The Project Gutenberg eBook of Fünf Erzählungen

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Fünf Erzählungen

Author: Emile Verhaeren

Illustrator: Frans Masereel

Translator: Friderike Maria Burger Winternitz Zweig

Release date: November 27, 2014 [eBook #47472]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FÜNF ERZÄHLUNGEN ***

ZWEITE AUFLAGE

EMILE VERHAEREN

FÜNF ERZÄHLUNGEN

MIT 28 HOLZSCHNITTEN VON FRANS MASEREEL

IM INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG
1922

ÜBERTRAGEN
VON
FRIDERIKE MARIA ZWEIG

FÜNF ERZÄHLUNGEN

DER GASTHOF ZUM SANFTEN TOD

SIE starben am selben Tage, ganz plötzlich, der eine im Keller, der andere auf dem Dachboden des Gasthofes „Zum sanften Tod“. Das alte Haus hatte seinerzeit alle Pilger beherbergt, die aus Flandern herbeizogen, „Unsere liebe Frau zur Letzten Stund“ anzuflehen. Während zweier Jahrhunderte ward die Jungfrau hier beschworen. Kriege stürzten ihr Standbild. Ihre Kapelle wurde zerstört, der Gasthof blieb bestehen.

Die Leute aus Weerd, aus Tibrode und Tamise kamen des Sonntags hin, ihren Schoppen zu trinken.

Große kupferne Töpfe verbreiteten helle Reinlichkeit, und dieser Anblick von Sauberkeit und Kälte wurde noch erhöht durch die Schweigsamkeit einiger spärlicher Trinker, die wortlos und ernst einander anpafften. Sie hielten ihre holländischen Pfeifen zwischen den Fingern und spuckten in hölzerne Eimer. Wenn einer von ihnen mit dem Pfeifenkopf auf seinen Krug klopfte, stand Saft, der jüngere der beiden Brüder, auf und stieg in den Keller hinab, um das geleerte Glas wieder zu füllen. Hatte er es zurückgebracht, so setzte er sich hin und wurde wieder ganz starr und stumm. Die massive, sargartige Uhr, hinter deren Glasscheibe das bezifferte Antlitz der Stunden hervorlugte, tickte unentwegt ihre gleichmäßigen Silben.

Die Sonntage ausgenommen, kam niemand hierher außer der alten unverwüstlichen Mie Bergman, deren geräuschvolle Geschäftigkeit das Haus um und um stöberte und räumte.

Ach, dieser Gasthof „Zum sanften Tod“: im Winter brütete er im Nebel, dicht an den Dämmen, die so klebrig waren wie Schmierseife; im Sommer lagerte vor seinem grauen Tor der beständige Schatten einer Taxusallee, die zur ehemaligen Kapelle führte.

Zu Lebzeiten der Eltern wollte der ältere der beiden Brüder, Adriaen, fortziehen, um Priester zu werden. Er besaß einen nüchternen und zielbewußten Willen, dabei war er von schnüfflerischer und strenger Frömmigkeit. Eine Befürchtung aber hatte ihn zurückgehalten: der jüngere würde sich den Vater langsam erobert haben, Tag um Tag, Stunde für Stunde, und hätte schließlich ihn verdrängt, ihn, der unbedingt der zukünftige Besitzer sein wollte. Saft war übrigens ein Fels von Eigensinn. Wenn er so dastand, schien er an die Erde festgenagelt. Seine Augen? Waren sie nicht stumpf wie Holz!

Nach dem Leichenbegängnis des Vaters, als sie sich zum erstenmal allein zu Tische setzten, machte Adriaen, der den Platz des Verstorbenen eingenommen hatte, das Zeichen des Kreuzes und sagte das Vaterunser; Saft fügte das Ave-Maria hinzu. Dann sprachen sie nichts mehr. Nach beendeter Mahlzeit enteilte Adriaen zum Mesner. Saft, einen Korb auf der Schulter, begab sich in den Gemüsegarten, den sie an der Landstraße besaßen. Sie änderten in keiner Weise ihre eintönigen Gewohnheiten. Zu gleich früher Stunde ging ein jeder von ihnen auf verschiedenen Wegen zur Kirche. Gesondert kamen sie zurück. Zu Mittag setzten sie sich stumm und einsilbig an den selben Tisch, dann trennten sie sich, erleichtert, nicht mehr zusammen sein zu müssen.

In Safts Garten sprossen Pflanzen und Früchte willkürlich durcheinander, obwohl er, den Sonntag ausgenommen, all seine Nachmittagsstunden dort verbrachte. Das Grundstück war breit und von wilden Hecken umzäunt. Zuweilen sah man den Kopf des riesigen und ungeschlachten Gärtners aus einem Bündel trockenen Laubes auftauchen, das er auf seine Schultern geladen und quer auf den Weg trug, um damit eine rote und riesige Glut zu entfachen. Wenn er mit der Schaufel hantierte, machte es den Eindruck, als wollte er totschlagen oder begraben. In der Nähe des Düngerhaufens hatte er einen Verschlag eingerichtet. Auf den Brettern reihte sich ehrsam eine ganze Familie von Zwiebeln und Linsen. Unter einer Falltüre verbarg er Wacholderschnaps, den er gelegentlich von Schmugglern kaufte. Dies war sein Laster: sich hier fern von allen im Versteck zu betrinken. Sobald die Sonne untergegangen war, strich er durchs Land. Er hieb längs der Wege die jungen Bäume ab, riß Bretter aus den Stegen. Eines Nachts warf er einen ganzen Haufen Tollkirschen in einen Ziehbrunnen.

Adriaen lehrte die Chorknaben Hymnen und Psalmen. Seine steifen Finger bearbeiteten das alte Klavier der Pfarre. Er zwang sie, die hohen Noten so lang anzuhalten, bis ihnen der Atem verging. Oh! Qual und Krampf aus den Kehlen der kleinen Jungen zu pressen! Er peinigte sie im Namen der Heiligen und der Jungfrau bis zu dem Augenblick, wo er sie zur Belohnung mit unsanften Liebkosungen berührte. Sein schiefklaffender Mund und seine gelben viereckigen Zähne flößten Furcht ein.

Manches Mal begab er sich ans Ende des Dorfes zu einer widerlichen, eigensinnigen Betschwester, deren Reize vorsündflutlich waren und die er mit seinem Liebeseifer belästigte. Er hatte ihr eine Verkaufsbude für Wallfahrtsandenken eingerichtet. In Gesellschaft der kleinen Heiligen aus bemaltem Biskuit besprachen sie nebeneinander sitzend ihre Andachtsübungen, bis der Abend hereinbrach. Ihre Abschiedsbezeugungen im Dunkeln erschienen ungeheuerlich.

Eines Tages kehrte Saft zu Mittag nicht heim. Adriaen kam allein nach Hause. Sie nahmen die Gewohnheit an, einander während der Mahlzeiten zu fliehen und jeder für sich Küche zu führen.

Die alte Mie Bergman regte sich darüber nicht wenig auf. Adriaen gebrauchte die Ausrede, andere Gerichte zu lieben.

Bald vermieden sie auch, einander im Flur zu begegnen. Sie belauerten, bewachten einander hinter den Türen. Bevor sie ausgingen, wartete der eine, bis der andere verschwunden war. Sie richteten sich zwei Speisekammern ein. Saft hinterlegte in einem gemeinsamen Kasten die Gemüse, Adriaen das Pökelfleisch. Danach nahm jeder seinen Teil und versteckte ihn.

Eines Abends kollerte Saft, als er im trunkenen Zustand heimkam, in den Schlamm der Schelde. Er geriet so tief hinein, daß die Fischer, die nachts auswärts waren, zu seiner Hilfe herbeiruderten. Man zog ihn, völlig mit Lehm überkrustet, die Hände beschmutzt, den Mund voll Schlamm, heraus. Beinahe wäre er erstickt.

Adriaen wurde benachrichtigt. Er beschloß einzugreifen. Aber das Schweigen zwischen ihnen, und sei es auch nur durch ein Schimpfwort, zu brechen, hätte einen Sieg für seinen Bruder bedeutet. Sie hatten außerdem zwischen sich so große Flächen des Schweigens gebreitet, daß, wenn sie sich so von einem Ende zum anderen herüber beschimpft hätten, ihre Worte nicht hinübergedrungen wären.

Als Mie Bergman am Sonntag kam, das Kupfer zu putzen, übergab ihr Adriaen ein Schriftstück, sie möge es Saft in den Garten hintragen. Saft las es mit zusammengepreßten Lippen. Er wurde wütend, fluchte, wollte zu seinem Bruder stürzen, ihn erwürgen und ihm gleichzeitig seinen Zorn ins Gesicht speien. Plötzlich hielt er inne: auch er wollte nicht derjenige sein, der die harten Wände von Eis und Stahl zwischen ihnen zerbrach. Er steckte den Brief zu sich. Er würde schriftlich antworten.

So schrieben sie einander Monate hindurch ihren Groll und Zorn, jeder die Worte suchend, die schließlich am sichersten die Geduld und den Starrsinn des anderen brechen würden.

Auch Adriaen ward mit Schande gezeichnet. Die Reliquienverkäuferin warf ihn hinaus, hetzte die Leute auf, bezichtigte ihn der Unverschämtheit, schrie ihm am hellichten Tage ihre Verachtung durch das Fenster nach. Man vertraute die Chorknaben dem Mesner an. Im Dorf begann man sich zu entrüsten. Die Briefe Safts wurden immer verächtlicher. Als Adriaen einen von ihnen öffnete, wurden seine Finger übelriechend von der Unreinlichkeit, die er enthielt.

Mie Bergman beobachtete die beiden erschreckt. Unendlich lange Nachmittage hindurch hatte sich Adriaen aufs Holzspalten verlegt. Nach einer bestimmten Methode arbeitete er düster vor sich hin. Wenn die Dienerin vorbeikam, sah er sie mit so kaltem, scharfem Blicke an, daß sie — die einzige Seele auf Erden, die ihn noch ein wenig liebhatte — plötzlich ein Schrecken durchfuhr, er könne ihr, lediglich aus Grausamkeit, die armen alten Arbeiterinnenhände abhacken. Abends, bei Kerzenschein am Herde sitzend, gedachte sie der glanzvollen Vergangenheit des Gasthauses „Zum sanften Tod“. Kaum fünfzehnjährig war sie da eingetreten. Vier Mägde füllten die Küche; sie salzten Würste und Speck, sie schnitten belegte Brote für ein Heer von Pilgern. Damals lebte die Mutter Gottes blumengeschmückt in ihrer silbernen Nische. Ihr Mantel war mit der Geschichte des heiligen Amandus und des heiligen Georg bestickt. In einem Jahr heimste damals Adriaens und Safts Vater tausend Taler und dreihundert Brabanter ein. Sie hatte sie eines Abends wie goldene Makronen auf dem Tische aufgereiht gesehen.

War es möglich, o Gott, daß jetzt sie allein und nur einmal in der Woche in dem alten Herd das Feuer entzündete? An den Wänden der Küche schimmelten feuchte Flecke. Leer gähnten die Kästen. Die Steinfliesen hoben sich und borsten. Die Löcher der zerbrochenen Fensterscheiben waren mit firnisbestrichenem Papier verstopft, das den Wind einließ. Und im riesigen, ausgestorbenen Hause irrten Adriaen und Saft, die Herren, wie zwei wütende Hunde umher.

Eines Sonntags stellten die altgewohnten Gäste des „Sanften Tod“ ihr Kommen ein. Sie ließen ihre Pfeifen abholen. Das Kupfer der Geräte wurde matt, und die Pendeluhr tickte fortan nur für die verlassenen einfarbig weißen Mauern. Der letzte Zwang, der sie genötigt hatte einander gegenüber zu sitzen, war nun den beiden Brüdern erspart.

Es kam so weit, daß sie das Geräusch, das der andere im Hause verursachte, haßten. Wenn Adriaen sein Holz spaltete, begann Saft, nur um den Lärm der Hacke zu übertönen, Nägel in die Wände zu schlagen. Es regte sie auf, ihre Schritte, ihr Husten zu hören, ihre Anwesenheit, die sich bald da, bald dort regte, zu fühlen, besonders des Nachts, wenn sie in den benachbarten Zimmern schnarchten. Der eine floh auf den Dachboden, der andere in den Keller, um dort zu schlafen.

Eines Morgens vergaß Adriaen die Läden zu öffnen. Als Saft ausging, dachte er: So wird das Haus sich ausnehmen, wenn Adriaen nicht mehr darin sein wird. Adriaen hatte, als er heimkehrte, denselben Gedanken in bezug auf seinen Bruder.

Die alte Mie Bergman wurde krank und kauerte in einem Lehnstuhl. Nun wurden sie gewahr, daß sie allein noch die Reste ihrer Wirtschaft zusammenhielt. Ihr Haß verlor den Zuschauer, seinen notwendigen Zeugen. Sie mußten miteinander sprechen oder einander töten.

Saft mengte dem Gemüse einige Schierlingblätter bei; Adriaen verbarg am Grunde des Zuckerstreuers Arsenik.

Dies geschah am selben Tage, zur selben Mahlzeit. Dann, irgendwie ihr gegenseitiges Verbrechen ahnend, und dennoch hartnäckig in ihrem endgültigen Schweigen verharrend, zog jeder von ihnen sich zurück, um zu verrecken, der eine oben, der andere unten in den entgegengesetzten Enden des Gasthauses „Zum sanften Tod“.

IM DORFE

IN nächtlicher Stille schlug um Mitternacht ein Blitz so entsetzlich ein, daß man hätte schwören können, er bräche das Dorf entzwei. Jeder hielt sein Dach für durchbrochen. An den Fenstern erschienen Köpfe. Gust Laer, der Schreiner, und Thys Blokkar, der Sesselflechter, sahen als erste den Feuerschein am Gipfel des Kirchturms. Lange blieb das ihr Stolz.

Der Glöckner drang barfuß, im Hemde, in die Kirche ein. Er kletterte, in beiden Händen zwei riesige Eimer, die Steintreppe hinauf. Als er am Flur des Glockengestühls angelangt war, konnte er im Dunkel die ansteigenden Leitern nicht finden. Sein ganzes Leben war er auf halbem Wege stehen geblieben. Der Totengräber folgte ihm. Er warf die Eimer um. Sie stritten im Dunkel. Plötzlich vereinte sie die Furcht vor der Feuersbrunst, die über ihnen lohte und die sie allein nicht sehen konnten, zur Flucht. Sie kollerten herab und verrammten dabei den Heraufkommenden den Weg.

Auf dem Friedhof sammelte sich das Volk an. Man zertrat die Hügel, stieß Kreuze um. Ganze Familien kamen längs der Straßen dahergelaufen: Frauen, ihre Kinder in die Arme gepreßt, Männer mit geschwungenen Mistgabeln und Schaufeln, als wollten sie das Tier, das sich da oben bewegte, töten.

Man rollte leere Fässer zum Flusse, aber das Wasser war zu weit entfernt, die Flut niedrig. Die Fischer gebärdeten sich schier verzweifelt, indes der Lehrer auf der Schwelle der Sakristei in aller Ruhe das Wesen des Blitzes zu erklären suchte.

Der Kirchturm? Der stammte aus undenklichen Zeiten her. Niemand hatte ihn bauen sehen. Die östlichen Regen hatten ihn mit feinem Moos bedeckt, das grünem Reif ähnelte. Seine vier Zifferblätter strahlten in ihrer Rundung, unverwüstlich schienen seine Grundsteine. Der Blitz, der ihn traf, beging gewiß Gottesfrevel.

„Man eile um Hilfe nach Tamise und Termonde“, schrie der Bürgermeister. Und der Totengräber begann, als die Glocken noch lebendig waren, die Sturmglocke zu läuten.

Die Klänge schwebten davon, die armen atemlosen Klänge, mit Hü und Ho, ewig gleich in ihren Tönen; jeder hatte sie seit seiner Kindheit her gehört, und manchen bedeuteten sie alle Musik, die sie kannten. Das Feuer aber strebte teilnahmslos abwärts. Der ganze Schieferpanzer splitterte ab und zerstreute sich in die Ferne, wie ein Schwarm roter Schnepfen. Mächtige Stücke der Pfeiler und des Gebälks gaben nach. Krähen entflohen mit lautem, wildem Schreien. Eulen, blind im Licht, fielen mit versengten Flügeln in die Flammen zurück. Seit langem schon war der goldene Hahn des Gipfels geschmolzen.

Zwei riesige Pferde, die unsanft geweckt worden waren, durchquerten, von zwei festen Burschen geritten, wiehernd die Menge. Es waren die Alarmboten, die nach den Städten ritten, wo Hilfe zu erhoffen war.

Vergebens suchte man den Priester; der Schullehrer dachte, er stünde dort neben dem Bürgermeister; der Glöckner glaubte, ihn mit dem Schullehrer sprechend gesehen zu haben, und der Bürgermeister, mit dem Glöckner. Welche Hilfe hätte er übrigens bringen können, da auch seine Vernunft vom Feuer ergriffen schien?

Der Schmied und der Zimmermann waren auf das Dach der Kirche gestiegen. Man reichte ihnen an Leitern das Wasser hinauf. Um nur ja nicht unnütz zu erscheinen, warfen sie es von weitem auf gut Glück gegen die Flammen, die zuweilen erreicht wurden.

Frauen, nur halb bekleidet, Buben und Greise bildeten die Kette. Man füllte die Eimer in faulenden Zisternen, in schlammigen Teichen, ja selbst in der Jauche der Düngergruben. Und all dies ging von Hand zu Hand zum Turm hinauf.

Die Glut höhlte sich trichterförmig. Die Zeiger des Zifferblattes waren stehen geblieben. Jemand schrie: Die Glocken werden fallen! Eine Minute wahnwitziger Angst setzte ein. Krachend mit Stoß und Prall, im Sprung sich aufbäumend, erfolgte der erste Sturz. Sie lag schon auf der Erde, da man meinte, sie hänge noch. Ein riesiges Loch gähnte und spie Staub aus. Einige näherten sich. Die zweite Glocke sauste eben herab und tötete sie.

Nun gab es Weinen und Schreien. Alle wollten die beiden Glocken und die Menschen sehen, die nur noch ein einziger Leichenhaufen waren. Man mußte die Menge mit Faustschlägen zurückdrängen: die Kirche selbst war ja bedroht.

Steile, heftige Flammen rissen sich wie schrille Schreie vom Turm empor. Sie stoben hin wie Haare aus Glut, wie Fetzen von Blut. Zuweilen flammte es jenseits des Flusses auf, und entfernte Bäume ragten plötzlich rot empor. Es war ein beständiges Schnauben, ein fliegendes, springendes Rasen zum Himmel auf.

Man mußte den Pfarrer suchen, daß er die Hostien und Reliquien rette. Man lief ins Pfarrhaus. Die Tür war verschlossen. Alles schien still darin; nur ein erhelltes Fenster bezeugte, daß man wach war.

„Der Herr Pfarrer betet und will allein bleiben“, antwortete die Magd.

Der Bürgermeister und der Schullehrer trauten ihren Ohren nicht und sahen einander achselzuckend an. Einige murrten und wollten mit Gewalt eindringen. Sie wagten es nicht. Der Schmied und der Zimmermann hatten das Dach verlassen, überzeugt, daß die Scheidewand, die den Turm von der Kirche und ihrem Schiff trennte, gleichfalls in Brand geraten würde. Schon züngelte das Feuer mit seinen tausend Flammenzungen an der Wand empor, und die Balken knisterten.

Plötzlich aber erfolgte ein völliger Zusammenbruch. Aus dem ausgehöhlten Turm stieg eine fette, träge Rauchsäule auf, man sah die Mauern glühen, die Wände und ganze Stücke Mauerwerks, eines nach dem andern, in die Glut stürzen. Der Glockenturm war dahin. Gegen Osten stieg der Tag auf.

Erst jetzt erblickte man das ganze Elend dieses Schauspiels. Das Dorf sah aus, als wenn es geplündert worden wäre: die Häuser standen da mit offenen Türen und Fenstern, verwüstet, in Unordnung, stumm in ihrer Verlassenheit; auf dem Friedhof war der Rasen zerstampft, die Gitter und Kreuze zerbrochen, als wäre Leichenschändung begangen worden; Holzeimer, Kübel und Fässer waren in Haufen durcheinandergeworfen, und längs der Wege konnte man die Spuren der Abfälle und des Kots erblicken, mit denen man die Feuersbrunst zu löschen gehofft hatte.

Endlich sah man auf der Landstraße die erwartete Hilfe auftauchen, das galoppierende Gespann, die Kupferpumpen, die Helme und die Hacken.

DER JAHRMARKT ZU OPDORP

ALLJÄHRLICH im Juni findet in dem kleinen Dorfe Opdorp, dicht an der Grenze von Flandern und Brabant, ein berühmter Jahrmarkt von bunt und heiter aufgeputzten Pferden statt. Um ein weites, rasengeschmücktes und von Ulmen, Eschen und Weiden geziertes Viereck reihen sich die Häuser — ihre Mauern gleichen weißen Röcken, ihre Dächer roten Kappen —, und sie bewachen einander mit den frisch gewaschenen und sauberen Augen ihrer Fenster. Am Ende steht die Kirche mit dem Turm und seinem goldstrahlenden Hahn; um sie der armselige, ungezäunte Friedhof.

Das Dörfchen ist still, traurig, unscheinbar. Die Arbeit geht dort in Regelmäßigkeit, ohne Eile, mit langsamen Händen vor sich, als wollte man, ohne je es zu verwirren, das nützliche und kostbare Gewebe der Zeit abhaspeln.

An Werktagen entströmt den Kellern ein Duft von Butter und Milch. Langsam hinziehende Kuhherden kommen des Abends von der Tränke und den Wiesen heim; hinter ihnen pfeift der Kuhhirt sein Lied. Ein Brüllen wird laut, ein Tor knarrt, ehe es sich schließt. Nur der Turm verbreitet mit seinem Geläute des Sonntags ein wenig frommes und wärmeres Leben. Man drängt sich zur Messe, zur Vesper, zum Schlußgebet. Vom Montag an wird alles Leben wieder still und tritt in seine geregelte und eintönige Ordnung.

Der Jahrmarkt von Opdorp aber ist berühmt. Da finden sich beim ersten Morgengrauen die linkischen Füllen ein, die neben ihren Müttern mit kindlichem Trab daherhüpfen; die ungeheuren Hengste, die von Bauernburschen am Halfter geführt werden; dann Arbeitstiere, eine Art von eigensinnigen und noch kräftigen Dienstboten nach weiß Gott wie viel erbrachten Saaten und Ernten, weiß Gott wie vielen Mühen im weichen, fetten Boden der flandrischen Herbsterde.

Sie ziehen längs der Buden hin, und die Hanswurste erschrecken sie durch ihren Lärm, schlagen sie mit ihren hölzernen Degen auf die Kruppe, schimpfen auf ihre tölpelhafte Art und machen sich über ihre wolligen Schwänze und die durch ihre Zottigkeit noch schwerfälliger aussehenden Hufe lustig, die groß und rund sind wie riesige Schwämme. Zwischen Bauern und Clowns entsteht Streit; die einen bekräftigen ihren Zorn mit Faustschlägen, die andern schütteln flink und lachend ihre Beschimpfungen gleichsam aus dem Ärmel und bekräftigen sie mit einem Nasenstüber. Schreie ertönen, streifen an den Anschlagzetteln vorbei, verlaufen sich in den Gassen und Gäßchen aus Zelttuch und vermengen sich mit dem Wiehern der Pferde, den Hufschlägen, dem Klang des stolpernden Galopps auf dem Pflaster. Sobald die Trompeten und Posaunen und die große Trommel sich hören lassen, wird der Spektakel zur Raserei. Es ist, als ob das ganze Dorf sich in einen riesigen Strauß von Getöse verwandelt hätte, in dem schrille Töne, freche Pfiffe und furchtbare Laute die derben, düsteren und roten Blumen darstellten.

Trotzdem aber finden sich die Leute aus der Umgebung, obwohl es noch jährlich bei diesem Feste sehr übermütig zugeht, immer spärlicher ein. Sie haben ihre guten Gründe.

Seinerzeit sandten die Bischöfe von Gent und Tournay ihre Stallmeister hin, die großen Abteien von Aberbode und Perck trafen dort die Auswahl ihrer Tiere, und hauptsächlich schickte die Leichenbestattung der kleinen Stadt Termonde alle fünf Jahre ihre prunkvollsten Totenwagen, gezogen von vier schwarzen, abgenützten mageren Mähren, die man nach einigen Dienstjahren ersetzen mußte, damit der Pomp der wohlbestallten Leichenbegängnisse keine Kritik zu fürchten habe.

Sobald die Ankunft des Wagens angezeigt war, bestiegen die Hanswurste wieder die Bühne und überboten sich in närrischen Reden. Vier vergoldete Skelette hingen zur Seite des Gefährtes, ein Clown kniff sie ins Kinn, ein anderer steckte Blumen in ihre Knochenhöhlen. Die Musikanten bliesen mit geschwollenen Backen heftige Trauermärsche, aufgeregte Affen verrenkten sich in Sprüngen längs der Budenplanken, und die Schlangenbändigerin, ihre Riesenschlange um den Leib gewunden, packte den Kopf des Tieres und streckte ihn mit offenem Rachen dem nahenden finsteren Gefährt entgegen.

Das Gespann fuhr langsam an dem zynischen und grotesken Mummenschanz vorbei, streifte mit seinen Federbüschen und schwarzen Behängen den gemeinen, grellen Aufputz, die kreuz und quer aufgeklebten Anschlagzettel und die gehißten Fahnen und Wimpel. Der Wagen war voll nichtsnutziger Gassenjungen und -mädchen, die auf den Brettern, die sonst zum Tragen der Särge dienten, herumtanzten und sich hin und her stießen. Neben dem Glockenturm hatten sich ein oder zwei Küster aufgestellt. Und damit der Frevel vollständig sei, brannten düster und zwecklos die Lichter der vier Laternen.

Der Kutscher stellte im Gasthof „Zu den drei Königen“ ein. Sobald er ausgespannt hatte, verkaufte er seine Tiere, die den Abdecker schielenden Auges betrachteten. Rasch handelte er andere ein, ohne den Preis besonders zu drücken; die Leichenbestattung von Termonde war reich.

Und kaum war die Wirtin bezahlt, das Glas in Eile geleert, die Harnische und das Sattelzeug gebürstet, die Riemen verkürzt oder verlängert . . . je nach dem Maß der neuen und diesmal munteren Rosse, setzte sich das verjüngte Gespann mit den Kirchenvorstehern und Gassenjungen, die auf den Sitzen und Brettern thronten, wieder in Bewegung. Es schlug denselben Weg ein, den es gekommen war, aber diesmal stellten die Jahrmarktsleute, die jetzt vor seinem anständigen Aussehen ernster und fast ehrfurchtsvoll verharrten, alle Possen ein. Ein wenig Staunen, wenn nicht gar ein wenig Furcht, hatte sie ergriffen, und man sah, wie ihre Frauen sich bekreuzten. Der Tod, der des Morgens zerschlagen, hinkend, abgebraucht, zu nichts mehr nütz geschienen hatte, trabte nun, herausgeputzt wie zum Kampfe, wieder munter von dannen.

Nun geschah es, es dürfte so zwanzig Jahre her sein — und seither ist der Jahrmarkt wie verflucht —, da waren die neugewählten Pferde so ungestüm und unlenksam, daß sie das Dorf im Sturmlauf verließen. Sie rannten Buden und Gestelle um, und weiter draußen, auf der Landstraße, gingen sie, dank einer am Wegrand aufgepflanzten Vogelscheuche, durch. Die auf den Wagen Gekletterten bekamen Angst; einige sprangen, auf die Gefahr hin, sich zu erschlagen, auf Böschungen in die weiche Erde am Wege, andere wieder, aneinander gekauert, stießen so schreckliche Schreie aus, daß die Leute mit zum Himmel gerungenen Händen aus den Gehöften hervorkamen. Im vollen Sonnenschein, mit fliegenden Behängen, polternden Rädern, stürzte der Leichenwagen, ein lebendiges schwarzes Gerassel, vorbei. Die Laternen hüpften in ihren Untersätzen, das entwurzelte Kreuz wurde heftig von rechts nach links und von links nach rechts geschüttelt, die Silberfransen verwickelten sich in den Büschen, und an den Zweigen blieben schwarze Fetzen hängen.

Von den Wällen in Termonde sah man diesen Wirbel herankommen, und der Schrecken war groß. Man ängstigte sich hauptsächlich wegen der Kirchenvorsteher, dieser ehrbaren, gediegenen Würdenträger, deren Beine nicht mehr geschmeidig genug waren, um abzuspringen.

Der wildwütende Leichenwagen durchquerte die ganze Stadt. Das gab Schreien und Klagen. Das Entsetzen verbreitete sich von Haus zu Haus, von Stadtteil zu Stadtteil. Man sah Frauen, die die Hände nach ihren Knaben oder Mädchen ausstreckten, die der Wirbel mit fortführte. Ein Greis wurde über den Haufen gerannt. Die Straßen leerten sich . . . Bleiche Gesichter drückten sich an die Fensterscheiben. Leute liefen atemlos hinter dem Wagen her. Der Glöckner am Hauptplatz wollte die Sturmglocke läuten, aber der Tod lief zu rasch, und der Blitz seines Vorbeijagens traf schon das entgegengesetzte Ende der Vorstädte.

Die wahnsinnigen Pferde, weiß von schäumendem Schweiß, Blut an den Mäulern, hielten erst vor einer Friedhofsmauer an. Eines von ihnen schlug hin. Ein kleines Mädchen wurde getötet. Einem Kirchenvorsteher wurde das Bein zermalmt. Alle anderen hatten Verletzungen zu beklagen. Nur der Kutscher kam heil davon, ohne den kleinsten Riß, und da sich die Pferde ihrerseits von ihrem Schrecken erholt hatten, lachte er schließlich über das Abenteuer.

Aber die Menge ließ sich ihre Furcht nicht nehmen. Was für ein unseliges Geschehnis mochte dieser so sinnfällige Unglücksfall voraussagen? Sie verdoppelten ihre Gebete und Andachtsübungen. Es half nichts.

Während des endlosen Winters wurde die Stadt durch ein unbekanntes Fieber verwüstet, und die Schelde trat dreimal über die Ufer. Die Straßen, durch die der Leichenwagen gekommen war, wurden vor allen andern ergriffen. Die Trauer erstreckte sich bis Opdorp.

Wie sehr schwand aus dem reinen, netten Dorfe die Ruhe! Täglich gab es einen Todesfall. Dies dauerte Monate und Monate solchermaßen an, daß man den Friedhof vergrößern mußte. Noch heute hat sich die Erinnerung dieses schwarzen Ereignisses kaum abgeschwächt, ja man sagt, daß in wenigen Jahren der berühmte Jahrmarkt von Opdorp aus den Kalendern gestrichen sein wird.

DIE DREI FREUNDINNEN

DER Schullehrer nannte sie die drei Parzen. Jeden Donnerstag gegen vier Uhr trafen sie sich bei drei Tassen Kaffee. Wenn die Zusammenkunft bei Dietje Knickelbel stattfand, klapperte die magere Trien Pyck mit ihrem Krückstock durch die Klosterstraße, während Wanne Biebuick, die beweglicher, aber dafür ihrer Kurzsichtigkeit wegen unsicherer war, über die Flohecke daherkam. Von da an setzten sie den Weg zu zweien fort und beklagten sich gemeinsam über ihre Übel. Die eine sagte: „Meine armen Augen“, die andere: „Mein armes Bein“. Sie einigten sich aber schließlich zu einem „Gehen wir halt weiter“, indem sie solchermaßen, ohne es zu wissen, das ganze Ab und Auf der menschlichen Leiden zusammenfaßten.

Dietje wohnte in der Nähe eines Kalvarienberges. Die beiden Alten verharrten einen Augenblick im Gebete. Ein großer Christus wand sich hier am Kreuz. Eine riesige Dornenkrone war ihm von der Stirne auf die Augen herabgesunken, eine Lanzenspitze zwischen den Rippen stecken geblieben, und der schmerzverzerrte Ausdruck war so schrecklich wiedergegeben, daß man im Herbst, während der größten Stürme, sagte: „Horch, Gott selbst rüttelt an seinem Kreuz.“

Von ihrem Fenster aus spähte Dietje nach ihren zwei Freundinnen. Sobald diese ihr Gebet beendet hatten, öffnete sie die Türe und nahm ihnen die Mäntel ab. Der Kaffee rauchte auf dem Tische. Wanne und Trien brauchten eine gute Weile, um sich niederzusetzen. Sie sandten prüfende Blicke im Zimmer umher, betrachteten die Windungen des feinen Sandes um die Möbel herum und die Hortensien, die in Büschen die Vielfalt ihrer rosigen Augen öffneten. Dann ließen sie sich beide auf ihre gewohnten Sessel nieder; zwei Katzen sprangen in der Hoffnung auf Leckerbissen auf ihre Knie.

Und Trien Pyck streichelte ihnen den Kopf und erzählte (es war das hundertste Mal) die Geschichte ihrer Mutter, die, um sie dort drüben aus der Scheune des Fährmanns herüberzuholen, den Fluß inmitten der Strömung des Nachts durchquerte und abermals durchschwamm. Sie gab sich den Anschein, es selbst nicht zu glauben. Sie belebte ihre Erzählung mit dem Ausruf: „Ist es möglich, viermal schwimmend diesen Weg, zweimal hin, zweimal her!“ Und als sie den Bericht beendete, fügte sie hinzu: „Der Pfarrer selbst hat es mir gesagt.“

Wanne zog daraus den Schluß: „Ein Kater hätte das niemals getan.“ Und am Grunde ihrer Gedanken konnte man lesen: „Das ist einmal ausgemacht, die Männer sind lange nicht so viel wert wie die Frauen.“ „Das ist wirklich wahr“, antwortete die alte Pyck mit den Augen.

Sie verstummten einen Augenblick. Aber Wanne Biebuick wußte eine noch viel sonderlichere Sache zu berichten. Vorigen Sommer, eines Sonntags, banden die aus Baesrode eine Menge weißer Fäden an die Füße von einigen hundert Fliegen. Man jagte diese mit Tüchern davon. Die Tiere entflogen: auf der andern Seite der Schelde fing man sie beinahe alle ein. Trien Pyck stellte sich ungläubig, nur um ihrer Freundin zu ermöglichen, sogleich hinzuzufügen: „Die Schwestern vom Kloster des heiligen Vinzenz bestätigen dieses Wunder.“

Es läutete zum Englischen Gruß. Alle drei erhoben sich und machten das Zeichen des Kreuzes. Als sie sich wieder gesetzt hatten, wurde eine neue Tasse herumgereicht, und Trien strich Sirup auf ihr Brötchen. Der Tag war verblaßt, die Magd ging hinaus, die Läden des Zimmers zu schließen, und die drei Freundinnen begannen auf die draußen Vorübergehenden zu horchen. Man hörte die Schritte vom Ende des Dorfes her sich nähern, gegenüber auf dem Bürgersteig vorbeiklappern, mählich verklingen, dann herrschte wieder Stille.

„Das ist der Uhrmacher Claes, der seine Uhr dem Schöffen zurückbringt. Und dies ist Jan Maes, der Kohlenmann, ich höre die Nägel seiner Schuhe auf dem Pflaster klirren.“

„Schweigt still, es ist der Vikar, der zu den Goddschaps geht: ihr Sohn wird die Nacht nicht überleben.“

„Ganz und gar nicht: es ist der Pfarrer. Er allein tritt so fest auf. Es kommt mir vor, als höre ich das Versehglöckchen . . .“

„Es ist die Glocke des Petroleumhändlers. Er rüttelt das Faß auf seinem Karren.“

Sie schwiegen. Ein großes unregelmäßiges Geräusch, eine Art Gestolper näherte sich ihnen vom Lande her. Trien, obwohl sie ahnte, daß nur ein Lastwagen all diesen Lärm verursachte, tat, als ob sie an eine Katastrophe glaube.

„Meint man nicht, die Welt geht unter?“

Die erschrockene Wanne antwortete nicht. Aber schon hörte man die Schritte der Pferde, den Klang von Ketten im Rhythmus des Trabs; es war der Bierwagen des Verschleißers Blaes, der diesen vermutlichen Weltuntergang verursachte.

Der Laternenanzünder ging heim und streifte dabei mit seiner Leiter die Mauern entlang. Er hinkte und sang:

„Die Mondfrau Anne

In ihrer Pfanne

Hat nen Dukaten aus Flandern;

Wie weit er möcht wandern,

Ob’s ein Narr wär, ein Jud

Fing ihn wohl ein, in seinem Hut.“

„Nun, ich weiß einen, der ihn stahl. Er fischte ihn am Grunde eines Brunnens, verkaufte ihn und wurde daran reich. Er nennt sich Klaes und ist mein Bruder.“

Wanne sprach plötzlich rasch. Sie war die Erbin des Klaes. Eines Tages würde sie sicherlich reich sein. In Gedanken berechnete sie Tod und Erbschaft, und ohne besonderen Übergang sprach sie weiter:

„. . . Dann werde ich gute Werke tun. Ich werde der Kongregation eine herrliche Monstranz schenken, in der Kirche wird für mich ein Stuhl aus Mahagoni stehen und ein großer Teppich für meine armen Füße. Im Keller werde ich Wein haben, um ihn dem Vikar anzubieten. Ich werde euch, dir, Trien, und dir, Dietje, einen Rosenkranz aus Silber und Perlmutter schenken, der in Rom geweiht ist, und ich werde wirklich den Preis bezahlen, daß er die heilige Reise macht. Ich werde Präfektin des heiligen Rosenkranzordens sein und, wenn ich sterbe, der Kirche ein so bedeutendes Legat hinterlassen, daß man tausend Messen für meine Seele lesen wird.“

Während sie dies sagte, machte Wanne Biebuick eine Gebärde, die sie vollständig aus ihrem Sessel in die Höhe schnellte. Die Katze sprang, als wäre sie erschrocken, von ihren Knien. Eine Stille trat ein. Bisher hatte Dietje nicht mehr gesagt als ja und nein, einzig um ab und zu einen kleinen flüchtigen Ring an die Kette der wiedererweckten Erinnerungen zu reihen. Nun sprach auch sie. Und zwar vom alten Pier Thys, der vergangenen Sonntag allein während der Messe hinter seinem Fenster gestorben war. Das ganze Dorf konnte ihn, als es aus der Kirche kam, hinter seinen Scheiben sehen, blaß und steif wie ein Heiliger in einem Glaskasten. Man hatte ihm ein würdiges Begräbnis bereitet. Reichlich waren die Blumenspenden gewesen. Der Strauß, der sich in diesem Augenblick auf dem Tische befand, hatte sogar seinen Sarg berührt.

Dietje, die die Neugierde ihrer Freundinnen voraussah, gestand, daß ihn ihr der Totengräber nach dem Begräbnis gegeben hatte.

Man sprach noch über den Schullehrer, über den Kapuziner, der Weltabgeschiedenheit gepredigt hatte, über den Bettler mit dem Mausgesicht, der jede Woche an die Türen pochte. Aber bei all dem fehlte der Schwung. Eine heimliche, aber tiefe Bewegung beunruhigte die drei Freundinnen.

Da machte Dietje, die nicht vergessen hatte, daß sie einst alle drei bis zur Tollheit den hübschen Kerl, der Pier Thys gewesen war, geliebt hatten, ja daß sie, von heftiger Eifersucht gegeneinander erfüllt, sich zu allen Teufeln gewünscht hatten, jedoch verschweigend, daß sie die Bevorzugte gewesen war, machte nun drei Teile aus dem blassen Veilchenstrauß, behielt den kleinsten für sich und legte die zwei anderen in die armen alten Hände ihrer Gefährtinnen.

EIN ABEND

ICH verlasse dich und komme wieder“, rief mir, als er sich entfernte, mein sehr eifriger Freund zu, mit dem ich eben in der riesigen Fremdenherberge am Ende einer der abgestorbenen Städte des alten Spaniens gelandet war.

Ich sah ihn rasch die Stiege herabsteigen, und sein letztes „Ich komme bald“ vernahm ich nur noch zugleich mit dem Geräusch seiner die Stufen und Treppenabsätze hinabeilenden Schritte. Allein zurückgeblieben, lehnte ich mich über den Balkon. Leute, hochmütig in ihrer Schmierigkeit, stolzierten unter den Arkaden, unheimliche Bettler sperrten die Schwellen der Türen, Hunde heulten vor den Gittern der Klöster oder vor alten Kreuzen, die da und dort noch aufgepflanzt waren als Überreste einer Friedhofsruine. Die Dämmerstunde steigerte das Geheimnisvolle der Straßen, deren Häuser, im Blut der Abendsonne, von dunklen Menschen bewohnt zu sein schienen. Meine Blicke tauchten durch ein Fenster. Ich ward Zeuge großer heftiger Gebärden, einer Bewegung, die von Saal zu Saal lief, einer plötzlichen Vereinigung vor einem Bilde, das an einer Wand hing, sah den Kniefall vor zwei großen Füßen des Christus, der zwischen Kerzen und flackernden Votivbildern lebendiges Blut zu vergießen schien.

Plötzlich leuchtete dort am Ende einer Allee eine erste Laterne wie ein grüner Stein.

Ich sah auf meine Uhr. Eine Stunde war verronnen, seitdem mein Freund weggegangen war. Ein tiefes Angstgefühl regte sich in mir. Von dem Augenblick an, wo ich begonnen hatte hinauszusehen, den Körper gleichsam über diese ganze Stadt gebeugt, hatte eine langsame, aber sichere Furcht meine Gedanken erhitzt. Ich bildete mir ein, mein Freund wäre ins Verderben geraten, angefallen, bestohlen worden. Ich kannte nicht die Richtung, die er eingeschlagen, wußte nicht, wohin er sich begeben hatte, warum er ausgegangen war. Sein Weggehen schien mir unerklärlich, irgendwie zwingend befohlen und gewollt durch eine fremde und feindliche Kraft.

Ich durchforschte die Vorübergehenden, einzig um sie verdächtig zu finden. Es waren alte Frauen, die durch Verbrauchtheit und Krankheit ganz besonders ausgehöhlt waren, fast nackte Kinder, deren Schreien und Winseln die Mutter an ihrer Brust erstickte. Dann kamen Männer — und recht rohe — mit langen Stöcken, an deren Ende etwas leuchtete. Ein Gespann kam vorbei mit aufgeregten Pferden und wildem, eisenklapperndem Geräusch.

Die Nacht war nach und nach dichter geworden. Eine ganze Reihe von Lichtern leuchtete längs der Gehwege. Ein Glockenturm nach dem andern erwachte, die großen Glocken begannen zu läuten.

Nicht weit von mir verschluckte eine Kirche mit geöffneten Toren eine Menschenmenge. Ich sah sie ameisengleich in diesem riesigen Mund verschwinden, und dieses langsame und andauernde Aufsaugen bekam in meinen Augen eine beunruhigende Bedeutung. War mein armer Kamerad nicht dort zwischen der Menge zerrieben und, ohne daß er es wollte, gegen dies Unbekannte gedrängt, gegen die Tiefe jener Dunkelheit, aus der die Glocke mit hartnäckigem und leidenschaftlichem Knirschen und Aufschlagen zu kommen schien?

Ich mußte einen Schrei ausgestoßen haben, denn ein alter Mann, der seit einiger Zeit mir gegenüber auf der andern Seite der Straße stehen geblieben war, warf mir, als erwarte er nur einen Vorwand, mir zu antworten, unverständliche Worte zu und entfernte sich dann mit einer weitausladenden, vorwurfsvollen Gebärde.

Nun befiel mich ganz und gar heftigste Angst. Die Wohnung, in die wir eingezogen waren, bestand aus kleinen geheimnisvollen altertümlichen Räumen. In ihren Ecken hatte sich eine tragische Dunkelheit angehäuft. Ich kleidete mich eiligst an, und fiebernd begann ich die Stadt nach allen Richtungen zu durcheilen, anfangs mit Bedacht, dann laufend und schließlich außer Sinnen.

Ich glaubte meinen Freund bald unter den Spaziergängern zu sehen, die sich an das Geländer einer riesigen Steinbrücke lehnten, bald im Hintergrund eines Kellers, wo schreckliche Trinker sich in der Nähe eines Schanktisches stießen, bald unter einem riesigen Kandelaber, dessen plötzlicher flackernder Lichtschein einen auf die Mauer gemeißelten Kampf zwischen Schlangen und Adlern beleuchtete.

Jedesmal stieß ich geradaus gegen jede dieser Vorstellungen, in meinem Kopf wurde es immer wirrer, meine Augen waren gemartert und mein Herz wie in einen Schraubstock gespannt. Ich entschloß mich, zurückzukehren. Aber kaum hatte ich einige Schritte gemacht, so wechselte meine Angst ihren Inhalt. Ich dachte nicht mehr an meinen Freund, weder an seinen Verlust noch an seinen Tod. Ich war mir nun selbst der Gegenstand meiner Beunruhigung. Rasch heimkehren! Oh! dieses Laufen im Abend durch Straßen, deren Fassaden Schrecken bedeuteten. Türme ragten an den Ecken der Plätze auf wie aus dem Unbekannten bis zu den Sternen gebaut, Weinkeller von Schreien und Streit erfüllt, mächtige Häuser, deren Angeln und Türen wie Kanonen schallten.

Noch geheimnisvoller als vorhin und von noch unabwendbarerer Feindlichkeit erschienen mir die Vorübergehenden. Konnte ich sie fragen, um den rechten Weg wiederzufinden? Ich fühlte, daß sie alle Gauner waren, Messerstecher, unheimliche Briganten. Ich schritt mitten in der Straße, unausgesetzt mich umwendend, bleiern vor Schrecken und mehr als alles andere auf der Welt fürchtend, daß man meine Furcht ahnen könne. Ein kleiner Buckliger, der Zündhölzchen verkaufte, näherte sich mir. Ich sprang zurück, um ihm auszuweichen. Eine Dirne flüsterte mir dumme Worte zu. Lebhaft beschleunigte ich meinen Schritt, ich wagte nicht, sie mit roher Heftigkeit zurückzustoßen. In einer glasüberdeckten Galerie stand einer dieser entsetzlichen Bettler im Mantel, wie sie mich seit meiner Ankunft beunruhigt hatten, und versperrte mit seiner Geste den ganzen Durchgang. Ich machte kehrt. Und die Stunden schlugen über mir in den Kathedralen wie stählerne Schwerter, die miteinander kämpfen.

Plötzlich erblickte ich das Haus, in dem wir abgestiegen waren, gerade vor mir. Zitternd steckte ich den Schlüssel in die Türe. Was erwartete mich hinter ihr? Mein Freund war so sehr aus meinen Befürchtungen entschwunden, daß ich nicht einmal fragte, ob er heimgekehrt war. Ich durchsuchte alle Zimmer unserer Wohnung, eines nach dem andern, leuchtete mit meiner Kerze unter die Betten, in die geöffneten und rasch wieder geschlossenen Kästen, zwischen die Füße der Sofas und der Tische; ich verschloß die Türen, verschob die Möbel und war selbst erschrocken über diese Kühnheit, meine Furcht beruhigen zu wollen. Ich lud auch meinen Revolver. In meinem Zimmer wandte ich dann die größten Vorsichtsmaßregeln an. Weshalb? Ich hatte doch sicherlich nicht Lust zu schlafen. Ich begann zu lesen, meine Augen fest auf die Seiten gerichtet; aber dort gegen die Türe zu, gegen das Fenster, lag meine ganze Aufmerksamkeit auf der Lauer. Da das Haus stockweise vermietet wurde, hörte man auf der Stiege Schritte aufwärts kommen, die mir den Rhythmus meiner Angst vermittelten. Irgend jemand blieb auf meiner Flur stehen. Ich sprang aus dem Bett, da ich an einen Einbruch glaubte. Eine blendende Idee kam mir: die Polizei benachrichtigen. Ich zog mich halbwegs wieder an. Doch kaum war ich auf der Straße angelangt, packte mich all mein Fieber wieder. Sollte ich von neuem die Stadt durchqueren, auf diese wie Monumente dastehenden Bettler stoßen und in dieses Labyrinth von Nacht untertauchen, aus dem ich wie durch ein Wunder herausgeraten war? Würde ich wieder all meine Unrast erneuern und sie bis zum Wahne fortspinnen? Ich stieg neuerdings die Stiege hinauf, als ich, vor meiner Wohnung angelangt, bei dem Gedanken zu zittern begann, was sich in meinem Zimmer begeben haben könnte, seitdem ich es — eben vor einem Augenblick — verlassen hatte.

Ich erinnere mich, mich auf der Schwelle mit müden, schweren Armen niedergelassen zu haben, am Platze festgebannt und zu gleicher Zeit wie emporgehoben und wie davongejagt durch die tausend sinnlosen Hände, die mich hinausstießen. Ich hörte andere Mieter heraufsteigen. Ich horchte auf ihr lärmendes Sprechen, sie näherten sich. Über das Geländer gebeugt, glaubte ich ihnen Zeichen zu machen, sie zu rufen, ihnen irgend etwas zu sagen, und dennoch schnellte ich unwillkürlich gegen die Mauer zurück, hielt mich stumm, unterdrückte meinen Atem, verbarg mich abgeplattet, kleinwinzig, wie blutleer in einer dunklen Ecke. Sie streiften an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und begaben sich alle in ihre Wohnungen.

Ich zürnte mir, sie nicht gefragt zu haben; ja, ich stieg sogar einen Stock hinauf, um am Ende eines Ganges, in dem der letzte von ihnen verschwunden war, anzuläuten. Dort angelangt, stieg ich wieder herab.

Da plötzlich übersprang ich, vier Stufen zugleich nehmend, alle Treppenabsätze und gelangte auf die Straße, ohne zu wissen, was ich tat.

Ein Nachtwächter stellte sich vor mich hin.

„Ich komme,“ sagte ich, „um Sie wegen eines Diebstahls, der sich eben bei mir abspielt, zu holen.“

Der Mann folgte mir, und die wenigen Worte, die er sprach, bedeuteten mir Erlösung. Ich war mir in diesem Augenblick der Komödie, die ich spielte, nicht bewußt.

Als wir an der Schwelle meiner Türe angelangt waren, hätte ich es gewiß gewagt, allein in mein Zimmer einzutreten und in aller Ruhe die Winkel und Ecken zu untersuchen, mein Bett aufzufinden und zu schlafen. Der Wächter durchforschte sorgfältig den Salon, das Waschkabinett, zündete seine Blendlaterne an und machte die Runde durch alle Räume. Um meinen Worten Gewicht zu geben — was mir ganz leicht fiel —, gab ich vor, daß ein Schrein auf jenem Tischchen, zwischen diesen und jenen Leuchtern und meinem Reisenecessaire, sich befunden hatte, und daß dieser Schrein verschwunden war. Mit wachsender Kühnheit begann ich gegen die Gauner zu eifern, die den Reisenden auflauern, ihnen in die Hotels folgen, und gegen die Behörde, der es niemals gelinge, wie sie es auch anstelle, die Schuldigen ausfindig zu machen. In diesem Augenblick mußte ich wohl einige etwas allzu übertriebene Worte gebraucht haben, denn der Nachtwächter lächelte, und ich sah einen leichten Zug von Ungläubigkeit in seinen Augen. Ich ärgerte mich.

„Es ist sicher,“ erklärte ich ihm, „daß vor einer Stunde ein Schmuckstück da in einem blauen Schrein sich befunden hatte, daß dieses Schmuckstück — ein Medaillon — mit Perlen verziert war und daß es Haare enthielt, die in Arabesken eingelegt waren.“

Und als mich der Mann unterbrach, um mich zu versichern, daß das Haus verläßlich sei und der Bezirk der stillste der Stadt, erwiderte ich, daß ich im Bett gewesen wäre, als ich plötzlich durch ein Kratzen — gleichsam als wenn ein Diamant über eine Glasscheibe geführt würde oder ein Gegenstand über eine marmorne Tischplatte — geweckt worden war; als ich rasch hinzugelaufen war, sei vor mir ein Mann verschwunden, die Türe hinter sich zuwerfend. Was den Schrein betrifft, so hatte er auf seiner Unterseite vier kupferne Nägel, und einer dieser kreischenden und knirschenden Nägel war es, der mich aus dem Schlaf geweckt hatte. Der Wächter sah mir gerade ins Gesicht.

„Folgen Sie mir,“ befahl er, „und bringen Sie Ihre Klage anderswo vor.“

Aber darauf wollte ich nicht eingehen. Ich widersetzte mich, da mein Freund heimkehren würde — mein Freund, er war nur mehr Vorwand — und daß ich nicht einen Augenblick in diesem verdächtigen Hause die Papiere und die andern Andenken, die uns gehörten, verlassen wollte.

Neuerlich erschien ein Lächeln in den Augen des Nachtwächters. Ich hatte Lust, ihn zu schlagen.

Plötzlich öffnete sich die Türe, und er, der die Quelle meiner Angst gewesen war, er, den ich vergebens sehnsüchtig, ja wahnsinnig in der ganzen Stadt gesucht hatte, trat ein.

Ich warf mich an seinen Hals und fragte ihn weder woher er komme, noch warum er sich bis zu dieser Stunde verspätet habe. Rasch zog ich ihn beiseite, und mit vollkommener Klarheit machte ich ihm von dem Abenteuer Mitteilung.

Der Wächter ließ es gewähren. Er hatte verstanden.

Ganz ernsthaft — denn die geringste Anspielung auf meinen Wahn hätte alles verdorben — kamen mein Freund und er überein, daß man am nächsten Morgen die Klage einbringen würde, und daß man, um mir Recht zu verschaffen und den Schuldigen zu entdecken, systematisch die schmutzigen Viertel des Hafens und der Kasernen durchsuchen würde.

Aber im Morgenlicht erschien mir die Stadt so friedlich, so klösterlich, so geruhsam, daß ich an nichts anderes mehr dachte, als den Reiz der altertümlichen Kunstwerke und den schwermütigen Glanz seiner verwitterten Reliquien zu genießen.

INHALT

DER GASTHOF „ZUM SANFTEN TOD“ 9
IM DORFE 33
DER JAHRMARKT ZU OPDORP 45
DIE DREI FREUNDINNEN 61
EIN ABEND 79

DRUCK DER SPAMERSCHEN BUCHDRUCKEREI IN LEIPZIG