The Project Gutenberg eBook of Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Sämmtliche Werke 8: Briefwechsel II, Hans Küchelgarten

Author: Nikolai Vasilevich Gogol

Editor: Otto Buek

Translator: Ullrich Steindorf

Release date: January 31, 2018 [eBook #56475]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
produced from images made available by the HathiTrust
Digital Library

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 8: BRIEFWECHSEL II, HANS KÜCHELGARTEN ***

Nikolaus Gogol
Briefwechsel II

Nikolaus Gogol
Sämmtliche Werke
In 8 Bänden

Herausgegeben
von
Otto Buek

Band 8

München und Leipzig
bei Georg Müller
1914

Nikolaus Gogol

Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden

Zweiter Teil

Hans Küchelgarten

Deutsch von Ulrich Steindorff

München und Leipzig
bei Georg Müller
1914

An Arkadius Ossipowitsch Rosetti

Neapel, im Jahre 1847.

Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für Ihren Brief und die zahlreichen Mitteilungen danken soll, die er enthält, liebster, bester Arkadij Ossipowitsch. Wenn ich häufiger das Glück hätte, solche Briefe zu erhalten, selbst wenn sie nicht von solch herzlicher Teilnahme und Liebe zu mir erfüllt wären, müßte ich schon längst viel klüger sein, als ich es jetzt bin. Aber was soll ich tun, wenn es mir durchaus nicht gelingen will, jemand in irgendeiner Weise davon zu überzeugen, daß ich wissen muß, was man über mich spricht, daß das die einzige Gelegenheit für mich ist, etwas zu lernen, kurz, daß es einen Menschen gibt, dem man die Wahrheit sagen muß, so hart und bitter sie auch sein mag, und für den selbst die harten und rohen Worte, wie sie nur dem Haß und der Lieblosigkeit entspringen, ein Bedürfnis sind? So war denn auch einer der Gründe, der mich dazu bestimmte, meine Briefe herauszugeben — das Bedürfnis, zu lernen, und nicht etwa das — andere zu belehren. Da man jedoch einen Russen nicht anders zum Reden veranlassen kann, als dadurch, daß man ihn erzürnt und ungeduldig macht, so habe ich beinahe mit Vorbedacht eine Reihe von Stellen in den Briefwechsel aufgenommen, die die Menschen durch ihren arroganten Ton verletzen und an ihrer empfindlichsten Stelle treffen mußten.

Ich kann Ihnen allen Ernstes versichern: ich leide außerordentlich darunter, daß ich sehr viele Dinge nicht kenne, die ich unter allen Umständen kennen müßte; ich leide darunter, daß ich eigentlich gar nicht weiß, was heutzutage die Menschen aller Berufsarten, Ämter und aller Bildungsstufen in Rußland darstellen. Alles, was ich hierüber bisher unter einem ungeheuren Aufwand von Mühe ermitteln konnte, ist nicht ausreichend, wenn meine „Toten Seelen“ das werden sollen, was sie eigentlich sein sollten. Das ist der Grund, weswegen ich so sehr danach dürste, zu erfahren, was die Menschen aller Klassen mit Einschluß der Bedienten und Lakaien über mein gegenwärtiges Buch sagen — nicht eigentlich im Interesse meines Buches selbst, sondern weil sich der Beurteiler mit seinem Urteil über das Werk am besten charakterisiert. Aus einem solchen Urteil kann ich sofort entnehmen, was er selbst für ein Mensch ist, auf welchem Niveau geistiger Bildung er steht, wie es in seiner Seele aussieht, ob er von Natur ein schlichter und gütiger Mensch oder unwissend und korrumpiert ist. Mein Buch kann mir in gewisser Beziehung als Probierstein dienen, und glauben Sie mir, daß Sie es sich heutzutage an keinem anderen Buche so deutlich zum Bewußtsein bringen können, wie an diesem, was der Russe von heute für ein Mensch ist. Ich kann es nicht leugnen, ich hoffte auf einzelne Leute, die an gewissen Gebrechen leiden, einen wohltätigen Einfluß auszuüben, ich hatte erwartet, daß sich mehr Stimmen zu meinen Gunsten äußern würden, als das wirklich der Fall war, und es war bitter, ja sogar sehr bitter für mich, vieles mitanhören zu müssen. Aber wie danke ich Gott heute dafür, daß es gerade so und nicht anders gekommen ist! Ich sehe mich jetzt unwillkürlich genötigt, viel strenger gegen mich zu sein, ich habe jetzt die Möglichkeit, auch die Menschen weit besser und genauer kennen zu lernen, und bin endlich in der Lage, mir eine richtigere Ansicht von ihnen zu bilden. Was aber den Umstand betrifft, daß meine Persönlichkeit hierbei Schaden gelitten hat (ich muß es Ihnen gestehen; ich brenne noch heute vor Scham, wenn ich daran denke, wie anmaßend ich mich an vielen Stellen ausgedrückt habe: fast à la Chlestakow), so muß man doch immer Opfer bringen. Ich brauchte eine solche öffentliche Ohrfeige, ja ich hatte sie vielleicht nötiger als irgendein anderer. Aber es kommt darauf an, die Gelegenheit zu ergreifen und aus den Umständen Nutzen zu ziehen: Gott hat plötzlich einen ganzen Haufen von Schätzen vor mir ausgeschüttet, so daß ich mit beiden Händen danach greifen muß, wenn ich sie bergen will. Wenn Sie mir etwas wahrhaft Gutes tun wollen, etwas, dessen nur ein Christ fähig ist, dann lesen Sie diese Kostbarkeiten für mich auf, wo Sie sie immer finden mögen. Es wäre Ihnen ein leichtes, sich täglich etwa in Form eines Tagebuches ein paar Aufzeichnungen zu machen wie z. B. die folgenden: „Heute habe ich den und den, die und die Meinung äußern hören; über das Leben dieses Menschen ist folgendes bekannt, er hat einen solchen Charakter“ (kurz, Sie könnten mir in flüchtigen Zügen ein Bild von ihm entwerfen). Ist dagegen nichts über ihn bekannt, so schreiben Sie: über sein Leben kann ich nichts in Erfahrung bringen, ich glaube aber, daß er das und das ist; äußerlich macht er einen guten und anständigen (oder unanständigen) Eindruck; er hält seine Hände so; schneuzt sich folgendermaßen; er schnupft Tabak und zwar in folgender Weise; kurz, Sie dürfen keinen Zug vergessen, der Ihnen ins Auge fällt, vielmehr sollen Sie jeden wichtigen ebenso wie jeden geringfügigen Umstand sorgfältig buchen.

Glauben Sie mir, das ist keineswegs langweilig. Hierzu bedarf es weder eines bestimmten Planes, noch braucht es in einer bestimmten Ordnung und Reihenfolge zu geschehen: man wirft bloß zwei, drei Zeilen aufs Papier, ehe man daran geht, sich zu waschen. Ich bin sogar überzeugt, daß dies eine angenehme Beschäftigung für Sie sein wird, weil Sie stets das schöne Bewußtsein haben werden, daß Sie das für einen Menschen tun, der Sie inniglich liebt, und dem Sie damit eine Freude bereiten; eine so große Freude, wie sie ein Kind empfindet, das an einem Festtag sein Lieblingsspielzeug zum Geschenk erhält. Was soll ich machen, wenn dies Spielzeug — das wenigstens von anderen Leuten nur für ein Spielzeug gehalten wird — in meinen Augen nichts weniger als ein Spielzeug ist; es ist sogar so wenig ein Spielzeug, daß, wenn ich nicht genug von diesen Spielzeugen geschenkt bekomme, aus meinen „Toten Seelen“ plötzlich statt lebendiger Menschen meine eigene Nase herausgucken kann und lauter Dinge zum Vorschein kommen können, wie Sie sie in meinem Buche gefunden und die Ihnen so mißfallen haben. Glauben Sie mir: wenn dies Buch nicht erschienen wäre, hätte ich nie jene kunstlose Einfachheit erreicht, die unbedingt in allen weiteren Teilen der „Toten Seelen“ herrschen muß, wenn sie jedermann für einen treuen Spiegel des Lebens und nicht für eine Karikatur halten soll. Sie wissen nicht, welch großen Umweg man machen muß, um sich diese Einfachheit anzueignen. Sie wissen nicht, wie hoch diese schlichte Einfachheit steht. Man tut besser, hierüber gar nicht erst zu reden, helfen Sie mir — das ist alles, was ich zu sagen vermag.

Was nun die Veröffentlichung meiner Briefe anbetrifft, so habe ich folgendes beschlossen. Wegen der inhibierten Briefe einen neuen Band herauszugeben — ist mir unmöglich. Ich habe noch andere Arbeiten vor, die nicht vergessen werden dürfen, und über meine ganze Zeit habe ich schon disponiert; zudem würde ein ganz ähnliches Werk nicht einmal Aufsehen erregen. Ich möchte nur, daß Wjasemski seine Bemerkungen dazu macht und gewisse Korrekturen vornimmt. Dann will ich die Briefe noch einmal durchsehen und verbessern, so daß selbst der schlichteste Zensor, auch ohne daß sie vor eine höhere Instanz zu gelangen brauchten, die Herausgabe gestattet. Glauben Sie mir, man kann alles sagen, wenn man es nur verständig auszudrücken versteht. Der Mißerfolg der besten und hochherzigsten Unternehmungen rührt meist von unserer Ungeschicklichkeit her — da wir gewöhnlich vergessen, an die kluge Redensart zu denken: „Man muß Wasser in seinen Wein gießen“ (Nimm dieselbe Kohlsuppe, aber verdünne sie erst ein wenig). Wenn wir — statt mit großer Sicherheit und hochmütiger Miene Ratschläge zu erteilen, die wir in dem Tone eines Menschen vorbringen, dem es nie in den Sinn kommt, daß er sich irren könnte — schlicht und bescheiden unsere Meinung vortragen, können wir sicher sein, daß unsere Gedanken von vielen Lesern beifällig aufgenommen und weiterverbreitet werden. Kurz, was nicht hineingehört, mag fortfallen, das Kluge und Gescheite wird einen anderen Ausdruck finden; wo sich meine eigene Person in aufdringlicher Weise vordrängt, da soll sie nicht nur eins auf die Nase bekommen, sondern da lasse ich auch noch eine solche Stelle einschieben, durch die die vorhergehenden schon gedruckten Sätze einen maßvolleren Ton erhalten. Jedenfalls aber sollen diese Briefe mit in das Buch aufgenommen und nicht besonders veröffentlicht werden. Sie werden dem Buche trotzdem eine höhere Bedeutung verleihen und die Menschen in Rußland an Rußland erinnern und nicht an mich. Dieses Buch darf nicht zum alten Eisen geworfen werden. Obwohl es große Mängel hat, — es ist nicht auf kurze flüchtige Eindrücke berechnet. Man muß es mehrmals lesen, und das gilt nicht nur für die, die es überhaupt nicht verstanden, sondern auch für die, die es besser verstanden haben als die anderen. In diesem Buche liegen noch Geheimnisse der Seele verborgen, die nicht sofort ergründet werden können. Vieles wird selbst von sehr klugen Leuten gar nicht in dem Sinne genommen, den ich zum Ausdruck bringen wollte. Es wäre sehr schön, wenn die vollständige Ausgabe im September erscheinen könnte. Das Buch wird gekauft werden, man kann nämlich noch einiges hinzufügen, was dazu beitragen könnte, den Leuten (bis zu einem gewissen Grade) eine richtige Ansicht davon beizubringen. Geben Sie diesen Brief auch Pletnew zu lesen. Sie danken mir dafür, daß ich Ihnen (durch die Bemühungen um mein Buch) Gelegenheit gegeben habe, Pletnews herrliche Seele näher kennen zu lernen. Und ich danke Ihnen gleichfalls dafür, daß Sie mir einige Mitteilungen über ihn zukommen ließen, um derentwillen ich ihn heute noch weit mehr liebe und seine Freundschaft noch weit höher schätze als je zuvor. Diese Freundschaft hat mir Gott geschenkt, gleich einem schönen milden Trost, dessen ich in diesen Zeiten so sehr bedarf. Ich kann nicht sagen, mit welcher Freude ich ihn jetzt umarmen, was ich dafür geben würde, wenn ich ihn jetzt sehen, persönlich mit ihm sprechen und ihn an meine Brust drücken könnte. Doch nun umarme ich ihn und Sie aufs herzlichste, mein unschätzbarer Arkadij Ossipowitsch; und indem ich Ihnen vielmals für Ihre lieben Zeilen danke, bleibe ich Ihr

Gogol.

P. S. Ich begreife nicht, warum bisher noch keines von den Büchern eingetroffen ist, die, wie Sie sagen, an mich abgesandt worden sind. Alle andern erhalten durch den Kurier die schönsten Sachen zugestellt; sogar Buchweizengrütze, Wjisiga[1] und Kaviar zu Fischpasteten; nur ich erhalte nichts, nicht einmal ein Zeitungsblättchen.

Vergessen Sie nicht, mir den Empfang dieses Briefes zu bestätigen. Senden Sie bitte von nun ab alles nach Frankfurt an Schukowski und zwar senden Sie es durch unsere Botschaft an ihn.

Über den „Zeitgenossen“
(Sowremennik)
Ein Brief an P. A. Pletnew

Den 4. Dez. 1846.

Endlich komme ich dazu, mit dir über den „Zeitgenossen“ zu sprechen. „Der Zeitgenosse“ war eine schlechte Zeitschrift trotz des vortrefflichen Ziels, das du mit ihm im Auge hattest. Selbst dieses schöne Ziel, um dessentwillen du ihn gegründet hast, war aus der Zeitschrift für niemand klar und deutlich zu erkennen; im Gegenteil, alle Leute fragten betroffen: „Erklären Sie mir bitte, warum und zu welchem Zwecke gibt Pletnew seine Zeitschrift heraus? Was will er damit sagen? Was wollen diese Gemeinplätze in seinem Programm bedeuten, diese vielen Wiederholungen über Unparteilichkeit, seine uneigennützige Liebe zur Kunst, sein Streben nach Wahrheit usw., diese Versprechungen, die jeder Journalist macht und doch keiner hält?“ Der magere Inhalt dieser dünnen Büchlein, der leblose, gleichgültige, matte, verwaschene Stil, in dem seine Urteile über alles Moderne gehalten sind, gibt allen ein Rätsel auf: warum heißt die Zeitschrift „Der Zeitgenosse“? Wir wollen ganz offen miteinander sein. Dir fehlt die journalistische Begabung: weder besitzt du genug lebendige jugendliche Begeisterung für alle modernen Bewegungen, noch jene gespannte Neugierde für alle Fragen, die die große Masse unserer Gesellschaft beschäftigen, noch endlich jenen enzyklopädischen Wissensdrang, jenes Streben, alles mit dem gleichen Interesse zu umfassen, was sich auf den Fortschritt des menschlichen Wissens auf allen Gebieten bezieht. Deiner anthologischen Seele ward nur eine hohe Gabe zuteil — sich an dem Wohlgeruch der herrlichen Blüten, die im Garten der Poesie wachsen, zu ergötzen und die höchsten Regungen der Menschenseele zu verstehen. Der Sänger des „Münnich“ und einiger anderer schöner Elegien, die von der Reinheit des Geschmacks und der stillen bescheidenen Seele des Dichters zeugen, hätte die polemische Arena meiden sollen. „Der Zeitgenosse“ war selbst unter Puschkin nicht das, was eine rechte Zeitschrift sein soll, obwohl sich Puschkin ein viel positiveres und leichter zu verwirklichendes Ziel gesteckt hatte. Er wollte eine Vierteljahrsschrift nach Art der englischen Zeitschriften schaffen, in der durchdachtere und gründlichere Abhandlungen zum Abdruck kommen sollten als in den Wochen- und Monatsschriften, wo die Mitarbeiter zur Eile gedrängt werden und nicht einmal soviel Zeit haben, das, was sie selbst geschrieben haben, noch einmal durchzusehen. Übrigens war sein Wunsch, eine solche Zeitschrift herauszugeben, nicht allzu lebhaft, und er selbst versprach sich nicht viel Nutzen davon. Als er die Erlaubnis zur Herausgabe der Zeitschrift erhielt, wollte er zuerst sogar zurücktreten. Die ganze Schuld fällt auf mich: ich flehte ihn an, seinen Plan doch auszuführen. Ich versprach ihm meine dauernde Mitarbeit. In meinen Aufsätzen fand er vieles, was einer periodischen Zeitschrift einen lebendigen journalistischen Charakter verleihen konnte, woran es ihm selbst seiner Meinung nach mangelte. Er hatte zu jener Zeit tatsächlich eine solche Reife erlangt und stand schon zu hoch, als daß er noch ein solch jugendliches Gefühl in sich hätte bergen können: meine Seele aber war damals noch jung; ich konnte mir damals noch vieles stark zu Herzen nehmen, was ihn kalt ließ. Mein hartnäckiges Zureden und mein Versprechen, tätig mitzuwirken, überzeugte ihn; aber ich hätte mein Wort doch nicht halten können, selbst wenn er am Leben geblieben wäre. Ich wußte noch nicht, welche Wege mich die Vorsehung führen würde, ich wußte nicht, daß ich einmal alle Kräfte und Fähigkeiten für jede lebendige literarische Betätigung verlieren und lange Zeit für alles absterben würde, was den Menschen von heute bewegt. Nach Puschkins Tode widmetest du dich, aufs tiefste erschüttert durch diesen für alle so schmerzlichen Verlust, der für dich noch weit schmerzlicher war als für alle anderen, mit Eifer der Herausgabe der Zeitschrift. Die Erkenntnis, daß die moderne Gesellschaft verwaist und des Lichts der Poesie beraubt zurückgeblieben und dazu verurteilt sein sollte, nichts wie törichte und unfruchtbare Diskussionen und Streitereien über die Kunst anzuhören, statt sich an den Werken der Kunst selbst zu erfreuen, machte einen starken Eindruck auf dich; und tief betrübt über diese Vereinsamung und Leere, die sich übrigens schon zu Puschkins Zeiten der Gesellschaft bemächtigt hatte, übernahmst du die Redaktion und nun wolltest du mit Gewalt jenes poetische Hellas errichten, das zu Beginn der Puschkinschen Ära ganz von selbst emporgeblüht war. Im Eifer deiner hochherzigen Begeisterung vergaßt du sogar, daß nicht wir die Dinge und die Ereignisse lenken, sondern daß eine höhere Macht jedem Ding seinen Platz anweist. Du merktest nicht einmal, daß du ein Ziel im Auge hattest, das sich durch die Herausgabe periodisch erscheinender Monatsschriften nie und auf keine Weise erreichen ließ. „Der Zeitgenosse“ hätte als Zeitschrift nicht einmal dann einen Erfolg gehabt, wenn du alle Eigenschaften eines guten Journalisten in dir vereinigt hättest. Ich muß gestehen, ich kann es mir nicht einmal vorstellen, was das Erscheinen einer neuen Zeitschrift zu einer Notwendigkeit für unsere Epoche machen sollte. Eine solche enzyklopädische Heranbildung und Erziehung des Publikums mit Hilfe einer Zeitschrift ist heute bei weitem kein so dringendes Bedürfnis mehr wie früher. Das Publikum ist schon weit besser vorbereitet. Heute drängt uns alles zu einem konzentrierten Studium; nicht nur die Bedeutsamkeit der modernen Probleme, nein selbst die Hohlheit der modernen Gesellschaft und die oberflächliche Leichtfertigkeit, mit der sie ihre Angelegenheiten behandelt, scheinen den Menschen von heute dazu aufzufordern, strenge Einkehr in sich selbst zu halten, seine Kräfte und seine Fähigkeiten genauer zu prüfen und sich eine Aufgabe, ein Ziel zu wählen, und zwar kein flüchtiges Augenblicksziel, sondern eine lebensvolle, reiche und große Aufgabe, die allein den Fähigkeiten entspricht, die jedem von uns je nach seiner Wesensart schon bei seiner Geburt geschenkt wurden. Keine einzige Zeitschrift vermag heute dem Publikum eine wirklich nahrhafte und substantielle Kost vorzusetzen. „Der Zeitgenosse“ sollte gänzlich auf den Namen einer Zeitschrift verzichten; statt in Heftform sollte er wie ehedem in gedrängter Buchform erscheinen und noch mehr als zu Puschkins Zeiten den Charakter eines Almanachs annehmen; er sollte eher etwas Ähnliches darstellen wie die „Blumen des Nordens“ des Barons Delwig, dem du durch dein Verständnis für den Wohllaut der Poesie und deine Fähigkeit, dich an ihr zu erfreuen und sie intensiv zu genießen, so sehr gleichst. Es ist weit besser, er erscheint bloß dreimal im Jahr zu ganz bestimmten Terminen: das erstemal zu Ostern, als eine heitere Festgabe, das zweitemal zum ersten Oktober, d. h. zu einer Zeit, wo bei uns alles vom Lande und aus der Sommerfrische in den Städten zusammenströmt, und das drittemal zu Neujahr; kurz — er sollte stets gerade zu solchen Zeiten erscheinen, wo sich alles mit dem größten Heißhunger auf ein neues Buch stürzt. Alles, was im eigentlichen Sinne dieses Worts den Charakter der Journallektüre trägt, muß wegbleiben: alle Berichte über Tagesneuigkeiten, jegliche politischen Nachrichten oder Anzeigen sämtlicher neuen Bücher; höchstens darf der Band einen ernsten kritischen Bericht über die bedeutsamsten Werke enthalten, die während eines Jahrdrittels erschienen sind, und zwar nur einen solchen Bericht, der selbst einen bedeutsamen literarischen Aufsatz darstellt. Der Leser darf nie daran erinnert werden, daß es irgendwelche Streitigkeiten und Parteiungen in der Literatur und daß es etwas wie eine Zeitschriftenpolemik gibt. Nur ganz konzentrierte Artikel, die eine Frage allseitig behandeln und keinerlei Ähnlichkeit mit den übereilten hastigen und fragmentarischen Produkten unserer Zeitschriftenliteratur haben, dürfen aufgenommen werden. Nur die schönsten Blüten unserer modernen literarischen Produktion dürfen hier vereinigt sein. Das aber läßt sich nur in einer Zeitschrift erreichen, die nicht mehr als dreimal jährlich zur Ausgabe gelangt: denn in drei Monaten kann man ganz gut ein Buch zusammenstellen.

Unserer Zeit mangelt es Gott sei Dank nicht an Talenten. Der prosaische Teil des Jahrbuchs kann heute viel bedeutsamer und reichhaltiger gestaltet werden als früher. Ich will hier ausdrücklich die modernen Schriftsteller anführen, deren Aufsätze unserm „Zeitgenossen“ zur Zierde gereichen würden. Vor allem müssen wir da den Grafen Sollogub nennen, der heute ohne allen Zweifel unser bester Erzähler ist. Niemand darf sich heute einer solchen korrekten, gewandten und eleganten Sprache rühmen wie er. Sein Stil ist treffend, jeder seiner Ausdrücke und jede seiner Wendungen ist prägnant und von einem feinen Anstandsgefühl erfüllt. Er hat einen großen Scharfsinn, Beobachtungsgabe und ist über alles unterrichtet, was heute unsere höheren Gesellschaftskreise beschäftigt. Nur eins mangelt ihm: die Seele dieses Dichters hat sich noch nicht mit einem strengeren ernsteren Inhalt erfüllt, und er ist durch seine inneren Erlebnisse noch nicht darauf hingeführt worden, sich eine ernstere und klarere Ansicht vom Leben zu erwerben. Käme noch solch ein innerliches Erlebnis bei ihm hinzu, dann könnte er ein treuer Schilderer unserer besten Gesellschaftskreise werden; seine Werke würden um mehr als hundert Prozent an Bedeutsamkeit gewinnen. —

Gleich nach ihm müssen wir einen anderen Schriftsteller nennen, der sich unter dem fingierten Namen: Kosak Luganski verbirgt. Er ist kein Poet, ihm fehlt die Erfindungsgabe, ja er hat nicht einmal den Wunsch, wahrhaft produktive Schöpfungen hervorzubringen: er sieht stets nur die Sache und betrachtet jedes Ding rein sachlich. Ein starker, durchaus solider Verstand spricht aus jedem seiner Worte, und eine scharfe Beobachtungsgabe und ein angeborener Scharfsinn verleihen seinem Stil eine große Lebendigkeit. Bei ihm ist alles wahr und unmittelbar aus der Natur geschöpft. Er braucht keinen Knoten zu schürzen und ihn dann wieder zu lösen, worüber sich die Romanschreiber so sehr die Köpfe zerbrechen, er braucht nur irgendeine Begebenheit herauszugreifen, die sich in russischen Landen ereignet hat, einen beliebigen Vorgang, den er miterlebt hat und dessen Augenzeuge er war, um daraus eine äußerst interessante Erzählung zu gestalten. Meiner Ansicht nach ist er weit bedeutender als sämtliche Erzähler von großer Erfindungsgabe. Vielleicht bin ich parteiisch in meinem Urteil, weil dieser Schriftsteller mehr als irgendein anderer meinem persönlichen Geschmack und den eigentümlichen persönlichen Forderungen, die ich an einen Erzähler stelle, entgegenkommt; aus jeder Zeile von ihm schöpfe ich Belehrung und neue Kenntnisse, da sie mich das russische Leben und das Wesen unseres Volkes besser kennen lehren; jedoch was mir wohl jeder zugeben wird, ist dies, daß ein solcher Schriftsteller uns allen gerade jetzt sehr nützlich sein kann, ja daß er eine Notwendigkeit für uns ist. Seine Werke sind ein lebendiger und getreuer statistischer Bericht über Rußland. Alles, was er aus seinem umfassenden Gedächtnis schöpft und was er uns in seiner wahrheitsgetreuen Sprache erzählt, wird ein wertvoller Beitrag für deinen Almanach sein.

Ich weiß nicht, warum N. Pawlow so gänzlich verstummt ist, ein Schriftsteller, der sich durch seine drei ersten Erzählungen sofort ein Anrecht auf einen Ehrenplatz unter unseren Prosaschriftstellern erworben und sich bloß dadurch geschadet bat, daß er es vorzog, nicht mehr er selbst zu sein, sondern auf den Einfall kam, (in seinen drei neuen Erzählungen) jene neuen Novellisten nachzuahmen, die doch so viel tiefer stehen als er. Er brauchte nur, ohne zu irgendwelchen gewaltsamen poetischen Einfällen oder zu künstlichen mosaikartigen Ausschmückungen des Stils, die seine klare edle Sprache so verunstalten, seine Zuflucht zu nehmen, er brauchte statt dessen nur aufs Geratewohl ein beliebiges psychologisches Phänomen unserer Gesellschaft herauszugreifen und es in seiner treffenden und gescheiten Art wiederzuerzählen, um eine Novelle mit allen Eigenschaften jener strengen klassischen Schöpfungen zu schaffen, die zu den ewigen Vorbildern der Literatur gehören.

Mancherlei Vorzüge hat meiner Ansicht nach auch ein Schriftsteller, dessen Werke unter dem Namen Kulisch erscheinen. Sein blühender Stil und seine große Kenntnis der Sitten und Bräuche Kleinrußlands sprechen dafür, daß er ganz vorzüglich dafür geeignet wäre, eine Geschichte dieses Landes abzufassen. Auch hätte er sicherlich in noch höherem Grade die Befähigung, frische und lebensvolle Aufsätze für den Almanach zu schreiben und uns schlicht und einfach von den Sitten und Bräuchen der alten Zeiten zu erzählen, ohne diese Schilderungen in den Rahmen einer Novelle oder einer dramatischen Erzählung hineinzustellen, ganz ähnlich wie uns einstmals Kornilowitsch von dem Zeitalter Peters und von der vorhergehenden Epoche erzählt hat. Sein Roman hat recht interessante Partien, als Ganzes ist er jedoch matt und langweilig; die kostbaren Perlen: sein großes historisches Wissen, die gediegenen Kenntnisse, die über alle Seiten des Werkes verstreut sind, gehen gänzlich verloren, ohne irgendeinen Nutzen zu bringen.

Man hat mir gesagt, daß die Novelle bei uns in der letzten Zeit im allgemeinen einen großen Erfolg habe und daß einige junge Schriftsteller eine besondere Neigung zur Beobachtung des wirklichen realen Lebens an den Tag legten. In den Werken, die ich zu lesen Gelegenheit hatte, konnte ich in der Tat eine ähnliche Tendenz konstatieren, obwohl der Aufbau dieser Novellen mir außerordentlich primitiv und ungeschickt vorkam; die Form der Erzählung erschien mir übertrieben und allzu wortreich, und dem Stil mangelte es an der rechten Einfachheit. Aber ich bin überzeugt: wenn in jedem dieser Schriftsteller erst einmal der Mensch, die Persönlichkeit — und zwar noch vor dem Schriftsteller — zum Durchbruch gekommen ist — daß sich dann alles andere ganz von selbst ergeben, daß jeder von ihnen eine starke schriftstellerische Eigenart bekunden, und daß keiner dieser Fehler mehr an ihnen zu bemerken sein wird. Ich muß hier noch des Schriftstellers gedenken, der seine literarische Wirksamkeit mit dem Drama „Der Tod Ljapunows“ begonnen hat. Diesem Drama fehlt es im Aufbau des Ganzen zwar noch an der vollen szenentechnischen und dramatischen Reife, über die nur ein erfahrener Bühnenschriftsteller verfügt, allein es besitzt viele Vorzüge, die in seinem Schöpfer einen Schriftsteller von hervorragender Bedeutung ahnen lassen. Das Vergangene so lebendig miterleben und in einer so lebensvollen Sprache von ihr künden zu können — das ist eine große Gabe! An seiner Stelle würde ich mich förmlich in die alten Chroniken vergraben, mich ganz an ihnen festsaugen und diese Lektüre keinen Augenblick im Stiche lassen. Ihnen könnte er viele herrliche Stoffe entnehmen. Wer weiß, vielleicht würde ihn eine solche Lektüre auf den vortrefflichen Gedanken bringen, eine wahrheitsgetreue Geschichte der Zeit zu schreiben, die sein Interesse am meisten fesseln würde. Ein echt historisches Werk, aus der Feder eines Schriftstellers, der sich so stark in die historischen Charaktere einzufühlen vermag, ein Werk, das so lebendig und farbig geschrieben ist, ist weit wertvoller als alle historischen Dramen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch etwas von den jungen Schriftstellern sagen, die ihre Laufbahn erst beginnen. Ich wünschte, du suchtest Prokopowitsch auf und könntest ihn dazu veranlassen, doch zur Feder zu greifen und sich im erzählenden Genre zu versuchen. Von allen denen, die mit mir zusammen die Schule besucht haben und zu gleicher Zeit mit mir zu schreiben begannen, zeigte er weit früher als alle anderen ein großes Talent für eine anschauliche Darstellungsweise, getreue Lebensschilderung und eine starke Beobachtungsgabe. Seine Prosa hatte etwas Munteres und Freies; alles kam bei ihm ungezwungen heraus und strömte ihm in reicher Fülle zu; alles gelang ihm ohne große Anstrengung, aus allem schien hervorzugehen, daß er einmal ein äußerst fruchtbarer Romanschriftsteller werden würde. Ich weiß wohl, er ist heute verstummt, er hat den Drang nach einer ausgebreiteten freien Tätigkeit in sich einschlafen lassen, sein Wirkungskreis hat sich verengt, und es liegt kaum noch ein weites Feld für die Beobachtung des Lebens vor ihm. Aber das Leben bleibt überall das gleiche Leben, und je geringer der Raum, je enger der Kreis ist, in dem es sich ausbreiten kann, um so gründlicher und tiefer können wir gerade dies Stück Leben erforschen und durchdringen. Sogar die Geschichte unserer Seele, die unser Erwachen aus einer totenähnlichen Erstarrung zum Gegenstand hat, ein Erwachen, angesichts dessen der Mensch mit Entsetzen auf sein in so tierischer Weise vergeudetes Leben zurückblickt, kann einen herrlichen Stoff für einen Roman abgeben ... Was für ein Festtag wäre das für meine Seele, wenn ich einmal im „Zeitgenossen“ eine Novelle fände, unter der sein Name stünde! Was endlich mich selbst angeht, so kann ich nach wie vor kein fleißiger und eifriger Mitarbeiter an deinem „Zeitgenossen“ sein. Du hast schon selbst bemerkt, daß man mich nicht einen Schriftsteller im strengen klassischen Sinne nennen kann. Von all den jungen Leuten, die zugleich mit mir und noch während unserer Schulzeit zu schriftstellern begannen, zeigte ich in weit geringerem Grade als alle anderen jene Fähigkeiten, die die notwendigen Vorbedingungen jedes literarischen Schaffens sind. Ich will dir gestehen, daß selbst in meinen frühsten Projekten und in meinen Träumen von einer künftigen Tätigkeit nie der Gedanke an die Schriftstellerlaufbahn auftauchte. Ich wurde fast wie durch einen Zufall darauf gestoßen. Ich hatte einige Beobachtungen über einzelne Seiten des Lebens gemacht, deren ich für meine inneren geistigen Angelegenheiten bedurfte, die mich von jeher aufs lebhafteste beschäftigten, und sie gaben den Anlaß dazu, daß ich zur Feder griff und beschloß, dem Leser voreilig alles das mitzuteilen, was ich ihm erst später, d. h. nach Vollendung meiner eigenen Erziehung hätte mitteilen sollen. Ich mußte mir alles unter großen Mühen erringen, was einem geborenen Schriftsteller mühelos zuteil wird. Bis auf den heutigen Tag will es mir nicht gelingen, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, die rechte Form für meine Sprache und meinen Stil, diese beiden wichtigsten Werkzeuge jedes Schriftstellers, zu finden: bis auf den heutigen Tag sind beide noch so ganz roh und formlos, wie bei keinem Schriftsteller, nicht einmal bei einem von den schlechten, so daß selbst ein Anfänger, ein Schuljunge das Recht hat, sich über mich lustig zu machen. Alles, was ich geschrieben habe, ist nur von psychologischer Bedeutung, kann aber nie als Muster schöner Literatur in Betracht kommen, und ein Lehrer würde sehr unvorsichtig handeln, wenn er seinen Schülern den Rat geben wollte, bei mir zu lernen, wie man schreiben oder wie man die Natur schildern muß: er würde sie dazu anhalten, Karikaturen zu zeichnen. Den Beweis dafür kannst du bei einzelnen jungen und unerfahrenen Nachahmern meiner Manier finden, die gerade durch die Nachahmung weit unter das Niveau ihres eigenen Könnens herabgesunken sind und ihre Selbständigkeit und Eigenart verloren haben. Ich habe nie den Wunsch gehabt, ein Spiegel der Dinge zu sein und die uns umgebende Wirklichkeit, ganz so wie sie ist, in mir widerzuspiegeln — ein Streben, von dem ein Dichter während seines ganzen Lebens gespornt wird und das nur mit seinem eigenen Tode zur Ruhe kommt. Ich kann auch heute nur von solchen Dingen reden, die in einer nahen Beziehung zu meiner Seele stehen. Wenn ich also einmal das Gefühl habe, daß jemand meiner offenherzigen aufrichtigen Meinung bedarf und daß meine Worte einer Menschenseele den inneren Frieden zu geben vermögen, dann sollst du einen Aufsatz von mir für deinen „Zeitgenossen“ erhalten; wenn nicht — so wirst du keinen bekommen, und deswegen darfst du mir nicht zürnen.

Ich habe hier auch keinen von unseren heutigen Prosaschriftstellern erwähnt, die teils selbst mit der Herausgabe von Zeitschriften beschäftigt sind, teils an Schöpfungen abstrakteren Charakters arbeiten, die ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, Schriftsteller, die weder die Möglichkeit noch Muße genug haben, an deinem „Zeitgenossen“ mitzuarbeiten. — Diese sollst du gar nicht erst bemühen. Bei dieser Gelegenheit muß ich dich ein wenig ausschelten. Du bist im Unrecht, wenn du vielen Literaten Verständnislosigkeit und mangelnde Teilnahme für deine Zeitschrift vorgeworfen und dies auf ihre Gleichgültigkeit gegen die gemeinsame Sache, ihre mangelnde Liebe zur Kunst, ihre Geldgier usw. zurückgeführt hast. Ein jeder Mensch ist mit irgendeiner eigenen inneren Angelegenheit beschäftigt; in der Seele eines jeden geht etwas vor, gibt es Erlebnisse, die ihn von der Mitarbeit an der allgemeinen, gemeinsamen Sache abziehen; und man kann absolut nicht verlangen, daß ein anderer sein eigenes Interesse einem Lieblingsgedanken von uns und unseren Zielen zum Opfer bringen soll, denen wir nachzustreben entschlossen sind. Gott weist jeglichem seinen Weg an, der immer ein ganz anderer ist wie der, den ein anderer Mensch zurücklegen muß, und man darf nicht alle Menschen mit derselben Elle messen. Daher mußt du selbst die ablehnende Antwort und die Weigerung eines Menschen respektieren, auch dann noch, wenn er den Grund nicht angeben will, weshalb er keinen Beitrag für den „Zeitgenossen“ zu liefern vermag. Sei zufrieden mit dem, was man dir gibt. Wenn bloß die von mir namhaft gemachten Autoren dir Beiträge liefern werden, so würde dies allein schon vollauf genügen. Aber ich weiß, daß auch noch andere, die ich nicht genannt habe, dir welche zur Verfügung stellen werden. Im Gegensatz zu den Menschen, die heute über einen Mangel an talentvollen Schriftstellern klagen, finde ich, daß es gegenwärtig weit mehr Talente gibt als je zuvor. Sie haben nur ihren Weg noch nicht gefunden. Keiner von ihnen hat es bisher verstanden, er selbst zu sein, und das ist der Grund, warum man sie nicht bemerkt; indessen viele von ihnen werden schon von diesem Wunsch gequält, obwohl sie noch nicht wissen, wie sie ihn befriedigen sollen. Das Streben, seine eigene Bestimmung kennen zu lernen, ist heutzutage der wunde Punkt, an dem viele begabte Leute kranken. Das ist der wahre eigentliche Grund der Trägheit und Tatenlosigkeit auf literarischem Gebiet.

Der poetische Teil des „Zeitgenossen“ kann gleichfalls sehr reichhaltig gestaltet werden, trotzdem im heutigen Publikum der Geschmack an der Poesie erloschen zu sein scheint; Gott sei Dank lebt der Patriarch unserer Poesie noch, — noch hat uns der Himmel ja Schukowski erhalten. Zum Dank für sein reines, makelloses Leben darf er sich allein unter uns allen noch im Greisenalter einer wahren Jugendfrische erfreuen und jugendliche Kraft zu neuen poetischen Taten in sich fühlen. Seine jetzigen Arbeiten sind weit ernster und bedeutsamer als seine früheren. Man darf ihn nicht nach jenen Verserzählungen und Märchen beurteilen, die in der letzten Zeit im „Zeitgenossen“ zum Abdruck gekommen sind. Sie konnten und sollten auch keinen Eindruck auf das Publikum machen, und es ist kein Wunder, daß das Publikum, das jedes neue Werk an seinen eigenen geistigen Bedürfnissen mißt und in ihm eine Antwort auf sein unruhiges Fragen und Sehnen sucht, diese Gedichte für eine „Kinderei“ von Schukowski erklärt hat. Sie waren tatsächlich für kleine Kinder geschrieben. Diese Märchen und Erzählungen hätten in Form eines besonderen Buches unter dem Titel „Eine Gabe für die Kinder“ von Schukowski, erscheinen sollen. Es war ein Fehler von ihm, sie einer Zeitschrift einzusenden. Ich habe ihm dies schon damals gesagt und ihm geraten, entweder gar nichts oder doch nur etwas einzusenden, was dem Empfinden eines erwachsenen Menschen entspricht. Jetzt aber weiß ich, daß er dir für den Almanach einige von den Perlen überlassen wird, die tief im Inneren seiner Seele gereift sind, in der sich während der letzten Zeit soviel Herrliches ereignet hat. Noch leben Gott sei Dank zwei andere von unseren erstklassigen Dichtern: Fürst Wjasemski und Jasykow. Sie können den „Zeitgenossen“ mit neuen Tönen bereichern, wie man sie von ihnen noch nicht vernommen hat — mit Tönen, die aus einem gequälten, gepreßten Herzen hervorströmen, mit Liedern, die aus der Seele selbst kommen, einer Seele, die sich bereits mit dem strengen Gehalt der Poesie erfüllt hat.

Die jüngeren von unseren Dichtern, die erst in jüngster Zeit aufgetreten sind und die ich hier nicht mit Namen nenne, haben zwar bisher nur eine gewisse Begabung für eine wohllautende, leichte und elegante Verskunst an den Tag gelegt, aber noch nicht gezeigt, daß sie echte und wahre Gefühle besitzen, allein auch sie können poetische Saiten anschlagen, die unserem Empfinden näher liegen. Die Poesie ist die reine Manifestation, die Offenbarung der Seele und nicht ein künstliches Erzeugnis oder Produkt des menschlichen Wollens; die Poesie ist die Wahrheit der Seele und kann daher allen in gleicher Weise zugänglich und verständlich sein. Die Schöpferkraft, die Dichtergabe ist eine sehr hohe Gabe und wird nur den universellen Genies verliehen, die nur ganz selten auf der Erde erscheinen; für einen anderen ist es gefährlich, diesen Weg zu betreten. Selbst von den erstklassigen Talenten sanken viele unter ihr eigenes Niveau herab, wenn sie sich in die Sphäre der reinen Erdichtung wagten, während sogar geringe Talente sich hoch über sich selbst erhoben, wenn sie durch ihre eigenen seelischen Erlebnisse dazu veranlaßt wurden, lediglich die reine nackte Wahrheit ihres geistigen Erlebens darzustellen. Die Zeit rückt immer näher, wo der Drang nach einer inneren Seelenbeichte immer lebhafter und lebhafter werden wird. Selbst die, die nicht einmal daran denken, daß sie Dichter sein könnten, werden Töne wahrer Poesie erklingen lassen; viele herrliche Blumen, viele kostbare Schätze werden dir von allen Seiten für deinen „Zeitgenossen“ zufließen. Du selbst, der du die Leier schon längst beiseitegelegt und vergessen, der du es schon lange nicht mehr versucht hast, ihr einen Ton zu entlocken, du selbst wirst von neuem zu ihr greifen. Du hast doch sicherlich in dieser Zeit auch nicht wenig schmerzliche Augenblicke und manchen Kummer erlebt, von dem niemand etwas erfahren hat; auch deine Seele wurde sicherlich von dem Verlangen verzehrt, sich jemand mitzuteilen und sich auszusprechen, sie hat sicherlich nach einem Freunde gesucht, der Verständnis für all ihre Bitternisse hätte; da sie ihn nicht finden konnte, hat sie sich sicherlich an jenes uns allen verwandte und vertraute Wesen gewandt, das es allein versteht, den Trauernden und Bekümmerten liebevoll an seinen Busen zu ziehen, jenes Wesen, an das sich schließlich alles wendet, was da lebt. Nun denn, so denke an alle diese Augenblicke, sowohl an die des Kummers, wie an die der höheren Tröstung, die auf dich herabgesandt wurde; nun denn, so finde einen Ausdruck für sie, stelle sie recht und wahrhaft dar, wie du sie erlebt hast. Die Tränen der Rührung und die innigsten Gefühle eines dankbaren Herzens werden dir dabei zu Hilfe kommen und es dir ermöglichen, sie mit solcher Kraft zum Ausdruck zu bringen, wie dies selbst ein großer, alle Zauberkünste der Dichtung beherrschender Poet, der jedoch den wahren Schmerz noch nicht kennen gelernt hat, nie vermöchte. Dann wird der „Zeitgenosse“ seinen Namen rechtfertigen, aber freilich in einem anderen — höheren Sinne: er wird allen höchsten Augenblicken, allen höchsten Empfindungen der russischen Schriftsteller und Menschen Genüge tun. Dann wird er sich auch dem eigentlichen Ziele weit mehr nähern, das deinem Geiste unklar und entfernt vorschwebte; er wird alle Schriftsteller zu einem ästhetischen Bund voll herrlicher brüderlicher Liebe vereinen. In ganz Rußland vermagst nur du so ein Wagnis zu unternehmen und eine solche Zeitschrift zu schaffen, weil du allein den Gedanken an sie fortwährend in dir genährt hast; nur du hast keine pekuniären Interessen im Auge gehabt und an keinen Lohn für deine Arbeit gedacht; nur du hast ganz unbewußt eine reine, kindliche Liebe zur Kunst in dir gehegt, die dich unseren besten Dichtern entfremdete und die die Kunst zu deiner eigensten, vertrautesten Herzens- und Familienangelegenheit machte. Folglich kann auch nur dir eine solche Zeitschrift anvertraut werden. Sie muß glänzend ausgestattet sein; sie muß eine in jeder Beziehung kostbare und wertvolle Gabe darstellen: der Druck muß so schön und vornehm wie nur möglich, die Bücher müssen mit den schönsten Stichen und Vignetten, die bei uns in Rußland hergestellt werden können, geschmückt sein (damit mußt du russische Graveure beauftragen und keine Ausländer heranziehen). Das Format der Bände mußt du nicht zu groß wählen, es sollte nur ein wenig größer sein als das der „Blüten des Nordens“, kurz, das Werk muß seinem inneren Wert und seiner äußeren Ausstattung nach den Eindruck eines kostbaren Gegenstandes machen. Das alles aber vermagst nur du zu bewerkstelligen; denn da du nicht die Absicht hast, die Einkünfte davon für deine eigenen Bedürfnisse und deinen Unterhalt zu verbrauchen, kannst du alles darauf verwenden, das Werk möglichst schön auszustatten und hierdurch unseren armen Künstlern, die häufig bitteres Elend leiden müssen, Gelegenheit geben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Und nun gehe, wenn alles, was ich dir hier gesagt habe, deinen Beifall hat, in Gottes Namen an die Arbeit, stelle zunächst einmal das erste Buch des „Zeitgenossen“ zusammen und sorge dafür, daß es am kommenden Osterfeste des Jahres 1847 erscheinen kann; meinen Brief kannst du als ersten Aufsatz, als Programm oder als Einleitung zu dem Bande abdrucken. Vorher aber gib ihn allen denen zu lesen, von denen du einen Aufsatz haben möchtest. So matt und flüchtig er auch geschrieben sein mag, ich bin trotzdem davon überzeugt, daß ein jeder, der ihn lesen wird, mit dir und mir darin übereinstimmen wird, daß ein solches Werk eine Notwendigkeit für Rußland ist, und er wird dir sicherlich die beste seiner Arbeiten zur Verfügung stellen. In den Zeitungen brauchst du es nur mit wenigen Worten anzukündigen und zwar brauchst du nur zu erwähnen, — daß vom „Zeitgenossen“ dreimal im Jahre, zu den oben angeführten Terminen, je ein Band erscheinen werde; füge nur noch die Namen der Autoren hinzu, deren Aufsätze zum Abdruck kommen sollen — das wird vollständig genügen. Alles übrige — der Gehalt und die Bedeutung der Aufsätze sowie die Pracht und Schönheit der Ausstattung — mag für jeden Leser eine angenehme Überraschung sein.

Die Beichte des Dichters

Alle sind sich darüber einig, daß noch nie ein Buch soviel Aufsehen gemacht und zu so verschiedenen Meinungen und Deutungen Anlaß gegeben hat, wie die „Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden“. Und was das merkwürdigste ist, was bisher vielleicht in der Literatur noch niemals passiert ist, der Gegenstand dieses Geredes und dieser Kritiken war nicht das Buch selbst, sondern sein Autor. Jedes Wort wurde mit Mißtrauen und Argwohn analysiert, und alle Leute wetteiferten miteinander, die wahre Quelle aufzudecken, aus der es herstammte. An dem lebenden Körper eines noch lebenden Menschen wurde jene furchtbare anatomische Sektion vollzogen, bei der selbst ein Mensch von starker Konstitution in kalten Schweiß ausbricht. So erschütternd und kränkend jedoch für einen vornehm denkenden und anständigen Menschen viele von diesen Schlüssen und Folgerungen auch sein mochten, ich nahm dennoch alle die schwachen Kräfte, über die ich verfügte, zusammen, ich beschloß, alles zu ertragen, mir dies Erlebnis wie einen Wink von oben zunutze zu machen — und strenge Einkehr in mich selbst zu halten. Auch hierüber habe ich nie eine Meinung, einen Rat, einen Tadel oder einen Vorwurf geringgeachtet und verschmäht, denn ich überzeugte mich mit der Zeit immer mehr, daß, wenn der Mensch einmal alle jene empfindlichen Saiten in sich vernichtet hat, die ihn zum Zorn und Ärger geneigt machen, und wenn er sich erst einmal die Fähigkeit erworben hat, alles ruhig anzuhören, er dann jene Stimme der rechten Mitte vernehmen muß, die sich als Resultat ergibt, wenn man alle einzelnen Stimmen zusammenfügt und die Extreme auf beiden Seiten in Erwägung zieht, kurz, ich meine jene Stimme der rechten Mitte, von der es heißt: „Volkes Stimme — Gottes Stimme“ und nach der alle suchen. Aber obwohl viele Vorwürfe, die gegen mich gerichtet wurden, meiner Seele wirklich heilsam waren, diese Stimme der Mitte konnte ich diesmal nicht vernehmen, und ich vermag nicht zu sagen, welche Wendung die Sache genommen und welches Urteil man über mein Buch zu fällen beschlossen hat. Wenn ich die Summe von alledem ziehe, so sind im ganzen drei verschiedene Meinungen laut geworden: nach der ersten Ansicht ist mein Buch das Produkt eines unerhörten Hochmuts, das Werk eines Menschen, der sich eingebildet hat, er stünde hoch über allen seinen Lesern, habe ein Anrecht, von ganz Rußland gehört und beachtet zu werden, und verfüge über die Kraft und die Fähigkeit, die ganze Gesellschaft zu reformieren; nach der zweiten Ansicht ist dies Buch zwar das Werk eines guten, aber betörten Menschen, der auf Abwege geraten ist und dem das Lob und der Beifall zu Kopfe gestiegen sind; der Autor habe sich gar zu sehr an seinen Vorzügen berauscht, seine Begriffe haben sich verwirrt, und so sei er vom rechten Wege abgekommen; nach der Ansicht der dritten endlich ist dies Buch das Werk eines Christen, der die Dinge im rechten Lichte sieht und jeder Sache ihren richtigen Platz anweist. Unter jeder Partei, die eine dieser Ansichten vertritt, befinden sich gleichermaßen gescheite und aufgeklärte Leute, wie auch gläubige Christen. Folglich kann keine der Ansichten, die sicherlich alle einen Teil der Wahrheit enthalten, — völlig wahr sein. Am richtigsten wäre es noch, dies Buch einen treuen Spiegel des Menschen zu nennen. Dieses Buch hat das zum Inhalt, was in jedem Menschen verborgen liegt: vor allem das Streben nach dem Guten, dem das Buch selbst entsprungen, und das in jedem Menschen lebendig ist, wenn er erst einmal erfahren hat, was das Gute ist; ferner eine aufrichtige Erkenntnis seiner Fehler und daneben eine hohe Einschätzung seiner Vorzüge; ein ehrliches Verlangen, von andern Menschen zu lernen, und daneben die feste Überzeugung, daß auch die anderen viel von ihm lernen können; Demut und Bescheidenheit, daneben aber auch Stolz, ja vielleicht sogar ein gewisser Demutsstolz; Vorwürfe wider andere Leute wegen solcher Dinge, an denen man selbst zu Fall gekommen ist und für die man noch weit heftigere Vorwürfe verdiente — kurz alles, was man in der Seele jedes Menschen finden kann, nur mit dem Unterschiede, daß hier alle Formen und Konventionen abgestreift sind, und daß alles, was der Mensch in seinem Inneren verschließt, nach außen gekommen ist, sowie ferner mit dem Unterschied, daß sich dies alles in weit wilderer und lauterer Weise äußert und förmlich zum Himmel schreit, eben wie in einem Schriftsteller, in dem sich alles, was seine Seele erfüllt, nach außen und ans Licht drängt; es tritt allen Leuten viel klarer und deutlicher vor Augen, eben wie bei einem Menschen, dem größere Gaben und Fähigkeiten verliehen sind als anderen Leuten. Kurz, dies Buch ist nur ein Beweis für die ewige Wahrheit der Worte des Apostels Paulus, der da gesagt hat: der ganze Mensch ist eine einzige Lüge.

Zu diesem Schluß jedoch, der sich vielleicht der Wahrheit am meisten nähert, ist niemand gekommen, weil der feierliche Ton des Buches und seine ungewohnte Sprache alle mehr oder weniger verwirrt hat und niemand das richtige Verhältnis zu ihm finden ließ. Als ich dies Buch schrieb, stand ich unablässig unter dem Druck einer Todesfurcht, die mich während der ganzen Zeit meines Krankseins verfolgte, selbst dann noch, als ich mich außer jeder Gefahr befand. So kam es, daß ich ganz unmerklich in einen mir sonst ganz fremden Ton verfiel, der einem noch lebenden Menschen durchaus nicht ansteht. In meiner Angst, ich könnte vielleicht das Werk nicht mehr vollenden, das während zehn Jahren alle meine Gedanken beschäftigte, beging ich die Unvorsichtigkeit, schon im voraus von solchen Dingen zu reden, die ich durch das Leben der Helden eines epischen, erzählenden Kunstwerks hätte beweisen sollen. So verwandelten sich meine Gedanken in eine recht unpassende Predigt, die sich im Munde eines Autors sehr seltsam ausnimmt, in eine Anzahl mystischer, unverständlicher Stücke, die keinen Zusammenhang mit den anderen Briefen hatten. Dazu kam schließlich noch der völlig verschiedene Ton dieser Briefe, die an Menschen von ganz verschiedenem Wesen und Charakter gerichtet und zu verschiedenen Zeiten und in ganz entgegengesetzten geistigen und seelischen Stimmungen geschrieben waren. Die einen von ihnen waren in einer Zeit verfaßt, als ich selbst zu meiner Erziehung des Tadels und der Rüge bedurfte, mir solche Rügen von anderen erbat und forderte und sie daher auch anderen erteilte; andere Briefe wieder waren zu einer Zeit geschrieben, als ich die Empfindung hatte, daß ich die Vorwürfe für mich selbst aufsparen und in meinen an andere Leute gerichteten Reden nur die brüderliche Liebe zum Worte kommen lassen sollte: so geschah es, daß häufig Milde und Schärfe fast dicht nebeneinander standen. Ferner sind viele Aufsätze, die für das Buch bestimmt waren, die einen Zusammenhang zwischen einzelnen Stücken herstellen und vieles näher erklären sollten, nicht aufgenommen worden. Dazu kommt schließlich noch meine dunkle Sprache und Unfähigkeit, mich auszudrücken, — zwei Eigentümlichkeiten eines noch nicht ganz ausgereiften und fertigen Schriftstellers —; das alles trug dazu bei, mehr als einen Leser zu verwirren und zu zahllosen falschen Schlüssen und Folgerungen Anlaß zu geben. Meinen Hochmut glaubte man gerade in solchen Sätzen zu entdecken, die vielleicht ganz anderen Motiven entsprungen waren; wo aber wirklicher Hochmut aus meinen Worten sprach, da bemerkte man ihn nicht; man nannte das Selbstverkleinerung, was nichts weniger als Selbstverkleinerung war. Aber was die Hauptsache ist, es gab keine zwei Menschen, die innerlich übereinstimmten, sowie sie an die Analyse der einzelnen Teile dieses Buches herangingen, was einzelne zu der sehr richtigen Bemerkung veranlaßte, daß ein jeder in der Beurteilung meines Buches mehr seine eigene Denkungsart, als die meine, als den Charakter meines Buches zum Ausdruck brachte. Es versteht sich von selbst, daß die Schuld ganz — auf meiner Seite ist. So kränkend daher auch all diese Angriffe und Verdächtigungen seiner persönlichen moralischen Qualitäten für einen Menschen sein mögen, in dem noch nicht jedes Ehrgefühl erstorben ist, — ich habe kein Recht, jemand deswegen anzuklagen.

Ich muß hier noch ein paar flüchtige Bemerkungen über eine Frage machen, die nicht mit meinen moralischen Qualitäten zusammenhängt. Ich war äußerst erstaunt, wenn gescheite und kluge Leute Anstoß an Worten nahmen, die doch völlig klar waren, wenn sie sich an zwei, drei Stellen klammerten und Schlüsse aus ihnen zogen, die in absolutem Gegensatz zu dem Geist des ganzen Werkes standen. Aus zwei, drei Worten, die an einen Gutsbesitzer gerichtet waren, dessen sämtliche Bauern Landwirte und von schweren Sorgen und Arbeiten in Anspruch genommen sind, den Schluß zu ziehen, daß ich gegen die Volksbildung zu Felde ziehe — das erschien mir äußerst sonderbar, um so mehr als ich mich ein halbes Leben lang mit dem Gedanken getragen habe, ein wahrhaft nützliches Buch für das einfache Volk zu schreiben, und nur deswegen davon abstand, weil ich das Gefühl hatte, man müsse sehr klug sein, um zu wissen, was man dem Volk in erster Linie vorsetzen müsse. Solange es jedoch noch keine so gescheiten Bücher gibt, wollte es mir so erscheinen, als ob das lebendige Wort der Diener der Kirche mehr Nutzen bringen könne und ein stärkeres Bedürfnis für die Bauern darstelle, als alles, was ihnen unsereiner, d. h. ein Schriftsteller, zu sagen vermag. Soweit meine Erinnerung reicht, bin ich stets für die Volksbildung eingetreten; aber es schien mir so, als ob es besser wäre, ehe man für die Bildung des Volkes sorgt, erst einmal für die Bildung der Menschen zu sorgen, die in engstem Verkehr mit dem Volke stehen, worunter das Volk oftmals zu leiden hat. Und endlich kam es mir so vor, als ob jener niedere wenig zahlreiche, heute jedoch an Zahl immer zunehmende Stand von Leuten, die aus dem Bauernstande hervorgehen, die allerhand kleine Stellen besetzen, denen es trotz ihrer allerdings geringen Bildung an der rechten moralischen Grundlage fehlt, und die daher überall nur Schaden stiften, weil sie bestrebt sind, auf Kosten der armen Leute zu leben, — es kam mir so vor, als ob dieser Stand weit mehr Anspruch auf unsere Beachtung hätte als der Bauernstand.

Dieser Stand schien mir weit mehr der Bücher zu bedürfen, die der Feder kluger Schriftsteller entstammten, d. h. solcher Schriftsteller, die Verständnis für ihre Pflichten haben und daher imstande sind, sie auch jenen Leuten klarzumachen. Unser mit Ackerbau beschäftigter Bauer dagegen schien mir stets weit sittlicher zu sein als die anderen Leute und weniger als andere der Belehrung durch die Schriftsteller zu bedürfen. Nicht weniger erstaunt war ich, als man aus einer Stelle meines Buches, wo ich sage, daß die gegen mich gerichteten Kritiken viel Wahres enthalten, den Schluß zog, ich spräche meinen Werken jegliche Vorzüge ab und stimmte nicht mit den Kritikern überein, die sich zu meinen Gunsten geäußert haben[2]. Ich erinnere mich sehr gut und habe es keineswegs vergessen, daß meine geringen Vorzüge und Verdienste Anlaß zu sehr bedeutsamen Kritiken gegeben haben, die ewige Denkmäler der Kunstliebe bleiben werden und die dazu beigetragen haben, in den Augen des Publikums den Wert und die Bedeutung dichterischer Werke zu erhöhen. Aber es hätte sich doch nicht geschickt, wenn ich selbst von meinen Vorzügen gesprochen hätte; ja und warum hätte ich das auch tun sollen? Ich habe von den Fehlern gesprochen, die mir als Literaten anhaften, weil eine psychologische Frage, die das Hauptthema meines Buches bildet, Anlaß dazu bot. Wie kann man nur so etwas nicht verstehen! Nicht weniger seltsam berührte es mich — daß man daraus, daß ich die Grundeigenschaften unseres russischen Wesens so stark betont und hervorgehoben habe, den Schluß zog, ich leugnete die Notwendigkeit der europäischen Bildung und hielt es für überflüssig, daß sich ein Russe über den ganzen schweren Weg, auf dem die Menschheit sich zur Vollkommenheit emporarbeitet, unterrichte. Früher sowohl als auch jetzt war ich immer der Meinung, ein russischer Bürger müsse über die europäischen Angelegenheiten unterrichtet sein. Aber ich war auch immer überzeugt, daß, wenn man über diesem sehr löblichen glühenden Interesse für die Fragen des Auslandes seine eigenen Grundlagen vergißt, eine solche Kenntnis der ausländischen Dinge nicht zu unserem Wohl ausschlagen, unsere Gedanken nur zerstreuen und verwirren, ihnen eine falsche Richtung geben könne, statt sie in sich zu sammeln und zu konzentrieren. Ich war von jeher davon überzeugt und bin es noch heute, daß wir unser russisches Wesen sehr gut und sehr gründlich kennen lernen müssen, und daß wir nur durch eine solche Kenntnis ein Gefühl dafür bekommen können, was wir aus Europa entlehnen und uns aneignen sollen, denn Europa selbst kann uns das nicht sagen. Mir ist es stets vorgekommen, als ob wir, noch ehe wir etwas Neues bei uns einführen, das Alte — nicht nur oberflächlich sondern gründlich und in seiner Wurzel — kennen lernen müßten; denn sonst kann selbst die wohltätigste Entdeckung der Wissenschaft nicht mit Erfolg angewendet werden. In dieser Absicht habe ich in erster Linie von dem Alten gesprochen.

Kurz, alle diese einseitigen Folgerungen gescheiter Leute, die ich überdies gar nicht für einseitig gehalten hatte, dieses Deuteln und am Worte Hängenbleiben, statt sich an den Sinn und Geist des Buches zu halten, beweisen mir nur, daß niemand sich bei der Lektüre meines Buches in einer ruhigen Gemütsstimmung befand; daß sich schon ein bestimmtes Vorurteil herausgebildet hatte, noch ehe das Buch erschienen war, und daß jedermann es bereits von einem festen vorher eingenommenen Standpunkt betrachtete; so kam es, daß alle nur das bemerkten, was sie in ihrem Vorurteil bestärkte und reizte, und an allem vorübergingen, was geeignet war, dies Vorurteil zu zerstören und den Leser zu beruhigen. Diese seltsame Gereiztheit hatte einen so hohen Grad erreicht, daß sie sogar alle Gesetze des Anstandes außer acht ließ, die man bisher einem Schriftsteller gegenüber noch zu beobachten pflegte. Man sagte es dem Verfasser beinahe ins Gesicht, daß er verrückt geworden sei, und man empfahl ihm allerlei Rezepte gegen seine geistige Zerrüttung. Ich kann nicht leugnen, daß es mich noch mehr betrübt hat, wenn ebenfalls gescheite und nicht einmal sehr erregte und gereizte Leute öffentlich in der Presse erklären, mein Buch enthalte nichts Neues, und wenn es etwas Neues darin gäbe, so sei es nicht wahr, sondern unrichtig und unwahr. Das erschien mir sehr hart. Wie es sich auch immer damit verhalten möge, das Buch enthielt meine Seelenbeichte, es war der Erguß meines Herzens und meines Inneren. Noch bin ich nicht öffentlich für einen ehrlosen Menschen erklärt worden, dem man kein Vertrauen schenken darf. Ich kann Fehler machen, ich kann mich irren wie jeder Mensch, ich kann eine Unwahrheit sagen, wie ja der ganze Mensch — eine einzige Lüge ist; aber alles, was meinem Herzen und meiner Seele entströmt ist, eine Lüge zu nennen — das ist zu hart. Das ist ebenso ungerecht wie die Behauptung, daß mein Buch nichts Neues enthalte. Die Bekenntnisse eines Menschen, der mehrere Jahre ganz für sein inneres Ich gelebt hat, nur mit sich selbst beschäftigt war, der sich selbst zu erziehen versucht hat wie einen Schüler, um sich einen wenn auch späten Ersatz für die in seiner Jugend verlorene Zeit zu schaffen, der überdies den andern Menschen nicht völlig gleicht, sondern gewisse Eigenschaften besitzt, die ihm allein angehören — die Bekenntnisse eines solchen Menschen können unmöglich so gar nichts Neues enthalten. Wie dem aber auch sei, in einer Angelegenheit, an der die Seele beteiligt ist, darf man kein so entscheidendes Urteil fällen. Einem solchen Fall gegenüber wird selbst der tiefste Seelenkenner nachdenklich werden müssen. In Angelegenheiten, die die Seele betreffen, ist es sogar schwierig, über einen gewöhnlichen Menschen zu richten. Es gibt Dinge, die sich der kühlen Erwägung, dem Räsonnement eines Menschen entziehen, selbst wenn dieser noch so klug sein sollte, und die man nur in solchen Augenblicken und in einer solchen Seelenstimmung versteht, wo unsere eigene Seele das Bedürfnis zu einer Aussprache, zu einer Beichte hat, wo sie Verlangen trägt, in sich zu gehen und nicht über andere, sondern über sich selbst Gericht zu halten. Kurz, die große Sicherheit, mit der diese Urteile gefällt wurden, schien mir von dem großen Selbstvertrauen des Urteilenden zu zeugen — von seinem stolzen Vertrauen auf seine Vernunft und die Überlegenheit seiner Ansicht. Ich sage das hier nicht deswegen, um jemand zu tadeln, sondern nur, um darauf hinzuweisen, wie wir bei jedem Schritt Gefahr laufen, in denselben Fehler zu verfallen, den wir soeben erst bei einem unserer Brüder gerügt haben; wie wir, indem wir einem anderen sein hochmütiges Selbstvertrauen zum Vorwurf machen, zugleich durch unsere eigenen Worte einen Beweis für unseren eigenen Hochmut und unser Selbstvertrauen liefern; wie wir, während wir einem anderen Intoleranz vorwerfen, zugleich selbst unduldsam und kleinlich werden. Jedenfalls zeugt es von einer vornehmen Gesinnung, wenn jemand den Mut hat, dies einzugestehen, und sich nicht schämt, öffentlich und vor allen Leuten zu erklären, er habe sich geirrt. Aber genug davon. Nicht um meine moralischen Qualitäten zu verteidigen, erhebe ich hier meine Stimme. Nein, ich halte es lediglich für meine Pflicht, auf eine Frage zu antworten, die fast einstimmig von seiten sämtlicher Leser aller meiner früheren Werke an mich gerichtet worden ist — auf die Frage nämlich: warum ich jene literarische Gattung und jene Sphäre aufgegeben habe, die ich einmal in Besitz genommen hatte und die ich beherrschte, über die ich fast Herr war, und warum ich mich einem neuen, mir fremden Genre zuwandte.

Um auf diese Frage zu antworten, habe ich mich entschlossen, offenherzig und in möglichster Kürze die ganze Geschichte meiner literarischen Tätigkeit zu erzählen, um einem jeden Gelegenheit zu geben, mich gerechter zu beurteilen. Der Leser soll sehen können, ob ich die Sphäre meines Schaffens wirklich gewechselt und ob ich auf eigene Verantwortung zu grübeln und klügeln begonnen habe, in der Absicht, meinem Schaffen eine andere Richtung zu geben; man wird anerkennen müssen, daß sich an meinem Schicksal wie an allen anderen Dingen der Eingriff Dessen offenbart, Der über die Welt gebietet, und zwar nicht immer so, wie wir dies wünschen, und gegen Den der Mensch nicht anzukämpfen vermag. Vielleicht wird meine treuherzige Geschichte wenigstens etwas davon erklären, was vielen in meinem vor kurzem veröffentlichten Buche als ein so unlösliches Rätsel erscheint. Wenn dies der Fall sein sollte, so würde mich das aufrichtig freuen, weil diese ganze merkwürdige Angelegenheit mich sehr mürbe und müde gemacht hat, und weil es mir nach diesem Wirbelsturm von Mißverständnissen sehr schwer ums Herz ist.

Ich kann nicht mit voller Bestimmtheit sagen, ob der Schriftstellerberuf mein eigentlicher Beruf ist. Ich weiß nur das eine: daß in den Jahren, als ich über meine Zukunft nachzudenken begann (und ich begann schon sehr früh über meine Zukunft nachzudenken, d. h. zu einer Zeit, als alle meine Altersgenossen nur ans Spielen dachten), daß mir damals der Gedanke, ich könnte Schriftsteller werden, nie in den Sinn kam, obwohl es mir immer so schien, daß ich noch einmal ein berühmter Mann werden könnte, daß mir ein großes weites Wirkungsfeld offen stände und daß ich einmal etwas für das allgemeine Wohl leisten würde. Ich dachte einfach, ich würde mich empordienen und dies alles würde mir durch den Staatsdienst gelingen. Daher hatte ich in meiner Jugend eine sehr starke Neigung für den Staatsdienst. Mein Kopf war beständig davon erfüllt, und alles, was ich tat und womit ich mich beschäftigte, tat ich im Hinblick darauf. Meine ersten Versuche, meine ersten dichterischen Experimente, in denen ich es während der letzten Schuljahre zu einer gewissen Fertigkeit brachte, hatten fast alle einen ernsten und lyrischen Charakter. Weder ich selbst, noch meine Schulkameraden, die sich mit mir in der Schriftstellerei versuchten, dachten je daran, daß ich einmal ein komischer und satirischer Autor werden könnte, obwohl ich trotz meiner melancholischen Naturanlage oft zum Scherzen aufgelegt war und sogar andere Leute mit meinen Späßen belästigte, und obgleich sich schon in meinen frühesten Urteilen über die Menschen eine gewisse Fähigkeit, bestimmte charakteristische Eigenheiten sowie gröbere und feinere und komische Charakterzüge, die von anderen nicht bemerkt werden, zu entdecken, bemerkbar machte. Man sagte, ich verstünde es, — ich möchte nicht sagen, die Menschen nachzuäffen oder zu parodieren, — sondern sie zu erraten, d. h. zu erraten, was ein Mensch in dieser oder jener Situation sagen würde, unter völliger Wahrung seiner Anschauungsweise, seiner Denkart sowie seiner Art, sich auszudrücken. Aber ich brachte dies alles nicht zu Papier, ja ich dachte gar nicht einmal daran, daß ich diese Fähigkeit noch einmal verwerten würde.

Die heitere fröhliche Stimmung, die sich in den ersten Schriften, die von mir im Druck erschienen, bemerkbar machte, hatte ihren Grund in einem gewissen seelischen Bedürfnis. Ich hatte oft unter Anfällen einer mir selbst völlig unerklärlichen Melancholie zu leiden, die vielleicht eine Folge meines krankhaften Zustandes war. Um mich zu zerstreuen, dachte ich mir die komischsten Dinge aus, die sich nur ersinnen lassen. Ich stellte mir komische Personen und Charaktere vor, die ich völlig aus dem Kopfe erfand, und versetzte sie in Gedanken in die komischsten Situationen, ohne mir viele Sorgen zu machen, wozu das gut sei und was für einen Nutzen das haben könne. Es war die Jugend in mir, die mich dazu veranlaßte, die Jugend, der ja noch keinerlei Fragen durch den Kopf gehen. Das ist der Ursprung meiner ersten Werke, die die einen ebensosehr zu einem sorglosen naiven Lachen reizten, wie mich selbst, während sich andere erstaunt fragten, wie einem vernünftigen Menschen nur solche Torheiten einfallen konnten. Vielleicht hätte diese Lustigkeit allmählich und zugleich mit dem Bedürfnis nach Zerstreuung aufgehört, ebenso wie meine schriftstellerische Tätigkeit. Allein Puschkin veranlaßte mich, diese Sache ernster anzusehen. Er hatte mich schon längst dazu zu überreden gesucht, ich sollte ein großes Werk in Angriff nehmen, und als ich ihm einmal den kurzen Entwurf einer kleinen Szene vorlas, der jedoch einen weit stärkeren Eindruck auf ihn machte, als alles, was ich ihm bis dahin vorgelesen hatte, sagte er zu mir: „Wie ist es nur möglich, daß Sie bei dieser Fähigkeit, den Charakter eines Menschen zu erraten und durch wenige Züge ganz vor einem erstehen zu lassen, wie er leibt und lebt, — wie ist es nur möglich, daß Sie sich bei dieser Fähigkeit nicht entschließen, ein großes Werk zu schreiben! Das ist einfach eine Sünde!“ Hierauf hielt er mir meine schwächliche Konstitution und meine körperlichen Gebrechen vor, die meinem Leben früh ein Ziel setzen könnten; er führte das Beispiel des Cervantes an, der zwar bereits früher ein paar ausgezeichnete, vortreffliche Erzählungen verfaßt hatte, jedoch niemals die Stelle unter den Schriftstellern einnehmen würde, die er heute inne hat, wenn er sich nicht entschlossen hätte, den Don Quijote zu schreiben, und schließlich trat er mir sein eigenes Sujet ab, aus dem er eine Art Poem hatte machen wollen und das er, wie er mir sagte, keinem anderen außer mir überlassen hätte. Dieser Stoff waren „Die toten Seelen“. (Die Idee zum „Revisor“ stammt gleichfalls von ihm.) Diesmal wurde auch ich ernstlich nachdenklich — um so mehr, als ich bereits in die Jahre zu kommen begann, wo man sich bei jeder Tat, die man vollbringen will, ganz von selbst die Frage vorlegt: warum und zu welchem Zweck willst du dies tun? Ich erkannte, daß ich in meinen Werken sinnlose Scherze trieb und spottete, ohne eigentlich zu wissen, wozu ich das tat. Wenn man schon spottet, so ist es doch besser, man lacht und spottet kraftvoll und über Dinge, die wirklich den allgemeinen Spott verdienen. Im „Revisor“ wollte ich alles Schlechte und Häßliche, das es in Rußland gibt, soweit es mir damals bekannt war, zusammentragen und anhäufen, alle Mißbräuche, die an allen den Stellen und in allen den Fällen vorkommen, wo gerade Gerechtigkeit und Redlichkeit vom Menschen verlangt werden, und dies alles auf einmal verspotten. Die Wirkung war bekanntlich eine furchtbare, erschütternde. Durch das Gelächter hindurch, das sich mir noch nie mit einer solchen Gewalt entrungen hatte, vernahm der Leser etwas wie Kummer und Schmerz. Ich selbst fühlte, daß mein Lachen nicht mehr das Lachen von ehedem war, daß ich in meinen Werken nicht mehr derselbe sein konnte, der ich früher war, und daß das Bedürfnis, mich durch harmlose heitere Szenen zu zerstreuen, zugleich mit meinen jungen Jahren verschwunden war. Nach dem Revisor empfand ich mehr denn je das Bedürfnis, ein umfassendes Werk zu schreiben, das mehr enthielt als lediglich Dinge, über die man lachen mußte. Puschkin fand, daß der Stoff der „Toten Seelen“ sich gerade darum so gut für mich eignete, weil er eine vortreffliche Gelegenheit bot, ganz Rußland in Gesellschaft des Helden nach allen Richtungen zu durchqueren und eine ganze Reihe völlig verschiedener Charaktere an uns vorüberziehen zu lassen. Ich ging ans Werk und fing an zu schreiben, ohne mir einen detaillierten Plan ausgearbeitet und ohne mir darüber Rechenschaft gegeben zu haben, was für ein Mensch mein Held eigentlich sein mußte. Ich dachte mir einfach, daß der komische Plan, mit dessen Durchführung Tschitschikow beschäftigt war, mir schon von selbst die Idee zu allerhand verschiedenen Personen und Charakteren eingeben und daß die Spott- und Lachlust, die sich in mir regte, schon von selbst eine Reihe von komischen Momenten und Phänomenen erzeugen würde, die ich mit rührenden Elementen mischen wollte. Aber bei jedem Schritt, den ich tat, mußte ich mir die Frage vorlegen: welchen Sinn? welchen Zweck hat das? was soll dieser Charakter zum Ausdruck bringen? was hat diese Erscheinung zu bedeuten? Es fragt sich nun: was soll man tun, wenn sich einem derartige Fragen aufdrängen? Soll man sie verscheuchen? Ich versuchte es damit; allein da erstanden Fragen vor mir, denen ich mich nicht zu entziehen vermochte. Da ich nichts von einer Nötigung empfand, meinen Helden gerade zu solch einem Menschen und zu keinem anderen zu machen, konnte ich auch keine Liebe für die Aufgabe empfinden, ihn darzustellen. Im Gegenteil, ich empfand etwas wie Ekel davor: alles kam gewaltsam und gezwungen heraus, und sogar das, worüber ich lachte, wirkte traurig und deprimierend.

Ich sah mit voller Klarheit ein, daß ich nicht mehr ohne einen ganz bestimmten und klaren Plan zu schreiben vermochte, daß ich mir erst selbst den Zweck meines Werks völlig deutlich machen, mir über seinen wirklichen Nutzen und seine Notwendigkeit klar werden müßte, was erst den Dichter mit einer starken und wahren Liebe für sein Werk erfüllt, die alles belebt und ohne die die Arbeit nicht vorwärtsschreitet — kurz, daß der Autor das Gefühl und die Überzeugung haben muß: indem er an seinem Werk arbeite, erfülle er gerade die Pflicht, die seine irdische Bestimmung ausmache, und für die ihm alle seine Gaben und Fähigkeiten verliehen seien, und indem er diese Pflicht erfülle, diene er zugleich seinem Staate, wie wenn er tatsächlich im Staatsdienst stünde. Der Gedanke an den Staatsdienst verließ mich nie. Ehe ich den Schriftstellerberuf wählte, wechselte ich mehrmals meine Tätigkeit und meine Stellung, um zu erfahren, für welchen Beruf ich mich am besten eignete, aber ich war weder mit dem Dienst noch mit mir selbst, noch mit denen zufrieden, die meine Vorgesetzten waren. Ich wußte damals noch nicht, wie viel mir dazu fehlte, um dem Staate so dienen zu können, wie ich ihm dienen wollte. Ich wußte damals nicht, daß man dazu jede persönliche Empfindlichkeit, Eitelkeit und Selbstüberhebung in sich besiegen müsse und keinen Augenblick vergessen dürfe, daß man seine Stellung nicht um seines persönlichen Glückes, sondern um des Wohles vieler solcher willen innehat, die da unglücklich werden würden, wenn ein edler Mann seinen Posten im Stiche läßt, und daß man allen persönlichen Kummer und alle Kränkungen vergessen müsse. Ich wußte damals noch nicht, daß der, der Rußland wahrhaft und ehrlich dienen will, sehr viel Liebe für sein Vaterland besitzen muß, eine Liebe, die alle anderen Gefühle in sich aufgesogen hat, daß man sehr viel Liebe für den Menschen im allgemeinen besitzen und ein wahrhafter Christ im vollen Sinn dieses Wortes sein muß. Daher ist es auch kein Wunder, wenn ich, der ich diese Eigenschaften nicht besaß, auch meinen Dienst nicht so ausüben konnte, wie ich es wollte, obwohl ich tatsächlich förmlich darauf brannte, meinem Lande ehrlich zu dienen. Sowie ich jedoch fühlte, daß ich dem Staate auch als Schriftsteller zu dienen vermag, gab ich alles andere auf: meine früheren Stellen, Petersburg, die Gesellschaft, die meinem Herzen nahestehenden Freunde, ja sogar Rußland, um in der Fremde und in der Einsamkeit fern von allen Menschen zu erwägen, wie ich es durchführen, wie ich mein Werk so gestalten, wie ich mit ihm den Beweis liefern könnte, daß ich gleichfalls ein Bürger meines Vaterlandes gewesen bin, und daß ich ihm hatte dienen wollen. Je mehr ich über mein Werk nachdachte, um so mehr fühlte ich, daß ich die Charaktere nicht auf gut Glück wählen durfte, wie sie sich mir gerade darboten, sondern nur solche Menschen darstellen mußte, an denen sich unsere wahren wesenhaften russischen Charakterzüge am stärksten und deutlichsten offenbarten. Ich wollte in meinem Werk vor allem jene höheren Züge der russischen Natur darstellen, die noch nicht von allen richtig eingeschätzt werden, sowie ferner und in erster Linie jene gemeinen und niedrigen Charaktereigenschaften, die von allen noch nicht genügend verlacht und gegeißelt werden. Ich wollte nur die hervorstechendsten charakteristischen psychologischen Phänomene zusammentragen und meine Beobachtungen über die Menschen zusammenfassen, die ich seit langen Jahren insgeheim gemacht hatte und die ich nur noch nicht dem Papier hatte anvertrauen wollen, da ich mir bewußt war, noch nicht die rechte Reife erworben zu haben; denn diese Beobachtungen konnten, richtig dargestellt, viel zur Enträtselung mancher Seiten unseres Lebens beitragen, kurz — ich wollte, daß dem Leser bei der Lektüre meines Buches der russische Mensch, mit all seinen reichen mannigfaltigen Gaben und Fähigkeiten, die ihm allein im Unterschiede von den anderen Völkern verliehen waren, aber auch mit der ganzen großen Menge von Fehlern, die ihm gleichfalls im Unterschied von den anderen Völkern eigen sind, vor Augen treten sollte. Ich glaubte, die lyrische Kraft, von der ich einen genügenden Vorrat besaß, würde mir helfen, diese Vorzüge so darzustellen, daß der Russe von einer heißen Liebe zu ihnen entbrennen würde, und die Gewalt des Lachens, von der ich gleichfalls einen genügenden Vorrat mein eigen nannte, würde es mir ermöglichen, seine Fehler und Mängel in so leuchtenden Farben zu schildern, daß den Leser ein tiefer Haß gegen sie erfassen würde, selbst wenn er sie in sich selbst entdecken sollte. Aber ich fühlte zugleich, daß ich dies alles nur dann vollbringen könnte, wenn ich mir selbst völlig darüber klar geworden war, was nun die wirklichen Vorzüge unseres Wesens und welches seine wahren Mängel und Fehler sind. Man muß sich beides genau überlegen und es gegeneinander abschätzen, man muß es sich ganz klarmachen, um nicht eine unserer Schwächen in eine Tugend zu verwandeln und nicht zugleich mit unseren Fehlern auch unsere Vorzüge dem Gelächter preiszugeben. Ich wollte meine Kraft nicht unnütz vergeuden. Seitdem man mir vorwarf, ich spottete nicht nur über die Fehler, sondern über die Menschen, die gewisse Schwächen haben, im allgemeinen, und nicht nur über den ganzen Menschen, sondern auch über seine Stellung und das Amt, das er innehat (was mir nie auch nur in Gedanken eingefallen ist), da sah ich ein, daß man sehr vorsichtig mit dem Spott umgehen müsse — um so mehr, da er ansteckend wirkt; ein witziger Mensch braucht nur irgendeine Seite einer Sache ins Lächerliche zu ziehen, damit die Dümmsten und Stumpfsinnigsten sofort über deren sämtliche Seiten lachen. Kurz, es wurde mir so klar wie der Satz: zwei mal zwei ist vier, daß ich nicht eher an die Arbeit gehen durfte, als bis ich mir ganz genau darüber klar geworden war, worin das Hohe und das Gemeine, worin die Vorzüge und die Mängel unseres russischen Wesens bestehen; um sich jedoch über das russische Wesen klar zu werden, muß man zunächst die menschliche Natur und die Seele des Menschen im allgemeinen kennen lernen: ohne dies wird man nie den richtigen Standpunkt finden, von dem aus einem die Vorzüge und Mängel eines jeden Volkes deutlich sichtbar werden.

Seit dieser Zeit wurden der Mensch und die Seele des Menschen mehr denn je Gegenstand meines Studiums. Ich wandte mich für eine Zeitlang gänzlich von der Gegenwart ab: ich hatte vor allem das Interesse, jene ewigen Gesetze kennen zu lernen, die den Menschen und die Menschheit im allgemeinen beherrschen. Die Werke der Gesetzgeber, der Seelenforscher und Erforscher der menschlichen Natur wurden von nun ab meine Lektüre. Mich begann alles zu interessieren, worin sich eine gewisse Menschenkenntnis und eine Kenntnis der Menschenseele offenbarte, von dem Wissen eines Weltmannes bis zu dem eines Anachoreten und Einsiedlers, und auf diesem Wege sah ich mich ganz unmerklich und beinahe ohne daß ich selbst wußte, wie dies geschah, zu Christus geführt, denn ich sah, daß er der Schlüssel zur Seele des Menschen war, und daß noch kein Seelenkenner sich je auf jene Höhe der Seelenkenntnis erhoben hatte, die er erreicht hat. Ich prüfte alles mit dem Verstande nach und überzeugte mich so davon, was anderen durch den Glauben völlig klar ist und was ich bisher nur dunkel und unbestimmt geahnt hatte. Und zu demselben Ergebnis brachte mich die Analyse meiner eigenen Seele: ich sah mit mathematischer Klarheit ein, daß man auf Grund von Vorstellungen unserer Einbildungskraft nicht über die höheren Regungen und Gefühle des Menschen reden und schreiben könne; man muß wenigstens etwas davon in sich selbst tragen — kurz, man muß zuvor selbst besser werden. Das mag sehr sonderbar erscheinen, besonders denen, die in ihrer Jugend eine gründliche und umfassende Bildung genossen haben. Ich muß jedoch sagen, daß ich in der Schule eine recht schlechte Erziehung erhalten hatte, und daher ist es kein Wunder, daß der Gedanke, ich müßte noch etwas lernen, sich mir erst in reiferem Alter aufdrängte. Ich begann mein Studium mit so elementaren Büchern, daß ich mich geradezu schämte, anderen Menschen zu verraten, womit ich mich beschäftigte, ja, ich suchte es vor ihnen zu verheimlichen. Ich begann nunmehr nicht so sehr beim Studium von Büchern — als vielmehr bei meinen einfachen sittlichen Übungen auf mich zu achten, wie ein Lehrer auf seinen Schüler, und ich betrachtete mich selbst als Lehrling. Ich habe auch etwas von diesen Experimenten, die ich an mir selbst vollzog, in das Buch meiner Briefe aufgenommen, nicht etwa, um damit zu prahlen (ich wüßte auch nicht, womit man hier prahlen könnte!), sondern in der allerbesten Absicht: vielleicht konnte jemand Nutzen daraus ziehen. Ich war fest davon überzeugt, daß viele gleich mir eine schlechte Schulbildung genossen haben, plötzlich zur Besinnung kommen und den ehrlichen Wunsch fassen konnten, das Verlorene nachzuholen und wieder gutzumachen. Ich hatte oft gehört, daß viele sich darüber beklagten, sie könnten sich nicht mehr von ihren schlechten Gewohnheiten befreien, trotz des heißesten Wunsches, sie loszuwerden. Ich nahm dies also in mein Buch auf, nachdem ich es, so gut es ging, dem übrigen angepaßt hatte, aber ich nahm es erst auf, nachdem ich mich durch die Erfahrung davon überzeugt hatte, daß sich manches davon verschiedenen Personen, die ich kannte, heilsam erwiesen hatte. Denen jedoch, die es mir zum Vorwurf machen, daß ich mein ganzes Innere zur Schau gestellt habe, kann ich erwidern, daß ich immerhin noch kein Mönch, sondern ein Schriftsteller bin. Ich habe in diesem Falle so gehandelt, wie alle Schriftsteller, die ausgesprochen haben, was ihre Seele bedrückte. Wenn Karamsin während seiner schriftstellerischen Tätigkeit ein ähnliches Erlebnis gehabt hätte, er hätte es sicherlich in derselben Weise zum Ausdruck gebracht. Aber Karamsin hatte in der Jugend eine gute Erziehung genossen. Er eignete sich erst die Bildung an, die dazu gehört, um ein Mensch und ein Bürger zu sein, ehe er als Schriftsteller auftrat. Mir ging es anders. Ich konnte mir nicht denken, daß jemand daran Anstoß nehmen könnte, wenn ich öffentlich erklärte, ich strebte danach, besser zu sein als ich bin. Ich finde nichts Anstößiges dabei, daß ein Mensch sich qualvoll danach sehnt und im Angesichte aller Menschen von dem Verlangen, vollkommen zu sein, verzehrt wird, wenn doch selbst Gottes Sohn vom Himmel zu uns herabgestiegen ist, um uns zu sagen: „Seid vollkommen wie unser Vater im Himmel!“

Was endlich den Vorwurf anbelangt, daß ich in meinem Buch, nur um mit meiner Demut und Bescheidenheit zu prahlen, eine Selbstverkleinerung an den Tag gelegt hätte, die schlimmer sei als jeder Stolz und Hochmut, so muß ich darauf erwidern, daß bei mir weder von Selbstverkleinerung noch Demut die Rede ist. Wer solches aus meinem Buche herausgelesen hat, hat sich durch die Ähnlichkeit gewisser Kennzeichen und Merkmale täuschen lassen. Ich kam mir in der Tat widerwärtig vor, aber nicht etwa aus Demut, sondern weil sich in meinem Geiste mit der Zeit immer deutlicher das Ideal des schönen Menschen herausarbeitete, jenes herrliche Vorbild des Menschen, wie er sich hier auf Erden darstellen sollte, und wenn ich daran dachte, so ergriff mich jedesmal ein Ekel vor mir selbst. Das aber ist nicht Demut, sondern eher ein Gefühl, das ein neidischer Mensch hat, wenn er sieht, daß ein anderer einen besseren und schöneren Gegenstand in Händen hält, als er selbst, den seinen wegwirft und nichts mehr von ihm wissen will. Dazu hatte ich das Glück gehabt, während meines Lebens, besonders aber während der letzten Zeit, einige Menschen kennen zu lernen, deren geistige und seelische Qualitäten mir so groß erschienen, daß meine eigenen daneben verblaßten, und ich zürnte mir immerfort, weil ich das nicht besaß, was andere besaßen. Man hätte also höchstens das Recht, meinen mißgünstigen und neidischen Charakter im allgemeinen verantwortlich zu machen und anzuklagen.

Aber ich will zu meiner Lebensgeschichte zurückkehren. Eine Zeitlang waren also der Gegenstand meiner Studien nicht Rußland und die Menschen in Rußland, sondern der Mensch und die menschliche Seele im allgemeinen. Alles führte mich in dieser Zeit auf die Erforschung der Gesetze unserer Seele hin: mein eigener Seelenzustand und endlich auch die äußeren Verhältnisse, über die wir keine Macht haben und die mich jedesmal gegen meinen Willen veranlaßten, mich wieder meinem Gegenstand zuzuwenden, sowie ich ihn einmal verlassen hatte. Mehrmals griff ich zur Feder, weil man mir den Vorwurf machte, ich täte nichts; ich wollte mich gewaltsam dazu zwingen, etwas zu schreiben, sei es nun eine kleine Erzählung oder irgendeinen literarischen Essay, aber ich vermochte durchaus nichts zu produzieren. Alle meine Anstrengungen endigten meist mit Unwohlsein, schweren Leiden und schließlich sogar mit solchen Anfällen, die mich dazu nötigten, jede Beschäftigung für lange Zeit gänzlich aufzugeben. Was sollte ich tun? War ich etwa schuld daran, daß ich nicht imstande war, nochmals zu wiederholen, was ich schon einmal in jüngeren Jahren gesagt und geschrieben hatte? Als ob es im Menschenleben einen doppelten Frühling gibt! Und wenn jeder Mensch beim Übergang aus einem Lebensalter in das andere unvermeidlich eine solche Verwandlung durchmachen muß, warum soll allein der Schriftsteller eine Ausnahme davon machen? Ist denn der Schriftsteller nicht auch nur ein Mensch? Ich wich nicht von meinem Wege ab. Ich verfolgte meinen Pfad immer weiter. Ich behielt immer denselben Gegenstand im Auge: das Objekt meines Studiums war — das Leben, und nichts anderes. Ich suchte das Leben, so wie es in Wirklichkeit ist, und nicht etwa so, wie es sich in den Träumen unserer Phantasie darstellt, und so fand ich schließlich Den, Der die Quelle des Lebens ist. Seit meiner frühsten Jugend hatte ich eine leidenschaftliche Vorliebe dafür, den Menschen zu beobachten, seine Seele aus seinen feinsten Zügen und Regungen, die die Menschen nicht beachten, abzulesen, — und so wurde ich zu Ihm geführt, Der allein die Seele ganz durchschaut und mit Dessen Hilfe allein ich zu einer vollständigen Kenntnis der Seele gelangen konnte. Ich beruhigte mich nicht eher, als bis ich die Lösung einiger eigener Fragen, die sich auf mich selbst bezogen, gefunden hatte; und erst, als ich mir über einige Hauptfragen im klaren war, konnte ich wieder an mein Werk gehen, dessen erstes Buch bis heute noch ein Rätsel darstellt; denn es spiegelt zum Teil noch jenen Übergangszustand, in dem sich meine Seele befand, als sie noch nicht alles von sich abgestoßen hatte, was sich einmal von mir ablösen sollte.

Sowie dieser Zustand in mir überwunden und mein Verlangen nach Erkenntnis des Menschen im allgemeinen befriedigt war, begann sich in mir der lebhafte Wunsch zu regen, Rußland näher kennen zu lernen. Ich knüpfte Bekanntschaften mit Menschen an, von denen ich etwas lernen und von denen ich erfahren konnte, was in Rußland vorgeht; ich suchte erfahrene Männer der Praxis aus allen Ständen kennen zu lernen, die alle Mißbräuche und Machenschaften in Rußland kannten. Ich wollte Bekanntschaft mit Menschen aus allen Ständen machen und von jedem etwas erfahren. Jeder Beamte, jeder Mensch, der irgendeine Beschäftigung hatte, erschien mir interessant. Vor allem aber wollte ich mir einen genauen Begriff von jedem Beruf, jedem Stand, jeder Stellung und jedem Amt im Staate bilden. Mir erschien das als eine Notwendigkeit für jeden Schriftsteller, der Menschen aus allen Berufen schildert. Wenn man nicht einen Begriff von der ganzen Pflicht und allen Aufgaben des Menschen, den man schildern will, in seinem Kopfe hat, wird es einem nie gelingen, den Menschen wahrheitsgetreu, richtig und so darzustellen, daß sich die Lebenden daraus eine Lehre ziehen, daß sie daraus etwas lernen können. Deshalb knüpfte ich einen Briefwechsel mit solchen Leuten an, die mir irgendwelche Tatsachen mitteilen konnten. Die übrigen bat ich, flüchtige Porträts und Charakterskizzen von Leuten für mich herzustellen, und zwar von den ersten besten, denen sie auf ihrem Wege begegneten. Das alles brauchte ich nicht deshalb, weil ich keine genügende Anzahl von Charakteren oder keinen Helden im Kopfe gehabt hätte; daran hatte ich keinen Mangel; diese Figuren entsprangen mir in meiner Phantasie aus einer weit vollständigeren und umfassenderen Erkenntnis der menschlichen Natur, als ich sie jemals gehabt hatte; ich brauchte diese Tatsachen ganz einfach, so wie ein Künstler, der ein großes Gemälde, eine eigene Komposition malt, nach der Natur gemalte Skizzen braucht. Er überträgt diese Skizzen nicht auf sein Bild, sondern hängt sie ringsum an den Wänden auf, um sie beständig vor Augen zu haben, und um nie einen Verstoß gegen die Natur, gegen die Zeit oder Epoche zu begehen, die er sich für die Darstellung ausersehen hat. Ich habe nie etwas rein aus der Phantasie geschöpft und erzeugt, ich besaß nie diese Fähigkeit. Mir glückte immer nur das, was ich aus dem wirklichen Leben und aus Tatsachen schöpfte, die mir bekannt waren. Einen Menschen erraten konnte ich nur dann, wenn ich mir seine äußere Gestalt bis auf die feinsten Einzelheiten vorstellen konnte. Ich habe nie ein Porträt im Sinne einer bloßen Kopie entworfen. Ich habe ein solches Porträt stets erschaffen, ich erschuf es durch Nachdenken, mit Überlegung und nicht in der reinen Phantasie. Je mehr Dinge ich in Erwägung zog, um so wahrer und treuer ward das, was ich schuf. Ich mußte weit mehr wissen als jeder andere Schriftsteller, denn ich brauchte nur ein paar Einzelheiten zu übersehen oder nicht zu berücksichtigen — damit das Unwahre und Unrechte der Darstellung weit deutlicher in die Augen sprang als bei einem anderen. Dies vermochte ich niemand klarzumachen, und daher erhielt ich fast niemals solche Briefe, wie ich sie brauchte. Alle wunderten sich und konnten es nicht begreifen, daß ich all diese Kleinigkeiten und Torheiten wissen wollte, während ich doch eine Phantasie besaß, die selbst schaffen und produzieren konnte. Allein meine Phantasie hat mich bisher noch mit keinem einzigen hervorragenden Charakter beschenkt und kein einziges Ding produziert, das mein Auge nicht irgendwo in der Natur entdeckt hätte.

Ich habe ein paar Briefe an einige Gutsbesitzer und an verschiedene Beamte in den Briefwechsel mit meinen Freunden aufgenommen (von diesen Briefen ist die große Mehrzahl nicht zum Abdruck gekommen); das habe ich jedoch nicht etwa deswegen getan, damit alle mir zustimmen, sondern gerade deswegen, damit man mich durch Anführung einzelner anekdotischer Züge widerlegen sollte. Derartige Einwände von praktischen und erfahrenen Leuten sind für mich deswegen so wichtig, weil sie mir die Sache selbst näher bringen und mir einen tieferen Einblick in das innere Wesen Rußlands gewähren. Aber man hatte kein Interesse an den Dingen, die jeden Russen etwas angehen, so wenig wie für die Fragen unseres inneren Lebens, statt dessen beschäftigte man sich mit meiner Persönlichkeit und schrieb ganze Bogen darüber voll, ob ich ein Recht habe, mich in solche Angelegenheiten hineinzumengen. Ich richtete um dieselbe Zeit einen Aufruf an alle Leser der „Toten Seelen“ — der nicht sehr taktvoll und recht ungeschickt war. Ich wußte sehr gut, daß viele sich über ihn lustig machen würden, aber ich war fest entschlossen, jeden Spott zu ertragen, wenn ich bloß mein Ziel erreichte. Ich glaubte, daß vielleicht fünf oder sechs Leser meine Bitte so erfüllen würden, wie ich es wünschte. Ich verlangte gar nicht, daß man die Fehler der „Toten Seelen“ verbessern sollte: ich hoffte mich unter diesem Vorwande bloß in den Besitz von einigen privaten Aufzeichnungen oder Erinnerungen an einzelne Charaktere und Personen, mit denen der eine oder der andere während seines Lebens zusammengetroffen war, sowie von Berichten über solche Vorfälle zu setzen, von denen ein Hauch ausgeht, der uns an Rußland gemahnt. Ich weiß, daß wir uns alle schwer aufraffen können und daß wir träge sind und nicht recht arbeiten wollen, daher wird es fast jedem von uns schwer, aus seiner Erinnerung zu schöpfen; ich dachte jedoch, die Lektüre der „Toten Seelen“ würde die Menschen aufrütteln, besonders wenn sie dabei immer Papier und Bleistift bei der Hand hätten. Ich gab meine Adresse an und bat darum, daß nur die mir in ihren Briefen solche Fälle mitteilen möchten, die sie selbst nicht in der Presse veröffentlichen wollten, im allgemeinen aber hielt ich es für weit nützlicher, sie überall bekanntzumachen. Es kam mir sogar so vor, als ob eine solche Verbreitung von Kenntnissen über Rußland in Form von lebendigen Tatsachen gerade gegenwärtig eine dringende Notwendigkeit sei, denn in unserer Zeit, die man nicht ohne Grund eine Übergangszeit nennt, macht sich bei allen Menschen und auf allen Gebieten ein Streben bemerkbar, überall zu verbessern, zu reformieren, alles umzugestalten, ja dem Übel mit allen Mitteln energisch zu Leibe zu gehen. Ich glaubte, daß wir heute mehr denn je bemüht sein müssen, alles herauszustellen und ans Licht zu bringen, was im Inneren Rußlands vorgeht, damit wir ein Gefühl dafür bekommen, aus was für einer Menge verschiedener Elemente der Grund und Boden besteht, auf dem wir alle unsere Saat ausstreuen wollen; da aber wäre es wirklich besser, wenn wir uns erst einmal ordentlich umsähen und uns die Sache überlegten, bevor wir so über die Dinge aburteilen, wie dies heute alle Leute tun. Ich hegte die geheime Hoffnung, daß die Lektüre der „Toten Seelen“ viele auf die Idee bringen würde, Aufzeichnungen über sich selbst zu machen, und daß viele dazu veranlaßt werden könnten, in sich zu gehen, weil auch im Autor während der Zeit, als er die „Toten Seelen“ schrieb, eine solche Wendung nach Innen stattgefunden hatte. Ich glaubte, es könnte einem Menschen, der bereits den Gipfel seines Lebens erstiegen hat, von dem der Weg nur noch abwärts gehen kann, und der von dem Gedanken beunruhigt wird, sein Leben sei nutzlos verstrichen und er habe nur wenig für das allgemeine Wohl und sein Land geleistet, lebhafter zum Bewußtsein kommen, daß er durch eine getreue und lebendige Darstellung der Menschen, Charaktere und Ereignisse seiner Zeit die jungen Leute, die erst im Beginn ihrer Wirksamkeit stehen, mit Rußland bekannt machen und sie damit in schöner Weise für seine Untätigkeit entschädigen, ja mehr als entschädigen kann. Ein junger Mann aber, der seine Laufbahn erst eben beginnt, dessen Anteilnahme für alle Dinge noch nicht erkaltet ist, der daher noch einen frischen lebendigen Blick besitzt und der alles mit starkem Interesse verfolgt, könnte die heutige Zeit so darstellen, wie sie dem Auge des Jünglings erscheint. Kurz, ich dachte wie ein Kind; ich täuschte mich in manchen Leuten: ich glaubte, daß in einem Teil meiner Leser noch ein Funke von Liebe lebte. Ich wußte damals noch nicht, daß mein Name nur deshalb so populär ist, weil er einzelnen Leuten die Möglichkeit und das Recht zu geben schien, anderen etwas vorzuwerfen und sich gegenseitig übereinander lustig zu machen. Ich glaubte, daß viele durch mein Gelächter hindurch das Gute in meiner Natur, in meinem Ich erkennen, das ja gar nicht aus böser Absicht lachte oder spottete. Aber ich erhielt keine Aufzeichnungen zugeschickt, trotz meiner Aufforderung, und in den Zeitschriften erwiderte man mir nur mit Hohn und Spott. Ich führe dies alles nur deswegen an, um zu beweisen, daß ich alle meine Kräfte angespannt habe, um meinem Berufe treu zu bleiben, daß ich über alle nur möglichen Mittel nachgesonnen habe, die meine Arbeit fördern könnten, ich ließ es mir keinen Augenblick auch nur einfallen, meinen Schriftstellerberuf aufzugeben. Bei dieser Gelegenheit muß ich übrigens erwähnen, daß viele ihr Erstaunen darüber geäußert haben, daß ich ein solches Bedürfnis nach Daten über Rußland habe und dabei selbst fern von Rußland im Auslande bleibe, diese Leute haben es sich nicht überlegt, daß ich, ganz abgesehen von meinem leidenden Zustand, der für mich einen Aufenthalt in einem warmen Klima nötig machte, gerade eine solche Entfernung von Rußland brauchte, um mit meinen Gedanken um so intensiver in Rußland verweilen zu können. Für die, die mir das nicht nachzufühlen vermögen, will ich mich hier näher erklären, obwohl es mir etwas schwer wird, hier alles darzulegen, was die Eigenheit meines Wesens ausmacht.

Fast alle Schriftsteller, denen es nicht an jeglicher schöpferischen Begabung fehlt, besitzen eine Fähigkeit, die ich die Einbildungskraft nennen will — eine Fähigkeit, die darin besteht, sich Gegenstände, die einem nicht gegenwärtig sind, so lebhaft vorzustellen, wie wenn sie uns unmittelbar vor Augen stünden. Diese Fähigkeit ist nur dann in uns wirksam, wenn wir uns von den Gegenständen entfernen, die wir beschreiben wollen. Das ist der Grund, weswegen die Dichter sich gewöhnlich solche Epochen zum Gegenstand wählen, die bereits hinter uns liegen, und sich in die Vergangenheit versenken. Indem die Vergangenheit uns von allem, was um uns ist, loslöst, versetzt sie unsere Seele in eine stille ruhige Stimmung, wie sie zur Arbeit erforderlich ist. Ich hatte keine Vorliebe für die Vergangenheit. Mein Gegenstand war die Gegenwart und das Leben in unserer heutigen Welt, vielleicht deswegen, weil mein Geist stets eine Vorliebe für das Wesentliche und Faßliche und für einen greifbaren Nutzen hatte. Mit den Jahren wurde mein Wunsch, ein moderner Schriftsteller zu werden, immer lebhafter. Aber ich sah zugleich ein, daß man, wenn man das gegenwärtige Leben schildern will, nicht beständig in jener erhabenen und ruhigen Stimmung verharren konnte, deren man bedarf, um ein großes und formvollendetes Werk hervorzubringen. Das Gegenwärtige ist viel zu lebendig, es bewegt einen und regt einen zu sehr auf; die Feder des Schriftstellers wird ganz unmerklich und ohne daß man es fühlt, von einer satirischen Anwandlung erfaßt. Dazu sieht man, wenn man selbst mitten unter den Leuten weilt und mehr oder weniger mit ihnen zusammenarbeitet, nur die Menschen vor sich, die sich in unserer Nähe befinden: die ganze Masse, die Menge sieht man nicht, denn man kann nicht alles übersehen. Ich fing also an, darüber nachzugrübeln, wie ich mich den anderen Leuten entziehen und einen solchen Standpunkt einnehmen konnte, von dem ich die ganze Masse und nicht nur die Menschen zu sehen vermochte, die neben mir standen — wie ich mich so vom Gegenwärtigen entfernen konnte, daß es sich für mich gewissermaßen in Vergangenheit verwandelte. Meine erschütterte Gesundheit und einige kleine Unannehmlichkeiten, die noch dazu kamen und die ich heute mit Leichtigkeit ertragen hätte, mit denen ich dagegen damals noch nicht fertig zu werden vermochte, veranlaßten mich dazu, das Ausland aufzusuchen. Ich habe mich nie nach fremden Ländern hingezogen gefühlt, ich habe nie eine leidenschaftliche Vorliebe für sie gehabt. Auch besaß ich nichts von jener dunklen Neugierde, wie sie Menschen verzehrt, die nach starken Eindrücken dürsten. Aber seltsam! schon während meiner Kinderjahre, selbst während meiner Schulzeit und damals, als ich immer nur an den Staatsdienst und keinen Augenblick daran dachte, daß ich Schriftsteller werden könnte, kam es mir immer so vor, als ob ich dazu bestimmt sei, in meinem Leben noch einmal irgendein großes Opfer zu bringen, und daß ich gerade, um meinem Vaterlande zu dienen, gezwungen sein würde, mich in der Ferne darauf vorzubereiten und zu erziehen. Ich wußte nicht, wie das geschehen würde, noch wozu das nötig sei; ich dachte auch gar nicht darüber nach, ich sah mich jedoch so lebendig vor mir, sah, wie ich mich in einem fremden Lande in Sehnsucht nach meinem Vaterlande verzehre, ja dies Bild verfolgte mich so häufig, daß es mich ganz traurig machte. Vielleicht war das nur jene unbegreifliche poetische Sehnsucht, die auch Puschkin manchmal beunruhigte und ihn veranlaßte, fremde Länder aufzusuchen, lediglich um, wie er sich ausdrückt,

Mich unterm Himmel Afrikas

Nach Rußlands trüben Gaun zu sehnen.

Wie dem auch sein mag, dieser unwillkürliche Drang in mir war so stark, daß noch keine fünf Monate seit meiner Ankunft in Petersburg vergangen waren, als ich bereits ein Schiff bestieg, da ich nicht die Kraft hatte, diesem mir selbst so unbegreiflichen Gefühl zu widerstehen. Der Plan und der Zweck meiner Reise waren sehr verschwommen. Ich wußte nur das eine, daß ich sicherlich nicht deswegen auf Reisen ging, um mich an fremden Ländern zu erfreuen, sondern um schwere Leiden durchzukosten, ganz als ob ich ahnte, daß ich erst jenseits von Rußland den wahren Wert meines Vaterlandes erkennen und mich fern von ihm mit Liebe zu ihm erfüllen würde. Kaum befand ich mich auf See, auf einem fremden Schiffe und unter fremden Leuten (das Schiff war ein englischer Dampfer, auf dem sich keine Menschenseele aus Rußland befand), so wurde mir traurig zumute; ich sehnte mich so sehr nach meinen Freunden und den Kameraden meiner Kindheit, die ich verlassen und die ich stets innig geliebt hatte, daß ich, noch ehe ich das feste Land betreten hatte, schon an die Rückreise dachte. Ich blieb nicht länger als drei Tage im Auslande, und obwohl mich die Neuheit der Gegenstände reizte, beeilte ich mich, auf demselben Dampfer nach Hause zurückzukehren, aus Furcht, daß es mir später vielleicht nicht mehr gelingen könnte, den Weg nach Hause zurückzufinden. Von da ab gab ich mir das Wort, überhaupt nicht mehr an fremde Länder zu denken — und während der ganzen Zeit meines Petersburger Aufenthaltes, d. h. während voller sieben Jahre kam mir nicht der Gedanke an eine Reise in ein fremdes Land, bis der Zustand meiner Gesundheit, einige schmerzliche Erlebnisse und endlich mein Bedürfnis nach Einsamkeit mich dazu nötigten, Rußland zu verlassen.

Zweimal bin ich nachher wieder nach Rußland zurückgekehrt, einmal sogar, um für immer dort zu bleiben. Ich glaubte, jetzt, wo mich ein solches Verlangen erfaßt hatte, mir über alles klar zu werden, würde es mir bestimmt gelingen, vieles in Erfahrung zu bringen. Aber, ist es nicht merkwürdig? Mitten im Herzen Rußlands, sah ich beinahe nichts von Rußland selbst. Alle Menschen, denen ich begegnete, sprachen mit großer Vorliebe davon, was in Europa vorgeht, und dagegen redeten sie nie davon, was in Rußland passiert. Ich erfuhr nur, was man im englischen Klub treibt, und noch einiges andere, was ich schon von selbst wußte. Es ist bekannt, daß jeder von uns seinen eigenen Kreis von nahen Bekannten hat, und daher ist es sehr schwer für ihn, andere Leute, die nicht dazu gehören, kennen zu lernen, erstlich schon deswegen, weil er sich verpflichtet fühlt, möglichst häufig mit den ihm nahestehenden Menschen zusammen zu sein, und ferner, weil ein Kreis von Freunden schon an und für sich so viel Angenehmes hat, daß man sehr viel Selbstaufopferung besitzen muß, um sich ihm zu entziehen. Alle Menschen, die ich kennen lernte, teilten mir immer nur fertige Schlüsse und Folgerungen und nicht bloß schlichte Tatsachen mit, auf die es mir gerade ankam. Überhaupt bemerkte ich, daß eine gewisse Veränderung in den Köpfen und in den Gedanken der Leute vorgegangen war. Jedermann betrachtete die Sache mit einem weit philosophischeren Blick, als man dies jemals früher zu tun pflegte; man wollte stets den geheimsten Sinn und die tiefste Bedeutung einer jeden Sache ergründen: ein Motiv, eine Regung, die darauf hindeutete, daß die Gesellschaft einen mächtigen Schritt vorwärts gemacht hatte. Andererseits entsprang hieraus eine gewisse Übereilung, mit der man sogleich die Schlüsse und Konsequenzen zog und nach zwei bis drei Tatsachen über das Ganze urteilte; man übersah völlig, daß damit noch nicht alle Dinge und nicht alle Seiten einer Sache in Betracht und in Erwägung gezogen waren. Ich bemerkte, daß sich beinahe jeder in seinem Kopfe seine eigene Vorstellung über Rußland gebildet hatte, und das war der Anlaß zu fortwährenden Streitigkeiten. Ich aber brauchte etwas ganz anderes: ich brauchte jene einfachen Unterhaltungen, wie sie noch früher in den alten Zeiten üblich waren, wo jeder bloß das erzählte, was er in seinem Leben gesehen und gehört hatte, und wo ein Gespräch mehr einer Anekdotensammlung als einer Diskussion glich. Das brauchte ich gerade deswegen, weil ich unwillkürlich selbst von dieser hastigen Sucht, sofort übereilte Schlüsse und Folgerungen aus allem zu ziehen — dieser allgemeinen Tendenz unserer Zeit —, angesteckt war.

Noch mehr aber mußte ich mich über unsere Provinz wundern. Dort hörte man nicht einmal den Namen „Rußland“ aussprechen. Wie mir schien, waren nur solche Dinge in aller Munde und sprach man nur über solche Gegenstände, die man in den neuesten aus dem Französischen übersetzten Romanen gelesen hatte. Kurz — während meines ganzen Aufenthalts in Rußland zerfiel und zerstob Rußland förmlich in meinem Kopfe. Ich konnte mir durchaus kein Ganzes daraus gestalten, mein Mut sank, und sogar mein Verlangen, es kennen zu lernen, wurde schwächer. Sowie ich es jedoch verließ, formte es sich mir in Gedanken sogleich wieder zu einem Ganzen, der Wunsch, das Land kennen zu lernen, erwachte aufs neue, und die Lust, jeden frischen Menschen, der frisch aus Rußland eingetroffen war, kennen zu lernen, wurde wieder stark und mächtig in mir. Es bildete sich sogar die Fähigkeit in mir heraus, die Leute auszufragen, und oft erfuhr ich in einem Gespräch von der Dauer einer Stunde, was ich während meines Aufenthaltes in Rußland nicht einmal im Laufe einer Woche in Erfahrung zu bringen vermochte. Jedermann weiß, daß man im Ausland viel leichter Bekanntschaft macht, daß sich in den Bädern Deutschlands und in den Winterstationen Italiens Menschen begegnen, die in ihrem eigenen Lande vielleicht nie miteinander zusammengetroffen wären und die sich ihr ganzes Leben lang nicht kennen gelernt hätten. Das war es, was mich veranlaßte, einem Aufenthalt außerhalb Rußlands den Vorzug zu geben, schon im Hinblick darauf, daß ich auf diese Weise mehr von Rußland erfahren konnte. Ich dachte sehr lange darüber nach, wie ich mich in Rußland selbst über vieles unterrichten könnte, was dort vorgeht. Durch Reisen im Lande selbst erreicht man nicht viel: das einzige, was man davon im Kopfe behält, sind die Stationen und die Kneipen. In den Städten und Dörfern Bekanntschaften anzuknüpfen, ist für einen Mann, der nicht gerade im Auftrage der Regierung reist, auch nicht einfach, man wird leicht für einen Spitzel gehalten, und das einzige Ergebnis ist höchstens ein Sujet für eine Komödie, die man: Der Wirrwarr betiteln könnte. Wenn man jedoch erfährt, daß der Reisende noch dazu ein Schriftsteller ist, so wird die Situation noch weit komischer: die Hälfte aller russischen Leser ist fest davon überzeugt, daß ich nur einen einzigen Lebenszweck habe, nämlich diesen, alles am Menschen vom Kopf bis zu den Füßen zu verspotten. Und doch habe ich bisher noch nie ein so lebhaftes Bedürfnis empfunden, die gegenwärtige Lebenslage des Russen von heute kennen zu lernen — um so mehr, als gerade heute die Gegensätze in der Denkweise so groß geworden sind und alle Welt von einem wahren Wirbel von Mißverständnissen erfaßt ist, so daß kein Mensch mehr imstande ist, seine Nebenmenschen richtig zu beurteilen, und daß man genötigt ist, jedes Ding mit seinen eigenen Händen zu betasten, da man niemand mehr trauen kann. Ich konnte diese Daten nicht entbehren. Die Charaktere und Personen, die ich mir jetzt für mein Werk ausersehen habe, sind viel bedeutender als die, die ich mir früher zum Vorwurf genommen hatte. Je größer die Vorzüge einer bestimmten Persönlichkeit sind, um so greifbarer und plastischer muß man sie vor dem Leser erstehen lassen. Dazu bedarf man all der unendlichen Kleinigkeiten und Details, die dafür sprechen, daß diese bestimmte Person auch wirklich gelebt hat; sonst wird sie zu einem idealen Gebilde, sonst wird sie matt und blaß und trotz aller Tugenden, mit denen man sie ausstatten mag, armselig und nichtssagend ausfallen. Der Russe muß wirklich das Gefühl haben, daß die dargestellte Persönlichkeit aus demselben Leibe herausgeschnitten ist, dem er selbst als ein Bestandteil angehört, daß sie etwas Lebendiges, daß sie Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blute ist. Nur dann wird er mit seinem Helden in eins zusammenfließen und unmerklich jene suggestiven Wirkungen, die von ihm ausgehen, an sich erfahren, die durch kein Räsonnement und keine Predigt hervorgebracht werden können. Eine solche volle Verkörperung, diese letzte in sich geschlossene Vollendung eines Charakters vollzieht sich nur dann in mir, wenn ich meinen Geist mit all diesen prosaischen realen Kleinigkeiten und Nichtigkeiten des Lebens erfülle, wenn ich alle großen Charakterzüge jener Menschen im Kopfe habe, zugleich jedoch auch all die Lumpen und Fetzen bis zur kleinsten Stecknadel, die den Menschen täglich umgeben, zusammentrage und um ihn herum aufstaple, kurz, wenn ich alles, das Große wie das Kleine, berücksichtige und nichts außer acht lasse. In dieser Beziehung habe ich genau so einen Verstand, wie man ihn beim größten Teil aller Russen findet, d. h. ich habe mehr die Fähigkeit, Schlüsse und Folgerungen zu ziehen, als etwas zu erfinden und zu erdichten. Ich mußte immer erst eine große Menge von Menschen anhören, wenn ich mir eine eigene Meinung bilden sollte, und dann erst fanden die Leute meine Meinung gesund und vernünftig. Hörte ich dagegen nicht alle an und zog ich einen übereilten Schluß, so waren meine Ansichten bloß schroff und ungewöhnlich. Selbst in meinem letzten Buch, in meinem „Briefwechsel mit meinen Freunden“, kommt vieles vor, das Ähnlichkeit mit einer bloßen Präsumtion oder einer Vermutung hat und doch gar keine Voraussetzung ist. Es enthält nichts als Folgerungen, aber die einen Schlüsse und Folgerungen sind unter Berücksichtigung sämtlicher Seiten einer Sache gezogen und sind daher allen klar, während andere nur Folgerungen aus einigen Tatsachen darstellen, die nicht allen bekannt sind; und daher sind sie auch so oder erscheinen sogar vielen einfach als Torheit. Das ist auch der Grund, weswegen es kaum ein Werk von mir gibt, in dem nicht neben reifen Gedanken auch ganz unreife stehen und in dem nicht der Mann und das Kind, der Lehrer und der Schüler gleichzeitig zu Worte kommen.

Es war mir also nicht möglich, mir all das zu verschaffen, was ich brauchte. Und da ich es mir nicht zu verschaffen vermochte — ist es da wohl ein Wunder, daß ich nicht arbeiten konnte? Wie kann man mit sich selbst kämpfen, wenn man solche Ansprüche an sich selbst zu stellen gelernt hat? Wie soll die Einbildungskraft sich da zum Fluge erheben — selbst wenn sie vorhanden ist —, wo der Verstand bei jedem Schritt die Frage nach dem „Warum“ stellt? Warum mußten eine Reihe von Umständen eintreten, die ich nicht herbeigerufen habe? Warum konnte ich mir erst durch eine strenge Erforschung und Analyse meiner eigenen Seele die Kenntnis der Menschenseele erwerben? Warum wurde ich erst da von dem Verlangen erfaßt, den russischen Menschen darzustellen, als ich das allgemeine Gesetz der menschlichen Handlungen kennen gelernt hatte, und warum lernte ich es erst kennen, nachdem ich den Weg zu Ihm gefunden hatte, Der allein alles menschliche Tun und jedes geringste Geheimnis unserer Seele durchschaut? — Warum wurde ich so von dem Verlangen gequält, die Seele des Menschen kennen zu lernen? Warum traten endlich solche Umstände ein, von denen ich nicht einmal sprechen kann, die mich jedoch nötigten, gegen meinen Willen tiefer in die Menschenseele hinabzutauchen? Warum blieb für mich die Fähigkeit, mich überall an der Schönheit der Menschenseele zu erfreuen, wo sie mir immer entgegentreten mochte, stets der Gipfel, die Krone aller ästhetischen Genüsse? Warum wurde ich seit den Tagen meiner Kindheit unaufhörlich von dem Verlangen gequält, die menschliche Seele zu ergründen? Erklärt mir vor allem, warum dies so kommen mußte, und dann fragt mich: warum ich nicht mehr so schreiben kann, wie ich früher geschrieben habe. Ich wollte den Umständen und dieser Ordnung, die ja nicht ich eingesetzt hatte, Widerstand leisten. Ich versuchte es mehrmals, so zu schreiben, wie ich es früher getan, wie ich in meiner Jugend geschrieben hatte, das heißt, wie sich’s traf, wie es meiner Feder beliebte, aber es wollte mir nichts mehr aus der Feder fließen. Voller Freude, daß ich durch meine an meine Freunde und Bekannten gerichteten Briefe wieder einigermaßen ins Schreiben hineingekommen war, wollte ich sofort Nutzen daraus ziehen, und sowie ich mich von meiner schweren Krankheit erholt hatte, machte ich gleich ein Buch daraus, wobei ich bestrebt war, den Stoff nach Möglichkeit zu ordnen und dem Ganzen einen gewissen Zusammenhang zu geben, damit das Buch den Charakter eines vernünftigen Werkes erhielte; ich bedachte nicht, daß das Publikum vieles davon, was an einzelne Personen gerichtet war, auf sich beziehen würde, besonders nach meinem Testament, das sich an alle meine Landsleute richtete. Ich fürchtete mich davor, die Fehler und Mängel des Buches selbst nachzuprüfen, und verschloß meine Augen, denn ich wußte, daß ich mein Buch, wenn ich es einer strengeren Prüfung unterziehen würde, vielleicht ebenso vernichten könnte, wie ich die „Toten Seelen“ und alles, was ich in der letzten Zeit geschrieben hatte, vernichtet habe. Ich glaubte, dies Buch könnte die Leser wenigstens in geringem Maße für mein langes Schweigen entschädigen, ich glaubte, ich könnte darin meine schwierige Lage schildern und darlegen, die mir in der letzten Zeit das Schreiben unmöglich gemacht hatte, und ich würde die Aufmerksamkeit auf die praktischen Fragen und die Fragen des Lebens lenken. Ich beabsichtigte ferner, solche Dinge zu berühren, die mir einen tieferen Einblick in Rußland verschaffen, mich erfrischen und beleben und zwingen würden, zur Feder zu greifen. Aber es geschah nichts von alledem: alle Welt überhäufte mich mit Vorwürfen. Ich bekam nur Worte und Reden über Dinge zu hören, die nicht durch Worte und Reden entschieden werden können. Ich ließ die Hände sinken. Der Trieb, der sich scheinbar schon in mir zu regen begonnen hatte, erlosch, und ich fühlte mich ganz von selbst und ohne daß ich es merkte, vor die Frage gestellt, die mir noch nie in den Sinn gekommen war: soll ich überhaupt noch etwas schreiben? Soll ich noch weiter in diesem Berufe tätig sein, von dem mich in der letzten Zeit alles so offenkundig abzuziehen schien? Angenommen, daß es mir selbst gelingen sollte, mich zu überwinden, angenommen selbst, daß mein Kiel wieder die nötige Leichtigkeit und Beständigkeit erlangen würde, und daß mir eine Seite nach der anderen ganz zwanglos aus der Feder fließen würde — war meine seelische Verfassung wirklich derartig, daß meine Werke der Gesellschaft von heute tatsächlich von Nutzen sein konnten und heute eine Notwendigkeit für sie darstellten? Werfen wir dazu einmal einen Blick auf den Zustand der Gesellschaft unserer Zeit: begünstigt die Gegenwart den Schriftsteller im allgemeinen? und ferner: ist sie einem Schriftsteller, wie ich einer bin, günstig?

Alle sind sich mehr oder weniger darüber einig, daß unsere heutige Zeit eine Übergangszeit genannt werden kann. Alle fühlen heute mehr denn je, daß sich die Welt auf dem Marsche und nicht im Hafen befindet, das ist nicht einmal eine Station, auf der man vorübergehend haltmacht, kein Nachtquartier und kein Rasten während der Reise. Alles sucht etwas, aber es sucht es nicht draußen, sondern in dem eigenen Inneren. Die moralischen Fragen haben ein starkes Übergewicht über die politischen, die Probleme der gelehrten Wissenschaft sowie alle anderen Probleme erlangt. Kein Schwert und kein Kanonendonner vermögen das Interesse der Welt mehr zu fesseln. Überall kommt mehr oder weniger deutlich der Gedanke eines inneren Aufbaus, einer inneren Organisation zum Durchbruch: alles wartet auf das Eintreten einer strengeren harmonischeren Lebensordnung. Der Gedanke der Organisation, des Aufbaus sowohl des eigenen Ichs wie des der anderen wird immer mehr Allgemeingut. Alle bedeutenden Menschen, die an der Spitze marschieren, erleben Krisen und Umwälzungen in ihrem Inneren, manche sogar in den Jahren, wo in der Seele des Menschen bisher noch nie ein innerer Umschwung oder eine innere Besserung und Erhebung möglich zu sein schienen. Ein jeder fühlt mehr oder weniger, daß er sich nicht in der richtigen Verfassung befindet, in der er sich eigentlich befinden sollte, wenn er auch nicht weiß, worin dieser ersehnte Zustand nun eigentlich besteht. Dennoch aber sucht und strebt alles nach diesem ersehnten Zustande; alle Ohren lauschen gespannt und richten sich dorthin, woher sie etwas über die Fragen, die heute alle beschäftigen, zu vernehmen hoffen. Kein Mensch will ein Buch lesen, das nicht wenigstens eine Spur von all jenen Fragen enthält. Bedarf man also wohl in solch einer Zeit der Werke eines Schriftstellers, der über ein gewisses schöpferisches Talent verfügt, der lebendige Bilder von Menschen zu erschaffen vermag, und der die Gabe hat, das Leben eindringlich und plastisch darzustellen, so wie es ihm erscheint, — der von dem Verlangen verzehrt wird, es kennen zu lernen? Machen wir uns zunächst einmal klar, was das für ein Schriftsteller ist, dessen Hauptbegabung sein schöpferisches Talent ist.

Alle Welt stimmt mehr oder weniger darin überein, daß ein produktiver Schriftsteller seine Werke schreibt, um die Menschen zu belehren. Die Ansprüche, die an ihn gestellt werden, sind gewaltig — und mit Recht: um nichts als eine gute Kopie dessen, was man vor Augen sieht, herzustellen, dazu gibt es auch andere Schriftsteller, die häufig ein außergewöhnliches Talent für das beschreibende, malende Genre besitzen, denen jedoch die schöpferische Gabe völlig mangelt. Wer dagegen schafft, wer viel Zeit und Mühe darauf verwendet, dem sein Werk teuer zu stehen kommt, der darf seine Mühe und Arbeit nicht umsonst verschwenden. Die Schöpfungen seiner Kunst müssen für unser Leben einen Fortschritt bedeuten, er muß, wenn er seine Zeit verstanden hat, wenn er auf der Höhe jener Epoche steht, dieser Epoche seine Schuld für die Belehrung, die er aus ihr geschöpft hat, abtragen können, indem er auch sie seinerseits wieder belehrt. So wenigstens bestimmen die Ästhetiker unserer Zeit ebenso wie die früherer Zeiten das Wesen des Dichters oder ganz allgemein das Wesen eines Schriftstellers von schöpferischer Begabung. Die Menschen ganz so zu reproduzieren, wie man sie in sich aufgenommen hat, ist für einen schöpferischen Schriftsteller sogar unmöglich, das wird ein Schriftsteller weit besser machen, der über einen flinken Pinsel verfügt, sofort und jederzeit nachzuahmen vermag, was an seinem Blick vorüberzieht, und der von keinen inneren Skrupeln gequält und beunruhigt wird.

Folglich kann in unserer heutigen Zeit, wo alle Menschen so sehr mit den Fragen des Lebens beschäftigt sind, ein solcher Schriftsteller mehr als jemand anderes das lösende Wort in den Fragen der Gegenwart sprechen; aber wann und in welchem Falle? Nur dann und in dem Falle, wenn er sich schon selbst alle Fragen, die ihn beunruhigen, beantwortet hat. Wenn er sich bei allen seinen großen Gaben zu einer plastischen Anschaulichkeit des Stils, zu der Adlerkraft und -schärfe des Blicks, zu dem fortreißenden lyrischen Schwung und der zermalmenden Wucht seines Sarkasmus noch eine umfassende Kenntnis seines Landes und seines Volkes bis hinab in seine Wurzeln und Auszweigungen erworben, wenn er sich zum Bürger seines Landes und zum Bürger der ganzen Menschheit herangebildet hat und überall da, wo dem Menschen geboten ward, hart zu sein wie ein Fels, unerschütterlich dasteht wie ein Stein, dann mag er seine Laufbahn antreten. Wenn er wirklich über solche Mittel und Werkzeuge verfügt, dann wird er dem Publikum solche Menschen vorführen, wie er sie gegenwärtig und in unserem heutigen Zeitalter braucht, und er wird sie mit jener porträthaften Anschaulichkeit ausstatten, die da macht, daß das Bild eines Menschen uns überallhin verfolgt, so daß wir es nicht wieder loswerden können. Bei solchen Mitteln wird es ihm natürlich nicht schwer werden, alle jene Heldengestalten, mit denen die modernen Schriftsteller unsere Köpfe vollgestopft haben, wieder auszutreiben. Man muß nur einmal statt durch heftige leidenschaftliche Reden durch solche lebendige Bilder, die wie die rechtmäßigen Herren in der Seele der Menschen ein und aus gehen, zum Publikum sprechen, — so werden sich einem die Tore der Herzen von selbst öffnen, um sie aufzunehmen, wenn man nur das Gefühl hat und nur das Geringste davon spürt, daß diese Gestalten und Bilder aus unserem eigenen Wesen geschöpft sind, daß sie unserem eigenen Körper entstammen. Wer könnte in solch einem Falle noch daran zweifeln, daß heutzutage niemand eine so starke Wirkung auszuüben vermöchte, wie solch ein Schriftsteller, und daß niemand unserer Zeit und unserer heutigen Epoche notwendiger ist als er. Wenn er jedoch tatsächlich über einige von diesen Mitteln und Werkzeugen verfügt, sich aber noch nicht zu einem Bürger seines Landes und der Menschheit herangebildet hat, wenn er, dem allgemeinen Zuge der Zeit folgend, selbst noch im Werden und in der Entwicklung begriffen ist, dann wäre es für ihn sogar gefährlich, sich in die Öffentlichkeit hinauszuwagen; dann kann seine Wirkung eher schädlich als nützlich sein. Diese Arbeit an sich selbst wird in allem zum Ausdruck kommen, was seiner Feder entstammt. Je weniger Ähnlichkeit er mit anderen Leuten hat, je ungewöhnlicher er uns erscheint, je mehr er sich von anderen Menschen unterscheidet, je eigenartiger er ist, zu um so mehr Irrtümern und Mißverständnissen kann er überall Anlaß geben. Das, was in ihm lediglich eine natürliche Äußerung, eine normale Funktion seines außergewöhnlichen Organismus, ein vorübergehender Zustand, eine Stimmung seines Geistes ist, kann anderen Menschen als ein Höhepunkt, als Zielpunkt erscheinen, den alle erreichen müssen. Je liebevoller er sich für seine Helden und Charaktere einsetzt, je gründlicher er sie ausführt, und je lebendiger seine Darstellung ist, um so größer wird der Schaden sein. Wir alle haben den Beweis dafür vor Augen. Eine bekannte französische Schriftstellerin, die alle anderen an Begabung überragt, hat in wenigen Jahren eine gewaltigere Umwälzung in den Sitten hervorgerufen als sämtliche Schriftsteller, die sich bemühten, die Menschen zu korrumpieren. Sie hat vielleicht gar nicht einmal daran gedacht, die Unsittlichkeit zu predigen, ihre Schriften waren möglicherweise nur der Ausdruck einer vorübergehenden Verirrung, der sie in einer späteren Epoche ihrer geistigen Entwicklung vielleicht wieder entsagt, von der sie sich wieder losgesagt hat, allein das Wort war bereits gefallen: „Ein Wort ist wie ein Spatz,“ sagt ein russisches Sprichwort, „läßt du es aus der Hand, so fängst du es nie mehr ein.“

Ich selbst bin ein Schriftsteller, dem es nicht ganz an schöpferischer Begabung fehlt; ich besitze auch einige von den Gaben und Fähigkeiten, in denen eine suggestiv fortreißende Kraft liegt. Der allgemeinen Zeitströmung folgend, die nicht von uns gemacht wird, sondern dem Willen des Höchsten entspringt, ... strebe auch ich nach Bildung und Organisierung meines Ichs, wie dies auch andere tun, und ich fühle, daß ich noch sehr weit von dem Ziele entfernt bin, dem ich zustrebe, und daß ich daher nicht öffentlich hervortreten sollte. Auch das unlängst veröffentlichte Buch „Briefwechsel mit meinen Freunden“ ist ein Beweis dafür. Wenn schon dies Buch, das nicht mehr als eine Abhandlung ist, wie man sagt, durch seine Unbestimmtheit zu Irrtümern Anlaß gibt und sogar zur Verbreitung verkehrter Gedanken beiträgt, wenn schon von diesen Briefen, wie man sagt, einem ganze Sätze und Seiten wie lebendige Bilder im Kopf haften bleiben, was wäre erst dann geschehen, wenn ich, statt mit diesen Briefen, mit einem erzählenden Werk voll lebendiger Anschauungen hervorgetreten wäre? Ich fühle selbst, daß hierin weit mehr meine Stärke liegt als in theoretischen Erörterungen. Jetzt kann die Kritik mich noch angreifen, dann jedoch wäre kaum jemand imstande gewesen, mich zu widerlegen. Meine Bilder hätten etwas Suggestives gehabt und hätten sich so in den Köpfen festgesetzt, daß kein Kritiker sie von dort hätte wieder austreiben können. Man darf nicht außer acht lassen, daß alle dargestellten Personen und Charaktere die Wahrheit meiner eigenen Überzeugungen hätten beweisen müssen und meine Überzeugungen ... Wenn ich dieses Buch mit den von mir vernichteten „Toten Seelen“ vergleiche, so kann ich nicht dankbar genug sein für den mir zuteil gewordenen Impuls, sie zu vernichten. Trotzdem aber stehe ich in meinem Briefwerk auf einem höheren Standpunkt als in den vernichteten „Toten Seelen“. Die Dunkelheit des Ausdrucks verwirrt an vielen Stellen den Leser; wenn ich denselben Gedanken etwas deutlicher und klarer ausgedrückt hätte, so hätten viele Leute unterlassen, mir Einwände zu machen. In den von mir vernichteten „Toten Seelen“ ist weit mehr von dem Übergangszustand, von dem inneren Umschwung in mir zum Ausdruck gekommen, es steckt noch eine weit größere Unbestimmtheit in den grundlegenden Prinzipien darin, die Gedanken haben mehr bewegende, treibende Kraft, einzelne Teile enthalten schon sehr viel Eindrucksvolles, mit sich Fortreißendes, und die Helden haben etwas Suggestives. Kurz — als ein ehrlicher Schriftsteller hätte ich die Feder niederlegen müssen, selbst dann, wenn ich wirklich den Drang gefühlt hätte, sie zu ergreifen. Aber so etwas muß mit Besonnenheit betrachtet werden. Alle die, die leichtfertig von mir verlangen, daß ich in meiner schriftstellerischen Arbeit fortfahren soll, und doch zugleich mein letztes [Buch] schlecht machen, sollten sich doch zum mindesten die ganze Sache etwas genauer überlegen und alle Umstände in Betracht ziehen, die kein Richter außer acht läßt, wenn er über jemand zu Gericht sitzt. Ich habe den Eindruck, daß heute nicht nur ein Mensch, der schriftstellerisch tätig ist, sondern jeder Kopf überhaupt sich der Tätigkeit enthalten sollte, wenn er die Neigung hat, Schlüsse und Folgerungen zu ziehen und selbst noch ... Von den klugen Leuten sollten nur solche sich öffentlich betätigen, deren Erziehung vollendet ist und die fertige Bürger ihres Landes sind, und von den Schriftstellern nur solche, die Rußland ebenso glühend lieben wie der, der sich Kosak Luganski nennt, und die es gleich ihm verstehen, die Natur so zu schildern, wie sie wirklich ist, ohne uns das Gute und Böse an der russischen Natur zu unterschlagen, das sollten nur Schriftsteller tun, die sich einzig und allein von dem Wunsche leiten lassen, alle Welt über den wirklichen Zustand aufzuklären, in dem sich heute die Menschen in Rußland befinden.

Es wird mir sicherlich viel schwerer als irgend jemand sonst, die schriftstellerische Tätigkeit aufzugeben, wo sie doch der Inhalt aller meiner Gedanken und Wünsche war, wo ich doch allem anderen, allen Lockungen des Lebens entsagt und wie ein Mönch alle Bande, die mich an alles das, was dem Menschen hier auf Erden teuer ist, zerrissen habe, um an nichts mehr zu denken als an meine Arbeit. Es wird mir nicht leicht, der schriftstellerischen Tätigkeit zu entsagen: gehörten doch gerade die Augenblicke zu den schönsten meines Lebens, wo ich das, was ich lange in Gedanken ausgebrütet hatte, zu Papier bringen durfte; bin ich doch auch jetzt noch immer überzeugt, daß es kaum einen höheren Genuß gibt als den des Schaffens. Aber — ich wiederhole dies nochmals — als ehrlicher Mensch müßte ich meine Feder selbst dann noch niederlegen, wenn ich den inneren Drang fühlte, sie zu ergreifen.

Ich weiß nicht, ob ich ehrlich genug gewesen wäre, so zu handeln, wenn ich nicht die Fähigkeit zum Schreiben verloren hätte; denn — um ganz aufrichtig zu sein — das Leben hätte dann plötzlich allen Wert für mich eingebüßt; nicht mehr schreiben, nicht schaffen, das hätte für mich ebensoviel bedeutet, wie nicht leben. Aber es gibt keinen Verlust, für den uns nicht ein Ersatz geschaffen wird, was ein Beweis dafür ist, daß der Schöpfer den Menschen keinen Augenblick verläßt. Das Herz bleibt keinen Moment ganz leer und kann nicht ganz ohne Wunsch sein. Wie die Erde, die eine Weile vom Pflug unberührt bleibt, andere und neue Kräuter und Gräser wachsen läßt, bis sie sich in ein neues von ihnen befruchtetes und gedüngtes Ackerfeld verwandelt, so kehrten auch in mir, als ich die Fähigkeit, zu schaffen verloren hatte, meine Gedanken aufs neue zu dem Gegenstand zurück, von dem ich in meiner Kindheit geträumt hatte. Ich wollte wieder dienen; jede, selbst die kleinste und unscheinbarste Stellung hätte mir genügt, wenn ich nur meinem Vaterlande so hätte dienen können, wie ich ihm einstmals hatte dienen wollen, ja ich hätte ihm jetzt noch weit treuer und besser dienen mögen, als ich dies jemals gewünscht hatte. Der Gedanke an einen solchen Dienst hat mich niemals verlassen. Ich söhnte mich auch erst mit meiner schriftstellerischen Tätigkeit aus, als ich mich innerlich überzeugte, daß man auch auf diesem Gebiete seinem Vaterlande dienen könne. Aber auch damals dachte ich noch daran, wenn ich einmal ein großes Werk vollendet haben würde, ganz so wie die anderen Menschen in den Staatsdienst einzutreten und mir eine Stellung zu suchen. Meine Pläne und Absichten hatten bloß etwas Anmaßendes und entsprangen einer hochmütigen Gesinnung. Ich glaubte, wenn ich den Beweis dafür ablegen würde, daß ich den Russen wirklich von Grund aus, in seiner Wurzel und seinen fundamentalsten Zügen kenne, d. h. wenn ich ihn sowohl in den Zügen, die allen erkennbar, als auch in denen, die bisher noch verborgen sind, verstehe, ich glaubte, wenn ich den Beweis liefern würde, daß ich die Seele des Menschen nicht aus Büchern und Erzählungen, sondern aus Erfahrung kenne, da ich schon von frühester Jugend auf von dem Wunsche beseelt war, den Menschen begreifen zu lernen, so würde man mir eine Stellung anweisen, die es mir erlauben würde, mit Menschen aller Stände und mit vielen Leuten in persönliche Berührung zu kommen, nicht erst durch Vermittlung von Akten und Kanzleien: eine Stellung, in der ich meine Menschenkenntnis mit wirklichem Nutzen verwerten, mich vielen Leuten nützlich erweisen und mir selbst noch eine größere Menschenkenntnis erwerben würde. Es schien mir so, als ob Rußland am meisten unter den gegenseitigen Mißverständnissen leidet, und daß wir vor allem solche Menschen brauchen, die bei einiger Kenntnis der Seele und des Herzens und ganz allgemein bei einigem Wissen von dem innigen Wunsche nach Frieden beseelt wären. Ich hatte gesehen und bereits die Erfahrung gemacht, daß man durch persönliche Unterhandlungen und Aufklärungen viele Streitigkeiten beilegen konnte, die niemals auf dem Aktenwege zu erledigen sind. Ich dachte mir, wenn es auch heute keine solche Stellungen gebe, so würde ich doch, wenn mein Werk ganz fertig und bereits erschienen sei, einen solchen Posten erhalten, und ich entwarf in Gedanken bereits einen Plan, ein Projekt, in dem ich darlegen wollte, wie ich mich Rußland durch die Fähigkeiten, die ich besaß, nützlich und notwendig erweisen könnte. Ich schmiedete die kühnsten Pläne, da sie sich jedoch lediglich auf den Erfolg meines Werkes gründeten, zerfielen sie sogleich in sich, als mir die Fähigkeit, dichterische Werke zu schaffen, verloren gegangen war. Jetzt sind in meinen Augen alle Ämter und Stellungen gleichwertig, jeder Posten — der kleinste wie der größte — hat die gleiche Bedeutung, wenn man ihn nur mit dem gebührenden Ernst ansieht, und es will mir so scheinen, daß man, wenn man den Menschen nur ein wenig zu schätzen weiß und einen Begriff von seiner Würde hat, die ihm selbst dann noch erhalten bleibt, wenn der Mensch viele Fehler und Mängel hat, daß man, sofern man nur etwas wahrhaft christliche Liebe für ihn hat und endlich von wirklicher Liebe zu Rußland erfüllt ist, wie ich glaube, in jeder Stellung sehr viel Gutes wirken kann. Die Kraft des sittlichen Einflusses übertrifft alles andere. Ein Amt und eine Stellung wären für mich dasselbe wie ein Hafen und das Festland für einen Seefahrer. Ich bin überzeugt, daß heutzutage ein jeder, der von dem heißen Wunsch nach dem Guten verzehrt wird, der ein Russe ist und dem Rußlands Ehre am Herzen liegt ... sich ebenso und mit demselben Eifer zu vielen Ämtern und Stellungen im Staate drängen sollte, wie einstmals jeder von uns in die Reihen trat, um das Vaterland gegen den Feind zu verteidigen; denn das Unrecht und die Zahl der Übel sind groß, und sie haben schon viel Schmach über uns gebracht. Andererseits aber bin ich auch überzeugt, daß wir schon um unserer selbst willen ein Amt und eine Stellung brauchen, um ... So stürmisch und aufgeregt die heutige Zeit ist, so erregt und bewegt auch die Geister um uns herum sind, so sehr uns unser eigener Verstand empört, man kann bei alledem doch ruhig bleiben, wenn man nur zu dem Zweck eine Stellung annimmt, um seine Pflicht so zu erfüllen, daß man dem Himmel Rechenschaft dafür abzulegen vermag und sich dessen nicht zu schämen braucht. Wie dem auch sein mag, das Leben ist für uns kein Rätsel mehr. Es war einmal ein Rätsel, als die klügsten unter den Menschen, die Denker und Dichter, über es nachsannen und zur Überzeugung kamen, daß sie nicht wissen, was das Leben ist. Aber nachdem einmal einer — der der klügste von ihnen allen war — es mit voller Sicherheit und ohne zu schwanken oder zu zweifeln ausgesprochen hat, Er wisse, was das Leben sei; seitdem dieser Eine von allen anerkanntermaßen für den größten aller Menschen, die bisher gelebt haben, selbst von denen, die nicht zugeben wollen, daß Er Gott sei, gehalten wird, muß man Ihm aufs Wort glauben, selbst wenn Er nur ein einfacher Mensch gewesen sein sollte. Folglich ist die Frage: Was ist das Leben? gelöst.

Das aber genügt noch nicht. Uns ward ein vollständiges und umfassendes Gesetz für alle unsere Handlungen gegeben — ein Gesetz, das keine Gewalt in seiner Wirkung zu hemmen oder zu beschränken vermag, das man selbst bis in die Mauern des Gefängnisses tragen, das man jedoch nicht erfüllen kann, wenn man in der Luft schwebt; dazu muß man zum mindesten ein festes irdisches Fundament unter den Füßen haben. Wenn man ein Amt und eine Stellung innehat, befindet man sich doch immer auf einem bestimmten Wege; besitzt man dagegen keine bestimmte Stellung und kein Amt, so geht man aufs Geratewohl durch Gestrüpp und Schluchten, wenn man auch das gleiche Ziel im Auge behält. Auf einem Wege geht sich’s leichter als dort, wo es keine Wege gibt. Wenn man Amt und Stellung als Mittel zu einem Ziel betrachtet, das nicht auf der Erde liegt, sondern als einen Weg zum himmlischen Ziel — zur Rettung unserer Seele — ansieht, so erkennt man, daß das Gesetz, das uns Christus gegeben hat, nur für uns selbst gegeben ward, daß er sich gleichsam an uns selbst wendet, um uns klar und deutlich zu zeigen, wie wir uns an der Stelle, an der wir stehen, und in dem Berufe, den wir uns erwählt haben, verhalten sollen. Es ward dem Christen mit aller Bestimmtheit und Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen Höhergestellte benehmen soll, und wenn er nur einen Teil davon erfüllt, so werden ihn alle, die über ihm stehen, liebgewinnen. Es ward dem Christen in aller Bestimmtheit und Deutlichkeit gesagt, wie er sich gegen die verhalten soll, die unter ihm stehen, und wenn er nur einen Teil hiervon erfüllt, so werden ihm alle unter ihm Stehenden von Herzen ergeben sein. Diese ganze Universalität des menschenfreundlichen Gesetzes Christi, dieses Verhältnis der Menschen untereinander kann von jedem von uns auf seine begrenzte Sphäre angewandt und übertragen werden. Wir brauchen bloß alle Menschen, mit denen wir so häufig in unangenehmster und peinlichster Art zusammenstoßen, zu unseren Nächsten und unseren Brüdern zu machen, zu jenen Nächsten, denen uns Christus am meisten zu vergeben und die Er uns am meisten zu lieben geboten hat. Man braucht bloß nicht darauf zu achten, wie die anderen sich gegen uns verhalten, und nur daran zu denken, wie man selbst gegen andere Leute handelt. Man braucht bloß nicht daran zu denken, wie die anderen uns lieben, sondern bloß darauf zu achten, ob man sie auch selbst liebt. Man braucht nur, ohne sich durch irgend etwas gekränkt zu fühlen, dem ersten, dem man begegnet, die Hand zur Versöhnung entgegenzustrecken. Man braucht bloß eine kurze Zeit lang so zu handeln und man wird bald inne werden, daß der Umgang mit anderen Leuten uns selbst und daß ihnen der Umgang mit uns viel leichter wird; dann wird man wirklich die Kraft in sich fühlen, auch an einer unscheinbaren Stelle manch nützliche Tat zu vollbringen. Am schwersten hat es der in der Welt, der noch nicht irgendwo festen Fuß gefaßt hat, der sich’s nicht klarmacht, worin sein Beruf besteht: ihm ist es am schwersten, das Gesetz Christi auf sich anzuwenden, das doch dazu da ist, um auf der Erde und nicht in der Luft verwirklicht zu werden; daher muß auch das Leben ein ewiges Rätsel für ihn sein. Ihm gegenüber ist sogar der Gefangene, der im Kerker schmachtet, noch im Vorteil: er weiß, daß er ein Gefangener ist, und er weiß daher auch, was von dem Gesetz er für sich auswählen muß. Ihm gegenüber ist noch der Bettler im Vorteil, er hat auch ein Amt: er ist ein Bettler und weiß daher, was er für sich aus dem Gesetz Christi schöpfen soll. Ein Mensch jedoch, der nicht weiß, was sein Beruf, wo sein Platz ist, der sich nichts klar, der bei nichts haltmacht und nirgends festen Fuß gefaßt hat, der hat weder in der Welt noch außer der Welt ein Heim; er weiß nicht, wer sein Nächster ist, wer seine Brüder sind, wen er lieben und wem er verzeihen soll (man kann nicht die ganze Welt lieben, wenn man nicht erst einmal die lieben lernt, die einem am nächsten stehen und die Gelegenheit haben, uns Kummer zu bereiten): sein Gemütszustand hat die meiste Ähnlichkeit mit einer trockenen mattherzigen Seelenverfassung.

So war ich denn nach vielen Jahren langer Mühe und mancherlei Versuchen und häufigem Nachdenken, auf meinem Wege sichtlich vorwärtsschreitend, endlich zu dem Ergebnis gelangt, von dem ich schon während meiner Kindheit geträumt hatte, daß das Dienen die Bestimmung des Menschen und daß unser ganzes Leben ein einziger Dienst ist. Man darf nur nicht vergessen, daß man ein Amt im irdischen Staate übernimmt, um dadurch dem himmlischen König zu dienen, und daher Sein Gesetz stets im Auge behalten muß. Nur wenn man seinen Dienst in dieser Weise auffaßt, kann man es allen recht machen: dem König, dem Volk und seinem Vaterland.

Als ich diese Überzeugung gewonnen hatte, war ich schon bereit, mich voller Eifer jedem Amte zu widmen, obwohl ich natürlich bemüht war, mir mit Rücksicht auf meine Fähigkeiten einen solchen Beruf zu wählen, der mich auch weiter in den Stand setzen würde, die Menschen in Rußland auch in der Praxis kennen zu lernen; damit ich, wenn sich bei mir die Fähigkeit zum dichterischen Schaffen wieder einstellen sollte, über ein ausreichendes Material verfügte. Und so war auch einer der Gründe meiner Reise ins Heilige Land der ehrliche Wunsch, an jener Stelle zu Gott zu beten und mir von Ihm, Der uns in jenen Gegenden, die einst Sein Fuß durchschritten, das Geheimnis des Lebens offenbart hat, den Segen für eine rechtschaffene Erfüllung meiner Pflicht und für meinen Eintritt ins Leben zu erflehen; ich wollte Ihm für alles danken, was sich in meinem Leben ereignet hatte, mir von Ihm eine Tätigkeit erbitten und Ihn um Belebung und Erfrischung für den weiteren Weg und das Werk, für das ich mich herangebildet und vorbereitet hatte, anflehen. Und darin finde ich nichts Merkwürdiges, da doch auch der Schüler nach Beendigung seines Lehrganges sich beeilt, dem Lehrer ein Wort des Dankes zu sagen. Wenn doch auch der Sohn zum Grabe des Vaters eilt, bevor er seine Tätigkeit beginnt, warum sollte ich nicht jenem Grabe Ehre und Anbetung erweisen, das alle verehren, an dem allen Trost und Kräftigung zuteil wird und vor dem alle Menschen — auch solche, die keine Dichter sind — von Begeisterung ergriffen werden. Es ist vielleicht recht sonderbar, daß ich in einem gedruckten Buche hierüber geredet habe; aber ich hatte mich damals gerade von einer schweren Krankheit erholt. Ich war noch recht schwach und glaubte gar nicht, daß ich imstande sein würde, diese Reise zu vollenden. Ich wollte, daß die für mich beten sollten, deren ganzes Leben ein einziges Gebet geworden war, wußte nicht, wie ich es anstellen sollte, daß meine Stimme bis in die Tiefe der Klosterzellen und in die Mauern der Einsiedler dränge, und ich dachte, daß vielleicht einer von denen, die mein Buch lesen würden, mein Wort bis an das Ohr jener tragen möchte. Ich bat auch die anderen, für mich zu beten, weil ich nicht wußte, wessen Gebet Ihm wohlgefälliger ist, zu Dem wir alle beten. Ich weiß nur das eine, daß der Geringste und Schlechteste unter uns schon morgen ein besserer Mensch werden kann als wir alle und daß sein Gebet eher bis an Gottes Ohr dringen kann als jedes andere Gebet. Dafür hätte man mich nicht so strenge verurteilen sollen; man hätte lieber an die Worte „Bittet, so wird euch gegeben“ denken und dies Gebot erfüllen sollen.

Wie es geschehen konnte, daß ich nun genötigt bin, dem Leser über dies alles Auskunft zu geben, das kann ich selbst nicht begreifen. Ich weiß nur das eine: daß ich nie den Wunsch hatte, mich über meine geheimsten und innersten Seelenregungen zu äußern — nicht einmal meinen aufrichtigsten Freunden gegenüber. Ich war fest entschlossen, nichts von meinen Seelenerlebnissen zu verraten und alle Urteile, die über mich gefällt wurden, ruhig über mich ergehen zu lassen, da ich fest davon überzeugt war, daß, wenn erst der zweite und dritte Band der „Toten Seelen“ erscheinen würden, sich alles aufklären und niemand mehr die Frage stellen würde: was ist der Autor selbst für ein Mensch? trotzdem der Autor gänzlich hinter seinen Helden verschwinden sollte. Nachdem ich mich jedoch einmal darauf eingelassen hatte, gewisse Erklärungen über meine Werke abzugeben, war es ganz unvermeidlich, daß ich auch von mir selbst reden mußte, weil meine Werke auf das engste mit meinen geistigen und seelischen Angelegenheiten in Zusammenhang stehen. Gott weiß, vielleicht geschah auch dies ohne den Willen Dessen, ohne Den in der Welt nichts geschieht; ja, vielleicht mußte dies gerade deswegen geschehen, damit ich einen Einblick in mein eigenes Innere gewinnen konnte. Die Versuchung, hochmütig zu werden, lag mir sehr nahe, besonders nachdem es mir gelungen war, mich tatsächlich von einigen Fehlern und Mängeln zu befreien. Dieser Hochmut nistete beständig in meiner Seele und niemand hat mich darauf aufmerksam gemacht. Bekanntlich genügt es schon, sich eine gewisse Glätte, ein gewisses Gleichmaß und eine gewisse Nachsicht und Toleranz im Umgang mit den Menschen anzueignen, damit sie unsere Fehler übersehen und nicht beachten. Wenn man sich dagegen vor unbekannten Leuten und vor der ganzen Welt zur Schau stellt, und wenn jede unserer Handlungen und Taten bis ins einzelne zerfasert wird, wenn Menschen der verschiedensten Denkungsart, der verschiedensten Anschauungen und mit den verschiedensten Vorurteilen sich jeder nach seiner Weise ein Bild von uns machen, wenn dann von allen Seiten berechtigte und unberechtigte Vorwürfe auf einen niederhageln und mit Vorbedacht oder auch ohne böse Absicht an die empfindlichsten Seiten unseres Wesens rühren, dann fängt man an — ob man nun will oder nicht — sich von solch einer Seite zu sehen, von der man sich noch nie gesehen hat, und man beginnt Fehler und Mängel in sich zu suchen, die man sonst nie in sich gesucht hätte. Das ist eine furchtbare Schule, die einen entweder um den Verstand bringt oder klüger und vernünftiger macht, als man jemals war. Nicht ohne Scham und ohne Erröten lese ich vieles in meinem Buche, trotzdem aber danke ich Gott, daß Er mir die Kraft gegeben hatte, es herauszugeben. Ich brauchte einen Spiegel, in dem ich mich erblicken und besser erkennen konnte, ohne dies Buch aber wäre ich schwerlich in den Besitz eines solchen Spiegels gekommen. Und so hat denn mein Buch, das aus der ehrlichen Absicht entsprungen war, anderen zu nützen, vor allem mir selbst am meisten genützt.

Es sei mir erlaubt, an dieser Stelle auch einige Worte über den Nutzen zu sagen, den mein Buch anderen Leuten bringen kann. Ist mein Buch wirklich so ganz wertlos für andere Menschen, besonders aber für die Gesellschaft, wie sie heute ist? Mir scheint, alle, die über dies Buch geurteilt haben, haben es mit zu weit aufgerissenen Augen und gar zu hitzig und heftig betrachtet. Man hätte es weit kaltblütiger beurteilen sollen. Statt als Vorkämpfer der ganzen Gesellschaft aufzutreten und mich im Angesicht des ganzen russischen Vaterlandes vor Gericht zu laden, hätte man die Sache viel einfacher ansehen sollen. Man hätte das Buch analysieren, man hätte feststellen sollen, was es seinem innersten Wesen nach ist, und man hätte nicht eher auf die Einzelheiten und die Teile eingehen dürfen, als bis man sich den inneren Sinn des Ganzen völlig klargemacht hatte. Nun aber hatte das allerhand törichte Wortstreitigkeiten zur Folge, ja vielem wurde ein solcher Sinn untergelegt, von dem ich mir nie hatte etwas träumen lassen.

Zunächst hätte ich jederzeit das Recht gehabt, davon zu reden, wovon ich in meinem Buche gesprochen habe, wenn ich mich nur einfacher und schicklicher ausgedrückt hätte. Es ist mir nie eingefallen, die Menschen in der Weise belehren zu wollen, wie mir das einige imputieren wollten. Das Lehren verstand ich in dem einfachen Sinne, den die Kirche im Auge hat, wenn sie gebietet, einander unaufhörlich zu belehren, wobei man es verstehen muß, mit derselben Freude Ratschläge von anderen entgegenzunehmen, mit der man selbst anderen welche erteilt. Ich aber war damals wirklich bereit, Ratschläge von anderen Menschen entgegenzunehmen. Ich stellte mir die Gesellschaft keineswegs als eine Schule vor, die mit Schülern von mir angefüllt ist, deren Lehrer ich bin. Ich bestieg mit meinem Buch kein Katheder und verlangte nicht, daß alle aus diesem Buche lernen sollten. Ich kam zu meinen Mitbrüdern und Mitschülern wie ein ihnen gleichgestellter Schulkamerad; ich brachte einige Hefte mit, in denen ich die Worte des Lehrers nachgeschrieben hatte, von Dem wir alle lernen; ich brachte vielerlei mit; mochte sich jeder das davon wählen, was er brauchen konnte. Es waren Briefe darunter, die an Personen von verschiedenem Charakter und verschiedenen Anlagen und Neigungen gerichtet waren. Viele von diesen Personen standen auf ganz verschiedenen Stufen der geistigen Entwicklung; daher konnten sich diese Briefe unmöglich in gleicher Weise auf alle Menschen beziehen und auf sie alle passen. Ich dachte mir, jeder würde sich nur das davon aneignen, was er brauchte, und das andere nicht beachten. Ich hatte nicht geglaubt, daß so mancher gerade danach greifen würde, dessen ein anderer bedurfte, ausrufen würde: „Das kann ich nicht brauchen!“ und mir dann noch zürnen würde. Ich wollte auch keine neue Lehre verkünden. Als ein Schüler, der in einigen Fächern etwas weiter fortgeschritten ist als ein anderer Mitschüler, wollte ich es den übrigen Kameraden bloß klarmachen, wie man die Lektion, die uns von dem besten aller Lehrer aufgegeben wird, am schnellsten und leichtesten lernt. Ich hatte geglaubt, wenn man mein Buch gelesen haben würde, würde man zu mir sagen: „Ich danke dir, Mitbruder!“ und nicht: „Ich danke dir, mein Lehrer!“ Wenn nur nicht mein „Testament“ gewesen wäre, das ich unvorsichtigerweise mitaufgenommen habe und in dem ich auf die Belehrung anspielte, die jeder Autor seinen Mitmenschen mit seinen poetischen Werken erteilen sollte, so wäre es niemand eingefallen, mir solche apostolische Absichten zuzuschreiben, trotz meines ziemlich entschiedenen Tons, ja sogar trotz der lyrischen Feierlichkeit meiner Rede. Dagegen wird ein jeder, der bereits in seine eigene Seele zu blicken vermag, meinem Buche mancherlei entnehmen können, was ihm von Nutzen sein dürfte.

Was ferner die Meinung anbetrifft, daß mein Buch schädlich wirken müsse, so kann ich dies unter keinen Umständen zugeben. In dem Buche kommt trotz all seiner Mängel die gute Absicht und die Liebe zum Guten viel zu deutlich zum Ausdruck. Trotz vieler unbestimmter und dunkler Stellen leuchtet der Grundgedanke ganz klar aus ihm hervor; und wenn man das Werk gelesen hat, kommt man zu der gleichen Überzeugung: nämlich daß die höchste Instanz in allen Fragen die Kirche und daß sie der Schlüssel zu allen Fragen des Lebens ist. Folglich wird sich der Leser nach der Lektüre meines Buches auf jeden Fall an die Kirche wenden, in der Kirche aber wird er wiederum nur die Lehrer der Kirche finden, die ihn darüber belehren werden, was er sich aus meinem Buche für seine Zwecke aneignen soll; vielleicht aber werden sie ihm auch andere bedeutsamere Bücher statt des meinen geben, um derentwillen er mein Buch beiseitelegen wird, so wie ein Schüler das Buchstabieren aufgibt, wenn er frei lesen gelernt hat.

Zum Schluß muß ich noch folgendes bemerken: die Urteile, die über mein Buch gefällt wurden, waren wirklich gar zu apodiktisch und scharf, und keiner, der mir Mangel an echter Bescheidenheit vorgeworfen hat, hat mir gegenüber die rechte Bescheidenheit an den Tag gelegt. Angenommen selbst, ich hätte mir in meinem Hochmut, der aus dem Glauben an meine Vorzüge entsprang, die mir von allen Leuten zugeschrieben wurden, einbilden können, daß ich höher stehe als alle anderen Menschen und daß ich das Recht habe, über andere Leute zu richten, worauf aber könnte sich der stützen, der mit solcher Sicherheit über mich zu Gericht sitzt und nicht einmal das Gefühl hat, daß er höher steht als ich? Wie dem auch sein mag, um ein allseitiges Urteil über einen Menschen zu fällen, dazu muß man höher stehen als der, über den man richtet. Man kann wohl gewisse Bemerkungen über diese oder jene Einzelheit machen, man kann Meinungen äußern und Ratschläge erteilen, allein über den ganzen Menschen aburteilen, indem man sich auf diese Ratschläge stützt, ihn für völlig verrückt erklären, behaupten, er habe seinen Verstand verloren, er sei ein Lügner und Betrüger, der die Maske der Frömmigkeit angelegt habe, ihm gemeine und niederträchtige Absichten unterlegen — nein, das sind Beschuldigungen, wie ich sie niemals, nicht einmal gegen einen offenkundigen Schurken, der das Schandmal der öffentlichen Verachtung trägt, vorzubringen imstande wäre. Mir scheint, ehe man solche Beschuldigungen ausspricht, müßte man innerlich erschrecken und erbeben, man sollte erst ein wenig darüber nachdenken, wie uns selbst wohl dabei zumute wäre, wenn öffentlich und vor aller Welt solche Anschuldigungen gegen uns erhoben würden! Es wäre wirklich gut, wenn man sich’s erst ein wenig überlegte, ehe man eine solche Beschuldigung erhebt: „Irre ich mich auch selbst nicht? Ich bin doch auch ein Mensch! Es handelt sich hier um die Seele. Die Seele des Menschen ist ein Brunnen, zu dem es nicht für alle einen Zugang gibt, und man darf sich nicht auf die äußere scheinbare Ähnlichkeit gewisser Merkmale verlassen. Oft haben schon die geschicktesten Ärzte eine Krankheit für eine andere gehalten und ihren Fehler erst dann erkannt, als sie bereits den Leichnam des Toten secierten.“ Nein, das Buch „Briefwechsel mit meinen Freunden“ enthält, so große Mängel es in jeder Hinsicht haben mag, doch auch viel Derartiges, was nicht allen sofort verständlich sein kann. Es nützt nichts, sich darauf zu berufen, daß man das Buch zwei- oder dreimal gelesen hat: manch einer kann es zehnmal lesen, und es wird doch nichts dabei herauskommen. Um dieses Buch nur im mindesten nachzuerleben, muß man entweder eine sehr einfache und gütige Seele haben oder ein sehr vielseitiger Mensch sein, der außer einem Verstande, der die Dinge von allen Seiten zu umfassen vermag, auch noch über ein hohes poetisches Talent und eine Seele verfügt, die einer vollen, großen und tiefen Liebe fähig ist.

Ich kann nicht leugnen, daß diese ganzen Wirrnisse und diese Mißverständnisse sehr bitter für mich waren — um so mehr, als ich geglaubt hatte, daß mein Buch eher den Keim zur Versöhnung als zu Streit und Zwietracht enthalte. Meine Seele wäre unter all den Vorwürfen zusammengebrochen; manche darunter waren so fürchterlich, daß Gott jeden vor solchen Anklagen bewahren möge! Andererseits aber fühle ich mich verpflichtet, denen meinen Dank auszusprechen, die mich auch wegen vieler Verfehlungen hätten mit Vorwürfen überschütten können, die mich aber in dem Gefühl, daß sie bereits das Maß dessen überstiegen, was die schwache Natur des Menschen zu ertragen vermag, mit der Hand eines mitleidigen Bruders erhoben und mir Mut zugesprochen haben. Gott möge es ihnen vergelten! Ich kenne keine größere Tat, als einem Menschen, der den Mut verliert, hilfreich die Hand zu reichen.

1847.

An W. A. Schukowski

Neapel, den 10. Januar 1848./29. Dezember 1847.

Ich bin in deiner Schuld, lieber Freund! Jeden Tag nehme ich mir vor, zu schreiben — aber eine unbegreifliche Unlust hindert mich immer wieder daran. Wieder liegen Neapel, der Vesuv und das Meer vor mir! Die Tage fliehen in steter Beschäftigung dahin, die Zeit vergeht so schnell, daß man nicht weiß, wie man eine Stunde erübrigen soll. Ich lerne wie ein Schuljunge und hole alles nach, was ich in der Schule zu lernen unterlassen habe. Aber wozu soll ich davon erzählen! Ich möchte davon sprechen, wovon ich mit dir allein sprechen kann: nämlich von unserer lieben Kunst, für die ich lebe und um derentwillen ich jetzt arbeite und lerne wie ein Schulknabe. Da ich jetzt vor einer Reise nach Jerusalem stehe, möchte ich dir mein Herz ausschütten; wem gegenüber könnte ich das auch tun, wenn nicht dir gegenüber? Die Literatur hat ja doch fast mein ganzes Leben ausgefüllt, und hier liegen meine Hauptsünden.

Nun sind es bald zwanzig Jahre, daß ich, ein Jüngling, der kaum ins Leben getreten war, zum erstenmal zu dir kam, der bereits den halben Weg auf diesem Felde zurückgelegt hatte. Das war im Schlosse von Schepelejow. Das Zimmer, wo diese Begegnung stattfand, existiert bereits nicht mehr; aber ich sehe es noch deutlich und in allen Einzelheiten — bis auf das kleinste Möbelstück und die geringsten Sachen, die darin standen, vor mir, wie wenn es heute wäre. Du reichtest mir die Hand und warst ganz erfüllt vom Verlangen, dem künftigen Mitkämpfer zu helfen. Wie wohlwollend und liebevoll war dein Blick! ... Was war es, das uns, zwei Menschen von so verschiedenem Alter, zusammenführte? Es war die Kunst! Wir fühlten, daß zwischen uns eine Verwandtschaft bestand, die stärker war als die gewöhnliche Blutsverwandtschaft. Und woher kam das? Weil wir beide etwas von der Heiligkeit der Kunst verspürt hatten.

Es ist nicht meine Sache, zu entscheiden, in welchem Maße ich Dichter bin; ich weiß nur das eine, daß ich, noch ehe ich die Bedeutung und das Ziel der Kunst verstehen lernte, schon wie durch einen geheimen Instinkt meiner ganzen Seele empfand, daß sie was Heiliges sein müsse. Und so wurde sie denn, wohl von dieser unserer ersten Begegnung ab, das Erste, die wichtigste Angelegenheit meines Lebens, während alles andere an die zweite Stelle rückte. Es schien mir so, als ob ich mich von nun ab durch keine anderen Bande mehr an die Erde fesseln lassen dürfte, weder durch die Familie, noch durch das amtliche Leben des Bürgers, und daß die literarische Laufbahn auch eine Art Dienst sei. Noch gab ich mir keine Rechenschaft (konnte ich sie mir denn damals auch geben?), was der Gegenstand meiner literarischen Tätigkeit sein müsse, aber schon regte sich die schöpferische Kraft in mir und ich wurde durch die näheren Lebensumstände selbst auf bestimmte Gegenstände hingewiesen. Dies alles spielte sich gleichsam unabhängig von meiner eigenen (freien) Willkür ab. So dachte ich zum Beispiel niemals daran, daß ich einmal ein satirischer Schriftsteller werden und meine Leser zum Lachen reizen würde. Allerdings hatte ich schon in der Schule bisweilen eine gewisse Neigung zur Lustigkeit und ich plagte meine Mitschüler mit unpassenden Scherzen. Aber das waren vorübergehende Anwandlungen; im allgemeinen hatte ich eher einen melancholischen Charakter und ein zum Nachdenken neigendes Wesen. Später kamen noch Krankheit und Hypochondrie dazu, und diese Krankheit und Hypochondrie waren die Ursache jener ausgelassenen Lustigkeit, die sich in meinen ersten Werken bemerkbar macht. Um mich selbst zu zerstreuen, pflegte ich mir ohne jede weitere Absicht und ganz planlos gewisse Charaktere auszudenken, die ich dann in komische Situationen versetzte — und das war der Ursprung meiner Erzählungen! Meine Leidenschaft für die Menschenbeobachtung, die mich schon seit den frühesten Tagen meiner Kindheit erfüllte, verlieh meinen Gestalten etwas Natürliches; man sagte sogar von ihnen, es seien getreue Porträts nach der Natur. Dazu kommt noch ein anderer Umstand: mein Lachen hatte anfänglich etwas Gutmütiges, ich dachte gar nicht daran, irgendein Ding in einer ganz bestimmten Absicht zu verspotten, und ich war aufs höchste erstaunt, wenn ich hörte, es fühle sich jemand gekränkt oder ganze Gesellschaftsklassen und -stände zürnten mir darob, so daß ich schließlich nachdenklich wurde. „Wenn die Macht des Gelächters so groß ist, daß man es fürchtet, so darf man es nicht mißbrauchen.“ Ich entschloß mich also, alles Schlechte, das mir bekannt war, zu sammeln, in einem Ganzen zusammenzufassen und dann dieses Ganze dem Gelächter preiszugeben — so entstand der „Revisor“. Das war mein erstes Werk, das aus der Absicht entsprang, einen heilsamen Einfluß auf die Gesellschaft auszuüben, was mir übrigens nicht gelungen ist: man hat aus der Komödie die Absicht herauserkennen wollen, die gesetzliche Ordnung und unsere Regierungsform zu verspotten, während ich nur die eigenmächtige Übertretung dieser rechtmäßigen und gesetzmäßig sanktionierten Ordnung durch einzelne Personen verspotten wollte. Ich zürnte sowohl meinen Zuschauern, die mich nicht verstanden hatten, als auch mir selbst, der die Schuld daran trug, daß ich nicht verstanden worden war. Ich wollte entfliehen und alles im Stiche lassen. Meine Seele dürstete nach der Einsamkeit, ich hatte das Bedürfnis, aufs ernsthafteste über meinen Beruf und meine Tätigkeit nachzudenken. Schon lange trug ich mich mit dem Gedanken an ein großes Werk, in dem alles Gute und Böse, das es im russischen Menschen gibt, dargestellt und in dem die Eigenart unseres russischen Wesens möglichst klar und deutlich sichtbar gemacht werden sollte. Ich sah und konnte wohl viele von den Teilen einzeln erfassen, aber der Plan des Ganzen wollte sich mir nicht zu voller Klarheit gestalten und so bestimmte Formen annehmen, daß ich ans Werk gehen und mit der Niederschrift beginnen konnte. Bei jedem Schritt fühlte ich, daß mir noch vieles fehlte, daß ich es noch nicht verstand, den Knoten der Vorgänge und Begebenheiten zu schürzen und ihn wieder zu lösen, und daß ich erst bei den großen Meistern in die Schule gehen und von ihnen lernen mußte, wie man ein großes Werk aufbauen und komponieren muß. Ich begann also die großen Meister zu studieren und machte zunächst den Anfang mit unserem lieben Homer. Schon kam es mir so vor, als ob ich etwas zu verstehen begann und sogar anfing, mir ihre Methoden und sogar ihre Kunstgriffe zu eigen zu machen, — allein die schöpferische Fähigkeit wollte sich noch immer nicht einstellen. Mein Kopf tat mir weh von all der Anstrengung. Nur unter Aufwendung großer Mühen gelang es mir, wenigstens den ersten Teil der „Toten Seelen“ herauszugeben, gleichsam um hierbei zu erkennen, wie weit ich noch von dem Ziele entfernt war, nach dem ich strebte. Danach aber wurde ich wieder von einer unfruchtbaren Stimmung erfaßt. Ich kaute an meiner Feder, meine Nerven und alle meine Kräfte waren in einem Zustande der Erregung — und es kam nichts zustande, ich glaubte schon, ich hätte die Fähigkeit zum literarischen Schaffen völlig verloren. Da ließen mich plötzlich Krankheit und schwere seelische Zustände dies alles, ja sogar jeden Gedanken an die Kunst vergessen und lenkten mich wieder auf das hin, wozu ich schon früher, noch ehe ich Schriftsteller geworden war, immer Lust verspürt hatte — nämlich auf die Beobachtung des inneren Menschen und der Menschenseele. Oh, um wieviel tiefer ist die Erkenntnis, die einem aufgeht, wenn man mit seiner eigenen Seele beginnt! Auf diesem Wege trifft man auch ganz unwillkürlich näher mit Ihm zusammen, Der allein unter allen Menschen, die bisher auf Erden wandelten, in Seiner Person eine volle Erkenntnis der Menschenseele an den Tag gelegt hat; selbst wenn die Welt Seine Göttlichkeit leugnen wollte, diese Eigenschaft könnte sie Ihm niemals abstreiten, es sei denn, daß sie nicht bloß blind, sondern ganz einfach dumm geworden wäre. Durch diese schroffe Wendung, die nicht mit meinem Willen geschah, wurde ich dazu veranlaßt, überhaupt tiefer in die Seele hinabzublicken, um zu erfahren, daß es höhere Grade und höhere Erscheinungsformen des Seelischen gibt. Von da ab begann die schöpferische Fähigkeit wieder in mir zu erwachen: wieder beginnen lebendige Gestalten in voller Klarheit vor mir aus dem Nebel emporzutauchen, ich fühle, daß die Arbeit mir glücken, ja, daß selbst meine Sprache korrekt und klangvoll werden und daß mein Stil erstarken wird. Vielleicht wird noch einmal ein künftiger Kreisschullehrer unmittelbar nach einer Seite aus einem Werke von dir seinen Schülern eine Seite aus meiner künftigen Prosa vorlesen und erklärend hinzufügen: „Beide Schriftsteller haben richtig geschrieben, obwohl sie einander nicht gleichen.“ Die Herausgabe meines Buches „Briefwechsel mit meinen Freunden“, mit der ich mich (aus lauter Freude, daß meine Feder wieder einmal in Schwung gekommen war) so beeilt habe, ohne zu überlegen, daß ich, bevor ich mit diesem Buche jemand zu nützen vermochte, mit ihm vielen Leuten den Kopf verwirren konnte, hat mir selbst manchen Vorteil gebracht. An diesem Buche ist es mir klar geworden, wo und in welchem Punkte ich ein Opfer jener Maßlosigkeit und des Überschwangs geworden bin, dem in dem Übergangszustande, in dem sich die Gesellschaft gegenwärtig befindet, fast jeder vorwärtsschreitende Mensch verfällt. Trotz der Parteilichkeit, mit der dieses Buch beurteilt wurde, und trotz der Widersprüche in der Beurteilung, kam doch schließlich die allgemeine Stimme zur Geltung, die mir meinen Platz anwies und mich auf die Grenzen aufmerksam machte, die ich als Schriftsteller nicht überschreiten durfte. In der Tat, es ist nicht meine Aufgabe, durch Predigen zu belehren. Die Kunst ist auch ohnedies schon eine Lehrmeisterin. Meine Aufgabe ist es, durch lebendige Bilder und nicht in der Form der Beweisführung zu den Menschen zu sprechen. Ich muß das Leben selbst und als solches darstellen und nicht Betrachtungen über das Leben anstellen. Das ist eine völlig evidente Wahrheit. Aber es ist die Frage: hätte ich auch ohne diesen großen Umweg ein würdiger Vertreter der Kunst und ein schöpferischer Künstler werden können? hätte ich das Leben so in seinen Tiefen darstellen können, daß es den Menschen wirklich zur Belehrung dienen konnte? Wie vermöchte man Menschen darzustellen, wenn man nicht vorher erkannt hat, was die Seele des Menschen ist? Ein Schriftsteller muß, wenn er bloß die schöpferische Gabe besitzt, eigene Gestalten und Bilder zu produzieren, erst einen Menschen und Bürger seines Landes aus sich machen; erst dann darf er zur Feder greifen! Sonst wird ihm alles mißlingen. Was hilft’s, die Verächtlichen und Lasterhaften zu treffen, indem man sie vor allen Menschen an den Pranger stellt, wenn das Ideal ihres Widerparts, das Ideal des schönen Menschen in uns selbst noch nicht zur Klarheit und Deutlichkeit gediehen ist? Wie soll man die Fehler und das Unwürdige im Menschen darstellen, wenn man sich selbst noch nicht die Frage vorgelegt hat: worin besteht denn eigentlich die Menschenwürde? und so lange man noch keine einigermaßen befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden hat? Wie soll man die Ausnahmen verspotten, wenn man sich noch nicht ganz über die Regeln klar ist, deren Ausnahmen die dargestellten Objekte bilden? Das hieße doch das alte Haus einreißen, ehe man die Möglichkeit hat, ein neues an seiner Stelle zu erbauen. Aber Kunst hat nichts gemein mit Zerstörung. In der Kunst liegt ein Keim des Schöpferischen, ein aufbauendes Element und nicht ein Element der Zerstörung. Das hat man stets empfunden, selbst in Zeiten der allgemeinen Finsternis und Unwissenheit. Bei den Klängen der orphischen Leier wurden Städte erbaut. Trotz des noch ungeklärten und ungeläuterten Begriffs, den unsere Gesellschaft von der Kunst hat, hört man doch schon allgemein sagen: „Die Kunst versöhnt mit dem Leben.“ Das ist wirklich wahr. Ein echtes Kunstwerk enthält etwas Beruhigendes, Versöhnendes in sich. Während wir es lesen, erfüllt sich unsere Seele mit einer ebenmäßigen Harmonie, und wenn man es zu Ende gelesen hat, fühlt sie sich befriedigt: man wünscht nichts mehr, man verlangt nach nichts, es regt sich kein Zorn und keine Entrüstung wider unseren Bruder in unseren Herzen, eher noch ergießt sich in ihm der Balsam einer alles vergebenden Liebe zu unseren Brüdern; überhaupt regt sich kein Tadel gegen die Handlungsweise der anderen in uns, sondern alles fordert uns zur Betrachtung unseres eigenen Ichs auf. Wenn vom Werk des Künstlers keine solche Wirkung ausgeht, so ist es nichts als die edle Regung einer glühenden Seele, die Frucht einer vorübergehenden Stimmung des Autors. Es wird wohl weiterleben, wie eine beachtenswerte Erscheinung, aber sich nicht den Namen eines Kunstwerks verdienen. Und das mit Recht. Die Kunst ist eine Macht, die mit dem Leben versöhnt.

Die Kunst soll unsere Seele mit Harmonie und Ordnung erfüllen und nicht Verwirrung und Verstimmung in sie hineintragen. Die Kunst soll uns die Menschen unserer Erde so darstellen, daß ein jeder das Gefühl hat: das sind lebendige Menschen, die demselben Leibe entstammen und aus demselben Stoffe geschaffen sind wie wir. Die Kunst soll uns alle edlen Züge und Eigenschaften unseres Volkscharakters vor Augen führen, selbst die nicht ausgenommen, denen es an einem Spielraum für ihre freie Entfaltung fehlte und die daher noch nicht von allen beachtet und in dem Maße gewürdigt sind, daß jeder sie in sich selbst entdeckt und von dem glühenden Wunsche ergriffen wird, das bisher von ihm Vernachlässigte und längst Vergessene zu pflegen und zur Entwicklung zu bringen.

Die Kunst muß uns auch alle schlechten Züge und Eigenschaften unseres Volkscharakters so vor Augen führen, daß jeder von uns ihre Keime vor allem in sich selbst wiederfindet und veranlaßt wird, darüber nachzudenken, wie er zunächst einmal in sich selbst alles, was die hohe Würde unseres Wesens verdunkelt, ausrotten könne. Erst dann und erst auf diese Weise wird die Kunst ihre Bestimmung erfüllen und Ordnung und Harmonie in die menschliche Gesellschaft hineintragen.

So laß uns denn, nachdem wir zu Gott gebetet und seinen Segen auf uns herabgefleht haben, kraftvoller als je wieder an unsere liebe Kunst gehen. Was mich anbetrifft, so will ich alles andere auf eine künftige Zeit verschieben (wenn ich je durch Gottes Gnade dessen im geringsten würdig werden sollte) und mich in intensivster Weise den „Toten Seelen“ widmen. Ich will nach Jerusalem reisen (dies muß ich um jeden Preis tun, denn ich müßte mich schämen, wenn ich es nicht täte). Ich will dort, so gut ich kann, Gott meinen Dank für alles Vergangene aussprechen; ich will dort beten, daß meine Seele gekräftigt werde und meine Fähigkeiten und Geisteskräfte sich sammeln und konzentrieren mögen, und dann mit Gott an die Arbeit gehen. Wie lebhaft und innig wünschte ich, daß Gott uns wieder einmal zusammenführen möge, und daß wir wieder einmal eine Zeitlang in Moskau nahe beieinander leben könnten. Jetzt wäre es noch notwendiger, uns das von uns Geschriebene noch einmal vorzulesen und übereinander zu Gericht zu sitzen. Sodann gratuliere ich dir zum neuen Jahr. Gebe Gott, daß es für uns beide ein recht fruchtbares Jahr werde, weit fruchtbarer als die verflossenen Jahre. Und nun leb’ wohl, mein Lieber! Ich küsse dich und umarme dich innig. Schreibe mir. Dein Brief wird mich noch in Neapel erreichen. Vor dem Februar gedenke ich nicht aufzubrechen.

Ich umarme deine ganze liebe Familie sowie die Reuterns.

Dein G.

Wenn du findest, daß dieser Brief einigen Wert hat, so hebe ihn auf. Man könnte ihn in der zweiten Auflage des „Briefwechsels“ an die Spitze des Buches, d. h. an die Stelle des „Testaments“ stellen, das fortgelassen werden soll, und ihm den Titel geben: „Die Kunst ist die Macht, die uns mit dem Leben versöhnt.

Ich will dich immer noch etwas fragen und vergesse es jedesmal: besitzt du nicht die lateinische Übersetzung der Odyssee mit untergelegtem Text, die neulich in Paris erschienen ist. Es ist eine sehr schöne Ausgabe. Der ganze Homer in einem Bande Groß-Oktav editore Ambrosio Firmin Didot Parisiis 1846. Ich hatte den Eindruck, daß die Übersetzung recht anständig sei, und sie könnte dir weit mehr nützen als alle anderen.

Meine Adresse lautet: Neapel, poste restante, oder noch besser, Hôtel de Rome; damit jedoch der Brief nicht nach der Stadt Rom gesandt wird, muß das Wort Neapel recht deutlich und in die Augen fallend geschrieben werden.

Betrachtungen
über die
Heilige Liturgie
1845-1852.

Vom Moskauer Geistlichen Zensur-Komitee zum Druck genehmigt.

Moskau, den 9. Februar 1889.

Der Zensor: Priester Grigori Djatschenko.

Vorrede

Der Zweck dieses Buches ist, jungen Leuten und Anfängern, die noch keinen rechten Begriff von der Bedeutung unserer Liturgie haben, zu zeigen, in welcher Vollständigkeit sie bei uns zelebriert wird und welch tiefer Zusammenhang in ihr herrscht. Aus allen den zahlreichen Erklärungen, die von den Kirchenvätern und -lehrern herrühren, sind hier nur die ausgewählt, die wegen ihrer Einfachheit und Verständlichkeit von jedermann begriffen werden können und die in erster Linie dazu dienen, die notwendige und richtige Ordnung, gemäß der eine Handlung aus der anderen hervorgeht, begreiflich zu machen[3]. Der Zweck, den der Autor mit der Herausgabe dieses Buches verfolgte, war der: dazu beizutragen, daß sich der Leser eine Vorstellung von der Ordnung und Reihenfolge des Ganzen bilde. Er ist überzeugt, daß sich jedem, der der Liturgie mit Aufmerksamkeit folgt und jedes Wort bei sich wiederholt, ihre tiefe innere Bedeutung von selbst erschließen wird.

Einleitung

Die Göttliche Liturgie ist die ewige Wiederholung des großen Liebeswerkes, das für uns geschehen ist. Tief bekümmert über ihre Gebrechen und Unvollkommenheiten hatten die Menschen überall und an allen Enden der Welt ihren Schöpfer um Hilfe angefleht — sowohl die, die in der Finsternis des Heidentums verharrten, als auch die, die keine Gotteserkenntnis besaßen —, fühlten sie doch, daß hier auf Erden Ordnung und Harmonie nur durch Den hergestellt werden könnten, Der die von Ihm selbst erschaffenen Welten geheißen hatte, sich in streng geregelten Bahnen zu bewegen. Überall rief die schmerzbewegte Kreatur ihren Schöpfer herbei. Alles schrie qualvoll zum Urheber seines Daseins empor, und diese Klagen tönten am lautesten und deutlichsten aus dem Munde der Auserwählten und der Propheten. Man hatte ein dunkles Vorgefühl, ja man wußte, daß der Schöpfer, Der sich hinter Seinen Werken versteckt hatte, noch einmal persönlich vor die Menschen treten — daß Er in Gestalt keines Geringeren als jenes von Ihm selbst nach Seinem Bilde erschaffenen Wesens vor ihnen erscheinen würde. Sowie sich die Begriffe, die man sich von der Gottheit machte, zu reinigen begannen, tauchte überall der Gedanke einer irdischen Menschwerdung Gottes auf. Nirgends aber wurde mit solcher Klarheit und Deutlichkeit davon gesprochen, wie bei den Propheten des von Gott auserwählten Volkes. Seine reine Fleischwerdung durch die reine Jungfrau wurde selbst von den Heiden vorausgeahnt, nirgends jedoch in jener leuchtenden greifbaren Klarheit wie bei den Propheten.

Diese Klagen fanden Erhörung: Er kam in die Welt, durch Den die Welt erschaffen ward. Er erschien unter uns in Menschengestalt, wie es die Menschen — selbst in der finstersten Finsternis des Heidentums vorausgeahnt und dunkel gefühlt hatten — nur nicht in der Weise, wie man es sich zufolge der noch ungeläuterten Begriffe vorgestellt hatte — nicht in stolzer Pracht und Majestät, nicht als Richter, der da kommt, um die Verbrecher zu strafen, die einen zu vernichten und die anderen zu belohnen. O nein! Man vernahm nichts als einen sanften Bruderkuß. Er erschien in der Gestalt, wie sie nur Gott allein eigentümlich ist, und wie sie die göttlichen Propheten, an die Gottes Gebot ergangen war, vorgebildet hatten.

Das Offertorium
(Proscomidia)

Der Priester, der die Liturgie zelebrieren soll, muß schon am Vorabend auf körperliche und geistige Nüchternheit Wert legen und Enthaltsamkeit üben, er muß sich mit allen Menschen ausgesöhnt haben und sich davor hüten, noch etwas wie Ärger oder Zorn gegen irgend jemand zu hegen. Wenn dann die Stunde gekommen ist, betritt er die Kirche. Der Diakon und er beugen sich anbetend vor der Königspforte, küssen das Bild des Heilands, das Bild der Mutter Gottes, verbeugen sich vor allen Heiligen, verneigen sich nach rechts und links vor allen Anwesenden, indem sie hierdurch alle um Vergebung bitten, und betreten den Altarraum, wobei sie still für sich die Worte des Psalms sprechen. „Ich aber will in Dein Haus gehen und anbeten gegen Deinen heiligen Tempel in Deiner Furcht.“ Sodann treten sie vor den Hochaltar, fallen [mit dem Gesicht gen Osten gewandt] dreimal vor ihm nieder und küssen das auf ihm liegende Evangelium, als wäre der auf dem Hochaltar Thronende Gott selbst, sie küssen auch den heiligen Abendmahlstisch und gehen sodann hin, sich in die heiligen Gewänder zu hüllen, um sich hierdurch nicht nur von den anderen Menschen zu unterscheiden, sondern auch um sich von sich selbst zu befreien, damit nichts an ihnen an einen Menschen erinnere, der noch seinen alltäglichen irdischen Geschäften nachgeht. Mit den Worten „Gott! reinige mich armen Sünder und erbarme Dich meiner!“ erfassen Priester [und Diakon] die Gewänder. Zuerst zieht sich der Diakon an; er bittet den Priester um seinen Segen und legt das Chorhemd (Sticharion) und ein Untergewand von glänzender, leuchtender Farbe an, das gleichsam zum Symbol des lichten Engelskleides dient und die makellose Herzensreinheit andeuten soll, die unzertrennlich mit dem Priesteramt verbunden sein muß. Daher spricht er auch, während er sich den Rock anzieht, die Worte: „Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott: denn Er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rock der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Schmuck gezieret und wie eine Braut in ihrem Geschmeide.“

Hierauf nimmt er die Stola und küßt sie; dies ist ein langes schmales Band, das Kennzeichen des Diakonenamts, mit dem er zu Beginn jeder kirchlichen Handlung das Zeichen gibt, die Gemeinde zum Gebet, die Sänger zum Singen, den Priester zur Verrichtung der heiligen Handlungen und sich selbst zu engelhafter Geschwindigkeit und Bereitschaft zum heiligen Dienste aufruft. Denn der Beruf des Diakons gleicht dem der Engel im Himmel, und durch dies schmale Band, das er an sich trägt, und das gleich einem ätherischen Flügel in der Luft flattert, sowie durch sein schnelles Durcheilen der Kirche stellt er nach dem Wort des Johannes Chrysostomus den Flug der Engel dar.

Nachdem er das Band geküßt hat, befestigt er es an der Schulter. Sodann legt er die Armbänder oder Überärmel an, die dicht über dem Handgelenk zusammengebunden werden, um den Händen eine größere Freiheit und Leichtigkeit bei der Verrichtung der bevorstehenden heiligen Handlung zu verleihen. Während er sie anzieht, denkt er über die unablässig alles erschaffende, überall wirksame Kraft Gottes nach, und indem er den rechten Überärmel anzieht, spricht er: „Herr, Deine rechte Hand tut große Wunder. Herr, Deine rechte Hand hat die Feinde zerschlagen, und mit Deiner großen Herrlichkeit hast Du Deine Widerwärtigen gestürzt.“ Dann zieht er den linken Überärmel an und denkt dabei an sich selbst, daß er ein Werk von Gottes Hand sei, und er betet zu Ihm, Der ihn erschaffen hat, Er möge ihn lenken und leiten und ihm Seine höchste himmlische Führung zuteil werden lassen, und er spricht: „Deine Hand hat mich gemacht und bereitet. Unterweise mich, daß ich Deine Gebote lerne.“

In derselben Weise kleidet sich auch der Priester an. Zuerst segnet er den Priesterrock, den er dann anzieht, indem er diesen Akt mit denselben Worten begleitet wie der Diakon; nach dem Priesterrock aber legt er sich die Stola an, jedoch nicht die einfache, sondern eine solche, die beide Schultern bedeckt, den Hals umschließt und deren beide Enden sich wieder auf der Brust vereinigen und so in eins verbunden bis an den unteren Saum seines Kleides hinabreichen; hiermit soll angedeutet werden, daß sich in seinem Amte zwei Ämter vereinigen — das des Priesters und das des Diakons. Auch heißt das Kleidungsstück nicht mehr Orarion, sondern Epitrachil, und es symbolisiert, indem es angelegt wird, die Ausgießung der himmlischen Gnade über die Priester; daher wird dieser Akt auch von den erhabenen Worten der Heiligen Schrift begleitet: „Gelobt sei Gott, Der Seine Gnade ausgießet über seine Priester wie das Salböl, das von dem Haupte Aarons herabfließet auf seinen Bart und auf den Saum seines Kleides.“ Sodann zieht der Priester beide Überärmel an, indem er diese Handlung mit denselben Worten begleitet wie der Diakon, und umgürtet sich mit einem Gürtel, der Chorrock und Stola umschließt, damit das weite bauschige Gewand ihn nicht bei der Verrichtung der heiligen Handlung behindere und um durch diese Umgürtung seine Dienstbereitschaft anzudeuten, denn der Mensch pflegt den Gürtel anzulegen, wenn er sich reisefertig macht, wenn er ein Werk in Angriff nimmt oder zur Tat schreitet; so legt auch der Priester den Gürtel an, indem er seinen Weg antritt und sich zum himmlischen Dienste vorbereitet. Er betrachtet seinen Gürtel wie eine Feste der göttlichen Macht, die ihn stärkt und kräftigt, und er spricht: „Gelobt sei Gott, Der mich mit Kraft umgürtet und meinen Weg untrüglich macht, meine Füße geschwinder denn die des Hirsches und stellt mich auf die Höhe,“ d. h. in das Haus des Herrn. Wenn er jedoch eine höhere priesterliche Würde innehat, so hängt er ein viereckiges Stück Tuch an einer seiner Ecken an seine Lende; es symbolisiert das geistige Schwert, die alles überwindende Kraft des göttlichen Wortes und ist ein Zeichen des ewigen Krieges, der dem Menschen auf Erden bevorsteht — und kennzeichnet den Sieg über den Tod, den Christus vor aller Welt errungen hat, auf daß der unsterbliche Geist des Menschen mutig den Kampf aufnehme wider die Verwesung. Daher gleicht dies Stück Tuch auch einer starken Streitwaffe, und es wird am Gürtel an der Lende aufgehängt, in der die Kraft des Menschen liegt, und dieser Akt wird von einem Anruf des Herrn selbst begleitet: „Gürte dein Schwert an deiner Seite, du Held, und schmücke dich schön. Es müsse dir gelingen in deinem Schmuck, ziehe einher der Wahrheit zugute, und die Elenden bei Recht zu behalten; so wird deine rechte Hand Wunder beweisen.“ Endlich legt der Priester noch das Psalonion, ein Gewand zum Symbol der höchsten alles umfassenden Gerechtigkeit Gottes an, und er begleitet diese Handlung mit den Worten: „Deine Priester laß sich kleiden mit Gerechtigkeit und Deine Heiligen sich freuen.“

Also ausgerüstet mit der göttlichen Rüstung steht der Priester nunmehr als ein anderer Mensch da: was er auch selbst und an sich für ein Mensch, so unwürdig er seines Amtes sein mag, alle, die im Tempel weilen, blicken auf ihn [als auf] ein Werkzeug Gottes, das vom Heiligen Geist erfüllt ist. Der Priester und der Diakon waschen sich sodann beide die Hände, indem sie die Worte des Psalms sprechen: „Ich wasche meine Hände in Unschuld und halte mich zu Deinem Altar.“ Dann verbeugen sie sich dreimal, indem sie sprechen: „Gott, reinige mich Armen von meinen Sünden und erbarme Dich meiner!“ und erheben sich gereinigt und erleuchtet, gleich ihrer leuchtenden Kleidung, in nichts mehr an andere Menschen erinnernd und eher einer strahlenden Vision als einem Menschen gleichend.

Der Diakon kündigt den Beginn der heiligen Handlung an, indem er spricht: „Segne uns, o Herr!“, der Priester eröffnet die Feier mit den Worten: „Gelobt sei Gott, jetzt und immerdar, hinfort und in alle Ewigkeit!“ und tritt dann an den Seitenaltar. Dieser ganze Teil des Gottesdienstes besteht in der Zubereitung alles dessen, was zu einer heiligen Handlung erforderlich ist: während dieses Teils des Gottesdienstes werden die Stücke Brot von den Prosphoren oder Opfergaben abgesondert, die zu Anfang den Leib Christi repräsentieren und sich sodann in ihn verwandeln sollen.

Da das ganze Offertorium nichts anderes ist als eine bloße Vorbereitung auf die Liturgie, hat die Kirche die Erinnerung an die ersten Lebensjahre Christi an sie geknüpft, waren doch diese auch eine Vorbereitung auf seine großen Werke, die er später auf Erden vollbrachte. Das Offertorium spielt sich ganz im Innern des Altarraumes bei geschlossenen Türen und zugezogenem Vorhang ab, ohne daß die Gemeinde etwas davon sieht, wie ja auch Christus seine ersten Lebensjahre ganz im Verborgenen verbrachte, ohne daß das Volk etwas von Ihm erfuhr. Für die andächtige Gemeinde aber werden während dieser Zeit die „Horen“[4] gelesen — eine Sammlung von Psalmen und Gebeten, die die Christen an den vier wichtigsten Tageszeiten zu lesen pflegten, um die erste Stunde, wenn für die Christen [der Morgen] begann, um die dritte, d. h. um die Stunde, als sich der Heilige Geist herabsenkte, um die sechste, d. h. also um die Stunde, als der Erlöser der Welt ans Kreuz geschlagen wurde, und um die neunte Stunde, als Er Seinen Geist aufgab. Da der Christ von heute aus Mangel an Zeit und wegen der unablässigen Zerstreuungen nicht in der Lage ist, diese Gebete zu den angegebenen Stunden zu verrichten, werden sie allesamt bei dieser Gelegenheit verlesen.

Der Priester tritt nun vor den Seitenaltar oder die Prothesis hin, die sich in einer Wandnische befindet und die alte seitliche Vorratskammer des Tempels symbolisieren soll, und nimmt eines der Weihbrote heraus, um aus ihm den Teil zu gewinnen, der sich später in den Leib Christi verwandeln soll: es ist dies das mit einem Siegel versehene Mittelstück, das den Namen Jesu Christi trägt. Durch die Absonderung eines Teils vom ganzen Brote deutet er auf den Akt der Trennung des Fleisches Christi vom Fleisch der Jungfrau — deutet er auf die Geburt des Immateriellen aus dem Fleische hin. Und indem er sich vorstellt, daß Er geboren wird, Der Sich für die ganze Welt zum Opfer brachte, verbindet sich für ihn damit erneut und unfehlbar der Gedanke an das Opfer und an die Opfertat selbst, und er erkennt im Brote das Lamm, das geopfert ward, und im Messer, mit dem er das Brot zerteilt, das Opfermesser, das das Aussehen einer Lanze hat, zur Erinnerung an die Lanze, mit der der Leib des Heilands am Kreuze durchstochen ward. Nun aber begleitet er seine Handlung nicht mit den Worten des Heilands, noch mit den Worten derer, die Zeugen der damaligen Vorgänge waren, er versetzt sich nicht in die Vergangenheit, d. h. in die Zeit, da diese Opfertat vollbracht wurde: dies geschieht später im letzten Teile der Liturgie; er erschaut dieses kommende Ereignis von ferne mit ahnender Seele, daher begleitet er auch die ganze heilige Handlung mit den Worten des Jesaias, der aus der fernen Zeit und durch die Finsternis der Jahrhunderte hindurch die künftige wundersame Geburt, die Selbstaufopferung und den Tod des Heilands vorausahnte und dies mit einer schier unbegreiflichen Klarheit vorausverkündigte. Indem der Priester die Lanze in den rechten Teil des Siegels stößt, spricht er die Worte des Propheten Jesaias: „Wie ein Lamm wird Er zur Schlachtbank geführt,“ dann stößt er die Lanze in den Teil, der zur Linken liegt, und spricht: „Und wie ein unschuldiges Lamm sich stumm scheren läßt, so öffnet er seinen Mund nicht,“ dann versenkt er die Lanze in den oberen Teil des Siegels und spricht: „Um Seiner Demut willen ward Er verdammt,“ stößt ihn dann in den unteren Teil, indem er die Worte des Propheten wiederholt, der über die wunderbare Herkunft des Opferlammes nachsinnt: „Wer vermag zu sagen, aus welchem Geschlechte Er stammt?“

Endlich hebt er das herausgeschnittene Mittelstück des Brotes auf der Lanze empor und spricht: „Denn Sein Leib ward von der Erde hinweggenommen,“ und schneidet hierauf kreuzweise — den Kreuzestod des Heilands symbolisierend — das Opferzeichen hinein, gemäß dem es während der kommenden heiligen Handlung gebrochen wird. Dazu spricht er: „Geopfert wird das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, zum Leben und zum Heil der Welt.“ Nachdem er sodann das Brot so hingelegt hat, daß das Siegel unten, der herausgeschnittene Teil oben liegt und das geopferte Lamm versinnbildlicht, stößt er die Lanze in die rechte Seite — wodurch die Hinschlachtung des Opfers symbolisiert, zugleich aber auch darauf hingedeutet werden soll, daß die Seite des Heilands von einem am Kreuze stehenden Krieger mit der Lanze durchstochen ward. Hierbei spricht er: „Der Kriegsknechte einer öffnete Seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen hat, der hat es bezeuget, und sein Zeugnis ist wahr.“

Diese Worte dienen dem Diakon zugleich zum Zeichen, daß nun die Zeit gekommen ist, Wasser und Wein in den heiligen Kelch zu gießen. Der Diakon, der bisher alles, was der Priester getan, ehrfürchtig und andachtsvoll verfolgt hat, indem er ihn bald zum Beginn des heiligen Dienstes aufforderte, bald wieder bei jeder Handlung die Worte: „Lasset uns beten zu dem Herrn!“ vor sich hinmurmelte, gießt nun Wein und Wasser in den Kelch, nachdem er beide gemischt und sich den Segen des Priesters dazu erbeten hat. So sind nun Wein und Brot vorbereitet, um sich während der bevorstehenden heiligen Handlung zu transsubstantiieren.

Um einen Brauch der alten christlichen Kirche und der heiligen ersten Christen zu erfüllen, die sich, wenn sie an Christus dachten, stets auch an die Menschen erinnerten, die durch strenge Einhaltung Seiner Gebote und durch Heiligkeit ihres Lebenswandels Seinem Herzen am nächsten standen, schreitet der Priester zu den anderen Weihbroten, schneidet ein Stück zum Andenken an jene heraus und legt die Stücke auf dieselbe Patene[5] neben das heilige Brot, das den Herrn selbst darstellt, da ja auch jene von dem glühenden Wunsche verzehrt wurden, stets an der Seite des Herrn zu weilen. Indem er sodann das zweite Brot ergreift, schneidet er ein Stück zum Gedächtnis an die heilige Mutter Gottes heraus und legt es zur Rechten des heiligen Brotes hin, indem er die Worte aus dem Psalm Davids spricht: „Die Königin trat Dir zur Rechten, in ein goldenes Gewand gehüllt und reichlich geschmückt.“ Dann nimmt er das dritte Brot, das der Erinnerung der Heiligen geweiht ist, und schneidet mit demselben Speer neun Stücke aus ihm heraus, die er in drei Reihen zu je drei Stücken anordnet. Er schneidet ein Stück zu Ehren Johannes des Täufers, ein zweites zu Ehren der Propheten und ein drittes zu Ehren der Apostel heraus, und damit hat die erste Reihe und die erste Klasse der Heiligen ihren Abschluß erreicht. Sodann schneidet er zu Ehren der heiligen Kirchenväter ein viertes Stück, ein fünftes zu Ehren der Märtyrer und ein sechstes zu Ehren der heiligen gotterleuchteten Väter und Mütter heraus, und damit ist die zweite Reihe und die zweite Klasse der Heiligen vollendet. Und endlich schneidet er noch ein siebentes Stück zu Ehren der Wundertäter und Uneigennützigen, ein achtes zu Ehren der göttlichen Eltern Joachim und Anna und des Heiligen des Tages sowie ein neuntes zu Ehren des Johannes Chrysostomus oder Basilius des Großen heraus, je nachdem, wem zu Ehren an jenem Tage die Messe gelesen wird. Damit ist auch die dritte Reihe und die letzte Klasse der Heiligen vollendet, und der Priester legt nun alle neun Brotstücke, die er herausgeschnitten hat, auf die heilige Patene zur Linken neben das heilige Brot hin. So erscheint Christus inmitten derer, die Ihm am nächsten stehen, Er, der in der Heiligkeit Wohnende, wird sichtbar im Kreise Seiner Heiligen erblickt, als Gott unter Göttern und Mensch unter Menschen.

Hierauf ergreift der Priester das vierte Weihbrot, das der Erinnerung an alle Lebendigen geweiht ist, und schneidet aus ihm ein Stück zu Ehren des Kaisers, ein zweites zu Ehren der Synode und der Patriarchen und ferner noch einige weitere zu Ehren aller rechtgläubigen Christen heraus, wo auf Erden sie auch wohnen mögen, und endlich schneidet er auch noch für jeden einzelnen von ihnen, dessen er gedenken will und dessen zu gedenken man ihn gebeten hat, ein Stück heraus. Dann nimmt der Priester das letzte Weihbrot und schneidet Stücke zur Erinnerung an alle Verstorbenen aus ihm heraus, indem er für sie betet und Vergebung der Sünden für sie erfleht; er betet für die Patriarchen, für die Zaren, die Stifter des Tempels, den Erzpriester, der ihm die Priesterweihe erteilt hat, wenn dieser bereits verstorben ist, kurz, er schneidet für alle — bis auf den letzten Christen — für den man sich bei ihm verwendet hat oder dem zu Ehren er es selbst tun will, ein Stück heraus. Zum Schluß fleht er selbst um Vergebung aller seiner Sünden, dann schneidet er ein Stück für sich selbst heraus und legt alle Stücke auf die heilige Patene unterhalb des heiligen Brotes nieder. So also ist um dies Brot, d. h. um das Lamm, das Christus in eigener Person darstellt, Seine ganze Kirche versammelt: die triumphierende himmlische, wie die kämpfende irdische. Des Menschen Sohn erscheint inmitten der Menschen, um derentwillen er Fleisch ward und ein Mensch wurde.

Sodann nimmt der Priester einen Schwamm und liest alle Krümchen auf der Patene zusammen, auf daß nichts von dem heiligen Brote verloren gehe und auf daß alles erfüllet werde.

Dann tritt der Priester vom Altar zurück und fällt vor ihm nieder, als beuge er sich vor dem verkörperten Christus selbst; er begrüßt in dieser Gestalt das auf der Patene liegende Brot, das Erscheinen des himmlischen Brotes auf Erden; er begrüßt es, indem er mit Thymian räuchert, nachdem er das Rauchfaß zuvor gesegnet hat und indem er das Gebet spricht: „Wir bringen Dir Weihrauch dar, Christus unser Gott, auf daß es dufte von geistlichen Wohlgerüchen; nimm ihn an auf Deinen hohen über den Himmeln thronenden Altar und sende auf uns herab die Gnade Deines Heiligen Geistes.“

Und der Priester versetzt sich mit allen seinen Gedanken in die Zeit der Geburt Christi, indem er Vergangenes in Gegenwärtiges verwandelt, und er blickt auf diesen Seitenaltar, als wäre er die geheimnisvolle Krippe, darin zu jener Zeit der Himmel zur Erde herabgestiegen war: der Himmel war zur Krippe geworden, und die Krippe hatte sich in den Himmel verwandelt. Nachdem er den Asteriskos, der aus zwei goldenen Bogen mit einem Sterne darüber besteht, umräuchert und auf die Hostienschüssel gestellt hat, blickt er ihn an, wie wenn er der Stern wäre, der einst über dem Kindlein leuchtete, und er spricht: „Er kam, und der Stern stand oben über, da das Kindlein war“: er blickt auf das heilige Brot, das für die Opfer bestimmt ist, als wäre es das neugeborene Kindlein, als wäre die Patene die Krippe, in der das Kindlein lag, und als wären die Decken die Windeln, in die das Kindlein gehüllt war. Nachdem er vor der ersten Decke mit Weihrauch geräuchert hat, bedeckt er das heilige Brot und die Patene mit ihr und spricht die Worte des Psalms: „Der Herr ist König und herrlich geschmückt,“ d. h. des Psalms, in dem die wunderbare Größe und Herrlichkeit Gottes besungen wird. Hierauf räuchert er vor der zweiten Decke mit Weihrauch und bedeckt dann den heiligen Kelch mit ihr, indem er spricht: „O Herr Christus, Deine Güte bedeckt die Himmel, und die Erde ist Deines Ruhmes voll“. Er nimmt die große Decke, die der heilige Aër genannt wird, und bedeckt nun beides: die Patene und den Kelch mit ihr, indem er Gott anruft und Ihn bittet, uns mit Seinem schützenden Flügel zu bedecken; indem dann beide von dem Altar zurücktreten, verbeugen sie sich ehrfürchtig vor dem heiligen Brote, ganz so, wie einst die Hirtenkönige das neugeborene Kindlein anbeteten; hierauf räuchert der Priester vor der Krippe, zur Erinnerung an die wohlriechenden Myrrhen und Weihrauch, die die Weisen dem Kindlein zusamt dem kostbaren Golde darbrachten.

Der Diakon steht auch während dieser Zeit beständig dem Priester aufmerksam zur Seite, indem er jede Handlung mit den Worten: „Laßt uns beten zu dem Herrn“ begleitet oder das Zeichen zum Beginn der heiligen Handlung gibt. Endlich nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des Priesters entgegen und fordert ihn zum Gebet auf, das von den für Ihn zubereiteten Gaben handelt und das er nun zu Gott emporsenden soll. „Laßt uns beten zu dem Herrn für die kostbaren Gaben, die wir ihm darbringen.“ Nunmehr beginnt der Priester das Gebet. Obwohl diese Gaben zunächst bloß für die Opferhandlung vorbereitet sind, dürfen sie von nun ab zu nichts anderem mehr verwendet werden. Der Priester spricht bei sich selbst ein Gebet, in dem er schon im voraus auf die Annahme der für das bevorstehende Opfer bestimmten Gaben vorbereitet. Dies Gebet lautet folgendermaßen: „Gott, unser Gott, Der Du uns das himmlische Brot, die Nahrung der ganzen Welt, unserm Herrn und Gott, Jesus Christus, unseren Heiland, Erlöser und Wohltäter gesandt hast, Der uns gesegnet und geheiligt hat, segne Du selbst, was wir Dir darbieten, und nimm es entgegen auf Deinem hoch über den Himmeln thronenden Altar: gedenke auch derer in Deiner Güte und Menschenliebe, die Dir dies dargebracht haben, sie, um derentwillen es dargebracht wurde, und unser selbst, und erhalte uns unschuldig in der Verrichtung Deiner göttlichen Sakramente.“ Und nach diesem Gebet vollzieht er das Offertorium. Der Diakon räuchert unterdessen vor den Schaubroten und sodann kreuzweise vor dem heiligen Altar. Er gedenkt der irdischen Geburt Dessen, Der geboren ward, ehe denn die Zeit war, der allgegenwärtig und der immerdar überall zugegen war, und er spricht bei sich selbst: „Du warst leibhaftig im Grabe, mit Deinem Geist in der Hölle, als Gott mit dem Übeltäter im Paradiese und auf dem Throne mit dem Vater und dem Heiligen Geiste, alles vollbringend, o Christus, Du Unbeschreiblicher.“

Und er tritt mit dem Räucherfaß in der Hand aus dem Altarraum hervor, um die ganze Kirche mit Wohlgerüchen zu erfüllen und alle, die sich zum heiligen Mahl der Liebe versammelt haben, willkommen zu heißen. Diese Räucherung findet stets zu Beginn des Gottesdienstes statt, wie ja auch im häuslichen Leben aller alten Völker des Orients jedem Gast bei seinem Eintritt eine Schüssel zum Waschen und Wohlgerüche dargebracht wurden. Dieser Brauch hat sich auch an dieses himmlische Festmahl geknüpft, an das geheimnisvolle Abendmahl, das den Namen der Liturgie trägt, in der sich der Gottesdienst und die brüderliche Bewirtung und Speisung aller in so wundersamer Weise vereinigt haben, wovon uns der Erlöser selbst, Der selbst allen diente und die Füße wusch, ein Beispiel gegeben hat. Indem dann der Diakon räuchert und sich in gleicher Weise vor allen verbeugt, vor den Reichsten wie vor den Ärmsten, heißt er, der Diener Gottes, sie alle herzlich willkommen als die lieben Gäste des himmlischen Wirtes; er räuchert und verbeugt sich dabei ehrfurchtsvoll vor den Bildern der Heiligen, denn auch sie sind ja Gäste, die zum heiligen Abendmahl erschienen sind: in Christo sind alle lebendig und untrennbar miteinander verbunden. Nachdem er alles vorbereitet und den Tempel mit Wohlgeruch erfüllt hat, kehrt er in den Altarraum zurück, in dem er nochmals räuchert; dann stellt er das Räucherfaß endlich beiseite, nähert sich dem Priester, und beide treten vor den heiligen Hochaltar.

Beide treten vor den heiligen Hochaltar hin, beide verneigen sich, sowohl der Priester wie der Diakon, dreimal bis zur Erde und rufen, indem sie sich nun zu der eigentlichen heiligen Handlung der Liturgie anschicken, den Heiligen Geist an, denn ihr ganzer Gottesdienst soll ja ein geistiger Dienst sein. Der Geist ist der Lehrer, der uns im Gebet unterweist. „Wir wissen nicht, um was wir bitten sollen,“ sagt der Apostel Paulus, „aber der Heilige Geist selbst tritt für uns ein, mit unaussprechlichen Seufzern.“ Der Priester und der Diakon flehen den Heiligen Geist an, in ihnen Wohnung zu nehmen, sie hierdurch zu reinigen und für ihren heiligen Dienst vorzubereiten, wobei sie zweimal nacheinander das Lied singen, mit dem die Engel die Geburt Jesu Christi begrüßten: „Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“ Nachdem sie ihren Gesang beendigt haben, wird der Vorhang der Kirche zurückgezogen; dies geschieht immer nur dann, wenn die Gedanken der Betenden auf die höchsten und erhabensten Gegenstände hingelenkt werden sollen. In diesem Falle soll die Öffnung des Tores zum Allerheiligsten nach dem Gesang der Engel andeuten, daß die Geburt Christi ja nicht allen Menschen offenbart ward, daß nur die Engel im Himmel, Maria, Joseph und die Magier, die gekommen waren, um das Kind anzubeten, Kenntnis von ihr besaßen, und daß nur die Propheten sie von ferne geahnt hatten. Der Priester und der Diakon sprechen bei sich: „O Herr, öffne meinen Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden.“ Der Priester küßt das Evangelium, der Diakon küßt den heiligen Hochaltar, senkt das Haupt und gibt das Zeichen für den Beginn der Liturgie, indem er mit drei Fingern seiner Hand die Stola emporhebt und spricht: „Es ist Zeit, zum Herrn zu beten. Segne mich, o Herr!“ und der Priester segnet ihn mit den Worten: „Gesegnet sei unser Gott, immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.“ Und indem der Diakon der bevorstehenden heiligen Handlung gedenkt, während der er den Flug des Engels vom Altar zur Gemeinde und von der Gemeinde zum Altar nachahmen, alle in einem Geist und einer Seele vereinigen und gewissermaßen eine heilige, alles erweckende Kraft darstellen soll, und im Gefühl, daß er dieser Aufgabe nicht würdig ist, fleht er den Priester demütig an: „Bete für mich, o Herr!“ „Gott lenke deine Schritte!“ antwortet ihm der Priester. „Gedenke meiner, heiliger Mann!“ „Der Herr gedenke deiner in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!“ Der Diakon spricht leise, aber mit kräftiger Stimme: „Amen!“ und tritt aus der nördlichen Tür vor das Volk hinaus. Er betritt die Kanzel, die der Königspforte gegenüberliegt, wiederholt nochmals bei sich selbst: „Herr, öffne meinen Mund, und mein Mund wird Deinen Ruhm verkünden!“ und indem er sich dem Altar zuwendet, fleht er den Priester nochmals an: „Segne mich, o Herr!“ Der Priester ruft ihm aus der Tiefe des Tempels die Antwort entgegen: „Gesegnet sei das Reich ...“, und die Liturgie beginnt.

Die Liturgie der Katechumenen

Der zweite Teil der Liturgie heißt die Liturgie der Katechumenen. Wie der erste Teil, d. h. das Offertorium, den ersten Lebensjahren Christi, Seiner Geburt, die nur den Engeln und wenigen Menschen offenbart war, Seiner Kindheit und Seinem Aufenthalt in tiefster Zurückgezogenheit und Verborgenheit, bis zu Seinem Auftreten in der Welt entspricht, so entspricht der zweite Teil Seinem Leben inmitten der Welt und der Menschen, denen Er das Wort der Wahrheit verkündigt hat. Dieser Teil heißt auch deshalb noch die Liturgie der Katechumenen, weil während der ersten christlichen Zeit auch die zu ihr zugelassen wurden, die erst Christen werden wollten, die sich erst darauf vorbereiteten, noch nicht die heilige Taufe empfangen hatten und zu den Katechumenen gehörten. Dazu kommt noch, daß die heilige Handlung, die aus der Verlesung der Propheten, der Epistel und des heiligen Evangeliums besteht, in erster Linie einen verkündigenden Charakter trägt.

Der Priester beginnt die Liturgie, indem er aus dem Inneren des Altarraumes ruft: „Gelobt sei das Reich des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ...“ Da durch die Fleischwerdung des Sohnes der Welt das Mysterium der Heiligen Dreieinigkeit deutlich geoffenbart ward, geht und leuchtet die Verkündigung der Heiligen Dreieinigkeit dem Beginn aller heiligen Handlungen voran; der Betende muß daher allem entsagen, sich aller anderen Gedanken entledigen und sich gänzlich in das Reich der Heiligen Dreieinigkeit versetzen.

Der Diakon steht auf der Kanzel und hat sein Gesicht der Königspforte zugewendet. So stellt er einen Engel und Erwecker dar, der die Menschen zum Gebet anfeuert; er hebt mit drei Fingern seiner Hand das schmale Band — das Sinnbild des Engelsflügels — empor und ruft das ganze versammelte Volk auf, die Gebete zu sprechen, die die Kirche seit den Zeiten der Apostel unablässig zum Himmel emporsendet, deren erstes die Bitte um Frieden ist, ohne die man überhaupt nicht zu beten vermag. Die versammelten Andächtigen bekreuzigen sich, suchen ihre Herzen in harmonisch abgestimmte Saiten eines Instruments umzuwandeln, die bei jedem Wort des Diakons mitschwingen, und rufen im Geiste zugleich mit dem Chor der Sänger aus: „Herr, erbarme Dich unser!“

Der Diakon steht auf der Kanzel, er hält die Gebetstola, die den erhobenen Flügel eines Engels darstellt, der die Gemeinde zum Gebet anfeuern soll, empor und ruft die Gemeinde zum Gebet auf: er fordert sie auf, an die höhere Welt und die Rettung unserer Seelen zu denken und zu beten für den Frieden der ganzen Welt, das Wohlergehen der heiligen Kirchen und die Vereinigung ihrer aller, für den heiligen Tempel und die, die ihn gläubig mit Andacht und Ehrfurcht betreten, für den Kaiser, den Synod, die geistliche und weltliche Obrigkeit, den Richterstand und den Militärstand, für die Stadt, für das Haus, darin die Liturgie zelebriert wird, zu bitten um Reinheit und Gesundheit der Luft, um eine reiche Ernte, um friedliche Zeiten, für die Seefahrer und Reisenden, für die Kranken und Leidenden, für die Gefangenen und ihre Errettung; er fordert die Gemeinde auf, Gott zu bitten, daß Er uns vor jeglichem Kummer, Zorn und Not bewahren möge, und indem die Versammlung der Andächtigen alles mit dieser allumschließenden Kette von Gebeten, die die große Ektenia heißt, umschlingt, erwidert sie jedesmal, wenn sie angerufen wird, zusammen mit dem Chor der Sänger: „Herr, erbarme Dich!“

Im Bewußtsein der Ohnmacht unserer Gebete, denen es an Seelenweisheit fehlt und denen kein reiner himmlischer Lebenswandel entspricht, fordert der Diakon, derer gedenkend, die da besser zu beten verstanden als wir, die Gemeinde auf, sich selbst, einander und das ganze Leben unserem Gotte Christus zu weihen. In dem aufrichtigen Wunsch, sich selbst, einander und ihr ganzes Leben Christus, unserem Gotte zu weihen, wie dies die heilige Mutter Gottes, die Heiligen und die, die besser waren als wir, verstanden, ruft die ganze Kirche zusammen mit dem Sängerchor: „Dir, o Herr!“ Der Diakon beschließt die Kette der Gebete mit einem Lobgesang auf die Dreieinigkeit, die sich wie ein alles zusammenhaltender Faden durch die ganze Liturgie hindurchzieht und jede Handlung einleitet und beschließt. Die Versammlung der Andächtigen antwortet mit einem bestätigenden „Amen! Ja, so geschehe es!“ Der Diakon steigt von der Kanzel herab, und es beginnt der Abgesang der Antiphone.

Die Antiphone sind Wechselgesänge, d. h. Lieder, die den Psalmen entnommen sind und das Erscheinen des göttlichen Sohnes in der Welt prophetisch ankündigen; sie werden abwechselnd von einem der beiden Sängerchöre, die auf beiden Chören postiert sind, gesungen; sie bilden einen Ersatz für die älteren Psalmodien und sind kürzer als diese.

Während des Abgesangs des ersten Antiphons betet der Priester im Inneren des Altarraumes für sich; der Diakon steht unterdessen in betender Stellung vor dem Bilde des Heilands, indem er die Stola mit drei Fingern seiner Hand emporhält. Wenn der Gesang des ersten Antiphons beendet ist, besteigt er aufs neue die Kanzel und wendet sich mit folgenden Worten an die versammelten Andächtigen: „Laßt uns abermals und abermals zu Gott beten!“ Die versammelten Andächtigen rufen: „Herr, erbarme Dich unser!“ Der Diakon wendet sich nun den Bildern der Heiligen zu und fordert die Gemeinde auf, der Mutter Gottes und aller Heiligen zu gedenken und sich selbst, einander, sowie das ganze Leben unserem Gotte Christus zu weihen. Die Gemeinde ruft aus: „Dir, o Gott!“ Der Diakon beschließt diesen Teil mit einer Lobpreisung der Heiligen Dreieinigkeit. Die ganze Kirche ruft bestätigend Amen, und dann folgt der Abgesang des zweiten Antiphons.

Während des zweiten Antiphons betet der Priester im Altarraum bei sich selbst. Der Diakon tritt wieder in betender Stellung vor das Heiligenbild des Erlösers, indem er die Gebetstola mit drei Fingern der Hand emporhält; nach Beendigung des Gesanges besteigt er abermals die Kanzel, blickt auf die Bilder der Heiligen und ruft die Gemeinde wie vorhin mit den Worten auf: „Laßt uns in Frieden zu dem Herrn beten!“ Die Gemeinde erwidert: „Herr Gott, [erbarme Dich.“ Der Diakon ruft aus]: „O Gott, hilf uns, sei uns gnädig, errette uns, behüte uns durch Deine Gnade!“ Die Gemeinde erwidert: „Herr Gott, erbarme Dich unser!“ Der Diakon blickt auf die Bilder der Heiligen [und ruft aus]: „Laßt uns unserer heiligen, unbefleckten, hochgelobten, herrlichen Gebieterin, der Jungfrau und aller Heiligen gedenken und uns selbst, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gotte weihen!“ Die Gemeinde antwortet: „Dir, o Herr!“ Das Gebet endet mit einer Lobpreisung der Heiligen Dreieinigkeit. Die ganze Kirche antwortet bestätigend: „Amen,“ und der Diakon steigt von der Kanzel herab. Der Priester betet im Inneren des Altarraumes bei sich selbst, indem er spricht: „Du, Der Du uns dies gemeinsame einträchtige Gebet schenktest, Du, Der Du verhießest, wenn zwei oder drei in Deinem Namen versammelt sind, zu gewähren, worum sie bitten! erfülle die Bitten Deiner Knechte zu ihrem eigenen Besten; schenke uns in diesem Leben die Erkenntnis Deiner Wahrheit und schenke uns im künftigen das ewige Leben.“

Jetzt werden vom Chor so laut, daß alle es hören können, die Seligpreisungen verkündet, die uns in diesem Leben die Erkenntnis der Wahrheit und im künftigen ein ewiges Leben verheißen. Die andächtige Gemeinde spricht die Worte des weiseren Übeltäters, der Christus am Kreuze anflehte: „Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst,“ und wiederholt nach dem Vorleser die Worte des Heilandes: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihrer“ — d. h. die, die sich nicht überheben und sich nicht mit ihrem Verstande brüsten.

Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden“ — d. h. die, die da noch mehr über ihre eigenen Unvollkommenheiten und Verfehlungen, als über die Beleidigungen und Kränkungen trauern, die ihnen zugefügt werden.

Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen“ — d. h. die, die wider niemand Zorn in ihrem Herzen hegen, allen vergeben und von Liebe erfüllet sind, deren Waffe die alles besiegende Güte ist.

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden“ — d. h. die, die nach der himmlischen Gerechtigkeit dürsten und sich vor allem danach sehnen, sie in sich selbst herzustellen.

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ — d. h. die, die jeden ihrer Brüder bemitleiden und in jedem, der ihnen bittend naht, Christus selbst erkennen, der für ihn bittet.

Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“ — wie sich in dem reinen Spiegel eines ruhigen Gewässers, das weder durch Sand noch Schlamm getrübt wird, das reine Himmelsgewölbe spiegelt, so gibt es auch in dem Spiegel eines reinen Herzens, das von keinen Leidenschaften aufgewühlt wird, kaum noch etwas Menschliches mehr, und nur Gottes Bildnis spiegelt sich in ihm.

Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen“ — gleich dem Sohne Gottes selbst, der auf die Erde herabstieg, um unseren Seelen Frieden zu bringen, so sind auch die, die da Frieden und Versöhnung in unser Heim tragen, wahrhafte Söhne Gottes.

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihrer“ — d. h. die, die verfolgt werden, weil sie die Gerechtigkeit nicht bloß mit dem Munde, sondern durch die Wohlgefälligkeit ihres ganzen Lebens verkündigen.

Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um Meinetwillen schmähen und verfolgen, und reden allerlei Übels wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden“; — ihr Verdienst ist ein dreifaches; erstlich sind sie schon an und für sich rein und unschuldig, zweitens werden sie geschmäht, obwohl sie rein sind, und drittens freuen sie sich, daß sie um Christi willen leiden, obwohl sie unschuldig sind.

Die Gemeinde der Andächtigen spricht dem Vorleser mit vor Tränen bebender Stimme diese Worte des Heilandes nach, die da verkündigen, wer in der Zukunft auf ein ewiges Leben hoffen und warten darf, welche die wahren Könige der Welt, die Erben des Himmels sind und am himmlischen Reiche teilhaben.

Jetzt öffnet sich feierlich die Königspforte, als wäre sie das Tor zum himmlischen Königreiche, und dem Auge aller Anwesenden bietet sich der schimmernde Hochaltar dar, der den Sitz des göttlichen Ruhms und die höchste Lehrstätte darstellt, aus der wir die Erkenntnis der Wahrheit schöpfen und die uns das ewige Leben verheißt. Der Priester und der Diakon nähern sich dem Altar, nehmen das Evangelium und bringen es dem Volke dar; hierbei gehen sie nicht durch die Königspforte, sondern durch eine Seitentür, die die Tür der Seitenkammer darstellt, der man in der ersten Zeit die Bücher entnahm. Diese wurden dann in die Mitte des Tempels getragen, worauf hier aus ihnen vorgelesen wurde.

Die Gemeinde der Andächtigen richtet ihre Blicke auf das Evangelium, das die demütigen Diener der Kirche in den Händen tragen, als wäre es der Heiland selbst, der zum erstenmal hervortritt, um Gottes Wort zu verkündigen; er schreitet durch die schmale nördliche Tür, gleichsam unerkannt, bis in die Mitte der Kirche, um, nachdem er sich allen gezeigt hat, durch die Königspforte wieder ins Allerheiligste zurückzukehren. Die beiden Diener Gottes bleiben mitten in der Kirche stehen; beide beugen ihr Haupt. Der Priester betet bei sich selbst, „Er, Der im Himmel die Heerscharen der Engel und die himmlischen Würden eingesetzt hat, auf daß sie Seinem Ruhm und Seiner Ehre dieneten, möge diesen Engeln und himmlischen Kräften, die Ihm mit uns dienen, gebieten, mit uns zusammen das Allerheiligste zu betreten“. Der Diakon weist mit der Gebetstola auf die Königspforte und spricht zum Priester: „Segne, o Herr den heiligen Eingang!“ — „Gesegnet sei der Eingang Deiner Heiligen immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!“ erwidert der Priester. Der Diakon reicht ihm das heilige Evangelium zum Kusse hin und trägt es in den Altarraum, bleibt jedoch inmitten der Königspforte stehen, hebt es hoch mit den Händen empor und ruft: „Höchste Weisheit!“ wodurch er ausdrücken will, daß das Wort Gottes, Sein Sohn, Seine ewige höchste Weisheit der Welt durch das Evangelium verkündet ward, das er jetzt mit seinen Händen emporhebt. Dann ruft er: „Verzeih!“ d. h.: „Erwachet, rafft euch auf, überwindet eure Trägheit und Lässigkeit!“ Die Gemeinde der Andächtigen richtet ihren Geist empor und singt zusammen mit dem Chor: „Kommt, laßt uns vor Christus niederfallen und Ihn anbeten! Errette uns, Du Sohn Gottes, uns, die wir Dir ‚Halleluja‘ singen!“ Das hebräische Wort Halleluja bedeutet soviel wie: „Der Herr kommt gegangen, lobet den Herrn!“ da jedoch das Wort kommt gegangen nach dem Sinn der heiligen Sprache Gegenwart und Zukunft in einem ausdrückt, d. h. es kommt der, der schon gekommen ist und der wiederkommen wird, so begleitet dieses Wort Halleluja, das das ewige Wandeln Gottes ankündigt, jedesmal solche heilige Handlungen, bei denen Gott selbst in Gestalt des Evangeliums oder der heiligen Gaben zum Volke hinaustritt.

Das Evangelium, das die frohe Botschaft vom Worte des Lebens verkündigt, wird auf den Hochaltar gestellt. Auf dem Chor ertönen jetzt Gesänge zu Ehren des Festtages, oder kurze Lobgesänge und Hymnen zu Ehren des Heiligen, dem der Tag geweiht ist und den die Kirche feiert, weil er denen gleicht, die Christus in den Seligpreisungen aufgezählt hat, und weil Er durch das lebendige Beispiel Seines eigenen Lebens gelehrt hat, wie wir Ihm nachfolgen und ins ewige Leben eingehen sollen.

Nachdem die Lobhymnen beendigt sind, beginnen die Trichagien, d. h. der Abgesang des Dreimalheilig. Der Diakon erbittet sich den Segen des Priesters, betritt die Königspforte, schwingt die Stola und gibt den Sängern das Zeichen. Feierlich und mit Donnerlaut dröhnt der Gesang des Dreimalheilig durch die Kirche. Er besteht in folgendem Anrufe Gottes, der dreimal wiederholt wird: „Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!“ Mit dem Ruf: heiliger Gott verkündigt das Trichagion Gott den Vater; mit dem Ruf: heiliger Starker — Gott den Sohn, Seine Kraft, Sein schaffendes Wort; und mit dem Ruf: heiliger Unsterblicher — Seinen unsterblichen Gedanken, den ewigen lebendigen Willen Gottes, des Heiligen Geistes. Dreimal stimmen die Sänger diesen Gesang an, damit es bis ans Ohr aller Menschen dringe, daß in dem ewigen Sein Gottes das ewige Sein der Dreieinigkeit mitenthalten ist und daß es keine Zeit gab, wo Gottes Wort nicht bei Ihm gewesen wäre und wo der Heilige Geist Seinem Worte gemangelt hätte. „Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht, und all sein Heer durch den Geist Seines Mundes,“ sagt der Prophet David. Jeder in der Gemeinde ist sich dessen bewußt, daß auch in ihm als dem Ebenbilde Gottes jene Dreiheit enthalten ist: Er selbst, Sein Wort und Sein Geist oder der Gedanke, der das Wort bewegt, daß jedoch sein menschliches Wort ohnmächtig ist, vergebens ertönt und nichts schafft, daß sein Geist nicht ihm gehört, da er von allen möglichen fremden Eindrücken beeinflußt wird, und daß nur durch seine Erhebung zu Gott in ihm das eine wie das andere Kraft gewinnt: im Worte spiegelt sich Gottes Wort, im Geiste Gottes Geist; das Bild der Dreieinigkeit des Schöpfers drückt sich im Geschöpfe ab, und das Geschöpf wird seinem Schöpfer ähnlich — Indem dies jedem bewußt wird, betet er, während er dem Trichagion lauscht, innerlich bei sich selbst, daß der heilige, starke, unsterbliche Gott sein ganzes Ich reinigen und es zu Seinem Tempel und Wohnhaus machen möge, und dabei wiederholt er dreimal bei sich selbst: „Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!“ Der Priester betet im Inneren des Altarraums leise zu Gott, er möge dieses Trichagion gnädig aufnehmen, wirft sich dreimal vor dem Altar nieder und wiederholt dreimal bei sich selbst: „Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher!“ Auch der Diakon wiederholt gleich ihm dreimal das Trichagion und wirft sich zusammen mit dem Priester vor dem Altar nieder.

Nachdem der Priester den Kniefall getan hat, besteigt er den erhöhten Platz im Allerheiligsten, als dränge er bis in die Tiefe der Gotteserkenntnis ein, daher uns das Mysterium der Allerheiligsten Dreieinigkeit gekommen ist; dieser Platz symbolisiert jenen höchsten erhabensten über allem schwebenden Ort, da der Sohn im Schoße des Vaters und in der Einheit mit dem Heiligen Geiste ruht. Durch dieses Emporsteigen stellt der Priester das Emporsteigen Christi selbst samt dem Fleische in den Schoß des Vaters dar, wodurch der Mensch gleichfalls aufgefordert wird, Ihm in den Schoß des Vaters nachzufolgen — eine Wiedergeburt, die schon der Prophet Daniel von ferne vorausgeahnt hat, als er in einem erhabenen Gesichte erschaute, wie des Menschen Sohn zu dem „Alten der Tage“ kam.

Der Priester schreitet nun unerschütterlichen Schrittes voran und spricht: „Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn.“ Der Diakon fleht ihn an: „Segne, o Herr den erhabenen Hochaltar!“ und der Priester segnet ihn, indem er spricht: „Gelobet seist Du auf dem Throne des Ruhms in der Herrlichkeit Deines Reiches. Du thronest auf Cherubim immerdar, jetzo, hinfort und von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Dann nimmt er auf dem erhöhten Orte Platz, der für den Erzpriester bestimmt ist. Von hier aus sucht er wie ein Apostel Gottes und als sein Stellvertreter mit dem Gesicht zum Volke gewandt die Aufmerksamkeit der Gemeinde wach zu halten und die Gemeinde auf die bevorstehende Vorlesung der Epistel vorzubereiten — er tut dies in sitzender Stellung und deutet hierdurch an, daß er selbst den Aposteln gleichgestellt ist.

Der Vorleser tritt mit den Episteln in der Hand in die Mitte des Tempels. Mit dem Ruf: „Laßt uns aufmerken!“ fordert der Diakon alle Anwesenden zur Aufmerksamkeit auf. Der Priester fleht vom Inneren des Altarraumes aus Frieden auf den Vorleser und die Anwesenden herab, und die Gemeinde der Andächtigen erwidert diesen Wunsch des Priesters mit dem gleichen Wunsche. Da sein Dienst jedoch ein rein geistlicher Dienst sein muß, gleich dem der Apostel, deren Worte nicht aus ihnen selbst kamen, sondern deren Lippen vom Heiligen Geist bewegt wurden, so sagen sie nicht: „Friede sei mit dir!“ sondern „mit deinem Geiste“! Der Diakon ruft aus: „Höchste Weisheit!“ Laut und ausdrucksvoll, so daß jedes Wort einem jeden vernehmlich ist, beginnt der Vorleser seine Vorlesung; aufmerksam, empfänglichen Herzens, mit suchender Seele und einem Verständnis, das den inneren Sinn des Vorgelesenen zu erfassen sucht, lauscht die Versammlung, denn die Vorlesung der Epistel ist eine Stufe und Leiter zum besseren Verständnis der Evangelien. Wenn der Vorleser seine Vorlesung beendigt hat, ruft ihm der Priester aus dem Inneren des Altarraumes zu: „Friede sei mit dir!“ Der Chor antwortet: „Und mit deinem Geiste!“ Der Diakon ruft aus: „Höchste Weisheit!“ Der Chor singt ein donnerndes „Halleluja!“, das das Nahen des Herrn ankündigt, Der kommt, um durch den Mund des Evangeliums zum Volke zu sprechen.

Nunmehr erscheint der Diakon mit dem Räucherfaß in der Hand, um den Tempel mit Wohlgerüchen zu erfüllen und für den Empfang des Herrn, der da naht, vorzubereiten; dieses Räuchern soll uns an die geistige Reinigung unserer Seelen ermahnen, denn wir sollen die wohltönenden Worte des Evangeliums reinen Herzens anhören. Der Priester betet im Innern des Altarraumes bei sich selbst, er bittet, daß das Licht der göttlichen Weisheit in unseren Herzen aufgehen und daß unsere geistigen Augen sich öffnen mögen, auf daß wir die Predigt des Evangeliums verständnisvoll in uns aufnehmen. Auch die Gemeinde betet leise bei sich selbst, sie bittet, daß das gleiche Licht auch in ihrem Herzen aufgehen möge, und bereitet sich auf die Vorlesung vor. Der Diakon erbittet sich den Segen des Priesters, dieser erwidert ihm mit dem Wunsche: „Gott verleihe auf Fürbitte des hochheiligen, hochgelobten Apostels und Evangelisten [hier folgt sein Name] deiner Stimme große Kraft, daß du die frohe Botschaft machtvoll verkündigest, auf daß erfüllet werde das Evangelium Seines innig geliebten Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi!“ Hierauf besteigt der Diakon die Kanzel, wobei ihm eine Leuchte vorangetragen wird, die das alles erleuchtende Licht Jesu Christi symbolisiert. Der Priester ruft der Gemeinde aus dem Inneren des Altarraumes zu: „Höchste Weisheit! Vergib! Laßt uns dem heiligen Evangelium lauschen! Friede sei mit euch allen!“ Der Chor antwortet: „Und mit deinem Geiste!“, worauf der Diakon seine Vorlesung beginnt.

Alle beugen andächtig ihr Haupt, als lauschten sie den Worten Christi selbst, Der von der Kanzel zu ihnen spricht, und als bemühten sie sich, die Saat des heiligen Wortes die der himmlische Säemann selbst durch den Mund Seines Dieners ausstreut, in sich, in ihr Herz, aufzunehmen; — nicht mit einem Herzen, das der Heiland mit der Erde am Wege vergleicht, auf die zwar auch einige Samenkörner fallen, um jedoch sofort von den Vögeln — den bösen Gedanken und Absichten — aufgefressen zu werden; — auch nicht mit solch einem Herzen, das Er mit dem steinigen Erdreich vergleicht, das nur ganz oberflächlich mit Erde bedeckt ist, sie, die das Wort zwar willig aufnehmen, es aber nicht tief Wurzeln schlagen lassen, da es ihnen an Herzenstiefe fehlt; — auch nicht mit solch einem Herzen, das Er mit dem verwahrlosten und ungesäuberten Acker vergleicht, der von Dornen überwuchert ist, auf dem die Saat zwar aufgeht, dessen eben aufsprießende Keime jedoch von den schnell emporwachsenden Dornen — den Dornen zeitlicher Sorgen und Mühen, den Dornen der Versuchungen und der zahllosen Lockungen des ertötenden, weltlichen Lebens mit seinen trügerischen Reizen und Annehmlichkeiten — sofort erstickt werden, — so daß die Saat keine Frucht trägt; wohl aber mit jenem hingebungsvollen Herzen, das Er mit gutem Lande vergleicht, welches Frucht trägt — etliches hundertfältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig —, das alles, was es in sich aufnimmt, beim Verlassen der Kirche, zu Hause, in der Familie, im Dienst, während der Arbeit, während der Mußestunden und Vergnügungen, im Gespräche mit anderen Menschen, und, wenn es mit sich allein ist, wieder zurückerstattet. Kurz, jeder Gläubige bemüht sich, ein Hörer und Täter des Wortes zugleich zu sein, den der Heiland mit dem weisen Manne gleichzumachen verspricht, der sein Haus nicht auf Sand, sondern auf einem Felsen erbaut, so daß sein geistiges Heim, selbst wenn sich, gleich nachdem er die Kirche verlassen hat, Regen, Flüsse und Wirbelstürme, alle möglichen Leiden und Mißgeschick wider ihn erhöben, unerschütterlich dastehen wird, gleich einer auf einem Felsen erbauten Feste.

Nachdem die Vorlesung beendigt ist, ruft der Priester dem Diakon aus dem Inneren des Tempels zu: „Friede sei mit dir, der du frohe Botschaft verkündigst!“ Alle Anwesenden erheben ihr Haupt und rufen im Gefühl ihrer Dankbarkeit zugleich mit dem Chor: „Ehre sei Dir, unserem Gott, Ehre sei Dir!“ Der in der Königspforte stehende Priester nimmt das Evangelium aus den Händen des Diakons entgegen und stellt es auf den Altar, als das Wort, das von Gott ausgegangen ist und nun zu Ihm zurückkehrt. Der Hochaltar, der die höchsten erhabensten Gefilde darstellt, entzieht sich jetzt den Augen der Gemeinde — die Königspforte schließt sich, und die Tür zum Allerheiligsten wird verhängt zum Zeichen, daß es keine andere Tür zum Himmelreiche gibt als die, die uns Christus geöffnet hat, und daß wir nur mit Ihm durch sie eintreten können, denn es heißt: „Ich bin die Tür.“

Hiernach pflegte während der ersten christlichen Zeit die Predigt stattzufinden, worauf die Erklärung und Interpretation der verlesenen Evangelientexte folgte. Da jedoch in unserer Zeit meist über andere Texte gepredigt wird, und da folglich die Predigt nicht zur Erklärung der vorgelesenen Evangelientexte dient, so wird sie, um den Zusammenhang und die strenge harmonische Ordnung der heiligen Liturgie nicht zu stören, ans Ende gestellt.

Der Diakon besteigt sodann, den Engel, der die Menschen zum Gebet anfeuert, versinnbildlichend, die Kanzel, um die Gemeinde zu noch inbrünstigerem Gebet aufzurufen. Er ruft: „Lasset uns beten aus ganzem Herzen, ganzer Seele, lasset uns beten aus ganzem Gemüt,“ indem er die Gebetstola mit drei Fingern in die Höhe hebt; und während alle aus tiefster Seele inbrünstige Gebete zum Himmel emporrichten, rufen sie aus: „Herr, erbarme Dich!“ Der Diakon aber unterstützt und verstärkt seinerseits das Gebet noch, indem er dreimal um Erbarmen fleht, und er fordert die Gemeinde nochmals auf, für alle Menschen zu beten, welchen Rang und welches Amt sie auch immer bekleiden mögen; zunächst und in erster Linie für die in den höchsten Ämtern und Stellungen, wo es der Mensch am schwersten hat, wo er am leichtesten strauchelt und wo er der Hilfe Gottes am meisten bedarf. Jeder von den Versammelten betet, da er weiß, in wie hohem Grade die Wohlfahrt vieler Menschen davon abhängt, daß die Mächtigen redlich ihre Pflicht erfüllen, inbrünstig und bittet Gott, Er möge sie erleuchten und belehren, getreulich ihre Schuldigkeit zu tun, und jedem Kraft verleihen, seine irdische Laufbahn in ehrenhafter Weise zu vollenden. Darum beten alle inniglich, indem sie nun nicht mehr einmal, sondern dreimal nacheinander rufen: „Herr, erbarme Dich!“ Die ganze Reihe dieser Gebete heißt: doppelte Ektenia oder die Ektenia des inbrünstigen Gebets, und der Priester bittet im Altar vor dem Gottestisch inniglich um Erhörung dieser allgemeinen verstärkten Gebete, und sein Gebet heißt das Gebet der inbrünstigen Bitte.

Wenn an jenem Tage eine Seelenmesse zu Ehren der Toten stattfindet, so wird gleich nach der doppelten Ektenia noch eine Ektenia zu Ehren der Entschlafenen verkündigt. Der Diakon hält die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und fordert die Gemeinde auf, für den Seelenfrieden der Knechte Gottes zu beten, die er alle beim Namen nennt, auf daß Gott ihnen alle ihre Sünden, ihre bewußten und unbewußten Verfehlungen vergeben und ihre Seelen dorthin versetzen möge, wo die Gerechten in Frieden weilen. Bei dieser Gelegenheit gedenkt jeder der Anwesenden aller Verstorbenen, die seinem Herzen nahestanden, und beantwortet jeden Ruf des Diakons mit einem dreimaligen: „Herr, erbarme Dich!“ indem er inbrünstig für seine Lieben und für alle entschlafenen Christen betet. „Wir flehen Dich an, Christus, unser Gott, unsterblicher König, gewähre uns Deine göttliche Gnade, das Himmelreich und Vergebung der Sünden!“ ruft der Diakon aus. Die Gemeinde erwidert zugleich mit dem Sängerchor: „Gewähre es uns, o Herr!“ Der Priester aber betet im Inneren des Altarraums und bittet den Überwinder des Todes, Ihn, der uns das ewige Leben schenkte, Er möge die Seelen Seiner entschlafenen Knechte in Frieden in die friedlichen grünen Gefilde, die von Krankheiten, Kummer und Seufzern gemieden werden, eingehen lassen; er bittet in seinem Herzen, Er möge ihnen alle ihre Sünden erlassen und verkündet laut: „Christus, unser Gott, da Du bist die Auferstehung, das Leben und der Frieden Deiner entschlafenen Knechte, so singen wir Dir Preis und Ruhm samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in alle Ewigkeit.“ Der Chor ruft bestätigend: „Amen,“ worauf der Diakon die Ektenia für die Katechumenen beginnt.

Obwohl die Zahl der noch nicht Getauften und derer, die noch zu den Katechumenen zählen, heute nur noch gering ist, denkt doch jeder Anwesende daran, wie weit er durch Glauben und Taten noch hinter den Gläubigen zurücksteht, die gewürdigt wurden, an den Liebesmahlen der ersten christlichen Zeit teilzunehmen, sieht ein, wie er gleichsam bloß bei Christus in die Lehre gegangen ist, jedoch sein Leben noch nicht mit Ihm erfüllt hat, wie er erst die Weisheit Seiner Worte versteht, sie aber in seinem Leben noch nicht verwirklicht, wie kalt sein Glaube noch ist, und wie es ihm noch an dem Feuer einer allesverzeihenden Liebe zu seinem Bruder gebricht, einer Liebe, die alle Herzenskälte und Dürre verzehrt, und wie er, obwohl er mit dem Wasser auf den Namen Christi getauft ward, doch noch der geistigen Wiedergeburt nicht teilhaftig ist, ohne die sein Christentum nach den eigenen Worten des Heilandes nichts ist, Der da spricht: „Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen!“ — Indem also jeder Anwesende dessen eingedenk ist, zählt er sich demutsvoll zu den Katechumenen, und so antwortet er denn auch auf den Ruf des Diakons: „Lasset uns zu Gott beten, Katechumenen!“ aus der Tiefe seines Herzens: „Gott, erbarme Dich unser!“

Hierauf ruft der Diakon: „Ihr Gläubigen, lasset uns für die Katechumenen beten und Ihn bitten, Er möge ihnen gnädig sein, sie erwecken mit dem Worte der Wahrheit, ihnen das Evangelium der Gerechtigkeit offenbaren, sie vereinigen in Seiner heiligen allgemeinen apostolischen Kirche, Er möge sie erretten, Sich ihrer erbarmen, ihnen beistehen und sie erhalten in Seiner Gnade.“

Und die Gläubigen beten, tief durchdrungen von dem Gefühle, wie wenig sie den Namen der Gläubigen verdienen, indem sie für die Katechumenen bitten, auch für sich selbst und beantworten jeden Ruf des Diakons in ihrem Innern, indem sie mit dem Sängerchor die Worte nachsprechen: „Herr, erbarme Dich unser!“ Der Diakon ruft: „Katechumenen, beugt euer Haupt vor Gott!“, und alle beugen ihr Haupt, indem sie innerlich ausrufen: „Vor Dir, o Herr!“

Der Priester betet leise für die Katechumenen, sowie für die, die sich in ihrer Herzensdemut unter die Katechumenen versetzt haben. Sein Gebet hat folgenden Wortlaut: „Herr, unser Gott, Der Du in der Höhe wohnst und herabsiehst auf die Demütigen, Der Du das Heil herabsandtest dem menschlichen Geschlechte in Gestalt Jesu Christi, Deines Sohnes, unseres Herrn und Gottes! Blicke nieder auf die Katechumenen, Deine Knechte, die ihren Nacken vor Dir beugen! Nimm sie auf in Deine Kirche und in Deine auserwählte Herde, auf daß sie mit uns Deinen hehren, herrlichen Namen loben und preisen den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!“ Der Chor fällt mit einem donnernden „Amen!“ ein. Und in Erinnerung, daß nun der Augenblick gekommen ist, wo ehemals die Katechumenen aus der Kirche herausgeführt wurden, ruft der Diakon mit lauter Stimme: „Tretet heraus, Katechumenen!“ Hierauf erhebt er abermals die Stimme und ruft noch einmal: „Tretet heraus, Katechumenen!“ Und endlich ruft er noch ein drittes Mal aus: „Tretet heraus, Katechumenen! Keiner von euch Katechumenen, sondern ihr Gläubigen alleine, laßt uns abermals und abermals zu Gott beten!“

Bei diesen Worten erbeben alle im Bewußtsein ihrer Unwürdigkeit. Inbrünstig flehen sie in Gedanken Christus selbst um Gnade an, Der die Käufer und die schamlosen Krämer, die Sein Heiligtum zu einer Mördergrube gemacht hatten, aus dem Tempel Gottes jagte, und jeder Anwesende bemüht sich, den Katechumenen, der noch nicht darauf vorbereitet ist, in dem Heiligtume zu weilen, aus dem Tempel seiner Seele zu vertreiben, und er betet zu Christus, Er möge selbst den Gläubigen, der in die auserwählte Herde aufgenommen wird, in ihm erwecken, denn von ihm sagt der Apostel: „Ein heiliges Volk, Menschen der Erneuerung sind die Steine, aus denen der Tempel erbaut wird“; Er möge ihn erwecken ihn, der zu den wahrhaften Gläubigen gehört, die während der Zeit der ersten Christen, deren Gesichter von der Ikonostasis auf den Andächtigen herabblicken, an der Liturgie teilnahmen. Und indem er sie alle mit seinem Blick umfaßt, fleht er sie um Hilfe an, als seine Brüder, die jetzt im Himmel anbeten, denn nunmehr steht die allerheiligste Handlung bevor; es beginnt die Liturgie der Gläubigen.

Die Liturgie der Gläubigen

Im geschlossenen Altarraum breitet der Priester auf dem heiligen Hochaltar das Antiminsion oder Corporale aus — ein Tuch, auf dem der Körper des Heilands abgebildet ist —, worauf das von ihm während des Offertoriums zubereitete Brot und der mit Wasser und Wein gefüllte Kelch gestellt werden, die jetzt im Angesicht aller Gläubigen vom Seitenaltar herbeigetragen werden. Das Corporale, das der Priester über den Hochaltar breitet, soll an die Zeiten der Christenverfolgungen erinnern, als die Kirche noch kein ständiges Heim hatte; man bediente sich damals, da der Altar nicht von einem Ort zum anderen getragen werden konnte, dieses Tuches sowie einzelner Stücke von Reliquien; dies Corporale ist noch heute im Gebrauch, um anzudeuten, daß die Kirche auch heute noch nicht an ein einzelnes bestimmtes Haus, an eine Stadt oder an einen Ort gebunden ist, sondern wie ein Schiff noch auf den Wellen dieser Welt schwebt, ohne irgendwo vor Anker zu gehen, denn ihr Anker ruht im Himmel. Nachdem also der Priester das Corporale ausgebreitet hat, tritt er vor den Tisch, wie wenn er das erstemal vor ihn hinträte und als ob er sich erst jetzt für die eigentliche heilige Handlung vorbereite: in der ersten christlichen Zeit wurde nämlich der Altar erst in diesem Augenblick geöffnet, bis dahin blieb er geschlossen und verhängt, weil ja die Katechumenen noch anwesend waren, und erst jetzt begannen die eigentlichen Gebete der Gläubigen. Der Priester fällt in dem noch immer geschlossenen Altarraum vor dem Tische nieder und betet zwei Gebete der Gläubigen, in denen er Gott bittet, seine Seele zu reinigen, und Ihn anfleht, ihn gerecht vor den heiligen Altar treten zu lassen, auf daß er würdig werde, das Opfer reinen Gewissens darzubringen. Der Diakon steht indessen auf der Kanzel inmitten der Kirche, einen Engel darstellend, der die Gemeinde zum Gebet anfeuert; er hält die Gebetstola mit drei Fingern empor und ruft alle Gläubigen zu denselben Gebeten auf, mit denen die Liturgie der Katechumenen begann.

Alle Gläubigen sind bemüht, ihre Herzen mit einem einträchtigen, friedlichen, versöhnlichen Gefühl zu erfüllen, das jetzt noch notwendiger ist, und rufen: „Herr, erbarme Dich!“; sie beten noch inbrünstiger und flehen Gott um den höheren Frieden, um Errettung unserer Seelen, um den Frieden der Welt, die Wohlfahrt der Kirchen Gottes und ihre Einigung an; sie beten für diesen heiligen Tempel und für die, die ihn andächtig und gottesfürchtig betreten, und bitten Gott, Er möge sie vor Kummer, Zorn und Not bewahren. Und sie rufen noch inbrünstiger in ihrem Herzen: „Herr, erbarme Dich!“

Der Priester ruft aus dem Inneren des Altarraumes: „Höchste Weisheit!“, womit er andeutet, daß dieselbe höchste Weisheit, derselbe ewige Sohn, Der in Gestalt des Evangeliums ausging, das Wort auszusäen, daraus wir Belehrung schöpfen, wie wir leben sollen, Sich jetzt in das heilige Brot verwandeln wird, um Sich für die ganze Welt aufzuopfern. Alle Anwesenden bereiten sich, aufgerüttelt durch diese Vorstellung, begeistert auf den nunmehr bevorstehenden hochheiligen Gottesdienst vor und richten ihre Gedanken auf ihn. Der Priester, der die Liturgie zelebriert, betet leise bei sich, fällt vor dem Tische nieder und spricht folgendes erhabene Gebet: „Keiner, der noch durch fleischliche Lüste und Genüsse gefesselt wird, ist würdig, sich Dir zu nahen, vor Dich hinzutreten oder Dir zu dienen, Herr der Liebe; denn Dein Dienst ist groß und furchtbar, selbst für die himmlischen Mächte. Allein da Du in Deiner unermeßlichen Menschenliebe wahrhaftig und ewiglich Mensch, da Du selbst Hoherpriester wurdest und selbst das Sakrament dieses Gottesdienstes und dieses unblutigen Opfers einsetztest, als Herr unser aller — denn Du allein, o Gott, herrschst über alle himmlischen und irdischen Geschöpfe und sitzest auf dem Throne, der von Cherubim getragen wird, Gott der Seraphim und König von Israel, Der Du allein heilig bist und in den Heiligen wohnest —, so flehe ich Dich an, Dich, den Einen, Guten, sieh herab auf mich armen Sünder und Deinen unwürdigen Knecht, reinige meine Seele und mein Herz von bösen Gedanken und mache mich würdig, bekleidet mit der priesterlichen Gnade, mache mich würdig durch die Macht Deines Heiligen Geistes, vor Deinen Tisch zu treten und Deinen heiligen reinen Leib und Dein gerechtes Blut zu konsekrieren. Ich trete vor Dich hin, beuge meinen Nacken und bete zu Dir: wende Dein Angesicht nicht von mir ab und verstoße mich nicht aus der Schar Deiner Knechte, sondern laß es geschehen, daß diese Deine Gaben Dir dargebracht werden durch mich Unwürdigen. Denn Du bist der Darbringende und Dargebrachte, der Empfangende und Der, Der sie austeilt, Christus unser Gott, wir singen Dir Ruhm und Preis samt Deinem ewigen Vater und Deinem allerheiligsten, gütigen und lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.“

Mitten während des Gebetes öffnet sich die Königspforte, und man sieht den Priester mit ausgebreiteten Armen und in betender Stellung knien. Der Diakon kommt mit dem Räucherfaß in der Hand gegangen, um dem höchsten König den Weg zu bereiten, er räuchert reichlich und läßt Wolken von wohlriechendem Weihrauch aufsteigen, inmitten deren Er erscheinen wird, getragen von Cherubim. So ermahnt er alle daran, ihr Gebet zu reinigen, auf daß es lauter werde wie der Weihrauch vor dem Herrn — und fordert alle auf, die nach dem Wort des Apostels ein Wohlgeruch vor Christus sind, dessen eingedenk zu sein, daß sie reine Cherubim sein sollen, um den Herrn emportragen zu können. Die Sänger auf beiden Chören stimmen im Angesicht der ganzen Kirche folgenden Cherubimgesang an: „Die wir in geheimnisvoller Weise Cherubim darstellen und das Trichagion zu Ehren der lebenspendenden Dreieinigkeit singen, lasset uns nun alles andere vergessen und den höchsten König emporheben, Der unsichtbar getragen wird von den Heerscharen der Engel und beschattet von Lanzen.“

Die alten Römer hatten den Brauch, den neugewählten König auf einem Schilde, begleitet von seinen Legionen und beschattet von zahllosen Lanzen, die über ihn gehalten wurden, vor das Volk hinauszutragen. Diesen Gesang hat jener Kaiser selbst gedichtet, der in aller seiner irdischen Größe vor der Erhabenheit des höchsten Königs in den Staub sank, Der im Schatten der Lanzen von Cherubim und von den Legionen der himmlischen Mächte getragen wird; in der ersten Zeit traten die Kaiser selbst bescheiden in die Reihe der Diener der Kirche, wenn das heilige Brot hinausgetragen wurde.

Der Gesang dieses Liedes trägt einen angelischen Charakter und soll daran erinnern, wie die unsichtbaren Heerscharen im Himmel gesungen haben. Der Priester und der Diakon wiederholen diesen Cherubimgesang leise bei sich selbst und treten sodann vor den Seitenaltar, vor dem sich das Offertorium abspielte. Indem nun der Diakon vor die Gaben hintritt, die mit dem Aër bedeckt sind, spricht er: „Nimm hin, o Herr!“ Der Priester zieht den Aër hinweg und legt ihn dem Diakon auf die linke Schulter und spricht: „Erhebet eure Hände zu dem Heiligtume und segnet den Herrn!“ Sodann nimmt er die Patene samt dem Lamm und stellt sie dem Diakon aufs Haupt; er selbst ergreift den heiligen Kelch und geht hinter einer vorausgetragenen Leuchte oder Lampe zur Seitentür oder durch das nördliche Tor zum Volke hinaus. Wenn jedoch der Gottesdienst im Beisein der ganzen Geistlichkeit d. h. vieler Geistlicher und Diakonen stattfindet, so trägt ein Priester die Patene, ein anderer den Kelch, ein dritter den heiligen Löffel, mit dem der Priester das heilige Abendmahl austeilt, ein vierter die Lanze, die in den heiligen Leib gestoßen wurde. Alle heiligen Geräte werden hinausgetragen, sogar der Schwamm, mit dem die Krümchen des heiligen Brotes auf der Hostienschüssel zusammengelesen wurden und der jenen Schwamm darstellt, welcher mit Essig und Galle gefüllt wurde und mit dem die Knechte ihren Schöpfer tränkten. Diese feierliche Prozession, die der große Ausgang genannt wird und die himmlischen Heerscharen versinnbildlicht, kommt unter dem Absingen des Cherubimgesanges herangeschritten.

Bei dem Anblick des höchsten Königs, Der in der bescheidenen Gestalt des Lammes vorausgetragen wird, umgeben von den Werkzeugen irdischer Marter wie von den Lanzen unzählbarer unsichtbarer Heerscharen und Hierarchien, und auf der Patene ruhend wie auf einem Schilde, beugen alle tief ihr Haupt und beten mit den Worten des Übeltäters, der den Herrn vom Kreuze aus anflehte: „Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.“ Mitten im Tempel macht die Prozession halt. Der Priester benutzt diesen großen Augenblick, um in Gegenwart aller derer, die die Gaben tragen, und im Angesichte Gottes der Namen aller Christen zu gedenken, wobei er mit denen beginnt, denen die schwierigsten und heiligsten Pflichten auferlegt sind, von deren Erfüllung die Wohlfahrt aller Menschen und die Rettung ihrer eigenen Seele abhängt, und er schließt mit den Worten: „Gott der Herr gedenke euer und aller [rechtgläubigen] Christen in Seinem Reiche [immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit]!“ Die Sänger beschließen den Cherubimgesang mit einem dreimaligen „Halleluja!“, das das ewige Wandeln des Herrn verkündigt. Der Zug betritt nun die Königspforte. Der Diakon nähert sich allen voran dem Altar, bleibt zur Rechten vor der Tür stehen und begrüßt den Priester mit den Worten: „Gott der Herr gedenke deiner Priesterschaft in Seinem Reiche!“ Der Priester erwidert: „Gott der Herr gedenke deines heiligen Diakonenamtes in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!“ Und er stellt den heiligen Kelch und das Brot, das den Leib Christi versinnbildlicht, auf den Tisch, als wäre er ein Sarg. Die Königspforte schließt sich, als wäre sie das Tor zum Grabe des Herrn, der Vorhang wird zugezogen, womit auf die Wache hingedeutet wird, die vor dem Grabe aufgestellt wurde. Der Priester nimmt die heilige Patene vom Haupte des Diakons, als nähme er den Leib des Heilands vom Kreuze herunter, und stellt sie auf das ausgebreitete Corporale, als wäre es das Grabtuch Christi, wozu er die Worte spricht: „Der ehrbare Joseph nahm Deinen allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein reines Grabtuch mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen niemand je gelegen war.“ Und indem er der Allgegenwart Dessen gedenkt, Der jetzt vor ihm im Grabe liegt, spricht er bei sich selbst: „Im Grabe warst Du leibhaftig, in der Hölle mit der Seele und Gott gleich, im Paradies mit dem Übeltäter und saßest doch zugleich auf dem Throne mit dem Vater und dem Heiligen Geist, o Christe, der Du alles mit Dir erfüllst, Unbeschreiblicher!“ Und des Ruhms und der Ehre gedenkend, mit der dieses Grab bedeckt ward, spricht er: „Als Lebenspender, als wahrhaftiglich, herrlicher denn das Paradies und strahlender denn jeder Königspalast erschien uns Dein Grab, o Christus, Quell aller Auferstehung!“ Dann zieht er die Decke von der Patene und vom Kelch hinweg, nimmt den Aër von der Schulter des Diakons, der jetzt nicht mehr die Linnen, darin das Kind Jesus gewickelt ward, sondern das Kopftuch und die Grableinwand darstellt, in die Sein toter Leib gehüllt wurde, räuchert mit Thymian und bedeckt hierauf die Patene und den Kelch abermals, indem er spricht: „Der ehrbare Joseph nahm Deinen allerheiligsten Leib vom Kreuze herab, band ihn in ein reines Grabtuch mit Spezereien und legte ihn in ein Grab, darinnen niemand je gelegt war.“ Dann nimmt er das Räucherfaß aus den Händen des Diakons entgegen, räuchert vor den heiligen Gaben mit Weihrauch, indem er sich dreimal vor ihnen verneigt, und wiederholt, während er sich zu den bevorstehenden Opferhandlungen rüstet, leise bei sich selbst die Worte des Propheten David: „Tue wohl an Zion nach Deiner Gnade, baue die Mauern zu Jerusalem. Dann werden Dir gefallen die Opfer der Gerechtigkeit, die Brandopfer und die ganzen Opfer, dann wird man Farren auf Deinem Altar opfern,“ denn solange Gott selbst uns nicht erhebt und unsere Seelen nicht mit jerusalemischen Mauern wider alle Angriffe des Fleisches schützt, sind wir nicht imstande, Ihm Opfer und Brandopfer darzubringen und wird nie die Flamme eines geistigen Gebetes emporlodern, denn sie wird zerstreut und verweht werden durch fremde nebensächliche Gedanken und Rücksichten, durch den Ansturm der Leidenschaften und den Wirbelwind eines seelischen Aufruhrs.

Der Priester bittet Gott, seine Seele für das bevorstehende Opferwerk zu reinigen, legt das Räucherfaß wieder in die Hände des Diakons, läßt das Ornat herabfallen, beugt sein Haupt und spricht zu ihm: „Gedenke meiner, mein Bruder und Amtsgenosse!“ „Gott gedenke deiner Priesterschaft in Seinem Reiche!“ erwidert der Diakon, beugt seinerseits das Haupt, denkt an seine Unwürdigkeit und spricht, indem er die Stola emporhält: „Bete für mich, heiliger Herr!“ Der Priester antwortet: „Der Heilige Geist komme über dich, und die Kraft des Höchsten erleuchte dich!“ — „Derselbige Geist helfe uns alle Tage unseres Lebens.“ Und im vollen Bewußtsein seiner Unwürdigkeit fügt er [der Diakon] hinzu: „Gedenke meiner, o heiliger Herr!“ Der Priester erwidert: „Gott gedenke deiner in Seinem Reiche immerdar, hinfort und in alle Ewigkeit!“ Der Diakon sagt: „Amen!“ küßt dem Priester die Hand und geht durch die nördliche Seitentür hinaus, um alle Anwesenden zum Gebet für die dargebrachten und auf dem Hochaltar stehenden heiligen Gaben aufzufordern.

Er besteigt den Altar und richtet, das Gesicht der Königspforte zugewandt und die Stola, gleich dem erhobenen Flügel eines Engels, der zum Gebet erweckt und anfeuert, mit drei Fingern emporhebend, eine ganze Reihe von Gebeten, die schon keine Ähnlichkeit mit den früheren mehr haben, zum Himmel empor. Nachdem er die Gemeinde aufgefordert hat, in ihren Gebeten der auf dem Hochaltar stehenden Gaben zu gedenken, geht er alsbald zu solchen Gebeten über, die nur die Gläubigen, die in Christo leben, an Gott richten.

„Wir bitten Gott, daß Er diesen Tag zu einem vollkommenen, heiligen, friedlichen und sündenlosen mache!“ fleht der Diakon.

Die Gemeinde der Betenden vereinigt ihre Stimme mit dem Chor der Sänger und ruft aus tiefstem Herzen zu Gott empor: „Gewähre ihn uns, o Herr!“

„Wir bitten Gott, daß Er uns einen friedlichen Engel, einen treuen Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen und unserer Leiber sende!“

Die Gemeinde: „Gewähre ihn uns, o Herr!“

„Wir bitten Gott um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und Verfehlungen!“

Die Gemeinde: „Gewähre sie uns, o Herr!“

„Wir bitten Gott um alles Gute und um alles, was unserer Seele nützlich ist, und um Frieden auf Erden!“

Die Gemeinde: „Gewähre es uns, o Herr!“

„Wir bitten Gott um ein ferneres Leben in Frieden und um ein reumütiges Ende!“

Die Gemeinde: „Gewähre es uns, o Herr!“

„Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und friedliches Ende unseres Lebens und darum, daß wir einst gute Rechenschaft ablegen am Jüngsten Gerichte Christi!“

Die Gemeinde: „Gewähre uns das, o Herr!“

„Wir gedenken unserer hochheiligen, reinen, gesegneten, herrlichen Gebärerin, unserer Heiligen Jungfrau, sowie aller Heiligen und weihen uns selbst, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gott.“

Und in dem innigen Wunsche, sich also selbst und einander Christus, ihrem Herrn, zu weihen, rufen alle: „Dir, o Herr!“

Die Ektenia wird mit folgendem Gebet beschlossen: „Durch die große Gnade Deines eingeborenen Sohnes, sei gesegnet mit Ihm samt Deinem allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geist, nun, hinfort und in alle Ewigkeit!“

Der Chor singt ein donnerndes „Amen!“

Noch immer bleibt der Altar geschlossen. Noch immer beginnt der Priester nicht mit dem Opfer; denn noch muß vieles geschehen, ehe das heilige Abendmahl stattfinden kann. Aus der Tiefe des Altarraumes ruft der Priester der Gemeinde den Gruß des Heilands zu: „Friede sei mit euch allen!“ Die Gemeinde antwortet: „Und mit deinem Geiste!“ Der Diakon steht auf der Kanzel und ermahnt, wie dies bei den ersten Christen Sitte war, alle, einander zu lieben, indem er spricht: „Laßt uns einander lieben und einmütig bekennen ...“ Hier fällt der Sängerchor ein, indem er die Schlußworte: „Den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die alleinige unteilbare Dreieinigkeit!“ mitsingt, wodurch wir daran erinnert werden sollen, daß wir, wenn wir einander nicht liebhaben, auch Den nicht liebgewinnen können, Der ganz Liebe, Der die ganze vollkommene Liebe ist und Der in Seiner Heiligen Dreieinigkeit den Liebenden und den Geliebten, sowie die Handlung der Liebe, mit der der Liebende den Geliebten liebt, vereinigt: der Liebende ist Gott der Vater, der Geliebte Gott der Sohn, und die Liebe selbst, die Sie vereinigt, Gott der Heilige Geist. Dreimal verneigt sich der Priester im Inneren des Altarraumes, indem er leise bei sich wiederholt: „Ich will Dich lieben, o Herr, meine Stärke, mein Fels und mein Hort!“ Er küßt die mit dem Tuch verdeckte heilige Patene und den heiligen Kelch, küßt den Rand des heiligen Hochaltars und alle Priester, die mit ihm am Gottesdienst teilnehmen, tuen desgleichen; dann küssen sie sich alle untereinander und der Hauptpriester spricht: „Christus ist mitten unter uns!“ Man antwortet ihm: „Er ist und wird sein!“ Auch alle Diakone, die zugegen sind, küssen zuerst die Stelle ihrer Stola, auf der das Kreuz abgebildet ist, und dann einander, indem sie dieselben Worte sprechen.

Früher küßten alle, die in der Kirche waren, einander gleichfalls, die Männer die Männer, die Frauen die Frauen, indem sie sprachen: „Christus ist mitten unter uns!“ und gleich darauf die Antwort erhielten: „Er ist und wird sein!“ daher stellt sich auch heute ein jeder, der in der Kirche anwesend ist, in Gedanken vor, daß er alle Christen vor sich hat, nicht nur die, die in der Kirche sind, sondern auch die Abwesenden, nicht nur die, die seinem Herzen nahestehen, sondern auch die, die ihm fernstehen, beeilt sich, sich mit denen von ihnen auszusöhnen, gegen die er etwas wie Mißgunst, Haß oder Zorn hegte — und gibt jedem von ihnen in Gedanken einen Kuß, indem er bei sich spricht: „Christus ist mitten unter uns!“ und in ihrem Namen antwortet: „Er ist und wird sein!“ denn ohne dies wäre er tot für alle folgenden heiligen Handlungen nach Christi eigenem Wort: „So lasse allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe“; und an einer anderen Stelle heißt es: „Und wer da sagt, ich liebe Gott und hasse meinen Bruder, der lügt; denn wenn er seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, Den er nicht sieht?“

Der Diakon steht auf der Kanzel, er wendet sein Gesicht den Anwesenden zu, hält die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und ruft nach altem Brauch: „Die Tore, die Tore!“ Ehedem wurde dieser Ruf an die Pförtner gerichtet, die am Toreingang standen, damit sich keiner von den Heiden, die den christlichen Gottesdienst zu stören pflegten, frech und blasphemisch in die Kirche eindrängte; heute wird dieser Ruf an die Anwesenden selbst gerichtet, die hierdurch ermahnt werden sollen, die Tore ihres Herzens zu behüten, in denen die Liebe bereits Eingang gefunden hat, auf daß kein Feind der Liebe sich in die Herzen eindränge, und die Tore ihres Mundes und ihrer Ohren weit aufzutun und für die Verlesung des Glaubenssymbols offen zu halten; zum Zeichen dafür wird der Vorhang vor der Königspforte, oder die „hohe Pforte“, hinweggezogen, die sich nur dann öffnet, wenn die Aufmerksamkeit des Geistes auf die höchsten Mysterien hingelenkt werden soll. Der Diakon fordert die Versammlung mit folgenden Worten zum Zuhören auf: „Laßt uns der höchsten Weisheit lauschen!“ Die Sänger stimmen einen kraftvollen mannhaften Gesang an, der mehr einer Art Sprechgesang gleicht, und rufen laut und ausdrucksvoll: „Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden, alles Sichtbaren und Unsichtbaren.“ Dann machen sie eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die erste Person der Heiligen Dreieinigkeit — Gott den Vater klar und deutlich vorstellen, und fahren dann fort: „Und an Jesum Christum, Gottes eingeborenen Sohn, unseren Herrn, vom Vater in Ewigkeit geboren, Licht vom Licht, wahrhaftigen Gott vom wahrhaftigen Gott, geboren, nicht erschaffen, einerlei Wesens mit dem Vater, durch welchen alle Dinge geworden sind. Um der Menschen und um des Heiles willen vom Himmel Fleisch geworden aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria und Mensch geworden, um unseretwillen gekreuzigt unter Pontius Pilatus, gelitten, gestorben und begraben. Am dritten Tage nach der Schrift wiederauferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel und sitzend zur Rechten des Vaters. Von dannen Er wiederkommen wird in Herrlichkeit, zu richten die Lebendigen und die Toten und Dessen Reiches kein Ende sein wird. Und an den Heiligen Geist, Der da machet lebendig und gehet aus vom Vater, Der da zusammen mit dem Vater und dem Sohne angebetet und verehret wird und durch die Propheten geredet hat.“ Dann machen sie wieder eine kurze Pause, damit sich alle in Gedanken die dritte Person der Heiligen Dreieinigkeit — Gott, den Heiligen Geist klar und deutlich vorstellen, und fahren fort: „Und an eine heilige katholische und apostolische Kirche. Ich glaube an eine Taufe zur Vergebung der Sünden und hoffe auf die Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben. Amen!“

Mannhaft und kraftvoll ist der Gesang der Sänger und er prägt jedes Wort des Glaubenssymbols den Herzen tief ein. Mit fester Stimme wiederholt hierauf ein jeder die Worte des Symbols. Mutigen Herzens und voll starken Geistes wiederholt auch der Priester vor dem heiligen Hochaltar, der den heiligen Abendmahlstisch darstellen soll, leise bei sich selbst das Glaubensbekenntnis, auch alle Zelebranten, die ihm zur Seite stehen, wiederholen es still bei sich selbst, indem sie den heiligen Aër, der über den heiligen Gaben ruht, hin und her bewegen.

Festen Schrittes kommt jetzt der Diakon gegangen und verkündet: „Laßt uns fromm, laßt uns ehrfurchtsvoll dastehen und aufmerken und das heilige Opfer in Frieden darbringen,“ d. h. laßt uns würdig vor Gott hintreten, wie es sich für den Menschen geziemt, d. h. mit Zittern und Ehrfurcht, zugleich aber auch tapfer und kühnen Mutes, indem wir Gott loben, mit friedlichem versöhntem, einträchtigem Herzen, denn ohne dies vermag man sich nicht zu Gott zu erheben. Und die ganze Kirche wiederholt, diesen Ruf beantwortend, indem sie den Lobgesang, der aus ihrem Munde emporsteigt, und die Besänftigung der Herzen als Opfergabe darbringt mit dem Sängerchor: „Die Gnade des Friedens, das Opfer des Dankes.“ In der Urkirche herrschte die Sitte, bei dieser Gelegenheit etwas Salböl als Opfergabe darzubringen, welches ein Symbol der Besänftigung ist, denn Salböl und Barmherzigkeit bedeuten im Griechischen dasselbe.

Unterdessen zieht der Priester im Altarraum den Aër von den heiligen Gaben hinweg, küßt ihn und legt ihn zur Seite, indem er spricht: „Die Gnade unseres Herrn ...“ Der Diakon aber betritt den Altarraum, nimmt den Fächer oder das Rhipidion in die Hand und schwingt ihn andachtsvoll über den heiligen Gaben.

Indem nun der Priester sich anschickt, das heilige Abendmahl zu zelebrieren, richtet er aus dem Inneren des Altarraums folgenden frohen Ruf an das Volk: „Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“ worauf ihm alle Anwesenden antworten: „Und mit deinem Geiste!“ Der Altar, der vorhin die Krippe vorstellte, versinnbildlicht jetzt das Zimmer, in dem das Abendmahl zubereitet wurde; und der Hochaltar, der das Grab versinnbildlichte, stellt jetzt den Abendmahlstisch und nicht mehr das Grab dar. Der Priester gedenkt des Erlösers, Der Seine Augen zum Himmel emporrichtete, ehe Er Seinen Jüngern die göttliche Speise darreichte, und ruft: „Laßt uns unsere Herzen zum Himmel erheben!“ Und jeder, der in der Kirche anwesend ist, richtet seine Gedanken auf das, was nun geschehen wird — und er denkt daran, daß in diesem Augenblick das göttliche Lamm für ihn geschlachtet wird, daß das göttliche Blut des Herrn selbst in den Kelch fließt, um ihn zu entsühnen, und daß alle himmlischen Mächte sich mit dem Priester vereinigen, um für ihn zu beten; und indem er seine Gedanken [hierauf] richtet und seine Seele von der Erde abzieht und zum Himmel und aus der Finsternis zum Lichte erhebt, ruft er zugleich mit allen anderen aus: „Wir wollen uns zu Gott erheben!“

Der Priester ruft, des Erlösers gedenkend, Der da dankte, nachdem Er Seine Augen gen Himmel erhoben hatte: „Laßt uns unserem Gotte danken!“ Der Chor erwidert: „Geziemend ist es und fromm, anzubeten den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die Heilige Dreieinigkeit, Die eines Wesens und unfehlbar ist.“ Der Priester aber betet im stillen bei sich: „Geziemend ist es und fromm, Dich zu verherrlichen, zu loben, Dir zu danken und Dich anzubeten allerorten in Deinem Reiche, denn Du bist Gott, der Unaussprechliche, Unergründliche, Unsichtbare und Unbegreifliche, denn Du bist ewig Derselbe samt Deinem eingeborenen Sohn und Deinem Heiligen Geist. Du hast uns aus dem Nichtsein zum Sein erweckt, hast uns Abtrünnige wieder aufgerichtet und hast uns nicht verlassen, sondern uns in den Himmel erhoben und uns Dein künftiges Reich geschenkt. Für dieses alles danken wir Dir und Deinem eingeborenen Sohn und Deinem Heiligen Geiste, danken Dir alle, für alle die Wohltaten, die wir kennen und die wir nicht kennen, die offenkundigen und die unbekannten, die Du an uns getan hast. Wir danken Dir auch für diesen Gottesdienst und bitten Dich, ihn aus unserer Hand entgegenzunehmen, obwohl Dir Tausende von Erzengeln und Legionen von Engeln, Cherubim und sechsfach geflügelte Seraphim zur Verfügung stehen, vieläugige, gefiederte, gen Himmel strebend, Dir Siegeslieder singen, rufen, jauchzen und sprechen: „Heilig, heilig, heilig ist der Gott Zebaoth; Himmel und Erde sind Deines Ruhmes voll!“

Dieses Siegeslied der Seraphim, das die Propheten in ihren heiligen Gesichten vernahmen, wird von dem ganzen Sängerchor aufgenommen; es trägt die Gedanken der Gläubigen in unsichtbare Himmelsfernen mit sich fort, nötigt alle, mit den Seraphim in den Ruf einzustimmen: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!“ und mit ihnen den Thron des göttlichen Ruhmes zu umkreisen. Und da ferner die ganze Kirche in diesem Augenblick erwartungsvoll dessen harrt, daß der Herr selbst herabsteigen und Sich für alle zum Opfer darbringen wird, so vereinigt sich mit dem Gesang der Seraphim, der im Himmel ertönt, noch der Gesang der hebräischen Jünglinge, mit dem Ihn diese bei Seinem Einzug in Jerusalem begrüßten, Zweige auf den Weg streuend: „Hosianna in der Höhe. Gelobt sei, Der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ Denn der Herr bereitet sich, in den Tempel einzuziehen, wie in das mystische Jerusalem. Der Diakon fährt fort, mit dem Fächer über die heiligen Gaben hinzufächeln, damit kein Insekt auf sie herniederfalle, und symbolisiert mit dieser Bewegung des Fächers das Walten der Gnade. Der Priester aber betet im stillen weiter: „Mit diesen heiligen Mächten, o Herr, Der Du die Menschen liebhast, flehen auch wir zu Dir und sprechen: Heilig und hochheilig bist Du und Dein eingeborener Sohn und Dein Heiliger Geist. Heilig bist Du und hochheilig, und herrlich ist Dein Ruhm, denn also hast Du die Welt geliebt, daß Du Deinen eingeborenen Sohn gabst, auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben, Der da kam und alles erfüllte, was von uns verkündet ward; in der Nacht, da Er verraten ward, oder besser, da Er Sich selbst dahingab für das Leben der Welt, nahm Er das Brot in Seine reinen unschuldigen Hände, dankte, segnete und heiligte es, brach es und gab es Seinen heiligen Jüngern und Aposteln und sprach ...“ Und mit lauter Stimme verkündete der Priester die Worte des Heilandes: „Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird zur Vergebung der Sünden.“ Bei diesen Worten fallen die ganze Kirche und der Chor ein und rufen „Amen!“ Der Diakon aber weist, die Stola in der Hand haltend und sich zum Priester hinwendend, auf die heilige Patene hin, auf welcher das Brot ruht. Der Priester aber fährt leise fort: „Desselbigengleichen nahm Er auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach ...“ und er verkündet laut, nachdem der Diakon auf den Kelch gedeutet hat: „Trinket alle daraus, dies ist Mein Blut des Neuen Testaments, welches vergossen wird für euch und für viele zur Vergebung der Sünden.“ Und die ganze Kirche antwortet ebenso laut wie das erstemal: „Amen!“

Der Priester fährt fort, leise zu beten: „Und indem wir also gedenken dieses erlösenden Gebotes und alles dessen, das für uns getan ward: des Kreuzes, des Grabes, der Auferstehung am dritten Tage, der Himmelfahrt, des Sitzens zur Rechten Gottes und der zweiten ruhmvollen Wiederkunft“ — und nun, nachdem er dies leise vor sich hingesprochen, erhebt er die Stimme und spricht: „— bringen wir Dir dar das Deinige von den Deinigen für alle und für alles!“ Der Diakon legt nun den Fächer beiseite und hebt die heilige Patene und den heiligen Kelch in die Höhe: in diesem Augenblick stellt der Altar nicht mehr das Zimmer, in dem das heilige Abendmahl stattfand, und der Hochaltar nicht mehr den Abendmahlstisch dar; jetzt ist er der Opferaltar, auf dem das furchtbare Opfer für die ganze Welt dargebracht wird — das Golgatha, wo die furchtbare Hinschlachtung des göttlichen Opferlamms sich vollzog. Dieser Augenblick stellt den Augenblick des Opfers und den Moment dar, da ein jeder an das dem Schöpfer dargebrachte Opfer gemahnt wird. Wir beugen uns ja auch vor den irdischen Gewalten; wir verehren und achten ja auch die Menschen und gehorchen ihnen, aber wir opfern nur dem alleinigen Gott. Und dies Opfer hat nie aufgehört seit Erschaffung der Welt, in welcher Form es auch immer dargebracht werden mochte, das, worauf es dabei ankam, war nicht das Opfer selbst, sondern ein reumütiger Geist, mit dem es dargebracht wurde. Daher muß jeder der Anwesenden dessen eingedenk sein, daß der Priester in diesem Augenblick alles Gemeine und Diesseitige geringschätzen und alle irdischen Begierden und Gedanken vergessen muß gleichwie Abraham, der, als er zum Berg emporstieg, um das Opfer darzubringen, seine Frau, seinen Knecht und seinen Esel unten ließ und nur das Holz des bitteren Bekenntnisses seiner Sünden mit sich nahm, es im Feuer seiner inneren Reue zu Asche verbrannte und mit der Flamme und dem Schwerte des Geistes in sich jede Begierde nach irdischem Besitz und irdischen Gütern tötete. Was aber sind alle unsere Opfer vor dem Angesichte Gottes, wenn Er durch den Mund des Propheten zu uns spricht. „Wie ein unreines Gewand sind alle unsere Taten.“

Tief durchdrungen vom Bewußtsein, daß es auf Erden nichts gibt, das da wert wäre, Gott zum Opfer gebracht zu werden, richtet jeder der Anwesenden seine Gedanken auf den Kelch, den der Diener des Altars im Altarraum emporhebt, und ruft im Inneren seines Herzens aus: „Also sei Dir dargebracht das Deinige von den Deinigen, für alle und für alles!“ Der Chor singt: „Dir lobsingen wir, Dich segnen wir, Dir danken wir, o Herr, und wir beten zu Dir, unser Gott!“

Und nun folgt der Höhepunkt der ganzen Liturgie: die Transsubstantiation. Im Inneren des Altarraumes wird jetzt der Heilige Geist dreimal angerufen und angefleht, Sich auf die heiligen Gaben herabzusenken — derselbe Heilige Geist, durch Den die Fleischwerdung Christi, Seine Geburt durch die Jungfrau, Sein Tod und Seine Auferstehung vollzogen ward, und ohne Den sich das Brot und der Wein nicht in den Leib und das Blut Christi verwandeln können.

Der Priester fällt vor dem heiligen Hochaltar nieder, und auch der Diakon verbeugt sich dreimal bis zur Erde, indem er bei sich selbst spricht: „Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.“ Und nach diesem Anruf des Heiligen Geistes wiederholen alle bei sich den Vers: „Gib mir, o Gott, ein reines Herz und erneure in meinem Inneren einen gerechten Geist.“

Noch einmal wird der Anruf wiederholt: „Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.“ Und die Gemeinde singt den Vers: „Verwirf mich nicht von Deinem Angesicht und nimm Deinen Heiligen Geist nicht von mir!“ Und zum drittenmal erfolgt der Anruf: „Herr Gott, Der Du in der dritten Stunde Deinen Allerheiligsten Geist auf Deine Apostel herabsandtest, nimm Ihn nicht von uns, Du Gütiger, sondern laß uns wiedergeboren werden, die wir zu Dir beten.“ Der Diakon weist gesenkten Hauptes mit der Stola auf das heilige Brot hin und spricht bei sich selbst: „Segne, o Herr, das heilige Brot!“ Und der Priester segnet es dreimal mit dem Kreuze und spricht: „Und mache dieses Brot zu dem heiligen Leibe Deines Christus.“ Der Diakon sagt: „Amen!“ Und damit ist das Brot in den Leib Christi verwandelt. Und abermals weist der Diakon mit der Stola stumm auf den heiligen Kelch und spricht bei sich selbst: „Segne, o Herr, den heiligen Kelch!“ Und der Priester segnet ihn und spricht: „Mache, den Inhalt dieses Kelches zum heiligen Blut Deines Christus.“ Der Diakon sagt: „Amen!“ und spricht, indem er auf die beiden heiligen Gaben hinweist: „Segne sie beide, o Herr!“ Der Priester segnet sie und spricht: „Verwandle sie durch Deinen Heiligen Geist!“ Der Diakon sagt dreimal: „Amen!“ Und auf dem Hochaltar ruhen jetzt der Leib und das Blut Christi selbst: die Transsubstantiation hat sich vollzogen! Ein Wort rief das ewige Wort herbei. Der Priester, dessen Stimme das Schwert vertritt, hat das Opfer vollbracht. Wer es auch sein möge — ob er Peter oder Iwan heißt —, in seiner Person hat der ewige Hohepriester selbst dies Opfer vollbracht, und Er vollbringt es ewiglich durch die Person Seiner Priester, wie auf das Wort: „Es werde Licht!“ das Licht ewiglich leuchtet und wie auf das Wort: „Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut!“ die Erde sie ewiglich aufgehen läßt. Und es ist nicht ein Bildnis oder die bloße Erscheinung des Leibes, die sich auf dem Hochaltar befindet, sondern der Leib Christi selbst — derselbe Leib, der auf Erden Backenstreiche erhalten, bespien, gekreuzigt, begraben ward, auferstand und mit dem Herrn gen Himmel fuhr und nun zur Rechten des Vaters sitzt. Er behält nur deshalb auch weiter die Gestalt des Brotes, um dem Menschen zur Speise zu dienen, und weil der Herr selbst gesagt hat: „Ich bin das Brot.“

Vom Kirchturm her ertönt jetzt Glockengeläut, um allen den großen Augenblick zu verkündigen, auf daß der Mensch — wo er sich in diesem Moment auch befinden mag — ob er unterwegs, ob er auf Reisen ist oder seinen Acker bestellt, ob er zu Hause sitzt oder einer anderen Beschäftigung nachgeht, ob er auf dem Krankenbett liegt oder in den Mauern eines Gefängnisses schmachtet — kurz, damit er überall, wo er sich auch aufhält, in diesem furchtbaren Augenblick auch für sich beten könne. Alles stürzt vor dem Leib und Blut Christi nieder und fleht den Herrn mit den Worten des Übeltäters an: „Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.“

Der Diakon beugt sein Haupt vor dem Priester und spricht: „Gedenke an mich, o heiliger Herr!“ und der Priester antwortet: „Gott gedenke deiner in Seinem Reiche immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!“ Und nun gedenkt der Priester aller vor dem Angesichte Gottes, indem er die ganze Kirche, die triumphierende wie die kämpfende, mit in sein Gebet einschließt und zwar in derselben Weise und Reihenfolge, wie ihrer aller während des Offertoriums gedacht wurde, wobei er mit der heiligen, reinen, göttlichen Jungfrau und Mutter Gottes beginnt. Ihr zu Ehren, als der Fürsprecherin der ganzen Menschheit und als der einzigen, die für ihre hohe Demut und Bescheidenheit würdig erachtet wurde, Gott in ihrem Schoße zu tragen, stimmt die ganze Kirche zusamt dem Chor einen Lobgesang an, damit ein jeder in diesem Augenblick vernehme, daß die Demut die höchste Tugend und daß in dem Herzen des Demütigen Gott lebendig sei.

Nach der Mutter Gottes wird der Propheten, der Apostel und der Kirchenväter gedacht und zwar in derselben Reihenfolge, in der während des Offertoriums die Brotstücke für sie herausgeschnitten wurden; sodann wird aller Entschlafenen gedacht, deren Namen der Diakon verliest, sodann der Lebenden, wobei mit denen begonnen wird, denen die wichtigsten und höchsten Pflichten anvertraut sind, — d. h. mit denen, die das Wort der Wahrheit gerecht verwalten, der geistlichen und weltlichen Obrigkeit und dem Kaiser; [„Gott helfe ihm und unterstütze ihn in seinem schweren Amt bei jedem Werke, das das allgemeine Wohl betrifft; möge ihm in seinem edlen Streben das ganze Staatsschiff einträchtiglich folgen, zusamt der Regierung und der Militärkammer, auf daß sie getreulich ihre Pflicht erfüllen, und auch uns lasset im Frieden, der von ihnen ausgeht, ein ruhiges Leben führen in aller Frömmigkeit und Reinheit!“ Bei dieser Gelegenheit betet der Priester auch für alle anwesenden Christen bis auf den letzten, daß der allgütige Gott Seine Gnade über sie alle ergießen, ihre Schatzkammern mit Gütern füllen, die Eintracht und den Frieden in ihren Ehen walten, ihre Kinder groß werden lassen, die Jugend belehren, das Alter stützen und kräftigen, die Kleinmütigen trösten, die Zerstreuten sammeln, die Verführten zurechtweisen und in Seine heilige allgemeine apostolische Kirche aufnehmen möge. Für alle Christen bis auf den allerletzten, wo sich ein solcher Christ auch immer aufhalten möge, betet bei dieser Gelegenheit der demütige Priester;] ob der Christ unterwegs, auf der Wanderschaft, auf der See oder auf Reisen ist, ob er an einer Krankheit daniederliegt oder in der Verbannung, in Bergwerken oder unterirdischen Schächten schmachtet. Für alle — bis auf den allerletzten — betet bei dieser Gelegenheit die Kirche, und jeder Anwesende beteiligt sich nicht allein an diesem gemeinsamen Gebete für alle Menschen, sondern er betet auch für alle die Seinen, die seinem Herzen nahestehen, indem er sie insgesamt im Angesichte des Leibes und Blutes Christi beim Namen nennt. Dann ruft der Priester laut aus dem Altarraum: „Und laß uns preisen und lobsingen wie aus einem Munde und aus einem Herzen Deinen heiligen und herrlichen Namen, den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!“ Die ganze Kirche antwortet mit einem bestätigenden „Amen!“ Der Priester ruft: „Die Gnade des großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi sei mit euch allen!“, und die Gemeinde erwidert: „Und mit deinem Geiste!“ Hiermit haben die Gebete für alle, die der Kirche Christi angehören, ihr Ende erreicht, wie sie im Angesicht des Leibes und des Blutes Christi zu Gott emporgerichtet werden.

Nun besteigt der Diakon die Kanzel, um zum Gebet für die Gaben selbst aufzufordern, die Gott dargebracht werden und die bereits verwandelt sind, auf daß sie uns nicht zum Gericht und nicht zu einer Strafe für uns werden. Er erhebt die Stola mit drei Fingern seiner rechten Hand und ermuntert alle zum Gebet, indem er spricht: „Laßt uns aller Heiligen gedenken und immer wieder und wieder in Frieden zu Gott beten!“ Der Chor singt: „Herr, erbarme Dich!“ „Laßt uns beten für die dargebrachten und geweihten heiligen Gaben!“ Der Chor singt: „Herr, erbarme Dich!“ „Laßt uns beten, daß unser Gott, Der die Menschen liebet, sie aufnehmen möge auf Seinem heiligen, über dem Himmel thronenden geistigen Altar, duftend von geistigen Wohlgerüchen, und daß Er uns herabsenden möge Seine göttliche Gnade und die Gabe des Heiligen Geistes!“ Der Chor singt: „Herr, erbarme Dich!“ „Laßt uns zu Gott beten, daß Er uns bewahren möge vor Kummer, Zorn und Not!“ Der Chor singt: „Herr, erbarme Dich!“ „Hilf, rette, erbarme Dich und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!“ Der Chor singt: „Herr, erbarme Dich!“ „Wir bitten Gott um einen vollkommen ungetrübten, vollkommen heiligen, friedlichen und sündlosen Tag!“ Der Chor singt: „Gewähre ihn uns, o Gott!“ „Wir bitten Gott um einen Friedensengel, einen treuen Lehrmeister und Beschützer unserer Seelen und Leiber!“ Der Chor singt: „Gewähre es uns, o Herr!“ „Wir bitten Gott um Vergebung und Erlassung unserer Sünden und Verfehlungen!“ Der Chor singt: „Gewähre sie uns, o Gott!“ „Wir bitten den Herrn um alles Gute, was unserer Seele heilsam ist, und um Frieden auf Erden!“ Der Chor singt: „Gewähre es uns, o Herr!“ „Wir bitten Gott um ein Leben in Frieden und um ein reumütiges Ende!“ Der Chor singt: „Gewähre es uns, o Herr!“ „Wir bitten Gott um ein christliches, schmerzloses, ehrbares und friedliches Ende und darum, daß es uns beschieden sein möge, in Ehren Rechenschaft abzulegen am Jüngsten Tage Christi!“ Der Chor singt: „Gewähre es uns, o Herr!“ Und nun ruft der Diakon nicht mehr die Heiligen um Hilfe an, sondern er wendet sich direkt an Gott: „Wir bitten Dich um Einheit des Glaubens und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes und weihen uns, einander und unser ganzes Leben Jesus Christus, unserem Gotte!“ Und alle singen mit völliger und inniger Hingebung: „Dir, o Herr!“

Nun stimmt der Priester statt eines Trichagions folgenden Gesang an: „Würdige uns, o Herr, daß wir Dich, Gott, unseren himmlischen Vater, zuversichtlich und als Gerechtfertigte anrufen und lobsingen.“ Und alle Gläubigen beten nicht mehr wie mit Furcht erfüllte Sklaven, sondern wie reine unschuldige Kinder, die sich durch das Gebet, den ganzen Gottesdienst und die stetige Ausführung der heiligen Bräuche in jenen engelhaften Gemütszustand himmlischer Rührung versetzt fühlen, in dem der Mensch unmittelbar mit Gott sprechen kann wie mit seinem Vater, das Gebet des Herrn: „Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.“

Dieses Gebet umfaßt alles und schließt alles in sich ein, was wir brauchen. Die Bitte: „Geheiligt werde Dein Name!“ enthält das Erste, worum wir zuerst und vor allem bitten müssen: wo Gottes Name geheiligt wird, da ist allen wohl, da sind folglich alle in Liebe miteinander verbunden, denn nur durch die Liebe wird Gottes Name geheiligt. Mit den Worten: „Dein Reich komme!“ flehen wir das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit auf die Erde herab; ohne Gottes Herabkunft wird es nie eine Gerechtigkeit geben: denn Gott ist die Gerechtigkeit. Bei den Worten: „Dein Wille geschehe!“ wird der Mensch durch den Glauben wie durch die Vernunft geführt: denn wessen Wille kann wohl herrlicher sein, als der Wille Gottes? Wer weiß denn besser als der Schöpfer, was Seinen Geschöpfen not tut. Wem soll man also vertrauen, wenn nicht Ihm, Der durch und durch nichts als die ewiglich nur Gutes zeugende Güte und Vollkommenheit ist! Mit dem Worte: „Unser täglich Brot gib uns heute!“ bitten wir um alles, dessen wir zu unserem täglichen Lebensunterhalt bedürfen. Unser Brot aber ist die höchste göttliche Weisheit und Christus selbst. Er selbst hat gesagt: „Ich bin das Brot und wer von Mir isset, wird nicht sterben.“ Mit den Worten: „Vergib uns unsere Schuld!“ bitten wir, daß alle unsere schweren Sünden, die auf uns lasten, von uns genommen werden mögen — wir bitten, daß uns alles erlassen werden möge, dessen wir uns gegenüber dem Schöpfer selbst schuldig gemacht haben, indem wir uns an unseren Brüdern vergingen; streckt Er uns doch jeden Tag und jede Minute in ihrer Gestalt Seine Hand entgegen, indem Er uns mit herzzerreißendem Klagelaut um Mitleid und Erbarmen anfleht. Mit den Worten: „Und führe uns nicht in Versuchung!“ bitten wir Gott, uns vor allem zu behüten, was unser Gemüt verwirrt, uns irre leitet und uns unsere Seelenruhe raubt. Mit den Worten: „Sondern erlöse uns von dem Übel!“ bitten wir um die himmlische Seligkeit; denn sowie der Böse von uns weicht, bemächtigt sich sogleich eine hohe Freudigkeit unserer Seele, und wir fühlen uns schon auf Erden wie im Himmel.

So umfaßt und schließt dieses Gebet alles in sich ein, was uns die höchste göttliche Weisheit selbst beten gelehrt hat. Und zu wem beten wir? Zum Vater der Weisheit, Der Seine ewige Weisheit vor Beginn aller Zeiten zeugte. Da alle Anwesenden dieses Gebet bei sich wiederholen müssen, nicht mit dem Munde, sondern in der reinsten Unschuld eines kindlichen Herzens, so muß auch der Abgesang des Gebets auf den Chören einen kindlichen Charakter tragen: nicht in rauhen männlichen Tönen, sondern mit kindlicher Stimme, die die Seele selbst zu liebkosen scheint, muß dieses Gebet gesungen werden, auf daß man in ihr den Frühlingshauch des Himmels zu verspüren meine und daß in ihm etwas erklinge, was uns wie die Liebkosungen der Engel selbst berührt, denn in diesem Gebet reden wir ja Den, Der uns erschaffen hat, nicht mehr mit Gott an, sondern ganz schlicht mit den Worten: „Vater unser!“

Der Priester begrüßt die Gemeinde aus dem Inneren des Altarraumes mit dem Gruße des Heilands: „Friede sei mit euch allen!“ Die Gemeinde erwidert: „Und mit deinem Geiste!“ Jetzt fordert der Diakon alle zu einer inneren Herzensbeichte auf, die jeder nunmehr vor sich selbst ablegen muß, indem er ruft: „Beugt eure Häupter vor dem Herrn!“ Und indem nun alle Anwesenden bis auf den letzten ihr Haupt beugen, sprechen sie bei sich selbst etwa folgendes Gebet: „Ich beuge mein Haupt vor Dir, mein Herr und Gott, ich bekenne meine Sünden aufrichtig und schreie zu Dir: ich bin sündig, o Herr, und unwert, Dich um Vergebung zu bitten, aber Du bist menschenfreundlich, so erbarme Dich denn meiner, obwohl ich es nicht verdient habe, wie der verlorene Sohn, rechtfertige mich wie den Zöllner und mache mich würdig, gleich dem Übeltäter in Dein himmlisches Reich einzugehen.“ Und während so alle gebeugten Hauptes in innerer Herzenszerknirschung verharren, betet der Priester am Altare für alle mit folgenden Worten bei sich selbst: „Wir danken Dir, unsichtbarer König, Der Du in Deiner unermeßlichen Kraft alles erschaffen und durch Deine große Gnade alles aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen hast; blicke selbst vom Himmel auf die herab, o Herr, die ihr Haupt vor Dir beugen, denn sie beugen es nicht vor dem Fleische und dem Blute, sondern vor Dir, furchtbarer Gott. Wende alles, was uns bevorsteht, zu unserem Besten, o Herr, so wie es jedem not tut: Laß den Seefahrer den Hafen und den Reisenden sein Ziel erreichen, heile den Kranken, o Arzt der Seele und des Leibes!“ Dann stimmt der Priester den herrlichen Lobgesang auf die Dreieinigkeit an, der sich an die himmlische Güte Gottes wendet: „Gesegnet seist Du durch die Gnade, die Milde und die Menschenliebe Deines eingeborenen Sohnes samt Ihm, Deinem Sohne und Deinem Allerheiligsten, gütigen, lebenspendenden Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit!“ Der Chor ruft: „Amen!“ Nunmehr rüstet sich der Priester, selbst, und in Gemeinschaft mit allen, den Leib und das Blut Christi in sich aufzunehmen, indem er leise bei sich folgendes Gebet spricht: „Blicke herab, Herr Jesus Christus, unser Gott, aus Deiner heiligen Wohnung und vom ruhmvollen Thron Deines Reiches. Komm und heilige uns, Der Du hoch oben neben dem Vater sitzest und unsichtbar bei uns weilst, und mache uns [Priester] würdig, aus Deiner allmächtigen Hand Deinen reinen Leib und Dein gerechtes Blut zu empfangen und es allen den Deinen darzureichen.“

Während der Priester dies Gebet spricht, rüstet sich der Diakon zum heiligen Abendmahl: er tritt vor die Königspforte, umgürtet sich mit der Stola und kreuzt sie auf seiner Brust, gleich den Engeln, die ihre Flügel kreuzweise zusammenlegen und ihr Antlitz mit ihnen verdecken vor dem unnahbaren Lichte der Gottheit. Wie der Priester, verbeugt er sich dreimal und spricht bei sich selbst: „O Gott, reinige mich Sünder und erbarme Dich meiner!“ Wenn dann der Priester seine Hand nach der heiligen Patene ausstreckt, fordert er alle, die im Tempel anwesend sind, durch das anfeuernde Wort: „Laßt uns aufmerken!“ auf, alle ihre Gedanken auf das, was nun geschieht, hinzulenken. Der Altar entzieht sich dem Anblick des Volkes, der Vorhang wird zugezogen, damit zuerst der Priester das Abendmahl empfange. Nur die Stimme des Priesters, der die Patene in die Höhe hebt und ruft: „Das Heilige den Heiligen!“ dringt aus dem Altar hervor. Tief erschüttert von dieser Verkündigung, die da besagt, daß man selbst heilig sein muß, um das Heilige in sich aufzunehmen, erwidert die ganz im Gebet versunkene Gemeinde: „Einer ist heilig, der eine Gott, Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Vaters!“ worauf eine Lobhymne auf den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist, gesungen wird, um hierdurch anzudeuten, daß auch der Mensch heilig sein kann, so wie auch der Heilige, zu dessen Preis die Hymne gesungen wird, ein Heiliger werden konnte; auch er ward freilich heilig nicht durch seine eigene Heiligkeit, sondern durch die Heiligkeit Christi selbst. Durch sein Leben in Christo wird der Mensch geheiligt und in solchen Augenblicken der Ruhe in Christo ist er heilig wie Christus selbst, gleichwie das Eisen, wenn es im Feuer steckt, selbst zu Feuer wird und sofort erlöscht, sowie man es aus dem Feuer herausnimmt, und wieder gewöhnliches dunkles Eisen wird.

Nun bricht der Priester das heilige Brot; zuerst bricht er es gemäß dem Zeichen, das während des Offertoriums auf ihm gemacht wurde, in vier Teile, indem er spricht: „Das Lamm Gottes wird zerlegt und zerteilt, das zerlegt und doch unteilbar ist, das stets gegessen und nie aufgezehrt wird, und das da heiligt, die davon essen.“ Er legt eins von den Stücken des heiligen Leibes noch unvermischt mit dem Blute für sich und den Diakon zurück und zerlegt dann das Brot in so viele Teile, als die Zahl der Kommunikanten beträgt; aber durch diese Teilung wird doch der Leib Christi selbst nicht zerteilt, der Leib, dem kein Bein zerbrochen ward, und in dem kleinsten Teil erhält sich der Christus ganz und unversehrt, wie in jedem Gliede unseres Körpers dieselbe ganze und unteilbare Seele zugegen ist, und wie sich in einem Spiegel, auch wenn er in hundert Stücke zerspringt, selbst noch im kleinsten Splitter das Abbild derselben Dinge erhält. Wie in einem Ton, der an unser Ohr dringt, dieselbe Einheit erhalten bleibt oder wie derselbe ganze Ton sich unversehrt erhält, auch wenn tausend Ohren ihn vernehmen. Die Stücke, die während des Offertoriums zu Ehren der Heiligen und der Entschlafenen und im Namen einzelner von den Lebenden herausgeschnitten wurden, werden nicht alle in den Kelch getaucht. Sie bleiben einstweilen noch auf der Patene; nur die Teile, die den Leib und das Blut des Herrn darstellen, werden der Gemeinde während des heiligen Abendmahls dargereicht. In den ersten Zeiten der Kirche wurden sie in getrennter Gestalt dargereicht, wie sie auch heute noch von den Priestern genossen werden; ein jeglicher nahm den Leib des Herrn in die Hand und trank dann selbst aus dem Kelch. Aber da die heiligen Gaben infolge der Zuchtlosigkeit der neubekehrten und noch unwissenden Christen, die bloß dem Namen nach Christen geworden waren, oftmals von ihnen fortgetragen und mit nach Hause genommen wurden, wo man sie zu abergläubischen Zwecken und Zauberkünsten verwendete, oder da man in der Kirche in unwürdiger Weise mit ihnen umging, sich hierbei stieß, Lärm machte und die heiligen Gaben sogar verschüttete, als die Väter vieler Kirchen sich genötigt sahen, dem Volke den Kelch völlig vorzuenthalten und ihn durch die Darreichung der Oblate, als Symbol des Brotes, zu ersetzen, ein Brauch, den die abendländische römisch-katholische Kirche bei sich eingeführt hat, da ordnete der heilige Johannes Chrysostomus an, damit in der morgenländischen Kirche nicht das gleiche geschähe: daß Leib und Blut dem Volke nicht in getrennter und gesonderter, sondern in vereinigter Gestalt dargereicht werden und daß ihm beides nicht in die Hand gegeben, sondern in einem heiligen Löffel gereicht werden solle, der die Form jener Zange haben müsse, mit der der feurige Seraphim die Lippen des Propheten Jesaias berührte. Hierdurch sollen alle daran gemahnt werden, was das für eine Berührung ist, deren ihr Mund gewürdigt wird, und ein jeglicher deutlich erkennen, daß der Priester in diesem heiligen Löffel jene glühende Kohle hält, die der Seraphim mit der geheimnisvollen Zange vom Altar Gottes nahm, also daß bei der bloßen Berührung der Lippen des Propheten alle seine Missetat von ihm genommen wurde. Derselbe Johannes Chrysostomus ordnete ferner, um jeden Gedanken daran fernzuhalten, daß eine solche Vereinigung von Leib und Blut ein Willkürakt des Priesters sein könne, an, daß im Augenblick ihrer Vereinigung warmes Wasser in das Gefäß gegossen werde, was die erwärmende Gnade des Heiligen Geistes symbolisieren soll, der da ausgegossen wird, um diese Vereinigung zu heiligen, woher auch der Diakon dabei die Worte spricht: „Die Wärme des Glaubens, erfüllet vom Heiligen Geiste!“ Beim Einschütten des warmen Wassers wird die Gnade des Heiligen Geistes herabgefleht, damit nichts ohne den Segen des Herrn dabei geschehe und auf daß die Wärme zugleich zum Sinnbild der Blutwärme diene und, indem sie sich jedem fühlbar macht, ihm zum Bewußtsein bringe, daß sie nicht aus einem toten Leib, dem ja kein warmes Blut entfließt, sondern aus dem lebendigen, lebenspendenden und lebenzeugenden Leibe des Herrn in ihn einströmt; denn er soll auch hierbei daran erinnert werden, daß auch der tote Leib des Herrn nicht von Seiner göttlichen Seele verlassen, daß er voll der Wirkung des Heiligen Geistes ist, und daß die Gottheit Sich nicht von ihm getrennt hat.

Nachdem der Priester zuerst selbst das Abendmahl genommen und es dann dem Diakon gereicht hat, steht der Diener Christi als ein neuer, durch das Sakrament der Kommunion von allen seinen Sünden gereinigter Mensch da; in diesem Augenblick ist er im wahren Sinn des Wortes ein Heiliger und würdig, anderen das Abendmahl zu reichen.

Die Königspforte tut sich auf, und der Diakon erhebt feierlich seine Stimme: „Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben!“ Nun erscheint der verwandelte Seraphim — d. h. der in der Königspforte stehende Priester mit dem Kelch in der Hand — vor der ganzen Gemeinde.

Verzehrt von der Sehnsucht nach ihrem Gotte und von der heißen Flamme der Liebe zu Ihm, treten alle Kommunikanten, einer nach dem anderen, die Hände auf der Brust gekreuzt, vor den Priester und sprechen gebeugten Hauptes leise bei sich selbst folgendes Gebet, in dem sie ihren Glauben zu dem Gekreuzigten bekennen: „Ich glaube, o Herr, und bekenne, daß Du in Wahrheit bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der in die Welt gekommen ist, die Sünder zu erlösen, deren vornehmster ich selbst bin. Ich glaube auch, daß dies Dein heiliger Leib und daß dies Dein gerechtes Blut ist; daher bete ich zu Dir: erbarme Dich meiner und vergib mir meine Sünden, die freiwilligen wie die unfreiwilligen, deren ich mich in Worten oder Taten, wissentlich oder unwissentlich schuldig gemacht habe, und gib, daß ich nicht als Verworfener teilhaftig werde Deines heiligen Sakramentes zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben.“ Hier hält der Andächtige einen Augenblick inne, um die Bedeutung dessen, wozu er sich anschickt, in Gedanken zu erfassen, und fährt sodann aus innerstem Herzen fort, indem er folgende Worte spricht:

„Laß mich heute Deines heiligen Abendmahls teilhaftig werden, o Sohn Gottes, denn nicht als Dein Feind will ich Dein Geheimnis verraten, noch Dich küssen mit dem Kusse des Judas, sondern ich will Dich bekennen gleich dem Übeltäter, indem ich spreche: „Herr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.“ Und indem der Betende in seinem Inneren einen Augenblick andächtig innehält, fährt er fort: „Gib, o Herr, daß ich mir aus Deinem heiligen Abendmahl nicht das Gericht und die Verdammnis esse und trinke, sondern daß es mir zum Heil meiner Seele und meines Körpers gereiche.“

Nachdem nun ein jeglicher dieses Bekenntnis abgelegt hat, naht er sich dem Geistlichen nicht wie einem gewöhnlichen Priester, sondern wie dem feurigen Seraphim selbst, indem er sich bereit hält, mit offenem Munde die glühende Kohle des heiligen göttlichen Leibes und Blutes, die ihm im Löffel gereicht wird, in sich aufzunehmen, sie, die den ganzen häßlichen Schmutz und Unrat seiner Sünden zu Asche verbrennen soll, wie trockenes Reisig, die ewige Nacht aus seiner Seele verscheuchen und ihn selbst in einen strahlenden Seraph verwandeln soll. Und wenn dann der Priester den heiligen Löffel an seine Lippen führt, den Kommunikanten beim Namen nennt und spricht: „Der Knecht Gottes empfängt das gerechte und heilige Blut des Herrn und Gottes, unseres Heilandes Jesu Christi, zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben,“ nimmt er den Leib und das Blut des Herrn in sich auf; so steht er in seinem Inneren einen Augenblick seinem Gott gegenüber, indem er Ihm selbst vor das Angesicht tritt. Dieser Augenblick ist unzeitlich und er unterscheidet sich durch nichts von der Ewigkeit, denn er ist erfüllt von Dem, Der da der Grund aller Ewigkeit ist.

Indem der Mensch durch den Genuß des Leibes und des Blutes dieses großen Augenblicks teilhaftig geworden ist, steht er von heiliger Ehrfurcht erfüllt da; nun wird sein Mund mit dem heiligen Aër abgetrocknet, und diese Handlung wird mit den Worten des Seraphs begleitet, die dieser an den Propheten Jesaias richtete: „Siehe, hiermit sind deine Lippen gerühret, daß deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde versöhnet sei.“ Nunmehr tritt er selbst als ein Heiliger von dem heiligen Kelche zurück, indem er sich vor den Heiligen verbeugt, sie grüßt und sich vor den Anwesenden verneigt, die seinem Herzen jetzt soviel näher stehen als bis dahin und die nun durch das Band einer heiligen himmlischen Blutsverwandtschaft mit ihm verbunden sind; dann geht er wieder an seinen Platz zurück, ganz erfüllt von dem Gedanken, daß er Christus selbst in sich aufgenommen hat, daß Christus in ihm weilt und in fleischlicher Gestalt in seinen Leib hinabgestiegen ist, wie in ein Grab, um bis in die geheimste Kammer seines Herzens einzudringen und aufzuerstehen in seinem Geiste, denn in ihm selbst vollzieht Er Sein Begräbnis und Seine Auferstehung. Und die ganze Kirche leuchtet auf im Lichte dieser geistigen Auferstehung und jauchzend stimmt der Sängerchor einen Jubelgesang an:

„Wir haben gesehen Christi Auferstehung, so lasset uns anbeten den heiligen Herrn Jesum, Ihn, den Einzigen, Sündlosen. Wir beten Dein Kreuz an, o Christus, und lobsingen und preisen Deine heilige Auferstehung, denn Du bist unser Gott, wir kennen keinen, außer Dir, und preisen Deinen Namen. Kommet her, alle ihr Gläubigen, lasset uns anbeten die heilige Auferstehung Christi, denn durch das Kreuz ward der ganzen Welt große Freude zuteil. Wir segnen den Herrn ewiglich und preisen Seine Auferstehung: denn Er erlitt und erduldete den Kreuzestod, und indem er starb, hat Er den Tod überwunden.“ Und hierauf singt der Chor gleich den Engeln, die sich zu dieser Zeit versammeln:

„Strahle auf und leuchte, neues Jerusalem, denn Gottes Ruhm ist über dir aufgegangen. Jubele und freue dich nun, o Zion. Und du, reine Jungfrau und Mutter Gottes schmücke dich, denn Er, Den du geboren hast, ist auferstanden. O großes, heiligstes Passahfest Christi! O Weisheit, du Wort und Kraft Gottes! laß uns deiner noch in vollkommener Weise teilhaftig werden an dem nie endenden Tage deines Reiches!“

Während die frohlockende Kirche also widerhallt von den Auferstehungsliedern, stellt der Priester, im geschlossenen Altarraum, den heiligen Kelch auf den heiligen Hochaltar, der gleich der Patene wieder mit einer Decke zugedeckt wird, und richtet ein Dankgebet an den Herrn und Wohltäter unserer Seelen dafür, daß Er alle durch Seine Gnade teilnehmen ließ an Seinem himmlischen ewigen Sakramente, und er schließt mit der Bitte, Gott möge uns auf den rechten Weg führen, uns alle in der heiligen Ehrfurcht zu Ihm befestigen, unser Leben behüten und unseren Schritten Kraft und Festigkeit verleihen.

Und nun öffnet sich die Königspforte zum letztenmal, denn dieses offene Tor soll die offenen Pforten des Himmelreiches versinnbildlichen, das Christus allen zuteil werden ließ, indem Er Sich selbst der ganzen Welt zur Speise darbrachte. Das Hinaustragen des heiligen Kelches, wobei der Diakon die Worte spricht: „Tretet heran mit Gottesfurcht und Glauben,“ sowie das Zurücktragen des Kelches soll versinnbildlichen, daß Christus zum Volke hinausgeht, um alle Menschen mit Sich in das Haus Seines Vaters zurückzuführen. Vom Chor ertönt ein donnernder feierlicher Jubelgesang zur Antwort: „Gesegnet sei Der da kommt im Namen des Herrn; unser Herr und Gott erscheine, Der uns erscheint.“ Und die ganze Gemeinde vereinigt sich mit dem Chor und stimmt einen donnernden geistlichen Lobgesang an, der aus der Tiefe des gewaltig erstarkten und erhobenen Geistes kommt. Der Priester segnet die Anwesenden mit den Worten: „Errette, o Herr, Deine Menschen und segne Dein Eigentum,“ denn er nimmt an, daß in diesem Augenblick alle durch ihre Reinheit zu Gottes eigenstem Eigentum geworden sind — dann schwingt er sich in Gedanken empor und gedenkt der Himmelfahrt Christi, die den Abschluß Seines Erdenwandels bildete: er tritt zusammen mit dem Diakon vor den heiligen Hochaltar, verneigt sich und räuchert zum letztenmal, indem er spricht: „Aufgefahren zum Himmel bist Du, o Herr, die ganze Erde ist Deines Ruhmes voll,“ inzwischen aber begeistert der Chor durch jauchzende Jubelgesänge und Töne, die von strahlender geistiger Freude erfüllt sind, die verklärten Gemüter der Anwesenden zu folgenden Worten, dem höchsten Ausdruck geistiger Freude: „Wir haben das wahre Licht geschaut, wir haben den himmlischen Geist empfangen, wir haben uns mit dem wahrhaften Glauben erfüllt und beten an die Heilige unteilbare Dreieinigkeit, denn Sie hat uns erlöst.“

Der Diakon erscheint mit der heiligen Patene auf dem Haupte im heiligen Tor, er spricht kein Wort, blickt stumm auf die ganze Versammlung und entfernt sich hierauf wieder, womit er andeuten will, daß Christus uns verlassen hat und gen Himmel gefahren ist. Nach dem Diakon erscheint der Priester mit dem heiligen Kelch im heiligen Tore und verkündigt, daß der Herr, Der gen Himmel gefahren ist, alle Tage bis zum Ende der Welt bei uns weilet, indem er spricht: „Immerdar, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit,“ worauf der Kelch und die Patene zurückgetragen und auf den Seitenaltar gestellt werden, auf dem das Offertorium stattfand und der jetzt nicht mehr die Krippe, die eine Zeugin der Geburt Christi war, sondern jenen höchsten Ort des Ruhmes darstellt, auf dem sich die Himmelfahrt Christi in den Schoß des Vaters vollzog.

Hier vereinigt sich die ganze Kirche unter Führung des Sängerchors zu einem feierlichen Dankgesang der Seelen, und dies sind die Worte des Lobgesangs: „Laß unseren Mund sich erfüllen mit Deinem Lobe, o Herr, daß wir Deinen Ruhm singen, Der Du uns würdigest, an Deinem heiligen, göttlichen, unvergänglichen, lebenspendenden Sakramente teilzunehmen; behüte uns in Deinem Heiligtume, auf daß wir den ganzen Tag Belehrung schöpfen aus Deiner Weisheit!“ Hierauf singt der Sängerchor dreimal ein begeistertes: „Halleluja!“, das allen das ewige Wandeln und die Allgegenwart Gottes in Erinnerung ruft. Der Diakon besteigt die Kanzel, um die Anwesenden zum letztenmal zu Dankgebeten aufzufordern. Er hebt die Stola mit drei Fingern seiner Hand empor und spricht: „Vergib! lasset uns, nachdem wir empfangen haben das göttliche, heilige, reine, unvergängliche, himmlische, lebenspendende und furchtbare Sakrament Christi, würdig danken dem Herrn.“ Und alle Anwesenden singen leise und mit dankbarem Herzen: „Herr, erbarme Dich!“ „Hilf, rette, erbarme Dich und erhalte uns durch Deine Gnade, o Gott!“ ruft der Diakon zum letztenmal. Und alle singen den Gesang: „Herr, erbarme Dich! Wir beten, daß dieser ganze Tag heilig, friedlich und sündlos zu Ende gehe und weihen uns, einander und unser ganzes Leben Christus, unserem Gotte!“ Und mit der sanften Fügsamkeit eines Kindes und dem himmlischen Vertrauen auf Gott rufen alle aus: „Dir, o Herr!“ Der Priester hat währenddessen das Corporale zusammengelegt und verkündigt nun mit dem Evangelium in der Hand ... und stimmt einen Lobgesang auf die Dreieinigkeit an, der bisher gleich einem alles erhellenden Leuchtturm den ganzen Gang des Gottesdienstes erleuchtete und jetzt mit noch hellerem Lichte in den verklärten Seelen aufstrahlt; diesmal aber lautet der Lobgesang auf die Dreieinigkeit folgendermaßen: „Da Du bist unsere Heiligung, so singen wir Dir Ruhm und Preis: dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste, jetzo, hinfort und in alle Ewigkeit.“

Dann tritt der Priester vor den Seitenaltar, auf dem der Kelch und die Patene stehen. Alle die Stücke, die bisher auf der Patene lagen und die während des Offertoriums zum Gedächtnis der Heiligen, zu Ehren der Entschlafenen und für das geistige Wohlergehen der Lebenden herausgeschnitten wurden, werden jetzt in den heiligen Kelch getaucht, und durch diesen Akt des Eintauchens nimmt die ganze Kirche am Leibe und Blute Christi teil — sowohl die, die noch auf Erden umherirrt und kämpft, als auch die, die bereits triumphieret im Himmel: die Mutter Gottes, die Propheten, die Apostel, die Kirchenväter, die Priester, die Einsiedler, die Märtyrer, alle Sünder, für die ein Stück aus dem Brote herausgeschnitten wurde, sowohl die, die auf Erden leben, als auch die, die schon dahingegangen sind, nehmen in diesem Augenblick am Leibe und Blute Christi teil. Und der Priester, der in diesem Augenblick als der Vertreter der ganzen Kirche vor Gottes Angesichte steht, trinkt aus dem Kelche diese Kommunion aller und betet, nachdem er die Kommunion in sich aufgenommen hat, für alle, auf daß ihre Sünden weggewaschen werden, denn um der Erlösung aller willen ward dieses Opfer von Christus dargebracht, sowohl für die, die vor Seinem Kommen gelebt haben, als auch für die, die nach seinem Erscheinen leben. Und so sündhaft sein Gebet auch sein mag, der Priester richtet es für alle zu Gott empor, selbst für die heiligsten unter den Menschen, denn Johannes Chrysostomus hat gesagt: „Die ganze Welt muß gereiniget werden.“

Die Kirche ordnet ein allgemeines Gebet für alle an, und die hohe Bedeutung eines solchen Gebets und seine strenge Notwendigkeit sind nicht von den Philosophen und nicht von Gelehrten und Weltweisen des Zeitalters, sondern von den erhabensten Menschen erkannt worden, die durch ihre hohe geistige Vollkommenheit und durch ihr himmlisches engelhaftes Leben bis zur Erkenntnis der tiefsten geistigen Geheimnisse durchdrangen und klar einsahen, daß es keine Trennung unter denen, so in Gott leben, gibt, daß ihr Verkehr infolge der momentanen Verweslichkeit unseres Leibes nicht aufhört, daß die Liebe, die hier erblühte und uns verband auf der Erde, im Himmel als in ihrer Heimat noch viel mächtiger wird, und daß ein Bruder, der uns verlassen hat, uns durch die Macht der Liebe noch weit näher gerückt wird. Und alles, was aus Christus hervorgeht, ist ewig, wie die Quelle selbst ewig ist, aus der es entspringt. Sie haben ja auch durch ihre höheren Sinnesorgane erfahren, daß sogar die triumphierende Kirche im Himmel beten muß, und daß sie in der Tat für ihre auf Erden herumirrenden Brüder betet; sie haben auch erkannt, daß Gott uns im Gebet die höchste Seligkeit beschieden hat, denn Gott tut nichts und erweist niemand eine Wohltat, ohne Sein Geschöpf an Seinem Werke mitwirken zu lassen, auf daß es die hohe Wonne des Wohltuns mitgenieße; der Engel, der der Überbringer Seines Befehls ist, versinkt förmlich in Seligkeit, bloß weil er Seine Befehle überbringen darf. Der Heilige betet im Himmel für seine Mitbrüder, die hier auf Erden weilen, und versinkt in lauter Seligkeit, weil er beten darf. Und alles nimmt mit Gott an allen Seinen höchsten Wonnen und an Seiner Seligkeit teil: Millionen der vollkommensten Geschöpfe gehen aus Gottes Hand hervor, um an der höchsten und erhabensten Seligkeit teilzunehmen, und dies nimmt kein Ende, wie Gottes Seligkeit kein Ende nimmt.

Nachdem der Priester die Kommunion aller mit Gott aus dem Kelche getrunken hat, verteilt er die Weihbrote, denen die Stücke entnommen und aus denen sie herausgeschnitten wurden, an das Volk und übt damit den alten hohen Brauch des Liebesmahls aus, der bei den ersten Christen herrschte. Obwohl heute zu diesem Zweck kein Tisch mehr gedeckt wird, weil die ungebildeten und noch rohen Christen durch törichte Kundgebungen einer ungestümen Freude und durch Worte des Streits statt durch Worte der Liebe die Heiligkeit dieses rührenden himmlischen Mahles im Hause Gottes entweiht hatten, eines Mahles, bei dem alle Teilnehmer Heilige waren, bei dem alle Teile in eins zusammenflossen und währenddessen sie miteinander sprachen und sich unterhielten wie reine, unschuldige Kindlein, als wenn sie bei Gott im Himmel weilten; obwohl die Kirchen selbst einsahen, daß es unbedingt notwendig sei, diesen Brauch aufzuheben und selbst die Erinnerung an dieses Festmahl in vielen Kirchen zu tilgen, konnte die morgenländische Kirche sich nichtsdestoweniger nicht entschließen, diese Sitte gänzlich abzuschaffen, und so feiert sie auch heute noch in der Verteilung des heiligen Brotes an das gesamte in der Kirche versammelte Volk das alte Liebesmahl. Daher nimmt ein jeder, der das Weihbrot empfängt, dieses statt des Brotes entgegen, das von jenem Mahle herstammt, bei dem der Herr der Welt selbst Sich mit Seinen Jüngern unterredet hat, daher muß er es voller Ehrfurcht genießen und sich vorstellen, er sei von allen Menschen wie von lieben Brüdern umgeben, daher genießt er es denn auch, wie das in der Urkirche Sitte war, vor jeder anderen Speise, nimmt es mit sich nach Hause, oder er bringt es den Kranken, den Armen und solchen, die an jenem Tage aus irgendeinem Grunde nicht in der Kirche sein konnten.

Nachdem der Priester die heiligen Brote verteilt hat, schließt er die Liturgie mit einem Gebet und segnet sodann das ganze Volk mit den Worten: „Christus, unser wahrhaftiger Gott, erbarme Sich unser auf die Fürbitte Seiner reinen Mutter, auf Fürbitte unseres Erzbischofs Johannes Chrysostomus (wenn an diesem ebenso wie am vergangenen Tage die Liturgie des Chrysostomus stattfindet), auf Fürbitte des Heiligen (hier nennt er den Heiligen, dem dieser Tag geweiht ist) sowie aller Heiligen; und errette uns, denn Er ist gütig und menschenfreundlich.“ Die Gemeinde bekreuzigt sich, fällt auf die Knie und geht auseinander, während der Chor einen lauten Gesang anstimmt und Gebete für das Leben des Kaisers emporrichtet.

Nunmehr legt der Priester im Inneren des Altarraumes seine Gewänder ab, indem er spricht: „Nun entläßt Du Deinen Knecht!“ und er begleitet diese Handlung mit Lobgesängen und Hymnen zu Ehren des Vaters und Bischofs der Kirche, dem zu Ehren die Liturgie zelebriert wurde, sowie zu Ehren der heiligen reinen Jungfrau, in der sich die Menschenwerdung Dessen vollzog, Dem die ganze Liturgie geweiht ist. Der Diakon verzehrt unterdessen alles, was noch im Kelche enthalten ist, gießt noch etwas Wein und Wasser hinein, spült die inneren Wände des Kelches ab, trinkt sodann den Inhalt des Kelches aus und trocknet ihn sorgfältig mit dem Schwamm ab, damit nichts mehr darin bleibe, dann räumt er die heiligen Gefäße zusammen, bedeckt sie mit Decken, bindet sie zusammen und spricht ebenso wie der Priester: „Nun entläßt Du Deinen Knecht!“ worauf er dieselben Gesänge und Gebete wiederholt. Und beide verlassen die Kirche mit frischen, strahlenden Gesichtern, mit einem von jauchzender Freudigkeit erfüllten Geist und Worten des Dankes für den Herrn auf den Lippen.

Schluß

Die Wirkung, die die heilige Liturgie auf den Geist ausübt, ist gewaltig: sie vollzieht sich sichtbar und vor den Augen der ganzen Welt und bleibt doch verborgen. Und wenn der Kirchenbesucher nur jeder Handlung andächtig und aufmerksam und den Ermahnungen des Diakons gehorsam gefolgt ist, — so wird seine Seele von einer gehobenen Stimmung ergriffen, Christi Gebote werden für ihn erfüllbar, das Joch Christi wird sanft, und Seine Last wird leicht. Wenn er dann den Tempel verlassen hat, woselbst er an dem göttlichen Liebesmahl teilgenommen hat, sieht er alle Menschen als seine Brüder an. Was er auch tut, ob er wieder an seine gewohnten Geschäfte geht, sich seinem Dienst oder seiner Familie widmet, wo und in welchem — — — es auch sei, stets schwebt ihm ganz unwillkürlich das hohe Ziel eines liebevollen Verhaltens gegen seine Mitmenschen vor der Seele, wie es uns der Gottmensch vom Himmel mitgebracht hat; ohne daß er es selbst merkt, wird er freundlicher und gütiger gegen seine Untergebenen. Wenn er selbst einen Vorgesetzten über sich hat, so ordnet er sich ihm liebevoller unter, als wäre es der Heiland selbst, dem er gehorcht. Wenn er einen Menschen sieht, der um Hilfe bittet, ist sein Herz mehr denn sonst zur Hilfe geneigt, er findet mehr [Freude] daran und schenkt dem Armen aus liebendem Herzen ein Almosen. Ist er dagegen selbst arm, so nimmt er jede kleine Gabe voller Dankbarkeit entgegen; sein Herz ist von Rührung ergriffen und will vor Dank vergehen, und niemals betet er so dankerfüllt für seinen Wohltäter. Und alle, die der göttlichen Liturgie aufmerksam gefolgt sind, verlassen die Kirche sanftmütiger, sind gütiger im Umgang mit dem Menschen und freundlicher und milder in allem, was sie tun.

Daher muß ein jeder, der innerlich fortschreiten und besser werden will, die göttliche Liturgie, so oft als nur möglich, besuchen und ihr aufmerksam folgen: sie stimmt den Menschen ganz unmerklich und richtet seine Seele empor. Und wenn sich unsere Gesellschaft noch nicht vollständig aufgelöst hat, wenn die Menschen noch nicht von einem tiefen unversöhnlichen Haß widereinander erfüllt sind, so liegt der letzte tiefste Grund in der göttlichen Liturgie, die den Menschen an das heilige himmlische Gebot der Liebe zu seinen Brüdern mahnt. Wer sich daher in der Liebe stärken will, der sollte dem heiligen Liebesmahl so oft als möglich, voller Furcht, voller Glauben und Liebe beiwohnen. Und wenn er das Gefühl hat, daß er dessen noch nicht würdig ist, mit seinem Munde den Gott in sich aufzunehmen, Der selbst ganz Liebe ist, so soll er wenigstens der Liturgie als Zuschauer beiwohnen, er mag zusehen, wie die anderen das heilige Abendmahl nehmen, um unmerklich und unwillkürlich mit jeder Woche besser und vollkommener zu werden.

Gewaltig und unermeßlich könnte die Wirkung der heiligen Liturgie sein, wenn der Mensch ihr beiwohnte, um das, was er gehört hat, in sein Leben aufzunehmen.

Indem alle in gleicher Weise aus der Liturgie Belehrung schöpfen und indem sie auf alle Glieder der Gesellschaft vom Zaren herab bis zum letzten Bettler gleichermaßen wirkt, spricht sie zu allen in gleicher Weise, wenngleich nicht in derselben Sprache, und unterweist alle in der Liebe, die da ist das Band der Gesellschaft, die innerste Triebfeder alles dessen, das sich harmonisch bewegt, und die Nahrung und das Leben von allem.

Wenn aber die heilige Liturgie schon, während sie zelebriert wird, so stark auf die Anwesenden wirkt, so ist ihre Wirkung auf den Zelebranten oder den Priester noch weit tiefer. Wenn er sie andächtig und mit Ehrfurcht, Glauben und Liebe zelebriert, so reinigt sich sein ganzes Wesen, gleich einem Gefäß, das später zu nichts mehr ...; und mag er nun den ganzen Tag erregt in der Erfüllung seiner zahlreichen seelsorgerischen Pflichten, inmitten seiner Familie, seiner Hausgenossen oder seiner Pfarrkinder zubringen, der Heiland selbst wird sich in ihm verkörpern. Christus wird in allen seinen Handlungen lebendig sein, und der Heiland wird durch seinen Mund zu uns sprechen. Ob er die Streitenden zu versöhnen oder den Starken oder den Zornigen zu bewegen sucht, Gnade gegenüber dem Schwachen zu üben; ob er den Trauernden tröstet und den Bedrückten zur Geduld ermahnt oder ... seine Worte werden von der heilenden Kraft des Balsams erfüllt sein und überall und allerorten zu Worten des Friedens und der Liebe werden.

Jugendschriften

1834

Großer, feierlicher Augenblick! Gott, wie rauschen, wie drängen sich in ihm die Wogen der mannigfaltigsten Gefühle zusammen! Nein, das ist kein Traum. Das ist die verhängnisvolle unvermeidliche Grenzscheide zwischen Erinnerung und Hoffnung ... Es gibt schon kein Erinnern mehr, schon schwindet es dahin, schon wird es von der Hoffnung zurückgedrängt. Zu meinen Füßen braust meine Vergangenheit; über mir, durch Nebelschleier hindurch, schimmert geheimnisvoll die Zukunft. Ich flehe dich an, Leben meiner Seele (mein Schutzgeist, mein Engel), mein Genius! Verbirg dich nicht vor mir! Wache in diesem Augenblick über mir und weiche dieses ganze Jahr, das für mich so vielversprechend beginnt, nicht von meiner Seite. Wie wirst du aussehen, du, meine Zukunft? Liegst du glanzvoll, groß vor mir, gärt es in dir von gewaltigen Taten, oder ... O mögest du ruhmvoll, tatenreich und ganz der Arbeit und der Ruhe gewidmet sein! Warum stehst du so geheimnisvoll vor mir, du [Jahr] 1834? Sei auch du mein Schutzengel. Sollten sich Trägheit und Gefühllosigkeit auch nur einen Augenblick erdreisten, sich mir zu nahen, — oh, dann wecke mich aus dem Schlummer, gib es nicht zu, daß sie Macht über mich gewinnen! Laß deine so vielsagenden Zahlen wie eine nimmer ruhende Uhr, wie mein Gewissen vor mir stehen: laß jede deiner Ziffern lauter denn eine Sturmglocke an mein Ohr tönen, laß sie gleich einem galvanischen Stab meinen ganzen Körper in Zuckungen versetzen und erschüttern.

Geheimnisvolles, unbegreifliches Jahr 1834! Wo werde ich dich durch große Werke kennzeichnen? Inmitten dieses Haufens aufeinandergetürmter Häuser, dieser lärmenden Straßen, dieser siedenden Geschäftigkeit — dieser Menge, dieses Durcheinanders aller möglichen Moden, Paraden, Beamten, dieser seltsamen nordischen Nächte, dieses Glanzes und dieser gemeinen Farblosigkeit? In meinem herrlichen, alten, gelobten, mit fruchtreichen Gärten geschmückten Kiew, das mein prachtvoller, wundersamer, südlicher Himmel überwölbt und das wonneatmende Nächte einhüllen, wo die Berge mit ihren schönen — man möchte sagen harmonischen — Hängen, und wo mein klarer, wild dahinstürmender Dnjepr, der es umspült, im Schmuck grünen Buschwerks prangt? — Wird es dort sein? ... Oh! Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll, mein Genius! Du, der du schon seit meiner Wiege im Vorüberfliegen mein Ohr mit deinen harmonischen Liedern trafst, der du solch herrliche, mir bis heute noch unbegreifliche Gedanken in mir erwecktest und solch unendliche wonnevolle Träume in mir nährtest! Oh, blicke mich an! Herrlicher, blicke herab auf mich mit deinen himmlischen Augen! Ich knie vor dir. Ich liege zu deinen Füßen! Oh, verlasse mich nicht! Verweile bei mir auf der Erde, wenn auch nur zwei Stunden an jedem Tage, als mein herrlicher Bruder! Ich will es vollbringen. Ja, ich werde es vollbringen. In mir kocht es und siedet’s vor Lebenskraft. Meine Werke werden von Begeisterung erfüllt sein. Die erhabene Gottheit, die über dieser Erde thront, wird über ihnen schweben. Ich werde es vollbringen ... Oh, küsse und segne mich!

Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken

Es gibt bisher noch keine vollständige und befriedigende Darstellung der Geschichte Kleinrußlands und des kleinrussischen Volkes. Die zahlreichen kompilatorischen Darstellungen, die meist ohne strenge kritische Gesichtspunkte plan- und ziellos aus verschiedenen Chroniken zusammengetragen, dazu noch meist ganz unvollständig sind und durch die bisher diesem Volke sein Platz in der Weltgeschichte noch nicht angewiesen ward, diese Darstellungen nenne ich (trotzdem sie als Material ganz wertvoll sein können) noch keine Geschichte. Ich habe mich entschlossen, diese Arbeit auf mich zu nehmen und möglichst ausführlich darzustellen, wie dieser Teil Rußlands sich loslöste (und selbständig wurde), was für eine politische Verfassung er unter der fremden Herrschaft erhielt, wie sich hier eine kriegerische Bevölkerung heranbildete, die sich durch eine große Originalität des Charakters und durch ihre Taten auszeichnete; wie sich dieses Volk drei Jahrhunderte lang mit der Waffe in der Hand seine Rechte erobern mußte und hartnäckig seine Religion verteidigte, und wie es sich schließlich für immer an Rußland anschloß; wie es seinen kriegerischen Charakter verlor und sich in ein Volk von Ackerbauern verwandelte; wie sich das ganze Land allmählich statt der alten neue Rechte eroberte und endlich mit Rußland völlig zu einem Ganzen verschmolz. Ungefähr fünf Jahre lang habe ich mit großem Eifer Materialien gesammelt, die sich auf die Geschichte dieses Landes beziehen. Die Hälfte meiner Geschichte ist bereits so gut wie fertig, aber ich zögere noch, die ersten Bände herauszugeben, da ich vermute, daß es noch viele Quellen gibt, die mir vielleicht noch nicht bekannt sind, und die sich ohne Zweifel in den Händen von Privatpersonen befinden. Daher wende ich mich an alle die, die irgendwelche Materialien: Chroniken, Memoiren, Lieder, Erzählungen von Bandurenspielern, Aktenstücke (besonders auch solche, die sich auf die ersten Epochen der kleinrussischen Geschichte beziehen), besitzen (es ist unmöglich, daß meine gebildeten und aufgeklärten Landsleute mir diese Bitte abschlagen könnten). Ich bitte sie inniglich, mir diese Materialien zuzuschicken: wenn nicht die Originale, so doch wenigstens Kopien.

Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung
Der schreckliche Eber

I.
Der Lehrer

Die Ankunft einer neuen Person in dem gesegneten Lande Goltwjan machte mehr Aufsehen als das Gerücht, das vor zwei Jahren durch das Land ging, die Zahl der Rekruten solle vermehrt werden, oder als die plötzliche Erhöhung der Preise auf das Salz, das von den Steppenbewohnern der Ukraine aus der Krim eingeführt wurde. In den Schenken, auf den Straßen, in der Mühle, in der Branntweinbrennerei sprach man von nichts anderem als von dem neu hierher versetzten Lehrer. Die schlauen Politiker in ihren großen Kitteln und Kapuzen suchten, während sie mit höchst phlegmatischen Mienen dichte Rauchwolken unter ihrer Nase emporsteigen ließen, den Einfluß der Persönlichkeit festzustellen, der das Schicksal scheinbar schon bei der Geburt einen so hohen Platz über den Köpfen aller Bewohner der Welt angewiesen hatte, einer Person, die in den herrschaftlichen Gemächern wohnte und an einem Tisch mit der Besitzerin eines Gutes von fünfzig Seelen speiste. Man sprach davon, daß das Lehramt nicht seine ganze Befugnis ausmache, und daß sich sein Einfluß ohne allen Zweifel auch auf die wirtschaftliche Ordnung erstrecken werde; jedenfalls werde die Bemessung der Vorspanndienste, die Verteilung von Mehl, Speck usw. von keinem anderen abhängen als von ihm. Einzelne ließen mit bedeutsamer Miene durchblicken, daß nunmehr womöglich selbst der Verwalter zu einer bloßen Null herabsinken werde. Nur der Miroschnik, d. h. der Müller Ssolopi Tschubko, wagte die Behauptung aufzustellen, daß die Dorfältesten nichts von ihm zu befürchten hätten, er sei bereit, eine Wette einzugehen, und setze eine neue Mütze aus grauem reschetilowschem Lammfell zum Pfande —, daß der Lehrer keine Ahnung davon habe, wie man ein Fünfgespann zum Stehen und das stockende Mühlrad wieder in Schwung bringen müsse. Aber seine wichtige Haltung, sein glänzender Triumph über den Kirchensänger und die donnerähnliche Baßstimme, die alle Pfarrkinder in Rührung versetzt hatte, waren noch im Gedächtnis aller lebendig, und so blieb denn die vorteilhafte Meinung, die man von dem neuen Lehrer hatte, bestehen. Und wenn auch zu Ehren des Gastes kein einziges Turnier zwischen den angesehensten Bewohnern des Dorfes stattfand, so ließen sich dafür ihre liebenswürdigen Gattinnen nicht lumpen: begabt mit jener kräftigen Zunge, die so laute und durchdringende Töne hervorzubringen vermag und die sich bei den Weibern nach dem unerforschlichen Ratschluß der Vorsehung beinahe viermal so schnell bewegt wie bei den Männern, ließen sie ihr bei der Widerlegung der Angriffe und bei der Verteidigung der Vorzüge des Lehrers gewandt und behende freien Lauf.

Lautes Geschrei und Geplapper, unterbrochen von plötzlichen Aufschreien und Gezänk, erfüllte die friedlichen Winkelgassen des Dorfes Mandrykow. Und da seine ehrenhaften Bewohnerinnen die löbliche Gewohnheit hatten, ihrer Zunge auch noch mit den Händen nachzuhelfen, konnte man in den Straßen fortwährend ein Paar kräftig ineinander verkrallter Gevatterinnen antreffen, die so eng aneinanderhingen, wie ein Schmeichler an einem Günstling des Glücks hängt oder wie ein Geizhals seine Tasche festhält, wenn die Straßen öde werden und eine einsame Laterne ihr erlöschendes Licht auf die gelben Mauern der schlafenden Stadt wirft. Am meisten hatten jedoch die Männer zu leiden, die es versuchten, sie zu trennen: Schnitzel und Scherben hagelten ihnen auf den Kopf herab, und häufig verprügelte eine erregte Gevatterin in der Hitze ihres Zornes statt eines fremden ihren eigenen Gatten.

Inzwischen hatte sich unser Pädagoge völlig im Hause Anna Iwanownas eingelebt. Er gehörte zu der Zahl jener Seminaristen, die einen Schreck vor der abgründigen Weisheit bekommen hatten, mit der das ***sche Seminar die nicht allzu wohlhabenden Herren von Kleinrußland gegen etwa hundert Rubel jährlich für ihren Beruf als Hauslehrer ausstattet. — Übrigens war Iwan Ossipowitsch sogar bis zur Theologie vorgedrungen, und er wäre wohl gar weiß Gott wie weit, ja wahrscheinlich sogar noch weiter gekommen, wenn seine lockeren Kameraden nicht gewesen wären, die sich beständig über seinen Schnurrbart und seinen stacheligen Backenbart lustig machten. Als von Jahr zu Jahr ein Teil die Schule verließ und immer jüngere und jüngere an ihre Stelle traten, ließen sie ihm überhaupt keine Ruhe mehr: bald warfen sie ihm klebrige Disteln in seinen Bart und Schnurrbart, bald hängten sie ihm hinten am Rock Schellen an, bald puderten sie ihm das Haar mit Sand oder schütteten ihm Nieswurz in die Tabaksdose, bis Iwan Ossipowitsch es überdrüssig wurde, der stumme Zeuge dieses ewigen Wechsels leichtsinniger Generationen und ihr Kinderspielzeug zu sein, bis er sich genötigt sah, dem Seminar Lebewohl zu sagen und sich in die „Vakanz“ schicken zu lassen, d. h. nach dem Sprachgebrauch der kleinrussischen Seminare: Hauslehrer zu werden.

Diese Veränderung bildete eine wichtige Epoche und einen Wendepunkt in seinem Leben. An die Stelle der ewigen Spöttereien und Streiche seiner mutwilligen Kameraden trat nun endlich etwas wie Achtung, Anhänglichkeit und Sympathie. Mußte man denn auch nicht unwillkürlich Achtung vor ihm empfinden, wenn er an Festtagen in seinem hellblauen Rock dahergeschritten kam — wohlgemerkt im hellblauen Rock — denn das ist von nicht geringer Bedeutung. Ich sehe es als meine Pflicht an, den Leser darüber aufzuklären, daß ein Rock im allgemeinen (gar nicht erst zu reden von einem blauen), wenn er bloß nicht aus grauem Stoff gefertigt ist, in den Dörfern an den gesegneten Ufern der Goltwa einen ganz wundersamen Eindruck macht: wo er sich auch zeigt, da fliegen selbst von den trägsten und unbeweglichsten Köpfen die Mützen herab und begeben sich in die Hände ihrer Besitzer; selbst die würdigen mit schwarzen und grauen Schnurrbärten gezierten, sonnengebräunten Häupter beugen sich tief bis zum Gürtel. Die Zahl aller Röcke im Dorfe betrug — wenn man auch den Mantel des Kirchensängers mitrechnet — drei; aber so wie ein majestätischer Kürbis sich stolz aufbläht und alle übrigen Bewohner eines reichbepflanzten Melonenfeldes in den Schatten stellt, also verdunkelte der Rock unseres Freundes seine sämtlichen Mitbrüder. Was ihm den größten Reiz verlieh, das waren die Knochenknöpfe, die von den in Haufen auf der Straße stehenden Straßenjungen mächtig angestaunt wurden. Nicht ohne Vergnügen hörte unser stutzerhafter Erzieher der Jugend, wie die Mütter ihre Säuglinge auf die Knöpfe aufmerksam machten, und wie die Kleinen ihre Händchen ausstreckten und Zga zga Zga zga (d. h. gut, gut) lallten. Beim Mittagessen war es ein Genuß, zuzusehen, wie würdig und mit welcher Rührung unser ehrenwerter Lehrer mit vorgebundener Serviette die allgemeine Verrichtung irdischer Sättigung besorgte. Da gab es kein überflüssiges Wort, keine unnötige Bewegung; er schien sich völlig in seinen Teller zu verfügen und ganz in ihm aufzugehen. Wenn er ihn so gründlich geleert hatte, daß kein gastronomisches Gerät, als da sind Gabel und Messer, noch etwas vorfand, dessen es sich bemächtigen konnte, schnitt er sich ein Stück Brot ab, spießte es auf die Gabel auf und fuhr mit diesem Gerät noch einmal über den Teller, wonach dieser so blank und rein war, als käme er eben aus der Fabrik. Aber dies alles, kann man wohl sagen, waren nur äußere Vorzüge, die seine Kenntnis der Sitten und Formen der feinen Welt bezeugten, und der Leser würde sehr fehlgehen, wenn er hieraus schließen wollte, daß damit alle seine Gaben und Fähigkeiten erschöpft gewesen wären. Der würdige Pädagoge besaß für einen einfachen Mann geradezu unermeßliche Kenntnisse, von denen er einige für sich behielt, wie z. B. die Zubereitung einer Arznei gegen den Biß von tollen Hunden und die Kunst, bloß aus Eichenrinde und Salpetersäure die schönste rote Farbe herzustellen. Außerdem konnte er eigenhändig die herrlichste Stiefelwichse und Tinte herstellen und für den kleinen Enkel Anna Iwanownas Figuren aus Papier ausschneiden; und an Winterabenden wickelte er Garn auf und spann er sogar.

Ist es da wohl verwunderlich, wenn er sich bei solchen Gaben im Hause bald unentbehrlich machte, und wenn alle Knechte und Mägde völlig in ihn vernarrt waren, trotzdem sein Gesicht sowohl nach seiner Form wie nach seiner Farbe völlig einer Flasche glich, obwohl sein gewaltiger Mund, dessen dreisten Ansprüchen die abstehenden Ohren nur mit Mühe eine Schranke zu setzen vermochten, sich fortwährend verzog und verzerrte, indem er sich zu einem Lächeln zu zwingen suchte, und obwohl seine Augen eine hellgrüne Farbe hatten — zwei Augen, wie sie, soviel mir bekannt ist, in den Annalen der Romane noch nie ein Held besessen hat. Aber vielleicht sehen die Frauen mehr als wir? Wer will sie enträtseln? Wie dem auch sein mag, genug, auch die alte Dame, die Frau des Hauses, war sehr befriedigt von den Kenntnissen des Lehrers in den Geheimnissen der Haushaltung und von seiner Kunst, aus Safran und Herba rhabarbarum Schnaps herzustellen, sowie von seiner Geschicklichkeit im Entwirren von Garn und seiner großen Lebenserfahrung. Der Haushälterin gefiel am meisten sein stutzerhafter Rock und seine Kunst, sich zu kleiden; übrigens hatte auch sie bemerkt, daß der Lehrer eine wundersame gerührte Miene machte, wenn er zu schweigen oder zu essen geruhte. Dem kleinen Enkel machten die papierenen Hähne und Männchen außerordentlich viel Spaß. Selbst der zottige Browko pflegte ihm, sobald er ihn auf die Treppe hinaustreten sah, sofort zärtlich mit dem Schweife wedelnd, entgegenzulaufen und ihn ohne alle Förmlichkeit auf die Lippen zu küssen, wenn der Lehrer, die Würde, die seinem Amte gebührte, vergessend, sich unter dem majestätischen Giebel niederzusetzen beliebte. Nur die beiden älteren Enkelkinder und die Jungen, die zum Hause gehörten, mit denen er das A — Affe, Apfel, BeBesen, Bild, Bär durchnahm, fürchteten sich vor der beredten, höchst ausdrucksvollen Rute des strengen Pädagogen.

Während seines kurzen Aufenthaltes am neuen Orte hatte Iwan Ossipowitsch schon selbst Zeit gefunden, seine Beobachtungen zu machen und sich in seinem Kopfe wie in einem Hohlspiegel ein kleines Abbild der ihn umgebenden Welt zu formen. Die erste Person, an der seine Beobachtungsgabe mit dem gebührenden Respekt haften blieb, war, wie der Leser sich wohl selbst denken wird, die Gutsherrin. In ihrem Gesicht, das der scharfe Pinsel, der das menschliche Geschlecht seit undenklichen Zeiten koloriert und den man, seit Gott weiß wie langer Zeit, mit dem Namen „Falte“ zu bezeichnen pflegt, nicht verschont hatte, in ihrer dunkelkaffeefarbenen Kapotte, in der Haube (deren Form in dem Gewirr der Ereignisse, die das achtzehnte Jahrhundert charakterisieren, verloren gegangen ist), in ihrem braunen Wams und den Schuhen ohne Hackenleder, erkannten seine Augen jene Lebensperiode wieder, die eine matte schwächliche Wiederholung der vergangenen, eine kalte farblose Übersetzung der Werke eines feurigen, von ewigen Leidenschaften glühenden Poeten ist, — jener Periode, wenn den Menschen nichts als die Erinnerung, diese Repräsentantin der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft übrigbleibt, wenn das verhängnisvolle siebente Jahrzehnt einem Kälte durch die einstmals von Feuer durchströmten Adern treibt und das Lebensthermometer unter den Gefrierpunkt sinkt. Übrigens belebten die ewigen Sorgen und die Passion, sich zu beschäftigen und sich zu schaffen zu machen, einigermaßen das schon erloschene Leben in ihren Zügen, und ihre Frische und Gesundheit waren ein sicheres Unterpfand, daß ihr noch weitere dreißig Jahre des Lebens bevorstanden. Die ganze Zeit von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends, das heißt bis zur Stunde, wo man sich Ruhe zu gönnen pflegt, bildete eine ununterbrochene Kette der Tätigkeit. Bis sieben Uhr morgens hatte sie bereits alle Räume besucht und den ganzen Haushalt durchmustert: Küche, Keller und Vorratskammern; sie hatte Zeit gefunden, sich mit dem Verwalter zu zanken und die Hühner und Gänse eigener Zucht, für die sie eine große Vorliebe hatte, zu füttern. Vor dem Mittagessen, das nie später als um zwölf Uhr stattfand, blickte sie in die Backstube hinein und half selbst beim Backen von Brot und einer besonderen Art von Brezeln aus Honig und Eierteig, deren bloßer Geruch den Pädagogen in eine unerklärliche Aufregung versetzte; besaß er doch eine leidenschaftliche Sympathie für alles, was der geistigen und physischen Natur der Menschen zur Nahrung dient. In der Zeit zwischen Mittagessen und Abend gibt’s für eine Hausfrau genug zu tun. — Da gibt’s Wolle zu färben, Leinwand abzumessen, Gurken einzusalzen, Früchte einzumachen, Liköre zu süßen. Wieviel Methoden, Geheimnisse und Hausrezepte kommen während dieser Zeit zur Anwendung! Dem aufmerksamen Auge unseres Pädagogen konnte es nicht entgehen, daß auch Anna Iwanowna die Eitelkeit nicht ganz fremd war, und daher machte er es sich zur Regel, sich, freilich nur soweit ihm dies seine angeborene Schüchternheit erlaubte, in Lobeserhebungen über ihre außergewöhnlichen wirtschaftlichen Künste und Fähigkeiten zu ergehen, und dies wurde ihm, wie er später erfuhr, von großem Nutzen. Die würdige alte Dame verschloß die süßen Liköre und die Gläser mit Eingemachtem nicht eher, als bis Iwan Ossipowitsch davon gekostet und die außerordentliche Güte des einen wie des anderen gerühmt hatte. Alle übrigen Personen standen im Schatten, verglichen mit diesem leuchtenden Gestirn, so wie alle Gebäude im Hofe vor dem herrlichen Bau mit dem prachtvollen Portal in den Staub zu sinken schienen. Nur dem Auge eines scharfsinnigen Beobachters enthüllten sich ihre gegenseitigen Beziehungen und das besondere Kolorit, das jedem eigentümlich war, und dann erblickte er, fast wie in einem Ameisenhaufen, eine ewige Unruhe und Bewegung und er vernahm ein fortwährendes Geräusch, das keinen Augenblick verstummte. Unser Pädagoge verstand es, wie wir bereits gesehen haben, es jedem recht zu machen und sich gleich einem mächtigen Zauberer dauernd die allgemeine Achtung zu erwerben.

Gänzlich unbegreiflich waren allein die Gründe, die ihn veranlaßt hatten, sich dem Küchenmeister anzuschließen. War es die hohe Achtung, die Iwan Ossipowitsch unwillkürlich vor seiner Kunst empfand, oder war es irgendein anderer Umstand — das wagen wir nicht zu entscheiden. Genug, es vergingen keine zwei Tage, da erstanden Mandrykow zwei Dioskuren, der Orest und Pylades der neuen Welt. Aber noch unbegreiflicher war die Macht, die der Küchenmeister über unseren Pädagogen besaß, so daß der von Natur so bescheidene und schüchterne Lehrer, der nichts in den Mund nahm außer einem medizinischen Dekokt von Betonica und Herba rhabarbarum, ihm unwillkürlich in die Schenken und überallhin zu folgen begann, wo der verbummelte Küchenmeister seine Nase hineinsteckte. Iwan Ossipowitsch gefiel die romantische Lage der Gegend, in der er sich aufhielt. Bald hatte er die Küche, die Speicher, die Scheunen, die Ställe und Vorratskammern, die einen unregelmäßigen Kreis um den geräumigen Herrenhof bildeten, besichtigt; mit besonderem Vergnügen verweilte er bei dem Garten, der üppig in die Breite geschossen war und dessen gigantische Bewohner, in ihre dunkelgrünen Mäntel gehüllt und von wundersamen Traumgestalten umschwebt, dastanden und schlummerten oder, sich plötzlich ihren Träumen entreißend, die unbotmäßige Luft wie Windmühlenflügel durchschnitten, und dann ging es wie ein unverständliches Geflüster durch das Blattwerk, und die gemessene majestätische Bewegung ihres ganzen Körpers gemahnte an die alten Mimen, die die großen Schatten der Verstorbenen auf den Gerüsten Melpomenes heraufbeschworen. Aber die Augen unseres Lehrers suchten ihr Objekt und hafteten mehr an den weniger majestätischen Gartenbewohnern, die dafür von unten bis oben mit Birnen und Äpfeln behangen waren, von denen die üppige Ukraine förmlich strotzt. Von hier aus kämpften sie sich bis zur Küche durch, hinter der zogen sich Plantagen von Erbsen, Kohl, Kartoffeln, sowie aller Kräuter hin, die in die Apotheke der Dorfküche gehören. Nicht ohne besonderes Vergnügen betrat er das reine, sauber geweißte und aufgeräumte Zimmer, in dem er nun wohnen sollte, mit dem Fenster, durch das man auf den Teich und die in violette Nebel gehüllte Landschaft hinaussah.

Wir hatten bereits Gelegenheit, etwas über den Eindruck, den unser Lehrer auf die Schönen von Mandrykow gemacht hatte, zu bemerken: die gesenkten Augen, das Geflüster und die tiefen Verbeugungen ließen erkennen, daß seine Eroberung einer jeden von ihnen als keine geringe Angelegenheit erschien. Übrigens ist es hier wohl am Platze, den freundlichen Leser daran zu erinnern, daß Iwan Ossipowitsch einen Rock aus blauem Fabrikstoff mit schwarzen Knochenknöpfen von der Größe eines mächtigen Groschens anhatte; und so war es sehr verzeihlich, wenn er sich das Augenblinzeln der schwarzbrauigen Schelminnen zu seinen Gunsten auslegte. Zum Glück oder Unglück jedoch suchte das Gefühl, das der armen Menschheit so gut bekannt ist und ihr seit undenklichen Zeiten ein wahres Meer von unerträglichen Qualen beschert hat, unseren Pädagogen nicht heim. In diesem Punkte war Iwan Ossipowitsch ein echter Stoiker, und obwohl er noch nicht bis zur Philosophie vorgedrungen war, wußte er doch genau, daß keiner der Philosophen von Seneca und Sokrates bis herab zum Lektor des ***er Gymnasiums die wunderliche Hälfte des Menschengeschlechts für nichts achtete: ergo gab es keine Liebe. An solchen Prinzipien, die bei ihm schließlich die Festigkeit von Grundsätzen angenommen hatten, hielt er sehr fest, ja allzu fest ... Homo proponit, Deus disponit pflegte der Lektor des ***er Gymnasiums häufig zu sagen, indem er die Schläge zählte, die er seinen faulen Schülern mit dem Lineal verabreichte; daher werden wir auch im folgenden Kapitel einen kleinen Umstand kennen lernen, der die Philosophie unseres Lehrers heftig erschütterte und seinen Verstand mit einer ganzen Wolke von Mißverständnissen bestürmte, ihn, der bisher unbeugsam in den Fußstapfen seiner großen Lehrmeister gewandelt war und sich mit regelmäßigem Pulsschlag in seiner flaschenförmigen Sphäre bewegt hatte.

II.
Der Erfolg der Gesandtschaft

(Der Küchenmeister entschließt sich trotz der eigenen Herzenswunde, die er sich ganz plötzlich durch den Anblick der sich am Teiche waschenden Katerina zugezogen hat, das Versprechen, das er dem Lehrer gegeben hat, einzulösen und den Gesandten und Fürsprecher seiner Leidenschaft zu spielen. In dieser Absicht begibt er sich in die Hütte des Kosaken Charjka Potyliza.)

Nachdem Onißko seine Toilette beendigt hatte, überschritt er nicht ganz ohne Furcht und geheime Freude die Schwelle. Der Böse schien ihn necken zu wollen (er gab dies später selbst zu), indem er ihm fortwährend die schlanken Füßchen seiner Nachbarin vorzauberte: „Ach, wenn doch der Lehrer nicht wäre!“ wiederholte er mehrmals bei sich selbst; „was hätte es ihn gekostet, wenn er sich’s hätte einfallen lassen, sich nur ein klein wenig später zu verlieben?“ Und nachdenklich durchmaß er langsamen Schrittes die große Viehweide, durch die ihn sein Weg hindurchführte. Doch jetzt durchbrach ein vielstimmiges Gebell die nachdenkliche Stimmung, die ihn gleich einer Wolke umfing, und seine Gedanken stoben aufgescheucht wie eine Schar wilder Enten nach allen Richtungen auseinander. Er richtete die Augen empor und sah nun, daß er nicht mehr weiter konnte. Vor ihm erhob sich ein Tor, durch das wie durch ein Transparent der ganze unbewegliche Besitz des Kosaken hindurchschimmerte. Ein blauer Schlitzrock und ein feuerfarbenes Band leuchteten ihm entgegen ... Das Herz hüpfte ihm in dem Busen ... die blonde Schöne öffnete das Tor, trieb die lästigen Hunde mit einer langen Rute auseinander und stand nun vor ihm.

Der Hof Charjkas stellte ein großes Quadrat dar, das auf einer Böschung, die sich gegen den Teich hinabsenkte, lag und von allen Seiten mit einem geflochtenen Zaun umgeben war. Wenn das Tor geöffnet war, sah man unmittelbar vor sich eine sauber geweißte Hütte mit mächtigen Fenstern von ungleicher Größe und eine eichene Tür, die schon ganz schwarz vor Alter war; das Häuschen stand auf einem niedrigen Lehmfundament (einer sogenannten Prisba), das nach der in Kleinrußland herrschenden Sitte mit Wäsche, Suppenschüsseln und einem Topf, einem alten Invaliden aus Ton, bedeckt war, dem trotz seiner Wunden und Verletzungen noch kein Abschied bewilligt wird, und den man zum Dank für seine treuen Dienste mit Spülwasser zu füllen pflegt. Zu beiden Seiten der Hütte befanden sich Ställe und Speicher mit struppigen beschädigten Dächern. Hinter der Hütte ragte eine Tenne empor, die ihrerseits von einem Taubenschlag überragt wurde, über den man nur noch die vorüberziehenden Wolken und die in der Luft herumflatternden Tauben erblickte. Weiter unten streckte sich der Gemüsegarten gleich einem kostbaren türkischen Schal bis zum Teiche hinab. Auf dem ganzen Hofe erblickte man überall Strohhaufen, die unordentlich herumlagen.

Katerina schien ein wenig verwundert über Onißkos Besuch. Da sie annahm, daß ihn ohne Zweifel lediglich die Not zu ihrem Vater geführt haben konnte, öffnete sie das Tor nur zur Hälfte und sagte ein wenig verlegen: „Vater ist nicht zu Hause; er wird auch kaum bis zum Abend heimkommen.“

Mag es ihm so leicht aufstoßen, wie es aus seinem Innern aufsteigt! Was wär’ ich für ein Tölpel vor dem Herrn, wenn ich trockenen Brei fressen wollte, wo mir Quarkkuchen mit saurem Rahm vor der Nase stehen?“

Die blonde Schöne blieb überrascht und verblüfft stehen, denn sie wußte nicht, wie sie diese Worte verstehen sollte. Ein Lächeln, das durch sein seltsames Benehmen veranlaßt war, huschte über ihr Gesicht und schien anzudeuten, daß sie auf weitere Aufklärung warte.

Der Küchenmeister fühlte selbst, daß er sich nicht ganz deutlich ausgedrückt und dazu ihres Vaters mit etwas rauhen Worten gedacht hatte; er fuhr daher fort: „Da müßte mich doch schon der Böse selbst zum Alten führen, wenn dieser eine so hübsche Tochter hat.“

„Ah, ist es das!“ sagte Katerina lächelnd und leicht errötend. „Bitte, tretet ein!“ und sie schritt voraus und ging auf die Tür der Hütte zu.

In Kleinrußland haben die Mädchen viel mehr Freiheit als irgendwo anders, und daher darf es nicht seltsam erscheinen, daß unsere Schöne, ohne daß ihr Vater etwas davon wußte, einen Gast bei sich empfing. „Bist du zu Fuß hierher gekommen, Onißko?“ fragte sie ihn, indem sie sich auf der Schwelle an der Tür der Hütte niederließ und eine würdige und ehrbare Haltung anzunehmen suchte, obwohl ihr schelmisches Lächeln, bei dem sie eine lange Reihe schöner Zähne sehen ließ, sie deutlich verriet.

— Wieso zu Fuß? — Teufel auch! sollte sie über das, was gestern vorgefallen ist, unterrichtet sein? dachte der Küchenmeister. — „Gewiß doch zu Fuß, meine Schöne. Wahrhaftig, der Teufel müßte mich reiten, wenn ich absichtlich den Braunen meines Herrn angespannt hätte, bloß um von einem Hof zum anderen zu gelangen!“

„Aber von der Küche bis zur Vorratskammer ist es doch nicht so weit!“

Hier aber konnte sie sich doch nicht mehr halten und lachte laut auf.

— Nein, du Schelmin! Der Böse selbst ist nicht schlauer als dieses Mädel! wiederholte der Küchenmeister mehrmals bei sich selbst und wünschte den Lehrer laut zum Teufel, alle Sympathie und Freundschaft vergessend, die zwischen ihnen bestand.

„Übrigens wäre ich damit einverstanden, daß mir die Karauschen samt den frischgesalzenen Eierschwämmen auf der Pfanne anbrennen, wenn du nur noch einmal so lachen wolltest, schönes Mädchen!“

Bei diesen Worten konnte der Küchenmeister sich nicht mehr beherrschen und umarmte sie.

„Nein, das habe ich nicht gerne!“ rief Katerina errötend, wobei sie eine zornige Miene machte. „Bei Gott, Onißko, wenn du noch einmal so etwas tust, so werfe ich dir ohne viel Umstände diesen Topf an den Kopf.“

Bei diesen Worten hellte sich ihr zorniges Gesichtchen ein wenig auf, und das Lächeln, das hierbei über ihr Antlitz huschte, schien deutlich sagen zu wollen: „aber ich wäre dessen nicht fähig!“

„Nein, nicht doch, nicht doch! Ich habe dich doch nicht mit dem Lastwagen gestreift. Als ob das ein Grund ist, so böse zu werden! Als ob das weiß Gott was für ein Verbrechen wäre, — ein hübsches Mädchen zu umarmen!“

„Sieh, Onißko, ich bin ja gar nicht böse,“ sagte sie, indem sie ein wenig von ihm abrückte und wieder ein fröhliches Gesicht machte; „übrigens schien es mir so, als hättest du den Lehrer erwähnt.“

Da aber machte der Küchenmeister ein recht kümmerliches Gesicht, das mindestens um ein paar Zoll länger wurde als gewöhnlich. „Der Lehrer ... Iwan Ossipowitsch soll das heißen ... Pfui Teufel noch einmal! Ich verschlucke die Worte, noch ehe sie meinem Munde entschlüpfen können, ganz als ob ich Gewürzbranntwein getrunken hätte. Der Lehrer ... Sieh mal, was ich dir sagen will, mein Herz! Iwan Ossipowitsch hat sich so in dich verknallt, daß ... nun ... wie sich’s halt nicht wiedergeben läßt. Er grämt und härmt sich ab wie die selige braune Stute, die der Herr dem Juden abgekauft hat und die einen Herzschlag bekam und krepierte. Was soll man da machen? Der arme Mensch tat mir leid, und da bin ich halt aufs Geratewohl hergekommen, um mich für ihn zu verwenden.“

„Da hast du einen schönen Auftrag übernommen,“ unterbrach ihn Katerina ein wenig ärgerlich. „Bist du etwa sein Brautwerber oder sein Verwandter? Ich würde dir doch raten, alle Landstreicher aus dem Dorfe in die Küche zu laden und selbst betteln zu gehen und vor den Fenstern um Almosen für sie zu bitten.“

„Das ist schon ganz richtig; indes, ich weiß wohl, daß es dich freut, und sogar sehr freut, daß der Lehrer auf den Einfall gekommen ist, dir nachzulaufen.“

„Das sollte mich freuen? Hör’ mal, Onißko: wenn du das sagst, um dich über mich lustig zu machen, so wirst du wenig Nutzen davon haben. Du solltest dich schämen, ein armes Mädchen schlecht zu machen! Wenn du aber wirklich so denkst, so bist du wahrhaftig der dümmste Mensch im ganzen Dorfe. Gottlob, ich bin noch nicht blind, Gott sei Dank, bin ich noch bei Verstande ... Aber das hast du sicherlich nicht umsonst gesagt: ich weiß wohl, etwas anderes hat dich dazu veranlaßt. Du hast wohl geglaubt ... Nein, du bist ein schlechter Mensch.“

Bei diesen Worten wischte sie sich mit dem gestickten Hemdärmel eine Träne aus dem Gesicht, die plötzlich in ihrem Auge aufblitzte und ihr über die glühende Wange rollte, wie eine Sternschnuppe den warmen Abendhimmel hinunterschießt.

— Hol’ der Teufel alle Lehrer der Welt! dachte Onißko bei sich, indem er das glühende Gesicht Katerinas betrachtete, auf dem das Lächeln von vorhin lange Zeit mit dem Ärger kämpfte, um ihn schließlich gänzlich zu verscheuchen.

„Der Donner treffe mich hier auf der Stelle!“ rief er endlich aus, da er seine innere Erregung nicht mehr unterdrücken konnte, und umfaßte ihre rundliche Taille. „Der Donner treffe mich, wenn es mich nicht ebenso freut, daß du Iwan Ossipowitsch nicht liebst, wie den alten Browko, wenn ich ihm sein Spülwasser bringe.“

„Wirklich, auch ein Grund, sich zu freuen! Du wirst wohl noch mehr grinsen, wenn du erfährst, daß fast alle Mädchen im Dorf dasselbe sagen.“

„Nein, sag’ das nicht, Katerina. Die Mädchen haben ihn lieb. Neulich gingen wir beide zusammen durch das Dorf, da steckten sie fortwährend ihre Köpfe über den Zaun, wie Frösche aus dem Sumpfe. Wir guckten nach rechts — da waren sie schon wieder verschwunden, aber zur Linken, da streckte wieder eine andere ihr Köpfchen vor. Doch hol’ sie der Teufel alle mitsamt dem Lehrer! Ich gäbe ein Viertel vom besten Branntwein dritter Güte dafür, wenn ich von dir erfahren könnte, Katerina, ob du mich auch nur für einen Groschen liebhast?“

„Ich weiß nicht, ob ich dich liebe; ich weiß nur, daß ich um alles in der Welt keinen Trunkenbold heiraten möchte. Wer mag mit so einem zusammenleben? Wie traurig ist das Los einer Familie, aus der solch ein Mensch stammt; man mag gar nicht in die Hütte hineinschauen: da gibt’s nichts zu sehen als Armut und Elend, die Kinder hungern und weinen. Nein, nein, nein! Gott behüte! Mich schaudert’s schon beim bloßen Gedanken daran! ...“

Und Katerina warf ihm einen langen, tiefdringenden Blick zu. Gebeugten Hauptes und wie ein Verdammter saß der Küchenmeister in seine Vergangenheit versunken da. Schwere Gedanken, Ausgeburten geheimer Gewissensnöte, gruben tiefe Spuren in sein Gesicht und bewiesen deutlich, daß ihm nicht allzu heiter zumute war. Der durchbohrende Blick Katerinas schien sein ganzes Innere zu versengen und brachte alle ungestümen, wilden Streiche ans Licht, die in einer langen, nie endenden Reihe an ihm vorüberzogen.

„Wahrhaftig, was bin ich für ein Mensch? Wer mag mit mir leben? Ich liege bloß meinem Pan auf dem Halse. Habe ich bisher etwas getan, wofür mir ein guter Mensch gedankt hätte? Ich habe nur immer gebummelt und gebummelt! Und habe ich auch nur einmal so gebummelt, daß Herz und Seele sich dabei wohl fühlten? Man betrinkt sich wie ein Hund und wird wieder nüchtern wie ein Hund, wenn andere einem nicht in noch peinlicherer Weise den Rausch austreiben. Nein, hol’s der Teufel ... es ist ein Hundeleben, das ich führe!“

Die schöne Katerina schien seine philosophischen Betrachtungen, die er bei sich selbst anstellte, zu erraten; sie legte ihm ihr braunes Händchen auf die Schulter und murmelte halblaut: „Nicht wahr, Onißko, du wirst nie mehr trinken.“

„Nie wieder, mein Herzchen, nie wieder! Mag kommen, was da will! Für dich könnte ich alles tun.“

Das Mädchen sah ihn gerührt an, und der Küchenmeister schloß sie begeistert in seine Arme und bedachte sie mit einem wahren Hagelschauer von Küssen, wie ihn der ruhige und gemütliche Gemüsegarten schon lange nicht erlebt hatte.

Kaum aber hatte der Laut der verliebten Küsse die Luft erschüttert, als eine helle, durchdringende Stimme furchtbarer als das Grollen des Donners das Ohr des sich zärtlich liebkosenden Paares traf. Der Küchenmeister sah auf und erblickte zu seinem Entsetzen die auf dem Zaune stehende Ssimonicha.

„Herrlich, vortrefflich! Feine junge Leute das! Bei uns im Dorfe weiß man noch nicht, wie Burschen und Mädel sich küssen, wenn der Vater nicht zu Hause ist! Herrlich! Das ist mir ein nettes Mandrykowsches Lämmchen! Man sage nun noch, das Sprichwort: ‚Stille Wasser sind tief‘ lüge. So also treibt man’s. Solche Streiche macht ihr! ...“

Mit Tränen im Auge mußte sich das schöne Mädchen in die Hütte zurückbegeben, wußte sie doch, daß sie den giftigen Reden der Schenkenbesitzerin nicht anders entgehen konnte.

„Wenn dir doch jemand ein Schloß vor den Mund hängte, alte Hexe!“ sagte der Küchenmeister. „Was geht denn dich das an?“

„Was mich das angeht?“ fuhr die unermüdliche Schankwirtin fort. „Das ist noch schöner! Die Burschen machen sich einen Spaß draus, über den Zaun und in fremde Gärten zu klettern, die Mädchen locken die Burschen zu sich herein — und das sollte mich nichts angehen! Sie liebäugeln und küssen sich — und das sollte mich nichts kümmern! Hast du’s gehört, Karno?“ schrie sie plötzlich auf, indem sie sich schnell umdrehte und an einen vorübergehenden Bauern wandte, der, ohne auf etwas zu achten, mit einer langen Rute fuchtelnd, daherkam, gefolgt von einer ebenso langsam einherschreitenden Kuh. „Hast du’s gehört? Steh doch einen Augenblick still. Was das für eine Geschichte ist! Charjkas Tochter ...“

„Pfui Teufel!“ schrie der Küchenmeister, indem er zur Seite spuckte und völlig die Geduld verlor. „Der Teufel selbst hat sich vermummt und die Gestalt dieses Weibes angenommen. Warte nur, Hexe! Ich werde schon Gelegenheit finden, dir’s heimzuzahlen!“

Und der Küchenmeister setzte seinen Fuß auf den Zaun und war einen Augenblick später im Garten des Herrn.

Es war nicht mehr sehr früh, als er in die Küche zurückkehrte und sich an die Zubereitung des Abendessens machte. Allein die große Zerstreutheit, die er bei jeder Gelegenheit an den Tag legte, konnte Jewdocha nicht entgehen. Mehrfach goß der Küchenmeister Essig in den mit sauerem Rahm versetzten Brei oder er spießte mit wichtiger Miene die Mütze auf den Bratenwender und wollte sie an Stelle eines Huhns braten. Während des Abendessens konnte Anna Iwanowna durchaus nicht verstehen, warum der Brei so unglaublich sauer und die Sauce so versalzen war, daß man sie absolut nicht in den Mund nehmen konnte. Nur mit Rücksicht auf die Mühen, denen er sich an jenem Tage unterzogen hatte, ließ man den Küchenmeister in Ruhe; zu einer anderen Zeit wäre unser Held nicht so leichten Kaufes davongekommen.

„Nein, Herr Lehrer!“ murmelte er, indem er sich auf seine hölzerne Pritsche streckte und sich seinen Kittel unter den Kopf legte, „die Katerina bekommen Sie ebensowenig zu sehen wie Ihre Ohren!“ Und nachdem er seinen Kopf in den Kittel vergraben hatte, wie eine Gans eigener Zucht, versank er in Sinnen, um bald darauf einzuschlummern.

Das Weib

Ausgeburt der Hölle! Olympier Zeus! Oh, du bist unerbittlich in deinem Zorne. Du wolltest der Welt eine Geisel schicken, du nahmst alles Gift, das unmerklich die Adern deiner herrlichen Welt durchdringt, verdichtetest es zu einem einzigen Tropfen, schleudertest ihn mit deiner lichtspendenden Rechten zürnend hinunter und vergiftetest mit ihm deine wundersame Schöpfung: du schufst das Weib! Du beneidetest uns und unser armseliges Glück: du wolltest nicht, daß der Mensch ewige Segenswünsche aus den Gründen seines dankbaren Herzens zu dir emporsteigen ließ: lieber mochten Flüche aus seinem ruchlosen Munde hervorzucken ... Du schufst das Weib.“

So sprach Telekles, ein junger Schüler des Platon, indem er vor seinen Lehrer trat. Seine Augen sprühten Blitze; auf seinen Wangen wütete ein Feuer, und die zitternden Lippen kündeten von wilden Stürmen einer zerrissenen Seele. Seine Hand drängte zornig die purpurnen Wellen seines weichen Gewandes zurück, und die geöffnete Schnalle fiel nachlässig auf die jugendliche Brust des Jünglings herab.

„Wie, mein göttlicher Lehrer? Warst du es nicht, der es in einem göttergleichen himmlischen Gewande vor uns erstehen ließ? War es nicht dein Wohllaut ausströmender Mund, der so wunderbare Worte zum Preis ihrer milden Schönheit zu sagen wußte? Hast du uns nicht gelehrt, so glühend, so wesenlos zu verehren? Nein, mein Lehrer, deine göttliche Weisheit ist noch ein Kind, das nichts ahnt von den unendlichen Abgründen des arglistigen Herzens. Nein, nein, nicht einmal der Schatten einer bitteren Erfahrung hat deine heiteren Gedanken gestreift, du kennst das Weib nicht.“

Glühende Tränen entströmten seinen Augen; er verhüllte sein Haupt mit dem Mantel, verbarg sein Antlitz in den Händen und lehnte sich an die Marmorsäule mit dem herrlichen, reichverzierten korinthischen Kapitäl, das von flimmernden Strahlen besonnt wurde. Ein tiefer schwerer Seufzer entrang sich der Brust des Jünglings, wie wenn alle verborgenen Nerven seines Wesens, alle Gefühle und alles, was das Innere des Menschen ausfüllt, in schmerzlichen Klagelauten aufstöhnte, und diese Klagelaute gingen wie eine Erschütterung durch seinen ganzen Körper, und seine ganze körperliche Natur, soweit sie den Sinnen erfaßbar ist, verwandelte sich, unfähig die ewigen, nie endenden Qualen der Seele auszusprechen, in eine einzige schmerzliche Klage.

Der hohe Lehrer der Weisheit betrachtete ihn stumm, und sein Gesicht spiegelte alle seine erhabenen Gedanken, die er gedacht hatte und die ihre Spuren auf ihm hinterlassen hatten. So will die Erinnerung an ein herrliches Traumbild noch lange nicht weichen und mischt sich mit dem Aufleuchten neuer Gedanken, solange der Mensch noch nicht in die Welt der Wirklichkeit untergetaucht ist. Das Licht floß wie ein mächtiger, wundervoller Wasserfall durch eine kühne Öffnung in der Kuppel auf den Weisen hinab und überschüttete ihn mit seinem strahlenden Glanz, und jeder Zug seines beseelten Angesichts schien von hohen Gedanken und Gefühlen zu künden.

„Kannst du denn auch lieben, Telekles?“ fragte er ihn mit ruhiger Stimme.

„Ob ich lieben kann!“ fiel der Jüngling rasch ein, „frag’ doch den Zeus, ob er durch ein Runzeln seiner Augenbrauen die Erde zu erschüttern vermag. Frag’ Phidias, ob er Gefühle im kalten Marmor entzünden und dem toten Block Leben einhauchen kann. Wenn in meinen Adern kein Blut siedet, sondern eine heiße Flamme wütet, wenn alle meine Gefühle, alle meine Gedanken, wenn ich selbst mich ganz in Töne verwandle, wenn diese Töne in mir glühen und meine Seele nichts wie Liebe tönt, wenn meine Rede ein Sturm und mein Atem — Feuer ist! Nein, nein, ich verstehe es nicht, zu lieben! So sage mir doch, wo dieser Sterbliche, wo dieser wundersame Mensch zu finden ist, der dies Gefühl sein eigen nennt? Hat am Ende gar die weise Pythia dies Wunder unter den Menschen entdeckt?“

„Armer Jüngling! Das also nennen die Menschen Liebe! Das ist das Schicksal, das diesem sanften Geschöpf bereitet wird, in dem die Götter die Schönheit zum Ausdruck bringen, in dem sie der Welt das Gute zum Geschenk machen, durch das sie ihre Anwesenheit hier auf Erden beweisen wollten! Armer Jüngling! Du hättest dieses sanfte Wesen mit deinem glühenden Atem versengt, du hättest dieses reine Leuchten durch einen Sturm von Leidenschaft getrübt und in Aufruhr versetzt! Ich weiß, du willst mit vom Verrat der Alkinoe sprechen. Deine Augen waren selbst Zeugen ... aber waren sie auch Zeugen deiner eigenen wilden Regungen, die deine Seele zu jener Zeit in ihren Tiefen bewegten? Hast du dich auch im voraus geprüft? Glühte vielleicht der ganze wilde Aufruhr deiner Leidenschaften in deinem Auge? Und wann haben je die Leidenschaften die Wahrheit erkannt? Was wollen die Menschen? Sie dürsten nach ewiger Seligkeit, nach einem nie endenden Glück, und ein kurzer, flüchtiger Schmerz genügt schon, damit sie gleich Kindern das ganze, langsam errichtete Gebäude zerstören! Aber mag die Wahrheit selbst mit deinen Augen gesehen haben, mag es doch richtig sein, daß die schöne Alkinoe sich mit arglistigem Verrate befleckt hat. Frage deine Seele: was warst du, und was war sie zu jener Zeit, als du Leben, Glück und ein Meer von Seligkeiten in den Umarmungen Alkinoes fandest? Blättere die flammenden Seiten deines Lebens um, meinst du, du wirst auch nur eine Seite finden, die beredter, die göttlicher ist als jene? Wolltest du alle kostbaren Edelsteine der persischen Könige oder alles Gold Libyens für jene himmlischen Augenblicke eintauschen? Ja, was sind selbst die höchsten Ehren in Athen und die höchste Gewalt im Volke im Vergleich zu ihnen? Und ein Wesen, das wie Prometheus alles Schöne, das es den Göttern raubte, dir zum Geschenk darbrachte, den Himmel mit seinen heiteren Himmelsbewohnern in deine Seele senkte — willst du mit deinem verbrecherischen Fluche treffen, wo doch dein ganzes Leben ein einziges Gefühl der Dankbarkeit sein sollte, wo du Tränen der Rührung vergießen und dem Lebenspender Zeus zarte Hymnen singen solltest, auf daß er ihr ein langes Leben schenken und die Wolken des Kummers von ihrem heiteren Haupte verscheuchen möge.

„Betrachte dich mit prüfendem Auge: was warst du früher und was bist du jetzt, seit du die Ewigkeit in Alkinoes göttlichen Zügen entdeckt hast: wieviel neue Geheimnisse, wieviel neue Offenbarungen fandest und enträtseltest du mit deiner unendlichen Seele und um wieviel näher kamst du dem höchsten Gute! Wir reifen und werden vollkommener; aber wann? Wenn wir das Weib tiefer und gründlicher verstehen lernen. Denk an die üppigen Perser: sie haben ihre Frauen zu Sklavinnen gemacht, und was ist das Ergebnis? Sie haben kein Verständnis für das Gefühl des Schönen — dieses unendliche Meer geistiger Genüsse. Kein Funke schlägt aus ihrem Herzen empor beim Anblick der Göttin des Praxiteles; ihre Seele spricht nicht begeisterungsvoll mit der unsterblichen Seele des Marmors, und kein verständnisvoller Laut tönt ihr aus ihm entgegen. Was ist das Weib? — Die Sprache der Götter. Wir wundern uns über das milde heitere Haupt des Mannes; aber wir glauben nicht das Ebenbild der Götter in ihm zu sehen; das sehen wir im Weibe und bewundern es im Weibe, und in ihm erst bewundern wir die Götter. Sie ist die Poesie! sie ist der Gedanke, wir dagegen sind bloß seine Verkörperung in der Wirklichkeit. Der Eindruck von ihr glüht in unserer Seele, und je stärker und je umfassender und größer die Wirkung ist, die er auf uns ausübt, um so edler und schöner werden wir. Solange das Bild noch im Kopfe des Künstlers weilt, sich unkörperlich in ihm formt und gestaltet, ist es — ein Weib; sobald es sich materialisiert und greifbare Gestalt annimmt, wird es zum — Manne. Warum strebt aber dann der Künstler mit so unersättlicher Begierde danach, seine unsterbliche Idee in grobe Materie zu verwandeln und sie unseren gemeinen Sinneswerkzeugen zu unterwerfen? Weil er von den hohen Gefühlen geleitet wird — von dem Wunsche, die Gottheit der Materie einzuverleiben und den Menschen wenigstens einen Teil von der unendlichen Welt seines Inneren zugänglich zu machen, d. h. das Weib im Manne zu verkörpern. Und wenn das Auge eines Jünglings, dessen Herz glühend und verständnisvoll für die Kunst schlägt, zufällig auf das unsterbliche Bild des Künstlers fällt, — was sucht es, was ergreift es in ihm? Sieht es etwa die Materie in ihm? Nein, sie verschwindet, und er erblickt die grenzenlose, unendliche, unkörperliche Idee des Künstlers vor sich. Wie erklingen da die Saiten seiner Seele, welch lebendige Lieder ertönen in seinem Inneren! Wie deutlich und lebendig spricht, wie auf den Ruf der Heimat, das Vergangene, das unwiederbringlich dahin ist, und die unabwendliche Zukunft in ihm! Wie unkörperlich umarmt seine Seele die göttliche Seele des Künstlers! Wie verschmelzen ihre Geister in einem unaussprechlichen Kusse der Seelen! Was wären die hohen Tugenden des Mannes, wenn sie nicht geschmückt und nicht geformt würden durch die milden sanften Tugenden des Weibes? Sein Mut, seine Festigkeit, seine stolze Verachtung des Lasters würden sich in Barbarei verwandeln. Raube der Welt das Licht — und die bunte Vielfältigkeit der Farben fällt dahin; Himmel und Erde verschwimmen und gehen in der Finsternis unter, die noch dunkler ist als die Gestade des Hades. Was ist die Liebe? — Die Heimat der Seele, die hehre Sehnsucht des Menschen nach der Vergangenheit, in der der reine Ursprung seines Lebens verborgen liegt, wo alles noch den unaussprechlichen, unverwischbaren Stempel kindlicher Unschuld trägt und wo uns alles heimatlich berührt. Und wenn die Seele versinkt im ätherischen Schoße der weiblichen Seele, wenn sie in ihr ihren Vater — den ewigen Gott — und ihre Brüder, d. h. Gefühle und Erscheinungen, die keines irdischen Ausdruckes fähig sind, findet — was geschieht dann mit ihr? Dann tönen in ihr die alten Klänge wider, dann gedenkt sie des früheren paradiesischen Lebens am Busen Gottes, und sie setzt es fort bis in die Unendlichkeit.“

Das begeisterte Auge des Weisen blickte starr und unbeweglich vor sich hin: vor ihnen stand Alkinoe, die während ihres Gespräches unbemerkt eingetreten war. Auf ein Götterbild gestützt, schien sie völlig in stumme Aufmerksamkeit versunken, und ihr herrliches Gesicht belebte häufig ganz plötzlich der Ausdruck einer göttlichen Seele. Die marmorweiße Hand, durch die die blauen, von himmlischer Ambrosia durchfluteten Adern hindurchschienen, schwebte frei in der Luft; der schlanke, von den purpurroten Bändern des Beinharnischs umschlungene Fuß, den sie einen Schritt vorgesetzt hatte, hatte die neidische Hülle abgestreift und schien kaum die niedrige Erde zu berühren; der hohe göttliche Busen wogte, gespannt von unruhigen Seufzern, auf und ab, und das Gewand, das die beiden durchsichtigen Wolken des Busens nur halb verdeckte, bebte und fiel in herrlichen malerischen Linien auf den Fußboden herab. Es schien, als ob der dünne lichte Äther, in dem sich die Himmelsbewohner baden, durchflutet von einer rosigen und bläulichen Flamme, die sich in unendlichen, in tausend Farben spielenden Strahlen zerstreut, für die es auf Erden keine Namen gibt, und in denen ein duftenden Meer eines unbegreiflichen Wohllautes wogt — es schien, als ob dieser Äther sichtbare Form angenommen hätte und, indem er nun vor ihnen schwebte, die herrliche Gestalt des Menschen noch verklärte und vergöttlichte. Die nachlässig zurückgeworfenen Locken umdrängten schwarz wie die dunkle beseelte Nacht ihre lilienreine Stirn und fielen in dunklen Kaskaden auf die leuchtenden Schultern herab. Die Blitze, die ihren Augen entsprühten, schienen ihre ganze Seele zu offenbaren. Nein, selbst die Königin der Liebe war nie so schön, nicht einmal in dem Augenblick, als sie so wunderbar dem Schaum der jungfräulichen Wellen entstieg.

Erstaunt und in ehrfurchtsvoller Andacht warf sich der Jüngling der stolzen Schönen zu Füßen, und eine heiße Träne, die dem Auge der sich über ihn beugenden Halbgöttin entstieg, tropfte auf seine brennenden Wangen.

Fragmente

Gedichte und poetische Versuche

Sturm

Warum so trüb?“ — „Einst war ich heiter,“

Sag’ ich zu meiner Lust Genossen.

„Ich hab’ mein Herz dem Schmerz erschlossen;

Die Freude starb: ich lebe weiter.

Jung war ich, und mein heller Blick

hat Trauer nicht und Mißgeschick

Gekannt; jetzt welkt die Jugend hin,

Stirbt wie der Herbst, und ich verblute

Gleich ihm. Nie wird mir froh zumute.

Die Freude lockt nicht meinen Sinn.“

Die Freunde lachen: „Was du nur

Zu weinen hast! Das Wetter ist

So heiter klar, und die Natur

Nicht halb so trüb, wie du es bist.“

Und ich: „Mir gilt das alles nichts.

Ob Tag zu Tag und Jahr sich türmt,

Ob’s hell, ob’s dunkel ist, was ficht’s

Mich an, wenn mir’s im Herzen stürmt.“ —

Albumblatt

Das Licht verliert im Auge des Träumers schnell seine Wärme. Er findet die Hoffnungen, die ihn belebten, unerfüllt, seine Erwartungen unbefriedigt, und die Glut des Genießens verraucht in seinem Herzen ... Er befindet sich in einem Zustande der Starrheit und Leblosigkeit. Wie glücklich ist er, wenn er den Wert der Erinnerungen vergangener Tage erkennt: der Tage einer glücklichen Kindheit, da er die keimenden Zukunftsträume von sich warf und seine Freunde verließ, die ihm von ganzem Herzen ergeben waren.

Hans Küchelgarten

Eine Idylle
in ** Bildern
von
W. Alow
1827

Deutsch von Ulrich Steindorff

Das vorliegende Werk hätte nie das Licht der Welt erblickt, wenn nicht besondere Umstände, die nur für den Verfasser von Bedeutung sind, die Veranlassung dazu gegeben hätten. Dies Werk ist eine Frucht seiner achtzehnjährigen Jugend. Wir haben nicht die Absicht, hier ein Urteil über die Vorzüge oder Mängel dieser Dichtung abzugeben — das überlassen wir dem Publikum — wir wollen nur bemerken, daß viele von den Bildern dieser Idylle leider verloren gegangen sind; sie haben wahrscheinlich das Band zwischen den nun unverbunden dastehenden Teilen gebildet und die Zeichnung des im Mittelpunkt stehenden Charakters vollendet. Wir rechnen es uns indessen zum Verdienst an, daß wir dem Publikum, soweit dies möglich war, Gelegenheit gaben, das Werk eines jungen Talentes kennen zu lernen.

Erstes Bild

Es tagt. Das Dorf taucht aus dem Dämmerdunst

Mit seinen Häusern, seinen Gärten. Alles liegt

In hellem Licht. Der Glockenturm erglänzt

Wie lauter Gold, und auf dem alten Zaun

Tanzt froh ein Sonnenstrahl. Die Silberflut

Gleicht einem Zauberspiegel, der getreu

Das Konterfei von Zaun und Gärtchen gibt.

Und nichts hält Ruhe in dem Silberspiegel.

Blau wölbt der Himmel sich; die Wolken ziehn

Wie Wellen hin, und flüsternd rauscht der Wald.

Dort, wo das Ufer weit ins Meer sich wagt,

Da steht behaglich unter Lindenschatten

Ein Pfarrhaus, schon jahrzehntelang bewohnt

Von seinem greisen Herrn und arg verfallen.

Das Dach geworfen und der Schornstein schwarz,

Von blüh’ndem Moos bedeckt das Mauerwerk;

Die Fenster windschief. Aber immer ist

Das Häuschen traulich nett. Um keinen Preis

Der Welt wär’ es dem Alten feil. — Dort steht

Die Linde, sein geliebter Ruheplatz.

Auch sie ist alt. Doch Jugendfrische weht

Rings von den Rosenbäumen. Vögel nisten

In ihrem Dunkel und erfüllen Garten

Und Haus mit ihrer Lieder frohem Schall.

— Weil ihn der Schlaf die ganze Nacht gemieden,

Ging schon vorm Morgengraun der Pfarrer, hier

Ein wenig in der Frische noch zu schlummern.

Im alten Lehnstuhl unterm Lindendach

Schläft er. Der sanfte Wind kühlt sein Gesicht

Und spielt voll Keckheit mit den grauen Haaren.

Wer ist die Schöne, die mit Blicken

Ihm naht, in denen alle Glut,

Des Morgens ganze Frische ruht,

Und vor ihn tritt? Welch ein Entzücken,

Wie sie mit lilienweißer Hand

Ihn sanft berührt, um ihn zu wecken,

Bemüht, ihn ja nicht zu erschrecken.

Doch eh’ er aus dem Schlaf sich fand

Zur Welt, sprach er, die Lider kaum

Geöffnet, leise wie im Traum:

„Du wunder-, wunderbarer Gast,

Der du mein Heim besuchet hast,

Warum füllt Kummer mich und schwillt

Durch meine Seele. Was bewegt

Mich Greisen denn dein Engelsbild

So tief, so seltsam tief, und regt

Den Sinn mir auf? Sieh mich und schilt,

Schilt nicht: mein Leib ist schwach und alt

Und allem, was da lebt, längst kalt.

Seit ich mich tot in mir verscharrte,

Ist’s Ruhe nur, auf die ich warte,

Die ich begehre immerfort.

Ihr gilt mein Denken, gilt mein Wort.

Und nun kommst du, du Junge, mir

Zu Gaste, lockst mich heiß zu dir?

Ach nein, aus deinem lichten Munde

Flammt einer neuen Hoffnung Kunde.

Rufst du zum Himmel mich? Zur Stunde

Bin ich bereit. Allein mir fehlt

Die Würde. Meine Sündenlast

Ist groß. Ich war in dieser Welt

Ein arger Streiter und gehaßt

Von Hirt und Herde. Grausamkeit

War mir nicht fremd. Allein ich schwor

Den Teufel ab, und ich verlor

Zur Buße keinen Tag, allzeit

Entsühnend die Vergangenheit.“

Voll schwerer Sorge und verwirrt

Fragt sie sich bang: „Soll ich’s ihm sagen, —

Wer weiß, wohin die Träume ihn verschlagen, —

Sag’ ich ihm, daß er phantasiert?“

Doch Nebel des Vergessens hängt

Um ihn, den neuer Schlaf umfängt.

Sie neigt sich über ihn, verstohlen.

Wie sanft er schläft, wie still er ruht!

Kaum merklich hebt beim Atemholen

Die Brust sich. Licht in Ätherflut

Hält ihn ein Engel in der Hut,

Und paradiesisch Lächeln flicht

Sich leuchtend um sein Angesicht.

Nun öffnet er die Augen: „Wer,

Wer ist’s? — Luise? — Seltsam, ach;

Mir träumte — —, du, wo kommst du her?

Bist, Wildfang, du so früh schon wach?

Noch liegt der Tau. — Es nebelt schwer.“ —

„Großvater, nein, ’s ist hell und klar.

Im Walde blitzt das Sonnenlicht.

Und schon am frühsten Morgen war

Es heiß wie jetzt. Es regt sich nicht

Ein Blatt. — Weißt du, warum ich kam?

Es gibt ein Fest. Wir feiern heut.

Der alte Geiger Lodelham

Und auch der Fritz sind längst bereit.

Erst kommt die Kahnfahrt bis zur Mittagszeit

Und dann — —; ach, wenn nur Hans — —!“ Den Greis

Umspielt ein weises Lächeln. Still

Hört er, was sie erzählen will,

Das sorglos junge Blut. „Ich weiß,

Großväterchen, nur du hast Macht,

Ein bitter großes Weh zu bannen.

Mein Hans ist krank. Bald in der Nacht

Und bald am Tag schleicht er von dannen

Zum dunklen Meer. Nichts ist ihm recht,

Nichts freut ihn mehr. Wenn man ihn fragt,

Dann hört er gar nicht, was man sagt.

Er spricht nur mit sich selbst. So schlecht,

So elend sieht er aus. Wenn ihn sein Schmerz

Noch lange quält, geht er zugrund.

‚Zugrund‘, wie zittert, wenn mein Mund

Das harte Wort gebraucht, mein Herz.

Meinst du, daß er vielleicht mit mir

Nicht mehr zufrieden ist, daß er

Mich nicht mehr liebt? Das träfe schwer

Und hart wie Stahl mein Herz. Sag’s mir,

Du Engelsguter!“ — Und sie schlang

Die Arme fest um ihn. Kaum ging

Ihr Atem, als sie an ihm hing

In ihrer Liebe so verwirrt und bang.

Als sich die Träne ihr ins Auge stahl,

Wie war sie schön in ihrer Qual.

„Gib Ruh’, mein Kind, nicht weinen, nein.

Schämst du dich nicht?“ Der Pfarrer mühte

Sich tröstend um sie. „Gottes Güte

Wird dir Geduld und Kraft verleihn.

Wenn du ihn innig bittest, wirst

Du auch bei ihm Erhörung finden.

Hans lebt ja nur für dich. Du irrst.

Du mußt die Zweifel überwinden.

Du darfst dir nicht mit solchen leeren

Gedanken deine Ruhe stören.“ — —

Und als er noch der weinenden Luise

Zuspricht, die an die welke Brust sich lehnt,

Da bringt die alte Gertrud schon den Kaffee,

Den heißen, bernsteinklaren, den der Greis

So gern im Freien nahm. Er liebte es,

Die Weichselpfeife dann dabei zu rauchen.

So stieg denn bald der Rauch in klaren Ringen.

Luise fütterte gedankenschwer

Den Kater, der mit lautem Schnurren,

Vom süßen Duft gelockt, sie lang umstrichen.

Der Greis erhob sich vom geblümten Sessel

Aus Väterzeit, sprach sein Gebet und drückte

Der Enkelin die Hand. Dann zog er sich

Den sonntäglichen, taftnen Schlafrock an,

Den silberschimmernden, und nahm das Käppchen,

Das Hans ihm kürzlich aus der Stadt gebracht

Und ihm geschenkt. So ging er denn gemächlich,

Sich auf Luisens weiße Schulter stützend, —

Hell schlug der Sang der Lerchen himmelwärts —

Ins Feld hinaus. — Wie herrlich war der Tag!

Es ließ ein Wind das Gold der Felder wogen,

Das, überragt von dichten, früchteprangenden

Laubkronen, in der Sonne flimmerte.

Fern dunkelten die grünen Wälder.

Dem regenbogenfarbnen Sommerdunst

Entströmten Fluten wundersamster Düfte.

Die Bienen waren fleißig unterwegs

Und sogen Honig aus den jungen Blüten.

Die Grillen zirpten froh. Und aus der Weite

Klang laut und lauter kräft’ger Rudersang.

Und lichter ward der Wald. Das Tal erschien.

Das frohe Schrein der Herden scholl herauf.

Tief in der Ferne sah man schon das Dach

Vom Haus Luisens winken, sah das Rot

Der Ziegel schimmern, wenn die Sonnenstrahlen

In keckem Tanzspiel blitzend es umhuschten. — —

Zweites Bild

Noch ungeklärt sind die Gedanken,

Die Hans bewegen, und sein Blick

Sieht wirr die Welt des Lebens wanken

Und sucht sein künftiges Geschick. —

In stillem Frieden war die Zeit

Dem Tändelnden vorbeigeflossen;

Noch hatte keine Bitterkeit

Sich in der Seele Unschuld ihm gegossen.

Kind dieser Erdenwelt war er.

Doch ihrer Leidenschaften Brand

War seinem Herzen unbekannt.

Ganz sorglos war und leicht bisher

In Heiterkeit und Glück und Lust

Das Kind beim Spiel der Kinderschar.

Das Böse war noch seiner Brust

Ganz fremd. Ihm blühte wunderbar

Die Welt. — Schon in der frühsten Zeit

Der Kindheit war sein Kamerad

Luise, deren Heiterkeit

Und Milde seinen Lebenspfad

Erhellt. Wenn sie im grünen Kleid

Zu tanzen anfing oder sang,

Dann schoß durchs blonde Ringelhaar

Manch Blitz, der zündend weitersprang.

Ihr rosa Miedertüchlein glitt

Herab. Man sah bei jedem Schritt

Das feine, zarte Füßchenpaar.

Sie war ein Kind, und kindlich war

Ihr Tun. — Im Walde spielte sie

Mit ihm. Sie fingen sich. Dann lief

Sie fort, versteckte sich und schrie

Ihm plötzlich zu, daß er erschreckte.

Sie schwärzte heimlich, wenn er schlief,

Ihm sein Gesicht, und lachend weckte

Sie ihn dann aus dem süßen Schlafe.

Und er, er küßte sie zur Strafe. —

Und Lenz auf Lenz zog hin ins Land.

Die Spiele wollten nicht mehr taugen.

Die gegenseit’ge Keckheit schwand.

Es schwand das Feuer seiner Augen.

Und sie hält Traurigkeit gebannt

Und Schüchternheit. — Ihr, junger Herzen

Verliebte, erste Worte, wart

Gekommen, und es blieben nicht erspart

Die Tage voller süßer Schmerzen.

Was blieb ihm denn zu wünschen weiter,

Wo er Luise bis zur Nacht,

Gefesselt wie von Zaubermacht,

Nicht ließ, ihr treuester Begleiter,

Ihr Schatten, wo sie ging und stand.

Mit innig tiefer Freude sahen

Die Eltern, wie das Glück sich fand,

Und sahen sich nicht satt. Die nahen,

Leidvollen, zweifelvollen Zeiten

hielt noch ein Engel sanft verhüllt den beiden. —

Doch allzubald befiel ein Schmerz,

Ein tiefer, ihn. Matt ward vor Gram

Sein Blick; er starrte himmelwärts

Und war ganz unstet, ach, und wundersam.

Es schien, als suchte stets sein Geist,

Als hegte er geheimen Groll.

Die Seele sehnte sich zumeist

Gedankenschwer und kummervoll. —

Er sitzt und schaut hinab vom Strand

Hinaus aufs Meer wie festgebannt.

Und wenn im Takt die Wellen rauschen,

Scheint einer Stimme er zu lauschen.

— — — — — — — — — — —

Bald geht er grübelnd durch das Tal,

Die Augen feierlich voll Glanz,

Wenn bei der Wolken Wirbeltanz

Der Donner grollt, ein Feuerstrahl

Durchs Dunkel zuckt und wilder Regen

Heiß prasselt und mit einemmal

In Strömen rauscht auf allen Wegen.

Bald sitzt er in der Mitternacht

Vor alten Sagen auf und wacht

Und hofft, daß sich die Lettern regen

In ihrer Stummheit, wenn die Seiten

Er wendet, die so tiefe Kunde

Ihm bringen von den grauen Zeiten.

Ins Buch versunken manche Stunde,

Sitzt er und wendet kaum das Haupt.

Wer ihn in dieser schweren Not

Gesehn, der hätte fest geglaubt,

Die Zeit, da er gelebt, sei tot.

Gedanken, wunderbare, hatten

Mit ihrem Zauber ihn gebannt.

Er suchte dunkler Eichen Schatten

Auf seinem Weg durchs Sommerland.

Aus diesen tiefen Schatten sprach

Manch Rätsel, das er nicht verstand,

Und träumend streckte er die Hand

Liebkosend aus und griff darnach. —

Luise ist die ganze Zeit

Allein in ihrem tiefen Kummer.

Ihr Herz ist einzig ihm geweiht.

Sie findet nächtens keinen Schlummer

Und bringt die gleiche Zärtlichkeit

Ihm dennoch stets entgegen, hält

Die zarten Arme um ihn, küßt

Ihn sanft, daß er den Schmerz vergißt,

Bis er der Schwermut neu verfällt.

Schön sind die Stunden, wunderbar,

Wenn ferne Träume ihn umschweben

Und der Gesichte lichte Schar

Ihn fortträgt in ein andres Leben.

Doch, wenn der Seele Land zerstört,

Der stille Erdenfleck vergessen,

Der Scholle nicht sein Herz gehört,

Die schlichten Menschen er vermessen

Nicht achtet, werden Traumgestalten

Auch dann noch froh im Herzen walten? — —

Indessen laßt sein unstet Wesen

Belauschen uns. Macht euch bereit,

Die Rätsel seines Geists zu lösen

In ihrer Mannigfaltigkeit. —

Drittes Bild

Du klassisch schöner Werke klassisch schönes Land!

Des Ruhmes und der Freiheit Land, Athen!

An dich, in wundersamer Gluten Wehn,

Ist meine Seele festgebannt.

Vom Tempel hoch bis hin zu des Piräus Mauern

Ergießen sich und wogen feierliche Massen.

Äschines’ Worte blitzen, donnern und durchschauern,

Der Iliß Wassern gleich, und fassen

Gebietrisch alle wie der laute Sturm der Welle.

Gewaltig ragt empor die Marmorherrlichkeit

Der Parthenon, wo Säule sich an Säule reiht;

Empor Minerva, von des Phidias Stahl geweiht.

Und Zeuxis’ wie Parrhasios’ Pinsel strahlen Helle.

Im Portikus steht göttergleich ein Greis

Und redet weise von der andern Welt;

Sagt, wer für Tugend einst Unsterblichkeit erhält,

Wen Schande trifft und wen der Preis.

Horch! Rohes Tosen mischt sich in das Springbrunnrauschen.

Der Tag ist wach, und dem Theater voll Verlangen

Zu strömt das Volk. Wie Persiens Farben prangen!

Sieh, wie die Tuniken sich bauschen!

Noch eh’ die Leidenschaft des Sophokles verklungen,

Schwirrt Kranz auf Kranz, von den Begeisterten geschwungen.

Von Epikurens Honigmund, dem liebgewohnten,

Enteilt sind Amors Diener, Krieger und Archonten,

Daß ihnen sich die hohe Wissenschaft enthülle,

Wie man Genüsse schlürft und trinkt des Lebens Fülle.

Aspasia kommt! Ihr Blick, vom Wimpernschwarz verbrämt,

Trifft einen Jüngling, und sein Atem stockt verschämt.

Wie heiß die Lippen sind! Wie loht der Rede Glut!

Die schwarzen, losen Locken fallen wie die Nacht

Auf ihrer Schultern Marmorpracht,

Auf ihre Brüste wie die Flut. —

Und jetzt? — Tympane tosen und die Becher klirren.

Bacchantinnen in wilder Raserei, geschmückt

Mit Efeu, stürmen durch den heil’gen Hain in wirren,

Gehetzten Haufen. — Wo? Wohin? — Entrückt, entrückt.

Allein! — Verschwunden ist der Chor.

Und Gram befällt mich neu und Wehe.

Stieg’ doch vom Tal ein Faun empor;

Dräng’ aus des Gartens dunkler Nähe

Mir einer Nymphe Sang ans Ohr!

Ihr Griechen, wunderbarlich habt

Die Welt mit Träumen ihr erfüllt,

In Zauber alles eingehüllt!

Heut ist sie ärmlich, grau, verschabt

Und wohl quadriert, mit Nichts begabt. — —


Doch neue Träume kommen und heben

Und ziehen ihn lockend himmelan

Empor aus der Sorgen Ozean,

hinweg von allem kleinlichen Leben. —

Viertes Bild

Im Land, wo des Lebens Wunderquellen

Entspringen und strahlend rings alles erhellen;

Wo schwer die Nächte vom Ambraduft,

Von Lotossüße geschwängert die Luft;

Wo Räucherwerkwolken die Bläue durchfluten

Und Mangostans Früchte golden gluten;

Wo Kandahars Wiesengrund samten sich breitet;

Wo kühn sich ob allem der Himmel weitet

Und Blüten regnet in üppigem Glanz;

Wo Schwärme von Faltern auffunkeln im Tanz:

Dort sieht mein Blick eine Peri: versunken,

Nichts sehend, nichts hörend; traumestrunken.

Gleich Sonnen leuchtet ihr Augenpaar,

Wie Hemasagara funkelt ihr Haar.

Ihr Atem gleicht dem, den die Lilie haucht,

Wenn die Nacht den Garten in Schlummer taucht

Und im Wind ihre Seufzer von dannen schwingen;

Ihre Stimme den nächtlichen Ton von Syringen,

Dem silbernen Tone, wenn Israfil

Die Flügel schlägt in mutwilligem Spiel;

Dem heimlichen Plätschern des Tschindara-Fluß.

Und ihr Lächeln erst! Und erst ihr Kuß!

Was ist? — Sie hebt sich, ein Hauch, und entschwindet

In Himmeln, wo sie Verwandte findet.

Bleib! Blicke dich um! Bleib! — Taub meinem Schrei,

Verrinnt sie im Regenbogen. — Vorbei!

Erinnrung an sie bleibt und hält

Sich fest; und Duft erfüllt die Welt. —


Bunt war sein Träumen überstrahlt;

Vom Drang der Jugend heiß durchflossen.

Die Hoheit, die sein Herz genossen,

Hat herrlich oft sich abgemalt

Auf seinem Angesicht. Allein,

Was ihn in seinen Träumerein,

Was die erregte Seele quälte,

Wonach er schrie, wonach er bangte,

In wilder Leidenschaft verlangte,

Als gält’ es, daß er sich vermählte

Der ganzen Welt mit ganzer Lust,

Verstand er nicht. — Voll Staub und Dust,

Von Dumpfheit voll und Schwere fand

Er diese Welt und wirr. Es flog

Sein Herz und schlug und schlug und zog

Ihn hin nach fernem, fernem Land.

Wer sah ihn so? Sein Atem ächzte.

Die Brust ging keuchend auf und nieder.

Stolz funkelte durch seine Lider.

Ach, wie die Seele darnach lechzte,

Am flücht’gen Traum sich festzusaugen.

Ach, welche Feuer in ihm brannten,

Wie ihn die Tränen übermannten,

Das Leben schürend in den heißen Augen. —

Sechstes Bild

Zwei Meilen nur von Wismar liegt das Dorf,

Wo unserer Geschichte Welt, die Welt,

Wo ihre Menschen leben, Grenzen findet.

Das heitre Lünensdorf, so hieß es einst;

Doch weiß ich nicht, ob es noch heut so ist. —

Weit schimmerte dem Wanderer entgegen

Das kleine, weiße Häuschen Wilhelm Bauchs,

Des Musikers, das er vor langer Zeit,

Als er des Pastors Kind zum Weibe nahm,

Erbaut. Es war ein liebes, heitres Haus;

Grün war’s gestrichen; rote Ziegelplatten

Erklirrten hell im Wind. Kastanienbäume

Umstanden es und drängten in die Fenster.

Durch ihre Stämme sah ein Weidenzaun,

Den Wilhelm selbst aus Ruten sich geflochten.

Jetzt rankte sich der Hopfen an ihm hoch.

Vom Fenster zu dem Zaun lief eine Stange,

Behangen mit der Wäsche, die im Glanz

Der heißen Mittagssonne lustig blinkte.

Durch eine Speicherluke drängte sich

Laut girrend eine Taubenschar; es schrien

Die Puter, und mit seinen Flügeln schlagend

Entbot der Hofhahn seinen Morgengruß

Dem Tag und pickte den behäbig bunten Hennen

Die Körner fort. Zwei fromme Ziegen rupften

Das junge Gras. Schon lange stieg der Rauch

In krausen Wolken aus dem Schornstein auf

Zum Himmel, um den Morgendunst zu mehren.

Dort auf der Seite, wo der Mauerputz

Ein wenig abgebröckelt von den grauen Ziegeln,

Dort, wo die alten Bäume Schatten geben,

Stand schon seit frühstem Morgen säuberlich

Gedeckt ein Eichentisch voll guter Dinge:

Radieschen, gelber Käse, eine Dose

In Entenform mit Butter; Wein und Bier,

Der süße Bischof, Zucker, Waffelkuchen

Und dann ein Korb mit leuchtend reifen Früchten:

Himbeeren voller Duft, glashelle Trauben

Und bernsteinfarbne Birnen, blaue Pflaumen

Und rote Pfirsiche in buntem Durcheinander. —

Es war so festlich, denn Herr Wilhelm wollte

Der lieben Frau Geburtstag in dem Kreise

Der Töchter und des alten Pfarrherrn feiern.

Luise kam, doch ihre Schwester Fanny,

Die Jüngere, war fortgeeilt, um Hans

Zu holen, und war noch nicht zurück.

Vermutlich irrte er verträumt umher.

Luise blickte unverwandt zum dunklen Fenster

Im Nachbarhaus empor; lag es doch nur

Zwei Schritt von ihr. — Sie war nicht selbst gegangen,

Damit er nicht den Gram von ihrer Stirn,

Aus ihren Augen keinen Vorwurf läse.

Da wandte Wilhelm sich, Luisens Vater,

Zu ihr und sprach: „Du mußt den Hans mal schelten,

Daß er so lange nicht mehr bei uns war.

Pass’ auf, du hast ihn dir zu sehr verwöhnt.“

Doch sie war um die Antwort nicht verlegen:

„Mir fehlt der Mut, den braven Hans zu tadeln.

Er ist schon ohnedies so bleich und elend.“

„Was, krank, sagst du?“ fiel Mutter Berta ein.

„Es ist nicht Krankheit, nur Melancholie,

Die ihn jetzt plagt, und die wird sehr bald weichen,

Seid ihr einmal vermählt. Ein junger Sproß,

Den halbverdorrt ein Sommerregen trifft,

Fängt plötzlich an zu blühn. — Ist denn die Frau

Nicht Lichtflut für den Mann?“ — „Ein kluges Wort,“

Warf da der Pfarrer ein. „Wenn Gott es will,

Glaubt mir, wird alles noch vorübergehn!“

Er klopfte wieder seine Pfeife aus.

Dann fing er an, mit Wilhelm sich zu streiten;

Sie sprachen von den Tagesneuigkeiten,

Von schlimmer Ernte, von den Griechen, Türken,

Von Missolunghi, von Kolokotroni,

Dem großen Führer, und vom argen Krieg,

Von Canning sprachen sie, vom Parlament,

Vom Elend und vom Aufruhr in Madrid,

Als Hans erschien und sich Luise plötzlich

Mit einem Aufschrei ihm entgegenstürzte.

Der Jüngling schlang den Arm um ihre Hüfte

Und küßte sie. Der Pfarrer sprach zu ihm:

„Nun schäm’ dich, Hans, daß du so ganz vergessen

Den alten Freund. Doch wenn du schon Luise

Vergißt, wie solltest du der Alten noch

Gedenken!“ — „Väterchen, laß sein, laß sein —

Was schiltst du Hans denn immer!“ sprach die Mutter.

„Laßt uns zu Tisch gehn, sonst wird alles kalt:

Der Brei, der Reis, die duft’gen Zuckererbsen,

Der Glühwein und nicht minder der Kapaun,

Den mit Rosinen ich und Butter briet.“ —

So setzten sie sich friedlich an den Tisch

Und waren alle bald vom Wein belebt,

Die Seelen voller Glück und Heiterkeit. —

Der alte Geiger spielte, Fritz blies Flöte.

Es gab ein Stück — der Feiernden zu Ehren.

Bald drehten allesamt im Walzer sich.

Selbst Wilhelm wurde lustig, und gerötet

Schwang er sich mit der Gattin wie ein Pfau

Im Kreise. Wie im Wirbelwinde flog

Hans mit Luise toll dahin. Die Welt

Flog mit im gleichen, wundervollen Takt.

Luise wagte kaum zu atmen, kaum

Sich umzuschaun, vom Tanz so ganz gefangen.

Der Pfarrer sagte: „Ach, ich sehe mich nicht satt

An ihnen, glaubt’s mir. Welch ein herrlich Paar.

Luise, dieses heitre, liebe Kind,

Und Hans so stattlich, klug und doch bescheiden.

Sie sind doch füreinander wie geschaffen.

Ja, glücklich wird ihr ganzes Leben sein.

Ich danke Dir, mein güt’ger Gott, daß Du

Im hohen Alter mir die Gnade schenktest

Und mir die morsche Lebenskraft erhieltst,

Damit ich solche Enkel schauen durfte.

Nun kann ich sagen, wenn ich Abschied nehme:

Auf Erden hab’ ich Herrliches gesehn.“

Siebentes Bild

Des Abends Kühle senkt sich still hernieder.

Die letzten, leisen Sonnenstrahlen küssen

Das finstre Meer. Von tausend Flimmerfunken

Durchsät, erglüht der Wald, und fern, fern her

Erschimmern durch den Meeresdunst die Felsen

In bunter Farbenpracht. Rings tiefe Stille.

Und nur der Hirtenflöten melanchol’scher Ruf

Tönt dann und wann von fernen, heitren Ufern;

Und dann und wann ein leises Plätschern, wenn

Ein Fisch im spiegelblanken Wasser ruckt,

Wenn eine Schwalbe mit den Flügeln, ehe

Sie auf zum Himmel steigt, es flüchtig streift.

— Fern zeigt ein Kahn sich wie ein heller Punkt.

Wen trägt er wohl? Wer fährt wohl auf dem Meer?

Der Pfarrer ist’s, der Greis im Silberhaare,

Und mit ihm Wilhelm mit der teuren Gattin.

Die übermüt’ge Fanny läßt die Hand,

Die von der Angelschnur herabgezogen,

Im Wasser spielen. Hinten in dem Schiff

Sitzt Hans mit seiner Braut. — Sie sahen alle

In stummer Freude einer Welle zu,

Die breit dem Schiff gefolgt und unterm Schlag

Der Ruder feurig schäumend perlte.

Wie sich nun rasch die ros’ge Ferne klärte

Und voller Duft ein Hauch von Süden kam,

Da sprach der Pfarrer tief gerührt: „Wie schön

Ist dieser Abend Gottes doch! So still

Und herrlich wie das Leben des Gerechten.

Denn es vollendet ebenso voll Frieden

Den Weg, und auf den heil’gen Erdenrest

Ergießen sich die gleichen schönen Tränen.

Ja, auch für mich wird’s Zeit. Auch meine Tage

Sind bald gezählt. Ich kann nicht lang mehr bleiben.

Doch werd’ ich auch so herrlich schlafen gehen?“ —

Da weinten alle. Hans, der grad ein Lied

Auf der Oboe spielte, ließ das Instrument

Nachdenklich sinken. Es umspann ein Schlummer

Sein Haupt, und weithin schweiften seine Sinne.

Und Träume stürmten seltsam auf ihn ein.

Luise wandte sich ihm zu: „Sag’ mir, sag’, Hans,

Wenn du mich liebst, wenn ich in deiner Seele

Noch Mitleid, Mitgefühl wachrufen kann,

Was quälst du mich? Sag’ mir einmal, warum

Sitzt du bei Nacht einsam bei deinen Büchern?

Ich weiß es. Unsre beiden Fenster liegen

Doch nicht umsonst einander gegenüber.

Warum weichst du uns allen aus und trauerst?

Dein trüber Blick, ach, nimmt mir alle Ruh’,

Und deine Trauer macht mich selber trübe! —“

Das rührte Hans. Er wurde ganz verlegen.

Er drückte sie im Schmerz an seine Brust,

Und eine Träne stahl sich ihm ins Auge.

„Luise, frage nicht. Du mehrst doch nur

Durch deine Unruh’ meinen tiefen Kummer.

Denn in Gedanken ich versunken scheine,

Glaub’ mir, dann denk’ ich immer nur an dich

Und sinne, wie sich all die schweren Zweifel

Von deiner Seele nehmen, wie dein Herz

Mit Freude sich und Frieden füllen ließe,

Daß deiner Jugend reinen Schlaf nichts störe,

Daß Böses dir nicht nahe, nicht der Schatten

Von einem Kummer dich berühre, daß

Dein Glück in alle Ewigkeiten währe!“

Da lehnte sie an seine Brust sich an

Und konnte in der Fülle des Gefühls,

Des Dankes ihm kein einzig Wort erwidern. —

Still zog das Boot am Ufer hin. — Man landet

Und steigt schnell aus. „Hört,“ sprach der Vater Wilhelm,

„Hört, Kinder, nehmt euch recht in acht und seht,

Daß ihr euch nicht erkältet. Es ist feucht.

Der Nebel steigt.“ — Hans ging mit ihr und dachte:

Was wird, wenn sie erfährt, was sie doch nicht

Erfahren soll? Er sah ihr in die Augen.

In seinem Herzen ward ein Vorwurf laut.

Ihm war, als wenn er schlecht gehandelt hätte,

Als hätte er den ewigen Gott belogen. — —

Achtes Bild

Vom Turme schlägt es Mitternacht.

Hans sitzt wie immer auf und wacht.

Dem Einsamen gewohnte Zeit.

Das Flackerlicht der Lampe leiht

Nur spärlich Helligkeit. Es fällt

Wie Saat des Zweifels in die Welt

Des Schlafs. — Kein Blick träf’ in der Runde

Nur eines Menschen Spur. Fern, ferne

Rauscht wie Gespräch aus Menschenmunde

Die Welle in dem Glanz der Sterne.

Die Stille läßt den Atem hören

Der Nacht. — Jetzt wird ihn nicht mehr stören

Der laute Tag in seinem Denken,

Wo über seine Stirn sich senken

Friede und Ruh’. — Und sie? Sie setzt

Sich auf im Bett; im Fenster jetzt:

„Er kann’s nicht sehen, merkt’s ja nicht;

Ich seh’ mich satt an seinem Bild.

Er wacht, daß er mein Glück erfüllt.

Gott sei ihm gnädig, sei ihm mild.“ —


Die Welle rauscht im Mondeslicht.

Ein Traum sinkt nieder und umfängt

Ihr Haupt und beugt es leis, ganz leis.

Um Hans spielt der Gedankenkreis

Noch immer, dem er sich versenkt.

1.

Entschieden alles! Ist’s Gebot,

Tiefinnerst jetzt zugrund zu gehn?

Gibt’s andres Ziel nicht als den Tod?

Vermag ich Beßres nicht zu sehn?

Soll ich mich hin zum Opfer geben,

Tot für die Welt und ruhmlos leben?

2.

Soll denn ein Herz, das Ruhm geliebt,

Nur Nichtigkeiten lieben dürfen;

Kalt jedem Glück sein, das sich gibt,

Und niemals Seligkeiten schlürfen?

Der Erde Schönheit nie mehr finden,

Nie Wahres mehr in ihr ergründen?

3.

Was ruft, was lockt ihr mich so bang,

Ihr, dieser Erde schönste Lande.

Bei Tag und Nacht wie Vogelsang

Hör’ ich in meiner Träume Bande,

Bei Tag und Nacht die süßen Töne,

Und bin berückt von eurer Schöne.

4.

Euch, euch gehör’ ich. Bald, ach bald

Such’ ich die seligen Gefilde,

Ein Pilgrim, der zum Heil’gen wallt.

— — — — — — — — — — —

Hin fliegt umschäumt des Schiffes Bug.

Hoch strebt der Sehnsucht froher Flug.

5.

Ja, fallen wird der trübe Flor,

In den euch stets der Traum gehüllt.

Aufschließen wird die Welt das Tor

Zur Wunderherrlichkeit, gewillt,

Den Jüngling freundlich zu begrüßen

Mit unversieglichen Genüssen.

6.

Der Schönheit Meister! Meine Augen

Bereiten sich, was ihr geschaffen

Mit Stift und Meißel, einzusaugen.

Mein Herz will eure Glut erraffen.

Rausch’ hin, mein Meer, von Riff zu Riff!

Bring mich an Land, einsames Schiff!

7.

Du aber, enger Winkelfrieden,

Mein Wald, mein Feld, ihr müßt verzeihn.

Himmlischer Regen reich beschieden

Sei euch und Blüte und Gedeihn.

Das Herz, scheint’s, härmt sich, euch zu lassen,

Und dürstet, euch noch einmal zu umfassen.

8.

Auch du, mein engelstilles Herz,

Vergib und geiz’ mit deinen Tränen.

Gib dich nicht hin dem ersten Schmerz.

Verzeih dem armen Hans sein Sehnen.

Klag’ nicht. Der Weg ist bald gemessen,

Und ich zurück. Wie könnt’ ich dein vergessen! —

Neuntes Bild

Wer kommt noch zu so später Stunde

Behutsam durch die Nacht gewallt,

Den Wanderstab am Gürtelbunde,

Den Rucksack rüstig umgeschnallt?

Vor ihm ein Haus zur rechten Hand;

Zur linken führt ein Weg ins Weite.

Er will den weiten Weg ins Land,

Erfleht von Gott Kraft zum Geleite.

Allein er wendet, übermannt

Von stillem Weh, verzehrt von Gram,

Den Schritt zum Haus, woher er kam.


Vor einem offnen Fenster sitzt,

Den Kopf in seine Hand gestützt,

Und ruht ein wunderschönes Kind.

Mit seinem Flügel streicht sie mild

Und gibt ihr Träume ein — der Wind,

Von denen sie nun ganz erfüllt,

Ein Lächeln zeigt. Und ihm entquillt,

Wie er sich peinvoll naht der Schönen

Und bebend ihr ins Antlitz schaut

Und kummerschwer, sein Weh in Tränen.

Sein Auge schimmert glanzbetaut.

Er beugt sich nieder glühend heiß

Und küßt sie seufzend, leis, ganz leis.


Den weiten Weg eilt er dahin.

Sein Innerstes durchbebt ein Schauer.

Unrast umdüstert seinen Sinn,

Und seine Seele tiefe Trauer.

Noch einmal wendet er den Blick

Zum Abschiedsgruß. — Ein weißes Band,

Zieht schon der Nebel übers Land.

Sein stöhnend Herz weist ihn zurück.

Ein rauher Wind mit scharfem Tone

Stößt Eichenkron’ an Eichenkrone.

Und grau verschwimmt im fernen Raum

Das Haus. Ganz unklar wie im Traum

Hat Pförtner Gottlieb nur vernommen,

Daß wer durchs Gartentor gekommen

Und daß einmal, als wenn er schälte,

Der treue Hund im Hofe bellte.

Zehntes Bild

Spät wird der helle Führer wach, —

Der Morgen ist nicht freundlich. Schwer

Wogt übers Feld ein Nebelmeer,

Und Regen rauscht und schlägt aufs Dach.

Des jungen Morgens Kühle fächelt

Die Schöne aus der Ruh’. Benommen

Vom Schlaf am Fenster und beklommen,

Streicht sie ihr Haar zurecht und lächelt.

Doch Ärger schleicht sich ein und feuchtet

Das Auge, daß es funkelnd leuchtet:

„Wann kommst du, Hans? Wie lang soll’s dauern?

Du schwurst: beim ersten Tageslicht!

Der Tag ist da. Ein Tag zum Trauern,

Ein trüber Tag. Die Nebel schauern,

Der Sturmwind heult. Was kommst du nicht?“

Geängstigt halb und halb verdrossen,

Blickt sie zum Fenster ihres Hans.

Geschlossen ist’s und bleibt geschlossen.

Er schläft gewiß, und Traumesglanz

Umgaukelt ihm sein Liebstes noch.

Lang hat’s getagt. Vom Regen sind

Durchfurcht die Täler, und vom Wind

Gewiegt der Wald. Ach, käm’ er doch!


Der Mittag naht. Unmerklich steigt

Der Nebel auf. Ganz matt, gezogen

Tönt Donner noch. Der Eichwald schweigt.

Auf flammt in siebenfarb’gem Bogen

Am Himmel paradiesisch Licht.

Mit Funken ist die Eiche übersprüht.

Froh klingt vom Dorfe Lied auf Lied.

Wo bist du, Hans, was kommst du nicht?


Warum? — Die arge Brust umflicht

Schwermut. Das Ohr wird müd der Qual,

Zu horchen auf die Stundenzahl.

Die Türe geht. — Er ist’s! — Nein, nicht:

Herein tritt Berta; wohlig fällt

Der rosa Morgenrock, der weiche,

Und farbenfroh die kantenreiche,

Gestickte Schürze. „Engelgleiche,

Was hat die Nachtruh’ dir vergällt?

Bist bleich und matt. Was ist geschehn?

Störte der Regen, der so schwer

Herabgerauscht, das wilde Meer,

Der Hahn, der wüste Lärmer, den

Kein Schlaf nachts ankommt, dich so sehr?

Hat dich der Böse überkommen,

Dir deinen reinen Schlaf genommen,

Ins Herz gesenkt trübselig Trauern?

Tust mich von ganzer Seele dauern.“


„Nein, nicht des Regens Rauschen, ach,

Das wilde Meer nicht, nicht der Hahn,

Der wüste Lärmer, hat’s getan.

Ach, was du nennst, hielt mich nicht wach.

Nicht solcher Traum hat mich benommen,

Bin solcher Trübsal nicht beklommen.

Der Traum, der mir zu Sinnen kam,

War anders, schwer und wundersam.“ —


„Mir träumte: Finstre Öde sei

Um meinen Weg. Rings Nebel nur

Vom Moor, und in der Wüstenei

Von trocknem Boden keine Spur.

Ein ekler Dunst! Die Erde weicht.

Bei jedem Schritt ein neuer Schlund,

Bei jedem Schritt ein neuer Grund

Zur Herzensangst. Und mich beschleicht

Unsäglich Wehe. Da erscheint

Urplötzlich Hans vor mir. Blut rinnt

Aus einer Wunde. Er beginnt

Zu schluchzen über mir und weint.

Doch statt der hellen Tränen floß

Ein trüber Strom. Ich wachte auf.

Und über Brust und Antlitz goß

Vom Blondhaar triefend wie der Lauf

Von tausend Bächen dummer Regen.

Mein Herze schlug in trüben Schlägen,

Und Traurigkeit befiel den Sinn.

Die Locken blieben feucht. In Sorgen

Sitz’ ich verhärmt seit frühem Morgen.

Wann kommt er heim? Wo ist er hin?“


Die Mutter steht gedankenvoll

Kopfschüttelnd vor ihr, ehe sie

Ihr Antwort gibt: „Ach, wüßt’ ich, wie

Ich deiner Not Herr werden soll,

Mein Töchterchen. Komm, laß uns sehn, —

Gott geb’ uns Kraft! — was ihm geschehn.“


Sie treten in sein Zimmer. Leer,

Ganz leer! Im Winkel liegt umher

Ein alter Platoband, gar arg

Verstaubt, Tieck, Aristophanes, Petrark

Und Schillers Werke, die vermeßnen,

Bei Winkelmanns, den halb vergeßnen.

Und Fetzen von Papier. Es blühn

Die Blumen auf der Etagere.

Die Feder blinkt, mit der er kühn

Entlastet sich der Träume Schwere.

Sein Tisch, so tot! Doch nein, was hebt

Sich jetzt? Ein Zettel flirrt. Was ist?

Luise nimmt ihn auf und bebt.

Von wem? An wen? Und als sie liest,

Fängt ihre Zunge wie noch nie

Zu lallen an. Sie stürzt aufs Knie.

Gram, sengend Wehe warf sie nieder.

Und Grabeskälte rann durch ihre Glieder.

Elftes Bild

Schau’ her, Grausamer! Sieh, Tyrann,

Wie sie verhärmt im Staube kauert;

Die einsam Welkende, sieh’ an,

Wie sie in trüber Öde trauert,

Vergessen, ach! Schau’ hin einmal

Auf dein Geschöpf, in dessen Brust

Du Lebensglück und Lebenslust

Mit Gram vertauscht und Höllenqual.

Durchwühlte Grüfte, siehst du sie?

Und wie sie dich geliebt, ja, wie!

Mit welch lebend’ger Innigkeit

Klang ihrer Rede Melodie,

Die schlichte. Wo, wo ist die Zeit,

Da du gelauscht? Wie war von Schuld,

Von Trübsal rein des Blickes Brand,

Der dich versengt. Wie oft entschwand

Zu langsam ihrer Ungeduld

Der böse Tag, zeigte sich nicht,

Der Träumerischen, dein Gesicht.

Und du konntst sie verlassen, du?

Hast dich von allem abgewandt

Und wanderst fremd in fremdem Land?

Wem tust du das? Für wen, wozu?

Doch schau’, Grausamer! Sieh, Tyrann!

Am Fenster harrt sie noch, verzehrt

Von Sehnsucht, daß er wiederkehrt

Zu ihr, er, der geliebte Mann. — —

Schon sinkt der Tag. Des Abends Helle

Liegt wundersam auf allen Dingen.

Ein kühler Wind regt seine Schwingen.

Kaum hörbar plätschert fern die Welle.

Die Nacht entbreitet ihre Schatten.

Leis tönt die Syrinx. Es ermatten

Im West die letzten Glutenschimmer.

Sie sitzt reglos und harrt noch immer. —

Nächtliche Gesichte

Allmählich dunkelt und vergeht

Des Abends Rot. Schon liegt die Welt

In süßem Schlaf, und überm Feld

Steigt auf des Mondes Majestät.

Das Meer erschimmert wie Kristall.

Durchsichtig scheint das ganze All.


Schatten wachsen auf und ziehen.

Wundersam gestaltet fliehen

Herrlich sie, weit, immer weiter,

Himmelwärts die Sternenleiter.


Heller wird’s: zwei Lichter blitzen.

Da: zwei Ritter, zottig, fahl.

Zweier schart’ger Schwerter Spitzen,

Zweier Panzer Schmiedestahl!

Halt! Sie suchen, treten an;

Tauschen Platz um Platz jetzt. Hei!

Kämpfen, glitzern Mann an Mann.

Suchen wieder ... Da, vorbei!

Dunkel schwillt und deckt sie schwer.

Nur der Mond steht überm Meer. —


Ein Lied der Kön’gin Nachtigall durchschallt

Den Forst; ein schmetternd Lied, das sacht verrauscht.

Die Erde atmet kaum, sie lauscht

Verträumt der Sängerin. Der Wald

Steht reglos. Alles schläft im Kreise.

Es tönt nur die verklärte Weise.


Luftgebaut ragt der Palast

Einer Märchenfee empor.

Vor dem Fenster dicht am Tor

Singt verklärt ein Minnegast.

Sieh, ein Silberteppich glänzt,

Ganz durchwebt mit Wolkenringen.

Drüber schwebt ein Geist, der grenzt

Nord und Süd mit seinen Schwingen.

Schlafen sieht der Gast, gebannt

Durch ein Gitter aus Koralle,

Seine Fee. Die Perlmuttwand

Bringt der Trän’ Kristall zu Falle. —

Dunkel eint und deckt sie schwer.

Nur der Mond steht überm Meer. — —


Kaum schimmert durch den Dunst das Land.

Geheime Wünsche ohne Zahl

Weckt uns die See. — Ein Riesenwal,

Taucht aus dem Nebel. Übermannt

Hat Schlaf den Fischer längst. Er ruht;

Und unablässig rauscht die Flut. —


Strandwärts schwimmen Meerjungfrauen

Herrlich schön. Den leuchtend hellen,

Weißen Schaum der glühend blauen

Wogen teilen sie. Die Wellen

Spielen kosend wie im Traum

Um die Schöne mit der weißen

Lilienbrust. Sie atmet kaum.

Um die zarten Glieder gleißen

Tropfen wie ein Funkensaum.

Ach, sie lächelt, kichert leise

Und schwimmt sinnend hin im Licht.

Bald voll Lust, bald wieder nicht.

Träumerisch singt sie die Weise,

Den Sirenensang der Klagen

Des Verrats, den sie ertragen,

Sie, die Junge. — Reglos ruht

Mondbeglänzt die blaue Flut. —


Ein Friedhof fern in fremder Flur,

Von einem alten Zaun umhegt.

Rings Steine, Kreuze. Moosbelegt

Der stummen Toten Häuser. Nur

Der Flug der Eulen und das schrille

Schrein zerreißt die Grabesstille. —


Langsam steigt aus seinem Bette

Jetzt ein Leichnam. Weiß umwallt

Ihn sein Mantel. Vom Skelette

Klopft den Staub er würdig. Kalt

Weht vom Schädel Grabhauch. Feuer,

Gelbes Feuer glüht aus seinen

Augen. Mit den Knochenbeinen

Hält ein Roß, ein ungeheuer

Glänzend Roß er, einen Schimmel.

Und es wächst, wächst bis zum Himmel.

Leiche steht nach Leiche auf.

Zug des Grauns! Von seinem Lauf

Beben Erde, ach, und Lüfte. —

Endlich schließen sich die Grüfte. —


Ein Schrecken packt sie an. Sie schlägt

Das Fenster hastig zu. Ihr Blut

Von Eiseskälte, bald von Glut

Durchschauert, bebt gleichwie die Flut

Im Sturm. Ein schweres Wehe legt

Sich auf ihr Herz. Ihr Denken ruht. —

Wenn mitleidlos des Schicksals Faust

Ein kalter Kieselstein entsaust

Und trifft ein armes Herz, wer hält

Die Treue, sagt, in aller Welt

Noch dem Verstand? Wes Seele ficht

Kein Übel an? Und wer verfällt,

Sich ewig gleich, im Unglück nicht

Dem Aberglauben? Wer erblaßt

Nicht, wenn solch Spukbild ihn erfaßt

Im Traum? — Aufs Lager bang

Warf sie sich hin voll Schmerz und Kummer.

Vergeblich suchte sie den Schlummer.

Wenn ein Geräusch durchs Dunkel drang,

Ein Mäuslein strich, floh ihre Lider

Der Schlaf, der launenhafte, wieder. —

Dreizehntes Bild

Ein traurig Bild: Ruinen von Athen!

Die Säulenreih’n, die bildwerkreichen,

Sind morsch. In öden Tälern stehn

Sie traurig, müder Zeiten Zeichen.

Zertrümmert halb und halb verwittert

Das hehre Denkmal, und zersplittert

Selbst der Granit. — Ein karger Rest. —

Ein morscher Architrav nur prangt

Voll Majestät, und Efeu rankt

Und hält am Kapitäl sich fest.

In Gräben, die man längst verließ,

Herabgestürzt ein Giebelkranz;

Dort schimmert noch ein prächt’ger Fries

Und der Reliefmetopen Glanz.

Hier trauert eine reichgeschmückte

Korinthsche Säule noch. Und leise

Eidechsen schlüpfen scharenweise

Darüber hin. Voll Würde blickt

Er auf das Elend rings. Gerückt

In toter Zeiten dunkle Nacht,

Verdrängt, hat er für nichts mehr acht.

Athens Ruinen, ach! Trüb gleiten

Die Bilder von Vergangenheiten

Vorbei. An kaltem Marmor lehnt

Der Wanderer. Wie er sich auch sehnt,

Er weckt Erstorbnes nicht. Vergebens!

Das Bündel des vergangnen Lebens

Knüpft er nicht auf. Ohnmächt’ge Qual,

Verlorne Müh’! — Allüberall

Liest nur Zerstörung, Schmach und Schande

Der trübe Blick. Im Sonnenbrande

Blinkt durch die Säulen dann und wann

Ein Turban wohl. Quer durch die Blöcke,

Durch Pfeiler, Gräber, Mauerstöcke

Treibt barsch sein Roß ein Muselmann. — —

Hufschlag stampft letzte Trümmer nieder. — —

Unsagbar tiefe Traurigkeit

Packt da den Fremden plötzlich wieder.

Wie stöhnt sein Herz so laut. Er kann

Den Schmerz nicht meistern. Bitter leid,

Daß er den weiten Weg gemessen,

Ist’s ihm. Hat er sein Dach, den stillen,

Friedlichen Platz daheim vergessen,

Verlassen um der Gräber willen?

Ach, wären doch die Traumgespinste,

Die schönen, seinem Sinn geblieben.

Der reinen Schönheit Spiegelkünste,

Ach, hätten sie ihn nicht getrieben!

Nun sind die Träume tot und kalt

Und abgestreift ihr Zauberflor. —

Mit unbarmherziger Gewalt

Habt ihr ihm schonungslos das Tor

Zur Glut der Traumeswelt verschlossen,

Ihr, öder Wirklichkeiten Sprossen!

Langsam verläßt und kummerschwer

Der Fremde nun den Trümmerort.

Er schwört, des blinden Einst nicht mehr

Zu denken, aber immerfort

Fliehn seine Opfer vor ihm her. — — —

Sechzehntes Bild

Zwei Jahre sind dahin. In Lünensdorf

Blüht alles noch und prankt wie ehedem.

Die gleichen Sorgen, gleichen Freuden stören

Den stillen Herzensfrieden der Bewohner.

Allein im Haus der Wilhelms hat sich viel

Verändert. Lange ist der Pfarrer tot.

Er hat den dornenvollen Weg beendet

Und schläft den letzten tiefen, tiefen Schlaf.

Wohl alle waren seinem Sarg gefolgt,

Und alle hatten Tränen in den Augen,

Gedenkend seines Lebens, seines Tuns.

Er war es, der für unser Seelenheil,

Für unser geistig Brot von je gesorgt.

Er war es, der so schön das Gute lehrte;

Er war der Trauervollen steter Trost,

Der feste Schild der Witwen und der Waisen.

Wie voller Güte stieg er doch an Feiertagen

Auf seine Kanzel, und wie rührend sprach

Er von dem reinen Martertum, vom Leiden

Des Herrn. Und wir, wie lauschten wir erschüttert

Und unter Tränen seinen tiefen Worten. —

Wer seines Wegs von Wismar kommt, der geht

Links von der Straße dicht an einem Friedhof

Vorbei. Die alten Kreuze stehn gebückt

In ihrem Kleid von Moos. Der harte Griffel

Der Zeit hat seine Runen eingegraben.

In ihrer Mitte leuchtet eine weiße Urne

Auf schwarzem Steine, von zwei grünen Erlen

Umrauscht und unter ihrem breiten Schatten.

Das ist die letzte Ruhestatt des Pfarrherrn.

Die braven Bauern waren gern bereit,

Auf eigne Kosten ihm als letzte Ehre

Dies Grabmal zu errichten. Alle Seiten

Verkündeten durch eine Inschrift, wie

Er lebte, wieviel stille Jahre er

Als Seelensorger zugebracht und endlich

Am Ziel des Wegs Gott seinen Geist vertraut. —

Und zu der Stunde, wo der Ost voll Scham

Errötend seine Flechten löst, und wo

Im Felde sich ein frischer Wind erhebt,

Der Tau die blitzend blanken Perlen streut,

Rotkehlchen in den dichten Büschen schlagen,

Und erst zur Hälfte noch der Sonnenball

Sich übers Land hebt, kommen Bäuerinnen

Mit Nelken, Rosen in der Hand zum Grab

Und schmücken es mit duft’ger Blumen Fülle

Und gehen ihres Wegs. — Nur eine bleibt,

Das Haupt in ihre Lilienhand gestützt,

Und sitzt gar lange Zeit in tiefem Sinnen,

Als wollte sie Unfaßliches begreifen.

Wer würde, ach, in dieser kummervollen

Gestalt Luise wohl erkennen? Wer?

Der frohe Glanz der Augen ist erloschen,

Ihr unschuldreines Lächeln ist nicht mehr

Auf ihrem Antlitz. Nie und nimmer huscht

Das Zeichen einer Freude drüber hin.

Und doch, wie schön ist sie in ihrem Harm!

Wie königlich ihr Blick trotz allen Wehs!

So trauert wohl der strahlende Seraph

Dem Sturz des menschlichen Geschlechtes nach.

Voll Schönheit war die glückliche Luise,

Die trauernde war fast noch herrlicher.

Grad achtzehn Jahre war sie alt geworden

Im Monat, als der Pfarrer von ihr schied.

Mit ihrer ganzen kindlich reinen Seele

War sie dem Greise zugetan. Und nun

Denkt sie: Nein, deine Hoffnung hat sich nicht

Erfüllt. Wie innig hattest du gewünscht,

Am heiligen Altare uns zu trauen,

Für alle Zeiten unsern Bund zu schließen.

Wie hattest du den träumerischen Hans

Geliebt — — Und er? — — —

Ja, wenden wir den Blick zu Wilhelms Hütte.

Es ist schon herbstlich kalt. Er sitzt daheim

An seiner Drechselbank und schneidet Platten

Aus Buchenholz mit feiner Maserung,

Die er mit krausem Schnitzwerk dann verziert.

Zu seinen Füßen liegt vergnügt geduckt

Hektor, sein lieber, treuer Kamerad.

Wie immer sorgt die tüchtige Hausfrau Berta

Vom frühsten Morgen an schon für sein Wohl.

Dicht vor dem Fenster drängt sich eine Schar

Von Gänsen, und die Hühner gackern auch

Noch unaufhörlich. Ganz wie ehedem

Hört man das ew’ge Zwitschern frecher Spatzen,

Die Tag für Tag im Küchenabfall picken. —

Der Dompfaff kam, der Geck. Und auf den Feldern

Hing lange Zeit der reife Duft des Herbstes.

Die grünen Blätter wurden gelb und fielen,

Die Schwalben zogen über ferne Meere. —

In ihrer Sorglichkeit rief Hausfrau Berta:

„Luise darf nicht mehr so lang ausbleiben.

Es dunkelt, und der Sommer ist vorbei.

Jetzt wird’s früh feucht, und dichte Nebel fallen

Und schicken ihre Schauer über uns.

Warum irrt sie herum? Sie macht mir Not!

Ja, ja, sie kann den Hans mal nicht vergessen.

Gott weiß, ob er am Leben ist, ob nicht.“ —

Wie anders Fanny denkt als ihre Mutter!

Mit ihren sechzehn Jahren sitzt sie still

In ihrer Ecke vor dem Rocken, voll

Von Sehnsucht und vom Freunde träumend,

Und fast unhörbar sagt sie vor sich hin:

„Ich hätte ihn nicht minder stark geliebt!“

Siebzehntes Bild

Wie trüb auch sonst die Tage schleichen

Im Herbst, das Heute ist voll Licht.

Die Sonne zeigt ein hell Gesicht,

Und blanke Silberwellen streichen

Am Himmel hin. Den Weg herab

Mit Rucksack kommt und Wanderstab

Ein Fremder matt und scheu daher.

Voll Trauer, wie ein Greis gebeugt,

Geht er die Postchaussee. Nichts zeugt

Vom alten Hans, fast gar nichts mehr.

Sein halberloschner Blick umschweift

Das Meer der gelben Ährenwellen,

Der Berge bunten Kranz. Es greift

Der schöne Traum sein Herz; es schwellen

Des Allvergessens Seligkeiten

Die Brust. Doch die Gedanken schreiten,

Ach, einem andern Ziele zu.

Nichts wär’ ihm nötiger als Ruh’.

Er kommt, so scheint’s, von weit, weit her.

Sein Atem keucht und schmerzt, und schwer

Schmerzt seine Seele ihn und ächzt.

Er denkt, doch kein Gedanke lechzt

Nach Ruh’. — Wem gilt sein tiefes Grübeln?

Erstaunt, wie er mit allen Übeln

Von dem Geschick gemartert ward;

Des eitlen Tuns erstaunt, wie er genarrt,

Lacht bitter auf er, daß er trunken

Die Welt des Wahns, so hassenswert,

In seiner Unvernunft begehrt

Und ihrem leeren Glanz versunken;

Daß er sich in der Menschen Schoß,

Von ihrem eklen Tun wie toll

Berauscht, bezaubert, — schwankungslos

Geworfen kühn und glaubensvoll.

Ach, kalt wie Gräber waren sie,

Habgier und Ehrsucht galt allein,

Nichts sonst, — und wie verächtlich Vieh

So tierisch, ach, und so gemein.

Sie zogen in den Staub, was gut

Und hehr. Es schalten ihre Zungen

Verächtlich nur Begeisterungen

Und Geistestat. Falsch war die Glut;

Und wenn sie sich emporgeschwungen,

Verderben rings. Wer lauschte schon

Der Reden einschläferndem Ton

Und bebte nicht? Von Gift wie schwer

Ihr Atem, wie voll Lüge ist

Ihr Herzschlag und ihr Geist voll List;

Wie hohl die Worte und wie leer!


Ja, tausendfach war ihm die Wahrheit

Begegnet und von ihm erkannt.

Doch ward zu höherm Glück die Klarheit

Ihm in der Seele Träumerland?

Wie ferne Sternenhelle zog

Verlockend ihn der Ruhm. Allein

Sein blinkend Gift war scharf, es trog

Der dichte Qualm ihm vor den Schein.


Der Tag versinkt im West. Die Schatten

Des Abends wachsen, und die matten,

Hellweißen Wolkenränder glühen

In greller Röte auf. Die dunkeln

Vergilbten Blätter alle sprühen

Von goldnem Strahlenwerk und funkeln.

Der Wiesengrund der Heimat tut

Sich vor dem Wandrer auf. Es füllt

Den matten Blick urplötzlich Glut,

Und eine heiße Träne quillt.

Die Freuden aus vergangnen Jahren,

Harmloser Späße, alter Träume Scharen,

Sie engen ihm die Brust und rauben

Den Atem ihm. Er will’s nicht glauben

Und sinnt dem Grund nach und beginnt

Zu weinen wie ein schwaches Kind.


Meditationen

Der Augenblick, da wunderbar

Ein Auserkorner im Gefühl

Der höchsten Kraft und Selbsterkenntnis

Erfaßt des Daseins höchstes Ziel,

Der sei gesegnet immerdar.

Nicht leerer Träume Schattenpracht

Und nicht des Ruhmes Flitterglanz

Stört ihn und lockt bei Tag und Nacht

Ihn in den lauten Wirbeltanz

Der Welt. Sein Sinn hat junge Kraft,

Ist Ansporn ihm und einz’ger Rat,

Reizt ihn und treibt die Leidenschaft

Zu Edlem ihn und großer Tat.

Für sie setzt er sein Leben ein;

Mag auch der Torenpöbel schrein,

Er wird lebend’ger Trümmer wegen

Nicht wankend, denn er hört allein

Der Enkelzeit rauschenden Segen.


Wenn aber Trug und Traumgestalten

Mit Sucht nach Glanz ein Herz beseelen,

Dem Willenskraft und Härte fehlen,

Im Wirrwarr standhaft sich zu halten,

Dann ist es besser, ohne Fülle

Das Feld des Lebens zu durchmessen,

In der Familie, in der Stille

Des Weltenlärmes zu vergessen. — —

Achtzehntes Bild

Die Sterne gehen auf in Harmonie.

Mit mildem Blicke schweifen sie

Ob all der Schlafversunkenheit

Als Wächter leisen Menschenschlummers.

Sie senden Ruh’ der Guten Leid,

Und Bösen — des Gewissenskummers

Todbringend Gift. — Was schickt ihr nicht

Der Trübsal Frieden jetzt? Ihr seid

Des Menschen Freude, tröstend Licht. —

Wenn seine Blicke voller Leid

Und Kummer flehend an euch haften,

Hört er den Streit der Leidenschaften

Im Herzen; und er ruft euch laut,

Bis er die Schmerzen euch vertraut. —

Noch ist Luise traurig-müd;

Und noch entkleidet nicht; sie blickt

Verträumt, weil aller Schlaf sie flieht,

Noch in die Herbstnacht unverrückt.

Ihr Sinn beschwört das alte Bild.

Da füllt sie Heiterkeit und weitet

Das Herz ihr, dem ein Lied entquillt,

Das am Spinett sie froh begleitet.

Das Laub fällt raschelnd von den Bäumen,

Durch die der Hofzaun blinkt. — Hans steht

In des Vergessens süßen Träumen,

Vom Mantel eingehüllt, und späht

Und lauscht. — Soll er noch länger säumen? —

Wie wird es ihm jetzt bei dem Klange

Der Stimme, die ihm nicht geklungen

Seit seiner Trennung, die ihm lange,

So lange, lange nicht gesungen!

Das Lied, das heißer Leidenschaft,

Das, sangesfrohem Mut entquollen

Und all dem Übermaß der Kraft,

Begeistert einst und froh erschollen,

Sein Lied, es schwillt ihm durch den Regen

Der Blätter wonnesam entgegen:

Dich rufe ich! Ich rufe dich,

Des Lächeln mich bezaubert hat,

Mein Lieb! Viel Stunden setze ich

Mich zu dir, und es sehen sich

Die Augen doch an dir nicht satt.

Du singst: — geheimnisvolle Klänge,

Des Herzens reinste Töne hallen

Und zittern durch die Luft und schallen

Wie Schlag von tausend Nachtigallen,

Als ob ein Silberbach mir sänge.

Schnell zu mir! Lehn’ dich an mich, schnelle,

Durchbebt von Gluten, wundersamen.

Dein Herz brennt in der Stille helle,

Und deine Ruh’ strömt Well’ auf Welle

In mich die heißen Liebesflammen.

Bist du mir fern, dann quält mich Wehe.

Vergessen gibt es nicht für mich.

Wenn ich erwach’, zur Ruhe gehe,

Stets bete ich und stets erflehe

Ich Glück, mein Engel, nur für dich! —


War’s Täuschung, was sie sah? Es sprühten

Zwei Feuer auf; zwei Augen glühten

Dicht vor ihr, dicht. Und sie vernahm,

Wie jemand seufzend näher kam.

Angst packt sie, Zittern fällt sie an;

Sie wendet sich und ... Hans! ... wer kann

Solch wundersames Wiedersehen,

Kann der Gefühle eignen Bann,

Der Blicke Flammensprach’ verstehen?

Wer kann die Feuerworte finden,

Zu schildern recht, wie das Empfinden,

Aufwogend wild, die Brust durchspült

Und unser tiefstes Herz durchwühlt?

Man bebt, erblaßt, vor Freude schwach.

Gedanken, Worte fehlen; ach,

Voll Seligkeit entringt im Überschwang

Der Brust sich nur ein heller Klang.


Hans faßt allmählich sich. Er blickt

Durch Tränen ihr ins Angesicht

Und denkt: „In Traum bin ich entrückt;

Erwachte ich doch ewig nicht!

Sie ist noch die, die mich umfaßt

Mit kindlich innigem Verlangen.

Ach, ihre Jugend starb wohl an der Last

Der Trauer. Wie verhärmt, verblaßt

Ist jetzt das frische Rot der Wangen.

Ich Tor, der ich, um Not und Schmerzen

Zu finden, floh von ihrem Herzen.“

Des Leidensschlafes Schwere sank

Von ihm; gesund und ruhig ward

Er wieder, er, den Stürme lang

Geschüttelt, wild durchtobt und hart. —

So strahlt die Welt stets sonnenblank

Aufs neu. — In Glut gehärtet Stahl

Glänzt stärker, heller tausendmal. —

Die Gäste zechen. Ihre Runde

Gehn Glas und Becher und erklingen.

Die Alten plaudern manche Stunde.

Derweil sich heiß im Tanze schwingen

Die Jünglinge, da lärmt und schallt

Die heiterste Musik. In Saus und Braus

Herrscht Freude über Alt und Jung;

Und gastlich ladend lacht das Haus.

Der Bäuerinnen junge Schar

Bringt blaue Veilchen für die Braut,

Dem Bräut’gam Flammenrosen dar.

Sie schmücken das verliebte Paar.

„Bleibt lang noch jung,“ so hallt es laut,

„Blüht, wie hier diese Veilchen blühn

Vom Felde, frisch und immer grün.

Mag euer Herz von Liebe, schaut,

Wie dieser Rosen Feuer glühn!“


Von Zärtlichkeit ganz hingerissen

harrt Hans erbebend schon. Sein Blick

Ist helle Freude, tiefes Glück.

Sein Herz will unverstellt genießen,

Nachdem des Zwanges Panzerkleid

Gefallen ist, die Seligkeit.

Euch, Träume voller Trug und List,

Wird nun nicht mehr vergöttern er,

Der ird’scher Schönheit Diener ist. —

Doch was umdüstert ihn so schwer?

(Unfaßlich ist des Menschen Art!)

Von seinen Träumen scheidend, starrt

Er ihnen trauernd nach, verloren,

Wie einem, dem er Treu’ geschworen. —

So harrt der Schüler vor dem Schlage

Der Glocke am ersehnten Tage

Des letzten Unterrichts. Ganz voll

Von Plänen und vor Freude toll,

Spinnt er sich Träume. Ohne Klage,

Zufrieden mit der Welt und sich in lang

Entbehrter Freiheit Überschwang.

Doch wenn die Abschiedsstunde naht

Von Haus und Freund und Kamerad,

Mit denen Arbeit er und Ruh’, die Zeit

Geteilt und Lust an tollen Streichen,

Dann seufzt er wohl und Tränen schleichen

Ins Aug’ ihm, und er fühlt ein Leid. —

Epilog

Es heben in der Öde sich und steigen

In meines Tempels Einsamkeit,

Die unerkannt und unentweiht

Von eines Menschen Fuß, im Schweigen

Der Seele Träume auf. Wie weit

Dringt wohl hinaus ihr lauter Reigen?

Ob wer erregt sein Ohr ihm leiht?

Wird einer Jungfrau heißes Herz sich neigen,

Wird eines Jünglings Sinn durch sie befreit?

Voll ungewollter Rührung singe

Mein Lied ich, rätselhaft erregt,

Das stille Lied, das mich bewegt

Und das ich dir als Loblied bringe,

Mein Deutschland! Hoher Pläne Land,

Der Feen und Geister Königtum,

Mein Herz ist voll von deinem Ruhm!

Der große Goethe hält die Hand

Als Schutzgeist über dein Gedeihn.

Mit seinen hohen Liedern bannt

Er jede Not von dir und Pein. — —

Beilage
Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski

I.
Gogols Brief an Bjelinski

Um den 20. Juni 1847 (neuen Stils).

Ich habe Ihren Aufsatz über mich im „Sowremennik“ mit schmerzlichem Bedauern gelesen — nicht deshalb, weil mich die Art, wie Sie mich vor allen herabzusetzen suchen, verletzt, sondern weil mir aus diesem Aufsatz die Stimme eines Menschen entgegentönt, der mir zürnt. Ich aber wünsche keinen Menschen, selbst keinen solchen, der mich nicht liebt, gegen mich aufzubringen, am wenigsten Sie, von dem ich geglaubt habe, daß er mich liebt. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, Sie durch eine Stelle in meinem Buche zu betrüben. Wie konnte es nur geschehen, daß in Rußland alle Menschen bis auf den letzten so über mich aufgebracht waren? Das ist etwas, was ich bisher noch nicht zu verstehen vermag. Die Östlinge, die Westlinge und die, die eine neutrale Stellung einnehmen, sie alle fühlen sich schmerzlich berührt. Es ist wahr, ich wollte jedem von ihnen einen kleinen Schlag versetzen, ich hielt das für nötig, weil ich es an meiner eigenen Haut gespürt hatte, wie notwendig so etwas ist [wir alle hätten etwas mehr Demut und Bescheidenheit nötig], aber ich habe nicht geglaubt, daß die Schläge, die ich austeilte, so plump, so ungeschickt und so verletzend ausfallen würden. Ich dachte, man würde mir das alles großmütig verzeihen, und mein Buch würde den Grund zu einer allgemeinen Versöhnung und nicht zu Streit und Zwietracht legen. Sie haben mein Buch mit dem Auge eines zornigen, verärgerten Menschen gelesen, und daher haben Sie alles unrichtig ausgelegt. Sehen Sie über alle die Stellen hinweg, die bisher noch für viele, wenn nicht gar für alle ein Rätsel, achten Sie vor allem auf die, die jedem gesunden und einsichtsvollen Menschen verständlich sind, und Sie werden erkennen, daß Sie sich in vielen Punkten geirrt haben.

Ich habe nicht vergebens alle meine Leser angefleht, mein Buch mehrmals zu lesen, da ich alle Mißverständnisse, denen es ausgesetzt sein würde, schon vorausahnte. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, ein Buch zu beurteilen, das so eng mit der ganzen geistigen Entwicklung seines Autors zusammenhängt, der lange Zeit im Verborgenen und ganz in sich selbst zurückgezogen lebte und unter seiner Unfähigkeit, sich auszudrücken, litt. Es war ja auch kein leichter Entschluß, sich selbst an den Pranger zu stellen und dem allgemeinen Gespött auszusetzen, indem man einen Teil seiner inneren Entwicklung, deren wahrer Sinn nicht so bald verstanden wird, der Öffentlichkeit preisgab. Schon dieses Wagnis allein hätte einen gescheiten Menschen nachdenklich stimmen und ihn veranlassen müssen, mit der Abgabe seines Urteils über das Buch zu warten und es zu verschiedenen Stunden und in einer ruhigeren, mehr zur aufrichtigen Rechenschaftsablage über sich selbst geeigneten Geistesstimmung aufs neue zu überlesen, denn nur in solchen Augenblicken ist die Seele fähig, eine andere Seele zu verstehen, mein Buch ist aber eine durchaus seelische, geistige Angelegenheit. Sie hätten dann sicherlich nicht diese unüberlegten Folgerungen daraus gezogen, von denen Ihr Aufsatz strotzt. Wie kann man zum Beispiel daraus, daß ich gesagt habe, die Kritiker, die von meinen Fehlern und Mängeln reden, enthielten viel Richtiges, folgern, die Kritiker, die meine Vorzüge hervorgehoben haben, hätten unrecht. Eine solche Logik kann nur dem Kopfe eines zornigen Menschen entspringen, der nur nach etwas sucht, was ihn reizen und ärgern muß, und der einen Gegenstand nicht ruhig von allen Seiten in Betracht zieht. Ich habe es mir in meinem Geiste lange überlegt, wie ich mich über die Kritiker äußern sollte, die meine Vorzüge hervorgehoben und anläßlich meiner Werke viele schöne Gedanken, die die Kunst betrafen, ausgesprochen haben; ich wollte die Vorzüge und die ästhetischen Gefühlsnuancen eines jeden von ihnen unvoreingenommen feststellen und charakterisieren; ich wartete nur auf den Augenblick, wo ich etwas hierüber sagen konnte, oder richtiger, wo es mir anstehen würde, hierüber zu sprechen, damit man nachher nicht erklären sollte, daß ich ein eigennütziges Ziel im Auge gehabt und mich nicht allein und ganz vorurteilslos von meinem Gerechtigkeitsgefühl hätte lenken lassen. Schreiben Sie die unbarmherzigsten Kritiken, wählen Sie die bittersten Worte, über die Sie verfügen, um einen Menschen herabzusetzen, tragen Sie das Ihre dazu bei, mich in den Augen Ihrer Leser lächerlich zu machen, ohne die empfindlichsten Seiten des vielleicht zartfühlendsten Herzens zu schonen — meine Seele wird dies alles ertragen, wenn auch nicht ohne Schmerz und ohne schmerzliche Erschütterungen; aber es ist bitter, sehr bitter für mich — dies erkläre ich Ihnen ganz aufrichtig — zu wissen, daß selbst ein böser Mensch Haß und Zorn gegen mich in seinem Herzen hegt; und Sie habe ich doch für einen guten Menschen gehalten. Dies der aufrichtige Ausdruck meiner Gefühle.

N. G.

II.
Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch

Frankfurt, den 20. Juni (1847).

Du wunderst dich, daß ich so begierig bin, zu hören, was man über mein Buch spricht. Das kommt daher, weil ich sehr begierig bin, die Menschen kennen zu lernen, und aus den Urteilen über mein Buch gewinne ich doch etwas wie eine Vorstellung von den Menschen mit all ihrem Wissen und ihrer Unwissenheit; was jedoch viel wichtiger ist, dadurch gewinne ich einen Einblick in ihre Seelenverfassung, die für mich noch weit bedeutsamer ist, als ihre äußere Charakteristik, und die ich, wie du selbst zugeben wirst, ohne mein Buch nie hätte kennen lernen können. Übrigens, da wir gerade darüber reden: Vor einigen Tagen las ich Bjelinskis Kritik im zweiten Heft des „Zeitgenossen“ (Sowremennik). Er scheint zu glauben, daß das ganze Buch auf ihn gemünzt ist, und hat aus ihm einen offenen Angriff gegen alle, die seine Ansicht teilen, herausgelesen. Das ist ganz falsch; in meinem Buche sind, wie du siehst, Angriffe gegen alle und gegen alles enthalten, was sich ins Maßlose verliert. Wahrscheinlich hat er die „Leithämmel“[6] auf sich bezogen, und doch galt diese Bemerkung bloß den Journalisten im allgemeinen. Diese Gereiztheit hat mich sehr betrübt, nicht wegen der harten Worte, die ich angeblich nicht zu ertragen vermag — du weißt doch, daß ich die härtesten Worte vertragen kann —, sondern weil dieser Mensch doch immerhin während zehn Jahren, trotz aller Übertreibungen und Maßlosigkeiten, mit Teilnahme und Sympathie von mir gesprochen und dabei doch auch in ganz richtiger Weise auf viele Züge in meinen Werken aufmerksam gemacht hat, die die anderen nicht bemerkt haben, obwohl sie glaubten, ein viel besseres Verständnis für diese Dinge zu besitzen als er. Ich müßte undankbar gegen diese Menschen sein, wo ich es doch verstehe, selbst denen gerecht zu werden, die nichts als Mängel und Fehler in mir entdecken und nur auf diese hinweisen! Aber gerade das Gegenteil trifft zu: in diesem Falle habe ich mich nur getäuscht; ich hielt Bjelinski für größer und glaubte nicht, daß er solch einer kurzsichtigen Ansicht und solch kleinlicher Folgerungen fähig sei. Ich weiß nicht, warum es einem so schwer wird, den Vorwurf der Undankbarkeit zu ertragen, aber für mich war dieser Vorwurf schwerer als alle anderen Vorwürfe, weil meine Seele tatsächlich sehr zur Dankbarkeit neigt, und ich bin gerne dankbar, weil mir das selbst Genuß bereitet. Bitte sprich hierüber mit Bjelinski und schreibe mir, welches seine Stimmung gegen mich ist. Wenn ihm die Galle überläuft und er eine Wut gegen mich hat, so mag er sie im „Zeitgenossen“ (Sowremennik) an mir auslassen und zwar in jeder Form, die ihm recht ist, nur soll er sie nicht wider mich in seinem Herzen hegen[7]. Wenn sich jedoch sein Unmut gelegt haben sollte, so gib ihm den beifolgenden Brief zu lesen, den du gleichfalls lesen darfst.

Aus alledem ersehe ich, daß ich genötigt sein werde, einige Erklärungen über mein Buch abzugeben, weil nicht nur Bjelinski, sondern selbst solche Leute, die mich und meine Persönlichkeit doch weit besser kennen könnten als er, so seltsame Schlüsse aus meinem Werke ziehen, daß man einfach starr ist. Offenbar enthält es weit mehr Dunkelheiten und Unklarheiten, als ich selbst darin finde ...

III.
Bjelinskis Brief an Gogol

Sie haben nur teilweise recht, wenn Sie glauben, den Zorn eines verärgerten Menschen aus meinem Aufsatz herauslesen zu können. Dieses Epitheton ist viel zu schwach und matt, um die Stimmung zu charakterisieren, in die mich die Lektüre Ihres Briefes versetzt hat. Aber Sie haben vollkommen unrecht, wenn Sie dies auf Ihr tatsächlich nicht sehr schmeichelhaftes Urteil über die Verehrer Ihres Talentes zurückführen. Nein, das hat einen anderen, weit gewichtigeren Grund. Eine Kränkung, eine Verletzung unseres Selbstgefühls läßt sich noch ertragen, und ich wäre vernünftig genug gewesen, über diesen Gegenstand zu schweigen, wenn es sich bloß darum gehandelt hätte; was der Mensch jedoch nicht ertragen kann, ist eine Verletzung seines Wahrheitsgefühls, seiner Menschenwürde: man kann nicht mehr schweigen, wenn man unter dem Deckmantel der Religion und einer Apologie der Knute Lüge und Unsittlichkeit für Wahrheit und Tugend ausgibt.

Ja, ich habe Sie geliebt, ich habe Sie mit der ganzen Leidenschaft geliebt, mit der ein Mensch — den die Bande des Blutes mit seinem Vaterlande verknüpfen, dessen Hoffnung, dessen Ehre und Ruhm — einen seiner großen Führer auf dem Wege zum Selbstbewußtsein, zum Fortschritt und zur Entwicklung lieben kann. Und Sie hatten begründeten Anlaß, einen Augenblick Ihre Seelenruhe zu verlieren, als Sie das Recht auf eine solche Liebe einbüßten. Ich sage dies nicht deshalb, weil ich glaube, meine Liebe sei ein würdiger Lohn für ein großes Talent, sondern deshalb, weil ich in dieser Beziehung nicht nur eine einzige, sondern viele Personen darstelle, deren Mehrzahl weder Sie noch ich je gesehen und die Sie ihrerseits auch noch niemals kennen gelernt haben. Ich bin nicht imstande, Ihnen auch nur einen schwachen Begriff von der Empörung zu geben, die Ihr Buch in allen edlen Herzen hervorgerufen hat, noch von dem wilden Freudengeheul, in das alle Ihre Feinde und alle die unliterarischen Tschitschikows, Nosdrjows, Polizeimeister so gut wie alle literarischen, deren Namen Ihnen wohlbekannt sind, ausgebrochen sind. Sie sehen selbst, daß sogar Menschen von derselben Geistesrichtung wie die, die in Ihrem Buche vertreten wird, Ihr Werk fallen lassen. Selbst wenn es das Produkt einer tiefen, aufrichtigen Überzeugung wäre, selbst dann müßte es denselben Eindruck auf das Publikum machen. Und wenn alle (mit Ausnahme weniger Menschen, die man gesehen haben und die man kennen muß, um sich nicht über ihren Beifall zu freuen) das Buch für einen schlauen, aber gar zu ungenierten Trick hielten, um auf dem Umwege über den Himmel einem höchst irdischen Ziel nachzujagen, — so sind Sie allein schuld daran. Und das ist durchaus nicht verwunderlich, erstaunlich ist nur das, daß Sie sich darüber wundern. Ich glaube, das käme daher, weil Sie Rußland nur als Künstler so tief und gründlich kennen, nicht aber auch als denkender Mensch, dessen Rolle Sie in Ihrem phantastischen Buche mit so wenig Glück auf sich genommen haben. Und das nicht etwa deswegen, weil Sie kein denkender Mensch sind, sondern deshalb, weil Sie sich schon seit vielen Jahren daran gewöhnt haben, Rußland aus einer gewissen lockenden Ferne anzusehen, es ist doch bekannt, daß nichts leichter ist, als die Dinge aus der Ferne genau so zu sehen, wie man sie gerne sehen möchte; denn Sie leben ja auch in dieser schönen Ferne ganz für sich und in sich selbst, bleiben ihr selbst fremd und bewegen sich in dem einförmigen Kreise gleichgestimmter oder doch solcher Menschen, die nicht kräftig genug sind, sich Ihrem Einfluß zu widersetzen. Daher haben Sie auch nicht bemerkt, daß Rußlands Heil nicht im Mystizismus und Asketismus, ebensowenig wie im Pietismus, sondern vielmehr in dem Fortschritt der Zivilisation, der Aufklärung und der Humanität liegt. Was es braucht, sind nicht Predigten (die hat es genug gehört!) und nicht Gebete (die hat es genug gestammelt!), was es braucht, ist, daß das Volk zum Gefühl seiner Menschenwürde erweckt wird, ein Gefühl, das ihm für Jahrhunderte durch den Schmutz und die Unsauberkeit, in denen es lebte, verloren gegangen war; was es braucht, sind Rechte und Gesetze, nicht wie sie den Lehren der Kirche, sondern wie sie der gesunden Vernunft und der Gerechtigkeit entsprechen, und eine möglichst strenge und pünktliche Erfüllung dieser Gesetze. Statt dessen aber bietet Rußland das furchtbare Bild eines Landes dar, in dem Menschen mit Menschen handeln, ohne sich auch nur damit rechtfertigen zu können, womit sich die schlauen amerikanischen Pflanzer entschuldigen, die da behaupten, der Neger sei kein Mensch; das Bild eines Landes, in dem sich die Menschen nicht beim Namen nennen, sondern sich mit plumpen Kosenamen und Diminutiven wie Wanjka, Waßjka, Stjoschka, Palaschka titulieren; eines Landes endlich, in dem es keinerlei Garantien für die Integrität der Persönlichkeit, die Ehre und das Eigentum, ja nicht einmal eine polizeiliche Ordnung, sondern nur gewaltige Korporationen aller möglicher Diebe und Räuber in Ämtern und Würden gibt! Die aktuellsten nationalen Fragen, die das Rußland von heute bewegen, sind folgende: die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Abschaffung der Prügelstrafe und die Sorge für eine möglichst strenge Durchführung zum mindesten der Gesetze, die es heute schon gibt. Das fühlt sogar die Regierung selbst (die sehr gut weiß, wie die Gutsbesitzer ihre Bauern behandeln, und wie viele von den ersten alljährlich durch die Hand der letzten umkommen), was durch die schwächlichen, fruchtlosen und halben Regierungsmaßnahmen zugunsten der weißen Neger und durch die komische Einführung der einschwänzigen Knute an Stelle der dreischwänzigen Peitsche dokumentiert wird.

Das sind die Fragen, die ganz Rußland während seines apathischen Schlummers bewegen und beunruhigen! Und in einer solchen Zeit tritt ein großer Schriftsteller, der durch seine wunderbaren, künstlerischen, von tiefer Wahrheit durchdrungenen Werke so machtvoll an der Erweckung Rußlands zum Selbstbewußtsein mitgearbeitet und ihm die Möglichkeit gegeben hat, sich selbst wie in einem Spiegel zu sehen, mit einem Buche auf, in dem er barbarische Gutsbesitzer im Namen Christi und der Kirche unterweist, wie sie ihren Bauern möglichst viel Geld abnehmen können, und sie belehrt, daß sie sie möglichst viel schimpfen sollen ... Und das sollte mich nicht empören? Ja, wenn Sie einen Angriff auf mein Leben unternommen hätten, könnte ich Sie nicht mehr hassen, wie um dieser schmachvollen Zeilen willen ... Und danach wollen Sie, daß man an die Aufrichtigkeit, an die gute Absicht Ihres Buches glauben soll! Nein! Wenn Sie von der wahren Lehre Christi und nicht von einer falschen teuflischen Lehre erfüllt wären, so hätten Sie in Ihrem neuesten Buche etwas ganz anderes geschrieben. Sie hätten zum Gutsbesitzer gesagt: Da seine Bauern seine Brüder in Christus seien, und da ein Bruder nicht der Sklave seines Bruders sein kann, so seien die Gutsherren verpflichtet, ihren Bauern die Freiheit zu schenken oder wenigstens ihre Arbeitskraft möglichst im eigenen Interesse ihrer Bauern zu gebrauchen, da sich die Herren in ihrem Inneren und vor ihrem Gewissen eingestehen müßten, wie unwahrhaftig das zwischen ihnen und ihren Bauern bestehende Verhältnis sei.

Und dann der Ausdruck: „O du ungewaschenes Maul!“ Welchem Nosdrjow, welchem Sabakewitsch haben Sie diesen Ausdruck abgelauscht, um ihn der Welt als eine große Entdeckung zum Nutz und zur Belehrung der Bauern zu überliefern, die sich ja auch ohnedies nur darum nicht waschen, weil sie ihren Brüdern glauben und sich selbst nicht für Menschen halten? Und Ihren Begriff von der nationalen russischen Rechtspflege, deren Ideal Sie in der törichten Redensart erblicken, daß man sowohl den, der recht, wie den, der unrecht hat, auspeitschen solle? Aber das geschieht ja auch ohnedies oft genug bei uns, obwohl man freilich weit häufiger den prügelt, der im Recht ist, wenn er sich durch nichts von der Strafe loszukaufen vermag; sagt doch ein anderes Sprichwort in solch einem Falle: Schuldig ohne Schuld! Und solch ein Buch konnte das Ergebnis eines mühsamen und schwierigen inneren Prozesses, einer erhabenen geistigen Erleuchtung sein! Das ist unmöglich! Entweder Sie sind krank ... dann müssen Sie sich eiligst in Behandlung begeben, oder ... ich wage es nicht, meinen Gedanken auszusprechen ... Apologet der Knute, Apostel der Unwissenheit, Vorkämpfer des Obskurantismus und der finstersten Reaktion, Verherrlicher tatarischer Sitten — was tuen Sie! Blicken Sie vor sich hin — Sie stehen vor einem Abgrund. Daß Sie für diese Lehre eine Stütze in der apostolischen Kirche suchen, das verstehe ich noch: sie war ja doch stets die Stütze der Knute und die Bediente des Despotismus: warum aber ziehen Sie Christus in diese Sache hinein? Was haben Sie Gemeinsames zwischen ihm und der Kirche, vor allem aber der griechisch-katholischen Kirche entdeckt? War er es doch, der den Menschen zuerst die Lehre von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkündete und der die Wahrheit seiner Lehre durch sein Martyrium bekräftigte und besiegelte. In dieser Lehre lag ja auch nur so lange das Heil der Menschen, als diese sich nicht zu einer Kirche zusammenschlossen und das Prinzip der Orthodoxie zu ihrer Grundlage machten. Die Kirche aber erschuf eine Hierarchie und wurde demgemäß eine Vorkämpferin der Ungleichheit, die den Machthabern schmeichelte, eine Feindin und Verfolgerin der Brüderlichkeit unter den Menschen — und das ist sie bis auf die heutige Zeit geblieben. Indessen, der Sinn der Lehre Christi ist durch die philosophische Bewegung des verflossenen Jahrhunderts an den Tag gebracht worden. Und daher ist ein Voltaire, der in Europa mit dem Hauch seines Spottes alle Scheiterhaufen, die Fanatismus und Unwissenheit errichteten, auslöschte, natürlich in weit höherem Sinn ein Sohn Christi, Fleisch von Seinem Fleisch und Bein von Seinem Bein, als alle Ihre Popen, Erzpriester, Metropoliten und Patriarchen zusammen! Sollten Sie das wirklich nicht wissen? Das weiß doch heute bereits jeder Gymnasiast! ... Sollte es daher wirklich möglich sein, daß Sie, der Verfasser des „Revisors“ und der „Toten Seelen“, aufrichtigen Herzens einen Hymnus auf die niederträchtige russische Geistlichkeit singen und sie so unendlich hoch über die katholische stellen konnten? Nehmen wir einmal an, Sie wußten nicht, daß diese Kirche einmal etwas bedeutet hat, während die erste nie etwas war, als die Bediente und Sklavin der weltlichen Macht; — wie —? sollten Sie denn wirklich nicht wissen, daß unsere Geistlichkeit vom ganzen russischen Volke und der russischen Gesellschaft verachtet wird? Von wem erzählt das russische Volk obszöne Anekdoten? Vom Popen, von der Popenfrau, von der Popentochter und vom Knecht des Popen. Ist nicht in Rußland der Pope für jeden Russen der Inbegriff der Gefräßigkeit, des Geizes, der Speichelleckerei, der Schamlosigkeit? Und das sollten Sie alles nicht wissen? Seltsam! Nach Ihrer Meinung ist das russische Volk das religiöseste Volk der Welt. Das ist eine Lüge. Die Grundlage der Religiosität ist der Pietismus, die Ehrfurcht und die Gottesfurcht. Der Russe dagegen kratzt sich den ... wenn er den Namen Gottes ausspricht ... Und von den Heiligenbildern sagt er: sind sie gut — so betet man zu ihnen; sind sie nicht mehr zu brauchen — so deckt man die Töpfe mit ihnen zu.

Blicken Sie aufmerksamer hin und Sie werden sich überzeugen, daß dies ein seinem innersten Wesen nach von Grund aus atheistisches Volk ist. Es besitzt noch sehr viel Aberglauben, aber keine Spur von Religiosität. Der Aberglaube verschwindet mit dem Fortschritt der Zivilisation, die Religiosität aber erhält sich daneben und verträgt sich häufig mit ihm: ein lebendiges Beispiel dafür ist Frankreich, wo es auch heute noch unter den aufgeklärten und gebildeten Leuten viele aufrichtige Katholiken gibt und wo viele zwar das Christentum aufgegeben haben, dennoch aber noch an einem Gott festhalten. Nicht so das russische Volk: mystische Exaltationen liegen nicht in seiner Natur; dazu besitzt es viel zu viel gesunde Menschenvernunft, Klarheit und positiven Verstand, und darin liegt vielleicht gerade die Gewähr für die Größe seiner künftigen historischen Schicksale. Die Religiosität hat nicht einmal in der Geistlichkeit Wurzel geschlagen, denn die wenigen eximierten Persönlichkeiten, die sich durch eine solche kalte asketische kontemplative Geisteshaltung auszeichneten, beweisen noch nichts. Die Mehrzahl unserer Geistlichen dagegen sind nur durch dicke Bäuche, scholastische Pedanterie und rohe Unwissenheit ausgezeichnet. Man würde ihnen unrecht tun, wenn man ihnen religiöse Intoleranz und Fanatismus vorwerfen wollte, man hätte eher noch Grund, ihren vorbildlichen Indifferentismus in Sachen des Glaubens zu loben. Echte Religiosität findet sich bei uns nur bei den Sektierern und Ketzern, die in einem solchen Gegensatz zu dem Volksgeist stehen und deren Anzahl im Vergleich zu der Masse des Volkes gar nicht ins Gewicht fällt.

Ich will nicht näher auf Ihren Dithyrambus auf das Band der Liebe eingehen, das das russische Volk mit seinem Herrscher verknüpft. Ich will es ohne Umschweife aussprechen: dieser Dithyrambus hat bei niemand Sympathie gefunden und hat Ihnen selbst bei solchen Leuten geschadet, die Ihnen in anderer Hinsicht, d. h. in ihren Anschauungen, sehr nahe stehen. Was mich persönlich anbetrifft, so überlasse ich es Ihrem Gewissen, ob Sie sich noch weiter verzückt in die Betrachtung der göttlichen Schönheit des Selbstherrschertums versenken wollen (das ist sehr bequem und daher sehr — einträglich), nur bitte ich Sie, seien Sie vernünftig und betrachten Sie es aus Ihrer schönen Ferne; aus der Nähe gesehen ist es viel weniger schön und auch nicht so ungefährlich. — Ich will hier nur eins bemerken: wenn ein Europäer, besonders ein Katholik, von dem religiösen Geist ergriffen wird, wird er zum Ankläger, der sich gegen das Unrecht und die Ungerechtigkeit der Machthaber wendet, wie die jüdischen Propheten, die die Ungerechtigkeiten und Missetaten der Mächtigen an den Pranger stellten. Bei uns dagegen ist es umgekehrt: wenn ein Mensch (selbst ein anständiger) von der Krankheit, die bei den Psychiatern unter dem Namen religiosa mania bekannt ist, ergriffen wird, dann fängt er sofort an, dem irdischen Gotte mehr Weihrauch zu spenden als dem himmlischen; dabei aber übertreibt er gleich und wird so maßlos, daß der Gott, selbst wenn er ihn für seinen sklavischen Diensteifer belohnen wollte, sieht, daß er sich damit vor der Gesellschaft kompromittieren würde. — Wir sind halt dumme Kerle —, wir Russen.

Hierbei fällt mir noch ein, daß Sie in Ihrem Buche behaupten und es als eine große Wahrheit hinstellen, daß Lesen und Schreiben dem einfachen Volke nicht nur nicht nützen, sondern sogar geradezu schaden würde. Was soll ich Ihnen darauf sagen?

Möge Ihnen Ihr byzantinischer Gott diesen byzantinischen Gedanken verzeihen, wenn Sie nicht gewußt haben sollten, was Sie sagten, indem Sie ihn niederschrieben. — Aber vielleicht werden Sie entgegnen: „Es ist möglich, daß ich mich geirrt habe und daß alle meine Gedanken falsch sind, warum aber will man mir das Recht nehmen, mich zu irren, und warum will man nicht an die Aufrichtigkeit meiner Irrtümer glauben?“ Darauf antworte ich Ihnen folgendes: weil eine solche Anschauung in Rußland schon lange nichts Neues mehr ist. Erst vor kurzem ist sie von Buratschok und Genossen in erschöpfender Weise vertreten worden. Natürlich steckt in Ihrem Buche weit mehr Verstand und sogar Talent, als in ihren Werken, obwohl es nicht allzu reich an beiden ist, dafür aber haben jene die Ihnen gemeinsame Lehre mit viel größerer Energie und mit weit größerer Konsequenz vertreten, sie sind kühn bis zu ihren letzten Ergebnissen vorgedrungen, haben alles dem byzantinischen Gotte geopfert und nichts für den Satan übriggelassen, während Sie jedem von beiden eine Kerze stiften wollten, sich hierdurch in Widersprüche verwickelten und für Puschkin, die Literatur und das Theater eintraten, die von Ihrem Standpunkt aus, wenn Sie nur ehrlich genug gewesen wären, um konsequent zu sein, nichts zum Heil unserer Seele, wohl aber sehr viel zu ihrem Verderben beitragen können ... Wessen Hirn aber hätte den Gedanken von der Identität Gogols und Buratschoks ertragen können? Sie haben sich einen viel zu hohen Platz in der Meinung des russischen Publikums erobert, als daß es Ihnen die Aufrichtigkeit solcher Überzeugungen zu glauben vermöchte. Was uns bei einem Toren natürlich vorkommt, kann uns bei einem genialen Mann nicht so erscheinen. Es gibt Menschen, die auf den Gedanken gekommen sind, Ihr Buch sei die Frucht einer geistigen Störung, die ganz positiv an Wahnsinn grenzt. Aber sie haben diese Folgerung bald wieder fallen gelassen — denn es ist doch ganz klar, daß dies Buch nicht an einem Tag, auch nicht in einer Woche oder in einem Monat, sondern vielleicht während eines ganzen Jahres geschrieben wurde, oder daß Sie gar zwei oder drei Jahre lang daran gearbeitet haben; alles darin hängt sehr genau zusammen, selbst die nachlässige Darstellung läßt erkennen, daß viel Überlegung darin steckt, daß es wohl durchdacht ist. Ein Hymnus auf die höchsten Machthaber ist ja doch auch sehr geeignet, dem frommen Autor eine angenehme und gesicherte irdische Existenz zu verschaffen. Das war der Grund, weshalb sich in Petersburg das Gerücht verbreitete, Sie hätten dieses Buch geschrieben, um Erzieher bei dem Sohne des Thronfolgers zu werden. Schon früher ist in Petersburg einer Ihrer Briefe an Uwarow bekanntgeworden, in dem Sie mit Schmerz davon sprechen, daß man in Rußland Ihre Werke falsch auslegt, Ihre Unzufriedenheit mit Ihren früheren Schriften äußern und erklären, Ihre Werke würden Sie erst dann befriedigen, wenn Sie den Beifall des Zaren fänden. Und nun urteilen Sie selbst, ob man sich wundern kann, daß Ihr Buch Ihnen beim Publikum sowohl als Schriftsteller, noch viel mehr aber als Mensch geschadet hat.

Sie verstehen, wie ich sehe, das russische Publikum nicht recht. Sein Charakter wird durch die Situation bestimmt, in der sich die russische Gesellschaft befindet. In ihr regen sich frische Kräfte, die nach außen drängen, jedoch durch den schweren Druck, der auf ihr lastet, gehemmt werden und, da sie keinen Ausweg finden, nichts wie Trübsinn, Melancholie und Apathie erzeugen. Nur in der Literatur regt sich trotz der tatarischen Zensur noch etwas wie Leben und Fortschritt. Daher ist auch der Schriftstellerberuf bei uns etwas so Edles und Hohes, und daher wird es bei uns selbst dem kleinsten Talent so leicht, einen literarischen Erfolg zu erringen. Der Name des Poeten, der Titel des Literaten haben bei uns schon längst den glänzenden Flitter der Epauletten und der bunten Uniformen verdunkelt. Das ist auch der Grund, weshalb bei uns jede sogenannte literarische Tendenz und Bewegung, selbst bei einem geringen und dürftigen Talent, auf den Lohn der allgemeinen Beachtung rechnen darf, und warum die Popularität der großen Talente so schnell dahinsinkt, die ihre Kräfte aus ehrlicher Überzeugung oder aus unehrlichen Motiven in den Dienst der Orthodoxie, des Absolutismus und des Nationalismus stellen. Das treffendste Beispiel hierfür ist Puschkin, der nur zwei oder drei untertänige Gedichte zu schreiben und die Kammerjunkerlivree anzulegen brauchte, um mit einem Schlage die Liebe seines Volkes zu verlieren! Sie sind in einem großen Irrtum befangen, wenn Sie allen Ernstes glauben, daß der Mißerfolg Ihres Buches nicht seiner schlimmen Tendenz, sondern der Härte der Wahrheiten zuzuschreiben sei, die Sie allen und jedem ins Gesicht gesagt hätten. Das konnten Sie vielleicht von den Literaten glauben, wie aber paßte das Publikum in diese Kategorie? Wäre es wirklich möglich, daß Sie ihm im „Revisor“, in den „Toten Seelen“ mit geringerer Schärfe und weniger Wahrheit und Talent weniger bittere Wahrheiten gesagt haben sollten? Die alte Schule zürnte und grollte Ihnen ja auch tatsächlich bis zur Raserei, aber der „Revisor“ und die „Toten Seelen“ sind darum doch nicht vergessen, während Ihr Buch schmählich vom Orkus verschlungen wurde. Und das Publikum hat in diesem Falle recht: es sieht in den russischen Schriftstellern seine einzigen Führer, seine Beschützer und Erretter aus dem russischen Absolutismus, der Orthodoxie und dem Nationalismus, daher ist es stets bereit, einem Schriftsteller ein schlechtes Buch zu verzeihen, nie aber wird es ihm ein schädliches Buch vergeben. Das beweist, wieviel frische gesunde Instinkte, wenn auch erst keimhaft, in unserer Gesellschaft schlummern, und es beweist auch, daß diese Gesellschaft eine Zukunft hat. Wenn Sie Rußland lieben, so freuen Sie sich über die Niederlage Ihres Buches.

Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit darf ich Ihnen sagen, daß ich das russische Publikum ein wenig zu kennen glaube. Ihr Buch hat mich erschreckt, weil ich es für möglich hielt, daß es einen schlechten Einfluß auf die Regierung und auf die Zensur ausüben, nicht aber, weil ich daran glaubte, daß es das Publikum in schlechtem Sinne beeinflussen könnte. Als sich in Petersburg das Gerücht verbreitete, die Regierung wolle Ihr Buch in vielen tausend Exemplaren drucken und zu ganz billigem Preise verkaufen lassen — wurden meine Freunde mutlos; ich sagte ihnen jedoch sogleich, daß das Buch trotz alledem keinen Erfolg haben und daß es bald vergessen sein werde. Und so lebt es ja auch heute tatsächlich mehr in den Aufsätzen, die über es geschrieben wurden, als durch sich selbst in der Erinnerung des Publikums weiter. Ja, der Russe hat einen tiefen, obwohl noch unentwickelten Wahrheitsinstinkt.

Ihr Appell mag ja vielleicht ganz aufrichtig gewesen sein, aber Ihr Gedanke, dem Publikum davon Mitteilung zu machen, war äußerst unglücklich. Die Zeiten naiver Frömmigkeit sind selbst für unsere Gesellschaft längst vorüber. Sie begreift schon, daß es ganz gleich ist, wo man betet, und daß nur solche Leute Christus in Jerusalem suchen, die ihn entweder nie in ihrem Busen getragen oder die ihn doch wieder verloren haben. Wer da fähig ist, beim Anblick fremder Leiden selbst zu leiden, wem es schwer wird, mitanzusehen, wie Menschen, die ihm völlig fremd sind, bedrückt werden, — der trägt Christus in seiner Brust und der braucht nicht zu Fuß nach Jerusalem zu pilgern. Die Demut und Ergebung, die Sie predigen, ist nichts Neues und schmeckt erstlich nach furchtbarer Überhebung und zweitens nach einer höchst schmachvollen Herabsetzung der eigenen Menschenwürde. Der Gedanke, sich in ein abstraktes Vollkommenheitsideal zu verwandeln und sich durch seine Demut über alle anderen Menschen zu erheben, kann nur die Frucht des Hochmuts oder des Schwachsinns sein und führt in beiden Fällen nur zur Heuchelei, zum Pharisäertum und zum Chinesentum. Und dabei haben Sie sich erlaubt, sich nicht nur in unsauberen und zynischen Ausdrücken über andere zu äußern (das wäre schließlich nur eine Unhöflichkeit gewesen), nein, Sie sprechen auch so von sich selbst — und das ist einfach häßlich; denn wenn ein Mensch, der seinen Nächsten auf die Backe schlägt, uns zur Empörung reizt, so erregt ein Mensch, der sich selbst ohrfeigt, unsere Verachtung. Nein, Ihr Geist ist verfinstert und nicht erleuchtet: Sie haben weder den Geist, noch die Form des Christentums unserer Zeit verstanden. Nicht die Wahrheit der christlichen Liebe, sondern krankhaftes Todesgrauen und Furcht vor Hölle und Teufel spricht aus Ihrem Buch.

Und welch eine Sprache, was für Sätze sind das: „Die Menschen sind heute allzumal solch traurige jämmerliche Waschlappen geworden.“ Glauben Sie wirklich, daß das heißt, sich biblisch ausdrücken, wenn Sie sagen, die Menschen sind allzumal, statt alle? Welch große Wahrheit ist es doch, daß, wenn der Mensch sich gänzlich der Lüge hingibt, ihn auch Verstand und Talent im Stich lassen. Wenn nicht Ihr Name unter dem Titel Ihres Buches stünde, wer hätte gedacht, daß dieser geschwollene und wirre Wort- und Phrasenflitter — ein Werk des Verfassers der „Toten Seelen“ und des „Revisors“ sein könnte!

Was endlich mich selbst anbetrifft, so erkläre ich Ihnen nochmals: Sie haben sich geirrt, wenn Sie meinen Aufsatz für eine Frucht der Verärgerung hielten, die durch Ihr Urteil über mich als einen Ihrer Kritiker hervorgerufen sei. Wenn mich nur dies allein empört hätte, dann hätte ich mich auch wirklich nur über dies eine empört und ärgerlich geäußert und über das andere ganz ruhig und unvoreingenommen gesprochen. Freilich ist es ganz richtig, daß Ihr Urteil über Ihre Verehrer in doppelter Hinsicht sehr unschön war. Ich erkenne an, daß es notwendig sein kann, einem Toren zuweilen einen kräftigen Schlag zu versetzen, wenn er uns durch seine Lobeserhebungen und seine Begeisterung lächerlich macht, aber auch das ist eine bittere Notwendigkeit, denn es ist nicht angenehm, nicht ganz menschlich, einem Menschen — selbst für seine falsche, auf einem Irrtum beruhende Liebe — mit Haß und Feindschaft zu zahlen. Sie aber hatten, wenn auch nicht gerade Menschen von auserlesenen Verstandesfähigkeiten, zum mindesten solche, die auch keine Toren sind, im Auge. Diese Leute haben voller Bewunderung über Ihre Werke weit mehr Geschrei gemacht, als sie Vernünftiges über sie gesagt haben, immerhin aber stammte ihr Enthusiasmus aus einer so reinen und edlen Quelle, daß Sie sie keinesfalls ihrem gemeinsamen Feinde bedingungslos hätten ausliefern und ihnen noch den Vorwurf machen dürfen, sie strebten danach, Ihren Werken eine falsche Deutung zu geben. Sie haben dies natürlich aus Unvorsichtigkeit getan und, weil Sie sich von dem Grundgedanken Ihres Buches fortreißen ließen, während Wjasemskij, dieser Fürst unter den Aristokraten und dieser Lakai unter den Literaten, Ihren Gedanken weiter ausführte und eine private Denunziation gegen Ihre Verehrer (also in erster Linie gegen mich) veröffentlichte. Er hat dies wahrscheinlich aus Dankbarkeit gegen Sie getan, weil Sie diesen erbärmlichen Reimschmied zu einem großen Dichter gemacht haben, wahrscheinlich, und soviel ich mich erinnere, wegen seines „matten an der Erde klebenden Verses“. Das alles ist nicht schön. Daß Sie jedoch nur auf den Zeitpunkt gewartet haben, wo es Ihnen möglich sein würde, auch den Verehrern Ihres Talents Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (nachdem Sie Ihren Feinden mit stolzer Bescheidenheit gerecht geworden waren) — das war mir unbekannt; ich konnte es nicht wissen und hätte es, offen gestanden, auch nicht wissen wollen. Vor mir lag Ihr Buch und nicht Ihre Absichten! Ich las es, las es hundertmal nacheinander und konnte dennoch nichts darin finden als das, was darin steht, und das, was darin stand, beleidigte und empörte meine Seele aufs tiefste.

Wenn ich meinem Gefühl freien Lauf lassen wollte, würde sich dieser Brief bald in ein dickes Heft verwandeln. Ich habe nie daran gedacht, Ihnen hierüber zu schreiben, obwohl ich vom qualvollen Wunsche danach verzehrt wurde, und obwohl Sie allen und jedem öffentlich das Recht gegeben hatten, Ihnen ganz ungeniert zu schreiben, da Sie keine andere Rücksicht kennten, als die der Wahrheit. In Rußland hätte ich das nicht tun können, da die dortigen „Schpekins“ fremde Briefe öffnen, und zwar nicht zu ihrem persönlichen Vergnügen, sondern weil sie dienstlich dazu verpflichtet sind und um andere Leute zu denunzieren. Im Sommer dieses Jahres trieb mich eine beginnende Schwindsucht ins Ausland, und Nekrassow sandte mir Ihren Brief nach Salzbrunn nach, von wo ich heute in Gesellschaft Annenkows über Frankfurt am Main nach Paris weiterreise. Der unerwartete Empfang Ihres Briefes gab mir die Möglichkeit, Ihnen alles zu sagen, was mir auf der Seele lag und was ich gegen Sie und Ihr Buch empfand. Ich kann keine Halbheiten sagen und keine Winkelzüge machen, das liegt nicht in meiner Natur. Mögen Sie oder die Zeit mich belehren, daß ich mich in meinen Schlüssen über Sie geirrt habe. Ich würde der erste sein, der sich hierüber freuen würde, aber ich werde nie bereuen, was ich Ihnen gesagt habe. Hier handelt es sich nicht um meine oder Ihre Person, sondern um etwas weit Größeres und Höheres, als ich und selbst Sie sind, hier handelt es sich um die Wahrheit, um die russische Gesellschaft, um Rußland.

Und dies ist mein letztes Wort, mit dem ich schließe: wenn Sie den unglücklichen Einfall hatten, Ihre wahrhaft großen Werke mit stolzer Bescheidenheit zu verleugnen, so müssen Sie nun mit aufrichtiger Demut Ihr letztes Buch abschwören und die schwere Schuld, die Sie durch seine Veröffentlichung auf sich geladen haben, durch neue Schöpfungen wieder gutmachen, die an Ihre früheren Werke erinnern.

Salzbrunn, den 15. Juli 1847.

IV.
Gogol an Bjelinski[8]

Womit sollte ich meine Antwort auf Ihr Schreiben beginnen, wenn nicht mit Ihren eigenen Worten: „Kommen Sie zu sich, Sie stehen am Rande eines Abgrundes!“ Wie weit sind Sie vom geraden Weg abgekommen! In welch verzerrter, entstellter Gestalt erscheinen Ihnen die Dinge! Welch rohe, ungebildete Vorstellung haben Sie von meinem Buche gefaßt! Wie haben Sie es ausgelegt! ... Oh, mögen die heiligen Mächte Frieden in Ihre leidende Seele gießen! Wozu mußten Sie den einmal gewählten friedlichen Weg gegen einen anderen vertauschen? Was konnte herrlicher sein, als die Leser auf die Schönheiten in den Werken unserer Schriftsteller hinzuweisen, ihre Seele und ihre Geisteskräfte bis zum Verständnis alles Schönen zu erheben, die Schauer der in ihnen geweckten Sympathie zu genießen und so unmerklich auf ihre Seele einzuwirken? Dieser Weg hätte Sie zur Versöhnung mit dem Leben geführt, Sie gelehrt, alles in der Natur zu segnen. Jetzt dagegen fließt Ihr Mund von Haß und Galle über ... Wozu mußten Sie mit Ihrer feurigen Seele sich in diesen Strudel des politischen Lebens, in diese trüben Tageskämpfe stürzen, bei denen selbst ein vielseitiger Geist seine Festigkeit und Umsicht verlieren muß. Wie sollten Sie mit Ihrem einseitigen Geist, der die Explosivkraft des Pulvers hat und sich schon entzündet, noch ehe Sie sich davon überzeugt haben, was Wahrheit und was Lüge ist, wie sollten Sie da nicht die Orientierung verlieren? Sie werden verbrennen wie eine Kerze und auch andere mit sich in den Flammentod reißen ... Oh, wie tut mir mein Herz in diesem Augenblicke weh um Ihretwillen! Wie, wenn auch ich mitschuldig wäre? Wie, wenn auch meine Werke an Ihren Verirrungen teilhätten? Aber nein, wenn ich alle meine früheren Werke betrachte, so sehe ich, daß sie Sie nicht irreleiten konnten ... Als ich sie schrieb, hatte ich Ehrfurcht vor allem, wovor sich der Mensch beugen muß. Mein Spott und mein Haß galten nicht der Obrigkeit und nicht den höchsten Gesetzen unseres Staates, sondern ihrem Zerrbild, den Abweichungen, ihrer falschen Auslegung und den verkehrten Anwendungen. Nirgends habe ich über den Kern des russischen Charakters und die gewaltigen Kräfte, die in ihm schlummern, gespottet. Ich habe nur über das Kleinliche und Nichtige gespottet, das nicht zu seinen Charakterzügen gehört. Mein Fehler bestand darin, daß ich den Russen noch nicht deutlich genug charakterisiert, sein Wesen nicht völlig entfaltet, daß ich die tiefen Quellen, die in seiner Seele verborgen liegen, nicht aufgedeckt habe. Aber das ist keine leichte Sache. Wenn ich den Russen auch gründlich erforscht habe und wenn mir auch eine gewisse hellseherische Begabung dabei behilflich sein konnte, so war ich doch nicht durch mich selbst geblendet, meine Augen waren klar. Ich sah, daß ich noch nicht reif genug war, um den Kampf mit Ereignissen, die bedeutsamer und von höherer Art waren, als die, die bis dahin in meinen Werken vorkamen, und mit stärkeren Charakteren aufnehmen zu können. Alles konnte übertrieben und gewaltsam erscheinen. Und so geschah es auch mit diesem Buch, über das Sie so hergefallen sind. Sie haben es mit glühenden Augen betrachtet, und alles darin ist Ihnen in ganz anderem Lichte erschienen, als es in Wirklichkeit ist. Sie haben es nicht verstanden. Ich will mein Buch nicht verteidigen. Ich selbst habe es schlecht gemacht und mache es noch schlecht. Ich habe mich bei seiner Veröffentlichung einer Hast und Übereilung schuldig gemacht, die sonst nicht in meinem besonnenen und vorsichtigen Charakter liegt. Aber das Motiv war ehrlich. Ich wollte niemand mit dem Buch schmeicheln oder Weihrauch streuen. Ich wollte nur ein paar allzu stürmische Köpfe zur Besonnenheit mahnen, die im Begriffe waren, sich zu verirren und in diesen Strudel und diese Unordnung zu stürzen, in die plötzlich alle Dinge dieser Welt gestürzt waren, zu einer Zeit, wo der Geist in unserem Innern sich zu umnachten schien und gleichsam erlöschen wollte. Ich bin in Übertreibungen verfallen, aber ich versichere es Ihnen, ich habe es selbst nicht gemerkt. Eigennützige Ziele aber habe ich weder früher gehabt, als mich die Lockungen der Welt anzogen, noch viel weniger aber jetzt, wo es Zeit ist, daß ich an meinen Tod denke ... Ich wollte mir nichts dadurch erbetteln. Das liegt nicht in meiner Art. Gottlob, ich habe meine Armut liebgewonnen und würde sie niemals gegen jene Güter eintauschen, die Ihnen so verlockend erscheinen. Sie hätten doch mindestens daran denken sollen, daß ich keinen Winkel mein eigen nenne, ja ich bin sogar darum bemüht, meinen kleinen Reisekoffer möglichst zu erleichtern, damit mir der Abschied von der Welt nicht zu schwer wird. Sie hätten sich also hüten sollen, solche beleidigende Verdächtigungen gegen mich zu schleudern, die ich offen gestanden nicht einmal gegen den gemeinsten Schuft zu erheben den Mut gehabt hätte ... Sie entschuldigen sich damit, daß der Brief im Zustande heftiger Empörung geschrieben ist. Aber in welch einer Stimmung wagen Sie es, so respektlos von den wichtigsten Dingen zu reden?

Wie soll ich mich gegen Ihre Angriffe verteidigen, wenn Ihre Angriffe ihr Ziel verfehlen? — Nein, ein jeder von uns muß daran erinnert werden, daß sein Beruf heilig ist. — Er sollte daran denken, welch strenge Rechenschaft von ihm gefordert werden wird ... Aber wenn der Beruf eines jeden von uns heilig ist, so ist es vor allem das Amt dessen, dem die schwere und furchtbare Pflicht zugefallen ist, für Millionen zu sorgen. Ja wir müßten einander sogar an die Heiligkeit unserer Pflichten mahnen. Ohne dies würde der Mensch in rein materiellen Gefühlen versinken. — Oder glauben Sie, das wisse kein Mensch in Rußland? Sehen wir einmal genauer zu, woher das kommt. Rührt diese Neigung zum Luxus und diese furchtbare Häufung der Laster nicht daher, weil jeder sein eigenes Steckenpferd hat? Der eine guckt nach England, ein anderer nach Preußen, ein dritter nach Frankreich hinüber; der eine schwört auf die einen Prinzipien, ein anderer auf andere; der eine kommt uns mit dem einen Projekt, ein anderer mit einem anderen. Soviel Köpfe soviel Sinne ... Und da sollte es bei einer solchen Uneinigkeit keine Diebe und Gauner und kein Unrecht aller Art geben, wenn ein jeder sieht, daß sich uns überall Hindernisse in den Weg stellen, wo ein jeder nur an sich und daran denkt, wie er sich ein recht warmes Plätzchen verschaffen könnte? ... Sie sagen, Rußlands Heil liege in der europäischen Zivilisation; aber was ist das für ein unbestimmtes uferloses Wort? Wenn Sie doch wenigstens klar definiert hätten, was man unter dem Namen der europäischen Zivilisation verstehen soll! Dazu gehören sowohl die Phalanstère, die Roten und alle möglichen Kategorien anderer Leute, die allesamt bereit sind, einander aufzufressen, und die alle solch umstürzlerische destruktive Prinzipien haben, daß in Europa jeder denkende Kopf zittert und sich unwillkürlich fragt: wo ist denn nun unsere Zivilisation? Ein leeres Phantom hat die Gestalt dieser Zivilisation angenommen ...

Wo haben Sie ferner die Meinung hergenommen, daß ich einen Hymnus auf unsere Geistlichkeit gedichtet habe? Ich habe gesagt, die Predigt des Priesters der morgenländischen Kirche solle in seinem Leben und in seinen Taten bestehen. Und woher kommt dieser Geist des Hasses bei Ihnen? Ich habe sehr viel schlimme Pfarrer gekannt und kann Ihnen sehr viele komische Anekdoten über sie erzählen, aber dafür bin ich auch solchen Priestern begegnet, über deren heiligen Lebenswandel und über deren hohe Taten ich staunen mußte, und ich sah, daß sie Produkte unserer morgenländischen und nicht solche der abendländischen Kirche waren. Es ist mir also gar nicht eingefallen, einen Hymnus auf unsere Geistlichkeit zu singen, die unsere Kirche schändet, wohl aber auf die Geistlichen, die dazu beitragen, sie zu erhöhen.

Wie merkwürdig ist doch meine Lage, daß ich mich gegen Angriffe verteidigen muß, die sich alle gar nicht gegen mich und gegen mein Buch richten! Sie sagen, Sie hätten mein Buch angeblich hundertmal gelesen, während Ihre eigenen Worte davon zeugen, daß Sie es nicht ein einziges Mal gelesen haben. Der Zorn hat Ihre Augen umnebelt und trägt die Schuld, daß Sie nichts in seinem wahren Lichte gesehen haben. Hie und da leuchtet ein Funke von Wahrheit inmitten eines ungeheuren Haufens von Sophismen und unüberlegter jugendlicher schwärmerischer Verirrungen auf. Aber welcher Mangel an Bildung! Wie kann man es wagen, bei so einem geringen Fond von Kenntnissen von so großen Erscheinungen zu sprechen? Sie scheiden die Kirche vom Christentum, dieselbe Kirche und dieselben Priester, die durch ihren Märtyrertod die Wahrheit jedes Wortes, das aus Christi Munde kam, besiegelt haben, von denen Tausende durch das Messer und das Schwert des Mörders umkamen, für den sie beteten, bis sie schließlich ihre Henker ermüdeten, so daß die Sieger den Besiegten zu Füßen fielen und die ganze Welt sich zu ihrer Lehre bekannte. Und diese selben Priester, diese Bischöfe und Märtyrer, die das Heiligtum der Kirche auf ihren Schultern durch alle Fährnisse hindurchgetragen und gerettet haben, wollen Sie von Christus scheiden, indem Sie sie falsche Ausleger der Lehre Christi nennen! Wer kann denn dann heute Ihrer Ansicht nach Christus besser und genauer auslegen? Etwa die heutigen Kommunisten und Sozialisten, die da behaupten, Christus habe geboten, den Menschen ihr Eigentum wegzunehmen und die auszuplündern, die sich ein Vermögen erworben haben? Kommen Sie doch zur Besinnung — wohin sind Sie geraten? Sie erklären, daß Voltaire dem Christentum einen Dienst geleistet habe, und sagen, das sei jedem Gymnasiasten bekannt. Als ich noch auf dem Gymnasium war, habe ich selbst damals nicht für Voltaire geschwärmt. Ich war schon damals klug genug, um zu sehen, daß Voltaire ein gewandter Witzling, aber keineswegs ein tiefer Mensch war. Für einen Voltaire konnte weder ein Puschkin, noch ein Ssuworow schwärmen, wie überhaupt kein mehr oder weniger umfassender Geist. Voltaire ist trotz aller seiner glänzenden Aperçus immer nur der Franzose geblieben, der davon überzeugt ist, daß man lachend und scherzend von allen hohen Gegenständen sprechen kann. Von ihm kann man sagen, was Puschkin von den Franzosen im allgemeinen gesagt hat:

Der Franzos ist ein Kind,

Er stürzt geschwind

Einen Thron über Nacht,

Schafft Gesetz und Macht,

Ist schnell — wie der Blitz

Und leer wie der Witz.

Er reizt und macht,

Daß man staunt und lacht

— — — — — — —

Man kann nicht auf Grund einer oberflächlichen journalistischen Bildung über solche Gegenstände urteilen. Dazu muß man die Geschichte der Kirche studiert haben. Dazu muß man die ganze Geschichte der Menschheit verständnisvoll und mit Überlegung aus den Quellen selbst kennen lernen und nicht etwa aus modernen oberflächlichen Broschüren, die Gott weiß wer geschrieben hat. Dieses flache enzyklopädische Wissen zerstreut den Geist nur und konzentriert ihn nicht.

Was soll ich Ihnen auf Ihre schroffen Bemerkungen über den russischen Bauern sagen — Bemerkungen, die Sie mit so viel Selbstvertrauen und Sicherheit vorbringen, als ob Sie Gott weiß wie lange mit den Bauern zu tun gehabt hätten? Was soll ich dazu sagen, wenn doch Tausende von Kirchen und Klöstern, die das russische Land erfüllen und die nicht aus den Mitteln, die von den Reichen gestiftet, sondern aus den armseligen Groschen der Besitzlosen erbaut werden, eine so überzeugende Sprache sprechen! ... Nein, ein Mensch, der sein Leben lang in Petersburg zugebracht hat und es beständig mit leichten Zeitungsaufsätzen französischer Romanschreiber zu tun hat, die sich so in ihre Ideen verrannt haben, und der nicht merkt, in welcher verzerrten Form und wie töricht das Leben bei ihnen dargestellt ist, nein, ein solcher Mensch kann nicht über das Volk urteilen. Gestatten Sie mir auch zu bemerken, daß ich mehr Recht habe, über das russische Volk zu sprechen, als Sie. Alle meine Werke zeugen, nach der einstimmigen Überzeugung aller Leute, von einer gründlichen Kenntnis des russischen Wesens; sie sind die Schöpfungen eines Schriftstellers, der das Volk ernsthaft studiert und beobachtet hat und vielleicht schon die Gabe besitzt, sich in seine Lebensgewohnheiten hineinzuversetzen, was auch Sie in Ihren Kritiken zugestanden haben. Was aber wollen Sie zum Beweise Ihrer Kenntnis des russischen Wesens anführen? Was haben Sie geschrieben, woraus eine solche Kenntnis hervorginge? Das ist ein großer Gegenstand, und darüber könnte ich Ihnen ganze Bücher vollschreiben. Sie würden sich schämen, daß Sie den Ratschlägen, die ich einem Gutsbesitzer erteile, solch einen plumpen Sinn untergelegt haben. Diese Ratschläge mögen eine noch so geringe Bedeutung haben, sie enthalten jedenfalls keineswegs einen Protest gegen die Volksbildung ... sondern höchstens einen Protest gegen die Korruption des russischen Volkes durch die Literatur, während doch die Schriftkunde uns gegeben ward, um den Menschen zur höchsten Klarheit zu führen. Überhaupt erinnern Ihre Urteile über die Gutsbesitzer an die Zeiten Von-Wisins. Seit jener Zeit hat sich vieles, sehr vieles in Rußland verändert, und seitdem ist sehr viel Neues entstanden. Daß die Aufsicht und Autorität eines Gutsbesitzers, der die Universität besucht und folglich für vieles ein Gefühl hat, ... weit günstiger und vorteilhafter für die Bauern ist, ... wie es ja auch viele Gegenstände gibt, über die wir rechtzeitig nachdenken sollten, ehe wir mit dem himmelstürmenden Feuer des Jünglings oder Ritters darüber reden ... Überhaupt bemüht man sich bei uns weit mehr um die Änderung der Namen und der Ausdrücke, als um das Wesen der Sache ... Sie sollten sich schämen, in unseren Diminutiven, mit denen wir mitunter sogar unsere Freunde benennen, einen Ausdruck der Knechtung und Unterdrückung zu sehen. Auf solche kindische Folgerungen wird man geführt, wenn man eine falsche Ansicht von den wichtigsten und wesentlichsten Dingen hat.

Sodann bin ich auch über das kühne Selbstvertrauen und die Sicherheit erstaunt, mit der Sie erklären: „Ich kenne unsere Gesellschaft und den Geist, der sie beseelt.“ Wie kann man für dies sich jeden Augenblick verwandelnde Chamäleon einstehen? Durch welche Tatsachen können Sie beweisen, daß Sie die Gesellschaft kennen? Welche Mittel besitzen Sie dazu? Haben Sie etwa irgendwo in Ihren Werken bewiesen, daß Sie ein tiefer Kenner der menschlichen Seele sind? Sie, der Sie fast nie mit den Menschen und der Welt in Berührung kommen, der Sie das friedliche Leben eines Journalisten führen und stets nur mit Feuilletonartikeln beschäftigt sind, wie sollten Sie einen Begriff von jenem furchtbaren Schreckbilde haben, das uns durch unerwartete Erscheinungen in seine Falle lockt; geraten doch alle jungen Schriftsteller in diese Falle hinein, die über alles in der Welt und die ganze Menschheit reden, während es um uns herum genug Dinge gibt, um die wir uns kümmern sollten. Wir sollten zuerst einmal diese Aufgaben erfüllen, dann würde es der Gesellschaft schon ganz von selbst gut gehen. Wenn wir dagegen unsere Pflichten gegen die uns nahestehenden Menschen vernachlässigen und dem Wohl der Gesellschaft nachjagen, so geraten wir auf Abwege ... ebenso ... Ich bin in der letzten Zeit vielen vortrefflichen Menschen begegnet, die über diese Sache völlig die Orientierung verloren haben.

Viele denken, wenn sie sehen, daß die Gesellschaft sich auf einem Abweg befindet und daß die Dinge immer verworrener werden, daß man die Welt durch allerhand Reorganisationen und Reformen oder dadurch, daß man sie in dieser oder jener Weise umgestaltet, verbessern könne. Andere glauben, man könne mit Hilfe einer besonderen, recht mittelmäßigen Literatur, die Sie Belletristik nennen, erzieherisch auf die Gesellschaft wirken. Das sind Träume! Abgesehen davon, daß selbst die gelesensten Bücher daliegen, ohne Nutzen zu bringen ... sind auch die Früchte ... wenn überhaupt welche daraus erwachsen, ganz anderer Art, als der Autor glaubt; vielmehr sind sie häufig so beschaffen, daß er entsetzt vor ihnen zurückweicht ... Die Gesellschaft bildet sich von selbst, sie setzt sich aus Einheiten zusammen. Jede dieser Einheiten muß ihre Pflicht und Schuldigkeit tun ... Der Mensch muß eingedenk sein, daß er nichts weniger als ein Stück Materie, daß er kein Vieh ist, sondern ein hoher Bürger des hohen himmlischen Bürgerreichs, und so lange nicht ein jeder wenigstens zum Teil sein Leben dem Geiste dieses himmlischen Bürgerreichs entsprechend gestalten wird, wird es auch im irdischen Gemeinwesen keine Ordnung geben.

Sie sagen, Rußland hätte lange vergeblich gebetet. O nein, Rußland hat im Jahre 1612 gebetet und das Land vor den Polen gerettet; dann hat es 1812 noch einmal gebetet und das Land vor den Franzosen gerettet. Oder nennen Sie das beten, wenn ein Tausendstel aller Menschen betet und alle übrigen vom Morgen bis zum Abend bummeln und zechen ... wenn sie bei jeder Schaustellung dabei sind und ihre letzte Habe verpfänden, um nur allen Komfort zu genießen, den uns die europäische Zivilisation samt all ihren Torheiten beschert hat.

Nein, lassen wir diese Träume ... Lassen Sie uns ehrlich unsere Pflicht tun. Wir wollen uns bemühen, unsere Talente nicht in der Erde zu vergraben. Wir wollen unser Handwerk gewissenhaft ausüben. Dann wird alles gut gehen, und die Lage der Gesellschaft wird sich ganz von selbst bessern ... Die Gutsbesitzer werden auf ihre Güter zurückkehren. Die Beamten werden erkennen, daß man kein üppiges, verschwenderisches Leben zu führen braucht, und werden aufhören, Geschenke anzunehmen. Die Ehrgeizigen aber werden sehen, daß eine hohe Stellung weder mit einem hohen Gehalt, noch mit großen Geldeinnahmen verknüpft ist ... weder sie noch ich sind geboren ... Gestatten Sie mir, Sie an Ihre frühere Tätigkeit zu erinnern. Der Literat lebt für die Wahrheit. Er soll der Kunst ehrlich dienen und den Seelen dieser Welt Frieden und nicht Haß und Feindschaft einhauchen. Machen Sie den Anfang und fangen Sie noch einmal an, zu lernen! Studieren Sie die Dichter und Weisheitslehrer, die erzieherisch auf den Geist wirken. Die journalistische Tätigkeit laugt die Seele aus, man entdeckt plötzlich eine innere Leere in sich. Denken Sie daran, daß Sie nur eine oberflächliche Bildung genossen und nicht einmal die Universität beendigt haben. Machen Sie das durch die Lektüre großer Werke und nicht durch Beschäftigung mit modernen Broschüren wieder gut, die aus einem erhitzten Gemüt entspringen, das von der geraden gesunden Ansicht der Dinge ablenkt.

V.
Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle aufgefunden worden ist

Sie haben meine Worte über das Lesen und Schreiben ganz buchstäblich verstanden und ihnen einen zu engen, begrenzten Sinn untergelegt. Diese Worte waren an einen Gutsbesitzer gerichtet, dessen Bauern Landwirte sind. Es kam mir beinahe komisch vor, daß Sie aus diesen Worten den Schluß ziehen konnten, als wollte ich die elementare Volksbildung bekämpfen; als ob jetzt davon die Rede wäre — wo das doch eine Frage ist, die unsere Väter längst gelöst haben! Unsere Väter und Großväter haben, selbst wenn sie selbst Analphabeten waren, entschieden, daß die Elementarbildung etwas Notwendiges sei. Aber darum handelt es sich ja gar nicht. Der Gedanke, der mein ganzes Buch durchzieht, ist dieser: wie man erst die Menschen aufklären könne, die in nahem Verkehr mit dem Volke stehen, und dann erst das Volk selbst. Alle diese kleinen Beamten und Regierungsvertreter, die alle lesen und schreiben können und sich dabei doch soviel Mißbräuche zuschulden kommen lassen ... Glauben Sie mir, es ist viel notwendiger, daß wir die Bücher, die Ihrer Ansicht nach so nützlich für das Volk sind, für diese Leute herausgeben. Das Volk ist weit weniger verdorben, als diese ganze lese- und schreibkundige Gesellschaft. Dagegen Bücher für diese Leute herauszugeben, Bücher, die ihnen das Geheimnis offenbaren, wie man mit dem Volk und mit den ihnen anvertrauten Untergebenen umgehen muß — nicht in dem umfassenden Sinne, wie ihn die oft wiederholten Worte ausdrücken: „Stiehl nicht, sei rechtschaffen und ehrlich“ oder „Denke daran, daß deine Untergebenen ebensolche Menschen sind wie du“ — sondern, die sie belehren, wie man es anfängt, nicht zu stehlen, und daß das Recht wirklich eingehalten werde ...

VI.
Gogol an W. G. Bjelinski[9]

Ostende, den 10. August 1847.

Ich konnte nicht gleich auf Ihren Brief antworten. Meine Seele ist ganz matt, ich fühle mich in meinem tiefsten Inneren erschüttert. Ich kann wohl sagen, es gibt keine empfindliche Seite in mir, die nicht aufs schwerste getroffen war, noch ehe ich Ihren Brief erhalten hatte. Ich habe Ihren Brief beinahe in einem zustande völliger Gefühllosigkeit gelesen, trotzdem aber war ich nicht imstande, ihn zu beantworten. Und was hätte ich auch antworten sollen! Gott weiß, vielleicht enthalten Ihre Worte wirklich etwas Wahres. Ich will Ihnen nur sagen, daß ich gelegentlich meines Buches ungefähr fünfzig verschiedene Briefe erhalten habe, aber kein einziger gleicht dem anderen, es gibt keine zwei Leute, die dieselbe Ansicht über einen Gegenstand haben: was der eine verwirft, das behauptet der andere. Und doch gibt es auf beiden Seiten gleich edle und gescheite Menschen; die einzige nicht zu bezweifelnde Lehre, die ich aus alledem entnehmen zu können glaubte, war die, daß ich Rußland überhaupt nicht kenne, daß sich sehr vieles verändert hat, seit ich nicht mehr dort war, und daß man heute beinahe alles, was es dort gibt, von neuem kennen lernen muß, und daraus zog ich für meinen Teil folgenden Schluß: daß ich nichts mehr veröffentlichen und vor das Publikum bringen darf; weder lebendige Anschauungen meiner Phantasie, noch selbst zwei Zeilen aus irgendeinem Werk, solange ich nicht in Rußland war, eine Zeitlang dort gelebt und mich mit eigenen Augen von vielem überzeugt und vieles mit eigenen Händen befühlt haben werde. Ich sehe, daß viele, die mich beschuldigt haben, manches nicht zu kennen und manche Seiten des Lebens nicht berücksichtigt zu haben, selbst in vielen Punkten eine große Unkenntnis an den Tag legen und damit beweisen, daß sie selbst viele Seiten des Lebens nicht in Betracht gezogen haben. Nicht alle Klagen sind an unser Ohr gedrungen, und wir haben nicht alle Leiden in ihrer ganzen Schwere ermessen. Mir will es sogar so scheinen, daß nicht jeder von uns die gegenwärtige Zeit versteht, eine Zeit, in der der Geist völliger Disharmonie und Unordnung deutlicher als je zutage tritt. Wie dem auch sein mag, jetzt kommt alles zum Vorschein: jedes Ding will berücksichtigt sein, das Alte und das Neue fordern einander zum Kampfe heraus, und man braucht nur auf der einen Seite in Übertreibungen und Maßlosigkeiten zu verfallen, damit sich auch die andere Seite sofort derselben Übertreibungen und Maßlosigkeiten schuldig macht. Die gegenwärtige Zeit ist das Zeitalter besonnener vernünftiger Überlegung: ohne sich zu erhitzen, wägt sie alles ab und zieht sie alle Seiten der Dinge in Betracht, denn ohne dies ist es unmöglich, die rechte Mitte, das vernünftige Maß der Dinge kennen zu lernen. Sie verlangt von uns, daß wir Umschau halten mit dem vielseitigen Blick des Greises, und daß wir nicht mit dem heißen Draufgängertum der alten Ritter vorgehen. Diesem Zeitalter gegenüber sind wir reine Kinder. Glauben Sie mir, Sie und ich haben beide unsere Pflicht gegen unsere Zeit nicht erfüllt. Ich wenigstens bin mir darüber klar, aber sind auch Sie sich dessen bewußt? Ebenso wie ich die gegenwärtigen Dinge und viele Umstände übersehen habe, die ich hätte berücksichtigen müssen, ebenso haben auch Sie vieles übersehen; wenn ich mich zu sehr in mich selbst zurückgezogen habe, so haben Sie sich zu sehr zerstreut. Wie ich noch vieles kennen lernen muß, was Sie schon wissen und was ich nicht weiß, so müßten Sie wenigstens einen Teil davon kennen lernen, was ich weiß und was Sie zu Unrecht vernachlässigt und übersehen haben. Jetzt aber denken Sie vor allem an Ihre Gesundheit; vergessen Sie die modernen Probleme für eine Weile. Sie werden später mit größerer Frische und also auch mit größerem Nutzen für Sie selbst wie für die Probleme zu diesen zurückkehren. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß Ihnen jener Seelenfriede zuteil werde, der unser höchstes Gut ist, ohne den man nicht wirken und auf keinem Gebiete vernünftig handeln kann.

N. Gogol.

Nachtrag

Band VII und VIII
Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden

(Die wörtliche Übersetzung des Titels lautet: Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden.) Den Plan, eine Auswahl von Stücken aus seinem Briefwechsel herauszugeben, faßte Gogol bereits im Beginn des Jahres 1845; an die Ausführung seiner Idee ging er jedoch erst im April 1846 heran. Ehe er das Manuskript an Pletnjew absandte, unterzog er sämtliche Stücke, die er in Buchform herauszugeben gedachte, einer gründlichen Korrektur und Überarbeitung. Zu allererst wurde das VII. Kapitel: Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee. An W. M. Jasykow (Band VII, Seite 55 ff.) für den Druck umgearbeitet, redigiert und dann am 4. Juli 1846 an Pletnjew zur Veröffentlichung in dessen Zeitschrift gesandt. — Am 30. Juli desselben Jahres erhält Pletnjew von Gogol aus Schwalbach: Die Vorrede (Band VII, Seite 1 ff.) und die ersten sechs Stücke des „Briefwechsels“ zugeschickt. Zwischen dem 13. und 24. August folgen aus Ostende weitere sieben Aufsätze (Nr. 8-14, Band VII, Seite 73-149) und am 12. September neuen Stils — gleichfalls aus Ostende — nochmals sieben Kapitel (Nr. 15-21, Band VII, Seite 151-253). Am 26. September sendet Gogol Pletnjew aus Ostende ein viertes Heft mit neun Kapiteln (Band VII, Nr. 22-30, Seite 255-367). Am 3. Oktober neuen Stils schickt Gogol aus Frankfurt zwei Korrekturen zu dem Aufsatz: An einen hochgestellten Mann ein (Band VII, Nr. 28, Seite 323). Am 16. Oktober endlich erfolgt von Frankfurt a. M. aus die Absendung der beiden letzten Kapitel und einer Korrektur zum 10. Kapitel: Über das Lyrische bei unseren Poeten. An W. A. Schukowski (Band VII, Seite 85 ff.).

Die Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden erschien im Dezember des Jahres 1846. Die Unterschrift des Zensors ist vom 18. August 1846 datiert, bezieht sich jedoch wahrscheinlich nur auf das erste Heft; im Oktober ergaben sich Schwierigkeiten bei der Drucklegung: der Zensor wollte den Abdruck einzelner Partien und sogar ganzer Kapitel nicht gestatten; daher mußten fünf Briefe: Nr. 19, 20, 21, 26 und 28 (Band VII, Seite 203, 209, 227, 307 und 323) gänzlich wegfallen. Diese Kapitel, sowie die von der Zensur gestrichenen Partien erschienen später in der „Gesamtausgabe“ von Gogols Werken vom Jahre 1867, die von Tschischow veranstaltet wurde. Die von der Zensur beanstandeten Stellen stehen in unserer Ausgabe in eckigen Klammern.

Ferner bat Gogol selbst Pletnjew in einem Brief vom 16. Oktober 1846, „die ganze Stelle zu streichen, die von der Bedeutung der monarchischen Gewalt und ihrer weltlichen Erscheinungsform handelt, und durch den Abschnitt auf der letzten Seite des Heftes zu ersetzen“. Die neue veränderte Fassung des Textes beginnt mit den Worten: „Diese Bedeutung des Herrschers wird allmählich auch in Europa ...“ (Band VII, Seite 100, Zeile 3 v. o.) und schließt mit dem Satze: „daher nehmen ihre Töne einen biblischen Charakter an“ (Band VII, Seite 102, Zeile 3 v. o.). Wir lassen hier die umgearbeitete Stelle folgen, wie sie von Tschischow nach dem Manuskript nachträglich in seiner Gesamtausgabe der Werke Gogols abgedruckt wurde (Band III, Seite 374 bis 376): „Die souveräne Gewalt des Monarchen wird keineswegs an Bedeutung verlieren, sondern in dem Maße, wie die ganze Menschheit an Bildung zunehmen wird, nur noch wachsen. Je mehr jeder Beruf und Stand die ihm gesteckten gesetzlichen Grenzen einhalten wird und die gegenseitigen Beziehungen aller Menschen genauer bestimmt und normiert werden, um so deutlicher wird sich die Notwendigkeit einer höchsten Obergewalt herausstellen, die die ganze Macht der einzelnen Individuen in sich vereinigt und alle höchsten Vorzüge und Tugenden, die den Menschen geradezu Gott ähnlich machen, in Erscheinung treten läßt — jene höchsten kollektiven Attribute und Eigenschaften, die der einzelne Mensch nicht besitzen kann. Eine ganze Million wie einen Menschen liebgewinnen — das ist weit schwerer, als nur wenige unter dieser Million lieben; die Leiden aller Menschen so intensiv mitempfinden wie den Schmerz unseres liebsten Freundes und an die Rettung aller Menschen bis auf den letzten denken, wie man wohl auf die Rettung der eigenen Familie hofft, — das kann nur der in vollem Maße, dem dies zum unerschütterlichen Gebot gemacht ward und der da fühlt, daß er für die Verletzung dieses Gebotes vor Gott ebenso furchtbare Rechenschaft wird ablegen müssen, wie jedes einzelne Individuum für die Verletzung seiner Pflicht in seinem besonderen Wirkungskreis Rechenschaft geben wird. Wenn diese höchste leitende Obergewalt dahinfiele — so würde der menschliche Geist verarmen. Diese souveräne Herrschergewalt des Monarchen wird heute nur deshalb angezweifelt, weil ihre ganze Bedeutung weder den Herrschern noch den Untertanen aufgegangen ist. Die monarchische Gewalt — ist eine Torheit, wenn der Monarch nicht fühlt, daß er das Abbild Gottes auf Erden sein soll. Selbst wenn er noch so sehr das Gute will, wird er sich in seinen Handlungen nicht mehr zurechtfinden können, besonders bei der gegenwärtigen Ordnung der Dinge in Europa; sowie er jedoch zur Erkenntnis kommt, daß er die Aufgabe hat, den Menschen ein Abbild Gottes zu sein, wird für ihn alles klar und deutlich werden und wird auch Klarheit in sein Verhältnis zu seinen Untertanen kommen. Dann wird er sich nicht mehr einen Napoleon, einen Friedrich, einen Peter, eine Katharina oder einen Ludwig zum Muster nehmen, wie überhaupt keinen von den Fürsten, denen die Welt den Namen des Großen beilegt, und deren Bestimmung es war, infolge der zeitlichen Verhältnisse und Umstände außer der königlichen Würde auch noch die Rolle eines Feldherrn, Neugestalters oder Reformators auf sich zu nehmen, kurz nur eine einzelne Seite glanzvoll in sich zu verkörpern, was die unbedeutenderen Nachahmer irreleitet und so viele Fürsten in Versuchung führt. Er wird sich vielmehr die Handlungen Gottes selbst zum Vorbild nehmen, die aus der Geschichte der Menschheit so vernehmbar zu uns reden und die noch deutlicher in der Geschichte des Volkes in Erscheinung treten, das Gott dazu auserwählt hatte, von Ihm Selbst regiert zu werden, um den Königen zu zeigen, wie regiert werden muß. Und wie wahrhaft göttlich hat Er regiert! Wie verstand Er es, Sein Volk mehr denn alle anderen Völker zu lieben! Mit welch väterlicher Liebe lehrte und unterwies Er es und mit welch himmlischer Geduld wartete Er auf seine Wandlung und Besserung. Wie ungern erhob Er Seine strafende Geißel wider Sein Volk! Wie beeilte Er Sich Selbst dann noch nicht, als die Gottlosigkeit und die Sünden des Volkes zum Himmel schrien, es zu strafen, sondern sprach: ‚Ich will Selbst zur Erde hinabsteigen und zusehen, ob das Unrecht und die Sündhaftigkeit wirklich so groß sind!‘ Und wer war es, der so sprach? Der Allwissende, für alles Sorgende, der die Könige dieser Erde zur Vorsicht und Behutsamkeit mahnt! Wie Er ja auch Seine Strafen nicht deshalb verhängte, um den Menschen zu vernichten, den zu vernichten ja gar nicht schwer ist, sondern um ihn zu erretten, weil es sehr schwer ist, ihn zu erretten, und um seine gefühllose Natur durch eine starke Erschütterung und ein Weckmittel aufzurütteln, ihm die ganzen Schrecken des Zieles, dem er in seiner Unwissenheit zustrebt, vor Augen zu führen und ihn dadurch zu mahnen, daß es noch Zeit wäre, an seine Rettung zu denken! Wie Er ja auch, da Er die unbestechliche sieghafte Macht Seiner unüberwindlichen Wahrheit und Gerechtigkeit kannte, alles tat, auf daß der schwache und ohnmächtige Mensch ihr nicht unterliege: sandte Er ihm doch Seine Propheten, daß sie erfüllt von Liebe zu ihren Brüdern und, nachdem sie eine Sprache gefunden, die den Menschen verständlich war, sie zur Besinnung brächten; Er, der sich entschloß, da Er endlich sah, daß alles vergeblich war, daß nichts sie zur Vernunft bringen könne und daß es kein Mittel gäbe, die Menschen Seiner unabwendlichen Gerechtigkeit zu entziehen, Sich Selbst für alle zum Opfer zu bringen, um den Preis eines solchen Opfers noch Seine Gerechtigkeit zu besiegen und den Menschen zu beweisen, daß eine solche Liebe höher ist, denn alles, was es gibt, daß sie an sich selbst die höchste himmlische Gerechtigkeit ist! Alles ward von Gott gesagt für den, der vor den Menschen in sich selbst Sein Abbild zur Darstellung bringen will, hat Er ihn doch gelehrt, wie er handeln soll. Um aber die Könige zu unterweisen, wie sie sich gegen Ihn Selbst, den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren, verhalten sollen, schenkte Er ihnen die Vorbilder der von Ihm Selbst gesalbten Könige David und Salomo, die mit ihrem ganzen Sein in Gott lebten, wie in ihrem eigenen Hause und die in ihrem Königstume das weise Zusammenwirken zweier Mächte — der geistlichen und weltlichen — verkörperten, und zwar in der Weise, daß nicht bloß keine von beiden die andere störte und hemmte, sondern daß sie sich gegenseitig noch stärkten und befestigten. So enthält das heilige Buch Gottes eine vollkommene Definition des Monarchen, dieses völlig von uns isolierten Wesens, dem auf Erden eine so schwere Aufgabe zuteil ward: nachdem er alles vollbracht, was jedes Menschen Aufgabe ist, und Christus in seinem ganzen Tun und Handeln bis in die kleinsten Einzelheiten seines Alltagslebens gleichgeworden ist, zu alledem auch noch in den erhabensten Äußerungen seiner Tätigkeit gegenüber allen Menschen Gott Vater gleich zu werden. In diesem Buche ist eine vollkommene Definition des Monarchen enthalten, die man nirgends sonst findet. Auf diese Definition ist noch keiner der europäischen Rechtsgelehrten gekommen, bei uns aber haben die Dichter etwas von ihr geahnt und vernommen, daher nehmen ihre Töne auch einen biblischen Charakter an.“

Der ursprüngliche Text der Aufsätze und Privatbriefe Gogols an seine Freunde, die in dem „Briefwechsel“ Aufnahme fanden und erst nach einer durchgreifenden Reinigung und Umarbeitung zur Veröffentlichung an Pletnjew gesandt wurden, stammt aus den verschiedensten Zeiten der Periode von 1843-1846, und zwar ist die Zahl der Stücke um so geringer, je mehr wir uns der ersten Hälfte des Jahres 1843 nähern. Von den Briefen dieser Epoche hat Gogol nur sehr wenige der Aufnahme in die Ausgewählten Stellen aus seinem Briefwechsel für würdig erachtet. Aus dem Jahre 1843 stammen die ersten Entwürfe folgender Artikel:

1) Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen (Band VII, Nr. 5, Seite 43) und

2) Die drei ersten Briefe über die Toten Seelen (Band VII, Nr. 18, Seite 175).

Aus dem Jahre 1844 stammen folgende Aufsätze und Briefe:

1) Diskussionen. Aus einem Briefe an L***. (Band VII, Nr. 11, Seite 111.)

2) Liebt unser russisches Vaterland. Aus einem Briefe an den Grafen A. T. (Band VII, Nr. 19, Seite 203.) Dieses Stück stammt aus der zweiten Hälfte des Jahres 1844.

3) Etwas über die Bedeutung des Worts. (Band VII, Nr. 4, Seite 35.) Diese Betrachtung ist wahrscheinlich Ende Oktober des Jahres 1844 niedergeschrieben.

4) Wie man den Armen helfen soll. Aus einem Briefe an A. O. Sm—rn—wa. (Band VII, Nr. 6, Seite 49.) Ist gegen Ende des Jahres 1844 niedergeschrieben.

5) Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit. Zwei Briefe an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 15, Seite 151.) Der erste Brief ist vom 2. Dezember, der zweite vom 26. Dezember 1844 datiert.

6) An einen kurzsichtigen Freund. (Band VII, Nr. 27, Seite 317.)

Aus dem Jahre 1845 stammt der erste Entwurf folgender Stücke:

1) Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee. An N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 7, Seite 55.) Ein Brief, der zu Beginn des Jahres geschrieben ist.

2) An einen hochgestellten Mann. (Band VII, Nr. 28, Seite 323.) Die Idee zu diesem Schreiben rührt vom Ende des Jahres 1844 her. Niedergeschrieben wurde es im Februar und März des Jahres 1845.

3) Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und von der Einseitigkeit überhaupt. An den Grafen A. P. T... (Band VII, Nr. 14, Seite 129) — ist im März und April 1845 niedergeschrieben.

4) Lernt Rußland kennen. Aus einem Briefe an den Grafen P. T. (Band VII, Nr. 20, Seite 209) — stammt aus derselben Zeit (oder vom Ende des Jahres 1845?).

5) Mein Testament (Band VII, Nr. 1, Seite 9) stammt aus dem Juli(?) 1845.

6) Über ländliche Pflege und Gerichtsbarkeit (Band VII, Nr. 25, Seite 301).

7) Wessen Los auf Erden das beste ist. Aus einem Briefe an U. (Band VII, Nr. 29, Seite 359.)

Mehr als die Hälfte der Briefe, die in die „Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden“ aufgenommen wurden, stammen aus dem Jahre 1846. In einem Brief aus diesem Jahre schreibt Gogol an Schewyrjow: „Während dieser schweren Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere seelische Leiden gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen Briefwechsel zu unterhalten, wie ich ihn bisher noch nie geführt habe. Und wie mit Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen nahestehen, eine Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie alle wandten sich, wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und verlangten Rat und Hilfe von mir“ (vgl. Band VII, Seite 163 ff.). „Während der letzten Zeit“, fährt Gogol fort, „kam es sogar vor, daß ich Briefe von Menschen erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und daß ich ihnen Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte erteilen können.“ Am meisten von Krankheit gequält war Gogol in den ersten zwei Monaten des Jahres 1846; dies war auch sonst eine sehr schwere Zeit für ihn. Gogol arbeitete während dieser Monate intensiv an der „Auswahl aus dem Briefwechsel“. „Gleichzeitig brauchte er eine Kur, machte er Reisen, war er von schweren Sorgen gequält und mußte sich um Dinge kümmern, von deren Schwierigkeit seine Freunde keine Ahnung hatten.“ Zugleich aber mußte er zahlreiche, sehr verschieden geartete Briefe erwidern, die nicht in leichtfertiger, sondern in wohlüberlegter Weise beantwortet sein wollten. Höchstwahrscheinlich erfolgte die Antwort auf einzelne Briefe vor der Öffentlichkeit, d. h. in der „Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden“, und es wäre vergeblich, nach dem ursprünglichen Text der Briefe, die unmittelbar an die Fragesteller gerichtet waren, zu forschen. „Auf Ihren langen Brief“, schreibt Gogol im Jahre 1846 an die Gräfin ***, „... antworte ich ... nicht nur keineswegs in aller Heimlichkeit, sondern wie Sie sehen, in einem gedruckten Buche, das vielleicht von der Hälfte aller Menschen in Rußland, die da lesen können, gelesen werden wird“ (vgl. Band VII, Seite 309 ff.). Die an Schewyrjow gerichteten Briefe aus der „Auswahl“ waren unter den Papieren Schewyrjows nicht zu finden, wahrscheinlich hat er sie auch erst gelesen, als sie bereits gedruckt in Buchform vorlagen. Es ist daher heute noch für den größten Teil der Briefe vom Jahre 1846, die in der „Auswahl“ enthalten sind, kaum möglich, die chronologische Reihenfolge genau festzustellen, ebensowenig wie sich zurzeit die Frage beantworten läßt, ob schriftliche Antworten auf die an Gogol gerichteten Fragen vorliegen. In den Papieren Schewyrjows wurde nicht ein Brief Gogols aus dem Jahre 1846 gefunden, der in die Auswahl aus dem Briefwechsel usw. aufgenommen wurde.

Aus dem Jahre 1846 stammen folgende Briefe und Aufsätze der „Auswahl“:

1) Über das Lyrische bei unseren Poeten. An W. A. Schukowski. (Band VII, Nr. 10, Seite 85.) Dieses Stück wurde 1845 niedergeschrieben und 1846 nochmals umgearbeitet.

2) Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei den heutigen Zuständen in Rußland sein kann. (Band VII, Nr. 24, Seite 291.) Dieses Stück stammt etwa aus dem September dieses Jahres und scheint unmittelbar für den Druck bestimmt gewesen zu sein.

3) Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit. Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T. (Band VII, Nr. 8, Seite 73) und

4) Über denselben Gegenstand. Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T. (Band VII, Nr. 9, Seite 79.) 3 und 4 stammen aus der ersten Hälfte des Jahres 1846.

5) Der Historienmaler Iwanow. An M. Ju. Weligurski. (Band VII, Nr. 23, Seite 271.) Dieser Brief, der im Februar oder März dieses Jahres an den Grafen W. abgesandt wurde, wurde nachträglich, d. h. im August oder September, nochmals für den Druck umgearbeitet.

7) Karamsin. Aus einem Briefe an N. M. Jasykow. (Band VII, Nr. 13, Seite 123.) Der erste Entwurf dieses Briefes ist am 5. Mai 1846 niedergeschrieben.

8) Über die Aufklärung. An W. A. Schukowski. (Band VII, Nr. 17, Seite 167.) Stammt aus dem Juni und Juli dieses Jahres.

9) Was eine Gouverneursgattin ist. An Fr. A. O. S. (Band VII, Nr. 21, Seite 227.) Der erste Entwurf dieses Briefes stammt aus der zweiten Juli-Hälfte des Jahres 1845, er wurde am 4. Juli 1846 in neuer verbesserter Fassung an Frau A. O. Smirnowa gesandt und endlich im September 1846 und 1847 für die Drucklegung nochmals umgearbeitet.

10) Rußlands Schrecken und Grauen. An die Gräfin *** (Band VII, Nr. 26, Seite 307) ist zu Beginn des August 1846 niedergeschrieben.

11) Wesen und Eigenart der russischen Poesie. (Band VII, Nr. 31, Seite 369.) Dieser Aufsatz wurde „während dreier Epochen“ geschrieben, er ist 1836 oder 1843 (?) begonnen und im September 1846 für die Drucklegung vollendet.

12) Die Frau in der vornehmen Welt. An Frau ***. (Band VII, Nr. 2, Seite 21.)

13) Der Christ schreitet vorwärts. An Schtsch—w. (Band VII, Nr. 12, Seite 117.)

14) Ratschläge. An S. P. Schewyrew. (Band VII, Nr. 16, Seite 161.)

15) Der vierte Brief über die Toten Seelen. (Band VII, Nr. 18, IV, Seite 199.)

16) Der russische Gutsbesitzer. An B. N. B. (Band VII, Nr. 22, Seite 255.) Die Originalmanuskripte der letzten fünf Briefe sind unbekannt. Wahrscheinlich sind diese Stücke gleich für die „Auswahl“ geschrieben. Der erste Brief wurde am 30. Juli druckfertig abgesandt, der zweite am 13. (25.) August, der dritte und vierte am 12. September neuen Stils, der fünfte am 26. September.

Die Vorrede (Band VII, Seite 1 ff.) zur „Auswahl“ stammt aus dem August des Jahres 1846.

Der Aufsatz: Auferstehungstag (Band VII, Nr. 32, Seite 447) trägt kein Datum.


Der Brief an Arkadius Ossipowitsch Rosetti (Band VIII, Nr. 1, Seite 1) ist in Neapel geschrieben und wurde am 15. April 1847 abgesandt.

Über den „Zeitgenossen“; (Sowremennik); (Band VIII, Nr. 2, Seite 11), ein Brief an P. A. Pletnjew, ist vom 4. Dezember 1846 datiert.

Die Beichte des Dichters (Band VIII, Nr. 3, Seite 33) ist im Mai 1847 begonnen und noch in demselben Jahre vollendet.

Der Brief an W. A. Schukowski (Band VIII, Nr. 4, Seite 101) wurde am 10. Januar 1848 (den 29. Dezember 1847) aus Neapel an Schukowski gesandt.

Die Betrachtungen über die Heilige Liturgie (Band VIII, Nr. 5, Seite 115 ff.) wurden im Januar und Februar des Jahres 1845 in Paris konzipiert und in der ersten Fassung noch vor der Abreise nach Jerusalem (d. h. vor dem Januar 1848) vollendet. Nachträglich wurden sie noch bis zum Jahre 1852 mehrfach umgearbeitet[10].

Hans Küchelgarten. Dieses Jugendwerk Gogols wurde wahrscheinlich bereits während seiner Schulzeit konzipiert und begonnen. Bald nach Gogols Ankunft in St. Petersburg (1828) ließ er das Werk unter dem Pseudonym W. Alow drucken und gab es den Buchhändlern in Kommission. Es wurde teils gar nicht beachtet teils wie z. B. von Polewoi offenkundig abgelehnt.

Beilage I-IV. Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski. (Band VIII, Seite 369.)

Dieser Briefwechsel mit dem berühmten russischen Kritiker Wissarion Bjelinski bildet eine wichtige Ergänzung zu der „Auswahl“, da er ein helles Licht auf die Stimmung wirft, aus der dieses Werk entsprungen ist, und weil er geeignet ist, Gogols Ziele und Absichten, die er mit dem Buche verfolgte, schärfer zu beleuchten und ein Bild von der Wirkung zu geben, die der Briefwechsel auf die Zeitgenossen ausübte. Die „Auswahl aus dem Briefwechsel“ bezeichnet einen Wendepunkt in Gogols Leben, das von diesem Augenblick an mit unheimlicher Schnelligkeit der Katastrophe zutreibt. Bald nach dem Erscheinen des ersten Bandes der „Toten Seelen“ setzt jene innere Krise ein, die so verhängnisvoll für Gogols Schaffen und sein persönliches Schicksal werden sollte. Der Zweifel an dem Zweck und Sinn des Dichterberufs, insbesondere an der Berechtigung seines eigenen dichterischen Stils steigert sich allmählich bis zu einer selbstquälerischen Melancholie, die das ganze menschliche Tun einseitig in den Blickpunkt der religiösen Zielsetzung einstellte. Der religiös-sittliche Zweck allein darf Inhalt und Wesensart der dichterischen Produktion bestimmen. Damit nimmt Gogols Schaffen immer mehr jenen didaktischen Charakter an, wie er so deutlich in dem Briefwerke zum Ausdruck kommt. Das Entwerfen von Mustern sittlicher Größe und Schönheit, Belehrung und Erziehung werden nun zu den höchsten Aufgaben des Dichters. Zugleich aber drängt sich immer kräftiger jener rückwärtsgewandte Zug zu einer passiven, heteronomen sittlichen Lebensauffassung vor, die in der demütigen Unterwerfung unter die gottgewollten Bindungen, in ihrer fügsamen Hinnahme den Sieg der Tugend und damit die Selbsterlösung aus der Wirrnis und den Unzulänglichkeiten der menschlichen Zustände erblickt. Diese Geistesstimmung konnte den „Briefwechsel“ zu dem Grundbuch des rückständigen Rußland machen, zu dem Arsenal aller reaktionären Ideologien, die auf alle folgenden Generationen, so z. B. noch auf Dostojewski, bis in die neuere und neueste Epoche fortwirkten. Gegen diese Tendenzen richtete sich schon zu Gogols Zeit der stürmische Protest der europäisch gesinnten russischen Jugend, wie er aus dem von wundervoller Leidenschaft durchpulsten Brief Bjelinskis zu uns spricht. Dieser Brief wird sicherlich Gogol nicht gerecht. In seinem prachtvollen Empörungsausbruch übersieht Bjelinski die radikalen Konsequenzen, die sich aus Gogols Standpunkt ergeben und für die der Zensor ein feineres Verständnis zeigte, als er nicht unbeträchtliche Teile aus dem „Briefwechsel“ herausstrich, ebenso wie Bjelinski die tiefen inneren sittlichen Probleme des menschlichen und künstlerischen Gewissens verkennt, die in diesem Werk ihren Ausdruck finden. Und doch liegt in dieser Ungerechtigkeit zugleich eine höhere geschichtliche Gerechtigkeit. In einer von freudigen Hoffnungen kommender großer Ereignisse erfüllten Zeit, die schon den großen Frühlingssturm des Jahres 1848 vorausahnte und sich auf ihn rüstete, mußte Gogols Predigt als ein Produkt dunkelster Reaktion, als das Werk eines finsteren rückwärtsdrängenden Geistes erscheinen.

Die Empörung über das Buch war allgemein, nicht allein bei den sogenannten Westlingen und den radikalen Slawophilen, sondern selbst bei Gogols nächsten Freunden, die über den hochmütigen lehrhaften Ton, den Gogol hier angeschlagen hatte, ungehalten waren. 1847 veröffentlichte Bjelinski im zweiten Heft des „Sowremjennik“ (Zeitgenossen) eine außerordentlich ungünstige Kritik, die sich zwar aus Zensurrücksichten eines maßvollen Tones befleißigte, aber Gogol, der bisher in Bjelinskis Kritiken nur begeisterter Zustimmung begegnet war, aufs tiefste verletzte. Da er sich den Grund zu Bjelinskis ablehnendem Urteil nicht erklären konnte, war er geneigt, ihn auf persönliche Motive zurückzuführen, wie dies aus Gogols durch die Rezension hervorgerufenem Schreiben an Bjelinski deutlich hervorgeht.

Bjelinski befand sich um diese Zeit auf Veranlassung seiner Freunde in Salzbrunn, wo er eine Kur gegen die Schwindsucht brauchte. An einem Julitag des Jahres 1847 setzte er sich hin und verfaßte jenen berühmten Brief (Band VIII, Seite 361), der eine so große Rolle in dem geistigen Freiheitskampf Rußlands gespielt hat.

Dieser Brief ist das Manifest des revolutionären Rußland geworden. Zwei weltgeschichtliche Gegensätze stoßen hier in heftigem Zusammenprall aufeinander. Europäertum und konservatives Altrussentum halten hier ihre große Abrechnung. Licht, Sonne, Heiterkeit, Klarheit, freie Selbstbestimmung auf der einen, Dumpfheit, Enge, Gebundenheit, Autorität auf der anderen Seite sind die Losungen, um die in diesem Briefwechsel gekämpft wird. Und es unterliegt keinem Zweifel, auf wessen Seite der Sieg sich neigt. Die Wirkung des Briefes war unbeschreiblich. In tausend Abschriften wanderte er von Hand zu Hand, und bald gab es in den entlegensten Provinzen, wie Asksakow schreibt, keinen Schullehrer, der den Brief nicht auswendig kannte. In allen oppositionellen Konventikeln wurde er mit Begeisterung gelesen und heimlich weiterverbreitet. Bloß der Tod (Bjelinski starb am 28. Mai 1848) rettete den Autor vor der Rache des Despotismus. Mußten doch zahlreiche junge Leute, darunter auch Dostojewski, wegen dieses Schreibens nach Sibirien wandern, lediglich weil sie der Polizei nicht von dessen Existenz Mitteilung gemacht hatten. So kämpfte in diesem Brief der Geist des verstorbenen Bjelinski noch nach seinem Tode tapfer weiter fort, wenn auch zunächst noch mit geschlossenem Visier. Lange war der Brief in Rußland gänzlich verboten. Alexander Herzen veröffentlichte ihn zum erstenmal in seinem in London erscheinenden „Polarstern“. Danach wurde er im Auslande und endlich 1872 auch in Rußland auszugsweise unter Weglassung der schärfsten Stellen nachgedruckt. Der vollständige Abdruck im Jahre 1906 in der Bibliothek Swetotsch (Die Fackel) durch Wengerow bezeichnet einen neuen Abschnitt in der Geschichte des Briefes und zugleich eine neue Epoche in der russischen Revolution.

Chronologische Tabelle der Werke Gogols

Die Zahl des Bandes, in dem die einzelnen Schriften erschienen sind, steht in eckigen Klammern hinter der Jahreszahl.

Hans Küchelgarten (um 1828) [VIII]
Abende auf dem Gutshof bei Dikanka    
I. Teil 1831 [III]
Abende auf dem Gutshof bei Dikanka    
II. Teil 1832 [III]
Arabesken 1834 [VI]
Mirgorod, Teil I und II 1834 [IV]
Über die Strömungen der Zeitschriftenliteratur der Jahre 1834-1835 1835 [VI]
Der Revisor 1836 [V]
Die Equipage 1836 [IV]
Die Nase 1836 [II]
Petersburger Skizzen 1837 [VI]
Italienische Sommernächte 1839 [VI]
Szenen aus einer unvollendeten Komödie — Der Morgen eines vielbeschäftigten Herrn — Der Prozeß — Das Vorzimmer — Fragment 1832-1842 [V]
Eine Heiratsgeschichte 1833-1842 [V]
Die Toten Seelen, I. Teil 1835-1842 [I]
Die Spieler 1836-1842 [V]
Nach dem Theater 1836-1842 [V]
Das Porträt 1837-1842 [II]
Der Mantel 1839-1842 [II]
Rom 1839-1842 [VI]
Auswahl aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden 1846 [VII u. VIII]
Die Beichte des Dichters 1846 [VIII]
Betrachtungen über die Heilige Liturgie 1845-1848 [VIII]
Brief an Schukowski 1848 [VIII]
Die Toten Seelen, II. Teil 1845-1852 [II]

Inhalt des siebenten Bandes

Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden I Seite
Vorrede 1
I Mein Testament 9
II Die Frau in der vornehmen Welt 21
III Die Bestimmung der Krankheiten 30
IV Etwas über die Bedeutung des Wortes 35
V Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen 43
VI Wie man den Armen helfen soll 49
VII Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee 55
VIII Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit 73
IX Über denselben Gegenstand 79
X Über das Lyrische bei unseren Poeten 85
XI Diskussionen 111
XII Der Christ schreitet vorwärts 117
XIII Karamsin 123
XIV Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und von der Einseitigkeit überhaupt 129
XV Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit 151
XVI Ratschläge 161
XVII Über die Aufklärung 167
XVIII Vier Briefe an verschiedene Personen über die „Toten Seelen“ 175
XIX Liebt unser russisches Vaterland 203
XX Lernt Rußland kennen! 209
XXI Was eine Gouverneursgattin ist 227
XXII Der russische Gutsbesitzer 255
XXIII Der Historienmaler Iwanow 271
XXIV Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei den heutigen Zuständen in Rußland sein kann 291
XXV Über ländliche Rechtspflege und Gerichtsbarkeit 301
XXVI Rußlands Schrecken und Grauen 307
XXVII An einen kurzsichtigen Freund 317
XXVIII In einen hochgestellten Mann 323
XXIX Wessen Los auf Erden das beste ist 359
XXX Ein Geleitspruch 363
XXXI Wesen und Eigenart der russischen Poesie 369
XXXII Auferstehungstag 447

Inhalt des achten Bandes

Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden II Seite
An Arkadius Ossipowitsch Rosetti 1
Über den „Zeitgenossen“ (Sowremjennik) 11
Die Beichte des Dichters 33
An W. A. Schukowski 101
Betrachtungen über die Heilige Liturgie 115
Einleitung 121
Das Offertorium (Proscomidia) 125
Die Liturgie der Katechumenen 145
Die Liturgie der Gläubigen 169
Schluß 217
Jugendschriften 223
1834 225
Über eine Geschichte der kleinrussischen Kosaken 231
Zwei Kapitel aus der kleinrussischen Erzählung „Der schreckliche Eber“ 235
I Der Lehrer 237
II Der Erfolg der Gesandtschaft 251
Das Weib 263
Fragmente  
Gedichte und poetische Versuche 275
Sturm 277
Albumblatt 279
Hans Küchelgarten 283
Beilage: Aus Gogols Briefwechsel mit Bjelinski  
I Gogol an Bjelinski 349
II Aus einem Briefe Gogols an N. I. Prokopowitsch 355
III Bjelinskis Brief an Gogol 361
IV Gogol an Bjelinski 381
V Fragment aus demselben Brief, das an einer anderen Stelle aufgefunden worden ist 395
VI Gogol an W. S. Bjelinski 399
Nachtrag 405

Berichtigungen

Zu Band V, Seite 479, Zeile 5 von unten: Prozeß. Das Bedientenzimmer usw. statt Bedientenzimmer lies Vorzimmer (Die Bedientenstube).

Seite 480, Zeile 2 von unten statt Die Bedientenstube lies Das Vorzimmer (Die Bedientenstube).

Zu Band VI, Seite 538, Zeile 6 statt 1835 lies 1836.

Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt

Fußnoten

[1] Getrocknete Rückensehne vom Stör, die in Rußland zur Füllung von Backwerk verwendet wird. Anm. d. Hersg.

[2] Auf mein Testament hätte man sich nicht berufen dürfen: in einem solchen beurteilt man sich sehr streng, weil man sich rüstet, vor das Angesicht Des Richters zu treten, vor Dem kein Mensch bestehen kann.

[3] Alle anderen Leser, die den Wunsch hegen, auch die geheimnisvolleren und tieferen Erklärungen kennen zu lernen, können solche in den Werken der Patriarchen: Hermann, Jeremias, Nikolaus Kawassil, Simeon von Saloniki, in der Alten und Neuen Tafel, in den Kommentaren Dimitrijews und endlich in einzelnen ... finden.

[4] Tschassy.

[5] Diskos.

[6] Vergl. Band 7: Von der Odyssee.

[7] Hierauf erwiderte Prokopowitsch: „Mir scheint, du bist sehr im Irrtum, wenn du glaubst, daß Bjelinski seinen Aufsatz geschrieben hat, weil er deine Ausfälle gegen die Journalisten im allgemeinen auf sich bezogen hat. Ich kenne Bjelinski schon lange und kann nicht anders, als fest davon überzeugt sein, daß er nie eine Zeile geschrieben hat, um sich für eine persönliche Kränkung zu rächen.“

[8] Von diesem Brief ist nur das ursprüngliche Konzept vorhanden. Es umfaßt zwei auf Briefpapier geschriebene Hefte in Oktavformat. Beide Hefte wurden von Gogol in Stücke gerissen, so daß jedem Heft ungefähr zehn Blätter entsprachen. Der russische Herausgeber hat die einzelnen Stücke wieder aneinander gelegt und den ursprünglichen Wortlaut nach Möglichkeit durch entsprechende Ergänzungen und Einschaltungen wiederherzustellen gesucht. Die fehlenden Stellen sind durch Punkte ersetzt.

[9] Dieser Brief stellt Gogols Antwort auf Bjelinskis oben mitgeteiltes Schreiben dar. Es ist offenbar ein zweiter Brief, den Gogol an Stelle des oben abgedruckten ersten, später in Stücke gerissenen, geschrieben hat.

[10] 1911 ist eine deutsche Übersetzung von K. von Mickwitz in Rendsburg (Heinrich Möller Söhne) erschienen, die dem Herausgeber bei der vorliegenden Ausgabe, besonders für die Ermittlung der Bibelzitate, wertvolle Dienste geleistet hat.

Die bibliographischen Anmerkungen und Lesarten zu den bisher aufgeführten Schriften sind der Ausgabe von Tichonrawow und Schenrock entnommen.

Anmerkungen zur Transkription

Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht verändert.

Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt, teilweise unter Verwendung der russischen Originaltexte (vorher/nachher):