusammenhang interagieren, die Lebensdauer von Menschen unter bestimmten Bedingungen, Sterblichkeitsrate, Familiengröße—sagen dabei wenig oder gar nichts aus. Nur wenn Zahlen zu Lebensumständen in Beziehung gesetzt werden können, sind sie aufschlußreich. Der Begriff der Skala drückt derartige Beziehungen aus.

So brachte die Haltung von Haustieren, die eine entscheidende Erweiterung der Handlungsskala bedeutete, mit sich, daß bestimmte Tierkrankheiten auf die Menschen übertragen wurden und deren Leben und Arbeit nachhaltig beeinträchtigten. Der Schnupfen wurde wohl vom Pferd auf den Menschen übertragen, die Grippe vom Schwein, die Windpocken vom Rind. Auch wissen wir, daß sich über einen längeren Zeitraum gesehen Infektionskrankheiten (Gelbfieber, Malaria oder Masern) negativ auf große, stationäre menschliche Populationen auswirken. Wichtige Erkenntnisse liefern uns bisweilen auch jene isolierten Volksstämme, deren heutige Lebensformen denen aus weit zurückliegenden Entwicklungsstadien noch weitgehend ähnlich sind, also zum Beispiel die Indianerstämme des Amazonas. Sie weisen Anpassungsstrategien auf, die wir ohne Anschauung kaum verstehen könnten. Die aus der Beobachtung gewonnenen statistischen Daten können dabei unsere auf dem Wissen um biologische Mechanismen beruhenden Modelle deutlich verbessern.

Der Begriff der Skala bezieht derartige Überlegungen mit ein, denn er erhellt, daß sich die Lebenserwartung in unterschiedlichen pragmatischen Lebenszusammenhängen drastisch unterscheidet. Eine Lebenserwartung von weniger als 30 Jahren (die sich aus einer hohen Rate der Kindersterblichkeit, aus Krankheiten und den Gefahren der natürlichen Umwelt ergibt) erklärt sich aus den Umständen der relativ stationären Bevölkerung der Jäger und Sammler. Etwa zwanzig Jahre höher lag die Lebenserwartung in den Siedlungsformen vor den Städtegründungen (die sich zu unterschiedlichen Zeiten in Kleinasien, Nordafrika, dem Fernen Osten, Südamerika und Europa entwickelten). Die Landwirtschaft führte zu mannigfaltigeren Ressourcen und setzte eine Dynamik aus geringerer Sterblichkeitsrate, höherer Geburtenrate und veränderten anatomischen Merkmalen (höherem Körperwuchs) in Gang.

Im vorliegenden Zusammenhang sind besonders die Ergebnisse der auf alte Sprachfamilien gerichteten Sprachgeschichte interessant, die eine Beziehung zwischen der Verbreitung von Sprachfamilien über weite Gebiete und einer sich ausweitenden landwirtschaftlichen Bevölkerung erkennen läßt. Mit der sogenannten neolithischen Revolution entwickelten sich in manchen Gemeinschaften Methoden der Nahrungsproduktion, die nicht mehr auf Suche, Jagd und Fallenstellen beruhten. Die veränderten Bedingungen begünstigten einen Bevölkerungszuwachs, der sich wiederum auf die Beziehungen zwischen den Individuen und kleineren sozialen Gruppen auswirkte. Einzelne Gruppen lösten sich vom Stamm los, um nach einem Lebensumfeld mit geringerem Konkurrenzkampf um Lebensressourcen zu suchen. Zugleich aber förderten die neuen pragmatischen Bedingungen eine erhöhte Bevölkerungsdichte, mit der die Natur der Beziehungen komplexer wurde.

Uns interessiert die Richtung, die diese Entwicklung nahm, und das Zusammenspiel der vielen daran beteiligten Faktoren. Vor allem wollen wir wissen, auf welche Weise Skala und Veränderungen in den praktischen Lebenserfahrungen der Menschen zusammenhängen. Setzt eine Entdeckung oder Erfindung eine Veränderung der Skala voraus oder bewirkt sie, gegebenenfalls im Verbund mit anderen Faktoren, diese Veränderung erst? Polygenetische Erklärungen solch komplexer Entwicklungen wie diejenigen, die neue Erfahrungsebenen, damit wiederum erhöhte Bevölkerungszahlen und diversifizierte Interaktionsformen ermöglichen, führen viele Variablen ins Feld. Ausweislich archäologischer und sprachwissenschaftlicher Forschungen sind alle großen Sprachfamilien dort zu verorten, wo der pragmatische Lebenszusammenhang landwirtschaftlicher Lebensformen nachzuweisen ist. Zuverlässige Belege finden sich für zwei Gebiete in China: das Becken des Gelben Flusses, wo der Anbau von Futterhirse nachgewiesen ist, und das Yangtse-Becken, in dem Reis angebaut wurde. Von hier aus verbreiteten sich die austronesischen Sprachen tausende von Kilometern weit. Hieraus ergibt sich die interessante Korrelation zwischen der Natur der menschlichen Erfahrung, der sie ermöglichenden Skala und der Verbreitung von Sprache. Ähnliches gilt für das Gebiet von Neuguinea, wo die Verbreitung der Papuasprachen in Verbindung mit dem Anbau der Taroknolle steht: mit der Suche nach geeigneten Anbaugebieten und den Auseinandersetzungen mit umherstreifenden Volksstämmen.

Angeborene Fähigkeiten (Rufen, Werfen, Laufen, Pflücken, Brechen und Biegen) kennzeichneten ein Entwicklungsstadium, in dem sich der Mensch in Gruppen oder Gemeinschaften mit begrenzter Skala organisierte. Andere, nicht angeborene Fähigkeiten wie Pflanzen, Kochen, Hüten, Singen und die Verwendung von Werkzeugen werden bewußt und aus der Kenntnis ihrer Ursache heraus entwickelt. Sie ergaben sich, als Veränderungen der Skala bezüglich Bevölkerung und Leistung neue, der Gemeinschaft angemessene und allein durch die angeborenen Fähigkeiten nicht zu erreichende Effizienzebenen erforderten. Solche Fähigkeiten entwickelten sich schnell. Die neue Praxis förderte modifizierte Mittel der Selbstorganisation: rudimentäre Formen des Planens, Reduktionsstrategien zum Überleben (Aufgabenteilung beim Lösen von Problemen) und Koalitionsbildungen, die sich auf immer höheren Ebenen entfalteten. An einem bestimmten Punkt der Skalenentwicklung schließlich ergaben sich differenzierte Arbeitsabläufe und neue kognitive Möglichkeiten zur Bewahrung und Vermittlung von Wissen, das sich auf diese Arbeitspraxis bezog.

Es bleibt die Frage: Bringen Strukturveränderungen eine neue Skala hervor, oder bewirkt die Skala Strukturveränderungen? Der Prozeß ist komplex insofern, als die dem menschlichen Handeln zugrundeliegende Struktur den Bedürfnissen des Überlebens angepaßt und auf die zahlreichen Faktoren abgestimmt ist, die die individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen beeinflussen. Skala und Grundstruktur sind voneinander abhängig. Das ergibt sich schon daraus, daß die Skala sowohl Möglichkeiten als auch Bedürfnisse erfaßt. Eine größere Zahl von Individuen mit einander ergänzenden Fähigkeiten haben bei komplexen Handlungszielen größere Erfolgsaussichten. Zugleich nehmen die Bedürfnisse zu, da diese Individuen nicht nur ihre Person in den Erfahrungszusammenhang einbinden, sondern auch außerhalb dieser Zusammenhänge liegende Verpflichtungen. Die Grundstruktur menschlichen Handelns umfaßt Elemente der menschlichen Begabung—die ihrerseits Veränderungen unterworfen ist, die sich aus neuen Herausforderungen und Lebensumständen ergeben—wie auch Elemente der menschlichen Beziehungen, die wechselseitig die Skala menschlicher Erfahrung beeinflussen und von ihr beeinflußt werden. Aus der dynamischen Spannung zwischen Skala und all jenen Elementen, die die Grundstruktur ausmachen, ergeben sich Veränderungen des pragmatischen Handlungsrahmens. Die Entwicklung der Sprache ist ein Beispiel für derartige Veränderungen. Gesprochene Sprache entwickelte sich zusammen mit den Frühformen der Landbewirtung als Erweiterung der für die Jagd und das Sammeln von Nahrungsmitteln erforderlichen Kommunikationsmittel. In einem späteren Entwicklungsstadium bildeten sich Notationssysteme und fortschrittlichere Werkzeuge heraus. Die hierdurch ermöglichte fortgeschrittenere praktische Erfahrung förderte handwerkliche Fähigkeiten und damit spezialisiertere Arbeitsformen. Notation und Lesefähigkeit als neue kognitive Erfahrungen führten zur Schrift. Diese wurde erforderlich, als sich die Lebenspraxis auf Handel verlegte und über die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt und des direkten Miteinander hinausging. Die Grundstruktur der Schriftlichkeit wurde der Sequentialität der allgemeinen praktischen Erfahrungen sowie der Empfindung von Relationen und Abläufen in höchstem Maße gerecht.

Unterschiedliche Kommunikationsformen entwickelten sich mithin in dem Maße, in dem sich die Interaktionsskala des Menschen auffächerte. Die Schriftkultur entsprach dabei einem qualitativ neuen Entwicklungsstand. Wenn wir die Sprache jener Skala zurechnen, die den Übergang vom Jäger- und Sammlerstadium zur Landbewirtschaftung markiert, dann müssen wir die Entstehung von Schriftkultur der nächsten Entwicklungsstufe zurechnen—der Herstellung von Produktionsmitteln. Wir können in diesem Zusammenhang auf die Metapher der kritischen Masse bzw. der Schwelle zurückgreifen. Damit ersetzen wir nicht den Begriff der Skala, damit definieren wir einen Wert, eine Komplexitätsebene oder einen neuen Attraktor (wie er in der Chaostheorie genannt wird). Kritische Masse bezeichnet dabei eine niedrigere Schwelle—bis zu diesem Wert vollzog sich menschliche Interaktion optimal mittels referentieller Zeichen, auf Gleichheit basierender Darstellungen oder Sprache. Auf der niedrigeren Schwelle können sich Individuen und die sozialen Gruppen, denen sie angehören, noch kohärent definieren. Allerdings macht sich eine gewisse Instabilität geltend: ein und dieselben Zeichen drücken nicht mehr ähnliche oder äquivalente Erfahrungen aus. Hier bezieht sich kritische Masse auf Zahl oder Menge (der Menschen, der geteilten Ressourcen, der ausgeübten Interaktionen usw.) und auf Qualität (unterschiedliche Ergebnisse im Bemühen der Selbstsetzung). Überkommene Mittel erweisen sich aufgrund neuartiger praktischer Erfahrungen als unzureichend. Aus diesen Erfahrungen ergeben sich neue Strategien, insbesondere die Optimierung der betreffenden Zeichensysteme (Signale, Sprache, Notation, Schrift). Notationssysteme wurden erforderlich, als das verfügbare und aufzubewahrende Wissen (Inventare, Mythen, Genealogien) die Möglichkeiten der mündlichen Überlieferung überstieg. Der Begriff der kritischen Masse hilft uns zu erklären, warum einige Kulturen niemals eine Schriftkultur entwickeln mußten oder warum eine einzige, allein vorherrschende Form der Schriftkultur unserer heutigen Zeit nicht mehr angemessen ist.

Zeichen und Werkzeuge

Auf die Natur gerichtete praktische Erfahrungen beinhalteten die Erkenntnis von Unterschieden: veränderte Farben zu verschiedenen Jahreszeiten, die Vielfalt von Flora und Fauna, Veränderungen des Wetters und der Himmelskonstellationen. Menschliche Bedürfnisse objektivieren sich in Jagd und Nahrungssuche, Fischfang und Schutzsuche sowie in der Suche nach dem anderen, ob aus Geschlechtstrieb oder dem Zwang zur Kooperation. Auf die Vielfalt der Natur reagiert der Mensch mit einer Vielfalt von elementaren Operationen. Daraus erwuchs zunächst eine einfache Sprache aus Handlungen. Sie kannte keinen wirklichen Dialog. In der Natur kann Schreien und Kreischen in einer bestimmten begrenzten Abfolge Gefahr signalisieren. Ansonsten kann die Natur menschliche Zeichen, Bilder oder Laute nicht verstehen. Zum Anlocken oder Fangen von Beute oder zur Vermeidung von Gefahren können Geräusche, Farben oder Formen dienen. Ihre unbegrenzte Variations- und Kombinationsmöglichkeit in einem gegebenen Handlungsrahmen macht sie zu Zeichen. Vor dem Hintergrund erkannter Unterschiede wurden auch Ähnlichkeiten in Erscheinungsform und Handlungsweisen bewußt, was sich in entsprechenden Interaktionsformen niederschlug. Sobald sich die Erfahrung innerhalb einer sozialen Gruppe stabilisiert hatte, wurde sie ihrerseits zeichenhaft und als solche kohärent in deren Handlungsrahmen eingebunden.

Elementare Formen der Lebenspraxis bewahrten eine enge Bindung zwischen dem Individuum und dem Objekt, auf das sich die Handlung bezog. Extraktion dessen, was vielen Aufgaben gemeinsam war, führte zu einer Akkumulation von Erfahrung. Und mit der Erfahrung stellte sich eine gewisse Distanz zwischen Individuum bzw. Gruppe und Aufgabe ein. Die Sprache aus Handlungen veränderte sich in diesem Prozeß unaufhörlich. Evaluation begann als Vergleich. Daraus ergaben sich Vorlieben, Wiederholungsmuster und Auswahlverfahren, bis sich schließlich eine bestimmte Handlungsvorschrift herausbildete. Die Interpretation natürlicher Muster bezüglich des Wetters (Wechsel der Jahreszeiten, Sturm, Dürre usw.), der gejagten Tiere, der Suche nach Wurzeln und Knollen oder der Landwirtschaft (wie wir sie im Rückblick nennen) ergab ein Repertoire der beobachteten Merkmale und allmählich eine Beobachtungsmethode. Die beobachteten Phänomene wurden auf ihre Relevanz geprüft und wurden so zu Zeichen. Sie bezogen den Beobachter mit ein, der sie sich einprägte und mit zweckdienlichen Handlungsmustern assoziierte. Diese Form des Lesens—also die Beobachtung aller möglichen Muster und Assoziationen bezüglich der sich stellenden Aufgaben—ging den Notationsformen und der Schrift voraus und war vermutlich die eigentliche Grundlage für deren allmähliche Herausbildung. Dieses Lesen filterte das Relevante heraus, jenes Charakteristikum—eines Tieres, einer Pflanze, einer Wetterlage—, das die erfolgreiche Bewältigung einer Aufgabe beeinflußte. Die Sprache aus Handlungen gewann folglich an Kohärenz und entwickelte ständig neue Zeichen. Rituale stellen eine Art kollektiven Bewußtseins dar, einen Kalender sui generis als Ausdruck eines impliziten Zeitbewußtseins. Sie sind ein Lernmittel und helfen, die auf die Arbeit bezogenen Zeichen zu verstehen und unter veränderten Umständen die entsprechenden Handlungsstrategien zu befolgen. Die Einheit von Natur und Mensch wird im Ritual unablässig bekräftigt.

Werkzeuge sind "Verlängerungen" der menschlichen Physis. Sie sind die entscheidenden Mittel zur Erreichung eines Ziels. Zeichen hingegen sind Mittel der Selbstreflexion und ihrer Natur nach Kommunikationsmittel. Auch Werkzeuge können als Zeichen interpretiert werden und dadurch die selbstreflektive Natur des Menschen ausdrücken, allerdings auf andere Weise. Sie sind über ihre Funktion definiert, nicht etwa hinsichtlich der Bedeutung, die sie in einem Kommunikationszusammenhang heraufbeschwören könnten.

In diesen Frühstadien der Menschheit markierte die Zeichenbenutzung den Übergang vom Zufälligen zum Systematischen. Die Verwendung von Werkzeugen und die relativ uniforme Struktur der sich stellenden Aufgaben führte zu einem Methodenbewußtsein. Werkzeuge bekunden den geschlossenen und homogenen Charakter des pragmatischen Handlungsrahmens auf dieser primitiven Entwicklungsstufe. Der Synkretismus von Werkzeugen und Zeichen findet seinen Nachklang in der synkretistischen Natur der daraus hervorgegangenen Zeichen der praktischen Erfahrung. Was wir heute als Religion, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Ethik entwickelt haben, ist in nuce auf undifferenzierte, synkretistische Weise im Zeichen repräsentiert. Mit der Beobachtung von repetitiven Mustern wurden auch mögliche Abweichungen erkannt. Indem die Menschen diese Erfahrung in komplexe Zeichen übertrugen, wurde sie verstehbar und eindeutig und konnte über die Zeiten hinaus bewahrt werden.

Wir sollten uns solche Kategorien wie Synkretismus, Verständnis, repetitive Muster als Kategorien des praktischen Handelns vergegenwärtigen. Ein Zeichen kann aus einem einfachen Rhythmus bestehen. Es sollte selbst unter ungünstigen Umständen leicht zu erkennen sein (der Schlag des Donners, der Schrei eines Tieres). Die Menschen sollten daraus die gleichen Reaktionen ableiten können (Lauf! sollte nicht mit Halt!, Wirf! nicht mit Wirf nicht! oder etwas ähnlichem verwechselt werden). Vor allem muß die Eindeutigkeit über die Zeiten hinaus erhalten bleiben. Mit der Mannigfaltigkeit der praktischen Erfahrungen wuchs auch die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Sprachstufen. Rhythmus, Farbe, Form, Körperausdruck und Bewegung als Erfahrungsbestandteile des täglichen Lebens wurden in Rituale eingebunden. Gegenstände wurden als das gezeigt, was sie sind—Tierköpfe, Geweihenden und Krallen, Äste und Baumstämme, aufgeborstene Felsbrocken. Sie wurden bearbeitet mit Feuer, Wasser und scharfen Steinen, die sich zum Hauen und Schneiden eigneten.

Der Mensch wird zum Menschen, indem er seine eigene Natur konstituiert. Zu diesem Vorgang gehört die Externalisierung bestimmter Charakteristika, damit sie im Rahmen der sich herausbildenden Kultur von allen geteilt werden können. Wir wissen, daß es eine Trennung zwischen der Welt auf der einen und dem denkenden Subjekt auf der anderen Seite nicht gibt. Die Menschen finden ihre Identität und die ihrer Gattung durch Vergleich, durch Erkennen von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Diese beziehen sich auf ihre Existenz; die gemeinsame Bewußtmachung dieser Ähnlichkeiten und Unterschiede ist Teil der menschlichen Interaktion. Insofern wird die Welt im Augenblick ihrer Entdeckung konstituiert. Die Dynamik zwischen Identität und Unterscheidung macht auch deutlich, warum Sprache etwas anderes ist als das "Abbild unserer Gedanken". Sprache ist auch mehr als der Akt ihrer Verwendung. Wir schaffen unsere Sprache genau so, wie wir uns unablässig selbst schaffen. Dieses schöpferische Tun vollzieht sich nicht in einem leeren Raum, sondern im pragmatischen Handlungsrahmen unserer gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten. Der Übergang von Direktheit und Unmittelbarkeit zu Indirektheit und Vermittlung und den damit verbundenen Vorstellungen von Raum und Zeit spiegelt sich in mancherlei Hinsicht im Entstehungsprozeß der Sprache. Die Herausbildung von Zeichen, ihre Funktionsweise, die Entstehung von Sprache und die Entwicklung der Schrift verweisen auf die Selbstbestimmung und die Selbstbewahrung des Menschen, so wie sie sich im praktischen Akt der Selbstkonstituierung der menschlichen Gattung ergeben.

Kapitel 2:

Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit

Wenn wir im Verein mit zahlreichen Sprachhistorikern die Anfänge der Sprache mit den frühen Formen der Landwirtschaft korrelieren, so heißt das, daß wir von einer pragmatischen Grundlegung der Sprache als Praxis ausgehen. Sprache ist nicht nur passiver Zeuge bei der dynamischen Entfaltung der menschlichen Gattung. Die Vielfalt der praktischen Erfahrung spiegelt sich in der Sprache und ist durch die praktische Erfahrung der Sprachbenutzung erst ermöglicht worden. Die Anfänge der Sprache wie die der Schrift liegen im Bereich des Natürlichen. Daher müssen wir auch die biologischen Umstände, unter denen der Mensch mit seiner Außenwelt in Beziehung tritt, mit berücksichtigen. Die praktische Erfahrung der Selbstkonstituierung durch Sprache ist zugleich die Grundlage der Kultur. Der Akt des Schreibens ist wie der Akt der Werkzeugherstellung grundlegend für eine Spezies, die ihre Natur selbst definiert. Daher müssen wir neben der biologischen Identität des Menschen die kulturschaffenden Aspekte gleichermaßen berücksichtigen.

Wir wollen zunächst betrachten, welche Implikationen sich aus dem biologischen Faktor ergeben. Wir wissen zum Beispiel, daß die Zahl der Laute, die der Mensch erzeugen kann, sehr hoch ist. Aus dieser praktisch unbegrenzten Zahl von Lauten sind indes nur etwa vierzig in den indogermanischen Sprachen identifizierbar, im Gegensatz zum Chinesischen und Japanischen. Es ist zwar nicht möglich, zu zeigen, wie der biologische Zuschnitt des einzelnen und die Struktur seiner Erfahrung in das Sprachsystem projiziert sind; dennoch wäre es unklug, diese Projizierung, die sich in jedem Moment unseres Daseins vollzieht, nicht in Rechnung zu stellen. Beim Sprechen werden Muskeln, Stimmbänder und andere anatomische Funktionselemente aktiviert und entsprechend ihren Merkmalen verwendet. Zum Sprechen gehört das Hören, beim Schreiben und Lesen kommt noch das Sehen hinzu. Weitere dynamische Merkmale wie Augenbewegung, Atmung und Herzschlag gehören zu den biologischen Implikationen der Sprachverwendung. Was wir sind, tun, sagen, schreiben oder lesen, steht in einem unauflöslichen Zusammenhang. Die Erfahrungen, auf deren Hintergund sich die Sprachverwendung vollzieht, und die biologischen Eigenschaften derer, die in eine Sprache eingebunden sind, sind dabei so unterschiedlich, daß kaum je ein Ereignis, so einfach es sich auch gestalten mag, von verschiedenen Menschen durch Sprache (oder durch irgend ein anderes Zeichensystem) auf identische oder ähnliche Weise ausgedrückt wird.

Erste Erkundungen der Geschichte oder das persönliche Fragen nach dem Verlauf vergangener Ereignisse beruhen auf Mündlichkeit, beziehen den Mythos mit ein und münden schließlich in den Versuch, Ereignisse an Ort und Zeit zu knüpfen. Die ersten Logographen rekonstruierten die Genealogien von Personen, die in tatsächliche Ereignisse verwickelt waren (Kriege, Gründungen von Clans, Stämmen oder Dynastien) oder in der zeitgenössischen Literatur hervorgehoben wurden (zum Beispiel den Epen Homers oder in der Genesis). Als der Mensch aus dem Stadium der Erinnerung (mnemai) in das Stadium des fixierten Berichts (logoi) fortschritt, entwickelte er ein Bewußtsein von Zeit und Geschichtlichkeit. Der gemeinsame Bezug auf Ereignisse machte dabei zugleich Unterschiede im Verhältnis zu diesen Ereignissen bewußt.

Die Kodierung der sozialen Erfahrung, angefangen bei eher naiven Formen (Familie, Religion, Krankheit) bis hin zu komplexen Regelwerken (der Zeremonien, der Machtausübung und des militärischen Verhaltens) ergab sich aus einer Praxis, die sich unter Mitwirkung der Sprache zunehmend diversifizierte. Die Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit drückt dabei die Spannung aus, die zwischen einer eher homogenen Lebensform und sich beständig differenzierenden Lebensformen besteht, welche die über lange Zeit hinaus gültigen Grenzen durchbrochen haben. Im Sprachraum der zahlreichen chinesischen Sprachen wird dies deutlicher als in den westlichen Sprachen. Die ideographische Schrift des Chinesischen, welche die vielen gesprochenen Dialekte in sich vereinigt, hat ihre Konkretheit und damit die Tradition als einen bewährten Zugang zur Welt bewahrt. So ist auch die chinesische Kultur vergleichsweise stark durch Mündlichkeit geprägt. Die aus einer solchen Sprache abgeleitete Philosophie verteidigt, durch das Grundprinzip des Tao im Konfuzianismus, einen etablierten und allen gemeinsamen Mechanismus der Wissensvermittlung.

Im Gegensatz zur gesprochenen Sprache ist die Schrift relativ jung. Einige Sprachhistoriker datieren die Anfänge der Schrift auf 4000 bis 3000 v.Chr.; andere gehen bis auf 6000 v. Ch. oder noch weiter zurück. Für eine Wiederbelebung derartiger Debatten gibt es jedoch weder neues Material noch neue überzeugende Interpretationen der vorhandenen Quellen. Insgesamt sind die Grenzen zwischen den einzelnen kulturellen Stadien der Menschheit schwer zu bestimmen. Wir werden vermutlich niemals genau wissen, ob die Bilder (Höhlenmalereien oder Petroglyphen) den Wörtern vorausgingen oder deren Folge waren. Möglicherweise entwickelten sich die Sprachen, die über eine Notation, über Zeichnungen, Gravierungen und Rituale—einschließlich des umfangreichen Repertoires an artikulierter Gestik—verfügten, relativ zeitgleich nebeneinander. Einige Schrifthistoriker vertreten die Meinung, daß es Bilder ohne Worte nicht hätte geben können. Andere lehnen das logokratische Modell ab und glauben, daß Bilder nicht nur dem geschriebenen, sondern vielleicht sogar dem gesprochenen Wort vorausgingen. Ähnlich widersprüchliche Theorien setzen die Herausbildung von Ritualen vor oder nach den Zeichnungen, vor oder nach der Entwicklung der Schrift an. Ich glaube, daß die frühen menschlichen Ausdrucksformen synkretistisch und polymorph waren und sich unmittelbar aus einem pragmatischen Rahmen der Selbstkonstituierung heraus entwickelten, der durch die Erfahrung der Vielfalt bestimmt war.

Individuelles und kollektives Gedächtnis

Anthropologen haben versucht, die überlieferte Erfahrung zu kategorisieren, um zu sehen, wie sich Mündlichkeit und später Schriftlichkeit (die einfachen Notationsformen) zu den einzelnen Kategorien verhalten. Man hat dabei auf die materielle Umwelt verwiesen—Ressourcen im weitesten Sinn—, auf erfolgreiches Handeln und auf Wörter in ihrem Bezug zum allgemeineren Rahmen (Zeit, Raum, Zielsetzungen usw.) Man vermutet, daß der Mensch zunehmend von künstlich erstellten Notationsmitteln abhängig wurde. In der Folge aktivierte er in geringerem Maß seine rechte Gehirnhälfte, was zu einer verminderten Schärfe der entsprechenden Gehirnfunktionen führte. Der durch den Überlebenstrieb der Spezies diktierte Drang nach Stabilität und Dauerhaftigkeit wurde in Zeichenfolgen hineinprojiziert, die zunächst noch nicht die sichere Einbindung in ein Sprachsystem aufweisen konnten. Dennoch verfestigte sich diese Erfahrung des Umgangs mit Zeichen und wurde durch die Möglichkeiten und Zwänge der Mündlichkeit vereinheitlicht.

Sprache ist gleichwohl nicht der unmittelbare Ausdruck von Erfahrung. Sie ist sogar weniger umfassend als die Zeichen, die zur Sprache hinführten. Jedem Gespräch geht etwas voraus—eine gemeinsame Erfahrung als Grundlage des Gesprächs und Hintergrund für weitere gemeinsame Erfahrungen. Alle frühen Formen menschlicher Tätigkeit und Interaktion wurden zu Zeichen, wenn sie über die Erfüllung des unmittelbaren Überlebenszwecks hinaus praktische Richtlinien des Handelns und damit Gemeinsamkeit und Übereinkunft implizierten. Diese Übereinkunft, die gemeinsame Teilhabe am Zeichen, ist dessen eigentliches Merkmal, besonders in der Sprache.

Werkzeuge, Höhlenbilder, primitive Notationsformen und Rituale richteten sich auf ein kollektives Gedächtnis, wie begrenzt auch immer das Kollektive gewesen sein mag. Wörter richteten sich an ein individuelles Gedächtnis und boten die Möglichkeit individueller Differenzierung. Individuelle Bedürfnisse und Antriebe müssen in Beziehung zu denen der sozialen Gruppe gesetzt werden. Zeichen und Werkzeuge sind Elemente, die in die Differenzierung mit einbezogen wurden. Ein Blick auf die gegenwärtige Erforschung kognitiver Prozesse und deren Kategorien der verteilten und zentralen Autorität kann das Zusammenspiel zwischen beiden erhellen. Werkzeuge weisen alle Merkmale der Verteilung auf. Sie werden durch individuelle und gemeinsame Verwendung immer wieder getestet und verbessert. Zeichen als Ergebnis menschlicher Interaktion sind alles andere als individueller Natur. Wir müssen sie daher mit den Anfängen einer zentralisierten Autorität in Verbindung bringen. Diese Überlegung ist natürlich eine konzeptuelle Hypothese über eine Wirklichkeit, zu der wir anders keinen Zugang finden. Doch ohne eine solche Hypothese wären weitere Schlußfolgerungen sinnlos.

Aus dem bisher Gesagten ergeben sich drei Stadien, die wir vor einer näheren Betrachtung der Sprache abhandeln müssen: 1. die Integration in der sozialen Gruppe durch unmittelbare Formen der Interaktion wie Berührung, Austausch von Gegenständen, Erkennen bzw. Wiedererkennen über Geräusche und Gesten sowie die Befriedigung von Instinkten; 2. die Bewußtmachung von Unterschieden und Ähnlichkeiten auf unmittelbarem Weg wie Vergleichen durch Gegenüberstellung, Gleichmachung durch physische Anpassung; 3. Stabilisierung der Ausdrucksformen für Gleichheit oder Unterschied durch Einbeziehung in das praktische Handeln. Von dem Augenblick an, in dem gleich und anders auf einer allgemeinen Ebene behandelt wurden, verloren sich die Empfindungen und Lebensformen der Direktheit und Unmittelbarkeit. Vielfältige Schichten des Verstehens und Regeln für die Formung kohärenter Ausdrucksmittel wurden angesammelt, an zahllosen konkreten Situationen überprüft, mit bereits verwendeten Zeichen (Gegenstände, Geräusche, Gesten, Farben usw.) verknüpft und von dem Bedürfnis eindeutiger Bedeutung losgelöst. Alle diese Ausdrucksmittel wurden im Prozeß der Produktion (dem Herstellen von Gegenständen und Kunstwerken, beim Jagen, Fischen, Pflügen usw.) und Selbstreproduktion sozialisiert, bis sie sich schließlich zu einer Sprache formten. Und nachdem sie einmal zur Sprache geworden waren—also zu Dingen und Handlungen, über die gesprochen wurde—löste sich diese Sprache von den Gegenständen und den Produktionsvorgängen. Durch diese Loslösung aber erschien sie zunehmend als etwas Gegebenes, als eine Einheit per se, eine Wirklichkeit, die man fürchten oder genießen, die man verwenden konnte, etwa zum Vergleich seiner eigenen Handlungen mit denen anderer. Dieser Entfaltungsprozeß beanspruchte eine sehr lange Zeit—einige hunderttausend Jahre. Er verlief vermutlich simultan mit der Herausbildung eines größeren Gehirns und des aufrechten Gangs.

Doch zurück zur Rolle des Gesprochenen (vor der Entstehung von Notationssystemen und der Schrift) und seiner kulturellen Funktion im Leben menschlicher Gemeinschaften. Die vor der Entwicklung des Wortes liegende Form des Gedächtnisses beinhaltete Handlungsmuster, Gesten, Geräusche, Gerüche und geschaffene Gegenstände. Die Strukturierung des Lebens war von außen vorgegeben—natürliche Rhythmen (der Tages- und Jahreszeiten und des Alterns) und die natürliche Umwelt (Flußlandschaft, Gebirgslandschaft, Täler, Waldgbiete, Grasebenen). Die Außenwelt lieferte gewissermaßen das Stichwort, auf das hin die Teilnehmer reagierten und ihre Rolle spielten. Oder sie reagierten auf Stichwörter, die ihnen die vorausgegangene Erfahrung vorgab, welche durch direkte Überlieferung von einem zum anderen tradiert wurde. Lange vor der Astrologie bestimmte die Geomantik die Art und Weise, wie die Menschen ihre Umwelt lasen und daraufhin verschiedene Glyphen (Petroglyphen, Geoglyphen) ausbildeten. Anfänglich bezog sich die Erinnerung auf einen Ort, später auf Handlungsabfolgen. Erst mit der Sprache entwickelte sich die Zeitvorstellung. Das Erinnern war nur minimal durch den Instinkt veranlaßt und seiner Natur nach kaum genetisch bedingt. Mit der Herausbildung des Wortes, welches zugleich auch die Mittel für das Erkennen und schließlich das Aufzeichnen von Wörtern beinhaltete, trat eine fundamentale Änderung ein. Das Wort bot der menschlichen Erfahrungswelt ein Zeichen für Beziehungen an, war ein relationales Zeichen. Es brachte Objekt und Handlung zusammen. Gemeinsam mit den Werkzeugen schuf es Kultur, verstanden als Einheit von dem, was wir sind (Identität), was unsere Welt ist (Gegenstand der Arbeit, der Betrachtung und des Nachdenkens) und was wir tun (um zu überleben, uns fortzupflanzen und zu verändern). Dieser Entwicklungsschritt zu einer menschlichen Kultur und dem Bewußtsein von ihr wirkte sich entscheidend auf die praktischen Erfahrungen der Selbstkonstituierung des Menschen aus. Gleichzeitig vollzog sich eine wichtige Spaltung: das genetische Gedächtnis blieb für die biologische Realität des Menschen verantwortlich, das soziale Gedächtnis übernahm diese Aufgabe für die menschliche Kultur. Gleichwohl existiert keines der beiden unabhängig vom anderen.

Die jeweilige Natur dieser gegenseitigen Abhängigkeit ist dabei charakteristisch für die jeweiligen Veränderungen in der Skala des Menschen, die uns hier interessiert. Selbst wenn wir beschreiben könnten, welche Voraussetzungen nötig sind, damit die Menschen sich zu Gemeinschaften zusammenschließen können, was sie wissen und verstehen müssen, um jagen, sammeln, Viehzucht und Landwirtschaft betreiben zu können, dann wüßten wir noch lange nicht, wie gut sie all dies ausführen müßten. Rückblickend sieht es so aus, als habe es für die Entwicklung aus den primitiven Stadien der Menschheit zu dem, was wir sind, einen vorbestimmten Weg gegeben. Auch wenn wir von einem solchen Weg ausgehen, wissen wir noch immer nicht, zu welchem Zeitpunkt ein bestimmter Handlungstypus den Überlebenserwartungen nicht mehr genügte und daher andere Wege erprobt werden mußten. Wenn wir indes das Konzept der Skala in unser Erklärungsmodell einbauen, können wir nicht nur die Phänomene der Mündlichkeit und Schriftlichkeit besser verstehen, sondern auch den Prozeß, der zur Schriftkultur und schließlich zu einem Stadium jenseits der Schriftkultur führte.

Kulturelles Gedächtnis

Das Gedächtnis verdient unsere nähere Aufmerksamkeit, und zwar in seinen frühen Ausformungen (vergleichbar mit dem Gedächtnis der Kindheit, am Anfang der menschlichen Kultur) wie auch mit seinen neuen Funktionen in unserer Zeit. Wir dürfen mit einiger Sicherheit annehmen, daß vor dem Wirken des kulturellen Gedächtnisses das genetische Gedächtnis (in Form des genetischen Kodes, der inneren Uhr und homöostatischer Mechanismen) die Vererbungsmechanismen beherrscht hat, die das Überleben, die Fortpflanzung und die soziale Interaktion regeln. Mit dem Aufkommen des Wortes verlagerte sich das Gewicht von der Vererbung auf die Vermittlung. Es veränderten sich die Rituale; sie integrierten die Sprache und gewannen einen neuen Status als synkretistische Projektion der Lebensgemeinschaft. Mithilfe der Sprache konnten effiziente Handlungswege beschrieben werden. Auch ließen sich allgemeine Programme für die verschiedensten Aktivitäten formulieren, für Schiffahrt, Jagd, die Unterhaltung von Feuerstellen und die Herstellung von Werkzeugen. Sprache vollzog sich in einem Allgemeinheitsgrad, der weder der direkten Handlung noch dem Ritual möglich war.

In den Bildern, die den Wörtern vorausgingen, folgten Gedanke und Handlung einer Kreisstruktur: das eine war in das andere eingebettet. Die Kreisrelation entsprach der begrenzten Skala der sich konstituierenden Spezies: kein Wachstum, ein ausbalanciertes Verhältnis von Input und Output. Dieser zirkuläre Rahmen entsprach der Identität, die zwischen dem Ergebnis einer Bemühung und der dafür aufgewendeten Mühe bestand. Jagen und Fallenstellen erforderten große physische Anstrengung. Der Lohn bestand allein darin, daß der Hunger gestillt wurde. Dividieren wir das Ergebnis durch die aufgewendete Leistung, dann liefert uns das Ergebnis eine sehr intuitive Darstellung von Effizienz oder Nutzen: in diesem zirkulären Stadium stehen die beiden Variablen noch dicht beieinander, in einem Verhältnis von etwa 1:1.

Der Rahmen der linearen Relationen ergab sich, als man sich der Möglichkeiten bewußt wurde, die aufgewendete Leistung zu reduzieren und den erzielten Nutzen zu erhöhen. Lineare Handlungsfolgen waren deterministisch miteinander verknüpft—je kräftiger der Mensch, desto stärker beim Werfen, Stoßen und Ziehen; je länger die Beine, desto schneller der Lauf. Sprache entstand, als sich der zirkuläre Rahmen veränderte; gleichzeitig wurde sie zu einem wirkmächtigen Faktor bei der dynamischen Fortentwicklung auf landwirtschaftliche Arbeits- und Lebensformen hin. Mit der Sprache wurde die Kreisstruktur aufgebrochen, Sequenzen wurden möglich, und der einmal erreichte Allgemeinheitsgrad schuf weitere Ebenen der Verallgemeinerung. In der Entwicklung von der durch Instinkt und biologische Rhythmen koordinierten direkten Interaktion über eine durch melodische Geräusche, Bewegung und Feuerzeichen koordinierte Interaktion hin zu einer auf Wörtern basierenden Kommunikation fand die Spezies Mensch zu ihrer Identität in Bezug auf andere Spezies. Zugleich erfuhr sie Kategorien wie Zweck und Fortschritt.

Im Mythos drückt sich ein pragmatischer Handlungsrahmen aus, der
durch Progression gekennzeichnet ist. Dieser Rahmen erstreckt sich
bis in unsere Zeit, in Formen, die der menschlichen
Skala—Progression von Stammesorganisation zur polis, den Städten der
Antike—und ihren Aktivitäten entspricht. In der heutigen
Begrifflichkeit wären Mythen Algorithmen des praktischen Lebens. Im
Ritual konnten die zentralen Erfahrungen wie Geburt, Partnerwahl,
Geschlechtsbeziehung—allesamt bezogen auf Fortpflanzung und
Tod—innerhalb der Zirkularität von Aktion und Reaktion ausgedrückt
werden. Im Mythos vermittelt die Sprache eine relativ unpersönliche
Erfahrung, die allen und jedem zugänglich ist. In ihrer durch
Sprache objektivierten Form nahm diese Erfahrung den Charakter von
Richtlinien an. Sprache ist ein Hort der Erinnerung, aber auch ein
Mechanismus des Vergessens oder Vergessen-Machens, wenn sich neue
Umstände für die Arbeit und das gesellschaftliche Leben ergeben.
Veränderte Erfahrungen spiegelten sich in allem, was bezüglich dieser
Erfahrungen in der Sprache aufgehoben war. Häufig wurden im Akt der
Erfahrungsvermittlung Einzelheiten verändert und Mythen umgeformt.
Daraus entstanden neue Programme für neue Zielsetzungen und neue
Arbeitsbedingungen.

Die Herausbildung und kulturelle Festigung der Sprache einerseits und die Statusveränderung des Menschen vom Homo Faber (dem Verwender von Werkzeugen) zum Homo Sapiens (dem denkenden Wesen) andererseits entwickelten sich im Rahmen der linearen Beziehungen von Aktion und Ergebnis parallel. Die Notwendigkeit, die Inhalte einer mannigfaltigeren, indirekten und vermittelten Erfahrung zu beschreiben, zu kategorisieren, aufzubewahren und weiterzugeben wurde in die Sprachwirklichkeit hineinprojiziert. Die Bedeutung der Erfahrung für die Lösung eines vorliegenden Problems wurde ersetzt durch die antizipierende Strukturierung zukünftiger Aufgaben mit dem Ziel, die aufzubringende Leistung zu minimieren und das Ergebnis zu maximieren.

Existenzrahmen

Mündlichkeit konnte vergangene Vorgänge kaum darstellen. Wörter, die in einem unendlichen Jetzt—der impliziten Vorstellung von Gegenwärtigkeit—eingebunden sind, erfinden offenbar die Vergangenheit je nach den unmittelbaren Bedürfnissen immer wieder neu. Im mündlichen Stadium der Sprache war die Vergangenheit eine spezifische Form der Gegenwart genau wie die Zukunft, da die Sprache über keine Möglichkeiten verfügte, das Wort auf eine Zeitachse zu projizieren.

Mündlichkeit ist daher an festgelegte Existenz- und Lebensrahmen gebunden. Die Kultur des geschriebenen Wortes ergab sich aus einem variablen Existenzrahmen, innerhalb dessen ein neuer pragmatischer Handlungsraum und die wachsende Skala menschlicher Tätigkeit stabile Sprachkonturen erforderten. Wenngleich über jeweils kürzere Zeitspannen ein solcher Sprachentwurf als fixierter Bezugsrahmen erscheint, bringt er doch grundsätzlich eine mobile, dynamische Lebenspraxis zum Ausdruck, deren Ertrag sich aus der Dynamik linearer Beziehungen ergibt. Arbeit und soziale Interaktion, also die pragmatische Dimension des menschlichen Daseins, erforderten die Aufzeichnung der Sprache und prägten deren Linearität.

Hinter der über 3500 Jahre alten Keilschrift stehen Sumerer, die beim Betrachten des Nachthimmels einen Löwen, einen Stier und einen Skorpion erkannten. Sie zeigt zugleich, wie die praktische Erfahrung als kognitiver Filter fungiert: wie sie die Betrachtung unbekannter Phänomene beeinflußt, für die es keine Begriffe gibt, und wie sie auseinanderliegende Welten—die irdische Welt und den Himmel—in diesem Stadium der Sprachentwicklung aufeinander bezieht. Dies ist umso bemerkenswerter, als das Sumerische als isolierte Sprache nur in schriftlicher Form überliefert ist—ein Produkt jener kulturellen Hochblüte im Südwesten Asiens, wo viele Sprachfamilien ihren Ursprung haben.

Schrift ist auf einer höheren kognitiven Ebene angesiedelt als die Artikulation des Wortes oder die Notierung von Piktogrammen. Sie ist ein vielfältiges Beziehungsgefüge, das Relationen zwischen Wörtern, zwischen Sätzen und zwischen Bild und Sprache ermöglicht. Auch die Schrift brachte von Anfang an auseinanderliegende Welten in Beziehung, aber auf einer anderen Ebene als die sumerische Keilschrift. Schrift ermöglicht und erfordert geradezu eine weitere Sprachebene, den Text: eine Einheit, deren einzelne Teile ihre individuelle Bedeutung verlieren und als Ganzes eine Botschaft darstellen oder Bedeutung hervorbringen. Die Erfahrung, die man in bildlichen Darstellungen, in Zeichnungen, Felsgravierungen und Holzschnitten, gemacht hatte, wurde auf das geschriebene Wort übertragen.

Bildzeichen stellten eine komplexe Notationsform dar mit zahlreichen Komponenten—einige sichtbar (das Schriftbild), andere unsichtbar (die Phonetik)—und wenigen Kombinationsregeln. Bildzeichen sind durchaus in Zeichenfolgen angeordnet; diese erzählen von Ereignissen oder Handlungen in ihrem natürlichen Ablauf. Was in der Zeichenfolge zuerst erscheint, geht allem anderen tatsächlich (zeitlich) voraus oder nimmt in einer Hierarchie einen höheren Platz ein. Die Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen freien Individuen und Sklaven sowie zwischen Eigenem und Fremdem wurde auf diese Weise verankert. Selbst die Schriftrichtung (von links nach rechts, rechts nach links oder oben nach unten) liefert Aufschlüsse über die Menschen, die ihre Identität ausdrücken, indem sie Buchstaben in Tafeln einritzen oder sie auf Pergament malen. Die konkreten Piktogramme erlaubten keine Verallgemeinerungen. Die Ausdruckskraft war hoch, Präzision indes praktisch unmöglich.

Eine ausführliche Geschichte der Schrift beansprucht viele Kapitel in einer Geschichte der Sprache. Sie ist zugleich eine hilfreiche Einführung in die Wissensgeschichte, in die Ästhetik und vermutlich die Kognitionswissenschaft. In der Geschichte der Schrift erkennen wir ferner die Prozesse, die zu den Anfängen von Schriftkultur und darauf basierender Bildung führten.Vermutlich liegen zwischen den Höhlenmalereien und Steingravierungen und den ersten bekundeten Schriftversuchen mehr als 30000 Jahre. Aus der Perspektive der Schriftkultur beinhaltet dieser Zeitraum die Loslösung des Menschen vom Bildlich-Konkreten und die Einrichtung einer Welt aus Konventionen und gezielter Verschriftlichung. Abstraktes Denken ist ohne die kognitive Unterstützung durch abstrakte Darstellungen und die darin (teils implizit) enthaltenen Übereinkünfte und Konventionen nicht möglich. Die keilförmigen Zeichen der Sumerer, die Zeremonialschrift der ägyptischen Hieroglyphen, die chinesischen Ideogramme, das hebräische, griechische und römische Alphabet—ihnen allen ist die Tendenz gemeinsam, die Konkretheit von Erfahrung und Mitteilung zu überwinden. Sie bieten ein abstraktes Zeichensystem, aus dem sich immer komplexere Sprachen entwickeln konnten.

Bis zur Entwicklung der Schrift blieb die Sprache eng an ihre Benutzer gebunden—an Stimme, Blick, Gehör und Berührung. Die Schrift objektivierte die Sprache und löste sie vom Subjekt und von der Sinneswahrnehmung. Die Entwicklung zur geschriebenen Sprache und von dort zu einer zunächst begrenzten, schließlich allgemein verbreiteten Schriftkultur begleitet die Evolution des Menschen von einem Stadium unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung (Kreisrelation) zu einem Stadium, in dem sich Ansprüche mittelbarer Art vermehrt einstellten (Linearfunktion). Der Unterschied zwischen Grundbedürfnissen des Überlebens und den darüber hinausgehenden Bedürfnissen des Sozialstatus (Macht, Ego, Furcht, Freude, frühe Stadien des Bewußtseins und der Sinngebung ) ist in der Sprache ausgedrückt, die wir ihrerseits wiederum als Teil der fortschreitenden Selbstkonstituierung des Menschen in einem bestimmten pragmatischen Zusammenhang begreifen müssen.

Entfremdung von der Unmittelbarkeit

Unter Entfremdung verstehen wir ganz allgemein jenen Prozeß, der uns einen Teil unserer selbst (unseres Körpers, unserer Gedanken, Arbeit, Gefühle, Überzeugungen) als fremd erscheinen läßt. Wenn wir die Erklärung dieses bedeutsamen Prozesses (und des Begriffes, der ihn sprachlich darstellt) in die Entstehungs- und Verwendungsgeschichte von Zeichen einbinden, können wir seine pragmatischen Implikationen besser verstehen.

Zeichen wahrzunehmen heißt den Unterschied wahrnehmen zwischen dem, was wir sind, und der Art, wie wir unsere Identität ausdrücken. Wenn Zeichen irgendeinen Gegenstand darstellen (die Zeichnung eines Gegenstandes oder einer Person, Name, Versicherungsnummer, Personalausweis usw.), dann ist der Unterschied zwischen dem, was dargestellt ist, und seiner Darstellungsform eine Frage der Angemessenheit (warum nennen wir einen Tisch Tisch oder eine bestimmte Frau Maria) und der Entfremdung. Der bewußte Gebrauch von Zeichen ergibt sich vermutlich aus der Erkenntnis, daß Gedanken, Gefühle oder Fragen fast immer ungenügend ausgedrückt werden. Zwei Dinge geschehen, und zwar vermutlich gleichzeitig: 1. Wenn nicht mehr der direkte Umgang mit einem Gegenstand oder einer geplanten Handlung, sondern mit dessen Darstellung gegeben ist, wird es schwieriger, die mit dem Gegenstand verbundenen Erfahrungen mit anderen zu teilen. 2. Da sich auch die vorzunehmende Interpretation vom Objekt auf dessen Darstellung verlagert, stellen sich neuartige Erfahrungen und Assoziationen ein, die teils verwirrend, teils anregend sein können. Das Bild war noch nahe am Gegenstand; Verwirrung stellte sich hinsichtlich der Handlungsanweisung ein. Die Schrift ist vom Gegenstand weit entfernt, wohingegen Handlungen wegen der zeitlichen Differenzierungsmöglichkeiten besser beschrieben werden können. Mittlerweile wissen wir, daß sich laufende Bilder oder Photoserien der darzustellenden Handlung zu diesem Zweck noch besser eignen.

Mit dem geschriebenen Wort können Ereignisse berichtet werden. Ferner können Beziehungen und gegenseitge Verpflichtungen unter den Mitgliedern einer Lebensgemeinschaft dargestellt werden. Normen können errichtet und auferlegt werden. Insgesamt schlägt sich in der Schrift eine fundamentale Veränderung nieder, die sich aus der erhöhten Produktivität der gerade erst seßhaft gewordenen Gemeinschaften ergab. Es geht nicht mehr vornehmlich um Arbeit, um leben (d. h. überleben) zu können, sondern um das Leben, welches der Arbeit gewidmet ist. Die Schrift entfremdet mehr als alle vorher gebräuchlichen Zeichen die Menschen von ihrer Umwelt und von sich selbst. Einige Gefühle (Freude, Trauer) und Haltungen (Ärger, Mißtrauen) werden selbst zu Zeichen und können, einmal ausgedrückt, niedergeschrieben werden (in Briefen, Testamenten). Auch die Gedanken durchlaufen, um von anderen geteilt werden zu können, diesen Prozeß, wie überhaupt alles, was auf Leben, Tun, Veränderung, Krankheit, Liebe und Tod bezogen ist.

Daß Schrift und Seßhaftigkeit des Menschen zusammenzusehen sind, haben wir schon festgestellt. Dasselbe gilt für das Verhältnis der Schrift zum Warentausch und zu dem, was später Arbeitsteilung heißt. Während nämlich der mündliche Gebrauch von Sprache die Differenzierung der Lebenspraxis ermöglicht, bringt die Verwendung der Schrift die Teilung zwischen körperlicher und nichtkörperlicher Arbeit mit sich. Das Schreiben erfordert bestimmte Fertigkeiten, zum Beispiel für die Bedienung von Schneidnadel oder Griffel, später für die Kunst der Kalligraphie. Zwischen der Fähigkeit zu schreiben und der Fähigkeit, Felle zu gerben, Fleisch, landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe zu verarbeiten, besteht ein großer Unterschied. Der gesellschaftliche Status von Schreibern belegt, daß dieser Unterschied genügend anerkannt wurde. Und wir sollten nicht vergessen, daß die wenigen, die das Schreiben beherrschten, zugleich diejenigen waren, die lesen konnten. Dennoch belegen einige historische Quellen eher das Gegenteil: im 13. Jahrhundert wurden Schreiber bevorzugt, die des Lesens unkundig waren, weil das ungestörte Abschreiben genauer war. Ganz ähnliches finden wir heute bei den des Englischen unkundigen Operatoren, die angesammelte Datenkorpora auf digitale Datenträger übertragen müssen. Während die Zahl der Lesekundigen ständig anstieg, blieb die Zahl der Schreibenden, die sich den wirklichen Schriftstellern als Schreiber zur Verfügung stellten, jahrhundertelang begrenzt.

Schriftlichkeit begann in primitiven Volkswirtschaften als overhead-Aufwand einer Elite, entwickelte sich zu einer elitären Beschäftigung, die von Vorurteilen und Aberglauben umrankt war, weitete sich aus, nachdem (rudimentärer) technologischer Fortschritt ihre Verbreitung ermöglicht hatte, und erwies sich schließlich im Industriezeitalter als Voraussetzung für gesteigerte Effizienz. Primitiver Tauschhandel kam ohne das geschriebene Wort aus, obgleich er fortbestand, auch nachdem sich geschriebene Sprache ihren festen Platz gesichert hatte.

Die vom Tauschhandel bedingte Form der Entfremdung unterscheidet sich wesentlich von jener, die von einem auf der Vermittlung des geschriebenen Wortes basierenden Markt ausgeht. Mit anderen Worten: Tausch ist etwas grundsätzlich anderes als Kauf und Verkauf. Die an den Tauschhandel gebundenen Produkte tragen den persönlichen Stempel derer, die sie im Schweiße ihres Angesichts produziert haben. Zum Verkauf stehende Produkte werden unpersönlich; ihre Identität ist einzig das Bedürfnis, das sie stillen oder bisweilen hervorrufen. Der Mythos als ein Satz von praktischen Programmen für eine kleinere Zahl räumlich begrenzter Erfahrungen wurde den Erfordernissen einer Gemeinschaft, die ihre Erfahrungen ausweitete und mit fremden Gemeinschaften interagierte, nicht mehr gerecht. Dem Unterschied zwischen den Marktformen, für die entweder Mündlichkeit oder eine frühe Form von Schriftlichkeit charakteristisch ist, entspricht der Unterschied zwischen einem mündlich überlieferten Mythos und einer ausgearbeiteten Mythologie, die an die Schrifterfahrung gebunden ist. Sprache in schriftlicher Form erwies sich als soziales Gedächtnis sui generis, als potentielle Geschichte.

Das starke Interesse an genealogischen Abfolgen (in China, Indien, Ägypten, bei den Hebräern und in nahezu allen mündlichen Kulturen) verrät ein Interesse am Zusammenhang und Ablauf menschlicher Entwicklungen, die in einem Gedächtnis mit sozialen Dimensionen zu bewahren sind. Auch drückt sich darin ein Interesse an der Dimension der Zeit aus, denn jede genealogische Abfolge ist ein historisches Dokument über Menschen, Handlungen, Folgen und Veränderungen. In mündlichen Kulturen dienten Genealogien auch als Erinnerungstechniken, konnten neuen Lebensbedingungen angepaßt und so neben einem Dokument der Vergangenheit auch zu einer Anweisung für die Zukunft werden. Anfänglich griffen die genealogischen Aufzeichnungen noch stark auf Bildmaterial (Stammbaum) und auf das gesprochene Wort zurück und hielten sich damit die Variabilität des Mündlichen offen. Gleichwohl boten die Strukturen der Schriftsprache neue Möglichkeiten des gesicherten Ausdrucks, der Aufbewahrung, Uniformität und des logischen Zusammenhangs. Sie entwickelten sich aus den ersten Versuchen, Gedanken und Begriffe zu formulieren, was schließlich zu dem führte, was wir unter theoria verstehen—die reflektierende Betrachtung von Dingen und ihre Umsetzung in Sprache. Diese wiederum schufen die Grundlage für die Natur- und Geisteswissenschaften von gestern, zum Teil auch noch von heute. In gewisser Hinsicht sind auch Theorien Genealogien, mit einer Wurzel und mit Zweigen, die die Hypothesen und verschiedenen Schlußfolgerungen darstellen. Die geschriebene Sprache sicherte die Dauerhaftigkeit der historischen Dokumente (Genealogien, Besitzverhältnisse, Theorien) und erleichterte zugleich über relativ uniforme Kodes den Zugang dazu.

In den Stadtstaaten des antiken Griechenland wurden sich indes diejenigen, die an die begrenzte Praxis der Mündlichkeit gebunden blieben, der Gefahren bewußt, die ein neuer Ausdrucks- und Kommunikationsmechanismus mit sich brachte. Die Schrift wies ihre eigenen Formen der Ungenauigkeit auf, sei es aufgrund eines bewußten Verhältnisses gegenüber einer bestimmten Erfahrung, sei es durch den Wunsch, Zusammenhanglosigkeit zu vermeiden: beides wirkte sich jedenfalls auf die Darstellung der Tatsachen aus. Tatsachen sind, wie wir alle wissen, nicht zwangsläufig zusammenhängend. Daher wenden wir alle nur denkbaren Strategien auf, sie aufeinander auszurichten, selbst dann, wenn sie zusammenhanglos sind. In der mündlichen Kommunikation wird Zusammenhang dadurch hergestellt, daß man sich unaufhörlich auf den Verlauf des Gesprächs einstellt. Hier gibt es eine direkte Form der Kritik, d. h. eine selbstregulierende Funktion des Gesprächs. Mithin bedeuten Vollständigkeit und Zusammenhang im (offenen) Gespräch und im geschriebenen Text etwas anderes, und im übrigen etwas wiederum anderes in formalen Sprachen.

Auch das Gedächtnis stand zur Debatte. Als ein alternatives Medium der Bewahrung und Tradierung ließ auch die Schrift Auswirkungen auf das kollektive Gedächtnis befürchten—auf jenen Speicher von Tradition und Identität, über den ein Volk im Zeitalter der Mündlichkeit verfügte. Schrift besitzt einen anderen Ausdruckswert als das Mündliche und hinterläßt einen anderen Eindruck. Und dadurch, daß die Schrift nur den Lesekundigen zugänglich ist, wirkt sie sich auf Aufbau und Verfügbarkeit des gemeinsamen Wissensbestandes aus. Gesprochene Worte sind die Worte dessen, der sie äußert. Ein geschriebener Text nimmt ein Eigenleben an und erscheint als etwas von außen Kommendes, Fremdes. Geschriebenes ist vorgegeben und nivelliert Unterschiede zwischen den Individuen; Gesprochenes kann der Situation angepaßt oder verändert werden, die Kohärenz hängt vom Dialogverlauf ab. Noch heute gibt es Volks- oder Stammesgemeinschaften (die Netsidik, Nuer oder Bassari, um nur einige zu nennen), die das Gesprochene dem Geschriebenen vorziehen. In ihrer Lebenspraxis teilt der leibhaftige Ausdruck eines Menschen, der seine Worte in Gegenwart anderer äußert, mehr an Informationen mit, als es dieselben Worte in schriftlicher Form tun könnten.

Das kollektive Gedächtnis einer Schriftkultur verliert den Bezug zur unmittelbaren Erfahrung und wird zu einem Speicher der vielfältigen Vermittlungen im sozialen Leben einer Gemeinschaft. Das, was gesagt wird (legomena), unterscheidet sich von dem, was getan wird (dromena). Das geschriebene Wort bezieht sich auf andere Wörter, nicht auf das, was getan wird. Das Gleiche gilt für den Satz, wenn er den Status einer relativ vollständigen Spracheinheit besitzt. Die wirkliche Veränderung vollzog sich durch das Geschriebene, auf Papyrus, Ton, Pergament oder Schiefertafel, auf Stein oder Blei. Eine solche Seite ist auf andere Seiten bezogen und letztlich auf alles Geschriebene. Das tatsächliche Tun verschwindet aus der Geschichte; diese wird zu einer Sammlung von Schriftstücken, sauber auf Buchregalen zusammengetragen. Die Bedeutung der Geschichte drückt sich aus in der Variabilität der Beziehungen, die zwischen den einzelnen Texten bestehen. Wenn das Hier und Jetzt der dromena verloren ist, bleibt uns nur das Bewußtsein von Abfolgen. Das ist ein Gewinn, aber auch ein Verlust: die holistische Bedeutung der Erfahrung ist verloren gegangen.

Wie relevant der in dieser Kritik betonte Gegensatz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit für die Phänomene unserer Zeit ist, bedarf einer ausführlicheren Erörterung. Seit der Zeit, in der die erwähnte Kritik an der Schriftlichkeit geäußert wurde, hat sich die Sprache so sehr verändert, daß wir die Texte jener Zeit nur in kommentierten Übersetzungen lesen können. Einige davon mußten aus Texten einer späteren Zeit (d. h. eines anderen pragmatischen Lebenszusammenhangs) oder aus Übersetzungen rekonstruiert werden. Zwischen der Schriftkultur aus den Anfängen der Schrift und der automatischen Lektüre und Textverarbeitung besteht keine unmittelbare Beziehung. Für einige dieser Texte müssen wir einen Kontextbezug erstellen, ohne den große Teile dieser Texte gar nicht verständlich wären. Selbst das geschriebene Wort ist von dem Kontext abhängig, in dem es verwendet wurde. Obwohl also die geschriebene Sprache scheinbar weniger lebendig und weniger einem Wandel unterworfen ist als das Gespräch, verändert sie sich. Heute schreiben wir mithilfe von Textverarbeitungstechnologien, die sich von allen anderen Formen des Schreibens unterscheiden.

Wir können die Kritik aus der Zeit Platons nicht völlig von der Hand weisen. Im Medium der Schrift wurde manch eine menschliche Erfahrung verdinglicht. Sie ermöglichte eine bestimmte extreme Form der Subjektivität: Ohne Gespräch und ohne die darin mögliche Kritik wurde Vergangenheit immer aufs Neue erfunden gemäß den Zielen und Werten der jeweiligen Gegenwart, in die der Verfasser eingebettet war. Im sozialen Leben einer auf mündlicher Kommunikation beruhenden Gesellschaft war die Meinung (griechisch doxa) das Ergebnis der Sprache; diese mußte unvermittelt sein. In der Schrift wird Wahrheit gesucht und bewahrt. Die Heftigkeit, mit der sich Sokrates gegen die Schrift verwahrte (jedenfalls in Platons Dialogen), erklärt sich aus seiner Einsicht, daß man sich damit zunehmend von der Quelle des Denkens entfernte und somit der untreuen Auslegung Raum gab. Sokrates fürchtete wie Platon die Indirektheit und verließ sich allein auf Gedächtnis und Weisheit.

So sorgt sich Platon bezüglich der Folgen des Schreibens: "Bedenklich nämlich, mein Phaidros, ist darin das Schreiben und sehr verwandt der Malerei. Denn auch ihre Schöpfungen stehen da wie lebend,—doch fragst du sie etwas, herrscht würdevolles Schweigen." Als einer der ersten Philosophen, die sich mit dem Schreiben auseinandersetzten, konnte Platon noch nicht erkennen, daß es sich dabei nicht einfach nur um eine Transkription von Gedanken handelte (also der Worte, durch die und in denen Menschen denken), daß sich die Gedanken beim Schreiben anders formen als beim Sprechen und daß es sich bei der Schrift um ein qualitativ neues Zeichensystem handelt, das in seinem Realitätsbezug noch stärker vermittelt ist als das Reden.

Mit Blick auf unsere Gegenwart nun ist leicht zu erkennen, daß auch heute das Gedächtnis von entscheidender Bedeutung ist. Schriftlichkeit erweist sich dabei als große Herausforderung bezüglich der Zuverlässigkeit des Gedächtnisses. Einerseits ist das Gedächtnis der Speicher jener Fakten, mit denen sich die Menschen in der Arbeitswelt einrichten. Ärzte, Juristen, militärische Führungskräfte, Lehrer, Krankenschwestern und Büroangestellte greifen dabei in stärkerem Maß auf das Gedächtnis zurück als vielleicht Fabrikarbeiter am Fließband. Andererseits aber verringert sich mit erhöhter Berufsqualifikation die Notwendigkeit, auf Schriftlichkeit zurückzugreifen, abgesehen von den anfänglichen Bildungsvoraussetzungen, die über Bücher erworben werden. Video, Tonband und Diskette, digitale Speicherung und Netzwerke haben die Bedeutung der Schriftlichkeit für die Wissensvermittlung eingeschränkt.

Die Faktoren, die die Sprache notwendig haben entstehen lassen, erklären auch ihre Geschichte und Eigenschaften. Die Sprache entstand aus einem allgemeinen Entwicklungsprozeß heraus, in dem sich der Mensch in die Praxis seines Daseins hineinprojizierte, zu seiner natürlichen und sozialen Identität fand und den Weg des linearen Wachstums einschlug. Das Stadium der Mündlichkeit legt dabei Zeugnis ab für begrenzte, zirkuläre Erfahrungen und entspricht einer noch nicht zur Seßhaftigkeit gefundenen Lebensform, in der der Mensch nach Wohlergehen und Sicherheit strebte. Sie beruhte weitgehend auf dem lebendigen Gedächtnis und schlug sich im Ritual nieder. Schrift und Schreiben entwickelten sich im Zusammenhang verschiedener weitreichender Veränderungen: eine ausdifferenzierte Lebenspraxis, Seßhaftigkeit und ein über den Tauschhandel hinausgehender Warenmarkt, wobei diese Faktoren sich gegenseitig beeinflußten. Am Ende dieses Prozesses stand die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit. Sprechen, Schreiben und Lesen—jene Eigenschaften der Schriftkultur, die uns aus der Sicht unserer heutigen Schriftkulturen geläufig und selbsverständlich sind—wurden durch diese Entwicklung logisch möglich. Tatsächlich war das Schreiben nicht unbedingt der Anfang von Schriftkultur und Bildung, sondern stellte die Möglichkeit zu ihrer Herausbildung dar. Ein Verständnis der Mechanismen der Sprache und jener Sprachfunktionen, die mit der Entwicklung der Schrift ein neues Entwicklungsstadium des Menschen eingeleitet hatten, wird uns auch zu verstehen helfen, wie die Schrift zum späteren Ideal der Schriftkultur und Bildung beitrug.

Kapitel 3:

Mündlichkeit und Schrift in unserer Zeit:
Was verstehen wir, wenn wir Sprache verstehen?

Wir sitzen vor dem Computer und sind mit dem World Wide Web verbunden. Was liegt heute an? Wie wärs mit Neurochirurgie? Irgendwo auf dieser Welt führt ein Neurochirurg gerade eine Operation durch. Wir können einzelne Neuronen auf unserem Monitor sehen. Oder wir können mitverfolgen, wie der Chirurg die Fähigkeit des Patienten überprüft, bestimmte Muster zu erkennen, damit er eine Karte von den kognitiven Funktionen des Gehirns zeichnen kann, die für den Erfolg der Operation entscheidend ist. Ab und an wird das Gespräch zwischen Chirurg und Assistenten durch die Einspielung von Daten auf verschiedenen Monitoren ergänzt. Verstehen wir die Sprache, die sie sprechen? Könnte ein schriftlicher Bericht über den Ablauf der Operation ersetzen, was wir leibhaftig vor Augen haben? Für einen Studenten der Neurochirurgie oder einen Wissenschaftler wird sich die Frage des Verstehens anders stellen als für einen Laien.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Unter einer anderen Internetadresse findet ein Konzert statt. Bands aus aller Welt schicken ihre Musik live an diese Adresse. Die Zuhörer können zwischen den zahllosen gleichzeitig spielenden Bands auswählen. Man singt von Allerweltsthemen—Liebe, Hoffnung, Verständnis. Und dennoch: selbst wenn wir jedes Wort verstehen könnten, verstehen wir wirklich, was sich da abspielt?

Anstelle des Internet könnte man eine Fabrik besuchen, eine Börse oder ein Kaufhaus. Man könnte sich in der U-Bahn irgendeiner Stadt wiederfinden, eine Schulklasse besuchen oder in einem Regierungsbüro seinen Geschäften nachgehen. Diese Szenarien verkörpern die vielfältigen Formen menschlicher Selbstkonstituierung durch Arbeit. Auf den ersten Blick sprechen alle die gleiche Sprache. Aber wer versteht was? Einfacher gefragt: Was verstehen wir, wenn wir eine Anweisung lesen oder beiläufig oder offiziell ein Gespräch verfolgen? Der gegebene Kontext ist die heutige Zeit, die sich von jeder vorausgegangenen Zeit, vor allem aber von einer Lebenspraxis unterscheidet, die auf Schriftkultur und Bildung gründete. Die Antworten auf unsere Fragen sind nicht einfach. Und die Grundlage für die Behandlung solcher Fragen muß breiter sein als die wenigen angeführten Beispiele.

Bestätigung als Feedback

Das Verstehen der Sprache ist weit mehr als die gründliche Kenntnis von Vokabular und Grammatik. Ohne Teilhabe an der Erfahrung jenseits der Sprachäußerung ist sprachliches Verstehen nicht möglich. Das, was nicht zum Ausdruck gebracht wird, muß im Hörer, Leser oder Schreiber präsent sein. Sprache muß durch die Laut- und Wortfolge, die gehört, gelesen oder geschrieben wird, das entstehen lassen, was durch die wiedererkannten Wörter und die verwendete Grammatik nicht unmittelbar ausgedrückt wird. Hinter jedem Wort, das wir verstehen, steht eine gemeinsame praktische Erfahrung, ein gemeinsamer pragmatischer Handlungsrahmen oder irgendeine rudimentäre Form gemeinsamen Verstehens als Hintergrundswissen. "Die Grenzen der Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt," hat Wittgenstein gesagt. Ich würde diese Feststellung neu formulieren und Wissen an Erfahrung binden: Die Grenzen meiner Erfahrung sind die Grenzen meiner Welt. Die Selbstkonstituierung durch Sprache ist Teil dieser Erfahrung.

Die erste Ebene der direkten Beziehung zwischen jemandem, der etwas sprachlich ausdrückt, und jemandem, der das Gesagte verstehen möchte, läßt sich in eine einfache semantische Annahme bringen: Ich weiß, daß du weißt." Aber reicht dieses Wissen, um ein Gespräch erfolgreich fortzuführen? Reicht es etwa in einem Gespräch über ein zu jagendes Tier aus, wenn der Gesprächspartner weiß, um welches Tier es geht? Viele Semantiker würden sich damit zufrieden geben. Sie teilen die von Chomsky getroffene Unterscheidung zwischen Sprachkompetenz (competence) und Sprachverwendung (performance) und führen Kommunikationsprobleme auf die Inkongruenz unserer individuellen Lexika, und nicht auf die unterschiedlichen praktischen Erfahrungen der Sprachbenutzer zurück. Zumindest theoretisch wäre demnach die kulturelle Kongruenz einer Sprachgemeinschaft durch umfassende Lexika usw. herzustellen. Heute wissen wir, daß die entstehende Industriegesellschaft zwar eine gewisse Phase relativer kultureller Kongruenz aufgrund einheitsstiftender Faktoren durchlaufen hat, diese Kongruenz aber mit der Erweiterung der Skala menschlicher Erfahrungen aufgehoben wurde. Die eingangs des Kapitels gegebenen Beispiele haben dies verdeutlicht.

Sprache wird also nicht einfach nur auf die Erfahrungswelt der Menschen bezogen, sie wird in ihr und durch sie geschaffen. Das ist eine der Haupthesen des vorliegenden Buches. Sprachverwendung geht der Sprachkompetenz voraus. Das Erkennen einer Äußerung oder eines Satzes an sich ist bereits eine Erfahrung, durch die sich Individuen definieren. Innerhalb einer begrenzten Erfahrungsskala bewirkte die Homogenität der Lebensumstände eine kohärente Sprachverwendung. Mit steigender Bevölkerungszahl und diversifizierter Erfahrung löste sich der homogene pragmatische Bezugsrahmen auf, folglich gab es auch keine kohärente Sprachpraxis. Die fortlaufende Diversifizierung der praktischen Erfahrung führte schließlich dazu, daß Wörter und Sätze mehrere und unterschiedliche Dinge gleichzeitig bedeuten konnten. Die Festsetzung und Zuweisung von Bedeutung liegt stets in der Erfahrung, durch die Individuen ihre Identität bilden.

Wenn wir die verschiedenen Elemente untersuchen, die den Status der Schriftkultur in der heutigen Welt fragmentierter praktischer Erfahrungen beeinflussen, erscheint Sprache in einem anderen Licht. Aus dieser Perspektive können wir beurteilen, wie und wann durch gleichförmige Erfahrungen ein einheitlicher Rahmen für die Schriftkultur möglich und notwendig gemacht wurde. Wir können gleichzeitig sehen, von welchem Entwicklungspunkt an diese Schriftkultur durch andere Formen der Literalität ergänzt wurde und wodurch, wenn überhaupt, diese Vielfalt verbunden werden könnte. Die beiden zu untersuchenden Stadien sind die der unmittelbaren und der vermittelten Erfahrung. Dabei ist jener Sprachstand von besonderem Interesse, in dem Gesten, Laute und erste Wortgebilde die unmittelbare Erfahrung beeinflußten.

Indirektheit beinhaltet, daß man sich gemeinsamer Bezeichnungen—Geste, Laut, Wort—bewußt ist. Die Gemeinsamkeit schließt die Erfahrung mit ein. Auf dieser Ebene gibt es noch keine Verallgemeinerung. Handlungsmuster sind zugleich Muster der Selbstkonstituierung: beim Jagen projiziert der Jäger physische Fähigkeiten. In der Beziehung zu anderen Jägern überträgt er Fähigkeiten der Koordination, Planung und gegenseitigen Verständigung. Dadurch wird eine Ebene der Indirektheit erreicht: die der Rückbestätigung für alle biologischen Abläufe, in der Kybernetik feedback genannt. Das (stillschweigend vorausgesetzte) anfängliche "Ich weiß, daß du weißt", wird nun zu, "Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß." Damit kommen Fragen der Koordination und Hierarchie ins Spiel. Wollen wir in dieser Erfahrung gar den Anfang von Bedeutung in der Sprache sehen, wird die Folge der stillschweigenden Annahmen noch länger: "Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß, daß du weißt." Wir befinden uns damit auf einer kognitiven Ebene, die sich von derjenigen der unmittelbaren praktischen Erfahrung völlig unterscheidet.

Wir sehen, wie sich in unserer dreiteiligen Annahmensequenz Syntax und Semantik gegenseitig bedingen und wie beide eingebettet sind in die sie bedingende Lebenspraxis. Übertragen auf unsere Jagdszene heißt das soviel wie: "Ich weiß, daß du weißt, daß ich hier bin. Wir können unsere Handlungen so koordinieren, daß wir das Tier töten, ohne uns dabei gegenseitig zu gefährden." Solange die Skala menschlicher Erfahrung begrenzt war, vollzog sich diese Übereinkunft stillschweigend. Sie drückte sich in reibungslos ablaufenden Handlungsmustern aus. Innerhalb einer erweiterten Skala wurden Zeichen durch Wörter ersetzt, die die Koordination leisteten. Die Schrift ermöglichte sodann Bezugsrahmen und Medium für sehr viel komplexere Tätigkeiten. Der Internet Browser schließlich verbindet eine prinzipiell unbegrenzte Zahl simultan verlaufender Informationserfahrungen, ohne daß die an diesem Prozeß Teilhabenden sich begrüßen oder einander zur Kenntnis nehmen. Hierdurch entsteht eine virtuelle Gemeinschaft von Individuen, die an der Erfahrung z. B. einer tatsächlich verlaufenden neurochirurgischen Operation teilhaben. Solche neuartigen Arbeitsformen charakterisieren in einem Stadium jenseits der Schriftkultur unseren Arbeitsplatz, unsere Schulen und die Regierungsarbeit; ihnen allen liegen die gleichen Kommunikationsannahmen zugrunde.

Der Jäger der Frühzeit und diejenigen, die heutzutage ihre Präsenz durch Namensschild, Mobiltelefon, Zugangskarte, Password anzeigen, unterscheiden sich hinsichtlich der Formen und Mittel, mit denen man sich der gegenseitigen Präsenz versichert. Doch selbst die einfache Begrüßung eines Menschen, den wir zu kennen glauben, impliziert die gesamte oben dargestellte FeedbackAbfolge. Daraus folgt: 1. Sprache verstehen heißt, alle die zu verstehen, mit denen wir die praktischen Erfahrungen unserer Selbstkonstituierung teilen. 2. Alle Beteiligten müssen diese stillschweigend vorausgesetzte Kommunikationserwartung mitbringen. 3. Jeder neue pragmatische Zusammenhang bringt neue Erfahrungen und damit neue Formen des Kommunikationsverhaltens und ihrer Bewußtwerdung mit sich. Dieses Sprachverstehen vollzieht sich auf der Grundlage der ausgeführten Annahme, "Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß, daß du weißt…", z. B. um welche Jagdbeute es sich handelt, bzw. was eine Operation ist, was eine bestimmte Tätigkeit in einem Produktionsablauf für Folgen hat, welche Funktion eine bestimmte Regierungsstelle hat. Andernfalls würde das Gespräch versiegen, oder es müßte ein anderes Ausdrucksmittel gefunden werden.

Bestätigung durch Sprache, Gestik und Mimik signalisiert erfolgreiches Verstehen. Wo immer das Verstehen ausbleibt, ist dies auf fehlende Bestätigung zurückzuführen. Und wenn diese Bestätigung nicht mehr ausschließlich durch Mittel der Schriftkultur geleistet werden kann—dazu brauchen wir uns nur die moderne Kriegsführung, die Kontrolltechnologie für Atomreaktoren oder die mannigfaltigen Formen elektronischer Transaktionen vor Augen zu halten—, dann ist letztendlich auch die Notwendigkeit der Schriftkultur in Zweifel gestellt. Mittlerweile besteht der überwiegende Teil der heutzutage erteilten Anweisungen aus Bildern (Zeichnungen), einer Ton-BildMischung (Videobänder) oder einer Kombination verschiedener Medien: die zunehmende Skepsis gegenüber der Schriftkultur, wenn nicht seitens der Lehrenden, so doch seitens der Lernenden, kommt also gar nicht so überraschend. Ihre Lebenspraxis und Erfahrung liegt bereits jenseits der Schriftkultur und einer darauf beruhenden Form des Verstehens. Und das gilt nicht nur für den Umgang mit dem Internet, sondern für Arbeitsplatz, Schule, Regierung und viele andere Formen der Lebenspraxis.

Mündlichkeit und die Anfänge der Schrift

Neben dem allgemeinen Verstehenshintergrund gibt es zahlreiche Ebenen des Verstehens, die durch die im Sprechen, Schreiben oder anderen Ausdrucks- und Kommunikationsformen enthaltenen Hinweise repräsentiert werden. So kann z. B. eine Frage durch einen bestimmten Tonfall als solche identifiziert werden. Die Schrift hat je nach Sprache dafür ein bestimmtes Zeichen. Andere Hinweise sind tiefer verwurzelt, aber nicht weniger wichtig. Sie beziehen sich auf die Intention der Aussage, auf den Sprecher (Geschlecht, Beruf, Alter), den Gesprächskontext oder Hierarchien (soziale, sexuelle, moralische). Viel außersprachliches Hintergrundwissen lenkt das Verstehen. Ein Gespräch besteht aus weit mehr als zwei Personen, die sich Sätze zuspielen. Es ist eine pragmatische Situation, die neben der Sprache ebensoviel Verständnis des Gesprächskontextes erfordert; denn jeder Gesprächsteilnehmer konstituiert sich gegenüber dem anderen. Die Gesprächssituation macht deutlich, daß das Sprachverstehen eine supra- (oder para-) linguistische Angelegenheit ist. Sie setzt voraus, daß die innerund außersprachlichen Hinweise erkannt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Sie setzt vor allem eine Rekonstruktion der Erfahrung voraus, die im Hintergrundwissen verkörpert ist.

Wenn wir Mündlichkeit und die Anfänge der Schrift vergleichen, erkennen wir, daß die Einrichtung von Konventionen sich aus der Notwendigkeit ergab, die Konkretheit zu überwinden und Zugang zu einem neuen, durch eine veränderte Lebenspraxis bedingten, kognitiven Bereich zu finden. Interessanterweise wurden jedoch Elemente der Mündlichkeit, die eigentlich einer begrenzteren Erfahrungsskala entsprachen, in der Struktur der Schrift auf der neuen kognitiven Ebene beibehalten. Heute stellt sich die Beibehaltung von Mündlichkeitselementen weniger dringlich. Doch man könnte dem entgegenhalten, daß die im Englischen geläufigen Bezeichnungen wie 4 Sale (For Sale) oder Toys R Us in die gegenteilige Richtung deuten. Derartige Versuche, Sprache zu komprimieren, lassen erkennen, wie man visuelle Zeichen (Ikonen) schafft, um auf einer synthetischen Ebene den Informationsaustausch zu beschleunigen. Die interaktiven Multimedien oder der rege Kommunikationsaustausch im Internet bieten viele weitere solcher Beispiele. Schriftkultur ist hierfür weder erforderlich noch gefragt. Es gibt eine ausgeprägte neue Form der Mündlichkeit, die an einige Merkmale der lange zurückliegenden Mündlichkeit erinnert. Das beherrschende Element dieser neuen Mündlichkeit ist das Visuelle, das neue ikonische Zeichen. Beispiele hierfür sind das international geläufige Valentinsherz anstelle des Wortes Liebe oder die in Europa verwendeten Zeichen für Pflegehinweise in Kleidungsstücken.

Die Bezeichnung von Zeitbezügen in Texten erweist sich als besonders problematisch aufgrund der für unsere Zeit charakteristischen Abläufe: zahlreiche simultan laufende Transaktionen, differenzierte Arbeitsteilung, Vernetzung, rasche Veränderung von Regeln. Das alles kann in einem geschriebenen Text nicht mehr angemessen wiedergegeben werden. Jetzt bedeutet für die, die über viele Zeitzonen hinweg miteinander verbunden sind und miteinander kommunizieren, jeweils etwas ganz anderes. Der Sonnenaufgang, den wir auf der Web Page von Santa Monica miterleben, kann mit dem Anklicken einer Taste durch ein entsprechendes Gedicht ergänzt werden. Die der Sprache eigene und in der Schriftkultur instrumentalisierte Zeit- und Raumerfahrung wird durch solche Phänomene nicht unbedingt konsolidiert.

Die Menschheit brauchte einige tausend Jahre, bis sie sich die Konventionen der Schriftlichkeit angeeignet hatte. Möglicherweise wurden einige dieser Konventionen von der Hardware (Gehirn) absorbiert und in neue Formen der Selbstkonstituierung umgesetzt. Die Praxis des Schreibens und die Erkenntnis der Möglichkeiten, die sich dadurch öffneten, führten zu neuen Konventionen. Praktische Unternehmungen, die sich aus den neuen in der Schrift (und im Lesen) angelegten Zeit- und Raumkonventionen ergaben, veränderten die Konventionen ebenfalls. Die Entdeckung der Fragmentarisierbarkeit von Raum und Zeit etwa, die sich in einer auf Mündlichkeit basierenden Kultur vermutlich nicht einstellen konnte, ließ neue praktische Erfahrungen und neue Theorien von Raum und Zeit entstehen.

Nachdem sich Schriftlichkeit als praktische Erfahrung durchgesetzt und eine allseits anerkannte Wirklichkeit auf einer entsprechend höheren Ebene der Abstraktheit begründet hatte, stellte sich auf verschiedenen Textebenen eine Fülle von Assoziationsmöglichkeiten ein. Einige davon waren so unerwartet und ungewöhnlich, daß ihr Verständnis eine Herausforderung für den Leser darstellte. Dieses Verstehensproblem stellt sich offenbar immer dann ein, wenn neue Ebenen ins Spiel kommen, wie zum Beispiel die der Selbstreferentialität, die in der verkabelten Welt der Home Page allgegenwärtig ist. Sprache wird zunehmend zu einem Medium, an dem wir die Beziehung zwischen dem Bewußten, dem Unbewußten oder Unterbewußten und der Sprache beobachten können. Bei der oben erwähnten Gehirnoperation wurden bestimmte Neuronen gehemmt und auf diese Weise das Erkennen von Gegenständen und Tätigkeiten eingeschränkt.

Die unnatürliche, nichtsprachliche Sprachverwendung wird heute von Psychologie, Neurologie, Kognitionswissenschaft und künstlicher Intelligenzforschung auf das Verhältnis zwischen Sprache und Intelligenz hin untersucht. Die Notwendigkeit, die biologischen Aspekte der Sprech-, Schreibund Lesepraxis zu behandeln, ergibt sich aus unserer Prämisse. Die menschliche Selbstkonstituierung vollzieht sich, während und indem die biologischen Fähigkeiten in Erfahrung umgesetzt werden. Die Arbeit mit sogenannten splitbrain Patienten—Menschen, bei denen die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften unterbrochen wurde, um epileptische Anfälle zu verhindern—hat gezeigt, daß sogar die scharfe Trennung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte (der linke Teil steuert das Sprachvermögen) fragwürdig ist. Es zeigte sich, daß bei jeder einzelnen praktischen Erfahrung des Menschen die biologische Ausrüstung tätig, aber gleichzeitig zum Gegenstand der Selbstreflexion wird. Als man das Wort Lach! in den rechten Teil des Blickfeldes projizierte, fingen die Patienten an zu lachen, obwohl sie das Wort theoretisch gar nicht hätten aufnehmen können. Auf Befragung erklärten sie ihr Lachen mit Gründen, die nicht in Beziehung zum sprachlichen Stimulus standen. Ähnliches ergab sich bei der Aufforderung, sich zu kratzen. Diese und andere klinische Beobachtungen werden in der Erfahrungswelt der virtuellen Realität aufgegriffen und nutzbar gemacht. In einem gegebenen Umfeld der virtuellen Realität ist zum Beispiel das Nichtvorhandene bisweilen ebenso wichtig wie das, was man vorfindet. In den Hintergrundskanälen, die die Interaktionsmuster der virtuellen Realität verarbeiten, können neben Wörtern auch Reaktionsdaten der Agierenden (Drehungen des Kopfes, Schließen der Augen, Handbewegungen) übertragen werden. Sie werden im Feedback wieder in die virtuelle Realität als deren neuer Bestandteil eingegeben und der Lage dessen angepaßt, der sich dieser Wirklichkeit überläßt. Aus diesem Grund bleiben die Merkmale der mündlichen Kommunikation—des frühen und des gegenwärtigen Entwicklungsstadiums—von besonderer Bedeutung.

In der mündlichen Kommunikation ist Hintergrundwissen leichter
verfügbar. Die größere Nähe zwischen Ding und Wort, die
Gegenwärtigkeit der Kommunizierenden und deren Bereitschaft, die
Beziehung zwischen Wort und Bezeichnetem aufzuzeigen, die allgemeine
Verfügbarkeit der an das Wort geknüpften Erfahrung sowie die
Eins-zu-Eins-Relation zwischen Wort und Bezeichnetem erleichtern das
Lesen und Übersetzen des Wortes. In mancherlei Hinsicht macht die
Eltern-Kind-Beziehung dieses Kindheitsstadium der Menschheit
sinnfällig.

In der jenseits der Schriftkultur sich abzeichnenden neuen Mündlichkeit wird dieselbe Eins-zu-Eins-Relation durch Segmentierungsstrategien erreicht. Sprecher und Hörer teilen Raum und Zeit—und damit Vergangenheit, Gegenwart und bis zu einem gewissen Grad Zukunft. Selbst wenn der Gesprächsgegenstand nicht auf den speziellen Ort und Augenblick bezogen ist, wird ein Referenzmechanismus in Gang gesetzt dank der Tatsache, daß die Gesprächsteilnehmer die Erfahrung der Selbstkonstituierung teilen. Entfernt heißt entfernt vom Gesprächsort; vor langer Zeit heißt lange vor dem Zeitpunkt des Gesprächs. Das Erlernen von entfernt, vor langer (kurzer) Zeit resultiert bereits aus lebenspraktischen Umständen, die zu einem höheren Entwicklungsstadium führten. Heute sind solche Unterschiede für uns selbstverständlich, und wir sind überrascht, wenn Kinder um genauere Angaben bitten oder ein Computerprogramm nicht funktioniert, weil die Eingaben keinen ausreichenden Distinktionsgrad aufweisen.

Die Kategorisierung von Zeit und Raum entspricht einem relativ späten Entwicklungsstadium. Sie ergab sich aus einer Skala mit linearen Beziehungen, als Ergebnis wiederholter entsprechender Erfahrungen von Abfolgen, die sich zu Erfahrungsmustern verfestigten. Als dieser Referenzmechanismus für Raum und Zeit allgemein verbreitet und in neue Erfahrungen integriert war, versetzte er den Menschen in die Lage, die Sprache zu vereinfachen und über das tatsächlich Gesagte hinaus Annahmen und Vermutungen zu ergänzen. Heute ist unsere Erfahrung von Raum und Zeit durch Relativität gekennzeichnet. Entsprechend bedeutet der Rückgriff auf Mündlichkeit jenseits der Schriftkultur nicht die Rückkehr zur primitiven Mündlichkeit, sondern die Erstellung einer Referenzstruktur, die die Dynamik der heute möglichen Beziehungen besser verarbeitet. Raum und Zeit in virtuellen Erfahrungen sind Beispiele dafür, daß wir uns von der Sprache befreit haben, nicht aber von den Erfahrungen, durch die wir unser Zeit- und Raumverständnis erworben haben.

Annahmen

Annahmen sind eine wichtige Komponente für das Funktionieren von Zeichensystemen. Ein zurückgebliebener Abdruck kann Sinn ergeben, wenn er bemerkt wird. Die Annahme, daß etwas erkannt oder bemerkt wird, ist die minimale Voraussetzung dafür, daß etwas als Ausdruck gilt. Die mit dem Schreiben verbundenen Annahmen sind andere als die der Mündlichkeit. Sie umfassen strukturale Merkmale der praktischen Erfahrungen, innerhalb derer die schreibenden Menschen ihre Identität setzen. Schriftkulturelle Annahmen sind im Gegensatz zu anderen der Sprachlichkeit eigenen Annahmen Erweiterungen der linearen, sequentiellen Erfahrung mit all ihren konstitutiven Teilen. Sie schlagen sich im Vokabular nieder, besonders aber in der Grammatik. Die neue Mündlichkeit hingegen ist eine Erfahrung jenseits des Bereichs, der durch die Mittel und Methoden der Schriftkultur bestimmt ist. Diese neue Kultur stellt die Notwendigkeit und Berechtigung der schriftkulturellen Annahmen in Frage, und zwar besonders mit Blick darauf, wie sie sich auf die Effizienz des Menschen auswirken.

Die heute selbstverständlichen differenzierten Bezeichnungen für Zeit und Raum haben sich nur allmählich und zunächst in wenig differenzierter Weise durchsetzen können. Und trotz unseres ungeheuren Fortschritts müssen wir auch heute noch im Umgang mit Zeit und Raum auf das Repertoire zurückgreifen, das in den frühen Stadien der Menschheit entwickelt wurde. Bewegungen von Hand, Kopf oder anderen Körperteilen (Körpersprache), Veränderungen des Gesichtsausdrucks und der Hautfarbe (Erröten), Atemrhythmus und Stimmvariation (Intonation, Pause, Sprachfluß)—all dies läßt erkennen, daß im Gespräch eine Erfahrung wachgerufen wird, die von der Sprache allein nicht getragen werden kann. Und diese paralinguistischen Elemente sind in den neuen Erfahrungszusammenhängen interaktiver virtueller Welten nicht weniger bedeutungsvoll.

Die paralinguistischen Elemente, die in primitiven Lebensgemeinschaften bewußt verwendet werden oder unbewußt vorhanden sind, entziehen sich der näheren Erforschung. Innerhalb von Lebensgemeinschaften, deren Angehörige die gleichen genetischen Voraussetzungen mitbringen, nehmen sie unterschiedliche Formen an. Sie sind keineswegs auf Sprache beschränkt, wenngleich sie an die Erfahrung der Sprachverwendung geknüpft sind. Das gilt zum Beispiel für das ausgeprägte Rhythmusgefühl der Schwarzen in Amerika und Afrika oder die holistische Weltsicht der Chinesen und Japaner. Wir können lediglich aus Wörtern in den von uns rekonstruierten Protosprachen oder der vermuteten einheitlichen Muttersprache der Menschheit (Proto-Welt) folgern, daß Wörter in Verbindung mit nichtsprachlichen Einheiten verwendet wurden. Ob es eine solche Muttersprache der Menschheit, eine vorbabylonische Sprache je gegeben hat, ist eine andere Frage. In dieser Frage verbirgt sich die Suche nach einem allen Menschen gemeinsamen Vorfahren und dessen vermeintlicher Sprache. Wichtiger ist jedoch, daß die praktische Erfahrung der Herausbildung von Sprache keineswegs alles Nichtsprachliche eliminiert. Das paralinguistische Element bleibt für die Effizienz menschlicher Aktivitäten selbst dann wichtig, wenn Sprachlichkeit eine so beherrschende Rolle spielt wie im Zeitalter der Schriftkultur. Ein Stadium jenseits der Schriftkultur wird nun nicht notwendig die paralinguistischen Überreste zurückliegender Erfahrungsräume ausgraben. Vielmehr wird ein Rahmen geschaffen, der ihre Einbindung in eine effektivere Lebenspraxis ermöglicht, in einen Prozeß mit technologischen Möglichkeiten, die alle erdenklichen Hinweise verarbeiten kann.

In einem bestimmten Rahmen von Raum und Zeit werden paralinguistische Zeichen stark konventionalisiert. Die Entwicklung des englischen Wortes I (im Gegensatz zu seinen Entsprechungen in anderen Sprachen: ich, je, yo, eu, én, ani usw.) oder die Art, wie sich die auf das Wort two bezogenen Wörter entwickelten (Hände, Beine, Augen, Ohren, Eltern), geben hierfür aufschlußreiche Hinweise. Vermutlich trat zum Beispiel das Paar zunächst als grammatische Kategorie auf und wurde durch nichtsprachliche Zeichen markiert (Klatschen, Wiederholung, Aufzeigen). Einige solcher Zeichen sind noch heute gebräuchlich. Grammatische Kategorie und die Unterscheidung zwischen eins und zwei hängen zusammen. Die Aranda in Australien verwenden die Wörter eins und zwei als Grundlage ihrer Arithmetik. Ebenso beginnt der Plural mit zwei. Das erscheint uns heute als selbstverständlich, aber einige Sprachen (z. B. Japanisch) kennen keinen Plural. Und schließlich können die gleiche Zeichen (das Zeigen mit dem Finger, Signale der Hand) in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen haben. Kopfnicken bedeutet bei den Bulgaren Ablehnung, Kopfschütteln Zustimmung.

Innerhalb einer Kultur wird jedes Zeichen zu einer bedeutenden Hintergrundkomponente, denn es verkörpert die gemeinsame Erfahrung, die es hervorbrachte. Im direkten Gespräch kennen sich entweder die Gesprächsteilnehmer oder sie lernen sich kennen; was sich in der skizzierten und weiter kumulierbaren Voraussetzung des "Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß, daß du weißt" ausdrückt. Sprechen und Zuhören werden so zu einer Erfahrung des gegenseitigen Verstehens, vor allem wenn sich das Gespräch in einem nicht-linearen, unbestimmten Kontext vollzieht, der in Form von Schriftlichkeit nicht mehr nachgebildet werden kann. Hierzu zählen die Kontakte in der elektronisch vernetzten Welt und extrem schnelle Transaktionen (Börsenhandel, Weltraumforschung, militärische Operationen), die mit den begrenzten Möglichkeiten der Schriftkultur nicht zu leisten sind.

Mündlichkeit kann deklarativer, interrogativer oder imperativer Natur sein. Mit zunehmend vertiefter Erfahrung im Umgang mit Sprache und aufgrund der dem mündlichen Sprachgebrauch impliziten Annahmen entwickelte der Mensch allmählich seine interaktive Natur. Diese ergab sich aus veränderten Lebensbedingungen: in der Natur war Interaktion auf Aktion-Reaktion begrenzt; im menschlichen Leben entwickelten sich aus diesem interaktiven Grundmuster Interaktionsabfolgen, welche die Bereiche des gemeinsamen Interesses definierten. Die fortschreitende kognitive Erkenntnis, daß die Ansprache an ein Gegenüber dessen Fähigkeit des Verstehens, bzw. bei unvollständigem Verstehen die Verpflichtung zur Erläuterung beinhaltet, ist eine weitere Quelle unserer interaktiven Veranlagung. Fragen übernehmen die Funktion der direkten paralinguistischen Zeichen und ergänzen die interaktive Qualität des Dialogs, solange eine gemeinsame Grundlage besteht. Diese gemeinsame Grundlage gilt denen, die an der Schriftkultur festhalten, als notwendige Voraussetzung jeglicher Interaktion, wird aber unterschiedlich definiert: einmal beruht sie auf Vokabular und Grammatik, ein anderes Mal auf Logik, Phonetik, Aussprache oder dem kulturellen Erbe. Gewiß ist eine gemeinsame Sprache die notwendige Voraussetzung für Kommunikation; das heißt aber noch lange nicht, daß eine solche Sprache ausreichend oder ausreichend effizient dafür ist. Die Interaktivität, die sich jenseits des schriftkulturellen Modells etabliert hat, läßt es möglich, wenn nicht gar notwendig erscheinen, daß die üblichen Spracherwartungen abgelegt und durch variable Kodes ersetzt werden, wie wir sie im Umgang mit den multimedialen Einrichtungen oder den Interaktionsabläufen im Internet entwickelt haben.

Wie wichtig ist Literalität?

In den voraufgegangenen Kapiteln haben wir uns gefragt, was neben einer gemeinsamen Sprache für ein sinnvolles Gespräch notwendig ist. Skala ist hierfür ein weiterer Faktor. Die Skala, die einen Dialog bestimmt, unterscheidet sich von der Skala, innerhalb derer sich die menschliche Selbstkonstituierung einschließlich des Spracherwerbs und der Sprachverwendung vollzieht. Skala allein reicht nicht aus, um einen Dialog zu definieren oder die umfassendere sprachbezogene oder sprachbegründete praktische Tätigkeit, durch die der Mensch seine biologische Anlage und seine spezifisch menschlichen Eigenschaften realisiert. Wir haben ausreichende Hinweise darauf, daß der Mensch im frühen Entwicklungsstadium nur homogene Aufgaben lösen konnte. Innerhalb eines solchen Rahmens war der Dialog Träger von Kooperation und Bestätigung oder von Konflikten. Mit zunehmender Diversifikation nahm er eine heuristische Dimension an—die Auswahl des Nützlichen aus einer Reihe von Möglichkeiten, selbst wenn dabei Zusammenhang und Vollständigkeit aus dem Blick gerieten. In einer verallgemeinerten, auf Sprache gründenden Lebenspraxis kam neben der Heuristik ("Wenn es hilft, tu es") auch die Logik ins Spiel ("Wenn es richtig ist" / "Wenn es sinnvoll ist"), und durch deren Vermittlung gehörten schließlich auch Wahrheit und Unwahrheit zum Spektrum der Spracherfahrung. Damit wirkt Sprache integrativ. Dieser integrative Einfluß verstärkt sich in dem Maße, in dem Mündlichkeit durch die begrenzte Schriftkultur von Schreiben und Lesen ersetzt wird.

Die Schriftkultur der Industriegesellschaft stillte den Bedarf nach einheitlichen und zentralisierten Rahmen für die Lebenspraxis innerhalb einer Skala, der die Linearität der Sprache auf optimale Weise gerecht wurde. Heutzutage konstituieren wir uns und unsere Sprache durch Erfahrungen, die es in einer solchen Vielfalt bislang nicht gegeben hat. Diese Erfahrungen sind kürzer und relativ partiell, sie stellen nur einen kurzen Moment dar in dem umfassenderen Prozeß, den sie ermöglichen. Das Ergebnis ist eine soziale Aufsplitterung. Sie vollzieht sich selbst innerhalb der angenommenen Grenzen einer Sprachgemeinschaft, die angeblich eine Nation ausmachen und die paradoxerweise ihr angekündigtes Ende überdauern. In Wirklichkeit gibt es gar keine gemeinsame Sprache einer Sprachgemeinschaft mehr, zumindest funktioniert sie nicht mehr so wie gewohnt. An ihre Stelle treten provisorische Bindungen, die einen neuen Rahmen für Tätigkeiten bieten, die man nicht mehr als eine durch Schriftkultur definierte Erfahrung ausüben kann. Für jede dieser schnellebigen und rasch sich verändernden Bindungen entwickeln sich Teilsprachen von begrenzter Dauer und begrenztem Wirkungskreis. Sie wiederum sind begleitet von Subformen der Schrift und Bildung. Eine derartige Erfahrung bietet eine neue Plattform für vermehrte Mündlichkeit unter Bedingungen, die nicht mehr der Schriftkultur eigen sind, sondern aus neuen Technologien jenseits der Praxis der Schriftkultur hervorgehen und daher eine erhöhte Effizienz aufweisen. Darüber hinaus können natürliche Zeichen oder Hieroglyphen bestimmte Anweisungen ebenso gut oder gar besser als die Schrift vermitteln.

Die Schriftkultur legt eine Reihe von stillschweigenden Annahmen nahe: In der Schriftkultur gebildete Eltern erziehen ihre Kinder zu entsprechender Bildung. Gemeinschaftssinn setzt voraus, daß die Mitglieder einer Gemeinschaft von der Zweckmäßigkeit dieser Bildung überzeugt sind und an ihr teilhaben. Religiosität ist an Bildung gebunden. Nur gebildete Menschen können am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Wir sollten uns angesichts solcher Annahmen jedoch vergegenwärtigen, daß der abstrakte Bildungsbegriff, der davon ausgeht, daß eine gemeinsame Sprache automatisch zu gemeinsamen Erfahrungen führt, falsche Hoffnungen weckt. Die Kinder gebildeter Eltern sind keineswegs ebenfalls gebildet. Es ist viel wahrscheinlicher, daß sie wie die Kinder aus anderen Elternhäusern längst in die jenseits der Schriftkultur angesiedelten Arbeits- und Lebensstrukturen eingebunden sind. Das ist weder eine Frage der individuellen Entscheidung, noch der elterlichen Autorität.

Auf dem digitalen Highway, auf dem immer mehr Menschen ihre
Koordinaten setzen, etablieren sich Beziehungsgemeinschaften, die an
keine Lokalität gebunden sind. Das allenthalben vorherrschende
Zeichen @ trägt dabei allein die nötige Identifikationsleistung. Die
Teilhabe an solchen Gemeinschaften ist grundverschieden von allen
bisher geläufigen Formen der auf Schriftkultur beruhenden
Gemeinschaft, die von gegenseitigen Abhängigkeiten getragen und durch
Schreibfähigkeit ebenso wie durch Autorität und an industrielle
Produktionszyklen gebundene Arbeitsweisen gekennzeichnet sind.

In den Kommunikationsformen unserer Zeit ist die Bildungs- und Schriftkulturkomponente nicht nur zurückgedrängt, sie verzeichnet im Vergleich zu anderen Kommunikationsformen den stärksten prozentualen Rückgang. In diesem neuen Rahmen müssen Staatsgebilde und Verwaltungsapparate um ihr Überleben kämpfen. Doch die dafür verwendeten Methoden und Instrumente der Schriftkultur haben sich wiederholt als ineffizient erwiesen. Solche Feststellungen erübrigen keineswegs Fragen nach dem Verstehen von Schrift, von welcher Bildung und Schriftkultur stärker abhängen als von gesprochener Sprache. Doch zu den neuen Fragestellungen dieses Buches gehört auch, wie sich Sprachverstehen vollzieht in einem neuen pragmatischen Rahmen, in dem Sprache von den Beschränkungen der Schriftkultur befreit ist.

Was ist Verstehen?

Die Anfänge der Schrift hatten piktographischen Charakter. Der Vorteil lag im direkten Zugang zur Welt, die unmittelbar und für alle gleichermaßen zu erkennen war; der Nachteil lag darin, daß der Verallgemeinerungsgrad des Ausdrucks nur potentiell gegeben war. Die Notation blieb auf die Dinge, weniger auf die Sprache bezogen. Diese bildbezogene Sprache entwickelte sich analog zu einem relativ einfachen Rahmen der Raum- und Zeitbezeichnung.

Die Alphabetschrift überwindet den auf Ähnlichkeit beruhenden
Erfahrungsrahmen. Wenn Zeit nicht ausdrücklich angegeben ist oder
Raumkoordinaten nicht bewußt benannt werden, sind Zeit und Raum im
Text und in der Grammatik umgesetzt. Damit verändert sich die
Kommunikation, sie wird durch abstrakte Größen vermittelt, deren
Bezug zur Erfahrung sich wiederum aus zahlreichen Substitutionen
ergibt, über die der Leser nicht verfügt.

Hinweise in der Schrift sind zuallererst Hinweise auf Sprache, erst in zweiter Linie auf menschliche Erfahrung. Die Lektüre eines Textes erfordert daher die aufwendige kognitive Rekonstruktion der ausgedrückten Erfahrung und ist stets mit der Unsicherheit darüber verbunden, ob das Verstandene auch angemessen verstanden wurde. Bei der Lektüre eines Textes gibt es niemanden, den man fragen kann, der unser Verstehen seinerseits aktiv nachvollzieht oder es bezweifelt. Der Autor existiert als Projektion im Text nicht anders als der Autor in den von uns gekauften und verwendeten Waren. Jeder Text ist eine Realität auf Papier oder anderen Speichern und Vermittlungsträgern. Hinweise können aus Autorennamen oder aus historischen Kenntnissen gewonnen werden. Niemals aber kann es den gegenseitigen Austausch eines mündlichen Gesprächs geben, das gemeinsame Bemühen der gegenwärtigen Kommunikationspartner.

Wie komplex Schrift auch immer sein mag, es fehlt ihr doch die interaktive Komponente der Mündlichkeit. Diese Einschränkung ist einer der Gründe dafür, daß Schriftkultur unsere aus der Praxis der Interaktivität hervorgehenden Erwartungen nicht mehr erfüllen kann. Eine metaphorische Verwendung des Begriffs der Interaktivität, die die "interaktive" Beziehung zwischen Leser und Text durch Lektüre, Interpretation und Verstehen beschreibt, ist eine ganz andere Angelegenheit. Schwierigkeiten beim Sprachverstehen können natürlich überwunden werden, aber nicht mechanisch dadurch, daß ich die Sprachfähigkeit durch das Erlernen von fünfzig weiteren Vokabeln oder eines weiteren Grammatikkapitels verbessere, sondern nur über verbessertes Hintergrundwissen durch Erweiterung der Erfahrung, auf der dieses gemeinsame Wissen beruht.

Wenn wir indes diesen Weg einschlagen, verlassen wir den einheitlichen Rahmen der Schriftkultur, innerhalb dessen die Erfahrungsvielfalt auf Schreiben, Lesen und Sprechen beschränkt ist. Wenn diese Beschränkung nicht mehr leistungsfähig ist—was wir unter den derzeitigen Existenzbedingungen zunehmend erfahren—, wird auch das Verstehen von Sprache immer schwieriger. Andererseits hängt unsere Selbstkonstituierung von dem Ergebnis unseres Sprachverstehens ab. Als einfaches Beispiel können uns hier die zahlreichen Handbücher zur Computer-Software dienen. Sie sind in einfacher Sprache abgefaßt, aber dennoch schwer zu verstehen. Und sind sie einmal verstanden, ist der Ertrag mager. Daher ist man auch dazu übergegangen, anstelle der schriftlichen Anleitung die nötigen Anweisungen online zu geben, und zwar durch graphische Darstellung oder durch einfache bewegte Bilder. Der vorliegende Rahmen der Spezialisierung beschränkt dabei die Anweisung auf das für die Aufgabe notwendige Ausmaß. Im Rahmen einer derartigen fortschreitenden Spezialisierung werden dann auch Lesen und Schreiben zu einem Bereich der Spezialisierung unter anderen. Schriftkultur und darauf beruhende Bildung ist damit eine bestimmte, spezifische Form menschlicher Praxis, und nicht mehr ihr gemeinsamer Nenner.

Das Schreiben als eine eigene spezifische Form der Praxis trägt in diesem Zusammenhang zur Aufsplitterung der Gesellschaft, statt zu ihrer Vereinigung bei. Spezialisierte Formen des Schreibens fördern die allgemeine Tendenz zur Spezialisierung und rufen spezialisierte Formen des Lesens hervor. Das sei etwas näher erläutert.

Selbst wenn Autoren versuchen, ihre Sprache auf ein bestimmtes Lesepublikum auszurichten, sind sie nur teilweise erfolgreich, weil die involvierten Erfahrungsbereiche nicht deckungsgleich sind. Entweder wird der Autor zum Opfer der Sprache (jenem hochspezialisierten Sprachregister, das auf einen spezifischen Wissensbereich zugeschnitten ist) und ahmt in Grammatik und Rhetorik das normale Gesprächsverhalten nach. Oder aber er übersetzt oder erläutert, wie in populärwissenschaftlichen Publikationen zu Physik, Genetik, den Künsten oder der Psychologie. In diesem interpretierenden Diskurs werden Einzelheiten ausgelassen oder ergänzt, um die Wissensgrundlage zu erweitern. Bestimmte Ausdrucksmittel wie Vergleiche und Metaphern sollen unterschiedliche Hintergründe überbrücken und die Leser zu neuen Erfahrungsebenen führen. Und selbst wenn sich die Leser dieser Mittel bewußt sind, kann das nicht den Mangel an Erfahrung ausgleichen, wodurch allein ein Text Sinn ergibt. Ein juristischer Schriftsatz, ein militärischer Text, eine Investmentanalyse, die Evaluierung eines Computerprogramms sind Beispiele hierfür. Sie sind auf Englisch oder Deutsch geschrieben, aber sie beziehen sich auf Erfahrungsbereiche, die nur Juristen, Offizieren, Maklern oder Programmierern zugänglich sind.

Autoren, Redner, Leser und Zuhörer sind sich der Anpassungen bewußt, die zum Verständnis dieser und ähnlicher Texttypen nötig sind. Ein direktes Gespräch, für das man allerdings gemeinsame Zeit aufbringen muß, kann einen solchen Anpassungsrahmen bieten, eine gedruckte Textseite sehr viel weniger. Bestenfalls kann ein Leser seine Reaktion wiederum zu Papier bringen oder schriftlich um ergänzende Erläuterungen bitten, um auf diese Weise den Geist des Gesprächs zu treffen. Die Erfahrung des Schreibens und Lesens hat immer weniger den Charakter einer allgemeinen Erfahrung und immer mehr den einer hochspezialisierten Tätigkeit. Schrift kann von Maschinen gelesen werden. Als Hilfsmittel für Blinde lesen solche Maschinen Anleitungen, Zeitungsartikel und Untertitel von Videofilmen. Synthetische Stimme, Auge und Nase, Berührungssensor oder Geschmacksübersetzer operieren in einem Bereich, der völlig losgelöst ist von dem Leben, das in den entsprechenden Text (Bild, Geruch, Textur, Geschmack) eingegangen ist und das der Leser (Zuschauer, Riechende, Fühlende, Schmeckende) von sich aus hinzuzufügen hätte.

Schriftkultur, verstanden als ein universelles und immerwährendes Medium für Ausdruck, Kommunikation und Bezeichnung hat eine romantische oder auch demokratische Haltung gegenüber Kunst, Politik und Wissenschaft gepflegt. Sie ging von folgenden Voraussetzungen aus: da jeder reden, schreiben und lesen sollte, kann und soll ein jeder reden, schreiben und lesen; kann und soll ein jeder Literatur mögen, am politischen Leben teilhaben und die Wissenschaften verstehen. Das traf in gewissem Maße auch zu, solange Dichtung, Politik und Wissenschaft mehr oder weniger unmittelbare Bestandteile der Lebenspraxis waren und der Skala der menschlichen Tätigkeit entsprachen, die sich in linearen, homogenen Erfahrungen herausbildete. Nun, da sich die Skala verändert, die Dynamik beschleunigt, die Vermittlung vermehrt und Nicht-Linearität etabliert hat, stehen wir vor einer neuen Situation. Dichter, Redenschreiber und Wissenschaftsautor wenden sich längst nicht mehr an die gesamte Bevölkerung; mehr noch, da sie selbst den Prozessen der Arbeitsteilung unterworfen sind, tragen sie auf ihre Weise zur Förderung von Teilbildung und Aufsplitterung der Gesellschaft bei, obwohl sie eigentlich das Gegenteil bewirken wollen. Als Reaktion auf die traditionellen Ansprüche der Schriftkultur stellt eine allgemeine dekonstruktivistische Haltung gegenüber Texten die Dauerhaftigkeit der philosophischen Abhandlung, wissenschaftlicher Systeme, der Mathematik, des politischen Diskurses und vor allem der Literatur in Frage. Die Methode ist überall die gleiche: die Mechanismen aufzuzeigen, die die Illusion von Dauerhaftigkeit und Wahrheit schaffen. Texte sind plötzlich nur noch Mittel zu einem Zweck, der nicht mehr unmittelbar zählt. Daraus ergibt sich eine Beschreibung der Ausdruckstechnologie, die von all jenen begrüßt wird, die gegenüber der Universalität von Wissenschaft, Politik und Literatur skeptisch geworden sind. Wenn jedes Zeichen (unabhängig vom Thema) nur sich selbst bezeichnet und die in ihm verkörperte Erfahrung diejenige seiner Hervorbringung ist, dann hätte das Projekt des Dekonstruktivismus seinen Höhepunkt erreicht.

Worte über Bilder

Das geschriebene Wort trat fast immer, wie wir wissen, zusammen mit anderen Bezeichnungssystemen auf, besonders mit Bildern. Insofern ist unsere Frage, was wir beim Verstehen von Sprache verstehen, auch geknüpft an die Frage, ob Bilder beim Verstehen von Texten hilfreich sein können. Zweifellos tragen Bilder (zumindest manche) aufgrund ihrer kognitiven Merkmale bessere Interpretationshinweise als Wörter oder Schriftmittel. Bilder können besser als Texte den abwesenden Autor ersetzen. Sofern sie den Konventionen der Realität folgen, kann ein Individuum mit ihrer Hilfe den Raum- und Zeitrahmen oder eines von beiden wachrufen. Andererseits sind Bilder nicht unbedingt die besseren Informationsvermittler, ihre Vorzüge gehen auf Kosten des Verstehens, der Klarheit oder der Kontextabhängigkeit.

Vor allem kann die Konkretheit des Bildes die Vorteile der Abstraktion nicht ersetzen. Das dichte Medium der Schrift steht in deutlichem Kontrast zum diffusen Medium des Bildes. Auch ist die jeweilige Komplexität nicht vergleichbar. Im Internet einen Text herunterzuladen ist etwas ganz anderes, als Bilder darzubieten. Wenn allerdings die Komplexität eines Bildes hoch ist, wird seine Dekodierung genauso kompliziert wie die eines Textes und das Ergebnis entsprechend weniger genau. Daher versucht man es am liebsten mit einer Kombination aus Bild und Wort. Wir können daraus auch etwas über die Strategien für die Verknüpfung von Text und Bild lernen: Redundanz richtet die Interpretation auf das Wesentliche; Komplementarität erweitert den interpretatorischen Blickwinkel; andere Strategien wie Kontrastierung von Text und Bild, Paraphrasierung des Textes durch Bilder oder das Ersetzen des einen durch das andere beeinflussen je auf ihre Weise durch die Bereitstellung von Erklärungszusammenhängen die Interpretation. Weite Bereiche unserer heutigen Kultur—von Comics und Bildromanen über Werbung und Soap Operas im Internet—greifen auf solche und ähnliche Strategien zurück.

Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Erfahrung, die wir für das Verständnis eines Textes benötigen, durch Bilder ersetzt werden kann. Sollten wir sie bejahen können, würden Bilder fast die Rolle eines Gesprächspartners übernehmen. Als Produkte der menschlichen Erfahrung verkörpern Bilder genauso wie die Sprache eben diese Erfahrung. Das Verstehen von Bildern ist also nicht gleichzusetzen mit der bloßen Anschauung von ihnen. Das hat sich bereits bei geschriebener Sprache gezeigt. Wörter oder Sätze auf dem Papier zu sehen geht deren Verstehen voraus. Die Natürlichkeit der Bilder (jedenfalls solcher, die dem äußerlichen Erscheinungsbild unserer Welt entsprechen) macht den Zugang zu ihnen bisweilen leichter als den zur geschriebenen Sprache. Aber dieser Zugang ergibt sich niemals automatisch und sollte nicht als selbstverständlich angesehen werden. Und während das geschriebene Wort nicht unmittelbar zur Nachahmung einlädt, spielen Bilder hier eine aktivere Rolle und lösen andere Reaktionen als Wörter aus. Sprachkodes und visuelle Kodes sind nicht aufeinander reduzierbar; sie besitzen unterschiedliche pragmatische Funktionen.

Vorliegende Forschungsergebnisse erweisen ziemlich eindeutig, daß ein mithilfe von Bildern verbessertes Textverständnis nicht einfach auf die Präsenz von Bildern zurückzuführen ist, sondern auf bestimmte Lesermerkmale. Das zeigt erneut, wie wichtig ein Hintergrundwissen für das Verständnis von Texten, Bildern und anderen zur Sprache verfestigten Ausdrucksformen ist. Die Forschungsverfahren beruhten dabei auf empirischen Messungen von sogenannten Textverarbeitungsprozessen bei Lesern. Bei den Untersuchungen wurden die Augenbewegungen aufgezeichnet und mit dem Textverständnis korreliert, was Aufschluß über die Interaktion von Text und Bild gab. So sind Bilder für sogenannte schlechte Leser eindeutig hilfreich. Für erfahrene Leser waren Bilder irrelevant, wenn die Information im Mittelpunkt stand. War die Information weniger wichtig, beeinträchtigten Bilder die Lektüre. Auch zeigte sich, daß der Texttyp—expositorisch, erzählend—kein besonderer Faktor ist und daß Bilder dabei helfen, Texteinzelheiten zu erinnern. Das ist allerdings schon seit mindestens 300 Jahren bekannt. Im elisabethanischen Theater lernten die Schauspieler ihre Texte auswendig, indem sie bestimmte Passagen mit bestimmten architektonischen Details des Theatergebäudes verknüpften. Letztendlich ergaben all diese Untersuchungen, daß die Auswirkung von Bildern auf das Verständnis geschriebener Texte nicht leicht zu erklären ist. Das kann kaum überraschen, wenn man auf Schriftlichkeit basierende Meßverfahren verwendet, um die Grenzen der Schriftlichkeit zu bestimmen. Ob zufällig auftretende oder dem Leser aufgenötigte Bilder, ob quasi-lineare oder komplizierte Texte (d. h. solche, die auf komplexe praktische Erfahrungen zurückgehen)—die Beziehung zwischen Bild und Text scheint keinem klaren Muster zu folgen. Wenn wir die Ursachen und Eigenarten von Leseschwierigkeiten ergründen wollen, erweisen sich solche Experimente wie alle anderen, die auf der Prämisse der Schriftlichkeit beruhen, als untauglich.

Derartige Untersuchungen bestätigen eigentlich nur, daß es heutzutage selbst unter Schülern und Studenten viel weniger Gemeinsamkeiten gibt als zu jener Zeit, in der sich das Schreiben und Lesen herausbildete. Die Diversifikation unserer Erfahrung vor dem Hintergrund einer relativ stabilen Sprache, die als allgemeiner Kulturstandard vorausgesetzt wird, sollte uns veranlassen, eben diese Beziehung zur Erklärung der vorliegenden Daten und auch zur Erklärung der ursprünglichen Fragestellung heranzuziehen. Warum in den zurückliegenden Jahren das Lesen, Verstehen und Erinnern von geschriebener Sprache trotz der vermehrten Anstrengungen von Schule, Elternhäusern, Arbeitgebern und Ministerien immer mehr zum Problem geworden ist, weiß niemand zu sagen. Wie sehr wir uns auch immer bemühen, das Verständnis eines Textes durch die Verwendung von Bildern zu erhöhen, die Notwendigkeit von Texten als Ausdruck einer schriftkulturellen praktischen Erfahrung ist damit keineswegs gesteigert. Zu solchen Ergebnissen kommen wir nicht leichtfertig, denn wir sind noch immer durch die Schriftkultur konditioniert. Jenseits solcher Konditionierungszwänge stellen sich andere Erfahrungsinhalte ganz natürlich ein. So erklärt sich auch, warum im Internet der Tenor des sozialen und politischen Dialogs viel vorurteilsfreier ist als das, was wir in Büchern, Zeitungen und Fernsehsendungen vermittelt bekommen. Das ist nicht als eine neue Form von technologischem Determinismus zu verstehen. Mir geht es um die neuen pragmatischen Umstände, nicht um die darin eingebundenen Mittel.

Vermutlich hat Korzybski recht, wenn er sagt, Sprache sei "eine Karte, die das verzeichnet, was sich in uns und außerhalb von uns abspielt." Angesichts des Entwicklungsstandes, den unsere Zivilisation erreicht hat, ist keine der bislang gezeichneten Karten genau genug. Wenn wir die für die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung wesentlichen Einzelheiten abbilden wollen, müssen wir die Veränderung in der Metrik (d. h. in der Skala der verzeichneten Einheit) und in der Dynamik berücksichtigen. Die Welt verändert sich, weil wir uns verändern, und damit eröffnen wir der Welt neue Dimensionen.

Wenn wir Ähnlichkeiten mit vergangenen Stadien erkennen—also etwa dem der Mündlichkeit—, gewinnen sie nur dann Bedeutung, wenn wir sie im angemessenen Kontext betrachten. Die moderne Technologie hat die Probleme, die mit der langsamen Geschwindigkeit der Schallwellen zusammenhingen, gelöst und die mündliche Kommunikation über weite Entfernungen hinweg (Telekommunikation) zu einer einfachen Angelegenheit gemacht. In früheren Zeiten konnten Personen auf zwei benachbarten Hügeln sich entweder besuchen, sich zurufen oder Feuer- und Lichtsignale senden. Heute können wir mit jemandem sprechen, der gerade in einem Flugzeug sitzt, im Auto fährt, spazierengeht oder den Mount Everest besteigt. Auf diese Weise sind wir über die Telefontechnologie überall auf der Welt so genau zu orten wie durch das in Satelliten installierte Global Positioning System (GPS). Das Telefon als neues Medium der Mündlichkeit erübrigt jede Form der physischen Präsenz und kann praktisch überall aktiviert werden. Auf diese Weise wurde die heutige Kommunikation revolutioniert und Mündlichkeit in einem global wirkenden, komplexen und kontrollierten Handlungsrahmen wiederbelebt und mit neuen Funktionen versehen. Im digitalen Netzwerk, das zunehmend zu unserem Medium der Selbstkonstituierung geworden ist, sind wir gleichzeitig Absender und Adresse. Mit einem Tastendruck sind wir, wo immer wir sein wollen, was wir sein wollen und was wir zu tun vermögen. Mit einem weiteren Tastendruck werden wir zum Gegenstand der Interessen, Handlungen, Nachfragen eines anderen. Die Verwendung von Bildern gehört in diesen weiten Rahmen, ebenso das allgegenwärtige und, wie es manchmal scheint, allmächtige Fernsehen. Das hat uns mit der gesamten Welt verbunden; zugleich aber haben wir die Bindung an uns selbst verloren. Die Bandbreite für Interaktionen durch eine Vielfalt von Kanälen hat sich vom Kupferdraht auf Glasfiber-Datenautobahnen ausgeweitet und damit eine Struktur geschaffen, die unsere Koordinaten in einer Welt der global ausgelegten Handlungsräume neu definiert. Wir setzen die physikalischen Gesetze außer Kraft und sind gleichzeitig an mehreren Orten. Wir können auch gleichzeitig mehr als nur eine Person sein. Das Verstehen von Sprache wird unter solchen veränderten Umständen zu einer gänzlich neuen Erfahrung unserer Selbstkonstituierung.

Dennoch bedeutet das Verstehen von Sprache immer noch, diejenigen zu verstehen, die sich durch Sprache ausdrücken, gleich welches Medium sie dafür verwenden. Die Schriftkultur ermöglichte es, die Sprache eines Zivilisationsstadiums zu verstehen, dessen Skala der linearen Natur des Schreibens und Lesens und der in der Sprache angelegten Wahrheitslogik entsprach. Gleichwohl weist Schrift keine heuristischen Dimensionen auf, ist langsam und ermöglicht nur begrenzt Interaktivität. Das Irrationale unterwirft sie der Rationalität und unser gesamtes Leben ihrer bürokratischen Sorge. Eine allen gemeinsame Erfahrung in einem begrenzten Lebensrahmen, wie sie für die Anfänge der Sprachnotation charakteristisch war, erleichtert die Interpretation. Divergente Erfahrungen, die dem Streben nach Nützlichkeit, Effizienz, Vermittlung entspringen und weniger Gemeinsames aufweisen, bringen es mit sich, daß die Sprache unserer Selbstkonstituierung in geringerem Maße entspricht und daher auch schwerer zu verstehen ist. So gesehen macht die Schriftkultur alles, was sie umfaßt, gleichförmig; deshalb widersetzt man sich ihr. Sie ist alles andere als eine bloße Fertigkeit; sie ist gemeinsame Erfahrung, die sich in der Arbeit und im sozialen Leben einstellte. Veränderungen des pragmatischen Rahmens führten zu der Einsicht, daß Schriftkultur sehr wohl dazu dienen könnte, Brücken zwischen den verschiedenen fragmentarisierten Wissens- und Erfahrungsbereichen zu schlagen, nicht aber, diese zu verkörpern. Sie könnte sich durchaus noch darauf auswirken, wie wir Sondersprachen als Instrumente für unsere verschiedenen Zugriffe auf die Welt, für unsere Veränderungsversuche und für die Darstellung der Ergebnisse solcher Versuche verwenden. Daraus folgt indes noch lange nicht, daß Schriftkultur der einzig heilbringende Lösungsweg für Ausdruck, Kommunikation und Bedeutung bleiben wird oder bleiben sollte.

Kapitel 4:

Die Funktionsweise der Sprache

Funktionieren ist ein Verb, das aus dem Umgang mit Maschinen abgeleitet ist. Von Maschinen erwarten wir eine gleichbleibende Leistung in einem bestimmten Bereich. Wenn wir diesen Begriff metaphorisch auf die Sprache anwenden, sollte uns bewußt bleiben, daß Sprache aus menschlicher Interaktion erwächst, die mit Zeichensystemen zu tun hat, besonders mit jenen, die schließlich in der Schriftkultur gipfelten. Folgende Probleme sollen behandelt werden: wir wollen die Sprachfunktionen benennen, die sich in verschiedenen pragmatischen Zusammenhängen abzeichnen; die Prozesse vergleichen, in denen diese Funktionen ausgeübt werden; und die pragmatischen Umstände beschreiben, unter denen bestimmte Funktionsmechanismen die Praxis nicht mehr mit der Effizienz unterstützen, die die Skala des pragmatischen Rahmens eigentlich erfordert.

Ausdruck, Kommunikation, Bedeutung

Üblicherweise werden Sprachfunktionen entweder mit Gehirntätigkeit assoziiert oder über den Bereich menschlicher Interaktion definiert. Im ersten Fall wird Sprachverstehen, Sprachproduktion, Lese-, Aussprache- und Schreibfähigkeit untersucht. Durch nicht-invasive Methoden versucht der Neuropsychologe aufzuzeigen, wie Erinnerung und Sprachfunktionen mit dem Gehirn zusammenhängen. Im zweiten Fall liegt das Augenmerk auf sozialen und kommunikativen Funktionen, mit zunehmendem Interesse an unterliegenden Aspekten (die oft an Computermodellen durchgespielt werden). Mein Ansatz dagegen verlegt die Sprachfunktionen in den Bereich der praktischen Erfahrung, in die Pragmatik der menschlichen Spezies. Sprachfunktionen werden zuallererst durch Zeichenprozesse verkörpert.

In einem vorsprachlichen Zustand funktionierten Zeichen auf der Grundlage ihrer ontogenetischen Bedingungen. Es waren zurückgelassene Markierungen—Fußeindrücke, Blut aus einer Wunde, Bißabdrücke—, die nur in dem Maß Assoziationen erlaubten, in dem Individuen ihre Entstehung erfuhren oder nachvollzogen. Das Erkennen solcher Zeichen führte zu einfachen Assoziationsmustern wie Aktion und Reaktion, Ursache und Wirkung. Die Erfahrung, daß ein Biß einen Abdruck hinterläßt, ist ein Beispiel dafür. Hinweise auf Gegenstände (abgebrochene Zweige am Weg, Obsidiansplitter an Stellen, an denen Steine bearbeitet worden waren, zurückgebliebene Asche) und Symptome (von Stärke oder Schwäche) sind weniger unmittelbar, aber ebenfalls noch ohne jegliche Intentionalität. Die nichtintentionale Zeichenerfahrung fand mit der Nachahmung ein Ende. Bei nachahmenden Zeichen, die dem Dargestellten ähnlich sein sollen, wird das Zeichen nicht einfach zurückgelassen, sondern gezielt geschaffen mit dem Zweck, mit anderen geteilt zu werden, also mit-zu-teilen.

Die Funktion, die am besten das Zeichen als Hinweis auf seinen Verursacher definiert, ist die Ausdrucksfunktion. Die Kommunikationsfunktion bringt Individuen über die Erfahrung zusammen, an der sie teilnehmen. Die Bedeutungsfunktion schließlich entspricht einer Erfahrung, die Zeichen zum Gegenstand hat und auf der symbolischen Ebene operiert. Diese Funktion versieht das Zeichen mit dem Gedächtnis, das den Prozeß seiner Hervorbringung in der Lebenspraxis einschließt. Die Bedeutungsfunktion verweist auf die selbstreflexive Dimension von Zeichen. Ausdruck und Kommunikation, vor allem aber Bedeutung unterscheiden sich in unterschiedlichen pragmatischen Handlungsrahmen erheblich.

Ausdrucksformen sind gewissermaßen Gleichnisse für individuelle Eigenschaften und persönliche Erfahrung, sie können als Übersetzung dieser Eigenschaften und der Erfahrung, die sie hervorbringt, betrachtet werden. Ein großer Fußabdruck verweist auf einen großen Fuß und bestimmt innerhalb einer begrenzten Erfahrungsskala das lebenswichtige Resultat einer Handlung. Die Ausdrucksformen der gesprochenen Sprache sind durch die Gegenwärtigkeit der Kommunikationspartner gekennzeichnet, deren gemeinsame Raum- und Zeiterfahrung durch Versicherungen wie hier und jetzt ausgedrückt wird. In der Schrift ist die Ausdrucksform an die äußeren Merkmale des Schreiben-Könnens gebunden. Daher schließt die Graphologie auch von den äußeren Erscheinungsmustern auf psychologische Eigenschaften des Schreibers. Die Schriftkultur ist jedoch an derartigen Ausdrucksformen wenig interessiert, wenngleich sie dazu beiträgt und natürlich der Graphologie als Medium dient. Die Schriftkultur fördert Normen und Erwartungen bezüglich des korrekten Schreibens. Diejenigen, die diese Normen verinnerlichen, wissen, daß innerhalb einer auf Schriftkultur beruhenden Praxis die Effizienz der Selbstkonstituierung ganz wesentlich durch eine gleichförmige Arbeits- und Lebenspraxis erhöht wird.

Für die Kommunikations- und Bedeutungsfunktion gilt das gleiche. Gemeinsam ist ihnen eine aufsteigende Skala: Bezeichnungen für Verwandtschaft, für größere Gruppen, Kollektivbezeichnungen, schließlich kraftvolle Ausdrücke, wenn sich der Aktionsradius erweitert und Individuen allmählich mit ihren individualisierenden Merkmalen negiert werden. Bei der Kommunikation wird das noch deutlicher. Familienmitglieder zusammenzubringen ist leichter, als Stämme, Gemeinden, Städte, Länder usw. oder gar die ganze Welt zusammenzuführen. Da aber verfügbare Ressourcen nicht notwendigerweise mit erhöhten Bevölkerungszahlen und schon gar nicht mit wachsenden Bedürfnissen und Erwartungen Schritt halten, ist es entscheidend, kognitive Ressourcen in die Erfahrungen der Selbstkonstituierung zu integrieren. Die an Zeichensysteme gebundene Kommunikationsfunktion erreichte mit den Mitteln der Schriftkultur ihre bis dahin höchste Entwicklung. Neue Erweiterungen der Skala werden neue Effizienzerwartungen mit sich bringen und damit indirekt einen Bedarf an neuen Mitteln, die diesen Erwartungen gerecht werden. Veränderungen—wie der Schritt von vorsprachlichen zu sprachlichen Zeichensystemen, von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit, von der Schriftkultur zu einem Stadium jenseits davon—finden immer nur dann statt, wenn die praktischen Erfahrungen komplexer werden und neue kognitive Ressourcen erschließen. Mit anderen Worten: Wenn die Sprache die Lebenspraxis nicht mehr so trägt, daß die der gegebenen Skala entsprechende Effizienz erreicht wird, werden neue Formen des Ausdrucks, der Kommunikation und des Bedeutens notwendig.

Unser Thema, die zeitliche Bedingtheit eines jeden Zeichensystems, besonders das der Mündlichkeit und der Schriftkultur, ist von diesen Überlegungen in zweifacher Hinsicht betroffen: 1. Sie zeigen, daß die grundlegenden Sprachfunktionen (Ausdruck, Kommunikation, Bedeutung) von pragmatischen Lebenszusammenhängen abhängig sind; 2. Sie zeigen Bedingungen auf, unter denen neue Mittel und Methoden mit größerer Effizienz diejenigen ergänzen oder übertreffen, die in zurückliegenden Praxiszusammenhängen entstanden waren. Wir haben im einzelnen zeigen können, wie Lebenspraxis, Selbstkonstituierung und Identitätsbildung in der Menschheitsentwicklung einhergingen mit der Entwicklung von immer differenzierteren und abstrakteren Zeichensystemen, die schließlich in der Schriftkultur und den aus ihr hervorgehenden Errungenschaften im Produktionsbereich, im sozialen, politischen und künstlerischen Leben sowie in Bildung und Freizeit gipfelten.

Die Entwicklung von Sprachen auf noch höheren Ebenen und von Mitteln zur Visualisierung, Animation, Simulation und Modellierung bringt heutzutage weitere Veränderungen mit sich. Wir werden ihre Bedeutung für unser Leben jedoch nicht verstehen können, wenn wir uns nicht vergegenwärtigen, was sie notwendig gemacht hat. Das heißt, wir müssen uns wieder mit dem Menschen und seiner dynamischen Entfaltung befassen. Dazu müssen wir zuallererst die Beziehung zwischen der Struktur der Kultur, innerhalb derer Zeichensysteme, Schriftkultur und Bildung und darüber hinausgehende Mittel zu identifizieren sind, und der Struktur der Gesellschaft, innerhalb derer sich die Interaktion zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Gesellschaft vollzieht, verstehen. Ansonsten geben Erklärungsmodelle jedweder Art keinen Sinn. Wir gehen von folgender Voraussetzung aus: Da nicht einmal die Väter des behavioristischen Modells davon ausgingen, daß die Ursprünge unseres Verhaltens in uns selbst liegen (Skinner hat das in einem Interview kurz vor seinem Tod noch einmal dargelegt), dürfen wir die zu einer Gemeinschaft findenden Individuen als Ort menschlicher Interaktion definieren. Dabei wirkt Sprache lediglich als eine Integrationskraft unter anderen. Wir haben gesehen, wie der Übergang vom Natur- zum Kulturzustand, der seinen Höhepunkt in der Schriftkultur erreichte, einen Wechsel in der Welterfahrung und im Verhältnis des Menschen zur Welt bewirkte. Heute sehen wir uns einem Umbruch ausgesetzt, der auf eine Lebensform jenseits der Schriftkultur hinsteuert—gekennzeichnet durch vielfältige Schichten der Vermittlung und Vermitteltheit, Konfiguration, Nichtlinearität, Aufgabenverteilung und durch Meta-Sprache. In diesem Prozeß verändert sich die Funktionsweise der Sprache ebenso wie der Mensch, der sich in grundlegend neuen Erfahrungszusammenhängen und Praxisformen neu konstituiert.

Die Gedankenmaschine

Das Funktionieren der Sprache kann weder in Rotationen pro Sekunde oder in verarbeiteten Rohstoffmengen noch mit unseren neuen Maßeinheiten von Bits, Bytes, Flops und dergleichen ausgedrückt werden. Die Produkte der Sprache (um in der Maschinenmetapher zu bleiben) sind Ausdrucksformen, Informationsaustausch und Wertungen. Noch wichtiger aber ist ein anderes Produkt, das den kognitiven Aspekt menschlicher Selbstkonstituierung bestimmt: Gedanken und Vorstellungen.

Wir haben gezeigt, wie sich Sprache von ihrer Bindung an individuelle Erfahrung loslöste, wie diese Entwicklung Interaktionsformen und Handlungsmuster beeinflußte und wie sich schließlich die verschiedenen Notationsformen aus einer erweiterten Erfahrungs- und Interaktionsskala heraus zur Schrift hin entwickelten, die ihrerseits einen ganzen Satz von linearen Konventionen bewirkte.

Die Umstände, die das Entwickeln und Verstehen von Gedanken ermöglicht haben, ließen den Menschen als einzigartige Spezies unter allen Lebewesen hervortreten. Gedanken, wie komplex sie auch ausfallen, beziehen sich auf Weltzustände: auf die physische, biologische oder räumliche Wirklichkeit, die in der Selbstkonstituierung des Individuums verkörpert ist. Sie beziehen sich ferner auf die Geisteszustände derer, die die Gedanken formulieren. Gedanken sind Symptome der menschlichen Selbstkonstituierung und damit zugleich der Sprachen, die die Menschen in der Praxis entwickelt haben. Wir wollen der Frage nachgehen, ob zwischen Schriftkultur und dem Entwickeln und Verstehen von Gedanken ein innerer Zusammenhang besteht oder ob Gedanken auch auf andere als schriftsprachliche Weise, etwa in Zeichnungen oder den heutigen multimedialen Systemen formuliert und verstanden werden können.

Die Menschen drücken sich durch ihre Zeichensysteme nicht nur anderen gegenüber aus, sie hören sich auch zu und blicken sich an. Sie sind gleichzeitig Sender und Empfänger. Beim Sprechen folgen die Zeichen in einer Serie von selbstkontrollierten Abfolgen aufeinander. Neue Ausdrucksformen entstehen (Synthese), indem das verfügbare Wissen auf eine neue, den neuen lebenspraktischen Erfahrungen angemessene Weise geordnet wird; dieser Prozeß unterliegt der beständigen Selbstkontrolle.

Präverbale und subverbale unartikulierte Sprachen (auf der Signalebene von Geruch, Berührung, Geschmack oder die kinetischen und proxemischen Sprachtypen) definieren Empfindungen unmittelbar bzw. über rudimentäre Kontexte. Das Verhältnis von artikulierter Sprache zu unartikulierten subverbalen Sprachen zeigt sich auf der Ebene der natürlichen wie auch der soziokulturellen Tätigkeiten. Hierfür ein Beispiel: Unter den Bedingungen, die allmählich zur Sprache hinführten, war das Olfaktorische als Geschmackskontrolle in seiner Bedeutung Sehen und Gehör vergleichbar. Dies änderte sich, als an die Stelle der unmittelbaren Erfahrung die sprachlich vermittelte Erfahrung trat. Im lebenspraktischen Zusammenhang der Schriftkultur verlor der Geruchssinn gänzlich an Bedeutung. Biologische Kommunikationsformen wurden eingeschränkt, immaterielle, nicht an Substanzen gebundene Kommunikation nahm im gleichen Maße zu. Gewiß können Gedanken im strengen Wortsinn nicht durch Geruch ausgedrückt werden. Dennoch beeinflussen Geruchs-, Geschmacks- und andere Sinneserfahrungen Bereiche der Lebenspraxis, die jenseits von Schriftlichkeit liegen.

Schrift und der Ausdruck von Gedanken

Als das Sprechzeichen ein Sprachzeichen (Alphabet, Wörter, Sätze) wurde, gewann der oben skizzierte Prozeß an Tiefe. Das konkrete (geschriebene, stabilisierte) Zeichen leistete seinen Beitrag bei der Verallgemeinerung von Erfahrung—mittels der Abstraktheit seiner Linien, Formen und Verknüpfungen, Ton, Wachs und Pergament oder irgend einem anderen Träger. Die Abfolge individueller Zeichen (Buchstaben, Wörter) verwandelte sich in das Zeichen für das Allgemeine. Jahrhundertelang war die Schrift nur ein Behälter für Sprache, nicht operationelle Sprache. Damit widersprechen wir nicht der noch immer umstrittenen Sapir-Whorf-Hypothese von der Beeinflussung des Denkens durch die Sprache. Wir wollen lediglich klarstellen, daß der aktive Einfluß auf das Denken nicht unmittelbar von der Sprache, sondern von einer Abfolge von praktischen Erfahrungen ausging. Hätte es ein Gerät gegeben, die mündliche Sprache aufzuzeichnen, dann hätte die Verwendung von Schrift und die Notwendigkeit von Schriftkultur ziemlich sicher andere Formen angenommen.

Die Menschen gehen mit Zeichensystemen nicht um wie mit Maschinen oder mit irgendwelchen Teilen, die man ansammelt und weglegt. Sie waren stets ihre eigenen Skripte und vollzogen in Form von Notationen tatsächliche oder mögliche Erfahrungen. Das hebräische Alphabet begann als Kurzschrift aus Konsonanten, die die Schreiber als Wortwurzeln auf Pergament brachten. Für die begrenzte Skala und gemeinsame Lebenspraxis reichte diese Kurzschrift völlig aus. Die Hieroglyphen der Maya, die mesopotamischen Ideogramme und alle anderen uns bekannten Notationen verfolgten denselben Zweck: Hinweise zu geben, damit andere die Sprache wiederaufleben lassen konnten. Eine erweiterte Skala und weniger homogene Erfahrungen veranlaßten die hebräischen Schreiber, diakritische Zeichen zur Andeutung von Vokalen zu ergänzen. Ebenso veränderte sich die Schrift der Mesopotamier und Sumerer mit veränderten pragmatischen Rahmen.

Daß das Schreiben zu den Erfahrungen menschlicher Selbstkonstituierung gehört, die sich in der Struktur der Gedanken widerspiegelt, könnte ohne einen Blick auf die biologische Komponente vielleicht nicht überzeugen. Derrick de Kerkhove hat darauf hingewiesen, daß alle von rechts nach links geschriebenen Sprachen nur Konsonanten verwenden. Die kognitiven Lesemechanismen, die man zu ihrer Entzifferung braucht, unterscheiden sich also von denen, die man zur Entzifferung von Sprachen mit Vokalen benötigt, die von links nach rechts geschrieben werden. Als die Griechen die ursprünglich konsonantischen Alphabete der Phönizier und Hebräer übernahmen, ergänzten sie diese um Vokale und veränderten die Schriftrichtung—zunächst in Form des pflugartig in beide Richtungen verlaufenden Bustrophedon. Später dann bekam die Schrift ihre gleichförmige Richtung, die einer auf Sequentialität ausgerichteten kognitiven Struktur entsprach. Dementsprechend veränderte sich die Funktionsweise der griechischen Sprache. Die im Kontext der vorsokratischen und sokratischen Dialoge stehenden Gedanken haben einen deutlich deduktiven, spekulativen Charakter im Gegensatz zum analytischen Diskurs der schriftlich verfaßten späteren griechischen Philosophie.

Der Zusammenhang von Denkstruktur und Schriftstruktur läßt sich auch an den Vorurteilen gegenüber der Linkshändigkeit ablesen, die in vielen Sprachen und den von ihnen geformten Denkweisen verbreitet sind. Rechts (Hand und Richtung) scheint eindeutig bevorzugt zu sein: Wir bezeichnen Dinge als richtig (englisch right), im Deutschen sind Recht und Richter etymologisch damit verwandt; wir erledigen Dinge mit der rechten Hand und bevorzugen die rechte Seite. Vorstellungen von dem, was richtig oder gerecht ist, die Menschenrechte und vieles andere stehen in diesem etymologischen Zusammenhang. In unseren von Rechts beherrschten Denk- und Handlungsweisen ist dementsprechend die linke Hand negativ konnotiert mit Schwäche, Unfähigkeit und sogar Sünde. (Beim Jüngsten Gericht müssen die Sünder zur Linken Gottes stehen.) Der in diesen Verhältnissen zum Ausdruck kommende Symbolismus würde eine nähere Untersuchung verdienen; in unserem Zusammenhang ist es indes interessant zu vermerken, daß die Dominanz des Rechten in Schrift, Schriftkultur und Bildung verblaßt. Die Effizienz einer auf dieser Norm gründenden Praxis reicht nicht mehr aus, um den an globale Handlungsräume gerichteten Effizienzerwartungen zu genügen. Dieser Prozeß steht im Zusammenhang mit allgemeinen Erfahrungen, in denen Schrift zunehmend durch viele Teilschriften ersetzt wird, die ein Stadium jenseits der Schriftkultur kennzeichnen.

Da Gedanken im Akt des Sprechens entstehen, hängt ihre Verbreitung und Bewertung von der Tragbarkeit des Mediums ab, in dem sie ausgedrückt werden. Mit dem Aufkommen der Schrift war die Verbreitung der Sprache nicht mehr an die Mobilität ihrer Sprecher gebunden. Die in der Schrift ausgedrückten Gedanken konnten außerhalb ihres Entstehungszusammenhangs geprüft werden. Damit fallen die Funktion der Verbreitung durch Sprache und der Bewertung in der Lebenspraxis zusammen. Einer Tafel, einer Papyrusrolle, einem Kodex, einem Buch oder einem digitalen Vergleich ist gemeinsam, daß sie praktische Erfahrungen aufzeichnen; aber nicht das, was ihnen gemein ist, erklärt ihre Effizienz, sondern die in den gegebenen Zusammenhängen gefundene Verbreitungsform, die in der alles durchdringenden und global präsenten Form der digitalen Aufzeichnung ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Für den Zugang zum in den elektronischen Netzwerken gespeicherten Wissen benötigen wir nichts weiter als ein Password. Damit lösen wir uns von den bekannten Raumund Zeitkoordinaten. In diesen erweiterten Parametern kann die Schiftkultur nicht mehr alle Erwartungen erfüllen. Der Bereich, in dem sich die Alternativen zur Schriftkultur herausbilden, begründet das Stadium jenseits der Schriftkultur.

Zukunft und Vergangenheit

Müssen wir schriftkulturell gebildet sein, um die Zukunft behandeln zu können? Und umgekehrt, ist Geschichte und Geschichtsverständnis das Ergebnis von Schriftlichkeit? Und ist beides Voraussetzung für das Verständnis der Gegenwart? Diese Fragen beschäftigen uns heute mehr denn je. Wir wollen uns zunächst der Zukunft zuwenden, denn an dieser Frage können wir ablesen, welche Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit ihr gegeben sein müssen.

Vorahnung ist die natürliche Form einer diffusen Zeiterfahrung.
Diese Erfahrung kann mehr oder weniger unmittelbar sein. Sie richtet
sich nicht vom Jetzt auf das Gewesene (wie es vielleicht im
Gedächtnis gespeichert ist), sondern auf das Mögliche (etwas ein
Zeichen bevorstehender Gefahr in der natürlichen Umwelt).
Hinweisende Zeichen, d. h. indexikalische Zeichen, solcher Art sind
Fußabdrücke, Federn, Blutflecken. Sprache macht Vorahnung und Gefühl
explizit, wenn auch nicht vollkommen. Sie überträgt akkumulierte
Zeichen (Vergangenheit) in eine Sprache des Möglichen (Zukunft).
Wenn wir die Vergangenheit rekonstruieren, erkennen wir, daß jedes
Vergangenheitsstadium einmal eine Zukunft gewesen ist.

Wenn wir bedenken, wie sich unsere Gegenwart in die Zukunft hinein entfaltet, dann sehen wir schnell, daß mit zunehmenden Möglichkeiten die Zukunft in ihren Einzelheiten immer weniger bestimmt und bestimmbar wird. Weder die unkritischen Befürworter der neuen Technologien, noch die ausschließlich in der Schriftkultur verhafteten Politiker und Pädagogen haben das begriffen. Beide Gruppen verstehen offenbar nicht, wie sich Zukunft in unserer Sprache—oder einem anderen Zeichensystem—in Form von Plänen, Vorhersagen oder Antizipationen artikuliert.

Jeder Gedanke drückt eine praktische Erfahrung und die kognitive Leistung aus, den direkten Eindruck zu verallgemeinern. Einmalige Artikulationen auf der Signalebene und ideographische Schrift erwachsen aus Erfahrungen, die auf der pragmatisch-affektiven Existenzebene liegen. Rufe und Schreie oder in Bildern ausgedrückte Ähnlichkeiten tragen keine Gedanken und gehen kaum über die unmittelbare Empfindung hinaus. Gedanken ergeben sich aus der Erfahrung auf der pragmatisch-rationalen Ebene. Sprache kann dabei als Medium dienen, Pläne explizit zu machen. Zeichnungen, Diagramme, Modelle und Simulationen können durch Sprache beschrieben werden. Bevor die Menschen ihre Zukunft verschriftlicht haben, haben sie sie versprachlicht, und zwar auch mithilfe anderer Zeichen: mit Körperbewegungen, Gegenständen, die Gefahr und damit Furcht andeuten, und erfolgreichen Handlungen, die Zufriedenheit signalisieren. Mit der Übertragung auf Tontafeln und Papyrus erhielt die auf die Zukunft gerichtete Sprache einen anderen Status—sie verlor die Flüchtigkeit der ursprünglichen Laute und Gesten. Schrift begleitet Handlung und überdauert die darin gemachte Erfahrung. Damit umgab das geschriebene Wort eine Aura, die Laute, Gesten oder auch Kunstgebilde nie erlangen konnten. Auch Wiederholungsmuster, das wesentliche Strukturmerkmal von Ritualen, vermochten nicht in dem Maße wie die Schrift die Empfindung von Dauerhaftigkeit zu vermitteln. Gordon Childe stellt in diesem Zusammenhang fest: "Die Verewigung des Wortes in der Schrift muß als übernatürlicher Prozeß empfunden worden sein; es mußte magisch anmuten, daß ein längst Verstorbener noch immer von einer Tontafel oder einer Papyrusrolle sprechen konnte."

Im religiösen Zusammenhang verlagert sich die Aura vom Magisch-Mythischen (übermittelte Hinweise für erfolgreiches Handeln) zum Mystischen (eine übernatürliche Autorität als Hinweisquelle). Auch die Organisation des gesellschaftlichen Lebens erwies sich ohne Dokumente mit Vorschriftscharakter als wenig effektiv. Die ersten überlieferten Dokumente aus dem alten China tragen dieser Einsicht Rechnung, gleiches gilt für Hindu, Hebräer und Griechen sowie für viele nachfolgende, oft am Römischen Imperium orientierten Zivilisationen.

Natürlich setzt die Verwendung von Sprache für die Regelung des Gemeinwesens nicht zwangsläufig Schriftlichkeit voraus. Dies gilt für Vergangenheit und Gegenwart. Es gab Zeiten, in denen man nur von Fremden den Erwerb von Schreib- und Lesekenntnissen erwartete. Dem lag eine praktische Einsicht zugrunde: der Fremde fand auf diese Weise Zugang zu den ihm ungewohnten Sitten der einheimischen Bevölkerung. Mit der Abgabe von Versprechen—die sich ja stets auf Zukünftiges richten—wurde das soziale Leben zunehmend verschriftlicht, wenngleich auch dann die Besiegelung oft mündlich erfolgte, wie die Eidesformeln und -gesten bis in die heutige Zeit zeigen. Mit all dem wurden lineare Beziehungen von Ursache und Wirkung festgehalten und als Maßstab (der Rationalität) in die Zukunft projiziert.

In unserer heutigen Gesellschaft wird die für die Vergangenheit charakteristische Sprache als Dekorum verwendet. Eine globale Skala und die gesellschaftliche Komplexität finden in linearen Beziehungen nicht mehr ihren angemessenen Ausdruck. Infolgedessen ist die Schriftlichkeit der Schriftkultur zukünftig nicht nur eine unter vielen anderen Sprachen, sondern vielleicht sogar ungeeignet für die effiziente Artikulation von Zukunftsplanungen. Fast alle, die sich heute mit solchen Planungen befassen, arbeiten mit mathematischen Modellierungen und Computersimulation. Die Arbeitsergebnisse beanspruchen immer weniger Text und werden in dynamischen Modellen abgebildet, die global verfügbar sind. An die Stelle von Linearität treten nicht-lineare Beschreibungen der zahlreichen miteinander verknüpften Faktoren. Selbstkonfiguration, Parallelismus und verteilte Strategien kommen zum Ausdruck bei Simulationen der Zukunft.

Die Geschichte allerdings hat ihren Ursprung eindeutig in der Schrift. Sie ergibt sich aus der Beschäftigung mit universell verfügbaren Aufzeichnungen, mithin innerhalb des Universums der Schriftkultur. Wir wissen nicht, ob eine Grammatik die Sprache in ihrem geschichtlichen Werden zusammenfassend darstellt oder das Programm für ihre zukünftige Verwendung entwirft. Grammatiken gibt es in verschiedenen Kontexten, offenbar weil der Mensch die einzelnen Stimmen innerhalb einer Sprache verifizieren möchte. Aus dem gleichen Anlaß gibt es Geschichtsdarstellungen: weniger um irgendeiner historischen Größe Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als vielmehr um einen Zusammenhang aus den Quellen herzustellen, um sie in einer Stimme sprechen zu lassen und den Zusammenhang zu erschließen, aus dem sie entstanden sind.

Die Zukunft und die Selbstkonstituierung des Menschen in neuen pragmatischen Zusammenhängen stehen in direkter Verbindung; die Vergangenheit hängt indirekt mit der praktischen Erfahrung zusammen. Das verbindende Element für die verschiedenen auf die Zukunft gerichteten Perspektiven liegt in der neuen Erfahrung. In Ermangelung einer solchen verbindenden Perspektive wird Geschichtsschreibung zum Selbstzweck, ungeachtet der Kraft, die von Beispielen ausgeht. Seit dem frühen Mittelalter reichten schriftliche Aufzeichnungen und die analytische Kraft der Sprache für die Geschichtsschreibung und die Schärfung des Geschichtsbewußtseins aus. Als sich die Methoden der Geschichtsforschung differenzierten, möglicherweise im Zusammenhang mit der Lebenspraxis, ergaben sich neue Perspektiven. Einige waren ganz praktisch ausgerichtet: Welche Pflanzen wurden in primitiven Gesellschaftsformen verwendet? Wie war die Wasserversorgung geregelt? Wie ging man mit den Toten um? Andere hatten politische, ideologische oder kulturelle Grundlagen. Aber in allen diesen aus der Lebenspraxis hervorgehenden Fällen entzog sich die Geschichte mehr oder weniger den Beengungen der Schriftkultur.

Spracharchäologie, Anthropologie und besonders Paläoanthropologie sowie Computergeschichte sind nur einige Beispiele für neue Bereiche der Geschichte und Geschichtsschreibung, die neue Formen jenseits der Schriftkultur annehmen. Sie sind gekennzeichnet durch neue Arbeitsmittel wie Elektronenmikroskop, Computersimulation, Modellierung künstlichen Lebens und Forschungsergebnisse zur künstlichen Intelligenz oder Genetik. Die Memetik untersucht die Seinsform von Gedanken und deren Bewußtwerdung, sie bezieht sich auf Vergangenheit und Zukunft. Sie entwickelte sich aus der Genetik und trägt die Kennzeichen eines Darwinschen Mechanismus. Sie wurde zum Schlüsselbegriff für eine Generation, die ohne jeglichen Geschichtsbezug war und sich nicht minder von einer Zukunft bedroht sah, die allzu schnell auf sie hereinbrach. Technologische Umsetzungen der Memetik (das sogenannte memetic engineering oder die Memetiktechnologie) bezeugen Effizienzerwartungen, die die Geschichte des Zeitalters der Schriftkultur niemals beschäftigte oder auch nur anerkennen wollte.

Es sieht also ganz so aus, daß die relativierte Bedeutung der Schriftkultur und der an sie geknüpften Ideale von Universalität, Dauerhaftigkeit, Hierarchie und Determinismus und das gleichzeitig zu verzeichnende Aufkommen vieler Schriftlichkeiten, mit den wiederum an sie geknüpften Haltungen der Begrenztheit, Flüchtigkeit, Dezentralisierung und des Indeterminismus parallel verlaufen zu der abnehmenden Bedeutung von Geschichte und dem Aufkommen vieler Spezial-(oder Teil-)geschichten. Der Hypertext ersetzt den diskursiven Text und ruft eine neue Welt von Verbindungen ins Leben. Diese neuen Verknüpfungen zwischen genau definierten Bereichen der historischen Aufzeichnung verweisen auf eine Realität, die sich der fortlaufenden, zusammenhängenden Darstellung einer einheitlichen Geschichte entzieht; sie sind aber für die Gegenwart relevant. Der spezialisierte Historiker berichtet nicht einfach über die Vergangenheit, sondern über jene spezifischen Aspekte der menschlichen Selbstkonstituierung in der Vergangenheit, die für den heutigen Erfahrungsrahmen bedeutsam sind. Bisweilen scheint es, als erfänden wir die Vergangenheit stückweise aufs Neue, nur um die gegenwärtige Lebenspraxis zu unterstützen und das Bewußtsein von der Gegenwart zu stärken. Die Sequentialität und Linearität jenes pragmatischen Rahmens, der Sprachen erst entstehen ließ und zu einem späteren Zeitpunkt Schriftkultur und Geschichtsbewußtsein notwendig erforderte, sind nun durch Nicht-Sequentialität und nichtlineare Beziehungen ersetzt, die auf die heutige Skala des menschlichen Daseins besser zugeschnitten sind. Sie erweisen sich zudem für die komplexen Formen heutiger menschlicher Selbstkonstituierung als besser geeignet.

Als Eintrag in einer Datenbank (von enormem Umfang) verbreitet die Vergangenheit noch immer ihre romantische Aura, aber sie richtet sich auf Gegenwart und Zukunft. Eine Position außerhalb der Schriftkultur, wie sie sich zum Beispiel in der Unkenntnis der einen großen Erzählung (story) von der Geschichte (history) äußert, resultiert nicht aus Unkenntnis im Lesen und Schreiben. Sie ist auch nicht auf schlechte Geschichtslehrer oder Geschichtsbücher zurückzuführen, wie manche glauben. Sie ergibt sich daraus, daß unsere neuen praktischen Erfahrung der Selbstkonstituierung von den Erfahrungen der Vergangenheit abgetrennt sind.

Wissen und Verstehen

Das Verhältnis von Wissen und Verstehen ist vermutlich einer der wichtigsten Aspekte unserer gegenwärtigen Lebenspraxis. Wir sind in viele Tätigkeiten eingebunden, ohne die Abläufe wirklich zu verstehen. Die e-mail erreicht uns und diejenigen, an die wir unsere Nachrichten versenden, und die wenigsten verstehen, was sich dabei im einzelnen abspielt. Unser Postsystem war leichter zu verstehen. Den Weg einer e-mail-Nachricht zu bestimmen, ist für eine programmierte Maschine trivial, für einen Menschen fast unmöglich. Mit zunehmender Komplexität unserer Tätigkeiten nimmt die Wahrscheinlichkeit, daß die darin eingebundenen Menschen sie und die wirkenden Mechanismen verstehen, rapide ab. Dadurch wird die Effektivität der Tätigkeit keineswegs geschmälert.

Das gilt mittlerweile für eine ganze Reihe von Tätigkeiten in der außerhalb der Schriftkultur stehenden Lebenspraxis. Trotz komplexer diagnostischer Hilfsmittel ist—aufgrund spezifischer Eigenschaften der zu vollziehenden Tätigkeit—der eine Arzt besser als der andere; trotz Automatisierung vieler Bereiche des Berufslebens—Buchführung, Steuererklärung, Design und Architektur—führen irgendwelche Merkmale der zu verrichtenden Tätigkeiten dazu, daß die Leistung bestimmter Menschen besser ist als die fortschrittlichste Technologie. Obwohl manche Manager nahezu nichts von den Produkten ihrer Firma verstehen, kennen sie die Marktgesetze so gut, daß ihre Arbeit stets mit Erfolg gekrönt ist, was immer sie auch vermarkten. Diese Manager bewegen sich im Erfahrungsraum einer Sprache—der Sprache des Marktes, nicht des Produktes. Wir wollen uns daher die Evolution von Wissen und Verstehen im Rahmen verschiedener aufeinander folgender pragmatischer Handlungsrahmen etwas näher anschauen, insbesondere die Rolle, die die Sprache als vermittelndes Element in jedem dieser Rahmen gespielt hat.

Das Sprachzeichen besteht aus der kontradiktorischen Einheit von phonetischen und semantischen Elementen. Innerhalb einer begrenzten Erfahrungsskala war Schriftkultur und Bildung gleichbedeutend mit dem Wissen davon, was sich hinter einem Wort verbarg, mit der Fähigkeit, es aufleben zu lassen oder gar, dem Wort neues Leben zu verleihen. Mit der Erweiterung der Skala nahm man das, was sich hinter einem Wort verbarg, als selbstverständlich und vorgegeben. Das setzt voraus, daß Wörterbücher als Bestandsverzeichnisse unserer Sprache, also auch die persönlichen Wörterbücher, kongruent sind. Das Erlernen einer Sprache beschränkt sich nicht darauf, deren Ausdrücke auswendig zu lernen. Der einzig erfolgreiche Weg liegt darin, eine Sprache zu leben. Mit dem durch die Sprache erworbenen und ausgedrückten Wissen stellt sich Verstehen ein.

Der Mensch kommt nicht ohne Erfahrung auf die Welt. Wichtige Bestandteile der Erfahrung sind biologisch veranlagt. Andere werden durch beständige Interaktion vermittelt, besonders durch gegenseitiges Verstehen. Wir haben an der abnehmenden Bedeutung des olfaktorischen Elements zeigen können, daß die Menschen durch die evolutionären Zyklen bestimmt sind. Mit dem Rückgang der sinnlichen Erfahrung verringerten sich auch die an die sinnliche Wahrnehmung gebundenen Kenntnisse. Ähnlich gilt, daß Sprachleistungen aus dem Leben und Ausüben einer Sprache hervorgehen. Das Existieren als Sprache, die Anbindung des einzelnen an die Welt durch Sprache, ist Voraussetzung dafür, sie zu kennen und zu verstehen. Die Sprache unserer natürlichen Umwelt ist nicht-verbal; sie artikuliert sich auf der Ebene der elementaren, von außen veranlaßten Empfindungen, die sich einstellen, wenn der Mensch seine Umwelt zu beherrschen oder verändern versucht. Nach derartigen Erfahrungen erlebt der Mensch die Welt als stabilisierte Bedeutung: Wolken können Regen ankündigen, Donner Feuer verursachen; fliehendes Wild verrät die Jäger, Eier in einem Nest deuten auf Vögel hin. Die Komplexität unserer Bemühungen, die Welt zu meistern, nahm im Lauf unserer Entwicklung ständig zu. So sind die Tätigkeiten in einem Lebensrahmen, der die Schriftkultur entstehen ließ, von einem anderen Komplexitätsgrad als die der Industriegesellschaft und die unserer heutigen Zeit.

Zwischen den Sinnen und der Sprache—und daher auch zwischen nichtverbalen und verbalen Sprachen—sind zahlreiche Einflüsse wirksam. Wörter bringen kognitive Bedingungen mit sich, die sich von Sinneseindrücken unterscheiden und die anders verarbeitet werden. Die Sprache fügt der Sinnesinformation eine intellektuelle Information hinzu, und zwar hauptsächlich in Form von Assoziationen, die das Gegenwärtige und das Nicht-Gegenwärtige umfassen können. Interessanterweise wissen wir nicht alles, was wir verstehen; und ebenso verstehen wir nicht alles, was wir wissen. Wir können zum Beispiel wissen, daß sich in der nichteuklidischen Geometrie Parallelen treffen. Oder wir wissen, daß Wasser, eine Flüssigkeit, aus Wasserstoff und Sauerstoff, also aus zwei Gasen, besteht. Oder auch, daß der Gebrauch von Drogen zu Abhängigkeit führen kann. Und dennoch verstehen wir nicht unbedingt die näheren Umstände, Abläufe und Zusammenhänge.

In der Schriftkultur gehen wir davon aus, daß wir, wenn wir etwas schreiben können, es automatisch kennen und verstehen. Und sollte sich zeigen, daß unser Wissen unvollständig, zusammenhanglos oder nicht dauerhaft, daß es in irgendeiner Weise gestört ist, können wir es durch Lektüre vervollständigen oder durch Vergleich mit dem Wissen anderer zusammenhängender gestalten. Die Dauerhaftigkeit und Stabilität von Schrift und Schriftkultur kann sich allerdings auch als Hemmschuh erweisen, den wir in relativ stabilen Kontexten zunächst nicht oder nur selten als Nachteil erfahren. Mit gesteigerten Effizienzerwartungen verkürzen sich indes die Zyklen unserer Tätigkeit. Die größere Intensität, die Variabilität unserer Interaktionsstrukturen und die extrem arbeitsteilige Natur unserer Einbindungen in die Praxis erfordern variable Bezugsrahmen für Wissen und Verstehen. In diesen veränderten Merkmalen unserer Lebenspraxis zeichnet sich vermehrt ein Hang zu Zweioder Mehrdeutigkeit im Sprachgebrauch ab. In Literatur und Theater akzeptabel und angemessen, im politischen und diplomatischen Leben zweifelhaft, beeinflußt ein solcher Sprachgebrauch nunmehr die schriftliche Abfassung von Gedanken und Plänen, die sich auf moralische Werte, politische Progamme und wissenschaftliche oder technologische Ziele beziehen.

Die oben erwähnten veränderten Umstände unserer Lebenspraxis erfordern auch, daß wir für den Erwerb und die Verbreitung von Wissen andere als nur sprachliche Mittel und deren schriftliche Funktionsweise einbeziehen. Ein Wissen, das sich schnell verändert, kann besser mit Mitteln erworben werden, die dieser Dynamik entsprechen. Auch diese Mittel—interaktive Multimedien, Programme zur virtuellen Realität oder genetische Computermodellierung—verändern sich; damit aber impliziert die Erfahrung des Wissenserwerbs die Einsicht in den transitorischen Charakter jener Mittel, die das Wissen speichern und darbieten. Es gibt heute viele Tätigkeiten, deren Wissensgrundlage nicht mehr die traditionellen Mittel einschließlich der schriftkulturellen Vermittlung und Bildung sind. Moderne Gehirnchirurgie auf neuronaler Ebene, Entwicklung immenser weltweiter Netzwerke als Grundlage für e-mail, Weltraumforschung und memetic engineering, hochspezialisierte Kanäle des Verstehens und eine Unmenge weiterer hocheffizienter Tätigkeiten auf einer bis vor kurzem noch nicht verfügbaren Wissensgrundlage kennzeichnen den Handlungsrahmen eines Entwicklungsstadiums jenseits der Schriftkultur.

Eindeutig, zweideutig, mehrdeutig

Es gibt mindestens 700 künstliche Sprachen. Hinter jeder von ihnen steht eine praktische Erfahrung, deren Anforderungen die natürliche Sprache nicht ausreichend genügen konnte. Eine dieser Sprachen setzt sich mit den Vorurteilen bezüglich Links- und Rechtshändigkeit auseinander, eine andere versucht, die geschlechtsspezifischen Vorurteile umzukehren, wieder eine andere ist nach ästhetischen Prinzipien konstruiert. Es gibt literarische Kunstsprachen: Tolkiens Elfisch, die Sprache der Klingons in Star Trek oder das Nadsat in Burgess Uhrwerk Orange. Oder es gibt wissenschaftlich begründete Ansätze: logische Sprachen, an wissenschaftlichen Klassifikationen orientierte Sprachen. Auch die in der Vergangenheit entwickelten künstlichen Sprachen orientierten sich offenkundig an pragmatischen Funktionen: die von Ramon Llul für Missionare entwickelte Ars Magna oder Hildegard von Bingens aus dem klösterlichen Leben erwachsene, aber weit über rein liturgische Funktionen hinausgehende Lingua Ignota.

Sie alle versuchen auf ihre Art, die Leistung der Sprachfunktionen zu verbessern. Einige verfolgen das Ziel, die Grenzen zwischen den Sprachen zu überwinden; andere sollen eine bessere Beschreibung und damit eine bessere Beherrschung der Welt ermöglichen. Ihnen allen liegt die Erkenntnis zugrunde, daß die Sprache nicht ein neutrales Ausdrucks-, Kommunikations- und Bedeutungsmittel, sondern mit allen Eigenschaften unserer Lebenspraxis einschließlich ihrer Vorurteile aufgeladen ist. Deshalb beanspruchen sie, allgemein oder in speziellen Bereichen ein besseres Bild von der Welt zu bieten. Ungeachtet ihrer Ziele und ihres Erfolgs erlauben uns diese Sprachen, die kognitiven Bedingungen und ihren Beitrag zur Effizienzsteigerung in unserer Lebenspraxis genauer zu untersuchen.

Die erhöhte expressive Kraft in den erwähnten literarischen Kunstsprachen ist dabei noch relativ leicht nachzuvollziehen. Sie gelten als literarische Konventionen, sind Teil der ästhetischen Erfahrung und Bestandteil der Schriftkultur. Sie erstreben keine Präzision, sondern Ausdrucksdichte und sind auf eine sublime Art mehrdeutig. Präzision wird man eher in logischen Sprachen oder in den Programmiersprachen für Computer finden. Programmiersprachen wie Cobol, Fortran, C, C++, Lisp oder Java werden auf Wegen verbreitet, die sich den Ansprüchen von Schriftlichkeit und Schriftkultur widersetzen; sie erfüllen höchste Effizienzerwartungen und sind wegen ihrer Funktionalität anerkannt. Sie eignen sich zum Abfassen von Gedichten ebensowenig, wie sich die literarischen Kunstsprachen für das Betreiben eines Computers eignen. Sie zeichnen sich aus durch ihre konsequente Eindeutigkeit. In solchen Sprachen können wir die Funktion und die Logik kontrollieren. Sie sind modulartig konzipiert und auf die optimale Erfüllung ihrer Aufgaben angelegt. Zu ihren Funktionen gehören Beweisbarkeit, Optimierung und Präzision. Zu den verwendbaren logischen Formen gehören u. a. die klassische propositionale Logik, die intuitionistische propositionale Logik, die modale Logik und die temporale Logik.

Daneben zeichnet sich noch eine Kategorie von sogenannten kontrollierten Sprachen ab. Eine kontrollierte Sprache ist die Teilmenge einer natürlichen Sprache (begrenzt in Vokabular, Grammatik und Stil), die auf eine bestimmte Tätigkeit hin entworfen ist. Alle erwähnten künstlichen Sprachen orientieren sich an der Funktionsweise der sogenannten natürlichen Sprache mit dem Ziel, die Leistung der Sprachmaschine in irgendeiner Weise zu optimieren. Um diesen Ansatz noch besser zu verstehen, müssen wir genauer darlegen, wie die Sprache die in ihr konstituierten Menschen zur Welt, in der sie leben, in Beziehung bringt. Wir wollen beginnen mit der Entwicklung des Wortes und seiner Beziehung zum Ausdrücken von Gedanken, d. h. mit der Entwicklung vom Eindeutigen (Einszu-Eins-Entsprechung) zum Mehrdeutigen (Eins-zu-Viele-Relation).

Systeme aus eindeutigen Zeichen haben an der Hervorbringung von Gedanken nur geringen Anteil. Als Weiterentwicklung von Signalen sind ursprüngliche Zeichen eindeutig. Federn stammen definitiv nicht von Fischen oder Säugetieren, Blutflecken rühren von Wunden her, Vierfüßer hinterlassen andere Spuren als Zweifüßer. Polysemie (Mehrdeutigkeit eines Zeichens) hat sich erst allmählich entwickelt und zeugt von der Rückwirkung der Bedeutung auf den Bedeutungsträger: Wörter, Zeichnungen, Geräusche usw. Eine Tierzeichnung verweist auf das dargestellte Tier oder auf daran geknüpfte Assoziationen: Fellqualität, Gefahr, Fleisch.

Philosophie und Literatur (und die Künste allgemein) wurden erst auf einer bestimmten Ebene der Sprachentwicklung als Ausdruck einer höher entwickelten Lebenspraxis möglich. Der Philosoph greift zum Beispiel auf die gewöhnliche Sprache (Verbalsprache) zurück, verwendet sie aber auf ungewöhnliche Weise: metasemisch, metaphorisch, metaphysisch. Die antike Philosophie, die wir als Zeugnis für Sprache und Schriftkultur heranziehen, ist noch so metaphorisch, daß man sie als Literatur lesen kann und tatsächlich auch als solche aufgenommen wurde. Die moderne Philosophie (nach Heidegger) hat aufgezeigt, wie die Beziehungen (die sie hervorhebt und behandelt) die Bezugsgegenstände in sich aufgenommen haben. Als formalisierte Argumentation, frei von den Beschränkungen der Schriftkultur und freilich auch weniger expressiv als die im Wort ausformulierte Philosophie und ihre endlosen Interpretationen, hat Philosophie nunmehr ihre eigene Veranlassung und Rechtfertigung entwickelt. Die praktischen Auswirkungen im Rahmen einer Lebenspraxis, die auf anderen als schriftkulturellen semiotischen Funktionsweisen beruht, werden indes zunehmend geringer.

Die Distanz zwischen der Wortform und der Bedeutsamkeit eines Gedankens wird als solche zum Parameter für die Weiterentwicklung vom Natur- zum Kulturzustand. Wörter wie Raum, Zeit, Materie, Bewegung wurden erst möglich durch die Schrifterfahrung. Sobald man sie aber niedergeschrieben hatte, war nichts mehr übrig von der unmittelbaren, vermutlich intuitiven Erfahrung von Raum und Zeit, von Materie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen oder von Bewegung. Visuelle Darstellungen—andere Formen des Schreibens also—sind dem von ihnen Dargestellten näher: die cartesianischen Koordinaten als Darstellung des Raumes, die Uhr als zyklische Zeitauffassung und ähnliches. Sie bringen spezifische Beziehungen in Raum und Zeit oder spezifische Aspekte von Materie oder Bewegung zum Ausdruck.

Das Wort ist im Vergleich zum darin ausgedrückten Gedanken willkürlich. Der Gedanke, geboren aus dem Tun des Menschen, ist in der Naturordnung oder im Denken praktisch offenbartes Wissen. Im Ausdruck des Gedankens treffen rationale Strenge und Expressivität aufeinander. Dieses synthetisierende Herausbilden von Gedanken ist ein wichtiger Fall menschlicher Selbstkonstituierung. Gedanken drücken auch den impliziten Wunsch des Menschen aus, sie zu veräußerlichen (Marcuse sprach von der "imperativen Qualität" des Denkens). In schriftlicher Fassung legen die Wörter indes nicht nur die Flüchtigkeit der Sprachlaute ab, sie werden gleichzeitig offen für potentiell konfligierende Interpretationen. Diese ergeben sich daraus, daß wir Wörter in unterschiedlichen pragmatischen Situationen unterschiedlich verwenden.

In der Schriftkultur gebildet zu sein heißt, die Sprache zu beherrschen, heißt aber auch, in den Erfahrungen der Vergangenheit verhaftet und ihren Regeln unterworfen zu bleiben. Jeder Gedanke ist das Resultat einer Entscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten in einem gegebenen Existenzparadigma. Er findet seine genaue Bestimmung, d. h. seinen Niederschlag als Bedeutung, dadurch, daß er einem pragmatischen Kontext zugeordnet wird. Verändert sich der Kontext, kann der Gedanke bestätigt werden, auf Widerspruch treffen (er wird zweideutig) oder sich vielen Interpretationen öffnen (er wird mehrdeutig). Ein Beispiel: Der Begriff der Demokratie durchlief alle Stadien von seinen ersten Erwähnungen in der griechischen Kultur bis zur liberalen Ausdeutung—und Selbstverleugnung—im Stadium jenseits der Schriftkultur. Er bedeutet eines—die Macht des Volkes—, ist aber kontextabhängig, je nachdem, was man unter Volk verstand und wie man Macht ausübte. In seinen neuen Kontexten bedeutet er so viel Verschiedenes, daß sich manche fragen, ob er überhaupt noch etwas bedeutet.

Schriftkultur bot den geeigneten Rahmen und die angemessenen Mittel zur Kommunikation von Ideen. Wenn aber Ideen in immer schnellerem Rhythmus zum Ausdruck kommen und in immer kürzeren Zyklen von Eindeutigkeit zu Mehrdeutigkeit übergehen, dann wird Schriftkultur und Schriftlichkeit entweder nicht mehr deren praktischer Funktion oder der Dynamik individueller Selbstsetzung gerecht. Es sieht sogar so aus, als würden Ideen als solche, in ihrer Leistung als Mittel menschlicher Projektion, immer weniger wichtig. Was wir einstmals als den Höhepunkt menschlicher Leistungsfähigkeit angesehen haben, betrifft die heutige Gesellschaft immer weniger. Unsere Welt ist beherscht von Methoden und Produkten, und Ideen haben allenfalls kulturelle Bedeutung. Wissen ist heute auf Information reduziert; Verstehen ist lediglich operational. Immer mehr künstliche Sprachen werden entwickelt und zunehmend auf Methoden und Produkte ausgerichtet. In der vernetzten Welt der digitalen Informationsverbreitung brauchen wir kein Esperanto, sondern Sprachen, die die grenzenlose Vielfalt der Geräte und Programme vereinen, mit denen wir unsere neuen Erfahrungen im World Wide Web machen. Auch Effizienz bezieht sich in dieser Welt auf Transaktionen, in die nicht mehr unbedingt Menschen als handelnde Personen eingebunden sind. Innerhalb dessen, was sich als Netconomy etabliert, betreiben unabhängige Agenten, d. h. autonome Programme, die geschäftlichen Transaktionen und maximieren den Profit (weil es jeder wünscht). Diese Agenten sind mit Regeln für Reproduktion, Bewegung und Fairness versehen und können auch kulturell identifiziert werden. Netconomy ist bislang allerdings mehr Verheißung als Wirklichkeit. Das Funktionieren solcher Agenten zeigt uns allerdings, wie die Metapher vom Funktionieren der Sprache in unserer Welt jenseits der Schriftkultur zu ihrer wörtlichen Bedeutung zurückfindet. Die Visualisierung von Gedanken Das mindeste, wofür das geschriebene Zeichen—Wort, Satz oder Text—steht, ist das Sprachzeichen. Allerdings mußte die Schrift eine längere Entwicklungsphase durchlaufen, bevor sie diesen Stand erreicht hatte. In ihren vorsprachlichen Formen hatte die graphische Darstellung ihren Bezugsgegenstand in der Wirklichkeit—sie re-präsentierte das, was nicht präsent war. Das Präsente braucht nicht repräsentiert zu werden. Die Richtung, die der visuellen Repräsentation eingeprägt ist, weist von der Vergangenheit zur Gegenwart. Das, was aufgehoben werden muß, liegt dem Akt der Entfremdung von der Unmittelbarkeit als ursprüngliche Motivation zugrunde. Die frühen Formen der Repräsentation, insgesamt Teil eines recht primitiven Repertoires, besitzen nur Ausdrucksfunktion. Sie bewahren vom Nicht-Präsenten (was nicht gesehen, gehört, gefühlt, gerochen werden kann) die relevante Information für die zukünftigen Beziehungen zwischen Menschen und deren Umwelt auf. Das Bild gehört zur Natur. Mitgeteilt wird die Art des Sehens oder Erkennens, nicht das tatsächlich Gesehene. Der Vollzug des geschriebenen Zeichens hingegen ist nicht Informationsvergabe, die dann zur Verfertigung von Gegenständen führen kann, sondern das, was es bedeutet. Eine relativ geringe Zahl von Zeichen—das Alphabet, Zeichensetzung und diakritische Zeichen—ist an der immanenten Unbegrenztheit der Kompetenz des Schreibens beteiligt.

Wie immer wir menschliches Denken definieren, seine Festlegung hat es erst in der Schrift gefunden. Die in der Schrift festgehaltene Gegenwart verliert ihren Charakter als unmittelbarer Vorgang. Kein geschriebenes Wort ist je zum Vorschein gekommen, das nicht auch geäußert und gehört, d. h. empfunden worden ist. Die Bedeutung (intendierte und zugewiesene) ergibt sich aus der Einrichtung der Sprache in der Lebenspraxis. Nicht zufällig haben sich die räumliche Einrichtung des Menschen (in dörflichen Siedlungsformen) und die Einrichtung der Sprache als Schrift (ihrer Natur nach ebenfalls räumlich) gleichzeitig vollzogen (vgl. Leroi-Gourhan). Eine dritte Komponente gehört allerdings auch in diesen Zusammenhang, nämlich die Sprache von Zeichnungen, die, so primitiv sie auch gewesen sein mögen, bei der Anfertigung von Schutz- und Arbeitsvorrichtungen dienlich waren.

Dieser allgemeine Kontext führte schließlich hin zum großen historischen Moment der griechischen Philosophie, die wir im zeitlichen Zusammenhang sehen müssen mit der Alphabetisierung und im allgemeineren kulturellen Zusammenhang mit der Entwicklung mancherlei handwerklicher Künste, allen voran die Architektur. Sokrates, der das Denken und die Wahrheit im Gespräch suchte, verfocht die Mündlichkeit. Das ist zumindest das Bild, das uns Platon von ihm vermittelt. Die großen Handwerker seiner Zeit teilten diese Einstellung. Zum Bau von Tempeln und der Herstellung von Werkzeugen und anderen nützlichen Geräten war nicht unbedingt Schrift vonnöten. Die heuristischen und mäeutischen Methoden, mit deren Hilfe der Mensch seine Handlungsalternativen und neuen Optionen überprüft und überdenkt, sind im wesentlichen mündlich. Sie setzen die physische Präsenz des Philosophen oder des Architekten voraus. Eigentlich hat sich bis heute nicht viel daran geändert, wenn wir uns vor Augen halten, wie Design oder Ingenieurwissenschaften auch heute noch unterrichtet werden. Aber das ändert sich: gerade diese Bereiche beziehen immer mehr die digitale Verarbeitung mit ein. Computationale praktische Erfahrungen, die diese digitale Datenverarbeitung einbeziehen, genetic engineering, d. h. die Gestaltung und Erzeugung neuer genetischer Produkte, oder Memetik sind nicht mehr nur Fortentwicklungen jener Erfahrungen, die auf Schriftkultur gründen, sondern ganz anderer Natur.

Buchstabenkulturen und Aphasie

In der Kulturgeschichte hat es wiederholt kritische Auseinandersetzungen mit der Schriftkultur und Schriftbildung gegeben, deren bekannteste nach Platon wohl die von Marshall McLuhan ist. Buchstabenkulturen, so seine Position in Gutenbergs Galaxy (1964), haben die Welt uniformisiert, fragmentarisiert und auf logische Abfolgen hin ausgerichtet, was überzogenen Rationalismus, Nationalismus und Individualismus gezüchtet habe. Vernunft sei mit Schriftkultur und Rationalismus mit einer einzigen Technologie gleichgesetzt worden. Solche Attacken haben nun allerdings—soweit wir das aus unserer heutigen Sicht beurteilen können—nicht dazu geführt, daß die Schriftlichkeit und ihr Einfluß abgenommen haben. Aus anderer Perspektive hat im übrigen Roland Barthes (1970) die Notwendigkeit einer mündlich-visuellen Kultur hervorgehoben.

Ohne Frage gehören alle Pläne, die je von Architekten, Handwerkern oder Designern entworfen worden sind, einer Praxis an, die mündliche (Anweisungen zur Umsetzung des Plans in ein Produkt) und visuelle Kulturformen verbindet. Viele solcher Pläne mit Gedanken und Konzepten, die vielleicht genauso kühn sind wie die, die in Manuskripten und später in Büchern aufgezeichnet wurden, sind verloren gegangen. Einige Werke haben die Zeiten überdauert. Die Tatsache, daß die Dominanz des geschriebenen Wortes die immense Bedeutung von Zeichnungen in den Hintergrund unserer Wahrnehmung verdrängt hat, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß durch sie unsere Erfahrung nachhaltig geprägt und wichtiges Wissen übermittelt wurde. Zeichnungen sind holistische Einheiten, deren Komplexität nur schwer mit der eines Textes verglichen werden kann.

Die Bedeutung, die durch die Schrift vermittelt wird, vollzieht sich in einem Prozeß der Verallgemeinerung und Reindividualisierung. Was bedeutet es für ein Individuum, sie zu lesen und zu verstehen? Es durchläuft den Weg, der vom Sprechen zum Schreiben, vom Konkreten zum Abstrakten und von der analytischen zur synthetischen Funktion der Sprache führte, in umgekehrter Richtung. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt verfügen wir einerseits über die begrenzte Wirklichkeit der Zeichen (Alphabet, Wörter, Idiome), und andererseits die praktisch unbegrenzte Wirklichkeit, die in den zum Ausdruck gebrachten Sprachsequenzen und Begriffen verkörpert ist. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Ursprung der Gedanken, bzw. der Begriffe und dem Verhältnis zwischen Zeichen (vor allem Wörtern) und der ihnen zugewiesenen Bedeutung, bzw. dem Inhalt, der durch Sprache weitervermittelt werden kann. In westlichen Kulturen wird Bedeutung durch additive Mechanismen hervorgerufen, vergleichbar mit dem Anmischen von Pigmenten. In östlichen Kulturen beruht Bedeutung auf substraktiven Mechanismen, vergleichbar mit der Mischung von Licht.

Obwohl Buchstabenschrift einfacher und stabiler als ideographische Schrift erscheint, ist sie doch schwieriger. Das liegt am höheren Abstraktionsgrad. Daher muß der Leser eines Buchstabentextes die große Kluft zwischen dem graphischen Zeichen und dem Bezeichneten mit seiner eigenen Erfahrung überbrücken. Die praktische schriftkulturelle Erfahrung geht von der Annahme aus, daß die Bildung in Form von geschichtlichem und kulturellem Bewußtsein diesen Referenzbezug ersetzt. Die Leser von ideographischen Texten haben den Vorteil einer größeren Konkretheit der Darstellung. Da also jede Sprache ihre eigene Geschichte in sich trägt, gewissermaßen als Zusammenfassung der sie hervorbringenden Lebenspraxis, impliziert das Lesen in einer anderen Sprache zugleich die Konfrontation mit einer fremden Erfahrung und damit die Notwendigkeit, diese Schrift Schritt für Schritt für sich neu zu erfinden.

Die Aphasieforschung der letzten 15 Jahre hat gezeigt, daß ab einem bestimmten Stadium eine Regression von der Schrift- zur Bildlektüre (piktographisches, ikonisches Lesen) zu verzeichnen ist. Buchstaben verlieren ihre sprachliche Identität. Der aphasische Leser sieht nur Linien, Unterbrechungen, Formen. Begriffe und Gedanken brechen im wahrsten Sinn des Wortes zusammen. Erkennbar bleibt einzig die Ähnlichkeit zwischen konkreten Formen. Der Niedergang vom Abstrakten zum Konkreten kann als soziokultureller Unfall vor dem Hintergrund eines natürlichen (biologischen) Unfalls gedeutet werden.

Heutzutage verzeichnen wir ähnliche Symptome, die auf eine Art kollektiver Aphasie in gegenteiliger Richtung hindeuten. Schrift wird dekonstruiert und zur Graffiti-Notation, zu kurzschriftartigen, von Sprache und Schriftkultur befreiten Statements. Eine Zeitlang waren Graffiti kriminalisiert. Später wurden sie zur Kunstgattung erhoben und vom Markt absorbiert. Dabei sind wir uns vermutlich nie des Ausmasses bewußt geworden, in dem gerade auch Graffiti durch eine Form von Alphabetismus gekennzeichnet ist, haben wir uns kaum Klarheit verschafft über deren Ursprünge, ihre Verbreitung und die "aphasischen" Implikationen ihrer Ausübung. Nicht nur die New Yorker U-Bahn wurde in eine bewegliche Zeitung verwandelt, die so oft erschien, wie man die Aufsicht täuschen konnte. Ein großer Teil der Öffentlichkeit lehnte Graffiti ab, denn es widersetzte sich der legitimierten Kommunikation und zugleich der Aura von Ordnung und Korrektheit, die der Schriftkultur zugrunde liegt. Viele andere fanden ihre Freude daran. Die Rap-Musik ist das musikalische Gegenstück zum Graffiti. Die Botschaften, die heute auf den Datenautobahnen ausgetauscht werden, weisen oft Merkmale der Aphasie auf. Konkretheit steht an erster Stelle. :-) (der smiley im Internet) z. B. erübrigt jeden anderen Ausdruck von Freude. Für den stupenden Informationsaustausch in den digitalen Netzwerken ist solche kollektive Aphasie symptomatisch für Veränderungen der kognitiven Voraussetzungen derer, die in diese Erfahrungen eingebunden sind. Weder opportunistische Begeisterung noch dogmatische Ablehnung können uns helfen, die Notwendigkeit dieser Entwicklung und ihre Nutzanwendung zu verstehen. Viele private Sprachen und unzählige Kodes zirkulieren als Kilo- und Megabytes zwischen den Kommunikationspartnern und entziehen sich jeglicher Regulierung.

Die digitalen Netzwerke haben sich als ein Handlungsrahmen erwiesen, der die heutigen Erwartungen angemessen erfüllt; die traditionelle Form der Schriftkultur sieht sich dabei herausgefordert durch flüchtigere, auf Teilbereiche beschränkte Sondersprachen. Der Allgemeinheitsanspruch der Schriftkultur ist unhaltbar, wenngleich sie als ein Ausdrucks- und Kommunikationsmittel bestehen bleibt. Aber manch einer hat erfahren, daß sie für den praktischen und geistigen Erfahrungshorizont einer Menschheit, die aus allen ihren alten Kleidern, Spielzeugen, Büchern, Geschichten, Werkzeugen und sogar Konflikten herausgewachsen ist, nicht mehr ausreicht.

Es drängt sich als Anschlußfrage auf, ob die schriftkulturelle
Erfahrung des Wortes zu dessen stetig abnehmender Bestimmtheit
beigetragen hat oder ob die Kontextveränderungen dessen
Interpretation, will sagen: die semantische Verschiebung von bestimmt
zu vage, verursacht. Vermutlich spielen beide Faktoren dabei eine
Rolle. Einerseits erschöpft die Schriftkultur ihre eigenen
Möglichkeiten. Andererseits beschränken neue Kontexte ihre
Leistungsfähigkeit als das beherrschende Medium für den Ausdruck, die
Kommunikation und die Bezeichnung von Gedanken.

Wir alle kennen Versuche, Sprache so kontextfrei wie möglich zu verwenden—die Verallgemeinerungen jeglicher Demagogie (liberaler, konservativer, linker oder rechter, religiöser oder emanzipierter) können als Beispiel dienen; aber auch die vielen Formen des Lesens der Zukunft aus Glaskugeln, Handflächen, Tarotkarten, die in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund zunehmender Illiteralität entstanden sind. Nichts davon ist neu; neu ist nur, daß dieser Markt voller Unbestimmtheit und Ambiguität, der abweichende Funktionsweisen der Sprache erkennen läßt, in voller Blüte steht. Dies alles sind Symptome für eine Veränderung unserer Lebenspraxis, wie sie im vorliegenden Buch dargelegt ist.

Wir müssen allerdings die Veränderungen der Sprachfunktionen noch genauer erläutern. Wir wissen heute, daß die ältesten überlieferten Höhlenzeichnungen indexikalische Hinweiszeichen aus einem mündlichen Kontext, und weniger Darstellungen von Jagdszenen sind (wenn sie auch oft so interpretiert werden). Sie zeugen mehr von denen, die sie gezeichnet haben, als von dem, was gezeichnet ist. Die überholte Schriftlichkeit mystifizierter Botschaften fungiert auf ähnliche Weise. Sie sagt mehr aus über ihre Verfasser als über ihren Gegenstand, ob dieser nun Geschichte, Soziologie oder Anthropologie ist. Die gestiegene mündliche und visuelle, technologisch optimierte Kommunikation nun definiert die jenseits der Schriftkultur liegende neue kognitive Dimension des Menschen. Der Übergang vom Sprechen zum Schreiben entspricht dem Übergang von einer pragmatisch-affektiven Lebenspraxis zu einer pragmatisch-rationalen Ebene mit linearen Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umwelt. Sie vollzieht sich im Zusammenhang der Evolution vom Synkretistischen zum Analytischen. Der neuerliche Übergang von Schriftkultur zu einer Vielzahl von Alphabetismen wiederum entspricht einer Lebenspraxis, die sich durch nicht-lineare Beziehungen auszeichnet und die einer fortschreitenden Entwicklung vom Analytischen zum Synkretistischen entspringt. Diese Bemerkungen beziehen sich auf die europäischen Kulturen und ihre Ableger. Die ostasiatischen Sprachen weisen eine Tendenz zum Aufzeigen statt zum Erklären auf. Die analytische Struktur des logischen Denkens (die wir später eingehender erörtern) wird in der Satzstruktur der Sprache gebildet, die in diesen beiden Kulturbereichen grundlegend anders ist. Die imperative Energie des Ausdrucksvorgangs verleiht z. B. der chinesischen Sprache einen permanenten Hervorbringungscharakter (Sprechen im Vollzug, im Entstehen). Die hervorgehobene Rolle dieses Vorgangs in der asiatischen Kultur spiegelt sich in der zentralen Position des Verbs. Die Anordnung der Satzteile um das Verb herum lenkt das Denken auf die Beziehung zwischen Bedingung und Bedingtem.

Die für den europäischen Kulturkreis charakteristische Form der Logik (unter dem deutlichen Einfluß der klassischen griechischen Philosophie) spiegelt sich in der hervorgehobenen Position des Substantivs. Es ist freier und stabiler als das Verb und kann Identität, Invarianz und das Allgemeine wiedergeben. Die auf dieser Voraussetzung gründende Logik sucht die Einheit zwischen Spezies und Genus. Die Schrift der europäischen Kulturen und die ideographische Schrift des Orients haben beide auf ihre Weise Logik, Rhetorik, Heuristik und Dialektik zu definieren versucht. Aus historischer Sicht sind sie komplementär. Mit Blick auf die Geschichte des Wissen und auf die Geschichte als solche könnte man sagen, daß das europäische Abendland Wissen und Weltkontrolle, der Orient Selbsterkenntnis und Selbstkontrolle erlangt haben. Es wäre utopisch (und mit vielfältigen historischen, sozialen, ideologischen und politischen Implikationen verbunden), sich eine Welt vorzustellen, die beides harmonisch vereinigt. Voraussetzung hierfür wäre im übrigen, daß sich der jeweilige Status der Schriftkultur in beiden Kulturkreisen veränderte. Eben solche Veränderungen in Richtung auf eine Konvergenz der Sprachen in den erwähnten Kulturkreisen können wir indes derzeit beobachten.

Schriftlichkeit ist nicht nur ein Instrument der Vermittlung zwischen Kulturen, sie zieht auch Grenzen. Das gilt für westliche und fernöstliche Kulturen (und alle anderen) gleichermaßen. So hält Japan zum Beispiel trotz der spektakulären Leistungen bei der Aneignung und Fortentwicklung neuer Technologien innerhalb seiner Grenzen an einem Rahmen fest, der seiner traditionellen Schriftkultur und Bildung entspricht. Außerhalb seiner Grenzen kann es sich auf andere Schriftkulturen und Bildungsformen hervorragend einstellen. Auf andere Weise trifft dies auch auf China zu. Innerhalb seiner Grenzen baut es ein internes Netzwerk auf (Intranet), ohne dies jedoch an das allumfassende Netz (Internet) ganz anzubinden, das uns in einigen Bereichen die Erfahrung der Globalität eröffnet.

Die hierarchische Organisation, mit der man sich im Westen den ehemaligen wirtschaftlichen Erfolg Japans zu erklären versuchte, ist letztlich auf die Einheit semmai-kohai, d. h. senior-junior, zurückzuführen. Diese Unterscheidung entspricht einer spezifischen Logik und Ethik, die vom Vorrang des Alten über das Junge ausgehen und die pragmatischer Natur sind. Anerkannt werden damit Erfahrung und Leistung, die im Japanischen in den Kategorien kyu, d. i. Tüchtigkeit und Geübtheit, und dau, etwa Erfahrung, ausgedrückt werden. Diese Systematik wirkt sich auf das Wirtschaftsleben, auf Kalligraphie, japanischen Ringkampf (sumo), Blumenschmuck (ikebana) und die gesellschaftliche Ordnung aus. Auch dieses System ist von der Dynamik der gegenwärtigen Veränderungen nicht unberührt geblieben.

Mit Blick auf die Leistungen der Sprache müssen wir feststellen, daß Nationalsprachen zur Abkapselung führen, angenommene Sprachen hingegen—hier besonders Englisch—als Bindeglied zur übrigen Welt dienen können. Auch die japanische Gesellschaft sieht sich einer zunehmend global organisierten Welt gegenüber und damit der Notwendigkeit ausgesetzt, neue, dieser globalen Welt angemessene Ausdrucks-, Kommunikations- und Bedeutungsmittel zu entwickeln. Einerseits zeigt sich Japan als eine an den Vorurteilen der Schriftkultur und traditionellen Bildung ausgerichtete Gesellschaft, streng hierarchisch organisiert, frauen- und fremdenfeindlich, dogmatisch; andererseits, trotz der gegenwärtigen Krise in Japan, beweist es eine erstaunliche Fähigkeit, sich auf die veränderten Bedingungen der Lebenspraxis und der Selbstsetzung als Japaner und zugleich als integrierte Mitglieder der Weltgemeinschaft einzurichten. Folglich entwickeln sich auch in dieser so homogenen Kultur neue Formen der Schriftlichkeit und Bildung, die wir im übrigen auch in China, Korea, Indonesien und den arabischen Ländern feststellen können. Und dieser Prozeß weitet sich allmählich, wenn auch langsamer als von einigen erwartet, auf die afrikanischen und südamerikanischen Länder aus.

Die globale Wirtschaft erfordert neue Beziehungsformen zwischen den Staaten und Kulturen, und diese Beziehungsformen müssen der Dynamik der neuen Lebenspraxis angemessen sein. Die zwanghafte Suche nach Identität, die sich in den multikulturellen Tendenzen unserer Tage ausdrückt, wird in der Vergangenheit keine hinreichenden Argumente finden. Den besten Beleg hierfür liefern die Aktivisten dieser Bewegung mit ihren Fehldarstellungen von historischen Ereignissen, Fakten und Zahlen. Multikulturalität entspricht der Dynamik, die sich jenseits der Schriftkultur entwickelt: sie verlagert den Akzent von der Einmaligkeit und Universalität einer einzig vorherrschenden Kultur und Kulturform auf eine Pluralität, die keine ethnische Gruppe, keinen Lebensstil, keine Kultur ausgrenzt. Wer Multikulturalität heute als eine Frage der Rasse oder Feminismus als eine Frage des Geschlechts (vor dem Hintergrund der Geschichte) behandelt, wird keine wirksame Strategie für diejenigen entwickeln können, deren Andersartigkeit heute anerkannt ist. Andersartigkeit bringt andere Fähigkeiten mit sich und andere Wege, die jeweilige Identität zur Geltung zu bringen. Die Vergangenheit ist unbedeutend geworden; die Zukunft hat uns zu beschäftigen.

Kapitel 5:

Sprache und Logik

Etwa zu der Zeit, in der Computer zum alltäglichen Bestandteil unseres Lebens wurden, entwarf ein relativ unbekannter Science-Fiction-Autor eine utopische Welt, die er non A (A) nennt. Sie ist auf unserem Planeten im Jahr 2560 angesiedelt, und non A bezeichnet eine Form der nicht-aristotelischen Logik, die in ein Computerspiel eingebettet ist, das die Welt beherrscht. Gilbert Gosseyn (im Englischen Go Sane ausgesprochen, was im Deutschen soviel wie "werde gesund", "werde vernünftig" heißt), der Protagonist dieser Welt, entdeckt plötzlich, daß er mehr ist als nur eine Person.

Jeder, der ein wenig mit der Geschichte der Logik vertraut ist, wird hier an Levy-Bruhls umstrittenes Gesetz der Mitbeteiligung denken, das von der folgenden Annahme ausgeht: "In den kollektiven Darstellungen einer primitiven Mentalität können Gegenstände, Lebewesen und Phänomene auf eine Weise, die wir nicht begreifen können, gleichzeitig sie selbst und etwas anderes sein." Die relativ undifferenzierte, synkretistische Erfahrung, die den Anfangsstadien Notation und Schrift zugrunde lag, kannte offenbar vielfältige, uns ungewöhnlich erscheinende Verbindungen. Bei der Erforschung der von primitiven Stämmen hervorgebrachten Produkte hat sich gezeigt, daß einerseits das visuelle Denken vorherrscht, und andererseits die Funktionsweise des Menschen in einem Zusammenhang gedacht wird, den wir heute multivalente Logik nennen würden.

Obwohl die Welt von non A in ferner Zukunft liegt, beschreibt sie doch eine Logik, die wir mit einem lange zurückliegenden Stadium der menschlichen Entwicklung verbinden. Aus der Anthropologie wissen wir, daß es noch heute in den Regenwäldern des Amazonas und in entlegenen Eskimo-Gebieten Stämme gibt, deren Angehörige sich nicht nur als sie selbst begreifen, sondern zugleich als etwas anderes, als Vogel, Pflanze oder als vergangenes Ereignis. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine andere Sprachverwendung, sondern um eine andere Form der Identitätsbildung. In diesem pragmatischen Zusammenhang übersteigt der logische Schluß die Grenzen, die ihm die aristotelische Logik mit ihrem Dualismus von wahr und falsch setzt. Möglicherweise ist der Begriff der multivalenten Logik eine gute Bezeichnung für diese Art von Schlußfolgerung; er liefert indes keine Erklärung dafür, warum die Selbstkonstituierung auf solche Mechanismen zurückgreift und wie sie funktionieren. Selbst wenn wir eine Antwort darauf finden würden, müßten wir uns doch fragen—da sich unsere Selbstsetzung nach einer anderen Logik vollzieht—, welche Beziehung zwischen der Spracherfahrung und dem logischen Rahmen jener Menschen besteht, die in der non-A-Welt vergangener Zeiten lebten. Der in solchen Stämmen vorherrschende Umgang mit Bildern erklärt, warum es ein logisches Kontinuum anstelle der scharfen Trennung zwischen wahr und falsch, gegenwärtig und abwesend gibt. Mehrwertige Logik in den verschiedensten Ausprägungen und pragmatischen Zusammenhängen wurde zurückgedrängt, als Sprache ihre schriftliche, auf einem Alphabet basierende Form annahm und das Denken sich in schriftlichen Ausdrücken stabilisierte. Die Bewußtmachung von Verbindungen, die dezidiert in die Erfahrung eingebunden sind und in einem Korpus intelligiblen Wissens quantifiziert werden, klären den logischen Horizont. Mit der Unterdrückung einer multivalenten Logik wurden Einheiten nur als das konstituiert, als das sie die Erfahrung erscheinen ließ, und nicht mehr als viele Dinge gleichzeitig.

Der Wechsel von der Mündlichkeit zur praktischen Erfahrung der geschriebenen Sprache wirkte sich auf viele Aspekte der menschlichen Interaktion aus. Die Schrift brachte einen Referenzrahmen mit sich, Möglichkeiten des Vergleichs und der Bewertung, und damit überhaupt eine Vorstellung von Wert, als Ergebnis einer Wahl unter einer begrenzten Anzahl von Optionen. Mündlichkeit wurde von denen kontrolliert, die sie ausübten. Die durch Zeichen auf einer beschriebenen Oberfläche stabilisierte Schrift ermöglichte eine neue, analytische Form des Fragens. Im Verlauf der Zeit ergaben sich in der geschriebenen Sprache eine Reihe von Assoziationen, einige aus dem visuellen Aspekt der Schrift, andere aus bestimmten Schriftmustern, Wiederholungsformen und ähnlichem. Schrift regte zum Vergleich von Erfahrungen der Selbstkonstituierung an, indem sie den Vergleich verschiedener Aufzeichnungen ermöglichte. Die Erwartung, daß alles Aufgezeichnete akkurat aufgezeichnet ist, ist der Schrifterfahrung implizit. Die skeletthafte Form der Anfänge der Schrift bot sichtbare Verbindungen, die innerhalb der Mündlichkeit verblaßten.

Logik ist, sehr allgemein definiert, die Disziplin der Zusammenhänge—"Wenn das eine, dann das andere." Diese Denkfigur kann auf vielfältige Weise ausgedrückt werden, formale Ausdrücke eingeschlossen. Die in der Mündlichkeit gegebenen Zusammenhänge waren spontan. Mit der Schrift gingen die Stabilisierung der Erfahrung und ein methodisches Versprechen einher. Die Methode besteht in den Schlußfolgerungen, die sich aus den Verknüpfungen ergeben. Das besagt nichts anderes, als daß die der Mündlichkeit innewohnende Logik eine natürliche Logik ist, die natürliche Zusammenhänge wiedergibt, welche von den sich in der Schrift niederschlagenden Verknüpfungen unterschieden sind. Die Schrift liefert gewissermaßen das Röntgenbild eines nur schwer faßbaren Erfahrungsschatzes, in dessen Tiefen sich Verknüpfungen und ihre praktischen Implikationen abzuzeichnen begannen.

Das Bewußtsein von Zeit und Raum wird relativ langsam gewonnen. Dementsprechend drückt es sich aus als ein allmählich sich einstellendes Bewußtsein davon, wie Zeit und Raum das Ergebnis praktischer Tätigkeiten beeinflussen. Wie die Zeichen ist auch die Logik in der Praxis menschlicher Selbstkonstituierung verwurzelt und entwickelt sich sehr wahrscheinlich gemeinsam mit ihnen. Gemeinsame Gegenwärtigkeit, d. h. Ko-Präsenz dessen, was unterschiedlich oder ähnlich ist, Inkompatibilitäten, Ausschließungen und ähnliche Zeit- oder Raumsituationen werden von Handlungen, Gegenständen und Personen losgelöst und bilden eine wohl definierte Erfahrungsschicht. Aus einfacheren Konfigurationen oder Verknüpfungssequenzen ergeben sich Mechanismen der Schlußfolgerung, die man aus Gegenständen, Handlungen, Personen, Situationen usw. ableitet. Zur Festmachung solcher Schlußfolgerungen eignet sich die Schrift sehr viel besser als Rituale oder mündliche Ausdrücke, womit allerdings nicht gesagt ist, daß sie damit auch die gemeinsame Teilhabe an diesen Schlußfolgerungen erleichtert. Was an Breite gewonnen wird, geht an Tiefe verloren.

Die Lebenspraxis wird damit nicht nur effektiver, sondern auch komplexer. An die Stelle physischer Leistungen treten zunehmend kognitive Leistungen. Komplexere Erkenntnis und Erfahrung ergeben sich aus erweiterten Handlungsradien und können nur noch in der skeletthaften, abstrakten Form der Verschriftlichung vermittelt werden; damit verliert die Erfahrung die reichhaltigen individuellen Merkmale derer, die sich in ihr identifizieren. Aus dem Verknüpfungsreichtum ergibt sich Handlungslogik. Der Akzent liegt dabei auf Zeit und Raum, bzw. auf dem, was wir rückblickend Bezüge, bzw. Referenz nennen. In dem Maße, in dem die Schrift die in der Zeit verlaufenden Ausdrucks- und Kommunikationsmittel (vor allem Rituale) ersetzt, verliert auch die zeitliche Logik an Bedeutung. Mit der Veränderung des pragmatischen Horizonts knüpft die Schriftkultur in Verbindung mit der ihr innewohnenden Logik ihr unsichtbares Netz, ihre eigene Metrik. Alles, was nicht in irgendeiner Weise auf diese schriftkulturelle Selbsterzeugung des Menschen bezogen ist, bleibt außerhalb unserer Verstehensmöglichkeiten. Die Sprache der Schriftkultur erweist sich als eine reduktionistische Maschine, mittels derer wir der Welt aus der Perspektive unserer eigenen Erfahrungen begegnen. Sobald wir uns bewußt werden, daß es andere Erfahrungen gibt oder daß sie doch möglich sind, versuchen wir, sie zu verstehen; wir wissen aber, daß wir dadurch, daß wir sie in unsere eigene Spracherfahrung einbinden, die Bedingungen ignorieren, unter denen sie gewonnen wurden. Mündliche Erziehung beruhte auf der zusammenhängenden Einheit von Eltern und Kind, und Erinnerung, d. h. Erfahrung, wurde auf unmittelbarem Wege übertragen. Die Schriftkultur setzte an die Stelle dieser zusammenhängenden Einheit die Mittel, Diskontinuitäten und Unterschiede zu erkennen und festzumachen. In irgendeiner Form der Aufzeichnung speicherte sie alles, was sich auf die gesamte menschliche Erfahrung bezog. Aber mit der Aufzeichnung stellte sie auch eine neue Form der Erfahrung mit eigenen Werten dar.

Wir haben behauptet, Schriftlichkeit sei eine reduktionistische Maschine; sie reduziert Sprache auf einen Korpus von allgemein akzeptierten Weisen des Redens, Aufzeichnens und Lesens, die zwei Arten von Regeln entsprechen mußten: solchen der Zusammenhänge (Logik) und solchen der Grammatik. Im Rückblick auf diese Entwicklung können wir verstehen, inwiefern die Schrift die Erfahrung menschlicher Selbstkonstituierung durch Sprache beeinflußt hat. Insofern teilen wir auch nicht die Meinung derer, die in der Nachfolge des jungen Wittgenstein eine der Sprache immanente Logik für gegeben halten und ihre Aufgabe darin sehen, das ans Licht zu bringen, was die Sprachzeichen verbergen. Sprache besitzt keine innere Logik; jede praktische Erfahrung bezieht Logik und kontaminiert alle menschlichen Ausdrucksmittel durch die Schlußfolgerung aus dem, was möglich ist, auf das, was nötig ist.

Logiken hinter der Logik

Die im Sprachgebrauch angelegte Koordinationsleistung hat sich im Verlauf der Sprachverwendung fortentwickelt. Unverändert blieb allerdings die Struktur der Koordinationsmechanismen. Logik, wie wir sie heute kennen, also eine Disziplin, die durch den schriftlichen Gebrauch der Sprache legitimiert ist, beschäftigt sich mit den strukturalen Aspekten verschiedener Sprachen. Wenn wir den Koordinationsmechanismus von Schrift und Schriftkultur, der die Logik mit einbezieht, auf diese aber nicht allein reduzierbar ist, begreifen, können wir auch besser verstehen, wie und warum sich jene Bedingungen herausgebildet haben, die zur Schriftkultur führten. Dieser Koordinationsmechanismus bestand aus Regeln für den korrekten Sprachgebrauch (Grammatik), aus der Bewußtwerdung der für die Lebenspraxis spezifischen Zusammenhänge (Logik), aus Überredungsmitteln (Rhetorik), der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Optionen, Erfindungskunst (Heuristik) und der Argumentation (Dialektik). In ihrer Gesamtheit lassen sie erkennen, wie komplex der Vorgang der Selbstkonstituierung ist; einzeln betrachtet erhellen sie die fragmentierten Erfahrungsbereiche des Sprachgebrauchs, nämlich Rationalität, Überzeugung, Auswahl, Handeln und Glauben. Jedem (relativ) normalen Geschehensablauf liegt eine Logik zugrunde, ebenso jeder Krise, wenn wir den Begriff der Logik so weit fassen wollen, daß er die rationale Beschreibung und Erklärung der Faktoren, die zu einer Krise geführt haben, mit einschließt. Und dieser Logik wiederum liegen andere Formen der Logik zugrunde. Die Logik der Religion, die Logik der Kunst, der Moral, der Wissenschaft, der Logik selbst, die Logik der Schriftkultur: allesamt Beispiele für die vielfältigen Interessensgegenstände des Menschen, anhand derer er die jeweilige Logik dem Test der Vollständigkeit (bezieht sie sich auf alles?), der Folgerichtigkeit (ist sie widersprüchlich?) und bisweilen der Transitivität unterzieht.

Unabhängig vom Gegenstand (Religion, Kunst, Ethik, eine exakte Wissenschaft, Schriftkultur usw.) richten die Menschen die jeweilige Logik als Netzwerk gegenseitiger Beziehungen und funktionaler Abhängigkeiten ein, anhand dessen man die (religiöse, künstlerische, ethische usw.) Wahrheit zu ergründen sucht. Diese Logik, die ihren Ursprung in der anfänglichen Bewußtheit von Zusammenhängen hatte, entwickelte sich zu einem formalen System, von dem manche Philosophen und Psychologen noch immer glauben, daß es in irgendeiner Weise dem Gehirn (oder dem Geist) zugehörig ist und dessen korrekte Funktionsweise garantiert. Erfolgreiches Handeln wurde in diesem Zusammenhang als Ergebnis der Logik interpretiert, hard-wired, d. h. fest verdrahtet, als Bestandteil der biologischen Anlage. Andere Forscher begreifen Logik als Produkt unserer Erfahrung, besonders unseres Denkens, das sich auf unsere Selbstsetzung in der natürlichen und der von uns geschaffenen Welt bezieht. Als Regelwerk und Kriterienraster bezieht sich Logik auf Sprache, aber es gibt auch eine Logik der menschlichen Handlungen, eine Logik der Kunst, der Moral usw., die jeweils durch Regeln beschrieben werden, mit deren Hilfe wir Unwidersprüchlichkeit erzielen, Integrität bewahren, Kausalzusammenhänge erkennen und andere wichtige kognitive Operationen wie Hypothesenbildung und Schlußfolgerungen durchführen können.

In diesem Zusammenhang drängt sich eine alte Frage auf: Gibt es eine universelle Logik jenseits der Unterschiede in den Sprachen und in den biologischen Merkmalen, jenseits aller Unterschiede zwischen den Menschen? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt. Aus unserer Perspektive ist sie eindeutig zu verneinen. Wir heben ja gerade Unterschiede hervor, eben weil sie sich auf unterschiedliche Formen der Logik erstrecken, welche sich wiederum aus unterschiedlichen praktischen Erfahrungen ergeben. Aber die Antwort fällt möglicherweise angemessener aus, wenn wir uns vor Augen halten, daß die Hauptsprachsysteme unserer Welt unterschiedliche logische Mechanismen verkörpern, die sich auf die Koordinierungsfunktion der Sprache auswirken.

Wir müssen diese logischen Systeme kurz betrachten, weil sie auch die Bedingungen erhellen, die die Schriftkultur notwendig gemacht hat und unter neuen pragmatischen Bedingungen weniger notwendig, wenn nicht gar überflüssig, macht. Vor allem müssen wir fragen, ob in einer globalen Welt vereinheitlichende Kräfte oder heterogene und diversifizierende Kräfte, wie sie in den verschiedenen Schriftkulturen und den daran gebundenen logischen Formen verkörpert sind, wirksam werden. Aristoteles gilt gemeinhin als Begründer der im westlichen Sprachsystem angelegten Logik. Die griechische Schrift bot das geeignete Medium für seine Logik der richtigen Schlußfolgerung aus in Sätzen ausgedrückten Prämissen. Die Schriftkultur wurde das Haus dieser Logik und verlieh ihr zugleich eine Gültigkeit und eine Dauerhaftigkeit, die sie noch heute unantastbar macht. In den östlichen Sprachsystemen finden sich ähnlich bedeutende Beiträge in den philosophischen Hauptschriften des alten China und des alten Japan sowie in Hindu-Texten. Anstelle eines zwangsläufig oberflächlichen Überblicks möchte ich ein Zitat des Fung Yu Lan zum Wesen der chinesischen Philosophie (das zugleich repräsentativ für den gesamten Fernen Osten ist) heranziehen: "Philosophie darf nicht nur Gegenstand der Erkenntnis sein, sondern muß auch Gegenstand der Erfahrung werden." Aus der Begründung der chinesischen Philosophie in der Erfahrung ergeben sich nicht nur die Unterschiede zur indischen Philosophie, sondern auch zu den philosophischen Prinzipien der westlichen Welt.

Die in den indoeuropäischen Sprachen zum Ausdruck kommende Logik gründet auf einer Unterscheidung zwischen Gegenstand und Handlung, die sich sprachsystematisch in den Kategorien von Substantiv und Verb ausdrückt. Über 2000 Jahre lang hat diese Logik die Struktur der Gesellschaft bzw., wie Aristoteles sagen würde, der Polis beherrscht und gestützt. Aristoteles definierte den Menschen als gesellschaftliches Wesen, als zoon politikon, und seine Logik ist der Versuch, jene kognitive Struktur herauszuarbeiten, die den richtigen Schluß aus in Sätzen ausgedrückten Prämissen erlaubt. Er versuchte dabei, die Logik so unabhängig wie möglich von der verwendeten bzw. von der jeweiligen in anderen Lebensgemeinschaften gesprochenen Sprache zu sehen. Ganz ähnliche Ziele verfolgen diejenigen, die heute formale Sprachen entwerfen.

Neben der sprachlichen Behausung der aristotelischen Logik gab es ein anderes Sprachsystem, in dem das Verb (das sich auf die Handlung bezieht) im Objekt assimiliert war, nämlich Chinesisch und Japanisch. Jede Handlung wurde substantivisch ausgedrückt (das Jagen, Rennen, Sprechen), so daß auf diese Weise ein nicht-prädikativer Sprachmodus entstand. Eine aristotelische Konstruktion sieht folgendermaßen aus: Falls a gleich b ist (der Himmel ist bedeckt), und falls b gleich c ist (das, was ihn bedeckt, sind Wolken), dann ist auch a gleich c (ein bewölkter Himmel). Nicht-prädikative Konstruktionen kommen nicht zu derartigen Schlußfolgerungen, sondern gehen von einer Bedingung in die andere über wie etwa in der folgenden Weise: bedeckt sein, Bedeckung in Wolkenform, Bewölkung assoziiert Regen, Regen… Es handelt sich hierbei also um nach hinten offene Verknüpfungen im status nascendi. Wir sehen, daß die aristotelische Logik die Wahrheit des Schlusses aus der Wahrheit ihrer Prämissen entwickelt und dies auf eine formale Relation gründet, die von beiden unabhängig ist. In einer nicht-prädikativen Logik verweist die Sprache lediglich auf mögliche Relationsketten, wobei sie implizit anerkennt, daß gleichzeitig auch andere möglich wären. Direktes Wissen wird hier nicht abgeleitet, und ebenso wenig werden die Schlußfolgerungen einem formalen Test auf ihre Wahrheit oder Unwahrheit unterzogen. Der abstrakten und formalen Darstellung der Schlußfolgerung auf Wissen stellt dieses Logikmodell eine konkrete und natürliche Form der Darstellung gegenüber, in welcher Unterschiede bezüglich der Qualität wichtiger sind als Quantitätsunterschiede.

Aus unseren Ausführungen über die Natur der ideographischen Schrift dürfte hervorgehen, daß sich eine derartige Schrift nicht für jene Art des logischen Denkens eignet, wie es von Aristoteles und seinen Nachfolgern entwickelt wurde und das seinen Höhepunkt im westlichen Wissenschaftsverständnis und im westlichen Wertesystem fand. Die Entdeckung fernöstlicher Darstellungsformen und der aus den ganz anderen Denkweisen hervorgehenden Philosophie sowie das zunehmende Interesse an den diesen Kulturen eigenen und unserer Kultur fremden Subtilitäten hat zu mancherlei Versuchen geführt, die Grenzen zwischen diesen beiden fundamental verschiedenen Sprachkulturen zu überwinden. Sollte dies gelingen, so würde unsere Sprache und damit unser intellektuelles und emotionales Leben um Dimensionen angereichert, die den Strukturen unseres westlichen Existenzrahmens diametral entgegengesetzt sind.

Wir wählen hierfür als Beispiel die Logik des Abhängigkeitsverhältnisses. Ausgedrückt im japanischen Konzept des amé umfaßt es ein ganzes Beziehungsgefüge und eine daraus abgeleitete Logik des Handels, unterschiedliche Denkmodi und unterschiedliche Wertesysteme. Die uns bekannten, immer wiederkehrenden Mißverständnisse zwischen der westlichen Welt und Japan (aber auch anderen, in gleicher Weise geprägten asiatischen Ländern) lassen sich teilweise darauf zurückführen. Grob vereinfacht könnte man z. B. sagen, daß es sich auch im Verhältnis zwischen einem Unternehmen und seinen Angestellten ausdrückt: Wenn beide Seiten dieses Prinzip akzeptieren (was sie auch tun, weil das Prinzip des amé im Leben dieser Menschen struktural verankert ist), ergibt sich für beide Vertragspartner daraus die Verpflichtung zur bedingungslosen Treue. Amé kann sich allerdings auch auf die gegenseitigen Beziehungen innerhalb einer Familie (einschließlich aller Vorurteile) oder auf die Beziehungen zwischen Freunden beziehen. Dieser Begriff bezeichnet eine praktische Erfahrung, die weit über die genannten Beispiele hinausgeht: Sie konstituiert einen Handlungsrahmen, der nicht nur bestimmte (logisch gerechtfertigte) Entscheidungen ermöglicht, sondern den Kontext für das Denken, Fühlen, Handeln und Bewerten der in diesen Rahmen eingebundenen Menschen abgibt. Er betrifft das Verhältnis zur Sprache ebenso wie das Bildungssystem, die diese Form der Abhängigkeit als eine logische Form verinnerlicht hat, die über jegliche Individualität Priorität gewinnt. Die einzige Möglichkeit, die Logik des amé in unsere Logik zu integrieren—sofern wir dies für richtig und für möglich hielten—läge darin, die in diesem Prinzip zum Ausdruck gebrachte praktische Erfahrung nachzuvollziehen. So scheint amé auf Grenzen in unserer Sprache hinzuweisen, tatsächlich aber offenbart sie Grenzen in unseren Formen der Selbstkonstituierung, Grenzen bezüglich der Formen, mit denen wir unsere gegenseitigen Beziehungen als Teil unserer Erfahrung definieren.

Im übrigen gilt natürlich in umgekehrter Richtung genau das Gleiche. Auch hier ergab sich aus der Erkenntnis dieser Grenzen ein stark gewachsenes Interesse an der westlichen Kultur und der Wunsch, sich einiges davon in Vokabular und Verhalten anzueignen. Eine wiederum andere Faszination übte die indische Welt über den in den vedischen Texten ausgedrückten Mystizismus und allgemein über die nachdrückliche Beschäftigung mit den Daseinsbedingungen des Menschen aus. Das hat bekanntlich dazu geführt, daß viele Menschen unseres Kulturkreises in jener Kultur eine Alternative suchen zu dem, was sie als überkonditionierte Existenzform, als Leistungs- und Konkurrenzdruck empfinden. Der bewußte Ausstieg aus der Schriftkultur und überhaupt aus der Kultur, die Suche nach Befreiung (mukti), der Ausstieg aus einer auf Nützlichkeit und Logik ausgerichteten Welt ist auch heute für viele "Aussteiger" ein erstrebenswertes Ziel. (Dieser Aussteiger muß dabei die von ihm bewunderte alternative Existenzform keineswegs wirklich verstanden und vollkommen angenommen haben; in vielen Fällen kopiert man lediglich einen Lebensstil und gibt sich einem exotischen Eskapismus hin; junge Israeli dürften hierfür ein geeignetes Beispiel sein).

Kurz: Aus der Entwicklung von Sprache und Logik innerhalb der vielen uns bekannten Kulturen können wir die sehr komplexe Beziehung ablesen zwischen dem, wer wir sind und was wir sind: zwischen unserer Sprache und der Logik, die die Sprache ermöglicht und später verkörpert. Jäger in europäischen Ländern und Jäger in fernöstlichen Ländern, in Afrika, Indien und Papua, Sammler, Fischer, Landwirte—sie alle entwickeln eine je unterschiedliche Beziehung zu ihrer Umwelt und zu den Führungsgestalten in ihrer jeweiligen Lebensgemeinschaft. Die Art und Weise, in der ihre relativ einfachen Erfahrungen in Sprache und andere Ausdrucksformen gekleidet sind, spielt eine wichtige Rolle für die Art und Weise, wie gemeinschaftliche Erfahrung, Religion, Kunst, die Errichtung eines Wertesystems, später Erziehung und Identitätswahrung organisiert sind. Es gibt allerdings auch etwas ihnen allen Gemeinsames, und das bezieht sich in aller Regel auf jene Beziehungen, die sich im Arbeitsprozeß abspielen und die sich auf die Effizienz auswirken. Diese Gemeinsamkeiten sind entscheidend für unser Verständnis der Rolle, die die Sprache und die Logik in den verschiedenen Stadien der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung gespielt haben und heute spielen.

Die Pluralität intellektueller Strukturen

Angesichts der Bedeutung, die die Skala bei der Selbstkonstituierung des Menschen durch Sprache spielt, liegt es nahe zu fragen, inwieweit auch die Logik durch die Skala beeinflußt ist. Auf den ersten Blick hat Logik mit Skala nichts zu tun. Schlüsse bleiben gültig unabhängig davon, wie viele Menschen sie gezogen bzw. nachvollzogen haben. Das ist aber nur die universalistische Sehweise. Wenn wir die Herausbildung von Logik betrachten und sie auf die praktische menschliche Erfahrung zurückführen, welche sich aus dem Bewußtsein von Verknüpfungen ergibt, dann ist es nicht mehr so sicher, ob Logik wirklich von Skala unabhängig ist. Einige Erfahrungen wären tatsächlich ohne das Erreichen einer kritischen Masse gar nicht möglich gewesen, und die Beziehung zwischen einfach und komplex ist nicht nur rein progressiver Art. Sie ist eine multivalente Relation, natürlich auch mit zuwachsenden Elementen.

Die praktische Erfahrung einer Stammesgemeinschaft, z. B. in Afrika, Nordamerika oder Südamerika, ist definiert durch die Skala der Beziehungen innerhalb dieses Stammes sowie der Beziehungen zwischen diesem Stamm und einem relativ begrenzten Daseinsumfeld. Die dieser Skala eigene Logik (im Sprachgebrauch einiger Anthropologen sollten wir von Prä-Logik sprechen) ergibt sich dabei aus der Vorherrschaft der Instinkte und Intuitionen und drückt sich hauptsächlich in visuellen Mitteln aus, wie wir sie als für primitive Mentalitätsstadien typische Ausdrucks- und Kommunikationsmittel erkannt haben. Die Erinnerung scheint dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Die unterscheidende Kraft der Sinne (Sehen, Hören, Riechen usw.) ist besonders stark ausgebildet; die Anpassungsfähigkeit ist sehr viel größer als bei den Angehörigen moderner Gesellschaften. Die Stämme leben in getrennten, voneinander abgeschlossenen Gruppen, sind sich der biologischen Gemeinsamkeiten untereinander nicht bewußt und in ihren Überlebensstrategien auf sich selbst beschränkt. Wenn solche Gruppen zueinander in Beziehungen treten, diversifiziert sich ihre Lebenspraxis, Zusammenarbeit und Austausch jeglicher Art nehmen zu, die Sprache in ihren vielfältigen Ausdrucksformen wird wichtiger Teil der Selbstsetzung.

Wir haben gesehen, daß Sprache an die frühen Zentren landwirtschaftlicher Lebensformen gebunden war. Hier konnte sich die Bevölkerung vermehren, weil die an diesen Orten gefundene Lebenspraxis effektiv genug war, um eine größere Anzahl von Menschen zu unterhalten. Möglicherweise waren es diese frühen Formen der Landwirtschaft, in denen die Skala ein Schwellenstadium erreicht hatte und sich unter dem Einfluß der neuen praktischen Erfahrungen der Sprache eine neue Qualität des pragmatischen Handelns herausbilden konnte. Diese Tätigkeit hatte dann auch eine sehr präzise Logik aufzuweisen, das Bewußtsein von einer Vielfalt von Ebenen, deren Verknüpfungen sich entscheidend auf die Ergebnisse dieses Handelns, also auf das Wohlergehen der Handelnden, auswirkte. Die Logik gestaltet vor allem die Beziehungen zwischen den praktischen Tätigkeiten des Menschen und dem Ort, auf den sich diese Tätigkeiten beziehen und dessen Sakralität im lateinischen Wortstamm (Agrikultur—Kultur—cultus) zum Ausdruck kommt. Logik ist auf vielfache Weise kulturgebunden und kulturgestaltend—von der Sequenzierung eines Handlungsablaufes über die Verwendung der verfügbaren Ressourcen bis hin zum Entwurf von Plänen, Werkzeugen usw. Logik und Kultur bedingen sich gegenseitig: diese Abhängigkeit nahm im Verlauf der Zeit zu und resultierte in den heute entwickelten logischen Maschinen, die eine Kultur definieren, welche sich von der Kultur mechanischer Geräte deutlich unterscheidet. Wir sollten Unterschiede im Bereich der Intelligenztypen anerkennen, und wir sollten Unterschiede in Betracht ziehen, die sich aus der Vielfalt der natürlichen Zusammenhänge des praktischen Lebens ergeben. Gemeinsamkeiten in der Überlebenserfahrung und die Weiterentwicklung sollten auch in die Dynamik der menschlichen Selbstkonstituierung mit einbezogen werden.

Allerdings zeigt sich aus heutiger Sicht, daß in den lebenspraktischen Zusammenhängen des postindustriellen Zeitalters die Logik, die aus den praktischen Erfahrungen der Selbstkonstituierung in der Welt bezogen wird, und die Logik, die sich bei unseren Versuchen, die menschliche Welt zu definieren, einstellt, zunehmend unterschiedlicher Art sind. Wir lesen nicht länger die Logik der Sprache und schließen von da auf die Erfahrung, sondern projizieren unsere eigene Logik (selbst ein praktisches Ergebnis unserer Selbstkonstituierung) in die Erfahrung in dieser Welt. Booles Algebra des Denkens ist hierfür ein Beispiel, aber keineswegs das einzige. Allenthalben werden heute Sprachen geschaffen, die eine Vielfalt logischer Systeme unterstützen, unter anderem autoepistemische, zeitliche, modale und intuitionistische Systeme.

Man könnte fast so etwas wie eine universale Logik und eine Universalsprache erwarten—in der Vergangenheit und in der Gegenwart gibt es ausreichende Versuche für einen derartigen Universalismus. Leibniz verfolgte Visionen einer idealen Sprache, einer characteristica universalis und eines calculus ratiocinator. Viele ähnliche Versuche folgten, aber alle übersahen, daß mit zunehmender Diversifikation der menschlichen Erfahrungen solche Visionen immer utopischer wurden. Parallel hierzu trennen wir uns von solchen Formen der Logik, die wir als geistiges Erbe tradiert haben. Die Logik, die in zahlreichen autarken, primitiven Erfahrungen verschiedenster Bevölkerungsgruppen Asiens, Afrikas und Europas eingebettet ist, verkörpert heute wenig mehr als kulturelle Erinnerung. Die Skala, die in solchen Erfahrungen zum Ausdruck kommt, und die dieser Skala angemessene Logik wird in der sehr viel umfassenderen Skala der global agierenden Wirtschaft aufgehoben. Die Logik magischer Erfahrungen können wir nicht mehr aufdecken und nachvollziehen, nicht einmal jene rationalen oder rationalisierbaren Aspekte, die sich auf Pflanzen, Tiere und Mineralien beziehen, die den uns vorhergegangenen Völkern als Heilmittel gedient haben.

In unserer heutigen Zeit rücken die Kulturen, die fast allesamt das Heilige durch das Profane, das Primitive durch das Überentwickelte ersetzen, dichter zusammen. Dies geschieht nicht etwa, weil jeder es so möchte, und nicht einmal, weil alle davon profitieren (viele geben dafür ihre Identität preis). Nein, hinter diesem Prozeß steht die Notwendigkeit, solche Effizienzebenen zu erreichen, die der neuen Skala der Menschheit angemessener sind. Innerhalb dieser Skala werden die verschiedenen Menschengruppen zuallererst als menschliche Wesen (nicht als Stämme, Nationen oder Religionsangehörige) integriert; daraus erwächst allmählich ein pragmatischer Rahmen, dessen Kennzeichen die erhöhte Integration der Menschen ist.

Die eurozentrische Vorstellung, daß alle Typen der Intelligenz sich auf den westlichen Typ (und damit auf die westlichen Formen der Sprachpraxis, die in der Schriftkultur kulminierten) entwickeln, hat sich als Irrtum erwiesen. Statt dessen machte sich eine Vielfalt intellektueller Strukturen geltend, leider fast immer auf demagogische Weise oder als Lippenbekenntnis gegenüber der Vergangenheit, niemals jedoch als eine Öffnung auf die Zukunft hin. Die Schriftkultur hat aus guten Gründen—jenen der industriellen Revolution—Heterogenität und damit die Vielfalt der menschlichen Erfahrungen und Formen der Identitätsfindung ausgelöscht. Wenn sich die Gründe hierfür erschöpft haben, weil neue Lebens- und Arbeitsbedingungen eine neue Logik erfordern, erweist sich Schriftkultur als ein Hemmschuh, ohne daß sich dies allerdings auf die ihr eigene Logik auswirken muß.

Die Skala des menschlichen Lebens und der menschlichen Handlungen und die damit verbundene Projektion von Erwartungen jenseits des bloßen Überlebens der Selbsterhaltung führt nicht zu einer universalen Schriftkultur, sondern zu zahlreichen unterschiedlichen Alphabetismen und zu einer Vielfalt logischer Horizonte. Da die Koordinationsmechanismen aus Logik, Rhetorik, Heuristik und Dialektik bestehen, fördert die neue Skala u. a. auch neue rhetorische Mittel. Wir brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, wie sich Überredung auf der Ebene des globalen Dorfes äußern könnte oder auf der Ebene des Individuums, das in diesem globalen Dorf durch die Mechanismen der Netzwerke und der multimedialen Interaktivität beeinflußt ist. Die logischen Mechanismen der Massenkommunikation werden ersetzt durch Überlegungen darüber, wie die individuelle Kommunikation intensiviert werden kann. Man halte sich nur die neuen heuristischen Verfahren im World Wide Web oder in der Marktforschung oder den elektronischen Transaktionen der Netconomy vor Augen. Faszinierende Forschung im Bereich der multivalenten Logik, der Fuzzy Logic (der Alternative zur Logik der scharf definierten Mengen), der temporalen Logik und in vielen anderen logischen Ansätzen, die sich auf Computer, künstliche Intelligenz, Memetik und Vernetzung beziehen, eröffnen einen Weg in die Zukunft, der weit über das hinausgeht, was in der Science-fiction-Welt von non A entworfen wurde. Die Logik von Handlungen Zwischen den relativ monolithischen und uniformen Idealen einer schriftkulturell gebildeten Gesellschaft, die von den Tugenden der Logik überzeugt ist, und der pluralistischen und heterogenen Wirklichkeit partieller Schriftkulturen, die die Logik auf Maschinen übertragen, kann man leicht einen Richtungsunterschied ausmachen. Personen mit angemessener schriftkultureller Bildung, die im Geist der Rationalität und klassischer oder formaler Logik erzogen worden sind, stehen den Sub-Alphabetismen spezialisierter Arbeitsprozesse oder den unlogischen Schlußfolgerungen, die innerhalb der neuen Bereiche der menschlichen Selbstkonstituierung getroffen werden, hilflos gegenüber. Wir wollen uns deren Haltung etwas genauer betrachten. Beim Übergang von einem Entwicklungsstadium in das andere erfuhren die Menschen, daß tradierte Verhaltenskodes erodieren, und sie projizieren ihre neuen Lebensumstände in neue Verhaltensmuster. Der in dem überholten Verhaltenskode zum Ausdruck kommende Typus der Kohäsion wurde durch einen anderen und die eine sich diesem Kode unterwerfende Logik durch eine andere ersetzt. Wann immer sich eine Interaktion zwischen Gruppen mit verschiedenen Kohäsionstypen ergab, war auch die Logik ernsthaft auf die Probe gestellt. Manchmal setzte sich eine Form der Logik durch; in anderen Fällen wurde ein Kompromiß gefunden. Primitive Entwicklungsstadien erweisen sich als erstaunlich anpassungsfähig.

Unser heutiges Entwicklungsstadium, das in mancherlei Hinsicht vom Ursprung weit entfernt ist, zeichnet sich durch ein Umfeld aus, innerhalb dessen ein auf hohe Effizienz ausgerichteter pragmatischer Rahmen geschaffen werden soll. Logik, Rhetorik, Heuristik und Dialektik sind innerhalb dieses Rahmens eng aufeinander bezogen. Mit anderen Worten: Der Mensch hat eine Entwicklung vollzogen von der sinnlichen Verankerung in der natürlichen Welt hin zur artifiziellen (d. h. vom Menschen geschaffenen und gestalteten) Welt, die der konkreten Wirklichkeit übergelegt wurde—und die sich im übrigen ausweitet auf ein künstliches Leben hin, wie man eine der jüngsten Forschungsrichtungen bezeichnet (ALife). Innerhalb dieser neuen Welt beschränken die Menschen die Projektion ihrer natürlichen und geistigen Bedingungen nicht mehr auf ein umfassendes Zeichensystem (oder nur wenige). Im Gegenteil, alles zielt auf Segmentierung ab, das Ziel liegt nicht in einer globalen Kohäsion, sondern in einer auf den Einzelfall bezogenen Kohäsionskraft, die zur Optimierung des gegebenen Problems beiträgt. Komplexität und Natur dieser Veränderungen innerhalb des Systems rufen nach einer Strategie der Segmentierung und einer diese unterstützenden Logik (oder mehreren Formen der Logik). In dem Zusammenspiel zwischen Sprache und den sich in ihr konstituierenden Menschen sind logische Konflikte nicht ausgeschlossen. Die Logik der Lebenspraxis, die auch durch die Heuristik beeinflußt wird, und die der Schriftkultur und Bildung eigene Logik sind nicht unbedingt identisch.

Handlungen implizieren Handlungsträger und verweisen damit auf die Logik, die in Werkzeuge und die von Menschen geschaffenen Gegenstände eingeprägt ist. Die Annahme, daß die in der Sprache zum Ausdruck kommende Logik sich auch in dem ausdrückt, was zur Herstellung von Werkzeugen und anderen auf die menschliche Tätigkeit bezogenen Gegenstände führt, blieb lange Zeit unangefochten. Auch heute noch werden Designer und Ingenieure in ihrer Ausbildung einem Ideal von Bildung und Schriftkultur unterworfen, dessen Rationalität man in ihrer Arbeit zu erkennen glaubt. Dabei haben aber neben der Entwicklung der menschlichen Sprachen stets auch Zeichnungen als Anweisung für die Anfertigung von Gegenständen und die Ausführung bestimmter Tätigkeiten gedient. Jede Zeichnung verkörpert auf ihre Weise die Logik des zukünftigen, mit ihrer Hilfe hervorgebrachten Gegenstandes, ganz gleich wie nützlich oder unbedeutend dieser sein mag. Unsere Schriftkultur weist einen umfangreichen Korpus von Texten auf, aus dem die logischen Aspekte des Denkens abgeleitet werden können. Dem stehen nur ein relativ geringer Bestand von Zeichnungen und nicht allzuviele Gegenstände gegenüber, die bis in unsere heutige Zeit überdauert haben. Produkte werden stets für genau bestimmte praktische Erfahrungen entwickelt und haben diese Erfahrungen oder die Personen, die sie verkörperten, selten überdauert. Natürlich überdauerten Straßen, Häuser, Geräte und andere Gegenstände, aber erst mit der Erfindung besserer Zeichengeräte und eines besseren Papiers wurde eine Bibliothek des Ingenieurwesens möglich. Zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelt, unterwirft sich die hybride Form der Ingenieurwissenschaft der Logik wissenschaftlicher Erkenntnis nur in einem bestimmten Maß und balanciert diese gegen die Logik der ästhetischen Wahrnehmung aus. Im pragmatischen Rahmen jenseits der Schriftkultur spielen die Ingenieurwissenschaften hinsichtlich der menschlichen Selbstkonstituierung in sprachgebundenen praktischen Erfahrungen eine herausragende Rolle. Sie wirken sich nachhaltig auf die Effizienz der praktischen Erfahrungen und auf ihre fast unbegrenzte Diversifikation aus.

Wenn bestimmte Mittel (wie z. B. Sprache oder die heute von Designern und Ingenieuren verwendeten Visualisierungsmittel) überkommene Mittel ersetzen oder gar überflüssig machen, gibt es eine Phase des Konflikts, eine Phase der Anpassung und eine Phase der gegenseitigen Ergänzung. In der heutigen Zeit mit ihren distributiven Transaktionsformen, ihrer Heterogenität und den Interaktionsformen, die weit über die Linearität einfacher Abfolgen hinausgehen, geraten die strukturalen Merkmale der Schriftkultur mit der Dynamik einer neuen Entwicklungsphase, die durch leistungsfähige Technologien mit einer Vielfalt logischer Möglichkeiten getragen wird, in Konflikt. Anders ausgedrückt: Wir beobachten, wie die der Schriftkultur und Bildung eigene Logik mit den neuen Formen der Logik (die sich in der Tat als eine Vielzahl präsentieren) im derzeitigen pragmatischen Handlungsrahmen in Konflikt gerät.

Innerhalb der Logik des schriftsprachlichen Diskurses, der wir nolens volens auch in diesem Buch folgen, ist der Versuch, die Schriftkultur zu bewahren, gleichbedeutend mit dem Versuch, lineare Relationen, Determinismus, Hierarchie (von Werten) und Zentralisierung aufrecht zu erhalten, und dies in einem Rahmen, der Nichtlinearität, Dezentralisierung, verteilte oder distribuierte Erfahrungsformen und nicht fixierte Werte verlangt. Diese beiden Rahmen sind logisch inkompatibel. Das heißt natürlich nicht, daß Schriftkultur, Schriftlichkeit und Bildung vollkommen aufgegeben werden müssen oder daß sie gar vollends verloren gehen, wie dies mit den Hieroglyphen oder der piktographischen Schrift geschah, oder daß an ihre Stelle Zeichnungen oder computergestützte Sprachverarbeitung tritt. Das Prinzip der Linearität wird auch weiterhin eine große Zahl praktischer Tätigkeiten bestimmen; das Gleiche gilt für deterministische Erklärungen und für verschiedene Formen des Zentralismus (politisch, religiös, technologisch usw.) und selbst für einen elitären Wertbegriff. Aber es wird nicht mehr ein universeller Standard sein oder gar ein allgemeinverbindliches Ziel (das alles Nichtlineare dem Versuch der Linearisierung unterzieht, alles auf eine Abfolge von Ursache und Wirkung zurückführt, alles einem Zentrum zuordnet und Zentralismus ausübt); es wird vielmehr Teil eines komplexen Systems von Relationen sein ohne jegliche Hierarchie—oder zumindest eingebunden in rasch wechselnde Hierarchien—wertfrei, anpassungsfähig, stark verteilt.

Das Gleiche gilt auch für den Typ der Logik (und damit der Rhetorik, Heuristik und Dialektik), der in der Sprache angelegt ist, d. h. der aus dem Universum der menschlichen Selbstkonstituierung in das System der Schlußfolgerungen, des Wissens und des Bewußtseins hineinprojiziert ist. Die in unserer Sprache zutage tretende Logik ist dualistisch, auf dem Gegensatzpaar von wahr und falsch aufgebaut und unterstützt eine Erfahrungsform, die den abstrakten Charakter logischer Rationalität trägt. Sie wird ergänzt von einem logischen Symbolismus und einem logischen Kalkül, der diesen Dualismus formalisiert und andere, dieser dualistischen Struktur nicht entsprechende logische Modelle ausschließt.

Die bivalente Logik—etwas ist geschrieben oder nicht geschrieben, das Geschriebene ist richtig oder falsch—gehört zu den unsichtbaren Grundlagen der Schriftkultur. Erst sehr spät, mit dem logischen Formalismus, konnten sich multivalente Schemata geltend machen. Wenn nun der effiziente Rahmen der postindustriellen Lebenspraxis auf Nichtlinearität und Vagheit (fuzziness) angelegt ist, dann erweist sich unsere Schriftkultur als eine schlechte Grundlage für eine multivalente Logik. Auch einige der Teildisziplinen, die sich aus der Schriftkultur ergaben und als ihre Erweiterung verstehen (Geschichte, Philosophie, Soziologie), sind nicht in der Lage, eine Logik aufzunehmen, die sich von derjenigen unterscheidet, die in der praktischen Erfahrung des Lesens und Schreibens ihren festen Sitz hat. Das weist die Computerwissenschaft als einen neuen wissenschaftlichen Horizont aus, innerhalb dessen eine multivalente Logik auf dem Computer simuliert werden kann, obwohl dessen Struktur eine andere Logik (diejenige Booles) aufweist. Die wissenschaftliche Diskursform der Schriftkultur und der multimediale, nichtlinerare heuristische Zugang zur Wissenschaft sind fundamental unterschieden. Sie setzen eine unterschiedliche Form der Logik voraus und bringen unterschiedliche Formen der Interaktion hervor zwischen denen, die ihre Identität in der Ausführung wissenschaftlicher Experimente, und jenen, die ihre Identität durch die Beteiligung daran finden.

Die Welt der prädikativen Logik und die auf die analytische Kraft bauende Wissenschaft taten sich schwerer, eine Logik der Vagheit ( fuzzy logic) zu akzeptieren und sie in neue Produkte einzubauen, als z. B. die Welt der nichtprädikativen Logik und die auf die synthetische Kraft gestützte Wissenschaft. In der Welt der nicht-prädikativen Sprache ist die Logik der Vagheit in den Entwurf von Kontrollmechanismen für Hochgeschwindigkeitszüge und der neuen effizienteren Toaster eingegangen. In Japan wurde eine auf der Basis dieser Logik arbeitende Waschmaschine 1993 auf den Markt gebracht, als man diese Logik in der westlichen Welt noch heftig diskutierte. Diese Tatsache ist mehr als nur ein einfaches Beispiel im Rahmen von Überlegungen, die die Implikation einer globalen Wirtschaft für die verschiedenen Sprachsysteme und die in ihnen verkörperten logischen Koordinationsmechanismen behandeln. Der Fortschritt im Verstehen und in der Weiterentwicklung des menschlichen Denkens weist eine fortlaufende Entwicklung auf von einem Modell, das auf Schriftlichkeit und Schriftkultur basiert, zu einem Modell, das in einem völlig neuen pragmatischen Rahmen wurzelt. Regelbasierte Muster-Matching-Systeme verallgemeinern den Prädikaten-Kalkulus; neuronale Netzwerke ahmen in einer synthetischen Neuron-plex-Anordnung die Gehirnfunktionen nach; Fuzzy Logic setzt sich mit den Grenzen des Boolschen Kalküls und den neuronalen Netzen auseinander und versucht, Ungenauigkeit, Ambiguität und Unentscheidbarkeit in dem Maße zu modellieren, in dem diese Phänomene in der neuen Lebenspraxis des Menschen an Bedeutung gewinnen.

Sampling

Im Rahmen der Schriftkultur vollziehen sich Erinnern und Besinnen und die daran geknüpfte Logik hauptsächlich durch Zitieren. Etwas zu wissen, heißt hier, darüber schreiben zu können und auf diese Weise die Logik der Schrift zu bekräftigen. Lebenswege werden in der Erinnerung aufbewahrt, Tagebücher sind auf einen intendierten Leser hin (Geliebter, Kinder, Nachwelt) interpretierte Lebenswege. Die schriftkulturellen Mittel, über aufeinander abfolgende praktische Erfahrungen gemeinsam zu verfügen, beinhalten die entsprechende Logik und beeinflussen Erfahrung und deren Kommunikation. Alles scheint sich aus demselben Zusammenhang zu ergeben: aus dem Wissen um die Mittel, die die Erfahrung nacherleben lassen. Die auf Schrift basierende Erkenntnislehre mit der ihr impliziten Logik gründet darauf, die Erfahrung als Spracherfahrung beständig neu zu schaffen und nacherleben zu lassen. Deshalb ist jede Form des Schreibens auf der Grundlage der in der Schriftkultur verkörperten Struktur (literarisch oder philosophisch, religiös, wissenschaftlich, journalistisch oder politisch) in Wirklichkeit ein Nachschreiben (rewriting).

Hingegen ist in einem Stadium jenseits der Schriftkultur das Prinzip des Sampling—ein Begriff, den wir aus der Genetik kennen—vorherrschend. Wir wollen Zitieren und Sampling kurz miteinander vergleichen. Die schriftliche Aneignung in Form des Zitierens vollzieht sich innerhalb der schriftkulturellen Strukturen. Schriftsprachliche Abfolgen sind so ausgelegt, daß sie die Worte eines anderen ohne weiteres integrieren können. Ein Zitat signalisiert zugleich die gewünschte Hierarchie, sei es durch Anrufung, sei es durch Infragestellung der zitierten Autorität. Autorenschaft wird ausgeübt, indem ein Kontext für die Interpretation und zugleich schriftkulturelle Regeln für deren Vermittlung geschaffen werden. Insofern erfüllen auch die Interpretationen die Erwartungen, daß mit ihnen die deterministische Struktur der Schriftkultur, ihre innere Logik, reproduziert wird. Zugleich unterstützt das Zitat eine zentralistische Sichtweise, indem es sich als Interessens- und Verstehenszentrum setzt.

Die jenseits schriftkultureller Verfahren liegende Aneignung widersetzt sich der Hierarchie und der Sequentialität, widersetzt sich dem Gedanken der Autorschaft und den Regeln des logischen Schlusses. Sie kennt keine elementaren bedeutungstragenden Einheiten und geht mit ihren Auswahlverfahren weit über wohlgeformte Sätze, über Wörter, Morpheme oder Phoneme und die formale Logik hinaus. Die Techniken des Sampling gehen bis zur Rückgängigmachung. Die Aneignung kann sich auf Wortrhythmen beziehen oder auf Satzstrukturen, auf das Feeling eines Textes oder auf die vielen anderen nicht-schriftlichen Ausdrucksformen. Alles, was sich auf einen geschriebenen Satz bezieht—und im übrigen auch alles, was sich auf Musik, Malerei, Geruch, Textur, Bewegung (von Personen, Bildern, Baumblättern, Sternen, Flüssen usw.) bezieht—kann ausgewählt, in Einheiten jeder gewünschten Größe aufgelöst und als ein Echo der in ihr verkörperten Erfahrung angeeignet werden. Genetische Konfigurationen, wie sie sich bei Pflanzen oder anderen lebendigen Einheiten finden, können ebenfalls vom Sampling erfaßt werden. Durch das genetische Splicing wird die Relation zur umfassenderen genetischen Textur von Pflanzen oder Tieren aufrecht erhalten. So werden auch Wörter, Sätze oder Texte durch Splicing an die allgemeine Erfahrung rückgebunden, in der sie konstituiert wurden.

Derartige Relationen sind stark relativiert und unterliegen einer Vagheitslogik. Wenn sie sich auf das beziehen, was wir schreiben, werden sie durch emotionale Komponenten angereichert, die die schriftkulturelle Erfahrung aus dem schriftlichen Ausdruck verdrängt hatte. Wo sich früher die Strenge und die Logik des guten Schreibens gegen alle denkbaren Störfaktoren zur Wehr setzten, ist nun Platz für Variation, für Spontaneität, für das Zufällige. Wenn sich diese Beziehungen auf biologische Strukturen erstrecken, betreffen sie spezielle Eigenschaften wie Komposition oder Verderblichkeit. In dieser Kultur des Sampling gibt es keinen allgemeinverbindlichen Korpus schriftkultureller Texte und damit verbundener Logik; die vorherrschende Dynamik dieses Entwicklungsstadiums betrachtet die Vergangenheit allenfalls als ein erweitertes Alphabet, aus dem man zufällig oder systematisch diejenigen Buchstaben auswählen kann, die zum jeweiligen Vorgang passen. Diese Buchstaben bilden ein Alphabet sui generis, verändern sich gemeinsam mit den praktischen Erfahrungen, auf die sie sich beziehen, und interagieren mit zahlreichen logischen Regeln für ihren Gebrauch oder für das Verständnis ihrer Funktionsweise. Hierbei wird Interpretation nicht nur ein Akt der Sprachverwendung, sondern der Hervorbringung von Sprache. Das biologische Sampling und das damit zusammenhängende Splicing betrachtet auch das Lebendige als einen Text. Beide Verfahren bearbeiten die ausgewählten Komponenten, um ihren Geschmack, ihr Aussehen, ihren Nährwert usw. zu verbessern. Darin liegt das eigentliche Ziel der genetischen Steuerung; in dieser Erfahrung hat die Logik des Lebens, wie sie sich in den DNA-Sequenzen und Konfigurationen ausdrückt, die Oberhand über die Logik von Sprache und Schriftkultur gewonnen, auch wenn die in der Genetik noch so prominente Textmetapher dabei eine so wichtige Rolle spielt. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß das Wort Text vom lateinischen Wort für weben kommt und erst später auf zusammenhängende geschriebene Satzgebilde angewandt wurde.

Nicht alles, was durch Sampling zusammenkommt, wird in eine graue Informationsmasse umgewandelt. In ihrer Lebenspraxis tragen die Menschen Gefühle und Empfindungen zusammen, Lebensmittel im Supermarkt, Unterhaltungsprogramme, Kleidung und sogar Partner (für bestimmte Gelegenheiten oder als Lebenspartner, als Geschäftspartner und vieles andere mehr). Im Gegensatz zum Zitieren führt das mehr oder weniger ungesteuerte Zusammentragen zu einer Trennung von dem, was die Schriftkultur als Tradition und Kontinuität gepriesen hat. Vor allem stellt sie den Begriff der Verfasserschaft in Frage. In dem Maße, in dem das Sampling in unserer Erfahrung Raum greift, gewinnt der Mensch eine sehr spezifische Freiheit, die innerhalb der Grenzen der schriftkulturellen Erfahrung nicht möglich war. Tradition wird ergänzt durch Innovationsformen, die ein durch Progression und dualistische (wahr—falsch) Erfahrung gekennzeichneter pragmatischer Rahmen nicht kannte. Besonders deutlich wird das daran, daß auf das Sampling stets die Synthese folgt, die weder wahr noch falsch, sondern (bis zu einem gewissen Grad) angemessen ist. In der Musik wird für diesen Zweck ein Gerät verwendet, das man Sequencer nennt. Das Zusammengesetzte, das Komponierte, ist synthetisch. Das ermöglicht eine neue Erfahrung, die formal gesehen den sogenannten Ad-hoc-Sprachen und ihrer Verwendung entspricht. Der Mix Master ist eine Maschine für das Recycling von willkürlich definierten Kompositionseinheiten wie Noten, Rhythmen oder Melodiemustern, die aus ihrem pragmatischen Zusammenhang genommen wurden. All dies gilt auch für den biologischen Text, auch für die Biologie des Menschen. In gewisser Weise gewinnt die Genmutation den Status eines neuen Verfahrens, mit dessen Hilfe man neue Pflanzen und Tiere, auch neue Materialien, synthetisch gewinnen kann.

Die Collagetechnik in der Kunst gründet auf einer ähnlichen Auswahllogik, die über die realistische Darstellung hinausgeht. Logische Gesetze der Perspektive werden durch Gesetze der Gegenüberstellung aufgehoben. Als künstlerische Technik antizipiert die Collage die Stadien des Sampling und der erwähnten Kompositionsform. Mit all diesen Entwicklungen wird aber unsere Vorstellung von geistigem Eigentum, Markenzeichen und Copyright verändert, die allesamt einer Logik entspringen, welche an die Erfahrung der Schriftkultur gebunden ist. Der Begriff der Autorschaft ist überholt; sobald etwas in die Öffentlichkeit geraten ist, ist es Gemeinbesitz.

Auch postmoderne Literatur und Malerei kennen die Technik des Sampling—mit einer Offenheit für alles, was unser heutiges Alltagsidiom der Maschinen und Verfremdung zu bieten hat. Auch das Sampling bei Pflanzen, Früchten oder Mikroben ist nicht auf die Bewahrung ursprünglicher Identität gerichtet, sondern auf die Hervorbringung neuer Identitäten, die ihren Platz in unseren neuen Erfahrungen der Selbstsetzung zugewiesen bekommen. Unter dem Gesichtspunkt der Logik ist das Verfahren insofern interessant, als es neue Bereiche der logischen Angemessenheit einrichtet. Logische Identität wird aus einer dynamischen Perspektive neu definiert. Unter pragmatischem Gesichtspunkt können z. B. bestimmte Erfahrungen durch Anwendung einer bestimmten Form von Logik maximiert werden. In anderen Fällen können komplementäre Formen der Logik—die sich so ergänzen, daß eine jede auf einen bestimmten, genau definierten Aspekt des Systems bezogen ist—für bestimmte Strategien des gestaffelten Managements, für bestimmte Abläufe oder für parallel verlaufende Abläufe in Frage kommen. So verbinden z. B. Strategien zur Maximierung wirtschaftlicher Transaktionen verschiedene entscheidungstragende Schichten, derer jede einzelne eine andere logische Voraussetzung hat. An die Stelle eines einzigen, festgelegten logischen Rahmens auf der Grundlage der Schriftkultur tritt eine Vielzahl logischer Rahmen, die sich auf die Vielfalt unserer neuen Lebenspraxis einstellt.

Wir wollen einen letzten Gedanken verfolgen. Reicht es festzustellen, daß die Sprache die ideologische und soziale Identität des Menschen ausdrückt? Die Auseinandersetzung mit der Sprache, genauer: mit der Verkörperung der Sprache in der Schriftkultur, ist eine Auseinandersetzung mit allen bio- und soziologischen, politischen und kulturellen Aspekten, die die Spezies Mensch ausmachen. Dabei erweist sich der logische Aspekt offenbar als grundlegend: bio-logisch, sozio-logisch usw. Daraus ergibt sich eine Hierarchie, die möglicherweise nicht jedem einleuchten wird, nimmt doch die Sprache in diesem System einen höheren Platz zwischen allen am Prozeß der menschlichen Selbstsetzung beteiligten Faktoren ein. Um als zoon politikon, als homo sapiens, als homo ludens oder als homo faber zu gelten, muß der Mensch zu all jenen Interaktionen befähigt sein, die jeder dieser Begriffe beschreibt: auf der biologischen Ebene, auf der gesellschaftlichen Ebene, innerhalb von Interessensstrukturen, die er mit anderen Menschen teilt, im Bereich seiner eigenen Anlagen. Eben deshalb definiert sich der Mensch durch ein praktisches Handeln, das die Verwendung von Zeichen wesentlich mit einbeschließt.

Der Mensch gewinnt seine Identität auf den verschiedenen Ebenen, auf denen solche Zeichen hervorgebracht, interpretiert, verstanden und zur Erstellung neuer Zeichen verwendet werden. Felix Hausdorf hat deshalb den Menschen auch als ein zoon semeiotikon, als ein semiotisches, ein Zeichen verwendendes Wesen bezeichnet. Charles Sanders Peirce hat im übrigen die Semiotik als eine Logik der Unbestimmtheit verstanden. Die Zeichen—Bilder, Laute, Gerüche, Texturen, Wörter (oder Wortkombinationen)—die einer Sprache, einem Diagramm, der mathematischen oder chemischen Formelsprache, einer neuen Sprache (etwa in der Kunst, der Politik oder im Bereich des Programmierens), einem genetischen Code usw. zugehören—sind auf den Menschen bezogen, nicht abstrakt, sondern konkret an unserem Leben und an unserer Arbeit beteiligt.

Memetischer Optimismus

John Locke hat bereits erkannt, daß jegliches Wissen aus der Erfahrung hergeleitet ist. Bezüglich der Logik oder der Mathematik war er sich dessen nicht so sicher. Wenn wir aber Erfahrung als praktisches Handeln des sich damit selbst setzenden Menschen definieren, als ein Handeln, aus dem sich die veränderbare Identität von in diese Erfahrung eingebundenen Einzelnen oder Gruppen ergibt, dann leitet sich auch die Logik wie alles Wissen und wie die Sprache aus der Erfahrung her. Damit siedeln wir die Logik nicht außerhalb des Denkens an, aber in der Erfahrung; aufgeworfen ist damit die Frage nach der logischen Replikation. Dawkins hat den Replikator als ein biologisches Molekül definiert, das "die außerordentliche Eigenschaft hat, von sich selbst Kopien anzufertigen". Eine solche Einheit verfügt offenkundig über Fruchtbarkeit, Treue und Langlebigkeit. Auch die Sprache ist ein Replikator; genauer: ein replikatives Medium. Die Frage ist, ob Verdoppelung nur kraft der eigenen strukturellen Merkmale möglich ist oder ob man z. B. die Logik als Replikationsregel in Erwägung ziehen muß. Vielleicht ist ja sogar die Logik ihrer Natur nach replikativ.

Solche Überlegungen gehören in den weiteren Rahmen der Memetik.
(Memetik soll den Begriff Genetik anklingen lassen und als
Forschungsgegenstand die Meme, nicht die Gene, haben.) Sie geht von
der Annahme aus, daß Meme, die geistigen Äquivalente zu Genen, auch
Evolutionsmechanismen unterworfen sind. Im Gegensatz zur natürlichen
Evolution vollzieht sich memetische Evolution in effizienteren
Größenordnungen und mit viel größerer Geschwindigkeit.

Zur Erklärung von kultureller Übertragung oder des kulturellen Erbes—seien sie nun genetischer oder memetischer Natur oder eine Verbindung aus beiden—wurde bisweilen auf die Existenz eines Bedeutungsgens geschlossen. Würde ein solches Gen existieren, würde das nicht heißen, daß Signifikation durch memetische Replikation übertragen wird, sondern daß die praktischen Erfahrungen der Selbstkonstituierung des Individuums den Akt der Bedeutungsherstellung in der Verkleidung verschiedener auf Zeichenprozesse bezogener Logikformen einschließt. So verstanden wäre Replikation nicht eine Replikation von Information, sondern von fundamentalen Prozessen, zu denen u. a. die Konstituierung von Bedeutung gehört. Die Evolution der Sprache und die Evolution der Logik gehört zur allgemeinen kulturellen Evolution. Die Mutation von Memen und die Erweiterung einer begrenzten Skala, etwa die Skala begrenzter künstlicher Sprachen und begrenzter logischer Regeln, kann in Beschreibungen wiedergegeben werden, die den genetischen Gleichungen ähneln. Wenn sich aber die Skala verändert, dürfte sich die daraus resultierende Komplexität in solchen Formalisierungen nicht mehr ausdrücken lassen.

Wie dem auch sei, Ausdruck, Kommunikation, Signifikation und die fundamentalen Funktionen jedes Zeichensystems sind, unabhängig von der ihnen eigenen Logik, mit replikativen Qualitäten versehen. Logik verhindert Entstellung oder stellt doch zumindest die Mittel bereit, solche zu identifizieren. Zum besseren Verständnis dieser Behauptung brauchen wir uns nur die Replikationsformen vor Augen zu halten, die bei der Behandlung von Daten in einem Computer im Spiele sind. Die Botschaft Error signalisiert den falschen Umgang mit Daten und deutet mithin auf einen falsch verlaufenden Replikationsprozeß hin. Wie jedes Beispiel hinkt auch dieses: Es könnte ja sein, daß diejenige Logik, nach dessen Gesetzen die Replikation überprüft wurde, sich für Replikationsprozesse, die ihrer Natur nach anders sind, nicht eignet. Wenn wir z. B. die der Schriftkultur eigene Logik für semiotische Prozesse heranziehen würden, die für unser Stadium jenseits der Schriftkultur charakteristisch sind, würde der Error-Hinweis, der uns einen falschen Umgang mit Daten signalisiert, überall auf dem Monitor aufblinken. Womit auch immer wir es in der praktischen Erfahrung der elektronischen Datenverarbeitung zu tun haben und was auch immer Virtualität definiert, alles bezieht sich auf einen logischen Rahmen, der in keinerlei Hinsicht als memetische Replikation der aristotelischen Logik oder irgendeines anderen in die Schriftkultur eingebetteten logischen Systems verstanden werden kann. Meme können repliziert werden, gleich ob sie in neuronalen Strukturen, als Muster von Rinnen, auf einer CD-ROM, oder in einem HTML- (hyper text markup language-) Web-Format existieren. Die Interaktionen zwischen den Trägern solcher Meme (zwischen natürlichen und/oder künstlichen Gehirnen) entsprechen einem anderen dynamischen Bereich, dem ihrer gegenseitigen Identifikation.

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Personenregister

Aristoteles Buch II, Kapitel 5
Barnard, F. R. Buch IV, Kapitel 1
Barthes, R. Buch II, Kapitel 4; Buch IV, Kapitel 6
Barzun, J. Buch III, Kapitel 3
Baudrillard, J. EINLEITUNG
Bayer, H. Buch III, Kapitel 1
Beethoven, L. van Buch V, Kapitel 1
Bell, A. G. Buch I, Kapitel 2; Buch IV, Kapitel 5; NACHWORT
Benn, G. Buch I, Kapitel 2
Berlin, I. Buch IV, Kapitel 5
Bloom, A. Buch I, Kapitel 1
Brown, J. C. Buch I, Kapitel 2
Burgess, A. Buch II, Kapitel 4
Carpenter, E. Buch I, Kapitel 1
Childe, G. V. Buch II, Kapitel 4
Chomsky, N. Buch II, Kapitel 3; Buch III, Kapitel 2; Buch V, Kapitel
1
Chruschtschow, N. Buch IV, Kapitel 5
Clausewitz, Carl von Buch IV, Kapitel 6
Conway, J. H. Buch V, Kapitel 2
Cooper, P. Buch I, Kapitel 2
Darius Buch IV, Kapitel 6
Dawkins, R. Buch II, Kapitel 5
Descartes, R. Buch IV, Kapitel 3
Dewey, J. Buch I, Kapitel 2
Dijkstra, E. Buch III, Kapitel 2
Durkheim, E. Buch IV, Kapitel 3
Edison, T. A. Buch I, Kapitel 2; Buch IV, Kapitel 5
Einstein, A. Buch IV, Kapitel 3; Buch V, Kapitel 2
Emerson, R. W. Buch I, Kapitel 2
Engels, F. Buch IV, Kapitel 5
Enzensberger, H. M. EINLEITUNG; Buch I, Kapitel 1
Epaminondas von Theben Buch IV, Kapitel 6
Fabergé, P. C. Buch IV, Kapitel 4
Faulkner, W. Buch I, Kapitel 2
Feyerabend, P. K. Buch IV, Kapitel 3
Galileo Galilei Buch IV, Kapitel 3
George III. (König v. England) Buch I, Kapitel 2
George, H. Buch III, Kapitel 2
Gestetner, S. Buch IV, Kapitel 4
Grotius, H. Buch I, Kapitel 1
Gutenberg, J. Buch II, Kapitel 4
Guttman, A. Buch IV, Kapitel 2
Hasan, B. Buch IV, Kapitel 2
Hauben, M. Buch V, Kapitel 1
Hausdorf, F. Buch III, Kapitel 1
Hawthorne, N. Buch I, Kapitel 2
Hegel, G. W. F. Buch IV, Kapitel 3
Heidegger, M. Buch II, Kapitel 4
Hemingway, E. Buch I, Kapitel 2
Heuss, T. Buch IV, Kapitel 6
Hildegard von Bingen Buch II, Kapitel 4
Homer Buch V, Kapitel 2
Huxley, A. Buch IV, Kapitel 5
Illich, I. EINLEITUNG
Irving, W. Buch I, Kapitel 2
James, H. Buch I, Kapitel 2
Jefferson, T. Buch I, Kapitel 2
Jewtuschenkos, J. A. Buch IV, Kapitel 5
Kant, I. Buch IV, Kapitel 3
Kerkhove, D. de Buch II, Kapitel 4
Kluge, J. NACHWORT
Korzybski, A. Buch II, Kapitel 3
Krause, K. NACHWORT
Lakatos, I. Buch IV, Kapitel 3
Lakoff, G. EINLEITUNG
Lanier, J. Buch IV, Kapitel 1
Le Corbusier Buch IV, Kapitel 4
Leibniz, G. W. EINLEITUNG; Buch II, Kapitel 5; Buch IV, Kapitel 1;
Buch IV, Kapitel 3
Lenin, V. I. Buch IV, Kapitel 5
Leo der Weise Buch IV, Kapitel 6
Leonardo da Vinci Buch IV, Kapitel 1
Leonidas Buch IV, Kapitel 6
Lindendorf, E. Buch IV, Kapitel 6
Llul, R. Buch II, Kapitel 4
Locke, J. Buch II, Kapitel 5
Longfellow, H. W. Buch I, Kapitel 2
Lotman, J. M. EINLEITUNG
Lukrez Buch IV, Kapitel 3
Malthus, T. R. Buch I, Kapitel 1; Buch III, Kapitel 2
Marx, K. Buch IV, Kapitel 3; Buch IV, Kapitel 5
Maturana, H. R. EINLEITUNG; Buch V, Kapitel 1
Maurice (byzant. Herrscher) Buch IV, Kapitel 6
McLuhan, M. EINLEITUNG; Buch II, Kapitel 4
Moltke, H. von Buch IV, Kapitel 6
Neumann, J. von Buch IV, Kapitel 6
Newton, I. Buch IV, Kapitel 3
Octavian Buch IV, Kapitel 6
Orwell, G. Buch V, Kapitel 2
Otto, N. O. Buch IV, Kapitel 5
Peirce, C. S. EINLEITUNG; Buch I, Kapitel 2; Buch II, Kapitel 5;
Buch IV, Kapitel 3
Platon Buch II, Kapitel 2; Buch II, Kapitel 4; Buch IV, Kapitel 3
Postman, N. Buch I, Kapitel 2
Proust, M. Buch V, Kapitel 2
Pythagoras Buch III, Kapitel 3
Ramses II Buch IV, Kapitel 6
Reich, R. B. Buch III, Kapitel 1
Remington, F. Buch IV, Kapitel 4
Remond, N. de Buch IV, Kapitel 1
Rogers, W. Buch I, Kapitel 1
Royce, J. Buch I, Kapitel 2
Sanders, B. EINLEITUNG; Buch II, Kapitel 5
Schwartzkopf, N. Buch IV, Kapitel 6
Searle, J. Buch I, Kapitel 1
Shakespeare, W. Buch IV, Kapitel 4; Buch V, Kapitel 2
Smith, J. Buch I, Kapitel 2
Snow, C. P. EINLEITUNG
Sokrates Buch I, Kapitel 2; Buch II, Kapitel 4; Buch IV, Kapitel 3
Spencer, H. Buch IV, Kapitel 3
Steiner, G. EINLEITUNG; Buch I, Kapitel 1; Buch V, Kapitel 2
Sterne, L. Buch IV, Kapitel 3
Tesla, N. Buch IV, Kapitel 5
Tiffany, L. C. Buch IV, Kapitel 4
Toqueville, A. de Buch I, Kapitel 2
Toulouse-Lautrec, H. Buch III, Kapitel 1
Turing, A. M. Buch IV, Kapitel 6
Twain, M. Buch I, Kapitel 1
Tzu, S. Buch IV, Kapitel 6
Van Gogh, V. Buch V, Kapitel 2
Vitruvius Buch IV, Kapitel 4; Buch V, Kapitel 2
Wiener, N. Buch I, Kapitel 1
Winograd, T. EINLEITUNG
Wittgenstein, L. Buch II, Kapitel 3; Buch II, Kapitel 5; Buch IV,
Kapitel 3
Zadeh, L. EINLEITUNG

Über den Autor

MIHAI NADIN, geboren 1938 in Brasov (Kronstadt), doppelt promoviert—in Ästhetik und Computerwissenschaften—und zweifach habilitiert—für Ästhetik in Bukarest, für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität München mit einer Arbeit über die Grundlagen der Semiotik—, lehrte seit 1977 u. a. in Braunschweig, München, Essen, Providence (RI), Rochester (NY), Columbus (OH) und New York. Seit 1994 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Computational Design an der Universität-Gesamthochschule Wuppertal. Seine 18 Buchveröffentlichungen und mehr als 140 Aufsätze, CD-ROM- und Internet-Publikationen weisen ihn als einen der weltweit führenden Autoren aus, die die gegenwärtige wissenschaftlich-technologische Revolution und die damit eröffneten Möglichkeiten von Kommunikation und Wissensproduktion sowohl theoretisch reflektieren als auch in der Praxis vorantreiben.

End of Jenseits der Schriftkultur
(C)1999 by Mihai Nadin

End of Project Gutenberg's Jenseits der Schriftkultur - Band 2, by Mihai Nadin