The Project Gutenberg eBook of Erinnerungen eines Achtundvierzigers This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Erinnerungen eines Achtundvierzigers Author: Stephan Born Release date: November 6, 2017 [eBook #55895] Most recently updated: June 14, 2020 Language: German Credits: E-text prepared by Odessa Paige Turner, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team (http://www.pgdp.net) from page images generously made available by the Google Books Library Project (https://books.google.com) *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ERINNERUNGEN EINES ACHTUNDVIERZIGERS *** E-text prepared by Odessa Paige Turner, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team (http://www.pgdp.net) from page images generously made available by the Google Books Library Project (https://books.google.com) Note: Project Gutenberg also has an HTML version of this file which includes the original illustration. 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Mein Name wurde zwar in den Berliner Zeitungen der Jahre 1848 und 1849 häufig genannt, ich stand dort kurze Zeit im Vordergrunde der großen Bewegung, aus welcher schließlich nach gewaltigen Kämpfen Neu-Deutschland hervorgehen sollte, ich war namentlich einer der Gründer und Leiter der damals entstandenen, jetzt mächtig auftretenden Arbeiterpartei. Ich gehöre jedoch in Deutschland schon lange zu den Verschollenen, sogar Vergessenen. Weshalb aus dem Grabe wiedererstehen? Wesentlich nur aus dem Grunde, weil man jetzt die Geschichte des Jahres 1848 zu schreiben beginnt, weil andere mich ausgegraben, meine damalige Thätigkeit darstellen und beurteilen und dabei Wahres mit Falschem vermengen. Ein sozialdemokratischer Schriftsteller hat mich sogar zum Helden eines in Arbeiterblättern erschienenen Romans gemacht. Es werden alljährlich zum 18. März Erinnerungsblätter an das Jahr 1848 ausgegeben, in denen mit Vorliebe von mir in jenem Jahre gehaltene Reden oder Zeitungsartikel neu abgedruckt werden. Ich habe keinen Grund, den Inhalt jener Reden und Artikel jetzt zu verleugnen, ich könnte sie sogar heute noch unterzeichnen, obgleich ich in dem seither abgelaufenen halben Jahrhundert in mancher Beziehung ein anderer geworden bin. Das damals Gesprochene und Geschriebene ist mir das Zeugnis einer unverkennbaren Einheit in meiner Gesamtentwicklung. Es ist nicht eigenes Interesse, das mich dazu führt, richtig zu stellen, was in unrichtiger Kenntnis der Verhältnisse und in völliger Unkenntnis meiner Person da und dort in neuester Zeit von mir gesagt und auch gefabelt worden ist. -- Was liegt an einem einzelnen, an einer kleinen Schraube in dem großen, geheimnisvollen Schiffe, welches der Menschheit Geschicke durch aller Zeiten Ozeane trägt? -- Ich schreibe vielmehr, um etwas Licht zu verbreiten über Menschen und Dinge, die ich in jenen Bewegungsjahren genau kennen gelernt, um einen bescheidenen Beitrag zu liefern zur Geschichte des Werdens einer neuen Zeit, und damit auch die Legendenbildung, die schon in voller Thätigkeit ist, einigermaßen zu stören, wenn es auch unmöglich ist, sie ganz zu verhindern. So weit es sich machen ließ, habe ich für meine Darstellung die Form leichter Unterhaltung gewählt. Es schien mir diese Form dem Zwecke am besten zu entsprechen, den ich im Auge hatte. Ich habe in diesen Aufzeichnungen das nur berücksichtigt, was Beziehungen zum öffentlichen Leben, zu den Kulturzuständen der Zeit hat, von der ich spreche. Meine ausführliche Biographie zu geben, dazu fehlt mir die Berechtigung. +Basel+, im Januar 1898. B. Inhalt. Seite Vorwort v 1. Thronwechsel in Preußen 1 2. Vorschule des Lebens 8 3. Der Berliner Handwerkerverein. Das Rütli 21 4. Wanderschaft. Robert Blum in Leipzig. Reise nach Brüssel und Paris 33 5. Friedrich Engels. Der Kommunistenbund. Heinrich Heine 43 6. Reise in die Schweiz. Der Sonderbundskrieg. Karl Heinzen 54 7. Ein Winter in Brüssel. Karl Marx 67 8. 1848. Die Februarrevolution in Paris. Aufstandversuche in Brüssel. Frau Marx. Reise nach Paris 75 9. Ein Besuch in den Tuilerien 91 10. Die Deutschen in Paris. Georg Herwegh und der Freischarenzug nach dem badischen Oberland 100 11. Heimkehr nach Berlin. Die Berliner nach dem 18. März 114 12. Die Arbeiterpartei. Der Zeughaussturm 131 13. Praktische Sozialpolitik 143 14. Der erste deutsche Arbeiterkongreß. „Die Verbrüderung“ 162 15. In Leipzig. Bakunin 171 16. Erschießung Robert Blums in Wien. Steigende Aufregung in Deutschland 180 17. Reise nach Heidelberg und nach Köln 190 18. Nach Dresden gewählt. Kämpfe um die Reichsverfassung 201 19. Der Maiaufstand in Dresden. I 211 20. Der Maiaufstand in Dresden. II 219 21. Zug nach Freiberg. Richard Wagner 231 22. Flucht nach Böhmen 243 23. Erste Flüchtlingsjahre in der Schweiz. I 254 24. Erste Flüchtlingsjahre in der Schweiz. II 267 Nachwort 287 [Illustration] I. Thronwechsel in Preußen. Es war im Sommer 1840. Ich stand in der Vollkraft der Flegeljahre. Meine Eltern hatten mich aus dem Gymnasium genommen, weil sie schon für einen Sohn auf der Universität Sorge tragen mußten und es nicht fertig gebracht hätten, einen zweiten Sohn studieren zu lassen. Man hatte mich zu einem kinderlosen Oheim nach Löwenberg in Schlesien geschickt, der über meine Zukunft entscheiden sollte. Zum Kaufmann -- das war mein Oheim -- und er hatte schon einen anderen Neffen zu sich in die Lehre genommen -- schien ich nicht geeignet. Ich kümmerte mich viel zu sehr um brotlose Künste, und was noch schlimmer war, um öffentliche Dinge, d. h. um Dinge, die mich nichts angingen; ich las mit Eifer alle Zeitungen, die in meine Hände kamen, in wenigen Wochen hatte ich daheim in meiner Vaterstadt gar noch alle Romanschätze der Leihbibliothek -- es waren meist Räubergeschichten von Kramer und Spieß -- verschlungen, und wenn ich nun auf den grünen Wiesen meines Oheims die Zickelfelle bewachte, die dort zum Trocknen ausgelegt waren, um dann in eine Handschuhfabrik nach Grenoble gesandt zu werden, betraf man mich oft bei dem Absingen politischer Lieder, wie „Noch ist Polen nicht verloren“ oder gar der Marseillaise. Was sollte ich werden? Das war die ernste Frage, die meinen Oheim beschäftigte. Da wurde in einem Abendgespräch von einem dritten Neffen des braven Mannes gesprochen, der Schriftsetzer geworden und nach Paris gegangen war. Von ihm war ein Brief eingelaufen, den ich eben vorgelesen hatte. Ich könnte wohl auch Buchdrucker werden, ließ ich mich schüchtern vernehmen. -- Warte bis das Schützenfest vorüber ist, dann schicken wir dich nach Berlin. Dein dort studierender Bruder mag sich fürs erste nach einem Lehrherrn für dich umsehen. -- So lautete die Antwort meines gutherzigen Oheims. Ich war es zufrieden. Das bevorstehende Schützenfest hatte für ihn eine ganz besondere Bedeutung. Mein Oheim war in jenem Jahre Schützenkönig und sollte demnächst mit der im Orte seit alten Zeiten üblichen Feierlichkeit an der Spitze des prächtigen Zuges nach dem Festplatz geleitet werden. Als ich bei meiner Ankunft aus der Heimat zum erstenmale in den gewölbten Flur seines stattlichen Hauses getreten, war mir eine an der weißen Wand befestigte Schützenscheibe aufgefallen, mit ihren vielen Pflöcken, deren jeder das Loch verschloß, das die Kugel sich durch das Holz gebohrt hatte, und zugleich einen schmalen Zettel mit dem Namen des Bürgers festhielt, der den Schuß gethan. Genau im Centrum steckte ein Pflock mit dem Namen meines Oheims. Er hatte „den Punkt herausgeschossen“, wie der Volksausdruck die geschickte oder vom Zufall begünstigte That bezeichnete. Es war ein Glücksschuß gewesen und er erwies sich zugleich als die erwünschteste Unterbrechung schwerer, sorgenvoller Tage. Einige Wochen vorher hatte nämlich der so unversehens vom Schicksal zu großen Ehren ausersehene Schütze den ersten seiner drei Pflegebefohlenen, den er in sein stilles Haus aufgenommen, einen noch unbärtigen Jüngling, mit einer großen Fracht Kleesamen nach Hamburg gesandt. Der Junge sollte dort eine ziemlich beträchtliche Summe für die Ware in Empfang nehmen und heimbringen. Doch Tage um Tage vergingen und keiner brachte das geringste Lebenszeichen von ihm. Wie konnte er nur so hartnäckig schweigen? War er krank geworden? War er beraubt worden oder gar umgekommen? Mit dieser Sorge im Herzen ging mein trefflicher Oheim, als die Reihe an ihn kam, an den Stand und schoß -- zu seiner nicht geringen Verwunderung den Punkt aus der Scheibe. Es war ein Meisterschuß. Der Zeiger machte seine Luftsprünge vor dem Ziel, Pauken und Trompeten verkündeten das große Ereignis über den weiten Platz, die Dienstmädchen mit den Kindern verließen eilig die Buden, in welchen um den Gewinn von Pfefferkuchen gewürfelt wurde; alles umdrängte glückwünschend den Helden des Tages. Am Abend, da kein besserer, ja auch nur annähernd so guter Schuß gethan wurde, proklamierte man den bei der Bevölkerung sehr beliebten alten Herrn zum Schützenkönig und geleitete ihn nach allen hergebrachten Regeln und Formen in sein geräumiges Haus am Marktplatz, in dessen Vorhalle nun die Scheibe als eine auf spätere Geschlechter zu vererbende Trophäe aufgehängt wurde. An demselben Abend aber -- welch wunderbares Zusammentreffen! -- langte der ersehnte Neffe mit dem in Hamburg für den Kleesamen eingenommenen Gelde an. Er hatte die ihm übertragene Aufgabe pünktlich erfüllt; an die Ratsamkeit, von Zeit zu Zeit etwas von sich hören zu lassen, hatte er nicht gedacht. Die gehobene Stimmung, in welche dieser doppelte Glücksfall den neuen Schützenkönig versetzte, fand ihren glänzenden Ausdruck in der Fülle des Weines, der seinem Ehrengeleit gereicht wurde. Es war eine endlose Reihe leerer Flaschen, die am andern Morgen unter der eben aufgehängten Ruhmesscheibe sich befanden. In der guten Stadt am Bober, unweit der kriegsberühmten Katzbach, genoß man in jener Nacht eines festen Schlafes. Ohne jeden Stolz auf die bewiesene Geschicklichkeit, für die er die volle Ehrengebühr nur lächelnd auf seine Schultern nahm, hatte mein Oheim in letzter Zeit oft beim Abendgespräch jenes ereignisreichen Tages gedacht, denn es nahte der andere, wichtige Tag, wo er als Schützenkönig auf den Festplatz geleitet werden und sein glorreiches Amt in andere Hände niederlegen sollte. Für die Ausfüllung der großen Lücke im Weinkeller war gesorgt worden, die Tante hatte eine Anzahl Torten gebacken und backen lassen, sie waren unerläßlich für die würdige Ausfahrt des Schützenkönigs. Doch es sollte anders kommen, als man erwartet hatte. Am frühen Morgen stellten sich die Mitglieder der Schützengilde ein. Sie boten in ihren pomphaften Uniformen einen glänzenden Anblick dar, dessen komische Seite mir trotz der Bewunderung nicht entging, die ich für die wunderlich aufgeputzte, heroische Erscheinung eines meiner Vettern, eines schlichten Färbermeisters hegte, der bei dieser Gelegenheit mit dem vollen Bewußtsein seiner Mannesschönheit und seiner bis dahin freilich noch in Verborgenheit schlummernden kriegerischen Tugenden mir gewaltig imponierte. Die ganze Truppe trug grüne, rot eingefaßte Schwalbenschwänze, frisch gewaschene, weiße Beinkleider, auf dem Haupte einen Tschako mit himmelanstrebendem, steifem Federschmuck. Die Musik stimmte die pathetischsten Akkorde an, der gleich einem Bajazzo ausstaffierte Schuster Reimschüssel -- er war noch nüchtern, denn die Glocke hatte eben erst acht geschlagen -- schwenkte kunstvoll seine kurz geschäftete goldgestickte Fahne um Haupt und Glieder, und der Herr Bürgermeister, die Herren Stadträte und die ehrenwerten Offiziere der Gilde traten in das bekränzte Haus, begrüßten den Schützenkönig, der zwar keine Krone auf dem Haupte, doch eine schwere silberne Kette auf der Brust trug. Man schüttelte sich die Hände, man trank den von den weißgekleideten Nachbarstöchtern dargebotenen Wein und aß ein Stück Torte nach dem andern. Dann ordnete man sich in Reih’ und Glied, um an der Spitze des draußen aufgestellten Zuges den Marsch nach dem Schützenplatz zu beginnen. Da geschah etwas Unerhörtes. Eben war das Kommando zum Abmarsch erschollen, als ein Postbote eiligst über den Platz rannte, und hoch über seinem Haupte einen großen Brief haltend, diesen atemlos dem Bürgermeister überreichte. „Der König ist gestorben,“ ging plötzlich ein Gemurmel durch die Reihen. Und so war es in der That. Die Anzeige war eben eingetroffen, daß Seine Majestät Friedrich Wilhelm III. das Zeitliche gesegnet hatte. Das Schützenfest, erklärte nun das Stadtoberhaupt, ist bis auf weiteres verschoben. Die Reihen der Gilde lösten sich auf. Mein Oheim, der Schützenkönig, wurde von einigen Herren wieder in sein Haus zurückgeleitet. Die Herren waren so freundlich, noch ein Glas Wein anzunehmen, die Torten aber waren bis auf ein einziges Stück aufgegessen, und dieses eine Stück, das man niemand anzubieten wagte, bekam ich. [Illustration] II. Vorschule des Lebens. Noch vor der Abhaltung des so unversehens unterbrochenen Schützenfestes mußte ich meine Reise nach Berlin antreten. Auf preußischem Boden existierte noch keine Eisenbahn. Der schwer belastete Frachtwagen meines Oheims, der von zwei starken Pferden im Schritt nach der Hauptstadt gezogen wurde, brauchte mehrere Tage für den weiten Weg. Man hatte mir einen Sitz neben dem Platz des Kutschers zurecht gemacht, den dieser übrigens nicht benutzte, da er, der Überlieferung seines Berufes getreu, immer zu Fuß neben her ging, behaglich seinen Stummel rauchend, mit der Peitsche knallend, und bald singend, bald pfeifend mit den Pferden sich unterhielt. Man hatte mir für die lange Fahrt mancherlei Eßbares mitgegeben und auch etwas Geld in die Westentasche gesteckt. Ich kam fröhlicher Dinge bei meinem Bruder in Berlin an. Dieser war um mein leibliches wie um mein geistiges Wohl sehr besorgt und nur mit Rührung kann ich an die zwei oder drei Jahre fruchtbarer Anregungen, wenn auch zahlreicher Entbehrungen denken, die ich unter seiner liebevollen Führung verlebt habe. Er stand im dritten Jahre seiner medizinischen Studien und war ihnen mit Leib und Seele ergeben. Er hatte für mich eine Lehrlingsstelle gefunden und, was bei einem Studenten sich leicht erklärt, in einer Buchdruckerei, deren sich viele Doktoranden zum Druck ihrer Dissertation bedienten, wobei mir alsbald das bißchen Latein, das ich vom Gymnasium mitbrachte, recht zu statten kam. Bevor er mich in das Joch spannen ließ, gönnte er mir jedoch noch einige Tage, damit ich von der Reise mich ausruhen und mir Berlin ansehen könne. War ich einige Wochen vorher in der Provinz Zeuge der Ankündigung des Todes Friedrich Wilhelms III. gewesen, so hatte ich nun in der Hauptstadt Gelegenheit, der seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. dargebrachten Huldigungsfeier von der Straße aus, so weit dies einem grünen Jungen gestattet war, beizuwohnen. Mein Bruder blieb zu Hause. Er wollte wegen eines Monarchen, der schon seine Absicht angekündigt hatte, das absolute Regiment seines Vaters fortzusetzen, keine Stunde an der Arbeit verlieren, die in jenen Tagen seine ganze Zeit in Anspruch nahm. Im Jahre 1840 waren die deutschen Studenten noch sehr liberal, sie standen zum Volke und dieses brachte von vornherein dem König, der sich vielleicht für einen akademischen Lehrstuhl geeignet hätte, dem jedoch alle Regenteneigenschaften abgingen, keine Sympathien entgegen. Er galt für einen geistreichen Kopf, nicht aber für einen König; dazu fehlte ihm schon die äußere Erscheinung. Zu Pferde, namentlich, wenn er einen leichten Trab anschlug, nahm er sich recht schwerfällig aus. Seine Gestalt war nichts weniger als soldatisch. Dennoch interessierte er sich in hohem Grade für militärische Dinge. Die Reformen, die er bald nach seinem Regierungsantritt in der Bekleidung des Heeres veranlaßte, die Ersetzung des unförmlichen Tschakos durch den Helm, des Schwalbenschwanzes durch den Waffenrock, mußten allgemeinen Beifall finden; unter seiner Regierung erhielt die Infanterie auch das Zündnadelgewehr. Auf die Stimmung im Volke übten diese Neuerungen indessen kaum einen Einfluß. Nach langem gesicherten Frieden interessierte man sich blutwenig für militärische Dinge, die Unzufriedenheit über den Fortbestand der Zensur, über die Zurückweisung der allgemeinen Forderung, dem Lande eine Volksvertretung zu geben wuchs zusehends und durchdrang die weitesten Kreise, als die junge Lyrik mit Dingelstedt, Gottschall, Hofmann v. Fallersleben, Prutz, besonders mit Georg Herwegh einen in Deutschland ungewohnten politisch-revolutionären Ton anschlug. Die neuen Gedichte, obgleich verboten, wanderten von Hand zu Hand und erhitzten die Gemüter. Der geistreiche König konnte dagegen nichts thun. Sein Schwager, Zar Nikolaus, hatte andere Waffen gegen aufrührerische Poeten, er verschickte sie nach Sibirien. Friedrich Wilhelm IV., da er nichts Ernstes gegen den Liberalismus zu unternehmen vermochte, mußte ihm schrittweise nachgeben und das war sein Verhängnis. Persönlich von hoher litterarischer Bildung, konnte er anstandshalber es nicht verhindern, daß Berlin bald nach seinem Regierungsantritt ein liberales, litterarisches Centrum für Deutschland zu werden begann. Die oben genannten Poeten fanden sich sämtlich in seiner Hauptstadt ein, er ließ sich sogar durch den Professor Schönlein den gefeierten Sänger der „Gedichte eines Lebendigen“ vorstellen. Heine hat dieser Audienz in boshaften Versen gedacht, er sah hier den Marquis Posa vor dem König Philipp. Friedrich Wilhelm IV. hatte nun aber nichts von einem Philipp, er suchte den jungen Poeten durch ein paar schlechte Witze zu verblüffen; er werde, sagte der König boshaft, in Berlin so gute Spätzle nicht zu essen bekommen, wie in dem lieben Schwabenland. Als Herwegh in seinem jugendlichen Posaeifer nun doch von Königsberg aus sich vermaß, den König zu apostrophieren, ließ dieser ihn des Landes verweisen. Schillers Marquis Posa steckte noch stark in den Köpfen der damaligen Generation. Nicht viel später erlaubte sich der Verfasser der „Vier Fragen“ in einer Audienz Friedrich Wilhelm IV. zuzurufen: „Es ist der Fluch der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören können.“ Friedrich Wilhelm IV. nahm dies natürlich sehr übel. Im Jahre 1840 begann man in Berlin, wo bisher das Theater und vielleicht ein neuer Roman der Frau v. Paalzow oder der Gräfin Ida Hahn-Hahn die Kosten der Unterhaltung trug, mehr und mehr mit politischen Dingen sich zu beschäftigen. Am Tage der Huldigungsfeier bemerkte man davon noch wenig. Auf dem ungeheuren Platz zwischen Schloß und Museum war nur der vordere Teil stark besetzt, da standen in feierlichem Aufzug die Mitglieder der staatlichen und der städtischen Behörden, die Generalität, die Professoren der Universität, die richterlichen Kollegien, die Abordnungen aus den Provinzen u. s. w. Die Berliner Einwohnerschaft aber schien gar nicht neugierig, sie war nicht zahlreich vertreten, es blieb ein großer, leerer Raum von der prächtigen Granitschale inmitten des Lustgartens bis zum Museum. Ich sah unbehelligt dem sich abspielenden Vorgang aus ziemlicher Nähe zu; ich erkannte den König, als er auf dem Balkon erschien, ich verstand jedes Wort seiner Rede, in welcher er versprach, dem Wohle seines Volkes sein ganzes Leben zu widmen und mit der Versicherung schloß: „Das gelobe und schwöre ich!“ Der Volkswitz hatte schon in den nächsten Tagen dieses feierliche Gelöbnis in die Worte umgewandelt: „Dat jloob ick schwerlich,“ der König, der ja dem Witz nicht abhold war, lachte, als er dies erfuhr. Ich habe mir vorgenommen, meine persönlichen Erlebnisse nur so weit zu berühren als sie zu öffentlichen Dingen in Beziehung stehen oder doch einen Beitrag zu dem kulturhistorischen Bilde jener Zeit zu liefern vermögen. Dies ist der Fall mit meiner Lehrzeit als Schriftsetzer. Sie dauerte nicht weniger als fünf Jahre. So lernte ich früh einen wunden Fleck in den damals herrschenden sozialen Einrichtungen kennen und wurde ich unmittelbar zu kritischen Betrachtungen über dieselben veranlaßt. Die Kunst, Buchstaben an einander zu reihen, in Zeilen, Kolumnen und Platten zu schließen, zu korrigieren, abzulegen u. s. w. erlernt ein halbwegs intelligenter Knabe sicher in zwei Jahren. Giebt man dem Lehrherrn als Lohn für seinen Unterricht, den er in der Regel nicht selber übernimmt, noch ein Jahr drein, so wären es drei Dienstjahre, die der auszubildende Jüngling auf sich zu nehmen hätte. Einen jungen Menschen fünf Jahre an die Kette zu legen, um ihn während der letzten drei Jahre als fertigen Arbeiter für eine lächerlich geringe Entschädigung auszubeuten, war ein schreiender Mißbrauch, zu dem sich der andere gesellte, daß es im damaligen Berlin Buchdruckereien gab, die gar keine Gehülfen, sondern nur Lehrlinge hielten. Eine derselben hielt deren zwölf. Diejenige, in welcher ich die Ehre hatte, in die Geheimnisse der schwarzen Kunst eingeführt zu werden, hatte deren sechs. Nur ein einziges Mal hatte sie auf einige Monate mehrere Gehülfen am Setzkasten. Mit diesen geriet ich einmal in einen lebhaften Konflikt, als ich in meinem Idealismus mich weigerte, einem alten Trunkenbold Schnaps zu holen. Wenige Jahre später stand ich an der Spitze der Berliner Buchdrucker, um den Anstoß zur Aufhebung verschiedener Mißbräuche und einer fortschreitenden Verbesserung ihrer Lage zu geben. Den verderblichen Branntwein hat die allgemeine Kulturentwickelung mit der Hebung des Lebensstandes der Arbeiter in weiten Kreisen derselben durch das gesellige Bier ersetzt. Die Buchdruckereibesitzer -- es war die Minderzahl -- welche ihren Kollegen durch die billige Arbeit der Lehrlinge eine gewissenlose Konkurrenz machten, gingen übrigens nicht ganz straflos dabei aus. Denn von Zeit zu Zeit stellte sich Arbeitslosigkeit ein, ihren Lehrlingen aber hatten sie nichtsdestoweniger den kontraktlich festgesetzten Thaler wöchentlich auszuzahlen. Mit einem Thaler wöchentlich sollte ich meinen Unterhalt bestreiten? Wenn Ebbe in der Kasse eingetreten war, und das geschah häufig genug, wurde man Vegetarianer bis der Postbote die heißersehnte, aber aus leicht erklärlicher Rücksicht auf die Eltern, niemals geforderte Hilfe aus der Heimat brachte. Und was that mir alle Entbehrung? Es gab für mich in jenen Jahren so viele „Geistesfreuden.“ Für die Erweiterung meiner Kenntnis der zeitgenössischen Litteratur sorgte die große Leihbibliothek von Berends. Von meinem studierenden Bruder erhielt ich täglich fördernde Anregung. Er riet mir, in freien Stunden als Hospitant gewisse Vorlesungen an der Universität mit anzuhören, und das that ich mit religiösem Eifer. Mittags von 12 bis 2 war die Druckerei geschlossen, die nicht weit vom Universitätsgebäude und nicht weit vom Hause des Professors Magnus sich befand, in welchem dieser seine Vorlesungen hielt. Wozu brauchte ich zwei Stunden zu meinem Mittagessen? Eine genügte vollkommen, die andere widmete ich den Studien. So hörte ich zunächst bei Magnus Physik, bei Werder Psychologie, bei Ranke Geschichte. Auch eine Abendstunde von 6 bis 7 war für die Universität bestimmt. Und dazu kam das Theater, das königliche Schauspielhaus, zu dem Herr v. Sommerfeld mir seine Freikarten häufig abtrat. Herr v. Sommerfeld, ein ehemaliger Offizier, war Herausgeber einer wöchentlich erscheinenden Theaterzeitung, die bei uns gedruckt wurde, und deren Satz ich in der Regel besorgte. Wir wurden bekannt, weil ich mir hie und da erlaubte, seinen nicht selten sehr holperigen Stil einigermaßen zu glätten. Das nahm der gute Mann gar nicht übel, er wußte mir vielmehr Dank dafür, ja er übertrug mir einigemale eine mit Freuden aufgenommene Stellvertretung als Rezensent. Man frage mich nicht, was ich als solcher geleistet. Ich zeichnete nicht, meine Sünden gingen also auf Rechnung des Herrn v. Sommerfeld. Selbstverständlich ist es, daß ich, ein unerfahrener Jüngling, ebenso wenig wie er zu dem Amte eines Theaterkritikers berufen war. Das hatte nichts zu sagen. Unsere Theaterzeitung spielte in Berlin keine Rolle, sie schlief auch sehr bald ein. Aber ich hatte Blut geleckt, ich hatte mich gedruckt gesehen. Mein Bruder hatte im Jahre 1843 seine Studien vollendet und sein Staatsexamen ehrenvoll bestanden. Er ließ sich als Arzt in einer Provinzialstadt nieder, und ich mußte von nun an, immer noch Lehrling in einer kleinen Buchdruckerei, seiner geistigen Führung entbehren. Er empfahl mich der Fürsorge seines studentischen Umgangskreises, dem ich auch treu blieb, bis der letzte der Freunde sich seinen Doktorhut erworben und sein eigenes Heim sich geschaffen hatte. Eines jungen Mediziners, der später sich um die Einrichtung von Vereins- und Armenärzten in Berlin ein Verdienst erwarb, erinnere ich mich besonders, weil er nach meines Bruders Abreise meine schriftstellerischen Versuche mit wachsamem Auge verfolgte. So holte er mich an einem Sonntag zu einem längeren Spaziergang ab, um mit mir mein jüngstes Opus, das ihm zu Gesicht gekommen, ernsthaft zu besprechen. Dickens war damals der geschätzteste Erzähler, und so hatte ich, wahrscheinlich von diesem großen Meister angeregt, eine Novelle, meiner Meinung nach in des beliebten Engländers Weise, verbrochen. Ich weiß von meiner Schöpfung nur noch, daß die Handlung dem Berliner Volksleben entnommen war. Sonderbarerweise hatte sie in einer Zeitschrift Aufnahme gefunden, deren Herausgeber, ein ~Dr.~ Julius Lasker, vielleicht ein Verwandter des späteren Abgeordneten dieses Namens, sie für würdig der Ehre des Drucks erachtete. Diese Zeitschrift, wenn ich nicht irre, hieß „Der Freimüthige“. Die Kritik meines Freundes richtete sich nun hauptsächlich gegen meine offenbare Unkenntnis des wirklichen Lebens; er machte mich darauf aufmerksam, daß die paar Leute, mit denen ich in den wenigen freien Stunden, über die ich verfügte, freundschaftlich verkehrte, mir vom Berliner Volksleben auch nicht die geringste Anschauung gaben und daß man wohl merke, daß ich meine ganze Weisheit nur aus meiner Lektüre geschöpft hatte. Das sah ich sofort ein und so zog ich aus dieser Unterhaltung mit einem wohlmeinenden Kritiker eine nützliche Belehrung. Von dem Inhalt meiner ersten und einzigen „Novelle“ weiß ich nichts mehr, nicht einmal ihres Titels erinnere ich mich. Ich habe nichts aufgehoben, nichts gesammelt von den jugendlichen Erzeugnissen meiner Feder, auch nicht eine Broschüre, die ich gegen das Ende meiner Lehrzeit geschrieben und die einen Zipfel der sozialen Frage lüftete. Ich hatte das Manuskript an Otto Wigand in Leipzig geschickt, der damals, zu Beginn der politischen Bewegung, eine große Anzahl Broschüren verlegte und mich nach wenigen Tagen mit einem gedruckten Exemplar meiner Arbeit überraschte. Auch von diesem Opus weiß ich nichts Näheres anzugeben. Daß es von einem Handwerker sei, sagte der Titel. Ich habe es seit dem Jahre seines Erscheinens nicht wieder gesehen. Daß es nicht Eitelkeit war, die mich zu schriftstellerischer Produktion antrieb, möchte ich aus dem Umstande schließen, daß ich mich als Autor nicht nannte, daß ich gar keinen Wert auf die Erhaltung jener auffallenderweise ohne alle Schwierigkeit untergebrachten Dokumente aus meinem Jugendleben legte. Es war wohl wesentlich der Drang nach Bethätigung der wogenden Jugendkraft, der mich zur Feder greifen ließ; eine gewisse bestechende Frische und Wärme der Darstellung mochte wohl die rasche Annahme der von mir angebotenen Arbeiten und ihre Drucklegung erklären. Die von Otto Wigand gedruckte Broschüre brachte mir das erste Honorar ein, ein wichtiges Ereignis im Leben eines jungen Mannes. Mit jener Broschüre, deren Titel ich nicht einmal angeben kann, betrat ich zum erstenmale das Gebiet der sozialen Frage, damit aber auch das Gebiet einer ruhelosen Thätigkeit, die mich die nächsten Jahre beschäftigte, mir die Mitwirkung an dem Werden einer großen sozial-politischen Partei gestattete, meinen Namen in den Jahren 1848 und 1849 an die Oberfläche des öffentlichen Lebens brachte, mich ins Exil führte und mir schließlich nach langer Verschollenheit, aus der ich nicht hervortrat, zu diesen „Erinnerungen“ die Veranlassung gab. Lorenz von Steins Buch -- „der Sozialismus und Kommunismus in Frankreich“, auch dasjenige von Friedrich Engels über „die Lage der arbeitenden Klassen in England“ mochten mir den Anstoß zur Verfolgung dieser Richtung gegeben haben. [Illustration] [Illustration] III. Der Berliner Handwerkerverein. Das Rütli. Friedrich Wilhelm IV. wollte das absolutistische Regiment, das er von seinem Vater geerbt hatte, nicht aufgeben. Er glaubte im Geiste des wohlwollenden Despotismus des achtzehnten Jahrhunderts regieren zu können. Dem von allen Seiten bis an seinen Thron dringenden Ruf nach einer Verfassung schenkte er kein Gehör. Kein Blatt Papier, so erklärte er, solle sich zwischen ihn und sein Volk drängen. Wollte er bei dieser Politik Herr der Situation bleiben, so mußte er seinen Standpunkt auf das energischste verteidigen, unerbittlich jede liberale Regung verfolgen. Dazu aber besaß er nicht Charakter genug. Der Revolution wäre seine Regierung in keinem Falle entgangen, doch wäre er männlich ihr erlegen. Dies sollte nicht sein. Er suchte dem kommenden Sturm auszuweichen, indem er zu halben Maßregeln griff, und so stärkte er die öffentliche Meinung in ihren weitest gehenden Forderungen. Er bewilligte Büchern von mindestens zwanzig Bogen Umfang die Censurfreiheit und erreichte damit nur, daß der Ruf nach vollständiger Abschaffung der Censur nur um so lauter ertönte. Er bewilligte statt der verlangten Volksvertretung mit beschließender Stimme provinzielle Vertretungen mit beratender Stimme; er mußte nachträglich einen Schritt weiter thun und aus den Provinzial-Landtagen den sogenannten vereinigten Landtag hervorgehen lassen. Lauter halbe Zugeständnisse, für die er statt Dankes nur immer heftigere Angriffe und Erbitterung erntete. Die theologische Richtung, der er huldigte, die theologisierende Diplomatie und Generalität, von der er umgeben war, machte ihn vollends in hohem Grade unpopulär. Es wehte ein pietistischer Wind bei Hofe und ermutigte die protestantischen Synodalbehörden zu strengerer Ausübung der ihnen zustehenden Disziplinargewalt. Damit wurde Öl ins Feuer gegossen. Bei alledem wurde, weil man nicht für bildungsfeindlich gelten wollte, in vollständiger Verkennung aller Verhältnisse die Eröffnung von Arbeiter-Bildungsvereinen gestattet, die natürlich zu Sammelpunkten für alle Nüancen des damaligen Liberalismus sich gestalteten. Der Berliner Handwerkerverein in der Sophienstraße, der im Jahre 1843 gegründet wurde, war eine Bildungsstätte für heranwachsende Revolutionäre, nicht bloß des Arbeiterstandes, sondern aller Berliner Gesellschaftskreise. So wie ich im Sommer des Jahres 1845, zwanzigjährig, von meiner fünfjährigen Knechtschaft losgesprochen wurde, trat ich in den Handwerkerverein ein und während anderthalb Jahren war ich nun eines seiner rührigsten Mitglieder. In dem Vereine wurden belehrende Vorträge gehalten. Die Beantwortung der eingelaufenen Fragen gab zu Diskussionsübungen Gelegenheit. Der Verein hatte seinen Männerchor, sogar einen Kreis junger Poeten aus dem Handwerkerstande. Mein erstes Auftreten mit einem Liede „der Bettelmann“, zu dessen sentimentaler Melodie ich den Text gedichtet hatte, war, wie alles, was der politischen Stimmung der Zeit Ausdruck gab, von ungeheurem Erfolg. Der vor der Pforte des Palastes singende Bettelmann war das Volk, dem in der letzten Strophe zugerufen wurde, um die Freiheit dürfe man nicht betteln, man müsse sie sich erkämpfen. Das Gedicht war recht gering, seine Wirkung aus dem angegebenen Grunde trotzdem sehr groß. Etwas besser, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, waren die Verse, mit denen ich einige Monate später Berthold Auerbach im Handwerkerverein begrüßte. Dem Bettelmann wäre damals in keinem Falle vom Censor das „~imprimatur~“ erteilt worden, der Gruß an Berthold Auerbach erschien Ende 1845 in den poetischen Jahresheften des Handwerkervereins. Er ist nicht in meinem Besitz. Der Dichter der „Schwarzwälder Dorfgeschichten“, dem ich zwanzig Jahre später im Bade Tarasp begegnete, erinnerte sich noch wohl des Huldigungsabends, der ihm im Handwerkerverein bereitet worden war, als höflicher Mann natürlich auch meiner poetischen Ansprache. Begründer und Präsident des Vereins war damals ein städtischer höherer Beamter, ein wohlwollender Mann, gemäßigter Liberaler, der sein Hauptaugenmerk darauf richtete, daß der politisch oppositionelle Geist, der unter uns herrschte, nicht in zu hellen Flammen aufschlug und die Regierung zum Einschreiten veranlaßte. Die eigentliche Seele des Handwerkervereins aber war Julius Berends, ein junger Theologe, der nach seinem ersten Auftreten auf der Kanzel wegen seiner bei den geistlichen Vorgesetzten mißliebig aufgenommenen Betrachtungen über die Bergpredigt kalt gestellt worden war und nun mit seinem Freunde Krause eine kleine Buchdruckerei betrieb, in welcher er selbst am Preßbengel stand. Diese Association war nicht von langer Dauer. Krause druckte vom Jahre 1848 an die damals entstandene „Nationalzeitung“, welcher Schöpfung mehrere Mitglieder des Handwerkervereins, wie Ehrenreich Eichholz, Hermann Lessing und der Assessor Volkmar nahe standen. Die Redaktion übernahm ~Dr.~ Zabel, den ich als Oberrevisor mancher von mir gesetzten Doktordissertation kennen gelernt, die er auf Anordnung der Universität auf die Korrektheit ihres Lateins zu prüfen und eventuell zu korrigieren hatte, ein Liebesdienst, der von den Studenten nicht, wie er es verdiente, dankbar aufgenommen wurde; denn die armen Jungen hatten dafür zwei Thaler für den Druckbogen zu entrichten. Herr Zabel aber erwies sich an der „Nationalzeitung“ als ein eben so gewandter Redakteur wie er in seiner früheren Stellung ein tüchtiger Lateiner gewesen war. Durch Berends wurde ich in die damaligen litterarischen Berliner Kreise eingeführt. In der Hinterstube eines Cafés am Gendarmenmarkt machte ich die Bekanntschaft Hoffmanns von Fallersleben, des unverwüstlichen Liedersängers; in einem Restaurant an der Spittelbrücke wurde ich in das „Rütli“ aufgenommen, das eine Anzahl junger Poeten, Journalisten und Künstler in geselligem Verein zusammenfaßte. Da kamen Titus Ulrich, ein Epigone der Weltschmerzdichtung, Ernst Dohm und Rudolph Löwenstein, einige Jahre später Redakteure des „Kladderadatsch“, der Komponist Truhn, der Bildhauer Tod, der Karikaturenzeichner Scholz, der lange Saß und verschiedene andere zusammen, deren Namen mir nicht mehr gegenwärtig sind, weil sie im Strom der bald eingetretenen politischen Bewegung versanken und dann nicht mehr ans Tageslicht gelangten. Es ist überhaupt auffallend, wie gering die Zahl derjenigen war, die, obgleich sie vor 1848 als Führer der litterarischen Opposition die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten und als kommende Männer angesehen wurden, im Revolutionsjahre sich in irgend welcher Weise hervorthaten. Ich erinnere an Bruno Bauer, an Max Stirner und den Kreis lärmender Persönlichkeiten in ihrer Umgebung, die durch ihren offenen Umgang mit emanzipierten Weibern die Blicke auf sich zogen. Nur Edgar Bauer sah man noch in den ersten Monaten des Revolutionsjahres. Er suchte den enthusiastischen Jüngling Schlöffel an sich heranzuziehen, der berufen schien, einst einen Camille Desmoulins zu spielen, sein junges Leben aber bald im Großherzogtum Baden im ersten Gefecht der Aufständischen gegen die preußischen Truppen verlor. Jener Edgar Bauer gab zu Anfang der vierziger Jahre gemeinsam mit dem Elsässer Alexander Weill, der damals Berlin besucht hatte, einen Band Novellen heraus. Sie wurden bei meinem Lehrherrn gedruckt, deshalb hatte ich Bauer einigemal die Korrektur zu bringen. Schon beim Eintritt in sein Zimmer wurde ich durch die obszönen Lithographien verblüfft, die er an die Wand geklebt hatte; auch die Unterhaltung, die er mit mir während des Lesens der Korrektur begann, hatte einen widerwärtigen Charakter. Ich faßte von da ab eine unüberwindliche Antipathie gegen den Menschen, der denn auch, wie ich nachher erfahren, in einem Sumpf versunken ist. Aber auch die Männer im Handwerkerverein, welche berufen schienen, beim Eintritt einer Umwälzung auf der politischen Bühne eine Rolle zu spielen, gelangten zu dieser Ehre nicht. Berends, der wohl mit Glanz in die Nationalversammlung gewählt wurde, blieb ohne Einfluß und fast unbeachtet als parlamentarischer Volksvertreter. Alle diese freisinnigen Vereinsredner, die so großes Verdienst um die Vorbereitung der Ereignisse von 1848 sich erworben hatten, waren eben doch nur Gefühlspolitiker, zur Lösung praktischer Aufgaben fehlte ihnen die Vorschule und der politische Blick. Runge allein machte unter ihnen eine Ausnahme, er war später ein vorzüglicher Verwalter der Finanzen der Stadt Berlin. Unter den Arbeitern, die zu den Zierden des Handwerkervereins gehörten, ist mein unvergeßlicher Freund, der Goldschmied Bisky als erster zu nennen. Wir schlossen uns eng zusammen. Er war nur wenige Jahre älter als ich, auch ein Stück Poet, seine Freiheitslieder wurden wegen ihres markigen Tons gern gehört und im Album des Handwerkervereins abgedruckt. Er war eine schöne, männliche Erscheinung, mehr als dies: ein goldner Charakter, ein ganzer Mann. In den Verein kam auch ein später in einen politischen Prozeß verwickelter junger Kaufmann Neo mit seinen geistvollen Schwestern, wie denn Frauen und Mädchen an den Vortrags- und Vergnügungsabenden reich vertreten waren. Da wurde manche Blume umflattert, die infolge der nun kommenden politischen Ereignisse einsam verblühen sollte. In dem Berliner Handwerkerverein atmete man in jenen Tagen den Lebensodem einer für Deutschland nahenden neuen Geschichtsepoche. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, nach den Kriegen gegen Napoleon, trat eine Wandlung im öffentlichen Geiste ein. Die besten Männer der Nation erstrebten eine stärkere Einheit als sie der deutsche Bundestag darbot, eine Volksvertretung und die Verantwortlichkeit der Regierungen in den bisher absolutistisch beherrschten Ländern. War es damals die studierende Jugend, welche in vorderster Reihe in der freiheitlichen Bewegung stand, so wurde sie im Jahre 1848 durch die vorwärts drängende Jugend der arbeitenden Klassen in die zweite Reihe gedrängt, um teilweise ihren Standesinteressen sich gefangen zu geben und in deren Dienste die Reaktion zu unterstützen. Als charakteristisches Merkmal des Jahres 1848 ist für Deutschland der Eintritt der arbeitenden Klassen in die politische Welt zu betrachten. Das wurde anfangs von dem für Erlangung der Bundeseinheit und eines modernen Verfassungslebens eintretenden bürgerlichen Ständen nicht klar erkannt, es kam diesen erst nach und nach zu vollem Bewußtsein, nachdem aus den anscheinend harmlosen Arbeiter-Bildungsvereinen eigentliche Arbeitervereine hervorgegangen waren, die als ihre Aufgabe die Verteidigung spezieller Arbeiterinteressen darlegten. Diese Interessen gelangten in den neu gebildeten Vereinen nicht von vornherein zu vollem Verständnis der Beteiligten. Eine von der Wissenschaft längst überholte Zunftmeierei, verführte noch viele junge Köpfe zu Forderungen, die sich in den meist sehr der Zeit vorauseilenden sozial-politischen Programmen sonderbar genug ausnahmen. Doch genügten wenige Jahre zur Klärung der Geister, es entstand die sozialdemokratische Arbeiterpartei. Dieser Entwicklungsgang konnte schon in den Jahren 1845 und 1846 in dem Berliner Handwerkerverein von schärferen Beobachtern vorausgesehen werden. Von Paris in die deutsche Heimat zurückkehrende, wandernde Handwerksburschen, wurden die Apostel einer neuen, der sozialistischen Lehre. Der Handwerkerverein konnte ihnen nicht verschlossen werden. Vorsichtig tastend, suchte ein solcher Sendling, namens Mäntel, Mitglieder für seine geheime Verbindung anzuwerben. Man warnte vor ihm, man hielt ihn für einen Lockspitzel. Damit that man ihm unrecht. Er wandte sich namentlich an die jüngeren, nicht viel über zwanzig Jahre zählenden Vereinsmitglieder. Durch den Schuhmacher Hetzel, einen unruhigen Kopf, den er gewonnen hatte, wurde ich in seine Geheimnisse eingeweiht. Er gehörte nicht der Richtung des in der Schweiz aufgetretenen Schneiders Weitling an, welcher in verschiedenen Schriften die Grundlinien zu einem ihm vorschwebenden utopistischen Gleichheitsstaat gezeichnet hatte, der mir als ein pures Luftgebilde durchaus nicht imponierte; er sprach vielmehr von einer geheimen Arbeiterverbindung, welche auf dem Boden der zunächst zu erlangenden politischen Freiheit die Befreiung des Proletariats von den Fesseln des Kapitalismus sich zur Aufgabe gestellt habe. Ich fühlte aus dem, was Mäntel ziemlich verworren darlegte, den Grundgedanken heraus, daß er die Ansicht vertrat, der historische Werdegang einer sich ankündenden neuen Zeit solle im Auge behalten werden, es handle sich nicht um einen aus dem Haupte eines Schneidergesellen, wie Weitling hervorgegangenen neuen Staat, sondern um die Unterstützung einer aus den gegebenen Verhältnissen mit historischer Notwendigkeit entstehenden Partei, welche in ihrer Weltanschauung den Alltags-Liberalismus nur als eine zu überwindende Zwischenstufe ansah und ihn theoretisch überholt hatte. Dies leuchtete mir vollkommen ein. Ich hörte Mäntel ruhig an, ohne mich des Weiteren ihm gegenüber zu etwas anderem als zur Diskretion, zu verpflichten, woraus sich die Thatsache erklärt, daß ich selbst meinem Freunde Bisky von dem Gehörten keine Mitteilung machte. Schon seit einiger Zeit trug ich mich mit dem Gedanken, mir die Welt anzusehen: Ich hatte eine unwiderstehliche Sehnsucht, Paris kennen zu lernen. Schon seit Monaten hatte ich mir von meinem wöchentlichen Verdienst etwas für die Reise zurückgelegt. Meine zwei älteren Brüder, der älteste hatte sich bald nach der Abreise des zweiten, der als Arzt in die Provinz gegangen war, in Berlin niedergelassen, trugen das Ihre zu den Kosten der Reise bei und so durfte ich mich auf den Weg machen. [Illustration] [Illustration] IV. Wanderschaft. Robert Blum in Leipzig. Reise nach Brüssel und Paris. Ich war frohen Mutes. Die Freunde im Rütli hatten mir einige Empfehlungen mitgegeben, unter anderen eine solche an Friedrich Engels in Paris. Der Sängerchor des Handwerkervereins hatte mir am Abend vorher ein Abschiedsständchen gebracht. Wie konnte es mir nun anders als gut gehen? Und es ging nicht schlecht. War ich doch kein verwöhntes Muttersöhnchen. Das damals noch neue Lied „Was braucht man Vieles, um glücklich zu sein“? war mein Leiblied geworden; ich stand ohne jede Anstrengung auf der Höhe der Lebensweisheit seines Verfassers. Das will sagen, daß ich das Leben in keiner Weise kannte und das, was ich als Weisheit ansah, nur die Unerfahrenheit eines eben aus dem Neste fliegenden jungen Zeisigs war. Nur eine wertvolle Eigenschaft war mir für die angetretene Fahrt von der gütigen Natur mitgegeben: die Lust und die Kunst zu lernen. Diese habe ich bis in mein hohes Alter nicht eingebüßt. Nach Leipzig, wo ich zuerst Rast machte, war mir eine Empfehlung an Robert Blum mitgegeben worden, der sich in weitern Kreisen durch seine politischen Reden bekannt gemacht, auch nach außen hin als Präsident eines sogenannten Redevereins viele Beziehungen angeknüpft hatte und allgemeiner Verehrung sich erfreute. Ich würde ihn abends an der Theaterkasse finden, hatte man mir gesagt. Robert Blum war Kassierer am Leipziger Stadttheater. Er nahm meine Empfehlung freundlich auf, musterte mit wohlwollendem Blick meine jugendliche Gestalt, erkundigte sich nach seinen Berliner Freunden und lud mich ein, mir das Stück anzusehen, das eben gegeben werden sollte. Von dem Stück weiß ich nichts mehr, doch ist mir das joviale Gesicht des Theaterkassierers, aus dessen hellen Augen männliche Energie leuchtete, nicht mehr aus der Erinnerung verschwunden. Wenige Jahre später, und der tapfere deutsche Volksmann fiel als Märtyrer des ersten Freiheitstraumes, den er mitgeträumt. Ich habe seine Witwe in Wabern bei Bern gekannt und sein Söhnchen Hans Blum hat damals auf meinen Knieen sich geschaukelt. Von meinen nächsten Stationen nenne ich Brüssel. Ich war in einem kleinen, von einem Deutschen geführten Gasthof eingekehrt. Meine Finanzen waren sehr auf die Neige gegangen und ich fragte den Wirt nach dem Preise der Fahrt nach Paris. Die Eisenbahn nach der französischen Hauptstadt war eben eröffnet worden. Er sagte mir, daß die Messagerie bei herabgesetzten Preisen noch bis zum Jahresschluß ihre Fahrten fortsetzen werde; wenn ich einen Platz auf der Imperiale, neben dem Kondukteur nähme, so käme ich noch billiger nach Paris als mit einem Billet dritter Klasse der Eisenbahn. Ich überzählte meine Reichtümer. Wenn ich bescheiden haushielt, so langte es. Wäre ich in Brüssel geblieben, so hätte ich sicher in der Stadt der Nachdrucker Beschäftigung gefunden und mir die Kosten einer Reise nach Paris leicht erarbeiten können. Doch das Verlangen, die berühmteste Stadt des modernen Europa zu erreichen, hatte sich bei mir bis zur Leidenschaft gesteigert. Ich wollte nicht bleiben. Leider war jedoch die Rechnung des biedern Landsmannes etwas größer ausgefallen, als ich erwartet hatte, und als ich mit verlegenem Gesicht mich doch anschickte, die Reise anzutreten, da trat der Sohn des edlen Vaters an mich heran und fragte mich, ob er mir nicht meinen kleinen Koffer tragen dürfe. Es war ein Junge von etwa dreizehn Jahren, ich nahm sein Anerbieten, das ich als den Ausfluß eines gutmütigen Herzens ansah, dankbar an. Der dienstfertige Junge forderte aber, als wir am Ziel angelangt waren, mit so großem Geschrei einen Franken Trägerlohn, daß ich, um keinen Skandal zu erregen, ihm die für mich in diesem Augenblick sehr kostbare Summe einhändigte. Es blieb mir noch ein Frank für die Reise von Brüssel bis Paris in der Tasche. Gegessen hatte ich zum Glück. An der Grenze gab es einen kleinen Halt. Ich hatte nichts Verzollbares. Ich opferte hier die Hälfte meines noch vorhandenen Geldes, also einen halben Franken für ein Glas warme Milch und ein Stück Brot. Das stärkte mich für die Weiterreise. „Was braucht man Vieles, um glücklich zu sein?“ Es war mitten im Winter und grimmig kalt. Der Kondukteur an meiner Seite hüllte sich in einen großen Schafpelz, ich existierte nicht für ihn. Er hätte mir wohl eine der Pferdedecken anbieten dürfen, die in seiner Nähe unter der Plane lagen; er dachte nicht daran, und ich bat ihn nicht darum, weil ich ihm schließlich ein Trinkgeld hätte geben müssen. So kam ich halb erfroren und mit 50 Centimes in der Tasche in dem ersehnten Paris an. Von Mäntel war mir ein Haus angegeben worden, in dem man mich gut aufnehmen werde: ~Rue du Temple No. 47.~ Ich nahm meinen kleinen Koffer und fragte mich bis zur ~Rue du Temple No. 47~ durch. In einer Viertelstunde war ich am Ziel. Der Portier erklärte mir, ich sei wohl nicht am rechten Ort, es sei hier kein Gasthaus. Ich war bei diesen Worten gewiß sehr erschrocken, denn der Portier, nachdem ich ihm den Namen dessen genannt, zu dem ich zu gehen gedachte, sagte mir tröstend, es sei vielleicht ~Rue vieille du Temple~, wo dieser wohne. Auch dort, wohin ich mich hoffnungsreich begab, wohnte der Mann nicht, den ich suchte. Man nannte mir ~Rue neuve du Temple~, und als ich herzklopfend, weil der Gesuchte wiederum sich nicht dort befand, nach einer andern Straße fragte, die etwa auf das Wort ~Temple~ ausging, schickte man mich ins ~Faubourg du Temple~ und schließlich, da auch dort das richtige Haus nicht war, nach dem ~Boulevard du Temple~. Da war ich endlich, nach zweistündigem, ängstlichem Suchen, erschöpft vor Müdigkeit und Hunger, im rettenden Hafen angelangt. Vertraute deutsche Laute drangen mir entgegen, man gab mir zu essen und zu trinken und wies mir ein kleines Zimmer an. An seinem Geburtstag, deshalb weiß ich noch das Datum, dem 28. Dezember 1846 landete der nun Zweiundzwanzigjährige in Paris, reich an Hoffnungen und -- einen halben Franken in der Tasche. Der angebliche Gesinnungsgenosse, an den ich von Berlin aus gewiesen war, ein gewisser Heidecker, der dies gleiche kleine ~Hôtel garni~ bewohnte, war nicht zu Hause. Als ich mich ein wenig erholt hatte, führte man mich noch in derselben Nacht zu ihm in ein Wirtshaus nahe dem ~Père la Chaise~, wo ich in einen deutschen Gesangverein trat und als ersten Lohn für meine Reiseausdauer meinen unerfahrenen Geist mit der wichtigen Entdeckung bereicherte, daß man in Paris auch den Wein aus Wassergläsern trinke. Man sang, trank und politisierte, die sozialistische Note beherrschte die Unterhaltung. Auf dem Heimwege und in den nächsten Tagen wurde es mir immer klarer, daß schon in diesem engeren Kreise meiner Landsleute, worüber niemand sich allzusehr verwundern wird, eine große Einigkeit nicht herrschte. Störenfried war wie immer die Eitelkeit, der Ehrgeiz. Es fehlt niemals an Individuen, die es nicht erwarten können, bis sie kraft ihrer besonderen Fähigkeiten an die Spitze einer Vereinigung gelangen; gelingt ihnen das nicht so rasch, wie sie es wünschen, so säen sie Zwiespalt, sammeln ihre Anhänger zu einem Sonderbund, und aus einem Vereine werden zwei. Das geschieht häufig unter den deutschen Arbeitern im Auslande. Heidecker, wie es sich bald herausstellte, war seit kurzem einer sozialistischen Gruppe beigetreten, die sich unter Karl Grün gebildet hatte, und Karl Grün, der Übersetzer Proudhons, machte lebhafte Propaganda für dessen Evangelium, an dessen Spitze zwar die Worte standen: „~La propriété c’est le vol~,“ das jedoch der neu aufkommenden Marxischen Schule und den Programmen aller anderen kommunistischen Vereine den Krieg erklärte. Konnte Proudhon sich auf seine umfassenden nationalökonomischen Studien stützen, so stand seinem Übersetzer nur die Schablone Hegel’scher Dialektik zu Gebote. Karl Grün war, was ich bei unserer ersten Zusammenkunft sogleich bemerkte, eher ein Ästhetiker von der Sorte, welche Goethe mit den Worten gekennzeichnet: „Legt ihr nichts aus, so legt ihr doch was unter“. Er hat ein ungenießbares Buch über Schiller geschrieben. Er war ein „Belletrist“, um mich eines zu jener Zeit gebräuchlichen Ausdrucks zu bedienen, im übrigen ein liebenswürdiger Mann -- in keinem Falle ein Nationalökonom. So machte er denn keinen rechten Eindruck auf einen jungen Menschen, der wie ich, nach Aufklärung über die Probleme des Tages strebte, der die Wassersuppe der damaligen phrasenhaften Ästhetik entschieden verschmähte. Heidecker hatte mich zu ihm geführt. Es kam nun zwischen uns beiden bald zu einem Bruch. Ich verließ das ~Hôtel garni~ auf dem ~Boulevard du Temple~, nahm Wohnung in einem andern Stadtteil, so daß ich nicht allzuweit von dem Atelier war, in dem ich durch einen glücklichen Zufall bald Beschäftigung gefunden hatte. Von der Berührung mit Friedrich Engels hatten mich die Grünianer fern halten wollen. Ich machte ihn in wenigen Tagen ausfindig, schloß mich ihm mit jugendlichem Eifer an, und wir wurden eng befreundet. Darüber im nächsten Kapitel. Hier noch ein Wort über meine typographische Thätigkeit in Paris. Meine Aufgabe war, in einem für den Druck der neu gegründeten Nordbahn und Paris-Lyon-Mittelmeerbahn die einzelnen Teile der Aktien zusammenzusetzen und dann während des Druckes, von einer der zehn Handpressen zur andern gehend, die Nummern zu ändern. Das Atelier war in einem Nebengebäude eines dem Hause Rothschild gehörenden Palastes in der ~Rue Lafitte~ eingerichtet worden, Druckherr war -- der homöopathische Arzt der Frau Baronin Rothschild, dem man auf diese Weise einen hübschen Nebenverdienst zukommen ließ. Er hatte mit der Straßburger Buchdrucker-Firma Silbermann einen Vertrag abgeschlossen, die das Nötige besorgte. Er erschien von Zeit zu Zeit auf einige Minuten im Atelier, ~pour faire acte de présence~, grüßte und entfernte sich lächelnd. Die Arbeit ging bei dem damaligen Stande der Buchdrucker-Technik langsam genug von statten, und um so langsamer, als es hie und da dem Verwaltungsrat der beiden Bahnen, d. h. Herrn von Rothschild gefiel, ganze Partieen der fertig gewordenen Aktien, weil deren Farbe nicht zusagte, einstampfen zu lassen und sie durch neue Exemplare in anderer Farbe zu ersetzen. Daß der junge Sozialist zu der Verschwendung des assoziierten Großkapitals, deren Zeuge er war, seine stillen Glossen machte, daß er schon damals an das manchesterliche Dogma nicht glauben wollte, die Privatgesellschaften arbeiteten billiger als der Staat, braucht wohl kaum gesagt zu werden. Die Verschwendung mit dem Gelde der Aktionäre, welche von den französischen Finanz-Mächten beim Bau der ihnen vom Staat überlassenen Eisenbahnen geübt wurde, machte sehr bald einer kleinlichen Sparsamkeit Platz, da die Inhaber der Aktien deren Kurs durch Erteilung möglichst hoher Dividenden zu heben suchten. Man muß bekanntlich in Frankreich Billets erster Klasse nehmen, will man dort nur die Bequemlichkeit der Reise genießen, die in Deutschland und der Schweiz in den Wagen zweiter Klasse geboten wird. [Illustration] [Illustration] V. Friedrich Engels. Der Kommunistenbund. Heinrich Heine. Friedrich Engels war in Paris vom Januar bis zum Herbst des Jahres 1847 mein einziger Umgang. Wir brachten die Abende fast ausschließlich zusammen zu und am Sonntag machten wir häufig gemeinsame Ausflüge in die Umgegend der französischen Hauptstadt. Er war um fünf Jahre älter als ich und nahm mich gewissermaßen in die Lehre. Ich hatte schon in Berlin sein Buch über die Lage der arbeitenden Klassen in England gelesen. Das bot Unterhaltungsstoff dar, er entwickelte vor mir die Grundzüge der Nationalökonomie, ich hörte ihn gern sprechen, ich war ein leicht fassender Schüler. Er führte mich in den Kommunistenbund ein. Engels und Marx glaubten an den Kommunismus. Bis zu den letzten Konsequenzen ihrer Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung vorgehend, sahen sie bei der zu erwartenden Aufhebung des Einzelbesitzes, der ihnen die Quelle aller Ungerechtigkeit auf Erden war, den Gesamtbesitz als die unausweichliche Folgerung ihrer Geschichtsauffassung und ihres daraus entstandenen sozialen Systems an. Ob die anderen Mitglieder des Kommunistenbundes an die Möglichkeit des Kommunismus glaubten? Die Frage klingt sonderbar genug, ich kann sie doch nicht bejahen, obgleich ich selber noch vor Ablauf eines Jahres den Kommunismus, wie wir später sehen werden, in einer von mir verfaßten Broschüre gegen einen seiner Angreifer verteidigte. Was einen jungen Menschen meiner Natur für die Marx-Engels’sche Lehre zunächst einnahm, das war der wissenschaftliche Grund und Boden von dem sie ausgeht. Sie erkennt das historisch Gewordene als das Notwendige an, kennzeichnet in einleuchtender Weise die verschiedenen Produktionsformen, welche einander in der Kulturentwicklung der Menschheit ablösen und nach gewissen Zeitabschnitten immer weiteren Kreisen die Bahn zur Freiheit und materiellen Unabhängigkeit öffnen; sie weist darauf hin, wie in unserer Zeit die herrschende Produktionsform, die der freien Konkurrenz, schließlich zum Krieg aller gegen alle geworden und zweifellos einer neuen Produktionsform Platz machen müsse, welche die ungehinderte Ausbeutung des Privateigentums, die zum Massenelend führe, durch Begründung des ausschließlichen Kollektiveigentums und der kommunistischen Gesellschaft ablösen müsse, die gewissermaßen den Abschluß aller wirtschaftlichen Kämpfe ausmachen und die Aufhebung der Klassengegensätze herbeiführen werde. Ob wir nun im Jahre 1847 die Lehre von der unvermeidlichen Verelendung der Massen und besonders die kommunistische Schlußfolgerung, die uns gewissermaßen als eine Krönung der gesamten Kulturarbeit von Jahrtausenden erscheinen mußte, gläubig hinnahmen? Was mich betrifft, so arbeitete ich mich in das kommunistische Glaubensbekenntnis, nicht mit dem Verstande, aber mit ganzer Seele hinein, ich ließ keinen Widerspruch aufkommen, weil er mich in das Nichts zurückgeworfen hätte, mein ganzer Witz wurde der Bekämpfung der aufsteigenden Zweifel dienstbar gemacht. Es ging mir wie allen denen, welche im Glauben allein sich glücklich fühlen und denen dabei der Spott gegen die Nichtgläubigen nicht ausgeht. Von einer wirklichen Überzeugung aber, daß der Kommunismus allein den Abschluß der gewaltigen wirtschaftlichen Bewegung unserer Zeit, ja, aller Zeiten bilden müsse, war schon deshalb nicht die Rede, weil man sich gar nicht bestrebte, sie zu gewinnen. Man glaubte. Nun stand ich doch mit zweiundzwanzig Jahren auf einer Bildungsstufe, welche eher zur Skepsis geneigt macht. Wie sah es aber bei der Mehrzahl der Mitglieder des Kommunistenbundes aus? Wie Leute aus dem Volke die Predigt des Herrn Pfarrers, der ihnen persönlich Vertrauen einflößt und ja ein braver Mann ist, so nahmen auch die jungen Kommunisten die Lehre von der Aufhebung des Privateigentums und seine Ersetzung durch das Kollektiveigentum ohne viel Kopfzerbrechen hin. Für sie handelte es sich, und das beschäftigte sie vor allem andern, um eine Besserung ihres materiellen Daseins, die ja auf Grund der Entwicklungsgeschichte der Menschheit doch einmal kommen mußte. Daran glaubten sie und das mit Recht. Zu welchem letzten Ziel die ihnen vorgetragene Theorie führte, ob dies auch erreichbar sei, das machte ihnen keine Sorge. Anders sollte es werden und besser. Das leuchtete ihnen ein. Und dann übt ja, um es nicht zu vergessen, das Geheime, das Verbotene einen ganz besondern Reiz auf den Menschen aus, namentlich, wenn er allein steht und für sein Thun nicht das Wohl von Weib und Kind abzuwägen hat. Man vergesse auch nicht, welchen Einfluß die Atmosphäre in Paris auf uns ausüben mußte. Man atmete den Hauch der großen Revolution und des Juliaufstandes, deren Denksäule auf dem Platz errichtet worden war, auf dem die Bastille gestanden. Die Pariser Arbeiter bildeten damals schon, was in Deutschland nirgends der Fall war, einen ausgesprochenen Gegensatz zur herrschenden Bourgeoisie, den die Unvernunft Guizots, sie von allen politischen Rechten hartnäckig auszuschließen, aufs höchste trieb. Die Blindheit dieses gelehrten, jedoch allem Verständnis für seine Zeit unzugänglichen Ministers brachte denn auch die revolutionäre Gesinnung der Pariser Bevölkerung rasch zur Reife. Man fühlte, daß die Dinge einer Entscheidung entgegentrieben, und in weniger als einem Jahr war in der That der Thron Louis Philipps zusammengestürzt, und fast der ganze europäische Kontinent stand in Flammen. Das Vorgefühl der kommenden Ereignisse zog uns, wie leicht erklärlich von den Spekulationen über das letzte Ziel der Bewegung der arbeitenden Klassen um so mehr ab, als die Marx’sche Lehre entgegen derjenigen der Utopisten den politischen Sieg der Arbeiterpartei, ihre vor allen Dingen zu gewinnende politische Herrschaft als die Vorbedingung der wirtschaftlichen Umwälzung bezeichnete. Der Kommunistenbund hatte keinen andern als einen propagandistischen Zweck. Er löste sich also während der politischen Umwälzung des Jahres 1848 auf. Wozu ein Geheimbund, sobald das Vereinsrecht und die Preßfreiheit als Grundrechte der Nation anerkannt wurden, und das allgemeine Stimmrecht, wenn auch im einzelnen mit gewissen Beschränkungen, zur Anwendung gelangte? Eines drängte sich mir schon mit greifbarer Deutlichkeit im Anfang meiner Beteiligung an politischen Dingen auf: das war die Erkenntnis, daß mit der Gleichberechtigung aller die Gleichheit noch lange nicht erreicht ist, daß sie überhaupt unerreichbar ist, weil die Menschen in ihrer Begabung, ihrem Temperament, ewig ungleich sind. Wie die Natur nicht zwei absolut gleiche Ähren in einem Kornfeld hervorbringt, so weisen auch die politisch-gleichberechtigten Mitglieder einer Gesellschaft nicht zwei gleiche Menschen auf. Engels, der mir mein selbständiges Auftreten in Berlin im Jahre 1848 nie vergeben hat, machte mir den Vorwurf, ich hätte es im Revolutionsjahre „mit meiner Verwandlung in eine politische Größe etwas zu eilig gehabt.“ Ich werde später auf diese ganz ungerechtfertigte Beschuldigung zurückkommen. Im Jahre 1847, als wir in Paris als die besten Freunde lebten, hatte er wohl bemerkt, daß er selber auf die eigentlichen Arbeiterkreise keinen Einfluß auszuüben vermochte. Er war denn doch der reiche Bourgeoissohn, der allmonatlich seinen Wechsel von seinem Vater, dem großen Fabrikherrn in Barmen erhielt; die Sorge des Lebens trat nie an ihn heran, er hatte nichts von einem Arbeiter an sich und war vollkommen in seinem Recht, wenn er eine Maske nicht anlegte, die ihm schlecht gestanden hätte. Als es sich in einer Sitzung des Geheimbundes darum handelte, einen Abgeordneten zum Centralkomitee in London zu ernennen, machte man mich zum Vorsitzenden. Ich merkte, daß es sehr schwer fallen würde, Engels, der seine Ernennung wünschte, durchzubringen; es regte sich eine starke Opposition gegen ihn. Ich erlangte nur seine Wahl, indem ich der Regel zuwider, nicht diejenigen, welche für den Vorgeschlagenen, sondern diejenigen, welche gegen ihn waren, zum Erheben der Hand aufforderte. Dieses Präsidial-Kunststück erscheint mir heute als ein Greuel. „Das hast Du gut gemacht,“ sagte Engels, als wir heimgingen. Ich aber hatte an jenem Abend zum erstenmale die Erfahrung gemacht, daß die Ungleichheit der Menschen nicht bloß in der Ausübung der Gewalt der Starken über die Schwachen, in den staatlichen Einrichtungen zu suchen ist, sondern auch in den Menschen selber liegt, daß die Ungleichheit zwar mit der steigenden Kultur immer mehr von ihrer Schärfe verlieren muß, nie aber ganz verschwinden wird. Ein ähnlicher Abstimmungsmodus wie der, von welchem ich eben erzählte, wird heute zwar von keinem Arbeiterverein zugelassen werden. Die Macht der Begabteren oder auch der Rührigeren über die minder Begabten und minder Rührigen bleibt deshalb doch eine ungeheure -- nicht bloß bei den Arbeitern, sondern bei +allen+ politischen Verbindungen. Wir in der Schweiz wissen etwas davon zu erzählen, wie z. B. die Namen der für diese und jene Wahl aufzustellenden Kandidaten im stillen Hinterzimmer eines Cafés von wenigen Parteiführern gewogen, erlesen, auf die Liste gebracht und schließlich in öffentlicher Versammlung durch Mehrheitsbeschluß durchgesetzt werden. Ein anderer Modus ist nicht zu finden, woraus nur zu folgern ist, was ich oben gesagt, daß die Gleichberechtigung noch lange nicht die Gleichheit in der Praxis ist. Man kann seine Glossen darüber machen, wenn die Männer im Hinterstübchen, welche die Partei-Vorsehung spielen, sich einmal auffallend geirrt haben; ändern kann man es nicht, daß sie die Macht an sich reißen und ausüben und daß die andern sie gewähren lassen. Erfahrungen solcher Art führten natürlich nicht sogleich zu einer folgerichtigen Anwendung, doch blieben sie in meinem Gedächtnis haften und waren in späterer Zeit nicht ohne Einfluß auf meine Stellung zu jeder Parteipolitik. Der Knecht einer solchen bin ich niemals gewesen. Dazu war ich viel zu sehr Idealist und Individualist. Ein ausgesprochener Individualist trotz seiner kommunistischen Lehre war auch Engels. Wir konnten deshalb doch sehr leicht mit einander verkehren, weil wir beide ganz unabhängig von einander waren, ich mit meinem bescheidenen, doch für meine Bedürfnisse ausreichenden, er mit seinem bei weitem größeren Einkommen. Für die schönen Künste, besonders für Musik, hatte er keinen Sinn, er glich in dieser Beziehung meinem spätern Freunde Rüstow, der die Trommel als das einzige musikalische Instrument bezeichnete, das er verstehen und das ihn erfreuen könne. Es kam Engels niemals der Gedanke, mir die Kunstschätze von Paris zu zeigen; ich besuchte ohne ihn die Galerieen des Louvre; er sah sich im Theater des Palais Royal die tollsten Possen an, ich bewunderte im ~Théâtre français~ die Rachel als Phèdre. Das hielt er wahrscheinlich für abgeschmackt. Er beschäftigte sich damals ausschließlich mit historischen Studien, deren Ergebnisse er in seinen späteren Schriften glücklich verwertete. Seinen näheren Umgang bildete noch in jenem Jahre ein im Quartier Breda wohnender Maler aus der rheinischen Heimat, Namens Ritter, der in Paris für einen dortigen Bilderhändler echte Niederländer malte, dabei aber natürlich kein Krösus wurde, jedoch mit der lustigen Picarde, die sich zeitweise an ihn gefesselt, ein vergnügtes Dasein führte. Der zeitgenössischen Litteratur zu folgen, bot mir ein ~Cabinet de lecture~ im Palais Royal die Mittel, das neben französischen und englischen auch die wichtigsten deutschen Zeitungen hielt und über eine ziemlich große Bibliothek verfügte. Dort saß ich eines Tages, tief versunken in die Weisheit eines Journalisten, als plötzlich in dem stillen Saal eine ungewöhnliche Bewegung sich kund gab. Ein Mann in vorgeschrittenen Jahren war eingetreten, bei dessen Erscheinen ein halbes Dutzend Leute dienstfertig ihm entgegen eilten. Man reichte ihm den Arm, man führte ihn zu einem bequemen Sessel, in den er sich niederließ, man gab ihm die Augsburger Allgemeine Zeitung. Ich betrachtete ihn staunend und teilnehmend. Das eine Auge war geschlossen, das andere schien unbeweglich, es folgte nicht den Worten des Zeitungsblattes, sondern dieses wurde vor dem Auge hin- und hergeschoben. Über dem blassen Angesicht lag der Zauber still getragenen Leidens und geistiger Verklärung. Ist das, was ihn unter so viel Schwierigkeiten zum Lesen jenes Blattes geführt, wohl die Anstrengung wert, die er dabei sich auferlegt? mußte ich unwillkürlich mich fragen. Er legte jetzt das Blatt beiseite und erhob sich. Wieder trat eine allgemeine Bewegung im Saale ein. Einer der Herren reichte ihm den Arm und begleitete ihn hinaus, andere folgten bis an den Ausgang des Saales, er nickte dankend, sie verbeugten sich, er verschwand. Wer mochte der Mann sein? Diese Frage beschäftigte, beunruhigte mich lange. Ich entschloß mich endlich, den Saaldiener nach dem Namen jenes kranken Besuchers zu fragen. ~C’était Monsieur Henri Heine~, raunte er mir ins Ohr. Ich war todeserschrocken. Heine fuhr damals noch aus, er war noch nicht an die „Matratzengruft“ gefesselt, von der aus er uns mit seinen erschütternden Lazarusliedern beschenken sollte. [Illustration] VI. Reise in die Schweiz. Der Sonderbundskrieg. Karl Heinzen. Im Oktober desselben Jahres erhielt ich vom Centralkomitee in London den Auftrag, die „Gemeinden“ in Lyon und der Schweiz zu besuchen und sie durch einige Vorträge in die neue Phase der sozialen Entwicklung einzuführen und auf die kommenden Ereignisse vorzubereiten. Am Himmel kündigten dunkle Wolken den Sturm des heraufziehenden Sonderbundskrieges an. Die Eisenbahn reichte bis Orleans. In einem Hofe des Börsenviertels zu Paris drückte ich Engels zum Abschied die Hand, ich nahm einen der vier Plätze in der hinteren Abteilung der großen fünfspännigen Diligence ein; sie fuhr auf den Bahnhof, dort wurde unser, von seinen Rädern befreiter Wagen, den wir deshalb nicht zu verlassen hatten, auf die Plattform eines Eisenbahnwagens durch eine Winde gehoben, an den Zug angehängt, und fort ging es nach der berühmten Stadt an der Loire. Im Nu wurde dort unsere Diligence samt ihrem lebendigen Inhalt wieder auf ihre vier Räder gebracht und das bereit stehende Gespann eingehängt; im Galopp ging es über den Marktplatz, wo ich einen Blick auf das Standbild der Jungfrau werfen konnte, und nun rollten wir durch das gesegnete Burgund der volkreichen Stadt am Zusammenfluß der Saone und Rhone zu. Ich war in Lyon angekündigt, ein freundlicher Empfang war mir dort wie überall gesichert, wo ich meine Mission zu erfüllen hatte. In wenigen Tagen konnte ich meine Reise nach Genf fortsetzen. Bis dahin hatte ich, wenn ich von dem Hügelland am Fuße des Riesengebirges absehe, in der Welt nur ebenes Flachland betreten. Auf der Fahrt von Lyon über St. Julien nach Genf eröffnete sich mir ein bis dahin ungekannter Reichtum landschaftlicher Schönheiten. Ich wollte nun nicht etwa ein maschinenhaft arbeitender Reiseprediger sein, ich suchte und fand Beschäftigung. Damit auf mich selbst gestellt, blieb ich mehrere Wochen in Genf. Die fremde Stadt mit ihrer damals noch wohl erhaltenen, auf große historische Erlebnisse hinweisenden, eigentümlichen Physiognomie, in der sich strenge Ehrbarkeit, herber Patriotismus mit französischer Frivolität paarten, der große, blaue See, eine meinem unerfahrenen Auge völlig neue Erscheinung, die Alpen, der Montblanc! -- warum sollte ich hier nicht länger verweilen? An den schönen Herbstabenden machte ich, mit meinen neuen Freunden spazieren gehend, sie mit meiner neuen Weisheit bekannt, es war dies ein peripatetischer Unterricht wie ein anderer. An Sonntagen bestiegen wir den Salève, ich war glücklicher als je vorher und so zog ich erst nach vier Wochen frohen Mutes in die Neuchâteler Berge nach la Chaux-de-Fonds, in das große, damals schon nahe an 20 000 Seelen zählende Uhrenmacherdorf. Der Kanton Neuchâtel war damals noch durch Personalunion mit dem preußischen Königshause verbunden und besaß infolgedessen noch manche Institution, die an diese Union erinnerte. In keinem Teile der Schweiz wurde das Verhalten der Fremden, namentlich der deutschen Arbeiter, die nach dem Beispiel der französischen sich in sozialistischen Vereinen zusammenfanden, mit einem polizeilich so wachsamen Auge verfolgt wie dort. Das führte zu heimlichen, nächtlichen Zusammenkünften in den Schlüften des Jura. Etwa zwanzig Minuten von der Stadt biegt links von der bis St. Imier sich fortsetzenden Landstraße ein schmaler Pfad zu einem, erst in seiner unmittelbaren Nähe wahrnehmbaren Spalt im Gebirge. Tritt man hier ein und verfolgt zwischen zwei hohen Felswänden die geheimnisvolle Enge, so gelangt man nach einer Weile in einen fast kreisrunden, von steilen Wänden eingefaßten großen Saal, wo der Zugangsstelle gegenüber wiederum ein enger Pfad sich öffnet, der in einen zweiten Felsenrundbau führt; und so wiederholt sich diese eigentümliche Erscheinung bis an die Wasser des Frankreich vom Schweizerland trennenden, in vielen überraschenden Windungen seinen rauhen Weg sich suchenden, überaus malerischen Doubs. In dem ersten oder zweiten jener abseits von jeder bewohnten Ortschaft liegenden, wenig bekannten Thalkessel versammelten sich die jungen Leute, die mich freundlich aufgenommen hatten, gern in hellen Mondnächten. Dort suchte sie kein Diener der staatlichen Ordnung, dort erbauten sie sich an dem Worte ihrer Führer, dort klang ihr männlicher Gesang, von Spähern ungehört, in die himmlisch reine Luft. Als ich nach einigen Tagen von ihnen Abschied nahm, begleiteten sie mich bis auf die Höhe des Mont des Loges, der das Thal von la Chaux-de-Fonds von dem ackerbautreibenden Val de Ruz trennt, und nachdem ich einige hundert Schritte abwärts gezogen, begrüßte mich ihr deutsches Lied von einem Felsenvorsprung herab, auf dem sie sich aufgestellt, zum letztenmal. Ich winkte in froher Überraschung ihnen meinen Dank zu und eilte den Fußpfad abwärts, der mich ins Thal, an das Schloß Valangin und nach Neuchâtel brachte. Mein Lebensgang wollte es, daß ich mehrere Jahre später nach la Chaux-de-Fonds in die Redaktion des „National Suisse“ eintrat, und dann, nach einer kurzen Lehrthätigkeit in Schaffhausen, nach Neuchâtel in ein Schulamt berufen wurde. Neuchâtel war damals ein unabhängiger Schweizer Kanton. Da geschah es eines Tages, daß ich mit Professor Desor, meinem Freunde und Kollegen an der Akademie, mich zum Mittagessen auf dem Landgute des Herrn Lardy, des Vaters des jetzigen schweizerischen Gesandten in Paris, befand. Herr Lardy, der in der alten preußisch-neuenburgischen Zeit Polizeioberster gewesen war und, obgleich politisch von der herrschenden radikalen Partei getrennt, doch einen herzlichen Umgang mit einzelnen, ihm sympathischen Mitgliedern dieser Partei pflegte, erzählte beim Nachtisch in erheiternder Weise von seiner Amtsthätigkeit gegenüber den rebellischen deutschen Arbeitern, die in den letzten Jahren vor 1848 im Jura sich eingenistet hatten und die er, getreu dem ihm von höchster Stelle erteilten Befehl eifrigst verfolgte. Ich war sein Gast und hörte ihm selbstverständlich zu, ohne den Vorhang zu lüften. Erst auf der Heimfahrt, mit Desor allein in dessen lustig dahin trottendem Einspänner, erzählte ich diesem von den geheimnisvollen Beziehungen, die vor etwa fünfzehn Jahren, von uns beiden unbewußt, zwischen mir und dem braven Herrn Lardy existiert hatten und in denen nichts von der Jugendromantik in den jurassischen Bergen steckte, von denen ich eben gesprochen. Jetzt hat sie längst der Tod abgerufen, Herrn Lardy und Freund Desor, und die Jugendromantik weht auch nur noch an seltenen Tagen beschwichtigend um mein schneeweißes Haupt. Meine nächste Station war Bern. Der Sonderbundskrieg konnte in den nächsten Tagen ausbrechen und ich wollte doch mindestens dem Auszug der Truppen beiwohnen und dem Gang der Dinge, die mich so sehr interessierten, nahe sein. Ich sah kurz nach meiner Ankunft in der Bundesstadt die bernische Artillerie ins Feld ziehen. Ich erfreute mich an dem Anblick der langen Reihen von Geschützen, an der fröhlichen Mannschaft und der meist kräftigen Bespannung. Hie und da sah man den Bauer, der die Pferde gestellt, in seiner unkriegerischen gelben Kutte auf deren Rücken. Der Mann fürchtete die feindliche Kugel weniger als den Verlust seines Gauls, von dem er sich nicht trennen mochte. Auf den wohlgesinnten Zuschauer, und ein solcher war ich, machte dieses militärische Bild einen erhebenden Eindruck. Der Krieg war, Dank der weisen Führung des Generals Dufour, nicht blutig, die aufrührerischen, jesuitenfreundlichen Kantone wurden durch die gegen sie aufgebotene Übermacht rasch zur Kapitulation gezwungen. Das einzige Gefecht bei Gislikon forderte nur wenige Opfer, nach drei Wochen war alles beendet und der Landmann, der seine Zugtiere dem Feinde entgegengeführt, brachte sie wohlbehalten wieder heim und konnte jetzt sorglos den herbstlichen Acker mit ihnen bestellen. Die Schweiz war damals der Zufluchtsort vieler Verfolgter aus allen Ländern Europas, England ausgenommen. Zu den Charakterköpfen, die sie beherbergte, gehörte auch der deutsche, politische Schriftsteller Karl Heinzen. Der Mann hatte viel Bitteres erlebt. Von der Universität Bonn relegiert, hatte er sich nach Batavia anwerben lassen, von wo ihm indessen bald die Rückkehr ermöglicht wurde. Er fand eine Anstellung, erst im Steuerfach, dann bei der Aachener Feuerversicherungsgesellschaft und schrieb außerdem in die zu jener Zeit oppositionell redigierte „Leipziger Allgemeine Zeitung“, aber auch in die radikale „Rheinische Zeitung.“ Beide Blätter, obgleich sie wie alle deutschen Drucksachen unter Censur standen, wurden ihrer Haltung wegen unterdrückt, worauf Heinzen in einem Buch „die preußische Bureaukratie“, das schon bei seinem Erscheinen konfisziert wurde, seiner Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen Ausdruck gab. Mit einer Anklage bedroht, floh er in die Schweiz, von wo aus er eine Anzahl der grobkörnigsten Pamphlete nach Deutschland versandte. Heinzen schrieb über alles und jedes, was ihm mißfiel -- und was mußte seiner Freiheitsliebe damals nicht mißfallen? -- Er schrieb über alles, was ihm Gelegenheit zur Entfaltung eines rücksichtslosen Angriffs bot. Er fiel nicht bloß über die Monarchie her, wodurch er sich später in Amerika, wo er nach vielen harten Bedrängnissen sich schließlich niederließ und den „Pionier“ herausgab, den Übernamen „der Fürschtekiller“ zuzog; er wandte sich auch gegen die sozialistischen Arbeiterverbindungen und deren Führer, mit ganz besonderer Streitgier gegen die Kommunisten. Ich besitze keine Zeile mehr von dem, was dieser überhitzte Schriftsteller in die Welt gesandt; ich erinnere mich nur, daß eine von ihm ausgegangene Schrift gegen die Kommunisten mich sehr gegen ihn einnahm und zu einer ihm gewidmeten Antwort veranlaßte. Ich hatte in der Buchdruckerei Reber Beschäftigung gefunden, ich setzte dort mit Zustimmung des „Herrn Prinzipals“ die von mir in den Abendstunden gegen Heinzen verfaßte Schrift. Herr Reber, obgleich ein ausgesprochener Konservativer, ließ sie auf seiner Presse gegen Entrichtung des gebräuchlichen Preises drucken, und ich versandte sie nach London zu weiterer Verbreitung. Ich habe kein Exemplar meines Opus für spätere Tage aufbewahrt. Nicht einmal der Titel dieser Verteidigungsschrift des Kommunismus ist mir im Gedächtnis geblieben. Einmal gedruckt, hatte sie für mich keinen Wert mehr. Heinzen hatte in seinem Angriff wahrscheinlich die bekannten Argumente gegen den Kommunismus angewendet. Er hatte in dem, was er sagte, eben so wahrscheinlich recht; doch da ihm alle von der Entwicklungsidee ausgehende Schulung fehlte, so bot er dem Angriff schwache Seiten genug dar, die ich dann ohne Zweifel mit Wonne gegen ihn ausbeutete, ohne deshalb in seinen hanebüchenen Stil zu verfallen, den ich eben so wenig bei ihm wie bei anderen jemals zu bewundern vermochte. So stelle ich mir jetzt, nach fünfzig Jahren, diesen litterarischen Waffengang vor, der mir in seinen Einzelheiten nicht mehr gegenwärtig ist. Heinzen, wie fast alle politischen Schriftsteller jener Zeit, hatte keine Ahnung von der Wendung im Volksleben, die mit dem Auftreten der arbeitenden Klassen als Partei in allernächster Zeit beginnen sollte. Ich, ohne alle Menschenkenntnis und ohne alle Erfahrung, schoß mit der Verteidigung des Kommunismus weit übers Ziel hinaus und war trotz der erworbenen historischen Weltanschauung, soweit es das supponierte Zukunftsbild betraf, noch tief in Wolkenkuckucksheim zu Hause. Zur näheren Charakteristik Karl Heinzens sei es mir übrigens gestattet, folgende Anekdote aus den von mir herausgegebenen „Erinnerungen v. I. D. H. Temme“ (Leipzig, Ernst Keil 1883) hier mitzuteilen: „Einmal brachte hier in Zürich,“ erzählt Temme, „ein Freund mir eine Nummer der Zeitschrift, „der Pionier,“ die Heinzen in Boston herausgab. Lesen Sie, sagte mein Freund, zunächst die erste Seite, und schlagen Sie erst dann das Blatt um. Ich las die erste Seite. Sie war ganz angefüllt mit einem offnen Brief an mich. Die New-Yorker Staatszeitung brachte damals gerade einen Roman von mir. Das hatte den höchsten Zorn Heinzens erregt, da die New-Yorker Staatszeitung eine andere Politik verfolgte, als er. Der offene Brief war eine donnernde Philippika gegen mich und schloß mit folgendem Rat: Ich höre, daß Sie, um mit den Ihrigen leben zu können, auf Romanschreiben angewiesen sind. Aber ehe Sie Ihre Produkte einem Schandblatte, wie die New-Yorker Staatszeitung überlassen, sollten Sie sich eine Kugel durch den Kopf schießen. -- Ich mußte herzlich lachen über den Zorn, der diesen liebenswürdigen Rat eingegeben hatte, und über die wunderliche Logik, die er enthielt. Und nun, sagte mein Freund, schlagen Sie das Blatt um! Ich schlug um, und auf der zweiten Seite druckte Heinzen eine meiner Novellen nach.“ Ich habe seit jener Verteidigung des Kommunismus gegenüber einem originellen Schriftsteller, der in einem Bilde jener Zeit nicht übergangen werden darf, nichts mehr über dieses Thema geschrieben. War mit diesem Glaubensmanifest auch mein Glaube erschöpft? Durch die Widerlegung der erhobenen Einwürfe war ich denn doch wohl mehr oder weniger zu der Einsicht gelangt, daß der Gedanke, es müsse die eingetretene Bewegung gegen die Herrschaft des Kapitals notwendig zur Aufhebung des Privateigentums und seiner Umwandlung in gemeinsames Eigentum führen, nicht so ganz selbstverständlich sein könne, wie ich angenommen und gepredigt hatte. Viele Fragen wurden nun in meinem Geiste angeregt, aber ich kam mit ihnen noch nicht zu einem Abschluß. Entwickelte die Menschheit sich in der That ausschließlich nach rein mechanischen Gesetzen, die ihr mit Naturnotwendigkeit den nicht zu vermeidenden Weg vorschrieben? Sind mit der materialistischen Weltanschauung allein alle welthistorischen Erscheinungen zu erklären? Ist ein so kompliziertes Wesen wie der Mensch, mit seinen teils auf Vererbung, teils auf Erziehung und dem Milieu beruhenden Tugenden und Lastern, mit seinem Individualismus und seinem Herdensinn, ein Wesen, in welchem sich die widersprechendsten Anlagen und Eigenschaften zu einem persönlichen Charakter einigen, der es von seinem Nachbar so auffallend unterscheidet -- ist angesichts der sich unserer Beobachtung aufdrängenden Thatsache der unendlichen Teilung der Arbeit, welche die Natur den Menschen in deren gesellschaftlichem Zusammenschluß ohne Vernichtung ihres Einzelcharakters auferlegt hat, eine mathematische Formel angebracht, an der man nicht zu mäkeln hat? Weil der Starke dem Schwachen +sein+ Gesetz auferlegte, ihn zum Zweck der Häufung seines Privateigentums ausbeutete und so die Klassengegensätze schuf, müßte deshalb das Privateigentum aufgehoben werden? Suchte die Menschheit nicht vielmehr einen Weg, der zur Verminderung, schließlich zur Aufhebung aller den Schwachen beeinträchtigenden Gegensätze führte, ohne die persönliche Freiheit der Idee der Gleichheit zu opfern? Ist überhaupt die Gleichheit jemals erreichbar, ohne der Natur des Menschen Gewalt anzuthun? Und gelänge es wirklich, das Privateigentum völlig aufzuheben und die absolute Gleichheit einzuführen, würde die Natur des Menschen sich dann nicht nach erlittenem Zwange rächen und eine furchtbare Revolution herbeiführen? Diese Fragen fingen an, mich gerade damals zu beschäftigen, wo ich in die Nähe von Karl Marx gelangen sollte, und durch des Meisters Ideen mich meiner Zweifel siegreich zu entledigen gedachte. Doch -- Marx sprach damals mehr von der sich ankündigenden politischen Umwälzung, die er ganz richtig als die Vorbedingung der sozialen Umwälzung erkannt hatte, denn von dieser selbst. [Illustration] VII. Ein Winter in Brüssel. Karl Marx. Ich kam wieder durch deutsche Lande. Ich ging von Bern ohne Aufenthalt über Basel nach Straßburg, von dort mit dem Dampfschiff, das zu jener Zeit in Straßburg seinen Ausgangspunkt hatte, nach Köln und dann weiter nach Brüssel, das gewissermaßen das geistige Centrum der kommunistischen Verbindung bildete. Dort lebte Karl Marx. Ich war gespannt darauf, ihn kennen zu lernen. Ich fand ihn in einer höchst bescheiden, man darf wohl sagen ärmlich ausgestatteten kleinen Wohnung in einer Vorstadt Brüssels. Er nahm mich freundlich auf, befragte mich über den Erfolg meiner propagandistischen Reise, machte mir ein Kompliment über meine Broschüre gegen Heinzen, in welches seine Frau einstimmte, die mich freundlich willkommen hieß, und wie sie ihr Lebenlang den innigsten Anteil an allem nahm, was ihren Mann interessierte und beschäftigte, so war sie auch nicht ohne besonderes Interesse für mich, der ich ja für einen hoffnungsvollen Jünger der Lehre ihres Mannes angesehen wurde. Marx, so wurde mir später erzählt, hatte als Bonner Student seine Frau auf einem Ball kennen gelernt; Fräulein von Westphalen, dies war ihr Mädchenname, gehörte einer preußischen, finanziell etwas zurückgekommenen Junkerfamilie an. Marx liebte sie und sie teilte seine Leidenschaft. Sie heirateten sich, gewiß nicht ohne Überwindung mancher Schwierigkeiten seitens der Familie von Westphalen. Diese Liebe bestand alle Proben eines ununterbrochenen Lebenskampfes. Ich habe selten eine so glückliche Ehe gekannt, in welcher Freud’ und Leid, das letztere in reichlichstem Maße, geteilt, und aller Schmerz in dem Bewußtsein vollster, gegenseitiger Angehörigkeit überwunden wurde. Ich habe auch selten eine in ihrer äußern Erscheinung wie in ihrem Herzen und Geiste so harmonisch gestaltete Frau gekannt, die bei der ersten Begegnung so sehr für sich eingenommen hätte wie Frau Marx. Sie war blond, ihre Kinder, damals noch klein, waren dunkelhaarig und dunkeläugig wie ihr Vater. Des letzteren in Trier lebende Mutter gab einen Beitrag zu den Bedürfnissen des Haushaltes, die Feder des Schriftstellers mußte wahrscheinlich für die Haupteinnahme sorgen. Marx hatte wohl die Bekanntschaft einiger freisinniger Politiker in Brüssel gemacht, doch kam es zwischen ihm und seinen Freunden, meist Ausländern, nicht zu einem wirklich geselligen Verkehr, und weder er noch seine Frau schienen einen solchen zu vermissen. Frau Marx lebte in den Ideen ihres Mannes, sie ging dabei ganz und gar in der Sorge für die Ihrigen auf und war doch so himmelweit von der strumpfstrickenden, den Kochlöffel rührenden deutschen Hausfrau entfernt. Mehrere Jahre später fügte sie am Schluß eines Briefes, den sie mir aus London geschrieben hatte, die Trauernachricht hinzu, durch welche innere Entrüstung ein wenig hindurchklang, daß ihre so treue und unverdrossene Magd, die gewissermaßen als ein Mitglied der Familie betrachtet wurde, sie verlassen habe. In Brüssel wurde alljährlich am 29. November der Jahrestag der polnischen Revolution des Jahres 1830 von den dort lebenden polnischen Emigranten festlich begangen. Die städtische Verwaltung hatte dazu regelmäßig einen Saal im Rathause hergegeben. Diesesmal -- geschah es im Vorgefühl der großen politischen Ereignisse, welche, von Frankreich ausgehend, sich über einen beträchtlichen Teil Europas verbreiten sollte? -- waren für den 29. November besondere Festlichkeiten vorhergesehen, und deshalb lud man auch Vertreter anderer Nationalitäten als nur der polnischen, zu dem öffentlichen Akt auf dem Rathause ein. Unter den französischen Flüchtlingen war es ein Blanquist aus Marseille, Namens Imbert, der mit einer Rede auftreten sollte; unter den Deutschen war Marx dazu berufen. Er wollte der Einladung sich entziehen, wahrscheinlich wohl, weil er in einer zu bunten Gesellschaft hätte auftreten müssen -- Graf Merode, ein bekannter Führer der belgischen Ultramontanen, hatte den Vorsitz bei der Feier -- dann stimmte auch seine ganze politische Anschauung nicht recht zu dem Geiste, der in der polnischen Kolonie herrschte. Engels, der seit kurzem von Paris nach Brüssel übergesiedelt war, hätte ihn wohl ersetzt, aber -- er war aus Paris ausgewiesen worden, und als die Regierung deshalb von einem Mitgliede der äußersten Linken interpelliert worden war, antwortete der Minister, es seien keine politischen Gründe gewesen, die zu dieser Ausweisung geführt hätten. Die Sache war durch alle Zeitungen gegangen, und Engels weigerte sich, mit seinem Namen jetzt hervorzutreten. Was zu seiner Ausweisung geführt hatte, war in der That nicht politischer Natur. Er hatte, von dem oben genannten Maler Ritter davon unterrichtet, daß ein französischer Graf X. sich von seiner Maitresse getrennt, ohne in irgend einer Weise für sie zu sorgen, diesem Grafen gedroht, die ganze Sache an die Öffentlichkeit zu bringen, wenn er seine Menschenpflicht gegen die Verlassene nicht zu erfüllen gedenke. Der Graf wandte sich mit einer Beschwerde an den Minister, und der Minister wies den Fremden mit seinem Freunde Ritter aus. Eine ganz ablehnende Antwort sollte aber dem polnischen Festkomitee nicht gegeben werden, und so forderte Marx mich auf, an seine Stelle zu treten. Ich war über diesen Vorschlag nicht wenig bestürzt; ich stellte ihm vor, daß ich dazu wohl zu jung sei. Das half nichts, und ich hielt die obligate Rede. Sie erregte nicht geringes Aufsehen. Keine Seele war auf die Idee gekommen, daß jemand bei einer solchen Gelegenheit, an dem der polnischen Revolution gewidmeten Gedenktage, im Brüsseler Rathaus eine Rede halten könnte, in welcher der nicht allzuweit entfernte Übergang von der politischen zur sozialen Revolution schließlich angedeutet wurde. Die äußerste Linke im Saal -- auch hier gab es eine solche -- klatschte stürmischen Beifall, die vornehme Gesellschaft auf den vorderen Stuhlreihen und auf den Präsidialsitzen war verschnupft, die Zeitungen suchten die Sache zu vertuschen, doch hatte ein Brüsseler Korrespondent in deutschen Zeitungen einen Alarmruf ausgestoßen, so daß selbst mein braver Freund Bisky mir erschrocken schrieb, ob ich denn die Absicht habe, mir den Rückweg ins Vaterland geradezu abzuschneiden? -- Diese Befürchtung war nun freilich ganz grundlos. Nur noch wenige Monate, und die Welt hatte ein ganz anderes Aussehen. In Brüssel existierte damals ein deutscher Verein, der sich zumeist aus Arbeitern und jungen Angestellten in Fabriken und Handelshäusern zusammensetzte. Er war von Mitgliedern des Kommunistenbundes ziemlich stark durchsetzt. Kommunismus und Kommunisten waren übrigens nur Worte, die niemand banden, über die man thatsächlich kaum sprach. Viel näher lag die in Frankreich immer entschiedener sich geltend machende Bewegung für die Reform des Wahlgesetzes. Mit Spannung verfolgte man die dortige Entwicklung der Dinge, man ahnte einen entscheidenden Schlag. Die Tagespolitik war also der Gegenstand unseres ausschließlichen Interesses. Nebenher sorgte jener Verein für etwas Unterhaltung. Karl Wallau, mit dem ich die von Herrn von Bornstedt herausgegebene Brüsseler Deutsche Zeitung setzte -- er gehörte auch zum engern Bund --, besaß eine schöne Baritonstimme und sang an den Vereinsabenden gern gehörte, deutsche Lieder; andere musikalische Beiträge blieben nicht aus, es fehlte natürlich auch nicht an Deklamatoren, auch junge deutsche Damen wurden eingeführt, und man tanzte bisweilen. An der Schwelle des sturmerfüllten, geschichtlich so inhaltschweren Jahres 1848 versammelte man sich sogar zu einem gemeinsamen Abendessen. Ein von mir verfaßtes, ich brauche es nicht erst zu sagen, sozial-politisches Festspiel wurde aufgeführt. Unter den Anwesenden befand sich Marx mit seiner Frau und Engels mit seiner -- Dame. Die beiden Paare waren durch einen großen Raum von einander getrennt. Als ich zu Marx herankam, um ihn und seine Frau zu begrüßen, gab er mir durch einen Blick und ein vielsagendes Lächeln zu verstehen, daß seine Frau eine Bekanntschaft mit jener -- Dame auf das strengste ablehne. In Fragen der Ehre und Reinheit der Sitten war die edle Frau intransigent. Die Zumutung, auf diesem Gebiet ein Zugeständnis zu machen, wenn eine solche an sie gestellt worden wäre, hätte sie mit Entrüstung zurückgewiesen. Die Hochachtung, die ich für sie gehegt, wurde durch dieses Intermezzo sehr gesteigert. Es war jedenfalls überkühn von Engels, durch die Einführung seiner Maitresse in diesen meist von Arbeitern besuchten Kreis an einen, den reichen Fabrikantensöhnen so oft gemachten Vorwurf zu erinnern, daß sie die Töchter des Volkes in den Dienst ihrer Freuden zu ziehen wissen. ~Noblesse oblige.~ Engels hat für das arbeitende Volk so Bedeutendes geleistet als Schriftsteller und als Führer, sein Name steht so fest auf den Gedenktafeln seiner Partei, daß die Achtung vor denen, deren Sachwalter er bis dahin und dann sein Leben lang mit großem Ernst und vielem Erfolg gewesen ist, ihm hier eine durch alle Umstände gebotene Zurückhaltung hätte auferlegen sollen. In Fragen des Ewig-Weiblichen oder Unweiblichen war er jedoch sehr sterblich. [Illustration] [Illustration] VIII. 1848. Die Februarrevolution in Paris. Aufstandsversuche in Brüssel. Frau Marx. Reise nach Paris. Durch den oben erwähnten französischen Flüchtling Imbert, der in Brüssel im Besitz einer Fayencefabrik war, dazu einer tüchtigen Frau, einer lebhaften Marseillerin sich erfreute, die seine republikanischen Grundsätze teilte, sie jedoch mit ungebrochener katholischer Glaubenstreue vereinigte, hatten wir Fühlung mit der Bewegungspartei in Frankreich. Mitte Februar war er heimlich nach Paris gereist und als er zurückkehrte, versicherte er uns, daß es diesmal zu einem ernsten Aufstand kommen werde und wir uns auf große Ereignisse gefaßt zu machen hätten. Er hatte seine Kenntnis von den sich vorbereitenden Dingen an der Quelle geschöpft, von wo aus die Bewegung in Fluß gebracht wurde. So jämmerlich ist nie eine Monarchie gefallen, wie diejenige Louis-Philippes. Der verblendete König brauchte nicht einmal das von der äußersten Linken geforderte allgemeine Stimmrecht zu bewilligen; er brauchte nur zu rechter Zeit zu der von der gemäßigten Linken beantragten Erweiterung des bisherigen Stimmrechts seine Zustimmung zu geben und die Dinge hätten bis an sein Lebensende ausgehalten. Sein Nachfolger that dann den weiteren Schritt und die Dynastie der Orleans existierte vielleicht heute noch auf dem französischen Thron. Wie ganz anders die europäischen Verhältnisse sich in diesem Fall gestaltet hätten! Nicht bloß die Weisheit, auch die Thorheit der Fürsten steht im Dienste der geschichtlichen Entwicklung. Am Abend des 24. Februar 1848 standen in Brüssel ein halbes Dutzend deutscher Jünglinge auf dem Perron des Bahnhofes, der nach Paris führenden Linie. Sie waren fast allein. Kein Zug war seit den Morgenstunden aus der französischen Hauptstadt angelangt, keine Nachricht über die Unruhen, die dort ausgebrochen waren. Die redlichen Einwohner der belgischen Hauptstadt waren doch wohl etwas schwerblütige Leute, die erst warm werden mußten, ehe sie sich in Bewegung setzten. Die Neugierde nach dem, was vielleicht in Paris vorgefallen, plagte sie augenscheinlich nicht. Wir paar Deutsche waren, wie gesagt, fast allein auf dem Perron, wir, die Ausländer; doch nein, noch zwei Personen, ein Herr und eine Dame, standen dort stumm und mit sorgenvollem Blick in einer Ecke. Auch sie warteten auf einen Zug, der, wenn auch nicht von Paris, so doch von der französischen Grenze bald eintreffen mußte. Sie warteten augenscheinlich auf Nachrichten aus Frankreich. Manchmal fiel von ihnen ein düsterer Blick auf uns, wenn wir in fröhlicher Unterhaltung die Vermutungen und Hoffnungen aussprachen, die wir auf die Neuigkeiten setzten, die nun nicht lange mehr ausbleiben konnten. Sie errieten unsere Gedanken. Sie thaten plötzlich einige Schritte vorwärts, denn ein langer Pfiff hatte die Annäherung des erwarteten Zuges angekündigt. Noch einen Augenblick, und er war im Bahnhof. Bevor er noch vollständig gehalten, sprang der Zugführer ab und rief mit gellender Stimme: ~„Le drapeau rouge flotte sur la tour de Valenciennes, la république est proclamée.“~ ~Vive la république!~ ertönte es wie aus einem Munde aus unserer Mitte. Der Herr und die Dame aber, welche auch auf Neuigkeiten gewartet hatten, erblaßten und zogen sich eilig zurück. Es war, wie ein Bahnhofsbeamter uns sagte, der französische Gesandte, General Rumigny, mit seiner Gemahlin. Mit der sinkenden Nacht wurde das große Ereignis in der ganzen Stadt bekannt. Die Cafés, die Bierhäuser in allen Gassen, namentlich auf dem altertümlichen großen Rathausplatz, füllten sich, überall erklang die Brabançonne und die Marseillaise; die friedsamen, verrosteten Stammgäste -- Brüssel besaß zu allen Zeiten ein zahlreiches Philistertum -- konnten ihre Plätze nicht behaupten, eine neue, begeisterte Bevölkerung war plötzlich wie aus der Erde gewachsen, und halb verschüchtert, halb erstaunt oder aus ihrem zopfigen Traumdasein aufgerüttelt, sahen die Alten offnen Mundes dem Treiben der Jugend zu. Ich erinnere mich eines bildschönen, Lütticher Advokaten, Namens Tedesco, der in einem der großen Cafés, dem Versammlungsort der wohlhabenden Gesellschaft, auf einen Tisch stieg und die ihm nach vom Platz hereingestürmte Menge mit einer glühenden Rede in flammende Begeisterung versetzte. Fort zog er von einem der großen Cafés in das andere, und die Menge umdrängte überall den unwiderstehlichen Feuergeist. Immer neue Massen zog er an, die er mit seinem Wort elektrisierte, und das ~Vive la république~, mit welchem er jedesmal seine Rede schloß, erschallte als ein donnerndes Echo in der Volksbrandung, die auf den großen Plätzen immer gewaltigere Wogen schlug. Man hätte glauben mögen, daß in dieser Nacht das junge Königtum in Belgien vom Sturm vernichtet werden müßte. Doch es sollte anders kommen, als man hatte erwarten dürfen. Auf dem neu errichteten belgischen Thron saß ein kluger Staatsmann, der sein Schifflein kaltblütig und weise durch die tosenden Wellen steuerte. Er rief seine liberalen Minister, die einflußreichsten Mitglieder der liberalen Kammer, er rief den Bürgermeister und den Gemeinderat von Brüssel zu sich und sagte zu den Herren: „Das Land hat mich zu seinem König erwählt und ich habe als König stets den Willen des Landes geehrt, keine ernste Klage hat sich bisher gegen meine Regierung erhoben. Wozu Blut vergießen? Wenn das Land den Wunsch ausspricht, daß ich die mir anvertraute Krone niederlege, so werde ich dies ohne Sträuben thun. Um meinetwillen sollen nicht Bürger gegen Bürger mit Waffen sich bekriegen. Man sage mir ein Wort und ich gehe.“ Die anwesenden Volksabgeordneten und Vertreter der Hauptstadt waren von diesen Worten tief bewegt, und wie man am Abend vorher auf Straßen und Plätzen die Republik hatte hochleben lassen, so riefen sie jetzt: ~„Vive le roi!“~ In Belgien standen die Dinge denn doch anders als in Frankreich. Louis Philippe, der Sohn des Königsmörders ~Philippe-Egalité~, war ein Hemmschuh der freiheitlichen Entwicklung des Landes geworden. König Leopold von Belgien hingegen war das Muster eines konstitutionellen Herrschers. Der koburgische Prinz verstand es, das Volk, an dessen Spitze er gestellt war, mit wunderbarem Geschick zu behandeln, er war sehr populär und er hatte seine Popularität nicht durch Anwendung schnell verbrauchter Künste, sondern durch verständiges Eingehen auf den besonderen Charakter seines Volkes und durch Einsicht in die Forderungen seiner Zeit erworben. Er konnte nichts Vernünftigeres thun, als seinen Willen kundgeben, freiwillig zurückzutreten, wenn er damit dem Wunsche seines Landes entgegenkomme. Als am nächsten Tage die Worte des Königs bekannt wurden, hatte er seine Sache, auch der Gesamtbevölkerung gegenüber, schon halb gewonnen. Wohl war in der Nacht von den republikanischen Gesellschaften alles auf einen in Szene zu setzenden Aufstand vorbereitet worden, doch fehlte der revolutionäre Hauch in der Hauptstadt. Ein paar leidenschaftliche Reden genügten denn doch nicht, einen König heute zu vertreiben, gegen den gestern noch kein Vorwurf sich erhoben hatte. Wohl füllten am Abend sich die Straßen und Plätze, die von den revolutionären Klubs getroffenen Anordnungen machten den Eingeweihten sich bemerklich, aber es kam nicht zum Barrikadenbau. Ehe damit noch begonnen wurde, rückte militärische Macht heran. Auf dem Rathausplatz erschien ein Regiment Infanterie in breitester Front; vor der Truppe der Oberst mit einem Tambour. Der Infanterie zur Seite stürmte eine Schwadron Dragoner heran. Die Aufruhrakte wurde verlesen. Nach dem dritten Trommelschlag sollte von den Waffen Gebrauch gemacht werden, wenn der Platz nicht geräumt würde. Auf die erste und zweite Warnung erscholl aus der dichten Menge ein schrilles Pfeifen, ein furchtbares, höhnisches Geschrei. Sie wich nicht vom Platze. Der dritte Trommelschlag ertönte. Es fiel kein Schuß. Mit gefälltem Bajonett drängte die Infanterie unaufhaltsam vorwärts, die Reiter sprengten an einer Seite des Platzes, dicht beim Trottoir heran, und die Menge ergriff die Flucht. Ich stand mit Engels auf dem Trottoir, vor dem Eingang in eines der vielen Cafés; zu meiner Rechten war Wilhelm Wolf, einer der beliebtesten unter den in Brüssel lebenden Deutschen. Da drängt plötzlich ein Reiter auf ihn ein, langt sich vom Roß herab, das auf das Trottoir gelangt ist, den kleinen Wolf, indem er ihn fest am Kragen packt und schleppt ihn mit sich fort. Im Nu war es geschehen, im Nu war er verschwunden. Wilhelm Wolf war damals etwa 40 Jahre alt. Er hatte in Breslau Philologie studiert, und die Verfolgungen, die er sich als Burschenschafter zugezogen, trieben ihn ins Ausland. In Brüssel ernährte er sich durch Privatunterricht in den alten Sprachen. Nach der Märzrevolution zog er mit Marx nach Köln. Er wurde sehr geschätzt als Mitarbeiter der „Neuen Rheinischen Zeitung,“ in welcher er namentlich durch seine Darstellung der bäuerlichen Verhältnisse in Schlesien sich auszeichnete. Die belgische Regierung, nachdem sie so leicht den ersten Versuch eines Aufstandes niedergeschlagen hatte, beschloß, es zu einem zweiten Putsch nicht kommen zu lassen. Wenn sie gleich mit Verhaftungen unter den Landesangehörigen vorsichtig sein mußte, so hatte sie doch freie Hand gegenüber den Ausländern. Wir wurden durch Freunde von der Absicht der Regierung unterrichtet, die namhaftesten aus unserem Kreise zu verhaften und über die Grenze zu senden. Ein Brüsseler Bürger, der außerhalb der Stadt ein ziemlich einsames Haus bewohnte, bot uns für die nächste Nacht seine Gastfreundschaft an. Marx, Engels und ich begaben uns nach Sonnenuntergang zu dem wackern Mann. Wir wurden freundlich aufgenommen. Ein Abendessen erwartete uns, und für jeden von uns war ein Lager bereitet. Die Regierung des Herrn Roger, der damals am Ruder war, wollte kein Aufsehen erregen, bei Tage hatten wir keine Verhaftung zu befürchten. Wie es sich übrigens nur zu bald zeigte, hatte sie es fürs erste nur auf Marx abgesehen, den sie nicht mit Unrecht als die Seele der deutschen Emigration ansah. In nächster Nacht -- er hatte sich nicht mehr von den Seinen entfernen wollen -- klopfte es ungestüm an seine Hausthür. Er ließ öffnen. Man kündigte ihm seine Verhaftung an. Die eingetretenen Polizisten forderten ihn auf, ihnen zu folgen. Marx fügte sich, ohne ein Wort zu verlieren, in das Unvermeidliche. Seine Frau jedoch geriet außer sich. Wohin man ihren Mann bringe, fragte sie in namenloser Angst und Aufregung. Man gab ihr keine Antwort und ließ sie allein. Der armen Frau bemächtigte sich nun ein entsetzlicher Gemütszustand. Sie konnte das, was über sie gekommen, nicht fassen. Verzweiflung im Herzen, händeringend ging sie in ihrem Zimmer auf und ab. Allein sein hier mit ihren Kindern, und ihr Mann im Gefängnis! Einem plötzlichen Impuls folgend, setzte sie hastig den Hut auf, warf ein Tuch über die Schultern, eilte die Treppe hinab. Jetzt war sie draußen auf der Straße. Nach welcher Richtung sollte sie sich wenden? Da, etwa dreißig Schritt von ihrem Hause entfernt, erblickt sie einen Polizisten. Sie stürzt auf ihn zu. Es war einer von denen, die in ihre Wohnung gedrungen waren, die die Verhaftung vorgenommen. „Wo haben Sie meinen Mann hingeführt? Sagen Sie mir, wo er jetzt ist,“ schrie sie ihn an. -- „Sie wollen es wissen?“ fragte der Polizist. -- „Ich muß es wissen,“ antwortete sie; „zeigen Sie mir das Haus, führen Sie mich zu ihm.“ -- „Folgen Sie mir,“ antwortete der Diener der öffentlichen Wohlfahrt und Gerechtigkeit. Sie folgte ihm. Der Mann führte sie in ein altes, hohes Haus, durch einen schmalen, langen Gang. Es wurde ihr eng auf der Brust, der Atem ging ihr aus. Ihr ahnte Unheil. Jetzt schloß er eine Thür auf, stieß sie in einen kärglich beleuchteten Raum und schloß wieder hinter ihr zu. Ein tolles Gelächter empfing die taumelnd Eingetretene, eine Schar der unheimlichsten weiblichen Wesen umringte sie. Man betrachtete sie mit frecher Neugier. Eine Fremde! eine Unbekannte! ein neuer Gast! erschallte es um sie her. Und wieder brachen sie in ein tolles Gelächter aus. Jetzt wußte die unglückliche Frau, in welche Gesellschaft man sie gestoßen. Ein gräßlicher Schrei entrang sich ihrer Kehle, ein Schrei, durch den selbst die verlorenen weiblichen Wesen, in deren Mitte sie sich befand, tief erschüttert wurden. Plötzlich schwiegen sie. Hier war etwas Unerhörtes geschehen, das fühlte eine jede. Das war eine anständige Frau, die man zu ihnen, dem Gassenkehricht der Menschheit, gesperrt. Sie hielten erschrocken mit ihren schmutzigen Scherzen inne, sie schwiegen. Wie hat das kommen können? Nach und nach wagte die eine und die andere sich an die schluchzende, in Thränen vergehende Unbekannte mit einem beruhigenden Wort heran. „Rührt mich nicht an! Fort!“ erscholl es ihnen entgegen. Das war eine grausige Nacht, die sich mit all ihren Schrecken und Schmerzen tief in die Seele eingrub. Als die Wintersonne endlich am Horizont erschien, öffnete sich jenes unnennbare Gefängnis. Die in so verbrecherischer Weise Beleidigte nahm alle ihre Kraft noch zusammen, um bei einem, im Hause anwesenden höheren Beamten wegen der ihr angethanen Schmach Klage zu erheben. „Das war ein sehr bedauerlicher Irrtum,“ sagte er. „Ich werde die Sache näher untersuchen.“ -- „Das war ein sehr bedauerlicher Irrtum,“ sagte auch der Minister des Innern, als er in der Kammer wegen des Vorgefallenen interpelliert wurde. Und damit war für die offizielle belgische Welt die Sache abgethan. In der Stadt wurde am andern Morgen die Verhaftung von Karl Marx schnell bekannt. Ich eilte in sein Haus, und dort erzählte mir Frau Marx unter unaufhaltsamen Thränen, wie das zugegangen, und alles Entsetzliche, was ihr selbst in der vergangenen Nacht widerfahren war. Bald erschien auch unser vortrefflicher Freund, ein Brüsseler junger Gelehrter, Namens Gigot der in der Stadtbibliothek ein Amt als Paläograph bekleidete. Er erklärte sich bereit, sich nach den Absichten der Regierung bezüglich des Verhafteten zu erkundigen. Er war überzeugt, daß Marx in wenigen Tagen wieder entlassen sein, und daß man ihm die Wahl des Landes, in welches er nun überzusiedeln gedenke, freistellen werde. Dies bestätigte sich in der That. Wenn er, wie dies jetzt kaum zu bezweifeln sei, Paris wähle, so rate er Frau Marx, ihm dorthin mit den Kindern vorauszugehen, ich sollte mich ihr zur Begleitung anschließen, die Magd solle indessen mit seinem eigenen Beistand den Brüsseler Haushalt auflösen und dann nach Paris folgen. Frau Marx war mit diesem Rat einverstanden. Sie traf im Laufe des Tages, nachdem sie es noch erlangt hatte, von ihrem Mann im Gefängnis Abschied nehmen zu dürfen, alle Vorbereitungen zur Abreise. Ich hatte meine Angelegenheiten bald geordnet und meinen Koffer gepackt. Gigot, von dem ich eben gesprochen, bewährte sich nun als ein zuverlässiger Freund, und kurz vorher hatte sich Marx, als uns von dem erwähnten Brüsseler Bürger in seinem Hause für die Nacht ein Asyl bereitet worden war, so bitter über Gigot ausgesprochen, daß es darüber zwischen ihm und Engels zu einer peinlichen Szene kam, deren Schilderung ich unterlasse. Es gab einen Menschen, den Marx geradezu haßte, und das war der Vater des Nihilismus und Anarchismus, der Russe +Bakunin+. Dieser hatte am 29. November auf der in Paris von den Polen veranstalteten Feier zur Erinnerung an ihre Erhebung des Jahres 1830 -- auch dort waren diesesmal Nichtpolen zugezogen worden -- eine Rede gehalten, welche den russischen Botschafter zu einer Beschwerde bei der französischen Regierung veranlaßte, die Bakunin in Folge dessen sofort eine Ausweisung zukommen ließ. Er kam nach Brüssel, er suchte eine Anknüpfung mit uns, Marx wich ihm aus, Gigot that dies nicht. Bakunin war ihm eine interessante Persönlichkeit und man sah ihn öfter in dessen Gesellschaft. Daß er, der sich um die grauen, sozialistischen Theorien überhaupt wenig kümmerte, und wesentlich von der rein humanitären Seite der Arbeiterbewegung sich angezogen fühlte, Marx Bakunins wegen nicht vernachlässigte, das bewies er in jenen Tagen, wo seine persönliche Intervention der schwer heimgesuchten Marx’schen Familie nützlich sein konnte. Einen Abschiedsbesuch hatte ich in Brüssel zu machen, im Hause unseres französischen Freundes Imbert. Er war abwesend, er war am Tage vor dem Ausbruch der Revolution nach Paris gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. „Mein Mann ist Gouverneur der Tuilerien,“ sagte mir Frau Imbert freudestrahlend. „Gouverneur der Tuilerien,“ wiederholte sie. „Sie müssen ihn besuchen. Bringen Sie ihm meine Grüße und die unserer Kinder. Sie treffen ihn im Pavillon des Prinzen Joinville. Da hat er seinen Wohnsitz aufgeschlagen.“ Wunderbarer Wechsel der Dinge! Louis-Philippe, seine Söhne und Enkel im Exil, und Monsieur Imbert, der Exilierte von gestern, Gouverneur der Tuilerien. Gewiß wollte ich ihn besuchen. Ich geleitete Frau Marx und ihre drei Kinder nach Paris. Sie war nicht wie Frau Imbert, voller Glück und Freude. Ihre Gedanken waren bei ihrem Manne. Sie war angegriffen von den Erlebnissen der letzten Tage und eine drückende Traurigkeit lagerte auf ihren reinen Zügen. Wir gaben uns die Hand und trennten uns, als sie ihr provisorisches Heim erreicht hatte. Provisorisch war alles bis dahin für sie gewesen, ein festes Heim hatte sie mit ihren Kindern noch nicht gekannt. Doch am nächsten Tage schon war sie mit ihrem Manne wieder vereint..... Und auf den Straßen von Paris sah man noch viele Barrikaden, als wir in die Stadt fuhren. Überall wogte ein neues, frisches Leben. Fortwährend große Aufzüge von Männern oder auch Frauen, die sich nach dem Rathause begaben, wo die provisorische Regierung ihren Sitz aufgeschlagen, um ihr die Huldigung des Volkes darzubringen. Wohin man auch gelangte, überall traf der schöne Klang desselben Liedes das Ohr; es war nicht die Marseillaise, die das Volk aufgegeben hatte, ehe sie noch hoffähig geworden beim weißen Zaren und den weißen Mönchen in Nordafrika; es war der Gesang der Girondins, der jetzt einzig und allein die Lüfte erschütterte. Auch die patriotischen Lieder haben ihren Auf- und Niedergang. ~Mourir pour la patrie, C’est le sort le plus beau, Le plus digne d’envie.~ [Illustration] [Illustration] IX. Ein Besuch in den Tuilerien. Am Tage nach meiner Ankunft machte ich dem Gouverneur der Tuilerien, meinem so unversehens vom Fayence-Fabrikanten in Brüssel zu einem hohen Staatsposten beförderten Freunde Imbert einen Besuch. Das lange Gitter vor dem Tuilerienhofe lag am Boden, im übrigen war das große Königsschloß unversehrt. An allen Eingängen stand die sakramentale Inschrift: ~Propriété nationale~, die gleich einem Schutzengel wirkte. Das monumentale Gebäude, an welchem seit der Katharina von Medici so viele weltgeschichtlich hervorragende Fürsten gebaut hatten, machte trotz seiner Ausdehnung und mancherlei Einzelschönheiten keinen imposanten Eindruck. Heinrich IV. hatte den ersten Bau durch Hinzufügung des Pavillon de Flore vergrößern und durch eine Galerie längs des Seineufers mit dem Louvre verbinden lassen. Ludwig XIV. ließ daß Schloß teilweise erhöhen, setzte dem Pavillon de l’ Horloge ein plumpes Dach auf und fügte dem Ganzen einen neuen, geschmacklosen Pavillon hinzu, von welchem aus Napoleon I. eine zweite Galerie zu errichten begann, die dazu bestimmt war, noch eine Verbindung mit dem Louvre herzustellen, jedoch erst unter Napoleon III. vollendet wurde. Die Tuilerien waren nach tapferer Verteidigung durch die Schweizer von den Pariser Sektionen am 10. August 1792 erstürmt worden, und Ludwig XVI. mußte sich mit seiner Familie in den Schutz der Nationalversammlung begeben. Im Palast der Bourbonen hielt alsdann der Konvent seine Sitzungen. Später bewohnte ihn Napoleon als erster Konsul und als Kaiser. Ihm folgte Ludwig XVIII., Karl X. und Louis-Philippe, der letztere gleich seinem Vorgänger zur Flucht aus dem Schlosse der Könige Frankreichs gezwungen. Nun aber thronte darin seine irdene Herrlichkeit, der Steingutfabrikant Imbert, und empfing ohne alle Zeremonie den geringsten der Sterblichen, der ihm herzliche Grüße von Frau und Kindern brachte. Die Tuilerien sind nicht mehr. Nicht einmal die berühmte „eine letzte Säule“ zeugt von entschwundener Pracht. Die Kommunarden haben den ausgedehnten Palast, an den so zahlreiche, erhabene und gemeine historische Erinnerungen sich knüpften, angesichts des deutschen Siegers, der die befestigte Stadt in seine Gewalt gebracht, in Brand gesteckt, und jetzt ist die Stelle, auf welcher der Palast sich erhoben hatte, dem Erdboden gleich. Ich fragte nach dem Herrn Gouverneur. Ein ehemaliger Fürstendiener, der in den Dienst der Republik übergegangen war, geleitete mich in die Appartements des Prinzen Joinville, in denen Freund Imbert seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Imbert empfing mich mit einem freudigen Ausruf. Seine neue Würde hatte ihn durchaus nicht stolz gemacht. Er umarmte mich voll Herzlichkeit, ließ sich von mir erzählen, wie ich zuletzt die Seinen angetroffen und wie es allen Freunden in Brüssel ergehe. Ich erzählte, was ich erlebt, und er erzählte seine Erlebnisse. Ich mußte mit ihm frühstücken. Der Herr Gouverneur läutete. Ein Diener trat ein. „~Monsier le gouverneur est servi~,“ lauteten seine Worte. Wir traten in einen Saal nebenan. Für den Gast wurde auf einen Wink ein zweites Couvert aufgelegt. Wir aßen aus der Küche des Prinzen Joinville, wir tranken den Wein aus seinem Keller, und ich muß es ohne zu erröten gestehen, wir hatten in unserm verhärteten Gemüt nicht einmal die Empfindung einer damit begangenen Missethat. Die Herrlichkeit aber dauerte für unseren Freund Imbert nicht lange. Nach einigen Wochen war in den Pariser Zeitungen zu lesen, daß der Posten eines Gouverneurs der Tuilerien einem General übertragen worden sei. Ob die Republik sich in anderer Weise gegen Imbert dankbar erwiesen, das ist mir nicht bekannt geworden. Die junge Republik war dankbar gegen ihre Begründer und Verteidiger. Davon sollte mir, als ich eben aus den Tuilerien getreten war und im Schloßhof mich umsah, ein unvergeßliches Beispiel vor Augen geführt werden. Aus den zu ebener Erde gelegenen Räumen des alten Palastes traten wohl an die zweihundert der sonderbarsten Gestalten, die einem auf Erden begegnen können. Barrikadenkämpfer, so sagte man, und sie stellten sich auf vorausgegangene Anordnung in zwei Gliedern auf. Viktor Hugos ausgezeichneter Roman „~Notre Dame de Paris~“ ist dem modernen Geschlecht leider unbekannt. Sie wüßten sonst, was es heißen will, wenn ich sage, ich hätte lauter Gestalten aus der ~Cour des Miracles~ vor mir gesehen. Was eine ungeheure Stadt an menschlichem Bodensatz, an vollständig gescheiterten Existenzen besitzt, das kommt an Tagen eines Volksaufstandes, auch wenn er aus den sittlich gesundesten Kreisen der Bevölkerung hervorgegangen, an die Oberfläche, nicht um zu kämpfen und das Leben für den Sieg einer hohen Idee einzusetzen, sondern um auf den Augenblick zu warten, wo es ohne Gefahr etwas zu gewinnen giebt. Während des Kampfes wagt jenes „Lumpenproletariat“ -- der Ausdruck rührt von Marx her -- sich nicht hervor. Wenn die Kämpfenden ihre Pflicht erfüllt haben, Sieger und Besiegte sich todmüde hinlegen, dann ist die Stunde für die Niedrigsten der Niedern, für die unrettbar Verlorenen herangerückt, dann kommen die Schlachtenhyänen, wie man sie im ernsten Kriege genannt hat, und vollziehen ihr nächtliches Werk. Als die Tuilerien eingenommen waren, gab es natürlich ein arges Drunter und Drüber. Ein Teil derjenigen, welche den alten Königssitz gestürmt hatten, -- die jungen Idealisten nämlich -- blieb wohl die Nacht über auf dem eroberten Platz und schützte ihn. Am frühen Morgen schrieb man dann an alle Thüren das mahnende Wort „~Propriété nationale~.“ Aber es waren nach und nach doch wenig achtungswerte Elemente über den seines Gitters beraubten offnen Schloßhof durch die zertrümmerten Fenster in die unteren Räume des langgestreckten Gebäudes eingedrungen, und denjenigen, welche mit ihrer Beute nicht verschwanden, war es eine so wonnige Empfindung, einmal ihre Glieder auf zusammengetragenen Polstern im Königspalast auszustrecken. Viele von ihnen zogen freiwillig am andern Morgen wieder ab, abends aber waren die verführerischen Räume im Erdgeschoß wieder gefüllt. Es ging nicht gut an, die Leute erbarmungslos in die Nacht hinauszujagen. Endlich aber mußte Ordnung geschafft werden, und so wurde den Eindringlingen angekündigt, daß sie am nächsten Tage das Nationaleigentum der Tuilerien auf Nimmerwiederkehr zu verlassen hätten. Und so befanden sie sich nun in zwei Gliedern aufgestellt im Schloßhof. Es waren fast alles Leute, die das kräftige Jugendalter überschritten und das, was man den redlichen Kampf ums Dasein zu nennen berechtigt ist, schon hinter sich hatten. Der Alkohol, den Zola in seinem Roman „~l’ Assommoir~“ mit allen seinen giftigen Wirkungen gewissermaßen als eine mystisch-diabolische Persönlichkeit uns dargestellt, hatte auf die meisten der blöden Gesichter seine Signatur eingegraben. In Fetzen gehüllt, standen die verlotterten Gesellen da, das Unzusammengehörendste an zerrissenen und schmutzigen Kleidungsstücken auf dem Leibe. Dazu waren sie noch mit einzelnen Waffenstücken aus allen Trödlerläden von Paris behängt. Ein ganzes Gewehr, mit dem man noch einen Schuß hätte abgeben können, hatte niemand aufzuweisen; der eine blickte stolz auf einen verbogenen Säbel, der andere wies ein Stück von einer Lanze auf, oder gar nur eine Säbelscheide, eine Patrontasche. Sehr imposant nahm sich einer der Tapfern mit einem Helm auf dem Kopfe als einziges Stück einer soldatischen Ausrüstung aus. Vor diese Spottgestalten trat nun ein General, dessen Name mir nicht mehr erinnerlich ist. Er hatte den Auftrag, sie zum freiwilligen Aufgeben ihrer Schlafstellen in den Tuilerien zu bewegen. „Bürger,“ redete er sie an, „Ihr habt um das Vaterland Euch wohl verdient gemacht, und das Vaterland, das so viel Schmerzen zu stillen, so viel Wunden zu heilen hat, es gedenkt auch Eurer, der glorreichen Verteidiger seiner in blutigen Kämpfen errungenen und stets wieder bedrohten Freiheit, das Vaterland vergißt Euch nicht, Euch, die ärmsten seiner Söhne, die seiner Fürsorge Würdigsten. Ihr müßt dies Haus verlassen, das noch vor wenigen Tagen der Sitz eines stolzen Königs war, den Ihr vertrieben habt, weil er den Volkswillen nicht zu beachten verstand; dies Haus gehört jetzt der Nation. Sie allein hat jetzt darüber zu verfügen. Geht zurück in jenen Saal, aus dessen Fenstern unsere ruhmvolle Tricolore Euch grüßt. Dort harren Eurer mehrere Eurer Mitkämpfer. Lege ihnen jeder von Euch freimütig seine Wünsche dar, sie sollen Euch gewährt werden. Nicht Geld, das Ihr verachtet und dessen Annahme Euch peinlich wäre, bietet die Republik Euch an; doch möchte sie nicht, daß ihre Verteidiger, die ihren Leib dem Feinde entgegengeworfen, und dabei das eingebüßt haben, womit der Tapfere seine Blöße bedeckt, zerfetzt einhergehen. Was jeder von Euch an ehrbaren Kleidungsstücken braucht, das erkläre er ohne Scheu vor jenen dazu bestellten Männern. Es soll ihm gereicht werden. Euch alle aber fordere ich auf, angesichts des klaren Himmels, der auf unsere junge Freiheit herniederstrahlt, in den Ruf einzustimmen: „Es lebe die Republik!““ „~Vive la république!~“ erscholl es aus aller Munde. Die Schlacht war ohne Blutvergießen, ohne jede Gewaltanwendung, durch eine einfache Rede gewonnen. Die ungebetenen Gäste, nachdem sie ihre Wünsche hatten aufschreiben lassen -- nur wenige verlangten eine vollständige Kleidung, die meisten begnügten sich mit der Erneuerung des einen oder anderen Gegenstandes -- verließen ihre ihnen lieb gewordene Schlafstätte, und es wurde ohne Verzug für die Wiederherstellung der Tuilerien in ihren früheren Stand gesorgt. Als ich in die Stadt zurückkehrte, begegnete ich einem Zuge der Pariser Wäscherinnen, die im Begriff waren, wie die ~Dames de la Halle~ es schon gethan, der provisorischen Regierung zu gratulieren. Auf ihrem ganzen Wege erklang wieder das ~Mourir pour la patrie~. Es war trotz dieses Hymnus auf den Schlachtentod ein heiterer Festzug, er wurde in den Straßen mit den lebhaftesten Zurufen begrüßt, alles kicherte, lachte, die Augen strahlten und flammten, und Witzpfeile flogen hin und her. Von den fremden Nationalitäten hatten schon die Polen, die Amerikaner und die Italiener die provisorische Regierung in glänzendem Aufzug begrüßt. Die Deutschen, die zahlreichsten in Paris niedergelassenen Ausländer, brauchten längere Zeit, um sich zu einem gemeinsamen, politischen Akt zu organisieren. Endlich am 6. März, erklärten sie sich bereit, dem Beispiel der anderen Nationalitäten zu folgen. [Illustration] X. Die Deutschen in Paris. Georg Herwegh und der Freischaarenzug nach dem badischen Oberland. Die Deutschen bilden bekanntlich die zahlreichste Fremdenkolonie in Paris. Im Faubourg St. Antoine allein sollen in jener Zeit 20,000 deutsche Arbeiter gewohnt haben. Der Gedanke, an die provisorische Regierung eine Abordnung der Deutschen in Paris mit einer Adresse an das französische Volk zu senden, ist von Herrn Adalbert von Bornstedt, dem in einem früheren Kapitel dieser Erinnerungen erwähnten Herausgeber der Deutschen Brüsseler Zeitung ausgegangen. Dieser ehemalige preußische Offizier kam zu +Georg Herwegh+, dem Dichter der Lieder eines Lebendigen, der damals seinen Wohnsitz in der französischen Hauptstadt aufgeschlagen hatte, und forderte ihn auf, einen Adreßentwurf auszuarbeiten und ihn einer im Saal Valentino einzuberufenden Versammlung der deutschen Landsleute zur Annahme vorzulegen. Herwegh willigte ein. Es sei mir gestattet, diese Adresse hier im Auszug wiederzugeben.[A] Sie ist bezeichnend für die Stimmung, die in jenen Tagen selbst ungewöhnlich intelligente, aber nicht zu politischen Dingen berufene Menschen beherrschte. Die Adresse beginnt mit einem großen Irrtum: „Der Sieg der Demokratie für ganz Europa ist entschieden, Gruß und Dank vor allem dir, französisches Volk! In drei großen Tagen hast Du mit der alten Zeit gebrochen und das Banner der neuen aufgepflanzt für alle Völker der Erde. Du hast endlich den Funken der Freiheit zur Flamme angefacht, die Licht und Wärme bis in die letzte Hütte verbreiten soll. Die Stimme des Volkes hat zu den Völkern gesprochen, und die Völker sehen der Zukunft freudig entgegen. Vereint auf einem Schlachtfeld treffen sie zusammen, zu kämpfen den letzten unerbittlichen Kampf für die unveräußerlichen Rechte jedes Menschen. Die Ideen der neuen französischen Republik sind die Ideen aller Nationen, und das französische Volk hat das unsterbliche Verdienst, ihnen durch seine glorreiche Revolution die Weihe der That erteilt zu haben, u. s. w.“ Als eine ungeheure Selbsttäuschung erscheinen uns heute diese Sätze. Gewiß war der 24. Februar 1848 ein großes historisches Datum, gewiß hat die Erhebung der Stadt Paris, die Vertreibung der Dynastie Orleans, die Ausrufung der zweiten französischen Republik andere Völker Europas zur Empörung gegen die ihnen auferlegte absolutistische Gewalt geführt; gewiß hat Frankreich zum zweitenmal den Anstoß gegeben zu einer großen Bewegung, welche in ihrem vielfach durch vorherzusehende Hindernisse gehemmten Verlauf endlich zu weitgehenden politischen Veränderungen geführt haben. Den Widerstand, dem die Volkserhebung des Jahres 1848 begegnen mußte, hat jedoch der Verfasser jener Adresse nicht vorhergesehen, er scheint ihn kaum geahnt zu haben. In Preußen und in Österreich und den anderen deutschen Staaten ist die Republik nicht ausgerufen worden, weil die republikanische Idee nicht im Volke lebte; die Polen versuchten es nicht einmal, sich gegen den russischen Despotismus zu erheben, der Zar hielt das Land durch seine Truppenmacht so gefesselt, daß es sich nicht zu rühren wagte, er konnte sogar im Jahre 1849 die bis dahin siegreiche Revolution in Ungarn niederschlagen, welche Österreich nicht zu bewältigen vermochte. Und in Frankreich wählte das Volk, „das den Funken der Freiheit zur Flamme angefacht,“ den Prinzen Louis Napoleon zum Präsidenten der Republik, der das junge, seiner Pflege anvertraute Kind in der Wiege erdrosselte. Durch die Herwegh’sche Adresse ging ein kosmopolitischer Zug, der zu dem gesteigerten nationalen Bewußtsein, das in der Bewegung des Jahres 1848 bei allen Völkern Europas sich kundgab, in grellem Widerspruch stand. Der Kosmopolit ist stets der Düpierte. In der Adresse heißt es: „Die Völker sehen der Zukunft freudig entgegen. Vereint auf +einem+ Schlachtfelde treffen sie zusammen.“ Das Gegenteil ist eingetroffen, nicht die Völker, sondern die in ihrer Herrschaft bedrohten Dynastien, die über die militärischen Kräfte der Völker verfügten, traten vereint auf +einem+ Schlachtfelde gegen die Völker auf. Das war der erste Akt der mit dem Jahre 1848 begonnenen neuen Zeit. Langsam trat eine Wendung in freiheitlichem Sinne in dem großen Drama ein, das sich bis zum Frankfurter Frieden vor uns abspielte, nicht im Geiste der Völkerverbrüderung, die damals von Poeten aller Zungen um mindestens ein Jahrhundert zu früh besungen wurde, sondern in dem nationaler Ausschließlichkeit. Deutschland, Italien und Österreich-Ungarn waren damals nichts anderes als geographische Begriffe. Die Völker, die sich verbrüdern sollten, mußten erst durch schwere Kämpfe ihr politisches Dasein sich erringen. Es hat ein Vierteljahrhundert und gewaltige Kriege gebraucht, ehe Deutschland und Italien selbständige Nationen wurden. Noch immer zittert der Boden, auf dem ihre Neugestaltung sich erhebt und ein zweites Vierteljahrhundert hat ihre ganze Fürsorge für das mit ihrem Blut Errungene gefordert. Noch immer sind es nationale Fragen, in Österreich-Ungarn, in Griechenland, auf der Balkanhalbinsel, im ganzen Orient, welche die Politik unserer Tage beherrschen. Noch immer sind wir weit entfernt von der Verwirklichung jener schon lange vor 1848 von Béranger und Alfred de Musset gesungenen Lieder zur Verherrlichung der Völkerverbrüderung. Ja, die Franzosen sind zur Stunde viel ausschließlicher national gesinnt als alle anderen Völker. Sie waren im Jahre 1848 nichts weniger als kosmopolitisch gesinnt. Das konnte man schon aus der Antwort erkennen, welche Crémieux im Namen der provisorischen Regierung auf die ihr am 8. März von den Deutschen überreichte Adresse erteilte. Nach einer Angabe des Moniteur, der jene Adresse in ihrem Wortlaut veröffentlichte, waren es 6000 Deutsche gewesen, welche an dem Zuge zum Stadthause teilgenommen hatten. Ich war natürlich auch dabei. In seiner Antwort auf die Adresse sagte Crémieux: „Ein Vaterland der Philosophie und der hohen Studien, kennt euer Deutschland sehr wohl den Wert der Freiheit, und wir sind versichert, daß es sie aus eigener Kraft und ohne andere fremde Hilfe zu erobern wissen wird, als diejenige des lebendigen Beispiels, das wir dem Volke geben.“ Schon in diesen Worten lag die leicht verständliche Andeutung, daß die junge Republik alles vermeiden wollte, was sie in den Augen der Monarchen kompromittieren und eine Koalition gegen Frankreich herbeiführen konnte. An eine solche Koalition war fürs erste nun freilich nicht zu denken, denn die Monarchen hatten bald im eigenen Hause genug zu thun. Der Friedensgedanke aber herrschte vor. Im Schoße der provisorischen Regierung wurde er mit Entschiedenheit von Lamartine vertreten, und sogar viel weiter nach links stehende Mitglieder derselben, wie Louis Blanc und der Arbeiter Albert, achteten einzig und allein auf die Stürme, die im Innern der Republik aus sozialistischen Kreisen sich ankündigten, infolge der eingetretenen Arbeitslosigkeit von Woche zu Woche sich drohender näherten, so daß selbst die Eröffnung der Nationalwerkstätten den gegen die Bourgeois-Republik gerichteten blutigen Juni-Aufstand nicht verhindern konnte, der den Untergang der Republik überhaupt nach sich ziehen sollte. Unter dem allgemeinen Stillstand der Geschäfte, der in Frankreich eingetreten war und namentlich die arbeitende Bevölkerung von Paris schwer heimsuchte, litten besonders die deutschen Arbeiter, die man eher als die einheimischen aus den Werkstätten entließ. Die Begeisterung, welche die nun einander folgenden Aufstände in Wien und Berlin sowie im Großherzogtum Baden hervorriefen, führte zu dem unglückseligen Gedanken, der von Herrn Adalbert von Bornstedt ausgehend, an Herwegh herantrat, eine deutsche demokratische Legion zu sammeln und sie zur Unterstützung Heckers nach Baden zu führen. Herwegh widerstand anfangs dieser Zumutung, doch ging er schließlich auf den Vorschlag ein, indem er die militärische Führung sachverständigen Personen, ehemaligen Offizieren überließ und die 850 Mann zählende Legion nur als politischer Berater begleitete. Vergebens, daß er sich später auf diese Thatsache berief. Die Unternehmer des Zuges brauchten einen bekannten und populären Namen und dazu mußte derjenige des mit dem Lorbeer geschmückten Dichters ihnen dienen. Dieser Zug an der Spitze der deutschen demokratischen Legion von Paris bis nach dem badischen Oberland, wo das Gefecht bei Dossenbach dem Abenteuer ein Ende machte, wurde geradezu verhängnisvoll für Herwegh, denn die durch Augenzeugen und die gerichtlichen Verhandlungen gründlich widerlegte Fabel, daß er in einem von seiner mutigen Frau über die Schweizergrenze geführten Einspänner unter dem Spritzleder sich versteckt gehalten, wurde geflissentlich von der Reaktion und gedankenlos von der indifferenten Menge verbreitet, sogar von gelehrten Historikern ohne Kritik, ohne Quellenangabe in ihren Schriften festgenagelt. Verhängnisvoll sagte ich, wurde dieser Zug mit der Pariser deutschen Legion, die über dem Rhein das republikanische Banner entfalten sollte, für den hochbegabten Dichter. Die über seine Flucht nach der Schweiz verbreitete Fabel, die zu widerlegen er zu stolz war, versetzte sein Gemüt in tiefe Verbitterung und drängte ihn mehr und mehr von seiner Heimat, drängte den Dichter von seinem Urquell ab. Hieraus erklärt sich seine lange Unproduktivität. Mir war es manchmal -- ich stand in Zürich in freundlichstem Verhältnis zu ihm und seiner Familie -- als suchte er Vergessen in dem unausgesetzten Studium von Werken aus den verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten. Das ewige Lesen und Lesen ließ ihn nicht zur Produktion gelangen, und er hatte doch in seiner Nähe das schönste Beispiel fortgesetzter Produktivität an Richard Wagner, den er nicht selten sah. Der langjährige, fast ausschließliche Verkehr mit Italienern, Franzosen und Russen konnte auch nicht befruchtend auf den versiegenden Quell poetischer Schöpfung wirken. Es vergingen Jahre, bis er durch die Übersetzung der Lustspiele Shakespeares für die vortreffliche Bodenstedt’sche Ausgabe des britischen Dichters aus seiner nur durch einzelne Zeitgedichte unterbrochenen Passivität heraustrat. Da aber setzte ein früher Tod seinem neu erstandenen Schaffen ein nur zu rasches Ende. Noch einige Worte über Herwegh: Er hielt es für möglich, in Deutschland die Republik herzustellen. „Ihr habt ein paar gute Tage gehabt in Berlin,“ schreibt er einem seiner dortigen Freunde, „aber bei allem Heroismus echt +deutsche+ Tage. Ihr habt zu kämpfen aufgehört in einem Augenblick, wo ein Ruf „~au château!~“ für euch und Deutschland alles entschieden hätte; man macht allerdings die Republik, ein Dutzend Menschen reicht dazu hin, und wenn sie nur eine Viertelstunde von diesen aufrecht erhalten wird, so wird sie von Millionen für lange Zeiten aufgenommen. Die Bourgeoisie fügt sich in alles.“ Für Frankreich mochte die Bemerkung richtig sein, daß man die Republik machen könne. Das ist in der That in der Februar-Revolution geschehen. Einige geheime Gesellschaften haben die ihnen durch den Doktrinarismus und die Verkehrtheiten eines Guizot geschaffene Gelegenheit benutzt, um Louis-Philippe mitsamt seinen Ministern aus Frankreich zu vertreiben. Wie lange aber hat die zweite Republik gedauert? Wenn die dritte sich seit dem September 1870 bis heute erhalten hat, so ist dies wesentlich dem Umstande zuzuschreiben, daß die alten Dynastien in Frankreich keinen einzigen zugkräftigen Prätendenten mehr stellen konnten. Der französischen Bourgeoisie und dem Landvolk ist aber auch die Staatsform sehr gleichgültig geworden, sie haben sich beide in die Republik jetzt eingelebt, die Bourgeoisie, weil sie in der Republik wie in der Monarchie ihre Interessenherrschaft zu wahren vermag, der Bauer, weil er seiner Natur nach sich stets in die gegebenen Verhältnisse schickt. Sollte die sozialistische Arbeiterpartei, was übrigens durchaus nicht wahrscheinlich ist, noch einmal einen Massenaufstand für ihren Idealstaat wagen, so würde sie wieder eine furchtbare Niederlage erleiden. Das morsche Königtum konnte in Frankreich durch eine Handvoll entschlossener Männer vernichtet werden, das wird aber nicht das Schicksal der Bourgeois-Republik sein. Sie wird nicht durch das Schwert beseitigt werden, es sei denn nach einem unglücklichen Kriege, sie geht durch die sozialen Reformen, zu denen sie sich nach und nach herbeilassen muß, einer Umwandlung entgegen, durch welche der heutige schroffe Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Arbeiterbevölkerung sich fortschreitend abschwächt, so daß auf dem natürlichen Wege der Entwicklung eine neue Gesellschaft entsteht, die zwar, soweit Menschen blicken können, niemals dem Ideal des Sozialphilosophen, jedoch den jeweiligen Bedürfnissen der Zeit und den vorhandenen Mitteln zur Befriedigung dieser Bedürfnisse entsprechen wird. Welche Gestalt diese Gesellschaft erhält, das kann uns heute wenig kümmern, denn es wäre thöricht, entfernten Geschlechtern ihre Aufgabe heute abnehmen zu wollen. In Deutschland aber, um zu dem Ausgangspunkt dieser Betrachtung zurückzukehren, denkt heute, ein halbes Jahrhundert nach den Umwälzungen des Jahres 1848, keine revolutionäre Partei daran, die Republik durch einen Handstreich zu „machen“. Ein anderer großer Irrtum Herweghs und der damaligen demokratischen Partei geht aus demselben, kurz nach dem verunglückten Feldzug der Pariser deutschen Legion an einen Berliner Freund geschriebenen Briefe hervor. Da heißt es: „Ihr bildet Euch doch nicht ein, mit dem König von Preußen einen Krieg gegen Rußland zu führen!“ Kein politisch denkender Mensch in Deutschland hat vernünftigerweise nach der Märzrevolution an einen Krieg mit Rußland gedacht. -- „Ihr bildet Euch doch nicht ein, ohne Polen, auch das wenige, was Ihr errungen, zu erhalten? Ihr verratet Polen oder Ihr werdet Republikaner! Frankreich wird nicht ruhig zusehen, es wird Polen zu Hilfe eilen, aber es wird nicht bis dahin gelangen, es wird in Deutschland hängen bleiben, in dem alsdann feindlichen Deutschland, und die alte Geschichte geht wieder los, Frankreich ist verloren, Ihr seid verloren, Polen ist verloren, und die Geschichte wird endlich gerecht sein und Euch von den Kosaken fressen lassen.“ Ist es möglich, mehr falsche Prophezeiungen in einem Zug aneinander zu häufen, als in diesen wenigen Zeilen ausgesprochen sind? Frankreich hat während der abgelaufenen letzten fünfzig Jahre keinen Schritt gethan, um Polen zu befreien, und wir sehen am Ende dieses Jahrhunderts den Präsidenten der französischen Republik und den Selbstherrscher aller Reußen sich brüderlich umarmen, wir sehen die Pariser die glänzendsten Feste zu Ehren der Allianz der demokratischen Republik mit der absolutesten aller Monarchien veranstalten, weil sie sich mit der Hoffnung tragen, unter gewissen, eines Tages vielleicht eintretenden Verhältnissen dem neu erstandenen deutschen Reich die Provinzen Elsaß und Lothringen wieder abzunehmen, ja vielleicht die alte, von dem ersten Napoleon erworbene Rheingrenze bis zur Mündung des deutschen Stromes zu gewinnen. Ich habe niemals mich aufs Prophezeien eingelassen, ich habe auch niemals in den Fesseln der Erinnerung an die erste französische Revolution gelegen, einer Erinnerung, die in jenen Tagen noch viele Köpfe beherrschte und sie zu dem Glauben verleitete, die Dinge müßten genau so wiederkehren, wie sie von 1789 bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts sich gestaltet haben. Das Kleben an den Ereignissen jener Zeit, die das Mittelalter bis auf wenige Überreste begraben, Europa eine neue Gestalt und einen neuen Inhalt gegeben haben, hat, wie ich nur zu häufig beobachtet habe, viele ihrer Meinung nach am weitesten vorgeschrittene, von allen Vorurteilen sich frei dünkende Leute dazu geführt, daß sie stets nach rückwärts blickten, statt nach vorwärts, daß sie von der angelernten Bewunderung für die Gewaltmenschen der Schreckenszeit sich nicht frei machen konnten, von denen die meisten mir stets als recht feige Gesellen erschienen sind, weil sie aus Angst, für gemäßigt zu gelten und deshalb abgeschlachtet zu werden, den Nachbar abschlachten ließen. Neue historische Ereignisse beschäftigen die Gemüter jetzt, man ist im Besitz der großen Errungenschaften der französischen Revolution, denkt aber nicht mehr daran, die Danton und Robespierre, die Schurken des ~tribunal révolutionnaire~, die für ein lumpiges Taggeld jeden Angeschuldigten zum Tode verurteilten, denkt nicht daran, die Marat, Fouquier-Tinville und Henriot als Lehrmeister der Weltgeschichte zu betrachten. [A] Briefe von und an Georg Herwegh. Herausgegeben von Marcel Herwegh. Paris, Leipzig, München, Albert Langen. [Illustration] [Illustration] XI. Heimkehr nach Berlin. Die Berliner nach dem 18. März. Am 13. März 1848 wurde in Wien das Metternich’sche Regiment zertrümmert. Wie ein Kartenhaus brach es zusammen, umgeblasen von dem lauten Freiheitsruf der aufgeregten Bevölkerung. Es bedurfte zu aller Welt Erstaunen keines langen blutigen Kampfes, um die Herrschaft eines Staatsmannes niederzuwerfen, der in Europa für allmächtig galt, weil er seinen verderblichen Einfluß auf sämtliche Monarchen ausübte, die auch nichts anderes wünschten, als seinem Rat, der nicht selten ein Befehl wurde, mit ganzer Seele nachzukommen. Metternich war ihnen die Vorsehung des Königtums von Gottes Gnaden. Und doch hatte sich in Wien, wo er als unbeschränkter Herr waltete -- der Kaiser war ja geistig unmündig -- als das Volk sich erhob, keine Hand ernstlich für ihn gerührt. Die Mitglieder des kaiserlichen Hauses haßten ihn, weil er sie zu seinen Handlangern degradiert hatte, seine Kollegen im Ministerium und die alten Generäle haßten ihn, weil er ihnen wie jedem andern gegenüber der alleinige Gebieter war, alle höheren und mittleren Staatsbeamten lachten sich ins Fäustchen, als sie ihren Herodes gedemütigt und die Flut der Empörung ihn verschlingen sahen. Das Wiener Volk stieg auf die Gasse und seinen wildesten Zornesausbrüchen trat ein so geringer Widerstand entgegen, daß es mit einem Hohngelächter den Götzen der europäischen Reaktion aus seinem Tempel vertreiben konnte. Niemand hatte geglaubt, daß Fürst Metternich, die Säule der reaktionären Gewalten Europas, so schwach fundiert war, daß er am Tage der großen Prüfung wie ein Strohhalm in sich zusammenknicken mußte. Die Leichtigkeit des Triumphes sollte später den Siegern verhängnisvoll werden. In Berlin wurde am 18. März das Schicksal der absoluten Monarchie für immer entschieden. Hier saß ein Mann auf dem Throne, der bei allem Witz, den er in seinem engsten Hofzirkel entfaltete, bei allem mannigfaltigen Wissen, das er in sich aufgenommen, in allen politischen Fragen einen beschränkten Gesichtskreis hatte und eine auffällige Unkenntnis des Geistes seiner Zeit, ihrer treibenden Ideen, sowie der Menschen und Zustände verriet, mit und in denen er lebte. Man hat mit gutem Grund ihn den „Romantiker auf dem Thron der Cäsaren“ genannt. Schade, daß ihn das Schicksal nicht zu einem Poeten gemacht, er wäre der Rival eines Clemens Brentano und Zacharias Werner oder eines Geschichtsschreibers wie Görres geworden. Er war eben so anormal angelegt wie sie und deshalb zum König, zum Haupte einer Nation in einer gärenden Zeit wie die seine durchaus nicht berufen. Er hat eine klägliche Rolle auf dem Throne der Hohenzollern gespielt. Als ich einige Tage nach dem 18. März in Berlin eintraf, wurde ich von dem Bilde, das sich hier meiner Beobachtung darbot, aufs Höchste überrascht. In Paris hatte ich eine fröhlich erregte Bevölkerung gesehen, die noch bis tief in den März von der Siegesstimmung nichts eingebüßt hatte, die am Abend des 24. Februar sie zu den lautesten Kundgebungen hinriß. In Berlin war schon wenige Tage nach dem 18. März von dem Revolutionsrausch, der in Wirklichkeit ja ganz Deutschland ergriffen hatte, kaum noch etwas zu merken. Der Rausch hatte sich rasch verflüchtigt. Die Leute sahen ernst darein, als fürchteten sie die Zukunft. Die Selbstdemütigung des Königs, als er auf den Balkon trat, um der Aufforderung des unten auf dem Platze drohend versammelten Volkes nachzugeben und vor den von den Barrikaden aufgehobenen Leichen den Hut zu ziehen, sein Ritt durch die Straßen der Stadt hinter der, von dem berüchtigten Geheimpolizisten Stieber vor ihm hergetragenen schwarz-rot-goldenen Fahne, die bekannt gewordene Thatsache, daß er während des Kampfes zwischen Bürgern und Soldaten in Thränen zerflossen, daß er während des Volksaufstandes, ein ganz gebrochenes Gemüt, gewollt und nicht gewollt und sich vollständig unköniglich benommen, alles das ließ eine gehobene Stimmung nicht aufkommen. Die Bevölkerung schwankte zwischen Hohn und Mitleid, sie ahnte auch, daß die Demütigung, welche Friedrich Wilhelm IV. erfahren hatte, sich bald in Trotz verwandeln und einen um so hartnäckigeren Widerstand gegen die Volkswünsche hervorrufen werde. Hatte man doch schon nach den ersten Tagen die alten feudalen und hochkirchlichen Ratgeber in der Umgebung des nach Potsdam übergesiedelten Monarchen sich wieder einstellen sehen. Ein Ruf nach der Republik, wie er in einigen süddeutschen Landschaften vorübergehend erschallt war, hatte sich in Norddeutschland, speziell in Berlin nicht vernehmen lassen. Man möchte sagen, das preußische Volk fühlte sich im Innern selbst gedemütigt, daß ein Nachfolger Friedrichs des Großen so wenig Mark in den Knochen hatte. An Paris erinnerte mich nur die mit Kreide an den Eingang zum Palais des Prinzen von Preußen, späteren Kaisers Wilhelm, geschriebenen Worte „National-Eigentum.“ Wache hielten davor zwei Männer der im Nu gebildeten Bürgerwehr, welche den Dienst des zurückgezogenen Militärs versah. Sie trug keine Uniform, doch war sie mit Infanterie-Gewehren bewaffnet. Die Bürgerwehr nahm ihren Dienst sehr ernst. Zu ihr hatten sich wesentlich die bürgerlichen, wohl liberal, doch keineswegs revolutionär gesinnten Elemente der Hauptstadt gemeldet. Der weiter nach links stehende Handwerkerverein, von dem ich in einem früheren Kapitel gesprochen, bildete ein besonderes Bataillon. Wenn die Nacht hereinbrach, marschierten Abteilungen der Bürgerwehr durch die Straßen in ganzer Breite derselben, um jede Ansammlung von Volksmassen zu verhindern. Verdächtige, sogenannte „Bassermann’sche Gestalten“ wurden von den Hütern der öffentlichen Ordnung manchmal nicht eben sanft beiseite gedrückt. Die Bürgerwehr sorgte für die Ruhe der Stadt, für Ordnung auf den Straßen und öffentlichen Plätzen. Mit der gewissermaßen aus der Erde emporgeschossenen Bürgerwehr waren sogleich nach der vom König ausgesprochenen Verheißung einer Verfassung das durch dieselbe erst zu verbürgende, von der liberalen Bevölkerung in Aussicht genommene Recht der freien Presse und das freie Vereins- und Versammlungsrecht ohne weitere Formalitäten ins Leben getreten. Um den Censor, den alten Geheimrat John, ein kleines Männchen mit einem wie aus Holz geschnitzten Köpfchen, das sich bemühte, einen recht wohlwollend durch die großen Brillengläser anzuschauen, denn er ahnte wohl schon lange, daß sein Reich bald zu Ende gehen sollte, und er wollte doch nicht, daß er in der Erinnerung der jungen Generation als ein Torquemada der Litteratur gelten sollte, um dieses innerlich längst geknickte Werkzeug der hohen Reaktion kümmerte sich keine Seele mehr. Bevor er noch auf Befehl der Märzregierung seine traurige Bude schloß, konnte man an allen Straßenecken der Hauptstadt große Plakate lesen, unter denen nicht selten auch mein Name sich fand, und durch welche ohne vorausgegangene hochobrigkeitliche Erlaubnis die Leser auf diesen oder jenen Mißstand aufmerksam gemacht, vor dieser oder jener sich vorbereitenden reaktionären Maßregel gewarnt, oder zu dieser oder jener Versammlung eingeladen wurden. Die politischen Parteien gruppierten sich schnell in Vereine, auffallend genug für ein Land, in welchem das freie Vereinsrecht bis dahin nicht existiert hatte. Neben den alten zwei Zeitungen, der Vossischen und der Spenerschen, entstanden eine Reihe anderer Tagesblätter, von welchen einige nach kurzem Dasein verblichen, andere, wie die „Nationalzeitung“ und die „Kreuzzeitung“, sich bis heute erhalten haben. Die „Kreuzzeitung“ war sehr bald nach der Märzrevolution erschienen, so rasch hatte die Hofpartei, die Partei der Junker und der Hochkirchlichen, sich kampfbereit gesammelt und ihre Fahne aufgepflanzt. Aber auch eine Arbeiterpartei stand bald auf dem Plan und ihr Organ „das Volk“, erschien dreimal wöchentlich in Berlin. Ich allein schrieb das ganze Blatt, von der ersten bis zur letzten Zeile, ich hatte und ich suchte auch keine Mitarbeiter. Die Elemente zu einer Arbeiterpartei waren zumeist in den Genossenschaften vorhanden, die in einem und demselben Gewerbe einer Kranken-, Invaliden- und Witwenkasse oder einer Unterstützungskasse für die reisenden „Kollegen“ angehörten. Nach der Märzrevolution aber fühlte der einzelne sich sofort als das Glied eines großen und wichtigen Lebenselementes im Staate, und die verwandten Gruppen suchten und fanden bald einen Zusammenschluß. Jung, voller Thatkraft und voll Glaubens an die Macht der werbenden Ideen, war ich überall anzutreffen, wo es galt, eine Bewegung, die nur auf den ersten Anstoß wartete, in Fluß zu bringen. Wenn ich eben vom Glauben an die werbenden Ideen sprach, so muß ich von vornherein hier feststellen, daß ich nun, wo ich in den Strom des öffentlichen, politischen Lebens -- ich sage nicht, mich stürzte, sondern geriet, von allen Spekulationen in die Ferne plötzlich mich befreit fühlte, die Dinge anschaute, wie sie sich dem Auge darboten, mit den gegebenen Verhältnissen rechnete und vor allen Dingen das nächste Ziel im Auge behielt, das sich nur erreichen ließ, wenn man an manches Vorurteil nicht rührte, dies sogar mit in den Kauf nahm, wollte man irgend etwas leisten. Dieses Ziel -- und darin war ich ganz Marxianer und ein zuverlässiger Schüler des Meisters -- ging darauf hin, die auf den Sieg des liberalen Bürgertums gerichteten Anstrengungen, d. h. dessen Bestrebungen, um seine in Deutschland erst zu schaffende Herrschaft im Staate nach Kräften zu unterstützen und dabei zunächst auf eine zu erlangende Organisation des arbeitenden Volkes als Vorbedingung der aus ihr sich zu gestaltenden Arbeiterpartei hinzuwirken. Dieses von der Natur der Dinge gegebene Programm drängte sich meiner Einsicht in die Verhältnisse ganz von selber auf. Weggewischt waren für mich mit einem Male alle kommunistischen Gedanken, sie standen mit dem, was die Gegenwart forderte, in gar keinem Zusammenhang. Man hätte mich ausgelacht oder bemitleidet, hätte ich mich als Kommunisten gegeben. Der war ich auch nicht mehr. Was kümmerten mich entfernte Jahrhunderte, wo jede Stunde mir dringende Aufgaben und Arbeit in Fülle darbot! Unter den Arbeitern der Stadt Berlin bildeten die Maschinenbauer und die Buchdrucker gewissermaßen die tonangebenden, um nicht zu sagen aristokratische Elemente. Buchdrucker war ich ja selber von Hause aus, wenn ich gleich seit meinem zweiten Aufenthalt in Paris dem Winkelhaken entsagt und dafür berufsmäßig die Feder geführt hatte. Schon zu Anfang des Jahres 1848 hatte ich eine Korrespondenz für ein süddeutsches Blatt übernommen; in Berlin wurde der Journalismus meine regelmäßige Beschäftigung. Außer meinem eigenen, oben genannten Blatte, schrieb ich Korrespondenzen aus der Hauptstadt für die von Marx in Köln gegründete „Neue Rheinische Zeitung“. Den Berliner Buchdruckern galt ich bei alledem als einer der Ihrigen. Sie waren es, die zuerst von allen anderen Arbeitern, auf eine Besserung ihrer Lage bedacht, eine Lohnerhöhung forderten. Ich wohnte ihrer ersten Versammlung bei, sie wählten mich zum Vorsitzenden und zum Präsidenten des leitenden Ausschusses. Ihre Forderungen waren durchaus gerecht, und charakteristisch für jene Zeit ist es, daß es einer politischen Revolution bedurfte, ehe man überhaupt daran denken konnte, diese gerechten Forderungen zu erheben. Ohne sie wäre die Polizeigewalt sofort eingeschritten, die Aufstellung eines durch die Drohung eines Ausstandes unterstützten Tarifs wäre als staatsgefährlich nicht gestattet worden. Den Wortführern der Arbeiter hätte man einfach als Volksverführern den Prozeß gemacht, im mildesten Falle wären sie ausgewiesen worden. Der durchschnittliche wöchentliche Verdienst eines Setzers oder Druckers betrug zu jener Zeit 3½ Thaler oder 13 Fr. 15 Cent. In Paris betrug er schon seit dem Jahre 1843 mehr als das doppelte: 28 bis 35 Fr. Dabei war die Arbeitszeit in Berlin auf 13 bis 14 Stunden, in Paris auf 10 Stunden täglich festgesetzt. Dies einzige Faktum genügt heute jedem, der diese Zeilen liest, um die auf eine kleine Erhöhung des Tarifs und eine geringe Verminderung der Arbeitszeit gerichteten Forderungen der damaligen Buchdrucker als gerechtfertigt anzuerkennen. Ähnlich wie um die Buchdrucker stand es damals um sämtliche Arbeiter. In Frankreich, von England gar nicht zu reden, standen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer als freie Kontrahenten gegenüber. In Deutschland, das in seiner gewerblichen Entwicklung noch weit zurück war und wo die Großindustrie kaum erst die zartesten Sprossen aufwies, herrschte vor fünfzig Jahren noch eine Art patriarchalischen Verhältnisses. Der Arbeitgeber betrachtete sich in der Regel dem Arbeitnehmer gegenüber als ein Wohlthäter, dem dieser sein Brot verdanke und der ein himmelschreiendes Unrecht begehe, wenn er sich so weit vergesse, mit Forderungen hervorzutreten, gewissermaßen die Annahmebedingungen für das ihm erwiesene Gute zu stellen. Wie in der Politik noch die letzten Strahlen des unter Friedrich dem Großen und Joseph II. blühenden Systems des wohlwollenden Despotismus die besseren unter den deutschen Fürsten verklärten, so herrschte dasselbe System des patronalen Despotismus in der Führung der Gewerbe. Der Arbeiter selber betrachtete sein Verhältnis zum Prinzipal gewissermaßen als ein Unterthanen-Verhältnis. Der Sturm des Jahres 1848 hatte diese Art Glaubensartikel, denn als solcher hatte diese Anschauung in den Köpfen beider Parteien Wurzel gefaßt, mit einem Schlage vernichtet. Als die Buchdruckereibesitzer sich anfangs auf keine Unterhandlungen einlassen wollten, weil sie diese so zu sagen als eine Entwürdigung ihrer bisher innegehabten Stellung ansahen, und es infolge dessen zum Ausstande kam, hatte ich den klugen Einfall, als Präsident der Buchdrucker dem Herrn Handelsminister Pieper -- bis dahin war er ein angesehener Breslauer Kaufmann -- persönlich in seinem Palais in der Wilhelmstraße meine Aufwartung zu machen, ihm die bevorstehende Niederlegung der Arbeit in allen Berliner Buchdruckereien anzukündigen und ihn zu versichern, daß wir seinem guten Rat gern Gehör schenken würden. Herr Pieper, ein Manchestermann vom reinsten Wasser, der über die alten, an dem vermeintlich patriarchalischen Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern haftenden Vorstellungen längst hinaus war, empfing mich mit größter Liebenswürdigkeit, bat mich, auf dem Sofa Platz zu nehmen, setzte sich in die andere Ecke desselben und gab, nachdem er mich angehört, sogleich Befehl, Herrn von Decker, den Geheimen Ober-Hofbuchdrucker -- er hatte auch sein Palais dicht nebenan in der Wilhelmstraße -- zu bitten, er möchte die Güte haben, einen Augenblick zu dem Herrn Minister für Handel und Gewerbe zu kommen. Herr von Decker -- die Familie stammt aus Basel -- erschien nach wenigen Minuten. Er verbeugte sich vor Sr. Exzellenz viel, viel tiefer und förmlicher, als ich in solchen Dingen noch wenig bewanderter Jüngling es gethan. Der Herr Minister nannte meinen Namen und die Ursache meines Besuches. Ich habe nie einen Menschen so erstarrt, so wie aus allen Wolken gefallen gesehen. Herr von Decker stammelte ein paar unverständliche Worte. Er hatte vielleicht von dem Minister einen großartigen Auftrag für die Geheime Ober-Hofbuchdruckerei erwartet, jedenfalls war er darauf nicht gefaßt, ein Frage- und Antwortspiel gemeinsam mit einem so jungen Mann, einem solchen Nichts wie ich, bestehen zu müssen. Es kochte in ihm und seine Augen nahmen einen finstern Ausdruck an. Die Unterredung hatte indessen kein ungünstiges Ergebnis. Herr von Decker, was seine Person betrifft, sagte nicht nein zu den Forderungen der Gehilfen. Innerlich wütend war er aber doch, als er sich höflichst empfahl. Ein solches Rencontre! War’s möglich! Waren dies die Folgen des 18. März? Der gute Mann -- ich möchte ihm durchaus nicht Übles nachreden -- war gewiß ein höchst achtungswerter und liebenswürdiger Charakter. Er hatte -- und das beweist auf das Schlagendste, daß er kein echter Basler mehr war -- mit einer berühmten Opernsängerin sich vermählt. Das hätte sein republikanischer Ahnherr niemals gethan. Es kann nicht meine Absicht sein, eine Geschichte der Lohnkämpfe der Berliner Buchdrucker zu geben. Eine solche existiert übrigens schon, wenn ich nicht sehr irre. Einige Zeilen mögen genügen, um den von mir berührten Gegenstand zum Abschluß zu bringen. Am 28. April wurde die Arbeit allgemein eingestellt, und dies dem Publikum durch Maueranschlag angekündigt. Schon am nächsten Tage erhielt ich infolge der Vermittlungsbemühungen des Stadtmagistrats die Zusicherung, daß die Angelegenheit endgiltig bis zum 1. Juni geregelt sein sollte. Die Buchdruckereibesitzer gaben das Versprechen, keinen Gehilfen wegen seiner Teilnahme an der Arbeitseinstellung zu entlassen, und so kehrten diese am 1. Mai zur Arbeit zurück. Kaum hatten sie jedoch ihre Offizinen wieder betreten, als ihnen in mehreren derselben ein Schein zur Unterzeichnung vorgelegt wurde, durch welchen sie erklären sollten, daß sie ihren in der Übereilung gethanen Schritt bedauerten und gern zurücknehmen möchten, daß sie auch, indem sie zu ihrer Pflicht und an ihre Arbeit zurückkehrten, auf ihr Ehrenwort versprechen, sich eines ähnlichen Auftretens in Zukunft zu enthalten. Einige der einsichtsvolleren Buchdruckereibesitzer, wie die Herren Decker und Reimer, hatten es ihrer unwürdig erklärt, eine solche Zumutung an ihre Gehilfen zu stellen. Bei ihnen und in den Zeitungsdruckereien wurde weitergearbeitet. Bei denen, welche ihre Gehilfen nur als reuige Sünder wieder aufnehmen wollten, sollte die Arbeit sofort wieder eingestellt werden. Von dem zu unterzeichnenden Zerknirschungsversprechen hatte der Vorstand der Gehilfen schon am Samstag den 30. April Kenntnis erhalten. Ohne Verzug mußten die Gehilfen, welche am Montag Morgen sich wieder auf ihren Plätzen einstellen sollten, eine Warnung erhalten, und auch das Publikum mußte von dem Vorgefallenen unterrichtet werden. Das Schriftstück war rasch abgefaßt, doch wo und wie sollte es eben so rasch gedruckt werden? Es blieb mir nichts übrig, als mit einigen Gehilfen noch an demselben Abend nach Charlottenburg zu gehen, und eine dort befindliche kleine Druckerei, in welcher ein zweiter Bruder Bruno Bauers sein Wochenblättchen herstellen ließ, zu unserem Zweck zu benutzen. Die eigentliche Besitzerin dieser auf das kärglichste ausgestatteten typographischen Anstalt, eine Lehrerswitwe, sträubte sich lange genug, uns ihr kostbares Gut zu so fragwürdiger Benutzung zu öffnen, schließlich gab sie freundlichem Zureden nach. In der Nacht wurde dann ein Anschlagzettel zustande gebracht, der in der Geschichte der Buchdruckerkunst als ein Unikum seine Stelle finden darf. Nicht nur einzelne Zeilen, sondern einzelne Worte mußten aus verschiedenen Schriftgattungen zusammensetzt werden, weil das vorhandene Material zu einem einheitlichen Satz nicht reichte. Das Ding nahm sich sehr komisch aus, doch es wirkte. Um 5 Uhr morgens hatten sich auf geschehene Anordnung zehn Gehilfen am Brandenburger Thor eingefunden, welche die Zettel in Empfang nahmen und an den ihnen angewiesenen Stellen anklebten. Die Folge davon war, daß wiederum die Arbeit eingestellt wurde. Der vom Geiste des 18. März erleuchtete Magistrat sandte jedoch schon tags darauf einen Stadtrat in die angekündigte Buchdrucker-Versammlung unter den Zelten. Er bat die Gehilfen, an die Arbeit zurückzukehren, indem er ihnen ankündigte, daß die Prinzipale den verhängnisvollen Schein zurückgezogen hätten. Der Ausstand war damit wieder beendigt. Bis zum 1. Juni kam es dann auch zu einer vorläufigen Verständigung über den Gegenstand des Streites. Eine mäßige Erhöhung des Tarifs war die Frucht dieser Bewegung, die sich bald darauf über ganz Deutschland verbreitete und nach einem Jahre unter dem Druck der eingetretenen politischen Reaktion zum Stillstand gebracht wurde, um später doch durch die Gründung eines allgemeinen Gewerk-Vereins in der ursprünglich von mir in Aussicht genommenen Organisation einen festen Boden zu erlangen. Der aus jenen ersten Anfängen hervorgegangene deutsche Buchdrucker-Verein hat, soviel mir bekannt geworden, bisher als solcher seine volle Unabhängigkeit nach allen Seiten hin gewahrt, ohne in das Recht der freien Bestimmung seiner einzelnen Mitglieder einzugreifen. [Illustration] [Illustration] XII. Die Arbeiterpartei. Der Zeughaussturm. Der eben geschilderte Lohnkampf der Buchdrucker, an dessen Spitze ich gestanden hatte, bildete übrigens für mich nur eine Episode in jenem Bewegungsjahr. Wie es gekommen ist, daß ich überall so rasch ins Vordertreffen, an die exponiertesten Stellen kam, das kann ich heute nicht mehr sagen. Ich erinnere mich nur, daß ich von vielen Gewerkschaften ersucht wurde, den Vorsitz in ihren konstituierenden Versammlungen zu übernehmen, daß ich in vielen freisinnigen politischen Klubs freiwillig oder auf Verlangen der Anwesenden das Wort ergriff, sodaß ich wohl eine gewisse Gewandtheit als Redner besessen haben mochte. Im konstitutionellen Klub, an dessen Spitze die Herren Crelinger und Wilhelm Jordan standen, erachtete man es in der Anfangszeit für angemessen, mich mit einigen anderen Personen meiner sozialpolitischen Richtung zu einer Sitzung einzuladen, zu der ich mich denn auch einfand und wo ich zu meiner Überraschung vom Präsidenten mit einer feierlichen Anrede empfangen wurde, die ich, ohne meinem Standpunkt etwas zu vergeben, geschickt genug beantwortete. Von derselben Seite wollte man mich auch auf die Liste der Kandidaten für das Frankfurter Parlament setzen, was ich mit der Begründung ablehnte, daß ich das vorgeschriebene Alter noch nicht erreicht hätte. Ich erwähne dies nur, um darauf hinzuweisen, daß man bei aller Unklarheit, die noch in den Köpfen herrschte, doch schon die Ahnung von der Macht hatte, welche in der arbeitenden Klasse lag, und sich deshalb früh bemühte, diese für sich zu gewinnen. Als ich dann wenige Wochen darauf nach dem Polizeipräsidium geladen wurde, wo man mir in höflicher Weise die Mitteilung machte, daß ich binnen vierundzwanzig Stunden die Stadt Berlin zu verlassen hätte, und diese Neuigkeit sich wie ein Lauffeuer in den Abendversammlungen verbreitete, ergriffen alle Parteien sofort Partei für mich, Gemäßigte wie Demokraten sandten noch vor Mitternacht Abordnungen an den Polizeipräsidenten v. Minutoli, um gegen diese offenkundige Erneuerung der alten Willkürherrschaft, die man mit dem 18. März begraben zu haben glaubte, einen lebhaften Protest zu erheben. Herr v. Minutoli that, als wisse er von dieser Maßregel nicht das geringste. Er erklärte mich sogar für ein sehr nützliches Mitglied der Berliner Bevölkerung in einer Zeit, wo man nicht allzuviel Leute besitze, die einen glücklichen Einfluß auf die beschäftigungslosen Arbeiter auszuüben vermöchten; es verstände sich ganz von selbst, daß meine Ausweisung sofort rückgängig gemacht werde. Das Ergebnis der nächtlichen Intervention der Berliner politischen Klubs beim Polizeipräsidenten wurde mir auch ohne Verzug mitgeteilt. Ich war keinen Augenblick um den Ausgang dieses polizeilichen Reaktionsversuches in Sorge gewesen. In der That wurde ich bald mit meinem Freunde Bisky, der sich wieder in Berlin eingefunden hatte, nachdem er sich von einer im Barrikadenkampf erhaltenen Wunde in seiner Pommer’schen Heimat erholt hatte, zu einer vom Minister v. Patow mit Mitgliedern des Berliner Stadtrats berufenen besonderen Sitzung eingeladen, in welcher über Aufhebung der nach dem Muster von Paris eingerichteten sogenannten Nationalwerkstätten beraten wurde. Man hatte nämlich mehrere tausend Arbeitslose auf Kosten des Staates und der Stadt in der Nähe von Berlin damit beschäftigt, daß man sie eine Anzahl Sandhügel abtragen und an anderer Stelle aufschütten ließ, ein in keiner Weise durch irgend ein Bedürfnis gebotenes Unternehmen, auf das man eben nur gefallen war, weil man nichts Gescheiteres wußte. Daß das Ganze nur eine Komödie war, hatten die Arbeiter bald bemerkt. Sie thaten deshalb so gut wie nichts, schaufelten so wenig wie möglich, eben nur etwas zu ihrer Belustigung, nahmen jedoch vergnügt den Lohn für ihre scheinbare Arbeit in Empfang. Es wurde deshalb beschlossen, da man das Geld der Steuerzahler nicht geradezu vergeuden durfte, sich nach einer einigermaßen nutzenbringenden Beschäftigung für die „Rehberger“ umzusehen. Die Änderungen, die hier vorgenommen werden mußten, waren natürlich ohne Unruhen nicht durchzusetzen. Bei dieser Gelegenheit ging mir eine Aufklärung über die Lehre auf, daß nach der Ablösung des dritten Standes der vierte, derjenige der Arbeiter, zur Herrschaft gelangen solle, und daß damit alle Klassengegensätze endgiltig aufhören würden. Es zeigte sich nun aber schon der fünfte Stand hinter dem vierten, derjenige der nicht gelernten Arbeiter, der bloßen Handlanger oder Tagelöhner, denen gegenüber die gelernten eine Art Aristokratie bildeten. Erst hinter diesem fünften Stande kam das Lumpenproletariat als sechster. Und Marx hatte gemeint, das Lumpenproletariat werde man eben erbarmungslos ausrotten müssen. Das schien mir leichter gesagt als gethan, es war auch nicht sein Ernst, wie es denn auch nicht mit der humanen Weltanschauung in Einklang zu bringen war, die schließlich doch mehr oder weniger in allen Gesellschaftsklassen herrschte. Die Humanität war aber schwerlich als eine aus der herrschenden Produktionsform zu erklärende ideologische Form anzuschauen. Ob nun die materialistische Weltanschauung, der zufolge die gesamte Entwicklung der menschlichen Gesellschaft nur von der Magenfrage abhänge, ob die Meinung, daß alle von dieser Gesellschaft ausgegangenen geistigen Schöpfungen nur ein Ausfluß materiellen Bedürfnisses der herrschenden Klasse seien, wirklich auf Wahrheit beruhte? Jene Behauptung erschien mir jetzt nicht mehr als ganz und gar unanfechtbar. Doch hinderte die Einsicht, daß hinter der vierten aufstrebenden Klasse schon eine fünfte stehe, und auch der entstehende Zweifel an der Richtigkeit der materialistischen Weltanschauung mich nicht, an der Organisation des vierten Standes mitzuarbeiten, ohne dabei die Thatsache aus den Augen zu verlieren, daß der Sieg des dritten Standes, dessen liberales Programm erst dem vierten die Wege bahnen konnte, allem vorangehen müsse. Deshalb enthielt ich mich möglichst aller heftigen Ausfälle gegen die Bourgeoisie, als geschlossene Klasse existierte sie ja in Berlin und in ganz Ostdeutschland noch nicht, wo die moderne, gewerbliche Entwicklung eine diesen Namen verdienende Großindustrie noch nicht geschaffen hatte. Das Wort „Klassengegensätze“ hatte damals, an den wirklichen Zuständen Deutschlands gemessen, kaum eine Berechtigung. Wenn man wenige Gewerbe, die der Maschinenbauer, der Buchdrucker und noch einige andere ausnahm, so gab es wohl Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der Meister aber war in der Regel nichts anderes als ein ehemaliger Geselle. Es waren zwei Altersstufen vorhanden, keine zwei Klassen. In den Köpfen herrschten dabei noch die Vorstellungen von den verschiedenen Standesstufen, die aus dem Zunftwesen in die Zeit der Gewerbefreiheit sich hinübergerettet hatten, der Geselle war, wie oben schon gesagt, dem Meister nach dessen patriarchalischen Anschauungen untergeordnet, doch war ihm der Weg zur Meisterschaft, solange das Handwerk nicht fabrikmäßig betrieben wurde, nicht verschlossen. Vorherrschend war in den Städten Deutschlands im Jahre 1848 -- einige Punkte im Rheinland ausgenommen -- das Kleinbürgertum, das sich aus Handwerkern und Krämern zusammensetzte, und den breiten Mittelstand bildete. Dieser kleinbürgerliche Mittelstand war durchwegs liberal und schloß sich in liberaler Gesinnung den sogenannten Honoratioren, Kaufleuten und Beamten an, deren Bildung sich mit einer längeren Herrschaft des Absolutismus nicht vertrug und deshalb mit dem eigentlichen Volk des Mittelstandes die Umwälzung des 18. März als eine Erlösung aufnahm. Deutschland wäre noch eine kurze Zeit im Stande der vertrauensseligen politischen Unschuld geblieben, in welchem es sich vor dem 18. März und auch in den nächsten Tagen befand, wenn nicht die „kleine, aber mächtige Partei“ der Junker sofort mit entschiedenem Klassenbewußtsein aufgetreten wäre und rücksichtslos die Reaktion in Szene gesetzt hätte. Der feudale Adel sah seine Interessen bedroht und er wartete keinen Tag, um sich zu einer festen Phalanx zusammenzuschließen. Die absolute Monarchie gab er als unhaltbar auf, in der konstitutionellen Monarchie aber, die nicht mehr zu umgehen war, wollte er seinen maßgebenden privilegierten Platz behaupten. Das ist ihm, genau genommen, bis zur heutigen Stunde gelungen. Die Stadt Berlin hatte nach dem 18. März nur noch +einen+ großen Tag, denjenigen, an welchem die gesamte Bevölkerung sich zu einer Huldigung für die Opfer des Freiheitskampfes einmütig zusammenfand. Es war am 4. Juni. Endlos war der Zug, der auf dem Gendarmenmarkt und den benachbarten Straßen sich ordnete, um nach dem Friedrichshain zum Grabe der Kämpfer des 18. März zu ziehen. In warmen Worten wurde denen, welchen das Morgenrot einer neuen Zeit in das brechende Auge geleuchtet, der Dank des Vaterlandes dargebracht. Mit mehreren andern war ich an jenem denkwürdigen Tage zum Sprecher bei dem feierlichen Akt bestimmt worden. Für den Studentenverein sprach Gaudenz von Salis, ein Enkel des Dichters, mit hinreißender Glut. Ich habe ihn in der Schweiz einige Jahre darauf wiedergesehen. Die Flügel schienen ihm beschnitten. Er ist früh gestorben. Es haben manche von uns nach den schönen Tagen heißen Kampfes sich in die darauf folgenden Jahre stillen Furchenziehens im Gleichmaß des Alltagslebens nur schwer gefunden. Daß die von der junkerlichen Partei organisierte Reaktion früh in Thätigkeit trat und ihr jedes Mittel, das zum Ziele führte, recht war, davon gab der Sturm auf das Zeughaus, der zu einer Zeit sich vollzog, wo auch nicht das geringste Anzeichen das Herannahen eines revolutionären Ereignisses ankündigte, den vollen Beweis. Bei eintretender Nacht verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, daß einige hundert Leute aus der untersten Schicht der Bevölkerung in das Zeughaus eingebrochen seien und dasselbe plünderten. Der Kommandant der Bürgerwehr, Herr Rimpler, ließ den Generalmarsch schlagen, rasch waren die Bataillone zusammen getrommelt, ich schloß mich dem des Handwerkervereins an, das ohne Verzug zum Zeughaus marschierte und vor dessen Thor in der Gießhausgasse und auf einem Platz in der Nähe des Gießhauses aufgestellt wurde. Aus dem Thore des Zeughauses und aus dessen niederen Fenstern flohen die Plünderer mit Waffen bepackt, die ihnen von unserer Seite abgenommen und aufgeschichtet wurden. Es waren darunter auch neuerfundene Zündnadelgewehre, die damals noch als Staatsgeheimnis betrachtet wurden. An der Stelle, wo unser Bataillon Wache hielt, konnte keines dieser Gewehre fortgeschleppt werden. Unsere Wirksamkeit beschränkte sich darauf, dem Gesindel seinen Raub abzunehmen. War das geschehen, so ließen wir die Burschen laufen. Sie gefangen zu nehmen, hielten wir nicht für unsere Aufgabe, sondern für diejenige der Polizei, die ja im Hintergrunde des Schauplatzes zahlreich genug vertreten war. Sie mochte unter den scheu Abziehenden manches Individuum erkennen, das schon durch ihre Hände gegangen war. Als das Bataillon spät in der Nacht entlassen wurde und ich auf dem Heimweg alles, was ich bei diesem Zeughaussturm beobachtet hatte, einer Prüfung unterzog, konnte ich mich des Verdachtes nicht erwehren, daß ich hier einem von der Reaktion ausgeheckten und in Szene gesetzten politischen Schachzug beigewohnt hatte. Daß die Leute, welche die Thore des Zeughauses mit Balken eingerammt hatten, oder durch die eingeschlagenen Fenster eingestiegen waren, und darauf mit Beute beladen abzogen, hier nicht aus freiheitlicher Begeisterung gehandelt hatten, etwa in der Absicht, die Revolution, die zu versumpfen drohte, zu Ende zu führen, davon überzeugte man sich auf den ersten Blick. Wer allein konnte aus diesem fatalen Ereignis Nutzen ziehen? Die von allen Seiten sich ankündende Reaktion. In der That erhob sich am nächsten Tage der Vertreter des Kriegsministeriums zu einer nicht ohne Eindruck bleibenden Rede, in welcher er auf die aus den Märzereignissen hervorgegangene Zügellosigkeit der Massen hinwies, die am Staatsgut sich vergriffen hätten, und sogar die Geheimnisse des Staates dem Auslande zugänglich machten. Er wies auf die Notwendigkeit der Rückkehr zu strengeren Regierungsmaßregeln hin. Daß der Zeughaussturm von der Regierung zu ihren Zwecken ausgebeutet werden würde, war ja vorauszusehen. Fern lag mir jedoch der Gedanke, daß das Ministerium selber von den Machinationen etwas wußte, die eine Gruppe entschlossener Reaktionäre auf eigene Faust gesponnen hatte. Den Verdacht, daß man es hier mit einem bestellten und bezahlten politischen Streich zu thun gehabt, konnte ich nicht mehr unterdrücken, und so sprach ich ihn auch in meinem Blatte, „Das Volk“, ungescheut aus. Einige meiner ältesten Freunde, wie z. B. Ehrenreich Eichholz, der später die Redaktion der Weserzeitung übernahm, machten mir bittere Vorwürfe über meinen, die politischen Gegner einer so unerhörten Handlung bezichtigenden Artikel; das betrübte mich, aber ich hatte doch richtig beobachtet. Denn als ich einige Jahre später in Zürich lebte, und dort mit dem Historiker, Professor Adolph Schmidt, der alsdann von Zürich nach Jena berufen wurde, in Freundschaft verbunden war, kam eines Tages zufällig die Rede auf den Zeughaussturm. Ich erzählte ihm, daß ich wegen meiner Beurteilung dieses Zwischenfalls manche brave Seele verletzt hatte. „Lassen Sie es gut sein,“ erwiderte Professor Schmidt, „Sie hatten vollkommen recht. Der Bürgerwehrkommandant Rimpler, der nach jenem Zeughaussturm seine Entlassung nahm, hat mir die Dokumente über diesen Fall zu späterer, eventueller Benutzung übergeben, sie sind noch in meinem Verwahrsam. Der Zeughaussturm war ein von der Reaktion eingefädeltes Manöver. Die den Beweis hierfür abgebenden Dokumente sollen der Öffentlichkeit nicht vorenthalten bleiben.“ [Illustration] [Illustration] XIII. Praktische Sozialpolitik. Die Organisation der Arbeiter zu einer starken, geschlossenen Partei, so verstand ich meine Aufgabe, mußte der Organisation der Arbeit, zu welcher auch der vageste Plan nicht vorhanden war und auch nicht vorhanden sein konnte, vorausgehen. Zu jener Organisation habe ich durch Berufung des ersten deutschen Arbeiterkongresses nach Berlin den Grundstein gelegt. Diesem Kongreß ging die Bildung eines Centralkomitees voraus, in welchem ich zum Vorsitzenden ernannt wurde und das dazu bestimmt war, den Mittelpunkt einer über ganz Deutschland sich ausbreitenden Arbeiter-Verbindung zu bilden. In dem Statut hieß es: „Wir nehmen unsere Angelegenheiten selbst in die Hand, und niemand soll sie uns wieder entreißen.“ Organ des Centralkomitees war die von mir gegründete, weiter oben genannte sozialpolitische Zeitschrift: „Das Volk“, die dreimal wöchentlich seit dem 1. Juni erschien. Meine Einsicht in die wirkliche Lage und die Mittel, welche dem Sieger über das absolutistische Regiment nach dessen Beseitigung zu Gebote standen, hinderte mich, Politik ins Blaue hinein zu treiben, wie soviele andere es thaten. Der Vorschlag des jungen Schlöffel, auf revolutionärem Wege eine Änderung des oktroyierten Wahlgesetzes zu erringen, wurde von mir bekämpft, weil ich eingesehen hatte, daß die Reaktion, die ihre Streitmittel mit überraschender Schnelligkeit gesammelt hatte, nur auf den Versuch einer neuen Erhebung wartete, um sie mit den in der Nähe von Berlin zusammengezogenen militärischen Kräften niederzuschlagen und das für die Freiheit Errungene wieder zu vernichten. Der Schlöffel’sche Plan kam infolge der Opposition, die er von mir und meinen Freunden erfuhr, nicht zur Ausführung. Zur Kennzeichnung meiner Auffassung der damaligen Lage mögen übrigens einige Zeilen aus dem Programm meiner Zeitschrift dienen. „Das Volk“, so erklärte ich in seiner ersten Nummer, habe den Zweck, einerseits das Bürgertum zu unterstützen im Widerstand gegen die Aristokratie, im Kampfe gegen die noch aufrecht gebliebenen Institutionen des Mittelalters, gegen die Mächte von Gottes Gnaden, andererseits dem kleinen Gewerbetreibenden wie dem Arbeiter beizustehen gegen die Macht des Kapitals und immer voran zu schreiten, wo es gelte, dem Volke ein irgend noch vorenthaltenes politisches Recht zu erkämpfen, damit es die Mittel erhalte, sich die soziale Freiheit, die unabhängige Existenz um so schneller zu erringen. Der Stubengelehrte wird immer leicht zum Doktrinär und als solcher sieht er nur einen einzigen Weg, der zu dem vermeintlichen Ziele führt. Die Sorge um ein letztes ideales Ziel überließ ich kommenden Jahrhunderten; mein Ziel ging nicht über das zunächst zu Erringende hinaus, nämlich, ich habe es oben angegeben, aus der formlosen, ungefügen Masse nach Überwindung der zunächst sich entgegenstellenden Schwierigkeiten eine geordnete Armee zu bilden, welche einem aller Welt verständlichen und ausführbaren Programm gehorchte. Engels hat gegen mich den Vorwurf erhoben, „in den Veröffentlichungen der von mir begründeten Organisation seien die Auffassungen des kommunistischen Manifestes mit Zunfterinnerungen und Zunftwünschen, Abfällen von Louis Blanc und Proudhon, Schutzzöllnerei u. s. w. durcheinander geworfen.“ Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Ich konnte es nicht verhindern, daß sich in der allerersten Zeit auch solche Stimmen in unseren Versammlungen vernehmen ließen, die, nach dem Beispiel der Kleinmeister, die Gewerbefreiheit und die Handelsfreiheit als die Quelle alles Unheils betrachteten und ihre sehnsüchtigen Blicke nach dem wirtschaftlich überwundenen Zunftwesen zurückwandten. Giebt es ja heute, nach einem halben Jahrhundert, noch eine Partei, die dasselbe anstrebt. Weder im „Volk“ noch in der „Verbrüderung“, die ich herausgab, und über deren Inhalt ich allein zu bestimmen hatte, findet sich jedoch eine Zeile mit wirtschaftlich reaktionärer Tendenz. Engels, der es mir nicht verzeihen konnte, daß ich arbeitete, ohne vorher bei ihm, dem päpstlichen Staatssekretär in Köln, Verhaltungsbefehle einzuholen, hat mich zu jener Zeit ruhig gewähren lassen, nicht mit einem Wink mir ein Zeichen seines Mißfallens kund gegeben. Erst viele Jahre später, als die persönlichen Verbindungen aufgehört hatten, rückte er mit dem weiteren Vorwurf heraus, „ich habe es mit meiner Verwandlung in eine politische Größe etwas zu eilig gehabt und mich mit den verschiedenartigsten Krethi und Plethi verbündet, um nur einen Haufen zusammen zu bekommen.“ Ich sehe aus diesen Worten, daß er mich trotz langen persönlichen Verkehrs sehr schlecht gekannt hat. Ich hatte damals, mit dreiundzwanzig Jahren, auch nicht entfernt die Absicht, mich „in eine politische Größe“ zu verwandeln. Was ich that, geschah auf den Impuls meines jugendlichen Idealismus hin, der mich freilich nicht hinderte, die Dinge und die Menschen zu sehen, wie sie in Wirklichkeit waren, sodaß ich meinen Mitarbeitern nichts zumutete, was sie nicht zu leisten vermochten. Mit ehrenwerter Unparteilichkeit nimmt Franz Mehring in seiner „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ mich gegen die Engels’schen Beschuldigungen in Schutz. „Wollte Born,“ sagt er, „die Arbeiter als Klasse organisieren, so mußte er mit dem Gedankenkreise rechnen, in dem sie sich vorläufig erst bewegen konnten, und er hat es wenigstens nicht an Eifer fehlen lassen, sie über ihren Horizont hinauszuführen ... Entschieden trat Born aller Zünftelei entgegen; er sagte, es sei keinem Staat, der einmal die Großindustrie eingeführt habe, mehr möglich, zu einer schon niedergegangenen Produktionsweise zurückzukehren, ohne sich zu ruinieren oder eine ganz untergeordnete Stellung in der Reihe der europäischen Staaten einzunehmen.“ Daß der Gedanke Louis Blancs, durch die Gründung von Produktiv-Genossenschaften und staatliche Unterstützung derselben einer neuen Produktionsform vorzuarbeiten, als das Nächstliegende bei vielen Leuten und auch bei uns Anklang fand, kann niemand auffallen. Dieser Gedanke drängte sich zunächst allen auf, die sich mit sozialen Fragen beschäftigten. Er wurde von der „Verbrüderung“ nicht bekämpft, es geschah von meiner Seite sogar vieles, um die Gründung solcher Genossenschaften zu empfehlen. Und schließlich hat Lassalle diesen Gedanken wieder mit Eifer aufgenommen. Er hat freilich deshalb auch von Marx’scher Seite harte Angriffe erfahren müssen. Dies, was Louis Blanc betrifft. Wie ich damals über Proudhon dachte, davon möge ein Artikel Zeugnis ablegen, den ich bei dem Scheitern der von ihm gegründeten Volksbank veröffentlichte. „Wir haben diesem Unternehmen“, sagte ich, „durchaus keinen Beifall zugeklatscht, und wenn sein Untergang uns auch betrübt, so überrascht er uns doch nicht, denn wir haben diesen Ausgang fast mit Sicherheit erwartet, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil eine Idee, sie mag noch so groß und wahr sein, niemals da ohne weiteres zur Ausführung gebracht werden kann, wo die Elemente zur Ausführung nicht in hinreichendem Maße vorhanden sind. Wir haben immer die Organisation der Arbeiter über die Organisation der Arbeit gestellt, immer die politische Emanzipation der arbeitenden Klasse vorausgesetzt, ehe wir eine größere, in alle Gesellschaftskreise greifende Ausführung sozialer Ideen für möglich hielten... In die Zwangsjacke eines Systems läßt sich die menschliche Gesellschaft, dieser stets lebendige, stets sich erneuernde, schöpferische Organismus ebensowenig hineinzwängen, wie man einer um sich greifenden Verarmung mit Volksbanken entgegenwirken kann, die ihre Fonds aus den Taschen der Armen nehmen müssen. Wir fragen, welche Zukunft, welche Lebensfähigkeit hatte die Volksbank, wenn sie zu Grunde gehen mußte -- wegen eines Prozesses des Herrn Proudhon? Mit der Volksbank wollte Proudhon die neue Welt aufbauen, in der Volksbank ruhte seine Lösung der sozialen Frage, und wegen sechs Monate Gefängnis und einiger tausend Franken Strafe, wozu Bürger Proudhon verurteilt wurde, ist die Welt wieder um ihren Heiland und ihren Erlöser geprellt. Wir können ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken, denken wir an die kleinen Eitelkeiten, die der großen Volksbewegung die Wege lichten wollten, ihr als die Josuas der Neuzeit im Prophetengewande voranziehen, nicht aber, um selbst mit dreinzuschlagen, das zackige Schwert zu führen, nein -- um sich bewundern zu lassen. Da kommt Herr Considérant, ein Prophet zweiten Ranges, und will Herrn Proudhon die Erfindung der Volksbank streitig machen. Wie erbärmlich dieser kleine Krieg zwischen zwei Persönlichkeiten zu einer Zeit, wo die ganze Welt mit Entwürfen schwanger ist, die Erde bebt von den Tritten zweier großen Heeresmassen, die mit rasender Kampflust einander näher rücken und sich bald das Weiße der Augen zeigen werden, zu einer Zeit, wo eine in Ungarn von Dembinski oder Bem gewonnene Schlacht mehr wert ist als sämtliche gedruckten und ungedruckten Werke der Bürger Proudhon und Considérant zusammen, in einer Zeit, in welcher die größten Berühmtheiten sich an einem einzigen Tage abnützen.“ Das hier Mitgeteilte ist charakteristisch für meine damalige Denk- und Ausdrucksweise, und ich weiß es Herrn Franz Mehring Dank, daß er es in seinem Geschichtswerk angeführt hat. Der Satz „in die Zwangsjacke eines Systems läßt sich die menschliche Gesellschaft nicht hineinzwängen,“ beweist zugleich, welchen Eindruck das im Sommer 1848 erschienene „Kommunistische Manifest“ auf mich hat machen müssen. Das Manifest war freilich schon kurz vor der Februarrevolution als „ausführlich theoretisches und praktisches Parteiprogramm“ des Bundes der Kommunisten abgefaßt. War es nun praktisch, in jenen ersten Tagen der sozialen Bewegung von einem Ziel zu sprechen, das heute, nach fünfzig Jahren, noch niemandem in einem nur einigermaßen bestimmten Bilde sich darstellt? Ist überhaupt die Ersetzung des Privateigentums durch ein Gesamteigentum, oder wie man später sich ausdrückte, durch die „Verstaatlichung aller Arbeitsmittel“ die Lösung, die als unbestreitbares Ergebnis der Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse sich uns aufdrängt? Und angenommen, die wissenschaftliche Betrachtung der Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens der Menschheit hätte zu diesem nicht mehr abzuweisenden Ergebnis geführt, so konnte es sich dabei ja doch nur um ein aus dem Nebel weit entfernter Zukunft sich ankündigendes Resultat geschichts-philosophischer Forschung handeln, aber nicht um etwas, was mit den Bedürfnissen der Gegenwart irgend welchen Zusammenhang hatte. Engels hat in seinem Buch „die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ den Kommunismus, weil er ihn aus der Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung der Menschheit als den Endpunkt der heutigen Bewegung zu erkennen glaubte, noch zu erleben gehofft. Er steckte als Beurteiler der Welt, in der er lebte, in großer Unklarheit. Von seinen wiederholten Prophezeiungen über den bevorstehenden Zusammenbruch dieser schnöden Welt ist auch keine in Erfüllung gegangen, wenngleich er den Termin für diesen Zusammenbruch von Zeit zu Zeit etwas hinausrückte. Was mich betrifft, so beschränkte sich im Lauf der Jahre mein Blick in die Zukunft auf die Erkenntnis, daß ohne Zweifel der bisherige Eigentumsbegriff wie in allen vergangenen Zeiten eine fortschreitende Wandlung in dem Sinne erfahren werde, daß durch den Willen des Volkes gewisse, nicht mehr aufrecht zu erhaltende, auf dem Kollektivbesitz von Aktiengesellschaften beruhende Unternehmungen, wenn die Notwendigkeit es dringend zum Besten der Gesamtheit erfordert, in den Besitz der Gesamtheit, d. h. des Staates, übergehen werden. Dieser Prozeß hat längst begonnen, in monarchischen, wie in republikanischen Staaten, und wie die Straßen und Brücken, die Posten und Telegraphen, die Schulen, die Museen und Bibliotheken, die städtische Beleuchtung, Parks und Erholungsanstalten, die Spitäler und mannigfaltigen Einrichtungen zum Besten des Gemeinwohls sich mehr und mehr im Geist unserer Zeit ausdehnen und vervollkommnen und immer neue Zweige der verschiedensten Einzelunternehmungen sich in Unternehmungen der Gemeinden oder Staaten umwandeln, wie man in der Schweiz Gemeindekäsereien und in Dorfgemeinden aller Länder gemeinsame Bäckereien besitzt, so werden sicher sehr viele andere der gemeinsamen Ausbeutung zugängliche Unternehmungen nach und nach in die Leitung einer größeren oder geringeren Gemeinsamkeit übergehen. Der Kampf aller gegen alle, wie er aus dem manchesterlichen Dogma des „freien Spiels der wirtschaftlichen Kräfte“ sich entwickelt hat, wird nicht ewig dauern, werden ihm ja doch schon von Jahr zu Jahr, sogar in der Bourgeois-Gesetzgebung Schranken gesetzt. Daß daraus aber in noch so entfernter Zeit sich die Aufhebung des bürgerlichen oder Privateigentums -- beide, sich nicht ganz deckende Ausdrücke wechseln im „kommunistischen Manifest“ ab, -- ergeben müsse, ist im höchsten Grade unwahrscheinlich. Dieser Überzeugung sind, wie aus so vielen ihrer Kundgebungen hervorgeht, auch die meisten Führer der sozialdemokratischen Partei. Sie gehen deshalb mit Recht auf die Aufforderung nicht ein, doch mit einem klaren Bilde von ihrem Zukunftsstaat ihre Anhänger wie ihre Gegner zu erfreuen. Zur Zeichnung eines solchen Bildes, wenn sie dazu nicht die phantastischen Farben eines Romanschreibers wählen wollen, fehlt es an jeglichem positiven Material. Die sozialdemokratischen Führer haben sich auch nach manchen Schwankungen über die Frage, ob sie an der Reformarbeit sich beteiligen sollen, die auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung möglich ist, schließlich zur Beteiligung an derselben entschlossen. So werden sie schrittweise aus Sozialrevolutionären zu Sozialreformern. In einem Lande wie die Schweiz, wo nahezu die letzten Konsequenzen demokratischen Staatslebens gezogen worden sind, wo zum allgemeinen, geheimen Stimmrecht die Wahl der Regierenden und der Richter durch das Volk gekommen ist, die Volksabstimmung über neue Gesetze und die Volksinitiative in der Gesetzgebung Regel geworden, fällt es der sozialdemokratischen Partei gar nicht ein, sich als eine revolutionäre Partei auszuspielen. Hier regiert das mehr oder weniger gut informierte, durch den Stimmzettel seinen Willen kundgebende Volk. Vor einigen Jahren erklärte ich in einem in Basel gehaltenen Vortrag über die soziale Bewegung, daß, wenn jemals die Gefahr eintreten sollte, daß die Weissagung von der allgemeinen Verelendung d. h. von der schließlichen Aufsaugung des gesamten Besitztums der mittleren Volksschichten durch Millionen besitzende Kapitalisten sich zu erfüllen drohte, so daß es im Lande schließlich nur Krösusse und Bettler gäbe, wir zuverlässig die Mittel finden würden, solcher Kalamität durch unsere Gesetzgebung vorzubeugen. Ich fühlte, als ich diesen Satz aussprach, daß die Versammlung mit mir in vollstem Einverständnis sich befand. Der letzten Konsequenz der Lehre vom „freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte“ würde jedes Volk, auch wenn es nicht im Besitz des Referendums und der Initiative ist, durch gesetzliche Maßregeln vorzubeugen wissen. In den nordamerikanischen Freistaaten, wo die ganze Bevölkerung fieberhaft dem Gotte Dollar nachjagt, und wo es der Association der Geldmächte, den das ganze wirtschaftliche Leben der Nation umklammernden Ringen des Großkapitals gelungen ist, den Staat und die ihrer Ausbeutung überlieferten arbeitenden Klassen ihren Zwecken dienstbar zu machen, kann und wird diesen Ringen durch die Reform der Gesetzgebung das Handwerk gelegt werden. Wer aber möchte behaupten, daß der trockne, alle Ideologie verachtende Amerikaner deshalb bis zur Aufhebung des Privateigentums vorgehen werde? Jedem unbefangenen Beobachter drängt sich die Wahrnehmung auf, daß seit dem jetzt verflossenen halben Jahrhundert ein neuer Geist die Herrschaft über die Bevölkerung aller europäischen Staaten gewonnen hat. Der „um seine Emanzipation kämpfende vierte Stand,“ wie der Exminister Herr von Berlepsch sich kürzlich ausdrückte, ist zu einer Macht geworden, die von Jahr zu Jahr an Stärke zunimmt, damit aber an revolutionärem Charakter verlieren muß. Revolutionär sind nur diejenigen, die noch um die ersten elementaren Rechte des Staatsbürgers kämpfen müssen. Revolutionär waren die mit dem allgemeinen Stimmrecht noch nicht ausgestatteten Barrikadenkämpfer des 24. Februar, des 13. und 18. März 1848, revolutionär die Arbeiter, welche gemeinsam mit der Bourgeoisie für die Einheit Deutschlands kämpften. Mit jedem Stück, das erreicht worden, mußte sich der revolutionäre Charakter der Bewegung abschwächen. Reden in dem Ton, wie sie einst Hasenclever und andere vor einigen Jahrzehnten noch gehalten, sind für Deutschland heute vollständig veraltet. Diejenigen politischen Rechte, die dem „vierten Stand“ noch vorenthalten sind, wird er auf friedlichem Wege und in nicht allzu langer Zeit besitzen; darüber erhitzt sich niemand mehr. Auf dem politischen Gebiet ist ein großes Terrain gewonnen worden. Nicht den geringsten Fortschritt hingegen in der Eroberung der Geister haben die kommunistischen Ideen gemacht, wie sie das von Marx und Engels unterzeichnete Manifest vom Ende des Jahres 1847 entwickelt. Verfolgt man übrigens die Vorreden zu diesem Manifest, (die erste ist vom Jahre 1872, die letzte vom Jahre 1890) so erkennt man darin auch, daß die Verfasser dieses historisch hochinteressanten und wichtigen Aktenstückes, zuletzt der Marx überlebende Engels, an dem ursprünglich gewählten Ausdruck „kommunistisch“ selbst nicht mehr absolut festhalten. In jener Vorrede des Jahres 1890 heißt es: „Derjenige Teil der Arbeiter, der von der Unzulänglichkeit bloßer politischer Umwälzungen überzeugt, eine gründliche Umgestaltung der Gesellschaft forderte, nannte sich damals (1847) +kommunistisch+. Es war ein nur im Rauhen gearbeiteter, nur instinktiver, manchmal etwas roher Kommunismus, aber er war mächtig genug, um zwei Systeme des utopistischen Kommunismus zu erzeugen, in Frankreich den „ikarischen Cabets“, in Deutschland den von Weitling. Sozialismus bedeutete 1847 eine Bourgeois-Bewegung, Kommunismus eine Arbeiter-Bewegung: Der Sozialismus war, auf dem Kontinent wenigstens, salonfähig, der Kommunismus war das gerade Gegenteil. Und da wir schon damals sehr entschieden der Ansicht waren, daß „die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiterklasse selbst sein muß,“ so konnten wir keinen Augenblick im Zweifel sein, welchen der beiden Namen zu wählen. Auch seitdem ist es uns nie eingefallen, ihn zurückzuweisen.“ So schrieb Engels am 1. Mai 1890. „Kommunistisch“ nannte er also das von ihm und Marx 1847 verfaßte Manifest, weil der Sozialismus angeblich damals schon salonfähig in der Bourgeoisie war. Wir können die eben zitierten Worte nicht ohne weiteres hingehen lassen. Der „utopische Kommunismus“ war weder in Frankreich noch in Deutschland vor 1848 so verbreitet, daß er dort die Aufstände von 1834 in Lyon und die Februarrevolution von 1848 in Paris, in Berlin den Aufstand vom 18. März 1848 hätte hervorrufen können. Die kleine Sekte der Cabetisten kam gar nicht in Betracht in einem Lande, wo der Arbeiter seit der großen französischen Revolution, gewissermaßen von der Tradition geleitet, um seine politische Gleichberechtigung und um eine Erhöhung seines gesamten Lebensstandes in den Kampf ging; von Weitling war kaum der Name in die Arbeiterkreise Deutschlands gedrungen. Als er 1848 in Berlin erschien und dort eine Rolle zu spielen versuchte, wurde er kaum beachtet. Nicht die Urheber kommunistischer Systeme, die mit ihren Ideen über einen kleinen Kreis von ein paar hundert Menschen nicht hinausgedrungen waren, haben 1848 die Arbeiter-Bewegung gemacht, sondern, wie es in der eben zitierten Vorrede verlangt wurde, so geschah es in Wirklichkeit: Die Emanzipation der Arbeiter, ohne Anerkennung, ja ohne Kenntnis irgend eines in festen Formen vorhandenen sozialistischen Systems, war das Werk der Arbeiter selbst, sie wird auch ihr Werk bleiben. Die Anschauung stimmt ja auch zu der im Manifest dargelegten historischen Entwickelung des Klassenkampfes. Es ist meiner bescheidenen Ansicht nach ein großer Widerspruch in der Marx’schen Theorie, daß diese auf dem im vorigen Jahrhundert zuerst aufgetretenen, heutzutage in das Bewußtsein aller Mitlebenden übergegangenen Entwicklungsgedanken beruht und dennoch dem geschichtlichen Werdegang nicht die Gestaltung der Zukunft anheimstellt, sondern schon vor fünfzig Jahren von einer unausbleiblichen kommunistischen Gesellschaft spricht, in welcher, weil dann die Klasse der Lohnarbeiter zur Herrschaft gelangt wäre, aller Klassenkampf überhaupt aufhören würde. Dieser Gedanke, er mag von nationalökonomischem Gesichtspunkte aus noch so geistreich begründet worden sein, lebt heute ebensowenig wie vor fünfzig Jahren im Bewußtsein des Volkes. Der Glaube, den Entwicklungsgang der Menschheit, als unterliege er wie der Gang der Gestirne unfehlbaren mathematischen Gesetzen, in mehr als allgemeinen Linien vorausbestimmen zu können, ist sicher ein Irrtum. Wo man es mit dem Menschen zu thun hat, da ist man niemals im Besitz aller Faktoren, die in Rechnung gezogen werden müßten, wollte man ein genaues Ergebnis aus der Betrachtung seiner individuellen und seiner nationalen Rolle im Haushalt der Natur ziehen. Gewisse, das Gesamtergebnis beeinflussende Faktoren wird man immer übersehen oder man wird als konstantes Element das angesehen haben, was nur eine vorübergehende Erscheinung war. Wie bestechend auch die Marx’sche Weltbetrachtung sein mag, die alles was ist, aus wirtschaftlichen Ursachen erklärt, so ist sie sicher nicht das letzte Wort der Philosophie der Geschichte. Die den Entwicklungsgang der Menschheit bestimmenden Impulse und Ideen entspringen wohl aus dem materiell gebundenen menschlichen Organismus, aber einmal in der Welt wirksam, setzen sie ihr eigenes, unvergängliches Leben Jahrhunderte hindurch fort, bis sie modifiziert oder von anderen Ideen abgelöst werden, die wiederum Kinder der Not und des Zeitbedürfnisses, die Herrschaft mit dem rein stofflichen Alltagszwang teilen, ja, in großen Entwicklungsmomenten sie vorübergehend ganz allein übernehmen. [Illustration] [Illustration] XIV. Der erste deutsche Arbeiterkongreß. „Die Verbrüderung.“ Auf den 6. April 1848 berief ich mit einigen Freunden in Berlin eine Arbeiterversammlung, deren Vorsitz zu übernehmen ich ersucht wurde. Die Berliner Zeitungen rühmten die große Ordnung, die bei aller Lebendigkeit und Frische der Verhandlungen in dieser Versammlung waltete. Gegenüber einigen in Hamburg und Mainz verunglückten Versuchen, sich über ein Programm zu verständigen, gelangte man zu dem, was zunächst notwendig war, zum Beginn einer Organisation. Die Deputierten der verschiedenen Gewerke bildeten auf meine Anregung aus sich heraus ein Centralkomitee, das seinerseits einen Ausschuß von fünf Mitgliedern zur Ausarbeitung von Vorlagen an jenes Centralkomitee wählte. Erst die von diesem genehmigten oder modifizierten Vorlagen sollten an die Deputationsversammlungen und von diesen an die einzelnen Gewerke und Arbeiterklubs gehen. Jeder Versuch, diesen Beginn einer Organisation zu stören, wurde abgewiesen, auch ein solcher des wohlmeinenden Geheimrats Lette, der an der Spitze eines „Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen“ gestanden und in humanitären Unternehmungen manches Gute geleistet hat. Er wollte uns überreden, die beabsichtigte Organisation in Verbindung mit den Unternehmern auszugestalten. Nachdem er schon -- ich folge hier dem Buche Dr. Georg Adlers[B] -- durch ein Flugblatt hierauf hinzuwirken gesucht, erschien er persönlich in einer der Deputationsversammlungen der Arbeiter und trug seine Ansichten vor. Er wurde aber von mir in die Minderheit gebracht, indem ich darauf hinwies, daß eine im Interesse der Arbeiter liegende Verständigung mit den Unternehmern nur dann möglich sei, wenn die ersteren zuvor gesondert ihre Interessen gewahrt hätten, da sonst der Einfluß der Unternehmer dominieren oder mangels Einigung gar keine Beschlußfassung zustande käme: „Gründe“, sagt Dr. Adler, „deren Berechtigung viele Jahre später noch im Reichstage vom preußischen Staatsminister von Bötticher anerkannt wurden (gelegentlich der Beratung der im Unfallversicherungs-Gesetzentwurf vorgesehenen Arbeiterausschüsse.)“ Diese Gründe leuchteten auch den Arbeitern ein und sie verwarfen demgemäß Lettes Vorschläge. Der erste deutsche Arbeiterkongreß, der nach mehrtägigen ernsten Beratungen ein im wesentlichen den Anforderungen jener Zeit entsprechendes Programm aufstellte und dessen Organisationsplan nach und nach in einem beträchtlichen Teil Deutschlands angenommen wurde und die Grundlage für die späteren Parteiverbindungen abgab, wurde von mir am 23. August eröffnet. Auf meinen Antrag wählte die Versammlung ein Mitglied der Nationalversammlung, den ehrwürdigen Professor Nees v. Esenbeck, Delegierten des Breslauer Arbeiter-Vereins, zum ersten Präsidenten. Zum zweiten Präsidenten wurde ich, zum Protokollführer Bisky gewählt. Die Arbeiten dieses Kongresses dauerten bis zum 3. September. Das Ergebnis derselben umfaßt eine Broschüre, die unter den aus jener Zeit erhaltenen Dokumenten ohne Zweifel noch in einigen Exemplaren sich vorfindet. Sie enthält die Statuten der von dem Kongreß gegründeten Arbeiter-Verbrüderung, zugleich die Forderungen jenes Kongresses, sein Programm. Es kann nicht auffallen, daß in diesem ersten Kongreß einige Gedanken, die vor einer strengen Kritik nicht bestehen können, trotz lebendigster Redekämpfe schließlich um des lieben Friedens willen in dem Aktenstück stehen geblieben sind, das dennoch, alles in allem, für jene Zeit einen großen Sieg über säkuläre, von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzte Vorurteile bedeutet. Schon der einzige Abschnitt über Volkserziehung und Schule zeigt, wie sehr der Horizont des arbeitenden Volkes sich nach jenen Gewittertagen des März geklärt hat. Gar manche der in diesem Abschnitt damals aufgestellten Forderungen warten in dem einen und andern deutschen Staat noch heute ihrer Verwirklichung. Wirtschaftlich weist das Programm mit Nachdruck auf die Gründung von Konsum- und Produktivgenossenschaften und auf Beteiligung des Arbeiters am Gewinn des Unternehmers hin. Im Gegensatz zu Schulze-Delitzsch, der allein auf Selbsthilfe rechnete, wird in der „Verbrüderung“ die Staatshilfe in Aussicht genommen. Gewiß, weder die Selbsthilfler noch die Staatshilfler haben bis zur Stunde an Stelle der alten Gesellschaft eine ganz neue Gesellschaft mit ausschließlich kollektivistischer Produktionsform gesetzt. Das beweist nur, daß bis zur Stunde die Bedingungen zur Herstellung einer die Produktionsform der freien Konkurrenz ablösenden anderen Produktionsform nicht vorhanden waren, daß eine so ungeheure wirtschaftliche Wandlung, wie sie von einer Seite gefordert wird, eine vollständige Wandlung menschlicher Geistesrichtung, um nicht zu sagen der menschlichen Natur voraussetzt, und deshalb, wenn sie überhaupt stattfinden soll, einen sehr großen Zeitraum zu ihrem Vollzuge voraussetzt. Bei solchen Kongreßbeschlüssen kann es sich ja selbstverständlich nur um praktische, in absehbarer Zeit zu verwirklichende Aufgaben einer Partei handeln. Die Zeit selber, welche stets mit unerwarteten neuen Faktoren auftritt, wirkt nach und nach mit einem gebieterischen „Du mußt!“ ihrerseits mit und führt nur zu häufig allzu kühne Vorausberechnungen ~ad absurdum~. Das wichtigste Resultat des Kongresses war jedenfalls die aus ihm hervorgegangene, sich ziemlich rasch aufbauende Organisation des vierten Standes. Sonderbar erscheint mir heute der vom Geometer Schweninger formulierte und wider alles Erwarten durchgegangene Vorschlag der Wahl besonderer Komitees in den Bezirks-Vereinen, welche den Minimallohn bestimmen, die Löhne der Arbeiter von den Unternehmern einkassieren und an die Arbeiter zur Auszahlung bringen sollten. Letzteres bezweckte die Möglichkeit eines zehnprozentigen Abzuges vom Lohne zur Gründung einer Kreditbank, aus deren Mitteln der Bund Häuser und Äcker zur Benutzung für die Arbeiter zu erwerben gedachte. Dieser Vorschlag gründete sich auf ein Experiment, das nach Schweningers Bericht bei einem Unternehmen in Westfalen auf dem Wege der Ausführung sich befand. Im Grunde schwebte dem Kongreß die Gründung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe als das Nächstliegende vor. Solche Genossenschaften, so rationell sie erscheinen, werden der Staatshilfe noch lange entbehren, es sei denn, daß sie durch ihre geschäftliche Führung und ihre Leistungen ein Vertrauen sich erworben haben, welches freilich an sich schon ihnen den Kredit einer Bank sichern sollte, so daß sie, wie daraus zu schließen wäre, auch ohne Staatshilfe bestehen könnten. Diesen Genossenschaften fehlte es bis jetzt in der Regel an der höheren kaufmännischen Leitung. Man sollte meinen, daß sie diese unschwer erlangen müßten, sobald sie auf die gleiche Besoldung aller Beteiligten verzichten und die unentbehrliche höhere Leistung auch höher honorieren. Dann dürfte sich auch dem Mangel an Betriebskapital abhelfen lassen. In England haben eine beträchtliche Anzahl von Produktivgenossenschaften zu den schönsten Ergebnissen geführt. Dabei stellte sich mehr und mehr die Thatsache heraus, daß im vierten Stande selber eine Scheidung seiner mannigfaltigen Elemente zu Tage tritt, sodaß die nicht den Genossenschaften angehörenden, auf einer unteren Stufe stehenden Arbeiter an den Besserungen im Lebensstand nicht teilnehmen und die Zahl der Paupers vermehren, aus denen nach Ablauf einer geraumen Zeit ein fünfter, nach Erlösung trachtender Stand sich gestalten wird. So will es augenscheinlich die Entwicklung der Menschheit. Utopistisch erscheint bei dieser Erfahrung jedes System, welches darauf ausgeht, die ganze leidende Menschheit auf einmal zu vollkommener materieller Unabhängigkeit zu führen. Soweit man in die Zukunft zu blicken vermag, bleibt immer ein großer Rest übrig, der nach unsäglichen Anstrengungen sich endlich zur Freiheit durchringt, und dieser Rest ist niemals der letzte. Der Kongreß ernannte zum Schluß ein Centralkomitee für die deutschen Arbeiter, welches die Aufgabe hatte, die beschlossene Organisation überall da ins Leben zu rufen, wo sie Schwierigkeiten begegnete, und da, wo sie begonnen hatte sie kräftigst zu unterstützen. Zu diesem Zwecke sollte dem Centralkomitee eine zunächst zweimal wöchentlich erscheinende Zeitschrift, „Die Verbrüderung“ dienen, welche die Prinzipien der großen Arbeiterverbindung zu erläutern und zugleich einen Sprechsaal für die arbeitende Klasse abzugeben hatte. Diese Zeitschrift, von Anfang Oktober 1848 bis Anfang Mai 1849 von mir redigiert, ist das einzige Dokument aus meiner Jugendzeit, das sich in meinem Besitz erhalten hat. Indem ich es heute betrachte und durchgehe, kann ich mich einer gewissen inneren Bewegung nicht erwehren. Ein Jugendtraum voll warmer Hoffnungen und verlockender erster Blütenansätze, eine Zeit raschen Entschließens und begeisterten Handelns wird mit diesen vergilbten Blättern wieder lebendig für mich, und sie enthalten weniges, das ich nicht geschrieben haben möchte in jenen schönen Tagen reinster Selbstlosigkeit und gesegneter Rücksichtslosigkeit, wo einem der Gedanke fern liegt, was wohl die andern zu unserem Thun sagen mögen, wo wir, auf uns allein gestellt, nur von dem einen Drang bestimmt werden, unsere Pflicht zu erfüllen und alles übrige zu verachten. Ich war mit zwei anderen Mitgliedern des Berliner Kongresses, Schweninger und Kick, in das Centralkomitee gewählt worden, das seinen Sitz in Leipzig aufzuschlagen hatte. Das Geschäftliche des von mir redigierten Parteiorgans „Die Verbrüderung“ übernahm der Buchhändler Ludwig Schreck, er ließ das Blatt bis zum 1. Januar, wo unsere erste Assoziation, die Vereinsdruckerei, ins Leben trat, bei Brockhaus drucken. Der vornehmste Leipziger Buchdrucker lieh seine Lettern und seine Pressen zur Herstellung eines Arbeiterblattes her, das auf jeder Seite seinen revolutionären Ursprung bekundete. Auch darin ist das bald erloschene Frührot jener neuen Zeit zu erkennen. [B] Die Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland. Breslau 1885. S. 160. [Illustration] [Illustration] XV. In Leipzig. Bakunin. Ich stand persönlich viel zu sehr in einem bestimmten Kreise der Bewegung des Jahres 1848, um als deren Geschichtsschreiber auftreten zu können. Was ich in dem Vorangegangenen gegeben habe, soll nichts als ein kleiner Beitrag zu einer von jüngeren Schriftstellern zu erwartenden Darstellung einer aus dem Chaos sich mühsam losringenden neuen Zeit sein. Ich beschränke mich möglichst darauf, die Atmosphäre zu kennzeichnen, in der ich mit breiten Schichten des deutschen Volkes damals geatmet habe. Das eigentümliche Kolorit jener stürmischen Zeit, die Physiognomie mancher damals häufig genannten Persönlichkeit mag da und dort aus dem anspruchslos Erzählten etwas greller hervortreten, als mein leicht skizziertes Bild verträgt. Was thut’s? So muß ich heute von Michael Bakunin sprechen, dem ich zuerst in Brüssel begegnet war, als man ihn wegen einer an der Revolutionsfeier der Polen gehaltenen Rede aus Paris ausgewiesen hatte. Dieser furchtbare Revolutionär, der Begründer des Nihilismus und Anarchismus war im Grunde ein hundert Kilo schweres, naives Kind, ein ~enfant terrible~, wenn man will, immerhin ein ~enfant~. Die Naivetät, mit der er sich durch alle Krümmen des Lebens durchzuschlagen wußte, hatte für Leute anderer als russischer Nationalität etwas geradezu Verblüffendes. Wo ein Deutscher nicht aus noch ein gewußt hätte, kam er sorglos weiter. Und dabei vergab er sich nie etwas, er blieb in jedem Falle ein Mann der guten Gesellschaft, ein Gentleman. Der Kummer hat in dieses runde Gesicht mit den funkelnden Augen nie eine Furche gegraben. Seinem Aussehen nach war er stets ein Mann in den besten Jahren. Ob er vierzig oder fünfzig oder noch mehr zählte, das war ihm nicht anzusehen. Ich sah ihn einige Zeit nach seiner Flucht aus der sibirischen Verbannung in Bern wieder. Seit unserem Zusammentreffen in Leipzig und Dresden waren wohl an die fünfzehn Jahre vergangen. Bakunin sah unverändert aus. Nur etwas rühriger, lebhafter in seinen Bewegungen, unruhiger war er geworden. Dies war wohl daher gekommen, daß er einen Hof von jungen Russen und Polen um sich hatte, die ihn als eine Art Propheten und Heiland betrachteten. Diese Rolle mochte ihm unbequem sein und ihm die Unbefangenheit und natürliche Heiterkeit nehmen, die ihn früher nie verlassen hatte. Einem systematischen Denker wie Marx mußte dieser alte Knabe, der aus allen philosophischen Töpfen geschleckt und bei seinem robusten Naturell niemals gemerkt hatte, wie sehr er sich dabei den Magen verdorben, notwendig antipathisch sein. Bakunin war dies nicht verborgen geblieben, und er ging ihm aus dem Wege. Mit mir knüpfte er in Brüssel an, um sich über dies und jenes Auskunft zu holen. Ein näheres Verhältnis konnte sich zwischen uns nicht entspinnen, ich war ihm zu jung, er war mir eine zu fremdartige Erscheinung. Er blieb nach der Februar-Revolution nicht in Paris, nach dem 18. März ging er nach Berlin. Von dort, der deutschen Stadt aus, betrieb er die Organisation des Prager Slavenkongresses, auf dem die Vertreter der einzelnen Länder bekanntlich deutsch sprechen mußten, um sich zu verstehen. Wir haben uns in Berlin öfter gesehen. Eine Szene, in welcher er eine durchaus unpolitische, aber für seine Natur sehr charakteristische Rolle spielte, ist lebendig in meiner Erinnerung geblieben. Es war in dem engen Hinterzimmer eines Berliner Cafés. Wir waren etwa ein Dutzend Gäste, von denen die meisten, wie z. B. d’Ester aus Köln, Stein und Elsner aus Breslau, der preußischen Nationalversammlung angehörten. Da machte einer den Vorschlag, einen russischen Punsch zu bereiten und Bakunin übernahm diese Aufgabe. „Ich werde Euch einen Hohenstaufen machen,“ rief er aus. „Chochenstaufen“ klang das Wort in seinem Munde, er sprach das h wie ch aus. „Mit diesem Trank im Leibe seht Ihr Chelena in jedem Weibe!“ Man brachte ihm auf seine Anordnung die verlangte Quantität Rum, Zucker, mancherlei Gewürz dazu und einen tiefen kupfernen Kessel. Bakunin zündete den Rum an, löschte die Lichter aus, den Rock hatte er abgelegt, die Hemdärmel aufgerollt, und nun rührte der Riese mit breitem Löffel in den bläulichen Flammen, in deren Schein er wie ein Abgesandter der Hölle sich ausnahm, während wir andern mit erdfahl beleuchteten Gesichtern seinem unheimlichen Treiben zuschauten. „Den Teufel spürt das Völkchen nie,“ brummte er vor sich hin, „und wenn er sie beim Kragen chätte!“ Wasser war für das Gebräu nicht vorgesehen, als Abschwächungsmittel dienten einige Flaschen Rheinwein, die am Schluß dem Ganzen zugesetzt und in den brennenden Rum gegossen wurden. Der Trank wurde eingeschenkt, die Flamme im Kessel war erloschen, die friedlichen Lichter erhellten wieder das Zimmer, man trank, ein Rundgesang wurde angestimmt; ich habe niemals wieder einer so plötzlichen Wirkung des Alkohols beigewohnt. Man wurde sehr -- lustig. Es mag sonderbar klingen, daß in der Begegnung, die ich einige Monate später mit Bakunin in Leipzig hatte, das Trinken wieder eine Rolle spielte. An mir lag das sicher nicht. Polizeilich wurde damals auf Bakunin gefahndet, der Prager Slavenkongreß, auf dem er aufrührerische Reden gehalten, hatte die Veranlassung dazu gegeben. Die Polizei war damals noch nicht wieder, wie unter dem alten Regiment, sehr dienstbereit; die sächsische Regierung selber wünschte es wahrscheinlich nicht anders. Bakunin hatte bei einem mir befreundeten Buchhändler ein Asyl gefunden, es war entweder Ernst Keil oder Schreck gewesen, der ihn unter sein gastliches Dach genommen. Ein großer Saal, in welchem der Schützling täglich tausend Schritte abzählen konnte, da er nicht ganz ohne Bewegung bleiben durfte, war da eine wahre Wohlthat für ihn. Abends, „wenn die Sonne war gesunken,“ machte er sogar einen Ausgang in den „goldenen Hahn“, wo er mit mehreren Vertrauten unbehelligt sich einige Stunden unterhalten durfte. Eines Tages hatten wir es unternommen, ihn nach einem benachbarten Orte zu führen, wo er über die ihm gewordene kurze Freiheit so glücklich war, daß er unverkennbar angeheitert auf dem Heimwege uns immer vorausrannte und jeden ihm Begegnenden mit der lauten Frage anhielt: „Wo ist der goldene Chahn?“ -- Ja, wo ist der goldene Chahn? Die Frage, in ihrer russischen Aussprache, wirkte erst verblüffend, dann so ergötzlich auf die Angeredeten, daß einer sie dem andern auf dem langen Wege in die Stadt zurief. Aus jedem Munde erscholl sie mit einem Mal als die größte und wichtigste aller Zeitfragen: „Wo ist der goldene Chahn?“ Und als wir in dem trauten Absteigequartier endlich eintrafen, wurden wir unter schallendem Gelächter mit der Frage begrüßt: „Wo ist der goldene Chahn?“ Nichts charakterisiert übrigens Bakunin besser als die folgenden Zeilen, die wir dem 1890 erschienenen Buche „~Karl Vogt, par William Vogt~“ entnehmen: Karl Vogt hatte in jungen Jahren Bakunin in Paris kennen gelernt und mit ihm einen gemeinsamen Haushalt eingerichtet. Der dauerte vierzehn Tage. Schon am dreizehnten war kein Heller mehr in der gemeinsamen Kasse, und zu allem Unglück wurde ihnen der Kredit im Restaurant gekündigt, weil Bakunin die legitime Gattin des ehrenwerten Speisewirts zu sehr geplagt hatte. Was war nun zu thun? Der Beutel leer und -- das allerschlimmste! -- der Vorrat an Zigarretten völlig erschöpft. Die Tugend der Enthaltsamkeit behagte diesen auserlesenen zwei Feinschmeckern durchaus nicht. Unbekannt in den anderen Restaurants, konnten sie nicht daran denken, das Vertrauen der Leute auf ihr ehrliches Gesicht hin zu gewinnen, besonders mit einem Appetit, wie der ihrige war. Eine düstere Verzweiflung bemächtigt sich nun Bakunins, der sich auf’s Bett hinwirft, um sein regelloses Leben, seine Verschwendung zu beweinen. Über den Hunger konnte ihm selbst die hochverehrte Hegel’sche Philosophie nicht hinweghelfen; da plötzlich tritt der Briefträger mit einer Geldsendung für den Doktor Vogt ein. Hurrah! Hier liegen drei schöne Bankbillets, jedes zu hundert Franken, ein Reichtum, den der Verleger eines deutschen Fachblattes dem jungen Naturforscher für seinen Bericht über die wissenschaftliche Bewegung in der französischen Hauptstadt sendet. Am Abend, als Vogt, der sich von seinem Freunde Emanuel Arago einen Louisd’or geliehen hatte, nichts Arges ahnend, ins Zimmer tritt, ist er fast starr vor Entsetzen. Ein gedeckter Tisch, Champagnerflaschen, und Bakunin, in einer Wolke von Tabakrauch, hält eine Rede an fünf oder sechs Polinnen, um zum Schluß einer jeden auf das Galanteste ein Paar Handschuhe zu überreichen. Man aß gut, man trank viel, am andern Morgen aber war kein Maravadi mehr im Beutel. Vogt brach die gemeinsame Wirtschaft ab. -- Bakunin war nicht übelnehmerisch, doch ging er nach seinem Exil in Sibirien nicht mehr zu Karl Vogt, der bekanntlich in einen bösen Streit mit den Sozialisten geraten war. Bakunin konnte es ihm nicht verzeihen, daß sein Jugendfreund eine seiner Parteireden in folgenden Versen persifliert hatte. „Wir wollen uns in Schnaps berauschen, Wir wollen unsre Weiber tauschen, Und aufgelöst sei Mein und Dein. Wir wollen uns mit Talg beschmieren Und nackt im Sonnenschein marschieren, Wir wollen freie Russen sein.“ Der Bruch mit Karl Vogt hinderte Bakunin nicht, am Ende seines Lebens in Bern die Gastfreundschaft Adolf Vogts, eines Bruders des berühmten Naturforschers, anzunehmen, unter dessen Dach er gestorben ist. Ich habe ihn in einem späteren Artikel noch einmal zu erwähnen. Was Karl Vogts Streit mit Marx und dessen Anhängern betrifft, so wäre ich im Falle, manches Aufklärende hier beizubringen, doch begnüge ich mich mit der Bemerkung, daß nicht die „Schwefelbande“, die sich selbstlos, mühsam und im Dienste einer großen Idee ihr Brod erwarb, sondern der Verfasser von „Köhlerglaube und Wissenschaft“ entschieden im Unrecht war. [Illustration] [Illustration] XVI. Erschießung Robert Blums in Wien. Steigende Aufregung in Deutschland. Eine ausführliche Analyse des Inhalts der „Verbrüderung“ hat Georg Adler in seinem Buche, „die erste sozialistische Arbeiterbewegung in Deutschland“ gegeben, auf das ich meine Leser verweise. Der Verfasser wundert sich über den revolutionären Ton, der in dieser Zeitschrift weht, und der Ende November 1848, nach der Einnahme von Wien durch Windischgrätz und dem Einzug Wrangels in Berlin, sogar bis zu einem direkten Aufruf sich steigerte, die bedrohten Errungenschaften des März mit den Waffen in der Hand zu verteidigen. Diese Verwunderung des sehr geschätzten Nationalökonomen ist mir nur ein Beweis, daß schon die direkt auf die Ereignisse von 1848 folgende Generation zu abgekühlt war, um für den Aufruhr, der unser Herz bewegte, ein Verständnis zu haben. Die „Verbrüderung“ war, was eigentlich selbstverständlich ist, sehr heißblütig, doch verfiel sie niemals in jenen tyrannenmörderischen Posaunenton, der einige Jahrzehnte später von hohlköpfigen Strebern mit lächerlicher Virtuosität geblasen wurde. Den Hauptinhalt bildeten in lebendiger Darstellung eine Reihe von Untersuchungen über die soziale Frage. Der Stil zeichnete sich freilich nicht durch kühle Gemessenheit und Ruhe aus. Das wäre in jener aufgeregten Zeit schlecht am Platze gewesen. Eine Zeitschrift wie „Die Verbrüderung“ hatte die Aufgabe, die Massen aufklärend zu packen und zu leiten, und das gelang ihr in gewünschtem Maße. Nicht wegen der sozialistischen Artikel kam das Blatt übrigens in Konflikt mit der wachsamen Justiz, wenn wir den Ruf zu den Waffen ausnehmen, der kaum unbeachtet bleiben konnte, sondern wegen der sozial-politischen Gedichte, von denen es eins in jeder Nummer brachte. Und die Staatsanwaltschaft der guten Stadt Leipzig bewies wahrhaft ihren vorzüglichen litterarischen Geschmack, indem sie mich zuerst wegen des Abdrucks der „Weber“ von Heine zur Rechenschaft zog. Wegen Preßvergehens angeklagt, wurde ich vor den Untersuchungsrichter geladen. Dieser, ein noch ziemlich junger Mann, schien von seiner inquisitorischen Aufgabe nicht sehr erbaut. Es war im Herbste des Jahres 1848 und selbst in dem Gemüte eines königlich sächsischen Untersuchungsrichters mochte wohl noch etwas von der allgemeinen Jahresstimmung lebendig sein. Es war auch eine Neuerung im Verfahren eingeführt: die Untersuchung war nicht absolut geheim, zwei „Männer aus dem Volke“ wohnten ihr bei. Sie hatten nichts dreinzureden, sie sollten nur als Bürgschaft dafür dienen, daß dem Angeschuldigten nichts Ungebührliches von Seiten des Richters widerfuhr. Ich bestritt, daß das Heine’sche Gedicht einen aufrührerischen Charakter habe. Es sei nicht an die Weber gerichtet, es spreche von den Webern, von dem peinigenden Hunger, der sie quäle und der sie in ihrer Verzweiflung selbst bis zu gotteslästerlichen Worten verleite. Der Untersuchungsrichter lächelte kritisch, die beiden Spießbürger aber, die als Wächter der Gerechtigkeit hinter ihm saßen, lächelten mich verschmitzt und zugleich aufmunternd an. Sie steckten auch noch in der Jahresstimmung und waren zweifellos mit mir einverstanden. Das ermutigte mich, den grandios dramatischen Zug in dem Gedicht ausführlicher darzulegen, die von dem Dichter gesuchte, in so erschütternder Weise herbeigeführte Steigerung als ästhetisch geboten zu bezeichnen, so daß der Fluch der hungernden Weber kaum anders als mit einer Gotteslästerung endigen konnte. Der Richter, in der Form immer liebenswürdig, wollte dies nicht gelten lassen. Was wahrscheinlich mehr Eindruck auf ihn machte, das war der Hinweis auf die Thatsache, daß das inkriminierte Gedicht schon ein Jahr vor der Märzrevolution erschienen war, daß diese die Zensur aufgehoben, und daß die Heine’schen Schriften jetzt offen in allen Buchhandlungen verkauft wurden. Die Zeit habe sich geändert, erklärte ich. Ob es denn die Absicht der Regierung sei, wieder zu einem von ihr selbst aufgegebenen System der Verfolgung des freien Wortes zurückzukehren? Dieser Teil meiner Verteidigung machte jedenfalls mehr Wirkung auf meinen Richter als der ästhetische Teil. Man reichte mir ein Protokoll zur Unterzeichnung, und ich wurde bis auf weiteres entlassen. Als ich mich zurückzog, gaben mir die beiden Tugendwächter wieder ein freundliches Augenblinzeln mit auf den Weg. Die Angelegenheit kam mir sehr ergötzlich vor, auch nach einem zweiten Verhör, zu dem ich mehrere Wochen später vorgeladen wurde. Die Zeiten fingen schon an, sich zu verdüstern. Das glaubte ich daran zu erkennen, daß diesmal nur ein einziger „Mann aus dem Volke“ der Sitzung beiwohnte. Die Reaktion hatte mehr Zuversicht gewonnen. Robert Blum war in der Brigittenau zu Wien standrechtlich erschossen worden. Man täuscht sich wohl nicht, wenn man annimmt, daß zwischen Österreich und Preußen eine Verständigung über die gleichzeitig zu ergreifenden Schritte gegen die Folgen der Märzrevolution stattgefunden hatten. In beiden Ländern wurden schon Mitte August Truppenmassen zusammengezogen, welche die Aufgabe hatten, die „Ordnung“ wiederherzustellen. Von Böhmen aus sollte eine Armee unter dem Oberbefehl des Fürsten Windischgrätz die Eroberung Wiens besorgen, in der Mark Brandenburg kommandierte General Wrangel die zum Einzug in Berlin bestimmte Armee. Als Fürst Windischgrätz vorrückte, um Wien zur Unterwerfung zu zwingen, schickte das Frankfurter Reichsministerium zwei Kommissäre zur Vermittlung an ihn ab, die der österreichische Feldherr einfach zu den Ministern nach Olmütz sandte, welche die ungebetenen Gäste mit einigen Höflichkeitsphrasen von sich abschüttelten. Die Linke des Frankfurter Parlaments glaubte ihrerseits zwei Vertrauensmänner nach Wien senden zu müssen. Sie beehrte mit dieser Mission Robert Blum und Julius Fröbel. Man begreift nicht recht, welchen Zweck sie damit im Auge hatte. Einen Volksredner wie Blum brauchten die Wiener Aufständischen nicht, einen Schriftsteller wie Julius Fröbel noch weniger. Womit das Frankfurter Parlament allein etwas hätte ausrichten können, das besaß es eben so wenig wie irgend eine andere deutsche Volksvertretung: ein Parlamentsheer. Da ein solches nicht improvisiert werden konnte, so war es im Herbst des Jahres 1848 jedem politisch denkenden Deutschen klar, daß für den Augenblick die Errungenschaften des März im höchsten Grade gefährdet waren, und daß man im Kampfe gegen die militärisch organisierte und nach einer blutigen Entscheidung dürstende Reaktion wieder auf das nicht organisierte und schlecht gerüstete freiheitsliebende Volk angewiesen war. Ein Widerstand gegen die fürstliche Macht hätte vielleicht bei gleichzeitiger Erhebung aller größeren Städte noch einige Aussicht auf Erfolg geboten. In Österreich war darauf nicht zu rechnen. Ein intelligenter Mann wie Robert Blum sah die Hoffnungslosigkeit einer Erhebung der Hauptstadt gegen die 90,000 Mann des Fürsten Windischgrätz sicherlich ein. Er glaubte es trotzdem seiner Vergangenheit und seiner Ehre schuldig zu sein, mit seinem Leben für eine Sache einzustehen, die für den Augenblick verloren war, die jedoch aus jedem Tropfen Blutes, das für sie vergossen worden, für künftige Tage neue Stärke erzeugte. Robert Blum stand mit dem Volk auf den Barrikaden. Er wurde auf Befehl des siegreichen Generals am 4. November mit Fröbel in seinem Gasthof verhaftet, und am Morgen des 9. November in der Brigittenau standrechtlich erschossen. Er hatte wie ein Mann gelebt, er starb wie ein Mann, und die Nachricht von seinem Tode erweckte eine ungeheure Erregung in allen deutschen Landen, mehr als irgendwo anders in Leipzig, das ihn als seinen Vertreter ins Frankfurter Parlament gesandt hatte. Hier wie aller Orten wurde für den geliebten Volksmann eine Totenfeier veranstaltet. Leipzig war zu jeder Zeit wesentlich Geschäftsstadt gewesen, deren Bewohner wohl stets den lebendigsten Anteil an den Geschicken des Vaterlandes nahmen und opferwillig für dasselbe eintraten, sich auch in jeder Bewegung als Freunde der bürgerlichen Freiheit erwiesen; dem Charakter eines alten Handelscentrums gemäß war Leipzig jedoch niemals revolutionär. Ich war deshalb gar nicht überrascht, als ich an dem Morgen, der die Nachricht von der Hinrichtung Robert Blums brachte, in der Bevölkerung auch nicht die leiseste Spur aufrührerischer Erregung, sondern nur tiefe Ergriffenheit und resignierte Trauer auf allen Gesichtern sah. In dichten Haufen standen die Leute aus dem Kleinbürgerstande auf den Straßen zusammen und besprachen die entsetzliche Nachricht aus Wien. Diejenigen, welche den Dahingeopferten persönlich gekannt hatten, fielen einander weinend in die Arme. Die scheinbar ohnmächtigen Thränen waren nicht unfruchtbar für die Neugestaltung Deutschlands. Jede große Sache muß ihre Märtyrer aufweisen können, deren Glorienschein für kommende Geschlechter als Gedenkzeichen und unvergängliche Ermahnung wirkt. Ungarn, Österreich, Deutschland befanden sich vor fünfzig Jahren in einem Krieg zwischen vorwärts strebenden Völkern und rückwärts drängenden Regierungen. Der Krieg schlug anfangs zum Vorteil der Reaktion aus. Diese hatte unrecht, die Kriegsgefangenen durch den Strang oder durch Pulver und Blei des Lebens zu berauben. Die standrechtlichen Hinrichtungen, wo sie auch nach dem Siege der Reaktion ausgeführt wurden, haben nirgends den Eindruck eines vollzogenen Rechts, sondern eher den persönlicher Rache gemacht; sie haben nicht gehindert, daß in Ungarn, in Österreich, in Deutschland die vorwärts strebenden Völker einen gewaltigen Schritt vorwärts gethan, und daß die vormärzlichen politischen Zustände beinahe zu einem Mythus geworden sind. Am 9. November war Robert Blum in der Brigittenau erschossen worden; einen Tag vorher hatte General Wrangel, als Befehlshaber der Truppen in den Marken, seinen Einzug in Berlin ohne Widerstand ausgeführt, einige Tage später verhängte er den Belagerungszustand über die preußische Hauptstadt, die Bürgerwehr wurde zur Ablieferung ihrer Waffen aufgefordert, die Nationalversammlung geschlossen und nach Brandenburg verlegt. Ihre letzte Handlung war der Beschluß der Steuerverweigerung. Er blieb ein Schlag ins Wasser. Was im 17. Jahrhundert in England unter ganz anderen Verhältnissen sich als wirksam erwiesen hatte, machte zwei Jahrhunderte später keinen Eindruck mehr. Die Regierung forderte momentan keine +direkten+ Steuern ein, und die wohlhabenden Bürger, welche ins Gewicht fallende direkte Steuern zu bezahlen hatten, waren reaktionär geworden; sie sehnten sich nach „Ruhe und Ordnung,“ nach Belebung der stockenden Geschäfte. In den breiteren Volksschichten hatte man die Augen nach Frankfurt gerichtet, man war auf die neue Reichsverfassung gespannt, die aus dem Professorenparlament hervorgehen sollte. Ich wollte mich selbst von dem Stand der Dinge überzeugen und ging nach der Erklärung des Belagerungszustandes auf einige Tage nach Berlin. Am Anhalter Bahnhof wurde ich wie alle Reisenden nach dem Paß gefragt. Ich hatte keinen, nannte mich aber. Einem Herrn mit einem blauen Fez auf dem Haupte gefiel es, zu betätigen, daß ich der sei, für den ich mich ausgegeben. Man ließ mich ein. Einer der ersten, denen ich auf meinem Wege in die Stadt begegnete, war Johann Jakoby. „Sie wollen doch hier nichts anfangen?“ rief er mir erschrocken zu. Die Frage war sehr bezeichnend für jene Tage. „Durchaus nicht!“ konnte ich mit gutem Gewissen antworten. Jakoby und seine Freunde erwarteten alles von ihrem Steuerverweigerungs-Beschluß. Vollständig aufgeklärt über den Stand der Dinge kehrte ich nach wenigen Tagen nach Leipzig zurück. [Illustration] [Illustration] XVII. Reise nach Heidelberg und Köln. Der Winter nahm meine Thätigkeit als leitendes Mitglied des Centralkomitees vollauf in Anspruch. Ich besorgte die Redaktion der „Verbrüderung,“ indem ich den größten Teil des Inhaltes dieses zweimal wöchentlich ausgegebenen Blattes selbst schrieb, mich an der Gründung oder Förderung einiger Produktiv-Associationen beteiligte und in mehreren deutschen Städten, in Dresden, Altenburg, Magdeburg, Nürnberg, Heidelberg, Mainz, dort veranstalteten Versammlungen präsidierte oder durch Vorträge den Anschluß großer Gebietsteile Deutschlands an die allgemeine „Verbrüderung“ herbeiführte. In Preußen und Sachsen waren nach und nach sämtliche Bezirksvereine dem Bunde beigetreten, fast jede Nummer der „Verbrüderung“ brachte Mitteilungen über die Fortschritte der Organisation. So kamen wir in Norddeutschland ohne besondere Anstrengungen dem Ziele täglich näher. Schwieriger war die Aufgabe der Überbrückung der Mainlinie. Auch sie gelang dank dem Umstande, daß in Heidelberg ein Distrikts-Kongreß für den 28. und 29. Januar 1849 angeschrieben wurde, auf welchem hauptsächlich die Arbeitervereine Badens, Rheinhessens und der Rheinpfalz vertreten waren, zu dem aber auch das Centralkomitee in Leipzig eingeladen wurde, weil es sich darum handelte, über eine ganz eigentümliche, von dem Kasseler Professor Winkelblech gepredigte Lehre eine Entscheidung herbeizuführen. Von dieser Entscheidung hing der Anschluß Süddeutschlands an die allgemeine „Verbrüderung“ ab. Winkelblech war ein Meteor, das im Bewegungsjahre am dunklen Nachthimmel des deutschen Zunftwesens plötzlich erschien, um in raschem Niederfall zu versinken und zu erlöschen. Nur in einem Lande wie Deutschland, das in seiner ökonomischen Entwicklung neben der gesetzlich eingeführten, den Ideen der Neuzeit zugestandenen Gewerbefreiheit die mannigfaltigsten Gestaltungen des mittelalterlichen Zunftwesens fortleben ließ, konnte eine Prophetennatur wie Winkelblech, wenn auch nur auf einige Wochen, Gehör finden und eine Rolle spielen. Der Mann war Professor an einer höheren Gewerbeschule zu Kassel, las über Chemie und Technologie und that keinen Menschen etwas zu lieb noch zu leide, als er -- das wurde sein Verhängnis -- auf einer Reise in Norwegen mit einem deutschen Fabrikarbeiter zusammentraf, der, wie es scheint, in beredten Worten sein schweres Elend ihm darlegte. Ergriffen von den Leiden des arbeitenden Volkes, fühlte Winkelblech plötzlich den heiligen Beruf in sich, den Mühseligen und Beladenen ein Retter und Erlöser zu werden. Lykurg, Solon, Moses galten ihm als Gesetzgeber, die von einer himmlischen Macht geleitet, aus der Tiefe ihrer Seele das große, einheitliche System sich gegenseitig unterstützender und ergänzender Einrichtungen schufen, mit denen sie ihre Völker aus der Verworrenheit zogen und über andere Völker emporhoben. Der Gedanke, daß diese Männer aus der Erkenntnis der geschichtlich entstandenen, auf besonderem Boden gekeimten und allmählich zum Wachstum gelangten materiellen Bedürfnisse und einer mit diesen eng verflochtenen Geisteskultur ein in seinen Grundzügen schon vorhandenes wirtschaftliches und staatliches System aufbauten, lag Herrn Winkelblech fern. Er sah nicht ein, daß jene großen Intelligenzen die zerstreuten Ideen einer neuen Zeit in sich zu einer Leuchte sammelten, die sie ihren erstaunten Volksgenossen vorantrugen; ihm waren sie mit göttlicher Gewalt ausgestattete Propheten, und er selber glaubte sich zur Schöpfung eines in seinem Gehirn gereiften solonischen Werkes berufen. Die Dichtungen der deutschen Romantiker hatten das gesamte Leben des Mittelalters mit seinen ständischen Gliederungen in eine bestrickende, den Wirklichkeitssinn ertötende zauberhafte Mondscheinbeleuchtung gesetzt. Arnims „Kronenwächter“, nahm man als ein Bild des Mittelalters hin, Hoffmanns „Meister Martin und seine Gesellen“ galt für die beste Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse vergangener Zeiten; eine schönfärberische Poesie überwucherte die gewissenhafte Forschung, sie berauschte die Geister und erschwerte die Arbeit derjenigen, die ohne Voreingenommenheit der Wahrheit dienen wollten. Professor Winkelblech war ein Prophet und ein Romantiker auf einem Gebiet, das alle Romantik und alles Prophetentum ausschließt. Als Prophet wollte er natürlich alles Elend auf Erden ausrotten, alle Menschen glücklich machen, als Romantiker glaubte er alles Heil auf dem Wege zu finden, der zurückführt in die dichterisch verklärten Hallen des erneuerten mittelalterlichen Zunftwesens. Ihm war die moderne Produktionsweise, das Fabrikwesen mit den himmelanstrebenden Schloten, den millionenreichen Herren und den bettelarmen hungernden Arbeitern ein Greuel, er war von einem starken Haß gegen die Unternehmer erfüllt, doch sah er nicht ein, daß der moderne Fabrikherr ein notwendiges Glied in der neuen Gesellschaft war, die aus der Befreiung des dritten Standes von feudalistischen Staatseinrichtungen hervorgehen mußte, und daß diese neue Gesellschaft und ihre auf dem „freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte“ beruhende Produktionsform eine große Masse von Gütern geschaffen, welche dem vierten Stande zu Gute kamen, seine Lebensstellung hoben und ihn erst jetzt zu einem Kampfe für seine Selbstständigkeit befähigten. Er sah nicht ein, daß man zu einer geschichtlich überwundenen wirtschaftlichen Periode unmöglich zurückkehren kann, und so gelangte er zu dem Irrtum, einer zunftmäßigen, von ihm in verführerischen Farben dargestellten Organisation das Wort zu reden, die den Bedürfnissen der Zeit durchaus nicht mehr entsprach. Diese „christlich-germanische“ Organisation glaubte er durch Ideen französischer Sozialisten modern ausschmücken zu können. Er blieb immerhin ein bedenklicher Reaktionär, da er als Romantiker sogar für das absolute Königtum im Sinne Friedrich Wilhelms IV. sich begeisterte und so den Verdacht gegen sich erregte, daß er damit sich eine Unterstützung und hohe Protektion von allerhöchster Seite sichern wollte. Professor Winkelblech entwickelte sein System in Heidelberg. Ich trat nach ihm auf, um ihn zu widerlegen. Ich muß es, wie die Zeitungen darüber berichteten, sehr gründlich gethan haben; die ganze, zahlreiche Zuhörerschaft, die nicht bloß aus den Vertretern süddeutscher Arbeitervereine, sondern auch aus den Professoren und Studenten der Heidelberger Universität bestand, rückte nach und nach auf meine Seite, Winkelblech fühlte sich abgelehnt, er war in dem großen Redekampf unterlegen und wartete den zweiten Debattiertag nicht ab. Der Anschluß der süddeutschen Arbeitervereine an die Verbrüderung wurde als Ergebnis des Kongresses laut proklamiert. Die Mainzer Kongreßmitglieder, zwei Brüder Stumpf, luden mich ein, auf einige Tage ihre Gastfreundschaft anzunehmen. Ich willigte ein. Sie führten mich am ersten Abend in den dortigen demokratischen Verein. Der sehr große Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch das schöne Geschlecht war reichlich vertreten. Es schien etwas verabredet worden zu sein. Nach Abfertigung einiger kurzen Vereinsgeschäfte ersuchte mich der Vorsitzende, der Versammlung, die mir gewiß dafür dankbar sein würde, Bericht über den Heidelberger Kongreß abzustatten. Das that ich. Ich habe nie eine aufmerksamere Zuhörerschaft gehabt. Als ich nach einer Stunde geschlossen hatte und mich von allen Seiten umdrängt sah, trat plötzlich mein alter Freund Wallau an mich heran, um mir die Hand zu drücken. Wir hatten vor anderthalb Jahren die Deutsche Brüsseler-Zeitung gesetzt. Er war jetzt Besitzer einer kleinen Buchdruckerei mit einer einzigen Handpresse. Wallau entwickelte sich rasch zu einer hervorragenden Persönlichkeit in seiner Vaterstadt, er ist als Oberbürgermeister von Mainz gestorben. Einmal in Mainz, wollte ich auch die Männer der „Neuen Rheinischen Zeitung“, Marx, Engels, Wolf ~e tutti quanti~ wiedersehen. Wer heute die gehässigen Worte liest, mit denen Engels vierzig Jahre später meiner gedenkt, muß wohl meinen, daß die Häupter der Partei längst mit mir gebrochen hatten. Das war durchaus nicht der Fall. Schließlich hätten sie mir keinen anderen Vorwurf machen können, als den, daß ich, ohne ihr Kommandowort einzuholen, ganz und gar auf eigene Faust gehandelt hatte. Aber niemand gab mir nur durch eine Miene irgend welche Unzufriedenheit zu erkennen. Marx nahm mich aufs freundlichste auf, ebenso Frau Marx. Sie ließen mich nicht in ein Hotel einkehren, sie betrachteten mich als ihren Gast. Und da fällt mir eine Bemerkung ein, die Marx bei Tische machte, und die wohl, weil sie für seine Art und Weise charakteristisch ist, festgehalten zu werden verdient. Zum erstenmale kam in meiner Gegenwart das Gespräch auf Familienverhältnisse. Es war die Rede von der politischen Stellung des Herrn von Westphalen in dem Revolutionsjahr, er war ein ausgesprochener Reaktionär. „Dein Bruder“, sagte lachend Marx zu seiner Frau, „ist so dumm, daß er noch einmal preußischer Minister wird.“ Frau Marx, die über diese mehr als freimütige Bemerkung errötete, lenkte das Gespräch auf einen andern Gegenstand. Die Prophezeiung ihres Mannes ist bekanntlich eingetroffen. Ich habe einige Jahre später mich manchmal jenes Wortes erinnert und dabei an den Gegensatz zwischen den beiden Geschwistern gedacht. Er der höchste Staatsbeamte in der Zeit der härtesten Reaktion und deren willigster Diener; sie im Exil und nur zu oft die Beute der drückendsten Lebenssorge, doch treu sich anschließend an den Gegenpol ihres Bruders, von dem eine Welt sie für immer schied. Mich berührte der Gedanke daran stets als tief tragisch. Am andern Morgen besuchte ich die Herren der Redaktion. Engels, jedenfalls der Hauptarbeiter in derselben, denn keiner besaß wie er eine so große Leichtigkeit der Produktion, machte sich ein Viertelstündchen frei, um mit mir wie in früheren Zeiten ein wenig zu plaudern, richtiger gesagt, um mir sein Herz auszuschütten. Er war nicht zufrieden. Nur Wilhelm Wolf, der schlesische Bauernsohn, der in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ dem hohen feudalen Adel seiner Provinz allen Raub vorrechnete, den dieser an dem ihm unterworfenen armen Landvolk begangen, fand Gnade vor ihm. Der zweite Wolf, ein verbummelter und verkommener Litterat, der, man weiß nicht wie und warum, unter die Kommunisten geraten war, kam mit den geringen Nebenarbeiten, die man ihm auftrug, niemals nach. Wenn er eine halbe Stunde an einer Übersetzung gedrechselt hatte, erhob er sich mit verzweiflungsvoller Miene von seinem Stuhl und seufzte: „Ich le-ide“, nach dem kölnischen Dialekt das ei in zwei Vokale trennend. Am bittersten klagte Engels über Marx. „Er ist kein Journalist“, sagte er, „und wird nie einer werden. Über einem Leitartikel, den ein anderer in zwei Stunden schreibt, hockt er einen ganzen Tag, als handle es sich um die Lösung eines tiefen philosophischen Problems; er ändert und feilt, und ändert wieder das Geänderte, und kann vor lauter Gründlichkeit niemals zur rechten Zeit fertig werden.“ Es war Engels eine wahre Erleichterung, das was ihn ärgerte, einmal aussprechen zu können. Im Grunde aber hatte er einen tiefen Respekt vor Marx, den er als einen ihm überlegenen Geist stets anerkannte. Und wenn es Marx, der sehr zum Jähzorn geneigt war, auch zeitweise für geboten erachtete, ihn an seinen Platz zu stellen -- er hatte ihn einmal in meiner Gegenwart einen Elberfelder Gassenjungen gescholten und darauf die Thür hinter sich zugeschlagen -- so erwiderte wohl Engels: „Das werde ich ihm gedenken!“ Indessen, er dachte nicht lange an das Vorgefallene. „Das werde ich der +Schweiz+ gedenken!“ sagte Engels auch, als ich nach dem Übertritt der badischen Armee im Sommer des Jahres 1849 in Bern auf offenem Platze zufällig mit ihm zusammentraf. Es war das letzte Mal, daß ich ihn gesehen. Er erzählte mir in höchster Aufregung, daß er auf einem Ausflug in den Jura mit einem Landjäger zusammengestoßen sei, der ihn nach seinen Legitimationspapieren gefragt und ihm, da er dies ungehörig fand und in der freien Republik von der Polizei sich nichts gefallen lassen wollte, die Handschellen anlegte und so einem Straßenräuber gleich in die nächste Stadt transportierte. -- „Warum bist Du auch so widerhaarig gegen diesen rauhen Diener des Gesetzes gewesen? Mit solchen Leuten kommt man durch Höflichkeit weiter.“ Das mochte ich gesagt haben, anstatt in lebendige Entrüstung auszubrechen, und das hat er mir wahrscheinlich nie vergeben. Sein „Das werde ich der Schweiz gedenken“ hat er hingegen vergessen. [Illustration] [Illustration] XVIII. Nach Dresden gewählt. Kämpfe um die Reichsverfassung. Nach und nach wurde ich in Leipzig heimisch und auch zu den Sitzungen der dortigen Vereine zugezogen, in denen ich bisweilen das Wort ergriff. So geschah es, daß ich Ende April 1849 von den Leipziger Arbeitervereinen zu ihrem Vertreter bei einer von der sächsischen Regierung nach Dresden einberufenen Versammlung von Vertrauensmännern aus Industrie- und Handwerkerkreisen ernannt wurde, welcher der Entwurf eines neuen Gewerbegesetzes zur Beratung unterbreitet war. Diese Ernennung mußte für mich, wie ich nach der Lage der Dinge wohl vorhersehen konnte, eine unausbleibliche Schicksalswendung herbeiführen. Ich ging nach Dresden, richtete mich daselbst für einen mehrwöchigen Aufenthalt ein, aber schon nach wenigen Tagen erhob sich dort das Volk zu gunsten der vom Frankfurter Parlament ausgegangenen Reichsverfassung, welcher der König von Sachsen seine Anerkennung versagte. So befand ich mich plötzlich mitten im blutigen Kampfe. Ich habe kurz auf die Novemberereignisse in Wien und Berlin hingewiesen. Schrittweise machte die Reaktion Fortschritte und ihre Triumphe waren entscheidend für das ganze Land. Darüber jedoch sind die Bewegungen in den Provinzen nicht zu übersehen. Es wirbelte und wogte überall. Ortschaften, von denen man vorher kaum gesprochen, wurden zu Mittelpunkten leidenschaftlichen Vorgehens gegen die alte Ordnung, und die Meldungen von Unruhen und Aufständen wechselten mit solchen von heftigen Zusammenstößen zwischen Militär und Volk. In einzelnen Staaten wurde die Todesstrafe von der Volksvertretung in gesetzlicher Form aufgehoben, in Wien wurde das Standrecht an Robert Blum ausgeübt. Auf derselben Seite einer Zeitung stand die Meldung von Vereinsauflösungen und von der Neugründung demokratischer Klubs. Während in Berlin ein Arbeiterkongreß ungehindert tagte, kam es in München zu blutigen Angriffen des Militärs auf das Volk und wurden in Frankfurt, ja in dem sonst so stillen Darmstadt Barrikaden gebaut. Am raschesten traten politische Umwälzungen in den kleinsten deutschen Staaten ein. Die Fürsten von Waldeck und von Sigmaringen sahen sich genötigt, die Flucht zu ergreifen. In mehreren württembergischen Städten fanden republikanische Versammlungen statt. In Dresden und Leipzig waren Freischarenzüge zur Unterstützung der von Windischgrätz bedrohten österreichischen Hauptstadt geplant worden, während man in Berlin einen Kongreß demokratischer Vereine eröffnete und gleichzeitig General Wrangel seinen Einzug in die preußische Hauptstadt vorbereitete. In mehreren anderen Städten, da und dort, wird der Belagerungszustand erklärt, die preußische Nationalversammlung wird gewaltsam aufgelöst, die Bürgerwehr entwaffnet; einige Wochen später aber wird ein Bürgerwehrkongreß in Breslau eröffnet. Dabei herrscht ein kleiner Bauernkrieg in Schlesien. In der Provinz Posen stehen polnische Sensenmänner gegen preußische Soldaten im Felde und in Mecklenburg wird an der alten Feudalverfassung gerüttelt. Deutschland war aus allen Fugen. Dies und nicht der gut Wille der im Absolutismus erzogenen regierenden Herren erklärt es, daß die gestürzte unbeschränkte Alleinherrschaft des Königtums nicht wieder erstehen konnte. Die verfassunggebenden Versammlungen wurden gewaltsam aufgelöst, doch angesichts der überall auflodernden, zum Widerstand geneigten Volksstimmung sah die Reaktion sich genötigt, über eine gewisse Grenze in ihren Triumphen nicht hinauszugehen. Es wurden die schon bewilligten Volksvertretungen nicht vernichtet, sondern in ihren nicht allzugroßen Befugnissen noch geschmälert; die Preßfreiheit wurde nicht aufgehoben, sondern polizeilich und richterlich nach und nach zu einem Schatten verkümmert. Damit wurde aber auch der oppositionelle Geist geschürt, und der Weg zur Wiederaufnahme der gewaltsam unterbrochenen Bewegung blieb infolge dessen offen. Es bedurfte eines sehr geringen Zeitraumes und aus den verworrensten Bestrebungen erhob sich eine starke, geeinigte Nation, die ihre Geschicke in den eignen Händen hält. Das „tolle Jahr“ mit allen seinen Jugendstreichen, seinen himmelstürmenden Anläufen und seiner idealen Begeisterung hatte alle Kräfte des deutschen Volkes wachgerufen, sie geübt in unablässigen Kämpfen und sie dazu befähigt, die Grundsteine zu einer gesicherten Zukunft fest in einander zu fügen. Heute arbeitet dasselbe Volk am Ausbau seiner stolzen Jugendpläne. Der Streit ist freilich nicht aus den Grenzen des Landes gewichen, auf allen Gassen ertönen noch die Schlachtrufe der Parteien; doch Thoren nur können darüber erschrecken. Parteienkämpfe sind die Zeugnisse von der Gesundheit eines Volkes. Mögen sie nur immer kräftiger sich ausleben und möge man sie in aller Freiheit gewähren lassen, so lange sie die Freiheit anderer nicht bedrohen. Was der Verwirklichung wert ist, wird sich verwirklichen; was ihrer nicht wert ist, wird untergehen. Diese Betrachtung mußte ich der Erzählung der Ereignisse voranschicken, deren Zeuge ich war und an denen ich einen persönlichen Anteil nahm. * * * * * Ich habe nur einer einzigen Sitzung der oben erwähnten, von der sächsischen Regierung einberufenen Kommission zur Vorbereitung eines den Kammern zu unterbreitenden Gewerbegesetzes beigewohnt. Die Versammlung, in die ich eingetreten war, machte auf mich ganz und gar den Eindruck eines parlamentarischen Körpers. Auf einem erhöhten Platz der Vorstand. Der Präsident, ein namhafter Industrieller, dessen Name mir nicht erinnerlich ist, leitete die Beratungen in einer sympathischen Weise. Unter den Abgeordneten gab es eine Rechte, eine Linke und ein Zentrum. Die Vertreter des Handwerks -- und ein solcher hatte sich eben vernehmen lassen -- steckten noch tief in den Zunftideen. Dies veranlaßte mich, das Wort zu ergreifen. Ich merkte, daß man auf den neu hinzugetretenen Mitarbeiter -- die Versammlung tagte schon seit einiger Zeit, ich verdankte mein Mandat einer Nachwahl -- ein wenig gespannt war. Das wirkte anregend auf mich und mein Debüt wurde freundlich aufgenommen. Dabei wäre es wahrscheinlich nicht geblieben, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, öfter in die Debatte einzutreten; ich hätte meinem Naturell nach, ein junges Füllen, den Karren, vor den man mich gespannt, umgeworfen. Dieser einen Sitzung folgte jedoch keine zweite. Während wir als ruhige Volksvertreter über einen trocknen Paragraphen des Gewerbegesetzes debattierten, begann eine ungewohnte Bewegung in den Straßen. Der Lärm wurde stärker und wilder, und drang durch die offenen Fenster in unsern Saal. Bureaudiener traten erschrocken ein und sprachen mit dem Präsidenten. „Der Sturm bricht los, das Volk steht auf,“ murmelte ich vor mich hin. Dieser Ansicht mußte auch der wackre Präsident sein. Denn er hob die Sitzung auf und kündigte uns an, daß er zur nächsten Sitzung persönliche Einladungskarten erlassen werde, da er heute nicht wissen könne, wann diese stattfinden werde. Als ich auf die Straße kam, hatte der +Dresdner Maiaufstand+ begonnen und ich wurde, um mich eines bald darauf in Sachsen entstandenen Ausdrucks zu bedienen, einer der ersten „Maikäfer.“ Ich habe indessen den Blätterfall jenes kampferfüllten Jahres glücklich überlebt und hoffe, noch einige Mal des grünen, des wunderschönen Monats Mai mich zu erfreuen. Auf den Aufstand in Dresden war niemand vorbereitet. Er war nichts anderes als ein Zornesausbruch aufgeregter Gemüter und es bedurfte des Zusammentreffens mancherlei verhängnisvoller Umstände, um ihn möglich zu machen. Deshalb hat dieser Aufstand, der sich in seiner germanischen Gründlichkeit sechs lange Tage hinzog, etwas Typisches für deutsche Verhältnisse und deshalb darf ich mir auch als ein in alle Phasen desselben direkt Eingeweihter auch eine Schilderung dieser Vorgänge erlauben. Die erste Mainummer der von mir redigierten „Verbrüderung“ brachte unter dem Titel „Worauf wartet ihr noch?“ einen mit ~B.~ unterzeichneten Artikel, der wie folgt beginnt: „So lange es sich nur um die Reichsverfassung handelte, erwarteten wir vom deutschen Volke keine Erhebung, denn es giebt nichts Widersinnigeres als durch eine Revolution einen König zwingen zu wollen, daß er eine Krone annehme. Jetzt ist die Frage eine andere: Steht es den Fürsten zu, mit den Vertretern des Volkes zu spielen und sie auseinander zu jagen, wenn es ihnen so beliebt? Das Volk hat das Recht, seinen Abgeordneten in Frankfurt die entschiedene Mißbilligung ihres bisherigen Verhaltens kund zu geben; wir, die Wähler, haben das Recht, sie zurückzuberufen oder sie auseinander zu jagen, wenn sie nicht gehen wollen, aber den Fürsten steht dieses Recht nicht zu. Indem wir die Frankfurter Versammlung unterstützen, unterstützen wir die Volkssouveränetät, und nichts anderes.“ Der Artikel, der uns heute nicht in allen Punkten unanfechtbar erscheint, schließt mit den folgenden Sätzen: „Die hannöversche Kammer ist aufgelöst, die sächsische Kammer ebenfalls, die Fürsten wollen mit ihren vorsündflutlichen Ministern regieren, der Mut ist ihnen gewachsen, je mehr der passive Widerstand des Volkes zur Komödie geworden. Es bleibt der Reaktion nichts mehr übrig als sich nach einem Sibirien für die Volksführer umzusehen, oder sie samt und sonders zu Pulver und Blei zu begnadigen. Angekündigt ist uns die Herrschaft der Knute schon, worauf warten wir noch?“ Aus diesen letzten Sätzen spricht die Stimmung der Zeit. Sie waren voll berechtigt. Man durfte das schwer Errungene nicht ohne Widerstand der wachsenden Reaktion preisgeben, wollte man dieser nicht die historische Berechtigung zur Rückkehr in die Tage des absoluten Königtums und zur härtesten Verfolgung der deutschen Einheitsbestrebungen zusprechen. Zur Kennzeichnung der Situation in Dresden sei hier noch folgendes angeführt: Der König von Sachsen hatte nach Auflösung des Landtags dem Ministerium versprochen, die deutsche Verfassung anzuerkennen. Da erschien ein preußischer Kourier, der König von Sachsen nahm sein Wort zurück und die Minister reichten ihre Entlassung ein. Deputationen bestürmten den König, um ihn zur Anerkennung der Verfassung zu bewegen, allein er wies sie hartnäckig zurück, indem er den oft gehörten Einwand erhob, daß die Reichsverfassung nicht geeignet sei, die Einheit zu begründen, sondern nur Zerstückelung hervorrufen könne. Er erklärte, daß er in dieser Frage ganz im Einverständnis mit dem König von Preußen handle. Das Volk aber, in allen seinen Schichten, mit Ausnahme der ganz geringen Minderheit, die ihre Parole vom Hofe anzunehmen gewohnt war, wollte die Reichsverfassung, und so wuchs die Volksaufregung mit jeder Stunde. [Illustration] [Illustration] XIX. Der Maiaufstand in Dresden. 1. Die Dresdner Bürgerwehr, richtiger „Kommunalgarde“, wollte im Schloßhof eine Demonstration zu gunsten der Reichsverfassung machen, sie wurde durch ihren Oberkommandanten, da er im entscheidenden Moment von seiner Stelle zurücktrat, daran verhindert. Die Bürger schämten sich, ohne etwas gethan zu haben, wieder nach Hause zu gehen, sie hatten durch die Zeitungen eben erst erfahren, wie leicht es den Württembergern geworden, den Widerstand ihres Königs zu brechen, und es war auch eine allgemein verbreitete Ansicht unter den Dresdnern, Friedrich August wolle sich nur ein wenig drängen lassen, um dem König von Preußen gegenüber sich damit entschuldigen zu können, daß er vom Volkswillen zum Nachgeben gezwungen worden sei. Um 1 Uhr mittags sollte der Zug nach dem Schloßhof stattfinden und noch mehrere Stunde nachher stand die Kommunalgarde eines Kommandos gewärtig auf dem alten Markt. Das Volk sammelte sich während dieser Zeit sehr langsam auf den Straßen, erst allmählich sah man größere Trupps erscheinen, die sich aber ziemlich passiv verhielten bis auf einige Äußerungen, die man hie und da vernahm, die aber keineswegs sehr leidenschaftlichen Charakters waren. Es befanden sich noch in keiner Straße soviel Menschen, daß eine Hemmung der hin- und herrollenden Wagen hätte entstehen können. Das Militär war im Schloß, im Zeughause und in allen öffentlichen Gebäuden in der Nähe der Elbbrücke zusammengezogen, es ließ sich noch nirgends blicken; es unterließ es sogar, einzuschreiten, als ein kleiner Haufen junger Leute, die Pferde, die, wie man sagte, den König aus der Stadt bringen sollten, zurückhielt und vor alle Eingänge des Marstalls einige Stangen und Bretter hinlegte, die kaum eine Andeutung von Barrikaden waren. Ich ging mit einem Freunde nach der Elbbrücke. Auf einem Wirtshause in ihrer Nähe flatterte eine schwarzrotgoldene Fahne, etwa zwanzig Menschen sammelten sich um dieselbe und sprachen gegen den Besitzer den Wunsch aus, sie mitzunehmen. Dieser weigerte sich, sie herzugeben, that es aber endlich, als sie ihm bezahlt wurde. Die Kommunalgarde blieb immer noch unthätig, die geringe Anzahl thatkräftigen Volkes aber, das sich zusammen gefunden, war unbewaffnet, und nichts natürlicher, als daß es seine Demonstrationen gegen das Zeughaus begann. Es lärmte in dessen Nähe und machte auch Miene, sich durch Gewalt Waffen zu holen. Da wurden drei Personen niedergeschossen und jetzt erst sah ich leidenschaftliche Gesichter. Es wurde eine Leiche nach dem alten Markt gebracht. Es findet sich in solchen Momenten stets ein leerer Wagen, der dazu den Dienst leisten muß; es finden sich immer Menschen, die den Wagen mit seiner blutigen Last durch die erschreckten Straßen ziehen. Wir hörten Rachegeschrei. Eine Frau im Hause des zurückgetretenen Oberkommandanten, es war die berühmte Opernsängerin Schröder-Devrient, reißt das Fenster auf und schreit in unartikulierten Tönen zu uns hernieder, daß uns graust. Wir können keine Silbe verstehen, ihre heftigen Gebärden aber sagen allen nur zu klar, daß sie zum Kampf aufruft. Alles schreit nach Waffen und eilt hier- und dorthin, um sich in den Kampf zu werfen. Auch die Kommunalgarde und die Turnerkompagnie erhielten plötzlich den Befehl, nach dem Zeughaus zu marschieren. Ich schloß mich ihnen, wenn auch unbewaffnet, mit vielen andere an. „Haltet aus, Brüder!“ so wurde ihnen vom Volke zugerufen, doch wir bemerkten manches bestürzte Gesicht unter den privilegierten Bewaffneten. Sie hatten keine Munition. Ein Teil dieser Mannschaft mochte wohl glauben, man marschiere vor das Zeughaus, um das dort zum Sturm bereitstehende, wütende Volk zu vertreiben; ein anderer, kleinerer Teil, um selbst mit Hand an das Zeughaus zu legen, dessen Hauptthor jetzt durch eine verwegene Schaar mehrfach mit einem Wagen angerannt wurde. Doch kaum gab es den Stößen nach, so öffnete es sich auch von innen und drei Kartätschenschüsse wurden hintereinander auf den dichten Volkshaufen abgefeuert. Die Kommunalgardisten stoben nach allen Seiten auseinander, nur die Turner hielten Stand und erschossen zwei Offiziere und einen Kanonier. Die Leichen der Volksstreiter wurden in das dem Zeughause gegenüberliegende Klinikum getragen. Während der darauffolgenden Nacht erstanden in allen Hauptstraßen die Barrikaden, die während sechs Tagen und Nächten mit hartnäckiger Ausdauer gehalten wurden. Die blutigen Vorgänge am Zeughause wiesen immer ernster auf die Notwendigkeit eines Oberkommandos hin. Der Oberstleutnant Heinze, ehemals in griechischen Diensten, wurde zum Oberkommandanten ernannt, kurz nachdem man den Fehler begangen, Kommunalgarden und Turner nach Hause zu schicken, um sie, wie man sagte, „zur nötigen Zeit“ wieder zusammenrufen zu lassen. Es war vorherzusehen, daß es allen Tambours der Welt nicht mehr gelingen werde, die Kommunalgarde auf die Straße zu rufen. Am andern Tage begnügte man sich damit, mehr Barrikaden zu bauen. Ich erwartete von dem neuen Oberkommandanten, daß er wenigstens die wichtigsten Punkte werde besetzen lassen. Herr Heinze aber begnügte sich damit, mit einem der am wildesten sich gebärdenden Schreier, dessen ganzes Verdienst darin bestand, daß er den Helm eines gefangenen Reiters auf dem Kopfe trug und einen höchst lächerlichen Anblick darbot, in den Straßen umherzuziehen und Anordnungen anzubefehlen, die dem insurgierten Volke sein eigener Instinkt schon eingegeben. Auf dem Rathause wurden Schußwaffen und Sensen ausgeteilt. Wer ein Gewehr empfangen, konnte ohne weiteres damit fortgehen, wohin es ihm beliebte. Man dachte nicht daran, Kompagnien mit Führern zu formieren, alles lief bunt durcheinander. Die daheim schon geordneten Zuzüge, die am 4. und 5. Mai, aus allen Orten des Landes kommend, in Dresden sich einstellten, brachten bald ein anderes Leben in die insurgierte Stadt. Zu gleicher Zeit mit der Ernennung des Oberstleutnants Heinze zum Oberkommandanten der Kommunalgarde wurde auch von den in Dresden anwesenden Abgeordneten beider Kammern die provisorische Regierung gewählt. Nachdem die Abgeordneten Tzschirner, Heubner und Todt ihre Stellung eingenommen, ließen sie sogleich die anwesenden Kommunalgardisten und Freischaaren den Eid auf die Reichsverfassung leisten und zur Verteidigung der Barrikaden kommandieren. Da kam mit einem Male die überraschende Meldung, das Zeughaus wolle sich übergeben. Ich war ganz in der Nähe, der Eingang zum Zeughaus war in der That schon von Kommunalgardisten besetzt und meinem anständigen Rock hatte ich es zu verdanken, daß man mir nicht wie andern Nichtuniformierten den Einlaß verweigerte. Ich erinnere mich, daß jemand hinter mir die Worte äußerte: „Was ist denn der mehr als ich, ich will auch hinein!“ Der Mann hatte recht. Es war der gröbste Fehler, den man begehen konnte, daß man nicht die Massen in das Zeughaus eindringen ließ, Kommunalgardisten waren ja in viel zu geringer Zahl erschienen. Im Hofe des Zeughauses war der Jubel allgemein, die Soldaten umarmten uns, wir tranken uns zu mit Hochs auf die Reichsverfassung, auf die Verbindung von Volk und Heer; ich war der sicheren Überzeugung, daß die Menschen, die sich hier so herzlich die Hände reichten, nie wieder gegeneinander die Waffen ergreifen könnten. Da trat ein Offizier an mich heran, dem ich deutlich ansah, daß ihm bei der allgemeinen Freude nicht recht wohl zu Mute war. Er sagte etwas verlegen: „Mein Herr, daß hier nur kein Mißverständnis entsteht. Wir wollen das Zeughaus nicht an das Gesindel übergeben, denn es ist unsere Pflicht, das Staatseigentum vor Plünderung zu bewahren. Die Besatzung soll teils aus Militär, teils aus Kommunalgardisten bestehen.“ Etwa hundert bewaffnete Bürger, darunter zehn in Uniform, waren im Hofe des Zeughauses, und trotz des Generalmarsches, der auf Befehl des Oberkommandanten Heinze durch alle Straßen wirbelte, waren nicht mehr Kommunalgardisten aufzubringen, mit denen man das Zeughaus hätte besetzen können. Was Wunder, daß die Offiziere am andern Morgen die Konvention wieder aufhoben, die wenigen Männer aus dem Volke, die während der Nacht im Zeughause geblieben waren, fortschickten und die Eingänge schlossen? Wir hatten also keine Kanonen daraus entnehmen können, wie es auf unserer Seite die Absicht gewesen war. [Illustration] [Illustration] XX. Der Maiaufstand in Dresden. 2. Am Morgen des 5. Mai waren die Barrikaden größtenteils besetzt. Ich ging nach der Schloßgasse, weil ich annehmen durfte, daß hier der Hauptangriff von Seiten des Militärs geschehen werde. Die dem Schloß zunächst gelegene Barrikade war noch sehr schwach und konnte kaum einige Kanonenschüsse aushalten. Die Besatzung nahm meine Ratschläge bereitwillig an und befestigte sie derart, daß sie bald eine der stärksten in der Stadt wurde. Ein Gardist hatte hier das Kommando, er übergab es mit Zustimmung der Mannschaft an mich und ließ sich nicht wieder sehen. Ich gab sogleich Befehl, die Wände der Häuser, die von meiner Barrikade aus sowohl vorwärts nach dem Schlosse zu als rückwärts nach dem Rathause zu liefen, zu durchbrechen, weil ich vorauszusetzen Grund hatte, daß das Militär Cavaignacs Methode vom Juni 1848 befolgen werde. Es war also unsere Aufgabe, dem Militär in der Besetzung der Häuser und dem Vorwärtsdringen durch die durchbrochenen Wände zuvorzukommen. Dieser Maßregel ist es zuzuschreiben, daß die Schloßgasse, der Dardanellenpaß zwischen den Centren der kämpfenden Parteien, wie sie ein Zeitungskorrespondent richtig benannt, unbezwinglich war und daß wir hier bis zum Moment des Rückzugs unsere Positionen behaupteten. Der Oberkommandant, dem ich von meiner Maßregel Kenntnis gab und der sie ganz und gar billigte, that aber nichts, daß dasselbe auch in allen übrigen Straßen geschah, und dieser Fahrlässigkeit ist es zuzuschreiben, daß das Militär plötzlich in Häusern erschien, in denen man es gar nicht vermutete und Straßen, die sich am wirksamsten verteidigt hatten, abzuschneiden drohte. Nachdem ich meine Mannschaft postiert hatte, trat ein Abgeordneter der sächsischen Kammer zu mir mit der Bemerkung heran, ob wir etwa gesonnen seien, den berühmten passiven Widerstand hier zu wiederholen. Ich schickte ihn sogleich mit der Frage auf das Rathaus, ob auf die mit Soldaten besetzten Fenster des Schlosses Feuer gegeben werden solle? Er brachte mir die schriftliche Antwort, daß man dies meinem Ermessen überlasse, behielt aber diesen Zettel als ein ihm teures historisches Dokument, das er später noch auf der Flucht aus Sachsen besaß, bei sich. Ich ließ sogleich ein Pelotonfeuer auf die Schloßfenster geben und hiermit war der eigentliche Kampf eröffnet. Die Erwiderung vom Schlosse aus ließ keine Minute auf sich warten. Auf allen Straßen der Stadt brach jetzt zugleich das Gewehrfeuer los. Das Militär ließ sich nirgends auf offener Straße blicken, es entwickelte sich ein Kampf von Haus zu Haus. Beide Parteien waren gut gedeckt und diesem Umstande ist es zuzuschreiben, daß trotz des unausgesetzten Feuerns auf beiden Seiten die Zahl der Gefallenen eine mäßige blieb. Die Häuser, welche wir besetzt hatten und besonders die Barrikaden wurden bald mit Kartätschkugeln überschüttet, auch Vollkugeln wurden gegen Erker und Balkone abgefeuert, doch meist ohne große Wirkung, da unsere Mannschaft während des Artillerieangriffs, bei dem die Infanterie nicht vorrücken konnte, sich rechts und links in die Hausfluren in geschützte Stellung begab. Unsere Jungmannschaft verteidigte mit einer Hartnäckigkeit ihre Position, wie dies gewiß selten bei solchen Straßenkämpfen vorgekommen; außerordentliche Anstrengung aber, Übermüdung, nicht Mutlosigkeit, lichtete unsere Reihen von Tag zu Tage. Die Zuzüge, die fortwährend eintrafen, reichten kaum hin, um die Lücken wieder auszufüllen, die durch die Erschöpfung unserer Kämpfer entstanden. Unsere Zahl, die höchstens 3000 Mann betrug, verringerte sich also fortwährend, während die des Militärs, das beim Ausbruch des Kampfes durch preußische Garden unter Oberst v. Waldersee Unterstützung erhielt, fortwährend anwuchs. Unsere Bewaffnung stand hinter derjenigen der Soldaten weit zurück, die zwei Vierpfünder, welche die Freiberger Bergleute mitgebracht hatten, dienten mehr zum Lärmmachen als zu einem namhaften Erfolge gegenüber der sächsischen Artillerie. Am 6. Mai gelang es dem Militär, den Neumarkt, die Moritzstraße und die innere Pirnaische Straße durch unausgesetzte Angriffe zu gewinnen. Auch von der entgegengesetzten Seite der Stadt, der Ostra-Allee und dem Postplatz kam uns das Militär unaufhaltsam näher und es sind die Verluste, welche wir an diesen Stellen erlitten, teilweise auf Rechnung des Oberkommandanten Heinze zu setzen. Er hatte sehr wichtige Eckhäuser entweder gar nicht oder viel zu schwach besetzen lassen, wie er denn keinen Plan verfolgte, sondern alles den Eingebungen der verschiedenen Barrikaden- oder Viertelskommandanten überließ. Plötzlich drang das Gerücht zu uns, Heinze sei gefangen worden. Er war in seiner bayrischen Uniform am Morgen des 7. Mai ausgegangen, um, wie er sagte, die Stellung des Feindes zu rekognoszieren; er hatte zwei Wehrmänner mit sich genommen, denen er befahl, fünfzig Schritte hinter ihm zu bleiben, und war mit einem Male verschwunden. Man behauptet, vielleicht nicht ohne Grund, er habe sich fangen lassen. Wir wußten in der Schloßgasse, die bisher allen Angriffen widerstanden hatte, von den Verlusten in anderen Teilen der Stadt zwei Tage lang nichts. Einer jetzt von der unserer Schloßgasse parallel laufenden Schössergasse drohenden Gefahr konnte noch begegnet werden, indem wir selbst nach der Schustergasse zu durchbrachen und so den vordringenden Soldaten in den Rücken kamen, die sich nun, um nicht abgeschnitten zu werden, wieder zurückzogen. Am 8. Mai früh am Morgen wurden sämtliche Viertelkommandanten auf das Rathaus berufen und dort wurde uns die Frage vorgelegt, ob wir glaubten, die Stadt noch länger halten zu können oder ob wir den Kampf aufgeben und den Rückzug anordnen wollten. Ich sah das Gefahrvolle unserer Lage ein, der Sieg wäre nur durch eine kaum noch zu erwartende Vermehrung unserer Streitkräfte zu erringen gewesen, dagegen behauptete ich, daß wir uns mindestens noch 24 Stunden halten könnten und es nicht gestattet sei, eine Position aufzugeben, bevor sie völlig unhaltbar geworden, daß wir das Militär noch eine Zeit lang an verschiedenen Punkten mit Erfolg beschäftigen und so die Entscheidung hinausschieben könnten. Die Möglichkeit des Eintreffens eines stärkeren Zuzugs, so wenig wahrscheinlich eine solche Hülfe jetzt auch sei, nötige uns, bis zum äußersten Moment auszuharren. Ein Hauptangriff war von der Wilsdruffer Seite, dem Postplatze aus, zu gewärtigen. In der Post selbst war ein Corps Techniker, das dieselbe als neutralen Boden bewachen wollte. Herr Heinze hatte diese Bedingung zugelassen, doch gerade die Post hätte von uns sehr stark besetzt sein müssen, weil sie der Schlüsselpunkt der Wilsdruffer Barrikade war. Nun geschah es aber, daß die neutralen Techniker, so wie ihre Stellung gefährlich wurde, diese verließen und daß das Militär den von ihnen aufgegebenen Posten einnahm. Nächst der Post waren es die Soldaten in der Spiegelfabrik, die die Wilsdruffer Barrikade und diejenige am Eingang der Scheffelgasse heftig beschossen, so daß die Kugeln bis auf den alten Markt flogen. Ich schlug deshalb vor, die Spiegelfabrik in der nächsten Nacht in die Luft zu sprengen, dabei einen Ausfall auf die Post und die Geschütze in der Ostraallee zu machen, zugleich die Soldaten, welche rechts und links von der Schloßgasse wieder eingedrungen waren, durch Durchbrechen der Mauern in der kleinen Brüdergasse, ebenso wie es von der Sporgasse aus geschehen war, von ihrem Centrum, dem Schloß, abzuschneiden. Man übertrug mir das Oberkommando. Während des Tages machten wir auf allen Seiten Fortschritte, so daß ich sogar einen Ausfall nach dem Freiberger Schlage machen konnte und dort die Kavallerie, welche unsere Rückzugslinie besetzt hielt, vertrieb. Die Entscheidung hatte ich von der Sprengung der Spiegelfabrik erwartet und ein Zufall mußte diesen Plan vernichten. Die Bergleute, welche die Grube anlegten, konnten ihre Arbeit schon wegen der Gefahr des Verrats, nicht am hellen Tage ausführen; sie ließen deshalb ihre Werkzeuge in dem Loche liegen, um in der Dunkelheit ihre Arbeit zu vollenden. Um zehn Uhr abends kamen sie mit der Meldung zu mir, daß ihnen ihr Handwerkszeug fortgenommen sei und daß sie deshalb heute nicht mehr weiter arbeiten könnten. Es waren in der That zu so später Stunde keine Werkzeuge mehr aufzutreiben und die Sprengung konnte deshalb in dieser Nacht nicht ausgeführt werden. Ich darf nicht vergessen, an dieser Stelle eine Persönlichkeit zu erwähnen, die ich im Rathause antraf, als mir auf den Antrag der zu einer notwendigen Besprechung einberufenen Viertelskommandanten nach dem Verschwinden des Oberstlieutenants Heinze das Oberkommando übertragen wurde: es war Michael Bakunin, der überall dabei sein mußte, und hier, wie wahrscheinlich an allen anderen Orten, wo nicht das Wort, sondern die That entschied, sehr überflüssig war. In einigen Lebensskizzen, die ihm gewidmet sind, wird Bakunins vermeintlicher Mitwirkung am Aufstande zu Dresden Erwähnung gethan. Er war in früher Jugend Lieutenant in der russischen Artillerie gewesen. Wahrscheinlich deshalb schrieb man ihm eine wichtige Rolle in Dresden zu. Ich habe nur so viel bemerkt, daß er den Mitgliedern der provisorischen Regierung, die im Rathause amtierten, sehr unbequem war, indem er in alles dreinredete und alles von ganz falschen Gesichtspunkten aus betrachtete. Man denke nur einen Augenblick an den ungeheuren Unterschied der Geistesbildung und Weltanschauung deutscher Juristen wie Heubner und Todt und dieses, wenn auch kosmopolitisch angehauchten, immerhin nur stockrussischen ambulanten Revolutionärs. Die genannten Mitglieder der provisorischen Regierung waren liberale deutsche Bürger, die ihr gefährliches Amt gewiß nicht ohne inneren Kampf angenommen hatten und sich ihrer Verantwortlichkeit voll bewußt waren; aber Bakunin! Er träumte von der Errichtung einer großen panslavistischen Republik, die von der sächsischen Grenze, denn Böhmen gehörte ja dazu, bis über den Ural hinaus sich ausdehnte, ihre Macht über den ganzen Osten Asiens erstreckte, überall das russische Gemeineigentum der Bauern an Grund und Boden einführte und damit die Welt erlöste, wenn sie auch gar nicht darauf versessen war, ihre Zivilisation auf den Kulturgrad des russischen Landvolks zurückzuschrauben. Dieser Russe, der absolut kein Auge, keinen Sinn für die wirklichen Verhältnisse hatte, unter denen er in Deutschland lebte, hat natürlich in Dresden auch nicht den geringsten Einfluß auf den Gang der Dinge gehabt. Er aß und trank und schlief im Rathaus, und das war alles. Er hatte auch wirklich Glück in Dingen der Selbsterhaltung. Als die Nacht angebrochen war, meldete man mir, daß ein Zuckerbäcker dem Oberkommando einen Kuchen und zwei Flaschen Rotwein gesandt habe. „Ein cherrlicher Mensch!“ rief er aus. „Dem wird der Chimmel seine Sorge für die Chungrigen lohnen.“ Er aß und trank, legte sich dann auf eine bereit gehaltene Matratze hin und schnarchte, während ich mit Heubner über die Sorge des kommenden Tages mich besprach und wir beide in der Erwartung der nahenden Dinge kein Auge schlossen. Vor Morgenanbruch wurde die Wilsdruffer Barrikade von den preußischen Soldaten angegriffen. Was ich nur an Mannschaft aufbringen konnte, schickte ich zur Verstärkung an jenen Punkt. Wir mußten der Überzahl weichen, die Barrikade und das derselben zunächst liegende Eckhaus, die Engel’sche Wirtschaft, war nicht mehr zu halten. Ein Mädchen, das an dieser Stelle trotz zweier Verletzungen bis zum äußersten Moment neben ihren Kameraden ausgehalten, kam mit der Meldung, daß die Position verloren sei. Sie hatte Lust, wieder in den Kampf zurückzukehren. Ich überredete sie, jetzt auf dem Rathause zu bleiben, ich sah sie in Freiberg zum letztenmale. Wir hätten uns trotz dieses Verlustes wohl noch einen Tag halten können, die Stadt aber wäre während dieser Zeit vom Militär so zerniert worden, daß ein geordneter Rückzug zur Unmöglichkeit geworden wäre. Ich hielt es für vernünftiger, einige Tausend der bravsten jungen Leute für eine bessere Zukunft zu erhalten, und gab deshalb den Befehl zur Rückkehr nach Freiberg. Ich ließ ihn derart ausführen, daß in jeder Straße mehrere Schützen an den Fenstern zurückblieben und den vorsichtig heranrückenden Gegner beschäftigten, so daß um 5 Uhr des Morgens vom 9. Mai gegen 2000 bewaffnete Barrikadenkämpfer auf der Straße nach Freiberg zu marschierten. Nachdem ich den Rückzugsbefehl erteilt hatte, ging ich hinab in das Erdgeschoß des Rathauses, wo in allen Räumen und im Flur die todmüden Kämpfer, die bei mangelhafter Ernährung nach mehrtägigem ununterbrochenen Dienst sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten, und sich dorthin zurückgezogen hatten, in schwerem Schlafe dalagen. Ich ließ in dem geschlossenen Raume die Trommel schlagen, sie tönte, als gälte es Tote aus dem Grabe zu erwecken -- umsonst! Einige Rathausbeamte halfen mit, den einen und andern emporzuzerren. Wir schüttelten sie, ich schrie ihnen ins Ohr, sie dürften jetzt nicht schlafen, sie müßten zum Aufbruch bereit sein. Als ich die Hand von ihnen entfernte, fielen sie wie die Klötze wieder um und schliefen weiter. Sie waren nicht zu retten, sie gerieten fast alle in Gefangenschaft. [Illustration] [Illustration] XXI. Zug nach Freiberg. Richard Wagner. In Freiberg langte ich mit etwa 2000 Mann aus der eingenommenen Stadt an. Heubner, das einzige Mitglied der provisorischen Regierung, das bis zum Moment der Ausgabe des Rückzugsbefehls im Rathaus ausgehalten, war in Freiberg, wo er zu Hause war, einige Stunden vor uns angelangt. Ich suchte ihn in seiner Wohnung auf. Als mir die Thür zu seinem Zimmer geöffnet wurde, in welchem sich mehrere mir unbekannte Personen befanden, nannte er mich. Da stürzte ein begeisterter Mann mit offenen Armen auf mich zu, küßte mich und brach in die glühenden Worte aus: „Nichts ist verloren! Die Jugend, ja die Jugend, die Jugend wird alles wieder gut machen, alles retten!“ Es war +Richard Wagner+, der meine Ankunft in dieser Weise begrüßte, und er umarmte mich noch einmal. Ich hatte ihn nie vorher gesehen, ich war später häufig bei ihm in Zürich, ich sehe ihn immer noch vor mir in jenem Augenblick der ersten Begegnung. Wodurch eigentlich der königlich-sächsische Hofkapellmeister sich so kompromittiert hat, daß er die Flucht ergreifen mußte, weiß ich heute noch nicht. Ich habe ihn nie darnach gefragt. Der sächsische Hof hatte besonderes Mißgeschick mit seinen berühmten Künstlern. Er verlor Gottfried Semper durch den Mai-Aufstand. Von Frau Schröder-Devrient habe ich schon gesprochen. Den Musikdirektor Röckel sah ich, von einer Kugel ins Bein getroffen, zusammenknicken. Er geriet als Verwundeter in Gefangenschaft und man schickte ihn mit Heubner ins Zuchthaus. Ich sprach meine Absicht aus, in Freiberg, das mir zur Verteidigung sehr geeignet schien, einen Versuch weiteren Widerstandes zu wagen. Heubner bat mich, diesen Gedanken aufzugeben, von seiner Vaterstadt ein solches Unglück abzuwenden; er selbst sei im Begriff, mit Wagner und anderen weiter zu ziehen, zunächst nach Chemnitz, dann ins Exil. Es sei für mich nun auch Zeit, an meine Sicherheit zu denken. Wir drückten uns die Hand. Ich begab mich auf den Platz hinaus zu meiner bewaffneten Freischaar. Da ist auch Bakunin. Er zieht mich beiseite und redet auf mich ein, die jungen Leute über die Grenze nach dem nahen Böhmen zu führen. „Sie sind wohl toll?“ rief ich erzürnt ihm zu. „Nach Böhmen sollen wir, zu Ihren Freunden, den Tschechen, die schon längst in den Dienst der Reaktion getreten sind!“ „Man würde Euch mit offnen Armen aufnehmen,“ erwiderte er. -- „Man würde über uns herfallen und uns an die österreichische Regierung ausliefern,“ erwiderte ich ihm, und darauf trennten wir uns. Ich riet den aus Dresden abgezogenen Maikämpfern, sich in kleinen Trupps in ihre Heimat zu begeben. Ihnen würde man wenig anhaben, sagte ich, es gäbe sonst eine zu große Masse der Opfer. Nur auf die Führer werde man fahnden. Sie zogen traurig ab. Das Gefühl der erfahrenen Niederlage drückte auf ihre Gemüter. Da erschien plötzlich ein Wagen. Heubner und Wagner saßen darin; zu seinem Unglück auch Bakunin, der überall sich unterzubringen wußte. Man hielt einen Augenblick in meiner Nähe, drückte mir die Hand, und ich, von einer bösen Ahnung plötzlich erfaßt, rufe ihnen zu: „Geht nur um des Himmels willen in Chemnitz nicht in einen Gasthof.“ Heubner und Bakunin gingen aber doch in einen Gasthof und wurden in der Nacht von mutig gewordenen reaktionären Wehrmännern verhaftet, nach Altenburg gebracht und an die dort garnisonierenden Preußen ausgeliefert. Wagner nahm bei seiner Schwester Quartier und dies bewahrte ihn vor dem gleichen Schicksal. Ich war allein in Freiberg zurückgeblieben. Die Sonne senkte sich zum Niedergang. Ein Postillon, der nach Dresden gefahren und mir versprochen hatte, in meine Wohnung zu gehen, und mir von dort so manches, dessen ich bedurfte, zu bringen, war noch nicht wieder erschienen. Als ich den letzten Kameraden verschwinden sah, wurde mir doch etwas unheimlich zu Mute. In einen Gasthof durfte ich nicht gehen. Dort wäre ich von den Verfolgern zuerst gesucht worden. Ich war einen Augenblick ratlos. Da trat ein junger Mann zu mir heran, er nannte sich, er war Student der Bergakademie, er bot mir freundlich ein Unterkommen in seinem Zimmer an; er habe, sagte er, daran gedacht, mich zu sich zu bitten, als er mich so allein auf dem Platze stehen sah, während die anderen abzogen, meine Verabredung mit dem Postillon habe er mit angehört, der werde zu ihm kommen, ich müsse jetzt seine Gastfreundschaft annehmen, da ich gewiß sehr müde sei. Jetzt merkte ich in der That, daß ich sehr müde war, ich hatte seit dem 3. Mai nur eine einzige Nacht geschlafen, und wir waren am Abend des 9ten. Jetzt fiel mir auch ein, daß ich seit dem Abend vorher, seit dem Kuchengeschenk des menschenfreundlichen Konditors fast nichts zu mir genommen hatte. Ich ging mit dem jungen Mann, dessen Name mir leider entfallen ist. Der Gute hatte für ein Abendessen gesorgt, und als ich mich erquickt hatte, legte ich mich aufs Sofa nieder, wo ich sofort in festen Schlaf versank. Ich hatte sein Bett nicht annehmen wollen, und der vortreffliche junge Mann hatte es dann auch selber nicht benützt. Er wachte über mein Wohl und Wehe. Als der Morgen graute, weckte er mich. „Sie müssen fort,“ rief er arg erschrocken, „die sächsischen Gardereiter sind eben in die Stadt eingezogen.“ „Ist es schon so weit? Gut, so muß ich fort.“ Unter der Kaffeemaschine flackerte die blaue Flamme. Als ich mich angekleidet und gewaschen hatte, war der Kaffee fertig, etwas Brot lag auch bereit. Wir frühstückten rasch. „Es ist toll,“ sagte ich, „wogegen ich mich gestern gesträubt, einen Trupp Freiwilliger nach Böhmen zu führen, das muß ich jetzt für meine eigene Person thun. Das ist der einzige Weg, der mir wahrscheinlich noch nicht abgeschnitten ist. Ich nehme die Richtung nach Annaberg.“ Mein lieber Wirt wollte mich ans Thor begleiten, von dem aus die Straße nach Annaberg führt. Auf dem Wege dahin keine Menschenseele. Es war kurz nach Sonnenaufgang. Als wir das Thor in Sicht bekamen, wurden wir gewahr, daß es von zwei Reitern gesperrt war. Es mochten wohl Rekruten sein. Sie schienen die Pferde, die sich unruhig hin und her bewegten, nicht in der Gewalt zu haben. „Leben Sie wohl und tausend Dank,“ raunte ich meinem Begleiter zu. Im nächsten Moment war ich zwischen den zappelnden Pferden durchgeschlüpft. Ob die Reiter mich bemerkt haben, weiß ich nicht. Sie zerrten an ihren Gäulen, sie machten keine Anstalt, mich zu verfolgen. So war ich bald auf der offnen Landstraße und schritt tapfer zu. Ich war nie ein starker Fußgänger gewesen. Nach einer halben Stunde eifrigen Marschierens begann die Kraft zu erlahmen, was aus der ungeheuren Anstrengung der letzten Tage sich leicht erklärt. Ich setzte mich auf einen Steinhaufen, um mich auszuruhen. Ein Wagen rollte heran. Seine Insassen, ein junges Brautpaar, das merkte man ihnen an, hielten bei mir und fragten mich freundlich, ob ich mitfahren wolle. Ich nahm dankend an. Sie fuhren nicht ganz bis Annaberg, aber doch eine Strecke weit, um beim Herrn Pfarrer das Aufgebot zu bestellen „Immer so viel gewonnen,“ sagte ich mir. Ob sie in mir einen Flüchtling aus Dresden vermuteten? Möglich. Der Aufstand, wenn auch das ganze Land sich an ihm nicht beteiligte, hatte doch die Sympathien des ganzen Landes. Voller Dank im Herzen für die wackern Leute zog ich weiter. Und siehe da, als ich wieder eine halbe Stunde gegangen war, stieß ich auf einen Zug unserer Dresdner Freischaaren, der aus einem abseits von der Hauptstraße gelegenen Dorfe, wo die Leute die Nacht zugebracht und sich gründlich ausgeruht hatten, seine Heimfahrt nach Annaberg begann. Ich wurde sofort erkannt. „Sie dürfen nicht zu Fuß gehen, und wenn wir Sie tragen sollten,“ riefen die jungen Leute mir zu. -- „Das ist durchaus nicht nötig,“ erwiderte ich ihnen. „Doch wenn Ihr noch einen Befehl, den letzten, von mir ausführen wollt, so begeben sich zehn Mann wieder zurück in das Dorf und requirieren auf meine Anordnung eine Anzahl gut bespannter Leiterwagen. Ihr seid ja bewaffnet.“ Sie verstanden. Nach einer Viertelstunde waren so viel Wagen vorhanden, daß wir alle fahren konnten. Es hatte keines Zwanges bedurft. Die Bauern betrachteten es als eine Ehrenpflicht, uns nützlich zu sein. Die Wagen setzten sich in Bewegung. Als wir in die Nähe von Annaberg gelangt waren, stiegen wir ab. Da war ich Zeuge einer ergreifenden Szene, die ich nie vergessen werde. Die ganze Einwohnerschaft der Stadt kam ihren Söhnen entgegen. Sie hatten es drinnen erfahren, daß die braven Jungen aus Dresden nahten. Die Eltern, die Schwestern, die jungen Kinder, die Greise drängten sich um die Wiedergekehrten. „Ist Fritz, ist Hans auch da?“ Man umarmte sich. In die Freude des Wiedersehens mischte sich die Trauer, daß nichts ausgerichtet worden. „Wir haben uns doch tapfer gehalten!“ -- vernahm ich, wie zum Troste für sich selber und die andern, manche Stimme aus dem wirren Menschenknäuel -- „wir wollen es ihnen ein andermal schon zeigen!“ Ich drückte mich beiseite, ich war innerlich erschüttert. Da trat ein bejahrter Mann, den man an mich gewiesen, zu mir: „Ich heiße Kindermann“, sagte er, „ich weiß, Sie waren mit meinem Sohne Karl in Leipzig sehr befreundet. Er hat uns oft von ihnen geschrieben. Er ist nach Dresden gegangen. Haben Sie ihn gesehen? Wissen Sie etwas von ihm?“ -- „Seien Sie ohne Sorge,“ beruhigte ich den erregten Vater, „ich habe ihn kurz vor unserem Abzug gesehen, er war frisch und munter. Ich bin fest überzeugt, daß er nicht in Dresden geblieben ist. Er wird zunächst nach Leipzig zurückgekehrt und dann, wenn er nicht dort geblieben ist, etwas weiter nach Deutschland hinein gegangen sein. Auf einzelne junge Leute, auf Studenten, fahndet man sicher nicht.“ Der Mann verließ mich nun nicht mehr, er beruhigte sich in meiner Gesellschaft und ich mußte ihm zu guten Freunden nach Annaberg folgen. Am Abend wollte er dann mit mir in sein Heim an der böhmischen Grenze ziehen. Da sollte ich die Nacht bleiben und dann werde man weiter helfen. Wie man sieht, kamen mir in meiner gefährlichen Lage überall gute Menschen entgegen. Mit der sinkenden Sonne holte Herr Kindermann mich ab. Unser Weg führte durch einen schönen, in Lenzeswonne frisch grünenden Wald im Erzgebirge. Ich hatte mich in Annaberg während mehrerer Stunden ausgeruht, die Kräfte waren wiedergekehrt. Es war kein Marsch, es war ein erquickender Spaziergang, den wir machten. Keine Vogelstimme regte sich mehr in dem Gehölz, es war dunkel geworden, wir gingen plaudernd weiter. Ich hatte viel zu erzählen und der Mann hatte viel zu fragen. Jetzt hatten wir eine Höhe erreicht. Er blieb stehen. „Sehen Sie dort mein Haus,“ sagte aufatmend mein Begleiter. „Die Frau hat die Lichter schon angezündet. Sie wird ängstlich auf meine Rückkehr warten.“ Wir schritten jetzt stumm nebeneinander her auf dem mäßig abwärts sich ziehenden Wege. Als wir dem Hause nahe waren, horchte Herr Kindermann. „Warten Sie hier einen Augenblick,“ sagte er leise, „es sind wie gewöhnlich um diese Stunde Grenzjäger bei mir. Sie trinken ihr Gläschen und spielen Karten dazu. Ich muß meine Frau von dem Besuch unterrichten, Sie müssen hier als ein Verwandter gelten, dann kümmern die Leute sich nicht um Sie.“ Er verließ mich und war nur wenige Sekunden fort. „Kommen Sie nur herein, man hat uns schon lange erwartet,“ rief er mir an der geöffneten Thür zu. Ich trat in ein sehr geräumiges Wirtszimmer, aus dessen fernster Ecke mir eine freundliche Frau freudig aufgeregt entgegeneilte. „Seien Sie herzlich willkommen, lieber Vetter!“ sagte sie und drückte mir die Hand. Rechts von der Thür, an dem einen Tisch nahe beim Fenster wurde es plötzlich still. Die Karten spielenden Grenzjäger schauten mich neugierig an, aber nur einen Augenblick, dann schallte es „Schellenbub und Kreuz und nochmals Kreuz und Trumpf Aß.“ Ich saß in der entfernten Ecke neben der prächtigen Frau, die sich so plötzlich in ihre Rolle gefunden und mich als lieben Vetter begrüßt hatte, ohne mich jemals in ihrem Leben gesehen zu haben. O, die Not lehrt nicht nur beten, sie lehrt vielerlei. Ich erzählte meiner so schnell erworbenen Freundin und Beschützerin von ihrem geliebten Sohn. Sie war stolz auf ihn und sie hatte Grund dazu, ich habe selten einen gleichwertigen, geistig und körperlich so urgesunden und herrlichen Jüngling gesehen wie diesen Karl Kindermann. Mögen ihm diese Zeilen als ein warmer Freundesgruß gelten, wenn sie ihm zu Gesicht kommen sollten. Wie ich später erfahren habe, ist er mit seinen Eltern nach Amerika ausgewandert. Von ihm war natürlich an jenem Abend fast ausschließlich die Rede. Die Mutter hatte ein Nachtessen besorgt. Wir plauderten noch ein Stündchen, dann mußte ich mich in mein Zimmer begeben, denn am frühen Morgen sollte mein vortrefflicher Wirt mich über die Grenze ins Böhmerland führen. [Illustration] [Illustration] XXII. Die Flucht nach Böhmen. Wir gingen am nächsten Morgen in aller Frühe nach dem böhmischen Fabrikstädtchen Weipert. Herr Kindermann führte mich zu zwei alten Junggesellen, den Brüdern Müller, die sich für politische Dinge ungemein interessierten, sehr liberal dachten und mir ohne weiteres ihre Gastfreundschaft bis zu dem Tage anboten, wo es mir möglich und auch geraten sein würde, weiter zu ziehen. Ich nahm mit Freuden an. Zunächst schrieb ich an meinen allezeit hilfsbereiten Oheim, um ihm meine letzten Schicksale zu erzählen und ihn um die nötigen Subsidien zur Weiterreise zu bitten. Nach einigen Tagen war das Gewünschte eingetroffen und ich konnte nun daran denken, mein sicheres Asyl zu verlassen. Sämtliche Fabrikanten des Städtchens Weipert waren deutsch und liberal gesinnt, in ihrer Lesegesellschaft sah ich sogar in Deutschland verbotene Lektüre offen aufgelegt. Ich durfte trotz alledem nicht vergessen, daß ich mich in Österreich befand, und um von dort weiterzukommen, bedurfte ich eines Passes. Zu einem solchen verhalf mir wieder der brave Herr Kindermann. Er war mit dem Bürgermeister des nahen sächsischen Ortes Jöhstadt befreundet und er hoffte ihn zur Ausstellung eines Passes für mich bewegen zu können. Diese Hoffnung war nicht unbegründet. Denn die städtischen Beamten des damaligen Königreichs Sachsen hatten sich fast ausnahmslos an der damaligen Bewegung zu Gunsten der Reichsverfassung beteiligt. Unter den steckbrieflich Verfolgten befanden sich nicht weniger als 20 Bürgermeister und Stadtverordnete, die Zahl der Verhafteten derselben Kategorie war fast gleich hoch. Der Herr Bürgermeister von Jöhstadt -- jetzt, nach Ablauf eines halben Jahrhunderts begehe ich damit keine Indiskretion, die von mir näher bezeichneten Personen waren ja alle beträchtlich älter als ich -- der Herr Bürgermeister also gestattete seinem Schreiber, einem Verwandten von ihm, mir mit genauer Schilderung meiner Physiognomie einen Paß auf den Namen Karl Fernau auszustellen, verlangte aber auch, auf seine Pflicht gegenüber Weib und Kind hinweisend, daß jener den Paß unterzeichne, was der auch leichten Herzens ausführte. So brachte ich einen Paß nach Weipert zurück, auf Grund dessen mir die Herren Müller einen Postschein nach Karlsbad besorgten, auf welchem ich nach österreichischer Sitte sogleich in den Adelstand erhoben wurde, denn er war für Herrn von Fernau gültig. In Karlsbad hatte ich keinerlei Schwierigkeit, mir auf der Post für die weitere Strecke nach Marienbad die Fahrt zu sichern. Von dort aus gedachte ich am nächsten Morgen über Eger nach Nürnberg zu gelangen. Doch es sollte anders kommen. Während des Abendessens im Gasthof wurde von den Fremden von nichts anderem als von den Nachrichten über den Dresdner Aufstand gesprochen, und einer der Gäste las aus seiner Zeitung die Meldung aus Eger, daß dort mehrere sächsische Flüchtlinge verhaftet worden seien. Ich that, als hätte ich nichts gehört, unterhielt mich mit meiner korpulenten Nachbarin über das herrliche Frühlingswetter und das satte Grün, das rings um Marienbad das Auge erfreue. Sie stimmte ein, sie war ganz glücklich über die Erfolge der Kur, die sie erst seit wenigen Tagen begonnen, und nun habe sie schon sechs Pfund abgenommen. Ich wünschte ihr Glück und ermunterte sie fortzufahren mit der so ersprießlich angewendeten Kur. In einem Zimmer im Erdgeschoß, dem Kutscherzimmer, hatte ich eine alte verräucherte Karte des Königreichs Böhmen an der Wand gesehen. Mit Hilfe derselben suchte ich mich zu orientieren, ob ich nicht Eger umgehen und auf anderem Wege nach Bayern gelangen könnte. Es gab einen Weg, der von Marienbad nach Tirschenreut und von dort nach Amberg und Nürnberg führte. Ein Kutscher, an den ich die Frage richtete, ob er mich am andern Morgen nach Tirschenreut fahren wollte, sagte sofort zu. Er forderte anderthalb Thaler, jedoch in Silber, denn er bleibe nicht in Österreich, wo es nur Papiergeld gebe, das oft schon in der nächsten Stadt nicht mehr angenommen werde. Auch damit war ich einverstanden. Der Mangel an hartem Gelde, selbst an Scheidemünze, war damals in Österreich so groß, daß jede Stadt für den Kleinverkehr, der große stockte ja ganz, Papiergeld anfertigen ließ, und so war ich in den Besitz eines auf geringes blaues Papier gedruckten zwei Zoll großen Kassenscheines gelangt, auf dem die Worte standen: „Für diesen Schein zahlt die Stadt Eger +einen+ Kreuzer.“ In Marienbad war dieser Schein nichts wert. Ich behielt ihn gern als ein historisches Dokument, das mir aber in Straßburg, wo ich einige Wochen später bei einem Banquier eine ganze Mulde voll österreichischer Silberzwanziger sah, abgebettelt wurde, als ich das Kuriosum in einer Gesellschaft zeigte. Morgens um fünf Uhr fuhren wir von Marienbad ab. Es war ein furchtbarer Knüppelweg, der durch den Böhmerwald führte. Als wir vor einem Wirtshause unweit der Grenze anhielten, um dem geplagten Pferd etwas Zeit zum Verschnaufen zu lassen, lag vor dem Eingang zum Hause die Leiche des Wirts, der in der vergangenen Nacht von Räubern überfallen und ermordet worden war. Der vernachlässigte Wald, die entsetzliche Straße, die zerlumpten und hungernden Bewohner, die zu den wenigen schlechten Hütten paßten, an denen wir vorüberfuhren, gaben kein glänzendes Zeugnis von der Fürsorge, welche Fürst Metternich während seiner Herrschaft über die Unterthanen Seiner kaiserlich-königlichen Majestät entfaltet hatte. Auf der bayrischen Seite sah es dann etwas besser aus, wenn auch nicht gerade glänzend. Es mochte etwa zehn Uhr sein, als wir in Tirschenreut anlangten. Der Gasthof, wie dies allgemein üblich ist, hatte seine Dienstenstube, auf welche die Herrenstube folgte. Man geleitete mich in die letztere; ich fragte nach dem Abgang der Post. Ich brauche mich nicht zu beeilen, lautete die Antwort, vor der Mittagsstunde sei die Post jedenfalls nicht zu erwarten. Ich bestellte mir ein Frühstück und regelte indessen meine Schuld an den Kutscher. In diesem Augenblick ertappte ich mich auf einem großen Leichtsinn, der mich in bittere Verlegenheit bringen sollte. Seitdem ich Dresden verlassen, hatte ich keine Gelegenheit gehabt, meine Börse zu ziehen. Mein Oheim hatte mir nach Weipert preußische Kassenscheine geschickt. Diese benützte ich zum Zahlen der Postkarten, zum Einkauf von Wäsche in Karlsbad, zur Berichtigung von allerlei Ausgaben. Als ich nun aus meiner Börse einen harten Thaler und zwei kleinere Geldstücke für meinen Kutscher nahm, bemerkte ich zu meinem schlecht verhehlten Schrecken, daß dieses Geld aschgrau aussah, daß es Blei ähnlich war. Der redliche Kutscher nahm mein Geld dankbar an und sagte nichts. Da in Dresden schließlich Munitionsmangel eintrat -- die Patronen wurden im Rathause von gefangenen Soldaten für uns angefertigt, am Ende mit Kanonenpulver, weil wir zuletzt kein anderes hatten -- so behielt ich immer einige Patronen in der Tasche, um alle mir von einzelnen Aufständischen ausgesprochenen Reklamationen und Befürchtungen damit zum Schweigen bringen zu können. Nach einer Stunde, als der Kutscher weiter fahren und mit dem Zehnsilbergroschenstück seine Rechnung bei dem Wirt zahlen wollte, mochte dieser wohl ein bedenkliches Gesicht gemacht haben; denn ich hörte durch die kaum angelehnte Thür meines Zimmers, wie der Kutscher zu ihm sagte, er habe noch zwei solch bleigraue Geldstücke. Und nun hörte ich den Wirt klimpern und klimpern. Er wolle beim Nachbar fragen, sagte er endlich, ob das Geld wohl echt sei. Nach einer kleinen Weile kam er mit dem Bescheid zurück, der Nachbar kenne sich in den Dingen nicht aus, er wisse es nicht. In diesem Augenblick hielt ich meine persönliche Intervention für geboten. Ich trat zu den beiden Männern und sagte in möglichst gleichgültigem Ton zu dem sehr ernst gewordenen Wirt, er wisse ja aus den Zeitungen, daß in Dresden ein Volksaufstand ausgebrochen sei. Man habe vorige Woche überall die Kommunalgarde nach der Hauptstadt einberufen und sie auch mit Patronen versehen. Da sei mir eine in der Tasche ausgelaufen, und von dem Pulver sei das Silber so grau gefärbt worden. Er solle das Geld nur mit Seife abwaschen und er werde es wieder blitzblank sehen. Es sei uns im Moment des Abmarsches Gegenbefehl zugekommen, ich habe sofort eine Geschäftsreise antreten müssen und nicht daran gedacht, selber das Geld abzuwaschen. Der Wirt maß mich von Kopf bis zu Fuß mit seinen immer ernster werdenden Blicken. Er begab sich indes an das kupferne Waschgefäß in der Ecke der Wirtsstube; er reinigte das Geld, es erwies sich als echt, er machte sich bezahlt, wünschte dem Kutscher glückliche Reise, mir gegenüber jedoch blieb er stumm. Ich wollte ihn auf die Probe stellen und bestellte ein Mittagessen. Er nickte zustimmend. Darauf bat ich ihn, mich nach Nürnberg einzuschreiben. Der Wirt war zugleich Postmeister. „Haben Sie einen Paß?“ fragte er mich. Ich zeigte ihm das verlangte Dokument. „Ihr Paß ist nicht visiert,“ sagte er. „Sie haben Zeit“, fuhr er nach einer unheimlichen Pause fort, „Sie können ihn hier auf der Polizei visieren lassen, dort auf dem Schloß“ -- und er wies auf ein altertümliches Gebäude -- „dann können Sie Ihren Postschein haben.“ Mit einem falschen Paß selber auf die Polizei gehen? Das Abenteuer schien mir seltsam, es hatte jedenfalls eine sehr unerfreuliche Seite. Ich sah jedoch ein, daß mir hier keine Wahl blieb, ich mußte es bestehen. Nach wenigen Minuten war ich im Schloß. Als ein höflicher Mann klopfte ich an die Thür der „Fremdenpolizei“. Eine helle Stimme rief herein, und ich stand vor zwei oder drei Knaben, die sich hier auf den fruchtbaren Beruf des Schreibers vorbereiteten. Der älteste der Herren Jungens hörte gnädigst meinen Wunsch auf Erteilung des Visums nach Nürnberg an, entfaltete meinen Paß in möglichst langsamem Tempo, betrachtete mich und mein Dokument, bewegte sich von seinem vergitterten Platz aus einem anderen Zimmer zu, öffnete die Thür und verschwand hinter derselben. Ich war nun allein den anderen jugendlichen Schreibern gegenüber. Sie musterten mich eine ganze Weile. Ich war ihnen nicht interessant. Der eine begann wieder an seinen Buchstaben zu malen, der andere bemühte sich, eine Fliege zu fangen, die ihm über das Papier schlich. Das erweckte plötzlich den Gedanken in mir, daß ich in seinem Treiben etwas Analoges mit dem mir drohenden Schicksal zu erblicken hätte. Wer weiß, ob ich nicht ausersehen war, im nächsten Augenblick die Rolle der Fliege zu spielen. Warum blieb der Andere so lange mit meinem Paß aus? Es stellte sich etwas Herzklopfen bei mir ein. Wäre es nicht geratener, ihm den Paß zu lassen und das Weite zu suchen? Doch wohin in einem Ort, wo ich weder Weg noch Steg kannte? In diesem Augenblick öffnete sich die Thür des Nebenzimmers und ein alter Beamter, die Brille auf der Nase, erschien in derselben. Er betrachtete das Signalement des Passes und betrachtete mich. Die Operation schien mir über die Maßen lange zu dauern. Die Prüfung war endlich beendet. Er winkte dem Jungen zu. Es hatte also alles gestimmt. Der Alte verschwand wieder hinter der Thür. Der Junge schlich langsam an einen kleinen Tisch, drückte einen Stempel auf meinen Paß, überreichte ihn mir. „Drei Kreuzer.“ „Hier.“ Er nahm das Geld, ich den Paß. Ich war erlöst. In Nürnberg ging ich nach dieser Erfahrung in ein Hotel ersten Ranges, wo ich den Portier zum Visieren des Passes auf die Polizei schicken konnte, und er brachte ihn visiert zurück. Jetzt dürfen wir ohne Paß reisen, auch eine Errungenschaft des Jahres 1848. Was mir nun noch auf deutschem Boden begegnete, bis ich das Exil in der Schweiz erreichte, deren Bürger ich geworden bin, steht mit den öffentlichen Angelegenheiten in zu entfernter Beziehung, als daß ich das Recht hätte, es zu erzählen. Ich gehe deshalb zur Schilderung meiner ersten Flüchtlingsjahre über, die nicht ganz ohne politisches Interesse sind. [Illustration] [Illustration] XXIII. Erste Flüchtlingsjahre in der Schweiz. 1. Ich hatte das erste Flüchtlingsjahr in Bern verlebt, wo ich den Neid einiger Schicksalsgenossen erregte, weil ich sofort Beschäftigung fand, und zwar im Journalismus. Dann siedelte ich nach Murten über, wo ich mich in öffentlicher Steigerung in den Besitz einer kleinen Buchdruckerei gesetzt hatte. Damals war ich von meinem natürlichen Hang zu stiller Frohseligkeit noch stark beherrscht und das über die Maßen ruhige und dabei so sonnige Städtchen am See mit seinen kriegerischen Erinnerungen stimmte vortrefflich zu meinem inneren Menschen. Von der Vergangenheit mit Behagen zu plaudern, die Gegenwart nehmen, wie sie sich gab, und die Zukunft ohne Aufregung an mich herankommen zu lassen -- das behagte mir; so resigniert war ich durch die Ereignisse geworden, an denen ich einen für mein jugendliches Alter wohl auffälligen, im Grunde aber bescheidenen Anteil gehabt. Ich erinnere mich einer Versammlung deutscher Flüchtlinge, die im Herbst 1849 im „Maulbeerbaum“ zu Bern stattgefunden: Da erhob sich ein alternder Mann, der es nicht vergessen konnte, daß er im tollen Jahr in gar kleinem Kreise eine große Rolle gespielt hatte und sich deshalb in seine neue passive Lage durchaus nicht zu finden vermochte. Er hatte sich unter uns, nach dem von den „Fliegenden Blättern“ oft wiederholten Bilde den Beinamen „der Wühlhuber“ erworben. „Meine Herren,“ so begann er mit schmetternder Stimme, „Ihr Gedächtnis hat die Rede treu bewahrt, die ich vor nun bald einem Jahr in der großen Volksversammlung zu Schweinfurt gehalten...“ -- Ein schallendes Gelächter unterbrach ihn hier, denn nicht ein einziger der Anwesenden war jemals in Schweinfurt gewesen. Er aber unterhielt uns noch eine halbe Stunde von seinen berühmten Thaten und seinen großen Hoffnungen auf die kommenden Tage, welche Deutschland die Freiheit und Einheit, der Welt das Glück der Verbrüderung aller Völker bringen sollten. Lebhafter, ironischer, aber auch ernst gemeinter Beifall lohnte dem Redner, und das leuchtende Zukunftsbild, das er entworfen, wurde von manchen, die nach ihm das Wort ergriffen, mit kräftigen Farben weiter ausgeführt. Es kam Stimmung in die Versammlung. Nun aber erhob sich der Jüngste unter all den Leuten und goß grausam eiskaltes Wasser über das glühende Pathos, das immer mehr Herzen zu ergreifen drohte. Er ermahnte seine Schicksalsgenossen, die herbe Thatsache nicht außer Augen zu lassen, daß sie auf dem Boden des Exils sich befänden, und daß sie vor allem der Aufgabe zu gedenken hätten, sich auf diesem fremden Boden eine feste Stellung zu erwerben; er führte ihnen zu Gemüte, daß sie besser daran thäten, ihre politischen Hoffnungen auf eine ganze Weile in stiller Brust zu bergen und sie für spätere Tage warm zu halten. Im Augenblick, sagte er, sei für Europa eine Zeit der schwersten Reaktion im Anzuge. Gegen diese jetzt im Saal zum „Maulbeerbaum“ eine ohnmächtige Faust zu ballen, das sei einer leeren Prahlerei gar zu ähnlich und eines Mannes nicht würdig. Wilde Hufe zertreten jetzt den Samen, den wir daheim ausgestreut; er wird trotzdem aufgehen, wenn die rechte Zeit gekommen ist. Den Beginn jener besseren Zeit werden wir im Exil mit unseren pathetischen Reden nicht um eine Stunde beschleunigen. Daß sie jedoch nicht allzulange ausbleibe, dafür werden die eben zur Herrschaft gelangten Gewalten durch ihren Rachedurst und ihre Maßlosigkeiten zur Genüge sorgen. Es ist nicht ganz leicht, nach erloschenem leidenschaftlichen Kampfe plötzlich zu nüchterner Tagesarbeit überzugehen, die verlassenen Bücher wieder hervorzuholen, wieder zu feilen oder zu hobeln; aber man kann sich ja eins dabei singen oder pfeifen, wie der Gesell in der Werkstatt oder der Ackersmann hinter dem Pfluge; man braucht seine ideellen Ziele deshalb nicht aufzugeben. So etwa sprach der Jüngste in jener Gesellschaft. Und dieser Jüngste war ich. Es hat mich selber und die Meinen allezeit verwundert, daß ich für andere so nüchtern und praktisch zu denken verstand, dazu aber in keiner Weise mich fähig zeigte, wenn es sich um mein eigenes Wohl und Wehe handelte. Eine gewisse, auf das Allgemeine gerichtete Träumerei stellte im Alltagsleben dem unausgebildeten Geschäftssinn stets ein Bein und brachte ihn regelmäßig zu Falle. Das hing mit meinem ganzen Entwicklungsgang zusammen, ich hatte mein inneres Auge früh an allerlei ideale Zukunftsbilder gewöhnt, ich sah im Geiste eine beglückte, schönere Menschheit und kannte doch die wirklichen Menschen so wenig, daß jeder Narr mich hintergehen konnte, der leerste Kopf mir in allen praktischen Dingen weit überlegen war. Das merkten die guten Leute in der kleinen Stadt Murten, in deren Mitte ich mich nun niedergelassen hatte, sehr bald. Ich war so grenzenlos unerfahren, und hatte doch schon so vieles erlebt. Ich war freilich etwas, das fühlte man in meinem Umgang; aber man fühlte auch das Unausgeglichene, das Unfertige. Man fand nicht gleich den Schlüssel zu den Gegensätzen in meiner Natur, behandelte mich trotz alledem aber mit großer Freundlichkeit und Güte. Ich lernte auch die Menschen und die Dinge um mich her von Tag zu Tag besser kennen, gewann allem die schönste Seite ab, akklimatisierte mich nach und nach, aber doch nicht in dem Grade, daß man mich jemals für einen echten Murtenbieter hätte halten können. Andere, sehr ehrenwerte Deutsche, von denen ich im Verlauf dieses Kapitels sprechen werde, waren viel rascher und viel inniger mit der eingeborenen Bevölkerung, gleichsam wie die mannigfaltigen Bestandteile der Nagelfluh, zu einem Ganzen verwachsen, wenn man auch wohl auf den ersten Blick erkannte, daß sie aus weiter Ferne in das alpine Geröll und Geschiebe geraten waren, das nach und nach zu dem härtesten Gestein zusammengebacken war. Es war von vornherein kein kluger Gedanke von mir gewesen, in einem so kleinen Landstädtchen -- Murten zählte damals kaum 2000 Einwohner -- eine Buchdruckerei zu übernehmen; es war ja durchaus keine Aussicht, daß ich mir dabei eine einkömmliche, behagliche Stellung erwerben könnte. Die Hauptbeschäftigung für meine einzige Handpresse war der Druck eines zwei- oder dreimal wöchentlich erscheinenden Blattes, das in der ersten Zeit zweisprachig, deutsch und französisch erschien, bis es zuletzt sich mit dem ehrlichen Deutsch begnügte. An der Redaktion dieses Blattes, „Das Echo vom Moléson,“ war ich mit keiner Zeile beteiligt. Mit dem Herausgeber, einem jungen Advokaten, einem Streber niederster Sorte, war ich durch den ehemaligen preußischen Abgeordneten d’Ester in Bern bekannt geworden. Der Gründer und Eigentümer des auf das Emporkommen einiger jüngerer Politiker berechneten Blattes sorgte für das Manuskript, in welchem fast ausschließlich freiburgische Parteifragen behandelt wurden, ich druckte und bezog die Abonnementsgelder, die jedoch niemals die Kosten deckten. Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß ich dabei keine Seide spinnen konnte. Ich suchte und fand noch andere Arbeit. Zwei Lehrer in der Kantonshauptstadt waren auf den Gedanken gekommen, Eugen Sues ~Mystères du peuple~ ins Deutsche zu übersetzen, bei mir drucken zu lassen und durch Kolporteurs in der ganzen Schweiz zu verbreiten. Ich half mit an der Übersetzung, ich stand mit den braven Leuten auf freundschaftlichem Fuße. Ich habe sie noch heute in bester Erinnerung. Von dem Herausgeber des „Echo vom Moléson“ kann ich das leider nicht sagen. Man möchte es als eine üble Laune, einen schlechten Witz oder gar als eine Bosheit in der geschichtlichen Entwicklung betrachten, daß das protestantische, deutsch redende Murten und der Seekreis, dessen Hauptort die alte Veste bildet, zu dem katholischen, französisch sprechenden Kanton Freiburg gekommen sind. Gewiß, man spricht auch französisch in Murten, so etwas wie das ~français fédéral~, mit einem ausgeprägten, lokalen Accent; aber die ganze Ortschaft, eine breite Straße, mit den gewölbten Lauben und den großen Brunnen in der Mitte, mit zwei parallelen Nebengassen, ist ihrer äußern Gestaltung und dem Charakter ihrer Bewohner nach eine deutsch-schweizerische, genau betrachtet, eine bernische Stadt. Speziell für die republikanische, sprachlich und konfessionell gemischte Bevölkerung der Schweiz, verfolgt die Geschichte vielleicht in dem Durcheinanderwürfeln verschiedener Elemente, wie es an dem Gelände des Murtner Sees sich vollzogen hat, einen pädagogischen Zweck. Vertragt Euch! heißt es hier an der Sprachgrenze, und angesichts der Aufgabe, ein unsympathisches Regiment hinnehmen zu müssen. Man verträgt sich in der That -- bis zu einem gewissen Grade. Als ich nach Murten kam, war noch viel von einem Putschversuch die Rede, der vor dem Ausbruch des Sonderbundskrieges daselbst gegen die Jesuitenherrschaft in Freiburg in Szene gesetzt worden war. Wie zwei andere gegen Luzern damals unternommene Putsche, war auch dieser gescheitert. Die Sprengung des Sonderbundes durch die eidgenössischen Waffen hatte bald darauf die freiheitliebenden Murtner an ihren Bedrängern gerächt, und in Freiburg herrschte eine fortschrittliche, radikale Regierung, die sich kraft der neuen Verfassung den Besitz ihrer Macht auf zehn Jahre gesichert hatte. In Murten war man der politischen Gesinnung nach radikal. Nach oben hin freilich -- denn es gab auch dort ein oben und ein unten -- blaßte die Farbe der Partei merklich ab. Sowenig wie sie es in den Republiken des Altertums gewesen, ist in denen der Neuzeit die Gleichheit die Schwester der Freiheit. In dieser kleinen Stadt existierten, wenn auch nicht eigentlich Standesunterschiede, so doch gesellschaftliche Stufen, die von den Frauen sehr gewissenhaft, von den Männern, die das öffentliche Leben notwendig zusammenführte, weniger streng, aber immerhin in gewissem Grade innegehalten wurden. So ist es überall in der Schweiz und so wird es zweifelsohne bleiben, solange nicht alle Traditionen ausgelöscht, alle Unterschiede des Besitzes, der Bildung, des Ursprungs verwischt sind. Dagegen zu predigen oder gar zu poltern, ist zwecklos. Die Geschichte selbst sorgt dafür, daß die alten Geschlechter sich ausleben und durch jüngere ersetzt werden. Ich habe dieses historische Gesetz sogar in unserem kleinen Städtchen beobachten können. In dem Kampfe um die äußere Stellung zerbröckelten nach und nach die Felsgesteine altangesehener Familien, junge Alluvialgebilde sammelten sich auf den Trümmern an, und sie werden bald die Schicht in Vergessenheit gebracht haben, auf welcher sie sich jetzt stolz und sicher erheben. Damals, als ich in diese für mich fremde Welt trat, gab es noch -- man lächle nicht! -- eine ~haute volée~ in dem Städtchen. Es gehörten zu ihr eine Anzahl der liebenswürdigsten Familien, die, vor der gemeinen Lebenssorge behütet, einer idealen Geistesrichtung sich hingeben durften, Männer, die auch teilweise akademische Bildung genossen hatten und gern durch Festhalten an akademischen Jugendeindrücken vor dem Untergang im Sumpf des Philisteriums sich schützten. Es ist etwas Schönes um eine Stadt -- und sei sie noch so klein -- mit reichen historischen Erinnerungen. Stolz auf das immaterielle Erbe vergangener Geschlechter, wird sie stets etwas auf sich halten und jenes Erbe niemals verkommen lassen. Brauche ich zu sagen, daß die hohen, mit starken Türmen ausgestatteten Mauern mich mächtig anzogen, daß ich ihnen sogleich meine Huldigung durch einen Rundgang auf den Zinnen darbrachte, daß ich die in patriotischem Selbstbewußtsein von den Behörden gesammelten und mit religiöser Sorgfalt bewahrten Trophäen aus der Murtenschlacht häufig betrachtete und dabei wahrnahm, wie das ~Noblesse oblige~ in die Seele der Bewohner des Ortes tief eingegraben war. Überall wurde man durch die als selbstverständlich sich äußernde Absicht erfreut, das Ererbte nicht bloß zu erhalten und die historischen Sammlungen zu mehren, sondern auch im Anschluß an die großen Strömungen der Zeit für die kommenden Geschlechter zu sorgen. Vor dem Bernerthor, auf geräumigem Platze gegenüber der von den Belagerungsgeschossen Karls des Kühnen hart mitgenommenen Stadtmauer erhebt sich ein prunkloses, doch in seinen einfachen, harmonischen Linien jedes Auge erfreuendes Schulhaus. Darin befindet sich auch die Stadtbibliothek, für die Einwohnerschaft des kleinen Ortes ein wahrer Segen. Sie wird durch einen jährlichen, von der Stadtkasse gelieferten Beitrag erhalten und vermehrt. Neben einer beträchtlichen Anzahl historischer Werke älterer und neuester Zeit in deutscher und französischer Sprache und den klassischen Dichtern beider Nationen enthält sie in passender Auswahl das Wertvollste aus der populärwissenschaftlichen und schönen Litteratur unseres Jahrhunderts und, da sie jedem Einwohner zugänglich ist, dient sie in erheblichem Maße zur Erfrischung und Ernährung eines auf höhere Ziele gerichteten öffentlichen Geistes. Auch für die Pflege besserer Musik war durch einen gemischten Chor gesorgt, der mit Unterstützung eines kleinen Orchesters im Winter konzertierte, im ersten Jahre meiner Anwesenheit in Murten auch für das große Musikfest in Bern, an dem man sich beteiligte, Händels „Messias“ einstudierte. Das ist gewiß sehr ehrenvoll für ein so kleines Städtchen. Der große Rathaussaal wurde zu allen künstlerischen Produktionen hergegeben. Da wurden auch Theater gespielt, von einheimischen Kräften, aber auch von den Repräsentanten einer höheren dramatischen Kunst. Herr Direktor Schmitz mit seiner kinderreichen Gattin und einer auserlesenen Truppe besuchte uns häufig. Die blonde Frau Direktor, trotz ihres großen Familiensegens noch immer die jugendliche Liebhaberin, spielte die Luise in „Kabale und Liebe,“ und Herr Heuser, der wegen Teilnahme am badischen Aufstand seine Stellung am Karlsruher Theater hatte aufgeben müssen, gab den Ferdinand. Man war tief erschüttert, und das alte Stadthaus zitterte bis in seine Grundmauern von dem dröhnenden Beifall des Publikums, das mit nassen Schnupftüchern den Heimweg antrat. An Unterhaltung an den langen Winterabenden fehlte es uns also nicht. Wenn ich an Murten denke, steht es jedoch nicht anders als in sommerlichem Glanze vor mir. In den Straßen, es ist Mittagszeit, ist es sehr still. Vor dem Gasthof zum weißen Kreuz steht einsam ein Frachtwagen -- die Eisenbahn hatte damals das idyllische Seegelände noch nicht durchschnitten -- der Fuhrmann sitzt drinnen bei der dampfenden Suppenschüssel, die Pferde sättigen sich aus der vor ihnen aufgestellten Krippe und wehren sich die Fliegen ab mit ihren Schweifen; das ist die einzige unruhige Bewegung weitum. Gegen Abend fanden sich die verwandten Seelen zusammen, im See beim Baden, beim Glase Bier oder auf einem Spaziergang nach einem der reizenden kleinen Orte am See, nach Pfauen, nach Avenches oder Wifflisburg, dem Aventicum der Römer, am liebsten nach Münchenwyler, dem auf weitausschauendem Hügel an Stelle eines ehemaligen Klosters in prächtigem Garten sich erhebenden Schlosse der Familie Graffenried, und der die weite Landschaft beherrschenden sagenumwobenen gewaltigen Linde, die gleich einer Kathedrale ihren Ehrfurcht gebietenden Bau stolz zum Himmel erhob. Vor mehreren Jahren hat ein Sturmwind endlich auch diesen Giganten gestürzt, es war in der Woche, als der erste Kanzler des neuen deutschen Reiches des Amtes enthoben, von seiner Höhe grollend herniederstieg. Die ganze Landschaft hat seit dem Untergang jener Linde eines ihrer weitest bekannten Wahrzeichen verloren. [Illustration] XXIV. Erste Flüchtlingsjahre in der Schweiz. 2. Man arbeitete, aber man ging auch gern dem Vergnügen nach. Nicht daß aller Welt das Leben wonniglich blühte. Einen wirklich reichen Mann gab es nicht in der Stadt, sondern nur mäßige Wohlhabenheit in einer Anzahl Familien. Die „herrschenden Geschlechter“, wenn dieser Ausdruck damals noch gerechtfertigt war, brauchten mit wenigen Ausnahmen die mancherlei bescheidenen Besoldungen aus ihren vielfachen Ämtern und Ämtlein zur Erhöhung ihres Einkommens und zur Wahrung einer gewissen Präponderanz in ihrer Stellung nach außen hin. Weit und breit keine Industrie, kein beträchtlicher Handel; bei den Krämern und Handwerkern der Stadt versorgte sich die Bauersame rings umher, und so erhielten sich auch lebhafte Beziehungen zwischen Stadt und Land und ein reger Verkehr durch den gegenseitigen Austausch der Waaren. Ein Vergnügen ganz eigner Art waren unsere kriegerischen Übungen als Glieder der ~Garde civique~. Nichts verpflichtete mich, als einen Fremden, das soldatische Gewand anzulegen und einen Stutzen über die Schulter zu nehmen, um, ganz gegen meine revolutionäre Vergangenheit, die „heilige Obrigkeit, die Familie und das Eigentum“ vor gewaltsamem Umsturz zu beschützen. Aber die ganze männliche Bevölkerung der Stadt gehörte der ~Garde civique~ an, man betrachtete es als eine Ehrenpflicht der liberalen Bürgerschaft, die aus dem Sonderbundskrieg hervorgegangene neue Ordnung zu unterstützen und vor der Wiederkehr der Jesuitenherrschaft zu behüten. Alle meine Freunde machten mit. So erklärte ich mich auf geschehene Anfrage ebenfalls bereit, und Herr Sturmfels, der Feldwebel sandte mir den Uniformrock, den Stutzen mußte ich mir selbst anschaffen. Es war der erste der neuen Ordnung für Spitzkugeln, mit Handhabe am eisernen Ladstock. Ich war sehr stolz auf meine Waffe. Sie gehört mit samt ihrem damals neuesten Mechanismus schon längst zum alten Eisen. Die Toten und die modernen Schießgewehre reiten schnell. Unser streitbares Korps bestand aus einer starken Schützenkompagnie und etwas Artillerie. Unter den Offizieren der letzteren sehe ich noch unsern kernfesten Dr. Huber, einen vortrefflichen, allgemein beliebten und geachteten Arzt. Unteroffizier war Herr Weger, für mich eine der interessantesten Persönlichkeiten, denen ich in der Schweiz begegnet bin. Er war aus Bayern auf der Wanderschaft nach Murten gekommen, hatte dort als Buchbindergeselle gearbeitet, nach dem Tode seines Meisters die Witwe desselben geheiratet und wurde nach und nach, weil man in ihm den tüchtigen Menschen erkannt hatte, kraft seiner natürlichen Bescheidenheit, seines liebenswürdigen Charakters und seiner sich niemand aufdrängenden starken Intelligenz eines der geschätztesten Triebräder im öffentlichen Gemeinwesen. Lange Jahre mit richterlichen Funktionen betraut, hatte er als Autodidakt und auf dem Wege der Praxis zum Juristen sich ausgebildet; er wurde endlich Gerichtspräsident, und genoß in seinem schwierigen Amte und bei einer gemischten zweisprachigen Bevölkerung das allgemeine Vertrauen, wie es größer nicht einem Wahrer des Rechts zu Teil wird, der in seiner Jugend bei den ersten Pandektisten seine Studien gemacht hat. Unter den Schützen, zu denen ich gehörte, sehe ich, seine Kameraden fast um Haupteslänge überragend, den stets zu allem guten Thun herrlich angelegten Rektor der Stadtschule, meinen alten Freund, den ~Dr.~ Brunnemann. Er war gleichzeitig mit mir als Flüchtling in die Schweiz gekommen und in Freiburg unter vielen Bewerbern zum Leiter der Jugenderziehung in Murten gewählt worden. Ein gut geschulter preußischer Gymnasiallehrer, hatte er seinem Examinator in Freiburg, einem alten Kanonikus, der sein Latein längst vergessen hatte, durch sein Verständnis des Horaz sehr imponiert. Wir legten weniger Wert auf sein Latein, als auf seinen liebenswürdigen Charakter, seine heitere Laune, seine anregende Gesellschaft, seine Gradheit und Herzlichkeit. Brunnemann war ein geborener Berliner, Sohn eines Geistlichen; er war in Stettin noch nicht lange im Amte, als ihn der Strom der Revolution in seine Wogen zog. Wir nahmen das Mittagsmahl an gemeinsamem Tisch. Da er einige Jahre älter war als ich und es wirklich gut mit mir meinte, folgte ich gerne seinem Rat, namentlich in ästhetischen Dingen, denn -- ich bitte, nicht allzu sehr zu erschrecken! -- ich hatte von Bern den ersten Akt eines Trauerspiels „Marcel“, mitgebracht, und ich war damit beschäftigt, es seiner Vollendung entgegenzuführen. Der Stoff zu meinem historischen Trauerspiel war glücklich gewählt, und diese Wahl erklärt sich leicht aus den politischen Ereignissen, die ich eben selbst erlebt hatte. Während der blutigen Wirren, welche Frankreich in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts infolge der bei Poitiers von den Engländern erlittenen Niederlage und der Gefangennahme des Königs Johann heimsuchten, hatte das Haupt der Pariser Bürgerschaft, Etienne Marcel, eine Rolle gespielt, die an das Auftreten eines Cromwell dreihundert Jahre später erinnert, und in Frankreich vierhundert Jahre später von den Häuptern der großen französischen Revolution erneuert wurde. Die Jacquerie, welche in dieselbe Zeit hineinfiel, gab dem inhaltreichen Stoff einen sehr bewegten Hintergrund. Dramatische Anregungen hatte ich schon als Knabe genug erhalten durch Herrn von Sommerfeld, den Herausgeber der Berliner Theaterzeitung, der, wie schon erzählt, den sechzehnjährigen Burschen nicht selten an seiner Statt ins Schauspielhaus geschickt hatte, um die Mühe des Schreibens einer Rezension von sich auf ihn abzuwälzen. Das Jahr 1848 und das Frühjahr des Jahres 1849 und was ich dabei erfahren, belebten die frühe Absicht, mich auf dramatischem Gebiet zu versuchen, und so entstand mein Marcel. Die Diktion ist noch ungelenk genug, durch das ganze Stück jedoch pulsiert ein frisches, jugendliches Blut, es ist vom Feuer des jungen Knappen durchglüht, der in der ersten Schlacht sich die Sporen verdienen will, und so kam es, daß „Marcel“ bei seiner ersten Aufführung in Bern, und zwei Jahre später in Zürich eine beifällige Aufnahme fand, die den jungen Dramatiker zu weiteren Bühnenstücken ermutigten, über die er jetzt sehr kühl und nüchtern denkt. Die erste Aufführung des „Marcel“ beraubte mich der Teilnahme an einer für den Kanton Freiburg interessanten, ebenfalls historisch-dramatischen Handlung. Während ich nämlich dem Schicksal meines Helden auf den Brettern des Berner Theaters beiwohnte, hatte Carrard, ein Parteigänger des gestürzten Jesuitenregiments, einen Putsch in Freiburg versucht, war jedoch mit seinen Bauern an der Überwältigung der liberalen Regierung gehindert und in die Flucht geschlagen worden. Es war freilich schon alles vorbei, als das Korps der ~Garde civique de Morat~ stolz in der Hauptstadt einrückte. Carrard aber war nicht ganz entmutigt, er wiederholte mehrere Monate später den Versuch eines Handstreichs und verlor dabei das Leben. Wer weiß, ob nicht ein Jesuitenzögling kommender Jahrhunderte den Tod dieses Helden dramatisch verherrlicht, wie ich den Tod „Marcels“, des Pariser Rebellen? Die Murtener ~Garde civique~ kam auch diesesmal erst nach dem Ereignis nach Freiburg. Wir hatten keine Gelegenheit, von unserer Tapferkeit Zeugnis abzulegen. Als wir nach drei Tagen uns wieder auf den Heimweg begaben, ließ uns unser Hauptmann auf eine Wiese, rechts von der Straße, abschwenken, und dort in die geduldige Mutter Erde unsere Gewehre entladen. Es war uns die Ehre zu Teil geworden, die Kantonshauptstadt vor etwaigen erneuten revolutionären Angriffen zu schirmen und diese Ehre teilten wir mit den Bürgerwehren verschiedener anderer Ortschaften, die auf höheren Befehl herangezogen wurden. So hatte ich die Freude, an der Spitze des Kontingents von ~Chatel St. Denis~ meinen Freund, ~Dr.~ d’Ester, als Chef ~de la fanfare~ zu erblicken. Dem ehemaligen Mitglied der äußersten Linken in der preußischen Nationalversammlung hatte es ein besonderes Vergnügen gemacht, in seinen Mußestunden einige junge Dörfler zu einem Trompeterkorps auszubilden, und es war ihm nach redlicher Anstrengung gelungen, ihnen die Marschmelodie des damals so beliebten, entsetzlichen Liedes „~Zin, zin, rataplan! Vivent les rouges, à bas les blancs!~“ beizubringen, sodaß sie es ziemlich erträglich in den Straßen der erstaunten Stadt ertönen ließen. Wir hatten bei unserem nicht allzu strengen Dienst viele heitere Stunden. Ich erinnere mich einer Nacht, wo wir, etwas mehr als ein Dutzend, in einem feuchten Wachtlokal eingepfercht waren, das, von einem schmierigen Öllämpchen karg beleuchtet, von den unedelsten Gerüchen erfüllt war, welche in einem seit Monaten ungelüfteten Raum eine von dickem Tabaksqualm und den Hochgenüssen aus der nächsten Fuhrmannskneipe verpestete Atmosphäre nur zu erzeugen vermochte. Da plötzlich bemerkte man, daß wir einen Wehrmann weniger zählten. Der Syndic, d. h. Gemeindeammann eines welschen Dorfes aus der Nachbarschaft von Murten, war verschwunden. Der Mann stand schon in reifen Jahren, er war nicht, wie viele von uns, Krieger aus Neigung, sondern aus Pflicht und Schuldigkeit, wie das Gesetz der neuen Regierung es den Beamten vorschrieb. Es war ihm sicherlich an der Erhaltung der radikalen Regierung blutwenig gelegen; der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, marschierte er in unseren Reihen und bei der damaligen engen Marschordnung passierte es ihm sehr häufig, daß er seinem Vordermann auf die Ferse trat, was seine Beliebtheit im Korps nicht eben verstärkte. „Wo ist der Syndic von Courlemont hingekommen?“ fragte man mit Besorgnis. Man suchte ihn an allen Orten, wo ein Mann unter den gegebenen Verhältnissen in tiefer Nacht zu suchen war. Verschwunden blieb er, Mann und Gewehr. „Er ist desertiert,“ erscholl es wie aus einem Munde. Und die fröhlichen Lieder, die uns bis dahin über den trägen Lauf der Stunden hinweggeholfen, verstummten. „Vor dem Feinde desertiert! Das muß furchtbar geahndet werden.“ Es wurde sofort ein Kriegsgericht ernannt und eröffnet. Der Ankläger erhob sich. Mit eindringlichen Worten stellte er die tiefe Verworfenheit des Beamten, des Bürgers, des Wehrmannes dar, der heimlich den ihm anvertrauten heiligen Posten verlassen hatte, auf welchem seine Kameraden mit den schwersten Opfern, mit Einsetzung ihres Lebens ausharrten. Er erinnerte an die vielerlei Zeichen bösen Willens, an das öfters verspätete Erscheinen des Angeklagten auf dem Sammelplatz, an die Unsauberkeit seiner Uniform und Waffe, an die üble Laune, die er zu allen Zeiten gezeigt und namentlich an den schmerzlichen Anstoß, den er so häufig bei seinen Vordermännern erregt hatte. Der Verteidiger erhob sich. In kunstvoll gesetzter Rede versuchte er es, die Richter zur Milde zu stimmen. Er schilderte den fleißigen Landmann, den sorglichen Hausvater, den redlichen Bürger, der seine Steuern stets pünktlich bezahlt, nie gegen einen Bettler ein verderbliches Mitleiden gezeigt, mit aller Welt in Eintracht gelebt hatte, mit dem Herrn Oberamtmann wie mit dem Pfarrer und dem Mönch; er führte in rührenden Bildern die Frau, die Söhne und namentlich die Töchter des Angeklagten vor, die Zierden und der Stolz ihres Dorfes, das niemals, seitdem die ersten Hütten dort gebaut worden, einen Verräter in ihrer Mitte gekannt. So sprach der wortreiche und gemütvolle Verteidiger. Aber das Gericht ließ sich nicht irre machen. Es folgte seiner männlichen, soldatischen Überzeugung und Pflicht; es verurteilte den Syndic von Courlemont zum Tode. Am anderen Morgen erschien der Verurteilte beim Hauptmann. Er sei in dem furchtbaren Raume des Wachtlokals, erklärte er, von einer plötzlichen Übelkeit befallen worden und habe sich zu einem Arzt gerettet, der ihm dann auch ein Zeugnis über seine Krankheit mitgegeben hatte. Der Syndic von Courlemont wurde nicht hingerichtet. An einem schönen Mittag befand ich mich auf Wache vor dem im Sonderbundskrieg schwer mitgenommenen Jesuitenkollegium. Von meinem hohen Standort aus, an der Zufahrtsstraße, konnte ich rechts hinabsehen gegen das Murtner Thor, links hinab gegen das Romonter Thor. Es war mir befohlen, jede Person, die dem Posten sich nahte, anzurufen. Die Disziplin ist die Mutter des Sieges, ich war selbstverständlich von dem festen Willen erfüllt, den mir gewordenen Befehl pünktlich auszuführen. Da nahte sich tief unten vom Murtner Thor her ein Schatten. Er nahm bestimmtere, er nahm menschliche Formen an. Mein Auge richtete sich immer schärfer auf die verdächtige Gestalt. Es war eine alte Frau, die mühsam ein Bündel Reisig auf dem Rücken, die Höhe hinaufklomm. „~Qui vive?~“ schrie ich sie an, daß es meilenweit zu hören war. „~Bah, bah,~“ schüttelte sie gleichmütig den Kopf. In demselben Augenblick vernahm ich am andern Abhang nach der Seite des Romonter Thors zu das helle Kommando: „~Canonniers, à vos pièces!~“ Das war die Antwort auf mein „~Qui vive?~“ -- Jetzt war die Alte oben. „~Passez au large!~“ rief ich ihr zu. Die Kanoniere standen kampfbereit an ihren Geschützen. Als sie die Alte nun auf sich zukommen sahen, brachen sie in ein Höllengelächter aus, daß man in der guten Stadt Freiburg meinte, die Murtner seien vom Teufel besessen. So wurde uns der Dienst der Freiheit und des Vaterlandes eine Quelle der unschuldigsten Freuden. Ich sage „des Vaterlandes“. Die Schweiz hatte ich schon liebgewonnen, als ich im Sommer des Jahres 1847 zum erstenmal ihren Boden betrat. Jetzt, drei inhaltsreiche Jahre später, wollte ich mir das Schweizer Bürgerrecht erwerben. Es wurde mir von der Gemeinde Montelier, einem Dorfe dicht bei Murten, zugesagt; die Freiburger Regierung hatte ihre Zustimmung gegeben, der Bundesrat aber versagte die seine. Als nun meinem Naturalisationsgesuch durch bundesrätlichen Einspruch so unerwartete Schwierigkeiten entgegentraten, suchte ich den großen Berner Politiker Herrn Jakob Stämpfli auf, den ich kurz vorher auf einer Hochzeit im Kanton Bern kennen gelernt hatte, und der mir da mit großer Freundlichkeit entgegengekommen war. Ich besuchte ihn im Gefängnis, wo er eine Strafe für ein Preßvergehen abzusitzen hatte, die er sich mit einer Behauptung über das Verschwinden des Berner Schatzes während der französischen Revolutionszeit zugezogen hatte. Als Gefängnis war ihm ein anständiges Zimmer im Burgerspital, nahe beim jetzigen Bahnhof, angewiesen. Ich traf seine hübsche Frau bei ihm, sie war mit einer Handarbeit beschäftigt und verkürzte ihm plaudernd die Zeit. Herr und Frau Stämpfli nahmen mich sehr freundlich auf. Er schrieb mir einen Empfehlungsbrief an seinen Freund, den Bundesrat Furrer und riet mir, auch einen Besuch bei Herrn Druey zu wagen. Ich ging zu Herrn Bundesrat Furrer. Ich überreichte ihm den Brief des Herrn Stämpfli und trug ihm mein Gesuch vor. Er machte mir auch nicht die geringste Hoffnung auf die Erfüllung meines Wunsches, seine Antwort war ein unzweideutiges, rundes Nein. Der Bundesrat hatte den Beschluß gefaßt, denjenigen Flüchtlingen, welche in ihrer Heimat eine Führerrolle gespielt, eine Einbürgerung in der Schweiz nicht zu gestatten. Mitglieder provisorischer Regierungen waren sogar ausgewiesen worden. Der Mann, der mir ohne alle Umschweife „Nein“ sagte, gefiel mir; er hätte ja sein Nein in ein paar versüßende Phrasen wickeln können, die mich vielleicht verleitet hätten, doch noch, was meine Person betraf, an eine Änderung des gefaßten Beschlusses zu glauben. Er that es nicht, obgleich seine Frau, die zugegen war, mir einen teilnehmenden Blick zuwarf. Und er hatte recht. Ganz anders benahm sich Herr Druey. Im Gegensatz zu einem ersten, von mir nicht gesuchten Zusammentreffen, nahm er mich mit ausgesuchter Freundlichkeit auf -- ich hatte ihn während der Aufführung des „Marcel“ im Theater gesehen, ich war also für ihn ein Stück Poet, also doch immer etwas, wenn auch wenig genug -- er drückte mich auf das Sofa, schüttelte mir die Hand, sprach mit mir über die Quellen, aus denen ich mein Drama geschöpft, über die Chronik des Froissart, die er vor Jahren mit Interesse gelesen, und schließlich sagte er mir: was mein Naturalisationsgesuch betreffe, so solle ich mir für den Augenblick die Sache aus dem Kopfe schlagen, der Bundesrat könne einen noch so neuen Beschluß nicht jetzt schon zurücknehmen. Die Zeit werde Rat bringen, in einem Jahre, vielleicht schon früher, werde die Geschichte eingeschlafen sein. Dann werde sich alles machen lassen. Er begleitete mich beim Abschied bis an die Thür. Ich war ganz entzückt von dem würdigen und dabei so humanen Manne. Wir werden bald sehen, wie weit auf dieses Mannes Herzlichkeit zu rechnen war. Ich habe mich oben lange bei der ~Garde civique~ aufgehalten; sie spielte indessen nur die angenehme Rolle der Abwechslung in dem idyllischen Alltagsdasein der kleinen Stadt. Welch gute Menschen! muß ich noch heute mir sagen, wenn ich an alle die Personen denke, denen ich während meines zweijährigen Aufenthaltes in Murten näher getreten bin. Es waren nicht die banalen Leute, denen man überall und allerwegen begegnet. Wie die Mauern und Türme dem Orte selbst einen individuellen Stempel aufdrücken, so haben seine historischen Zeugen und Denkmäler auch auf die Natur und die Physiognomie des einzelnen Bewohners gewirkt. Es leben so manche liebe und dabei originelle Gestalten aus jener Zeit in meiner Erinnerung fort. Ich darf sie nicht ins Leben rufen, weil an ihre Namen leider sich tragische Ereignisse knüpfen. Wenn man einen noch so kleinen Ort während eines so langen Zeitraums wie nahezu fünfzig Jahre zu überblicken vermag -- wie viel schwere Schicksalsschläge haben da sich indessen vollzogen! Auch auf dem engsten Raume findet die Welttragödie ihre Helden und Opfer. Herr Druey, der Chef des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, hatte sein liebendes Auge nicht von mir abgewendet. Eines Morgens überraschte mich der mir wohlgesinnte Oberamtmann des Seekreises, Herr Chatoney, in Begleitung des Oberamtsschreibers, um auf Grund eines ihm von Freiburg zugegangenen Befehls Haussuchung in meiner Druckerei und Wohnung zu halten. Ich stand bei der obersten eidgenössischen Behörde in Verdacht, revolutionäre Schriften zu drucken. Dieser Verdacht war vollkommen unbegründet und die Haussuchung brachte in der That nichts gegen mich zum Vorschein. Doch hätte es mir leicht schlimm ergehen können. In meinem Schreibtisch lagen verschiedene Briefschaften; der Herr Oberamtmann öffnete einige, diskret nur nach der Unterschrift blickend, und war beruhigt. Mir klopfte das Herz dabei. Hätte er weiter gesucht, so wäre ihm ein Brief in die Hände geraten, in welchem ein Mann, der seither von der Weltbühne verschwunden ist, bei mir anfragte, ob ich geneigt sei, etwas Politisches für Deutschland zu drucken. Ich hatte abgelehnt. Wie aber hätte ich dies beweisen können, und hätte man überhaupt meinen Beweis abgewartet? Kaum war der Herr Oberamtmann mit seinem Schreiber aus meinem Zimmer, als ich rasch jenen unglückseligen Brief hervorholte, ihn anzündete und in den Ofen warf. In diesem Augenblicke kam der Schreiber wieder herein. Ich war sehr erschrocken. Er hätte merken können, was vorgefallen war, er hätte das verbrannte Papier riechen können. Der Mann hatte keine Nase. Er hatte seinen Regenschirm vergessen, deshalb war er zurückgekehrt. Einige Tage darauf erfuhr ich aus dem Munde des Herrn Oberamtmanns, daß er, um kein Aufsehen zu erregen, die Morgenstunde des Sonntags gewählt, wo alle Welt sich in der Kirche, keine Seele sich auf der Straße befand, daß er übrigens sich geweigert hatte, den Befehl auszuführen, weil nach freiburgischem Gesetz eine Haussuchung nur auf richterlichen Befehl gestattet sei, daß der Freiburger Staatsrat Herrn Druey gegenüber denselben Einwand erhoben, jedoch mit der Antwort abgefertigt worden sei, er habe einfach dem Befehle zu gehorchen. Das that er schließlich, und ich mache ihm daraus keinen Vorwurf. Die Schweiz kann nicht wegen eines kleinen Buchdruckers in Murten den äußersten Widerstand gegen ausländische Zumutungen fortsetzen, wie sie es zu Gunsten des Prinzen Napoleon Bonaparte gethan. Und dieser entschloß sich zu gehen, als er merkte, daß es um seinetwillen Ernst werden könnte. Auf meine eigenen Entschlüsse sollte übrigens derselbe Prinz Napoleon sehr bald einen entscheidenden Einfluß ausüben. Sein Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 brachte in mir die schon seit einiger Zeit gehegte Absicht zur Reife, Murten zu verlassen und einen anderen Lebensweg einzuschlagen. Ich hatte oben gesagt, daß ich „die Geheimnisse des Volkes“ von Eugen Sue in deutscher Übersetzung druckte. Infolge des Staatsstreiches sah der französische Dichter sich veranlaßt, die Fortsetzung seines Werkes einzustellen. Für meine Presse fiel nun die Hauptbeschäftigung dahin, anderes fand sich nicht sogleich. Ich konnte meine Buchdruckerei in den ersten Monaten des Jahres 1852 verkaufen und siedelte nach Zürich über, wo ich an der Universität mich inskribieren ließ. Aber auch hier hatte ich vor Herrn Druey noch nicht vollständig Ruhe. Ob der Käufer meiner Druckerei, ein urchiger Berner, dem man polizeilich nichts anhaben konnte, etwas für denselben, oben nicht genannten Mann, druckte, weiß ich nicht, doch ich bezweifle es sehr. Nachdem ich seit einigen Monaten unbehelligt in Zürich gelebt, wurde ich eines Morgens auf die Polizei geladen. Herr Billeter, der Polizeisekretär, hatte einen Brief in der Hand, auf Grund dessen er mich befragte, ob ich Beziehungen zu dem Käufer meiner Druckerei in Murten habe. Meine Antwort lautete verneinend. Ob ich nicht wüßte, was derselbe jetzt druckte. Ich mußte wiederum meine Unwissenheit über diesen Gegenstand eingestehen. Ich habe ihm kürzlich einen Brief geschrieben, fügte ich hinzu, er solle mir doch recht bald den Rest meines Guthabens einsenden. -- Nichts sonst? fragte Herr Billeter. -- Sonst nichts! war meine treuherzige und wahrheitsgemäße Antwort. Der Herr Polizeisekretär schenkte zweifellos meiner Aussage volles Vertrauen. Ich stand sehr nahe bei ihm und er hielt den aus Bern eingetroffenen Brief so -- war es vielleicht absichtlich? -- daß ich ihn lesen konnte. Der von Herrn Druey unterzeichnete Brief hatte folgenden Schlußsatz, der sich fest in mein Gedächtnis eingeprägt hat: „~S’il y a moyen d’éloigner Monsieur Born de la Suisse, ce serait le mieux.~“ Herr Druey hatte ohne Zweifel geglaubt, mit der Art und Weise, wie er die politische Polizei handhabte, seinem Vaterlande nützlich zu sein. Ich will darüber mit dem Manne, der längst im Grabe ruht, nicht rechten. Die Züricher Regierung war nicht seiner Ansicht, sie ließ mich vollkommen unbehelligt; ich muß sogar sagen, daß sie mir während der nächsten Jahre meinen Weg erleichterte. Dasselbe muß ich überhaupt von den vielen schweizerischen Männern sagen, mit denen ich das Glück hatte, in den fünf verflossenen Dezennien in engere oder entferntere Berührung zu kommen. Man hat mich, wenn ich den einzigen Fall Druey ausnehme, stets mit Rücksicht und Wohlwollen behandelt. Und wenn ich meine Erinnerungen an dieser Stelle abbreche, so geschieht es mit dem Dankgefühl eines Mannes, der unverdienter Weise viel Gutes in dem Lande erfahren hat, das er als Verfolgter betreten hat. [Illustration] [Illustration] Nachwort. Die fünfzig Jahre, die seit den Ereignissen verflossen sind, an denen ich teilgenommen, haben Deutschland so viele Veränderungen gebracht, daß es mir Bedürfnis ist, ehe ich meine „Erinnerungen“ schließe, eine kurze Betrachtung an das anspruchslos Dargestellte zu knüpfen. An der Grenze des neuen Reiches eingebürgert, durch den Umgang mit Leuten des jenseitigen Rheinufers, mit deutschen oder deutsch-freundlichen Kollegen an der Basler Universität, und namentlich als Redakteur der „Basler Nachrichten“ stehe ich in unausgesetzter Beziehung zur allgemeinen politischen Bewegung, speziell zum politischen Leben in Deutschland. Ich nehme innigen Anteil an seinen glücklichen Fortschritten und nicht minder an seinen, hoffen wir, unbegründeten Sorgen. Die Überzeugung, von welcher alle politisch denkenden Menschen im Jahre 1848 erfüllt waren, daß die deutsche Einheit nicht ohne harte Kämpfe, nicht ohne „Blut und Eisen“ errungen werden konnte, ist durch den Gang der Geschichte bestätigt worden. Der Riß, der durch die Reformation das deutsche Volk getrennt hat, ist freilich noch immer nicht ganz geheilt. Wäre er unheilbar? Die konfessionellen Gegensätze bestehen auch in der Schweiz, die selbst unmittelbar vor ihrer politischen Erneuerung des Jahres 1848 einen Bürgerkrieg aus religiösen Motiven durchzukämpfen hatte, die in neuester Zeit noch einen Kulturkampf bestanden hat und doch ist die politische Einheit dieser konfessionell und sprachlich geteilten Nation jetzt felsenfest begründet und über allem Zweifel erhaben. Ich bin deshalb überzeugt, daß auch im neuen deutschen Reich die geschaffene Einheit aus konfessionellen Gründen nicht ernstlich gefährdet ist -- so lange nicht ein ungewöhnlicher Unverstand über die Geschicke des Landes verfügt. Deutschland hat, wie ich überzeugt bin, durchaus keine Ursache, an seiner Zukunft zu zweifeln, so leidenschaftlich auch die Parteikämpfe sind, welche seine Bevölkerung vorübergehend spalten. Man überschaue mit Unbefangenheit, was in den letzten fünfzig Jahren geschaffen worden und man wird über die Größe des Erreichten staunen. Es scheint im Augenblick ein Stillstand in der Entwicklung eingetreten zu sein. Es ist nicht zu besorgen, daß die unterbrochene Arbeit nicht in kürzester Zeit wieder aufgenommen werde. Der konfessionelle Streit, der bis in die Gegenwart wegen des zur Kaiserwürde gelangten protestantischen Fürstenhauses einen unversöhnlichen Charakter anzunehmen schien, wird unter einem jüngeren Geschlecht sich allmählich abschwächen. Nur verlange man nicht, daß in wenigen Jahrzehnten zusammenbreche, woran Jahrhunderte gebaut haben. Neben dem konfessionellen Streit ist es der die ganze Welt beherrschende Kampf des vierten Standes um seine Selbständigkeit, der die schwere Sorge der Gegenwart bildet. Dieser Kampf, von dessen Anfängen ich in den vorliegenden „Erinnerungen“ als Augenzeuge und Beteiligter erzählt habe, hat seither sein damals ins Auge gefaßtes Ziel erreicht, er hat eine starke Arbeiterpartei geschaffen und so deren geschichtliche Berechtigung bewiesen. Damit ist sicherlich sein Abschluß nicht gewonnen, er tritt vielmehr in eine neue Phase. Eine starke Partei ist entstanden, sie lebt, der Boden zu ihren Füßen ist geebnet. Man ist gespannt auf die Schöpfungen, die sie in Aussicht genommen, sie soll jetzt bauen. Was wird sie bauen? Nichts anderes als was die Zeit ihr zu bauen gestattet. Ein Baum wird seine Äste nicht in hohen Lüften wiegen, dessen Wurzeln nicht tief und weit herum im Erdreich ihre Stütze gefunden haben. So ist in der Geschichte niemals ein neuer Gedanke zur Wirklichkeit geworden, dessen Macht nicht in der Vergangenheit wurzelt. Annehmen, daß in dieser Welt, mit ihren Kasten, ihren Glaubens- und Standesunterschieden, die in der Erziehung, in der Geburt und im Besitz sich äußern, mit ihren Eitelkeiten, ihren Mißbräuchen, mit allen ihren offnen und geheimen Lastern in absehbarer Zeit, bloß durch eine dekretierte Änderung der öffentlichen Einrichtungen eine Welt der materiellen Gleichheit und Selbstverleugnung entstehen könne, das ist ein so in die Augen springender Aberglaube, daß selbst diejenigen, welche an die Verwirklichung eines solchen Traumes zu glauben sich einbilden, sich im Grunde doch bewußt sind, daß sie solches sich eben nur einbilden. Der neue Bau, zu dem der Grundriß noch fehlt, wird noch lange nicht begonnen, er wird überhaupt nicht begonnen werden. Denn es giebt weder einen alten, noch einen neuen Bau, es giebt nur einen einzigen, ewigen Bau, den der Menschheit Urväter begonnen haben, an welchem ein Jahrhundert nach dem andern sich beteiligt hat, indem es verfallene Teile fortgeräumt, um sie durch neue zu ersetzen und auf dem festen Grunde des mühsam Errungenen weiter in die Höhe zu streben, der Gesittung, der Wohlfahrt, der Freiheit einen Tempel zu errichten, zu dem unablässig Steine herbeigetragen werden, der nie ganz vollendet wird und an dem doch Geschlecht um Geschlecht ewig fortarbeiten. Erlahmen die einen, so werden sie durch andere abgelöst, auf Zeiten der Zwietracht folgen kurze Pausen scheinbarer Eintracht. Fort und fort jedoch, wie die nie rastende Stromeswelle, setzt die Jagd nach dem ersehnten und nie erreichbaren Glück wieder ein, das allgemeine Drängen nach einem Ziel, dem unsere Phantasie die verführerischsten Farben leiht, hört niemals auf und keiner erreicht es und jeder verfolgt es. Denn nicht das ferne Ziel bewirkt es, daß unsere Augen leuchten -- am Ende entdecken wir vor dem Ziele doch immer das dunkle Grab -- das Rennen selbst ist unser Bedürfnis und unser Glück, das Ringen, das Vorwärtsdrängen an sich, weil es uns belebt, über die Gemeinheit und die Wirrnisse des Daseins erhebt und für alle Mühsal und Sorgen des Tages uns entschädigt. Darum treibt es uns voran, ewig voran. Welches Urteil nun haben wir Jubilare einer gewaltigen Bewegung von der Zukunft zu erwarten? Sie wird gerecht sein, sie wird sagen: Vorwärts wolltet ihr? Recht so. Ihr Unterdrückten, Übersehenen, Vergessenen, ihr habt euch an einem Tage heißen Zornes gegen diejenigen erhoben, die aus eurer Schwäche ihre Kraft gewonnen hatten und euch mißachteten. Ihr habt euer Leben eingesetzt und habt jene bekämpft. Wer darf euch tadeln? Ihr wurdet niedergeschlagen. Was thut’s? Ihr habt denen, die euch das Gesetz gemacht und euch beherrscht haben, eure vereinte Kraft gezeigt. Sie rächten sich an solchen, die in ihre Hände gefallen waren, durch grausame Härte; aber sie haben euch kennen lernen und sie begannen diejenigen zu achten, von denen man bisher kaum gesprochen. Ihr erhebt euch aus eurer Niederlage, ihr seid stark geworden. Nur einige Jahrzehnte und ihr stellt eine Macht dar, die aus dem Nichts zum Lichte emporgedrungen ist; man muß mit euch rechnen, ihr steht da als ein lebendiges Zeugnis für die Gesetze der Völkerentwickelung. Mehr noch: Aus den Reihen eurer angeblich gebornen Gegner treten die Denkenden zu euch heran, sie prüfen die Ideen, die eure Waffen waren und die euch getrieben zum Bau von Barrikaden und zur Bekämpfung eines erstarrenden, dem Tode geweihten Systems; eure Ideen erwerben euch Anhänger und immer mehr Anhänger im andern Lager, es kommt euch Hülfe von drüben und ihr werdet nicht mehr als tolle, hirnverbrannte Wesen betrachtet und verabscheut. Die Besten von drüben sagen: Sie haben recht gehabt und hätten wir schon damals aufrecht gestanden, wir hätten neben ihnen gestanden. Das ist der Sieg der Ideen, der mehr wert ist als der Vorteil des Augenblicks, mehr als materielle Kraft und zufällige Überlegenheit der Arme oder der Zahl, und dieser Sieg über die Geister, er ist die wirkliche, die eigentlich gewonnene Schlacht. So dürfen wir, die Achtundvierziger, in unseren alten Tagen mit Beruhigung aussagen: Wir haben nicht vergeblich gerungen. Übersehen wir jedoch eines nicht: Die Zeiten sind nicht mehr dieselben. Das, was die Jugend vor fünfzig Jahren in den Kampf getrieben, war der Kampf um die politische Gleichberechtigung und die Einheit der Nation. Die Ernte ist eingeheimst worden, so weit sie reif war. Und so wird auch in Zukunft Frucht um Frucht einzeln gepflückt werden, doch nicht eher als bis sie völlig reif ist. Es kommt auch keinem vernünftigen Menschen mehr in den Sinn, für irgend eine Forderung mit einer andern Waffe als dem Stimmzettel zu kämpfen. Diese Waffe ist von unwiderstehlicher Macht, wenn der öffentliche Geist sie trägt. Im Bewußtsein der Mitlebenden muß eine Forderung als gerecht und verständig, d. h. als erfüllbar anerkannt sein, soll sie als Gesetz ins Leben treten. Auf sozialem Gebiete giebt es keine gewaltsamen Umwälzungen. Was man die Wandlungen der Produktionsformen zu nennen berechtigt ist, das ist stets die Frucht vorausgegangener allmählicher Wandlungen im Verkehr der Nationen, die Folge der Vermehrung der Bevölkerung, der Entdeckung neuer Seewege, der Unzulänglichkeit der alten Produktionsformen zur Deckung der gesteigerten Bedürfnisse gewesen. Es giebt rasch verlaufende politische Revolutionen und sie können lokal beschränkt sein, es giebt soziale Evolutionen, die sich langsam und nur unter dem Einfluß des allgemeinen Weltverkehrs vollziehen. Wohin diese Evolutionen schließlich führen werden, das braucht heute unsere Sorge nicht zu sein. Die Menschheit ist noch jung. Warum soll sie nicht noch hunderttausend Jahre und noch viel länger leben? Welchen Grund haben wir heute, von dem Siege des vierten Standes das Aufhören aller Klassenkämpfe, d. h. eine Entwicklungsstufe zu erwarten, die etwas wie das Paradies auf Erden wäre? Diese Anschauung gelangt sichtbarlich auch in den Kreisen zur Herrschaft, die sich, so lange es sich um das allgemeine Stimmrecht handelte, als revolutionär bezeichneten. Aus den Sozialrevolutionären werden Sozialreformer, das liegt im Zuge der Zeit. Wollen wir mit Obigem sagen, daß Deutschland ganz sorglos in die Zukunft schauen darf? Sicher nicht. Infolge seiner Lage im Centrum Europas, von mehr als einer feindlichen Macht an seinen Grenzen bedroht, wird es noch lange auf seine Sicherheit gegenüber äußeren Feinden zu achten haben. Daß seine innere Entwicklung sich ohne allzu harte Reibungen vollziehe, möge man besonders da nicht außer Augen lassen, wo man für Deutschlands Zukunft zumeist verantwortlich ist. [Illustration] Druck von Gottfr. Bätz in Naumburg a. S. * * * * * * Anmerkungen zur Transkription Der vorliegende Text wurde anhand der 1898 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; Rechtschreibvarianten, insbesondere bei Personennamen und fremdsprachlichen Ausdrücken, wurden nicht vereinheitlicht. *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ERINNERUNGEN EINES ACHTUNDVIERZIGERS *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws. The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. 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