Title: Die Pharisäer
Author: Michael Wirth
Release date: July 15, 2018 [eBook #57516]
Language: German
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Ein Beitrag
zum
leichtern Verstehen der Evangelien und zur Selbstprüfung
von
Michael Wirth,
K. B. Professor am Lyceum zu Regensburg.
Ulm, 1824.
In der Stettin’schen Buchhandlung.
Ich sage euch, wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so könnet ihr nicht eingehen in das Himmelreich.
Matth. V, 20.
Schatten erhöhet die Wirkung des Lichtes. Unser verherrlichter Erlöser strahlt uns noch unendlich milder und menschenfreundlicher aus den Evangelien entgegen, wenn wir ihn den düstern Schatten des Reiches der Finsterniß gegenüberstellen.
Diese Schatten, welche die Glorie unseres Herrn erhöhen, sind die Pharisäer. In ihnen wird aber auch uns ein zurückschreckendes Bild aufgestellt, welches vor Heuchelei, die in Gottes Augen ein Greuel ist, kräftig warnt.
Lassen wir uns von Christus erleuchten und beleben, von den Pharisäern Abscheu vor Heuchelei einflößen, dann singen Gottes Boten wieder: „Ehre sei Gott in der Höhe, Frieden auf Erden!“
Dieß ist der hohe Zweck, zu dessen Erreichung der Verfasser vorliegender Schrift sein Scherflein beitragen möchte.
In einer Zeit, in welcher Selbstsucht, Eigennutz, Falschheit, Tücke, Frömmelei mehr als je zum tiefsten Schmerz und Schrecken der Freunde thatenreicher Religiosität kühn ihr Haupt erheben, thut es wahrlich noth, darauf aufmerksam zu machen, daß[1] „die Menschen auf das sehen, was in die Augen fällt, daß aber der Herr das Herz ansieht.“
Geschichte belehret am besten, und beleidiget am wenigsten, besonders heilige Geschichte. Darum machte der Verfasser es sich zur Aufgabe, nur die Gesinnungen, Lehren und Thaten der Pharisäer nach seinen Kräften deutlich darzustellen, ohne alle Rück- und Seitenblicke, welche anstößig werden könnten.
Sollten deß ungeachtet dem Verfasser hämische Absichten angedichtet oder gar aufgezwungen werden, so ist seine einzige Waffe gegen solche Zumuthungen — sein Bewußtsein vor Gott, daß er keinen Stand und keine Person ansah, sondern nur auf Belehrung und Besserung jedes Einzelnen Bedürftigen bedacht war.
Einzig aus dieser Absicht muß man es erklären, wenn hie und da eine starke Sprache geführt, oder[VI] an Satyre streifende Züge angebracht werden. Alles sollte angewendet werden, was die Heuchelei in ihrer ganzen Abscheulichkeit darstellen konnte.
Gelehrter Prunk von Citaten, zu denen es an Gelegenheit nicht fehlte, wurde vorsätzlich vermieden, weil dem Kenner die Quellen nicht verborgen sind, aus denen geschöpft wird, und weil dem Nichtkenner, der es unschuldig sein kann, nichts damit geholfen ist. Wahrheitsliebe war mein Leitstern; absichtlich trat ich nicht aus der geraden Bahn.
Der, welcher der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, gebe seinen Segen zu der schwachen Bemühung
des Verfassers.
Den 29. Nov. 1823.
Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteige, welchen ein Weib nahm und in drei Schäffel Mehl verbarg, bis es ganz durchsäuert war. (Matth. XIII. 33.)
Vor Allem hütet euch vor dem Sauerteige der Pharisäer, das ist, vor Heuchelei. (Luc. XII. 1.)
Also das Evangelium wirket wie ein Sauerteig, und die Heuchelei wirket wie ein Sauerteig! Zwei so verschiedene Dinge unter Einem Bilde; und doch so natürlich! DasS. 2 Evangelium ist von Gott dazu bestimmt, die ganze Menschheit und jeden einzelnen Menschen zu durchdringen zur Sinnesänderung und Heiligung, wie der Sauerteig die ganze Masse durchwirket. Wer dem Evangelium kein Gehör giebt, in dem bringen die verderblichen Lehren des Weltgeistes in umgekehrter Ordnung dieselbe Wirkung hervor. Alle Theile des geistigen Lebens werden vom sündhaften Sauerteige erfüllt und verdorben. Dazu ist nichts mehr geeignet, als Heuchelei. Mit Recht bezeichnet daher Jesus die Lehren und Thaten derselben als das wahre Anti-Evangelium, indem er für beide dasselbe Bild beibehält, aber einmal die Licht- und dann die Nachtseite desselben zeigt. Sollte sein Zeugniß uns nicht aufmerksam machen, daß wir uns in Acht nehmen vor den Besuchen eines so gefährlichen Gastes, der anfangs nur einenS. 3 kleinen Winkel im Hause sich erbittet, bald aber die ganze Wohnung verpestet? Oder wenn er unser Herz bereits in Besitz genommen hat, sollten wir uns nicht beeilen, ihn so schnell als möglich zu vertreiben, und die Wohnung wieder zu reinigen?
Da bedürfen wir aber vor Allem einer eben so tiefen, als genauen Kenntniß der Heuchelei. Wir müßen zuerst das Wesen und den Grundcharakter derselben zu erfassen suchen; dann kann eine genaue Beschreibung ihrer Gestalt, ihrer Mienen, Gebehrden, Reden, Thaten, Wendungen und Krümmungen uns in den Stand setzen, die leisesten Spuren dieses Krebsschadens des Christenthums zu entdecken, zu verfolgen und zu vertilgen.
Woher sollen wir diese Einsicht in das Wesen der HeucheleiS. 4 nehmen? Der Geist des göttlichen Wortes wird uns auch hier auf dem sichersten und kürzesten Wege zum erwünschten Ziele leiten. Folgen wir mit Demuth und Vertrauen diesem besten Führer!
In der heiligen Schrift wird Gott überall dargestellt als der Lebendige — in sich selbst und für alle Wesen.
Dieses Leben offenbart sich auf eine doppelte Weise — als Wahrheit und Liebe in unendlicher Vollkommenheit und Einheit. In Gott ist Wahrheit auch zugleich Leben und Liebe, und umgekehrt. Nur der menschlichen Schwäche zeigt er sich bald in vorwaltender Wahrheit, bald in überwiegender Liebe.
Gottes Wort ist das Leben, welches von Anfang beimS. 5 Vater war, und uns erschienen ist, aber auch vor, bei und nach seiner Erscheinung sich ausgesprochen — durch göttliche Lehre den Menschen sich geoffenbart, durch göttliche Thaten sich erwiesen hat.
„Dein Wort ist die Wahrheit,“ sagt Christus betend zum Vater. Gottes Wort, wie es die heilige Schrift enthält, ist kein Menschenwort, d. i. „kein Licht ohne Wärme.“ „Das Wort Gottes ist lebendig,“ und beweiset sein Leben an allen Glaubigen durch Belebung. Durch Auge und Ohr dringt es zum Herzen, erregt und öffnet dasselbe höhern Einflüssen, die vom „Lebendigen“ ausgehen, und Licht und Leben mittheilen.
Darum wird auch in der heiligen Schrift Erkennen und Lieben als gleichbedeutend genommen.S. 6 Von der innigsten Verschmelzung zweier Menschen in einer Liebe des ehelichen Bundes eben so, wie von der geistigsten Vereinigung in Liebe mit Gott wird derselbe Ausdruck gebraucht. (Matth. I., 25. Joh. X., 14–15.) Doch wohl ein sprechender Beweis, daß nach Gottes Sinn Erkennen und Wollen, Wissen und Thun, Wahrheit und Liebe Ein Leben bilden.
In und vor Gott giebt es also keine Wahrheit, die bloß Gedanke, bloßes Erkennen ist, und ohne Einfluß auf das Leben bleibt. Deßwegen spricht Christus vom Thun, d. i. vom Ausüben der Wahrheit; vom Leuchtenlassen des Lichtes, damit die Menschen unsere guten Werke sehen. In der That ein gottähnliches Verhältniß der Wahrheit und Liebe im Menschen!
Wer sich auf diesen Standpunct erhoben hat, den wird es nicht mehr befremden, daß durch göttliche Wahrheit im Menschen sich eine Seelenstimmung, ein Charakter ausbilde, den wir nicht besser bezeichnen können, als mit Wahrhaftigkeit. Diese ist der unverwandte Blick des Geistes nach der Erkenntniß der Wahrheit, die gerade, unverrückbare Richtung des liebenden Herzens nach Verwirklichung derselben, der getreue Abdruck derselben im Leben des Menschen.
Ein Leben in Wahrheit durch Liebe ist „ewiges Leben“, und macht das Innerste und Tiefste und Höchste im Menschen aus — sein eigentliches Wesen, seine Gottähnlichkeit.
Darum werden auch bei einem Menschen, in welchem sich Wahrheit mit Liebe gepaart und zur WahrhaftigkeitS. 8 ausgebildet hat, alle Handlungen natürlich; denn aus der wahren Erkenntnis, welche zugleich Liebe ist, geht eine Handlungsweise hervor, welcher der Mensch gerne, immer und unter allen Umständen getreu bleibt; welcher der nicht zuwider handeln kann, weil er nicht will; von welcher endlich alle Nebenabsichten, alles Gepränge, alle Ziererei, alle fromm sein sollenden Schnörkel, alle Einseitigkeit, Engherzigkeit, Sonderbarkeit &c. schlechthin ausgeschlossen ist und bleibt.
„Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens nur Gutes hervor“ — nicht halb Gutes, nicht verblümtes verkleistertes, vergoldetes Gutes, noch weniger Böses; denn von alle diesem ist nichts darin.
„Ein guter Baum kann nurS. 9 gute Früchte bringen;“ es wirkt kein schlechter Saft in ihm. Aber er thut dabei nur, was seine Natur mit sich bringt; und er thut es stille, geräuschlos, ohne besonderes Aufsehen. So auch der gute, der in Liebe wahrhaftige Mensch! Ihm ist es eben so natürlich, mit Freiheit die Wahrheit zu thun, als es dem Lichte natürlich ist, zu leuchten. Beide verfahren dabei kunstlos; das Licht thut es, weil es nicht anders kann; der gute Mensch kann nicht anders, weil er nicht anders will.
Selig sind, die eines solchen reinen Herzens sind!
Aber es giebt auch eine Kehrseite dieser Sache. Nicht selten trifft man Menschen, welche „einen bösen Schatz in ihrem Herzen“ tragen; Menschen, welche Jesus mit schlechten Bäumen vergleicht. Sie können keine gute Früchte bringen,S. 10 weil sie nicht wollen. Woher dieses? —
Wahrhaft und wirklich entgegengesetzt ist der Wahrheit weder der bloße Mangel derselben, noch der Irrthum oder Schein das Wahren, sondern die Lüge, als positive, wirkliche, freiwillig erzeugte Unwahrheit.
Mit dem Geiste der Lüge ist der Geist der Wahrheit schlechterdings unvereinbar; beide sind und bleiben ewige Feinde.
Wenn sich aber Wahrheit mit Liebe paart, so fordert es die Natur der Sache, daß mit der Lüge nur der Haß einen innigen, treuen Bund schliessen könne.
Ein Leben in Lüge durch Haß ist „ewiger Tod“, ist satanische Existenz. — Auch diesem Zustande kann der Mensch sich nähern.
Doch treten die Gegensätze der wahrhaftigen Liebe und der gehässigen Lüge nicht immer so rein ins Leben. Vielmehr berühren sich auch hier die Extreme, und es entsteht eine Mischung ungleichartiger Dinge, so daß
a) Wahrheit und Wahrhaftigkeit in ihrer Reinheit getrübt und durch einen Zusatz von Lüge entstellt werden;
b) Lüge und Lügenhaftigkeit dagegen ihre Natur zu verändern scheinen, und einen täuschenden Anstrich von Wahrheit erhalten.
Bei der ersten Art von Mischung liegt offenbar Schwäche des Geistes zum Grunde, die sich durch falsche Ansichten und unreine Beweggründe irre leiten läßt. Nicht so bei der zweiten Art; da lauert die Tücke im Hintergrunde, welche gar wohlS. 12 fühlt, daß das Böse, welches im Innern hauset, sich nicht so geradezu in seiner Nacktheit und grellen Farbe zeigen dürfe, sondern daß es sich klug und gewandt in die einnehmende Maske des Guten hüllen müsse, um nicht sogleich beim ersten Anblicke zurückzustoßen.
Beide Arten bezeichnet unser Erlöser mit Einem Worte, und nennt sie Heuchelei.
Diese hat also zwei Hauptseiten, nach welchen sie sich in tausend Gestalten ausbildet. Es liegt eben so sehr in ihrer Natur,
das Wahre und Gute aus lügenhaften Gründen und bösen Absichten, als die Lüge und Bosheit unter dem Scheine der Wahrheit und Liebe auszuüben.
Eine unausbleibliche Wirkung dieses Geistes der Heuchelei ist es, daß das Aeußere zur HauptsaS. 13che, das Innere zur Nebensache wird. Religion und Tugend verwandeln sich in eitles Gepränge, das weder vom Herzen kommt, noch zu demselben dringt.
Anbetung des Vaters, der Geist ist, in Wahrheit und Liebe des Geistes kann also mit Heuchelei schlechterdings nicht bestehen; eben so wenig ächte, lebendige Nächstenliebe. Damit fällt aber auch das Evangelium und der wahre Glauben an dasselbe. Wo die Wucherpflanze der Gleißnerei den Boden bedeckt, da kann der Glauben, die Pflanze des himmlischen Vaters, nicht gedeihen; „ohne Glauben aber ist es unmöglich; Gott zu gefallen.“ Glauben ist der Grund- und Eckstein des Tempels der Liebe, in welchem Seligkeit thronet und ewiges Leben.
Schon David eifert gegen heuchlerischen Gottesdienst. Aber schwerlich ist dieses Uebel erst zu seiner Zeit entstanden; es ist die giftige Frucht des Saamens, welchen der „Vater der Lüge und des Mordes“ schon im Anfang ausstreute. Ueber dieses Gewächs spricht sich Gott so aus: „Höre mein Volk! Ich rede, ich zeuge selbst an dich, Israel! Gott bin ich, dein Gott. Nicht deiner Opfer wegen straf’ ich dich; mir wallt ja stets hinauf der Opfer Rauch. — Ess’ ich denn Fleisch der Stiere? Trink’ ich der Böcke Blut? Opfere du nur Dank der Gottheit; erfülle nur, was du dem Herrn gelobt! Rufe mich an in deiner Noth; ich errette dich, und du sollst mich preisen!“
Warum tadelt Gott die Opfer, für die er den Ort und die Weise selbst bestimmt, die er aber nicht als nothwendig verlangt hatte? Warum dringtS. 15 er so sehr auf Religion des Herzens? Man höre: „Zum Gottlosen spricht der Herr: Was schwätzest du von meiner Lehre; führest meinen Bund in deinem Munde, da du doch Belehrung hassest, und meinen Ausspruch wegwirfst? Siehest du einen Dieb, sogleich bist du sein Freund; mit Ehebrechern hast du Umgang. Du lässest Bosheit nur aus deinem Munde; Arglist schmiedet deine Zunge. Du sitzest zu Gericht, und bist selbst ein Verläumder deines Bruders; bist bereit, insgeheim zu fällen deiner Mutter Sohn. Dieß thust du. Schwieg’ ich nun, so dächtest du, Ich sei wie Du!“ (Psalm L.)
Wie mußte Jehova die fetten Opfer solcher Menschen ansehen, an denen sie es gewiß nicht fehlen ließen? — —
Noch schärfer ist die Rüge der Heuchelei, welche der Herr durch denS. 16 Mund des Propheten Jesajas ergehen ließ: „Aus voller Kehle rufe! Halt dich nicht zurück! Erhebe, der Trompete gleich, die Stimme! Thue meinem Volke seine Missethat, und Jakobs Hause seine Sünde kund! — Zwar suchen sie mich Tag für Tag, und zeigen Lust, zu kennen meine Wege; gleich einem Volke, das recht gehandelt, und seines Gottes Vorschrift nicht verletzt, verlangen sie von mir Gerechtigkeit, und nähern sich der Gottheit dreist. Wir fasten, und warum siehst du es nicht? Warum merkest du es nicht, daß wir uns quälen? — Sehet! da ihr fastet, folgt ihr euerm Willen, und dränget alle eure Schuldner. Ihr fastet nur zum Streit und Hader, um euch mit ungerechter Faust zu schlagen. O fastet forthin so nicht mehr! Laßt nichtS. 17 mehr Himmelan erschallen eure Stimme! Ist das ein Fasten, wie ich es liebe, wenn einen Tag der Mensch sich quälet; wenn er sein Haupt, wie Schilfrohr, senkt, und sich auf Sack und Asche legt? Dieß nennest du ein Fasten; dieß einen Tag, Jehova angenehm? Das ist ein Fasten, wie ich es liebe: Der Bosheit Ketten lösen, befreien von der Bürde Last, loslassen die Gefesselten und jedes Joch zertrümmern. Brich Hungerigen dein Brod! Die armen Flüchtlinge nimm auf ins Haus! Den Nackten, den du siehst, bekleide, und dem, der deines Fleisches ist, entziehe dich nicht! Dann bricht dein Licht wie Morgenrot hervor.“ (Jes. LVIII, 1–8.).
Alle Wahrheit wird nach der heiligen Schrift bestätiget durch zweierS. 18 oder dreier Zeugen Aussage; darum soll Jeremias die Reihe der Zeugen Gottes gegen die Heuchler schliessen. Bei ihm steht geschrieben: „Höre, Erde! Ich will über dieses Volk Unglück bringen, die Frucht seiner Rathschläge, weil es auf meine Worte nicht gemerket, und mein Gesetz verschmähet hat. Wozu mir der Weihrauch, der von Saba, und der beste Kalmus, der aus fernem Lande kommt? Eure Brandopfer gefallen mir nicht, und eure Opfer sind mir nicht angenehm. — Verlasset euch nicht auf die lügenhafte Rede derer, die sprechen: Jehova’s Tempel, Jehova’s Tempel, Jehova’s Tempel sind diese (Gebäude)! — Sehet! ihr verlasset euch auf lügenhafte Reden, die euch nicht helfen werden. Wollet ihr stehlen, morden, ehebrechen, falsch schwören, dem Baal räuchern, andern Göttern, die ihr nicht kennet,S. 19 nachlaufen, und dann kommen, und in diesem Tempel, der meinen Namen führet, vor mein Angesicht treten, und sagen: Wir werden gerettet werden — damit ihr alle diese Greuel fortsetzet? Ist denn dieser Tempel, der meinen Namen führt, in euren Augen eine Mördergrube? — Wie könnet ihr sprechen: Wir sind weise? haben das Gesetz Jehova’s! Fürwahr, in Lügen hat es der trügerische Griffel der Schriftgelehrten verwandelt. Die Weisen werden beschämt, bestürzt und gefangen werden. Das Wort Jehova’s haben sie verschmähet, und welche Art Weisheit bleibt ihnen übrig?“ (Jerem. VI, 19–20. VII, 4. 8–11. VIII, 8–9.).
Es gab also schon Heuchler vor den Pharisäern, so wie sie mit dem Erlöschen dieser Secte nicht ausgestorben sind. Aber wie entstunden die Pharisäer? Ihr Wesen ist Symbol ihrer Geschichte; diese liegt so im Dunkeln, daß man nicht einmal den Ursprung und Anlaß ihrer Benennung weiß, obwohl sich dieser Orden erst in dem Zeitraum zwischen der Wiedererbauung der Stadt und des Tempels und der Ankunft unseres Herrn bildete.
Die ersten Anläße mögen noch unschuldig genug gewesen sein. Sie scheinen in der bis zur Aengstlichkeit gestiegenen Strenge in Beobachtung und Einschärfung aller auch der kleinsten Dinge des Gesetzes ihren Grund zu haben. Je trauriger die Erfahrungen waren, welche man in dem Exil gemacht hatte, desto sorgfältiger war man darauf bedacht, der Nachlässigkeit in der Gesetzeserfüllung und derS. 21 Gleichgültigkeit gegen Gottes Wort, als den Hauptursachen alles Unglückes, entgegen zu arbeiten. Esra und Nehemia waren hierin mit rühmlichem Eifer vorangegangen; allein in ihrem Geiste wurde nicht fortgefahren. Immer pünktlicher und schärfer bestimmte kleingeistige Aengstlichkeit alle Formen, Gebräuche, Tage und Stunden &c. nur zu bald und zu leicht übersah man bei dieser gesetzlichen Frömmigkeit die Besserung des Herzens, die Mitwirkung reiner, heiliger Gesinnungen; man war mit dem Aeußern zufrieden, und kümmerte sich wenig um das Innere. Dazu trug die Art von Schriftauslegung, welche eben um diese Zeit aufkam, nicht wenig bei. Freilich, wer wird es tadelhaft finden, daß die Lehrer der wiederhergestellten Nation auf alle Weise und durch alle tauglichen Mittel das Ansehen der heiligen Schriften zu sichern, ihren Sinn genau zu bestimmenS. 22 bemühet waren? Wer wird es ihnen zunächst verargen, wenn sie alte Sagen, Ueberlieferungen von Gebräuchen und Auslegungen zu diesem Behufe sammelten? Allein dabei blieben die Nachfolger nicht stehen; diese erhoben die Mischna — Sammlung von Lehren und Ueberlieferungen der Alten — zu gleichem Ansehen mit den heiligen Schriften, wollten alle Schrifterklärung nach diesem Maaßstabe geregelt wissen, und verbanden dann, um das Verderben zu vollenden, auch noch chaldäisch-babylonische und andere asiatische Lehren von guten und bösen Geistern, von Seelenwanderung, von Engeldienst, magischen Künsten &c. damit. Unmöglich war es, Entstellung und Verfälschung des wahren Sinnes bei der Schriftauslegung unter solchen Umständen zu vermeiden; und welche Folgen hatte dieß wieder für Religion und Sittlichkeit?
Allerdings fand das strenge Bestehen auf dem äussern und öffentlichen Bekenntnisse des Judenthumes einen wichtigen Entschuldigungsgrund in den grausamen Verfolgungen des Antiochus und in dem schändlichen Hange vieler Schwachen und Verkehrten in Israel zu griechischem Götzendienste. Allein diese Zeiten und Umstände dauerten nicht immer, und konnten es nicht rechtfertigen, wenn man dann aus Abneigung und Haß gegen Heidenthum und Heiden schon in der blossen äusserlichen Gesetzerfüllung etwas Verdienstliches sah, und sich vor dem Heiden glücklich pries, obwohl das Innere um nichts besser war.
Aus solchen Elementen entwickelte sich der Pharisäismus allmählich im Laufe der Zeit. Endlich erstarkte er so, daß er sich absondern, als eigene Secte darstellen und durch Kleidung und ihre Verzierung selbst demS. 24 Auge kenntlich machen konnte. Von jetzt an war der Einfluss dieser Parthei mächtig, und nur die Sadducäer konnten denselben beschränken, doch nur im Politischen. Auf Religiosität und Sittlichkeit des großen Haufens wirkte die blendende Außenseite dieser Frömmler über alle Vorstellung. Zwar fanden sich noch edle Männer unter ihnen; die Evangelisten nennen Nikodemus und Joseph; allein sie vermochten den Strom nicht aufzuhalten, um so weniger, da sie als Mitglieder des Ordens in den meisten Dingen den Uebrigen sich gleich stellen mußten.
Wundern wird man sich also nicht mehr, warum Jesus gegen die Pharisäer so schonungslos verfuhr; warum sein göttlicher Eifer entbrannte ihren Lehren und Thaten gegenüber, wenn man auch nur das reif und besonnen überlegt, was die heilige Schrift vom Wesen der Heuchelei uns gelehretS. 25 hat. Aber staunen muß man über die langmüthige Liebe und über den hohen Ernst, womit unser Erlöser unabläßig daran arbeitete, den verborgenen Krebsschaden dieser Leute, wo möglich noch zu heilen oder wenn dieses durch ihre eigene Schuld nicht mehr angieng, denselben zur Warnung für Mit- und Nachwelt unverholen aufzudecken. Möge das Werk des Herrn an uns nicht verloren gehen!
Gottes Wort ergieng an Johannes, Zacharias Sohn, in der Wüste“ — und er trat auf, plötzlich, unerwartet, kräftig, wie sein Vorbild, Elias.
Das Volk strömt an den Jordan, sieht, höret, bewundert, staunet, wird erschüttert von dem Donner des nahen Gottesgerichtes, läßt sich taufen zur Sinnesänderung.
Der Ruf von ihm dringt in die Hauptstadt, erregt die Neugierde, wird Tagsgespräch. Viele machen sich auf, eilen an den nicht zu entfernten Fluß, um die neue Erscheinung mit eigenen Augen zu sehen. Manche kommen gerührt und gebessert zuS. 28rück, Andere nicht; Alle erzählen von einem Manne — „angethan mit einem Kleide aus Kameelhaaren, einem ledernen Gürtel um seine Lenden; von einem Manne, der Heuschrecken und wilden Honig genießt.“ Der Inhalt seiner Predigt sey: „Aendert euern Sinn; denn das Himmelreich ist nahe!“
„Und das römische noch näher!“ — so mochte mancher eifrige Pharisäer dem Erzähler antworten — „Wozu ein himmlisches Reich, so lange das Volk Gottes unter dem römischen Joche schmachtet? Buße ist unnöthig; denn wir dienen weder Baal noch Astaroth, wie unsere Väter. Frei sollen wir sein; wer uns Befreiung verkündiget, oder noch lieber, bringt, der ist unser Prophet.“
Für Leute von solchem Sinne hatte Johannes zu wenig politisches Interesse, um gleich Anfangs ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zu dem war man in diesen unruhigen Zeiten an sonderbare Auftritte ziemlich gewöhnt.
Bei Vielen unter dem Volke hatte aber doch der Gott dieser Welt die Herzen noch nicht so verdüstert, daß sie unfähig gewesen wären, einzusehen, der Täufer habe Gottes Wort und das Zeugniß ihres Gewissens für sich, wenn er sie um ihrer Lieblosigkeit, Habsucht und UngeS. 29rechtigkeit willen als zur Strafe reif betrachte. Er selbst war über jeden Tadel dieser Art erhaben, und bestätigte seine Lehre mit seinem Beispiele. Daher die großen Wirkungen seines Wortes.
Darin zeichnen sich alle Männer Gottes vor den Menschenkindern so sehr aus, daß sie hohe Würde mit reiner Demuth so unvergleichlich in sich vereinigen. Auch Johannes trägt dieses Siegel Gottes an sich.
Als eine heilsame Furcht vor einem nahen Gerichte die Nation durchdrungen, und die freudige Hoffnung des kommenden Gottesreiches in Vielen einen bessern Sinn angeregt hatte; als das Volk Schaarenweise an den Jordan strömte, um sich taufen zu lassen: da fanden es Pharisäer und Sadducäer rathsam, den Gang dahin ebenfalls zu thun. Was bewog sie denn dazu? Ohne Zweifel hatte Neugierde großen Antheil an diesem Schritte. Doch eben so viel wenigstens mochte die Sucht, beym Volke etwas zu gelten, beitragen; sie wollten, wenigstens die Pharisäer, nicht die Letzten seyn, die sich bei dem neuen Propheten einfanden. Im Hintergrunde aber lag noch eine geheime Furcht vor göttlichen Strafen, die sich ihrer bei der allgemeinenS. 30 Erschütterung unwillkührlich bemächtigte, weil ihr Gewissen gegen sie zeugte. Endlich trieb sie Neid und Eifersucht an, die Absicht des neuen Lehrers kennen zu lernen, der so viel Aufsehen erregte, und so großen, für sie kränkenden Beifall fand.
Wer sieht sie nicht kommen? Mit gemessenem Schritte in Achtung gebietender Haltung, das Gesicht in frömmelnde Falten verzogen, im Blicke eine Mischung von Kriecherey und Stolz — so schreiten die Herren durch das Volk, und treten vor den Täufer. Dieser aber entdeckte bald die Wölfe, welche sich in Schaafspelze verkrochen hatten. Ohne sich durch ihre Gegenwart und durch ihre hohen Mienen im geringsten schrecken zu lassen, behauptete er sein Ansehen als Prophet und machte von dem Rechte, das ihm der göttliche Auftrag gab, einen so nachdrücklichen Gebrauch, daß sie das ganze Gewicht seiner beschämenden Strafrede unangenehm genug zu fühlen bekamen. Er zeichnet ihren Charakter von der schlimmsten Seite mit Einem Zuge: „Natternbrut!“ Damit deutet er auf das Gift ihrer Lehre, auf die Tücke ihres Herzens, auf die Gefahr für gute Menschen von ihrer Seite, auf ihre schlaue Furchtsamkeit, welche er sogleich noch besonders, aber gar nicht zu ihrer Empfehlung heraushebt. Mit Gottes Allmacht schlägt er ihre falschenS. 31 Schlüsse: „Wir haben Abraham zum Vater;“ also sind wir Gottes Volk, und folglich Erben des Reiches mit dem Messias. Die Hauptsache war in ihren Augen, als Jude geboren — beschnitten — erzogen zu sein; der Zustand des Herzens wurde wenig berücksichtiget. Sie pochten auf Aeußerlichkeiten und auf einen religiösen Ahnenstolz, ohne eigenen Werth zu haben. War dieß nicht die gefährlichste, verderblichste Heuchelei?
Mit dieser gewaltigen Kraft, mit diesem überwiegenden Ansehen, eines Elias würdig, steht in wunderbarem Kontraste die Bescheidenheit und Demuth, mit welcher er vor dem Volke, das ihn für den Messias zu halten geneigt war, unaufgefordert erklärte: Zum Messias verhalte er sich wie der geringste Sklave zu seinem Herrn; seine Kraft reiche an die des Stärkern nach ihm so wenig, als reinigendes Wasser an läuterndes und belebendes Feuer.
Vergleiche den großen, demüthigen, edeln Johannes mit den hochfahrenden, kriechenden, listigen Pharisäern — und lerne!
Mit nichts kann man den Heuchler gewisser zur unversöhnlichsten Rache aufreiS. 32zen, als durch Aufdeckung seines Innern. Dieß erfuhr auch der Täufer. Er hatte den geheimen Stolz der Pharisäer aufs empfindlichste gekränkt; denn sie bildeten sich auf ihre Frömmigkeit und Gottseligkeit nicht wenig ein. Darum sannen sie darauf, wie sie ihm die erlittene Schmach siebenfach vergelten könnten. Leidenschaft macht scharfsinnig; und so fanden sie bald ein treffliches Mittel, ihren Zweck zu erreichen. Johannes hatte sein Amt ohne Wissen und Wollen des Synedriums angetreten; er handelte und lehrte eigenmächtig, wie ein Prophet, ohne seine göttliche Sendung durch ein Wunder zu beweisen; konnten die Väter des Volkes da nicht mit vollem Rechte die Frage aufwerfen: Ob Johannes auch nur ein Prophet sey? Schwerlich war ihnen in diesem Augenblicke eine Vorschrift des Gesetzes erwünschter, als die, welche ihnen das Recht gab die Ansprüche auf die Prophetenwürde zu untersuchen. Welch’ ein blendendes Aushängeschild für ihren Racheplan! Dabei nahmen sie ihre Maaßregeln so, daß es weder an gesetzlichen Formen, noch an feierlichem Pompe fehlen sollte. Sie beschlossen, eine förmliche Deputation von Priestern und Leviten — an den JordanS. 33 zu schicken, und dem Täufer öffentlich eine kurze und bestimmte Erklärung über sein Vorhaben und Benehmen abzufordern.
Man müßte für Johannes zittern, wenn die Pharisäer an ihm ihres Gleichen vor sich gehabt hätten. Allein wer seiner guten Sache gewiß ist; wer mit reinem Herzen der Wahrheit aus Gottes Munde huldiget; wer mit redlichem Sinne den Menschen zugethan ist, der vereitelt solche Ränke entweder geradezu durch sein einfaches, schlichtes Reden und Thun, oder wenn er unterliegt, so ist selbst sein Tod ein neuer Sieg für die Wahrheit, welche triumphierend aus seinem Grabe aufersteht. Der Täufer gerieth nicht in ihre Schlinge. Vielmehr setzte er ihrer Schlauheit wahre Klugheit, ihrer Verstellung arglose Aufrichtigkeit, ihrem Stolze ungekünstelte Demuth entgegen; er behandelte sie, als Gesandte des Synedriums, mit der ihrem Range gebührenden Achtung; machte ihnen nicht den leisesten Vorwurf; antwortete auf jede Frage bescheiden, kurz und wahr; rechtfertigte seine Predigt und Taufe mit einer Stelle des Jesaias, fügte eine eigene Weissagung dazu — und ließ sie unverrichteter Dinge mit einem Stachel im Herzen abziehen, ohne daß sie Scham oder Verdruß sich durften ansehen lassen.
Wer es beherzigen will, wird hier lehrreiche Winke darüber finden, theils wohin Heuchelei führe, theils wie man derselben am besten begegnen könne und soll.
Was werden sich die abgeschickten Priester und Leviten nicht eingebildet haben auf dem Wege? Wer sie gekannt hätte, der hätte den gewissen Sieg schon auf ihren Gesichtern lesen können. An ernster Amtsmiene und an imponirendem Tone ließen sie es wohl auch nicht fehlen; die heilige Sache forderte es so.
Aber der Ausgang der Sendung belehrte sie eines Andern. Welche Gefühle regten sich in ihren Herzen auf dem Rückwege? Was sagten die Alten zu Jerusalem? Welch’ ein Schlag, sich in ihren süßesten Erwartungen so getäuscht zu sehen! Und doch war es nicht zu ändern! Was blieb ihnen nun noch übrig? Immer noch ein ächtes und kräftiges, solcher Scheinheiligen würdiges Mittel — den Täufer zu lästern und zu verläumden. Sie, die auf öffentliche Selbstkasteiung sonst so viel hielten, schämten sich jetzt nicht, mit sich selbst in Widerspruch zu gerathen, und gerade das an Johannes zu tadeln, was ihm als Bußprediger so gut anstund. „Er hat einen Teufel!“ d. h. er ist ein Narr, einS. 35 Schwärmer, ein gefährlicher Mensch. Dieß bewiesen sie aus seinem Aufenthalte in der Wüste mit seiner Kleidung und Kost, durch seine mit den Erblehren nicht harmonirende Sittenlehre u. s. w. Man denke sich dazu eine warnende Miene, frömmelnde Gebehrden, eifriges Amtsgesicht, breite Gelehrsamkeit und Redekünste; und man wird sehr leicht berechnen, daß es Manchen irre machen mußte, der gewohnt war, den weisen und frommen Vätern Alles auf ihr Wort zu glauben. (Matth. XI, 18).
Doch fanden diese Verläumdungen nicht überall so leicht Eingang; denn beim Volke hatte die Ueberzeugung, Johannes sey ein Prophet, zu festen Fuß gefaßt. Sobald sie daher merkten, daß sie den großen Haufen, das „Erdenvolk“ in ihrer Sprache, unwillig machen würden, so zogen sie sich zurück, verstummten, sprachen zweideutig von dem Täufer, und verbargen ihren Ingrimm. (Matth. XX, 26. Luk. XX, 6.)
Ein solches Betragen bedarf doch wohl keines Commentars!
Dieser ist ja kein Pharisäer, wird man sagen! Wohl wahr; aber Blick kann erS. 36 uns geben in das, was Pharisäismus ist, durch den Gegensatz, den er mit demselben bildet.
Jesus selbst drückt seine Freude über Nathanael sehr lebhaft aus: „Siehe da, ein wahrhaftiger Israelite in dem kein Falsch ist!“ So freuet sich ein biederer Mann, wenn er einen Redlichgesinnten findet. Unserm Herrn wallet das Herz auf bei einem solchen Anblicke, und aus der Fülle seines Herzens fließt ein seltner Lobspruch. Wie menschlich schön erscheint hier Jesus!
„Aber Nathanael hegte ja ein Vorurtheil gegen Nazareth!“ Was schadet dieses seinem antipharisäischen Charakter? Wer sein Vorurtheil so offenherzig gesteht, und so bereitwillig ablegt, sobald sich ihm die Wahrheit zeigt, der ist das gerade Gegentheil eines Heuchlers, und so war es bei Nathanael! Ein leichter Morgennebel kann nicht schneller von der hervorbrechenden Sonne zerstreuet werden, als Nathanaels Vorurtheil gegen den Zimmermannssohn aus Nazareth bei den Worten Jesu. Deutlich bewies er, daß dieser dunkle Flecken nur an der Oberfläche haftete, der Grund seiner Seele aber von Wahrheitsliebe glühte.
Wahrheit galt bei ihm, nicht Person, nicht Ort, nicht Zeit — —S. 37 und Jesus sah dieß, und belohnte es überschwenglich. Dieser Jesus lebt noch; möchte er recht Viele zu belohnen finden!
Der Heuchler kann immer mehr, als andere Leute; er besitzt das gewiß seltene Geheimniß, Widersprüche zu vereinigen. Ist es möglich? Die That beweiset es. Wer war frömmer in den Augen der Menschen; wer pünktlicher in der Gottesverehrung als ein Pharisäer? Sie galten für Muster in diesem Punkte. Und doch duldeten sie zur Zeit der großen Feste einen Unfug im Tempel, daß Jesus gleich im Anfange seines Lehramtes sich für verpflichtet hielt, demselben mit allem Eifer und Nachdrucke zu steuern. Wäre dieß von ihrer Seite möglich, und von Seite Jesu nothwendig gewesen, wenn sie sich an den Geist, und nicht bloß an die Form der Religiosität gehalten hätten? So aber gieng ihnen Opfergepränge und herrliches Ceremoniel über Alles. Darum mußte fürS. 38 die Festpilgrimme jeder Schritt erleichtert werden, damit ja kein Opfer zurückblieb. Ihr Gott war wie sie; er ließ sich durch Gaben und fettes Opfervieh seine Gunst abkaufen, und sah wenig oder gar nicht auf das Herz des Gebers.
Einen solchen Gott hatten sie um so nöthiger, da sie schlau genug waren, mit seiner Verherrlichung ihren eigenen Vortheil recht enge zu verbinden. Man wird der Ehre dieser Leute kaum zu nahe treten, wenn man annimmt, daß mancher Denar als Budenzins, von den Opfervieh-Händlern und Geldwechslern den Priestern und Leviten in den Beutel fiel. Sollten sie nicht auch diese Sümmchen zur Ehre Gottes recht genau eingetrieben haben? Gewiß, ohne Interesse wären sie nicht so nachsichtig gewesen.
Ueber dieß war es ja nur der Vorhof der Heiden, in welchem der Unfug getrieben wurde. An den Unbeschnittenen aber konnte man sich, nach pharisäischer Lehre so leicht nicht versündigen; Beschneidung und Rechtgläubigkeit ertheilten in solchen Fällen ein eigenes Privilegium. Solche Unterscheidungen sind in dem Wesen der Heuchelei gegründet.
Je verkehrter das Herz dieser Leute war, desto sinnreicher wurde der Kopf inS. 39 Erfindung von Schutzmitteln für ihre Werke der Finsterniß. Unrecht konnten sie Jesus geradezu nicht vorwerfen; denn die Unordnung war zu auffallend, und die muthige Handlung unseres Herrn fand bei Bessergesinnten ohne Zweifel lauten Beifall. Wie sollten sie nun ihre Amtsehre retten? Sie versuchten es auf eine feine Weise, indem sie der Sache eine andere Wendung gaben, und Jesus beschuldigten, er habe einen Eingriff in fremde Rechte gethan. Eine solche unbefugte Handlung konnte er, nach ihrer Meinung, nur durch ein Wunder rechtfertigen. Dazu hielten sie ihn für unfähig, und so waren sie des Sieges gewiß. Schade nur, daß eine Weissagung, also Vertagung ihres Prozesses, Alles verdarb!
Wie traurig sieht es im Innern des Heuchlers aus! Pflanzen der schlechtesten Art — Frömmelei, Eigennutz, Verachtung Anderer — wuchern ungestört. Will Jemand dieses Unkraut ausreuten, so begeht er ein Verbrechen.
Jesus und Nikodemus! Ein vielfach behandelter Stoff. Wir wollen hier einzig den Gesichtspunkt da nehmen, wo ihn uns die Worte anweisen: „Es war ein Mann unter den Pharisäern, Nikodemus mit Namen ein Vornehmer unter den Juden; dieser kam in der Nacht zu Jesus.“ —
Also Nikodemus war ein Pharisäer; dieser kam zu Jesus, aber des Nachts! Schon der letzte Umstand ist auffallend; wie viel mehr die erstern? Nikodemus hätte doch wohl auch bei Tag zu Jesus kommen können — wenn er nur die Mitglieder seines Ordens nicht gefürchtet hätte. Wirklich war auch ihr Haß gegen den neuen Propheten aus Nazareth schon in den ersten Tagen seines öffentlichen Lebens so weit gestiegen, daß Nikodemus nicht wenig hätte wagen müßen, wenn er bei Jesus öffentlich einen Besuch gemacht hätte. Noch ließe sich freilich auch denken, die weise Zurückhaltung, welche Jesus schon damals beobachteteS. 41 (Joh. II, 23–25.) habe es ihm erschwert, ihn am Tage zu sprechen. Auf jeden Fall ist es lehrreich, daß Jesus den nächtlichen Besuch annahm — ohne die geringste Bemerkung über heuchlerische Menschenfurcht zu machen, oder sich zu entschuldigen &c. Wie viel hätte ein blinder Eiferer schon daran auszusetzen, oder scheinheilig zu loben gefunden?!
Jesus freute sich darüber, daß Nikodemus zu ihm kam. Zeugte es nicht von Wißbegierde besserer Art, daß er Jesus aufsuchte? Ließ es nicht ein gutes, empfängliches, Wahrheit suchendes Herz vermuthen? und giebt der Edle nicht gerne einer solchen Vermuthung Platz? Gewiß eben so schnell, als der Heuchler dem Argwohn, weil in seinem Innern ein Schelm wohnet.
Aber Nikodemus war ja ein Pharisäer! — Als er hingieng, allerdings; als er zurückkam, nicht mehr (Joh. VII, 50–52. XIX, 39.) Er ward ergriffen von der Wahrheit aus Gott, und wurde wiedergeboren, so wenig er sich auch Anfangs darein finden wollte. Doch gar so leicht mag es nicht abgegangen seyn; „der Mann war schon alt“ — und mit ihm der Pharisäer. Dieser wich schwerlich so schnell von seiner Stelle. Vergegenwärtigen wir uns nur seine erste Nacht! —
Nikodemus kommt nach Hause; die Seinigen sind schon in sanften Schlaf gesunken; Er — Kopf und Herz voll Gedanken und Gefühle ganz neuer Art — wirft sich auf sein Lager, und überdenkt noch einmal das äußerst merkwürdige Gespräch:
„Dieß war der wichtigste Gang in meinem Leben! — Vieles und Großes hatte ich von diesem Jesus erwartet; aber unendlich mehr habe ich gefunden. — Wie einfach, wie offen, wie zwanglos war gleich der erste Zusammentritt! Schon dieß gewann mein Herz, spannte meine Erwartung. — Aber noch staune ich, noch kann ich mich nicht recht finden in das, was er vom Reiche Gottes und von der Bedingung der Aufnahme in dasselbe sagte — nur sagte? Nein! mit einem Ernste und mit einem Nachdrucke festsetzte, daß er unwiderstehlich war, so sehr sich auch mein Kopf dagegen setzte — noch setzet. Wie so gar nichts von Allem, was unsere Schule vom Reiche des Messias als wesentlich lehret, liegt in seinem einfachen Begriffe vom Reiche Gottes! Nicht das Land der Verheißung, nicht die große Stadt, nicht die Unterjochung der Völker, nicht die Pracht und Größe des Königs, nicht die Herrlichkeit seines Volkes — nur Gott und seine Regierung hebt er heraus. Es ist so wahr, so geistig, so erhabenS. 43 — aber wie sieht es mit der Lehre unserer Alten aus? — — Wiedergeboren werden! Sonderbar! Leiblich kann und will er es nicht verstanden wissen — und geistig —, welchen Sinn, welchen Zweck hat es? — Was vom Fleische geboren ist, ist Fleisch; was vom Geiste geboren wird, ist Geist! Was will er damit sagen? Soll uns etwa leibliche Geburt — Abstammung — selbst von Abraham nichts nützen? Keinen Anspruch auf das Reich des Messias geben? — Eine ganz neue, unerhörte Lehre! — — Aber warum dringt er denn so auf Wiedergeburt aus Wasser und Geist? Wie hängt dieß mit Gottes Reich zusammen? — Nikodemus! du bist grau geworden als Lehrer; aber darin wirst du dich nicht leicht zurecht finden — doch jetzt will es Licht werden! Sollte die geistige Wiedergeburt nicht auf Gottes Geistigkeit Bezug haben? Kann Gott andere als geistige Kinder an den Menschen haben? Sind wir dieß? Sind wir es von Abraham her? Wie können wir es anders werden, als durch geistige Umwandlung, durch Aenderung des irdischen Sinnes und Herzens? — nun wird mir auch das Wasser begreiflich; sollte er damit nicht gar auf den Johannes am Jordan anspielen? — Aber diesen hat jaS. 44 das Synedrium verworfen! Ferner ist es eine Hauptlehre: Jeder Nachkömmling Abrahams sei Erbe des Reiches Davids! Wozu also Sinnesänderung, Wiedergeburt, Erneuerung des Israeliten? Hier liegt der Knoten; hier der Stein des Anstoßes an dem entweder mein System, oder mein Glauben an Jesus sich zerschellen muß. — Lehrer Israels? alter, allgemein verehrter Rabbi! jetzt stehest du auf dem Punkte, Alles, was du bisher für wahr und gut und rühmlich hieltest, fahren lassen zu müssen, um der Wahrheit, wie sie von Gott kommt, zu huldigen! — Ist es aber auch göttliche Wahrheit, was Rabbi Jesus mir vortrug? Eine stille, innige Ahnung davon steigt in mir auf; ein tiefes Gefühl im Innersten sträubt sich gegen alle Zweifel. — Unbegreiflich war und ist mir freilich die Wiedergeburt! Das ist es aber gerade, was Jesus behauptet. Sein Bild vom Winde — wie passend, wie wahr, wie tief! Wer will Gott auf der That ertappen, ihm den Weg ausspähen, seine Gedanken errathen? Daran hat er recht. — — Ewig, ewig kann ich die Worte nicht vergessen: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Ich rede, was ich weiß, und bezeuge, was ich gesehen habe. Dieß ist das Siegel auf alles Sonderbare, Neue, Unbegreifliche,S. 45 was er sagte. Mit welcher Zuversicht und Bescheidenheit, mit welcher Würde und Milde sprach er dieß. Nein! ein solcher Mann kann nicht lügen — Nein! seine Thaten auf dem Feste verkündigen diese Hoheit. Ihm glaube ich es, daß er vom Himmel kommt; daß er dort war — daß er — der Messias ist! — — Ja, wenn er nur vom Hause Davids wäre! Wenn man sein Geschlecht, wenn man Bethlehem, als Geburtsort, nachweisen könnte! Wenn auch nur eine Spur der Königlichen Würde und Herrlichkeit sich zeigte! Aber Wunder und hohe Lehren machen ihn noch nicht zum Sohne Davids, zum Retter des Volkes Gottes aus der Gewalt seiner Feinde. Er sieht auch gar nicht so aus, daß er das Schwerdt ziehen und führen könnte. Für Gott eifert er; das sahen wir; aber sonst ist er lauter Friede, Güte und Liebe. — Doch nennet er sich den Sohn, welchen Gott in die Welt gesandt habe! Also will er doch der Messias sein!? Und noch dazu für die ganze Welt! Immer räthselhafter, immer dunkler! Wo bleiben denn die Vorrechte des Volkes Gottes, wenn er sogleich auf Ein Mal auch alle Heiden samt den Juden selig machen will? — Da liegt meine ganze Lehre vom Messias am Boden! Da ratheS. 46 mir, wer da kann! Der muß aber dann auch das noch dunklere Räthsel von Moses’ Schlange lösen. — — — O Gott meiner Väter! siehe herab auf deinen armen Knecht, der dich und deine Wahrheit suchet! Meine Seele ringet in mir, mein Herz schmachtet dahin, zu glauben an den, der sich deinen Eingebornen nennet, der so große Werke thut. Erlöse mich aus der Nacht der Zweifel! Laß mich nicht länger in der Finsterniß wohnen, die das Herz verderbet! Führe mich dem heitern Tage der Wahrheit entgegen damit dir meine Werke gefallen! Erhöre mein heißes Flehen, Jehova!“ — —
So betete Nikodemus, fiel erschöpft in tiefen Schlaf, erwachte gestärkt und froh, und wandelte in der Stille nach dem Geiste der Lehre Jesu.
Nichts verfinstert die Köpfe so sehr; Nichts erzeugt mehr Einseitigkeit und Unduldsamkeit im Denken; Nichts vertilgt dieS. 47 Liebe unausbleiblicher — als Heuchelei. Gilt dieß schon bei Gebildeten, so werden die Folgen noch verderblicher für die Menschheit, die Ausbrüche noch scheußlicher für Einzelne, wenn das Volk, von heuchlerischen Lehren angesteckt, die Religion und Wahrheit bloß nach Aeußerlichkeiten beurtheilt und schätzt; nur an Formen und Worten klebt; Glauben von Liebe trennt — und im Gotteshause heilige Komödie spielt. Die Nazarethaner liefern ein anschauliches Beispiel.
Jesus hatte sein öffentliches Lehramt begonnen; er trat in den Synagogen auf, hielt Vorträge, die ungemeinen Beifall fanden, und bestätigte in und außer den Synagogen seine Lehre mit Wundern. Allgemein und laut erscholl der Ruf von dem neuen Lehrer und Wunderthäter. Endlich kam er nach Nazareth. Als armer und unbescholtener, aber sonst wenig bekannter, Zimmermannssohn hatte er das Städtchen vor wenigen Wochen verlassen — und jetzt kam er als Prophet zurück. Welch’ ein Abstand! Wie muß dieß die Kleinstädtische Neugierde gespannt haben?! — Es ist Sabbat; Jesus besucht die Synagoge; Alle drängen sich herbei; er deutet eine der geistreichsten Weissagungen vom Messias mit eben so viel Bescheidenheit als Nachdruck auf sich. Man lobt, man bewundertS. 48 den trefflichen Redner; übersieht aber die große Wahrheit. Noch sind Alle von Erstaunen ergriffen — und schon fangen sie an, sich an seiner geringen Herkunft zu ärgern. Wie schnell und leicht doch die Nazarethaner die Sache über der Person vergessen! „Ist er nicht der Sohn Josephs?“ — Allein hinter der schon an und für sich engherzigen Rede lag noch etwas ganz Anderes versteckt; und darauf antwortete eigentlich der Herzenskenner. Beleidigter Stolz war es, was ihnen den „Zimmermannssohn“ ins Gedächtniß rief. Jesus hatte es groß übersehen, daß er die Fülle seiner Gotteskräfte nicht zuerst in Nazareth auskramte — mehr verlangten sie auch nicht; denn belehrt und gebessert wollten sie nicht werden, aber gekitzelt und unterhalten. — Noch größer war das Versehen, daß Jesus auch jetzt, da er so spät eintraf, noch keine Anstalt machte, Wunderdinge zu verrichten. „War er mit Einem Male so vornehm geworden? Achtete er seine Landsleute weniger, als Fremde? Sollte er ihnen nicht gerade die stärksten Proben seiner Wunderkraft vorlegen?“ — Und er that es nicht — der Sohn Josephs! — — Noch mehr! Er hatte die Kühnheit, ihr Verlangen zu tadeln, undS. 49 ihr Betragen so verwerflich zu nennen, wie das der Israeliten zu den Zeiten Elias und Elisa. Er gab zu verstehen, daß er ihnen weniger Glauben an Gottes Wort und Kraft zutraue, als den Heiden. Bewiesen sie es nicht durch ihr Betragen? Allein welchen Sturm erregte diese ernstliche und wohlgemeinte Zurechtweisung! Sie wollten einen Gegenbeweis führen, wie ihn alle Mal derjenige führet, welcher der Wahrheit bei einem bösen Gewissen mit triftigen Gründen nicht widerstehen kann, und doch Recht behalten will. (Luk. IV, 14–29.)
Rein antipharisäisch ist der Geist und Ton dieser unübertrefflichen Rede. Vorzüglich geben einige Stellen Anlaß, der Heuchelei so eigentlich von mehr als Einer Seite auf den Grund zu sehen, und allgemein wichtige Bemerkungen zu machen; wie denn auch Jesus gewiß eben so gutS. 50 die künftigen, als das damalige ehebrecherische Geschlecht im Auge hatte.
Schon die erste Stelle (Matth. V, 19–20.), in welcher er die Pharisäer und Schriftgelehrten ausdrücklich nennt, enthält eine tief gehende Lection. Die Pharisäer lehrten wohl das Gesetz Moses recht genau; aber sie übertraten es leichtsinnig. Bei ihnen war also Wissen und Thun getrennt, Kopf und Herz entzweiet; darin erkannte Jesus das charackteristische Merkmal der Heuchelei. Er gab aber diesem Ausspruche eine für alle Zeiten passende Form, weil dieser Doppelsinn ein Grundzug des menschlichen Verderbens ist. Nichts wird uns leichter, als schön, sittlich, fromm zu reden, zu ermahnen, zu trösten; Nichts schwerer, als edel, uneigennützig, gottesfürchtig zu handeln. Wir dünken uns noch dazu, etwas Großes zu sein, wenn wir einen so hohen Ton anstimmen; dabei sind wir erfinderisch, unsere Vergehen zu verkleinern oder gar wegzuvernünfteln. Wie klein müssen wir in den Augen unseres Erlösers sein, der nur diejenigen wahrhaft groß nennt, welche Wort und That mit einander verbinden! Möchten wir uns doch nie den Vorwurf machen dürfen, daß unsere „Gerechtigkeit nicht besser sei, als die der Pharisäer!“
Ueberall trennt der Heuchler, was Eines sein soll; nicht nur Lehre und Thun setzt er in Widerspruch; auch in die Lehre trägt er die Spaltung, welche sein Inneres zerreißt, hinein. Er klebt am Buchstaben, und vernachläßiget den Geist, wenn er Gottes Wort deutet; uneingedenk, daß der Urheber desselben Geist und Leben ist. Dabei hält er sich noch für weise, und beruft sich mit vielsagender Miene auf „die Alten.“
„Du sollst nicht tödten!“ — so betete der Schriftgelehrte Moses nach, und blieb beim leiblichen Morde stehen. Fremd, unverständlich, ja ärgerlich kam ihnen darum gewiß die Auslegung vor, welche Jesus von diesem Verbote machte — und welchem schriftgelehrten Silbenstecher ist sie es nicht noch heut zu Tage?
Jesus drang auf die Gesinnung ein, welche bei einem Menschenmörder herrschend werden muß, bevor er zu der gräßlichen That schreitet. Diese bösartige Stimmung des Gemüthes, diese verkehrte Richtung des Willens fand Er schon in ihren ersten Anfängen so strafbar, und in ihren Fortschritten noch strafbarer als die Gesetzerklärer seiner Zeit den Mord. Dieß lag in dem Geiste des Gesetzes.
Nur so wird es begreiflich, warum erS. 52 es als genauere Erklärung und schärfere Bestimmung des den Alten bekannten: „Du sollst nicht tödten,“ angeben konnte, wenn Er sprach: „Wer über seinen Bruder zürnt ohne Ursache“ &c.
Nicht das Zürnen überhaupt verbietet Jesus; denn erkannte das Wesen und das Verhältniß menschlicher Kräfte des Herzens und Willens zu gut, als daß er Widernatürliches gebieten, und die Kraft und den Eifer des für das Wahre und Gute begeisterten Mannes hätte lähmen können. Zürnte doch Er selbst! (Mark. III, 5. Joh. II, 15–16. Mark. VIII, 17–18. Matth. XXIII &c.) Nur grundlos, unbegränzt, unangemessen sollte der Unwille nicht sein; dieß wird er aber, sobald der Mensch der Eigenliebe, der Sinnlichkeit, und dem Bösen auf irgend eine, wenn auch die feinste Weise huldiget. Solchen Zorn setzt Jesus einem schweren Vergehen gleich, und hatte er daran Unrecht? Freilich die Pharisäer werden darüber bittere Glossen gemacht, wohl auch gespottet haben. Heut zu Tage haben die Meister in Israel zu viel Achtung vor dem Sohne Gottes, um sich so zu vermessen; sie beugen ihr Haupt tief — und verkehren seine göttliche und rein menschliche Lehre in eine erschlaffende Heuchellehre läppischer Sanftmuth — oderS. 53 besser, charackterloser Schwäche. — Wer von den sogenannten Asceten viele gelesen hat, wird dieß bestätigen.
Nicht umsonst vergleicht David so oft die Zunge mit „Dolchen und Pfeilen;“ er hatte dieses gefährliche Werkzeug mehr als Ein Mal durch traurige Erfahrung kennen gelernet. Die Zunge eines feindlichen Heuchlers ist ein wahres Mordinstrument. Darum erklärte Jesus einen solchen Gebrauch der Zunge für ein dem Todtschlage gleiches Verbrechen. Wie werden die Pharisäer über diese neue Auslegung des Gesetzes in Erstaunen und Aerger gerathen sein! Sie machten sich wenig daraus, ihren Nebenmenschen um Ehre und Zutrauen zu bringen, sobald er ihren Planen und Vorurtheilen oder ihrem Eigennutzen im Wege stund. Johannes und Jesus sind sprechende Beispiele. — Aber darum segne sich nicht so leicht Jemand! Diese Verirrung liegt dem menschlichen Herzen näher, als man glaubt. Unerschöpflich ist die Sophistik der Eigenliebe an Gründen, warum man die Ehre Anderer nicht schonen dürfe; und nicht selten schmückt sie sich — empörend genug — mit Liebe Gottes und des Nächsten!!!
Eitler Stolz auf die einzig wahre Gotteserkenntniß blähte die Juden damals auf; und so sehr sie den Namen des GottesS. 54 Israels mit ihren Thaten schändeten, so waren sie doch stets bereit, Heiden, Samariter und anders Denkende überhaupt, selbst Abkömmlinge Abrahams auf die empfindlichste Weise zu verunglimpfen. Gewiß ein ächter Zug eines festsinnigen und lieblosen Rechtglaubigen! — — So Etwas zu billigen, wie die Pharisäer, war Jesus so weit entfernt, daß er sich auf eine wahrhaft furchtbare Weise dagegen erklärte. Wer ohne die vollgültigsten Gründe, aus Verdammungssucht, bei eigener Kälte gegen Gott, seinen Nächsten für einen Thoren, d. h. für einen Gottesleugner, Ketzer &c. erklärt, der ist dem menschenfreundlichen Erlöser ein größerer Greuel, als jeder Mörder — Jesus findet ihn so verwerflich, wie die dem Moloch verbrannten Menschenopfer. Ein schreckliches Wort!
„Gehe hin, und versöhne dich zuvor mit deinem Bruder!“ —
Wie doch Jesus allen Rechtglaubigen so geradezu widersprechen, und eine so ärgerliche Lehre unumwunden vortragen kann! Gelten also ihm Menschen mehr, als Gott? Müssen die Pflichten der Nächstenliebe der Liebe zu Gott vorgezogen werden? Ist Versöhnung mit Sündern besser, als Opfer? Welche neue Lehre! welche nachtheilige FolgenS. 55 wird sie haben für Priester und Leviten, welche doch Gott eingesetzt hat? — Solche Rede war einem Pharisäer damals natürlich; und eben so natürlich die Seligpreisung, daß er diese gefährliche Lehre durchschaute.
„Wie täuschte er sich in seiner Heuchelei!“ höre ich rufen. Ja wohl! Wenn nur diese Täuschung, und mit ihr auch die Ursache, jetzt verschwunden wäre! Zwar hat Christus unter denen, die sich nach seinem Namen nennen, so viel Ansehen, daß sie ihn nicht tadeln, wenn er von Opfern nichts wissen will, welche mit unversöhntem Herzen gebracht werden; aber der Prediger soll „diese harte Lehre“ nicht zu oft, nicht zu eindringend, nicht zu genau einschärfen. Die Zuhörer fühlen sich gestört in ihrer bequemen Gottseligkeit, welche dem „Herrn Himmels und der Erde“ huldiget mit reichen Gaben, um seine Unterthanen ungestraft quälen zu können, um ihre Rachsucht zu kühlen, um ihre Habsucht zu befriedigen u. s. w. u. s. w. Noch andere Leute finden solche Lehren für ihr Amt, für ihre Existenz, also für die Religion gefährlich und höchst bedenklich — — Hat denn Jesus zu allen Zeiten Pharisäer, mit und ohne diesen Namen, gegen sich und sein Wort?
Man darf im alten Testamente nicht sehr bewandert sein, um zu wissen, daß trotz allen gesetzlichen Vorschriften doch häufig und ernstlich genug auch auf das Herz gewirket, auf heilige Gesinnung gedrungen wird. Desto mehr befremdet es, wenn man sieht, wie die Schriftgelehrten und Pharisäer gar so Geistesarm waren und sklavisch am Buchstaben hiengen. Es war dieß die natürliche Folge und wohlverdiente Strafe ihres der reinen Wahrheit aus Gott nicht empfänglichen Herzens. Der Kopf allein, wenn er noch so tief- und scharfsinnig, noch so sehr mit allem Rüstzeuge theologischer Gelehrtheit versehen ist, schließt die heilige Schrift nicht auf. „Sohn, gieb mir dein Herz!“ Dieß ist die erste und unerläßliche Bedingung. — Moses hatte es als Gebot Gottes aufgezeichnet: „Du sollst nicht ehebrechen!“ Die Pharisäer bestimmten den Fall; setzten Strafen fest; wachten über die äußere, grobe That, und liessen das Herz leer ausgehen. Wie ganz anders geht Jesus zu Werke! Er will jede unerlaubte, wenn auch noch so unentbehrlich scheinende Begierde schon im Keime erstickt wissen. Ein lüsterner Blick ist nach seiner Lehre — und diese ist ewige Wahrheit — so strafbar vor Gott, als die That.
Sicherer und fester kann der HeucheleiS. 57 der Weg kaum versperret werden, als auf diese Weise. Es ist aber kaum irgendwo nothwendiger, als in diesem Stücke; denn kein Trieb liegt tiefer, keiner wirkt mächtiger, keiner nimmt mehrere und feinere Gestalten an, als sinnliche Liebe. Nichts wird leichter übersehen, gewissenloser und sophistischer entschuldiget. Nirgends erlaubt sich der Mensch in und ausser der Ehe mehr, als hierin — zu allen Zeiten! daher das durchgreifende strenge Gebot unseres Erlösers.
Ein wahrer Schlangenzug im Charakter der Heuchelei ist dieser, daß sie es so trefflich versteht, die Gebote Gottes zur Entschuldigung ihrer gröbsten Verbrechen zu benützen. Wie fein war nicht die Wendung, mit welcher gleißende Wohllüstlinge die göttliche Nachsicht in dem Gebote: „Wer sein Weib entläßt, gebe ihr einen Scheidebrief“, für sich anwandten, und eine Erlaubniß, sein Weib aus jeder beliebigen Ursache zu entlassen, herauserklärten? Wenn irgend einmal, so verräth sich gewiß hier das arglistige Herz, welches seine bösen Lüste hinter religiöser Maske verbirgt. Möchte doch dieß die letzte Schrifterklärung dieser Art gewesen sein!
Beim Himmel! — Bei der Erde! — Bei Jerusalem! — Bei meinem Haupte! — so schwur der Jude dem Heiden. Dieser, nur einigermaaßen gewissenhaft, traute jenem; denn er hatte Ehrfurcht vor diesen Gegenständen. Jener hielt sein Wort nicht, weil der Rabbi ihn lehrte: „Es steht geschrieben: Du sollst Jehova deinen Eid halten!“ Also ist kein Eid verbindlich, als der „bei Jehova.“ Welche Stelle des alten Testamentes konnten diese Lehrer für sich anführen? — Doch wozu sollten sie Schriftstellen aufsuchen, mühsam ihren göttlichen Geist wegerklären, kunstreich sie drehen und wenden? Sie hatten ja eine entscheidende Autorität für sich — „die Lehre der Alten.“ Seit Menschengedenken haben alle weisen Rabbi diese Stelle so verstanden und erklärt; also hat sie keinen andern Sinn; kann keinen andern haben. Was fehlt diesem Schlusse, als Wahrheit? — —
Es ist schwer zu begreifen, wie derjenige, welcher solchen Lehren Eingang in sein Herz gestattet, noch die so hochwichtige Pflicht der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit ausüben kann. Wenn solche Grundsätze herrschend würden, so müßte alles Zutrauen und aller Verkehr unter den Menschen aufhören. Wohin führt nicht Heuchelei? Eben deswegen stellte Jesus seineS. 59 Lehre in so scharfen Gegensatz gegen den Rabbinismus seiner Zeit. Unbegränzte Wahrhaftigkeit, felsenfesten Biedersinn macht er uns zur theursten Pflicht. Das einfache Ja eines Christen soll an Eides Statt gelten. Goldene Zeit, wenn erscheinest du? — Nicht zu übersehen ist, wie treffend und unwiderstehlich Jesus die falschen Eidesformeln der Pharisäer aus dem Geiste der heiligen Schrift widerlegt.
Nur gar zu gerne verkleidet sich unerbittliche Rachsucht in hehre Gestalt der Gerechtigkeit; und es fehlt zu keiner Zeit an dienstfertigen Auslegern göttlicher und menschlicher Gesetze, welche die gröbsten Verletzungen aller Menschlichkeit zu beschönigen wissen. In den Tagen unseres Herrn hatten die pharisäischen Schriftgelehrten den beliebten Dienst auf sich genommen, Ungerechtigkeit durch Verdrehung des Gottes-Wortes zur Gerechtigkeit zu machen. Sie beriefen sich auf „die Alten,“ welche gelehrt haben sollten, daß „Aug um Auge, Zahn um Zahn“ nicht eine gesetzliche, richterliche und darum billige Genugthuung für Beleidigungen gewähre, sondern das Recht ertheile, Rache nach Belieben selbst zu nehmen. „Die guten Alten!S. 60“ was mußten und müssen sie nicht Alles gelehrt haben?
Bei dieser Stelle dürfen wir aber nicht vergessen, daß Jeder von uns einen solchen pharisäischen Schriftausleger und Rechtsgelehrten in seinem Herzen sitzen hat, der als Affekt oder Leidenschaft sehr fertig und beredt Aussprüche von sich giebt, denen wir nur zu oft Gehör verleihen. Um so sorgfältiger sollen wir die Lehre unseres Erlösers zu Gemüthe ziehen, welche unbegränzte Billigkeit als ein zwar herbes, aber zuverläßiges Gegenmittel empfiehlt.
„Liebet eure Feinde!“ Dieß ist der wahre Todesstoß für die Scheinliebe, welche Gränzen aussteckt, auf Bedingungen unterhandelt, nach Rück- und Nebenabsichten schielt, Personen ansieht &c. Gewiß haben auch die Pharisäer diesen Stoß schmerzlich genug empfunden; denn die Wunde blutet heut zu Tage noch bei ihren Geisteskindern, die mit ihren Vätern sich bitter beklagen, daß die fruchtbringende Lehre: „Liebe deinen Freund, (d. i. deinen Kirchen-Zunft-Standes-Staatsgenossen) und hasse deinen Feind,“ mit dem Ausspruche Jesu umgestürzt werde; und zwar ohne Hoffnung, da der göttliche Lehrer so weise Rücksicht auf die menschlicheS. 61 Natur nahm, nicht Unmögliches forderte, keine süssen, freudigen Gefühle, keine freundschaftliche, innige Zuneigung, sondern ein racheloses Herz und Thaten des Wohlwollens — des Wohlthuns — der Fürbitte, wenn sonst nichts möglich ist, zur edeln Pflicht macht, und das unverwerflichste Muster an dem Vater im Himmel aufstellt.
„Hütet euch, daß ihr euer Gutes nicht vor den Menschen thut, um von ihnen gesehen zu werden!“
Mit diesen Worten beginnt ein neuer Gedankenkreis. Nicht Schriftverdrehungen und Herzverderbende Auslegungen werden gerügt, sondern die Thaten der Pharisäer nach göttlichem Maaßstabe bestimmt, ihr Werth oder Unwerth ausgesprochen. Wie denn? Einfach, daß ein Kind es fassen; kunstlos, daß der Ungeübteste es thun; unfehlbar, daß der Zweifelvollste sicher gehen kann. In das Innere weiset Jesus hinein; auf die Quelle alles Guten und Bösen, auf das Herz, auf die Gesinnung macht er aufmerksam. Hier soll nur Liebe Gottes und des Nächsten herrschen; alles Andere ist vom Argen. In diesem Heiligthum darf kein Götzenbild der Eigenliebe aufgestellt werden; mit der WachsamkeitS. 62 des Eifersüchtigen muß jede leise Regung belauscht werden, wenn der Heuchelei der Eingang verschlossen bleiben soll. Streben nach Menschenlob ist Todesduft für Christentugend. — Wer kennt das menschliche Herz, d. i. sein eigenes, und findet dieß nicht wahr, nicht wichtig, nicht nothwendig? Wer weiß nicht, welche Wendungen und Krümmungen die alte Schlange in uns macht? Unerläßlich, aber schwer ist es, in diesem Stücke den Pharisäer auszuziehen, und Christus anzuziehen.
Doch unser Herr erleichtert die Bürde durch Beispiele, die ins Große gehen. Lernen wir zu seinen Füßen!
Wenn ein Pharisäer Almosen gab, so mußte es alle Welt wissen. Die hochtönende Trompete erklang lieblich für das Ohr des Dürftigen, und lud ihn stolz zur Gabe; sie verkündete prahlerisch der Nachbarschaft, was auf der Gasse vorgieng; und was wird die Eitelkeit des Gebers empfunden haben? — Einer solchen Art von Wohlthätigkeit sprach Jesus allen Werth ab; ja, er nannte sie geradezu Heuchelei. Nicht menschliches Mitgefühl, nicht Linderung der Noth, nicht Erquickung des Leidenden war Beweggrund; sondern eigenes Lob, lauter Beifall, Flittergold des Namens eines Wohlthäters. Sollte es weniger gleißende Menschenliebe sein, wenn dieS. 63 Trompete nicht von Metall, sondern von Fleisch oder gar nur aus Papier gebildet ist?? — —
Das muß man gestehen, trefflich haben die Pharisäer ihr religiöses Handwerk verstanden. Sie wußten recht gut, was dazu gehört, die Menschen zu blenden, und mit ihrer Frömmigkeit recht viel Aufsehen zu machen. Wenn der Eifer des Gebetes so weit reicht, daß man laut und öffentlich an den Strassenecken betet; wer soll diese Muster der Heiligkeit nicht anstaunen? Wer nicht den Schluß ziehen, daß zu Hause noch weit mehr geschehen müße? Und Jesus nennt solche Leute — Heuchler! Wie Vielen wird er die Augen geöffnet haben über den wahren Geist des Gebetes mit seiner unübertrefflichen, Vernunft und Herz befriedigenden, den Geist zum Himmel erhebenden Lehre?
Das dringendste und wärmste Gebet ist Herzensergießung vor Gott in unsern geheimen Anliegen; wer will, wer kann mit Fug diese vor der Menschen Ohren bringen? Nur ein Schwärmer oder ein Betrüger; Jesus spricht keinem das Wort. „Wenn du betest, so gehe in deine Kammer“ &c. Wer die Weisheit und das Naturgemäße dieser Vorschrift einsehen will, muß die Pharisäer — aller Zeiten — vor Augen haben.
Wo es an Aufrichtigkeit und Zutrauen fehlt, dort werden gewöhnlich die meisten Worte gemacht. So betrugen sich auch die Pharisäer gegen Gott; sie waren ihm, menschlich zu reden, überlästig mit ihrem „heidnischen Geplapper.“ — Um so ärgerlicher kam ihnen die Lehre Jesu vor, welcher eine so einfache, kindlich zutrauliche, kurze Anweisung zum Beten gab; der Gott in einem so milden Lichte, als Vater, zeigte; der ihm zarte Theilnahme an den Bedürfnissen seiner Kinder beilegte. Welch’ ein Absprung von dem steifen, hofmäßigen, Geschenksüchtigen, Worte zählenden, kalten, überhohen Gotte der Heuchler! Welch’ ein Abstand von ihren Gebetsformeln! Besonders ist Ein Punkt antipharisäisch — Versöhnlichkeit und Liebe des Nächsten, ohne welche Jesus alle Gebete verwirft. — Was würde er heut zu Tage sagen über die Wortreichen, Geistarmen, Glaubensleeren, Selbstsuchtsvollen Gebete, welche häufig, mit Thränen eingebildeter Gottesliebe, mit Herzen voll Menschenhaß, in kriechender Stellung, mit stolzirendem Nacken, laut gesprochen werden?! O, wie oft kreuzen wir uns vor Pharisäern, und sind zwei Mal ärger, als sie — bei unsern Einsichten!! Beinahe ans Komische streift die Schilderung eines fastenden Heuchlers. SoS. 65 sehr verabscheute Jesus eine solche Handlungsweise, daß sein hoher, göttlicher Ernst bis zum beißenden Tone hingerissen wurde. Ein merkwürdiger Zug! Doch kann man ihn auch schon beim Almosen und Gebete des Pharisäers wahrnehmen. Fasten ist aber nur Beispiel für religiöse, besondere Uebungen jeder Art. Wenn frömmelnde Eitelkeit, Geruch der Heiligkeit, Menschenlob oder Tadel, elende Schmeichelei, charakterlose Aefferei u. d. gl. uns zu solchen außerordentlichen, nicht gebotenen, nicht unumgänglich nothwendigen Dingen treibt; was soll man dazu sagen? „Machet es so, wie die Heuchler?“ — —
Sonderbar! wird Mancher denken; hier dringt Jesus so strenge auf das Handeln „im Verborgenen“, und früher hatte er mit Nachdruck gelehrt: „Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen!“ Das will sich ja nicht zusammenreimen. — O recht gut, wenn man nicht an Worten klebt, sondern den Geist der Rede auffaßt. Das Gute deßwegen thun, damit es die Menschen sehen, und uns loben; dieß nennt Jesus Heuchelei. Und daran hat er vollkommen Recht, weil eine irdische, gemeine, schlechte Absicht einen schönen Anstrich bekommen soll. Die Gesinnung, das Herz ist unserm Herrn immerS. 66 die Hauptsache; da fordert er nun, daß der Mensch die Tugend nicht seiner Person zu lieb, sondern einzig um des unsichtbaren Gottes willen ausüben soll. Dabei verlangt er aber keinesweges, daß man mit seinen edeln Handlungen geheim thue, und gleichsam Verstecken spiele. Nein, offen, vor Aller Augen, an hellen Tage soll unser Gutes geschehen. Wir haben uns dessen nicht zu schämen, noch uns, aus falscher Demuth, vor Menschen zu scheuen. Das Licht leuchtet Allen im Hause; aber mehr thut es auch nicht, weil es gegen seine Natur wäre. So soll es auch bei uns sein. Das Gute sollen wir thun — vor Gott und Menschen; aber weiter nichts dazu setzen, was Künstelei, Gepränge, Prahlerei, Selbstsucht u. s. w. heissen könnte; Solche selbstgewählte, ausserwesentliche Verzierungen sind Dünste und Nebel, welche den reinen Glanz des Lichtes verhüllen, und um Wahrheit und Liebe täuschende Farbenringe der Lüge bilden, welche schimmern und blenden, aber vor Gott und vor seinen ächten Kindern Nichts sind.
Licht will Jesus in und an den Seinigen sehen — Licht von Gott; nicht selbstgemachte Fackeln. Von diesen sagt der Prophet: „Sehet, Alle schlagt ihr Feuer, Fackeln anzuzünden! Geht hin beim Scheine euers Feuers, bei eurer FackelnS. 67 Licht! Von meiner Hand geschieht euch dieß, mit Schmerzen ringend liegt ihr da!“ (Jes. L, 11.)
Die vom stürmenden Winde gepeitschte Meereswoge ist unstät; der Fels am Ufer trotzt unwandelbar ihren Schlägen: so schwankt der Heuchler im Mißtrauen auf Gott; der Glaubige hält sich unverrückt an dem Anker der Hoffnung auf den, „der da ist, und den er nicht sieht.“ So schildert Jesus die Pharisäer seiner Zeit, wenn er spricht: „Niemand kann zwei Herren dienen. — Ihr könnet nicht Gott und dem Mamon dienen.“
Wer verabscheuet nicht diese Zwittergeschöpfe des Mundglaubens und thätigen Mißtrauens? Wer lobt nicht den schönen, erhabenen Ausspruch „der göttlichen Weisheit, die wußte, was im Menschen war?“ — Weiß Er es jetzt nicht mehr, wenn wir Tag und Nacht rastlos daran sind, sinnen und sorgen, uns mühen und quälen, Geld und Gut zu erwerben — — um für die ungewisse Zukunft uns sicher zu stellen, um das Wohl der Unserigen zu gründen, u. s. w. u. s. w. dabei aber das Reich Gottes in uns aus Augen und Sinn verlieren? Weiß Er es jetztS. 68 nicht mehr, wenn wir der Vaterliebe unseres Gottes nur halb trauen, nirgends Ruhe finden, unser armes Herz mit tausend widersprechenden Gedanken, Hoffnungen, Besorgnissen, Planen, Gewinn- und Verlustrechnungen foltern und zerreißen — und dann doch in Angst und Unglauben beten — um Nahrung und Kleidung, wie Heiden, die keinen Gott kennen? Weiß Er da nichts mehr von getheilten Herzen, von gespaltenen Schlangenzungen, von schielenden Augen, von studierten Hofmanieren &c. der Betenden? Möchte doch dieses Alles nur von den alten Pharisäern gegolten haben! — —
„Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge!“ Wer unter den Christen kennt diese Stelle nicht? Wer führt sie nicht an mit Beziehung auf Diesen und Jenen? Würde aber die Frage aufgeworfen: Warum hat Jesus die Pharisäer und Splitterrichter seiner Zeit Heuchler genannt? Wie Mancher würde verstummen? Und doch giebt gerade diese Stelle großen Aufschluß über das Wesen der Heuchelei, und über ihren ausgedehnten Wirkungskreis. Den Hang, seine eigenen großen Fehler zu übersehen, und fremde kleinere Versehen schonungslos zuS. 69 tadeln; die tückische Wendung, seine Gebrechen durch scharfsichtige Rüge der Schwachheiten Anderer zu decken; die niedrige Kunst, auf Kosten des Nächsten als Vorbild der Tugend zu glänzen, würden wir mit ganz andern Namen belegen, als unser Herr, der dieses Alles mit Einem Worte Heuchelei nennt. Wie treffend! um tugendhaft, um fromm zu scheinen, wenn sie es schon nicht waren, tadelten die Pharisäer Alle, die nicht Ihresgleichen waren, mit liebloser Strenge; sie sprachen gerne Verdammungsurtheile aus, mit denen sie tiefe Einsicht in die Religion an den Tag legen wollten; sie verwarfen Andere um ihrer Meinungen und Lehren willen u. s. w. — —
Hatte Jesus Unrecht, wenn er vor solchen Leuten warnte, als „vor falschen Propheten?“ Freilich gab er ein Kennzeichen an, welches nur der Geist Gottes mit solcher Bestimmtheit aufstellen konnte. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!“ Wenn ein offenherziger Zuhörer diese vielsagenden Worte auffaßte, und den Maaßstab Jesu an eine solche heilige Figur genauer anlegte; mußte er nicht oft zu seinem nicht geringen Befremden eher einen verwundenden Dorn, als eine erquickende TrauS. 70be, eher eine geschmacklose, als eine milde Feige an manchem Meister in Israel finden? Zum größten Aerger reichte der Schaafpelz — die rabbinische Amtstracht — nicht hin, die Wolfsgestalt zu bedecken. —
Auf nichts waren die Pharisäer so eifersüchtig, als auf den Vorzug, viele Schüler zu haben, und von ihnen recht tief, recht demüthig, recht sklavisch verehrt zu werden. Ein Hauptpunkt dabei war die ängstlichste und unverbrüchlichste Anhänglichkeit an Worte, Buchstaben und Jota ihrer Satzungen und Erblehren. Als zweite, höchst wichtige Vorschrift galt äußerliche Gesetzlichkeit, pünktliches Ceremoniell, wobei eben für innere Heiligung nicht die strengsten Forderungen gemacht wurden. Kann man sich eine bessere Schule der Heuchelei denken? Giebt es einen kürzeren Weg, nach Grundsätzen junge Gleißner zu bilden?
„Nicht Jeder, der sagt: Herr! Herr! wird in das Reich Gottes eingehen; sondern der den Willen meines Vaters im Himmel thut.“ Welch’ eine ganz andere Sprache! Jesus stellte den heiligen Willen Gottes als erste Vorschrift für seine Jünger auf; Ehrfurcht, Gehorsam, Liebe gegen den Vater im Himmel machte er zur unerläßlichenS. 71 Bedingung der Aufnahme. Wer sich dazu nicht verstehen wollte, der konnte ihn mit allen Ehrentiteln und Bücklingen, mit dem täuschendsten Scheine, mit dem ausgesonnensten Schönthun, mit dem schnellfüßigsten Diensteifer gegen seine Person nicht bestechen; er wurde weggewiesen aus seiner Schule, d. i. aus dem Reiche Gottes. — Ob Jesus wohl seine Gesinnung seit seiner Himmelfahrt geändert hat?! — — —
Gewöhnlich leihet man der eifersüchtigen Liebe Argusaugen und Adlersblicke; aber der Heuchelei fehlen sie auch nicht. Der Unterschied ist nur der, daß die Liebe den geraden Weg zur Selbsttäuschung wandelt, die Heuchelei aber etwas Anderes thut, und etwas Anderes will. Wie oft eifert sie für Gott, Religion und Tugend, während sie innerlich nur von Abneigung, wohl gar von Haß gegen eine gewisse Person, oder gegen ihre Meinungen getrieben wird! Jesus war noch gar nichtS. 72 lange als Lehrer und göttlicher Gesandter aufgetreten, als es die Pharisäer und Schriftgelehrten schon für nöthig fanden, „aus allen Ortschaften von Galiläa und Judäa, und von Jerusalem zusammenzukommen“, um seine Lehren und Thaten in der Nähe zu beobachten. Die neuen, mit den ihrigen so sehr contrastirenden Lehren des von ihnen nicht begutachteten Propheten beunruhigten sie ausserordentlich. Allein diese Unruhe, so wie der Neid über den schnell und allgemein wachsenden Beifall des Nazareners, wußten sie künstlich genug unter frömmelnder Gebehrde zu verstecken, daß wohl Mancher sie noch gelobt haben mag wegen ihres Eifers, mit welchem die treuen Hirten Israels über der Religion der Väter hielten, und sich keine Mühe zu groß, keine Reise zu weit sein liessen, um gefährlichen Lehren heilsam den Weg zu versperren. —
So finden wir sie jetzt beisammen in dem Hofraume eines Hauses zu Kapernaum, wo sich Jesus, wenn er nicht umherzog, gewöhnlich aufhielt. In der Mitte ist Jesus; um ihn her bilden die Pharisäer einen Kreis, mit Ansehen den ersten Platz behauptend; hinter ihnen das Volk in dicht gedrängter Masse. Jesus lehrt; sie horchen und lauern auf jedes Wort. Umsonst; er spricht lautere Wahrheit. Geheimer VerdrußS. 73 beschlich schon die Herzen, daß Zeit und Mühe dießmal verloren sei. Doch unerwartet ereignet sich Etwas, wodurch die Hoffnung, ihm beizukommen, wieder belebt wird. Ein Schlagflüßiger wird unter sonderbaren Umständen unserm Herrn zu Füßen gelegt: „da er ihren Glauben sah sprach er: Mensch, dir sind deine Sünden vergeben!“ — — Gott sei gedankt! Jetzt wird den Herren leichter um das Herz; sie haben — eine Gotteslästerung (!?) gehört. Das Innere geräth bereits in Aufruhr, d. h. in gerechten, heiligen Eifer; Rachegedanken durchkreuzen sich wie Blitze in der geistigen Nacht der Heuchelei; Alles drohet nahen Ausbruch — — als Jesus ihre Bosheit in ihren Herzen las, sie ans Licht zog, und mit einer wundervollen That beschämte. Zur Vollendung ihrer Niederlage brach das Volk in laute Lobpreisung Gottes aus, und in Erstaunen über die hohe Macht unseres Herrn. Heiliger Schauer hatte Alle durchdrungen; verbissene Wuth kochte in den Pharisäern — bei einem und demselben Werke Gottes. Läßt sich Wahrheitssinn und Herzenseinfalt, dem Vorurtheile und der Tücke gegenüber, lebendiger malen? —
Vom Standpunckte göttlicher Wahrheit und Liebe, und darum so rein, frei und milde beurtheilte und behandelte Jesus die Menschen und ihre Verhältnisse. Kein Wunder, daß er mit den einseitigen, herzlosen, selbstsüchtigen Maximen der Pharisäer und Schriftgelehrten so oft in Gegenstoß kam. Eitler Stolz auf die Vorrechte des Volkes Gottes hatte sie vermocht, die Zolleinnehmer ihrer Tage für öffentliche Sünder zu erklären, und so eine Art Bann über sie auszusprechen, weil sie von den Römern, als Heiden und Feinden der Nation, ihre Stellen pachteten. Niedriger Eigennutz von Seite vieler Zöllner verschaffte ihnen einen gültigen Vorwand, dieses Urtheil zu rechtfertigen, und die Scheidewand zwischen den Rechtschaffenen und Sündern immer länger und höher zu führen, so daß kein eifriger Pharisäer mit einem Zöllner auf irgend eine Weise vertraut umgieng. Er hätte dadurch seine gesetzliche Reinigkeit verletzet.
Ganz anders dachte und handelte Jesus. Er sah in den Zöllnern unglückliche Menschen, verirrte Kinder seines himmlischen Vaters; er fand nicht alle unverbesserlich und durchaus verwerflich; darum entsetzte sich sein menschenfreundliches Herz über die gefühllose Kälte und Härte, mit welcher die Pharisäer diesen Menschen den Weg zur Besserung versperrten; sein himmlisch hoher Geist schwang sich über diese finstern Vorurtheile der Meister Israels empor; edel und freisinnig wandelte er den Pfad der Erbarmungen Gottes um die verirrten Schaafe aufzusuchen — und nicht vergeblich. Er fand mehr als Einen, über den er sich mit dem ganzen Himmel freuen konnte. Matthäus wird als der Erste genannt; Mancher wird wohl noch einst im Buche des Lebens angeschrieben stehen, den die Menschen nicht kennen.
Welch’ ein entzückender Anblick! Jesus geht an der Zollbank vorbei, sieht den Matthäus, fordert ihn auf, sein Jünger zu werden; dieser erhebt sich mit raschem Entschlusse, verläßt freudig sein einträgliches Gewerbe, und wird Schüler des armen Propheten. Wo sind da die feinen Ueberredungskünste, wo die lockenden Versprechungen von der einen, wo die wegwerfenden Manieren, wo die sklavische Erniedrigung von der andern Seite, wie BeidesS. 76 bei den Pharisäern Statt fand? Wie kurz, wie natürlich, wie zwanglos, wie thatenreich ist der ganze Hergang! Wie edelmüthig, frei und doch voll Anstand und Würde ist das wechselseitige Betragen! Welch’ ein Ausdruck hoher Freude liegt in der Veranstaltung des Gastmahls bei Matthäus! Welche hinreißende Herablassung in der Theilnahme Jesu daran! Ohne Bedenken aßen seine unverdorbenen Jünger mit dem reuigen Sünder; Matthäus und seine Genossen dachten nicht an den harten Richterspruch der Pharisäer; sie sahen nur den Propheten, fühlten Wonne im Herzen und Kraft zur Besserung.
Gott und seine Engel freuten sich des herrlichen Anblickes. — —
Die scheinheiligen Pharisäer murrten, zürnten, tadelten laut unsern Herrn!!! — Wer vermag das Abscheuliche, Niederträchtige, Empörende einer solchen Denk- und Handlungsweise zu schildern?
Muth ist nicht Sache des Heuchlers, wenigstens nicht offener Muth; das böse Gewissen schlägt ihn. Darum zieht er Seitenangriffe vor; er tritt dem Gegner nicht leicht vor die Augen. Dieser Zug schändet auch hier die Pharisäer. Sie wagten es nur nicht, Jesus unmittelbar selbst zu tadeln; nur an seine Jünger stellten sie imS. 77 religiösen, strafenden Tone die Frage: „Warum esset und trinket ihr und euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ Vielleicht hatten sie dabei noch die hinterlistige Absicht, durch ihr Ansehen und durch die öffentliche Rüge die Jünger von Jesus abwendig zu machen.
Aber schnell nahm Jesus das Wort, und vertheidigte sich, nicht die Jünger; denn er wußte zu gut, wem der Vorwurf gelten sollte. Und welche Vertheidigung? In drei Innhaltsschweren Sätzen rechtfertigte er seinen Besuch bei Matthäus, enthüllte die Schande seiner Gegner, und schilderte die göttliche Milde seines Berufes.
Man durfte nur ein wenig mehr, als gewöhnlich Pharisäer, mit dem Geiste des alten Testamentes vertraut sein, um aus den Psalmen und Propheten zu wissen, wie zärtlich Gott um die Bekehrung der Sünder sich gleichsam bekümmerte; wie väterlich er für Menschenwohl sorgte; wie oft gerade von dieser menschenfreundlichen Seite auch der Messias geschildert wurde. Darum konnte Jesus nicht Schriftgemäßer sich als Retter Israels ankündigen, als dadurch, daß er als Seelenarzt auftrat. Allein eben dieß war es, wovon die damaligen Lehrbücher nach den Erblehren der Alten nichts enthielten; und von den Psalmen und Propheten wußten die Pharisäer wenig.S. 78 Wie konnten sie also das Benehmen und die Lehre unseres Herrn verstehen?
Desto geübter und bewanderter waren sie im Ceremoniell des Gottesdienstes jeder Art und Gattung. Opfer waren die Hauptsache der Religion; denn wenn sie selbst opferten, so glaubten sie, Gott damit für sich zu gewinnen; opferten aber Andere, so war dieß für Priester und Leviten einträglich. Daß diese Art von Religiosität nur verkappter Eigennutz war, bewies ihre Lieblosigkeit gegen alle Menschen, und ihre an Grausamkeit gränzende Härte gegen Sünder und Irrende. — Der natürliche Grund davon lag in dem Mangel an Kenntniß der heiligen Schrift, in der geringen Vertrautheit mit ihrem Geiste, in blinder Anhänglichkeit an alte Lehrer und an selbstgewählten Gottesdienst. Daher war die Antwort unseres Herrn so eindringend und unwiderstehlich: „Gehet hin und lernet, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, und nicht Opfer!“ Wie menschlich, wie milde und freundlich ist doch die von Gott selbst ausgesprochene Religion! Wie hart, wie starr und ertödtend das von Heuchlern mit diesem ehrwürdigen Namen ausstaffirte Gespenst! Menschenliebe und Eigennutz — welche Gegensätze!!
Ganz im Geiste des Allerbarmers tratS. 79 Jesus auf, und munterte alle Sünder zur Besserung auf. „Gerechte“, d. h. in sich selbst Fromme, maschinenmäßig Heilige, daher Unverbesserliche, wie die Pharisäer, konnte er nicht zur Sinnesänderung einladen. Wahrhaft Gute schlossen sich von selbst an ihn an.
So mußten seine tadelsüchtigen Gegner, kräftig widerlegt, nachdrücklich zurechtgewiesen, fein angestochen, ruhmlos abziehen, und ihren Verdruß wiederkauen.
Einstimmig lassen drei Evangelisten einen Vorfall folgen, der selbst der Zeit nach, nicht bloß wegen seines Innhaltes, mit dem Vorhergehenden zusammenzuhängen scheint. Die Pharisäer konnten es, trotz ihrer Frömmigkeit, doch nicht so leicht verzeihen, daß Jesus sie vor Zöllnern und Sündern zu Schanden gemacht hatte. Sie sannen auf Rache; und diese wird solchen Leuten nicht schwer. Dießmal verfielen sie aber auf ein fein und listig erdachtes Mittel. Jesus und Johannes sollten im Widerspruche begriffen dargestellt, die Jünger des Täufers als Werkzeuge benützt, die Schüler unseres Herrn von ihm abgewandt werden. Ein trefflicher, der gewandtesten Heuchler würdiger Plan!
Aber wie kam es, daß Johannes JüngerS. 80 sich von ihnen so leicht mißbrauchen ließen, da der Täufer so dringend vor Pharisäern gewarnt hatte? Dazu mußten mehrere Triebfedern künstlich in Bewegung gesetzt werden. Aus einem frühern Vorfalle (Joh. III., 26.) ergiebt sich ungezwungen, daß einige Schüler des Täufers eifersüchtig waren auf das schnell wachsende Ansehen unseres Herrn; diese leidenschaftliche Stimmung konnte seit der Gefangennehmung des Täufers nicht abgenommen, vielmehr durch Schmerzgefühl über den Verlust ihres Lehrers nur zugenommen haben. Von einer andern Seite hiengen diese Schüler noch sehr an einem äußerlich strengen Leben, wie es ihr Lehrer, seinem Berufe und Zwecke gemäß, geführt, und wozu er sie, als Vorbereitung zum Reiche Gottes, ebenfalls angewiesen hatte. Da nun nicht leicht Jemand scharfsichtiger ist in der Entdeckung der Schwachheiten Anderer, als der Heuchler, weil er selbst viele Blößen zu decken hat; und da eben solche Menschen fremde Fehler am schlauesten zu benützen wissen, weil sie aus der Kurzsichtigkeit der Menschen für sich selbst täglich und stündlich Vortheil ziehen müßen: so konnte es den Pharisäern gewiß nicht schwer werden, einige Johannes-Jünger in ihr Interesse zu ziehen. Je tiefer und stiller aberS. 81 eben darum freier und zwangloser die Religiosität unseres Herrn war, desto leichter war es, unter den gegebenen Umständen, sie verdächtig zu machen. Ohne viele Mühe und mit täuschendem Scheine ließ sich zeigen, daß Jesus, der mehr sein wolle, als der große Johannes — schwerlich werden die Pharisäer erheucheltes Lob gespaart haben — nicht einmal die Kennzeichen alltäglicher Frömmigkeit an sich habe. Solche Dinge von Männern vorgetragen, welche im Geruche der Heiligkeit stunden; wie verführerisch mußte es sein! um aber das schöne Vorhaben von allen Seiten zu befördern, und jedes mögliche Hinderniß bedachtsam zu entfernen, mußten sich Einige der eifrigsten Pharisäer-Schüler zu denen des Johannes gesellen. Auf diese Weise bildeten sie eine zusammengesetzte, gar nicht verächtliche Gesandtschaft, welche unsern Herrn öffentlich über den Mangel an Gebetstunden und Fasttagen für seine Jünger zur Rede stellen sollte. In welchem Lichte mußte Jesus vor den Augen der beschränkten kurzsichtigen Menge erscheinen, wenn er diesen Angriff nicht kräftig und ganz von sich ablenken konnte? Wahrlich, wer sich in Ränken und Verfolgungskunstgriffen üben will, darf nur zu Pharisäern in die Schule gehen!
Es hatte die Feinde Jesu nicht wenig Nachdenken, Scharfsinn, Kunst und Mühe gekostet, diesen Angriff auf die tadellose Frömmigkeit zu Stande zu bringen. Jesus arbeitete indessen unbesorgt und rastlos an Besserung und Beseligung der Sünder; und als sie den Schlag ausführen wollten, waren sie mit Einem Allmachtsworte der unüberwindlichen Wahrheit besiegt. Der Gott vertrauende, Menschen liebende Fromme besteht fest und ungebeugt, wie Libanons Ceder, den Sturm, während der Boshafte mit Wurzel und Stamm verderbt wird.
Ueber das Gebet gab Jesus merkwürdig genug gar keine nähere Antwort. Dieses Stillschweigen beweist wohl mehr, als alle scheinheiligen Schutzreden, daß Jesus dem Geiste des Gebetes keinen Zwang angethan wissen wollte durch Formeln und Zeiten und Orte. Bei ihm und seinen Jüngern war es nicht so, wie bei den Pharisäern. Die geistlose Anhänglichkeit an bloße äußere Gebräuche und Selbstquälungen hätte gar nicht sinnreicher und tiefer verglichen werden können, als mit Trauergebräuchen zur Zeit der Freude, mit neuen Lappen auf alte Kleider. Wie mußte dieß die Heuchler ärgern, wenn sie den Werth ihrer mühsamen und hart errungenen Heiligkeit so herabgesetztS. 83 sahen! Wer freuet sich nicht, daß wir einen Bräutigam und keinen Todtengräber zum Stifter unserer Religion haben? — Junger herber Wein, der dem Gaumen nicht behagt, und den Schläuchen schadet, ist ein sinnvolles Bild der sauertöpfischen Frömmigkeit dressirter Heuchler.
Der wahre Gottesverehrer und der Heuchler verhalten sich zu einander wie Geist und Buchstabe, wie Sache und Form, wie Wirklichkeit und Schein. Wer kennt Moses und die Propheten, und weiß es nicht, daß die Feier des Sabbates ein Grundgesetz der israelitischen Religion war? Der Glauben an den Einen wahren Gott, als Weltschöpfer und Weltregenten, hieng an der Beobachtung oder Vernachlässigung dieses Gebotes; Israel fiel oder stund jederzeit mit dem Sabbate. Seit der Wiederherstellung eines großen Theiles der Nation nach dem babylonischen Exil wurde mit ausserordentlicherS. 84 Strenge über diesem Gesetze gehalten, weil man, nachdem der Rausch des Götzendienstes verrauchet war, die Wichtigkeit dieser Feier einsah. Allein Esra’s und Nehemia’s Geist lebte nicht fort in ihren Nachkommen; diese blieben bald häufig nur bei der Form stehen, und trieben Abgötterei damit. Besonders die Pharisäer entwarfen ein Bild von der Heiligkeit des Sabbates, das an Personification gränzte, und zu den abentheuerlichsten Vorschriften verleitete, von denen die heil. Schrift durchaus nichts wußte. Sie trieben es so weit, daß die Feier dieses Tages zur Hauptsache und zum Zwecke, der Mensch zur Nebensache und zum Mittel wurde. Daher überluden sie die Menschen mit kleinlichen Regeln, Gesetzen und Bestimmungen darüber, welche körperliche Verrichtungen man vornehmen dürfe, um „nicht zu arbeiten.“ Alles wurde wieder nur auf Gebräuche, Ceremonien, Wortformen, Schritte, Bewegungen — bis zur Anwendung von Arzneimitteln eingeschränkt; das Herz gieng leer aus dabei; der Geist mußte Hunger leiden; das Gewissen kam in die Noth — wie überall bei der Heuchelei.
Jesus war Israelite im ächten Sinne des Wortes, und eben darum nichts weniger als ein Verächter des Sabbates, wohl aber der pharisäischen Lehre über denS. 85 Sabbat. Diese mit Lehre und That zu bestreiten, war sein hoher und fester Entschluß. Daher ließ er es gerne geschehen, daß seine wenigstens in diesem Punkte unpharisäischen Jünger an einem Sabbate Aehren abrupften, sie mit den Händen zerrieben, und aßen — zum nicht geringen Aerger der Pharisäer. Diese waren nämlich ihm und seinen Jüngern auch hier nachgeschlichen, oder hatten sich mit verstellter Miene der Freundschaft zu Begleitern aufgedrungen. Blinder Religionseifer treibt zu Allem, und erlaubt sich Alles; ist ja der Zweck heilig; warum nicht auch jedes Mittel? Wie werden sie sich in ihrem Gott gefreuet haben, als sie diesen Fehler entdeckten? Nun lag ja die Sündhaftigkeit und die verführerische Lehre des verhaßten Propheten zu Tage; nicht nur Er selbst hielt nichts auf göttliche Einsetzungen, sondern gestattete auch bereits seinen Jüngern, ungescheuet den Sabbat zu schänden.
Womit wollte Jesus sich rechtfertigen gegen so scheinbar wichtige und gegründete Vorwürfe? Wenn es mit Gründen aus der pharisäischen Schule hätte geschehen müßen, wäre er freilich in die dringendste Verlegenheit gerathen; denn er hätte weder einen alten noch einen neuen berühmten Rabbi für sich anführen können. Allein Jesus hielt sich vorerst an die heil. SchriftS. 86 selbst; und da war das Recht auf seiner Seite. Im Gesetze Moses war das, was die Jünger gethan hatten, den Armen ausdrücklich erlaubt, und am Sabbate wenigstens nicht verboten. Von dieser Seite konnten ihm seine Feinde nicht beikommen. Aber er war im Stande, noch weiter zu gehen, und ein unverwerfliches Beispiel aus Gottes Wort anzuführen, daß selbst bestimmte göttliche Vorschriften für äußere Gebräuche im Falle eines dringenden Bedürfnisses ihre verbindende Kraft verlieren. Was ließ sich dagegen sagen, wenn der Hohepriester Achimelech und David so gehandelt hatten? Warum tadelten denn die Pharisäer nicht auch das Gesetz Gottes, welches den Priestern Arbeit zum Behufe des Opferns am Sabbate gestattete?
Höchst merkwürdig und lehrreich bleibt es, wie unser Herr stets den Menschensatzungen und Erblehren seiner Feinde Gottes Wort und That entgegengesetzt, und sie damit verstummen machte. In welchem Lichte ihre Kenntniß göttlicher Dinge dabei erschien, darf wohl nicht erst gezeigt werden.
Obwohl das bisher Gesagte mehr als hinreichend war, die Handlung der Jünger und dadurch auch Jesus selbst zu rechtfertigen: so fügte er doch noch besondere Gründe bei,S. 87 welche unsere ganze Aufmerksamkeit verdienen, weil sie den Charackter der Wahrheit und Liebe, so wie der Heuchelei ins hellste Licht setzen.
Die Pharisäer fanden es untadelhaft, daß die Priester und Leviten die Sabbatsruhe brachen; denn es geschah im Tempel und folglich zur Ehre Gottes. Jesus erklärte, daß seine Jünger noch mehr Recht dazu hätten, als jene, da „Er größer sei, als der Tempel.“ Damit gab er sich deutlich genug zu erkennen, als den Sohn Gottes, als die lebendige Wohnung, in welcher die Fülle der Gottheit thronte. Es ist ein trauriges Zeichen der tiefen Verblendung, in welche geistlose Systeme die Menschen stürzen, daß die Pharisäer diesen starken Fingerzeig weder gut noch böse aufnahmen; ja, gar nicht vernommen zu haben scheinen.
Auch bei dieser Gelegenheit führte Jesus wieder den Spruch des Propheten an: „Barmherzigkeit will ich, und nicht Opfer.“ Damit deutet er auf die eigentliche Quelle, aus welcher der Vorwurf der Sabbatsschändung geflossen war. Lieblosigkeit, Verdammungssucht, Partheihaß war es, was sie bestimmt hatte, unserm Herrn auf dem einsamen Pfade durch Saatfelder nachzuschleichen, und die unschuldigen Jünger zu tadeln. Welch’ einen Begriff von Frömmigkeit hatten diese Heuchler? Was ließS. 88 sich mit ihrer Religiosität nicht Alles reimen? Wie listig wußten sie ihre Leidenschaften mit Gottes Sache zu vermischen! Aber Jesus durchschaute die Tücke ihres Herzens, und enthüllte sie — zu unserer Belehrung und Warnung.
„Der Sabbat ist um des Menschen willen, nicht der Mensch um des Sabbats willen da.“ So kehrte Jesus mit kühner Freimüthigkeit, wie sie nur der Wahrheit eigen ist, die Lehre der Pharisäer um, und stellte das ursprüngliche, alte Verhältniß wieder her. Man muß sich ganz in die damalige Heuchlerische Lehre hineindenken, um das Neue, Treffende, Wahre, aber für die Rabbinen höchst Aergerliche — und für alle Zeiten Anwendbare recht tief und innig zu fühlen.
Aus dem eben aufgestellten Grundsatze leitete Jesus eine eben so wichtige als damals anstößige Folge ab: „Also ist der Sohn des Menschen Herr auch des Sabbates!“ Mit bewunderungswürdiger Feinheit hat er hier sich und seine Jünger zugleich vertheidiget. Menschensohn bezeichnet den Menschen überhaupt, und insbesondere den Messias. Beides konnte er mit vollem Rechte von sich sagen; aber auch für seine Jünger galt es, daß sie über dem Sabbat, nicht der Sabbat über ihnen stehe. Keine äußere Feier des SabbatesS. 89 wollte Jesus so verstanden wissen, daß der Mensch, wenn ihn ein unausweichliches Bedürfniß drängte, nicht das Ceremoniel des Sabbates umgehen dürfe, um den Geist dieser Feier zu behalten — nämlich Ruhe, frohen Genuß vor Gott, Andenken an die Schöpfung durch Gott, Dank gegen den Geber alles Guten, Erneuerung und Befestigung des Glaubens und der Liebe. Solche reine und freie Ansichten finden an den Pharisäern aller Zeiten Gegner.
Jetzt noch einen Blick auf die Jünger! Was wird sich in den biedern, für einfache, zwanglose Frömmigkeit und Wahrheit vielfach empfänglichen Herzen geregt haben, als sich ihr Meister ihrer so annahm? Welche neue Gedanken werden aufgestiegen seyn? Welche Freude werden sie empfunden haben, daß Jesus ihnen kein so schweres Joch auflegte? Welcher Redliche freuet sich nicht mit ihnen?
Der wirklich glänzende Sieg, welchen Jesus über die Pharisäer davon getragen hatte, verschaffte ihm von ihrer Seite so wenig Ruhe, daß sie ihn vielmehr rachsüchtiger verfolgten, als vorher. Ist dieß nicht das Schicksal des Gerechten, so oft er denS. 90 schweren Kampf gegen Bosheit wagt? Läßt sich nicht natürlich noch Schlimmeres von der Heuchelei, als von einfacher, offener Verkehrtheit des Herzens erwarten? Je weniger die Pharisäer in sich selbst hineinsehen wollten, desto sorgfältiger belauschten sie Andere, besonders den ihrem Ansehen so gefährlichen Jesus. Sie rechneten sich dieses Spionenwesen sogar zum Verdienste vor Gott an; denn sie sorgten ja dadurch für Erhaltung und Beförderung der Ehre Gottes — wenigstens vor den Augen der Menschen. Daher umspannen sie Jesus überall mit den Netzen ihres Argwohnes; nirgends aber lauerten sie sorgfältiger, als im Tempel, und in den Synagogen. Sehr begreiflich; denn dieß waren die eigentlichen Tummelplätze ihres faden gelehrten Krames und ihres prahlerischen Gottesdienstes.
Dießmal gab ein Mann mit einer lahmen Hand Anlaß zu einem merkwürdigen Vorfalle. Es war Sabbat; die Synagoge hatte sich gefüllt mit Menschen; vermuthlich auch darum, weil man wußte, daß Jesus komme. Der Lahmhändige stellte sich so hin, daß Jedermann sehen konnte, er suche Hülfe bei Jesus. Auf den Gesichtern der Pharisäer drückte sich der fromme Unwillen aus, den sie schon bei dem Gedanken empfanden, daß der Festtag durch die Heilung dieses Mannes entweihetS. 91 werden könnte. Wirklich zeigte sich Jesus geneigt. Um aber die Falschheit ihrer Lehre und die Verkehrtheit ihres Willens selbst dem gemeinen Manne lebhaft genug vor die Augen zu stellen, fragte er sie zuvor öffentlich: Ob es erlaubt sei, am Sabbate Gutes oder Böses zu thun? — Was sollten sie thun? Ihm erlauben, dem Unglücklichen eine Wohlthat zu erweisen? Dieß gestattete weder ihr System noch ihr liebloses Herz. Sagen, er sollte Böses thun? Dieß durften sie um des Volkes willen nicht. — „Sie schwiegen,“ und warteten den Erfolg ab, um daraus Stoff für ihre religiöse Rachsucht zu sammeln. — „Sie schwiegen,“ damit die geheime Bosheit ihres Herzens nicht öffentlich bekannt würde. — „Sie schwiegen“ — wie tief läßt uns dieß in die heillose Kunst und Gewandtheit der Heuchelei blicken, die so reich an Ausflüchten und Schleichwegen ist, auf welchen sie bei aller Scheinheiligkeit die niederträchtigsten Ränke schmiedet!!
„Jesus aber sah sie alle umher an mit Unwillen.“ Der göttliche Erlöser zürnt; er fühlt bittern Schmerz über die Verblendung ihres Herzens, mit welcher sie die Augen vor den eindringenden Lichtstrahlen der Wahrheit gewaltsam schlossen. Wie ganz anders zürnten die Pharisäer!
Unser Herr ließ sich nicht irre machen; er heilte die Hand, entheiligte den Sabbat nach dem Urtheilsspruche der Pharisäer, und heiligte ihn nach dem Sinne und Willen seines Vaters. Wie lehrreich für alle Jahrhunderte!!!
„Mein Vater wirket bis jetzt, und so wirke auch ich.“ Mit diesen Worten zeigt uns Jesus die sogenannten Sabbatschändungen von einer neuen Seite. Er deutet damit auf das ganz eigenthümliche Verhältniß hin, in welchem er, als Sohn, mit dem Vater steht, und leitet daraus das Recht ab, am Sabbate Gutes zu thun. Gott entweihet den Sabbat nicht dadurch, daß er für das Wohl der Menschen thätig und wirksam ist; eben so wenig kann man es seinem Sohne verargen, wenn er dem erhabenen Beispiele des Vaters folgt. Wahrlich! eine gründlichere und Gottes würdigere Schutzrede für die Heilung des 38jährigen Kranken am Sabbate läßt sich gar nicht denken. Die Feinde Jesu wollten sie mit Steinwürfen beantworten — das gewöhnliche Werkzeug des Beweisens für beschämte und besiegte Heuchler. Welche Herzen mußten das sein, die eine solche göttliche Sprache nicht verstunden; von solchen Thaten nicht gerührt wurden? Eine solche widrige ErscheinungS. 93 war nur bei Menschen möglich, welchen Ehre bei Menschen, die glänzte und in die Augen fiel, mehr galt, als die Ehre bei dem unsichtbaren Gotte; welche sich zum Beweise ihrer Rechtglaubigkeit auf Moses Ansehen und Schriften beriefen, während sie im Leben seine Lehre und seinen Geist verleugneten; welche der Weissagung Moses vom Messias nicht glaubten, weil sie ihrem Interesse widersprach. War es für solche Menschen nicht noch eine Ehre, wenn man sie Heuchler nannte? nicht umsonst bezeugte Jesus, daß es seinen Gegnern an Wahrheitssinn fehle, daß das Wort Gottes und die Liebe Gottes nicht in ihren Herzen wohne — —
Die Lehre, daß Religion nicht bloße Aeußerlichkeit der Gebräuche, daß Menschenliebe ihre schönste Krone sei, daß Gott selbst sich als Muster dafür aufstelle — diese Lehre war lebensgefährlich für unsern Herrn; wird dieß jetzt weniger der Fall sein, wenn Jemand mit diesem Ernste diesen Geist gegen manchen Buchstaben geltend machen, und das, was Jesus vom Sohne Gottes sagt, verhältnißmäßig auf Gottes Kinder anwenden wollte? Ist wirklich der Pharisäismus so ganz aus unsern Herzen gewichen? —
Schon damals scheinen Einladungen zu Mahlzeiten nicht immer Beweise vertrauter Freundschaft, sondern öfter auch Complimente und Hofsitte schlauer Füchse gewesen zu sein. Wer wundert sich nicht? Jesus wurde von dem Pharisäer Simon zur Tafel geladen. Doch wohl ein Beweis, daß er den Propheten zu schätzen wußte! So mochte, so sollte es vielleicht scheinen; allein es war nicht so. Das Betragen Simon’s ist Bürge dafür, daß die Einladung nur geschah, entweder um den seltsamen Lehrer auch ein Mal in der Nähe zu sehen, oder damit manche Verehrer Jesu gut von Simon denken möchten u. s. w. Das, was die Leute sahen und hörten — die Einladung; und das, was im Verborgenen des Hauses vorgieng — die Behandlung des Gastes; welch’ ein Contrast! Aber unstreitig ächt pharisäisch.
Aber nun erst der Hauptauftritt! die Sünderin tritt in das Speisezimmer, nähert sich Jesus, weint Thränen einer reueS. 95vollen, dankbaren Liebe, küßt und salbt die Füße ihres Erretters vom ewigen Tode. Kalter Schauder überläuft die fromme Haut des reinen Pharisäers bei diesem Anblick. „Wenn dieser ein Prophet wäre, so würde er wissen, wer und was für ein Weib es ist, welche ihn anrühret“ — so spricht er im Herzen sein Gewissenrichterisches Urtheil. Allemal glaubt der Heuchler, in dem Innern Anderer richtig zu lesen, was sein verkehrter Sinn ihm eingiebt. Er ist immer auf Reinerhaltung der Ehre und des Gewissens seiner Nebenmenschen bedacht, und vergißt darüber sich selbst. Der Sohn Gottes las richtiger im Herzen Simon’s, und gab ihm davon einen Beweis, der ihn auf ernste und heilsame Gedanken hätte führen können, wenn er nicht von Selbstsucht zu sehr verblendet gewesen wäre. Widerlegte Jesus nicht recht gründlich und schonend zugleich durch die That den Zweifel Simon’s an seiner Prophetenwürde?
Es läßt sich gar nicht sagen, wie viel Zurückstossendes, zarte Herzen Empörendes in der Gesinnung des Pharisäers gegen Jesus und gegen die Sünderin liegt. Ganz versenkt in die Vorstellung seiner gesetzlichen Heiligkeit; trunken von Freude über seine Sittenreinheit vor den Augen der Menschen blickt er Jesus und die Sünderin mit verachtendem Widerwillen undS. 96 Eckel an. Es wäre wirklich lehrreich für den Menschenkenner, Stirne, Augen, Mund und Gebehrden des treuen Sklaven eines heilig sein sollenden Buchstabens zu sehen. Aber kaum würde er seinen Unwillen unterdrücken können beim Anblicke der grinsenden Lieblosigkeit des aufgeblasenen Heuchlers, der gefühllosen Härte des unbekannten Sünders, des undankbaren Herzens gegen seinen wohlthätigen Schöpfer. Aus dieser bittern Quelle floß die geläufige Sophistik, welche blitzschnell beweisen konnte, daß Jesus kein Prophet sei, weil er sich von einem solchen Weibe berühren ließ. Das Verdammungsurtheil war systematisch und rabbinisch vollkommen consequent; also mußte es wahr sein, so sehr es auch allem Geiste der Lehren und Thaten Gottes widersprach.
Zwischen der Sünderin und dem scheinheiligen Simon befand sich der göttliche Mittler. Konnte er gleichgültig oder auch nur geduldig die schonungslose Verachtung ansehen, mit welcher die bessere Sünderin von dem schlechtern Frömmler behandelt wurde? Unmöglich! Er müßte die verlornen Schaafe Israels weniger geliebt haben, wenn er geschwiegen hätte. Aber er machte die Rüge dadurch ausserordentlich eindringend und scharf, daß er durch eineS. 97 treffliche Parabel den sich weise dünkenden Simon zuerst dahin brachte, über sich selbst das Urtheil zu fällen, und dann die aufrichtige Reue, die flammende Gottesliebe, den unbegränzten Dank, das felsenfeste Vertrauen der berüchtigten Sünderin verglich mit der eingebildeten Heiligkeit des kleinen Schuldners, der aber so wenig als die große Schuldnerin bezahlen konnte; mit der starrenden Kälte des frommen Stolzes gegen den Allerbarmer; mit der unhöflichen Aufnahme des hohen Gastes; mit dem mißtrauischen Sinne des selbstgerechten Gottesgelehrten, der nur auf sich bauete.
Je länger man dieses herrliche Sittengemälde betrachtet, desto mehr gewinnt es an Bedeutung und Anwendbarkeit für Kopf und Herz. Durchsuchen wir doch die geheimsten Gänge und Falten unseres Busens, schütteln wir ihn ganz aus! Denn wir haben einen Herrn und Richter, der alle stolzen Ansprüche selbstgerechter Heiligkeit kräftig niederschlägt, der äußere Frömmigkeit ohne innere in ihrer ganzen Nacktheit darstellt, der die Liebe nach Thaten wäget, nicht nach Worten und Gefühlen, der auf ein gebessertes, reines Leben mehr hält als auf schulgerechte Lehrformen u. s. w.
Mit einem Worte seiner Allmacht hob Jesus ein dreifaches Uebel vollkommen. Konnte er eine That verrichten, die seine Sendung von Gott stärker bewies? Auf die Herzen des Volkes machte sie auch wirklich einen solchen Eindruck. Verwunderung, Staunen, heiliger Schauer ergriff die Zuschauer, sie fühlten die Nähe Gottes, weil sie unbefangen und geradsinnig die That ansahen, und gar wohl begriffen, daß etwas geschah, was kein Mensch so zu thun vermochte. So stieg dann in ihren unverdorbenen Herzen der Gedanke auf: „Sollte dieser nicht der Messias sein?“ Richtig zog ihr gesunder Verstand den Schluß, daß dem, der Macht hat, solche Dinge zu thun, wohl auch die Rettung der Nation für Zeit und Ewigkeit nicht unmöglich sei. Das Wunder führte also die unpartheiischen Menschen dahin, wo Jesus sie haben wollte — an die enge Pforte desS. 99 Glaubens an ihn, als den Sohn David’s und Gottes.
Noch jetzt wird man lebhaft ergriffen, wenn man sich diese wahrhaft beseligende Scene vergegenwärtiget; welche Wirkung muß sie erst an Ort und Stelle hervorgebracht haben! Wer konnte ungerührt bleiben? Niemand blieb es — als die Pharisäer und Schriftgelehrten, welche von Jerusalem gekommen waren. Ist es möglich? Sollten sie bei ihrer gelehrten Bildung nicht früher und besser als das Volk, die göttliche That bemerkt und bewundert haben? Nicht nur dieses nicht, sondern noch unglaublich mehr. Sie fällten über dieses offenbare und allgemein dafür anerkannte Wunder ein Urtheil, welches an ruchlosem Unsinne kaum seines Gleichen in der Geschichte findet. „Jesus“, sagten sie, „treibt die Teufel anders nicht aus, als durch Beelzebub, den Obersten der Teufel.“ Damit glaubten sie das dumme Volk eines Bessern zu belehren, das Erstaunen über die göttliche Heilung niederzuschlagen, den Glauben an Jesus im Keime zu ersticken, und seiner Lehre vorsichtig und wohlweise den Weg zu versperren. Und der Beweis für diese sinnlose, empörende Wundererklärung? Sie hatten keinen andern, als ihr Ansehen, von dessenS. 100 Allgewalt sie mächtigere Wirkungen sich versprochen, als von Gottes Wort und That. Ihnen sollte das Volk ohne Beweis und Siegel glauben; bei Jesus sollte Gottes Siegel ungültig sein — eben weil es Jesus war, der verhaßte Neuerer, der fluchwürdige sogenannte Prophet, der sie um ihren Kredit beim Volke, um ihre Bequemlichkeit im Sorgenstuhle des religiösen Ceremonielles, um den Ruhm der Schrift- und Satzungsgelehrtheit, um ihr selbstgeschaffenes Ideal vom Sohne David’s und von seinem Reiche — um alle geliebten Scheindinge zu bringen drohte. Ein solcher Mensch konnte nichts Gutes thun, weil er es nicht thun sollte, und nach ihrem Sinne nicht thun wollte. Eher mußte der Teufel ihm zur Seite stehen, als Gott, so entschieden auch Letzteres war. Bei Jedem aus ihrer Kaste hätten sie Jehova gepriesen für den Sieg über den Satan; nur bei Jesus nehmen sie zum Wahnsinne Zuflucht, weil sie von Leidenschaft gegen ihn an Kopf und Herz gefesselt waren.
Allein diese giftige Schlange verbargen sie tief im Busen; überfüllt von ihrem Geifer im Innersten, färbten sie den Ausbruch desselben mit religiöser Schminke. Daher sollte die wüthendste Lästerung für Beförderung der Ehre Gottes, die ungemessensteS. 101 Verfolgungssucht für Bewachung des Seelenheiles der Israeliten, die unersättlichste Rachsucht für gerechten Unwillen angesehen werden, weil sie von Jerusalem, der Stadt Gottes, gekommen waren.
Unser Herr breitet sich nicht leicht über eine Sache aus; aber dießmal that er es mit aller Kraft seiner himmlischen Beredsamkeit. Er wollte unstreitig die Scheußlichkeit und Strafbarkeit dieser Art von Heuchelei ins hellste Licht setzen, um die Menschen — seine bis in den Tod geliebten Brüder — dringend zu warnen. Zuerst zeigt er das Ungereimte, Widersprechende in ihrer Behauptung, also das innerlich Unmögliche. Dann widerlegt er sie durch die Werke ihrer eigenen Kinder, und durch den wahren Begriff vom Reiche Gottes, als Gegensatz der Herrschaft des Satans. Hierauf macht er auf das äußerlich Unmögliche der Sache in einer Parabel aufmerksam. Endlich stellt er sich selbst geradezu als Gegner des Satans auf, und erklärt feierlich, daß man zu Einer von beiden Partheien sich schlagen müsse — zu Gott oder zum Satan. Dabei unterscheidet er genau sein damaliges, leicht verkennbares Verhältniß zu Gott, und vergiebt es daher gerne, wenn man ihn lästert; aber unverzeihlich für Zeit und Ewigkeit nennt er es, wenn man die Werke desS. 102 Geistes Gottes, der in ihm wirkt, dem Teufel zuschrieb, bloß um nicht an Jesus glauben zu dürfen. Solche Menschen findet er unheilbar und unverbesserlich, so fromm sie scheinen mochten. Endlich deckt er das Brandmal ihres Herzens auf, aus dem nichts Gutes kommen konnte. Er weiset nach, daß ihre gleißenden Worte nur Ausgeburten der alten Schlange seien. Sogar auf das furchtbare Gericht Gottes lenket er den Blick hin, um die zu schrecken, welche er nicht rühren konnte.
Wären die Pharisäer noch einer Besserung fähig gewesen; hätten sie sich nicht verkriechen müßen vor Reue und Scham über die höhnische, absprechende, scheinbar warnende und wohlmeinende Gebehrde und Sprache, mit der sie Jesus verläumdet hatten? Welche Gründe der Wahrheit, welche Thatsachen stritten für ihn! Was mußte ein redlicher Zuhörer denken? Was sollen wir dabei denken, daraus lernen?? —
„Warum übertreten deine Jünger die Erblehre der Alten? DennS. 103 sie waschen die Hände nicht, wenn sie das Brod essen.“ — So stellten die Pharisäer unsern Herrn zur Rede, und forderten ihn zur Verantwortung auf. Sie thaten es um so dreister und zudringlicher, weil sie von dem Hauptsitze der Religion und Gottesgelehrtheit — von Jerusalem gekommen waren, um das Treiben des Nazareners in Galiläa mit eigenen hohen Augen wahrzunehmen, und bei guter Gelegenheit ihm zu Leibe zu gehen. Ueberhaupt mußte es diesen argwöhnischen und eifersüchtigen Rabbinen schon verdächtig vorkommen, daß Jesus, als vorgeblicher Verbesserer der Religion, das Licht der hierosolymitanischen Wahrheit und die scharfen Blicke des Synedriums zu scheuen und sich und sein Unwesen in dem fernen Galiläa zu verbergen schien. Ueberdieß waren die Galiläer in Jerusalem als unwissende Menschen in Betreff der Religion verachtet und vernachläßiget; die Leviten und Gesetzgelehrten gaben sich nur keine Mühe, sie besser zu unterrichten; um so bedenklicher mußten die Herren an der Tempelschule es finden, daß der neue Lehrer sich um „die verlornen und verlassenen Schaafe Israels“ annahm; da konnten seine gefährlichen Grundsätze im Volkstone vorgetragen den raschesten Fortgang machen. So selten daher die Pharisäer Galiläa mit ihren Besuchen beehrten,S. 104 so begierig ergriffen sie jetzt diese Gelegenheit, ihre väterliche Sorgfalt für die Erhaltung der reinen Lehre in Galiläa mit allem Nachdrucke zu bethätigen.
Wenn man nicht unbemerkt von dem Gedanken beschlichen wird, Jesus habe als Sohn Gottes, ein Privilegium gehabt, sich über religiöse Gebräuche seines Volkes wegzusetzen, da er sie doch als Israelite beobachten sollte: so kann es nicht anders als sehr auffallend sein, daß er in manchen Fällen stracks und geflissentlich das Gegentheil von dem that, was die Pharisäer als gesetzliche Vorschrift lehrten und übten. Da er in andern Fällen so nachgiebig und schonend war, u. z. B. den geheilten Aussätzigen zu den Priestern sandte, die Tempelsteuer bezahlte, das Fest der Tempelweihe besuchte: so kann man mit Recht fragen: Warum war er gerade gegen die Erblehre der Alten so eingenommen? Sollte der Grund nicht darin liegen, weil sie der Heuchelei Thür und Thor öffnete?
Es gehört mit zu dem Verderben von Adam’s Söhnen, daß sie sich mit dem Worte Gottes selten begnügen, sondern von jeher diesen alten, milden Wein mit ihrem neuen, rauhen Säuerling genießbarer zu machen glaubten, und sich nicht wenig darauf einbildeten. An diesem Erbübel litten auch die Pharisäer. Moses Gesetz war ihremS. 105 Kleinigkeitsgeiste nicht scharf genug in seinen Bestimmungen; David’s Psalmen fand ihr an Glauben und Liebe armes Herz zu kurz und zu trocken; die Propheten — — — kurz, Gottes Geist hatte sich nicht deutlich, nicht breit, nicht ängstlich genug ausgesprochen; die Rabbi späterer Jahrhunderte sahen ernst die Punkte auf dem Jota und alle Beistrichgen recht genau, gaben Alles haarklein an, entschieden mit frommem Scharfsinne alle möglichen Fälle, zogen einen Zaun um das Gesetz Gottes, daß man von demselben nichts mehr sah, sondern den Zaun für das Hauptgebäude beinahe ansehen mußte. Allein Moses, David’s, Jesaias Geist wehte nicht in den Lehren der Alten; die wahre, innige, herzliche, lebendige, thatenreiche Frömmigkeit gewann nicht nur nichts, sie verlor alles. Darum trat Jesus diese Satzungen der Alten kühn mit Füßen.
Zur unwiderleglichen Rechtfertigung solcher Schritte gaben die Pharisäer unserm Herrn die Mittel selbst an die Hand. Noch immer ließen sie die heilige Schrift als Gottes Wort gelten, bezeugten mit schönen Reden die tiefste Verehrung, obwohl sie in der That sie aus ihrem Lehrgebäude verdrängten. Um so kräftiger zeugten dann die Männer Gottes gegen sie, daß sie verstummenS. 106 mußten; Dießmal war es wieder Jesaias, den Jesus anführte, um die Rüge seiner Feinde zu Schanden zu machen. Durch diesen geistreichen Seher eiferte Jehova gegen Lippendienst, an dem das Herz keinen Theil nahm; er tadelte es scharf, daß sein Wort und sein Gesetz durch Menschenlehren und Menschensatzungen verdrängt wurde. Darum verwarf auch Gott die hohle, leere, eitle Frömmigkeit Israels; denn sie war Heuchelei. Waren die Pharisäer nicht in demselben Falle? „Es ist Korban!“ Dieses heilige Zauberwort setzte an die Stelle liebevollen dankbarer Elternpflege ein für die Priester und Leviten einträgliches Opfer. Gott hatte also Unrecht, wenn er Liebe forderte und nicht Opfer; Gott hatte Unrecht, wenn er ein reines Herz verlangte, und nicht bloß gewaschene Hände, Schüsseln und Stühle u. s. w. Dieß sagten freilich die Pharisäer nicht mit dürren Worten; wie hätten sie es wagen dürfen? Aber auf fein ersonnenen Umwegen gelangten sie zu demselben Resultate. Sie priesen den Werth der Opfer; schilderten die Pracht und Freude der heiligen Gebräuche; strichen die göttliche Einsetzung derselben heraus; rühmten den Eifer und die Weisheit der Alten in diesen Dingen; schärften den Buchstaben der ReinigungsgesetzeS. 107 ein — schwiegen dagegen, oder sprachen doch wenig und schwach von Glauben, Liebe, Treue, Redlichkeit, Barmherzigkeit, Keuschheit, Versöhnlichkeit, Wohlthätigkeit, Uneigennützigkeit &c.; und was blieb? Eine schöne Larve ohne Kopf und Geist!
Wir versetzen uns viel zu selten recht lebendig in die Zeit und Lage unseres Herrn, um es tief und ganz zu fühlen, wie erhaben über Vorurtheile, wie rein von Zusätzen, wie neu und unerhört das Evangelium damals war. Darum verliert so mancher Ausspruch sein Anziehendes; es fehlt ihm an Klarheit und Bedeutsamkeit; man weiß ihn nicht zu brauchen. Wie ganz anders wird dieses Alles bei Zeit gemäßer Ansicht! Wer erkennt dieß nicht bei dem Schritte, den Jesus eben jetzt that, indem „er das Volk zusammenrief“ und ihm seine Lehre von Rein und Unrein im grellsten Gegensatze gegen die Lehre der Pharisäer vortrug. Dabei fordert er zum richtigen Verstehen derselben nichts, als unbefangene Anwendung von Aufmerksamkeit und gewöhnlicher Einsicht. „Höret und denket nach! — Wer Ohren hat, zu hören, der höre!“ Dieß ist alles, was er verlangt; es war aber auch nicht mehr nothwendig, um die Wahrheit und Milde seiner Lehre zu erkennen, und das abergläubisch Abgeschmackte und läppisch Uebertriebene derS. 108 Schriftgelehrten zu finden. Freilich mochte es vielen an offenem, ungebundenem, reinem Sinne für diese schöne Lehre fehlen, und dann konnte sie den heuchlerischen Geist nicht austreiben. Doch ganz fruchtlos blieb gewiß auch dieser Versuch unseres Herrn nicht.
Wundern wird man sich eben auch nicht, daß dieses Verfahren unseres Herrn sowohl als seine Grundsätze den Pharisäern ärgerlich, empörend und gottlos vorkam. Hieß das nicht ihr Ansehen beim Volke zernichten, wenn Jeder selbst entscheiden sollte? Drohte nicht ihrem Lehramte mit dieser Anrede an das Volk der Untergang? Stund nicht ihr ganzes System in der dringendsten Gefahr, wenn diese neue Lehre Eingang fand? Wer war Pharisäer, und mußte nicht so denken? Sie gaben es auch laut genug zu verstehen, wie entsetzlich anstößig ihnen die Begriffe Jesu über Rein und Unrein seien; nur wußten sie nichts Gründliches dagegen beizubringen, und zogen deßwegen voll Unwillen ab, den sie mit frommem Abscheu artig zu maskieren wußten.
Wirklich ließen sich selbst die Jünger täuschen, und ihre bedenkliche Frage an Jesus scheint darauf hinzudeuten, daß sie wenigstens in Zweifel geriethen, ob ihr Lehrer, wenn auch wahr, doch nicht zu stark gesprochen habe. Dieß konnte um so leichterS. 109 geschehen, da sie selbst den Sinn der Rede Jesu nicht ganz gefaßt und verstanden hatten. Unerwartet genug für sie blieb Jesus fest auf seinem Satze, und erklärte geradezu die Lehre und Handlungsweise der Pharisäer für so verwerflich, daß man sie ohne Schonung widerlegen, aus den Herzen und Augen der Menschen entfernen und gänzlich zernichten müße, weil sie unfehlbar ins Verderben stürze. Dieses strenge Urtheil ist um so merkwürdiger, je liebreicher, nachsichtiger und erbarmender sonst Jesus die Fehler der Menschen ansah und behandelte. Allein gegen Heuchler kannte er keine Milde; diese will er ärgern; ihnen soll seine Lehre ein Todesgeruch sein; ihr Gottesdienst muß gestürzt werden, wenn wahre Religion aufkeimen soll. Faßt man dabei Zeit, Ort, Personen gehörig ins Auge, so spricht sich in Jesus eine Reinheit der Gesinnung, eine Höhe der Frömmigkeit, eine Festigkeit des Geistes aus, welche man nie genug bewundern kann.
Die nähere Erklärung für die Jünger ist eine sichere, unüberwindliche Vormauer gegen Heuchelei für alle Jahrhunderte. Zwei Punkte sind es, auf welche wir unser Augenmerk richten müßen:
1.) „Alles Aeußere, wenn es in den Menschen hineinkommt, kann ihn nicht unrein machen; denn esS. 110 geht nicht in das Herz, sondern in den Magen.“
2.) „Was aber aus dem Munde herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das verunreiniget den Menschen.“
Ist es möglich, daß auch nur der leiseste Zweifel entstehe über die Fragen: Wann ist der Mensch rein vor Gott? Was macht ihn mißfällig vor Gott? Der Geist des alten Testaments konnte nicht herrlicher gegen den Tod des Buchstabens gerettet und allgemein anwendbar gemacht werden, als auf diese Weise. Die Reinigungsgebräuche sollten kein religiöses Handwerk werden, wodurch man bei Gott etwas auf Rechnung bringen könnte; sondern erinnern, hinweisen sollten sie auf Reinigung des Herzens. Wer diese Sprache nicht versteht; wer von solchen starken Winken die Anwendung auf sich nicht zu machen weiß; was soll dem das neue Testament? Er hat noch nicht einmal das alte erreicht!
„Seid auch ihr noch so unverständig?“ So sprach Jesus damals zu seinen Jüngern; was würde er jetzt sagen?? —
Für seine Zeitgenossen — und nur für diese? — war das Leben unseres Erlösers ein wahres, schwer zu lösendes Räthsel. Auf einer Seite war er genau in Beobachtung aller göttlichen Vorschriften über Glauben und Liebe; auf der andern Seite handelte er frei in Bezug auf menschliche, den göttlichen gleich sein sollende, Gesetze: bald war er strenger Israelite, bald schien er unreiner Heide zu sein; jetzt besuchte er ein nicht gebotenes Fest, dann schändete er wieder in vieler Augen den Sabbat; einmal sprach er holdselige, trostreiche, göttlich erhabene Worte, ein anderesmal ärgerte er viele durch unerhörte, schneidende, gegen alle Schullehren verstoßende Vorträge u. s. w. Bei ihm waren dieß freilich keine Widersprüche mit sich selbst; alle diese scheinbar so entgegengesetzte Handlungen waren Ein Erguß eines sich ewig gleichen, unerschütterlichen Charakters, der allen Umständen gebot, und doch auchS. 112 sich in alle Lagen zu fügen wußte, ohne sich selbst zu verlieren. Freunde und Feinde, Gute und Böse, Starke und Schwache am Geiste, Geradsinnige und Tückische, Zeiten, Orte &c. gaben dem Einen Leben so mannigfaltige Farben. Aber welch’ ein reiner und tiefer Blick gehörte dazu; welche Einfalt und Güte des Herzens wurde erfordert, „sich nicht zu ärgern an dem Sohne des Menschen!“
Wundern kann es uns also nicht, wenn seine Zeitgenossen widersprechende Urtheile über ihn fällten; vielmehr müßte es befremden, wenn dieß nicht geschehen wäre. „Die Einen sagten: Er ist rechtschaffen. Die Andern sprachen: Nein! sondern er verführet das Volk.“ Wer hatte Recht? Unstreitig die Erstern; sie bewiesen ein uneingenommenes Gemüth, einen reinen Willen, der fähig war, auf die Wahrheit aufmerksam zu sein, und Erkenntniß derselben dadurch herbeizuführen. So sahen sie, trotz aller Hindernisse, ungeachtet alles widrigen Anscheines das Gute, das Göttliche in Jesus Lehren und Thaten. Aber die Andern; wie kamen diese zu ihrem Urtheile? Hier zeigten sich unläugbar die Früchte pharisäischer Bearbeitung des Volkes. Die Pharisäer müßten weniger schlau und scharfsinnig in Besorgung ihresS. 113 eigenen Vortheiles gewesen seyn, wenn sie es nicht frühzeitig hätten merken sollen, in Jesus sei ein Mann aufgetreten, der ihrem Wesen und Treiben ein Ende zu machen drohe; denn er hielt sich in Wort und That so an Gottes Wort, daß ihre selbst erfundenen Lehren, mit denen sie das göttliche Gesetz verunstalteten, in ihrer ganzen Grund- und Werthlosigkeit erschienen. Selbst der gemeine Mann fieng an, dieses einzusehen. Welche Gefahr für das damalige Synedrium, und in demselben natürlich für die Religion der Väter selbst! In solchen Fällen erlaubt sich der gleißende Religionseifer jedes Mittel, um mit dem Scheine der Gottesfurcht seine vortheilhafte Sache zu retten. Reichen Gründe nicht aus — wie es hier der Fall war — so nimmt man zu Lästerungen seine Zuflucht. Daher warfen sie häufig mit Sabbatschänder und Volksverführer um sich, und erreichten so bei manchem Kurzsichtigen ihren Zweck schneller und sicherer, als mit Beweisen, die sie nicht liefern konnten oder mit wahrhaft frommen Thaten, die sie nicht ausüben wollten. Viele im Volke, besonders die Bewohner der Hauptstadt, sprachen den weisen und eifrigen Lehrern nach, und lästerten, „was sie nicht verstunden.“ So leisteten gehässige Namen,S. 114 mit denen man eine gute Sache brandmarkte, schon damals den Heuchlern treffliche Dienste!!
„Wie versteht denn dieser die Schrift, da er sie doch nicht gelernet hat?“ Diese Frage würde unsere ganze Aufmerksamkeit fesseln, wenn wir es nicht zu sehr gewohnt wären, Alles, was die Feinde unseres Herrn sagen und thun, ungereimt und böse zu finden, ohne weiter über den Grund der Sache nachzudenken und in unser eigenes Herz zu blicken. Wir selbst werden an den Pharisäern gar oft auch zu Pharisäern.
Schon mit zwölf Jahren hatte der Sohn des Zimmermannes die Alten in der Tempelschule durch Fragen und Antworten in Verlegenheit und Staunen gesetzt; und später hatte er es niemals nöthig gefunden, zu den Füßen eines Rabbi zu sitzen, um Weisheit zu lernen; und doch war er ihnen in der Blüthe des männlichen Alters an Schriftkenntniß unendlich überlegen. Sie führten den prangenden Titul; Er hatte die wichtige Sache. Daher spricht ihre Frage eben so viel Neid und Verkleinerungssucht als Befremdung und Verwunderung aus. Den meisten Antheil daran hatte aber offenbar ihr gleißender Charakter, vermögeS. 115 welchem sie es nur nicht begreifen konnten, daß Jesus außer ihrer Schule, ohne ihre Formen, frei von ihren Erblehren die Wahrheit sollte gefunden haben. Es liegt in der Natur des Heuchlers, daß er vor allem fragt, wie, wo, bei wem Jemand etwas gelernet habe, nicht was er wisse, und welche Gründe er dafür gelten mache. Auch in dieser Beziehung wird Aeußeres für Inneres, Form für Sache genommen; wie wichtig ist aber dieß bei Religionswahrheiten!
In der Antwort auf die hämische Frage der Juden bekennet sich Jesus zu einer ganz andern und höhern Schule, als die Tempelschule zu Jerusalem war, welche so häufig als die einzig ächte Quelle der Wahrheit und Weisheit gepriesen wurde. Er hatte seine Lehre unmittelbar von Gott empfangen; kein Wunder, wenn sie von dem menschlichen Machwerke seiner und aller Zeit so himmelweit verschieden war. Dagegen gab er aber auch ein Kennzeichen seiner Lehre an, auf welches die Pharisäer unmöglich verfallen konnten, und welches sie eben so unbrauchbar finden mußten. Um die Wahrheit und Göttlichkeit seiner Lehre zu erproben, forderte er einen praktischen Versuch, und versprach als unfehlbaren Erfolg,S. 116 die lebendigste und festeste Ueberzeugung. Wie natürlich! Wer den Willen Gottes nach dem Evangelium zu befolgen sich bestrebt, dem erweiset sich diese Lehre in seinem Herzen durch Erfahrung als eine solche, welche das Reich Gottes und mit demselben die ganze Fülle alles Friedens und aller Seligkeit bringt. Wie könnte sich da Jemand noch um künstliche Schlüsse für und wider das Evangelium kümmern; er hat ja schon den Thatbeweis; wozu noch Worte und Zeichen? Diese können doch mehr nicht thun, als ihn von Außen anregen, aufmerksam, geneigt machen, die Probe im Leben zu unternehmen, ohne welche jeder andere Beweis nicht wahrhaft und fest im Innern wurzelt, weil die Erfahrung fehlt.
Aber wie sollten sich die Pharisäer zu einer solchen Prüfung der Lehre Jesu verstehen! Bei ihnen mußte ja der Meister sein Werk loben; von Gott aber heißt es nur: „Die Himmel verkündigen die Ehre Gottes.“ Dieses galt auch von Jesus und von seiner Lehre.
Wahrhaftigkeit und Heuchelei werden daher von unserm Herrn auch noch in einer andern Beziehung einander entgegengesetzt. Die Pharisäer gaben sich alle erdenkliche Mühe, das von Gott gegebene Gesetz mit recht vielen, fein ersonnenen, GeräuschS. 117 der Frömmigkeit erregenden Zusätzen zu vermehren, die Gebote Gottes und ihre eigenen sorgfältig zu vermengen, aus beiden ein kunstvolles Gewebe oder System zu machen, und so sich den Ruhm der Schriftgelehrtheit zu erwerben. Dieses ganze Unternehmen war offenbar nichts anderes, als ein Bestreben, ihre eigene schlechte Waare unter göttlicher Firma einzuschwärzen in das Reich Gottes, und als Erfinder neuer Wahrheiten zu glänzen, wohl auch guten Gewinn daraus zu ziehen. Sie suchten daher bei ihren Religionsvorträgen nur sich, nicht Wahrheit, noch weniger das Wohl ihrer Mitmenschen, noch weniger Gott und seine Ehre. Wie ganz anders dachte und handelte Jesus, „der Wahrhaftige, in dem kein Unrecht war, weil er nur die Ehre dessen suchte, der ihn gesandt hatte!“
Ist diese Selbstverläugnung bei Verkündigung der Wahrheit und besonders des Wortes Gottes, ist diese Demuth und Bescheidenheit, ist diese Uneigennützigkeit von unserm Erlöser nur den Pharisäern gegenüber geübt und angedrungen worden, oder drang sein allsehender Blick auch in künftige Jahrhunderte? Gab er auch ihnen eine solche Anweisung? Wer zweifelt daran? Und doch — —
Von der Vertheidigung seiner Lehre nahm Jesus natürlichen Anlaß, auch seine Handlungsweise zu rechtfertigen, weil bei ihm Wort und That nie getrennt war. Man hatte ihm bei seiner letzten Anwesenheit zu Jerusalem die Heilung des 38jährigen Kranken als Sabbatsschändung gedeutet, und gesetzlich eifrige Juden wollten ihn schon damals steinigen — um einer Wohlthat willen! Zwar entgieng er ihren Händen, aber nicht ihren Racheplanen; sie brüteten jetzt noch auf Mordanschlägen; und die Frage: „Wo ist er?“ mag in dem Munde manches Eiferers nichts anderes gewesen sein, als ein ungeduldiger Ausbruch des ungesättigten Durstes nach dem Blute des verhaßten Nazareners. Jesus wußte dieß gar wohl; hatten die Pharisäer doch schon in Galiläa, wo Jesus seine meisten Anhänger hatte, bei der Heilung des Lahmhändigen mit den Herodianern Rath gepflogen, wie sie ihn umbringen könnten, da sie ihn nicht mit geistigen Waffen zu besiegen im Stande waren. Um so gefährlicher war diese gleißende Parthei für ihn zu Jerusalem; darum gieng er ganz in der Stille und erst nach dem Beginnen des Festes dahin, damit sein unvermuthetes Erscheinen die Plane seiner Feinde schon größtentheils vereitelte. Sie konnten nämlich keine sichern Anstalten treffen, und als er durch seinenS. 119 Vortrag alle Zuhörer in Erstaunen setzte, war für sie der günstige Augenblick verloren, aber für ihn war die Stunde gekommen, wo er die gute Stimmung der Zuhörer benützen und eine für seine Würde wie für sein Leben höchst nachtheilige Beschuldigung widerlegen konnte. Welche Klugheit und Vorsicht! — Aber mit Taubeneinfalt, nicht mit pharisäischer Schlangenlist gepaart!
Wie vertheidigte sich nun Jesus? So, daß er seine Feinde mit ihren eigenen Waffen schlug; denn es kostete wenig Mühe, ihnen Widersprüche ihres eigenen Betragens mit ihrem Urtheile über die Heilung des Kranken augenscheinlich zu zeigen. Moses hatte ihnen das strengste Gebot gegeben, den Sabbat zu heiligen; sie rühmten sich dessen und der pünktlichen Erfüllung dieses Gesetzes; und doch verrichteten sie die Beschneidung — eine mühsame und schmerzhafte Operation, also eine Arbeit am Sabbate, weil ein anderes Gebot diese Ceremonie auf den achten Tag nach der Geburt unerläßlich festsetzte. War hier das Gesetz oder die Menschen mit sich selbst im Widerspruch? Keines von beiden; sondern da die Beschneidung schon von Abraham eingeführt war, so mußte der später eingesetzte Sabbat der ältern göttlichen Verordnung weichen; und man glaubte sich keine Verletzung seiS. 120ner Feier zu Schulden kommen zu lassen, wenn man nach Gottes Vorschrift die Beschneidung vornahm. Wer findet dieß nicht natürlich? Ist es aber nicht höchst widernatürlich, wenn man nun bei Beurtheilung der Thaten Jesu die Pharisäer gerade den entgegengesetzten Weg einschlagen sieht? Kann man in diesem Zuge die doppelsinnige Gleißnerei verkennen? Wie Gott alle Tage den Menschen Gutes thut, so machte es Jesus auch am Sabbate; er heilte Kranke, die sich ihm eben anboten. Die Pharisäer nannten ihn deßwegen einen Sabbatschänder, und wollten ihn ermorden. War etwa Gottes eigenes Beispiel noch kein gültiger Grund? Lag nicht die reinste und erhabenste Idee des menschlichen Lebens darin? War es nicht die älteste und höchste Vorschrift, Gutes zu thun wie Gott? Mußte also der Sabbat hier nicht noch mehr zurückstehen, als bei der Beschneidung?
Was wollten, was konnten die Feinde Jesu gegen diese Beweisführung sagen? Sie verstummten, von ihrem Gewissen zwar unsichtbar, aber desto unwiderstehlicher geschlagen. Um so nachdrücklicher wirkte dann ein anderer Vertheidigungsgrund, vermöge welchem Jesus seiner Heilung einen unbestreitbaren Vorzug vor der BeschneidungS. 121 beilegte. Diese bezog sich nur auf einen Theil des Menschen, und machte ihn auch nur in so ferne und wegen dieses Zeichens fähig, an den Wohlthaten des Volkes Gottes Theil zu nehmen; aber die Heilung am Sabbate stellte den ganzen Menschen wieder her zum frohen Genusse der Rechte eines Kindes Gottes. Welch’ ein Uebergewicht fällt bei dieser Vergleichung auf die Seite unseres Herrn? Wie wollten seine Feinde jetzt den Schluß entkräften: also durfte ich ohne Sünde am Sabbate heilen? Hätten sie nicht selbst und laut diesen Schluß ziehen und die That Jesu loben sollen, wenn sie aufrichtig vor Gott gewesen wären? So aber fanden sie das an Jesus todeswürdig, was sie sich selbst zum Verdienste vor Gott anrechneten!
Wie voll tiefen Sinnes müssen uns jetzt die Worte sein: „Urtheilet nicht nach dem äußern Ansehen; sondern fället ein gerechtes Urtheil!“ Wahrheitsliebend, rücksichtslos, unpartheiisch, rein von Eigenliebe, frei von Vorurtheil, abgewandt vom Scheine, auf die Sache gerichtet soll das Auge unseres Geistes sein, wenn wir Reden und Thaten Anderer beurtheilen, besonders in religiöser Beziehung. Prüfen wir uns selbst, und zwar genau! — — — Oder wollen wir noch nach 18 JahrhundertenS. 122 die Parabel vom Splitter und Balken in und an uns selbst wiederholen??
Lehrreich im hohen Grade ist es immer, so oft die Zeitgenossen unseres Herrn über die Erwartung des Messias ihre Meinung abgeben. Da zeigt es sich recht klar, welchen schädlichen Einfluß die verkehrten Lehren der Pharisäer auf die Auslegung der eben so einfachen als erhabenen Weissagungen der Propheten hatten. Anstatt die auf den Messias Bezug habenden Stellen zusammenzutragen, mit Sorgfalt, Umsicht und Ehrfurcht zu vergleichen, und daraus das Bild des Sohnes David’s und seines Reiches zu entwerfen, giengen sie mit vorgefaßten Meinungen an dieses wichtige Unternehmen, und suchten diese aus der heiligen Schrift zu bestätigen. Schielende, halb wahre, auf selbst ersonnene Ansichten sich stützende Schullehren, der damaligen unangenehmen politischen Lage nachgebildete Ansichten, eitle Wünsche ihres verdorbenen Herzens — dieß waren die Grundlagen dessen, was sie vom Messias lehrten, und mit Schriftstellen, wie mit Purpurlappen, umhängt, dem Volke als einzige und ewige Wahrheit anpriesen und einprägten. Je sinnlicher, dem Eigennutzen und Nationalstolze schmeichelnder diese Lehre war,S. 123 desto lieber hörte man sie, desto mehr Eingang in Kopf und Herz fand sie, weil der eigene innere Zustand vollkommen damit harmonirte. Unerträglich aber, irrig, ärgerlich und gefährlich schien die Art und Weise, wie Johannes und Jesus die Lehre vom Messias behandelten. Welch’ ein Gegenstoß zwischen Gott und den Menschen in ihren Ansichten! Allein reine Wahrheit und gleißende Lüge können unmöglich anders sich verhalten.
Wenn man nun Einwohner von Jerusalem, bei denen sich solche Vorurtheile aus sehr begreiflichen Ursachen am meisten festsetzten, so sprechen hört: „Von diesem wissen wir, woher er ist; wenn aber Christus kommt, weiß Niemand, woher er ist;“ zu welchen Betrachtungen wird man da nicht veranlasset? Wer erkennt nicht auf den ersten Blick das menschliche Machwerk dieser Lehre? Wo hatten die Propheten so ins Blaue hineingesprochen? Freilich gaben sie Fingerzeige auf eine mehr als irdische Abkunft und Größe des Messias; aber nicht auf eine solche vieldeutige Art. —
Simon, als er das Kind Jesus in seinen Armen hielt, hatte weissagend gesprochen: „Dieser ist gesetzt zum Zeichen, dem widersprochen wird“ — „damit die GedankenS. 124 vieler Herzen offenbar werden.“ Man vergleiche mit diesen Worten des von Gott begeisterten Greisen die Erzählung des Evangelisten: „Viele aus dem Volke glaubten an ihn, und sprachen: Christus, wenn er kommt, kann er wohl mehr Zeichen thun, als dieser gethan hat? Die Pharisäer hörten, daß das Volk dieses von ihm murmele; da schickten die Pharisäer und Hohenpriester Gerichtsdiener ab, daß sie ihn ergreifen sollten.“ War es möglich, den Widerspruch gegen Jesus und gegen sich selbst weiter zu treiben? Ein Theil des Volkes, welcher noch am Geiste nicht verkrüppelt und im Herzen von Heuchelei nicht angesteckt war, verehrte in Jesus nicht nur den Propheten, sondern den Messias selbst, weil er mit göttlicher Lehre göttliche Thaten verband. Allein eben darin erkannten die Vorsteher und Führer der Nation einen Grund, ihn zum Tode zu bringen, als Betrüger und Volksverführer. Wer von beiden hatte nun den Balken im Auge? Die Pharisäer konnten das Sonnenlicht der Wahrheit und Liebe, welches von dem Sohne Gottes segenreich sich über Israel verbreitete, nicht ertragen, weil es den düstern Kerzentag ihrer irdischen Weisheit überstralte. Sie selbst glaubten die Sonne zu sein, um welche sich Erde, Mond und Sterne in demüthiger Entfernung bewegen sollten.S. 125 Neid, Furcht und Erbitterung mußten daher den höchsten Grad erreichen, als sie sahen und hörten, daß viele Menschen bereits anders dachten, und den Zimmermannssohn über ihre alten, verordneten Lehrer erhoben. Wie hätten sie sich da anders helfen können, als mit Gefangenschaft und Tod des gefährlichen Mannes? Wenn er den Augen des Volkes entrissen ist, dachten sie, wird er bald vergessen sein, und unser Ansehen wird sich dann von neuem befestigen.
Als aber der Anschlag mißlang; als die Gerichtsdiener mit leeren Händen zurückkamen; als sie sich mit der unwiderstehlichen Kraft der Wahrheit, die von seinem Munde floß, entschuldigten; wie scheußlich öffnete sich da der böse Schatz ihres tückischen Herzens? Was sprachen sie aus der Fülle desselben? — „Habt auch ihr euch verführen lassen? Glaubt auch Jemand von den Vorstehern oder von den Pharisäern an ihn? Sondern dieser Pöbel da, der das Gesetz nicht kennt — — verflucht sind sie!“ — Entsetzliche Worte! Eine solche Sprache führen die Richter Israels, da sie Lehren und Thaten eines göttlichen Mannes nach Wahrheit unpartheiisch prüfen sollten?! Solche wilde Ausbrüche der niedrigsten Leidenschaft erlauben sich die Meister IsraS. 126els, die vor den Augen des Volkes als Muster der Einsicht, Frömmigkeit und Heiligkeit glänzten und schimmerten?! Weil Jesus ihren Ansichten, ihren Erwartungen, ihren Wünschen nicht entsprach; weil er sein Ansehen nicht von ihnen borgte; weil er anders lehrte und handelte, als sie es wollten: so wird er nur geradezu für einen „Verführer“ erklärt, mochte auch das innigste Wahrheitsgefühl und der ganze Himmel göttlicher Kräfte für ihn zeugen. Wer kann das Maaß des Stolzes und der Herrschsucht bestimmen, welche aus der Anmaßung sprechen, daß das Volk nicht anders glauben dürfe, als die „Vorsteher und Pharisäer?“ Welch’ ein Gewissenszwang! Welch’ ein eisernes Joch! Nicht Wahrheit der Lehre, nicht Göttlichkeit des Lebens und der Wunder, nicht unwiderstehliche Ueberzeugungsfülle des Kopfes und Herzens redlicher Menschen — Nichts von allem — ihr Ansehen, ihr Wille, ihre Meinung entschied, obgleich sie beinahe die leibhaftige Lüge selbst waren. Wem schaudert nicht? — —
Armes, unglückliches Volk! du mußt dir deine Unwissenheit im Gesetze zum Vorwurfe machen lassen; und von wem? Von denen, welche sich deine Hirten, Führer und Lehrer nannten; von denen, welche vor deinen Augen und Ohren mit ihrerS. 127 Schrift- und Schulgelehrtheit sich breit machten, und dir von ihrer, wie sie behaupteten, reich besetzten Tafel geistiger Gerichte so wenig zukommen ließen, als jener reiche Mann dem armen Lazarus. Welch’ ein Grad von Bosheit und Heuchelei gehörte dazu, es dir für ein Verbrechen anzurechnen, wenn du hungerig und durstig anderswo Sättigung fandest — und zwar „Brod aus dem Himmel“ und lebendiges „Wasser“ — bei Jesus von Nazareth?! Aber eben deßwegen trifft dich der Fluch deiner Lehrer und Vorsteher, weil du nicht länger ihre unverdaulichen Speisen verschlingen oder gar darben wolltest. Welche tiefe, herzzerreißende Wahrheit liegt in den Worten des Evangelisten[15]: „Jesus ward innigst gerührt über sie; denn sie waren verschmachtet und zerstreuet, wie Schaafe, die keinen Hirten haben!“
Nikodemus, der sonst so schüchtern war, konnte den empörenden Auftritt nicht mehr aushalten; das lebendige Gefühl für Wahrheit und Recht, welches ihn beseelte, gab ihm Muth, die hohe Versammlung auf ihre übereilte Hitze und Partheilichkeit aufmerksam zu machen. Wahrlich ein Licht am finstern Orte, dessen reiner StrahlS. 128 für das Geistesauge um so lieblicher und willkommener ist, je tiefer und stürmischer die Nacht der Leidenschaften den Zuschauer umhüllt! Allein sein edler Sinn, sein besonnenes Wort, seine schonende, kluge Warnung macht nur die Verkehrtheit der Andern noch bemerklicher. Nicht nur richtete Nikodemus nichts aus; er selbst wurde mit dem brandmarkenden Sektennamen des „Galiläers“ belegt, und wie sie wähnten, widerlegt. Zuletzt schloß sich die Scene, wie sie eröffnet worden war — mit Scheingründen, welche der bitterste Haß angab: „Aus Galiläa ist noch kein Prophet aufgestanden“ — also wird keiner auferstehen; also kann Jesus kein Prophet sein! Eine Schlußart, die solcher Meister im Heucheln und Verfolgen würdig ist!
War denn Jesus ein geborner Galiläer? Hielt es gar so schwer, der Wahrheit durch Nachfrage auf die Spur zu kommen? Oder ließ es die schriftgelehrte Erbitterung und der beleidigte Stolz nicht zu? Auf jeden Fall bleibt es merkwürdig, wie Gott auch diesen Umstand der verkannten Geburt seines Sohnes zur Probe der reinen Wahrheitsliebe, die nicht an Zeit und Ort hängt, machte, und zur Erreichung seines göttlichen Planes benützte.
„Und ein Jeder gieng in sein Haus.S. 129“ Lassen wir uns dieses sein Symbol geistiger Einkehr bei und in uns selbst sein, um über diese wichtigen Vorfälle vor Gott nachzudenken — um unser selbst willen!
Was der heilige Sänger von der Sonne mit frohem Jubel ausspricht: „Sie stralt hervor, wie ein Bräutigam aus seinem Zimmer, und freudig, wie ein Held, durchläuft sie ihre Bahn;“ dasselbe gilt in einem noch viel höhern Sinne von Jesus, bei der rastlosen Vollendung seines Erlösungswerkes. Jeden Morgen gieng er mit unerschöpfter Kraft, mit nie zu ermüdender Beharrlichkeit, mit dem heitersten Eifer an seinen Beruf, den Menschenkindern den „Willen seines Vaters bekannt zu machen“ „und Gutes zu thun.“ So fand er sich auch an dem Tage nach dem Laubhüttenfeste mit Tagesanbruch im Tempel ein; denn sehr wahrscheinlich hielten sich noch viele FestpilgrimmeS. 130 zu Jerusalem auf, und traten erst an diesem oder dem folgenden Tage ihre Rückreise an. Diesen wollte er noch durch Lehren eine göttliche Wohlthat erweisen. Sonst war es eben nicht seine Gewohnheit, lange in der Hauptstadt zu verweilen.
Aber auch seine Feinde schliefen und schlummerten nicht. Jesus konnte kaum thätiger auf Menschenwohl bedacht sein, als sie auf seinen Untergang. Heute waren die Pharisäer schon sehr frühe daran, ihn endlich einmal in ihr Todesnetz zu verstricken. Daß es nicht gelang, war gewiß nicht ihre Schuld; sie thaten alles, was teuflische List und Bosheit im Gewande des Gesetzeseifers vermochte.
Eine Frau wurde auf frischer That als Ehebrecherin ertappet. Die Pharisäer liessen sie sogleich ergreifen, und führten sie nicht vor den Richter, sondern zu Jesus; denn blitzschnell hatten sie in ihr ein Mittel entdeckt, unserm Herrn eine Falle zu legen, die beinahe unvermeidlich und doch so trefflich verkleidet war, daß Niemand, der nicht tiefer sah, daran das Werk der niederträchtigsten Leidenschaft erkennen konnte.
Moses hatte auf den Ehebruch den Tod durch Steinigung als Strafe gesetzt. Dieß galt auch noch zu den Zeiten Jesu; nur durftenS. 131 die Richter die Todesstrafe nicht mehr vollziehen, ohne die Genehmigung des römischen Landpflegers, weil der Kaiser sich als Landesherrn betrachtete. Hätte nun Jesus den Ausspruch gethan, sie sollten nur ohne weitere Umstände die im Gesetze bestimmte Strafe vollziehen, so wären sie zu Pilatus gelaufen, und hätten ihn als Empörer gegen des Kaisers Gebot angeklagt, während sie dieselbe Erklärung an jedem Andern als ächten Patriotismus, als heiligen Eifer für Gottes Gesetz, als gerechte Verachtung der heidnischen Herrschaft über das Volk Gottes gerühmt und sich eines solchen Helden gefreuet haben würden. Die Geschichte bestätiget dieß auf mehr als Einem Blatte. Gemäß der bekannten Strenge in sittlicher Hinsicht hatten sie auch wahrscheinlich keine andere Entscheidung von Jesus erwartet. Wurden sie aber auch in dieser schönen Hoffnung getäuschet, so stund ihnen doch noch ein Weg der Verfolgung gegen den Galiläer offen. Hätte nämlich Jesus sich dahin geäußert, daß sie die Ehebrecherin zwar steinigen, aber zuvor die Bestätigung des Pilatus einholen sollten, so würden sie ihn unter dem Volke als einen von dem väterlichen Glauben und Gesetze Abtrünnigen, als einen Freund und Beschützer aller Sünder und Aergernisse, als einenS. 132 Schmeichler und Partheigänger der Römer verschrieen haben. Wie fein war also nicht das Netz gestellt!
Betrachtet man aber die Sache von einer andern Seite; wie viel Schein des Guten hatten die Pharisäer für sich? Verdiente nicht vor allem ihre Wachsamkeit gebührendes Lob, durch welche es ihnen gelungen war, diese schändliche That zu entdecken? Gaben sie dem Volke nicht einen sprechenden Beweis, daß sie seinen Lieblingslehrer selbst hochschätzen, da sie ihm einen so wichtigen Fall zur Entscheidung vorlegten? Legten sie nicht Eifer, Muth und Beharrlichkeit an den Tag, dadurch daß sie Moses Gesetz selbst in den Tagen der Unterdrückung aufrecht zu erhalten strebten? Wer kann zweifeln, daß sie nicht auch das Aeußere — Worte, Mienen, Stellung — so abgemessen und einstudirt hatten, daß nicht so leicht Jemand ihre Tücke ahnen konnte?
„Jesus aber bückte sich nieder, und schrieb auf die Erde.“ — Ein Zeichen der Unaufmerksamkeit auf ihre vorgelegte Frage, wodurch er zu verstehen gab, daß er weder von dieser Sache etwas wissen, noch sie entlarven und beschämen wollte. Allein sie verstunden ihn nicht, und mochten dieses sonderbare Benehmen für Unentschlossenheit und Verlegenheit halten; umS. 133 so mehr fühlten sie sich in ihrer geheimen Freude aufgemuntert, auf eine entscheidende Antwort zu dringen. Diese ward ihnen: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe zuerst den Stein auf sie!“ — Das traf, wie ein Blitz vom heitern Himmel. Betäubt, stumm und starr vor Schrecken, Schaam und Zorn stunden jetzt die Musterbilder der Heiligkeit da; ihre geheime Schande lag vor Aller Augen enthüllet; aufgedecket war die tückische Bosheit bei Vorlegung der Frage; entschieden hatte Jesus, daß sie nicht die Sünderin strafen, sondern ihm eine Falle legen wollten; darum zeigt er, daß sie im gleichen Falle mit der Ehebrecherin seien; daß sie zuerst sich selbst steinigen müßten. Wider alle Erwartung und Wünsche drang ihnen Jesus dieses Mal einen Beweis seiner göttlichen Sendung auf, der nun so unwiderleglicher war, da er in ihrem Gewissen einen lauten, unabweislichen, unfehlbaren Zeugen fand. Es war nicht nöthig, ihre Sünden auf den Boden zu schreiben[17]; sie waren mit unauslöschlichen Zügen in die Tafel ihres Herzens gegraben; und da ließ sie Jesus lesen, was sie nicht wollten, undS. 134 was Niemand wissen konnte, als der Herzenskenner. Läugnen und widersprechen gieng bei aller sonstigen Dreistigkeit nicht an; sie waren zu gut getroffen, zu tief verwundet; sie schlichen sich Einer nach dem Andern davon — und hinterließen den Heuchlern aller Zeiten ein warnendes Beispiel, was sie von dem, der „die Wahrheit ist“, und der „Herz und Nieren prüfet“, zu erwarten haben, wenn sie auch ihre schwachen Brüder — die Menschen täuschen.
Licht und Finsterniß, Wahrheit und Lüge treten dießmal in einem wunderbaren Kampfe auf; kaum läßt uns eine andere Begebenheit des Evangeliums tiefer und deutlicher in das Labyrinth heuchlerischer Verblendung und Verkehrtheit blicken; aber kaum zeigt uns auch eine Geschichte der Zeit Jesu auffallender die unbesiegbare Kraft der reinen Liebe zur Wahrheit. Daher mußS. 135 jeder Zug dieses herrlichen Gemähldes unsere ganze Aufmerksamkeit fesseln.
„Wer hat gesündiget? Dieser oder seine Aeltern, daß er blind geboren wurde?“ Welche Frage? Wer hätte sie von den Jüngern unseres Herrn erwartet? Es war noch pharisäischer Sauerteig, der in ihrem Herzen gährte; in der Synagoge war er hineingelegt worden. So licht- und lieblos konnten nur Pharisäer urtheilen; sie lehrten, daß alles Uebel von besonderer Art wohlverdiente Strafe früher begangener Sünden sei; ja, daß an Kindern die Vergehungen der Aeltern bestraft würden; noch mehr, daß Jemand schon vor seiner Geburt, in einem frühern Lebenszustande, könne gesündiget haben, und jetzt dafür leiden müße. Damit war nun der Gewissensrichterei ein weites Thor geöffnet; das gemeine Volk lernte diese empörende Sprache nur zu bald führen, weil sie den kürzesten Aufschluß in jedem Falle gab. Ueber der Heuchellehre anmaßender Selbsterfinder vergaß man Gottes Wort, welches laut bezeugte, daß Hiob, Joseph, David, Jeremias, viele Andere, gelitten hatten — nicht, weil sie in jedem Falle Sünder waren, sondern weil Gott sie liebte und prüfte. Unter dem Lärm gelehrter Schreier verscholl fruchtlos die Stimme Ezechiels, durch welchen JehovaS. 136 gesprochen hatte[19]: „Die Seele, welche sündiget, soll sterben. Der Sohn soll nicht tragen die Missethat des Vaters.“ War es nicht gerechte Strafe von Gott, wenn er solche „blinde Führer“ in die Irre gehen ließ, daß sie eher eine Art heidnischer Seelenwanderung zur Erklärung des Uebels zu Hülfe nahmen, als Belehrung aus ihres Gottes Wort und That schöpften?
In himmlischer Verklärung trit auch hier das Evangelium mit seinem reinen Gottesglauben der doppelherzigen Heuchelei gegenüber. „Weder dieser hat gesündiget, noch seine Aeltern; sondern Gottes Werke sollten an ihm offenbar werden.“ Freilich eine ganz andere Auflösung des Knotens, als die pharisäische! Gott ließ diesen Mann blind geboren werden, damit er durch die Heilung desselben mittelst seines Sohnes verherrlichet würde. Der Vater im Himmel behandelt seine Kinder nicht nach dem erträumten Strafcodex sauertöpfischer Heuchler, sondern er leitet sie in unendlicher Liebe zu seines Namens Ehre. Wenn anders die Worte unsers Erlösers zu unserer Belehrung und Anweisung gesprochen sind: so dürfen wir es als unbezweifeltenS. 137 Grundsatz der göttlichen Regierung auch heute noch annehmen, daß Unglückliche in der Welt sind, damit der Sohn des Vaters Werke — Erbarmung, Rettung, Liebe — an ihnen mit göttlicher Macht und Weisheit thue, und damit die, welche dem Sohne angehören, in ihrem Kreise und nach ihren Kräften deßgleichen thun. Welch’ ein Trost für den Elenden! Welch’ eine Aufmunterung für den Glücklichen! Welch’ eine Schande für den Heuchler! —
Diese Schande muß bis zum Erblassen und Erstarren, so wie jener Trost bis zum Frohlocken und Jubel steigen, wenn man den Sohn Gottes sein Werk Gottes am Sabbate schon zum voraus rechtfertigen höret. Die Aufträge der Liebe seines Vaters gegen seine Kinder gestatten keinen Sabbat, sondern müßen an jedem Tage, zu jeder Stunde, wo es seyn kann, vollzogen werden. Die Sonne erquicket und erfreuet nach ihres Schöpfers Willen alle Tage die ganze Natur; so handelt auch Jesus, die Sonne der Gerechtigkeit für die Geisterwelt. Es wäre Entheiligung seiner Bestimmung auf Erden, wenn er im pharisäischen Sinne Sabbatsruhe halten, frömmelnde Gebete sprechen, und die Unglücklichen schmachten lassen würde. — — Haben nicht auch die Menschen Werke Gottes in Liebe jeder in seinem Kreise zu verrichten?S. 138 Sind nicht alle zu Lichtern der Welt berufen? Sollen, dürfen sie da ausruhen vom Gutesthun? Dürfen sie der Welt je ihr Licht entziehen? Heuchler! könnet ihr es vergessen, daß „eine Nacht kommt, wo Niemand wirken kann?“ — —
Der Blindgeborne wandelt ohne Führer frohlockend durch die Straßen Jerusalems. Viele Menschen bemerken ihn, staunen, zweifeln, lassen sich die Wahrheit seines Sehens von ihm selbst bestätigen — und gerathen in wilden Eifer, als sie hören, daß und wie ihn Jesus am Sabbate sehend gemacht habe. „Wo ist der —?“ fragten die pharisäisch gesinnten Frommen mit drohender Gebehrde, die zu verstehen gab, daß er von ihnen nichts geringeres als Steinwürfe für diese Wohlthat zu erwarten habe. Steinwürfe als Belohnung eines Wunders? — Warum denn nicht? Welche Feier des Sabbates war wohl solcher Leute würdiger, als die durch tumultuarischen Menschenmord zur Ehre ihres entstellten und verkannten Gesetzes? Kinder des Vaters der Lüge und des Mordes — dafür hatte sie die ewige Wahrheit selbst erklärt — prahlten sie mit den prunkenden Tituln: „Kinder Abrahams, Kinder Gottes“, und verleugneten diesen und jenen im Leben durch Wort und That. Hatten sie doch kurz zuvor an eben diesemS. 139 Sabbate Jesus im Tempel steinigen wollen, weil er sich für den ewigen Sohn Gottes etwas räthselhaft erklärt. Kaum entgieng er ihren gesetzeseifrigen Händen[20]. Jetzt sollte er nicht mehr entkommen, weil er himmlische Wahrheit der Lehre noch durch eine wunderbare Wohlthat zu besiegeln und zu verstärken sich erkühnte. Welche tiefe Bedeutung erhält nun ihre Frage: „Wo ist der —?“
Leidenschaft macht blind; Einseitigkeit religiöser Ansichten mit unerleuchtetem Eifer erzeugt Ungerechtigkeit, die man für Gottesdienst hält. Einen Beleg dazu liefert das, was jetzt mit dem Blindgebornen erfolgte. Da er nicht angeben konnte, wo Jesus sei, so nahmen die Fragesteller dieses für bösen Willen und für geheimes Einverständniß mit dem verhaßten Lehrer; sie fanden daher ihn wegen seiner Anhänglichkeit an Jesus eben so schuldig, als diesen selbst, und führten ihn vor ein Gericht schriftgelehrter Pharisäer, um Untersuchung wegen Sabbatsverletzung über ihn zu veranlassen. Sollten sie für diesen kräftigen Beweis ihrer Anhänglichkeit an das Gesetz so ganz ohne wortreiche Lob- und Segenssprüche entlassen worden sein? — —
Der arme Blindgeborne! Kaum hat er durch ein Wunder das Tageslicht erblickt; kaum der schönen Welt seines Gottes einige Augenblicke sich gefreuet; noch ist sein gutes Herz trunken von Jubeldank und Liebe; noch haben seine Augen den Retter nicht gesehen — und schon wird er angefeindet, verfolgt, vor Gericht gezogen um Jesus willen! Noch vor wenigen Stunden hatte ihn wohl mancher Pharisäer als einen wegen seiner Sünden von Gott Geplagten verachtet; jetzt wird er eben von solchen Menschen des größten Verbrechens beschuldiget, weil Gott ihm durch Jesus geholfen hat! Welche Gefühle und Gedanken fliegen in ihm auf, als er das erstemal eine Versammlung von Menschen, und in ihnen bereits seine Feinde erblickte? Doch ein edles Gemüth, innig und lebendig von Wahrheit und Liebe ergriffen, findet sich überall zu recht. Einfach und bescheiden, aber auch bestimmt und fest beantwortet er die erste Frage über seine Heilung.
Wie der Blitz in einer grauenvollen Gewitternacht die Gegend in ein klares, aber zu plötzliches und schauerliches Licht versetzt: so wirkte der Geradsinn und die Wahrheit in der Antwort dieses Mannes auf die düstern Herzen der Heuchler. In einem Nu verwandelt sich die Scene; nicht mehr der Sabbat und seine Heiligkeit, nochS. 141 weniger der Blindgeborne und das an ihm geschehene Wunder, sondern Jesus einzig und allein ist jetzt der Gegenstand, der ihren Geist und ihr Gemüth fesselt; entschieden, obwohl unbewußt, trit es hervor, das nicht die Sache, sondern seine Person in Untersuchung kommen soll; der böse Schatz des Herzens thut sich auf: „Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält.“ Jesus hat Erde mit Speichel gemischet, die Augen des Blinden damit bestrichen, diesem noch einen weiten Gang und eine Waschung aufgebürdet — also hat er gearbeitet und Arbeit befohlen; also den Sabbat geschändet; folglich ist er ein Sünder, mithin kein göttlicher Gesandte! Eine treffliche Schlußreihe! Zuerst macht man eine beliebige Auslegung der Heil. Schrift zur Grundlage; dann zieht man eben so willkürliche Schlüsse aus entstellten Thatsachen, schmiedet diese mit Schriftworten zusammen, und verurtheilt den Heiligsten und Gerechtesten als den größten Verbrecher und Betrüger! Das von Neid, Haß und geistiger Herrschsucht kranke Auge schielt weg über die Kraft Gottes auf Umstände und Nebendinge, ärgert sich ohne Grund der Wahrheit an diesen, und verabscheuet die That und den Mann, weil dieser sich keine von Menschen erfundene Form aufzwängenS. 142 läßt, sondern ein natürliches Gewächs in Gottes Garten sein will.
Doch nicht Allen gefiel dieses Urtheil. Bei Manchen regten sich Bedenklichkeiten und Zweifel an der Wahrheit desselben. Es klang ihnen gar zu sonderbar, das Wunder als wirklich geschehen dahingestellt sein zu lassen, und den Urheber einer göttlichen That für einen gottlosen Menschen zu erklären. Die Sprache leidenschaftlicher Uebereilung war hier zu kennbar. Sie machten daher auf das Unzusammenhängende und Widersprechende aufmerksam. Dieß hatte eine Theilung der Meinungen zur Folge, welche die Versammlung zu einem höchst sonderbaren Schritte verleitete. Der Blindgeborne sollte sein Urtheil über Jesus abgeben, und sich darüber aussprechen, daß Jesus diese Heilung eben am Sabbate vorgenommen habe. Die brennende Begierde unsern Herrn auf irgend eine Weise in eine Schuld zu verwickeln, ließ die guten Männer ihren gelehrten Stolz, ihre richterliche Würde und ihre erkünstelte Rechtschaffenheit auf einige Augenblicke so ganz vergessen, daß sie von einem gemeinen Manne Belehrung über eine so wichtige Sache, von einem Angeklagten ein Urtheil, von einem wunderbar Geheilten Undank gegen seinen Retter erwarteten. Dieß thaten die frommen Lehrer Israels — am Sabbate!! Wie mußtenS. 143 sie sich im Stillen schämen, als der biedersinnige Mann mit edler Haltung sprach: „Er ist ein Prophet?“ Als er darauf unbeweglich bestund, Jesus habe ein Wunder an ihm verrichtet, also den Sabbat nicht verletzet, also nicht gesündiget; folglich habe Gott ihn gesandt? Da lag ihre schlaue Sophistik, durch das reine Wahrheitsgefühl und durch die innige, dankbare Liebe zu der Wahrheit und zu ihrem Urheber von einem blind gewesenen Bettler besiegt, schimpflich am Boden.
„Nun glaubten die Juden nicht, daß er blind gewesen und sehend geworden war.“ Ein seltsamer Sprung! Nachdem sie mit ihren hochfahrenden Urtheilen, mit scheinheiligen Verdrehungen und Verläumdungen, selbst mit aller Niederträchtigkeit an der redlichen Standhaftigkeit des Geheilten gescheitert waren, verwandelten sie sich plötzlich in scharfsinnige Zweifler; jetzt erst fanden sie für nothwendig, sich zu erkundigen, ob dieser Mensch auch wirklich blind geboren, ob nicht das Ganze ein feiner Betrug sei. Anfangs war ihnen die That willkommen, weil sie hofften, auf irgend eine Weise dieselbe zur Sabbatschändung zu stempeln; als dieses nicht angieng, läugneten sie das Wunder. So wechselt das heuchlerische Chamäleon alle Farben!
Die Aeltern des Blindgebornen wurden gerufen; der Sohn mußte abtreten;S. 144 jene kamen in die Versammlung, wurden gefragt, bestätigten vor Gericht die Thatsache, daß dieser ihr Sohn blind geboren sei. Mehr wollten sie nicht wissen. Gar erbaulich ist der Grund, welchen Johannes für diese geflissentliche Unwahrheit angiebt — Furcht vor dem Kirchenbanne. Das Synedrium hatte nämlich einen Beschluß bekannt gemacht, daß Jeder, welcher Jesus für den Messias bekennen würde, von der Synagoge ausgeschlossen werden sollte. Mit Recht fürchteten daher diese gemeinen Leute die Auslegungskunst dieser gelehrten Herren; denn wie leicht war es, jede Sylbe die sie zu seiner Gunst auch nur zu sprechen schienen, dahin zu deuten, daß sie dem Nazarener von Herzen zugethan, ihn äußerlich wenigstens für einen Propheten, innerlich aber Zweifels ohne für den Messias hielten, also in den Bann verfallen seien? Schelmisches Lächeln würde die Lippen des Schriftgelehrten unausstehlich verzogen haben, wenn es ihm gelungen wäre, an dem sichtbar mit Bedacht zweideutig abgefaßten Beschlusse ein solches Pröbchen seiner Kunst zu geben. Fein und listig bleibt die Wendung alle Mal, daß sie bloß verboten, „ihn für den Messias zu erkennen.“ Daß er seine Lehren mit Wundern bestätigte, folglich ein Prophet sei, war zu ofS. 145fenkundig, als daß sie es läugnen durften; daß er für den Messias gehalten sein wolle, davon glaubten sie viele Spuren entdeckt zu haben; endlich hatten sie schon öfter bemerkt, wie geneigt die erstaunten und begeisterten Schaaren seien, ihm diese höchste Würde beizulegen. Es blieb also keine bessere Auskunft übrig, als bei harter Strafe einen solchen entscheidenden Schritt jedem Einzelnen zu verbieten, und sich die Hinterthür offen zu lassen, entweder diese Entscheidung selbst zu geben, wenn ihre Erwartungen vom Messias an ihm in Erfüllung giengen, oder seinen und des Volkes Plan wo möglich zu vereiteln. Im ersten Falle hätte man ihre weise Vorsicht — eigentlich schön verkleidete Gewissensherrschaft, loben müßen; im zweiten wollten sie jeden Widerspenstigen ihren starken Arm fühlen lassen, d. h. Gott widerstreiten. Die Schlauen wurden aber in ihrer eigenen List gefangen; und dieß ist vom Herrn geschehen!!
Das Verhör mit den Aeltern war eben so fruchtlos, wie das mit dem Sohne. Bei diesem konnten die Pharisäer ihr verläumderisches, voreiliges Urtheil nicht durchsetzen, weil sie selbst nicht einig waren; bei jenem fanden sie eine Bestätigung, statt einer Widerlegung des Wunders. Wenn ein Sterblicher in dieser Stunde das Innere dieser UnglücklichenS. 146 hätte durchschauen können, wie würde er sich entsetzt haben über dem wilden, ungestümmen, greulichen Kampfe des in den Banden der Sophistik schmachtenden Wahrheitsgefühles und des mit Gewalt unterdrückten Gewissens mit der in Schlangenkrümmungen sich windenden Heuchelei und mit zügellosem Hasse, Neide und Stolze? und doch war der letzte Auftritt noch nicht erfolgt; noch stund Aergeres bevor. Jesus konnte, durfte und sollte das Wunder nun einmal nicht verrichtet haben; es war unannehmbar, unglaublich, unmöglich, weil er nicht ihr Mann war. In solchen Fällen ist Gott zu Ehren das Schlimmste zu vermuthen, zu behaupten, zu thun erlaubt in den Augen des Heuchlers. Folgen wir der Geschichte, damit diese beweise, daß man den Pharisäern nicht leicht zu viel Böses zutrauen könne!
Das zweite Verhör begann mit den Worten: „Gieb Gott die Ehre!“ — Was soll diese heilige Formel an der Spitze? Mehr nicht, aber auch nicht weniger, als: Du bist bisher nicht ganz aufrichtig gegen uns gewesen: noch hast du uns manchen Nebenumstand von Bedeutung verborgen; denke, du stehest vor Gott, dem Allwissenden; darum sage die Wahrheit, d. h. mache durch eine wohlangebrachte Lüge Jesus zu Schanden, um unsere Ehre zu retten.S. 147 Empörend; aber noch nicht genug! „Wir wissen, daß dieser Mensch ein Sünder ist.“ — Wir!? Also auf ihr Wort sollte der Blindgeborne seine auf Gottes Kraft und Geist gegründete Ueberzeugung aufgeben? Hatte ihr bisheriges Betragen ihm so viel Zutrauen einflößen können? Warum gaben sie Jesus für einen Sünder d. h. für einen Irrlehrer und Betrüger aus? Weil er nicht zu ihren Füßen saß, und die Lehren der Alten hörte; weil er den Sabbat nicht heiligte, wie sie, sondern wie Gott, sein Vater; weil er den Buchstaben des Gesetzes übertrat, um den Geist zu befolgen. — Von gerechtem Unwillen ergriffen, gab der biedere Mann ihnen ihre Lieblosigkeit deutlich genug, aber doch mit seltener Mäßigung zu verstehen. Ueber die beleidigende Ansicht seiner persönlichen Gesinnung gieng er edelmüthig weg; zeigte ihnen mit feiner, satyrischer Anwendung auf sich, wie sie Jesus hätten beurtheilen sollen, und blieb unbeweglich dabei, daß er blind gewesen, und durch den Propheten sehend geworden sei.
Diese Zurechtweisung wäre stark genug gewesen, um Menschen, welche weniger erboßt und nicht so ganz an innere Schande gewöhnt waren, verstummen zu machen; die Pharisäer aber wurden nur noch schamS. 148loser und zudringlicher mit Fragen: „Was hat er dir gethan? Wie hat er deine Augen aufgethan?“ Auf diesem Wege hofften sie wenigstens der äußerlichen Schande zu entgehen, und ihre Ehre vor Menschen zu retten, wenn der Blindgeborne bei so oft wiederholter Erzählung etwas weglassen oder hinzusetzen würde, was ihnen Anlaß gäbe, die That und ihren Urheber verdächtig zu machen. Welche Niederträchtigkeit!
Diese Bemerkung entgieng auch dem armen Manne nicht. Es ist wirklich ein anziehendes Schauspiel, das Lamm mitten unter Wölfen mit so viel Ruhe, Besonnenheit, Muth und Geistesgegenwart reden und handeln zu sehen. Je schlichter sein Verstand, je unverdorbener sein Herz war, desto tiefer und schmerzlicher empfand er die Tücke seiner Gegner. Entschlossen weigerte er sich, die Erzählung zu wiederholen, und schloß mit einer beißenden Gegenfrage: „Oder wollet etwa auch ihr seine Jünger werden?“
Das gieng ihnen durch das Herz; sie sahen, daß der Mann ihre Arglist durchschauet habe, und ergrimmten. Allein es war ein ohnmächtiger Grimm, der sich höchstens in Schimpfwörtern Luft machen konnte. So sehr vergaßen sich die Meister Israels, die Vorbilder der Rechtglaubigkeit und Frömmigkeit, die Richter über göttliche Thaten und göttliches Leben!!! Moses SendungS. 149 von Jehova war jetzt ihr letzter Anhaltspunkt; Moses Jüngerschaft ihr einziger Wunsch, ihr Stolz — wer hätte dieses von den unumschränkten Vertheidigern der Satzungen der Alten erwarten sollen? An Jesus können sie nur keine Spur einer göttlichen Sendung finden.
„Eben darin liegt das Sonderbare, daß ihr nicht wisset, woher er ist &c.“ gab unvergleichlich schön und treffend der Blindgeborne zur Antwort. Schärfer hätte er ihre Eitelkeit nicht züchtigen, tiefer ihren schriftgelehrten Stolz nicht beugen können, als dadurch, daß er das prunkende: „Wir wissen“ mit einem solchen „Ihr wisset nicht“ erwiederte. Sein mit allem Grunde empörtes Gefühl legte ihm einen eben so kräftigen als kurzen und gehaltenen Verweis auf die Zunge. Wer bewundert nicht die Herrschaft über sich selbst in solcher Lage? Wer möchte ihm nicht um den Hals fallen für die Schutzrede, welche er so bündig, so nachdrücklich, so unerschrocken seinem Wohlthäter hielt? Wer verabscheuet nicht die Pharisäer, welche aufhörten, wie sie angefangen hatten, indem sie auch ihn für „geboren in Sünden“ erklärten, während sie allein die Reinen — in ihren Augen, — waren und blieben? Wer läßt sich nicht freudig mit dem Blindgebornen aus der Synagoge stoßen, wo solche Versammlungen von solchen Menschen sind?
Evangelium! du Gottes Wort! Was für ein Strom von Licht, welche Allmacht der Kraft, welcher Himmel von Seligkeit liegt in Dir! Was hast du, Erlöser! mit Einer That aus diesem Blinden gemacht! Wie bieder, wie gerade, wie bescheiden, wie mäßig, wie entschlossen, wie gottbegeistert steht er da unter schlauen, verkehrten, unverschämten, leidenschaftlichen, lichtscheuen, von der Hölle entflammten Heuchlern! — Und noch hatte der Verbannte seinen Retter — den Sohn Gottes nicht gesehen. Er sah ihn, fiel nieder, betete an — wir mit ihm!!
Schon der königliche Sänger spricht von Leuten, welche „segnen mit dem Munde, und doch im Herzen fluchen,“ deren „Worte glatt, wie Oel, unter deren Zunge Dolche sind.“ David lernte sie als seine furchtbarsten Gegner kennen. DieselbeS. 151 Erfahrung machte unser Herr. Er hatte Menschen um sich, welche seine Denk- und Redeweise einstudirten, sich ihm mit verstellter Lernbegierde näherten, zur Verstärkung des Scheines wohl gar ernstliche Sorgen für ihr Seelenheil blicken ließen, gar demüthig um Belehrung über die wichtigsten Gegenstände baten — alles bloß in der boshaften Absicht, ihn bei solcher Gelegenheit in die damals geführten Streitfragen zu verwickeln, und durch freimüthige Entscheidung derselben verhaßt zu machen. So schlich sich einmal ein Gesetzgelehrter an ihn heran, und trug die Frage vor: „Lehrer! was muß ich thun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Schon die Ausdrücke sind hier mit Sorgfalt und Bedacht gewählt. Jesus sprach gerne von ewigem Leben, und bezeichnete damit den höchsten, vollkommensten Zustand, welchen der Mensch in sittlicher und religiöser Hinsicht für Zeit und Ewigkeit erreichen kann. Die heiligen Schriften des A. B. hatten sich derselben Sprache schon bedient; aber aus den Schulen der geistlosen Rabbinen war sie verbannt worden oder doch verdrehet. Sie stritten sich lieber, selbst in ihren erbaulich sein sollenden Vorträgen an das Volk, darüber, ob die Sitten- oder die Ceremonialgesetze den Hauptpunkt der Gottes-Verehrung ausmachten; und die Zahl derer, welche sich fürS. 152 Opfer und Gebräuche entschieden, war aus sehr nahe liegenden Gründen nicht die kleinere, bei dem großen Haufen aber die beliebtere. Stellte der Schriftgelehrte die Frage in der gewöhnlicher Schulform, so konnte er nicht hoffen, Jesus in die Falle zu bringen; darum heuchelte er die Sprache unseres Herrn, und glaubte nun, seiner Sache gewiß zu sein. Ueberdieß war der Punct, wie man wohl sieht, von höchster Bedeutung; es handelte sich um das Wesen der Religion. Die Frage selbst lautete so allgemein und unbestimmt, daß die entgegengesetztesten Antworten statt finden konnten.
Dazu wurde auch dem Gesetzgelehrten freier Spielraum gegeben. Er mußte sich selbst in seiner Schlinge fangen. „Was steht im Gesetze geschrieben? Wie liesest du vor“ — in der Synagoge oder im Tempel? Mit dieser Gegenfrage nöthigte ihn die göttliche Weisheit, die Antwort selbst zu geben, und zwar aus dem Gesetze, nicht nach Lehrmeinungen der Schule. Ganz im Sinne Jesu berief er sich auf die geistreichste Schriftstelle, welche hier beizubringen war. Er hatte die Lehrart unseres Herrn gut und richtig gefaßt, und wußte sich fein genug zu wenden. Allein alle Schlauheit half nichts. „Du hast recht geantwortet; thue das, so wirst du leben,“ hieß es, undS. 153 damit hatte Gottes Wort entschieden. Einwenden ließ sich nun eigentlich so geradezu nichts; das fühlte der Schriftgelehrte nur zu gut. Für das Gegentheil stunden ihm keine Schriftstellen zu Gebote. Aber er war nun in eine ärgerliche Verlegenheit gerathen. Entweder mußte er den Verdacht auf sich ruhen lassen, daß er gleiche Gesinnung mit dem Lehrer von Nazareth hege, oder er gab sich auf einer andern Seite bloß, als uneingeweihter und ungeschickter Vertheidiger seiner Schule. Doch half er sich noch einiger Maaßen heraus durch eine neue spitzfindige Schulfrage: „Wer ist mein Nächster?“ — Spitzköpfige, engherzige Rabbinen hatten auch da den hohen, reichen Sinn der heiligen Schrift sich und andern verkümmert, dadurch daß sie unter dem Nächsten nur den Juden verstanden wissen wollten. Dieser Lehre der Alten mit dürren Worten zu widersprechen, war eben nicht ganz rathsam, schon um einen langen und heftigen Streit zu vermeiden. Da stund unserm Herrn ein unfehlbares Mittel zu Gebote — die Parabel. In dieser lag die Antwort und der Beweis, beide durch eine Geschichte anschaulich gemacht, so klar und unwiderleglich, daß sie dem überraschten Schriftgelehrten das Geständnis abzwang, „der, welcher Barmherzigkeit an ihm gethan hat“, d. i. der Samarite sei derS. 154 Nächste des Juden gewesen. Nun konnte er auch nicht mehr läugnen, daß die Liebe ächter Art weder an eine Nation, noch an eine Religionsform, noch an einen Stand gebunden sei, sondern dort walte, wo ein edles Herz sich finde, welches dem göttlichen Zuge folgt. Schwer mag es allerdings den Rabbi angekommen sein, solche Dinge einzuräumen, die mit seiner Lehre in geradem Widerspruche stunden; und wohl wurde es ihm noch sauerer darum, weil seine Glaubensgenossen, ein Priester und ein Levite, die Gott und sein Gesetz so genau im Kopfe hatten, eine gar schlechte Rolle spielten neben dem hochherzigen, menschenfreundlichen Samariten.
„Heuchler! Das Ansehen des Himmels wisset ihr zu beurtheilen, aber bei den Zeichen der Zeit vermöget ihr es nicht?“ — Auch bei dieser Stelle glaubt man es unserm Herrn gewöhnlich auf sein Wort, daß et seinen guten Grund gehabt habe, dieS. 155 Pharisäer Heuchler zu nennen; aber selten bekümmert man sich darum, zu seiner eigenen Warnung und Belehrung, die Ursache dieses Vorwurfes zu erforschen. Und doch liegt sie so nahe!
So viele und so große Wunder hatte Jesus bereits gethan vor den Augen Israels. Waren dieß nicht kennbare und leicht verständliche Zeichen Gottes zu ihrer Zeit, die ihnen sagten, was jetzt geschehe, und was bald kommen werde — das Reich Gottes mit seinem Sohne? Gehörte dazu mehr Schärfe und Tiefe des Verstandes, als zu den alltäglichsten Wetterprophezeihungen? Wo fehlte es denn? Im Herzen; an gutem Willen; an reiner Liebe zur Wahrheit. Die Natur sahen die Pharisäer nicht als ihren Feind an; von ihr befürchteten sie nichts für ihr System, für ihre Ehre oder für ihren Beutel. Ganz anders verhielt es sich mit Jesus. Darum wurde ihr Geistesauge böse, neidisch, trübe; sie sahen nicht an Jesu Lehren und Thaten, was sie am Himmel wahrnahmen — weil sie nicht wollten. Obwohl die Zeichen so deutlich waren, als Wolken, Farbe, Wind im Luftkreise, so verstunden sie doch davon so wenig, daß sie von Jesus ein „Zeichen vom Himmel“ verlangten, d. h. ein ungewöhnliches, recht viel Lärm und Aufsehen erregendes Spektakel.S. 156 Ihr triefäugiger Sinn und Verstand erblickte in den göttlich wohlthätigen Heilungen Jesu nur etwas Gemeines, Alltägliches; sie argwöhnten sogar — wie in unsern Tagen — nur Täuschung und Betrug. Ein klarer Beweis, daß sie an Jesus ihren Mann nicht gefunden hatten, daß er bisher noch gar nicht nach ihrem Sinn und Geiste gehandelt hatte; darum waren sie auch nicht aufgelegt, ihn zu verstehen und anzuerkennen. Fand nun hier nicht Tücke des Herzens, Krümmung der Seele statt? Entwickelte sich nicht daraus nothwendig Verdüsterung der Erkenntniß? —
Doppelsinn im Herzen, getheilt zwischen Gott und der Welt, hinkend auf beiden Seiten, ist der Heuchler nie im Stande, jede Sache in ihrem natürlichen und wahren Gesichtspunkte zu fassen, und ein richtiges Urtheil zu fällen. Diese Verkehrtheit im Urtheilen ist es auch, was Jesus hier vorzüglich bestimmte, die Pharisäer der Heuchelei zu beschuldigen. Davon überzeugt uns am besten die Verbindung, in welcher die eben behandelte Stelle bei Lukas vorkommt. Das unserm Herrn aufgedrungene Schiedsrichteramt, welches die unübertrefflichen Lehren über Reichthum, Vertrauen auf Gott und Wachsamkeit veranlaßte; dann die tiefen Bemerkungen über die entgegengesetzten Wirkungen der Stiftung seinesS. 157 Reiches im Vorhergehenden geben mit dem folgenden Licht genug, um uns zu zeigen, worinn nach dem Sinne Jesu Heuchelei des Urtheiles bestehe. Wie lehrreich sind in dieser Beziehung die Erzählungen von den hingerichteten Galiläern und von der Heilung der Frau am Sabbate[23]! Man kann durch Vergleichung und Nachdenken daraus lernen, wie groß das Gebiet der Heuchelei sei, wie tief ihre Wurzeln in das Innerste unseres Herzens dringe, wie mannigfaltig sich ihre Erscheinung gestalte. Wer soll sich zu Betrachtungen dieser Art nicht hingezogen fühlen, da dieselben mit unserm Heile in so naher Verbindung stehen?
In den letzten Tagen unseres Herrn nahm alles einen weit höhern Schwung,S. 158 einen viel raschern Gang; Thaten drängten sich auf Thaten, Reden auf Reden. Noch ein Mal durchbrach die untergehende Sonne der Gerechtigkeit die düstern Wolken des Hasses und der Verfolgung, und leuchtete in ihrer ganzen Kraft und Herrlichkeit, um die Herzen der Menschen für Wahrheit und Liebe zu entzünden. Aber auch die Werkzeuge des Fürsten der Finsterniß verdoppelten ihre Kräfte, ließen boshafte Ränke, tückische Arglist, offenen Haß und verbissenen Grimm in allen höllischen Farben der Heuchelei spielen, und erhöhten dadurch die Majestät des Glanzes, der vom Sohne Gottes ausgieng.
Zu Bethanien erscholl das Allmachtswort: „Lazarus, komm heraus!“ Und der Verstorbene kam heraus. Wer vermag den Eindruck dieser erstaunlichen That zu beschreiben? Was mußte sich in den Herzen der Maria und Martha und gleichgesinnter Zuschauer regen? Wie demüthigend und erhebend zugleich werden sie die Nähe Gottes gefühlt haben? „Viele von den Juden, die zu Maria gekommen waren, und sahen, was er that, glaubten an ihn.“ Dieß waren keine gemeinen Leute, sondern angesehene Männer aus der Hauptstadt. Bisher hatten sie sich nicht zu recht finden können in Bezug auf die göttliche Sendung Jesu; aber dieser außerordentliche ThatbeweisS. 159 überwog alle Zweifel und Bedenklichkeiten; sie wurden überzeugt, und bekannten ihre Ueberzeugung laut am Grabe. An ihnen erfüllte sich das, was Jesus in seinem Dankgebete gesprochen hatte.
Aber wer hätte es glauben sollen? Einige blieben ungerührt bei der erhabenen, wahrhaft göttlichen That. Es waren wohl dieselben, welche die unschätzbaren Thränen Jesu am Grabe seines Freundes mit ihrer Lästerzunge begeiferten, und die lieblichen Worte bewegter Seelen: „Siehe! wie lieb er ihn hatte!“ mit unmenschlicher Gefühllosigkeit als Zeichen der schmerzlich gefühlten Ohnmacht des vorgeblichen Propheten deuteten. „Konnte der, welcher die Augen des Blinden aufthat, nicht machen, daß dieser nicht starb?“ — Welche Herzen! Welche Gesinnungen! Das war die fromme Bildung, welche die Pharisäer den ihrigen gaben! Wem schaudert nicht vor dieser pharisäischen Gerechtigkeit, welche taub gegen die Stimme der Natur, unempfindlich gegen die zartesten Rührungen der trauernden Liebe, ausgelernt in boshafter Verdrehungskunst wüthende Schlangenbisse des unversöhnlichsten Religionshasses in die Unschuld der reinsten Menschlichkeit thut? Befremden kann es da freilich nicht mehr, aber Entsetzen über den Abgrund der Verkehrtheit und Verhärtung erregt es, wenn man lieS. 160set: „Einige aber aus ihnen giengen hin zu den Pharisäern, und sagten ihnen, was Jesus gethan hatte.“ Wie mit der erfreulichen Nachricht eines unerwartet entdeckten Verbrechens eilten sie in die Hauptstadt, um anzusagen, der verhaßte Nazarener sei plötzlich in Bethanien erschienen, und habe da schon wieder einen Todten erwecket. Waren es gutmüthig dumme Werkzeuge der Pharisäer, oder wußten sie, was sie thaten, und warum? In beiden Fällen bebt der wahrhaft Gute zurück — ein Mal vor der schrecklichen List und Gewalt heuchlerischer Gottesgelehrter, und dann vor der furchtbaren Selbstverblendung befangener, herzloser Systematiker, wie sie damals in Judäa waren.
Welch’ ein großes Gewicht die Pharisäer zu Jerusalem auf diese Anzeige legten, läßt sich daraus abnehmen, daß sogleich der hohe Rath sich versammelte, um in seiner Weisheit zweckmäßige Maaßregeln zu ergreifen gegen den kühnen Volksverführer. Dieß war wirklich der Standpunkt, auf welchen sie ihre Leidenschaft gestellt hatte. Johannes lüftet den Schleier, und läßt uns mehr als Einen Blick in das Geheimniß der Bosheit thun. In ihre Berathungssaale legten sie, weil sie unter sich und einander gleich waren, die Maske der HeiligkeitS. 161 ab, und äußerten ihre Gesinnungen unverholen: „Was thun wir? Denn dieser Mensch thut viele Zeichen.“ Eine ganz andere Sprache, als die, welche · sie vor den Ohren des Volkes führten: „Er treibt die Teufel nur durch den Obersten der Teufel aus.“ — „Was hat er dir gethan? Wie hat er deine Augen aufgethan?“ Da leugneten sie die Wunder, oder wollten wenigstens den Schein gründlicher und redlicher Zweifler haben. Jetzt können und wollen sie nicht mehr läugnen, aber auch nicht glauben. Sie gerathen in Verlegenheit; denn es liegt am Tage, daß Jesus Wunder thut, Wunder sind aber nach ihrer eigenen Lehre Beweise göttlicher Sendung; warum erkennen sie Jesus nicht als Propheten? Hat er etwa nur Scheinwunder verrichtet? Auf denn! Entdecket den Betrug, entlarvet den Verführer, und weiset das Volk zu recht! Fehlt es euch doch nicht an kritischem Scharfsinn und feiner Verdrehungskunst; die Geschichte des Blindgebornen beurkundet, daß ihr Sterne der ersten Größe am allerneuesten exegetischen Himmel sein könntet —
„Wenn wir ihn gehen lassen, werden alle an ihn glauben.“ Das war ein Mal aufrichtig gesprochen; nicht die Lehre, nicht die Wunder stunden ihnen im Wege, sondern die Person Jesu undS. 162 das allgemeine große Ansehen, welches er sich ohne ihr Zuthun, ja gegen ihr Wollen und Sträuben erworben hatte. Sich glaubten sie zurückgesetzt zu sehen, ihr Ansehen zernichtet, ihre Lehrstühle entbehrlich gemacht, wenn der Nazarener so viele Anhänger finde. Jesus hätte nicht nur ihre Menschensatzungen, er hätte Moses und die Propheten angreifen und umstürzen dürfen, wenn er nur Befreiung vom römischen Joche geprediget, den Pharisäern geschmeichelt, ihnen hohe, einträgliche Stellen in seinem Reiche versprochen hätte. Da er aber nur von Besserung, von einem himmlischen Reiche, von Freiheit durch lebendige Wahrheit, von Demuth und Selbstverleugnung, von reiner Liebe sprach, und dieß Alles, ohne von ihnen dazu autorisirt zu sein: so konnte Gott mit dem ganzen Himmel wohlthätiger Kräfte und Thaten an diesen selbstsüchtigen Frommen nichts ausrichten; sie drückten die Augen zu vor dem Glanze seiner Herrlichkeit; sie verhärteten ihr Herz gegen seine Vaterstimme; sie stritten gegen Gott, um ihre Religion zu vertheidigen.
Aber mit welchen Waffen wollen sie sich in diesen entsetzlichen Kampf wagen? Mit geistigen nicht: diese haben sie nicht; sondern mit dem Rüstzeuge dieser Welt. „Dann werden die Römer kommenS. 163 und uns Land und Leute nehmen.“ Höret ihr die staatsklugen Väter des Volkes? Da sie unsern Herrn von sittlicher und religiöser Seite nicht mit Grund anklagen, da sie seine Wunderthaten nicht leugnen oder widerlegen konnten, so liehen sie seinem göttlichen Plane der Menschenerlösung eine politische Wendung. Durch den Glauben an Jesus war der Staat bedroht. Eigentlich aber drückten sie sich nur zweideutig aus; denn der Staat — das waren sie. — — Die Geschichte bestätiget es unwiderleglich, daß nach dem Tode unseres Herrn die fanatischen Pharisäer sich von den schlechtesten Betrügern, als vorgeblichen Messiassen (Joh. V, 43), zu allen Greueln der Empörung hinreißen ließen; worauf dann wirklich die Römer kamen, und ihnen Land und Leute nahmen. Diejenigen aber, welche an Jesus glaubten, entgiengen diesem Grausen erregenden Untergange des jüdischen Staates. — Es bleibt aber ein für alle Jahrhunderte merkwürdiger Zug des Verfolgungsgeistes scheinheiliger Heuchler, daß die Pharisäer die Sache der Religion so listig mit der Politik zu vermischen wußten.
Wie Bileam wider seinen Willen Israel segnete, so weissagte Kajaphas das größte Heil für das Menschengeschlecht, daS. 164 er Tod und Verderben über Jesus schnaubte. „Besser ist es, Ein Mensch sterbe für das Volk, als daß das ganze Volk zu Grunde gehe.“ Wie wahr im Sinne Gottes, und wie entsetzlich im Munde des staatsklugen Oberpriesters! Der Mann war würdig in dem Rathe der Pharisäer oben an zu sitzen, obwohl er selbst nicht zu diesem Orden gehörte, sondern Sadducäer war. Aber in listiger Verstellung und vermummter Ungerechtigkeit gab er dem wüthendsten Pharisäer nichts nach. Ohnehin haßten die Sadducäer Jesus so sehr, als die Pharisäer. — Das rasche, blutige Wort riß die erbitterten, aber unschlüssigen Pharisäer aus ihrer Verlegenheit. Ob Jesus schuldig oder unschuldig sei, kam jetzt nicht mehr in die Frage; sondern ob er noch länger geduldet werden könne, oder nicht. Sie fanden ihn unerträglich für ihre Lehre und mehr noch für ihre Lebensweise; also war er gefährlich, staatsverderblich — todeswürdig. Von nun an dachten sie ernstlich auf seinen Untergang und auf die Mittel dazu. Um aber doch auch die Form des Rechtes zu beobachten, machten sie einen Befehl bekannt, daß jeder eifrige Jude gehalten und verbunden sei, den geheimen Aufenthaltsort Jesu anzuzeigen, damit man ihn ergreifen könne.
Woher ist denn diesen weisen VäternS. 165 der Muth auf ein Mal so sehr gewachsen, daß sie es wagten, öffentlich die Hand nach Jesus auszustrecken? Diese Kühnheit ist so groß nicht, als sie beim ersten Anblicke zu sein scheint. Sie hatten ja schon einen vorbereitenden Schritt gethan durch das Verbot, Jesus für den Messias zu erkennen. Da er sich dadurch von seinem Lehren und Wirken nicht abschrecken ließ; da es vielmehr von seiner Messiaswürde immer lauter wurde: so schien dieser zweite Befehl nicht übereilt zu sein. Ueberdieß durften sie auf ihr priesterliches Ansehen doch auch etwas rechnen, besonders zu Jerusalem und in Judäa; und für diese Gegend scheint die Aufforderung besonders gegolten zu haben wegen dem Aufenthalte Jesu während der Festzeit. Endlich war ihr Anhang unter dem vornehmen und niedrigen Pöbel immer noch groß und stark genug, um die sich erst bildende Parthei unseres Herrn zu überwältigen, da sich ohnehin nur gute, stille Menschen an ihn anschlossen. Man vermißt also auch bei diesem offenen Mordanschlage die Fuchsnatur der Heuchler nicht.
Einen schönen Contrast mit der im Finstern schleichenden Bosheit der Pharisäer bildet die ächte Klugheit und der wahreS. 166 Muth, welchen Jesus in seiner immer schwieriger werdenden Lage bewies.
Er wollte sterben zum Wohle der Menschen, aber nicht früher und nicht anders, als es der Wille seines Vaters war. Darum wich er mit der besonnensten Vorsicht der Verfolgungswuth seiner erboßten Feinde aus, und zog sich nach Ephraim zurück, einem Städtchen, welches nahe an der Wüste lag, und ihm einen sichern Zufluchtsort gewährte. In dem Charakter unseres Herrn lag also weder die unüberlegte Hitze des Fanatikers, der sich blindlings in Gefahr und Tod stürzet, noch die schwachherzige Feigheit des Heuchlers, der Wahrheit und Tugend menschlichen Rücksichten opfert. Durch weise Mäßigung ward er uns Muster der Nachahmung. —
Als seine Stunde gekommen war, legte er einen Muth und eine Entschlossenheit an den Tag, welche seine Freunde in die höchste Begeisterung versetzte, und alle Feinde in die schrecklichste Verlegenheit stürzte. Wer hätte es erwartet, daß er sich sobald wieder nach Bethanien wagen würde? Ja, er ließ sich von Maria als den Retter ihres Bruders auf eine ausgezeichnete Weise verehren, billigte nicht nur ihre dankbare Gesinnung, sondern nahm sie sogar gegen pharisäische Seitenbemerkungen des Judas und der von ihm verleiteten Jünger in Schutz.
Niemals trug Jesus seine Wunderthaten zur Schau; aber eben so wenig verbarg er sie ohne Noth. Dießmal wollte er die Erweckung des Lazarus so laut und öffentlich bekannt gemacht wissen, als es möglich war; denn diese That war entscheidend.
Was werden die Hohenpriester von diesen scheinbaren Widersprüchen der Schüchternheit und Kühnheit in dem Betragen Jesu gedacht und gefaselt haben? Ungefähr dasselbe, was noch heute sadducäische Feinde und pharisäische Freunde von seinen Lehren und Thaten träumen und schwätzen.
An der heiligen Flamme des Gottbegeisterten Führers entzünden sich die Herzen Aller, die mit frommem Vertrauen um ihn sind. Dieß war der Fall bei Maria, Martha und Lazarus. Unverholen bekannten sie sich zu dem verfolgten, geächteten Lehrer von Nazareth, liebten und verehrten ihn als ihren Freund und Retter vor den Augen Aller, in der Nähe der Hauptstadt, in dem Angesichte seiner Todfeinde, die mächtig, angesehen und gewissenlos genug waren, um alles Böse fürchten zu lassen.
Das Volk — war es anders gesinnet, als die hochherzigen Geschwisterte?S. 168 Schaarenweise zog es nach Bethanien, sahe Lazarus, und glaubte an Jesus, gegen das scharfe Verbot der Hohenpriester: Die Wahrheit sprach zu laut zum Herzen des gemeinen Mannes, daß er nicht Gott mehr hätte gehorchen sollen, als den Menschen.
Anstatt durch solche auffallende Zeichen auf Gottes Wege aufmerksam zu werden, „giengen die Hohenpriester damit um, auch den Lazarus zu tödten.“ War es möglich, die Verblendung weiter zu treiben? Konnte verhärtete Bosheit und Heuchelei schrecklicher wüthen? Gottes Werke wollte menschliche Tücke widerlegen — durch doppelten Mord!!!
Unserm Herrn blieb von allen diesen Planen gewiß nichts verborgen; deßungeachtet ließ er sich nicht abschrecken, festen Sinnes den letzten Schritt zu thun, und seinen feierlichen Einzug zu Jerusalem als Messias zu halten. Welch’ ein Muth! Welche unerschütterliche Ergebung in den Willen seines Vaters! Aber auch andererseits welche Reinheit, welche Demuth, welche göttliche Hoheit! — Da zieht er den Oelberg heran — David’s und Gottes Sohn — auf dem Füllen einer Eselin, das mit Kleidern seiner Jünger gepolstert ist.
Schaaren seiner Jünger und Verehrer begleiten ihn mit frohen Gefühlen. JetztS. 169 kommt er auf die Spitze des Berges; Jerusalem, die prächtige, die sündhafte liegt zu seinen Füßen; ihr Anblick entflammt seine Begleiter zum lauten Triumphgeschrei — Jesus zerfließt in Thränen der Wehmuth und Erbarmung. — Kleider bedecken die Straße, Palmzweige wehen in den Händen, Freudenruf erfüllet die Luft — Ihm glänzt die Thräne im Auge. So ist er seinen Feinden furchtbar und unbezwinglich! —
Hier lernet Heuchelei und Wahrhaftigkeit, beide in ihrer Siegeshöhe, kennen; jene fliehen, diese nachahmen!!
Der Einzug unseres Erlösers zu Jerusalem giebt uns noch Gelegenheit zu mehr als Einer interessanten Vergleichung der Pharisäer mit andern geradsinnigen Menschen.
„Meister, verbiete es doch deinen Jüngern!“ So fuhren die Pharisäer unsern Herrn an, als die Schaaren seiner Verehrer ein lautes Hosianna dem Sohne Davids erschallen ließen. Die Jünger und die Volkshaufen, welche nach Bethanien gekommen waren, wurden durch die wechselseitig erregte Erinnerung an die großen Thaten Jesu ganz begeistert; sie waren jetzt gewiß, daß er und kein Anderer derS. 170 Messias sei; darum gaben sie dem mächtigen Drange ihrer überzeugten Herzen nach, und drückten sich lebhaft und stark genug aus. Jesus ließ es geschehen, weil dieser ehrende Zuruf nur volle und reine Wahrheit enthielt. Die Sache so angesehen, gehörte doch nicht wenig freche Tadelsucht und schamlose Eigenliebe dazu, Jesus öffentlich darüber Vorwürfe zu machen. Aber hatten denn die Pharisäer auch hier wiederum gar so Unrecht? War Jesus nicht vom Synedrium förmlich als falscher Prophet und Messias erklärt worden? Wie konnten die alten, frommen Väter Israels sich so ganz an ihm versehen, wenn er der Sohn Gottes wirklich gewesen wäre? Was bedurfte es da noch einer eigenen Untersuchung jedes Einzelnen, wo die Vorsteher schon so bestimmt entschieden hatten? Diese unberufenen Tadler handelten im Geiste ihrer Sekte, und konnten sich in ihren Augen an einem Menschen, wie Jesus war, unmöglich versündigen.
Die Wahrheit dieser Erklärung wird unwiderleglich bestätiget durch den Ausbruch pharisäischen Unwillens, welchen Johannes erzählt: „Ihr sehet, daß ihr nichts ausrichtet; sehet, die ganze Welt läuft ihm nach!“ Sie hatten also schon gegen Jesus entschieden; einer nähern Prüfung wollten und konnten sie weder gemeinschaftlichS. 171 noch für sich selbst seine Lehren und Thaten nicht mehr unterwerfen. Ihr ganzes Bemühen war nur dahin gerichtet, ihn um das Zutrauen des Volkes zu bringen, oder, wenn dieß nicht möglich wäre, aus dem Wege zu räumen. Daher der niederträchtige, feigherzige Zorn, als keines von beiden gelingen wollte. Und doch bildeten sie sich dabei ein, die Stützen der Wahrheit und Religion zu sein. Wie liebenswürdig erscheint hier der gemeine Jude, der sein redliches Herz dem Zuge des himmlischen Vaters folgen ließ, und Jesus als Messias bekannte, ohne einen Pharisäer zu fragen!
Als Jesus nach seinem Einzuge im Tempel verweilte, kamen Blinde und Lahme zu ihm, um geheilt zu werden. Der laute Ruf seiner Thaten, besonders der wiederbelebte Lazarus, hatte sie ohne Zweifel zu diesem Schritte ermuntert — und zu ihrem Besten. Sie wurden wieder hergestellet. Die Hohenpriester und Schriftgelehrten waren Augenzeugen dieser göttlichen Thaten, die doch wohl laut genug für seine Messiaswürde sprachen; sie sahen und hörten die Freude, den Jubel und Dank der Geheilten gegen Gott und seinen Sohn — und blieben ungerührt! Aber noch mehr! Knaben fanden sich auch dabei ein; diese hatten es schon in den StraßenS. 172 gehört, und hörten es jetzt von den Geretteten wahrscheinlich wieder mit Enthusiasmus ausrufen, daß Jesus der Sohn David’s sei; was war daher natürlicher, als daß sie mit jugendlicher Unschuld und Freude nachriefen: Hosianna dem Sohne David’s?! Dieß brachte die Pharisäer außer sich. „Hörest du, was diese sagen?“ Wie herzlos, wie empörend, und doch auch lächerlich klingen diese Worte im Munde der Meister Israels!! Jünger, Kinder — Steine verkündigten die Ehre unseres Herrn; die Heuchler fluchten ihm, und segneten sich dabei — Jehova zu Ehren! —
Kein Wunder! Jesus hatte sie auch zu arg gereizet. Zum zweiten Male nahm er ihnen ihr frommes Gewerbe im Tempel, indem er die Verkäufer austrieb. Dieß war in ihren Augen offenbar nur Rachsucht gegen sie, die er unter dem Schutze des mit ihm eingezogenen Volkes verübte. Da es schon Abend war, mußten sie es geschehen lassen; aber sie sannen wüthend auf Wiedervergeltung. Wie mancher Pharisäer wird sich in der folgenden Nacht wie ein getretener Wurm auf seinem Lager gewälzet und auf Racheplane gedacht haben!
Der Tag brach an; Jesus kam in den Tempel; das Volk strömte herbei; Jesus lehrte, wie gewöhnlich; die Hohenpriester und die Aeltesten des Volkes stellten sichS. 173 auch ein; sie hatten schon ein Mittel ausgesonnen, sich für die Schmach des vorigen Tages empfindlich an ihm zu rächen. Todeshaß im Herzen, Brandmale im Gewissen, Ruhe im Gesicht, Wahrheit und Recht im Munde, Amteswürde im Gange — so traten sie zu Jesus, unterbrachen seinen Vortrag und stellten feierlich die Frage: „Sage uns, aus welcher Vollmacht hast du das gethan? Und wer hat dir die Macht gegeben?“ — Es war nicht so leicht, auf diese listige, unerwartet vorgelegte amtliche Frage auf der Stelle eine genügende Antwort zu geben. Wer Mißbräuche abstellen will, muß dazu befugt sein; Jesus hatte dieß gethan, und zwar auf eine für den Priester- und Levitenstand gar nicht ehrenvolle Weise. Sie hatten ihm dazu keine Erlaubniß gegeben; und er würde wohl auch vergeblich darum nachgesucht haben. Mit gutem Grunde konnten sie also ihm Verletzung der bestehenden Ordnung, Kränkung ihrer Ehre und Verminderung ihres Ansehens vorwerfen. — Aber Jesus war ja als Messias in die Stadt eingezogen, und hatte mithin als solcher gehandelt! Eben dieß war es, worauf sie lauerten. Wie geschwinde würden sie ihm Beweise seiner Messiaswürde abgefordert, diese ungültig und nichtig befunden und ihm, als Betrüger, den Prozeß gemacht haben! Die Heuchler maßenS. 174 unsern Herrn nach ihnen selbst; darum verrechneten sie sich so sehr. Reinheit des Herzens, Heiligkeit des Lebens, Wahrheit der Lehre, Weisheit und Kraft Gottes — dieß waren die Waffen, mit denen er den großen Kampf für uns kämpfte. Er war bereit, sich zu verantworten, und öffentlich sich als Messias zu bekennen, sobald die Hohenpriester eine vorläufige Frage öffentlich beantworten würden; nämlich, ob Johannes, der Täufer, ein Prophet gewesen sei, oder nicht? Bejaheten sie die Frage, so hatte Jesus einen göttlichen Gesandten zum Zeugen, daß er Gottes Sohn sei; ein für Juden unwidersprechlicher Beweis! Leugneten sie die Sendung des Täufers, so mußten sie Beweisgründe anführen; woher wollten sie aber diese nehmen? Jesus war also auf jeden Fall gesichert — durch Wahrheit; sie geriethen in die schrecklichste Verlegenheit. Welche Hölle mit allen Aengsten der Verzweifelung und Ohnmacht werden diese Elenden empfunden haben! Da stunden sie vor den Augen des Volkes; sagten sie ja, so mußten sie mit Schande abziehen; sagten sie nein, so drohten die gemeinen Leute, ihnen mit Steinwürfen den Gegenbeweis ihrer Lüge zu machen. Ihre Fuchsnatur fand noch einen Schleichweg — sie wußten es gar nicht, ob Johannes von Gott oder Menschen gekommen sei. Nun blieb auchS. 175 Jesus seine Antwort schuldig. Aber lieber wollten sie die Sache unentschieden lassen und mit Schande bedeckt abziehen, als dem verhaßten Nazarener Recht geben. —
Winkelzüge dieser scheußlichen Art, Verleugnung der Wahrheit und Anhänglichkeit an die Lüge unter der Maske des Guten mit solcher Tücke und Verhärtung — welche Warnung für uns Alle! Wie sehr sollen wir uns hüten vor den Anfängen und leisesten Spuren der Heuchelei um nicht so zu enden!
Jesus ließ Manches der Art ohne besondere Bemerkung an sich vorübergehen; aber dieser Vorfall ergriff ihn selbst zu lebhaft, regte gerechten Unwillen und tiefes Mitleid zu sehr in ihm auf, als daß er den Pharisäern ihr Unrecht nicht hätte zu verstehen geben und noch einen Versuch zu ihrer Besserung machen sollen. In malerischen Gegensätzen schilderte er ihr Betragen gegen Gott und seine Gesandten, und brachte sie auch dießmal dahin, sich selbst das Urtheil zu sprechen. Ein gewaltiger Stich aber mußte ihnen durch ihr Herz gehen, da Jesus vor allem Volke den Täufer für einen Propheten erklärte, und ihre erheuchelte Unwissenheit beschämte. Kränkender konnte überdieß kaum etwas sein, als daß er Huren und Zöllner mehr bei Gott gelten ließ als sie, die angepriesenen Musterbilder ächter FrömS. 176migkeit. Ein ernster, wohl zu beherzigender Wink, daß Gott Sünder, die offenen Ungehorsam verüben, aber denselben innig und thätig bereuen, liebevoll aufnimmt, während er Frömmler, die scheinbar seinen Willen thun, im Geheimen aber seinen Namen schänden, und keine Reue fühlen, wohl gar auf Belohnung Anspruch machen, mit richterlichem Unwillen verwirft! Der gewöhnliche Sünder spricht: „Ich will nicht,“ und thut zuletzt doch noch den Willen des Vaters; der schlaue Heuchler sagt mit schmeichelnder Miene: „Ja, Herr!“ und thut das Gegentheil. Mit welchem haltet ihr es lieber, Menschenkinder?! — —
Doch unser Herr war damit noch nicht zufrieden, bloß überhaupt das Betragen dieser Leute gerüget, und die göttliche Sendung Johannes in Schutz genommen zu haben; sie hatten in seinen Augen — und bei wem nicht? — eine noch schärfere Ahndung in Bezug auf ihr Verhalten gegen seine eigene Person verdient. Aber er kleidete diesen äußerst eingreifenden Verweis in Parabeln ein — von den Pächtern des Weinberges und von der königlichen Mahlzeit.
Sie faßten auch den Sinn so richtig und ganz, wenigstens so weit er sie betraf, daß sie schon nach der ersten Parabel festS. 177 entschlossen waren, sich seiner zu bemächtigen, und ihm für die Zukunft Gelegenheit und Macht zu solchen Angriffen zu nehmen. Nur eines hielt sie ab — Heuchelei. Mit dem Volke wollten sie es nicht verderben; denn dieses hielt Jesus für einen Propheten, und entschiedene, öffentliche, formwidrige Prophetenmörder wollten sie doch nicht sein. Listiger waren sie doch, als — ihre Väter.
Als aber Jesus auch die zweite Parabel mit gleicher Unbefangenheit und Unerschrockenheit vortrug, riß ihre Geduld, die Furcht ward überwunden auf einer Seite, auf der andern waren sie noch gefesselt davon; darum „giengen sie hin, und hielten einen Rath, wie sie ihn fienqen in seiner Rede.“
In diesem Rathe ward ein Projekt beliebt, ihn sagen zu machen, daß dem Kaiser der Zins nicht gebühre. Eigentlich waren die Pharisäer wider den Kaiser, hatten ihm auch keinen Eid schwören wollen; aber der König der Wahrheit war ihnen noch mehr zuwider, weil sie bei dem noch mehr zu verlieren hatten. Und so schickten sie sich in die Zeit, und machten Allianz mit dem Kaiser, um sich durch den geringern Feind den größern vom Halse zu schaffen. Christus sollte sagen; es sei nicht recht, daßS. 178 man dem Kaiser Zins gebe; und dann war er verloren — meinten sie.
Aber wie macht man ihn das sagen? — Die schlauen Füchse kannten sich, und wußten, daß eine Wanne mit Wasser eher überfließt, wenn sie in Bewegung gesetzt ist. Deßwegen beschloßen sie weiter, ihm durch verstelltes Lob und durch Anerkennung seiner Competenz das Herz vorher groß zu machen, seine Wahrhaftigkeit, seinen geraden Sinn und sein Nichtachten der Person vor dem Volke zu loben, damit er geneigt würde, gleich eine Probe davon gegen den Kaiser zu geben.
Das Alles war hier nun freilich nicht angebracht; aber sie verstunden das nicht besser, und so sandten sie denn ihre Jünger — Und Herodis Diener mußten gleich mitgehen, damit es bei dem Zeugenverhör desto weniger Weitläufigkeit gäbe, oder als gute Freunde, die den Sieg mit ansehen und ausbreiten helfen sollten. Ja oder Nein! und in beiden Fällen siegten die Pharisäer. Denn sollte Christus den Zins gut heißen, und also dem Hauptprojekte ausweichen, so verdarb er es beim Volke, das den Zins ungern bezahlte, und von seinem Messias Befreiung von allem fremden Joch erwartete.
Die Sache war sehr klug angelegt, und wäre unter gleichen Umständen gewißS. 179 Zehn- gegen Einmal durchgegangen. Hier, wie gesagt, gieng’s nicht.
„Da nun Jesus ihre Schalkheit merkte, sprach er: Ihr Heuchler, was versuchet ihr mich?“
Das war der freimüthige, gerade Sinn &c. den sie aus Schalkheit gelobt hatten, wahrhaftig; aber anders, als sie erwarteten.
Mathematisch gewiß waren wohl die Pharisäer des guten Ausganges nicht; denn sonst wären sie selbst gekommen, und hätten nicht ihre Jünger geschickt. Indessen hatten sie doch ohne Zweifel, gute Erwartungen, und sie haben ohne Zweifel den Deputirten Jüngern in einem nicht geringen Tone von ihrer klugen Anlage und Erfindung gesprochen, und diese hatten gewiß ihre heimliche Freude, daß Christus von dem allem nichts wisse, und ihrem ehrbaren Gesichte nicht ansehen werde, was hinter ihrer Frage stecke. Da kann man denken, wie sie erschrocken sind, als unser Herr Christus anfieng zu sprechen, und seiner Gewohnheit nach nicht dem Gesichte, sondern dem Herzen antwortete.
„Wessen ist das Bild und die Ueberschrift?“ Fühlst du nicht den feinen Sinn? — Ueber das Ebenbild Gottes hatten die Eiferer für die Religion nichts zu fragen, wohl aber über das silberne EbenS. 180bild des Kaisers. — Die Zinsmünze und das Geben oder Nichtgeben derselben war im Grunde eine kleine und unbedeutende Angelegenheit, die über ihre Glückseligkeit nichts entschied. — Ueberhaupt war die ganze Frage über das Recht und Unrecht der Zinsmünze eine sehr alberne Frage, und gerade soviel, als wenn ein Ehebrecher fragen wollte, ob es recht sei, die auf den Ehebruch gesetzte Strafe zu bezahlen? — Man sieht, wie die Pharisäer eigentlich stunden, und was von allen Seiten für Anlaß und Raum zu bitterer Antwort war; und Gott weiß, daß sie hier nicht unverdient gegeben wäre. Aber Er war zu gut, bitter zu sein. Auch war er nicht gekommen, das letzte Wort zu behalten, und über die Künste der Pharisäer und Welt-Weisen zu triumphieren, sondern die Künstler selig zu machen.[25]
Die Antwort unseres Herrn war entscheidend und beschämend; der Sieg vollkommen. Erstaunt über seine Weisheit und Scharfsichtigkeit schlichen sich die jungenS. 181 Männer davon, welche als Werkzeuge boshafter Tücke gedient hatten. Sollte sich nicht Mancher darüber geschämt haben? Sollte nicht bei Manchem ein Zweifel an der Redlichkeit und Wahrheitsliebe der Meister in Israel aufgestiegen sein? Wenn wir in ihren Herzen hätten lesen können! Was mag Jesus darin gesehen haben! — Wie unglücklich macht doch Heuchelei!
Aber auch wie unheilbar! Wer hätte es erwartet, daß die Pharisäer nach so vielen, schmachvollen Niederlagen die Angriffe auf Jesus nicht aufgeben würden? Und doch war es so. Kaum waren die albernen Einwürfe leichtsinniger Sadducäer gegen die Auferstehung mit Würde und Nachdruck beantwortet, als schon wieder eine Parthie zusammentrat, und die alte Streitfrage über das wichtigste Gebot im Gesetze wieder auf die Bahn brachte. In Galiläa und Judäa blieb sich diese Secte gleich; engherzig, streitsüchtig und eigenliebig drehte sie sich stets im Kreise um denselben Punct und verwarf und verfolgte Jeden, der diesen Kopf und Herz betäubenden Kreisgang nicht mitmachte. Was half es, daß Jesus sie auch in Jerusalem in diesem Stücke zurecht wies? Sie hörten, wandten sich weg, warfen seine Antwort weg — aber nicht ihren Haß gegen ihn. Bewundern muß man in solcher Lage die Langmuth undS. 182 die Liebe Christi, der nicht müde wurde, seine Todfeinde zu retten, noch weniger müde, als sie, ihn zu verderben.
Ein höchst demüthigendes Beispiel von der tiefen Geistesarmuth der in ihrer Einbildung an Gotteskenntniß überreichen Pharisäer liefert die letzte Frage, welche Jesus ihnen vorlegte. „Was dünket euch von Christus? Wessen Sohn ist er?“ — „David’s“ war die fertige Antwort, die sie mit schülerhafter Hast und wohl nicht ohne hämischen Seitenblick über die Leichtigkeit der Frage gaben. Allein sie hatten nur halb die Wahrheit getroffen. Sobald daher Jesus auch die andere Hälfte verlangte, und sie mit David’s eigenen Worten darauf hinwies, verstummten sie, und „konnten ihm nichts antworten.“ War es möglich? Sogar nothwendig. Die Heuchler suchten nicht Gott, sondern unter einem heiligen Namen nur sich; sie forschten nicht nach Wahrheit, sondern unter gutem Vorwande nach eigenem Vortheile; daher wollten sie als Messias zunächst einen Sohn David’s, groß, mächtig, reich, angesehen, kriegerisch, allenfalls auch gesetzlich fromm und den Heiden feindlich. Dabei fanden sie ihre Rechnung. Wie hätten sie da an eine höhere — göttliche Natur und Würde desS. 183 Messias denken, wie die Frage unseres Herrn auch nur verstehen können! Gottes Sohn war ihnen etwas Unbedeutendes gegen einen Helden, der die Römer schlug, und ihre Beutel und Bäuche füllte. Unter seiner milden Regierung hätten sie wohl auch Jehova — und sich Wolken von Weihrauch aufsteigen und fette Opfer bluten lassen.
Schmerzlich wird es den hochgelehrten Rabbinen doch gefallen sein, daß sie mit der Antwort auf eine so wichtige, und wie man allgemein vermuthen mußte, ihnen wohl bekannte Frage ins Stocken geriethen; und dieß dem neuen Lehrer gegenüber, auf den sie gewiß nicht selten mit Verachtung herabsahen, weil er in ihren Erblehren und Zusätzen zu Moses nicht bewandert war, ja nicht einmal Werth darauf legte. Was dachte wohl das umstehende Volk? Ein neuer Grund, sich zu schämen und zu ärgern. So stößt der Heuchler am Ende überall an.
Paulus gehörte einst auch selbst zu der angesehenen Secte der Pharisäer. Allein er riß sich davon los, nachdem er die Allgewalt des Wortes Gottes auf die erschütterndste und ergreifendste Weise an sich selbst erfahren hatte. Niemand konnte daher die Kraft göttlicher Aussprüche besser und zuverläßiger schildern, als er; Keiner hat es auch nachdrücklicher gethan, als er in seinem Briefe an die Hebräer IV, 12–13, wo er den Unglauben und Ungehorsam bedroht: „Lebendig ist Gottes Wort und kräftig, und schärfer als jedes zweischneidige Schwerdt; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Mark und Bein; und es richtet Gedanken und Anschläge des Herzens; und kein Geschöpf ist verborgen vor ihm, sondern Alles ist enthüllt und aufgedeckt vor den Augen dessen, von dem wir reden“ — nämlich vor JesusS. 185 von Nazareth, dem Sohne Gottes und der Menschen. Durch ihn haben sich auch „diese Worte vor unsern Ohren erfüllet,“ da er wenige Tage vor seinem Welterlösenden Tode eine Charakterschilderung der Heuchler seiner Zeit entwarf, wie es nur der „Herzenskenner“ vermochte. Wäre an diesen Menschen noch etwas zu bessern gewesen, so hätte sie diese gewaltige prophetische Strafrede unfehlbar aus scheinheiligem Sündenschlafe aufgeschreckt. Doch dieß gieng nicht mehr an. Indeß konnte es Jesus auch nicht ärger mit ihnen verderben, als es bisher durch Lehre und That geschehen war. Auf jeden Fall lernte sie das Volk kennen, wenn er ihnen die Heuchlerlarve abriß, und sie in ihrer häßlichen Naturgestalt unverhüllt sehen ließ. Seine Jünger konnte er nicht kräftiger vor Heuchelei warnen, als wenn er ihnen das Bild dieses scheußlichen Lasters so lebendig vor Augen stellte. —
Bei dem verzehrenden Feuereifer, von dem unser Herr bei dieser Rede ergriffen war; bei dem grimmigen Hasse seiner erbosten, niederträchtigen Feinde; bei dem gewaltigen Einflusse auf die Herzen des Volkes; bei dem mehr als menschlichen Ansehen und Berufe, den er hatte, bleibt es — menschlich betrachtet — immer eine eben so bewunderungswürdige, als nachahmungswerthe Erscheinung, daß er in seinem VortrageS. 186 sogar nichts Ueberspanntes zeigte, so weit von schwärmischer Hitze entfernt war. Mit der ruhigsten Besonnenheit und billigsten Schonung räumt er den Pharisäern die Würde und die Rechte ein, die ihnen gebührten. Mit dem Priester, mit dem Leviten hatte er nichts zu thun, aber an dem Heuchler in beiden hatte er vieles zu tadeln. Er that dieses, ohne jenem die seinem Amte gebührende Achtung zu versagen. „Auf Moses Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer &c.“ damit erkennet er ihr Recht, Gottes Wort vorzulesen und auszulegen — wie es ehedem Moses gethan hatte — aber freilich in Moses Sinn und Geiste! Was sie so gebieten würden, sollten alle Juden halten. Man übersehe es nicht, wie Jesus das Volk anweiset, den wahren Lehren der ordentlichen Vorgesetzten sich anzuschließen! Er billigte es nicht, daß Jeder seinen eigenen Weg gieng, und sich selbst sein Gesetz machte.
„Aber nach ihren Werken sollet ihr nicht thun; denn sie sagen es wohl, aber thun es nicht.“ Welche Wendung! Was für Lehrer waren die, deren Thaten ihren schönen Worten widersprachen? Gaben sie damit nicht selbst Jesus die Waffen in die Hand? Glichen sie nicht Giftpflanzen mit lockenden Blüthen?S. 187 Ihrem Lehramte ließ Jesus volles Recht widerfahren; allein um so schärfer und schonungsloser mußte er nach Allem, was er von ihnen sah und hörte, ihr Leben angreifen. Sagen und nicht thun. Andern strenge gebieten, und selbst übertreten — Darin fand Jesus den charakteristischen Zug der Heuchelei, und diesen hob er ohne Rücksicht hervor.
Nun folgen Beispiele von Reden und Thaten der Pharisäer, denen man nicht folgen soll. — Das Erste, was Jesus rügte, war ihre Schriftauslegung. Sie machten Gottes Wort zu einer unerträglichen Last. Nicht nur zerstückelten und zerschnitten sie den Text so lange, bis alles Leben und aller Geist verschwunden war, sondern sie gaben jedem Gesetze die ungemessenste Ausdehnung, wollten triefäugigen Sinnes alle möglichen Fälle vorhersehen, und ersäuften auf diese Weise Gottes hohe und reine Gedanken in dem todten Meere rabbinischer Noten und Glossen. Die gesetzlichen Vorschriften häuften sich daher durch den gelehrten Eifer und durch die scharfsichtige Frömmigkeit der Meister Israels so sehr, daß man sie kaum fassen, viel weniger ausüben konnte. Desto unbarmherziger bestunden die Pharisäer auf der pünktlichsten Beobachtung eines jeden Jota und Striches. Nur Eines vergaßen sie dabei —S. 188 das eigene gute Beispiel. Dazu wollten sie sich so wenig verstehen, daß sie alle verschmitzten Kunstgriffe aufboten, um sich, wenigstens im Stillen, die Last des Gesetzes vom Halse zu schaffen. Sinnreich erfanden sie tausend Gründe, mit denen sie ihr Gewissen über die gröbsten Gesetzesverletzungen zu beruhigen wußten. Aber die Leute durften das nicht wissen, viel weniger sehen. Vor den Augen der Menschen thaten sie selbst den übertriebensten Forderungen Genüge, damit sie bewundert und gelobt wurden — die guten, großen Geister!
„Kommet Alle zu mir, die ihr müheselig und beladen seid, und ich will euch erquicken! Nehmet mein Joch auf euch! — Denn mein Joch ist milde, und meine Bürde ist leicht.“ So rief Jesus seinen Zeitgenossen zu. Welchen Nachdruck, wie viel Wahrheit gewannen diese Worte in seinem Munde den Pharisäern gegenüber? War es dem Volke zu verargen, wenn es dem Propheten von Nazareth in großen Schaaren nachzog? Und doch thaten es die Lehrer und Vorsteher der Nation nicht, fluchten dem Volke, wütheten gegen Jesus — aber die verkehrte Lehre und den vor Gottes Augen greuelhaften Wandel zu ändern, daran dachten sie nicht.
Thaten denn die Pharisäer gar nichts Gutes? Vieles, recht Vieles, wenn esS. 189 nur die Menschen sahen, und sie dafür lobten als fromme, gottselige Männer. Diese schnöde Religiosität ist daher das Zweite, was Jesus nicht ohne satyrische Züge diesen Helden der Verstellung vorwirft. Gottesverehrung und Eigenliebe, gutes Beispiel und Gefallsucht, Frömmigkeit und Eitelkeit wollten diese armseligen Kleingeister mit einander verbinden.
Das Lamm sollte beim Wolfe wohnen, ohne daß Gott diesen Bund gestiftet hatte. Wohl mag es diese selbstsüchtigen Frömmler so recht eigentlich gekitzelt haben an dem Herzflecken der Heuchelei, wenn sie mit ihren heiligen Zierrathen die Augen der staunenden Leute auf sich zogen, bewundernden Blicken begegneten, süßes Lob flüstern hörten. Wie wird sich da der Götze im Herzen groß gefühlt haben! Und worauf denn? —
Vor allem auf recht breite Denkzettel! — So lautete Gottes Wort durch Moses an Israel: „Es soll dir ein Zeichen an deiner Hand, und ein Denkmal zwischen deinen Augen sein, auf daß des Herrn Gesetz sei in deinem Munde; daß der Herr mit mächtiger Hand dich aus Aegypten geführet hat.“[27] UnwiderstehlichS. 190 dringt sich Jedem der Sinn auf: Gottes Wohlthat, die Befreiung Israels aus Aegypten, soll den Israeliten so unvergeßlich sein, als ein auf die Hand eingeätztes Merkmal, als eine Streife von Linnen oder Pergament, welche man zur Erinnerung an die Stirne hängt.[28] Die Juden nahmen dieß buchstäblich, und machten sich wirklich solche Denkzettel. Auch gut, wenn dankbare Liebe und unverfälschter Glauben die Triebfedern waren. Allein dieß war bei den Pharisäern der Fall nicht; sondern sie wollten sich nur auszeichnen als die Eifrigsten in Erfüllung des Gesetzes; sie wollten den Buchstaben zur Schau tragen, um den Geist des Gesetzes zu zernichten in Wort und That. Daher ließen sie Sprüche der heiligen Schrift auf sehr breite Pergamentstreifen schreiben, wohl gar in Kapseln fassen, und trugen sie an Stirn und Armen. Welch’ eine ausgebreitete Frömmigkeit! —
Noch mehr! Sie vergrößerten die Quasten an ihren Oberkleidern. Ein neuer Beweis der Tiefe und Länge ihrer Religiosität; den aber Jesus, sonderbar genug, nicht gelten lassen wollte. Gott hatte geboten: „Rede mit den Kindern Israel,S. 191 und sprich zu ihnen, daß sie sich Quasten machen an den Flügeln ihrer Kleider, unter allen ihren Nachkommen, und an die Quaste jedes Flügels eine himmelblaue Schnur machen. Und diese Quasten sollen euch dazu dienen, daß ihr sie ansehet und gedenket aller Gebote des Herrn, und thut sie, und nicht wandelt nach eures Herzens Dünken, noch nach euren Augen, daß ihr ihnen nachhuret.“[29] Also ein neuer Anlaß, an Gottes Willen und Gebot zu denken, und dasselbe zu thun, aber nicht bloß, wie die Pharisäer, schön und viel davon zu reden, und mit langen, zottigen Klöppeln zu prahlen, um frömmer zu scheinen, als Andere. Wer kann es Jesus verargen, wenn er diesen wollichten Maaßstab der Gottseligkeit mit scharfer Satyre verwarf? — Offenbar ist in den Worten der heiligen Schrift auch darauf hingedeutet, daß das Tragen solcher Schnüre die Juden von den Heiden unterscheiden, und erstere zur Verabscheuung des Götzendienstes der letztern antreiben sollte. Mußte dieses nicht lächerlich und herzverderbend zugleich werden, wenn man die Entfernung des Sinnes vom Heidenthume nach der Länge und Dicke der Quasten am Oberkleide bestimmen wollte?S. 192 Wer war schlechter daran, der Heide mit seinen Götzen von Stein und Holz, oder der Pharisäer mit großen Trodeln, welche den abgöttischen Sinn austreiben sollten? — Allein so tief und scharf konnte nur Jesus in das dunkle Gewebe der Gleißnerei blicken. Wohl uns, daß er es gethan und ausgesprochen hat, was er sah!
„Wer sich selbst erhöhet, wird erniedriget werden, und wer sich selbst erniedriget wird erhöhet werden“[30]; dieß war ein Wahlspruch unseres Herrn, den er oft im Munde führte, und schon einmal mit einer nachdrucksvollen Parabel den Pharisäern ans Herz gelegt hatte, da er sah, wie ängstlich sie bei der Wahl ihrer Sitze an der Tafel zu Werke giengen, um ja nicht zu weit hinabzurücken. Doch die treffliche Erinnerung war ohne Erfolg geblieben; sie fuhren fort, mit ihrer Frömmigkeit, Rangsucht und Stolz zu paaren. Allerdings ein sonderbares Gemische unvereinbarer Dinge! Aber es war nun einmal so; die Pharisäer wollten durchaus an der Tafel in der Mitte oder an dem Ehrenplatze sitzen; in den Synagogen forderten sie nicht nur, vor den gemeinen Leuten zu sitzen — das verstund sich von selbst bei soS. 193 reinen Personen — sondern schlechterdings die ersten Plätze nahmen sie ein, wenn auch die Vornehmsten der Stadt oder des Ortes sich einfanden. Der Geist der Religion Jesu war ächte, lebendige Gottes- und Menschenliebe. Auch bei den Pharisäern wirkte Liebe — aber nur Eigenliebe. Je saurer ihnen also ihr Frommthun wurde; je mehr Anstrengung, Aufwand und Zeit es kostete, bis sie sich in Engel des Lichtes umgestalteten, desto mehr wollten sie natürlich auch von der Arbeit ihres Tagewerkes erndten; desto größere Vorzüge verlangten sie vor denen, welche sich zu keinen so schweren Opfern entschlossen hatten. Daraus mag man abnehmen, wie tief ihnen Jesus ins Herz griff mit diesem Zuge ihrer Charakteristik.
Gruß und Rangauszeichnung waren von jeher im gesellschaftlichen Leben keine ganz gleichgültige Sache; und zwar mit Recht. „Ehre, wem Ehre gebühret.“ Jesus selbst hielt sich an diesen Grundsatz, und ließ es nicht ungeahndet hingehen, wenn Jemand aus ungegründeter Geringschätzung die herkömmlichen Höflichkeitsbezeugungen ihm versagte. Simon, der Pharisäer, erfuhr dieß zu seiner schmerzlichsten Beschämung, welche er um so mehr verdiente, da die Pharisäer gerade in diesem Stücke gegen AndereS. 194 sich so ungemessene Forderungen erlaubten. Wer sich bei ihnen empfehlen wollte, mußte sie zuvorkommend und demüthig grüßen, und nicht nur so schlechthin Rabbi tituliren, sondern im höhern Style mit doppeltem Rabbi! Rabbi! ehrfurchtsvoll anreden. Denkt man sich nun noch die orientalischen Umständlichkeiten hinzu, so wird es gewiß begreiflich, wie viel Nahrung Eitelkeit und Stolz bei solchen Complimenten fanden. Aber eben so fällt es in die Augen, wie weit diese Heuchler hinter dem wahren Ehrgefühle und hinter der ungekünstelten Bescheidenheit unseres Herrn zurück waren. Daher mußten sie auch bei seinem gerechten Tadel verstummen.
Als Lehrer und Vorsteher des Volkes, die auf Moses Stuhl saßen, erschienen die Pharisäer nach der Schilderung Jesu im schlechtesten Lichte. Uebertreibung der Forderungen des Gesetzes und eigene Uebertretung, Scheinheiligkeit und verkappter Stolz waren die Hauptzüge dieses garstigen Naturgemäldes. Dabei hatte Jesus vorzüglich seine Jünger — im Auge. Daher die Regeln der Demuth und Bescheidenheit, welche er folgen ließ. — Wir alle, welche auf Christus getauft sind, nennen uns seine Jünger; sind wir es auch, so lange nur noch Ein Zug der Heuchelei der so sehr verabscheuten PharisäerS. 195 in und an uns ist? Schaffe Jeder nur diesen schädlichen Sauerteig aus seinem Herzen — und Alles wird gut werden!!
Schon in der Bergpredigt hatte Jesus auf den pharisäischen Geist des Gebetes aufmerksam gemacht. Lange und vor Jedermannes Augen zu beten, war ihr Lieblingsgeschäft (Matth. VI, 5–7); an pünktlich festgesetzten und eingehaltenen Stunden ließen sie es auch nicht fehlen (Luk. V, 33). Es möchte überhaupt schon befremden, wie Menschen, welche weder wahres Vertrauen noch reine Liebe zu Gott im Herzen trugen (Matth. VI, 19–34. Joh. V, 42.), nur auf den Gedanken fielen, sich so anhaltend auf das Gebet zu verlegen. Allein so widernatürlich dieß jedem Geradsinnigen vorkommen muß, eben so natürlich war es an diesen Heuchlern. Sie beteten nicht zu Gott, sondern für ihren Beutel. Das lange, mit ausstudirten Förmlichkeiten getriebene, fleißig wiederholte Gebet war bei ihnen eine einträgliche Speculation auf die Schwachherzigkeit, Leichtglaubigkeit und Freigebigkeit alternder Wittwen. Dieß war der Köder, mit dem sie die Weiblein an sich lockten, durch tausendS. 196 fromme Betrügereien ihr Vermögen erschlichen, ihre milde Hand anpriesen, wieder beteten, um neuerdings sich bezahlen zu lassen — und so ganze „Häuser verschlangen.“ — Ein fluchwürdiges Kunststückchen, wofür sie Jesus hart bedrohte! — —
Wem fällt bei diesem Anlasse nicht unwillkührlich der betende Pharisäer und Zöllner (Luk. XVIII, 9–14.) ein? — Unübertreffliche Schilderung des stolzen Frömmlers und Schönwörtlers vor Gott, der reumüthige, zerknirschte Sünder neben sich — dem Heiligen — verachtet! Wie eine Käsmade unter dem Vergrößerungsglase, so durchschaut man in dieser Parabel die Seele des Heuchlers in ihrer ganzen Häßlichkeit und Verkehrtheit. Nur der Herzenskenner vermochte es, uns diesen Anblick zur Belehrung und Warnung zu gewähren. Wohlthuend ruht das betrübte Geistesauge auf dem reinen Herzen des Zöllners!
Wessen Herz zerfließt nicht in Wonne, wenn er bedenkt, wie und was Jesus vom Gebete lehrte? So kurz, so gehaltvoll, so kindlich, so herzlich, so zuversichtlich, so kühn, so demüthig, so anhaltend (Matth. VI, 9–15. XXVI, 39. Luk. XI, 5–13. XVIII, 1–8. Mark. XI, 22–26.)!! — Doch vor den Pharisäern galt dieß nichts; denn es war Geist und Leben, undS. 197 sie fanden nur Behagen am Todtendufte des Leichnames.
Der gelehrte Stand hatte auch in Palästina, wie überall, seine Auszeichnung. Die Schriftgelehrten bildeten einen großen Theil desselben, und trugen Schlüssel, an Riemen befestiget, als Zeichen ihrer Würde. Darauf waren nun die Schriftgelehrten der pharisäischen Parthei nicht wenig stolz, daß sie das Recht zum Oeffnen und Schließen der Pforte der Wahrheit hatten. Ein schönes Sinnbild, und ein herrliches, großes Vorrecht! Aber welchen schnöden Gebrauch machten sie davon?! Der, welcher „der Weg, die Wahrheit und das Leben ist,“ war gekommen, bot sich an, lud die Menschen zu sich ein; allein die Pharisäer giengen nicht zu ihm, und liessen, so viel an ihnen lag, auch Andere nicht zu ihm gehen. Sie wollten durchaus nicht, daß Jemand an Jesus glauben sollte, weil sie aus leidenschaftlicher Verblendung nicht an ihn glaubten. Unglauben an Jesus war ihr erster und wichtigster Zweck, den sie zu erreichen strebten. Dabei waren die sonst so zartfühlenden Gewissen dieser guten Leute wenig verlegen in der Wahl der Mittel. Lästerung, Verläumdung, Verdrehung der Worte, Verfälschung der Aussage, Drohungen, Verrath, MordanschlägeS. 198 — Alles war ihnen willkommen, wenn es nur dem Zimmermannssohne Verderben brachte. Wer hat das Evangelium gelesen, und kennt die Belege zu dieser Wahrheit nicht? Wer fühlt aber auch nicht ohne weitere Erklärung die Gerechtigkeit und Vollwichtigkeit des Vorwurfes, den Jesus den Pharisäern machte? — —
Wahre Schlangenpolitik im schlimmsten Sinne lag in dem Verfahren der Pharisäer gegen unsern Herrn und gegen sich selbst. Ihm arbeiteten sie aus allen Kräften entgegen; sie wandten unermüdet Alles an, den Eingang in Gottes Reich, welches er begründete, zu versperren, oder wenigstens sehr gefährlich zu machen; und für ihre Schule — wie väterlich waren sie besorgt! Wie weit stund die Pforte offen! Wie breit und eben war der Weg! So fanden sie nicht einmal genug zu thun in Israel; denn da rechneten sie Alle zu ihrer Parthei, welche ihre Lehren und Vorschriften äußerlich annahmen. Die wenigen einsiedlerischen Essäer, die reichen, leichtsinnigen Sadducäer kamen beinahe in keine Berechnung. Darum machten eifrige Pharisäer, als wahre Lichter der Welt Reisen zu Wasser und zu Land, um unter Heiden Proselyten zu machen, und das Volk Gottes zu vermehren. Dafür nennet sie Jesus Heuchler, ihre NeubekehrtenS. 199 zweimal ärgere Höllenkinder, als sie selbst. Ein hartes Urtheil! Womit konnte er es rechtfertigen? Mit unwiderleglichen Thatsachen; nämlich mit der tiefen Unwissenheit, mit der ungeheuren Sittenlosigkeit, mit dem schrecklichen Verfalle des lebendigen Glaubens, der reinen Liebe und thätigen Gottseligkeit unter dem Volke Gottes — bei allem äußerlichen Gepränge und Treiben in religiösen Gebräuchen. Bei den Proselyten war die Hauptsache, welche Pharisäer betrieben, Beschneidung und Opfer, nicht Vertrauen auf den Einen Gott, nicht herzliche Liebe zum Vater und zu seinen Kindern, nicht Umänderung des ganzen Sinnes und Wandels. Was war also eine solche Bekehrung? Ein Ceremonien- und Kleiderwechsel, der den Neuling noch stolz und übermüthig machte, weil er innen Heide, außen Jude war — also viel schlimmer, als der pharisäische Jude. — Vergleiche man damit Nikodemus, die Samariterin, Matthäus, die Sünderin, den Schlagflüssigen, den acht und dreißigjährigen Kranken, den Blindgebornen, Zachäus, den Hauptmann, das Kananäische Weib![31] — — —
Ohne Schauder und Entsetzen kann man unmöglich das lesen, was Jesus den Pharisäern in Hinsicht der Eidschwüre zum Vorwurfe macht. Wer nur noch ein wenig Zartgefühl des Gewissens hat, bebt zurück bei dem Gedanken an die vielen und schrecklichen Ungerechtigkeiten, welche die Folge von solchen Auslegungen des Gesetzes waren.
Die pharisäischen Schriftgelehrten machten einen genauen Unterschied zwischen strenge verbindenden und leicht verbindenden Eidschwüren. Schon an und für sich eine sonderbare Theilung, gleichsam als wenn es Fälle geben könnte, wo man mit Freiheit und Bewußtseyn Gott zum Zeugen anrufen, und doch sein Wort nicht halten, die Wahrheit nicht sagen dürfe. Allein noch greuelhafter wird die Sache, wenn man hört, aus welchem Grunde sie diesen Unterschied ableiteten. Das Gold des Tempels, die Gabe auf dem Altare legte dem Schwörenden strenge Verbindlichkeit auf; ein Schwur beim bloßen Tempel oder Altare durfte nicht gehalten werden. Man sollte es für unmöglich halten, daß Vorsteher und Lehrer des Volkes die niederträchtigste Habsucht so zur Schau tragen möchten; und doch war es so! Durch solche goldene und fette Schwüre mehrten sich der Schatz und die Opfer im Tempel; dabeiS. 201 fanden die eigennützigen Gesetzausleger ihre gute Rechnung. Daß der unwissende Mitbruder im Volke auf diese Weise Vermögen, Ehre und Leben einbüßen konnte; was gieng das sie an? Thaten sie es doch nicht, wenigstens nicht öffentlich, sie lehrten ja nur so. Wenn aber ein Heide gewissenlos geprellt wurde, so war dieß in ihren Augen eher Verdienst, als Sünde. Die Schätze dieser „unreinen Hunde“ sollten ohnehin dem „Volke Gottes“ d. h. ihnen heimfallen; folglich nahmen sie nur, was ihnen schon gehörte.
Versetzen wir uns in die damalige Zeit, und vergegenwärtigen wir uns die verheerenden Wirkungen dieser Lehren für Leib und Seele! — Wahrlich! unser Herr bewies auch hier wieder, daß „er nicht gekommen war, zu richten, sondern selig zu machen;“ er hätte sonst mit Elias Blitze auf die scheinheiligen Bösewichter fallen lassen müßen. Doch so sprach seine Anrede: „Ihr blinden Wegweiser! Ihr Thoren!“ mehr Bedauern und Mitleid aus, als Richterernst. Es war der Ton des strafenden und bessernden Ernstes, der aber doch zugleich dem Volke einen Fingerzeig gab, wie weit es mit gutem Gewissen solchen Männern trauen und folgen dürfte.
Jetzt wird es Jedermann erst ganz begreifen, warum die Pharisäer unsern ErlöserS. 202 ausspotteten, als er sprach: „Ihr könnet nicht Gott und dem Mamon dienen.“ Ihre Frömmigkeit war nur Götzendienst, weil sie nur auf Ehre und Gewinn berechnet war; eine solche Herzensreinheit, wie Jesus forderte, konnten sie sich nicht einmal denken, vielweniger war ihnen dieselbe aus Erfahrung bekannt; also kam sie ihnen belachenswerth vor! — welche Blindheit!
Aber dem Hohngelächter derer, die nicht wußten, und nicht wissen wollten, was es heiße, „reich bei Gott sein,“ trat die Parabel vom reichen und armen Manne mit furchtbarem Ernst in den Weg (Luk. XVI, 13–31). Sollten wir dabei nicht nachdenkend werden, und uns vor den schrecklichen Folgen der Heuchelei, welche frommen Schein mit Geiz verbinden will, zu verwahren suchen?
Ueberhaupt waren die Ansichten unseres Herrn über Opfer und Gaben ganz antipharisäisch. Er konnte mit ihnen unmöglich zu recht kommen. Sie zählten das Geld, wogen das Fleisch, schätzten das Mehl, welches geopfert wurde, weil sie davon genoßen; Er sah auf das Herz, nicht auf die Hand des Opfernden. Rührend ist daher das Lob, welches er der Wittwe spricht, die einen Heller — ihr ganzes VerS. 203mögen! — opferte (Mark. XIII, 41–44. Luk. XXI, 1–4).
Den Zehnten zu geben, war für jeden Israeliten heilige Pflicht, weil das Heiligthum und seine Diener davon unterhalten wurden. Eigennutz mochte Viele verleiten, wenig oder doch Schlechtes zu liefern. Die Pharisäer machten aber hierin eine ehrenvolle Ausnahme. Niemand gab den Zehnten pünktlicher, als sie; ja sie entrichteten denselben sogar von den kleinsten Gartengewächsen, deren keine Erwähnung im Gesetze geschah. Legten sie da nicht eine handgreifliche Probe ihrer Gewissenhaftigkeit und ihres gesetzlichen Eifers an den Tag? Jesus will nichts davon wissen; er sieht auch hier nur wieder Heuchelei, weil sie die Hauptsache — „Gerechtigkeit, Liebe Gottes, Barmherzigkeit und Treue“ vernachläßigten. Diese erklärt er für unumgänglich nothwendig; den Zehnten „von Münze, Till und Kümmel“ sollten sie geben. Er legte also den Nachdruck gerade wieder auf Etwas, wovon die Heuchler nichts hören wollten. Bei ihm war Gottesfurcht und Frömmigkeit nicht so leichten Preises zu erkaufen, wie bei ihnen; da reichten ein paar Kräuter hin, den Ruf derS. 204 Heiligkeit zu gründen; Er forderte Thaten der Gottes- und Menschenliebe.
Nur gar zu gerne fühlen wir uns um so viel besser, als die allgemein verhaßten Pharisäer, weil wir nicht eben denselben Fehler begehen — mit Zehnten; aber sind wir denn immer so frei von dem Vorwurfe, daß wir auf Kleinigkeiten großen Werth legen, und wichtige Dinge oft leichtsinnig übersehen? „Blinde Wegweiser! die ihr Mücken seihet, und Kameele verschlucket!“
Die gesetzlichen Reinigungen lagen zur Zeit unseres Herrn allen Juden sehr am Herzen; Niemand aber war in diesem Stücke ängstlicher, als die Pharisäer. Ihre Genauigkeit gieng bis zur Quaal für sich und Andere. Dabei hatte aber ihr Geist eine Richtung genommen, welche dem ächten und tiefen Schriftsinne ganz entgegen war. Lüge unter dem Scheine der Wahrheit charakterisirte sie durchaus, doch kaum irgendwo stärker, als hier. Da aber eben diese scheinbare Sorgfalt für das Gesetz den großen Haufen ungemein blendete, und in den Pharisäern etwas Großes und Heiliges erblicken ließ; so deckte Jesus den heiligen Betrug schonungslos auf, und stellte ihre innere Häßlichkeit zur Schau dar. Er zeigS. 205te, wie sie beim Aeußern stehen blieben, und das Innere vernachläßigten; als wenn Gott nur jenes, nicht auch dieses geschaffen hätte, und nur jenes, nicht auch dieses, und zwar vor jenem rein erhalten haben wollte. Wie grell treten nun die Gegensätze hervor! Die Heuchler reinigten und fegten die Schüsseln, und die Speisen darin waren geraubtes Gut; sie wuschen die Hände, und das Herz sann auf Ungerechtigkeit; sie machten vor Gott Bücklinge, und unterdrückten seine Kinder. Ihre Religion klebte also an Tellern, Tischen, Sesseln, Kleidern und Füßen — überall; nur das Herz gieng leer aus. Gott war ihr Herr über den Leib, aber die Seele hatte kein Verhältniß zu ihm.
Bequem war eine solche Gottesverehrung unstreitig auch wieder, so sehr sie sonst beengte. Sie kroch mit dem Leibe vor Gott, blendete die kurzsichtigen Sterblichen, und unterstützte alle Ränke der niedrigsten Leidenschaft. Drei Zwecke mit Einem Mittel! Welch’ ein Meisterstück in der Kunst zu leben!
Jesus schlug eine ganz andere Art, die Speisen zu reinigen vor. „Gebet von dem, was darin ist Almosen; und sehet, Alles ist rein für euch!“ Er wußte gar wohl, daß die Pharisäer hartherzig und lieblos waren, und doch keinenS. 206 Fehler an sich sahen, weil sie Gott äußerlich so viele Ehre erwiesen, und wohl noch etwas über sein Gesetz hinaus thaten, um sich für ihre Lieblingsneigungen ein Privilegium zu erschleichen; denn sie liebten nicht Gott, nur sich selbst. Darum sagte Jesus: Das Reinigen der Schüssel ist gut und gesetzlich; aber euren Händen könntet ihr eure überspannte Mühe ersparen, und sie zu etwas Besserm anwenden, als zu ewigem Fegen und Waschen. Theilet den Armen von euern Speisen mit! Machet auch diesen einen frohen Tag! So werden eure Speisen Gott wohlgefälliger, als durch die pünktlichste Reinigung. Wie weise, wie göttlich — aber wie ärgerlich und anstößig!
Es ist bekannt, daß Berührung eines Todten gesetzlich verunreinigte.[32] Daher flohen die Juden selbst Grabstäten, damit sie dem Gesetze nicht zu nahe traten. Wer unwissend an einen solchen Platz kam, und es hintennach entdeckte, war allemal in seinem Herzen unruhig, ob er nicht unrein sei; und er nahm es lieber an, als daß er das Gesetz verletzte. Daraus wird es denn auch begreiflich, daß das Tünchen und EinfassenS. 207 der Grabmäler nicht bloß eine Ehrenbezeugung für die Verstorbenen, sondern auch eine Warnung für die Lebenden war.
Treffend benützte Jesus diese Sitte in beiden Rücksichten, um den Charackter der Heuchler bis zum Leben ähnlich zu zeichnen. Einmal galten die Pharisäer wegen ihrer Gesetzlichkeit in den Augen der Meisten für Leute, von denen für Tugend, Ehre und Gut nicht nur nichts zu fürchten, sondern wohl noch Gewinn zu erwarten war. Deß ungeachtet waren sie Ehebrecher, Verläumder und Geizhälse. Es gieng also den Leuten mit ihnen, wie mit unbekannten Grabstäten. — Wer aber wie Jesus, den Lügengeist dieser Menschen kannte, ließ sich durch kein tugendhaftes und religiöses Gepränge täuschen; ein böses und verkehrtes Herz grinsete als Schreckgestalt aus der Larve der Heiligkeit. Auch die schönste Grabstätte betrat der Jude nicht ohne Noth, weil Aas und Knochen darin waren. Vielmehr machte ihn eben die weise Farbe des Grabes noch aufmerksamer. So ergieng es auch Jesus mit den Heuchlern seiner Zeit! — —
Sichtbar wurde Jesus zu diesem charackterischen Zuge der Pharisäer hingeleitet durch den unmittelbar vorhergehenden Gedanken von der übertriebenen und verkehrten Sorgfalt für Reinigung der Schüsseln &c. Aber eben durch diesen Zusammenhang springtS. 208 die innere, sittliche Unreinigkeit und die gleißnerische Denk- und Handlungsweise der Pharisäer um so mehr in die Augen; so wie sich im Verfolge die Rede von den Grabstäten der Propheten höchst natürlich anschließt.
Die Pharisäer setzten ein großes Verdienst darein, die Grabmäler der Propheten mit frommer Spende zu schmücken. Daß sie dabei lange Gebete sprachen, die Tugenden und den hohen Glaubensmuth der Männer Gottes anpriesen, zu ihrer Nachahmung nach ihrer Art ermunterten, versteht sich von selbst. Wer sollte es von solchen heiligen Sprachmaschinen anders erwarten? Nicht genug; sie tadelten noch die früher verstorbenen Israeliten — „ihre Väter“ —, daß diese die Propheten gemordet hatten. Auch dieser fromme Unwille wurde gewiß mit allem äußerlichen Ernste und Abscheu ausgesprochen. Allein Jesus fand gerade in alle diesem Machwerke das wahre Kennzeichen, daß sie „Söhne der Prophetenmörder seien“, d. h. nicht nur leibliche Nachkommen, sondern auch Erben ihres Sinnes und Nachahmer ihrer Thaten — an Jesus und seinen Jüngern!!! — Diese neuen göttliche Gesandten waren ihnen eben so unwillkommen, als ihren Vätern die frühern; denn sie widersprachenS. 209 ihren Lehren und Thaten zu laut und zu stark, als daß ihre versteckten Leidenschaften nicht hätten hervorbrechen und die giftigste Rache an diesen „Söhnen Gottes“ nehmen sollen.
Furchtbar ertönt von da an die Stimme des Weltrichters; Donner Gottes sprechen aus seinem Munde, um die Frevler heilsam zu erschüttern, und von blutigen Thaten zurückzuschrecken — umsonst! wie konnte ihnen der verachtete Galiläer mit Drohung göttlicher Gerichte etwas abgewinnen, da sie seine göttlichen Thaten verworfen hatten!
Jesus wußte das; nur wollte er auch dieses letzte Mittel der innigsten und thätigsten Feindesliebe nicht unversucht lassen. Sie ließ er nun ihren Weg zum Verderben ziehen; allein sie rissen Stadt und Land mit sich hinein. Dieser Gedanke gab dem Affekte unseres Herrn eine ganz entgegengesetzte Richtung. Statt der Richtersprüche ertönte die wehmüthige, mitleidsvolle Stimme der zärtlichsten Vaterlandsliebe, welche die Ihrigen blind und taub dem Untergang entgegeneilen sah. Wie rührend klagt er! Wer preßte dem göttlichen Herzen solche Trauertöne ab? Heuchelei! — O, laßt uns fliehen vor dieser giftigsten aller Ausgeburten der alten Schlange!S. 210 Lassen wenigstens wir uns warnen, da es die Zeitgenossen nicht thaten! Jesus spricht so deutlich, so ernst, so liebevoll zu uns; hören wir ihn doch, da es noch Heute ist!! —
Kaum dürfte Jemand im Stande sein, sich eine deutliche Vorstellung von dem zu machen, was die Pharisäer bei dieser Strafpredigt empfunden, gedacht und gewünschet haben. Scham über ihre entlarvte Gleißnerei, Selbstanklage des Gewissens, welches gebrandmarket war, Ingrimm über ihr vermindertes Ansehen, Rachsucht bis zur Mordlust, peinliche Verlegenheit über die Mittel und Wege, diesen gefährlichen Mann wegzuräumen, Furcht vor dem Volke, ängstliches Ringen, die fromme Haltung nicht zu verlieren, und dem Galiläer den Sieg zu lassen — und wie manche andere Gefühle, Gedanken und Begierden mögen in ihren Herzen gewechselt haben! —
Jesus hingegen verließ in der ruhigsten Fassung den Tempel. So scheidet die sinkende Sonne im sanften Abendschimmer, wenn sie die Gewitter des Tages besiegt hat. Düster entfliehen die verheerenden Wolken in das Dunkel der Nacht.
Tag war es, wo Jesus sich aufhielt, Nacht, wo die Schriftgelehrten und Aeltesten des Volkes sich versammelten. Er saß auf dem Oelberge, Jerusalem gegenüber, warf tiefe Blicke in die Zukunft, gab hohe Lehren, sprach von seiner Wiederkunft mit seinen Jüngern — „und als er alle diese Reden vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern: Ihr wisset, daß nach zwei Tagen Ostern ist, und daß der Sohn des Menschen übergeben wird, um gekreuziget zu werden.“ — „Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten und die Aeltesten des Volkes versammelten sich in dem Pallaste des Hohenpriesters, der Kajaphas hieß. Und sie hielten Rath, wie sie ihn mit List ergreifen und tödten könnten.“ (Matth. XXVI, 1–4.)
Lebendiger ließen sich wohl die Gegensätze nicht schildern, aber auch richtiger die Stimmung beider Theile nicht darstellen, als es der Evangelist hier mit wenigen Zügen thut. Jesus wußte, was er zu erwarten hatte — den Tod. Die PharisäerS. 212 waren gewiß, was sie ihm anthun wollten — den Tod. So kamen sie einander entgegen; er gieng hin, wie sein Vater es wollte; sie suchten zu vollbringen, was ihr Vater liebte. Er hatte seinen Angriff offen gethan; sie sannen auf Hinterlist. So geziemte es der Wahrheit und der Lüge.
„Ja nicht an dem Feste, damit kein Auflauf unter dem Volke entsteht!“ — Sehet da die Helden des Tages der jüdischen Welt! Sehet die Häupter Israels! wie sie zittern vor dem kräftigen Wahrheitssinne des „Erdenvolkes“, wie sie es nannten! Wäre Christus der große Verbrecher gewesen, für den sie ihn, von ihrer Leidenschaft gezwungen, hielten, so hätten sie ihn ohne Bedenken am hellen Tage ergreifen, und zum warnenden Beispiele für Alle am Feste hinrichten dürfen. Allein ihr eigenes Gewissen bezeugte ihnen das Gegentheil; daher die nur zu gegründete Furcht, als Prophetenmörder betrachtet und behandelt zu werden. Charakterlose Menschenscheue ist wesentliches Kennzeichen der Heuchelei. —
Und doch konnten sie es nicht über sich gewinnen, in ihren Herzen von den Mordanschlägen abzustehen. Ihre Religiosität forderte blutige Rache. Aber wie sollten sie zum Zwecke kommen bei der Vorsicht und Klugheit Jesu? Dieser VerlegenheitS. 213 wurden sie unerwartet entrissen — durch Judas. Teuflischer Verrath des Jüngers an seinem Meister, des Freundes am Freunde! Wer wird ein solches Anerbieten nicht mit Abscheu von sich stoßen? Die Pharisäer — „sie freuten sich!!“ (Matth. XXVI, 14–16. Mark. XIV, 10–11.). — Göttlicher Erlöser! was wird dein Herz voll gränzenloser Menschenliebe empfunden haben, als Du im Geiste sahest, wie süßes, gräßliches Entzücken altväterlicher Lust am Prophetenmorde die rabbinischen Herzen deiner Feinde durchbebte! — —
Wäre Judas nicht von Neid und Geiz geblendet gewesen; er hätte in den funkelnden Augen, in den freundlich grinsenden Mienen, in der gebrochenen, gehaltenen Sprache, selbst in erkünstelten Lobsprüchen der Hohenpriester ihr böses Herz und ihre frömmelnde Gottlosigkeit deutlich lesen können. Aber so fesselten ihn die „dreißig Silberlinge“ um so mehr, je feiner sie ihn als den einzigen Redlichen, Wahrheitsliebenden unter der verruchten Schaar herausstrichen, je schmeichelhafter sie den gehorsamen Sohn rühmten, der den Vätern des Volkes getreu die Hand bot, den verderblichsten Betrüger wegzuräumen. Auch ohne Satans eigenste Verführung waren solche Ausdrücke hoher Freude, die noch daS. 214zu — freilich sehr dünne — versilbert wurden, beinahe hinreichend, den Judas zum entsetzlichsten Verbrechen fortzureißen.
Judas hielt genau sein Wort. Vielleicht wäre Jesus schon beim letzten Mahle überfallen worden; allein dieß hatte er dem Judas unmöglich gemacht, weil er den Petrus und Johannes in die Stadt vorausschickte, ohne das Haus und den Eigenthümer näher zu bezeichnen, als durch Umstände, die nur ein mehr als menschlicher Blick ihm entdecken konnte. In Gethsemane wollte er seine Gefangennehmung nicht mehr verhindern; „denn seine Stunde war gekommen.“ Da verrieth Judas, als würdiger Schüler der Pharisäer, den Sohn Gottes und des Menschen durch einen Kuß — das schönste Zeichen der innigsten Liebe und Freundschaft!
Scharf bezeichnend ist die Anrede unseres Herrn an die Schaar, welche ihn überfallen hatte: „Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen mit Schwerdtern und Stangen. Obwohl ich täglich bei euch im Tempel war, habt ihr doch die Hände nicht nach mir ausgestrecket. Doch dieß ist eure Stunde, und die Macht der Finsterniß.“ Das graußenhafteS. 215 Dunkel der Nacht war das beste Sinnbild ihrer Denkart, ihrer Plane, ihres getreuesten Verbündeten — des Vaters der Lüge und des Mordes. Wie tief läßt uns Jesus in die Abgründe des Lasters der Heuchelei blicken!!
Annas, der Schwiegervater des Kajaphas, war der Erste, vor welchen Jesus gebunden, als Verbrecher, gestellt wurde. Wer schaudert nicht zurück? „Der Allerheiligste“ steht vor dem Sünder zu Gericht. Der alte Hohepriester fühlte sich geschmeichelt und hochgeehret, daß man den Todfeind aller Gleißner so geraden Weges im Triumphe zu ihm führte. Ihm schwoll das vom Göttlichen leere Herz; sein lüsternes Auge weidete sich an dem gefesselten Nazarener; seine Miene verkündete Sieg und Tod; in Haltung und Ton ein Richter „fragte er Jesus über seine Jünger und über seine Lehre.“ Der Schlaukopf! Ueber etwas, wovon er selbst Augen- und Ohrenzeuge war, was Jedermann in Jerusalem wußte, legte er gerichtliche Fragen vor — damit Jesus sich selbst verstricken sollte. So waren diejenigen beschaffen, zu welchen die Schrift sagte: „Ihr seid Götter,“ d. h. als Richter Gottes Stellvertreter! Was soll man erst noch zu der Handlung desS. 216 Schergen sagen, der Jesus in das Gesicht schlug? Nicht falsche Demuth, sondern tiefes Gefühl seiner menschlichen und göttlichen Würde leitete unsern Herrn; bei Niederträchtigkeiten, die man sich gegen ihn erlaubte, schwieg Er nicht; aber sein Richter, der Hohepriester, schwieg!! —
Annas war jetzt schon befriediget; er schickte Jesus zu Kajaphas. Ein neuer, merkwürdiger Auftritt! Hier fanden sich gewesene Hohepriester, Aelteste des Volkes und Schriftgelehrte zahlreich noch am späten Abend ein. Wie sehr sich doch diese Herren Gottes Sache angelegen seyn ließen! Sogar die Ruhe der Nacht opferten sie ihrem heiligen Mordgeschäfte auf!
„Das ganze Synedrium suchte falsche Zeugen gegen Jesus.“ Bestund denn das Synedrium nur aus Pharisäern? Unstreitig befanden sich auch viele Sadducäer darunter, da die Reichen und Vornehmen häufig dieser Sekte zugethan waren. Und mit diesen Unglaubigen vereinigten sich die Pharisäer? Warum denn nicht, wenn es den Tod des Nazareners galt, der beiden Partheien gleich verhaßt war? Ein höchst merkwürdiger Zug in dem Charakter dieser Heuchler!
„Sie suchten falsche Zeugen gegen Jesus, um ihn zum Tode zu bringen.“ Die höchste Gerichtsstelle des Landes hielt feierliches Verhör, nicht um über die Schuld oder Unschuld unseres Herrn genaue Erkundigung einzuziehen, sondern um ihn unter dem Schutze von gerichtlichen Formen zu morden. So glaubten sie ihr eigenes Gewissen belügen und Gott und Menschen über und um sich täuschen zu können.
Allein der fein ausgedachte Plan scheiterte; die Zeugen widersprachen sich oder wichen wenigstens in ihren Aussagen zu weit von einander ab. Sie vermochten damit nicht einmal scheinbar den Forderungen des oft so leicht zu befriedigenden Rechtes zu genügen. Was die schlimme Sache noch mehr verdarb, war das unerwartete, entschlossene, würdevolle Stillschweigen des Beklagten, der, selbst vom Hohenpriester aufgefordert, nicht eine Sylbe zur Widerlegung der lügenhaften Zeugen vernehmen ließ. So war es unmöglich, ihn ins Garn zu bringen. Was blieb ihnen nun übrig? Nur ein verzweifelter Schritt, wenn sie anders zum sehnlichst erwünschten Ziele gelangen wollten. Kajaphas trat in eigener hoher Person auf, und nahm unserm Herrn unter einer Eidesformul das Geständniß ab, daß er der Messias sei. Mit welchem Rechte, nach welchem Gesetze konnteS. 218 er den Beklagten seine eigene Anklage mit einem Schwure vor Gott bekräftigen lassen?! Welch’ ein ungeheurer Mißbrauch richterlicher Gewalt und Würde! So gründete Heuchelei ihr Unrecht auf die Gewissenhaftigkeit des Angeklagten!!
Jesus ließ sich dieses aus Gehorsam gegen den heiligen Willen seines Vaters und aus Liebe zu uns gefallen; er „bekannte das schöne Bekenntniß“, der Hohepriester zerriß im heiligen Zorn darüber sein Kleid, das Synedrium, von ihm aufgerufen, fand den Sohn Joseph’s des Todes schuldig. Darin nun waren sie keine Heuchler; denn Kajaphas und seine Genossen waren wohl fest überzeugt, daß Jesus der Messias nicht sein könne. Nur in der Art und Weise, wie sie zu diesem Schlusse kamen, lag Heuchelei.
Den eifervollen Wächtern über das Gesetz, welches oft so menschenfreundlich und milde den Schwachheiten der Menschen begegnet, macht es unstreitig alle Ehre vor den Augen Gottes und der Menschen, daß sie den verurtheilten Lehrer dem niederträchtigsten Muthwillen der rohesten Henkersknechte die ganze Nacht hindurch Preis gaben. Ein ächtes Kennzeichen ihrer rabbinischenS. 219 Menschenliebe, die sich wohl an einem Gotteslästerer nicht versündigen konnte, wenn sie ihn auch noch so sehr mißhandelte!
Der Tag brach an; noch einmal versammelte sich das Synedrium, wahrscheinlich, weil am Abende vorher in der Eile nicht alle Mitglieder erschienen waren. Dazu kam noch, daß eine wiederholte Untersuchung der Sache des Gefangenen, einen großen Schein der Bedachtsamkeit, Unpartheilichkeit und Gewissenhaftigkeit auf sie warf.
Jesus wurde vorgeführet, neuerdings gefragt, ob er der Messias sei? Er blieb seiner Aussage getreu, so wie dem Beisatze, daß er bald zur Rechten Gottes sitzen, d. h. sich in seiner Herrlichkeit als Welterlöser befinden und durch Thaten beweisen werde. Wie hätten seine Richter es über sich vermocht, ihm dieses Wort zu glauben! Widersprach nicht sein ganzer gegenwärtiger Zustand gerade zu dieser Erklärung? Ja, sie trug nur dazu bei, sie vollends irre zu machen; denn Wahrheit und Gottes Wege waren nun einmal ihre Sache nicht.
Wirklich nahmen sie auch darauf so gar keine Rücksicht, daß sie nur hastig wieder die Frage stellten: „Du bist also derS. 220 Sohn Gottes?“ — Wer greift es nicht mit Händen, was sie eigentlich wollten? Jesus sollte rund heraus und einfach bekennen: „Ja, ich bin es;“ dann hatten sie, was sie suchten — Gelegenheit und Recht ihn zu verurtheilen. Er that es, und sie fanden ihn todeswürdig. Falsche Zeugen waren jetzt nicht mehr nöthig; dieses ehrenvolle Amt übernahmen sie selbst; denn sie hatten es mit eigenen frommen Ohren vernommen, wie er sich für den Messias ausgab, da er es doch nicht war, nicht sein konnte.
Rachsucht und Mordlust verunreinigte keinen Pharisäer, aber der Pallast des Pilatus hätte unfehlbar so etwas bewirkt, wenn sie denselben am frühen Morgen des festlichen Tages betreten hätten. Damit sie also mit gutem Gewissen „das Passamahl essen konnten“, ließen sie Pilatus zu sich herauskommen, als sie Jesus gebunden zu ihm führten.
Der Römer mochte schon durch die frühe Zudringlichkeit und durch die Bitte, heraus zu kommen aus dem Pallaste gereizt sein; die Feinde Jesu waren es nicht weniger dadurch, daß sie sich gezwungen sahen, das Todesurtheil durch Pilatus bestätigen zu lassen, weil sie ihre UnabhängigkeitS. 221 an die Römer verloren hatten. Daraus erklärt sich die allgemeine, unbestimmte, stolze Anklage: „Wenn er nicht ein Verbrecher wäre, so hätten wir ihn dir nicht überliefert.“ Pilatus sollte also Jesus zum Tode verurtheilen, bloß weil der hohe Rath es wollte. Welche Leidenschaftlichkeit! Da erwachte aber der Stolz des Welteroberers in dem Römer, und er ließ die trotzigen Ohnmächtigen ihre ganzes Schwäche in beißendem Spotte seiner Antwort fühlen: „Nehmet ihr ihn, und richtet ihn nach eurem Gesetze.“
Jetzt mußten sie ihr Unvermögen, Jesus ohne Mitwirken des Pilatus zu morden, eingestehen, und zugleich den eigentlichen Klagepunkt genauer angeben. Dieß war kein anderer, als: „Er wolle König — Messias der Juden sein.“ — Die Hohenpriester machten bei Jesus ein Todesverbrechen — vor dem Ausländer, Pilatus — aus dem, was sie an Jedem gelobt und verschwiegen hätten, der nach ihrem Sinne Messias hätte sein wollen, der vom Vater versiegelte sollte am Kreuze verbluten!!! —
Uebersehen dürfen wir es dabei nicht, welche Kunstgriffe sie anwandten, der Klage eine Gestalt zu geben, die auch den Römer in ihr Interesse ziehen sollte, „Wir finden, daß er das Volk verführt, undS. 222 es abhält, dem Kaiser den Tribut zu geben, indem er sagt, Er sei der Gesalbte, der König.“ Ein herrliches Probestückchen, wie viel sie schon von „ihrem Lügenvater“ gelernt hatten!
Jesus schwieg — aber so würdevoll, so mit allem Bewußtsein der Unschuld, daß der Scharfblick des Richters es leicht entdecken konnte, um so mehr, da es dem Pilatus nicht unbekannt war, „daß ihn die Hohenpriester aus Neid ausgeliefert hatten.“ Er nahm mit Jesus ein geheimes Verhör in dem Richthause vor, und überzeugte sich vollkommen von seiner Unschuld. Diese Ueberzeugung sprach er auch öffentlich aus. Welche Ehre für unsern Herrn! Welche Schande für seine Kläger!
Was wollten sie nun weiter thun? Wie ihren Racheplan durchsetzen? Der wüthendste Haß, die grimmigste Verfolgungssucht, gewissenloser Ehrgeiz ließ die frommen Väter alle Folgerichtigkeit der Gedanken, geschweige die Gerechtigkeit und Wahrheit, vergessen. Sie gaben die erste Anklage auf, und brachten eine ganz neue vor; „Er wiegelt das Volk auf, indem er in ganz Judäa umherlehret, angefangen von Galiläa bis hieher.“ Gewiß ein neues und bis auf diesen Tag unerhörtes Verbrechen! Jesus lehrte, also hat er den Tod verdient; so lautet dieS. 223 Schlußweise der Heuchler. Außer der Kürze fehlt nichts, als — Wahrheit.
Pilatus mußte die Verlegenheit und verhaltene Wuth der Elenden bemerken; doch wollte er es mit ihnen nicht ganz verderben. Daher faßte er das Wort: Galiläa, auf, um diesen Prozeß an Herodes hinüberzuweisen. Wie mußte sie dieser Aufschub ärgern! — Wer fände aber schwarze Galle und herbe Worte genug, um den Ingrimm dieser Menschen zu schildern, als auch Herodes, ihr Landsmann und Glaubensgenosse, nicht auf Tod erkannte! Und sie hatten sich so viele Mühe gegeben, Jesus recht kräftig zu verklagen bei dem Könige, der aber doch die schweigende Unschuld beredter fand als die klatschende Lüge!
Als die Juden unsern Herrn von Herodes zu Pilatus zurückbrachten, erklärte dieser neuerdings, daß er ihn nicht verurtheilen könne. Geißeln wollte er ihn lassen — den Unschuldigen! — nur um den Blutdurst der Hohenpriester einiger Maaßen zu befriedigen.
Diese Gesinnungen des römischen Richters trieben den Todeshaß bis zur gränzenlosen Wuth. Nicht einmal falsche Anklagen, keine Scheingründe stunden ihnen zu GeS. 224bote; sie mußten beinahe verzweifeln, als ihnen die erfinderische Leidenschaft doch noch ein Mittel an die Hand gab — Geschrei des Aufruhres.
Glücklicher Weise bot ihnen Pilatus, zum Theil auf Verlangen des Volkes, die Loslassung eines zum Tode verurtheilten Verbrechers an, als Zeichen, daß ehemals sie selbst das Recht über Leben und Tod gehabt hatten. Die Zeit, welche verstrich, bis Barabbas herbeigebracht wurde, und bis Pilatus die Nachricht vom Traume seiner Frau beantwortete, benützten die erbosten Schlauköpfe meisterhaft; sie vertheilten sich unter die Haufen des Volkes, erhitzten durch alle Mittel, welche ihnen als Aeltesten, Priestern, Gesetzgelehrten, Scheinheiligen zahlreich zu Gebote stunden, die beweglichen Gemüther, besonders der Einwohner der Hauptstadt, und brüllten nun in immer steigendem Ungestümme dem vermittelnden Richter ihr entsetzliches „Kreuzige!“ entgegen. Dieses unsinnige Geschrei mußte jetzt alle Gründe ersetzen, alle Stimmen des Gewissens übertäuben, die natürlich für den wohlthätigen Lehrer gegen den verderblichen Mörder entschieden hätten. Unglaublich wäre diese Verblendung der Heuchler selbst und ihrer Verführten, wenn nicht die heilige Geschichte sie bestätigte.
Noch machte Pilatus einen letzten Versuch, Jesus wenigstens am Leben zu erhalten. Er ließ ihn die grausame römische Geißelung bestehen, um so das Mitleiden gegen den mißhandelten Unschuldigen zu erregen. Allein theils die zwecklose, muthwillige Verspottung der Königlichen Würde des Messias, theils die unermüdliche Geschäftigkeit der Vornehmen, für die väterliche Religion scheinbar eifernden Volksverführer erstickte alles menschliche Gefühl. Gräßlich donnerte die Schaar der Hohenpriester und ihrer Geistessklaven dem Pilatus ihr Todesgeschrei entgegen.
Wiederholt bezeugte der Richter die Schuldlosigkeit unseres Herrn. Da trieb sie verzweifelte Rachsucht wieder auf die erste Anklage zurück. Sie beriefen sich auf ihr göttliches Gesetz, welches Jesum zum Tode verurtheile, „weil er sich selbst zum Sohne Gottes gemacht habe.“ — Dieses Mal aber sprach wieder der heuchlerische Lügengeist laut aus ihnen. Das Gesetz belegte den Gotteslästerer und den falschen Propheten mit dem Tode der Steinigung[34]; mit welchem Rechte konnten sie diese Stellen auf Jesus anwenden? Hatten sie unpartheiisch geprüft? WarenS. 226 sie mit Gottesfurcht dabei zu Werke gegangen? Man frage die Geschichte! Den wahren Grund dieser trügerischen Berufung auf das Gesetz geben sie mit zwei Worten an: „Er selbst,“ d. h. nicht durch uns hat er sich zum Messias aufgeworfen. Die wahrhaft göttlichen Lehren und Thaten Jesu waren kein Beweis seiner Sendung von Gott, weil sie ihn nicht gesandt, sie ihn nicht anerkannt, sie ihn nicht bestätiget hatten. Unmittelbar von Gott konnte eine solche Sendung nicht geschehen; die Häupter der Nation hatten dabei auch und vorzüglich mitzusprechen, ob der Messias die in ihren Schulen festgesetzten Kennzeichen an sich habe. Nur sie wußten die Propheten recht auszulegen. Daher schlossen sie nach den Regeln ihres heuchlerischen Verstandes: „ein Gotteslästerer und falscher Prophet muß gesteiniget werden — also Jesus, als falscher Messias, gekreuziget werden.“ —
Dieses Gewebe von Bosheit, Egoismus, Lüge und Neid konnte Pilatus unmöglich durchschauen. Aber auf ihn machte etwas anderes tiefen Eindruck, das Wort: „Sohn Gottes.“ Auch Heiden glaubten an Göttersöhne, freilich von sehr menschlicher Art;[35] an einem solchen wollte erS. 227 sich nun doch nicht versündigen.[36] Daher stellte er Jesus darüber zur Rede. Die Erklärung, welche er erhielt, flößte ihm Hochachtung und Furcht ein. Jetzt war er gar nicht mehr geneigt, das Todesurtheil der Hohenpriester zu bestätigen. — — Menschenkinder! wendet euren Blick ab! Lasset Thränen der bittersten Wehmuth fließen! — — Die Heuchelei vollendet ihr teuflisches Werk.
„Wenn du diesen losläßest, so bist du kein Freund des Kaisers.“
Noch mehr:
„Wir haben keinen König, als den Kaiser.“
— „Da übergab ihn Pilatus ihnen, daß er gekreuziget würde — — —!“
Triumph! — Sie sehen ihn bluten! Sie weiden ihr mordsüchtiges Auge an dem Gekreuzigten! Eine ganze Hölle von wilder Lust befriedigter Rachsucht durchwühlt die laut pochendenS. 228 Herzen der scheinheiligen Frevler! Wer findet dieß nicht natürlich?
Aber widernatürlich war es, des Unglücklichen, des Verfolgten, des Besiegten, des Gekreuzigten — spotten. So etwas konnten nur freiwillige Werkzeuge des Satans in Gestalt heiliger Gesetzlichkeit thun.
Jesus stirbt — Ruhe seiner Asche! Unter Menschen wohl, aber nicht bei Heuchlern! Das Grab „des Betrügers“ wird mit Wachen umgeben, damit er in drei Tagen nicht „gestohlen“ werde. Nach dem Tode noch wüthen sie gegen den Leichnam und gegen das Andenken unseres Erlösers. Entsetzlich — aber ganz nach ihres Herzens Tücke!
Jesus ist erstanden! — Die Hohenpriester erkaufen von der Wache die Lüge, „sein Leichnam sei, während sie schliefen, gestohlen worden.“ Doch wohl ein eben so gewissenhafter und heiliger Gebrauch des „Tempelschatzes,“ als der, da sie mit Judas „Blutgeld“ des Töpfers Acker zum frommen Zwecke „einer Fremdenbegräbniß“ erhandelten.
Hosianna in der Höhe! Jesus lebt und siegt! Mit ihm Wahrheit und Liebe! Satan und die Heuchler liegen bestürzt, zernichtet in Schmach und Elend! Weg mit der Heuchelei aus unsern Herzen! Wahrheit und Liebe, wie sie Jesus Christus ist, herrsche in uns — zum ewigen Leben! Amen!
in
M. Wirth, die Pharisäer.
Seite | Zeile | Lies | Statt |
17 | 10 | Bosheit Ketten | Bosheitketten |
23 | 6 | Hange | Gange |
29 | 20 | denn | dann |
32 | 12 | Synedrium |
Synodrium, (welches noch öfter steht.) |
44 | 28 | ich sage dir | sage dir |
48 | 9 | hinter der | hinter |
60 | 13 | aber | als |
66 | 6 | thue | thun |
74 | 21 | immer | über |
79 | 10 | ruhmlos | rühmlos |
99 | 24 | Erstaunen | Erstannen |
103 | 12 | es diesen | diesen |
104 | 11 | Fällen stracks | stracks |
118 | 14 | Eiferers | Eifrers |
16 | ungesättigten | unbesättigten | |
121 | 4 | Volkes Gottes | Volkes |
131 | 29 | einen | ein |
140 | 1 | hat er | er |
144 | 14 | war es | war |
148 | 3 | diesem Wege | diesem |
149 | 19 | bewundert nicht | bewundert |
26 | auch ihn | auch | |
153 | 2 | ließ sich | ließ |
161 | 7 | Was hat er | Was er |
164 | 22 | Von nun an | Von nun |
175 | 18 | Unrecht nicht hätte | Unrecht hätte |
187 | 19 | ungemessenste | ungemessendste |
188 | 24 | Nation nicht | Nation |
207 | 19 | Verkehrtes Herz | Verkehrtes |
220 | 9 | sie | die |
Fußnoten:
[1] I. Sam. XVI, 7.
[2] Matth. III, 1–11. Luk. III, 1–18. Joh. I, 19–28.
[3] Johannes I, 46–51.
[4] Joh. II, 13–22.
[5] Joh. III, 1–21.
[6] Luk. IV. 14–29.
[7] Matth. V. VI. VII.
[8] Matth. IX, 1–8. Mark. II, 1–12. Luk. V, 17–26.
[9] Matth. IX, 9–17. Mark. II, 13–22. Luk. V, 27–39.
[10] Matth. XII, 1–15. Mark. II, 23–28. III, 1–6. Luk. VI, 1–11. Joh. V.
[11] Luk. VII, 36–50.
[12] Matth. XII, 22–38. Mark. III, 22–30. Luk. XI, 14–27.
[13] Matth. XV, 1–20. Mark. VII, 1–23.
[14] Joh. VII. und VIII.
[15] Matth. IX, 36.
[16] Joh. VIII, 1–11.
[17] Eine geistlose und den Sinn verfehlende Variante gab einigen Auslegern zu dieser Erklärung Anlaß.
[18] Joh. IX ganz.
[19] Ezech. XVIII, 20.
[20] Joh. VIII, 33. 44. 58–59.
[21] Luk. X, 25–37.
[22] Matth. XVI, 1–4. Luk. XII, 54–56.
[23] Luk. XIII, 1–17.
[24] Joh. XI, 43–51. Matth. XXI und XXII. Luk. XIX, 29–40 und XX.
[25] Treffenderes, als diese Anmerkungen des Matth. Claudius, ließe sich über diese Stelle wohl kaum sagen. Asmus Werke IV. Theil S. 137–141. Hamb. 1819.
[26] Matth. XXIII. Vergl. Luk. XI, 39–52.
[27] II. Mos. XIII, 9. 16.
[28] Im Morgenlande häufige Sitte.
[29] IV. Mos. XV, 38. 39.
[30] Luk. XIV, 7–12.
[31] Joh. III, 1–21. Joh. IV, 7–42. Matth. IX, 9–13. Luk. VII, 36–50. Matth. IX, 2–8. Joh. V, 1–14. Joh. IX. Luk. XIX, 1–10. Luk. VII, 2–10. Matth. XV, 21–28.
[32] IV. Mos. XIX, 11–16.
[33] Matth. XXVI, 36 &c. XXVII. Mark. XIV, 26 &c. XV. Luk. XXII, 29. &c. XXIII. Joh. XVIII-XIX.
[34] III. Mos. XXIV, 16. — V. Mos. XIII, 1–5.
[35] Ungefähr wie unsere neuern Schriftausleger!
[36] In unsern Tagen ist man so ängstlich nicht mehr — selbst in Betreff des einzigen und wahren Gottessohnes.
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