The Project Gutenberg eBook of Stille Kämpfer: Roman This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Stille Kämpfer: Roman Author: Josephine Siebe Release date: September 23, 2014 [eBook #46940] Language: German Credits: E-text prepared by Norbert H. Langkau, Jens Poenisch and the Online Distributed Proofreading Team *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK STILLE KÄMPFER: ROMAN *** E-text prepared by Norbert H. Langkau, Jens Poenisch and the Online Distributed Proofreading Team (http://www.pgdp.net) Hinweise zur Transkription Im Original in Antiqua gesetzter Text wird =so dargestellt=. Im Original gesperrter Text wird ~so dargestellt~. Weitere Hinweise finden sich am Ende des Buches. STILLE KÄMPFER. Roman von JOSEPHINE SIEBE. [Illustration] Dresden und Leipzig E. Pierson's Verlag (R. Lincke) k. k. Hofbuchhändler 1901. -- ~Alle Rechte vorbehalten.~ -- Unbefugter Nachdruck wird gerichtlich verfolgt. Druck von E. Pierson's Verlag (R. Lincke) in Dresden. [Illustration] Weit hin dehnt sich das Land, kein Hügel, keine Berge hemmen den Blick. Wogende Felder, grüne Wiesen, Seen, die wie flüssiges Silber blinken und hin und wieder ein Stück Wald, darin die weißen Stämme der schlanken Birken hell hervorleuchten und das alles überspannt vom tiefblauen Himmel, überflutet von heißem Sonnenglanz. Auf den Feldern sind die Leute beschäftigt, den goldenen Segen einzuernten. Der Vogt steht dabei und versucht die Leute mit kräftigen Fluchworten zu schnellerer Arbeit anzuspornen; nur manchmal hält er inne, um einen Schluck aus seiner Wudkiflasche zur Stärkung zu nehmen. Wie Feuer durchrieselt es ihn, immer sengender wird die Glut, nirgends kühler Schatten, es flimmert und flirrt, tanzt und schwankt um ihn her. Immer kleiner werden die schwarzen Mongolenaugen, matter die Flüche von seinen Lippen, schließlich läßt er sich auf einem Feldsteine am Wege nieder, blinzelt noch ab und zu nach den Leuten hinüber, dann sinkt der Kopf tief auf die Brust und regelmäßige Atemzüge verraten bald den Schlaf des treuen Wächters. »Er schläft,« raunen sich die Arbeiter zu und aufatmend lassen sie die Sensen sinken, die Frauen hören mit dem Zusammenbinden der Garben auf und beginnen halblaut mit einander zu schwatzen. -- Auf dem Wege, der dicht an dem Felde vorüber führt, kommt ein Mann daher in langsamen, gleichmäßigen Schritten, wie einer, dem es nicht sonderlich eilt. Es ist eine hohe Gestalt mit langherabwallendem, blonden Bart und kühn geschnittenem Gesicht. Seine einfache dunkle Kleidung verleiht ihm beinahe das Aussehen eines Priesters. »Gebenedeit sei der Herr Jesus Christus!« grüßt er laut, als er den Schnittern nahe ist. Die Mädchen kichern und die Männer wenden sich verdrossen ab, nur ein alter Mann erwidert mürrisch den Gruß und sagt: »Von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen!« Der Vogt, der von dem Schalle der Stimmen erwacht ist, fährt scheltend empor. »Stört der Ketzer, der Tagedieb uns noch in der Arbeit?« dann folgt dem ruhig Weiterschreitenden eine Flut von Schimpfworten nach, vermischt mit dem schadenfrohen Lachen der anderen. Der Gehöhnte findet kein Wort der Erwiderung, aber in seinem Gesicht liegt der Ausdruck tiefer Bitterkeit und seine grauen Augen streifen mit wehmütigem Blick die schimmernde Welt um ihn her. »Immer das alte Lied,« murmelte er. »Haß und Mißgunst auf jedem Schritt,« und dann hebt er plötzlich mit bittender Geberde die Arme zum Himmel empor: »Oh, mein Gott, hilf mir zum Frieden, gieb mir die Kraft dazu, den Kampf zu bestehen!« Wie eine Bitte und Forderung zugleich, ringen sich die Worte von seinen Lippen. Vor dem Wanderer taucht endlich ein Dorf auf, kleine mit Stroh gedeckte Hütten, hin und wieder ein Haus aus roten Ziegeln, aber nirgends ein Gärtchen davor, selten nur als Schmuck eine Staude leuchtender Sonnenblumen oder bunter Malven. Hinter den erblindeten Fenstern kein Vorhang, höchstens ein Rosmarintopf. Die Straße, die das Dorf durchschneidet, zeigt Wellenlinien, tief ausgefahrene Gleise, ab und zu ein großer Stein darin, den aus dem Wege zu schaffen, sich niemand die Mühe nimmt. -- Gänse und kleine Kinder vollführen einen hellen Lärm, Schmutz, wohin man sieht, aber alles überflutet von der leuchtenden Sonne. Vor seinem Hause sitzt Wolf Schmul; ein Schild über der Thür verkündet, daß es hier Schnaps, Bier, Seife, Zwirn, Zucker, Heringe und dergleichen mehr zu kaufen giebt. Er dreht die Daumen und rechnet, den Gruß des vorübergehenden Mannes erwidert er durch ein verstohlenes Nicken. »Der Michael Wisniewski braucht nichts von ihm, warum soll er, Wolf Schmul, da höflich sein? Aber unhöflich auch nicht, denn der Michael könnte doch einmal mit ihm ein Geschäft machen,« darum erwidert er seinen Gruß, es sieht's ja keiner. In dem Pfarrhause sind die grünen Fensterläden geschlossen, der Wanderer zögert, wirft einen halb sehnsüchtigen, halb trotzigen Blick hinüber, dann geht er weiter. Hinter ihm tönt das Gejohle der Kinder und in angemessener Entfernung folgt ihm die kleine Herde nach. Endlich sein Heim, er atmet auf! Von einem Garten umgeben, in dem es blüht in allen Farben, steht ein kleines, rotes Ziegelhaus, das sich von den anderen nur dadurch unterscheidet, daß hier spiegelnde Sauberkeit herrscht. Die Thür schließt sich hinter ihm, aber noch immer ertönt von draußen Geschrei, und häßliche Schimpfworte fliegen ihm nach, bis eine mächtige Dogge aus dem Hause tritt und ihr tiefes, zorniges Gebell die Kinderschar von dannen scheucht. Der Mann ist über den halbdunklen Flur geschritten und betritt ein großes Zimmer, das behaglich eingerichtet, nicht den Eindruck einer Bauernstube macht. Er läßt sich auf einer Bank am Ofen nieder, seine Züge sprechen von seelischer Ermüdung und wie er so vor sich niederstarrt, graben sich die Falten auf seiner Stirn immer tiefer ein. Da wird draußen auf den Fliesen des Flures ein schlürfender Schritt hörbar, die Thür des Zimmers öffnet sich und ein Mann tritt herein; der Kopf eines Fanatikers auf einem kleinen, verwachsenen Körper. Er schreitet auf den am Ofen Sitzenden zu und legt seine Hand auf dessen Schulter. »Michael, Michael!« Dieser sieht auf mit leerem, trostlosem Blick. »Benjamin, hast Du es wieder gehört, wie sie mich verfolgten, wie sie mich höhnten, mich, den Ketzer, den Ausgestoßenen?« »Ha, ha!« mit schrillem Lachen sprang er auf, »lache doch mit, Benjamin, lache doch über mich Thoren, der hier sitzt in der alten Heimat, der um sie wirbt, wie um eine spröde Schöne. Lache doch mit mir, Benjamin, über diese Thorheit, über meinen Wahnwitz, daß ich mir einbilde, ich könne den Leuten hier helfen, sie herausholen aus diesem Dunst von Aberglauben, Dummheit und Branntwein. Ein Prophet wollte ich ihnen sein, wollte ihnen den Bann zeigen, in dem sie leben, wollte sie los lösen aus -- -- ach, was wollte ich nicht alles und was habe ich erreicht? Was bin ich ihnen? Ein Ketzer, ein Fremdling in der Heimat, ein Thor, ein rechter Thor,« und er sank wieder auf die Bank und barg das blonde Haupt in den Händen. »Fort möchte ich, fort zu dem stillen Frieden des Sanddorfes hinauf, zu Tabea zurück,« stöhnte Michael. Es schien, als wachse die Gestalt des Kleinen, ein Ausdruck finsteren Hasses trat in sein Gesicht, die Augen wurden fast schwarz vor Erregung. »Fort willst Du, Michael, das begonnene Werk feige im Stich lassen? Du, ein Auserwählter, reut Dich so schnell der geleistete Schwur? Wehe Dir, Michael, wenn Du auf halbem Wege umkehrst!« Seine schmale, knöcherne Hand faßte mit eisernem Druck die Schultern des anderen und schüttelte ihn: »Hörst Du, Michael, Du darfst nicht umkehren, darfst dem großen Werke nicht untreu werden!« Langsam glitten die Hände von dem Gesicht Michaels und mit finsterem Blick streifte er den Kleinen. Ein leiser Schauer lief durch seine Glieder. »Denkst Du nicht daran, Benjamin, was Vater Abraham sagte von der Duldung des einen gegen den anderen?« Dieser schüttelte das Haupt und sagte: »Vater Abraham ist ein alter Mann, wir sind jung; als ich draußen in der Welt war, habe ich Spott und Hohn erdulden müssen um meines Bekenntnisses willen. Da habe ich gelernt, daß nicht die Duldung zum Ziele führt, nein, der Kampf allein, und ich will kämpfen für meinen Glauben! Nicht weltfern und verspottet will ich leben, frei vor den Menschen unsere Lehre bekennen; wie eine Flut, die alles mit sich reißt, soll sie die Welt überströmen. Wir dürfen nicht nachlassen, weiter, immer weiter vorwärts schreiten und Du mußt mit, es giebt kein Zurück, Du mußt Dein Wort halten, hörst Du es!« Beinahe schreiend stieß der Kleine die letzten Worte hervor, wie eiserne Klammern gruben sich seine Finger in den Arm des anderen, der diesen leidenschaftlichen Ausbruch stumm über sich ergehen ließ. Seine Augen schweiften mit traurigem Ausdruck nach der Ecke des Zimmers. Dort erhob sich, ein seltener Schmuck in einem Bauernhause, in weißer, reiner Schönheit eine Kopie von Thorwalsens unvergleichlicher Christusstatue. Ging's nicht wie ein Hauch seelischen Friedens von der weißen Gestalt aus? Sehnend streckte Michael seine Arme darnach hin, da traf Benjamins Blick mit dem seinen zusammen und dieser sagte, den Freund verstehend, mit schwankender Stimme: »Wir müssen doch kämpfen, Michael, wenn wir siegen wollen.« * * * * * Michael Wisniewski war ein Kind des Dorfes, sein Vater Vogt bei Herrn von Leninski auf Lochowo. Seine Mutter entstammte einer deutschen Familie, sie hatte lange Jahre bei einem reichen alten Fräulein in der Kreisstadt gedient, die ihr, wie ihr Mann oft sagte, nur Raupen in den Kopf gesetzt hatte. Sie hatte von ihrer Herrin vieles gelernt, vieles, was in ihrem Heimatsdorfe wenig Verständnis fand. Nach dem Tode ihrer Gönnerin kam sie auf das Gut zu Herrn von Leninski und heiratete dort bald darauf den Vogt, einen äußerlich stattlichen Mann. Die stille, sinnige Frau litt schwer unter der rohen Herrschsucht ihres Gatten, der sich bald nach ihrer Verheiratung dem Trunke ergab. Es waren wüste Scenen, die Michael aus seiner Kindheit in der Erinnerung geblieben. Polternd und fluchend kam der Vater oft heim und es geschah nicht selten, daß er sich dann an Weib und Kind vergriff. Schweigend ertrug die Mutter alles, sie fand nie ein Wort der Erwiderung auf die rohen Schimpfreden des Mannes. Michael erinnerte sich, wie sie sich nach solchen Auftritten oft mit ihm in eine Ecke geflüchtet hatte und wie dann die heißen Mutterthränen sein Haupt überströmten. -- Eines Tages fand man sie bewußtlos am Boden liegend, schreiend warf sich der Knabe über sie und versuchte, sie durch Liebkosungen zu erwecken. Noch einmal schlug sie die scheuen Dulderaugen auf und »Friede, ach Friede, der Propst soll kommen,« murmelten die Lippen und ihr Kind traf ein Blick so herzzerreißend in seinem Jammer, seiner Liebe, daß er sich dem Knaben unvergeßlich einprägte; dann ging ein Recken durch den Körper und sie war tot. Aus der Schenke holten sie den Mann, der fluchend sein Weib noch im Tode schmähte, bis er endlich einschlief. Neben der toten Mutter und dem seinen Rausch ausschlafenden Vater saß der Knabe und hielt Totenwache und grübelte über die letzten Worte der Mutter nach, bis sich ihm eine Hand auf die Schulter legte und eine ernstfreundliche Stimme sprach: »Armes, armes Kind!« Der Knabe sah auf und blickte in das Gesicht des Propstes Ryback, dem Geistlichen des Dorfes, in dessen Zügen ein eigener, liebevoller Ausdruck lag. Da vergaß Michael die ehrfürchtige Scheu, die er stets vor dem Geistlichen gehegt; er legte seinen Kopf an dessen Brust und weinte seinen heißen, jungen Schmerz an dem Herzen des Priesters aus. »Ich habe Deiner Mutter gelobt, Dich zu hüten, für Dich zu sorgen,« sagte der geistliche Herr, mit der Hand das Haupt des schluchzenden Knaben streichelnd. »Vertraue mir, ich verlasse Dich nicht, und der Segen Deiner Mutter ist mit Dir.« Von jener Stunde an war Michael der Schützling des Propstes, sein Vater hatte schnell eingewilligt, daß dieser die Erziehung des Knaben leiten sollte. Sonderbarer Weise ging der Vogt seinem Sohne aus dem Wege und es kam nicht mehr vor, daß er sich an dem Jungen vergriff. Schon da die Mutter noch am Leben war, hatte Michael wenig mit den anderen Knaben verkehrt, nun er aber der Schützling des Propstes geworden, nahm er eine ganz besondere Stellung im Dorfe ein. »Er wird ein Propst«, dies Wort gab ihm einen höheren Rang vor den anderen, es schützte ihn, isolierte ihn aber auch. Das kleine, verwaiste, sich nach Liebe sehnende Herz des Knaben schloß sich nun ganz in schrankenloser Hingabe seinem Lehrer an, und es war, als würde auch der Propst in Gegenwart des Knaben ein anderer. Kalt und streng, beinahe nie ein Lächeln auf dem schmalen, scharf geschnittenen Gesicht seiner Gemeinde gegenüber, war er für Michael immer ein gütiger, teilnehmender Freund. Nichts gab es auch, das dieser dem vergötterten Lehrer verschwieg, und freundlich mußte er oft der großen Liebe und Anbetung des Knaben steuern. Brennend war Michaels Wunsch, dereinst auch ein Priester zu werden, ihm war es Gewißheit, daß die letzten Worte der sterbenden Mutter denselben Wunsch bedeuteten. Seltsam, der Propst sträubte sich anfangs dagegen, aber da er sah, wie der heranwachsende Knabe keinen anderen Wunsch hegte, gab er nach und bereitete ihn für das Priesterseminar vor, auf das er ihn nach einigen Jahren brachte. Einsam blieb Michael auch dort, ein Fremdling unter seinen Genossen, dabei einer der fleißigsten Schüler, nur von dem Gedanken erfüllt, seinem väterlichen Freund durch treueste Pflichterfüllung zu danken. Es war ein Frühsommertag. In ewig junger Schönheit hatte die Erde sich geschmückt. Michael Wisniewski, der seit wenigen Tagen aus dem Priesterseminar zu den Ferien heimgekehrt war, genoß mit frohem Herzen den Reiz der heimatlichen Erde. Wohl hatte er gelesen, daß es fremde Länder, andere Gegenden gäbe, die herrlicher anzuschauen wären; vielleicht wie das arme Aschenbrödel gegen juwelengeschmückte Königstöchter, verglich er, sich eines deutschen Märchens erinnernd, welches seine Mutter ihm einst erzählt hatte. Trotzdem aber dünkte ihm dies Stück flachen Landes schön, wie kein anderes, und in vollen Zügen atmete er die warme Sommerluft ein. Am Morgen hatte er in des Propstes Studierstube gestanden und den Worten des geistlichen Freundes gelauscht. In dem kühlen Zimmer mit den langen Bücherreihen an der Wand, die dem blöden Dorfjungen einst so gewaltigen Respekt eingeflößt hatten, bis sie ihre goldene Weisheit auch vor ihm aufthaten und er die stummen Freunde lieb gewann. Noch klangen ihm die Worte des Priesters im Ohr: »Überlege reiflich, mein Sohn, es ist ein schöner, aber auch ein schwerer Beruf, den Du erstrebst. Fesselt Dich kein Gedanke, kein Wunsch ans Weltliche? Kannst Du ein Priester sein aus innerem Herzensdrang, wohl Dir, aber wehe, Michael, wenn Du das Gelübde, das Heilige, verletzt! -- Nur noch kurze Zeit, dann sollst Du die Weihe empfangen, darum prüfe Dich selbst. Gehe in Deine stille Kammer oder gehe hinaus in die herrliche, freie Gottesnatur, erforsche und erfrage Dein Herz, ob es nichts in der Welt giebt, das Dir begehrenswerter dünkt, ob es voll und ganz Deinem künftigen Berufe gehört?« Michael that, wie der Priester ihm geraten. Er fand aber keinen Gedanken, der ihn von der heiligen Weihe zurückhalten konnte. Vor dem Muttergottesbilde, das am Wege stand, lag er auf den Knieen und betete in heißer Inbrunst, bis der Abend herniedersank. Dann schlug er den Weg nach dem Dorfe wieder ein. Die Seele war ihm erfüllt von heiligen Schauern, aber mit leuchtenden Augen, wie ein Sieger, schritt er dahin. Tief senkte sich die Dämmerung schon nieder, als er die Dorfstraße erreichte. Vor den niedrigen Hütten saßen die Frauen schwatzend beisammen; in einer großen Pfütze mitten auf der Straße patschten die nur halb bekleideten Kinder umher, und ihr Lachen und Schreien erfüllte die Luft. Aus dem Kruge aber drang wüster Lärm, und Michael hastete, schnell daran vorbeizukommen, ihm war in seiner weihevollen Stimmung mehr denn je das tierische Brüllen der Betrunkenen zuwider. Zwei Männer kamen gerade über die ausgetretene Schwelle des Wirtshauses gestolpert, und mit jähem Schreck erkannte Michael in dem einen seinen Vater. Auch der Betrunkene hatte ihn bemerkt und lallte: »Michael, Goldsohn! kommst gerade recht, wir haben auf den künftigen, gnädigen Herrn Propst getrunken.« Dabei machte er eine Bewegung, als wolle er des Sohnes Rock küssen, verlor aber das Gleichgewicht und taumelte ihm in die Arme. Sein heißer, nach Fusel riechender Atem schlug demselben ins Gesicht. Blitzschnell tauchte da ein Bild vor des Sohnes Augen auf, die Mutter klaglos des Vaters Mißhandlungen erduldend. Zorn und Ekel stiegen siedend heiß in ihm auf, es flimmerte vor seinen Augen; dieser Niederschlag war zu plötzlich auf die Hochflut seiner Gefühle gekommen. »Weg,« keuchte er, dem Trunkenen einen Stoß versetzend, daß er rücklings zu Boden fiel. Michael achtete nicht darauf, er eilte davon, denselben Weg, den er gekommen war, bis er wieder vor dem Muttergottesbilde anlangte und hier bitterlich weinend niedersank. Er umklammerte das hölzerne Bildwerk und flehte und klagte, warum, er wußte es selbst kaum, ihm war nur, als müßte er sich retten vor dem Schmutz, den er soeben geschaut. Wie lange er so gelegen, er wußte es nicht, mit schmerzender Stirn erhob er sich endlich und schlug langsam, mit schweren Schritten, den Weg nach dem Dorfe wieder ein. Je näher er dem Vaterhause kam, desto schwerer erfaßte ein unnennbares Angstgefühl seine Seele. Es war eine klare Mondscheinnacht und in dem zitternden, silbernen Licht lag der Weg hell vor ihm, und in diesem weißen Licht konnte er deutlich sehen, daß Menschen vor dem kleinen Hause standen. Als er näher kam, sah er auch, wie sie vor ihm zurückwichen, die Weiber sich bekreuzigten und die Männer ihn mit finsteren Blicken maßen. Es hätte kaum der rötlich brennenden Wachskerzen bedurft, das Mondlicht zeigte es ihm schon; da drinnen in der Stube das Lager, auf diesem der Mann, den er Vater nannte, die Hände über der Brust zusammengefaltet, die Augen offen, mit stierem Blick auf den Sohn gerichtet, die starre Ruhe des Todes über der Gestalt. Ein einziger Laut kam über die Lippen des Jünglings, ein Schrei voll namenloser Qual. Eine Weile noch stand er, mit entsetztem Blicke nach dem Toten starrend, dann brach er zusammen; ob er es wohl noch hörte, wie die alte Anuszka aufkreischte: »Heilige Jungfrau! stehe mir bei, da ist der Mörder!« -- »Der Woiciech Wisniewski ist am Herzschlag gestorben,« erklärte der dicke Kreisphysikus, der am anderen Tage so gegen Mittag ankam; früher zu kommen war ihm nicht möglich gewesen. »Heiliger Anton«, es ist auch eine zu gemütliche Sitzung gewesen in der kleinen Weinstube des Roman Przybilski, der den besten und feurigsten Ungarwein führte weit und breit! -- »Da ist eben nichts zu machen, Herr Propst, der Wisniewski ist tot, er liebte den Wudki zu sehr, ja, das ist das Unglück der Leute!« Der dicke Herr hob das Glas mit dem funkelnden Wein in die Höhe und trank bedächtig. »Heiliger Anton, was führte der Propst für einen guten Tropfen!« -- »Also am Herzschlag gestorben und nicht an den Folgen des Falles, den er durch die Heftigkeit seines Sohnes gethan hat, ist es so, Herr Sanitätsrat?« »Ganz recht, Herr Propst, der Fall hätte den Wisniewski nicht umgebracht, der Schnaps, der Schnaps ist der Missethäter,« und der dicke Herr lacht, als erzählte er den köstlichsten Witz. Der Propst atmet tief auf, als würde eine schwere Last von seiner Seele genommen. Bei dem Scheine einer kleinen, trüb brennenden Öllampe sitzt Michael und hat einen alten, vergilbten Pappkasten vor sich. Er will die Papiere seines Vaters suchen, mechanisch löst er den Knoten, mit dem sie zusammengeknüpft, und durchblättert die wenigen Schriftstücke; die Geburtsscheine, der Trauschein der Eltern, einige verblaßte Heiligenbilder, in einer kleinen Schachtel ein silbernes Kreuz an einem schmalen Kettchen, das ist alles, aber da fällt dem Suchenden noch etwas in die Hände. Ein verschlossener Brief, darauf in verblaßter Schrift: »An meinen Sohn, wenn er groß ist.« Ein wehmütiges Lächeln gleitet über Michaels Gesicht, von seiner Mutter! Er sieht auf die ungelenken Schriftzüge und denkt an die, die sie schrieb, die in seiner Erinnerung wie eine Heilige vor ihm steht, und mit stiller Andacht öffnet er diesen letzten Gruß seiner Mutter. Er liest, liest erst mit inniger Wehmut die Unterschrift, liest dann mit wachsendem Staunen, mit herzbeklemmendem Entsetzen. Ein Schrei entringt sich seinen Lippen, die Hand ballt den Brief zusammen und schleudert ihn weit von sich, dann lacht er, ein heiseres, wahnsinniges Lachen. »Lüge, Lüge,« alles um ihn her und der Tote da drüben war sein Vater nicht, sondern der Mann, den er verehrt wie einen Heiligen, in dem er das Ideal seiner Knabenträume gesehen und seine Mutter? Da stand es in dem Briefe, das Bekenntnis ihrer Sünde, darum das schweigende Dulden, ach mein Gott! Lüge sein Leben, Lüge alles, was er geglaubt, wofür er gestrebt, was er gehaßt, was er geliebt! -- Der Jüngling barg seinen Kopf in den Händen und ein wildes, verzweifeltes Schluchzen erschütterte seinen Körper. -- Drei Tage später wanderte Michael Wisniewski aus der Heimat fort wie einer, dem noch der Schlaf die Sinne umfängt, dem noch der bange, schwere Traum einer unruhvollen Nacht auf der Seele liegt, so wanderte er dahin durch die sonnengleißenden Fluren. Tot alles, was seinem Leben Inhalt gab, herunter gerissen in den Staub, beschmutzt und zertrümmert jene stolzen Bilder, die er in seinem Herzen aufgerichtet hatte. Ein Verkünder des Friedens wollte er werden, ein demütiger Priester des Herrn, Trost den Armen wollte er bringen; so stolz hatte er sich gefühlt in seiner Kraft, in der Reinheit seiner jungen Seele. Vorbei, verloren, unwiederbringlich verloren der glückliche Kinderglaube! Ach, hätte er noch Thränen gehabt, hätte er den schweren, dumpfen Schmerz noch lösen können durch heiße, heiße Thränen. Fremder wurde die Gegend, den Spiegel des Sees sah er nicht mehr glitzern. Das weiße Schloß des Herrn von Leninski grüßte durch die grünen Bäume nicht mehr hindurch, weiter, immer weiter führte sein Weg, aus der Heimat fort in die große, fremde Welt hinein, einer mehr unter den Tausenden, die über Trümmer dahingehen. * * * * * Kalter, rauher Herbsttag war es, da brauste der Sturm über das kurische Haff und erfaßte den kleinen Ewer, dessen Besatzung tapfer versuchte, des wilden Elementes Herr zu werden. Eine Weile trieb er ihn hin und her, um plötzlich des Spieles müde, das Fahrzeug mit kräftigem Stoß, wie eine Nußschale herumzuwirbeln. Ein Gurgeln, vereinzelte Hilferufe, die in dem Tosen des Sturmes verhallten; auf dem Wasser schwammen Bretter, zerbrochene Mastbäume, hin und wieder tauchte ein bleiches Menschengesicht auf, ein Arm, der versuchte, eine rettende Planke zu erfassen. Aber die Wellen bäumten sich auf, schlugen über den kämpfenden, schwachen Menschen zusammen, und der Sturm tobte weiter, wild und übermütig. -- An einer Bucht des kurischen Haffes lag klein, weltfern und weltfremd ein Dörfchen im Sande, dessen Bewohner an jenem stürmischen Herbsttage bang auf die erregte See schauten. Da rief eine helle Mädchenstimme: »Ein Mensch, seht doch ein Mensch!« Eine Welle warf ihn hin und her wie eine Feder. »Vater Abraham hilf doch!« Das Mädchen, fast noch ein Kind, hob die braunen Augen flehend zu einem alten Manne empor. Dieser nickte nur stumm, wenige kurze Worte und drei Männer bestiegen ein kleines Fahrzeug. »Mit Gott,« sagten sie und dann begann der Kampf mit dem Meere, ihm sein Opfer zu entreißen. Atemlose Spannung, stille, angstvolle Gebete und dann ein Jubelschrei aus allen Kehlen. Triefend, aber mit stolzem, festen Schritt kamen die Männer ans Land, einen in ihren Armen, der bleich und still war. »Eile, Tabea, rüste ein Bett im Hause, so Gott dem Fremdling das Leben läßt, soll er Pflege bei uns finden.« Das Mädchen eilte davon, und bald lag der Gerettete in den bunten Kissen des großen Federbettes in der Staatsstube des Fischerhauses und Vater Abraham hob dankend die Augen zum Himmel auf. »Er lebt!« -- An dem Herd in der Küche, von der Glut des Feuers rosig angehaucht, stand Tabea und ihre Lippen sprachen auch ein dankbares: »Er lebt, er lebt!« Wohl lebte der Fremdling, den der Sturm in das stille Haus in dem Dorfe auf dem Sande verschlagen hatte, er lebte, aber hitziges Fieber durchtobte den jungen Körper und Wochen vergingen, ehe Vater Abraham sagen konnte: »Er lebt! und so Gott will, wird er gesund am Leib und der Herr gebe, daß auch die Seele gesunde, denn die Fieberträume haben mir verraten, wie krank diese arme, junge Seele ist.« -- -- Schon durchwirbelte weißer Schnee die Luft, Wälle von Schnee türmten sich wie eine Mauer um das Dorf auf dem Sande und das Brausen des Meeres klang dumpf und drohend, als wolle es den Winter warnen, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Im hochgetürmten, altmodisch geschnitzten Bette lag Michael Wisniewski und schlief. Der grüne Kachelofen spendete treulich Wärme und die matte Wintersonne fiel durch das Fenster grade auf Tabeas dunklen Scheitel. Das Mädchen saß vor dem Bette, die Hände in dem Schoß gefaltet und sah mit dunklen, träumerischen Kinderaugen auf den Schlafenden. »Wenn er erwacht aus dem Schlaf, werden seine Sinne klar sein,« hatte Vater Abraham gesagt und nun saß das Mädchen und harrte des Augenblicks, da der Fremdling mit dem schönen, bleichen Gesicht die Augen öffnen würde. Das junge Herz des Mädchens war voll Mitleid für den armen blassen Mann, wirr waren die Worte gewesen, die er im Fieber gesprochen. Oft war Tabea erschrocken zurück gewichen, wenn der Kranke so geschrieen und wilde Flüche ausgestoßen hatte. »Seine Seele ist krank,« so hatte Vater Abraham gesagt und das Mädchen hatte still gefleht: »Ach, heiliger Gott, gieb ihm auch die Gesundheit der Seele wieder.« * * * * * Stille Leute waren es, die in dem Dorfe auf dem Sande wohnten; aus fernen Landen waren ihre Vorfahren, verfolgt um ihres Glaubens willen, hierher geflüchtet, hatten hier ihre Heimat gegründet und lebten weltfern, treu an dem alten Glauben haltend, bei einander. Vater Abraham, in dessen Haus der Sturm Michael Wisniewski verschlagen hatte, war der Älteste der Gemeinde und genoß hohes Ansehen, nicht allein bei den Seinen, nein, auch aus den Dörfern, die hinter den Sandwällen im blühenden Lande lagen, kamen die Leute zu dem alten Mennoniten und holten sich manch' guten Rat. Hell flackerte das Feuer in dem großen Kachelofen, vor dem Michael, sorgsam in Decken eingehüllt, saß, knisternd sprühten die Funken und eine trauliche Wärme umgab den Kranken. Rötliches Licht lag schimmernd auf den altmodischen Möbeln und auf den blitzenden Kannen und Krügen, die den Sims zierten. »Das Meer braust und der Sturm heult, da ist es nicht gut draußen zu weilen,« sagte Abraham Jakobeit, der auf der Ofenbank saß, zu seinem jungen Gaste. Der schaute mit sinnenden Augen in das helle Feuer, die Blässe der Krankheit lag noch auf seinem Gesicht, aus den Augen leuchtete noch nicht frohes Hoffen der Genesung, wie ein Schleier war es darüber gebreitet. »Doch muß es schön sein, da unten zu schlafen auf dem kühlen, nassen Grunde! Mag der Sturm toben, mag das Meer zürnend grollen, der da unten liegt, der hört es nicht mehr! Warum, ach, warum habt Ihr grade mich gerettet!« so klagte der Kranke mehr zu sich, als zu dem Alten gewandt. Der sah mit seinen hellen Augen prüfend zu ihm hin. »Seine Seele ist krank,« hatte er zu Tabea gesagt, nun genas der Körper, ob es ihm wohl gelang, auch die junge Seele zu retten? »Neunundsechszig Jahre hat mein Leben gewährt,« sprach der alte Mann, »gute Stunden hat es mir gebracht, aber auch Stunden voll Herzleid und Gram. Stunden, in denen ich zu Gott gerufen habe: Warum, warum mir dies Leid, habe ich denn so große Sünde gethan? Mein Gott hat mir die Antwort ins Herz gelegt und ich bin stille geworden. Manchmal bin ich draußen auf dem Meere gewesen, dann kam mir in meinem Leid wohl der Gedanke, wie schön es sein müßte, da unten zu liegen in tiefem Schlaf, die Stimme in mir aber sprach: Wenn Deine Zeit gekommen ist, wird Dein Herrgott Dich rufen! und ich sah um mich und fand, daß meine Arbeit noch nicht gethan, daß mein Leben noch nicht so gewesen, daß ich von hinnen gehen konnte mit dem Gefühl, Du bist nicht ganz unnütz gewesen. Dann nahm ich meine Arbeit auf und über der Arbeit schwand mein lauter Schmerz, er wurde still, ich lernte sehen und sah, daß es noch mehr Leid gab, noch schwereres als das meine. Seht, Ihr seid jung, dem Meere habe ich Euch abgerungen, mit Gottes Hilfe gelang es meinen schwachen Kräften auch die Macht des Fiebers zu bewältigen. Nicht Neugier ist es, nur herzliche Teilnahme, wenn ich Sie bitte, vertrauen Sie mir Ihren Kummer an, noch können meine Schultern eines anderen Herzeleid mit tragen.« Da schlug Michael die Hände vor sein Gesicht und heiße Thränen rannen ihm über die bleichen Wangen. »Ich kann nicht, kann es nicht sagen,« stöhnte er. »Noch nicht,« klang das Echo in dem Herzen des alten Mannes, »aber gesegnet seien diese Thränen, mich dünkt, es sind seit lange die ersten!« Die Tage verrannen, strenger Winter herrschte im Land, aber Michael merkte es kaum, so warm war er gebettet, so umhegt von sorgender Liebe. Da war Frau Johanna, Vater Abrahams Tochter, die vereinsamt nach dem Tode von Mann und Kind ins Vaterhaus zurückgekehrt. Wie sie bemüht war um den Genesenden und dieser, für den außer der seiner Mutter, noch keine Frauenhand liebend gesorgt, empfand dankbar diese freundliche Sorge, an der auch Tabea teilnahm. Und dann diese Plauderstunden am flackernden Feuer, in denen der alte Mennonit aus dem reichen Born seiner Lebenserfahrungen schöpfte. Wie gern lauschte Michael, eine andere, eine neue Welt war es, die sich vor ihm aufthat, war es die bessere? Mennoniten nannten sich die Leute, unter die ihn das Schicksal verschlagen hatte, Ketzer nach seinem alten Glauben; er erinnerte sich wohl, wie Propst Ryback diese Sekte einst heftig geschmäht hatte. Aber waren die Menschen, die ihn so hegten und pflegten wie ihren eigenen Sohn, wirklich so verdammungswürdig? -- Lange schwieg Michael über sich und seine bitteren Erfahrungen, aber dann kam eine Stunde, in der er, in traulicher Dämmerung neben dem alten Manne sitzend, mit diesem über das, was sein Herz bewegte, zu reden begann. Er sprach von den Stürmen seiner Jugend, von seinen hohen, stolzen Plänen, einst ein Auserwählter des Herrn, ein Bote des Friedens zu werden. Dann, leise stockend, von seltsamem Vertrauen zu dem Alten erfüllt, sprach er auch von dem Fluch, der sein Leben vergiftet, von der Erkenntnis der Sünde seiner Eltern. Was er begraben im tiefsten Herzen, er holte es vor, und in leidenschaftlicher Anklage sprach er von jener Stunde, da er voll Schmerz und Zorn vor seinem Vater gestanden, da er ihm geflucht hatte, ihm und der toten Mutter. Bis er dann endlich zur Besinnung gekommen war und all' die leidenschaftliche Liebe, die er für den Freund gehegt, wieder zum Durchbruch kam. Er sah wieder das zu Eis erstarrte Gesicht des Mannes, hörte die heisere Stimme: »Schweig', Bube, Fluch über Dich, wenn Du verrätst, was zwischen uns steht, geh' fort von hier, so weit wie möglich -- fort, fort!« Und in seinem Gesicht las man die Angst, die blasse Furcht vor dem Urteil, vor dem Gerede der Menschen; da ergriff den Sohn grenzenlose Verachtung und er stürmte hinaus. Michael stöhnte auf, zu machtvoll war die Erinnerung über ihn gekommen. -- »Seit Jahren bin ich umhergewandert,« fuhr er fort, »damals, als mein Ziel, mein Streben, mein Hoffen zu meinen Füßen lag, wurde ich Seemann, mich trieb es so viel Meilen wie möglich zwischen die Heimat und mich zu legen. Viel bin ich umhergewandert, in fernen Weltteilen bin ich gewesen, mein Blick ist weiter geworden, meine Kenntnisse größer, aber etwas habe ich nicht wieder finden können -- den alten Kinderglauben. Was damals in meinem Herzen zerbrochen ist, habe ich nicht mehr auffrischen können, nicht mehr die Brücken finden, die mich hinübergeleitet hätten in das Land des Glaubens. Welcher ist der rechte? Über diesem Grübeln habe ich ihn verloren!« Wie ein Aufschrei kamen diese Worte aus seiner Brust, und erschüttert sah der alte Mann auf seinen jungen Gefährten nieder. »Ja, Du armes, junges Blut, Du arme, kranke Seele! Mein Herrgott, gieb mir die Kraft, sie zu heilen,« bat er in seinem Herzen, und mit sanfter Hand begann er die Heilung. Aus dem Buche seines Lebens und seiner Lebenserfahrungen berichtete er seinem jungen Gaste, und dieser lernte daraus verstehen, wie es kam, daß dieser einfache Fischer seine Genossen so an Kenntnissen überragte. In seiner Jugend war Abraham Jakobeit als Seemann Jahre lang in fernen Landen gewesen, er hatte es bis zum Kapitän gebracht. Sein Weib war ihm gestorben und sein Sohn wurde bei Verwandten der Frau erzogen. Jung ging auch dieser in die Welt und verlor sein Leben auf der See. Da sehnte sich auch Abraham nach Ruhe, er kehrte zurück in die Heimat und nahm Benjamin und Tabea, die verwaisten Kinder seines Sohnes zu sich. Seit Jahren lebte er nun wieder hier in der Heimat, seine reicheren Erfahrungen, sein größeres Wissen zum Besten seiner Mitmenschen verwertend. Er war ein gläubiger Mennonit geblieben, lebte getreu den einfachen, strengen Satzungen seiner Sekte, verabscheute den Krieg, hoch über Allem stand ihm der Frieden im Herzen der Menschen zueinander, aber er hatte draußen in der Welt gelernt, daß jeder Glaube, so er nur aufrichtig sei, zum Guten leiten könne, und diese seine Überzeugung sprach er auch offen gegen Michael aus. Immer inniger schloß dieser sich an den alten Mann an, je mehr seine Körperkräfte zunahmen, desto lichter wurde es auch in seinem kranken Gemüte. Er fühlte sich zufrieden in dem kleinen Kreise, und bald gehörte er so dazu, daß der Gedanke an Trennung in weite Ferne gerückt wurde. Für Vater Abraham war er ein Sohn, für Frau Johanna ein Kind ihrer mütterlichen Sorge, für Tabea ein älterer Bruder, und für Benjamin? Das hätte er wohl selbst nicht zu sagen gewußt, was er für diesen bedeutete. Es war überhaupt etwas Eigenes um Benjamin. -- Verwachsen und schwächlich, hatte dieser von Kindheit an eine etwas einsame Stellung eingenommen, die durch sein verschlossenes, grüblerisches Wesen noch verschärft wurde. Wie ein Fremdling stand er unter den Seinen, fremdartig war schon sein Äußeres, er gehörte mehr dem Stamme seiner Mutter an, die eine Südländerin gewesen war. Sein scharfgeschnittenes Gesicht mit den leidenschaftlichen, dunklen Augen hatte so wenig Ähnlichkeit mit den hellen Zügen Vater Abrahams, wie sein wilder Fanatismus mit dessen milder Güte. Ja, fanatisch war Benjamin, und Michael entsetzte sich fast, als er das erstemal die Wahrnehmung machte, welch finsterer Geist in dem Körper des Verwachsenen wohnte. Da war nichts von der milden Friedenslehre des Großvaters, nichts von Tabeas reinem Kinderglauben, nicht Duldung und Frieden, Kampf, erbitterter Kampf war dessen Losung. Nach und nach hatte auch Michael mehr von Benjamins Leben erfahren. Dieser war mehrere Jahre in Amerika gewesen, hatte sich dort einer Sekte angeschlossen, die aus den Mennoniten hervorgegangen war, aber noch wenig gemein hatte mit deren alten, einfachen Satzungen. Von verschiedenen Sekten etwas annehmend, waren sie nach und nach zu wilden Fanatikern geworden. Vor einem Jahre ungefähr war er dann zurückgekehrt, und mit tiefem Schmerz hatte der Großvater erkannt, wie verschieden ihre Anschauungen geworden sind. Beherrscht von fanatischem Glaubenseifer, getrieben von dem brennenden Ehrgeiz, eine Rolle zu spielen, wollte der Enkel ein Prophet werden. Er fand die Lehren des Großvaters viel zu kindlich, zu sanft. Mit Feuer und Schwert wollte er die Welt erobern, seine Lehre sollte herrschen, vor ihr sollte die Menschheit sich beugen. -- Anfangs stieß Michael diese wilde Art ab, aber hatte er nicht auch einst davon geträumt, ein Lehrer, ein Prophet zu werden? Wohl stritt er sich mit Benjamin, aber doch suchte er ihn wieder auf, und nach und nach gewann dieser Einfluß auf Michael. Niemand gewahrte es, wie er diesen im Grunde etwas schwankenden Charakter beherrschte, stärker war noch Vater Abrahams und Tabeas milder Einfluß; aber Benjamin war klug und sagte sich, daß, sobald dieser nicht unmittelbar sei, er der stärkere werde, und Michaels glänzende Rednergabe und seine stattliche, sympathische Erscheinung brauchte er zu seinen Plänen, das waren Vorzüge, die ihm fehlten, wie er mit Bitterkeit längst erkannt hatte. Er wagte aber auch nicht, dem Großvater gegenüberzutreten, denn so sehr er sich innerlich dagegen sträubte, die milde Ruhe, die klare, freundliche Weltanschauung und der echte, tiefe Glaube des Alten zwangen ihm unendliche Hochachtung ab. Er hoffte auf die Zeit, einmal mußte sie kommen, da er mit Michael das große Werk der Bekehrung begann. -- So flossen die Monde dahin, der Fremdling, der einst krank und weltmüde im Dorfe auf dem Sande eingekehrt, war nun ein lieber Hausgenosse geworden; er trieb im Sommer das Gewerbe der Männer, die Fischerei, erweiterte im Winter seine Kenntnisse durch eifriges Studium. Die kleinen Ersparnisse aus seiner Wanderzeit benützte er teilweise dazu, sich eine Bibliothek anzuschaffen. Wohl kam ihm manchmal die Sehnsucht nach der verlassenen Welt, der Ehrgeiz regte sich in ihm, sich eine Stellung, die seinen Kenntnissen entsprach, zu erringen, statt hier thatenlos in dem weltfremden Dörfchen zu leben. In solchen Stunden gewannen Benjamins Pläne Macht über ihn; kam dann aber Tabea mit ihrer weichen, süßen Stimme und rief ihn, mit ihr zu kommen, und saß er dann bei den Frauen und dem Großvater im traulichen Zimmer oder vor dem Hause auf der Bank, mit dem Blick nach dem weiten Meere, im ernsten Gespräch, dann kam der Friede wieder über ihn und die unruhigen Gedanken wurden stille. -- Da fand er einmal, daß in einer Zeitung ein Aufruf stand, der ihn selbst betraf. Sein Name stand darin, er wurde gesucht; ein Verwandter seiner Mutter war gestorben und er der Erbe des kleinen Vermögens. Von jener Stunde an wich die Ruhe von ihm, machtvoll überkam ihn die Sehnsucht nach der alten Heimat. Nur einmal wollte er dahin zurückkehren, noch einmal das kleine Haus betreten, darinnen er seine Kindheit verlebt, noch einmal an das Grab der Mutter treten, an die er jetzt mit immer verzeihenderer Liebe dachte. Noch einmal wollte er dem gegenübertreten, um dessentwillen er einst die Heimat verlassen hatte. Nicht mehr im Zorn, in alter Liebe wollte er ihm die Hand reichen, wollte am Vaterherzen ruhen und dann mit versöhntem Gefühl die Heimat für immer verlassen. Wochenlang kämpfte er gegen diese Sehnsucht, er wurde still und in sich gekehrt, bis ihm der alte Jakobeit zuletzt selbst zuredete, sich seinen Wunsch zu erfüllen. Er ging, aber noch ehe er das Sanddorf verließ, kam eine Stunde, in der er neben Tabea am brausenden Meere stand, ihre Hand fest in der seinen haltend, ihre dunklen Augen suchte. »Das tobende Meer brachte mich einst zu Euch; krank an Seele und Leib, kam ich in Euer Haus, Du warst die erste, die ich, aus Fieberwahn erwachend, erkannte. Seit jener Stunde wohnt Dein Bild in meinem Herzen, nun gehe ich fort, nur aber, wenn Du die erste sein willst, die mich empfängt, so ich wieder komme, mich empfängt als meine liebe Braut, willst Du, Tabea?« Heiß flutete eine Blutwelle über das liebliche Mädchengesicht, mit einem Blick voll Glück und Liebe sah sie zu dem Manne auf und sagte mit verhaltenem Jubel in der Stimme: »Ich will, ach Michael, wie liebe ich Dich!« Sie legte den Kopf an seine Brust und er küßte fast ehrfurchtsvoll die reine Mädchenstirn. Das Meer brauste und schäumte, Welle stürzte über Welle -- sie hörten das Gelöbnis der Liebe bis zum Tode, das die beiden jungen Menschenkinder mit einander eintauschten. Zwei Tage später zog Michael von dannen, Benjamin war sein Gefährte, der hatte so darum gebeten, daß Michael nicht »Nein« sagen mochte. Er schalt sich selbst thöricht, wenn er Benjamins Gegenwart als Last empfand, es ruhte auf ihm wie eine Ahnung schweren, kommenden Leides. * * * * * In den Zeiten des polnisches Königreiches gehörten die Herren von Leninski zu dem angesehendsten, reichsten Adel, aber wie der morsche Thron der Polen in Splitter sank, so zerfiel auch im Laufe der Jahre die Herrlichkeit der Leninskis. Das Gold rann ihnen aus den Händen, ein Stück Land des alten Besitzes nach dem anderen mußte verkauft werden und heute saß der jetzige Herr, Marcel von Leninski auf Lochowo und sah wehmütig auf den geringen Rest, der ihm von dem einstigen Reichtum geblieben war. Inmitten eines romantischen, völlig ungepflegten Parkes, mit der Front nach einem schilfumkränzten, kleinen See lag Schloß Lochowo. Nach der Landstraße zu dehnten sich die weitläufigen, dem Verfall nahen Wirtschaftsgebäude aus, an die sich das Dorf anschloß. Boguslaw von Leninski, der Prächtige, wie ihn seine Nachkommen nannten, hatte Jahre lang in Paris gelebt; der glänzende Hof, der die schöne, unglückliche Marie Antoinette umgab, sagte seinem beweglichen Temperament so zu, daß er seiner Besitzungen im fernen Polen nur gedachte, wenn er Geld brauchte. Als die Stürme der Revolution sich erhoben, verließ er das geliebte, glänzende Paris mit schwerem Herzen und mit leichtem Beutel. In der Einsamkeit der heimischen Wälder begann er sich, in Erinnerung der glänzenden Tage, ein =petit Versaille= aufzubauen, aber ehe noch der Bau vollendet war, rief ihn der Tod ab und sein Erbe, der sich genötigt sah, den größten Teil der alten Herrschaft zu verkaufen, ließ von einfachen Handwerkern den Bau vollenden; denn schon erklang der Kriegslärm des großen Korsen auch in die Einsamkeit der russisch-deutschen Gebiete. Ein Stückwerk, mit feinem Kunstsinn begonnen, von ungeschickten Händen vollendet, blieb Schloß Lochowo. Im Sommer freilich, wenn die Kletterrosen, die sich daran emporrankten, in Blüte standen, die schlanken Türme vom Sonnengold umflossen in die blaue Luft ragten, bot es einen Anblick, der wohl ein Malerauge entzücken konnte. -- Herr Marcel von Leninski, der von seinen Ahnen das leichte Blut und die sanguinische Lebensanschauung geerbt hatte, mühte sich redlich, sich und den Seinen den letzten Rest der alten Herrlichkeit zu erhalten. Frau Halinka, seine Lebensgefährtin, machte es ihm freilich oft schwer genug. In ihrer Jugend einst eine große Schönheit, hatte sie ein Jahr ihrer Mädchenzeit in Paris verbracht und dann, froh, ein standesgemäßes Unterkommen zu finden, ihren alten Verehrer und derzeitigen Gatten geheiratet. Herr Marcel hatte weder die Schönheit, noch den sprühenden Geist seines glänzenden Ahnherrn geerbt, er bewunderte seine schöne Gattin aufrichtig und that so viel für ihre Luxusbedürfnisse, wie es seine Mittel irgend erlaubten. Aber Frau Halinka konnte das Jahr in Paris, das Jahr ihrer Triumphe nicht vergessen, sie war fest überzeugt, sich herabgelassen zu haben, indem sie Frau von Leninska wurde. Immer und immer erzählte sie von dem einen glänzenden Jahre, anfangs imponierte sie ihrem einfachen, gutmütigen Manne, aber die Jahre verwischten die Eindrücke, jetzt geschah es mit wiederkehrender Regelmäßigkeit, daß der gute Marcel bei den Erzählungen in sanften Schlummer fiel. Kasia, die jüngste Tochter, dagegen lauschte mit fiebernder Aufmerksamkeit den mütterlichen Erzählungen, sie kannte kein größeres Vergnügen, immer wieder war sie es, die die Mutter zu neuen Berichten anregte. Dann saß sie da, die dunklen Augen strahlten, die feinen Lippen leicht geöffnet, jeder Nerv an ihr lebte, es prickelte und zuckte in ihren Gliedern, sie war mitten drin in dem rauschenden Leben. Sie lachte, weinte, tollte, kokettierte und heißer kreiste das leichte Blut der Vorfahren in ihren Adern. Frau Halinka erzählte, hingerissen durch der Tochter Begeisterung immer mehr und Herr von Leninski schüttelte manchmal vom Schlaf erwachend das Haupt, wenn er hörte, daß die stolze Herzogin von M. seiner Frau gesagt, sie wäre die Blume der Blumen, und daß Graf Armand de St. ihr sein Herz und seine Millionen zu Füßen gelegt, hatte er noch gar nicht gewußt. Ein leises, verschmitztes Lächeln trat auf seine Lippen -- Du lieber Himmel, die Zeit verwischt die Erinnerungen! -- Wladislaw, der einzige Sohn und Erbe, hatte es vorgezogen, in österreichische Dienste zu treten, er stand in einer kleinen böhmischen Garnison als Oberleutnant, seine Briefe bildeten der Mutter Entzücken und des Vaters Sorgen, denn mit absoluter Sicherheit kehrte darin stets die Wendung wieder, »ich brauche Geld.« Still und sanft waltete noch eine andere im Hause, Maria, die älteste der Schwestern, sie war es, die den Haushalt in Ordnung hielt. »Unsere Maruszka ist unser guter Hausgeist,« pflegte Frau Halinka wohl anerkennend zu sagen, während ihre Blicke stolz an der lieblichen Erscheinung ihrer jüngeren Tochter hingen. »Jusia kommt, Jusia kommt!« Einen offenen Brief in der Hand stürmte Kasia wie ein Wirbelwind in das Boudoir der Mutter. Frau Halinka las in einem neuen französischen Roman, während Maria Faden um Faden durch eine feine Stickerei zog. Tief neigte jetzt Kasia den zierlichen Körper vor ihnen und sagte mit komischem Ernst: »Meine Damen, gestatten Sie, daß ich Ihnen die freudige Mitteilung machen darf, daß Gräfin Jusia Potocka übermorgen Einzug in unser Schloß halten wird!« »Wildfang.« Frau Halinka lächelte nachsichtig, während auf ihr stark verblühtes Gesicht ein freudiger Ausdruck trat. »In der That, ich muß gestehen, eine ganz angenehme Abwechslung, dieser überraschende Besuch der Komtesse.« »Wundervoll, unbeschreiblich schön!« jubelte Kasia. »Ach, Mama, was wird uns Jusia alles erzählen können, bedenke doch, wie viel sie gesehen hat, seit wir vor zwei Jahren das Kloster verließen; Nizza, Rom, Paris, das himmlische Paris, ach, ich beneide sie, die Glückliche!« »Nur nicht gar so enthusiasmiert, =ma petite=, ich war auch in Paris und wer weiß, ob Komtesse Jusia eine so vorzügliche Kennerin des pariser Lebens ist, wie ich es war. Ob sie den Esprit und die Eleganz besitzt, es so zu erfassen wie ich, nun wir werden ja sehen, jedenfalls ist es auch mir angenehm, einmal wieder von meinem Paris reden zu können.« »Übrigens Maria, hast Du in mein neues Cape auch die Etiquette von =Bon marché= eingenäht? Es ist mir lieber, wenn Gräfin Jusia sieht, daß wir einen Teil unserer Toiletten aus Paris beziehen.« »Aber Mama!« vorwurfsvoll erhob die Angeredete ihre ernsten, dunklen Augen zur Mutter. »Schweig, Maria, ich weiß, was ich uns schuldig bin, triff lieber die Vorbereitungen für unseren Gast!« Still verließ diese das Zimmer, die Lippen fest aufeinander gepreßt, als wolle sie die Worte zurückdrängen. Ach, wie sie sich schämte über die thörichte Eitelkeit der Mutter, die immer und immer wieder die Etiquettes der pariser Firmen, die noch von den Toiletten aus den ersten Jahren ihrer Ehe stammten, heraustrennen und in die neuen, in der Kreisstadt gekauften Sachen nähen ließ. Mit müdem Schritt erstieg Maria die Treppe zu dem oberen Stockwerk, sich überlegend, welche Zimmer sie dem jungen Gast geben sollte. Es gab deren genug in dem weiten Bau, aber die wenigsten waren möbliert, Stückwerk der Bau, Stückwerk die Einrichtung. Kostbare Empire- und Rokokomöbel, die fehlenden Stücke durch einfache, vom Tischler gefertigte Sachen ersetzt. Schweren Herzens begann Maria ihre Arbeit, aus allen Räumen trug sie etwas zusammen, bis sie endlich ihr Werk wehmütig betrachtend inne hielt. »Stückwerk außen wie innen! ach Gott, wie müssen die Menschen glücklich sein, die in geordneten Verhältnissen leben!« -- »Maria bist Du oben?« unterbrach die helle Stimme der Schwester ihre Gedanken. »Was giebt es, Kasia?« Leichtfüßig kam diese schon die Treppe herauf. »Marinka, mein Seelchen!« rief sie aus, »reizend ist das Zimmer! Ach, denke Dir nur, wie lieb von Mama, sie will mit uns nach der Stadt fahren und uns neue Toiletten kaufen. Einen Ball will sie auch geben, während Jusia da ist, endlich einmal etwas Abwechslung!« »Aber Kasia!« Erschrocken sieht Maria die Schwester an. »Solche Ausgaben sind doch unmöglich, Papa hat ohnehin so viel Sorgen. Die Ernte ist dieses Jahr durchaus nicht gut, dazu das Unglück im Frühjahr mit den Kühen und Wladzin hat gestern auch wieder um Geld geschrieben. Nein, diese Ausgaben darf Mama nicht machen.« »Du bist eine unerträgliche Pedantin, keine Freude gönnst Du uns, nur sparen, nur sparen, und Mama hat ganz recht, wenn sie sagt, Du seist verbauert.« Das reizende Gesicht Kasias war durch Zorn entstellt, die Thränen stürzten ihr aus den Augen und zitternd vor Wut trat sie mit den zierlichen Füßen auf den Boden. »Was wohl dabei ist!« schrie sie. »Was wird das groß kosten? Der Jude giebt Papa schon Geld!« »Kasia!« »Schweig, Du verdirbst mir all meine Freude!« Sie stürmte zum Zimmer hinaus und krachend flog die Thür hinter ihr ins Schloß. Die zierliche, von Maria mühsam gekittete Vase auf dem kleinen Rokokotisch fiel klirrend zur Erde und während das junge Mädchen die Stücke sammelte, rannen die heißen Thränen über ihre Wangen: »Stückwerk alles, alles, der Jude giebt Geld, bis der Jude das Gut nimmt und dann. -- Oh heilige Mutter Gottes, hilf!« * * * * * »=Oh chère tante!= Da sitze ich nun seit drei Tagen in dieser polnisch-deutschen Einsamkeit, mit dem brennenden Wunsch, diesen ländlichen Aufenthalt erst mit einem Badeort des =high life= vertauschen zu können. Diese guten Leninskis sind unglaublich naiv, sie denken wirklich, mich habe einzig und allein die Sehnsucht zu ihnen getrieben. Wenn sie ahnten, wie sehr ich =vis-à-vis de rien= stehe, wie froh ich war, daß mir die Einladung dieser thörichten, kleinen Kasia einfiel. Lächerlich, immer soll ich von meinem glänzenden Leben erzählen, wenn sie wüßten, wie die Kehrseite aussieht, wie hungrig wir oft auf den Boulevards promeniert sind! -- Ein Glück, daß die alte Fürstin sich Deiner erinnerte, jeden Abend ist mein Gebet, es möge ihr einfallen, mich auch zu sich zu laden, in Rußland würde ich vielleicht bessere Chancen haben, eine Partie zu machen, den glänzenden Rahmen, den ich brauche, zu finden. -- Was soll ich Dir von den Leninski berichten? =Madame= ist etwas einfältig, von der einstigen Schönheit sieht man nichts mehr. (Wer weiß, wie viel sie überhaupt davon besessen hat.) =Monsieur= ist etwas verbauert, er macht manchmal einen recht mißglückten Versuch, galant zu sein. Kasia ist ohne Frage reizend, ich glaube, sie könnte, mit dem nötigen Geld versehen, Furore machen. Maria ist hübsch, nicht mein Geschmack, sie sieht aus, als könnte sie einen Mann in kleinen Verhältnissen aus Liebe heiraten, oder -- in ein Kloster gehen. Eines so unpraktisch wie das andere. =Adio=, teure Tante, ich werde jetzt mit Kasia spazieren gehen, Gänseblümchen pflücken, Gedichte machen und von diesen einfältigen Dorfjungen meine Schönheit, dieses mein Kapital, meine Hoffnung, bewundern lassen. Ich küsse Deine Hand, schreibe bald und bringe Erlösung Deiner trostlosen Jusia.« Die Schreiberin schließt hastig den Brief und adressiert ihn. Von unten herauf tönt schon Kasias helle Stimme, die ihren Namen ruft. -- Rasch setzt sie einen großen, weißen Hut auf ihr krauses rotblondes Gelock, ein wohlgefälliger Blick in den schmalen Empirespiegel, eine Kußhand ihrem eigenen Bild und leichtfüßig eilt sie die Treppe hinab. »Kasia, mein Seelchen, verzeih, daß ich Dich warten ließ, aber sieh! ich hatte so viel an Tante Amélie zu schreiben, wie reizend es hier bei Euch ist, wie lieb Ihr seid und daß ich keinen größeren Wunsch hege, recht, recht lange bei Euch zu bleiben, komm, ich will blos Deiner Mama, von der ich ganz enthusiasmiert bin, die Hand küssen.« Wenige Minuten später wandeln die jungen Damen durch das Dorf, mit offenem Munde stehen die Kinder und schauen ihnen nach. Paninka Kasia, die kennen sie, aber das fremde Fräulein mit dem weißen Kleid, die so leicht über den Schmutz der Straße schwebt, schüchtert sie ein und in stummer Bewunderung blicken sie ihr nach. »Mein Gott, Kasia, wie geistreich diese Kinder aussehen,« sie lacht, »nein, sieh diesen Fratz dort, gerade so starrte mich der holde Prinz Sergei an vergangenen Winter in Nizza. Aber sieh, wie idyllisch das Häuschen hier liegt, sag, wem gehört es?« Sie bleibt vor dem kleinen Haus am Ende des Dorfes stehen, das von bunten Blumen umblüht, seltsam absticht gegen die anderen im Schmutz stehenden Nachbarhäuser. Da knarrt die Thüre und Michaels hohe Gestalt wird im Rahmen sichtbar, seine ernsten Augen haften voll Erstaunen auf den beiden lichten Mädchengestalten, die da am Gitter seines Gartens stehen. Er tritt einige Schritte näher, verneigt sich und sagt mit seiner ruhigen, klangvollen Stimme: »Gott zum Gruß und Gottes Frieden!« Dabei ruhen seine Blicke unverwandt auf Gräfin Jusias reizvoller Erscheinung. Mit beiden Händen greift diese in die blühenden Clematisranken am Gitter und sieht mit seltsamem Lächeln zu dem schlanken Mann hin. Sekundenlang ruhen beider Blicke ineinander, dann wendet sich Michael heftig um und schreitet mit stummem Gruß in sein Haus zurück. »Kasia, sag doch, wer war dieser seltsame Mensch, ein Apollo an Schönheit in Eurem Dorf?« Jusia reißt einige von den Blüten am Gitter ab und befestigt sie in ihrem Gürtel, »schnell erzähle, =ma petite=, ich wittere eine romantische Geschichte, der blonde Apollo mit seinem frommen Gruß und seinem geistlichen Rock interessiert mich?« »Romantisch ist die Sache nicht gerade,« erwiderte Kasia, hochmütig das feine Näschen rümpfend, »Dein Apollo, wie Du ihn nennst, obgleich ich noch keinen Apollo mit einem Rock gesehen habe, ist einfach ein Dorfjunge, der eine etwas bessere Erziehung genossen hat, Propst Ryback hat ihn unterrichtet, er sollte sich dem geistlichen Stande widmen. Eines schönen Tages verschwand er aber plötzlich und tauchte erst ungefähr im Februar dieses Jahres wieder auf. Er bezog sein Haus, das der Propst bis dahin für ihn verwaltet hatte, und soll sich gleich in den ersten Tagen wieder vollständig mit diesem überworfen haben. Dann fing er hier in der Gegend an zu predigen, eine neue Lehre. Mit ihm ist ein kleiner verwachsener Mensch. Papa sagt, es wären Mennoniten, aber Propst Dzimbowski aus Skiernewice meinte neulich, es seien keine echten Mennoniten, die wären stiller und machten keine Propaganda für ihren Glauben; diese gehörten vielmehr einer neuen, amerikanischen Sekte an. Die haben schon viele Anhänger, hier in Lochowo nicht, aber in Birkenhof und Skiernewice laufen die Leute ihnen zu, die hiesigen stehen zu sehr unter dem Einfluß von unserem Propst, der sehr fanatisch ist und die Leute gegen den Ketzer einzunehmen weiß. Es ist ja Unsinn, was sie predigen, der Blonde soll übrigens wunderbar reden können, sie wollen eine große Gemeinde gründen mit völliger Gleichheit aller, verdammen den Krieg und Alkoholismus und reden schrecklich viel von innerer Glückseligkeit. Papa sagte schon, er wundert sich, daß sie bis jetzt mit heiler Haut davon gekommen sind und prophezeit ihnen ein gewaltsames Ende. So nun aber genug von diesen langweiligen Dingen, erzähle mir lieber mehr von Deinem Leben!« Jusia Potocka wendet noch einmal den Kopf nach dem kleinen Hause und beginnt dann zu erzählen; sie rollt Bilder voll Glanz und Licht vor Kasias Augen auf, und diese lauscht mit klopfendem Herzen, immer brennender wird der Wunsch in ihr, auch mit in diesem glänzenden Strom des Lebens schwimmen zu können. * * * * * Tiefe, feierliche Sabbathstille herrscht im Walde. Gestern floß der Regen in Strömen auf die schier verschmachtete Erde nieder, heute stehen die Bäume und Pflanzen in neuer Kraft da, sie recken und dehnen sich, sie fühlen sich noch frisch und jung, und ferne liegt ihnen der Gedanke an die Stürme des Herbstes, des Winters Kälte. -- Maria schreitet auf dem weichen Moosboden dahin, so feierlich still ist es ringsum, die Birkenstämme leuchten hell und zitternd schwanken die Zweige, vom sanften Wind bewegt, hin und her. Es ist ein seltsames Wohlgefühl, das Maria in diesem Stück heimischen Waldes überkommt. Sie weiß wohl, daß man über die Eintönigkeit dieses Landes spottet, über die kargen Wälder, in die der blaue Himmel durch große Lücken hineinscheint. Kein kühles, geheimnisvolles Walddunkel, nicht jene zum Himmel ragenden Bäume, jene murmelnden, wild über Felsen und Baumwurzeln stürzende Bäche des Hochgebirges, und dennoch, sie liebt diesen ärmlichen Wald. Hier ist es, wo Ruhe und Frieden über sie kommt, wo die nagenden Sorgen, die düsteren Gedanken sie verlassen, oh Du lieber, barmherziger Wald! Während sie so dahinschreitet, schweifen ihre Gedanken in die Vergangenheit, in die kurze, glückliche Zeit ihres Lebens. Wie fern sie ihr liegt, manchmal will ihr dünken, als verblasse die Erinnerung in dem täglichen Kampf, aber dann, wenn sie allein ist, wie hier in dem Frieden des Waldes, dann überkommt sie mit aller Gewalt das alte Glück, das alte Leid, ihr Herz jubelt und weint, und licht stehen ihr die sonnigen Tage von einst vor der Seele. Eine entfernte Verwandte ihrer Mutter, ein altes Fräulein, hatte sich plötzlich erinnert, daß ihre Cousine Halinka zwei Töchter besaß und geschrieben, daß sie gern einmal eine ihrer Nichten sehen möchte, ihr sei die Reise zu weit, sie würde sich aber über einen Besuch freuen und bäte hiermit ihre Cousine, ihr doch eine ihrer Töchter einige Wochen nach Dresden zu schicken. Maria war gerade aus dem Kloster gekommen, wo die Leninskis eine Freistelle besaßen, da kam der Brief der Tante und da dieselbe als reich galt, stimmte auch Papa Leninski für die Reise. An einem weichen, milden Frühlingsabend kam Maria in Dresden an, wie klar stand ihr doch alles vor der Seele. Die alte Tante, die ihr wie ein Wesen aus einer fremden Welt erschien. Frisch, trotz ihrer sechzig Jahre, wie eine Junge, so lebensfroh, so teilnehmend, so verständnisvoll für die Jugend und dabei so abgeklärt in ihrem Urteil, über den Kleinkram der Welt stehend, mit einem Herzen, das warm für alles Schöne und Edle schlug. Unwiderstehlich fühlte Maria sich zu ihr hingezogen, in wenig Tagen hing sie mit inniger, verehrender Liebe an der alten Dame. Jener erste Abend in Dresden, wie ein leuchtendes Bild stand er in ihrer Erinnerung, über die breite Brücke, die die Neustadt mit der Altstadt verbindet, fuhren sie in einem offenen Wagen; wie ein breiter Streifen flüssigen Goldes lag die Elbe im Glanz der untergehenden Sonne unter ihnen. Große Dampfer, kleine buntbewimpelte Kähne glitten über sie hin. Am jenseitigen Ufer ragten die stolzen Bauten einer glänzenden Vergangenheit empor, die scheidende Sonne umglühte sie noch einmal, daß es aussah, als ob all die Ecken und Spitzen im Feuer ständen. Von einem der Dampfer kam eine weiche, träumerische Musik und vermischte sich mit dem Lärm der großen Stadt. So traumhaft schön wie dieser erste Abend waren die Wochen, die ihm folgten. Leise seufzte Maria auf, vergangen die Jugend, das Glück. Im Garten der Tante war es, da trat er ihr das erste Mal entgegen, strahlend vor Stolz über den glänzend errungenen Doktortitel. Seine Eltern waren langjährige Freunde von Marias Tante und der Verkehr zwischen beiden Häusern ein sehr reger. Der junge Doktor sollte einige Wochen im Elternhaus verleben, einige Wochen der Freiheit, und es war eigentlich natürlich, daß bei den Ausflügen, die er mit seinen jungen Schwestern unternahm, Maria mit dabei war. Im Scherz und Spiel, im ernsten Gespräch, immer fand sich der junge Arzt mit Maria zusammen, es war dem Mädchen, als sei alles von ihr genommen, was düster und schwer ihr junges Leben bedrückt hatte, in vollen Zügen genoß sie jetzt ihre Jugend und in ihrem Herzen erblühte ein stilles, heimliches Glück. Sie wußten es bald, Heinz Werner und Maria, daß sie einander liebten, nicht mit jener Leidenschaft, die wie im Sturm über alles hinweg rast und, wenn verflogen, bittere Ernüchterung zurückläßt, eine stille, heilige, treue Liebe war es, die die Beiden erfüllte. Wie ein Schatten stieg manchmal der Gedanke an die Eltern in Maria auf, sie kannte nur zu gut den Hochmut Frau Halinkas und wußte, daß diese nicht so leicht ihre Einwilligung zu einer Heirat mit einem Bürgerlichen und noch dazu einem Protestanten geben würde. Aber mit dem glücklichen Leichtsinn der Jugend verscheuchte sie solche Gedanken, vorläufig sollte es selbst den Eltern ein Geheimnis bleiben, denn noch war Dr. Heinz nicht in der Lage, eine Frau heimzuführen, und so beschlossen beide, ihr stilles Bündnis an niemand zu verraten. Ob es wohl die Tante ahnte, sie lud Maria beim Abschied herzlich ein, bald wieder zu kommen, ja, sie sprach die Absicht aus, die Eltern zu bitten, ihr Maria für lange Zeit zu überlassen. »Behüt' Dich Gott, mein Kind, sei tapfer und bleibe Dir selbst getreu,« sagte sie, die weinende Maria in ihre Arme schließend. Noch ein letzter Händedruck dem Geliebten und langsam fuhr der Zug von dannen. Vier Wochen später reiste Herr von Leninski zum Begräbnis der Tante, um bitter enttäuscht heimzukehren; der Tod hatte die rüstige Frau überrascht, noch ehe sie ihren Willen ausführen und Maria zur Erbin einsetzen konnte. Die Söhne ihres Bruders, zwei gewissenlose Verschwender, erbten das Vermögen, und leicht rann das Geld durch ihre Finger, mit dem die alte Tante so viel Segen gestiftet und hatte stiften wollen. Maria weinte um sie wie um eine Mutter! Fünf Jahre waren vergangen. Der, auf den Maria gehofft, nach dem sie gebangt, war nicht gekommen, und wie ein Traum lag das Glück hinter ihr. Oh, du barmherziger Wald, der du so geduldig das immer neue Leid anhörst, so milde, sanfte Lieder rauschst, aus denen es klingt wie Märchensang: er kommt noch, er kommt noch, sei getrost, arm' Menschenkind! Ruhiger wird Maria, mit schweren Sorgen ist sie hergekommen, mit einem gut Teil leichterem Herzen tritt sie den Heimweg an. -- Auf den Stufen der Veranda steht bereits Kasia, ungeduldig nach ihr ausschauend. »Es ist gut, daß Du kommst, Maria, drinnen ist -- oh staune -- Besuch! Der alte Sanitätsrat stellt uns seinen Stellvertreter vor, er muß natürlich wieder nach Karlsbad, komm herein, oder vielmehr, geh' Du hinein, ich bleibe hier, es lohnt sich nicht der Mühe, so ein simpler Doktor, der als Stellvertreter geht, ich begreife Jusia nicht, die schrecklich liebenswürdig thut!« Sie rümpfte das feine Näschen, warf die zerpflückten Blätter einer Rose über die Stufen der Treppe und hüpfte davon, Maria die Pflichten der Wirtin überlassend. Mit der ihr eigenen, gelassenen Ruhe betrat diese den Salon, auf ihrem feinen, durchgeistigten Gesicht lag noch der Ausdruck stiller Sehnsucht. Jusias helles Lachen klang ihr entgegen; Frau Halinka liebte die künstliche Dämmerung, sie war die vorteilhafteste Beleuchtung für ihre verblühte Schönheit, so herrschte auch heute nur mäßige Helle in dem großen Gemach, und Maria, die aus dem grellen Sonnenlicht kam, war zuerst nicht im stande, die einzelnen Personen zu unterscheiden. Da klang die krähende Stimme des Sanitätsrates, die so wenig zu seiner robusten Erscheinung paßte, an ihr Ohr, und dann eine andere, kräftige, fröhliche Männerstimme, bei deren Ton Maria zusammenfuhr, waren es noch die Träume des Waldes, die sie narrten? Wahrheit, war es Wahrheit? Da stand der vor ihr, nach dem sie sich gebangt und gesehnt all die Jahre, mechanisch legte sie die Hand in die seine. »Wir sind ja alte Bekannte, mein gnädiges Fräulein,« sagte er herzlich, da hob sie die Augen und sah ihn an, sah in seine treuen Augen, die redeten so vertraut zu ihr, daß die Jahre vor ihr versanken mit ihrem Leid, ihren Thränen, und ein heißes Glücksgefühl sie durchströmte. »Maria!« Frau Halinka rief höchst mißbilligend ihren Namen. »Kind, wo bist Du mit Deinen Gedanken, siehst Du nicht, daß Herr Sanitätsrat Dich begrüßen will!« Verwirrt blickte Maria um sich, ihr war, als müßten alle wissen, was da geschehen war in den wenigen Sekunden, heiß drängte sich ihr das Blut in die Wangen, mit einer ihr fremden Hast reichte sie dem alten Herrn die Hand, die dieser mit einem verzückten Blick an die Lippen zog. Dann sprach sie auch, gleichgiltige Worte, lächelte, war liebenswürdig, dabei sah sie nur immer ihn, hörte seine Stimme, und in ihrem Herzen sang und klang es so laut, daß sie meinte, die Anderen müßten es hören: »Er ist da, er ist da!« -- Gräfin Jusia schmiegte sich wie ein Kätzchen in den Sessel und warf unter den langen, schwarzen Wimpern hervor prüfende Blicke auf den jungen Arzt. Der war anders wie die Herren ihrer Gesellschaft, aber in einem so öden Nest wäre er zum flirten gerade recht. Hübsch war er, aber er sah so ernsthaft, so philisterhaft aus, nein, dies war nicht der rechte Ausdruck, er sah so deutsch aus, sagte sie sich. Dabei mußte sie sich aber doch gestehen, er kümmerte sich herzlich wenig um sie, nicht Schüchternheit war es, nein, Gleichgiltigkeit, aber wie er Maria anblickte! Gräfin Jusia beginnt zu kombinieren, prüfend gleiten ihre Augen von einem zum andern, nun, da müßte sie doch blind sein, wenn da nicht eine höchst sentimentale, romantische Liebesaffaire dahinter steckte, ich werde es ergründen! denkt sie, wenigstens eine Abwechslung in der trostlosen, langweiligen Einsamkeit. Die Herren wollen sich verabschieden, aber Herr von Leninski erhebt Einspruch: »Selbstverständlich sind Sie unsere Gäste, na, das wäre ja noch besser, wenn Sie Lochowo ungespeist und ungetränkt verlassen wollten.« Der Hausherr lacht dröhnend über seinen eigenen Witz, von dem Sanitätsrat sekundiert, der wohl zu würdigen weiß, welch edlen Ungarwein der Keller von Lochowo birgt. -- Mögen die Leute sagen, die Leninskis würden bald Samuel Schmuhl, dem Hauptgläubiger, Lochowo überlassen müssen; Gäste, die einkehren in den wunderlichen Bau, merken nichts davon. Die matte Dämmerung in dem Speisesaal, hervorgerufen durch farbige Fenster, verhindert, daß man gewahrt, wie verblichen und zerschlissen die Seidenbezüge der altertümlichen Möbel sind. Marias geschickte Hände haben verstanden, vielfach die Schäden zu verbergen, sie hat auch die hohen, gekitteten Vasen mit graziösen Sträußen gefüllt und die Tafel in anmutiger Weise geordnet. Dazu die liebenswürdige Hausfrau -- Frau Halinka ist in Gesellschaft immer liebenswürdig --, der joviale Gatte, die zierlichen Mädchenerscheinungen, der goldne Wein in den Gläsern vereinen sich zu einem reizvollen Ganzen. Selten verläßt ein Gast das Haus, der nicht den Wunsch hegt, bald wieder einkehren zu können. Dann eine Bootfahrt auf dem See, für die der Sanitätsrat eifrig stimmt, um nachher zu erklären, er wolle bei Herrn von Leninski bleiben, der lächelt verständnisinnig, er kennt die schattige Laube, in der der opfermütige Sanitätsrat nach Tisch seinen inneren Menschen einer näheren Prüfung unterzieht; ihm ist es recht, hegt er doch die gleiche Absicht. Nach der Fahrt ein Wandern durch die verschlungenen Gänge des alten Parkes, der noch die Anlagen zeigt, die Herr Bogislaw der Prächtige von einem französischen Gartenkünstler hatte beginnen lassen. Im Laufe der Jahre war er aber verwildert, die Wege von Gras überwuchert, die steinernen Götterbilder mit ihren dicken Barockgesichtern waren von Schlingpflanzen umzogen, besonders der Teil, der am See lag, war eine dichte, grüne Wildnis. Hier erst ist es dem jungen Arzt möglich, einige kurze Minuten mit Maria allein zu sein. Hier erst vermag er ihr in hastigen Worten zu erklären, warum er so lange fern geblieben. Die Eltern waren ihm rasch hintereinander gestorben, das geringe Vermögen blieb seinen beiden Schwestern. Er hatte tapfer gearbeitet, um vorwärts zu kommen, über dem Ringen aber verfloß die Zeit, und so kam es, daß er erst heute, nach mehr denn fünf Jahren, sein Wort einlösen konnte. Gut traf es sich, daß er in einer Fachzeitung das Gesuch des Sanitätsrates las, er hoffte, so am besten zu ihr zu gelangen, er benutzte seine Ferien und stellte sich dem alten Herrn als Stellvertreter. »Maria, Du mein Lieb, in Deinen Augen las ich, daß Du mir die Treue gehalten hast die langen Jahre, Maria, mein Glück! Nun soll uns nichts mehr trennen, komme, was da mag, ich halte Dich fest, mein Glück,« leidenschaftlich zog der Mann das Mädchen an sich und sie widerstand nicht. Lange hatte sie gehofft, geharrt auf ihr Glück, nun war es da, war gekommen, wie der Frühling über Nacht, fest schlang sie die Arme um den Geliebten. Ihre Augen tauchten ineinander, um sie versinkt die Welt, sie sehen nur sich und fühlen nur, daß sie einander gehören für Zeit und Ewigkeit, bebend vor Glück flüstern sie nur das Eine: »Ich liebe Dich.« Näherkommende Stimmen wecken sie erst aus ihrer Versunkenheit, hastig, helle Glut auf den Wangen, befreit sich Maria, ein kurzer, inniger Händedruck, und schon sehen sie die hellen Kleider Kasias und Jusias durch das Gebüsch schimmern. »Nein, Maria! Wie echauffiert Du aussiehst!« Jusia hängt sich an ihren Arm und sieht spöttisch zu dem jungen Mädchen auf, das vergeblich versucht, seiner Verwirrung Herr zu werden. Und endlich gelingt es ihr, sich dem seichten Geplauder und den kleinen Bosheiten zu entziehen, unter dem Vorwand, im Haus nach dem Rechten sehen zu müssen. In dem Flur kommt ihr der Vater entgegen, hochrot im Gesicht, eine dicke Zornesfalte auf der Stirn, er stürmt an ihr vorüber, ohne auf ihren erschreckten Zuruf zu achten. Bestürzt tritt Maria in das Zimmer der Mutter und findet diese in Thränen aufgelöst. »Mama, ach, was ist geschehen, ein Unglück, sag', oder hat Wlaciu wieder geschrieben?« Frau Halinka schnellt empor, verschwunden ist die vornehme Ruhe ihrer Bewegungen, wie eine Wahnsinnige eilt sie im Zimmer umher und stößt mit vor Thränen erstickter Stimme hervor: »Marcel ist ein Tyrann, ein Geizhals, ein Grobian, wegen der paar Mark, die ich für unsere Toiletten ausgegeben habe, schreit er mich an, und einen Ball, ein harmloses, kleines Vergnügen, erklärt er für eine Unmöglichkeit. Oh, ich unglückliche Frau, meine Schönheit, meine Jugend habe ich diesem Mann geopfert, ich, die ich eine der glänzendsten Frauen Frankreichs sein könnte, versaure, verkümmere hier in diesem öden Erdenwinkel, und dann werde ich noch eine Verschwenderin genannt! Ärmer bin ich, wie die ärmste Käthnerfrau, oh, ich unglückliches Weib, wäre ich nur tot, dann wäre ich niemand zur Last!« Und in ein hysterisches Schluchzen ausbrechend, kauert sie sich in einen Fauteuil. Maria müht sich, sie zu beruhigen, sie reibt ihr die Schläfen mit kölnischem Wasser und spricht weiche, liebkosende Worte zu ihr, nach und nach legt sich das wilde Weinen, Frau Halinka wird ruhiger und erklärt schließlich, sie wolle allein sein. »Geh', mein armes Kind, verlass' Deine unglückliche Mutter.« Sie haucht einen Kuß auf Marias Stirn und sinkt wie gebrochen in ihren Stuhl zurück. Langsam, als trüge sie Zentnerlast, steigt Maria zu ihrem Zimmer empor, auf das heiße Glücksgefühl, das sie durchglüht in den letzten Stunden, ist ein Reif gefallen, und finster drohend steigt wieder das Gespenst auf, das ihr schon manche Stunde verbittert, die Armut, die verhüllt, verborgen das Haus durchschleicht. Die Bäume des Parkes rauschten; der See liegt leuchtend im Sonnenschein; von unten schallen Stimmen zu ihr empor, sorglos, fröhlich trällert Kasia ein Lied, und eine, ach so geliebte Stimme fällt jubelnd ein. Die Lauscherin birgt den Kopf in die Hände, sie schreit und weint nicht, wie Frau Halinka, ihre Augen bleiben trocken, aber immer schwerer wird ihr armes, junges Herz von den ungeweinten Thränen. Laue Sommerluft strömt durch die geöffneten Fenster des Speisesaals, Lachen, Sprechen, Klirren dringt hinaus in die stille Nacht, dasselbe Bild wie am Mittag, nur größer der Kreis; Propst Ryback und sein Amtsbruder aus S. und zwei benachbarte Besitzer mit ihren Frauen sind hinzugekommen. Frau Halinka ist liebenswürdiger denn je, in ihrer Toilette aus mattlila Seide sieht sie so vorteilhaft aus, daß selbst Gräfin Jusia an die einstige Schönheit zu glauben beginnt. Ihr Gatte sieht sie bewundernd an, verwischt ist die Sorgenfalte auf seiner Stirn, der goldene Wein in den hellen Gläsern blinkt, er rinnt wie Feuer durch die Adern, immer heller blitzen die Augen, und Herr von Ronkowski hebt das Glas und ruft: »Himmel und Hölle, Hochwürden verzeihen, die schönsten Frauen giebt es doch auf Lochowo, sie leben hoch, hoch, hoch!« Er wirft das Glas in weitem Bogen, daß es in tausend Scherben zersplitternd zu Boden fällt, und jubelnd folgen die anderen Gäste dem Beispiel und werfen ihre Gläser zur Erde. Propst Ryback lächelt nachsichtig, er ist dergleichen zu sehr gewöhnt, um noch daran Anstoß zu nehmen. Nur zwei werden immer stiller in der Gesellschaft, auf Maria lastet schwer der Gedanke an den Auftritt des Nachmittags, liebevoll hat sie vor dem Essen des Vaters Hand ergriffen und ihm zugeflüstert: »Armer Papa, so viel Sorgen hast Du!« Aber freundlich sie streichelnd, hat er lächelnd erwidert: »Mama hat mal wieder Dummheiten gemacht, na, morgen muß Schmuhlchen kommen; aber, Donnerwetter, hübsch sieht die Mama heute aus, wirklich! Sie sticht beinahe ihre Töchter aus.« Dr. Werner fühlt sich sehr unbehaglich in der fremden Gesellschaft. »Armes Lieb,« denkt er bei sich, »wie wenig mag ihr dieser Ton zusagen, wie blaß mein süßes Herz aussieht,« und er hebt sein Glas und neigt es ihr zu, da trifft ihn der Blick ihrer Augen und er erschrickt vor dem tiefen Weh, das in diesen dunklen Sternen liegt. -- Endlich rüsten die Gäste sich zum Aufbruch, die Herren küssen den Damen die Hand, der dicke Sanitätsrat versichert immer wieder, er würde im Bad rechte Sehnsucht haben nach Lochowo und seinen reizenden Frauen, dabei verneigt er sich, die Hände aufs Herz gedrückt, und sieht mit den kleinen, wasserblauen Augen so schmachtend auf die schlanken Mädchen, daß Jusia und Kasia nur mühsam ihr Spottlachen verbergen können. »Leb' wohl, mein Lieb,« sagt Heinz Werner, mit innigem Druck Marias schmale Rechte umschließend, »sag' mir, wann darf ich zu Deinem Vater kommen mit meiner Bitte?« »Noch nicht, Heinz, noch nicht,« wehrt Maria angstvoll, und wieder sieht sie den Geliebten an mit einem so schmerzvollen Ausdruck in den großen, dunklen Augen, daß dieser an sich halten muß, um nicht das Mädchen in seine Arme zu reißen und sie zu küssen, bis um diesen ernsten Mund ein Lächeln zuckt. Die Wagen rollen von dannen, still ist es in dem alten Schloß geworden, ein Licht nach dem anderen verlöscht, nur droben in dem kleinen Giebelzimmer, das Maria bewohnt, schimmert Licht, die anderen schlafen längst, nur Maria ist noch wach, allein mit ihren Gedanken, die dem einsam dahin rollenden Wagen folgen. Gewiß, der alte Sanitätsrat schläft und er, ihr Geliebter, ob er wohl wacht, an sie denkt! Sie lächelt vor sich hin und breitet die Arme aus, ach könnte sie mit ihm dahin fahren auf dem stillen Weg, nur sie beide allein durch die schweigende Nacht, dem Glück entgegen, dem Morgenrot, und die Sorge hinter sich lassen. Oh, ihr grauen Gespenster der Nacht, wie manchmal habt ihr schon den Schlaf von diesen jungen Augen gescheucht! Die Eltern und Geschwister gehen an dem dunklen Schatten vorbei und sehen sie nicht, nur sie, sie allein fühlt ihre Gegenwart, ihr rauben sie Jugendlust und Mut, sie allein hat sehende Augen und sieht den Abgrund zu ihren Füßen. Sie weiß es nur zu gut, ein einziger Fehlschlag und Lochowo, der letzte Rest der alten Herrlichkeit, ist verloren; draußen auf den Feldern steht die Ernte so schlecht, wie soll es im Herbst werden, der alte Schmuhl in der Kreisstadt hat noch rückständige Zinsen zu fordern, er hat geduldig genug gewartet, aber wie, wenn er die Geduld verliert? Dann denkt sie wieder an Heinz, wie er heute vor ihr gestanden, sie mit seinen guten, offenen Augen so ehrlich angeblickt. Ach, darf sie es denn, ihn hineinziehen in die traurigen Verhältnisse des Elternhauses, er sah freilich nicht nach Geld und Gut, er würde sie nehmen, wie sie ging und stand, aber würde sie nicht ein Hindernis sein auf seinem Weg! Sie schlang die Hände ineinander, und wie ein Aufschrei rang es sich aus ihrer Brust: »Oh, nur das Rechte thun!« Als der Morgen graute, senkte sich endlich der Schlaf über ihre heißen, verweinten Augen, ein fester, traumloser Schlaf, der ihr für Stunden die Sorge scheuchte. Auch Heinz Werner hatte lange den Schlaf nicht gefunden. Hatte anfangs die Gewißheit, daß Maria ihn nicht vergessen, daß sie an ihm hing mit der alten Liebe, ihn mit unendlichem Glück erfüllt, so hatte ihn das so plötzlich veränderte Wesen der Geliebten, ihre sichtliche Schwermut, große Sorge bereitet. Bald genug sollte er den Grund dieser Veränderung erfahren; auf der Heimfahrt war es, da hatte der Sanitätsrat, behaglich in der Ecke des Wagens sitzend, gesagt: »Famoses Haus, dieses Lochowo, nur schade, daß es sich auch bald für frohe Gäste schließen wird.« »Schließen, wieso?« hatte Heinz gespannt gefragt. »Na, der alte Schmuhl in G. hat ja schon den größten Anteil davon, und wenn die Herrschaften so weiter wirtschaften, ist das Ende wohl nicht fern, die Gnädige versteht ja vom Haushalt so viel, wie ein Minister vom allgemeinen Notstand; wenn nicht die Maria wäre, die Ordnung hielt, ginge es noch mehr drunter und drüber. Schade um das Haus, man ist nun so lange da ein- und ausgegangen und hat einen guten Tropfen getrunken, wer weiß, vielleicht kauft es die Ansiedlungskommission, aber dann sind die schönen Zeiten erst recht vorbei. S'ist wirklich schade.« Gähnend lehnte er sich in die Polster des Wagens zurück und wenige Minuten später verkündete ein sanftes Schnarchen, daß er über den Sorgen um das Schicksal seiner Freunde sanft entschlummert war. Heinz Werner hatte mit offenen Augen in die schweigende Nacht geblickt, als könne aus dem Dunkel heraus das Bild seiner Zukunft treten. »Arme, liebe Maria,« sagte er, und dann reckte er sich, er fühlte seine junge Kraft, fühlte sich stark genug, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen, für Marie und mit ihr. * * * * * Heiße Schwüle herrschte, kein Blatt regte sich an den Bäumen, schlaff, lechzend nach Frische, standen die Blumen auf dem trockenen, staubigen Erdboden und eine atemlose Stille hielt wie ein schwerer, müder Druck die Natur umfangen. Den schmalen Weg, der vom Schlosse her, hart am See vorbei, nach dem Dorf führt, schlenderte Gräfin Jusia. Sie hatte es nicht ausgehalten droben in ihrem Zimmer, in das sie sich, Kopfschmerzen vorschützend, zurück gezogen hatte, um den endlosen Erzählungen Frau Halinkas über die Zeit ihrer Jugend zu entgehen. Auf der weißen Stirn des jungen Mädchens liegt eine tiefe Falte und ihre Hände zerpflücken nervös einen Brief in tausend kleine Stücke, die sie dann in weitem Bogen über das Wasser streut. »Aushalten, aushalten! Oh! Tante Amélie, Du hast gut reden,« murmelt sie, energisch mit den kleinen Füßen auf den weichen Boden aufstampfend. »Ich halte es nicht aus, nein, nein!« ruft sie dann laut, als könnte es Tante Amélie hören. Da auf dem Wasser schwamm der Brief, der ihr die Nachricht gebracht, daß es der Tante bisher noch nicht gelungen sei, die Fürstin zu einer Einladung an die liebe Nichte zu bewegen. »Halte aus, mein Seelchen, bis zum Herbst mußt Du schon in Lochowo bleiben, es ist mir unmöglich, die Mittel zu einer anderen Reise zu erschwingen! Halte aus!« Jusia Potocka hebt die Arme, als möchte sie unsichtbare Fesseln davon abstreifen, oh, wäre sie frei, frei von der erdrückenden Kette der Armseligkeit, frei und reich, oh, leben können im brausenden Strudel der großen Welt, gefeiert, umgeben von Glanz und Luxus. War es nicht ein Dasein zum toll werden hier in Lochowo, in dieser künstlich vertuschten Misère, die ihre scharfen Augen nur zu gut sahen, dann noch lieber in einer engen, kleinen Wohnung, vier Treppen hoch in Paris, sah sie doch da wenigstens von fern das Leben, das heitere, brausende, glänzende Leben, das, ach, so kurz war. »Leben, genießen,« flüsterten ihre Lippen, »ich will nicht wie eine Nonne dies kurze, blühende Leben vertrauern, nein, nein, ich will nicht, nicht eine Stunde gebe ich her, hörst Du es, Du da oben, ich bitte, ich fordere, ich will meine Jugend auskosten, ich will Reichtum, Glück und Glanz, ich will.« -- Ein dumpfes Grollen schreckte sie auf und verstört sah sie nach dem Himmel. Dieser hatte sich vollständig verändert, die lichten, blauen Wolken waren verschwunden, gelblich grau war er jetzt überzogen und den Westen begrenzte eine nachtdunkle Wolkenwand. Die Stille war noch schwerer, noch müder geworden, bis plötzlich ein jäher Windstoß herniederfuhr und dürre Blätter und feinen Sand empor wirbelte. Ein Gewitter! Einen angsterfüllten Blick nur hatte Jusia auf den Himmel geworfen, dann beginnt sie zu laufen, verflogen sind ihre Träume und Angst beherrscht sie, bebende Furcht, ihre kleine, feige Seele kann das Erhabene in dem Aufruhr der Elemente nicht fassen; sie zittert nur vor dem gewaltigen Schauspiel der Natur. Schon fallen schwere Regentropfen klatschend herab, da erreicht sie das erste Haus im Dorf, blendend fährt gerade ein Blitz hernieder, dem krachend der Donner folgt, mit einem hellen Schrei flüchtet sie und steht atemlos, zitternd, in dem Flur von Michael Wisniewskis kleinem Haus. Sie lehnt sich an die Wand und starrt hinaus in das tosende Wetter, wieder zuckt ein Strahl hernieder, den Flur sekundenlang mit bläulichem Licht erfüllend, ihm folgt der Donner so rasch und heftig, daß es ist, als schwanke das Haus in seinen Grundfesten. »Oh, heilige Jungfrau, steh mir bei,« ruft Jusia laut und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen, sie taumelte förmlich, da umfassen sie zwei starke Arme, eine Stimme schlägt an ihr Ohr: »Oh, gnädige Gräfin, was ist geschehen?« Sie sieht wie durch einen Nebelschleier hindurch das schöne, ernste Gesicht Michael Wisniewskis, matt schließt sie die Augen und lehnt sich fester in die schützenden Arme. Michael steht regungslos, die leichte Gestalt in seinen Armen haltend, seine Blicke ruhen wie gebannt auf dem süßen, blassen Gesicht des Mädchens. Seit jener Stunde, da er sie das erste Mal gesehen am Gitter seines Gartens, hat er ihr Bild nicht los werden können, in seine Träume hat es sich geschlichen, bei seinen einsamen Wanderungen, seinen ernsten Studien hat es ihn umgaukelt. So hatte noch nie ein Weib im ersten Augenblick des Begegnens seinen Sinn gefangen genommen, wie dieses vornehme, fremde Mädchen, das er nun in seinen Armen hielt. Er fühlt die Wärme ihres Körpers, an seine Wangen streifen ihre feinen, blonden Haare, sein Herz klopft in rasender Schnelle, seine Pulse hämmern, vor seinen Augen flimmert und flirrt es, aber er steht unbeweglich, wohl kommt ihm der Gedanke, Wasser zu holen, die Ohnmächtige in das Zimmer zu tragen, aber er vermag sich nicht loszureißen aus dem Bann. Endlich schlägt Jusia die Augen auf, sie blickt verwirrt um sich, sieht das erregte Männergesicht über sich geneigt und löst sich nun langsam aus den sie umschlingenden Armen, dabei aber huscht ein leises, spöttisches Lächeln über ihr Gesicht, ach, sie versteht so gut die Sprache der Augen zu lesen und die ihres blonden Schützers reden eine so ehrliche Sprache. Auf den Steinfließen des Flurs wird ein schlürfender Schritt hörbar, zwei dunkle, scharfe Augen schweifen spähend umher, die Gestalt Benjamins löst sich aus dem Dunkel, er tritt, die Gruppe vor sich erstaunt betrachtend, näher. Vor allem Kranken, Elenden hegt Jusia Potocka eine unüberwindliche Abneigung und dieser mißgestaltete Mensch, der so unerwartet vor ihr auftaucht, flößt ihr Entsetzen ein und sie weicht unwillkürlich zurück, sich an Michael anschmiegend. Benjamin hat ihre Bewegung wohl gesehen, ein haßerfüllter Blick streift die Beiden, trotzdem sagt er mit leidlich beherrschter Stimme: »Michael, willst Du die Dame nicht ins Zimmer geleiten, das Wetter wird noch etwas anhalten und so lange muß das gnädige Fräulein schon mit unserer schlichten Behausung vorlieb nehmen.« Er öffnet, sich verneigend, die Thür und tief aufatmend überschreitet Jusia Potocka die Schwelle. Und die blonde Fee kehrte in die Hütte des Hirten ein, ein Leuchten ging von ihr aus wie eitel Sonnenschein und Jung Severin rief: »Gelobt seist Du, Dobrinka, für das Licht, das Du mir bringst,« heißt es im Märchen und Michael will es erscheinen, als sei das Märchen zur Wahrheit geworden, da das blonde Mädchen seine Schwelle überschritt. Jusia hat in einem hohen Lehnstuhl Platz genommen und neugierig gleiten ihre Blicke über ihre Umgebung hin, den niedrigen Raum mit schlichten, dunklen Holzmöbeln, an der Wand ein Regal mit Büchern gefüllt, alles einfach aber durchaus nicht bäuerlich. Sie sieht die weiße Christusstatue, die aus der magischen Gewitterbeleuchtung sich in lebendiger Klarheit hervorhebt und ein eigenes Gefühl überkommt sie. Ihr ist es plötzlich, als sei sie in diesem Raume eine andere, nicht mehr die alte Jusia Potocka, die kalte, raffiniert kokette Weltdame, sie weiß, sie braucht nicht viel Kunst anzuwenden, um den blonden Heiligen, wie sie ihn seit Kasias Erzählung nennt, an sich zu ziehen, aber hier in diesem Raume ist es ihr unmöglich, sie ist ordentlich befangen, ahnungslos, daß gerade dies befangene, verträumte Wesen sie in Michaels Augen um so reizvoller erscheinen läßt. Sie fühlt, wie unverwandt des Mannes Blicke auf ihr ruhen, die traumhafte Stille, nur unterbrochen durch die schon ferneren Donnerschläge, das Plätschern des Regens, bedrückt sie, so sagt sie hastig, nur um zu sprechen, um den Laut einer Stimme zu hören: »Erzählen Sie mir doch etwas von Ihrem Leben, Sie sind gewiß viel in der Welt herum gekommen und haben mancherlei erlebt?« »Wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein,« sagt Michael mit einer steifen Verbeugung und ärgert sich selbst über die Unbeholfenheit, mit der er ihrer freundlichen Güte entgegen kommt; er kann doch aber nicht rufen, wie es in seinem Innern klingt: >Alles, alles will ich thun, nur laß mich Dich anschauen immerdar<. »Ich befehle doch nicht, ich bitte nur und will Sie durchaus nicht quälen, wenn Sie nicht gern sprechen,« erwidert sie mit halbem Lächeln. »Oh gewiß gern!« stammelt Michael und beginnt nun von seinen Wanderfahrten zu berichten, er spricht von dem Dorf auf dem Sande, von Vater Abraham, von Tabea, da stockt seine Stimme und ein warmes Rot steigt in seine Wangen. »Welch' altmodischer Name, wer ist Tabea?« »Seine Braut!« ruft da Benjamin aus dem Hintergrunde hervor und zugleich kam er wieder näher. »Seine Braut, gnädige Komtesse, meine Schwester, verzeihen Sie, ich scheine das Unglück zu haben, Sie immer zu erschrecken, wirklich, ich bedaure es tief; doch das Gewitter scheint nachgelassen zu haben, soll ich wohl Jens, unseren dienstbaren Geist, beordern, daß für gnädiges Fräulein ein Wagen vom Schloß geschickt wird?« »Danke, ich gehe,« Jusia Potocka war aufgesprungen, ein hochmütiger Blick streifte Benjamin, dann reichte sie Michael die Hand, die dieser ehrerbietig an die Lippen führte. »Ich sehe Sie wieder, Sie müssen mir von Ihrer Braut erzählen und Dank für Ihren Schutz.« Das weiße Kleid leicht emporraffend, schritt sie durch den blühenden Garten der Straße zu. »Als Fee Dobrinka die Hütte verließ, da war das Licht erloschen,« ging das Märchen weiter. Michael stand und sah sehnsüchtig der weißen Gestalt nach, ach, hatte sie nicht alles Licht mit fortgenommen! Schwer legte sich eine Hand auf die Schulter des Sinnenden: »Michael hüte Dich,« raunt ihm Benjamin zu, »hüte Dich vor diesem blonden Weib, sie spielt mit Dir und sieht doch nur den Bauernbursch in Dir, denk' an unser Werk, an Tabea, hüte Dich.« Da riß sich Michael los: »Laß' mich, ich bin kein Kind, kein Wortbrüchiger, und Du solltest Dich eher schämen, unseren Gast, eine Dame, die schutzsuchend unser Haus betritt, so zu verletzen.« Michael freute sich beinahe über den Vorwurf, den er dem Freund machen konnte, als Vergeltung für dessen Mahnung, die ihn, obgleich er es nicht eingestehen wollte, tief getroffen hatte. Mit einem kurzen »Lebewohl« stürmte er hinaus, fort, nur fort in die Einsamkeit, hinaus in den Frieden der Natur. Er eilte den Weg über die Wiesen hinunter an den See, dort unter den hohen Bäumen warf er sich nieder und preßte die heiße Stirn in das kühle, feuchte Gras, oh hätte er doch das so wildklopfende, heiße Herz kühlen können. Noch nie war er der Macht der Leidenschaft unterlegen, noch nie hatte der Gedanke an Frauenliebe sein Herz höher schlagen lassen und nun war es über ihn gekommen, wie ein Fieber, das ihn schüttelte, das sein Blut sieden ließ. Er rang gegen den Dämon in seiner Brust, er beschwor das Bild seiner Braut vor sein geistiges Auge. »Tabea!« stöhnte er, »Tabea, komme zu mir!« Vergeblich, Tabeas Bild zerfloß wie im Nebel und immer wieder sah er Gräfin Jusias holde Gestalt vor sich. Er schmähte sich selbst, nannte sich einen wortbrüchigen Narren, einen thörichten Bauernjungen, er hielt es sich vor, daß die junge Gräfin ihn garnicht für gleichberechtigt ansah, er rief seinen Stolz zur Wehr hervor, vergebenes Mühen, das lockende Bild wollte nicht weichen. Rauschte es nicht in den Zweigen der hohen Ulmen, klang es nicht aus den girrenden Schreien der Wasservögel hervor, flüsterte nicht das schwankende Schilf: Jusia, Jusia! Tief senkten sich bereits die Schatten der Nacht hernieder, da kam endlich etwas Ruhe in des Mannes Herz, es war wie eine Ruhe nach einem Sturm, die tiefe Ermattung zurückläßt und die bange Frage, wann wird er wieder zu brausen beginnen? Gräfin Jusia hatte nach ihrem Aufenthalt in Michaels Haus den Weg, der direkt nach dem Schloß führte, eingeschlagen, in ihr kämpften widerstreitende Empfindungen. Sie war empört über Benjamins Anmaßung und fand, daß sie selbst sich benommen hatte, wie ein Pensionsmädchen. Dann wieder amüsierte sie sich über Michaels schrankenlose Bewunderung, die ihr, so wenig sie es sich eingestehen mochte, doch schmeichelte, und öfter kehrten ihre Gedanken zu dem Augenblick zurück, da sie, aus ihrer Betäubung erwachend, dies schöne, stolze Gesicht angstvoll über sich geneigt sah. »Arme Tabea,« dachte sie mit heimlicher Freude, sie reckte die schlanke Figur etwas, während ein triumphierender Ausdruck auf ihr Gesicht trat. Oh, es war köstlich, die Macht zu erproben, die sie über Männerherzen besaß, das richtete sie auf und stählte ihre Hoffnung auf den großen Erfolg ihres Lebens, der ihr Reichtum und Glanz geben sollte, den allein würdigen Namen für ihre Schönheit. Ein rasch daherkommender Wagen zog ihre Aufmerksamkeit an, sie erkannte in dem Herrn darin Dr. Werner, der flüchtig grüßte, sie sah ihm nach. Puh! war das ein Gesicht, schlimmer wie das Wetter vorhin! Ei, sollte der Doktor gar von Lochowo kommen, war etwas geschehen, hatte er gar um Maria angehalten, vielleicht hatte sie ein kleines, aufregendes Schauspiel verpaßt? Ihre Neugierde war erregt und schnell eilte sie dahin, um so bald wie möglich zum Schloß zu gelangen. Die Terrasse war leer, ebenso der weite Vorflur, sie ging auf den Salon der Hausfrau zu, da öffnete sich auch schon dessen Thür und Kasia schlüpfte heraus. »Jusia, komm' schnell, ich muß Dir etwas mitteilen!« Sie zog die Freundin mit fort nach deren Zimmer. »Denke Dir, wie gräßlich, Maria liebt diesen Dr. Werner, soeben war er da und hat um ihre Hand angehalten, Mama ist außer sich,« sprudelte sie hervor. »Sag' doch, ist es nicht empörend?« »Warum, mein Seelchen?« »Warum, mein Gott, Jusia, eine Maria von Leninska will einen Dr. Werner von Dingsda heiraten, der noch dazu ein Deutscher, ein Protestant ist, das ist doch einfach lächerlich, widersinnig, erniedrigend, ich finde keine Worte für meine Empörung.« Die kleinen Hände der Sprecherin ballten sich zusammen. »Eine Schmach für uns ist es!« schrie sie. Jusia lachte auf, ihr weiches, klingendes Lachen: »Nun, was die mangelnden Worte betrifft, daran fehlt es ja nicht, meine süße Kasia! Übrigens bist Du ein Närrchen. Warum verdenkst Du es denn Deiner Schwester so, wenn sie hier fort will aus dieser Einsamkeit, sie denkt halt, besser ein bürgerlicher Mann, ein simpler, kleiner Doktor, wie gar kein Mann!« »Das sagst Du, Jusia, Gräfin Potocka, deren Ahnen bereits unter Johann Sobieski eine Rolle spielten? Ja, würdest denn Du eine Heirat schließen, die nicht standesgemäß ist?« Jusia kniff die Augen ein wenig zusammen und sah spöttisch in Kasias aufgeregtes Gesicht. »Wenn er reich wäre! Kleine, dumme Klosterschwester, man merkt, Du hast die Welt noch nicht gesehen, hast noch die Klosterideen, wo wir sehr aristokratisch waren und es als selbstverständlich ansahen, daß unsere Priorin eine Prinzessin von Geblüt war, wir saßen eben hinter Klostermauern. -- In der Welt ist es anders, was nutzt uns der Adel ohne den Lebenssaft des Goldes, Reichtum giebt Freiheit, giebt Lebensgenuß, Du wirst es schon noch einmal verstehen. Sieh mich nicht so entgeistert an und sei nicht zu empört über Deine Schwester. =Chacqu'un à son goût, ma chère=, ich würde mich ja auch dafür bedanken, als Frau Dr. Werner irgendwo in Dingsda zu sitzen, aber Maria, die paßt hin. Sie kommt sicher mit dem denkbar wenigsten Wirtschaftsgeld aus, hält sich nur ein kleines Aufwartemädchen, trägt womöglich drei Jahre denselben Hut und zieht nur an hohen Festtagen ein seidenes Kleid an, bekommt rote Hände mit zerstochenen Fingern vom kochen und stopfen. Einmal wöchentlich geht sie vielleicht zu einem sogenannten Kränzchen und Sonntags mit ihrem Mann und sämtlichen Babys spazieren. Oh, und Kasia, besuchst Du sie, so giebt es Braten zu Tisch, Du wirst sämtlichen Honorationen von Dingsda vorgestellt, vielleicht, wer kann es wissen, findet einer der Jünglinge von Dingsda in Dir sein Ideal und er macht Dich zu einer ehrsamen Bürgersfrau, und am Sonntag geht ihr dann zusammen spazieren.« »Oh pfui, Jusia, höre auf, Du bist abscheulich! Noch über unser Unglück zu spotten!« »Laß gut sein, Kleine, wenn Du nicht willst, rolle ich keine verführerischen Zukunftsbilder mehr vor Deinen Blicken auf, erzähle Du mir lieber, wie die Sache eigentlich war?« »Was ist da zu erzählen,« sagte Kasia, während ihr die Thränen über die Wangen liefen. »Dieser Mensch kam, ließ sich melden und brachte auch sofort seinen Antrag vor, ich war im Nebenzimmer und hörte alles, Du mußt nicht denken, ich hätte gehorcht,« unterbrach sie sich, Jusias spöttisches Gesicht bemerkend, »sie sprachen laut genug und Mama schrie förmlich vor Schreck, Du kannst Dir denken, wie empört sie überhaupt war.« »Kann ich mir denken,« setzte Jusia in Gedanken hinzu, »schade, schade, daß ich Frau Halinkas Entsetzen nicht gesehen habe.« »Dann kam Maria,« fuhr die Erzählerin fort, »sie erklärte auch gleich, daß sie den Menschen liebe, denke nur, schon seit fünf Jahren, Gott! wenn er nicht so simpel wäre, fände ich das Ganze ja riesig romantisch. Mama bekam dann einen Weinkrampf und Papa bat den Doktor, sich zu entfernen. Wie er gegangen war, gab es noch eine furchtbare Scene, Maria war auch so verstockt, wenn sie wenigstens geweint und geschrieen hätte, gesagt, sie ginge ins Kloster oder ins Wasser, aber nein! stumm und blaß stand sie da; nun sitzt sie oben in ihrem Zimmer und hat sich eingeschlossen. Das Abscheulichste ist, gerade wie dieser Mensch kam, berieten Mama und ich über unser Sommerfest, und nun wird gewiß nichts daraus. Oh, das Leben ist zu schwer, ich bin zu unglücklich!« Und immer heftiger flossen ihre Thränen! -- »Kasia, mein Seelchen, nimm diese Angelegenheit doch nicht so tragisch, lache doch lieber mit mir, Thränen verderben bloß den Teint, lasse Deine Schwester thun, was sie will, Du brauchst ja den Doktor nicht zu heiraten, und das Sommerfest wird schon stattfinden, sage mir lieber, welche Toilette Du wählen wirst und wer erwartet wird?« »Ach, mir ist jetzt alles gleich,« erwiderte Kasia, »abscheulich von Maria, uns solchen Kummer zu bereiten, -- glaubst Du wohl, daß rosa mir stehen wird?« »Sicher, mein Herz,« Jusia zog die Freundin an sich, »sag' endlich, wer wird erscheinen?« Oben in ihrem Zimmer saß Maria am Fenster und starrte mit thränenlosen Augen hinüber nach dem blinkenden See, der jetzt so ruhig und glatt dalag, als wäre nie ein Gewittersturm darüber hingebraust. Sie hätte weinen mögen, heiße, bittere Thränen, aber ihre Augen blieben trocken, ihr fehlte die Kraft zum Weinen. Sie war so unsäglich müde von allen stillen Kämpfen, ach, hätte sie jetzt ihr Haupt an des Geliebten Brust legen können, still, ganz still, und mit ihm fortgehen können, dahin, wo Ruhe und Frieden war. Vorhin bei dem Sturm der Entrüstung war sie still gewesen, sie hatte wohl das Gefühl, als müsse sie rufen: »Laßt mir doch mein Glück, mein reines, stolzes Glück, stört mir doch nicht den Frieden meiner Liebe!« Aber kein Laut war über ihre Lippen gekommen, nur mit Entsetzen hatte sie gefühlt, wie innerlich fremd sie den Ihren war. Keine Frage von Mutter und Schwester nach ihrer Liebe, nur Standesvorurteile, nicht die Person des Mannes galt, dem sie sich zu eigen geben wollte, nur sein Rang, seine Stellung. Stumm hatte sie alle Schmähungen über sich ergehen lassen, als zuletzt Kasia ausgerufen hatte: »Ach, nun wird gewiß nichts aus unserem Ball,« da war sie gegangen, Bitterkeit und Verachtung im Herzen, hierher hatte sie sich geflüchtet, wo sie schon so oft in einsamen Stunden stille Kämpfe ausgefochten hatte. -- Draußen erklang ein Schritt, es war, als dämpfe jemand vorsichtig seinen schweren Tritt, lauschend hob Maria den Kopf, kam jemand zu ihr? Nun klopft es zaghaft und ein leises Räuspern wurde hörbar. Sie sprang empor und öffnete hastig die Thür. »Papa, Du, Du kommst zu mir?« Herr von Leninski schlüpfte hinein, leise die Thür hinter sich zuziehend. »Hm, ich wollte mal sehen, wie es Dir geht,« sagte er, sie dabei mit einem Blick voll herzlicher Liebe ansehend. Maria war es, als löse sich ein Reif von ihrem Herzen, mit einem Jubelruf warf sie sich in die Arme des Vaters und heiße Thränen stürzten ihr aus den Augen. Herr Marcel strich ihr, so sanft er konnte, über das dunkle Haar. »Mein Kind,« flüsterte er, während es in seinen Augen bedenklich feucht schimmerte, »mein armes, gutes Kind, hast Du ihn denn gar so lieb?« Maria hob den Kopf ein wenig: »Ja, Vater,« sagte sie unter Thränen lächelnd, »ich habe ihn lieb, mehr wie ich sagen kann!« »Hm ja, na die Mama ist ja sehr aufgebracht, ich wollte Dir aber doch sagen, hm ja, ich persönlich habe nichts dagegen, gar nichts, na und wenn Du gern willst, der Stefan fährt zur Stadt, vielleicht soll er einen Brief besorgen, hm, wie gesagt, die Mama ist dagegen, aber die Zeit, die Zeit.« »Oh du einziger, guter Vater,« stammelte Maria, während ihr unaufhaltsam die Thränen über die Wangen flossen. »Mein bestes Kind, Du mein tapferer Kamerad, schreib es ihm nur, mir ist er als Sohn willkommen, und wie gesagt, die Zeit, die Zeit.« Vorsichtig trat Herr von Leninski den Rückweg an, es brauchte ja gerade niemand zu wissen, daß er bei Maria gewesen war, an dem Zimmer seiner Frau vorbei schlich er sogar auf Fußspitzen. »Hm ja, die Frauen sind sonderbar,« seufzte er und dachte dabei an Frau Halinkas Weinkrämpfe, die ausdauernder und in ihrer Wirkung nachdrücklicher waren, wie seine gelegentlichen Zornesausbrüche. * * * * * »=Chère tante!= -- Du siehst, ich bin noch am Leben, noch nicht gestorben vor Langeweile, aber ich gebe Dir die Versicherung, lange bleibt meine Seele nicht in diesem öden Nest und wenn ihr der Körper, wegen mangelnden Reisegeldes, nicht folgen kann, wird es wohl eine Trennung geben, also bereite Dich immer vor, daß Dir plötzlich mein armer Geist erscheint, der das Idyll von Lochowo verlassen hat. Doch eine Abwechslung winkt in dieser ländlichen Stille, um Dir davon zu erzählen, schreibe ich heute. Ein Ball, ein Sommerfest oder wie Du es nennen willst, soll es geben, wenn -- wenn nämlich Papa von Leninski in der Lage ist, den nötigen Mammon dazu herzugeben, was mir durchaus nicht sicher erscheint. Etliche Familien aus der Umgegend sollen kommen, Kasia rümpft die Nase, daß auch das bürgerliche Element vertreten sein soll. Es geht die Sage, daß auch einige männliche Erscheinungen, die noch nicht die Ehefesseln tragen, das Fest verherrlichen werden und wenn ich Dir sage, daß auch Graf Kasimir Sucholski erscheint, der trotz seiner fünfzig Jahre noch seine Millionen und seine Freiheit besitzt, geht sicher in Deinem Tantenherzen strahlend die Sonne der Hoffnung auf. Nun noch eine lächerliche, kleine Neuheit, Maria will sich verloben mit einem Dr. Heinrich Werner, wohnhaft in irgend einem kleinen Nest, schade, daß Du diesen Familiensturm nicht erlebt hast. =Madame= war rasend und ist jetzt elegisch, =monsieur= war still und ist noch immer still, im Grunde aber scheint er mir sehr zufrieden zu sein, wenigstens eine Tochter versorgt zu wissen. Kasia ist empört, vollständig Aristokratin, sie haßt die Schwester förmlich, unter uns gesagt, =la petite= hat Rasse, ich glaube beinahe, ich lade sie mir nicht in mein künftiges Haus. Und Maria! Oh, es wäre wert, dies Bild festzuhalten, sie ist verklärt, nur Liebe, nur Demut, ich bin sicher, sie sieht in diesem Doktor aus Dingsda einen Halbgott und wird selig sein, darf sie erst ihrem Herrn die Strümpfe stopfen und die Suppe kochen, sie fühlt sich im Paradies, zieht sie erst in ihr bescheidenes Heim. Die Ansichten von Glück sind eben verschieden, mein Götze heißt Reichtum und Schönheit, ich will leben, leben, dies, ach so kurze Dasein genießen und nicht verkümmern in der elenden Misère! Lebe wohl, =chère tante=, bitte zu den Heiligen, daß sie mein Gebet erhören. Immer in Liebe Deine tieftraurige Jusia. »Wenn ich nur wüßte, ob Graf Kasimir wirklich so reich ist, wie Fama sagt!« so überlegt Jusia, während sie den Brief in den im Hausflur befindlichen Postkasten senkt und dann mit leisen Schritten das Schloß verläßt. Sie fürchtet, Kasia könnte kommen, lieber vertieft sie sich in die Lektüre von Paul Bourgets neuesten Roman, den ihr Tante Amélie gesandt, als sich an den endlosen Gesprächen über Marias unbegreifliche Rücksichtslosigkeit zu erbauen. Leichtfüßig eilt sie die verschlungenen Wege des Parkes entlang, dem See zu und besteigt dort angekommen, den, an einer Kette liegenden Kahn; träumerisch sieht sie auf das graue Wasser, das leise plätschernd an die Wände des Bootes schlägt. »=Oh pescator dell'onda= =Fidelin= =Vieni pesca in qua= =Colla bella sua barca= =Colla bella sene va= =Fidelin lin la=« trällert sie, mit sehnsüchtigen Augen in die Ferne blickend, dem großen unbekannten Glück entgegen. »=Colla bella sene va,= =Fidelin, lin la!=« Der einsam am Ufer des Sees dahinschreitende Mann hebt den Kopf, da der helle Gesang an sein Ohr schlägt. Er lauscht. Da stockt ihm der Atem, als er durch das Gebüsch das rote Kleid der Sängerin schimmern sieht. »Führe mich nicht in Versuchung,« stammelt er und will zurück, nur nicht wieder mit ihr sprechen, sie sehen, deren Bild ihn umgaukelt im Wachen und Träumen. »=Jo vo un basin d'amore Fidelin=,« klingt es zu ihm herüber, die weichen Laute der fremden Sprache umkosen ihn wie Schmeichelworte. Mit Zauberfäden zieht es ihn näher, immer näher, Schritt für Schritt, bis er an der kleinen Bucht steht und mit heißen Augen auf Jusia Potocka sieht. Diese stößt einen leisen Schrei aus, da die dunkle Gestalt neben ihr auftaucht. »Verzeihung, gnädigstes Fräulein, daß ich Sie erschreckt habe, der Gesang zog mich an,« stammelt Michael sich fast demütig verneigend, seine Stimme bebt dabei, seine Augen sehen mit flehender Bewunderung zu dem schönen Mädchen nieder und Jusia lächelt, durch den Sinn zieht ihr der Gedanke: »Wie gerufen kommt er, mir die Langeweile dieser Stunde zu vertreiben.« »Sie sollen Verzeihung erlangen, wenn Sie mich an das jenseitige Ufer rudern wollen, immer am Schilf entlang, es sollen da noch Wasserrosen blühen, die möchte ich haben!« Nicht eine Sekunde zögert Michael, er denkt nicht an sein Mühen, die blonde Gräfin zu vergessen, an all' die heißen, unruhigen Tage, er sieht nur das holde Gesicht, hört die süße, weiche Stimme und ist vollständig in Jusias Bann. So fährt er sie hinaus auf das stille, graue Wasser. -- Es ist einer jener trüben, sonnenlosen Spätsommertage, die Vorboten des kommenden Herbstes; eine endlose graue Fläche, spannt sich der Himmel über die Erde; der Horizont verschwimmt in demselben eintönigen Grau. Regungslos stehen die hohen Ulmen, die tief sich neigenden Trauereschen, keine flimmernden Lichter zucken golden über sie hin, all' die leuchtenden, glühenden Farben des Sommers sind ertrunken in dem schweren, eintönigen Grau. Kein Laut auch unterbricht die Stille ringsum, nur manchmal wird der klagende Schrei eines Wasservogels hörbar, ein Fischreiher streicht, nach Beute spähend, über das Wasser hin und leise rauscht das Schilf, an dem der Kahn entlang gleitet. »Erzählen Sie mir mehr von ihrem Leben, von Ihrer Braut,« unterbricht Jusia Potocka das Schweigen, sie neigt sich vor und sieht prüfend in das schöne Männergesicht mit dem schwermütigen Zug darin. »Sagen Sie mir, wie sieht Ihre Braut aus, ist sie hübsch, woher hat denn sie den seltsamen Namen Tabea?« Michael schweigt, er will antworten, aber er kann nicht, die Kehle ist ihm wie zugeschnürt. Tabea! er soll von Tabea reden, er muß sich beinahe besinnen, wo er den Namen gehört hat, alles ist vergessen in der Minute, da ihn Gräfin Jusia rief und er sieht nur immer sie, sie allein. Tabea! der Name klingt wie fernes Meeresrauschen und das Meer ist so weit, so weit! Er bleibt die Antwort schuldig und sieht die Fragerin nur an mit seinen ernsten Augen, so flehend, so um Liebe heischend, daß ein banges Gefühl Jusia überschleicht. Soll sie das Spiel, das sie so leichtherzig begann, nicht lieber enden, soll sie nicht umkehren? Es ist ein gefährliches, aber für sie köstliches Spiel, es reizt sie, diesen Mann, der so gar nicht mit ihren bisherigen Bewunderern zu vergleichen ist, in ihrem Banne zu sehen, mag es lächerlich, mag es absurd erscheinen, so wie dieser blonde Schwärmer hat ihr noch keiner gefallen. Sie schlägt mit einer kleinen Gerte auf das Wasser, daß die hellen Tropfen ihr ins Gesicht spritzen, soll sie zurück, soll sie weiter fahren, allein mit ihm? Sie sieht ihn von der Seite an, er hat die Ruder eingezogen und sitzt in müder Haltung still da, als fühle er ihren Blick, wendet er sich ihr zu, ihre Augen kreuzen sich und ruhen sekundenlang ineinander, dann sagt Jusia Potocka mit leisem Lachen: »Ach, sehen Sie dort, da sind noch Wasserrosen, ach, schnell fahren Sie hin, ich möchte welche haben,« sie streckt verlangend die weißen Hände nach den Blumen aus und Michael treibt den Kahn mit einigen raschen Ruderschlägen näher und zieht die weißen Blüten, an ihren langen, schlüpfrigen Stengeln, aus dem Wasser und legt sie zu Jusias Füßen nieder, die sie ineinander schlingt und sie sich wie eine weiße Krone aufs Haupt setzt. »Sehen Sie mich an, Herr Wisniewski, sehe ich nun nicht aus, wie eine Wasserfrau?« Schwermütig schüttelt er das Haupt: »Oh nein, Komtesse, oh nein, nicht wie eine Nixe, die sind schlecht, und locken uns arme, thörichte Menschen in Leid und Tod. Sie gleichen eher einer« -- er bricht stockend ab und wendet den Blick von ihr. »Wie sehe ich eher aus, schnell, das müssen Sie mir sagen, sonst werde ich böse, oder ist es so wenig schmeichelhaft für mich, daß Sie es nicht sagen können?« »Es ist keine Schmeichelei, es ist Wahrheit; Sie gleichen einer holden, gütigen Fee, zu gut, zu schön und -- unerreichbar für uns Menschen,« sagt Michael, und die letzten Worte ersterben in einem Flüstern. »Legen Sie dort an, sehen Sie, da ist eine Einfahrt, ich möchte ein Stück dort entlang gehen,« ruft Jusia fast befehlend statt jeder anderen Antwort, und wieder gehorcht Michael willenlos ihrem Wunsch, bald darauf fährt der Kahn in die schmale Bucht ein und leichtfüßig springt Jusia ans Land. Immer dichter waren die grauen Wolkenschleier auf die Landschaft herniedergesunken, sie hatten das jenseitige Ufer mit dem Schloß umhüllt, die Baumgruppen waren untergetaucht in dem grauen Nebel, es schien, als ginge der See in unermeßliche Weiten, als gäbe es keine Ufer, keine Häuser, keine Bäume, nichts als graues, trübes Wasser. Leise begann jetzt ein feiner Regen herniederzurieseln, der aber die beiden Wanderer, die unter den dichten Trauereschen am Ufer dahingingen, nicht traf. »Sehen Sie, es regnet, auf dem Wasser sieht man es, wie fatal! Ob es wohl lange dauert?« Jusia streckte bei diesen Worten die weiße Hand unter dem schützenden Blätterdach hervor, um die fallenden Tropfen zu spüren. »Es wird Landregen, der vergeht nicht so schnell, es ist ein treuer Geselle,« sagt Michael. »Dann wollen wir rasch umkehren, es hat ja keinen Zweck, zu warten, schade, daß wir unseren Gang nicht weiter ausdehnen konnten,« die Gräfin wandte sich, um nach der Bucht zurückzukehren; vorsichtig, so viel wie möglich die Nässe meidend, setzte sie den Fuß auf einen glatten Stein, der aber unter dem Druck nachgab, sie glitt aus und wäre gefallen, wenn Michael sie nicht in seinen Armen aufgefangen hätte. Zum zweitenmal hielt er das schöne Mädchen umfangen, ihr weiches, schimmerndes Haar streifte seine Wange, er fühlte, wie ein leises Beben ihre Gestalt durchlief; da vergaß er alles, seine Braut, das stille Dorf auf dem Sande, vergaß seine Ehre, seinen Stand, alles, alles, er sah nur das schöne, lebensvolle Weib, das er in seinen Armen hielt. Da riß es ihn fort, wie ein toller, wahnsinniger Rausch durchdrang es ihn, fester umschlang er sie und dann küßte er sie, küßte sie auf die roten Lippen, auf das flimmernde Haar, er küßte die geschlossenen Augen und dazwischen stammelte er heiße, bethörende Liebesworte. Jusia erzitterte unter der Leidenschaft des Mannes, die wie ein Sturm über sie hinbrauste, dennoch machte sie keinen Versuch, sich aus den sie umschlingenden Armen zu befreien, sie schmiegte sich fester an seine Schulter, schloß die Augen wie in seliger Betäubung. Einmal kam ihr der Gedanke: »Schade, daß er nicht Kasimir Sucholski ist, und wenn Tante Amélie mich sehe,« da mußte sie lächeln, und Michael küßte sie auf die lächelnden Lippen und flüsterte: »Oh, Du Hohe, Du Geliebte, meine Königin, mein Glück, ich liebe Dich, ich liebe Dich.« -- Immer dichter hüllte die Ferne sich in ihr graues Nebelgewand, kein Laut, kein Ruf drang an das Ohr der Beiden, sie waren so einsam in dem wallenden Nebel, wie auf einer stillen, fernen Insel. So verrann die Zeit für das Paar unter den hängenden Eschen wie eine kurze, flüchtige Minute, irgendwo schlug ein Hund an, das langgezogene Bellen trug den ersten Laut der Welt in diese graue Einsamkeit und schreckte Jusia Potocka empor. Tief aufatmend befreite sie sich aus Michaels Armen. »Es kommt jemand, heilige Jungfrau, wenn mich ein Mensch sieht.« Sie strich sich das zerzauste Haar aus der Stirn und sah angstvoll um sich. »Rasch, nur rasch, ich muß zurück, man wird mich suchen, mich vermissen!« Sie hastete, um vorwärts zu kommen, jetzt, da sie aus dem Bann der letzten Stunde erwacht war, überkam sie eine namenlose feige Angst, daß jemand sie sehen könnte. Sie zitterte vor Ungeduld, vorwärts zu kommen, und ergriff Michaels Hand, ihn mit sich ziehend. »Schnell doch, nur fort von hier, ich muß zurück, oh, wäre ich doch erst in Lochowo!« Michael folgte ihr willenlos, er konnte sich nicht so jäh aus dem schönen Traum lösen, ihm war alles andere, die Menschen, alles so völlig gleichgiltig. Mechanisch setzte er die Ruder ein, leise strich der Kahn über das Wasser, das gurgelnd an seine Wände schlug, alles wie zuvor und doch so anders. Jusia Potocka spähte angstvoll aus, ob ein anderes Boot ihnen entgegen käme, ob man sie suchte. Das Ufer mit den Trauereschen tauchte im Nebel unter, verschwommen und grau sahen die Umrisse von Schloß Lochowo hervor, mit einem Seufzer der Erleichterung begrüßte Jusia das Bild, dort war das Ufer; noch lag der Kahn nicht fest, da sprang sie schon heraus und eilte mit einem flüchtigen: »Auf Wiedersehen!« davon. Die hohen Bäume des Parkes nahmen sie in ihren Schatten auf, sie hörte nicht mehr den flehenden Ruf des Mannes: »Bleibe, ach, bleibe doch, wann seh' ich Dich wieder?« Immer stärker rauschte der Regen nieder, der trübe Tag war kaum merklich zum Abend geworden, immer noch saß Michael im Kahn und starrte nach dem Park, als müsse die Pforte sich öffnen und eine holde Gestalt heraustreten. Er war wie im Fieber, wie wahnwitzige Fieberphantasien jagten die Gedanken sich hinter seiner Stirn. Aus dem wallenden Nebel lösten sich Gestalten heraus, er sah Propst Ryback, sah Vater Abraham und -- Tabea, da stöhnte er vor Qual und Scham. Dann wieder fühlte er Jusias Gestalt in seinen Armen, er meinte den Duft ihrer schimmernden Haare zu spüren, da zuckte er vor Leidenschaft, er streckte die Arme aus und schluchzte: »Jusia, Jusia,« aber alles blieb stumm. Kein Laut drang aus dem Schloß zu dem einsamen Mann herüber, einige Fenster erhellten sich, dort weilte sie jetzt, ob sie wohl lachte und sprach mit ihrer hellen, weichen Stimme, ob sie wohl an ihn dachte? Spät erst raffte sich Michael auf, völlig durchnäßt, totmatt von den quälenden Gedanken, schlug er den Rückweg ein; er ging durch das Dorf, heute war es ihm vollständig gleichgiltig, ob man ihm Schmähworte nachrief oder nicht. Wie ausgestorben lag das Dorf da, nur aus dem Krug erscholl wüstes Johlen, und Michael dachte gerade wie einst; damit kehrten ihm die Gedanken zur Vergangenheit zurück, heiße Sehnsucht ergriff ihn plötzlich nach der entschwundenen Zeit der Jugend, der Reinheit, da er mit schuldlosem Herzen oft denselben Weg gegangen war. Da stand er am Pfarrhaus, durch die grünen Fensterläden schimmerte Licht, der Propst weilte in seinem Studierzimmer, und als trieb ihn eine unsichtbare Macht vorwärts, der er nicht widerstehen konnte, trat Michael näher. Oh, nur jetzt in dieser Stunde eine treue Hand ergreifen können, jetzt »Vater« sagen dürfen, »Vater -- ich verstehe Dich und Deine Schuld, denn jetzt weiß ich, was Leidenschaft heißt, weiß, welche unbesiegbare Macht sie ist, die uns zur Sünde treiben kann.« Immer näher zieht es ihn, er durchschreitet den kleinen Vorgarten, er tritt durch die offene Hausthür in den weiten Flur, in dem eine kleine Öllampe ein mattes Licht verbreitet; er schleicht sich an die Thür des Studierzimmers und setzt sich dort auf die schmale Holzbank nieder, auf der er wartend einst so oft gesessen hat. Er legt den Kopf an den Thürpfosten und lauscht, ob er nicht drinnen den Schritt des Propstes hört, aber an sein Ohr schlägt nur das Geräusch des fallenden Regens draußen und das wilde Klopfen seines eigenen Herzens. Ihm ist zu Mute, als sei er heimgekehrt nach langen, langen Jahren, er denkt nicht daran, wie Propst Ryback ihm entgegengetreten ist, als er im Winter in seine Heimat zurückkam, in dieser Stunde hat er alles vergessen, er hat nur grenzenlose Sehnsucht nach einem gütigen, verstehenden Wort, nach jemand, der seine heiße, verzehrende Liebe versteht. Er tastet nach der Klinke und öffnet leise die Thür, er sieht im Lichtkreis einer Lampe den Geistlichen sitzen, den Kopf tief über ein Buch geneigt. »Vater!« Wie ein Hauch rang es sich von seinen Lippen. »Michael!« Der Propst sprang nicht empor, regungslos blieb er sitzen und sah entsetzt auf den Mann in der Thür. Sekundenlang ruhten die beiden Augenpaare ineinander, bis sich der Propst erhob, ein eisiger Zug legte sich auf sein Gesicht, als er hart sagte: »In meinem Haus ist kein Raum für einen Abtrünnigen!« »Vater!« In verzweifelndem Flehen, in beginnendem Trotz klang der Ruf. »Kein Raum für einen Abtrünnigen,« wiederholte der Propst tonlos. »Auch keinen Raum für den Sohn?« Michael schrie es fast und doch klang namenlose Angst durch seine Worte. Es war, als schwanke die stolze Gestalt des Geistlichen, aber nur kurz war die Schwäche. »Ein Priester hat keinen Sohn, darf keine Liebe haben, als die zu der heiligen Kirche,« sagte er fest. Michael lachte auf, wild, höhnisch, rasch trat er näher. »Du,« stieß er hervor, »Du, der Du mein Leben verbittert hast, mich hineingetrieben in Zweifel und Irrtümer, der Du die Schuld trägst, daß mir mein stolzer, reiner Kinderglaube verloren ging, Du, der mir alles genommen, was rein und gut in mir war, Du verdammst mich als Abtrünnigen, schiltst mich einen Ketzer und stößt mich fort! Du verweigerst mir Vaterliebe, Du verleugnest mich aus feiger Angst vor der Welt, Du entziehst mir, was der Ärmste seinem Kinde giebt: Liebe! und nennst Dich einen Priester, einen Christ! Oh, ich Thor, ich kam her und wollte mich an die Brust des Vaters flüchten, wollte Dir sagen, daß ich Deinen Fehltritt verstehe, und verstehen heißt verzeihen, ich wollte nur ein wenig Liebe. Aber wehe Dir, die Liebe läßt sich nicht leugnen, hüte Dich, daß nicht einst eine Stunde kommt, in der all Dein Flehen, Dein Rufen vergebens ist, in der Du einsam bist und Dein Herz vergebens nach der Liebe Deines Kindes schreit, hüte Dich vor dem zu spät.« -- In wortlosem Entsetzen stand der Propst, er sah das leidenschaftdurchwühlte Gesicht des Sohnes, hörte die furchtbare Anklage, dann schlug ein grelles, verzweifeltes Lachen an sein Ohr, krachend fiel die Thür ins Schloß, er war allein. -- Er wollte rufen: »Kehr zurück, komm wieder!« Kein Laut kam über seine Lippen, gebrochen sank er auf einen Stuhl nieder, mit starrem Blick nach der Thüre schauend, als müßte diese sich öffnen und der Sohn noch einmal kommen. Alles blieb still, der alte Mann saß stundenlang so, bis er endlich laut vor sich hin sagte: »Ein Priester darf nicht lieben, er gehört nur der heiligen Kirche!« -- Michael stürmte davon, seinem kleinen Hause zu, das so still dalag wie die anderen; vor der Thür saß die mächtige Dogge und begrüßte mit freudigem Winseln den heimgekehrten Herrn. Leicht strich ihr dieser über den Kopf, ihm that die Freude des Hundes ordentlich wohl. Benjamin schien bereits zu schlafen oder war noch nicht zurückgekehrt, Michael dachte daran, daß heute Nachmittag eine Andacht im jenseitigen Walde hatte stattfinden sollen, er dachte daran, wie an etwas, das weit, weit hinter ihm lag, er war nur froh, jetzt nicht dem Freunde Rede stehen zu müssen, in dieser Stimmung nicht dem forschenden Blick der dunklen Augen standhalten zu müssen. Er zündete ein Licht an und betrat das niedrige Wohnzimmer, er prallte förmlich zurück, aus der Ecke leuchtete das weiße Bild des Heilands ihm entgegen, die Kerze in seiner Hand warf unruhige Lichter darauf, die darüber hinhuschten und dem weißen Bildwerk einen Schimmer von Leben verliehen. Seine aufs äußerste angespannten Nerven verloren die Spannkraft, laut weinend warf er sich vor der Statue nieder und streckte die Arme aus. »Hilf, hilf!« stöhnte er; er wollte beten, aber er konnte nicht, er stammelte nur wirre Worte, in ihm tobte alles wirr durcheinander, Liebe und Leidenschaft, Scham, Reue und Zorn stritten in ihm, bis zuletzt die mächtige Stimme der Leidenschaft all' die anderen übertönte. Jusias Bild trat vor seine Augen, er hörte ihr Lachen, sah ihr süßes Gesicht, er küßte wieder ihren roten Mund und hielt sie in seinen Armen. So verharrte er regungslos zu den Füßen des Christusbildes, bis ein wohlthätiger Schlaf sich auf seine Augen senkte und im Traum flüsterten seine Lippen: »Jusia, Jusia.« * * * * * Noch immer herrschte eine schwüle Stimmung auf Lochowo, Frau von Leninska ging herum mit der Miene einer trauernden Niobe, sie hüllte sich gegen Maria und gegen ihren Gatten, der zu ihrer Empörung ordentlich zärtlich zu ersterer war, in eisiges Schweigen; nur gegen Jusia und Kasia war sie milde. Selten wohnte sie den Mahlzeiten bei, sie lag in ihrem Boudoir, eine Schale Konfekt neben sich, und studierte die neuen Modezeitungen, neben diesen aber lag offen ihr Gebetbuch und ihr Rosenkranz und sobald ihr Gatte oder Maria das Zimmer betraten, griff sie danach. Müde ließ sie soeben das Journal, in dem sie gelesen hatte, sinken, im Grunde war es doch recht ermüdend, eine sorgende Mutter zu sein, da öffnete sich vorsichtig die Thüre und Kasia trat über die Schwelle. »Ach Du bist es, mein Seelchen, sage, ist der Propst noch nicht gekommen?« »Nein, Mama, er wird aber wohl bald erscheinen.« »Ach, käme er doch nur, daß mein armes, bangendes Herz Ruhe fände, oh meine Nerven!« stöhnte Frau Halinka. »Soll der Propst mit Maria sprechen, Mama? Ich fürchte auch, er wird keinen Einfluß haben, Maria ist furchtbar eigensinnig, auf meine Vorstellungen hat sie mir nur erwidert, ich verstände nicht, was Liebe ist, allerdings! diese Liebe verstehe ich nicht,« sagte Kasia, hochmütig das hübsche Köpfchen hebend. »Gott sei es geklagt, Marias Eigensinn macht mich krank, sage, mein Liebling, wie nimmt Gräfin Jusia die Sache auf, ich vermied bisher ein Gespräch mit ihr darüber, ist sie nicht empört, wie es all' unsere Freunde sein würden?« »Empört, oh nein,« etwas zögernd kam die Antwort von Kasias Lippen; »Mama, ich muß es Dir sagen, ich bin eigentlich etwas indigniert über die Art, wie Jusia den Fall auffaßt, denke nur, sie findet es gar nicht schlimm, einen Bürgerlichen zu heiraten; sie sagt so ungefähr: >das Geld wiegt den Adel auf<, ich glaube beinahe, sie würde einen Bürgerlichen heiraten, wenn er nur reich wäre!« »Ja, mein Kind, das ist etwas anderes, leider, leider sind die Zeiten vorüber, wo der Adel die einzige Macht war, heute teilt er sich mit der Macht des Geldes, aber dieser Dr. Werner ist ja nicht einmal reich, ja, könnte er Maria ein standesgemäßes Leben bieten, ach, für das Glück meines Kindes wollte ich mich demütigen, ich bin ja so selbstlos, lebe nur für Euch, bringe mich selbst zum Opfer, ach!« »Mama, ich glaube, Propst Ryback ist gekommen,« unterbrach Kasia die Redende, froh, daß sie das Gespräch beenden konnte, denn sie wußte, wenn die Mama einmal begann, von sich und ihrer Aufopferung zu sprechen, kam sie so bald nicht zu Ende. »Der Propst, ach, es ist mir wirklich ein Trost,« und rasch ergriff Frau Halinka das Gebetbuch und sah erst auf, als Propst Ryback vor ihr stand. »Oh, mein teurer Freund, gut, daß Sie kommen, mir armen Frau Trost zu bringen,« rief sie, des Geistlichen Hand erfassend, und nun folgte die ganze Leidensgeschichte, unaufhaltsam floß der Strom ihrer Rede dahin und schweigend hörte der Propst ihr zu. »Darf ich Maria sprechen, gnädige Frau?« sagte er statt jeder Antwort. »Gewiß, oh gewiß, das ist es ja, was ich wünsche, auf Sie, ihren alten Lehrer und Beichtvater, wird mein irregeleitetes Kind vielleicht eher hören, wie auf die Stimme der sorgenden Mutter, ich werde sie rufen lassen.« »Bitte, nein!« Der Propst zog Frau Halinkas Hand von der Klingel fort. »Ich werde zu ihr gehen, es ist besser, ich spreche allein zu ihr, ich komme nachher und erstatte Ihnen Bericht, bis dahin Gott befohlen, ich werde Maria schon finden.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, eine Erwiderung Frau Halinkas gar nicht abwartend. »Unerhört eigentlich, diese Art, einfach meinen Wunsch unbeachtet zu lassen, der gute Propst scheint seine Stellung etwas zu vergessen, aber daran ist wieder Marcel schuld, der versteht auch nicht im Geringsten, seine Würde als Patronatsherr zu betonen, ich muß ihm wirklich einige Vorstellungen darüber machen.« -- Propst Ryback brauchte nicht lange nach seinem Beichtkind zu suchen, in ihrem Zimmer fand er sie, unthätig am Fenster sitzend und mit versonnenen Augen in die Ferne schauend. Langsam stieg ihr ein feines Rot in die Wangen, als sie den Geistlichen erblickte. »Gelobt sei Jesus Christus,« sagte er, ihr segnend die Hand auf das dunkle Haar legend. »In Ewigkeit, Amen,« erwidert sie, ihm ehrerbietig die Hand küssend. »Du wirst ahnen, warum ich komme, Maria?« frug er. Er nannte sie, die er getauft und in die Lehre der heiligen Kirche eingeführt hatte, noch Maria und Du, auf ihren besonderen Wunsch war es so geblieben. »Ja, Hochwürden, ich weiß es, ich weiß auch, daß Sie im Auftrag meiner Mutter kommen, aber ich will es Ihnen gleich sagen, daß Sie vergebens kommen. Sie, Hochwürden, wissen ja, wie ich gerungen habe gegen diese Liebe, wie ich still mein Leid getragen habe, aber nun ist mein Glück gekommen und ich will es halten. Sagen Sie nichts von Religionsunterschied, von Standesvorurteil,« fuhr sie beinahe heftig fort, so daß der Priester erstaunt auf sie sah. War das die stille ergebene Maria, die da sprach mit glühenden Wangen und strahlenden Augen? »Mein Gott weiß es, wie ich gekämpft habe gegen diese Liebe, nicht einmal, hundertmal habe ich es mir gesagt, Du darfst Dich dem Gefühl nicht hingeben, darfst diese thörichte Hoffnung nicht hegen, er hat Dich längst vergessen, aber immer wieder übertönte die Sehnsucht alles, und als er vor wenig Tagen vor mir stand, da wußte ich es, diese Liebe kann nicht sterben, sie ist ein Teil meines Selbst, sie ist mein Leben! Meine Mutter und Schwester widerstreben mir, sie sehen nur den bürgerlichen Mann, nicht sein großes, gütiges Herz, sie schelten mich, verdammen mich und heißen meine Liebe ein Unrecht. Sie haben es mich gelehrt, die heilige Schrift sagt es uns, daß die Liebe von Gott kommt, kann sie da ein Unrecht sein? Nein, Hochwürden, nein, meine Liebe ist keine Sünde, was zwischen uns steht, ist Menschenwort, Gott, der über uns Allen ist, an den wir glauben, wie wir uns auch nennen, ob Katholiken, ob Protestanten, ist ein Gott der Liebe, der nicht zürnt, wenn wir die Liebe im Herzen tragen. Was hilft es dagegen zu kämpfen, leugnen läßt sich die Liebe nicht, sie bleibt doch Siegerin. Meinem Glauben werde ich treu bleiben, wie er dem seinen, meinem Glauben, aber auch meiner Liebe, denn ich liebe ihn mit der Liebe, die alles trägt, alles duldet, mag Sorge und Leid unser Los sein, mag eine Welt sich zwischen uns stellen, er ist mein Glück und meine Liebe ist unwandelbar!« Maria schwieg, feines Rot lag auf ihren Wangen, die Augen strahlten und ein Ausdruck von Begeisterung verklärte ihr Gesicht förmlich. Unverwandt sah der Propst auf das Mädchen, er wollte sprechen in Frau Halinkas Namen, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt, aus dem Nebel der Vergangenheit löste sich ein Bild, er sah vor sich ein schlichtes Mädchen aus dem Volk, die ihm alles gegeben hatte, ihre Liebe, ihre Ehre, und er sagte ihr, er müsse scheiden von ihr, um der Welt, um seines Gelöbnisses Willen, da hatte sie demütig gesagt: »Ich will aus Deinem Leben gehen, aber meine Liebe kann erst mit mir sterben, sie ist unwandelbar.« Vor wenig Stunden hatte der Sohn jenes Weibes ihm zugerufen: »Die Liebe läßt sich nicht leugnen,« hatte er recht? Totenstille herrschte im Zimmer, Propst Ryback hatte die Hand über die Augen gelegt, er war beinahe zusammen gesunken auf seinem Stuhl und Maria stand und sah mit strahlenden Augen, mit lächelnden Lippen hinüber nach dem leuchtenden See, er verwandelte sich vor ihren Blicken in einen breiten Fluß, sie sah prächtige Kuppeln, schimmernde Häuser sich in ihm spiegeln, sie saß im Schiff mit ihm, dem Geliebten, Hand in Hand. Eine dicke Fliege flog summend im Zimmer umher, sie stieß mit dem Kopf an die Fensterscheiben, sie wollte hinaus in den Sonnenschein, in die Freiheit. Schwerfällig erhob sich endlich der Geistliche, auf seinem sonst so strengen Gesicht lag ein milder, wehmütiger Zug, den Maria noch nie an ihm gesehen hatte, er ergriff die Hand des Mädchens und hielt sie einige Minuten fest in der seinen, forschend in Marias Gesicht sehend, dann sagte er ruhig: »Ich will nicht erst versuchen, Dich umzustimmen, meine Tochter, ich sehe, es wäre vergebens, möchtest Du nie den Schritt bereuen und nie Deinem Glauben und Dir selbst untreu werden, die heilige Jungfrau schütze Dich.« Er machte das Zeichen des Kreuzes über ihrem Haupt und verließ dann das Zimmer; er ging auch nicht mehr zu Frau Halinka hinein, er schritt hastig durch das Dorf, seinem Hause zu. In seinem Studierzimmer, in das durch die dichtbewachsenen Fenster ein gedämpftes, grünliches Licht fiel, saß er dann und sann. In seinen Ohren klangen die Worte nach, die Maria zu ihm gesprochen hatte, das Wort von der Liebe, die sich nicht verleugnen läßt, war es nicht Wahrheit, hatte er nicht selbst gegen die Gefühle gerungen, die er als Priester nicht hegen durfte? Er sah noch immer das bleiche Weib vor sich, tot am Boden liegend, er hörte noch das verzweifelte Schluchzen des Knaben; dann fühlte er die weiche Kinderhand in der seinen, sah die großen Kinderaugen fragend in inniger Liebe auf sich gerichtet. Der einsame Mann stöhnte auf. Fort, fort mit diesen Bildern, alles lag weit hinter ihm, hart wollte er gegen sich sein, wie er es gegen den Abtrünnigen gewesen war, keine Brücke gab es zwischen ihnen. Was war nur mit ihm, war er denn schon so alt und schwach, daß die Worte eines Mädchens an seinen Grundsätzen zu rütteln vermochten? »Nein,« sagte er vor sich hin, »ich will nicht schwach werden, oh Herr, gieb mir die Kraft dazu, reiße dies thörichte Gefühl aus meinem Herzen, daß kein anderer Gedanke darinnen lebe, als der, Dir und unserer heiligen Kirche zu dienen!« Dann verließ der Geistliche das Zimmer und ging durch den Garten bis zur Kirche und betrat diese, sie war leer, in einer Ecke lag zusammengewundenes Grün und Blumen, grellbunte Astern, zartfarbene Balsaminen und starkduftender Lavendel, vermischt mit Birkenlaub und Rosmarin, bestimmt, zu dem morgenden Marientag die Kirche zu schmücken. Der Propst blieb stehen und sah auf die Blumen nieder. Auch eine Maria war jene gewesen, deren blasses, trauriges Antlitz ihm nicht aus den Sinnen kommen wollte. Eine Maria, eine arme, müde, gequälte Dulderin! Er wandte hastig den Blick von den Blumen und schritt zum Altar, dort kniete er nieder und rang mit sich in stummem Gebet, bis ihn das Öffnen der Kirchthür aufschreckte. Dicht am Eingang kniete ein junges Weib, heiße Zähren rollten ihr über die Wangen; als sie den Priester erblickte, fuhr sie erschrocken zusammen. »Bist Du es, Valevka? schweres Leid scheint Dich zu bedrücken, bete zu der heiligen Jungfrau, damit Dir Trost werde!« Er machte das Zeichen des Kreuzes über ihrem Haupt und schritt dann weiter, das Mädchen richtete sich auf und streckte die Hände nach ihm aus, als wolle sie ihn halten, er wandte sich noch einmal um und sie sah in sein strenges Gesicht, das unbeweglicher denn je war. »Willst Du noch etwas, Valevka?« Stumm bewegte diese verneinend das Haupt und sank in ihre Stellung zurück, Propst Ryback verließ die Kirche, ihm nach klang ein leises, wehes Schluchzen. * * * * * Die weiten Säle von Schloß Lochowo hallten wider von Kasias lustigem Lachen und Singen, vergessen war der Ärger und die Empörung der letzten Tage, eitel Sonnenschein lag auf ihrem Gesicht, sie trällerte und zwitscherte wie ein Vogel, war ausnahmsweise liebenswürdig gegen die Dienstboten und fand sogar für Maria ein freundliches Wort. Auch Frau Halinka hatte sich von ihrem Leidenslager erhoben, hatte mit wehmütigem Blick die Trösterinnen ihrer sorgenvollen Stunden, Modenzeitung, Gebetbuch und Konfektschachtel, =ad acta= gelegt und hatte es für gut befunden, Herrn Marcel eine huldreiche Miene zu zeigen. All diese welterschütternden Veränderungen hatte der Hausherr mit der einfachen Frage veranlaßt, wann das geplante Sommerfest stattfinden sollte und ob die Damen Wünsche dazu hätten, er führe nach der Kreisstadt und sollte es ihm ein Vergnügen sein, alle Kommissionen zu erledigen. Frau Halinka fand danach das erste freundliche Lächeln seit langem für ihren Gatten; Kasia jubelte laut auf und umarmte stürmisch ihren einzig geliebten Herzenspapa, auch Gräfin Jusia wurde sichtlich lebhafter, als sie es seit einigen Tagen gewesen und Maria -- sie ging still hinaus und dachte: »Armer, lieber, schwacher Vater, wie schwer mußt Du ringen um den Frieden im Haus.« Der Kommissionszettel wurde lang, sehr lang und das Gesicht Herrn von Leninskis nicht kürzer; der Seufzer, mit dem er seinen Wagen zu der bewußten Fahrt bestieg, war auch lang, er endete eigentlich erst, als er in der Kreisstadt angelangt, das Haus von Samuel Schmuhl verlassen hatte und seine Brieftasche eine Anzahl blauer Scheine aufwies. Den Gedanken, wie verschwindend wenig ihm noch von dem letzten Ernteertrag blieb, spülte er bei Roman Przybilski mit einem Schoppen Ungarwein hinweg. * * * * * »Sag doch, Jusia, findest Du wirklich, daß dieses matte Rosa vorteilhaft für mich ist, sag' es doch bitte aufrichtig, Mama ist ja entzückt davon, ich möchte aber doch Dein Urteil hören?« »Reizend, Hülle wie Kern,« bestätigte Jusia mit zerstreutem Blick, Kasias zierliches Persönchen musternd, das wie eine Bachstelze hin und her wippte. »Ach Jusia, weißt Du, ich wünschte, dieses Fest bedeutete eine Wandlung in meinem Leben, aber dazu ist wohl keine Aussicht.« »Ach so, eine Wandlung mit Trauring und Namensänderung, Hochzeitsreise nach Paris u. s. w., ich verstehe.« »Nein, Jusia, Du bist unheimlich klug,« lachte Kasia halb verlegen, »aber Recht hast Du und ein Unrecht ist dieser Wunsch ja nicht, ach, wenn doch ein furchtbar reicher, furchtbar schöner, --« »Furchtbar vornehmer Mann käme und klein Kasia mit sich nähme,« unterbrach Jusia sie lachend. »O Du einfältiges, anspruchsvolles Kind, reich, schön, vornehm und alles in erhöhtem Maßstabe, nein, da bin ich doch bescheidener, ich begnüge mich mit furchtbarem Reichtum und nehme sogar furchtbare Dummheit in den Kauf, die ist angenehmer wie Schönheit, denn schöne Männer sind noch eitler wie schöne Frauen und beide Teile eitel, verträgt sich nicht gut zusammen.« »Nein, Jusia, höre auf; Du bist gräßlich, wenn Du so anfängst, sage mir lieber, welche Blumen ich nehmen soll, ich will hübsch sein; Jemand ist doch da, für den es sich vielleicht lohnte, Du weißt, daß Graf Sucholski zugesagt hat, schön ist er ja nicht, eher häßlich und alt, aber reich und vornehm, Mama sagt, das wären genügende Vorteile.« Kasia tritt vor den Spiegel und hält eine noch nicht voll erblühte Theerose an ihr braunes Haar, sie sieht nicht den halb spöttischen, halb ärgerlichen Blick der Freundin. »Eine Konkurrentin also und mir scheint, keine zu unterschätzende,« murmelt diese, dann tritt sie hinter die am Spiegel stehende und vergleicht sorgsam die beiden Gesichter und sagt ruhig: »Die weiße Rose steht Dir nicht, nimm lieber ein etwas kräftigeres Rosa, aber nun muß ich einmal nach meiner eigenen Toilette sehen, =addio=, Kleine, verliebe Dich nicht in Dein eigenes Spiegelbild! Aber was ich noch fragen wollte, wird Marias Verlobter zugegen sein und wird das Brautpaar vorgestellt werden?« »Um Himmelswillen, Jusia, was denkst Du, das ist doch einfach unmöglich, es wäre geradezu ein Skandal, nein, diese Überraschung können wir unseren Gästen nicht bereiten, zumal die Sucholskis denken in dieser Beziehung so streng. Mir vergeht gleich alle Freude, wenn von der unseligen Sache gesprochen wird, ich hoffe immer noch, Maria besinnt sich, aber nun hat sie ja noch einen Bundesgenossen, ich finde es unbegreiflich von Propst Ryback, für Maria zu sprechen, noch der Mama zuzureden, in diese romantische Heirat zu willigen, ich würde lachen, wenn ich mich nicht so ärgern müßte.« »Rege Dich nur nicht auf, mein Herz,« sagte Jusia, »ich wollte es nur wissen,« und während sie den Korridor nach ihrem Zimmer entlang geht, denkt sie: »Ein interessanter Gesprächsstoff, um die Unterhaltung mit Graf Kasimir zu beginnen.« Lange steht sie dann vor ihrem Spiegel und prüft nachdenklich ihre Erscheinung, ein weißes Seidenkleid umschließt in tadellosem Sitz ihre schlanke Gestalt, es ist ein schönes Bild, das ihr entgegenstrahlt, aber vor ihrem geistigen Auge taucht ein anderes daneben auf, das einen häßlichen Schatten wirft. Sie starrt in den Spiegel und eine feine Falte gräbt sich in ihre weiße Stirn. »Es ist zum wahnsinnig werden,« murmelt sie, »immer dieselben thörichten Gedanken, immer das häßliche Bild, fort, fort damit, ich will nicht mehr an die Stunde im Kahn erinnert sein, ich will nicht! Oh, wenn Tante Amélie dies erführe oder die Leninskis, Prinz Sergei und all die Anderen, Gräfin Jusia Potocka, die Stolze, die Kalte, läßt sich von einem etwas verfeinerten Bauernburschen küssen, nur weil er zufällig zur rechten Zeit kommt, die Langweile einer Stunde zu verscheuchen! Pfui, wie häßlich, Jusia, woran dachtest Du, als Du in des blonden Propheten Armen lagst? Es wird Zeit, daß ich fortkomme, die Einsamkeit ruft diese verrückten Gedanken hervor; ja, fort, fort, dann werden auch diese Bilder schwinden, ich hasse mich selbst, hörst Du es, Jusia Potocka, ich hasse Dich, könnte Dich erwürgen vor Wut über Deine unglaubliche Thorheit; wenn doch der Mensch wer weiß wo wäre und mir nicht gerade bei jeder Gelegenheit begegnete, ich glaube, es geschieht noch mit Absicht! Wie er mich anschmachtet, es ist zum lachen, eine richtige Fastnachtskomödie, ich glaube gar, er denkt, es giebt nun eine fröhliche Hochzeit, ich ziehe als Prophetenfrau mit in sein Häuschen hinter den Malven, bete, koche Suppe etc. und bin hochbeglückt. Ha, ha! Ja, lache nur, dumme, einfältige Jusia, oder weine lieber über Deine Thorheit,« sie stampfte mit dem Fuße auf und ballte die weißen Hände gegen den Spiegel: »Pfui, wie häßlich, wie kindisch, wie lächerlich hast Du Dich benommen, oh, wäre ich nur erst fort, weit fort von hier!« -- Gräfin Jusia hatte Recht, Michael suchte mit Absicht jede Begegnung herbei, er streifte in der Nähe von Schloß Lochowo umher, er spähte über die Mauer des Parkes, harrte stundenlang an der kleinen Bucht am See, saß träumend unter den hängenden Eschen, immer in der stillen Hoffnung, Du wirst sie sehen, sie wird Dich anlächeln, wie auf jener einsamen Fahrt. Wohl begegnete er ihr, aber nie allein, entweder schritt sie mit Kasia von Leninska in munterem Geplauder einher oder sie fuhr an ihm vorüber, aber nie traf ihn ihr Blick, ihre Augen schweiften über ihn hinweg, als hätte es nie einen Augenblick gegeben, in dem sie in seinen Armen geruht. Mit hochmütiger Kälte erwiderte sie seinen Gruß, sie sah nicht das stumme Flehen, das heiße Werben in seinen Blicken. In dem Manne aber loderte der Brand, den sie entfacht hatte, hell auf. Er kämpfte einen verzweifelten Kampf mit seinem Stolz, seiner Leidenschaft und der mahnenden Stimme seines Gewisses. Unruhevoll irrte er umher, er hörte kaum darauf, wenn Benjamin ihm frohlockend von dem Anwachsen seiner Gemeinde sprach, ja, er empfand plötzlich ein förmliches Grauen vor dessen Fanatismus, seine Lehre, die einsamen Gottesdienste im Walde, erschienen ihm als Komödie, jetzt, da er gleichsam in einem anderen Banne stand, erkannte er das Unklare und Verworrene in Benjamins neuem Glauben. In Stunden der Ernüchterung, in denen er erwachte aus dem Fieber seiner Liebe, ergriff ihn heiße Angst um den irregeleiteten Freund, um sich selbst, er sah dann den Abgrund, an dem sie beide standen, Benjamin, verstrickt in seine verworrenen Lehren, er, im Bann der Leidenschaft. Dann dachte er voll tiefer Sehnsucht an das stille Dorf auf dem Sande, mit seinem Frieden, an das schlichte, keusche Mädchen und an die klugen Augen Vater Abrahams, dann faßte er den Entschluß, Benjamin zu bewegen, mit ihm heimzukehren; dann sah er wieder die Gräfin oder er ging hinunter an den See, und vergessen waren all seine guten Vorsätze, mächtiger denn je loderte die Flamme in seinem Herzen auf und beherrschte seine Sinne. Benjamin bemerkte wohl des Freundes innere Kämpfe. Michael war auch im Grunde eine zu wahrhaftige Natur, um erfolgreich Komödie spielen zu können, und so lag seine Seele bald offen vor dem Freunde da. Dieser, der nur eine Leidenschaft, ein Ziel kannte, seine Lehre zu verbreiten und dadurch gleichsam ein Herrscher zu werden, hatte nur Verachtung für diese weibische Schwäche, wie er es nannte. Statt dem Freund als Freund zur Seite zu stehen, dessem schwankenden Charakter eine Stütze zu sein, griff er zum Spott; mit beißendem, höhnischem Spott überschüttete er diesen, zog seine Liebe zu Jusia Potocka in den Staub und erreichte gerade dadurch, daß Michael sich im Trotz von ihm abwandte, und verbittert über das geringe Verständnis, das er fand, sich immer tiefer in seine Schwärmerei verstrickte. »Weißt Du auch, daß übermorgen auf dem Schloß ein Ball stattfindet, es nimmt mich Wunder, daß sie Dich nicht eingeladen haben,« spottete Benjamin, indem er Hut und Stock nahm, um sich zum Fortgehen zu rüsten. Michael schwieg, er ließ des Freundes Hohn ruhig über sich ergehen und las anscheinend eifrig weiter. »Nun, kommst Du nicht mit, Du fehlst jetzt beinahe immer bei den Andachten, natürlich, Gräfinnen sind nicht dabei und nach Bauerndirnen sieht mein vornehmer Freund wohl nicht?« »Schweig, Benjamin,« fuhr Michael auf, »warum ich nicht zu den Andachten komme, ahnst Du sehr wohl, weil ich eingesehen habe, daß Du mit Deinen phantastischen Lehren, mit Deinen Utopien, daß Ihr alle auswandern wollt und in Amerika einen Staat gründen, in dem Ihr als Brüder und Schwestern leben wollt, bloß den Leuten die Köpfe verwirrst. Ja, ich leugne nicht, als ich hierher kam, meinte ich auch, ich würde meinen Heimatgenossen ein Heil bringen, aber ich habe eingesehen, daß sie viel glücklicher sind ohne uns, warum ihren Frieden stören! Laß uns lieber heimkehren, Benjamin, heim nach unserem stillen Dorf, zurück in den Frieden!« »Nachdem Du Dich sehnst, wie ein Greis, nein, ich will nicht Ruhe, ich will Kampf, gehe Du heim, wenn Dich die Sehnsucht treibt, Du bist ja doch wie ein schwankendes Rohr, ja, gehe heim, setze Dich hinter den Ofen und rede klug; Du bist ein Schwächling! Ein Blick aus Weiberaugen genügt, um Dich plötzlich hellsehend zu machen, um alles, für was Du seit Monaten gekämpft hast, über Bord zu werfen.« »Nein, mein Benjamin, diese Vorwürfe verdiene ich nicht, seit vielen Monaten fühle ich, daß wir nicht Segen stiften, daß wir nur Unheil anrichten, wir bringen Zerwürfnis in die Familien, Unruhe in die Herzen, ziehen uns Feinde zu und -- machen niemand glücklich.« »Oh, Du weiser Moralprediger, Du,« höhnte Benjamin, »woher kommt Dir so plötzlich Deine Erleuchtung? Hast wohl einen Mahnbrief erhalten aus unserem stillen Sanddorf, und darum der Umschwung Deiner Gefühle?« Eine jähe Glut stieg in Michaels Gesicht. »Ja,« sagte er gepreßt, »Vater Abraham hat geschrieben, willst Du lesen?« »Nein, danke, ich kann mir ungefähr vorstellen, was er schreibt; nun, er ist ein alter Mann, und Alter sehnt sich nach Ruhe, aber Du bist in der Kraft Deiner Jahre und willst schon vom Kampf zurücktreten, willst feige das begonnene Werk verlassen, und alles um eines Weibes willen? Ja, fahre nur auf, es ist doch so, ich ahnte es an dem Tag, an dem die blonde Hexe hier eintrat und vor mir zusammenschrak, wie vor einem giftigen Reptil, da sah ich es kommen, da wußte ich, daß Dein Schwur an Tabea nur leerer Schall war. Du zuckst zusammen, das Wort trifft Dich, denn es ist wahr, gehe Du nur heim, vielleicht ist es besser so!« »Ja, ich gehe auch heim, ich sehne mich nach der Stille im Sanddorf, aber nicht allein, komm mit mir Benjamin, ich will die harten Worte, die Du mir soeben gesagt hast, vergessen; laß uns wieder Brüder sein, wie einst, reich mir die Hand und komm mit mir zurück zur Heimat!« Er war aufgesprungen und streckte flehend dem Gefährten die Hand hin, aus seinen Augen leuchtete die alte Innigkeit. Mit heiserem Auflachen wich Benjamin zurück: »Ach so, nun soll eine Versöhnungskomödie aufgeführt werden, zu was die Heuchelei, Bruder, Freund, als ob man Freunde sein kann, wenn man sich haßt. Und ich hasse Dich, Du brauchst mich nicht anzustarren, als wäre ich wahnsinnig, ich hasse Dich, denn Du bist mir im Weg. Längst habe ich es eingesehen, bei Deinen Schwärmeraugen, Deiner Reckengestalt vergessen die Weiber sich und kommen zur Betstunde, vor mir aber weichen sie zurück, wie damals die holde Gräfin; aber ich will nicht immer der Zweite sein, hörst Du, nicht immer vor Dir zurückstehen, ich will herrschen. Mir sollen die Menschen sich beugen, ein Führer will ich sein und meine Lehre muß siegen!« Mit schriller Stimme stieß Benjamin die Worte hervor, ein verzehrendes Feuer brannte in seinen Augen, sein Gesicht war totenblaß geworden, die Züge in Haß verzerrt, daß Michael unwillkürlich zurückwich. War es nicht ein Wahnsinniger, der da vor ihm stand? Grauen schüttelte ihn und er vermochte keine Antwort zu finden. Aber diese erwartete Benjamin garnicht, spöttisch sah er in das verstörte Gesicht des Anderen und verließ dann rasch das Zimmer, und wenige Augenblicke später knarrte das eiserne Gitter, Benjamin hatte das Haus verlassen. »Er geht zu seiner Gemeinde, auch hier das Band zerrissen, nun stehe ich bald ganz allein,« dachte der Zurückbleibende mit tiefer Bitterkeit. Dann nahm er noch einmal den Brief zur Hand, der ihn heute aufgerüttelt hatte aus dem schweren Traum der letzten Zeit. »Mein lieber Sohn,« begann er, »die Tage werden zu Wochen und deren sind schon viele vergangen und vergebens sehen meine alten Augen nach meinen heimkehrenden Söhnen aus. Oh Michael, ich will nicht in Dich dringen, nur bitten will ich, komm' zurück, laßt ab die Hände von Eurem Werk, kehrt zurück in den stillen Frieden unseres Dorfes! Ihr bringt Unruhe in die Herzen Deiner Heimatgenossen, laßt sie in ihrem Glauben, er ist so gut wie der unsere. Sieh', mein Sohn, unser Bekenntnis sagt: >Wir sollen in Liebe und Frieden mit einander leben, wir sollen auch nicht den Frieden unserer Mitmenschen stören< und thut man dies nicht, wenn man die Herzen in Zweifel bringt? Ich fühle aus Deinen kurzen Briefen heraus, daß eine Last auf Deiner Seele liegt, kehr' zurück, vielleicht finde ich mit Gottes Hilfe wieder die Kraft, sie Dir zu erleichtern wie einst. Tabeas Augen sehen so fragend auf das weite Meer, komm, Michael, und löse die Frage!« Michael ließ den Brief sinken. »Löse die Frage, oh, wenn ich es noch könnte, aber Du hast recht, Du treuer, alter Warner, ich werde heimkehren zu dem stillen Sanddorf und meine Schuld beichten, oh, Tabea, werde ich Verzeihung finden?« An dem Tag blieb Michael daheim, er eilte nicht rastlos an den Ufern des Sees entlang, spähte nicht mit heißen Augen hinaus, als draußen ein Wagen rollte, er packte seine Sachen und ordnete alles zu seiner Abreise, die am nächsten Tag stattfinden sollte, er suchte jeden Winkel des kleinen Hauses auf, um Abschied zu nehmen für immer und ging endlich zur Ruh, mit dem festen Vorsatz, mit der sicheren Hoffnung, wieder sein altes Leben zu beginnen. In der heißen, schwülen Sommernacht aber floh der Schlaf seine Augen, seine kaum zur Ruh' gekommenen Gedanken verwirrten sich, ein verführerisches Bild lockte ihn, er sah blonde, weiche Haare, hörte ein helles, melodisches Lachen und fiebernd vor Sehnsucht streckte er die Arme aus: »Jusia, Jusia!« schrie der Mann in die stille Nacht hinein, seine Pulse hämmerten, seine Stirn glühte, vergessen war der Brief Vater Abrahams, vergessen war die Frage in Tabeas Augen. Am nächsten Tage reiste Michael nicht ab, »Morgen!« beschwichtigte er die leise mahnende Stimme seines Gewissens, »ich darf kein Feigling sein, ich muß es Jusia erklären, warum ich gehe,« und so blieb er, wieder rastlos umherirrend, aber vergebens, nirgends erblickte er die Geliebte. * * * * * In Schloß Lochowo wurde beinahe das Unterste nach oben gekehrt, es herrschte ein heidenmäßiger Wirrwarr, so hatte Herr von Leninski gesagt, als seine Gattin zu Mittag sein geliebtes Rauchzimmer mit Beschlag belegte. »Ich muß hier einige Anordnungen treffen, Marcel, Du mußt Dir heute schon einen anderen Platz suchen,« hatte sie mit lieblichstem Lächeln gesagt, er hatte ihr galant die Hand geküßt und war seufzend von dannen gegangen. Sein Rauchzimmer, sein Tuskulum, in das er sich manch liebes Mal vor Frau Halinkas Liebenswürdigkeiten und vor den Gedanken an fällige Zinsen geflüchtet hatte, um hier, bei einer Havanna und einem Gläschen Ungarwein die Sorgen des Lebens zu vergessen, auch das wurde hineingezogen in den gewaltigen Umsturz. Wie Ahasverus zog er nun umher, in dem weiten Schlosse ein stilles Plätzchen zum ungestörten Nachdenken zu finden. Stille Plätzchen gab es genug, kühle, lauschige Zimmer, die eben nur kühl und lauschig waren und sonst auch nicht das geringste Möbelstück aufwiesen, das einem müden Körper zum Ruheplatz dienen konnte. Gerade als er seufzend in den Park wandern wollte, um in einer Hängematte die ersehnte Ruhe zu finden, traf er Maria und diese wußte Rat, in dem linken Seitenflügel befand sich ein Zimmer, in dem ein altes Ledersopha, ein Tisch und ein mächtiger Flickkorb ein gemütliches Trio bildeten; hier saß Maria manche Stunde, um Risse und Löcher kunstvoll zusammen zu nähen und hier fand Herr Marcel die Ruhe, an dem aufregenden Tag des Balles. Als ihn Maria verließ, lag er auf dem Sopha und blies behaglich blaue Rauchwolken in die Luft und hielt Selbstgespräch: »Wenn der Kerl, der Doktor auch eine arme Frau, hm, eine sehr arme Frau bekommt, einen Schatz erhält er doch an ihr, ich denke beinahe, mein größtes Wertstück.« Endlich war alles so weit, ein Teil der Gäste war bereits eingetroffen und hatte sich, die Toiletten zu ordnen, in die Fremdenzimmer zurückgezogen. Frau Halinka rauschte in silbergrauer Seide durch die Säle und nickte wohlgefällig zu den Anordnungen, die Maria getroffen hatte, sie rückte hier eine Vase zurecht und schob da einen etwas verschossenen Sessel mehr in den Schatten und warf im Vorbeigehen huldvolle Blicke ihrem eigenen Spiegelbild zu. »Es ist nicht so leicht, so ein Fest zu arrangieren,« wandte sie sich an Jusia, die neben ihr herschritt, »aber ich habe in meiner Jugend in Paris gute Studien gemacht, so glänzend wie die dortigen Feste waren, ist es ja in unseren einfachen Landverhältnissen nicht herzustellen, ich denke aber doch, ich lege mir Ehre ein.« »Gewiß,« pflichtete Jusia bei, »ich muß gestehen, gnädigste Frau, ich bin entzückt von den Arrangements, bewunderungswert, wie alles, was Sie thun,« im Stillen dachte die Sprecherin: »wäre die künftige Doktorsehefrau nicht gewesen, ich hätte die Verwirrung sehen mögen!« Jusia Potocka sah bildschön aus in ihrem weißen Gewand mit einer mattgelben Rose im Haar, um den schlanken Hals lag eine schmale, goldene Kette mit einem kleinen Medaillon aus Brillanten, das letzte Schmuckstück aus dem einst so reichen Schatz der Potockis, oft genug war es in Gefahr gewesen, den Weg seiner Genossen zu gehen, aber immer schützte es die alte Prophezeiung, daß seiner Trägerin Glück beschieden sei. Kasia stand vor dem Spiegel und zupfte unaufhörlich an sich herum, sie sah reizend aus und war auch augenscheinlich sehr befriedigt von ihrer eigenen kleinen Person. Wagen rollten vor, neue Gäste kamen und bald belebte eine bunte, lachende, plaudernde Menge die Räume, Graf Kasimir Sucholski kam auch, Jusia Potocka sah kaum auf bei der Vorstellung, stolz und kühl neigte sie das Haupt; der reiche Erbe schien sehr wenig Eindruck auf sie zu machen, desto lebhafter begrüßte ihn Kasia von Leninska, er verwickelte sie bald in ein lustiges Wortgefecht und Frau Halinka, die mit scharfen Augen diese Scene beobachtet hatte, nickte befriedigt; aber seltsam, mehr und mehr widmete der Graf Jusia seine Aufmerksamkeit, er folgte ihr bald wie ein Schatten, da sagte sich Frau Halinka ärgerlich: »Man muß nie zu lange Besuch haben, Jusias Anwesenheit ist heute recht überflüssig,« sie vergaß nur den kleinen Umstand, daß das Fest dem lieben Gast zu Ehren gegeben wurde. Die Musik lockte und schmeichelte, dann wieder klang sie wild und feurig, wie der Sturm, der über den See braust; die tanzenden Paare wirbelten durcheinander, heiße, prickelnde Lebenslust durchglühte sie, die Augen strahlten, die Lippen lachten, die Blumen in den hohen Vasen dufteten betäubend und durch die offenen Fenster strömte warme, weiche Sommerluft herein. Draußen neben der Veranda, die nach dem Park zuführte, stand ein Mann und starrte mit brennenden Blicken durch ein Fenster nach dem Saal. Er sah in dem Gewirr der Tanzenden nur eine, jedesmal, wenn sie an dem Fenster vorbeikam, durchzuckte es den Mann, als müsse er hineinstürzen und sie an sich reißend rufen: »Sie ist mein, mein Lieb, mein Leben, mein Glück!« Den Tag über war Michael umhergeirrt, bis er zuletzt die erleuchteten Fenster gewahrend, sich in den Park geschlichen hatte, er wollte sie nur noch einmal sehen, noch einmal mit ihr sprechen, die geliebte Stimme hören und dann für immer fortgehen, Vater Abrahams Ruf folgen. Er sah sie in ihrem weißen Kleid, schön wie die Fee im Märchen, er sah, wie ihr Tänzer sich zu ihr niederbeugte, sie lachte, er meinte, das weiche, girrende Lachen herauszuhören aus dem Rauschen der Musik. Seine Hände umklammerten das wilde Rosengesträuch, daß sich die Dornen in sein Fleisch gruben, er achtete nicht darauf, rasende Eifersucht erfüllte ihn, hätte er sie jetzt doch küssen können, küssen bis zur Sinnlosigkeit. Niederschlagen hätte er den Mann neben ihr mögen, er haßte es, dieses blasierte, kalkweiße Gesicht, mit den Spuren eines durchtollten Lebens in den Zügen, und sie lachte diesen Menschen an, ihre Augen sahen gerade so berückend zu diesem empor, wie damals zu ihm unter den Trauereschen am See. Michael Wisniewski barg sein Gesicht in die Hände und stöhnte auf in heißer Qual, dann fuhr er wieder empor, wo war sie jetzt, mit wem tanzte sie? Vergebens strengte er seine Blicke an, er sah sie nicht mehr, er preßte den Kopf an die Scheiben, er fürchtete nicht, daß man ihn im Saal gewahren könne, es war ihm vollständig gleichgiltig, nur sehen mußte er die Geliebte. Neben ihm rauschte plötzlich ein Kleid, ein helles, girrendes Lachen schlug an sein Ohr, träumte er denn, war das nicht ihre Stimme, die er hörte? Dann sprach auch eine Männerstimme in eigentümlich schleppendem Ton, der Lauscher schrak zusammen, er drehte sich hastig um, da auf der Veranda, an die Brüstung gelehnt, stand Jusia Potocka und plauderte mit ihrem Tänzer. In diesem Augenblick vergaß Michael alles, die gesellschaftliche Kluft, die sie trennte, seine guten Vorsätze, die stille Frage in Tabeas Augen, alles, er sah nur das Weib vor sich, das er liebte mit verzehrender, alle Schranken durchbrechender Glut. Er trat einen Schritt vorwärts und hob seine Arme zu der Steinbrüstung empor. »Jusia, Jusia!« rief er flehend in gedämpftem Ton. Wie von einer Natter gebissen, schnellte diese empor, ihr perlendes Lachen brach ab, mit angstvoll geöffneten Augen stierte sie auf den Mann. »Mein Gott, Herr Graf, kommen Sie schnell, das ist ja der halbverrückte Mensch,« stammelte sie, hastig des Grafen Hand ergreifend und ihn mit fortziehend. »Ein entsetzlicher Mensch, der wohl religiösen Wahnsinn hat, mich verfolgt er förmlich, bitte, bitte, schützen Sie mich!« Michael hörte alles, er hörte ihre vor Angst bebende Stimme, dann wieder die näselnde ihres Begleiters. »Mit der Reitpeitsche züchtigen müßte man den Kerl für seine Frechheit!« Dann ein leises, eindringliches Flüstern, ein kurzes Auflachen Jusias, durch das noch die verhaltene Angst klang, und die Stimmen verloren sich in dem Rauschen der Musik, die Veranda war leer. -- Noch immer stand Michael und sah wie im Traum auf die Stelle, wo er soeben ihre lichte Gestalt gesehen, nur langsam erfaßte er das Geschehene; er, verspottet und ausgelacht, sein Götzenbild zertrümmert zu seinen Füßen, ein dumpfer Laut kam über seine Lippen, wie ein Verfolgter eilte er davon, durch den Park über die Felder, ihm gleich, wohin, nur fort, fort, hinaus in die schweigende Nacht. -- Rastlos irrte er umher, er achtete nicht auf den Weg, manchmal stieß er an einen Stein oder stolperte über einen Grabenrand, dann raffte er sich wieder empor und eilte weiter, das Rauschen der Musik verhallte in der Ferne, dann wieder kam es näher, er merkte es nicht, in seinen Ohren gellten nur immer ihre verächtlichen Worte. Zuletzt überkam ihn eine tiefe körperliche Ermattung und mit dieser kehrten ihm die Gedanken zurück, er blieb stehen und sah um sich, wo er sich befand. Er mußte in einem großen Kreis um Schloß Lochowo herumgegangen sein, die Landstraße, vom Mondlicht erhellt, lag vor ihm, am Ende das Dorf, dessen Kirchturm dunkel in die Nacht hineinragte, zur Seite schimmerten die erleuchteten Fenster von Lochowo. Dort, etwas abseits, stand auch noch das alte Muttergottesbild, und bei seinem Anblick kam ein großes Sehnen in sein Herz, er schritt darauf zu und nahm unwillkürlich den Hut ab. Die Säule stand noch, wie einst, ein wenig schief, ein paar Kränze hingen daran und bewegten sich leise im Winde, er sah auch noch das große, gelbliche Wachsherz hängen, vielleicht auch war es ein neues, das irgend ein Mädchen in der Not des eigenen Herzens gestiftet hatte. Er meinte, jeden Zug des Bildes zu erkennen, die Madonna mit dem gleichmäßigen, freundlichen Lächeln in dem blauen Mantel, den Jesusknaben mit dem goldenen Heiligenschein, und, wie einst der Jüngling, kniete jetzt der Mann nieder und umschlang das alte, hölzerne Bild, als müsse ihm der Trost kommen, und weinte. Thränen voll Zorn, Haß und Bitterkeit, voll Reue über sein eigenes Fehlen und voll namenloser Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies seines unschuldigen Kinderherzens. Wie lange war es her, daß er nicht mehr geweint hatte, und nun rann die salzige Flut unaufhörlich aus seinen Augen, als müsse sie alles Leid, alle Bitterkeit hinwegschwemmen. Er betete auch, er stammelte unzusammenhängende Worte, er war in dieser Stunde kein Mennonit, kein Katholik, er redete zu dem Vater der Welt, er sprach zu ihm wie ein irrender Sohn, der, müde heimgekehrt, den Kopf an des Vaters Brust birgt. Langsam kam eine erlösende Ruhe über ihn, Klarheit in sein verwirrtes Fühlen und Denken; die Dissonanz seines Inneren löste sich in dieser sternenklaren Nacht zu einem wehmütigen Schmerz, ein stilles Sehnen kam über ihn: nach dem Frieden in Vater Abrahams Hause, nach Tabeas reinen Kinderaugen, dort allein war seine Heimat. Endlich erhob er sich. »Nun werde ich nicht wieder wankend, noch heute Nacht trete ich den Heimweg an,« klang es in ihm, noch einmal schlang er die Arme um das hölzerne Bild und legte den Kopf daran, er nahm den letzten Abschied von der alten Heimat, in der niemand ihn liebte, die ihm nun völlig zur Fremde werden sollte. Mit festem Schritt trat er dann den Weg an, der ihn durch das Dorf zu seinem Hause führte, dort wollte er noch Benjamin verständigen und dann zur nächsten Bahnstation wandern. Je näher er dem Dorfe kam, je greller schlugen die Töne der Tanzmusik an sein Ohr, sie kamen aber von zwei Seiten, und mit leisem Schrecken gewahrte er beim Näherkommen, daß vor dem Krug, trotz der späten Nachtstunde, noch getanzt wurde; zwei Männer vollführten dazu auf einem Dudelsack und einer verstimmten Geige ein grelles Getöse. Schon zuckte sein Fuß, schon wollte er umkehren, aber nein, dachte er, mögen sie mich schmähen, nun ficht es mich nicht mehr an, und er schritt so gelassen an den Leuten vorüber, als hätten sie ihn nie mit höhnenden Worten gescholten. »Seht den Ketzer, wo schleicht der in der Nacht herum,« rief eine heisere, trunkene Stimme, aus dem Knäuel der Tanzenden löste sich die Gestalt eines Mannes und schritt auf Michael zu. »Kommst mir gerade recht,« brüllte er den ruhig Stehenbleibenden an, »habe ein Hühnchen mit Dir zu rupfen, =psia crew=, kennst mich wohl nicht, bist wohl zu vornehm geworden, he?« »Ich kenne Dich wohl, Woicech,« sagte Michael gelassen zu dem einstigen Spielkameraden, »was willst Du von mir?« »Wo die Valevka ist, sollst Du mir sagen?« »Ich kenne keine Valevka, was ist mit ihr?« »Fort ist sie seit drei Tagen, das Aufgebot wollten wir bestellen, nun ist sie fort, Du hast ihr geholfen, gesteh' es nur, sie ist immer zu Euren Betereien, zu Eurem Ketzerspuk im Walde gerannt, gieb sie raus, Schurke, oder wehe Dir!« Michael erinnerte sich dunkel an ein blasses, verschüchtertes Mädchen, das Benjamin mit Valevka angeredet, er hatte sie kaum beachtet. »Ich weiß es nicht, wo sie ist, willst Du sonst noch etwas? Sonst gieb den Weg frei!« Einen Augenblick imponierte dem Burschen die Festigkeit sichtlich, er trat zurück, seine angeborene Unterwürfigkeit, die vor dem Herrn sich beugt, kam hervor; da rief eine keifende, höhnende Stimme aus der Menge: »Seht doch den Woicech, wie ihm der Mut alle wird, seht doch, und wie er erst geprahlt hat!« Ein heiserer Schrei rang sich über die Lippen des Trunkenen, mit schwankendem Gang, mit starrem Blick kam er wieder näher an Michael heran, der Branntweinduft schlug diesem entgegen und die Erinnerung erfaßte ihn, er sah die wüste Scene vor sich, in der Nacht, da sein Pflegevater starb, ein Schauer überrieselte ihn und er streckte unwillkürlich die Hand aus, den Betrunkenen abzuwehren. Die anderen Burschen, auch einige Weiber, waren näher herangetreten, um zu sehen, wie der Woicech mit dem Ketzer umspringen würde; als Michael den Betrunkenen abwehren wollte, ging ein Schrei der Entrüstung durch ihre Reihen. »Woicech, er will Dich schlagen, lass' es Dir nicht gefallen,« brüllten sie. »Mich schlagen, mich, der Ketzer,« mit einem Wutschrei raffte sich der Bursche auf, blitzschnell hatte er sein Messer gezogen und stieß im blinden Zorn um sich. Michael sah plötzlich das blitzende Messer vor sich, er fühlte einen Stoß und taumelte, seine Hände griffen nach der Brust, warm rieselte es an seinen Fingern nieder; ein Schwindel ergriff ihn, er sah alles vor sich in einem blutroten Nebel zerfließen, wie aus weiter, weiter Ferne hörte er Musik, mit einem dumpfen Ächzen brach er zusammen. Sekundenlang standen die Leute wie erstarrt vor dem Geschehenen, bis eine Frau aufschrie: »Heilige Jungfrau, der Woicech hat ihn erstochen, holt den Pan Kommissar!« Da kam Leben in die Menge, gellende Rufe der Frauen mischten sich mit dem Fluchen der Männer, jäh verstummte die Musik, Wolf Salomon stürzte händeringend hervor und rief: »Erstochen hat er ihn, oh der verfluchte Mörder, ich armer Mann, was wird der Pan Kommissar sagen, er schließt mir den Krug, ich bin ruiniert!« Alles schrie aufgeregt durcheinander, alle Heiligen wurden angerufen, den Woicech, der mit blödem Lachen davon taumelte, trafen einige Püffe, die Weiber zeterten nach dem Pan Propst, die Männer nach dem Pan Kommissar; eine Frau lief schließlich, den Propst zu holen, einige andere folgten ihr, immerfort jammernd, als müßten sie der stillen Straße das Unheil verkünden. Der Stellmacher beriet erst mit dem vollständig fassungslosen Salomon, ehe er sich gemächlich auf den Weg nach dem Schloß begab, vielleicht war der Pan Kommissar dort oder ein Wagen wurde nach ihm ausgesandt. Keine Hand aber rührte sich, dem Todwunden zu helfen, er war ja nicht mehr einer der Ihrigen und »alles so lassen«, hatte doch der Pan Kommissar ausdrücklich gesagt, als der Frantizack Wakowiak sich erhängt hatte, »alles so lassen, nichts anrühren, bis das Gericht kommt«, so standen sie und blickten mit blöder Neugier auf den Mann nieder, dem langsam der rote Lebensstrom aus der Brust quoll. Auf einmal verstummte die lebhafte Rede, ein verhaltenes Flüstern ging durch die Reihen und alle sahen gespannt auf die Dorfstraße, die entlang ein kleiner Trupp kam, der Propst in sichtlicher Hast voran, gefolgt von einigen weinenden Frauen. Der Propst! Die Leute neigen sich demütig, als der Geistliche in ihren Kreis trat, der Krugwirt fing lauter an zu zetern und die trüb brennende Öllampe, die er herbei geholt hatte, schwankte bedenklich in seiner Hand. Das flackernde Licht fiel gerade auf das totenbleiche Gesicht des Geistlichen, scheu wichen die Menschen zurück, vor dem Sterbenden, der da auf dem Rasen lag, war ihr Reden nicht verstummt, aber vor dem Priester mit den gleichsam versteinten Zügen wurden sie stille. Kein Laut, kein Schrei kam über des alten Mannes Lippen, da er nun in dem schwankenden Licht der Lampe, im Strahl des Mondes, den stillen blassen Mann erblickte, der in einer Lache roten Blutes lag. Er riß nur mit zitternden Fingern ein Tuch aus der Tasche und preßte es auf die Stelle, wo unaufhörlich das Blut hervorsickerte, dann umschlang er behutsam den Kopf des Verwundeten. »Helft tragen,« sagte er rauh, »zu mir!« Die Leute, die erst nicht die Hand gerührt, griffen nun rasch zu und trugen ihn die kurze Strecke bis nach der Protein. Wenige Minuten später lag Michael auf dem Sopha im Studierzimmer, die Träger waren gegangen, einer war zum Arzt gefahren, die alte, unaufhörlich lamentierende Haushälterin hatte Propst Ryback hinausgeschickt, nun war er allein mit dem Sterbenden. Er hatte so gut er es vermochte, einen Verband um die Wunde gelegt, um das Blut zu stillen, denn ehe der Arzt kam, konnten Stunden vergehen; nun saß er regungslos, unverwandt auf das blasse Gesicht starrend. »Nur nicht sterben, nicht sterben, oh Gott, laß ihn nicht sterben,« schrie es in seinem Inneren. Draußen auf der Straße verstummte allgemach das Schreien, die schlürfenden Schritte seiner Haushälterin waren verhallt, nur manchmal bellte ein Hund auf, sonst unterbrach kein Laut die tiefe Stille umher. Allein Vater und Sohn, mit beiden Händen umklammerte der Alte die wachsbleiche, schlaffe Hand des Jungen. »Michael, stirb nicht, wach auf, höre mich doch, stirb nicht, mein Sohn, ach, stirb nicht, hörst Du mich, ach, stirb nicht!« In namenloser Angst flüsterte er es, keinen Blick von dem weißen Gesicht wendend, oh Gott, er atmete noch, noch war Leben in ihm. »Oh Du barmherziger Gott, laß ihn nicht sterben, Michael stirb nicht so, sieh mich noch einmal an, noch einmal!« Draußen rollte ein Wagen, der Propst fuhr auf, der Arzt, vielleicht kommt er schon, er rettet ihn noch, aber das Rollen verliert sich in der Ferne, wohl einer der Gäste vom Schloß, der vom Ball heimfährt. Wieder eine vergebene Hoffnung, die Minuten verrinnen, sie werden zu Stunden, immer noch liegt Michael still und unbeweglich da, nur der leise, kaum merkbare Atem zeigt, daß noch Leben in ihm ist; immer angstvoller klingt das Flehen des Propstes. »Wach' auf, oh nur noch einmal, oh Michael vergieb!« Vor den Augen des alten Mannes zieht sein ganzes Leben vorbei, sein Fehlen und sein Sühnen; aber hat er denn gesühnt? Nein, tausendmal nein, schreit es in ihm, ich habe nicht gesühnt, neue Schuld zu der alten gehäuft, den Sohn verleugnet, ihn hinausgetrieben, seinen Frieden gestört, seinen Glauben an die Menschheit erschüttert. Selbstgerecht bin ich gewesen, stolz auf mein Priestertum, oh und welch schlechter Priester! »Die Liebe läßt sich nicht verleugnen, sie bleibt Siegerin,« er denkt an die Worte Marias, ja, er hat die Liebe leugnen wollen, sie aus seinen Herzen reißen. Thörichtes Unterfangen! In dieser Stunde fühlt er es, die Liebe läßt sich nicht leugnen und nun ihm die Einsicht kommt, ist es zu spät. »Wach' auf, wach' auf,« fleht er von neuem, »nur einmal noch sage Vater zu mir! Oh Du allmächtiger Erbarmer da droben, laß ihn mir, nimm ihn nicht jetzt, wo ich sühnen möchte, nur kurze Zeit noch laß ihn mir, nur einen Tag, oh, nur eine Stunde, großer Gott, sei barmherzig!« Glitt nicht ein Zucken über die Züge des Sterbenden, der Alte beugte sich spähend über ihn, täuschte ihn nur das Flackern des Lichtes, nein, wirklich der Atem ging rascher, die Lieder hoben sich ein wenig, tastend glitten die Hände über die Decke hin. »Michael, wach' auf!« Es war, als hätte der Schrei die fliehende Seele zurückgehalten, langsam öffnete Michael die Augen, mit leerem, fremdem Blick ruhten sie auf dem Geistlichen, der seine Hände krampfhaft umklammerte, mit versagender Stimme flüsterte: »Mein Sohn, vergieb, ach, vergieb!« »Vater, lieber, lieber Vater,« wie ein Hauch nur klangen die Worte, ein leises, friedliches Lächeln verklärte das Gesicht des Todwunden, »ach, nun ist alles gut -- mir ist so wohl -- Tabea -- Vater -- ich --« die Augen schlossen sich wieder, immer leiser wurde der Atem -- ein kurzes Röcheln -- ein Ruck ging durch die Gestalt -- die Hand, die der Alte in der seinen hielt, wurde eiskalt. -- »Michael, mein Sohn,« mit einem Aufschrei brach der Vater neben dem Toten zusammen, er preßte seine runzelige Wange an die eiskalte des Sohnes, er umklammerte krampfhaft dessen Finger, er küßte die kalten Lippen und weinte. -- Am Himmel war strahlend das Frührot aufgeflammt, die ersten Laute erwachenden Lebens drangen in das stille Sterbezimmer, aber der alte Mann, der dort Totenwache hielt, saß zusammengebrochen bei der verlöschenden Lampe und sah nicht den Schimmer des jungen Tages. Erst als ein Wagen vor dem Hause hielt, ein rascher, junger Schritt: sich dem Zimmer näherte, fuhr er auf, er strich sich mit der Hand über die Augen und ging gebeugt, mit müden Schritten, dem eintretenden Arzt entgegen. »Sie kommen zu spät, Herr Doktor,« sagte er mit klangloser Stimme, »es ist vorbei!« Der Arzt trat rasch näher. »Ja, ich komme zu spät,« bestätigte er, »ein schrecklicher Fall, der Mann, der mich holte, hat mir berichtet.« Er neigte sich über den Toten und untersuchte die Wunde. »Verblutung, der Mann wäre bei sofortiger Hilfe wohl noch zu retten gewesen, ich komme in Wahrheit zu spät!« »Zu spät,« wiederholte der Geistliche, immer mit derselben tonlosen Stimme, »wir kommen oft zu spät im Leben und der Tote hat nun den Frieden.« Teilnahmsvoll betrachtete Dr. Werner das Gesicht des alten Mannes. »Sie sind sehr erschüttert, Herr Propst, stand Ihnen der Verstorbene nahe?« »Ja, sehr nahe,« sagte der Alte mit seltsam wehem Lächeln, sanft über die Stirn des Toten streichend, »ich habe ihn lieb gehabt, aber ich kam auch zu spät!« Beinahe gleichgültig beantwortete er dann noch einige Fragen des Arztes. Als dieser sich bald verabschiedete, nahm er dessen Hand in die seine und sagte: »Sie sind verlobt mit Maria von Leninska, Gott segne Ihren Bund und bewahre Sie vor dem Zuspät, noch einmal, Gott segne Sie!« Er drückte dem Überraschten die Hand und ging ohne ein weiteres Wort in sein Zimmer zurück, dort setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb ein Entlassungsgesuch, er sei alt und müde seines Amtes. * * * * * Wenige Tage nach dem Ball nahm Gräfin Jusia Abschied von Schloß Lochowo, sie folgte einer dringenden Einladung der Gräfin Wanda Sucholska, einer Tante des Grafen Kasimir, die in ihr die Tochter einer teuren Jugendfreundin gefunden hatte und sie nun gebeten, einige Wochen ihr Gast zu sein; viel hatte zu dieser Aufforderung Graf Kasimir beigetragen. Frohlockend begrüßte Jusia die ersehnte Veränderung, den Anfang eines neuen Lebens. Der Abschied von der Misère des alten, dachte sie, da sie den Leninskis Lebewohl sagte. Ein wortreicher, thränenvoller Abschied; Jusia Potocka rühmte so viel, wie entzückend die Wochen ihres Aufenthaltes auf Lochowo gewesen sei, daß sie sie nie vergessen würde, daß Herr von Leninski in seiner Harmlosigkeit sich wunderte, warum sie da schon abfuhr, wenn es ihr doch so gut gefallen hätte. Frau Halinka war sehr liebenswürdig, obgleich sie im Grunde wünschte, der Gast hätte nie ihre Schwelle betreten, denn in ihrer Absicht hatte es nicht gelegen, eine Verbindung Jusias mit Graf Sucholski zu fördern und so sagte sie in aufrichtigem Schmerz: »Die heilige Jungfrau schütze Sie, mein teures Kind, und wenn Lochowo für Sie der Anfang eines Glückes bedeuten sollte, so seien Sie überzeugt, daß es niemand mehr freuen würde, wie mich.« Maria gab der Scheidenden nur kühl die Hand, während Kasia unter strömenden Thränen mit in den Wagen stieg, für sie bedeutete der Abschied wieder der Anfang einer Zeit voll trostloser Langerweile, sie weinte so herzbrechend, daß Jusia flüchtiges Mitleid fühlte. »Sei ruhig, Kleine,« sagte sie, »ich verspreche Dir, ich lade Dich auf einige Zeit zu mir, wenn -- ich erst am Ziel bin, vielleicht nächsten Frühling nach Nizza, wenn Du nicht vorziehst, zu Deiner Schwester, der Frau Doktorin nach Dingsda zu reisen und Dich an dem Glück in der Hütte zu erfreuen.« »Oh pfui, Jusia,« halb lachend, halb weinend rief es Kasia, »spotte nicht über unser Unglück, oh, wäre ich an Marias Stelle gewesen, nie hätte ich ja gesagt, ich begreife auch nicht, daß die Eltern nun doch ihre Zustimmung gegeben haben.« »Ach, Kleine, ereifre Dich doch nicht, jeder nach seinem Geschmack, laß doch Deiner Schwester ihr kleines Glück, es muß auch Menschen geben, die sich einbilden, ohne die sogenannte Liebe nicht leben zu können.« Durch die Luft zog ein Ton, ein melancholischer, dünner Glockenklang. »Die Totenglocke,« sagte Kasia, »sie begraben wohl den Wisniewski, Papa hat doch Recht behalten, sie haben ihn erschlagen. Aber mein Himmel! Jusia, was fehlt Dir, bist Du krank, Du siehst erschreckend blaß aus?« »Nichts, danke, danke,« wehrte Jusia die besorgte Freundin ab, »es friert mich nur!« Sie schauerte zusammen trotz der sengenden Sonnenhitze und preßte die Hände an die Ohren. »Ich kann diese Töne heute nicht vertragen, sie klingen so disharmonisch, bitte, Kasia, sage dem Kutscher, er soll schneller fahren, ich will fort, so rasch wie möglich.« »Wirklich, Jusia, Du bist krank, Du siehst furchtbar elend aus, wollen wir umkehren?« »Nein, nur fort, fort, schau mich nicht so entsetzt an, Kleine, ich bin nervös, weiter nichts, und Eure Glocke ist so entsetzlich verstimmt.« Der Kutscher hob die Peitsche, immer rascher fuhr der Wagen dahin, immer entfernter klang der melancholische Laut, bis er zuletzt dem eilenden Wagen nicht mehr zu folgen vermochte; aber Jusia Potocka hörte ihn noch, als längst Lochowo hinter ihr lag. Auf der staubigen Dorfstraße entlang trugen sie Michael Wisniewski zur letzten Ruhe; wer irgend konnte, ging mit, that es doch Propst Ryback selbst, also mußte der Tote wohl versöhnt im alten Glauben gestorben sein, denn sonst würde der Propst doch nicht als Geistlicher mitgehen. Benjamin Jakobeit fehlte im Trauergefolge, er war am Tag nach Michaels Tod abgereist, wohin wußte niemand. Die Leute erzählten sich flüsternd, daß er sich geweigert hätte, die Propstei zu betreten, und verlangt, der Tote sollte in sein eigenes Haus gebracht werden, aber der Propst hatte es nicht geduldet, und so war Benjamin fortgezogen, wie die Leute sagten, nach Amerika, ohne noch einmal den toten Freund gesehen zu haben. Das Haus mit dem blühenden Garten stand verwaist. Auf dem kleinen, halbverwilderten Dorfkirchhof hatten sie dem Toten das Grab bereitet an der Seite seiner Mutter. Die Totenglocke läutete mit ihrem müden, zitternden Klang, als Propst Ryback an das offene Grab trat und mit leiser Stimme ein Gebet sprach. »Ruhe in Frieden, Michael Wisniewski, in dem Frieden, den Du vergeblich gesucht unter heißen Schmerzen auf dieser Erde, wir alle sind arme, irrende, fehlende Friedenssucher, stille Kämpfer auf dieser Erde, ach, rechne uns unser Fehlen nicht an und nimm uns auf in Deinen Frieden, Du barmherziger Gott,« sagte der alte Mann am Schlusse des Gebetes mehr zu sich, als zu den Leuten, die in stumpfer Gleichgiltigkeit dabei standen und kaum den Sinn der Worte erfaßten. Die kurze Feier war zu Ende, die Frauen hatten einige Thränen geweint, wie es sich so schickte, dann hatten sie Alle dem Toten drei Hände voll Erde nachgeworfen und waren heimgegangen mit dem stolzen Bewußtsein, ein gutes Werk gethan zu haben. Propst Ryback hatte auch den Friedhof verlassen und war die sonnige Landstraße weiter gegangen, bis an das alte Muttergottesbild am Weg, da hatte er sich müde auf einen Stein gesetzt und seine Blicke schweiften nach dem Dorfe hin, das im grellen Sonnenlicht dalag. Seine Augen umfassen das sonnige Landschaftsbild, drüben schimmert wie ein leuchtendes Auge der See, zur Seite zieht sich der Wald hin, in dessen Grün bereits die ersten bunten Herbstfarben aufflammen. Er sieht den weißen, staubigen Weg, wie der sich in der Ferne verliert, in wenigen Tagen wird er ihn zum letztenmal befahren, dann wird er für immer sein stilles Priesterhaus verlassen, die Gemeinde, in der er so lange gewirkt, das stille Grab auf dem Friedhof. Aber die Erinnerung daran wird er mitnehmen in seine einsame Klosterzelle, fern im ewigen Rom. Ruhe will er dort suchen für die letzten Tage seines Lebens; er wird dort von seiner Zelle aus auf die sonnigen Höhen des Sabinergebirges sehen können, und doch weiß er, daß er sich unsagbar sehnen wird nach dem stillen Dorf mit seinen kleinen, schmutzigen Häusern, seiner staubigen Landstraße, nach all den Menschen, unter denen er bisher gelebt. Einsam wird er seines Weges gehen und einsam sterben! Er denkt an die junge Braut dort oben im Dorf auf dem Sande, ach, könnte er doch zu ihr gehen und bitten: »Habe mich lieb um des Toten willen, lass' mich nicht allein in der Einsamkeit meines Herzens!« »Oh, nur ein wenig Liebe,« murmelt er, »nur jemand auf der großen Welt, der mir ein wenig Liebe schenkt.« So sitzt er und sinnt, bis junge, frohe Stimmen an sein Ohr schlagen, er sieht auf und sieht Maria von Leninska mit ihrem Bräutigam Arm in Arm daherkommen. Sie bleiben stehen, als sie den Geistlichen gewahren, und Maria zieht, wie sie als Kind gewohnt war, die Hand desselben an ihre Lippen. »Sie wollen uns verlassen, sagte Papa, ist es wahr?« Sie sieht fragend zu ihm auf. »Ja, meine Tochter, ich bin alt und müde und sehne mich nach Ruhe, Du aber gehst dem Glück entgegen, Gott geleite Dich!« Er will von dannen gehen, da faßt Maria noch einmal seine Hand und sagt: »Ich danke Ihnen noch für die guten Worte, die Sie bei Mama für mich eingelegt haben, ich werde Sie nie vergessen, mein treuer, väterlicher Freund,« und noch einmal küßt sie innig seine Hand. Auch Heinz Werner ergreift dieselbe und sagt warm: »Lassen Sie sich auch von mir danken, Sie haben mir zu meinem Glück verholfen.« »Gott segne Euch,« murmelt der alte Mann und wendet sich hastig ab, die beiden gehen weiter Hand in Hand, ihre klaren Stimmen schallen noch zu dem Einsamen hin, der, an das hölzerne Bild gelehnt, ihnen nachblickt, wie sie so jung, so kraftvoll und mutig, so stolz in ihrer Liebe dahinschreiten. In die große Traurigkeit seines Herzens ist ein heller Strahl gefallen und er weiß, daß er dies Bild in der Erinnerung behalten wird, diese glücklichen, jungen Menschen, die seiner in Liebe gedenken. [Illustration] * * * * * * Weitere Hinweise zur Transkription Der Schmutztitel wurde entfernt. Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend korrigiert. Textkorrekturen: S. 5: knöchere zu knöcherne (Seine schmale, knöcherne Hand ...) S. 7: herzzereißend zu herzzerreißend (... so herzzerreißend in seinem Jammer) S. 32: Empire zu Empire- (... kostbare Empire- und Rokokomöbel ...) heraus zu herauf (... kam diese schon die Treppe herauf) S. 33: cher zu chère (Oh, chére tante!) S. 46: sie zu Sie (... unglückliche Mutter.« Sie haucht ...) S. 56: halben zu halbem (... mit halbem Lächeln) S. 60: chêre zu chère (Chacqu'un à son goût, ma chère, ...) S. 66: chere zu chère (Lebe wohl, chère tante, ...) S. 68: den zu denn (woher hat denn sie ...) S. 71: erzittterte zu erzitterte (Jusia erzitterte ...) S. 72: Amelie zu Amélie (... und wenn Tante Amélie mich sehe ...) Michals zu Michaels (... befreite sie sich aus Michaels Armen.) worwärts zu vorwärts (..., um vorwärts zu kommen, ...) S. 74: durchnäst zu durchnäßt (..., völlig durchnäßt, ...) S. 76: schilst zu schiltst (..., schiltst mich einen Ketzer ...) Vater zu Vaters (... die Brust des Vaters ...) S. 80: ihrem zu ihren (... auf Sie, ihren alten Lehrer ...) S. 81: Armen zu Amen (In Ewigkeit, Amen ...) S. 89: Amelie zu Amélie (..., wenn Tante Amélie ...) S. 98: prikelnde zu prickelnde (... prickelnde Lebenslust ...) S. 103: Nachstunde zu Nachtstunde (... trotz der späten Nachtstunde ...) S. 105: Händeringend zu händeringend (... stürzte händeringend hervor ...) S. 106: rieß zu riß (Er riß nur mit zitternden Fingern ...) S. 113: Jakubeit zu Jakobeit (Benjamin Jakobeit fehlte ...) Die beiden Schreibweisen Probst und Propst wurden zu Propst vereinheitlicht. *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK STILLE KÄMPFER: ROMAN *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™ electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your possession. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws. The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. 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