The Project Gutenberg eBook of Helden

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Title: Helden

Author: Bernard Shaw

Release date: July 1, 2004 [eBook #6004]
Most recently updated: December 29, 2020

Language: German

Credits: Produced by Mike Pullen, Charles Franks and the Online Distributed Proofreading Team

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HELDEN ***

Produced by Mike Pullen, Charles Franks and the Online Distributed

Proofreading Team.

HELDEN

Komödie in drei Akten

George Bernard Shaw

"Arms and the Man", der Titel der Komödie, sind die ersten Worte der englischen Übersetzung der Äneis. Im Deutschen wäre die Übertragung von "Arma virumque cano": "Waffentaten besingt mein Gesang und den Mann…" zu langatmig geworden, weshalb ich das der Entthronung unechter Helden geltende Werk "Helden" nannte.

Anmerkung des Übersetzers.

PERSONEN

Paul Petkoff, bulgarischer Major.
Katharina, seine Frau.
Raina, ihre Tochter.
Sergius Saranoff, bulgarischer Major.
Bluntschli, Hauptmann in der serbischen Armes.
Louka, Stubenmädchen.
Nicola, ein Diener.
Ein russischer Offizier.
Ein bulgarischer Offizier.

Ort der Handlung: Eine kleine Stadt in Bulgarien in der Nähe des
Dragomanpasses.

Zeit: Das Jahr 1885.

ERSTER AKT

[Nacht. Das Schlafzimmer eines jungen Mädchens in Bulgarien, in einer kleinen Stadt nahe dem Dragomanpaß. Ende November 1885. Durch ein großes offenes Fenster mit kleinem Balkon schimmert sternhell die schneebedeckte Spitze eines Balkanberges wundervoll weiß und schön herein. Das Gebirge scheint ganz nahe, obwohl es in Wirklichkeit meilenweit entfernt ist. Die innere Einrichtung des Zimmers hat keinerlei Ähnlichkeit mit der im östlichen Europa üblichen. Sie ist halb reich bulgarisch, halb billig wienerisch. Über dem Kopfende des Bettes, das gegen eine schmale Wand gelehnt ist, die die Ecke des Zimmers in der Richtung der Diagonale abschneidet, steht ein blau und goldbemalter hölzerner Schrein mit einem Christusbilde aus Elfenbein. Darüber schwebt in einer von drei Ketten gehaltenen durchbrochenen Metallkugel eine Lampe. Die Hauptsitzgelegenheit, eine türkische Ottomane, befindet sich an der entgegengesetzten Seite des Zimmers, dem Fenster gegenüber. Die Bettvorbänge und die Bettdecke, die Fenstervorhänge, der kleine Teppich und alle Stoffe des Zimmers sind prächtig und orientalisch. Die Tapeten an den Wänden sind abendländisch und armselig. Der Waschtisch an der Wand in der Nähe des Fensters und der Ottomane besteht aus einem emaillierten eisernen Becken und einem Eimer darunter, beides in einem bemalten Eisenständer. Ein einziges Handtuch hängt über dem Handtuchhalter an der Seite. Daneben steht ein Wiener Stuhl aus gebogenem Holz mit Rohrsitz. Der Ankleidetisch, zwischen dem Bett und dem Fenster ist aus gewöhnlichem Tannenholz, mit einer bunt farbigen Decke belegt, darauf ein kostbarer Toilettespiegel. Die Tür ist in der Nähe des Bettes, zwischen Tür und Bett steht noch eine Kommode. Diese Kommode ist auch mit einem bunten bulgarischen Tuch überdeckt, und auf ihr befindet sich ein Stoß ungebundener Romane, eine Bonbonniere mit Pralinen und eine Miniaturstaffelei mit der großen Photographie eines äußerst hübschen Offiziers, dessen stolze Haltung und magnetischer Blick sogar aus dem Bilde erkennbar ist.—Das Zimmer wird von einer auf der Kommode brennenden Kerze und von einer andern, die sich auf dem Toilettentisch befindet, erhellt. Neben letzterer liegt eine Zündholzschachtel. Das Fenster hat Längsflügel, die weit offen stehen; ein paar hölzerne Läden, die sich nach außen öffnen, sind gleichfalls weit auf. Auf dem Balkon eine junge Dame, in den Anblick der Schneeberge versunken. Sie ist sich der romantischen Schönheit der Nacht, wie auch der Tatsache, daß ihre eigene Jugend und Schönheit ein Teil davon ist, sehr wohl bewußt. [Sie ist in einen langen Pelzmantel gehüllt, der, gering geschätzt, dreimal so viel wert ist als die ganze Einrichtung des Zimmers. Aus ihrer Träumerei wird sie durch ihre Mutter, Katharina Petkoff, aufgeschreckt, eine stattliche Frau über vierzig, von gebieterischer Energie, mit wunderbaren schwarzen Augen und Haaren. Als Frau eines Gutsbesitzers im Gebirge würde sie prachtvoll wirken; sie will aber durchaus die Wiener Dame spielen und trägt zu diesem Zwecke bei jeder Gelegenheit ein hochmodernes Tea-gown.]

Katharina [tritt hastig ein, erfüllt von guten Nachrichten]: Raina! [Sie spricht Rahina mit Betonung des i.] Raina! [Sie geht an das Bett in der Erwartung, Raina dort zu finden.] Wo steckst du denn? [Raina wendet sich nach dem Zimmer um.] Um Gottes willen, Kind, warum da draußen in der Nachtluft statt im Bett! Du wirst dir den Tod holen. Louka sagte mir doch, daß du schliefest.

Raina [eintretend]: Ich habe sie fortgeschickt, weil ich allein sein wollte—die Sterne sind so wundervoll. Was ist denn los?

Katharina: Große Neuigkeiten—eine Schlacht ist geschlagen worden!

Raina [mit weiten Augen]: Ah! [Sie wirft ihren Pelz auf die Ottomane und kommt in bloßem Nachtkleid, einem hübschen Kleidungsstück, doch sichtlich dem einzigen, das sie anhat, heftig auf Katharina zu.]

Katharina: Eine große Schlacht, bei Slivnitza, ein Sieg! und Sergius hat ihn erfochten.

Raina [mit einem Freudenschrei]: Ah—[Entzückt:] O Mutter! [Dann plötzlich ängstlich:] Ist der Vater gesund und unversehrt?

Katharina: Selbstverständlich, von ihm kommt ja die Nachricht.
Sergius ist der Held des Tages, der Abgott seines Regiments.

Raina: Erzähle, erzähle! wie ist das zugegangen? [Ekstatisch:] O Mutter, Mutter, Mutter! [Sie drückt ihre Mutter auf die Ottomane nieder. Sie küssen einander leidenschaftlich.]

Katharina [mit ungestümem Enthusiasmus]: Du kannst dir nicht vorstellen, wie herrlich es ist. Eine Kavallerieattacke, denke dir nur! Er hat unseren russischen Befehlshabern Trotz geboten, er handelte ohne Kommando. Auf eigene Faust führte er einen Angriff aus, er selbst an der Spitze. Er war der erste Mann, der die feindliche Artillerie durchbrach! Stell es dir nur einmal vor, Raina, wie unsere kühnen glänzenden Bulgaren mit blitzenden Schwertern und blitzenden Augen einer Lawine gleich herniederdonnerten und die elenden Serben mit ihren geckenhaften österreichischen Offizieren wegfegten wie Spreu. Und du, du ließest Sergius ein Jahr lang warten, bis du ihm dein Jawort gabst. Oh, wenn du einen Tropfen bulgarischen Blutes in den Adern hast, wirst du ihn jetzt anbeten, wenn er zurückkommt.

Raina: Was wird ihm an meiner armseligen Anbetung liegen, nachdem ihm eine Armee von Helden zugejubelt hat! Doch einerlei. Ich bin so glücklich, so stolz! [Sie steht auf und geht heftig bewegt auf und ab.] Es beweist mir, daß alle unsere Ideen doch Wahrheit waren.

Katharina [indigniert]: Unsere Ideen Wahrheit? Was meinst du damit?

Raina: Unsere Vorstellungen von dem, was ein Mann wie Sergius einmal vollbringen würde—unsere Vorstellungen von Patriotismus, von Heldentum. Ich zweifelte manchmal, ob sie etwas anderes als Träume wären. Oh, was für ungläubige kleine Geschöpfe wir Mädchen sind! Als ich Sergius den Säbel umgürtete, sah er so edel aus. Es war Verrat von mir, da an Enttäuschungen, Demütigung oder Mißerfolg zu denken, und doch—und doch…[Rasch:] Versprich mir, daß du es ihm niemals sagen wirst.

Katharina: Verlange kein Versprechen von mir, bevor ich weiß, was ich eigentlich versprechen soll.

Raina: Nun, als er mich in seinen Armen hielt und mir in die Augen blickte, da fiel es mir ein, daß wir vielleicht unsere Vorstellungen von Heldengröße bloß deshalb haben, weil wir gar so gerne Byron und Puschkin lesen und weil wir in diesem Jahre von der Oper in Bukarest so entzückt waren. Das wirkliche Leben gleicht so selten diesen Bildern—ja niemals, soweit ich es bis dahin kannte…[reuevoll:] Denk dir nur, Mutter, ich zweifelte an ihm. Ich fragte mich, ob nicht am Ende alle seine Soldateneigenschaften und sein Heldentum sich als Einbildung erweisen würden, sobald er sich in einer wirklichen Schlacht befände. Ich hatte eine unangenehme Angst, daß er am Ende gar eine klägliche Figur inmitten all der klugen russischen Offiziere abgeben würde.

Katharina: Schämst du dich nicht—eine klägliche Figur? Die Serben haben österreichische Offiziere, die genau so klug sind wie unsere russischen, und wir haben sie trotzdem in jeder Schlacht geschlagen.

Raina [lacht und setzt sich wieder]: Jawohl! ich war bloß ein poesieloser kleiner Feigling. Nein, zu denken, daß dies alles wahr ist—daß Sergius genau so edel und kühn ist, wie er aussieht—, daß die Welt tatsächlich eine herrliche Welt für Frauen ist, die ihre Größe sehen können, und für Männer, die fähig sind, ihre Romantik darzustellen! Was für ein Glück, was für unaussprechliche Erfüllungen—ach! [Sie wirft sich neben ihrer Mutter auf die Knie und umschlingt sie leidenschaftlich mit den Armen.]

[Sie werden durch den Eintritt Loukas unterbrochen, eines hübschen stolzen Mädchens in der hübschen bulgarischen Bauerntracbt mit Klappschürze. Sie benimmt sich so keck, daß ihr dienstliches Verhalten gegen Raina beinahe unverschämt aussieht; vor Katharina fürchtet sie sich, aber selbst mit ihr geht sie so weit, wie sie's nur immer wagen zu dürfen glaubt. Sie ist jetzt ebenso aufgeregt wie die anderen, aber sie sympathisiert nicht mit Rainas Begeisterung und blickt verachtungsvoll auf die Verzückung der beiden, bevor sie sie anredet.]

Louka: Entschuldigen Sie, gnädige Frau, alle Fenster müssen geschlossen und alle Läden verriegelt werden. Man sagt, daß vielleicht in den Straßen geschossen werden wird. [Raina und Katharina erheben sich gleichzeitig erschrocken.] Die Serben werden durch den Paß zurückgejagt, und es heißt, sie könnten sich in die Stadt flüchten. Unsere Kavallerie wird ihnen nachsetzen, und Sie können sicher sein, daß unser Volk sie gebührend empfangen wird; jetzt, wo sie davonlaufen. [Sie geht auf den Balkon hinaus, schließt die Außenläden und tritt dann in das Zimmer zurück.]

Raina: Ich wollte, unsere Leute wären nicht so grausam. Was ist das für ein Ruhm, arme Flüchtlinge niederzumachen?

Katharina [geschäftig, sich ihrer häuslichen Pflichten erinnernd]:
Ich muß zusehen, daß unten alles in Sicherheit gebracht wird.

Raina [zu Louka]: Laß die Läden so, daß ich sie schnell schließen kann, sobald ich irgendwelchen Lärm höre.

Katharina [strenge, während sie ihren Weg nach der Tür fortsetzt]: O nein, mein Kind, die Läden müssen verriegelt bleiben; du würdest sicher darüber einschlafen und sie offen lassen. Riegele sie ganz zu, Louka.

Louka: Jawohl, gnädige Frau. [Sie schließt sie.]

Raina: Sei ohne Sorge meinetwegen, sobald ich einen Schuß höre, werde ich die Kerzen auslöschen, mich in mein Bett verkriechen und die Decke über die Ohren ziehen.

Katharina: Das klügste, was du tun kannst, liebes Kind. Gute Nacht.

Raina: Gute Nacht, Mama. [Sie küssen einander, und Rainas Ergriffenheit kehrt für einen Augenblick zurück.] Beglückwünsche mich zu der schönsten Nacht meines Lebens—wenn nur die Flüchtlinge nicht wären.

Katharina: Geh zu Bett, Liebling, und denk nicht daran. [Geht ab.]

Louka [heimlich zu Raina]: Wenn Sie die Läden offen haben wollen, stoßen Sie nur ein wenig—so! [Sie stößt ein wenig gegen die Läden, die Läden gehen auf, dann schließt sie sie wieder.] Der eine müßte unten verriegelt werden, aber der Riegel ist abgebrochen.

Raina [würdevoll, mißbilligend]: Danke, Louka, aber wir müssen tun, was uns befohlen wird. [Louka schneidet ein Gesicht.] Gute Nacht!

Louka [nachlässig]: Gute Nacht. [Sie stolziert ab.]

Raina [allein gelassen, gebt nach der Kommode und betet das darauf befindliche Bild mit Empfindungen an, die über jeden Ausdruck sind. Sie küßt es weder, noch preßt sie es ans Herz, noch gibt sie ihm irgendein Zeichen von körperlicher Zärtlichkeit, aber sie nimmt es in die Hände und hebt es empor, wie eine Priesterin.—Das Bild betrachtend]: Oh, ich werde mich nie mehr deiner unwert zeigen. Held meiner Seele—nie, nie, nie! [Sie setzt das Bild ehrfürchtig zurück, dann wählt sie einen Roman aus dem kleinen Bücherstoß. Verträumt blättert sie darin, findet, wo sie stehen geblieben ist, biegt das Buch an dieser Stelle nach außen zusammen, und mit einem glücklichen Seufzer sinkt sie auf das Bett, um sich in den Schlaf zu lesen. Bevor sie sich jedoch ihrem Roman überläßt, blickt sie noch einmal auf, gedenkt der seligen Wirklichkeit und murmelt]: Mein Held! mein Held! [Ein entfernter Schuß durchbricht draußen die Stille der Nacht. Sie fährt horchend auf,—da fallen noch zwei Schüsse aus viel größerer Nähe. Sie erschrickt, stürzt aus dem Bett und bläst die Kerze auf der Kommode rasch aus. Dann läuft sie, mit den Händen an den Ohren, zum Toilettetisch, bläst die Kerze auch dort aus und eilt im Dunkeln in ihr Bett zurück, man unterscheidet nichts mehr in der Stube als einen Lichtschimmer aus der durchbrochenen Metallkugel vor dem Christusbilde und das Sternenlicht, das durch die Spalten der Fensterläden glänzt. Abermals fallen Schüsse, ein fürchterliches Gewehrfeuer ist ganz nahe. Während man noch das Echo der Salve hört, werden die Fensterläden von außen aufgestoßen, für einen Augenblick flutet in einem Rechteck das schneeige Sternenlicht plötzlich herein, von dem sich die dunkle Silhouette einer männlichen Gestalt abhebt. Dann schließen sich die Läden wieder, und das Zimmer liegt abermals im Dunkeln. Aber jetzt wird das Schweigen durch ein keuchendes Atemholen unterbrochen, dann hört man ein Kratzen, und die Flamme eines Streichholzes wird in der Mitte des Zimmers sichtbar.]

Raina [aufs Bett gekauert]: Wer ist da? [Das Streichholz verlischt sofort wieder.] Wer ist da—wer ist da?

[Eines Mannes Stimme gedämpft aber drohend]: Scht! Schreien Sie nicht, sonst schieße ich! Bleiben Sie ruhig, und es wird Ihnen nichts geschehen. [Man hört, wie sie ihr Bett verläßt und nach der Tür tastet.] Nehmen Sie sich in acht, es hilft Ihnen nichts, wenn Sie davonlaufen wollen. Merken Sie sich, sobald Sie Ihre Stimme erheben, wird mein Revolver losgehen. [Befehlend:] Machen Sie Licht und lassen Sie sich sehen! Hören Sie! [Noch ein Augenblick der Stille und Dunkelheit, während Raina an den Toilettetisch zurücktritt. Dann zündet sie die Kerze an, und das Rätsel löst sich.—Ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren, in bejammernswürdigem Zustande, mit Kot, Blut und Schnee bespritzt, steht vor ihr. Sein Degengehänge und der Riemen seiner Revolvertasche halten die Fetzen des blauen Waffenrocks eines serbischen Artillerieoffiziers zusammen. Alles was man beim Kerzenlichte aus dem ungewaschenen, verwahrlosten Aussehen des Mannes halbwegs erkennen kann, ist, daß er mittelgroß, von nicht sehr vornehmem Aussehen, breitschultrig und starkknochig ist. Sein rundlicher, eigensinnig aussehender Kopf ist mit kurzen braunen Locken bedeckt. Er hat klare, bewegliche, blaue Augen, gutmütige Brauen und einen freundlichen Mund, eine hoffnungslos prosaische Nase wie die eines besonders aufgeweckten Babys, aufrechte soldatische Haltung und eine energische Art; er besitzt volle Geistesgegenwart trotz seiner verzweifelten Lage, die er sogar mit einem Anflug von Humor betrachtet, ohne jedoch im geringsten damit spielen zu wollen oder eine Rettungsmöglichkeit außer Acht zu lasten.—Er überlegt, was er von Raina zu erwarten haben mag, schätzt ihr Alter, ihre gesellschaftliche Stellung ab, ihren Charakter, den Grad ihrer Furcht, alles mit einem Blick, und fährt höflicher, aber immer äußerst entschlossen fort]: Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe, aber Sie erkennen wahrscheinlich meine Uniform, ich bin Serbe! Wenn ich gefangen werde, wird man mich töten. [Drohend]: Begreifen Sie das?

Raina: Ja.

Der Flüchtling: Nun, ich habe keine Lust zu sterben, solange ich es verhindern kann. [Noch fürchterlicher]: Begreifen Sie das? [Er verschließt die Tür mit einem kurzen Schnappen des Schlosses.]

Raina [verachtungsvoll]: Es scheint, Sie haben keine. [Sie richtet sich stolz auf und blickt ihm gerade ins Gesicht, während sie mit scharfer Betonung spricht]: Es gibt Soldaten, die den Tod fürchten, das weiß ich.

Der Flüchtling [mit Galgenhumor]: Alle fürchten ihn, verehrte Dame, alle, glauben Sie mir. Es ist unsere Pflicht, so lange zu leben, wie wir nur können, und wenn Sie Lärm schlagen-Raina [ihn unterbrechend]: Dann werden Sie mich erschießen! Aber woher wissen Sie, daß ich den Tod fürchte?

Der Flüchtling [schlau]: Und wenn ich Sie nicht erschieße, was wird dann geschehen? Eine Rotte Ihrer Kavallerie—das elendeste Gesindel Ihrer Armee—wird in dieses Ihr hübsches Zimmer einbrechen und mich wie ein Schwein abschlachten. Denn ich werde mich wehren und fechten wie ein Teufel. Sie sollen mich nicht auf die Straße bekommen und sich an mir belustigen; ich weiß, wozu sie imstande sind. Sind Sie bereit, in Ihrer augenblicklichen Verfassung, in dieser Toilette, eine solche Gesellschaft zu empfangen?

[Raina besinnt sich in dem Moment auf ihr Nachtgewand, schreckt instinktiv zusammen und zieht es enger um den Leib. Er beobachtet sie und fügt ohne Erbarmen hinzu]: Kaum präsentabel, was? [Sie geht nach der Ottomane, er richtet augenblicklich seine Pistole auf sie und ruft]: Halt! [Sie bleibt stehen.] Wohin wollen Sie? Raina [mit würdevoller Geduld]: Ich will nur meinen Mantel holen. Der Flüchtling [geht rasch nach der Ottomane und reißt den Pelz an sich]: Ein guter Gedanke. Nein, den Mantel behalte ich; dann werden Sie dafür sorgen, daß niemand hier eindringt und Sie so sieht. Das ist eine bessere Waffe als mein Revolver. [Er wirft den Revolver auf die Ottomane.]

Raina [empört]: Es ist nicht die Waffe eines Gentleman!

Der Flüchtling: Gut genug für einen Mann, wenn zwischen ihm und dem Tod nur Sie stehen. [Während sie einander nun einen Augenblick stumm betrachten, in welchem Raina kaum zu glauben vermag, daß selbst ein serbischer Offizier so zynisch und selbstsüchtig und unritterlich sein könne, werden sie durch ein scharfes Gewehrfeuer in der Straße aufgeschreckt. Furchtbare Todesangst läßt den Flüchtling seine Stimme dämpfen, als er hinzufügt]: Hören Sie? Wenn Sie diese Halunken schon hereinlassen und auf mich hetzen wollen, so werden Sie sie wenigstens empfangen, so wie Sie da sind. [Raina begegnet seinen Blicken mit unerschrockener Verachtung. Plötzlich fährt er horchend auf; man hört Schritte von außen, jemand drückt auf die Klinke und klopft dann hastig und dringend. Raina sieht den Flüchtling atemlos an, er wirft entschlossen den Kopf zurück, mit der Bewegung eines Menschen, der nun weiß, daß er verloren ist, und indem er sein Benehmen, das Raina einschüchtern sollte, aufgibt, wirft er ihr den Mantel zu und ruft aufrichtig und artig]: Es ist umsonst, ich bin verloren! Schnell, hüllen Sie sich in den Mantel, sie kommen!

Raina [fängt den Mantel hastig auf]: Oh—ich danke! [Sie wirft den Mantel sehr erleichtert um, er zieht seinen Degen und wendet sich nach der Tür und wartet.]

Louka [von außen klopfend]: Gnädiges Fräulein! gnädiges Fräulein!
Stehen Sie schnell auf und öffnen Sie die Tür!

Raina [ängstlich]: Was wollen Sie tun?

Der Flüchtling [grimmig]: Das ist jetzt einerlei, gehen Sie nur aus dem Weg, es wird nicht lange dauern.

Raina [impulsiv]: Ich will Ihnen helfen! Verstecken Sie sich, oh, verstecken Sie sich, schnell hinter diesen Vorhang. [Sie faßt ihn bei einem zerrissenen Zipfel seines Ärmels und zieht ihn nach dem Fenster.]

Der Flüchtling [ihr nachgehend]: Es ist noch ein Funken Hoffnung vorhanden, wenn Sie Ihre Geistesgegenwart bewahren. Merken Sie sich: von zehn Soldaten sind neun geborene Dummköpfe. [Er versteckt sich hinter dem Vorhang, sieht aber noch einmal heraus und sagt:] Wenn sie mich dennoch finden, so verspreche ich Ihnen einen Teufelskampf. [Er verschwindet. Raina nimmt den Mantel ab und wirft ihn an das Fußende des Bettes, dann öffnet sie mit schläfrigem, verstörtem Wesen die Tür. Louka tritt aufgeregt ein.]

Louka. Ein Mann wurde gesehen, wie er die Dachrinne zu Ihrem Balkon hinaufgeklettert ist, ein Serbe. Die Soldaten wollen ihm nachsetzen und sind so wild und betrunken und wütend. Die Gnädige läßt sagen, Sie möchten sich sofort ankleiden.

Raina [scheinbar ärgerlich, daß sie gestört wird]: Hier lasse ich sie nicht suchen. Warum hat man sie eingelassen?!

Katharina [hastig hereinstürzend]: Raina, mein Liebling, dir ist doch nichts passiert? Hast du irgend etwas gesehen oder gehört?

Raina: Ich hörte nur schießen; aber ich hoffe, die Soldaten werden es nicht wagen, hier in mein Schlafzimmer einzudringen!

Katharina: An ihrer Spitze ist ein russischer Offizier—dem Himmel sei Dank. Er kennt Sergius. [Spricht durch die Tür zu jemand, der draußen steht:] Bitte treten Sie ein, Herr Leutnant; meine Tochter ist bereit, Sie zu empfangen. [Ein junger russischer Offizier in bulgarischer Uniform tritt ein, den Säbel in der Faust.]

Russischer Offizier [mit sanfter geschmeidiger Höflichkeit und steifer militärischer Haltung]: Guten Abend, gnädiges Fräulein. Ich bedaure, hier eindringen zu müssen, aber ein Flüchtling ist auf Ihrem Balkon versteckt. Wollen Sie und Ihre gnädige Frau Mutter so gut sein und sich zurückziehen, während wir ihn suchen?

Raina [ungeduldig]: Unsinn! Sie sehen von hier aus, daß niemand auf dem Balkon sein kann. [Sie stößt die Läden weit auf, steht mit dem Rücken gegen den Vorhang, hinter dem der Flüchtling versteckt ist und zeigt auf den vom Mond beschienenen Balkon. Zwei Schüsse fallen direkt unter dem Fenster, und eine Kugel zertrümmert das Fensterglas gegenüber von Raina, sie schließt einen Moment die Augen und atmet schwer, aber hält sich tapfer, während Katharina aufschreit und der Offizier mit dem Ausruf "Geben Sie Acht" auf den Balkon hinausstürzt.]

Russischer Offizier [auf dem Balkon, schreit wütend in die Straße hinunter]: Hört auf, hier herein zu schießen, ihr Dummköpfe, verstanden! Hört auf zu feuern, verfluchte Kerle! [Er starrt einen Augenblick hinunter, dann wendet er sich zu Raina und versucht, seine höfliche Stellung von vorhin wieder einzunehmen.] Konnte jemand ohne Ihr Wissen hier eindringen? Schliefen Sie?

Raina: Nein, ich war noch nicht zu Bett.

Russischer Offizier [tritt ungeduldig in das Zimmer zurück]: Ihre Nachbarn haben die Köpfe so voll mit davongelaufenen Serben, daß sie überall welche sehen. [Höflich]: Gnädiges Fräulein, ich bitte tausendmal um Verzeihung. Gute Nacht. [Verneigt sich militärisch. Raina erwidert den Gruß kalt, er verneigt sich vor Katharina, die ihn hinausbegleitet. Raina schließt die Läden. Sie wendet sich um und bemerkt Louka, die diese Szene neugierig beobachtet hat.]

Raina: Lassen Sie meine Mutter nicht allein, Louka, während die Soldaten da sind. [Louka blickt auf Raina, auf die Ottomane, auf den Vorhang, dann spitzt sie die Lippen diskret, lacht in sich hinein und geht hinaus. Raina, durch dieses Mienenspiel sehr beleidigt, folgt ihr bis an die Tür und schlägt sie hinter ihr zu, sie geräuschvoll verriegelnd. Der Flüchtling tritt sofort hinter dem Vorhang hervor, steckt seinen Säbel ein und schüttelt in gleichsam geschäftlicher Weise die Gefahr von sich ab.]

Der Flüchtling: Um ein Haar,,, doch um ein Haar ist auch gefehlt.
Verehrtes Fräulein, Ihr Sklave bis in den Tod! Ich wünschte jetzt
Ihretwegen, ich wäre in die bulgarische Armee statt in die serbische
eingetreten. Ich bin kein Serbe von Geburt.

Raina [hochmütig]: Nein, Sie sind einer von jenen Österreichern, die die Serben zum Raub unserer nationalen Freiheit verleiten und die serbische Armee mit Offizieren versehen. Wir hassen sie.

Der Flüchtling: Österreicher? O nein! Ich bin keiner. Hassen Sie mich also nicht. Ich bin Schweizer, gnädiges Fräulein, und kämpfe bloß als Berufssoldat; ich ging zu den Serben, weil sie auf dem Wege aus der Schweiz mir zunächst waren. Seien Sie großmütig. Ihre Landsleute haben uns ohnedies aufs Haupt geschlagen.

Raina: War ich vielleicht nicht großmütig?

Der Flüchtling: Edel, heldenhaft! Doch ich bin noch nicht gerettet. Der schlimmste Ansturm ist bald vorüber, aber die Verfolgung wird mit Unterbrechungen die ganze Nacht hindurch fortgesetzt werden; ich muß trachten, mich in einem günstigen Augenblick aus dem Staube zu machen. Sie sind doch nicht böse, wenn ich hier noch ein bis zwei Minuten warte?

Raina: O nein, ich bedaure nur, daß Sie sich abermals in Gefahr begeben müssen. [Auf die Ottomane weisend:] Bitte, setzen Sie sich! [Sie hält mit einem nicht zu unterdrückenden Angstschrei inne, als sie die Pistole auf der Ottomane erblickt.]

Der Flüchtling [übernervös, fährt zurück wie ein scheuendes Pferd.
Erregt]: Mich so zu erschrecken! Was ist denn los?

Raina: Ihre Pistole. Der Offizier hat sie die ganze Zeit vor Augen gehabt! Ihre Rettung ist ein Wunder!

Der Flüchtling [ärgerlich, so unnötigerweise geängstigt worden zu sein]: Ach, weiter nichts?!

Raina [blickt ihn hochmütig an und fühlt sich desto wohler, je mehr ihre gute Meinung von ihm abnimmt]: Ich bedaure, Sie geängstigt zu haben. [Sie nimmt die Pistole und reicht sie ihm]: Bitte, nehmen Sie, zum Schutze gegen mich.

Der Flüchtling [lächelt müde über diesen Sarkasmus, während er die Pistole nimmt]: Sie nützt mir nichts, sie ist nicht geladen. [Er grinst die Pistole höhnisch an und schiebt sie verachtungsvoll in seine Revolvertasche.]

Raina: So laden Sie sie meinetwegen!

Der Flüchtling: Ich habe keine Munition. Was nützen einem in der Schlacht Patronen? Ich führe statt dessen immer Schokolade mit und habe schon vor Stunden mein letztes Stück verzehrt.

Raina [in ihren heiligsten Vorstellungen von Männlichkeit verletzt]:
Schokolade? Sie stopfen Ihre Taschen mit Süßigkeiten voll wie ein
Schuljunge, selbst auf dem Schlachtfeld?

Der Flüchtling [hungrig]: Ich wollte, ich hätte jetzt welche. [Raina
starrt ihn an, unfähig ihre Gefühle zu äußern; dann läuft sie zu der
Kommode und eilt, die Bonbonniere in den Händen, mit spöttischer
Miene zurück.]

Raina: Erlauben Sie. Ich bedaure, alles aufgegessen zu haben bis auf diese Pralinébonbons. [Sie bietet ihm die Schachtel an.]

Der Flüchtling [heißhungrig]: Sie sind ein Engel. [Er verschlingt die Süßigkeiten]: Pralinés—köstlich! [Er überzeugt sich ängstlich, ob noch mehr davon da sind; es waren die letzten.]

[Er fügt sich mit pathetischem Humor in das Unvermeidliche und sagt mit dankbarer Rührung]: Gott segne Sie, teuerstes Fräulein.—Sie können einen alten Soldaten immer an dem Inhalt seiner Sattel- und Patronentaschen beurteilen. Die jungen führen Pistolen und Patronen mit, die alten—Futter. Ich danke Ihnen. [Er gibt ihr die Schachtel zurück, sie reißt sie ihm verachtungsvoll aus der Hand und wirft sie fort. Er schrickt wieder zusammen, als wenn sie ihn hätte schlagen wollen.] Hu! Ich beschwöre Sie, machen Sie nicht alles so heftig und plötzlich, gnädiges Fräulein; es ist nicht schön, sich jetzt dafür zu rächen, daß ich Sie vorhin erschreckt habe.

Raina [stolz]: Mich erschreckt! Wissen Sie, daß mein Herz, obwohl ich nur ein Mädchen bin, mindestens ebenso mutig schlägt wie das Ihre!?

Der Flüchtling: Das will ich meinen. Sie haben auch nicht drei Tage lang im Feuer gestanden wie ich. Zwei Tage kann ich das aushalten, ohne daß es mir viel ausmacht, aber kein Mensch hält es drei Tage lang aus. Ich bin jetzt so nervös wie eine Maus. [Er setzt sich auf die Ottomane und stützt den Kopf in die Hand.] Möchten Sie mich weinen sehen?

Raina [bestürzt]: Nein!

Der Flüchtling: Wenn Sie das wollen, brauchen Sie mich nur
auszuschelten als ob ich ein kleiner Bub wäre und Sie das
Kindermädchen. Wenn ich jetzt im Lager wäre, würde man allerhand
Spaß mit mir treiben.

Raina [ein wenig gerührt]: Sie tun mir leid, ich werde Sie nicht ausschelten. [Von dem Mitgefühl in ihrer Stimme ergriffen, hebt er den Kopf und blickt dankbar zu ihr auf. Sie wendet sich sofort von ihm weg und sagt steif:] Sie müssen mich entschuldigen, UNSERE Soldaten sind eben ganz anders. [Sie geht von der Ottomane fort.]

Der Flüchtling: O nein, ganz ebenso! Es gibt überhaupt nur zweierlei
Arten Soldaten; junge und alte. Ich diene seit vierzehn Jahren; die
Hälfte von Ihren Leuten hatte bisher noch kein Pulver gerochen!

Nun, wie kommt es, daß sie uns eben geschlagen haben? Nur infolge
gänzlicher Unkenntnis der Kriegskunst, durch nichts weiter.
[Verachtungsvoll:] Ich habe nie einen größeren Mangel an
Berufskenntnis gesehen!

Raina [ironisch]: Oh, war es Mangel an Berufskenntnis, Sie zu schlagen?

Der Flüchtling: So hören Sie! Halten Sie es für militärisch, ein Kavallerieregiment einer Schnellfeuerbatterie entgegenzuwerfen mit der Gewißheit, daß, falls die Kanonen losgehen, weder Pferd noch Mann jemals der Batterie auf fünfzig Meter nahe kommen? Ich traute meinen Augen kaum, als ich den Blödsinn sah.

Raina [wendet sich freudig zu ihm, erregt, weil ihr Enthusiasmus und
ihre Ruhmesträume sie wieder überkommen]: Haben Sie die große
Kavallerieattacke gesehen? Oh, erzählen Sie mir davon, beschreiben
Sie sie mir.

Der Flüchtling: Sie haben noch niemals eine Kavallerieattacke gesehen, nicht wahr?

Raina: Wie sollte ich!

Der Flüchtling: Natürlich, woher auch! Na, es ist ein spaßhafter
Anblick. Gerade, als ob man eine Handvoll Erbsen gegen eine
Fensterscheibe schleuderte. Erst kommt einer, dann zwei oder drei
dicht hinterher, und dann in einer Reihe die ganze Rotte.

Raina [mit weiten Augen, erbebt sich, während sie die Hände begeistert zusammenschlägt]: Ja, zuerst ein einziger, der Tapferste der Tapferen!

Der Flüchtling [prosaisch]: Na, Sie sollten sehen, wie der arme
Teufel versucht sein Pferd zurückzuhalten.

Raina: Warum sollte er sein Pferd zurückhalten?

Der Flüchtling [ungeduldig über die dumme Frage]: Na, weil es doch mit ihm durchgeht, natürlich. Glauben Sie, daß der Bursche Lust hat, als Erster anzukommen, um so vor allen andern getötet zu werden? Dann kommen die übrigen heran. Alle. Sie können die Jungen an ihrer Wildheit und Schneidigkeit erkennen, die Alten kommen in geschlossenen Haufen daher, sie wissen, daß sie nur Kanonenfutter sind und daß es keinen Zweck hat, einen Kampf zu versuchen. Die meisten Wunden sind gebrochene Kniescheiben infolge des Zusammenprallens der Pferde.

Raina: Schrecklich! Aber ich glaube nicht, daß der erste Reiter ein
Feigling ist—ich glaube, er ist ein Held.

Der Flüchtling [gutmütig]: Das würden Sie auch gesagt haben, wenn Sie
HEUTE den ersten Reiter bei der Attacke gesehen hätten!!

Raina [atemlos, ihm alles verzeihend]: Ah, ich wußte es! Erzählen
Sie, erzählen Sie mir von ihm!

Der Flüchtling: Er benahm sich wie ein Operettentenor—ein wohlgebauter, hübscher Bursche mit sprühenden Augen und prachtvollem Schnurrbart, der sein Hurra brüllte und angriff wie Don Quijote die Windmühlen. Wir haben uns über ihn halbtot gelacht! Als aber der Feldwebel gelaufen kam, bleich wie der Tod, und uns sagte, daß wir aus Versehen die falschen Patronen bekommen hätten und daß wir für die nächsten zehn Minuten keinen Schuß abgeben könnten, da ist uns das Lachen vergangen! Mir war nie so schlecht in meinem ganzen Leben, obwohl ich schon in mancher bösen Lage gewesen bin. Ich hatte nicht einmal eine Revolverpatrone, nichts als Schokolade, nicht einmal Bajonette hatten wir—nichts. Natürlich haben sie uns in Stücke gehauen, und da kam dieser Don Quijote wie ein Tambourmajor herangestürmt und glaubte, das Klügste von der Welt getan zu haben, statt dessen verdiente er, dafür vor das Kriegsgericht gestellt zu werden. Von allen Narren, die jemals auf einem Schlachtfelde losgelassen worden sind, muß das der schlimmste sein! Er und sein Regiment begingen einfach einen Selbstmord, nur ging die Pistole nicht los, das war alles.

Raina [aufs tiefste verletzt, doch standhaft ihren Idealen treu]:
Wahrhaftig! Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn Sie ihn sähen?

Der Flüchtling: Werde ich ihn je vergessen können! [Sie geht wieder zur Kommode, er beobachtet sie mit schüchternen Hoffnungen, daß sie vielleicht noch etwas für ihn zu essen habe. Sie nimmt das Bild von der Kommode und bringt es ihm.]

Raina: Das ist die Photographie jenes Reiters—des Patrioten und
Helden, dem ich verlobt bin.

Der Flüchtling [das Bild mit Entsetzen erkennend]: Es tut mir wirklich sehr leid,,, [Sieht sie an.] War das recht, mich so aufs Glatteis zu führen? [Blickt wieder auf das Bild.] Ja, das ist er ohne Zweifel. [Er unterdrückt ein Lachen.]

Raina [rasch]: Warum lachen Sie?

Der Flüchtling [beschämt, aber immer noch sehr belustigt]: Ich versichere Ihnen—ich habe nicht gelacht—, zumindest hatte ich nicht die Absicht. Aber wenn ich an ihn denke, wie er die Windmühlen stürmte und dabei glaubte, die schönste Tat von der Welt zu vollbringen! [Er schüttelt sich vor unterdrücktem Lachen.]

Raina [strenge]: Geben Sie mir das Bild zurück!

Der Flüchtling [mit aufrichtiger Reue]: Hier, bitte. Verzeihen Sie! Es tut mir wirklich furchtbar leid. [Sie küßt das Bild bedachtsam und sieht dem Flüchtling gerade ins Gesicht, bevor sie es auf die Kommode zurückstellt. Er folgt ihr, sich entschuldigend]: Wissen Sie, ich tu' ihm vielleicht sehr unrecht, sogar ganz gewiß. Höchstwahrscheinlich hat er von der Munitionsgeschichte irgendwo Wind bekommen und wußte, daß es eine gefahrlose Sache war.

Raina: Das soll heißen, daß er ein Aufschneider und ein Feigling ist.
Vorhin haben Sie das wenigstens nicht zu sagen gewagt.

Der Flüchtling [mit einer komiscben Verzweiflungsgeste]: Ich bemühe mich umsonst, verehrtes Fräulein, es gelingt mir nicht, Ihnen die Sache vom berufsmäßigen Standpunkt aus zu zeigen. [Als er sich umwendet, um zur Ottomane zu geben, wird neuerdings aus der Ferne Gewehrfeuer vernehmbar]:

Raina [strenge, als sie bemerkt, wie er auf die Schüsse horcht]:
Desto besser für Sie.

Der Flüchtling [sich umwendend]: Wie meinen Sie das?

Raina: Sie sind mein Feind und in meiner Gewalt—was würde ich zu tun haben vom berufsmäßigen Standpunkt aus?

Der Flüchtling: Ah, das ist wahr! Verehrtes Fräulein, Sie haben
immer recht. Ich weiß, was Sie für mich getan haben und was ich
Ihnen verdanke. Bis zu meiner letzten Stunde werde ich der drei
Pralinés gedenken. Es war unmilitärisch, aber wie engelsgut von
Ihnen!

Raina [kalt]: Ich danke Ihnen, aber nun will ich mich militärisch benehmen. Sie können nicht hierbleiben, nach dem, was Sie über meinen zukünftigen Gatten gesagt haben, aber ich will auf den Balkon gehen und nachsehen, ob Sie jetzt vollkommen gefahrlos auf die Straße hinunterklettern können. [Sie geht an das Fenster.]

Der Flüchtling [seine Miene verändert sich]: Diese Wasserrinne hinunter? Halten Sie ein, das kann ich nicht, das mag ich nicht! —der bloße Gedanke daran macht mich schon schwindlig. Ich kam leicht genug herauf mit dem Tode auf den Fersen, aber das jetzt kalten Blutes riskieren…! [Er sinkt auf die Ottomane.] Es ist umsonst, ich bin besiegt, ich gebe den Kampf auf, ich bin verloren—Sie können jetzt Lärm schlagen! [Er stützt den Kopf todestraurig in die Hände.]

Raina [von Mitleid entwaffnet]: Gehen Sie, verlieren Sie nicht den
Mut. [Sie beugt sich beinahe mütterlich über ihn, er schüttelt den
Kopf.] Oh, Sie sind ein recht kläglicher Krieger, ein Pralinésoldat.
Gehen Sie, fassen Sie sich. Es gehört weniger Mut dazu, da
hinunterzuklettern als der Gefangenschaft ins Auge zu sehen—bedenken
Sie das.

Der Flüchtling [schläfrig, von ihrer Stimme eingewiegt]: Nein, Gefangenschaft bedeutet nur Tod, und Tod ist Schlaf.—Oh schlafen, schlafen, schlafen, ungestört schlafen…Die Dachrinne hinabklettern heißt, etwas unternehmen, sich anstrengen, denken! Zehnmal lieber den Tod!

Raina [leise und verwundert, in seinen schläfrigen Ton verfallend]:
Sind Sie so schläfrig?

Der Flüchtling: Ich habe keine zwei Stunden ungestört geschlafen, seit ich zur Truppe eingerückt bin. Ich war im Generalstab. Sie wissen nicht, was das heißt: ich habe seit achtundvierzig Stunden kein Auge geschlossen.

Raina [am Ende ihrer Weisheit]: Aber was soll ich mit Ihnen anfangen?

Der Flüchtling [fährt taumelnd auf, von ihrer Verzweiflung aufgestachelt]: Natürlich, ich muß etwas tun. [Er schüttelt sich, rafft sich zusammen und spricht mit wiedergewonnener Kraft und Mut:] Sehen Sie, schläfrig oder nicht schläfrig, hungrig oder nicht hungrig, müde oder nicht müde—man kann eine Sache immer tun, wenn man weiß, daß sie getan werden muß. Gut denn, die Dachrinne muß hinabgeklettert werden. [Er schlägt sich mit der Faust an die Brust]: Hörst du das, du Pralinésoldat?! [Er geht an das Fenster.]

Raina [ängstlich]: Aber wenn Sie stürzen?

Der Flüchtling: Dann werde ich schlafen, als ob das Pflaster ein Federbett wäre. Leben Sie wohl. [Er tritt kühn an das Fenster und legt seine Hand an den Laden, da ertönt unten auf der Straße wieder eine entsetzliche Salve.]

Raina [zu ihm eilend]: Bleiben Sie! [Sie erfaßt ihn ohne Bedenken und reißt ihn zurück.] Man wird Sie töten.

Der Flüchtling [kühl, aber aufmerksam]: Das macht nichts und gehört eben zu meinem täglichen Beruf; ich muß es riskieren. [Entschlossen]: Nun tun Sie, was ich Ihnen sage: löschen Sie die Kerzen aus, damit man das Licht nicht sehen kann, wenn ich die Läden öffne, und halten Sie sich ja vom Fenster fern, was immer auch geschehen mag. Wenn die mich sehen, werden sie sicher nach mir schießen.

Raina [sich an ihn hängend]: Sie werden Sie ganz sicher sehen, der Mond scheint hell. Ich will Sie retten,,, Oh, wie können Sie nur so gleichgültig sein! Sie wollen doch, daß ich Sie retten soll, nicht wahr?

Der Flüchtling: Ich möchte Sie wirklich nicht länger stören. [Sie schüttelt ihn in ihrer Ungeduld]: Ich bin durchaus nicht gleichgültig gegen den Tod, verehrtes Fräulein, glauben Sie mir, aber was soll ich sonst anfangen?

Raina: Vor allem kommen Sie doch vom Fenster fort, ich bitte Sie. [Sie schmeichelt ihn in die Mitte des Zimmers zurück, er ergibt sich unterwürfig darein; sie läßt ihn frei und spricht gönnerhaft zu ihm]: Hören Sie, Sie müssen unserer Gastfreundschaft vertrauen; Sie wissen noch nicht, in wessen Haus Sie sich befinden—ich bin eine Petkoff.

Der Flüchtling [naiv]: Was ist das?

Raina [etwas entrüstet]: Ich meine, daß ich der Familie Petkoff angehöre, der reichsten und angesehensten unseres Landes.

Der Flüchtling: O ja, natürlich! Entschuldigen Sie—die Petkoffs! freilich! Wie dumm von mir!

Raina: Sie wissen ganz gut, daß Sie bis zu dieser Minute den Namen nie gehört haben! Wie können Sie sich dazu erniedrigen, so zu tun, als ob er Ihnen bekannt vorkäme?

Der Flüchtling: Verzeihen Sie, ich bin zu müde, um zu denken, und der Wechsel des Gesprächsthemas war zuviel für mich; zanken Sie mich nicht aus.

Raina: Ich vergaß—Sie könnten zu weinen anfangen. [Er nickt ganz ernst, sie schmollt und fährt dann in gönnerhaftem Tone fort]: Ich will Ihnen bloß sagen, daß mein Vater den höchsten Befehlshaberposten in unserer Armee bekleidet, den irgend ein Bulgare innehat. [Stolz]: Er ist Major!

Der Flüchtling [tut, als ob das einen tiefen Eindruck auf ihn machte]:
Major? Du lieber Himmel! Denken Sie nur!

Raina: Sie haben große Ortsunkenntnis bewiesen, indem Sie es für nötig hielten, am Balkon heraufzuklettern, weil unser Haus das einzige Privathaus ist, das zwei Reihen Fenster hat. Es ist eine Treppe im Flur, auf der man hinauf und hinunter kann.

Der Flüchtling: Eine Treppe? Wie großartig! Sie sind aber von ungewöhnlichem Luxus umgeben, verehrtes Fräulein.

Raina: Wissen Sie, was eine Bibliothek ist?

Der Flüchtling: Eine Bibliothek? Ein Zimmer voll Bücher?

Raina: Ja, wir haben ein solches, das einzige in ganz Bulgarien.

Der Flüchtling: Wahrhaftig? Ein wirkliches Bibliothekzimmer? Das möchte ich aber gerne sehen.

Raina [geziert]: Ich sage Ihnen diese Dinge bloß, um Ihnen zu zeigen, daß Sie bei zivilisierten Leuten sind, nicht im Hause von ungebildeten Bauern, die Sie töten würden, sobald sie Ihre serbische Uniform gewahrten. Wir gehen jedes Jahr zur Opernsaison nach Bukarest, und ich habe schon einen ganzen Monat in Wien zugebracht.

Der Flüchtling: Das habe ich bemerkt, gnädiges Fräulein; ich habe sofort gesehen, daß Sie die Welt kennen.

Raina: Haben Sie jemals die Oper Hernani gehört?

Der Flüchtling: Ist das die, in der ein Soldatenchor und ein Teufel in rotem Samt vorkommt?

Raina [verachtungsvoll]: Nein.

Der Flüchtling [einen tiefen Müdigkeitsseufzer unterdrückend]: Dann kenne ich die Oper nicht.

Raina: Ich dachte, Sie würden sich vielleicht an die große Szene erinnern, in der Hernani auf der Flucht vor seinen Feinden—gerade so wie Sie heute nacht—in das Schloß seines erbittertsten Gegners, eines alten kastilianischen Granden, flüchtet! Der Edelmann verweigert seine Auslieferung, sein Gast ist ihm heilig!

Der Flüchtling [rasch, wacht wieder etwas auf]: Sind Ihre Angehörigen auch dieser Ansicht?

Raina [mit Würde]: Meine Mutter und ich, wir verstehen diese
"Ansicht", wie Sie sich ausdrücken, und wenn Sie, statt mich mit
Ihrer Pistole zu bedrohen, sich einfach als Flüchtling unserer
Gastfreundschaft anvertraut hätten, Sie wären sicher gewesen wie in
Ihrem Vaterhaus.

Der Flüchtling: Ganz gewiß?

Raina [kehrt ihm angewidert den Rücken]: Oh, es ist verlorene Mühe,
Ihnen etwas begreiflich machen zu wollen!

Der Flüchtling: Bitte, seien Sie nicht böse, Sie können sich denken, wie schlimm es für mich wäre, wenn da ein Irrtum vorläge. Mein Vater ist ein sehr gastfreundlicher Mann, er hat sechs Hotels, aber ich könnte ihm nicht so weit vertrauen. Wie ist es mit Ihrem Herrn Vater?

Raina: Er ist fort, in Slivnitza, um für sein Vaterland zu kämpfen. Ich bürge für Ihre Sicherheit. Hier meine Hand darauf. Wird Sie das beruhigen? [Sie bietet ihm ihre Hand.]

Der Flüchtling [sieht seine eigene Hand zweifelhaft an]: Es ist besser, wenn Sie meine Hand nicht berühren, verehrtes Fräulein, ich muß mich erst waschen.

Raina [gerührt]: Das ist nett von Ihnen. Ich sehe, Sie sind ein
Gentleman.

Der Flüchtling [verwundert]: Wieso?

Raina: Sie dürfen nicht glauben, daß ich überrascht bin—die Bulgaren aus besseren Kreisen, Leute in unserer Stellung zum Beispiel, waschen sich auch fast täglich die Hände—aber ich schätze Ihr Zartgefühl, Sie dürfen meine Hand nehmen. [Bietet ihm abermals die Hand.]

Der Flüchtling [küßt ihr die Hand, seine Hände auf dem Rücken]: Ich danke Ihnen, mein liebenswürdiges Fräulein. Endlich fühle ich mich geborgen. Bitte, wollen Sie so gut sein und Ihre Frau Mutter von meiner Anwesenheit bald benachrichtigen; es würde sich nicht schicken, wenn ich hier länger als nötig im geheimen verweilte.

Raina: Wenn Sie sich ganz ruhig verhalten wollen, während ich weg bin.

Der Flüchtling: Gewiß. [Er setzt sich auf die Ottomane, Raina geht an das Bett, holt ihren Pelzmantel und wirft ihn um. Ihm fallen die Augen zu, sie geht zur Tür, wirft einen letzten Blick nach ihm hin und sieht, daß er im Begriff ist, einzuschlafen.]

Raina [an der Tür]: Sie werden jetzt doch nicht etwa einschlafen? [Er murmelt unartikulierte Laute, sie läuft zu ihm hin und schüttelt ihn.] Hören Sie? So wachen Sie doch auf—Sie schlafen ja ein!

Der Flüchtling: Was, ich schlafe ein? O nein, nicht im geringsten—ich habe nur nachgedacht,,, es ist schon gut—ich bin ganz wach.

Raina [strenge]: Wollen Sie so gut sein, stehen zu bleiben, während ich weg bin—ja? [Er erhebt sich widerwillig]: Die ganze Zeit über, verstanden!

Der Flüchtling [unruhig wankend]: Gewiß, gewiß, Sie können sich darauf verlassen. [Raina sieht ihn ungläubig an, er lächelt matt, sie geht zögernd zur Tür, wo sie sich umwendet, und ihn fast beim Gähnen ertappt. Sie geht ab.]

Der Flüchtling [schlaftrunken]: Schlafen, schlafen, schlafen, schlafen, schla,,,—[Die Worte gehen in ein Murmeln über, er rafft sich wieder auf, im Begriff umzufallen.] Wo bin ich? Das möchte ich gerne wissen,,, ich muß wach bleiben,,, nichts hält mich aber wach außer Gefahr, bedenke das—[Nachdrücklich]: Gefahr, Gefahr, Gefahr, Gef…—[Knickt wieder zusammen, rüttelt sich abermals auf.] Wo ist Gefahr? Das muß ich ausfindig machen,,, [Er geht unsicher umher, als wenn er nach Gefahr suchte.] Was suche ich da?,,, Schlaf—Gefahr—ich weiß es nicht. [Er strauchelt gegen das Bett zu.] Ach ja, nun weiß ich's,,, alles ist in Ordnung, ich soll zu Bett gehen—aber nicht schlafen—ganz bestimmt nicht schlafen,,, wegen der Gefahr. Auch nicht niederlegen, nur niedersetzen. [Er setzt sich auf das Bett, sein Gesicht nimmt einen glücklichen Ausdruck an]: Ah,,,[Mit einem freudigen Seufzer sinkt er der Länge nach zurück, hebt mit einer letzten Anstrengung seine gestiefelten Beine ins Bett und fällt sofort in tiefen Schlaf.]

[Katharina tritt ein, Raina folgt ihr.]

Raina [auf die Ottomane blickend]: Er ist fort, hier verließ ich ihn.

Katharina: Hier? Dann muß er hinuntergeklettert sein vom-Raina [ihn erblickend]: Oh! [Sie zeigt auf ihn.]

Katharina [empört]: Ah! [Sie geht mit großen Schritten auf das Bett zu, Raina folgt ihr und bleibt ihr gegenüber auf der andern Seite des Bettes stehen.]Er ist fest eingeschlafen, dieser Unmensch!

Raina [ängstlich]: Scht!

Katharina [ihn schüttelnd]: Herr! [Ihn noch heftiger schüttelnd:]
Herr!! [Ihn außerordentlich stark schüttelnd:] Herr!!!

Raina [fällt ihr in den Arm]: Nicht, Mama, der arme Mann ist ganz erschöpft, laß ihn schlafen.

Katharina [läßt ihn los und wendet sich erstaunt zu Raina]: Der arme Mann! Raina! [Sieht ihre Tochter starr an, der Flüchtling schläft fest.]

[Vorhang]

ZWEITER AKT

[Am 6. März 1886. In dem frischen hübschen Garten von Major Petkoffs Haus an einem schönen Frühlingsmorgen. Hinter dem Zaun tauchen die Spitzen von zwei Minaretts auf, die Wahrzeichen einer kleinen Stadt im Tal. Ein paar Meilen davon entfernt erheben sich die Balkanberge und umschließen die Landschaft. Wenn man vom Garten zu ihnen hinüberblickt, liegt zur Linken die Seite des Hauses, aus der eine kleine Tür mit Stufen davor in den Garten führt. Rechts schneidet der Stallhof mit seinem Torweg in den Garten ein. Den Zaun und das Haus entlang stehen Beerensträucher, die mit zum Trocknen ausgespannter Wäsche behängt sind. Ein kleiner Weg führt an dem Hause vorbei; er führt zwei Stufen empor an die Ecke und verliert sich dann.—In der Mitte ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen aus gebogenem Holz. Auf dem Tisch steht das Frühstück, eine türkische Kaffeekanne, Kaffeetassen und Brötchen usw. Die Schalen wurden schon gebraucht, und das Brot ist angebrochen.—An der Mauer zur Rechten steht eine hölzerne Gartenbank.

Louka steht, eine Zigarette rauchend, zwischen Tisch und Haus und kehrt mit zorniger Verachtung einem männlichen Dienstboten den Rücken, der ihr eben eine Strafpredigt hält. Es ist ein Mann in den besten Jahren, phlegmatisch und von niedriger, aber klarer und rascher Intelligenz. Er hat die Selbstgefälligkeit eines Dieners, der seine Dienste hoch einschätzt, und den unerschütterlichen Gleichmut eines kalt berechnenden Menschen ohne Illusionen. Er trägt weiße bulgarische Tracht, eine Jacke mit bunten Borten, weite Pumphosen, Schärpe und verzierte Gamaschen. Sein Kopf ist bis an den Scheitel glattrasiert, was ihm eine hohe japanische Stirne gibt. Sein Name ist Nicola.]

Nicola: Laß dich rechtzeitig warnen, Louka, ändere dein Benehmen. Ich kenne unsere Gnädige. Sie ist zu selbstbewußt, um sich jemals träumen zu lassen, daß eine Dienerin es wagen könnte, ihr gegenüber respektlos zu sein. Aber laß sie nur einmal bemerken, daß du ihr Trotz bietest, und du fliegst hinaus.

Louka: Ich trotze ihr doch; ich will ihr trotzen—was liegt mir daran?

Nicola: Wenn du mit der Herrschaft Streit bekommst, kann ich dich niemals heiraten; es ist genau so, als ob du dich mit mir nicht vertragen würdest.

Louka: Du nimmst also ihre Partei gegen mich?

Nicola [gelassen]: Ich werde immer von der Gnade unserer Herrschaft abhängig sein. Wenn ich den Dienst verlasse, um einen Laden in Sofia aufzumachen, dann wird ihre Kundschaft mein halbes Kapital bedeuten. Ein böses Wort von ihnen könnte mich zugrunde richten.

Louka: Du hast eben keine Kurage! Ich möchte sehen, ob sie sich unterstehen würden, über mich ein böses Wort zu sagen!

Nicola [mitleidig]: Ich hätte dich für gescheiter gehalten, Louka, aber du bist eben jung—noch sehr jung.

Louka: Gewiß. Ja, und du liebst mich darum um so mehr, nicht wahr? Aber so jung ich bin, kenne ich doch ein paar Familiengeheimnisse, von denen sie nicht wünschen würden, daß ich sie ausplaudere. Sie sollen es nur wagen, mit mir anzubinden!

Nicola [mitleidig und überlegen]: Weißt du, was sie täten, wenn sie dich so sprechen hörten?

Louka: Was könnten sie tun?

Nicola: Dich wegen Lügenhaftigkeit entlassen. Wer würde dir dann jemals wieder ein Wort glauben, wer dir eine andere Stellung verschaffen? Wer in diesem Hause würde es wagen, auch nur wieder mit dir zu sprechen? Und wie lange würde dein Vater auf seinem kleinen Bauernhof belassen werden?! [Sie wirft ungeduldig den Rest ihrer Zigarette fort und tritt darauf]: Du großes Kind! Du weißt eben nicht, was für eine Macht so hohe Herrschaften über unsereins haben, sobald wir armen Teufel versuchen, uns gegen sie aufzulehnen. [Er tritt nahe an sie heran, mit leiser Stimme]: Schau mich an! Seit zehn Jahren diene ich in diesem Hause—glaubst du, daß ich da keine Geheimnisse weiß? Ich weiß Dinge von unserer Frau! Nicht um tausend Leu würde sie wollen, daß ihr Mann sie erführe! Und ich weiß Dinge von ihm, wegen deren sie ihm ein halbes Jahr lang zusetzen würde, wenn ich sie ausplaudern wollte. Ich weiß Dinge von Fräulein Raina! Die Auflösung der Verlobung mit Sergius wäre die Folge, wenn—

Louka [sich rasch zu ihm wendend]: Woher weißt du denn das? Ich habe dir doch nie etwas gesagt?

Nicola [reißt die Augen verschmitzt auf]: Das also ist dein kleines Geheimnis! Ich dachte gleich, es könnte so was sein. Nun, befolge meinen Rat, benimm dich ehrerbietig und laß die Gnädige fühlen, daß, ganz gleich, was du weißt oder nicht weißt, sie sich darauf verlassen kann, daß du reinen Mund halten und deiner Herrschaft treu bleiben wirst. Das ist's, was sie gern haben, und auf diese Weise wirst du am meisten von ihnen herauskriegen.

Louka [verachtungsvoll]: Du bist eine Bedientenseele, Nicola!

Nicola [vergnügt]: Jawohl, das ist das Geheimnis des Erfolges im Dienste. [Ein lautes Klopfen mit einem Peitschenknopf an das hölzerne Tor wird vom Hofe her gehört.]

Männliche Stimme [von außen]: Hallo! Heda! Nicola!

Louka: Der Herr, aus dem Kriege zurück!

Nicola [rasch]: Meiner Treu, Louka, der Krieg ist vorüber! Mach, daß du fortkommst, und bring frischen Kaffee! [Er läuft hinaus auf den Stallhof.]

Louka [während sie Kaffeekanne und Tassen zusammenräumt und auf dem Servierbrett in das Haus hineinträgt]: Du wirst aus mir niemals eine Bedientenseele machen! [Major Petkoff kommt vom Stallhofe her, Nicola folgt ihm. Der Major ist ein leicht erregbarer heiterer, unbedeutender, ungebildeter Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Von Natur aus ohne Ehrgeiz, nur um sein Einkommen und seine Wichtigkeit in der Lokalgesellscbaft bekümmert, ist er jetzt doch äußerst zufrieden mit dem militärischen Rang, der ihm während des Krieges als einer der Hauptpersonen seiner Stadt eingeräumt wurde. Das Fieber eines tollkühnen Patriotismus, den der Angriff der Serben in allen Bulgaren hervorrief, hat ihm durch den Krieg durchgeholfen, aber er ist sichtlich froh, wieder zu Hause zu sein.]

Petkoff [mit seiner Peitsche auf den Tisch zeigend]: Hier draußen das
Frühstück?

Nicola: Jawohl, gnädiger Herr. Die gnädige Frau und Fräulein Raina sind soeben ins Haus gegangen.

Petkoff [setzt sich und nimmt ein Brötchen]: Geh hinein und sage, daß ich gekommen bin, und bringe mir frischen Kaffee.

Nicola: Ist schon bestellt, gnädiger Herr. [Er wendet sich gegen die
Haustür, Louka kommt mit frischem Kaffee, einer reinen Tasse und
einer Flasche Schnaps auf ihrem Servierbrett]: Haben Sie die gnädige
Frau verständigt?

Louka: Ja, die Gnädige kommt gleich. [Nicola geht in das Haus hinein.
Louka stellt den Kaffee auf den Tisch.]

Petkoff: Na, die Serben scheinen dich nicht geraubt zu haben?

Louka: Nein, gnädiger Herr.

Petkoff: Das ist recht. Hast du mir Kognak gebracht?

Louka [die Flasche auf den Tisch setzend]: Hier, gnädiger Herr.

Petkoff: So ist's recht. [Er gießt ein paar Tropfen Kognak in seinen Kaffee. Katharina, die zu der frühen Stunde nur eine sehr flüchtige Toilette gemacht hat, tritt aus dem Hause. Sie trägt eine bulgarische Schürze über einem ehemals prächtigen, aber jetzt halb abgetragenen roten Schlafrock. Ein farbiges Kopftuch ist um ihr dickes schwarzes Haar gewunden. Sie hat türkische Pantoffeln an den bloßen Füßen. Sie sieht trotz ihrer Toilette erstaunlich hübsch und stattlich aus. Louka geht in das Haus zurück.]

Katharina: Mein lieber Paul, nein, ist das eine Überraschung für uns!
[Sie beugt sich über die Lehne seines Stuhls, um ihn zu küssen]:
Hast du schon frischen Kaffee bekommen?

Petkoff: Ja, Louka hat schon für mich gesorgt.—Der Krieg ist aus, der Friede wurde schon vor drei Tagen in Bukarest unterzeichnet, und der Abrüstungsbefehl für unsere Armee ist gestern ausgegeben worden.

Katharina [springt auf, mit sprühenden Augen]: Der Krieg zu Ende! Paul, haben euch die Österreicher vielleicht GEZWUNGEN, Frieden zu schließen?

Petkoff [unterwürfig]: Meine Teuere, sie haben mich nicht gefragt, was konnte ich tun? [Sie setzt sich und wendet sich von ihm ab]: Aber natürlich haben wir dafür gesorgt, daß der Vertrag ein ehrenhafter sei, er sichert den Frieden.

Katharina [beleidigt]: Frieden!

Petkoff [sie besänftigend]: Aber durchaus keine freundschaftlichen Beziehungen, merke wohl. Sie wollten das hineinsetzen, aber ich bestand darauf, daß es gestrichen würde—was hätte ich noch mehr tun können?

Katharina: Du hättest Serbien annektieren und den Prinzen Alexander zum Kaiser des Balkans machen können; das hätte ich getan!

Petkoff: Ich zweifle nicht daran, Teuerste. Aber ich hätte zuvor das ganze österreichische Kaiserreich unterwerfen müssen, und das hätte mich zu lange von dir ferne gehalten; du hast mir schon sehr gefehlt.

Katharina [freundlich]: Ah! [Sie streckt ihren Arm liebevoll über den Tisch, um seine Hand zu drücken.]

Petkoff: Und wie ist es dir ergangen, Liebste?

Katharina: Oh, bis auf meine gewohnten Halsschmerzen recht gut.

Petkoff [mit Überzeugung]: Das kommt davon, daß du dir täglich den
Hals wäschst; ich habe dich schon oft davor gewarnt.

Katharina: Das ist Unsinn, Paul.

Petkoff [über seinem Kaffee und der Zigarette]: Ich bin sehr dagegen, daß man diese modernen Gewohnheiten zu sehr nachahmt; das ewige Waschen kann nicht gesund sein, es ist unnatürlich. In Philippopel war ein Engländer, der die Gewohnheit hatte, sich jeden Morgen nach dem Aufstehen über und über mit kaltem Wasser zu begießen. Ekelhaft! Der Unfug kommt überhaupt von den Engländern. Ihr Klima macht sie so schmutzig, daß sie sich in einem fort waschen müssen. Schau doch meinen Vater an; er hat in seinem ganzen Leben nie gebadet und ist dabei doch achtundneunzig Jahre alt geworden, der gesündeste Mann Bulgariens. Ich habe ja nichts dagegen, mich einmal in der Woche ordentlich zu waschen, um meiner Stellung genüge zu tun—aber jeden Tag, das heißt doch, die Sache in lächerlicher Weise übertreiben.

Katharina: Im Herzen bist du noch immer ein Barbar, mein lieber Paul. Ich hoffe, du hast dich vor all den russischen Offizieren gut benommen.

Petkoff: Ich tat, was ich konnte, und habe auch dafür gesorgt, daß sie erfuhren, daß wir eine Bibliothek haben!

Katharina: Ah—aber daß wir auch eine elektrische Klingel darin haben, das wissen sie nicht! Ich habe in deiner Abwesenheit eine anbringen lassen.

Petkoff: Was ist das, eine elektrische Klingel?

Katharina: Du berührst einen Knopf, es klingelt in der Küche, und dann kommt Nicola herein.

Petkoff: Man kann ja nach ihm schreien!

Katharina: Zivilisierte Leute schreien nie nach ihren Dienstboten; ich habe das gelernt, während du fort warst.

Petkoff: Nun, ich will dir auch sagen, was ich gelernt habe. Zivilisierte Leute hängen ihre Wäsche nicht so zum Trocknen auf, daß jeder Besucher sie sehen kann. Es wäre deshalb besser, du würdest all das Zeug [er zeigt auf die Wäsche an den Büschen,] irgendwo anders hinhängen.

Katharina: Aber das ist doch lächerlich, Paul; ich kann mir nicht denken, daß wirklich feine Leute solche Dinge überhaupt bemerken. [Man hört jemanden an das Hoftor klopfen.]

Petkoff: Das ist Sergius. [Ruft]: Holla! Nicola!

Katharina: Rufe doch nicht so laut, Paul. Das ist wirklich nicht fein!

Petkoff: Unsinn. [Er ruft lauter als vorher:] Nicola!

Nicola [erscheint vor der Haustür]: Zu Befehl, gnädiger Herr.

Petkoff: Wenn das Major Saranoff ist, führe ihn hierher. [Er spricht den Namen mit einer Dehnung auf der zweiten Silbe aus: "Sarahnoff".]

Nicola: Sehr wohl, gnädiger Herr! [Er geht nach dem Stallhofe zu.]

Petkoff: Unterhalte du ihn, Teuerste, bis Raina ihn uns entzieht. Er quält mich sonst wieder mit Vorwurfen weil wir ihn nicht befördert haben—über meinen Kopf hinweg, bitte!

Katharina: Gewiß. Er sollte auch gewiß befördert werden, wenn er Raina heiratet. Überdies sollte das Land darauf bestehen, wenigstens einen eingeborenen General zu bekommen.

Petkoff: Jawohl, damit er statt Regimenter ganze Brigaden zugrunde richten könnte. Gib dir keine Mühe, es ist umsonst—er hat nicht die geringste Aussicht auf Beförderung, bevor wir nicht ganz sicher sind, daß der Friede dauernd sein wird.

Nicola [an der Tür anmeldend]: Major Sergius Saranoff. [Er geht in das Haus hinein und kommt gleich darauf mit einem dritten Stuhl heraus, den er an den Tisch setzt, dann zieht er sich zurück.]

[Major Sergius Saranoff, das Original des Bildes in Rainas Schlafzimmer, ist ein großer, romantisch schöner Mann, von der Verwegenheit, dem hohen Mut und der leicht erregbaren Phantasie eines Häuptlings wilder Bergbewohner, aber seine auffallende persönliche Vornehmheit ist von charakteristisch zivilisierter Art; seine Augenbrauen winden sich widderhornartig um die vorspringenden Stirnknochen und reichen bis in die Schläfen. Seine eifersüchtig beobachtenden Augen, seine dünne spitze Nase—furchtsam trotz der breiten Nasenflügel und des streitsüchtigen hohen Rückens—sein energisches Kinn würden ganz gut in einen Pariser Salon passen, und sie beweisen, daß der gescheite, phantasiereiche Barbar scharfe kritische Fähigkeiten besitzt, die sich infolge des Eindringens der westlichen Zivilisation in den Balkan sehr merklich entwickelt hat. Das Resultat ist ganz ähnlich demjenigen, welches das Aufkommen der Gedanken des 19. Jahrhunderts in England entstehen ließ, nämlich "Byronismus". Durch das Grübeln über die dauernde Erfolglosigkeit nicht nur anderer, sondern auch seiner selbst, seinen Idealen nachzuleben—durch seine beharrliche zynische Verachtung der Menschheit, durch den geistlosen Glauben an den unbedingten Wert seiner eigenen Entwürfe und die Unwürdigkeit der Welt, die sie mißachtet, durch die Empfindlichkeit und den Spott, den jede unter Menschen verbrachte Stunde durch den Stachel kleinlicher Enttäuschungen seiner nervösen Aufmerksamkeit verursacht, hat er die halb ironische, halb tragische Art angenommen, die mysteriöse Traurigkeit, die Suggestion einer seltsamen und schrecklichen Geschichte, die ihm nichts als ewige Reue hinterlassen hat, all das, wodurch Childe Harold die Großmütter seiner englischen Zeitgenossen bezauberte. Es ist klar, daß dieser oder keiner Rainas Held sein muß. Katharina ist für ihn kaum weniger begeistert als ihre Tochter, und viel weniger zurückhaltend, ihm ihre Gefühle zu zeigen. Als er durch das Hoftor hereinkommt, erhebt sie sich überschwenglich, um ihn zu begrüßen. Petkoff ist sichtlich weniger aufgelegt, viel aus ihm zu machen.]

Petkoff: Schon hier, Sergius? Freut mich, dich wieder zu sehen. Katharina: Mein teuerer Sergius! [Sie streckt ihm beide Hände entgegen.]

Sergius [küßt diese mit skrupulöser Galanterie]: Verehrte
Mutter—wenn ich Sie so nennen darf?

Petkoff [trocken]: Schwiegermutter, Sergius! Schwiegermutter! Nimm
Platz und bediene dich mit Kaffee.

Sergius: Danke schön, keinen Kaffee für mich. [Er entfernt sich vom
Tische mit einer gewissen verachtungsvollen Bewegung über Petkoffs
Genuß am Kaffeetrinken und stellt sich mit bewußter Würde gegen das
Geländer der Treppe, die zum Hause führt.]

Katharina: Sie sehen prächtig aus, vorzüglich! Der Feldzug ist Ihnen gut bekommen. Hier ist alles ganz begeistert für Sie. Wir waren alle außer uns vor Enthusiasmus über Ihre prachtvolle Kavallerieattacke. Sergius [mit bitterer Ironie]: Sie war die Wiege und das Grab meines militärischen Rufes, gnädige Frau!

Katharina: Wieso?

Sergius: Ich gewann die Schlacht auf falsche Weise, während unsere verdienten russischen Generale sie auf die richtige Art verloren. Das warf ihre Pläne über den Haufen und verletzte ihre Eitelkeit. Zwei ihrer Obristen wurden mit ihren Regimentern zurückgeschlagen, aber auf Grund korrekter, wissenschaftlicher Kriegführung. Zwei Generalmajore wurden dabei sogar genau nach militärischer Vorschrift getötet. Jene zwei Obristen sind jetzt Generale, und ich bin noch immer ein einfacher Major.

Katharina: Das werden Sie nicht bleiben, Sergius; Sie haben die
Frauen auf Ihrer Seite, und die werden schon dafür sorgen, daß Ihnen
Gerechtigkeit widerfährt.

Sergius: Es ist zu spät; ich habe nur auf den Frieden gewartet, um mein Abschiedsgesuch einzureichen.

Petkoff [läßt die Tasse vor Erstaunen fallen]: Dein Abschiedsgesuch?
Katharina: Oh, Sie müssen es zurückziehen.

Sergius [mit entschiedener maßvoller Betonung, seine Arme kreuzend]:
Ich ziehe niemals zurück.

Petkoff [geärgert]: Nein, wer konnte denken, daß du dir so etwas einfallen lassen würdest!

Sergius [feurig]: Jeder, der mich kannte!—Doch genug von mir und meinen Angelegenheiten! Wie geht es Raina und wo ist sie?

Raina [tritt plötzlich um die Ecke aus dem Hause heraus und wird auf der obersten Stufe bemerkbar]: Da ist Raina! [Sie sieht reizend aus, und alle wenden sich nach ihr um. Sie trägt ein Unterkleid aus blaßgrüner Seide, das mit einem goldgestickten dünnen ekrüfarbenen Überwurf bedeckt ist. Auf dem Kopfe trägt sie eine hübsche phrygische goldverbrämte Mütze.—Sergius geht ihr mit einem Freudenruf lebhaft entgegen; sie streckt ihre Hand nach ihm aus, die er, sich ritterlich auf ein Knie niederlassend, küßt.]

Petkoff [zu Katharina, strahlend vor väterlichem Stolz]: Schön ist sie, nicht wahr? Sie erscheint immer im richtigen Augenblick.

Katharina [ungeduldig]: Ja, sie horcht deswegen, es ist eine abscheuliche Gewohnheit. [Sergius führt Raina nach vorne mit außerordentlicher Galanterie, als ob sie eine Königin wäre. Als sie an den Tisch kommen, wendet sie sich mit einer Neigung ihres Kopfes zu Sergius, er verbeugt sich und sie gehen auseinander, er zu seinem Platz und sie hinter den Stuhl ihres Vaters.]

Raina [beugt sich nieder und küßt ihren Vater]: Teurer Vater, willkommen zu Hause!

Petkoff [ihre Wangen streichelnd]: Kleiner Liebling! [Er küßt sie, sie tritt an den Stuhl heran, den Nicola für Sergius gebracht hat, und setzt sich.]

Katharina: Also, Sie sind nun nicht mehr Soldat, Sergius?

Sergius: Nein, ich bin nicht mehr Soldat. "Soldat sein", gnädige Frau, das ist die Kunst des Feiglings, erbarmungslos anzugreifen, wenn er die Übermacht hat, und weit vom Schusse zu bleiben, sobald er der Schwächere ist. Trachte, deinen Feind zu übervorteilen, und niemals, in keinem Falle, schlage dich mit ihm unter gleichen Bedingungen—das ist das ganze Geheimnis erfolgreicher Schlachten, was, Major?

Petkoff: Sie ließen uns zu gar keinem ordentlichen Gefechte Mann gegen Mann kommen. Indessen, ich vermute, daß das Kriegshandwerk ein Geschäft sein muß wie jedes andere Geschäft.

Sergius: Das ist es eben, aber mir fehlt der Ehrgeiz, als
Geschäftsmann glänzen zu wollen; deshalb habe ich auch den Rat dieses
Handlungsreisenden von Hauptmann befolgt, der den Austausch der
Gefangenen bei Pirot besorgte, und meinen Beruf aufgegeben.

Petkoff: Was, jenes Schweizers? Ich habe seitdem oft an diesen
Austausch gedacht, Sergius; er hat uns mit den Pferden übervorteilt.

Sergius: Natürlich hat er uns übervorteilt. Sein Vater ist Hotelbesitzer und Lohnfuhrwerker. Er verdankte seine ersten Erfolge seinen Kenntnissen im Pferdehandel. [Mit höhnischem Enthusiasmus]: Ah, das war ein Soldat, jeder Zoll ein Krieger! Wenn ich doch bloß die Pferde für mein Regiment vorteilhaft gekauft hätte, anstatt es töricht der Gefahr entgegenzuführen, ich wäre jetzt Feldmarschall.

Katharina: Ein Schweizer? Was hat der in der serbischen Armee zu schaffen gehabt?

Petkoff: Ein Freiwilliger natürlich, darauf erpicht, seinen Beruf auszuüben. [Lachend]: Wir wären nicht imstande gewesen zu kämpfen, wenn diese Fremden uns nicht gezeigt hätten, wie man es macht. Wir verstanden nichts davon, und die Serben auch nicht. Bei Gott! ohne die Ausländer wäre ein Krieg unmöglich gewesen.

Raina: Sind in der serbischen Armee viele Schweizer Offiziere?

Petkoff: Nein—alles Österreicher, so wie unsere Offiziere alle Russen waren. Das war der einzige Schweizer, dem ich begegnet bin. Ich werde nie wieder einem Schweizer vertrauen; er hat uns betrogen, beschwindelt, so daß wir ihm fünfzig gesunde Männer für zweihundert verdammte abgetriebene Pferde gegeben haben. Sie waren nicht einmal eßbar.

Sergius: Wir waren wie zwei Kinder in den Händen dieses erprobten
Soldaten, Major. Ganz einfach zwei unschuldige kleine Kinder.

Raina: Wie sah er aus?

Katharina: Aber, Raina, was für eine dumme Frage!

Sergius: Er sah aus wie ein Handlungsreisender in Uniform, Bourgeois vom Scheitel bis zur Sohle.

Petkoff [grinsend]: Sergius, erzähle die merkwürdige Geschichte, die sein Freund uns von ihm erzählte.—Wie er nach der Schlacht bei Slivnitza entkommen ist—erinnerst du dich? Zwei Frauen sollen ihn versteckt haben.

Sergius [mit bitterer Ironie]: Ja, ja, das ist ein ganzer Roman. Er diente in derselben Batterie, die ich so berufswidrig angegriffen habe. Da er ein ganzer Soldat ist, so lief er wie die übrigen davon, unsere Kavallerie auf den Fersen. Um ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen, hatte er den geschmackvollen Einfall, sich in das Zimmer irgend einer patriotischen jungen bulgarischen Dame zu flüchten. Die junge Dame war entzückt von den gewinnenden Manieren dieses verkleideten Handlungsreisenden und unterhielt ihn sehr züchtig ungefähr eine Stunde lang und rief dann ihre Mutter dazu, damit ihr Benehmen nicht unmädchenhaft erscheine. Die alte Dame war gleichfalls bezaubert, und der Flüchtling wurde des Morgens, mit einem Rock des im Kriege abwesenden Hausherrn verkleidet, freundlichst entlassen.

Raina [erhebt sich mit großer Würde]: Ihr Lagerleben hat Sie verroht,
Sergius. Ich hätte nie gedacht, daß Sie es wagen würden, eine solche
Geschichte in meiner Gegenwart zu erzählen. [Sie wendet sich kalt ab.]

Katharina [sich gleichfalls erhebend]: Raina hat recht, Sergius. Wenn es solche Frauen gibt, uns sollte es erspart bleiben, von ihnen zu hören.

Petkoff: Bah, Unsinn! Was ist weiter dabei?

Sergius [beschämt]: Nein, Petkoff, ich war im Unrecht. [Zu Raina, mit ernsthafter Demut]: Verzeihen Sie mir, ich habe mich abscheulich benommen—verzeihen Sie, Raina. [Sie verneigt sich zurückhaltend]: Und auch Sie, gnädige Frau. [Katharina verneigt sich liebenswürdig und setzt sich. Er fährt feierlich fort, sich abermals zu Raina wendend]: Ich habe die Schattenseiten des Lebens während der letzten paar Monate kennen gelernt; da kann man weiß Gott zynisch werden, aber ich hätte meinen Zynismus nicht hierher mitbringen sollen, am wenigsten in Ihre Gesellschaft, Raina—[Dabei wendet er sich zu den anderen und ist sichtlich im Begriff, eine lange Rede vom Stapel zu lassen, als der Major ihn unterbricht.]

Petkoff: Dummes Zeug! Unsinn, Sergius! Es ist gerade genug Aufhebens für nichts und wieder nichts. Ein Soldatenkind sollte imstande sein, selbst etwas starke Unterhaltung zu vertragen, ohne mit der Wimper zu zucken. [Er erhebt sich]: Komm, es ist Zeit, daß wir an unser Geschäft gehen. Wir müssen bestimmen, wie jene drei Regimenter nach Philippopel zurückgelangen sollen. Auf der Route nach Sofia fehlt jede Verpflegungsmöglichkeit. [Er geht auf das Haus zu]: Gehen wir. [Sergius ist im Begriff ihm zu folgen, da erhebt sich Katharina und greift ein.]

Katharina: Ich bitte dich, Paul, kannst du Sergius nicht noch für
einige Augenblicke entbehren? Raina hat ihn ja kaum gesehen.
Vielleicht kann ich dir dabei behilflich sein, die Sache mit den
Regimentern ins reine zu bringen.

Sergius [protestierend]: Meine verehrte Gnädige, das ist unmöglich, Sie-Katharina [hält ihn tändelnd zurück]: Sie bleiben hier, mein lieber Sergius. Es hat gar keine Eile; ich habe meinem Mann auch ein paar Worte zu sagen. [Sergius verneigt sich sofort und tritt zurück]: Nun, mein Lieber,

[Petkoffs Arm nehmend:] komm und sieh dir einmal die elektrische
Klingel an.

Petkoff: Oh, sehr gerne, sehr gerne. [Sie gehen zusammen vertraulich in das Haus.]

[Sergius, mit Raina allein geblieben, blickt aus Furcht, daß sie noch beleidigt sei, verlegen auf sie; sie lächelt und streckt die Arme nach ihm aus.]

Sergius [eilt zu ihr]: Ist mir verziehen?

Raina [legt ihre Hände auf seine Schultern und sieht mit Bewunderung und Anbetung zu ihm auf]: Mein Held, mein König!

Sergius: Meine Königin! [Er küßt sie auf die Stirne.]

Raina: Wie ich Sie beneidet habe, Sergius! Sie waren draußen im Leben und auf dem Schlachtfelde in der Lage, sich der besten Frau auf Erden wert zu zeigen, während ich untätig zu Hause sitzen mußte, nutzlos träumend—ohne etwas zu vollbringen, das mir ein Recht geben könnte, mich irgendeines Mannes wert zu halten.

Sergius: Teuerste, alle meine Taten gehören Ihnen, Sie haben mich begeistert! Ich bin in den Krieg gezogen, wie ein Ritter zu einem Turnier zu Ehren seiner Dame.

Raina: Auch meine Gedanken haben Sie keinen Augenblick verlassen. [Sehr feierlich]: Sergius, ich glaube, wir beide haben die ideale Liebe gefunden. Wenn ich an Sie denke, dann fühle ich, daß ich niemals einer gemeinen Handlungsweise oder eines niedrigen Gedankens fähig sein könnte.

Sergius: Meine Königin, meine Heilige! [Er umarmt sie verehrungsvoll.]

Raina [seine Umarmung erwidernd]: Mein Herr und mein,,,

Sergius: Still! Lassen Sie mich Anbeter sein, Teuerste; Sie wissen ja gar nicht, wie unwert selbst der beste Mann der reinen Leidenschaft eines Mädchens ist.

Raina: Ich vertraue Ihnen und liebe Sie, Sergius, Sie werden mich nie enttäuschen. [Aus dem Hause heraus dringt Loukas Gesang; sie gehen rasch auseinander]: Ich könnte es nicht über mich bringen, jetzt gleichgültige Dinge zu sprechen, mein Herz ist zu voll. [Louka tritt aus dem Hause mit ihrem Servierbrett, geht an den Tisch und fängt an, ihn abzuräumen. Sie steht mit dem Rücken gegen das Paar]: Ich will nur meinen Hut holen, dann können wir bis zum Mittagessen ausgehen. Ist Ihnen das recht?

Sergius: Bitte, machen Sie schnell. Die Minuten des Wartens werden mir Stunden sein. [Raina läuft bis zur obersten Stufe der Stiege und wendet sich dort um, tauscht beredte Blicke mit Sergius und wirft ihm mit beiden Händen Küsse zu. Einen Augenblick sieht er ergriffen nach ihr hin, dann wendet er sich langsam ab; sein Gesicht glüht in erhabenster Begeisterung. Die Wendung ändert sein Gesichtsfeld, in dessen Winkel jetzt Loukas Schürzenzipfel auftaucht. Seine Aufmerksamkeit wird sofort gefesselt. Er sieht sie verstohlen an und beginnt, seinen Schnurrbart mutwillig zu drehen. Die linke Hand stemmt er in die Seite und geht mit einem Anflug seines großtuerischen Reiterschritts auf die andere Seite des Tisches Louka gegenüber.]

Sergius: Louka, wissen Sie, was ideale Liebe ist?

Louka [verwundert]: Nein, Herr Major.

Sergius: Eine für die Dauer sehr ermüdende Sache, Louka, und man hat hinterher das Bedürfnis, davon auszuruhen.

Louka [unschuldig]: Vielleicht nehmen Sie etwas Kaffee, Herr Major?
[Sie langt mit der Hand über den Tisch nach der Kaffeekanne.]

Sergius [ihre Hand ergreifend]: Ich danke Ihnen, Louka.

Louka [als ob sie die Hand zurückziehen wollte]: Oh, Herr Major, Sie wissen ganz gut, daß ich es nicht so gemeint habe. Ich staune über Sie.

Sergius [verläßt den Tisch und zieht sie mit sich fort]: Ich staune über mich selbst, Louka. Was würde Sergius, der Held von Slivnitza, dazu sagen, wenn er mich jetzt sehen könnte—was würde Sergius, der Apostel der idealen Liebe, dazu sagen, wenn er mich jetzt sehen könnte—was würden ein halbes Dutzend Sergiusse sagen, die in meiner schönen Gestalt ein und aus gehen, wenn sie uns jetzt hier erwischten? [Er läßt ihre Hand fahren und faßt sie geschickt mit einem Arm um die Hüften.] Finden Sie mich hübsch gewachsen, Louka?

Louka: Lassen Sie mich los, Sie bringen sonst schlechten Ruf über mich. [Sie wehrt sich; er halt sie unerbittlich fest]: Au, wollen Sie mich loslassen?

Sergius [ihr dicht in die Augen blickend]: Nein!

Louka: Dann treten Sie wenigstens etwas zurück, damit man uns nicht sieht. Wo haben Sie denn Ihren gesunden Menschenverstand gelassen? Sergius: Ah, das ist wahr, Sie haben wirklich recht. [Er führt sie unter das Hoftor, wo sie vom Haus aus nicht gesehen werden können.] Louka [klagend]: Man kann mich von den Fenstern aus gesehen haben—Fräulein Raina spioniert sicher hinter Ihnen her.

Sergius [gekränkt, läßt sie los]: Nehmen Sie sich in acht, Louka, ich mag unwürdig genug sein, die Forderungen der idealen Liebe außer acht zu lassen, aber beleidigen dürfen Sie diese Liebe nicht!

Louka [mit Verstellung]: Nicht um die Welt, Herr Major! Ich schwör' es Ihnen. Kann ich jetzt wieder an die Arbeit gehen?

Sergius [sie abermals umschlingend]: Sie sind eine verführerische kleine Hexe, Louka. Wenn Sie in mich verliebt wären, würden Sie mich ausspionieren?

Louka: Ja, sehen Sie, Herr Major, da Sie sagen, daß in Ihnen gleichzeitig ein halbes Dutzend verschiedener Herren ein und aus gehen, so hätte ich wohl viel zu tun.

Sergius [entzückt]: Sie sind ebenso geistreich wie hübsch. [Versucht, sie zu küssen.]

Louka [ihm ausweichend]: Nein, ich brauche Ihre Küsse nicht, die
Herrenleute sind doch alle gleich. Sie liebäugeln mit mir hinter
Fräulein Rainas Rücken, und Fräulein Raina tut dasselbe hinter Ihrem
Rücken.

Sergius [einen Schritt zurückweichend]: Louka!!

Louka: Das beweist, wie wenig euch eigentlich aneinander liegt.

Sergius [seine Freundlichkeit aufgebend, mit eisiger Höflichkeit]: Wenn unser Gespräch fortgesetzt werden soll, Louka, werden Sie gut tun, zu bedenken, daß ein Edelmann das Benehmen der Dame, mit der er verlobt ist, nicht mit ihrer Kammerzofe bespricht.

Louka: Es ist schwer zu beurteilen, was ein Edelmann für richtig hält; ich dachte, da Sie versuchten, mich zu küssen, Sie hätten aufgegeben, alles gar so genau zu nehmen.

Sergius [wendet sich von ihr ab und schlägt sich auf die Stirne, während er von der Einfahrt zurück in den Garten kommt]: Teufel, Teufel!

Louka: Ha, ha, mir scheint, einer von den sechsen in Ihnen hat sehr
viel Ähnlichkeit mit mir, Herr Major, obwohl ich nur Fräulein Rainas
Zofe bin. [Sie geht zurück an den Tisch zu ihrer Arbeit, ohne weiter
Notiz von ihm zu nehmen.]

Sergius [zu sich selbst sprechend]: Welcher von den sechsen ist der richtige? das ist die große Frage, die mich quält. Der eine ist ein Held, der andere ein Narr, der dritte ein Schwindler, der vierte vielleicht sogar ein Lump. [Er hält inne und sieht flüchtig zu Louka hin, während er mit tiefer Bitterkeit hinzufügt]: Und einer wenigstens ist ein Feigling—eifersüchtig wie alle Feiglinge. [Er geht an den Tisch.] Louka!

Louka: Ja!

Sergius: Wer ist mein Nebenbuhler?

Louka: Das werden Sie aus mir nie herausbekommen, weder für Liebe noch für Geld.

Sergius: Warum nicht?

Louka: Es ist gleichgültig, warum. Überdies würden Sie erzählen, daß ich es Ihnen gesagt habe, und ich würde meine Stelle verlieren. Sergius [streckt seine rechte Hand beschwörend aus]: Nein, bei der Ehre eines—[er unterbricht sich und seine Hand fällt kraftlos herab, während er sardonisch fortfährt]: eines Menschen, der fähig ist, sich zu benehmen, wie ich mich in den letzten fünf Minuten benommen habe—wer ist es?

Louka: Ich weiß es nicht, ich habe ihn nie gesehen, ich habe nur seine Stimme durch die Tür von Fräulein Rainas Zimmer gehört.

Sergius: Tod und Teufel! wie können Sie es wagen…?

Louka [zurückweichend]: Oh, ich meine nichts Schlimmes. Was berechtigt Sie, meine Worte so aufzufassen? Die gnädige Frau weiß alles, und ich sage Ihnen bloß: wenn dieser Herr jemals wieder hierherkommen sollte, so wird ihn Fräulein Raina heiraten, ob er nun wollen wird oder nicht. Ich kenne den Unterschied zwischen der Art, wie Sie und das gnädige Fräulein sich miteinander gehaben, und der richtigen Art. [Sergius fährt zusammen, als wenn sie ihn gestochen hätte. Dann runzelt er die Stirne, geht finster auf sie zu und erfaßt ihre Arme oberhalb der Ellbogen mit beiden Händen.]

Sergius: Jetzt passen Sie einmal auf!

Louka [zusammenzuckend]: Nicht so fest, Sie tun mir weh!

Sergius: Das schadet nichts. Sie haben meine Ehre angegriffen, indem
Sie mich zum Mitwisser Ihrer Spionage machten, und Sie haben Ihre
Herrin verraten.

Louka [sich windend]: Bitte!

Sergius: Das zeigt, daß Sie ein erbärmlicher, kleiner Klumpen Schmutz mit einer Bedientenseele sind. [Er läßt sie los, als ob sie ein unreines Ding wäre, und macht eine Bewegung, als ob er seine Hand von ihrer Berührung reinigte. Dann geht er nach der Bank an der Mauer, wo er sich niedersetzt, mit schwerem Kopfe, düster vor sich hinblickend.]

Louka [wimmert ärgerlich, mit der Hand auf dem Ärmel, und befühlt ihren schmerzenden Arm]: Sie verstehen es ebensogut, mit Ihrer Zunge zu verletzen, wie mit Ihren Händen! Aber jetzt liegt mir nichts mehr daran! Aus was für Schmutz ich auch sein mag, ich weiß, Sie sind aus demselben. Und was Ihre Braut betrifft, so ist sie eine Lügnerin, und ihre schönen Manieren sind Betrug; und ich bin mehr wert als sechs solche. [Sie verbeißt ihren Schmerz; wirft den Kopf zurück und geht an die Arbeit, den Tisch abzuräumen. Er sieht sie ein- bis zweimal zweifelnd an. Sie hat das Servierbrett vollgepackt und legt das Tischtuch an den Enden zusammen, um alles auf einmal hinauszutragen. Als sie sich bückt, um das Brett aufzuheben, steht Sergius auf.]

Sergius: Louka! [Sie bleibt stehen und sieht ihn trotzig an]: Ein
Edelmann hat nicht das Recht, einer Frau unter irgendwelchen
Umständen weh zu tun. [Mit tiefer Demut seinen Kopf entblößend]:
Verzeihen Sie mir.

Louka: Diese Art von Entschuldigung mag einer Dame genügen. Was soll sie einem Dienstboten?

Sergius [in seiner Vornehmheit sehr verletzt, lacht bitter auf, läßt sie fallen und sagt geringschätzig]: Oh, Sie wünschen bezahlt zu werden für Ihren Schmerz? [Er setzt seinen Tschako auf und nimmt etwas Geld aus der Tasche.]

Louka [gegen ihren Willen mit Tränen in den Augen]: Nein, ich wünsche, daß mein Schmerz gutgemacht werde.

Sergius [durch ihren Ton ernüchtert]: Wie? [Sie streift ihren linken Ärmel hinauf, umfaßt ihren Arm mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und sieht herab auf den blauen Fleck; dann hebt sie den Kopf in die Höhe und blickt Sergius fest an, endlich mit einer prachtvollen Bewegung hält sie ihm den Arm zum Kusse bin; erstaunt sieht er bald sie, bald ihren Arm an, zögert und ruft dann mit vibrierendem Nachdruck aus]: Niemals! [und geht soweit wie möglich fort von ihr. Der Arm fällt herab. Ohne ein Wort und mit nicht gespielter Würde nimmt Louka ihr Servierbrett und nähert sich dem Hause, aus dem Raina eben hervortritt, mit einer Jacke und einem Hut bekleidet, ganz nach der Wiener Mode des vergangenen Jahres, 1885. Louka weicht ihr stolz aus und geht dann in das Haus hinein.]

Raina: Ich bin bereit. Was ist los? [Lustig]: Haben Sie am Ende gar mit Louka geflirtet?

Sergius [rasch]: Nein, nein, wie können Sie nur so etwas denken! Raina [beschämt]: Verzeihen Sie, mein Lieber, es war nur ein Scherz; ich bin heute so glücklich. [Er geht rasch auf sie zu und küßt ihr reumütig die Hand. Katharina erscheint auf der obersten Stufe der aus dem Hause führenden Treppe und ruft nach ihnen.]

Katharina [zu ihnen hinunterkommend]: Ich bedaure, euch stören zu müssen, Kinder, aber mein Mann ist in Verzweiflung über jene drei Regimenter; er weiß nicht, wie er sie nach Philippopel befördern soll, und er widerspricht jedem meiner Vorschläge. Sie müssen kommen und ihm helfen, Sergius; er ist in der Bibliothek.

Raina [enttäuscht]: Aber wir wollen eben spazierengehen.

Sergius: Es wird nicht lange dauern, bitte, warten Sie auf mich genau fünf Minuten. [Er läuft die Treppe zur Tür hinauf.]

Raina [folgt ihm bis an den Fuß der Treppe und blickt ihm mit schüchterner Koketterie nach]: Ich werde unter den Fenstern der Bibliothek auf und ab gehen, so daß man mich sehen kann, und warten. Sie müssen Vaters Aufmerksamkeit auf mich lenken. Wenn Sie aber eine Sekunde länger als fünf Minuten ausbleiben, dann werde ich hineinkommen und Sie holen—Regimenter hin, Regimenter her!

Sergius [lachend:] Abgemacht! [Er geht hinein, Raina folgt ihm mit den Augen, bis er verschwunden ist; dann geht sie mit sichtlich abgespanntem Wesen im Garten auf und ab, in düsteres Sinnen verloren.]

Katharina: Was sagst du dazu, daß sie gerade diesem Schweizer begegnen mußten und nun die ganze Geschichte wissen! Das allererste, wonach dein Vater verlangt hat, war der alte Rock, in dem wir diesen Menschen fortgeschickt haben. Du hast uns da eine schöne Suppe eingebrockt!

Raina [blickt im Gehen gedankenvoll auf den Kies]: Das kleine
Ungeheuer!

Katharina: Kleines Ungeheuer! wer ist ein kleines Ungeheuer?

Raina: Hinzugehen und alles zu erzählen,,, oh, wenn ich ihn bloß hier hätte, ich würde ihm den Mund mit Schokolade so vollstopfen, daß er nie wieder reden könnte.

Katharina: Sprich nicht solchen Unsinn, Raina. Sag' mir lieber die Wahrheit: Wie lange war er schon in deinem Zimmer, als du zu mir gekommen bist?

Raina [kehrt schnell um und setzt ihren Marsch in der entgegengesetzten Richtung fort]: Das habe ich längst vergessen.

Katharina: Das kannst du nicht vergessen haben. Ist er wirklich heraufgeklettert, als die Soldaten fort waren, oder war er schon da, als der Offizier das Zimmer durchsuchte?

Raina: Nein,,, ja,,, Ich glaube, er muß schon dagewesen sein.

Katharina: Du glaubst! O Raina, Raina, wirst du jemals lernen aufrichtig zu sein? Wenn Sergius das erfährt, ist es aus zwischen euch.

Raina [mit kalter Impertinenz]: Oh, ich weiß, Sergius ist dein
Liebling. Manchmal wünschte ich, du könntest ihn heiraten an meiner
Stelle. Du würdest auch vortrefflich zu ihm passen, du würdest ihn
verzärteln und verziehen und aufpäppeln nach Herzenslust.

Katharina [mit weit aufgerissenen Augen]: Meiner Treu, das ist stark!

Raina [kapriziös, halb zu sich selbst]: Mich reizt es immer, ihm etwas anzutun oder etwas zu sagen, was ihn verletzt—und um seine fünf Sinne bringt. [Zu Katharina, störrisch]: Es ist mir ganz einerlei, ob er etwas über den Pralinésoldaten erfährt oder nicht! Halb und halb wünsche ich es sogar. [Sie wendet sich wieder ab und geht leichtfüßig in der Richtung gegen die Ecke des Hauses.]

Katharina: Und was sollte ich deinem Vater sagen?

Raina [über ihre Schulter, oben von der Treppe aus]: Der arme Papa! als ob der sich selbst helfen könnte! [Sie geht um die Ecke und verschwindet.]

Katharina [ihr nachblickend, während es ihr in den Fingern zuckt]: Oh, wenn du nur zehn Jahre jünger wärst! [Louka kommt aus dem Hause und trägt einen Präsentierteller in der herabhängenden Hand.] Was gibt's?

Louka: Ein Herr ist draußen, gnädige Frau, und hat nach Ihnen gefragt—ein serbischer Offizier.

Katharina [außer sich]: Ein Serbe! Und er wagt es,,, [Faßt sich; bitter]: Oh, ich vergaß, wir haben ja Frieden jetzt! Wir werden sie nun wohl jeden Tag empfangen und uns von ihnen den Hof machen lassen müssen. Aber wenn er Offizier ist, warum meldest du ihn nicht dem Herrn—er ist mit dem Major Saranoff in der Bibliothek—, warum kommst du zu mir?

Louka: Weil er nach Ihnen gefragt hat, gnädige Frau. Aber ich glaube nicht, daß er weiß, wer Sie sind. Er sagte: "für die Dame des Hauses" und gab mir dieses kleine Billett. [Sie nimmt eine Karte aus ihrer Bluse, legt sie auf den Präsentierteller und bietet sie Katharinen.]

Katharina [lesend]: Kapitän Bluntschli—das ist ein deutscher Name.

Louka: Ich glaube, ein Schweizer Name, gnädige Frau!

Katharina [mit einem Satz, vor dem Louka eiligst zurückweicht]:
Schweizer! wie sieht er aus?

Louka [schüchtern]: Er trägt eine große Reisetasche, gnädige Frau.

Katharina: Großer Gott! er kommt am Ende, um den Rock zurückzugeben,,,
Schick' ihn fort—schnell! Sag' ihm, daß wir nicht zu Hause sind.
Verlange seine Adresse, und ich werde ihm schreiben,,, Nein, nein,
bleib hier, das geht ja nicht,,, warte,,, [Sie wirft sich in einen
Sessel, um darüber nachzudenken, Louka wartet.] Mein Mann und Major
Saranoff sind in der Bibliothek beschäftigt, nicht wahr?

Louka: Jawohl, gnädige Frau.

Katharina [entschieden]: Führe den Herrn sofort hier heraus!
[Befehlend]: Und daß du sehr höflich mit ihm bist,,, schnell, schnell!
[Ihr ungeduldig den Präsentierteller fortnehmend:] Laß das hier,
geh nur direkt zu ihm!

Louka: Zu Befehl, gnädige Frau. [Geht.]

Katharina: Louka!

Louka [bleibt stehen]: Gnädige Frau?

Katharina: Ist die Tür zur Bibliothek geschlossen?

Louka: Ich glaube, gnädige Frau.

Katharina: Wenn nicht, so schließe sie im Vorübergehen.

Louka: Wie Sie befehlen, gnädige Frau. [Sie geht.]

Katharina: Wart'! [Louka bleibt stehen.] Er wird diesen Weg nehmen müssen,,, [Sie weist auf das Stallhoftor.] Sage Nicola, er soll ihm seine Tasche hierher nachbringen. Vergiß das ja nicht!

Louka [erstaunt]: Seine Tasche?

Katharina: Ja, hierher, so schnell wie möglich. [Heftig]: Beeile dich!

[Louka läuft in das Haus hinein.]

Katharina [reißt ihre Schürze ab und wirft sie hinter einen Busch, dann nimmt sie den Präsentierteller und benützt ihn als Spiegel. Das Resultat ist, daß sie das Tuch, das sie um den Kopf gebunden trägt, der Schürze nachfolgen läßt. Dann bringt sie ihr Haar in Ordnung und zieht ihr Kleid zurecht, um empfangsfähig auszusehen]: Nein, nein, ist das ein Narr, in einem solchen Augenblick hereinzuplatzen!

Louka [erscheint an der Tür und meldet]: "Herr Hauptmann Bluntschli!" [sie steht an der obersten Stufe, um ihn durchzulassen, bevor sie wieder zurücktritt. Es ist tatsächlich der Held des nächtlichen Abenteuers in Rainas Zimmer, jetzt aber sauber und schön abgebürstet, in eleganter Uniform und außer Gefahr; jedoch immerhin zweifellos derselbe Mann. Sobald Louka den Rücken gekehrt hat, wendet sich Katharina heftig und dringend und in beschwörendem Ton an ihn.]

Katharina: Hauptmann Bluntschli, ich freue mich außerordentlich, Sie wiederzusehen, aber Sie müssen dieses Haus sofort verlassen! [Er blickt sie groß an]: Mein Mann ist eben mit meinem zukünftigen Schwiegersohn zurückgekehrt. Noch wissen sie nichts; aber wenn sie etwas erführen, die Folgen wären fürchterlich! Sie sind Ausländer, Sie können unsere nationalen Gehässigkeiten nicht nachfühlen, aber wir hassen die Serben noch immer. So ist beispielsweise bei meinem Manne das einzige Resultat des Friedens, daß er sich wie ein Löwe fühlt, dem man seine sichere Beute entrissen hat. Wenn er unser Geheimnis erführe, er würde mir nie verzeihen, und sogar das Leben meiner Tochter wäre in Gefahr. Wollen Sie, wie es sich für einen Ehrenmann und Soldaten, der Sie sind, geziemt, dieses Haus sofort verlassen, bevor mein Mann Sie hier finden kann?

Bluntschli [enttäuscht, aber gefaßt]: Augenblicklich, gnädige Frau! Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu danken und Ihnen den Rock zurückzustellen, den Sie mir so freundlich geliehen haben. Wenn Sie mir nur gestatten wollten, ihn aus meiner Reisetasche zu nehmen und beim Hinausgehen Ihrem Diener einzuhändigen, so brauchte ich Sie nicht länger zu belästigen. [Er macht kehrt, um in das Haus zurückzugehen.]

Katharina [ihn am Arm fassend]: Oh, Sie dürfen nicht daran denken, auf dem selben Weg zu gehen, wie Sie gekommen sind. [Ihn nach dem Gitter der Stallungen führend]: Das ist der kürzeste Weg ins Freie. Vielen Dank—es freut mich unendlich, daß ich Ihnen dienen konnte—, leben Sie wohl!

Bluntschli: Aber meine Tasche?

Katharina: Sie wird Ihnen nachgeschickt werden, lassen Sie mir Ihre
Adresse da.

Bluntschli: Gut, dann erlauben Sie. [Er zieht seine Visitenkartentasche, nimmt eine Karte heraus und will seine Adresse aufschreiben, während Katharina vor Ungeduld vergeht. Als er ihr eben die Karte einhändigt, kommt Petkoff ohne Hut aus dem Hause gelaufen, in gastfreundlicher Aufregung. Sergius folgt ihm.]

Petkoff [die Treppe herunterlaufend]: Mein lieber Hauptmann
Bluntschli!

Katharina: Himmel! [Sie sinkt neben der Mauer auf einen Stuhl.]

Petkoff [zu sehr beschäftigt, um das zu bemerken, schüttelt Bluntschli herzlich die Hand]: Meine dummen Dienstboten dachten, ich wäre hier draußen, statt—in der Bibliothek. [Er kann die Bibliothek nicht erwähnen, ohne zu verraten, wie stolz er darauf ist.] Ich habe Sie vom Fenster aus gesehen und wunderte mich, daß Sie nicht hereinkamen. Saranoff ist auch hier. Sie erinnern sich doch seiner noch, nicht wahr?

Sergius [grüßt lustig und bietet ihm dann mit großer
Liebenswürdigkeit die Hand]: Willkommen, unser Freund der Feind!

Petkoff: Glücklicherweise nicht länger "der Feind". [Ziemlich ängstlich:] Ich hoffe, Sie kommen nur als Freund und nicht um Pferde oder Gefangene.

Katharina: Oh, nur als Freund, Paul. Ich habe Hauptmann Bluntschli eben zum Mittagessen eingeladen, aber er erklärte, sofort gehen zu müssen.

Sergius [sardonisch]: Unmöglich, Bluntschli—wir brauchen Sie hier sogar sehr dringend. Wir sollen drei Kavallerieregimenter nach Philippopel befördern und haben keine Ahnung, wie das fertigbringen.

Bluntschli [plötzlich aufmerksam und berufsmäßig]: Philippopel; da wird's mit der Verpflegung hapern, nicht wahr?

Petkoff [eifrig]: Ja, das ist es eben. [Zu Sergius]: Wie er die
Sache gleich weg hat!

Bluntschli: Ich glaube, ich kann Ihnen zeigen, wie das zu machen ist.

Sergius: So kommen Sie mit uns, Sie unschätzbarer Mann! [Bluntschli überragend, legt er ihm die Hand auf die Scbulter und führt ihn gegen die Stufen, Petkoff folgt. Als Bluntschli seinen Fuß auf die erste Stufe setzt, tritt Raina aus dem Hause.]

Raina [alle Geistesgegenwart verlierend]: Oh, der Pralinésoldat!
[Bluntschli steht starr, Sergius blickt erstaunt auf Raina, dann auf
Petkoff, der wieder ihn ansieht und dann seine Frau fragend anstarrt.]

Katharina [mit befehlender Geistesgegenwart]: Meine liebe Raina, siehst du nicht, daß wir einen Gast haben? [Vorstellend]: Hauptmann Bluntschli, einer von unsern neuen serbischen Freunden. [Raina verbeugt sich. Bluntschli verbeugt sich.]

Raina: Wie dumm von mir! [Sie geht hinunter in die Mitte der Gruppe zwischen Bluntschli und Petkoff.] Ich habe heute früh ein wunderschönes Schokoladeornament für den Eispudding gemacht, und der dumme Nicola hat eben einen Stoß Teller darauf gesetzt und alles verdorben. [Zu Bluntschli gewendet, liebenswürdig]: Ich hoffe, Sie dachten nicht, daß SIE der Pralinésoldat wären, Hauptmann Bluntschli.

Bluntschli [lachend]: Ich versichere Ihnen, daß ich's dachte. [Ihr einen sonderbaren Blick zuwerfend]: Ihre Erklärung ist eine Erlösung für mich.

Petkoff [argwöhnisch zu Raina]: Seit wann kochst du denn, Raina?

Katharina: Oh, während deiner Abwesenheit ist ihr das eingefallen.
Es ist ihr neuestes Steckenpferd.

Petkoff [mürrisch]: Und hat Nicola zu trinken angefangen? Früher war er ziemlich verläßlich. Jetzt ist er wie umgewandelt. Erst führt er Hauptmann Bluntschli hierher, während er doch ganz gut wußte, daß ich in der—Bibliothek war, dann geht er hin und zerstört Rainas Pralinésoldaten. Er muß…

[Nicola tritt oben auf den Stufen mit einer Reisetasche aus dem Hause heraus, er geht die Stufen hinab, stellt die Tasche ehrerbietig vor Bluntschli auf die Erde und wartet auf weitere Befehle. Allgemeines Erstaunen. Ahnungslos, was für eine Wirkung er hervorgerufen, sieht Nicola sehr zufrieden mit sich aus. Als Petkoff seine Sprache wiedererlangt, bricht er los.]

Petkoff: Bist du verrückt geworden, Nicola?

Nicola [erschrocken]: Gnädiger Herr…

Petkoff: Wozu bringst du das hierher?

Nicola: Auf Befehl der gnädigen Frau, Herr Major, Louka sagte mir, daß-Katharina [unterbricht ihn]: Auf meinen Befehl? Warum sollte ich dir befohlen haben, Hauptmann Bluntschlis Gepäck hier herauszubringen? Was fällt dir denn ein, Nicola?

Nicola [bleibt einen Augenblick unschlüssig, dann hebt er das Gepäck auf und wendet sich zu Bluntschli mit vollendeter, unterwürfiger Diskretion]: Ich bitte tausendmal um Vergebung. [Zu Katharina]: Es ist meine Schuld, gnädige Frau, ich bitte Sie, es mir nicht anzurechnen. [Er verbeugt sich und geht mit dem Gepäck gegen das Haus zu, als Petkoff ihm wütend nachruft.]

Petkoff: Vielleicht wirfst du jetzt auch noch diese Tasche auf Fräulein Rainas Eispudding! [Das ist zuviel für Nicola, die Tasche fällt ihm aus der Hand.] Aus meinen Augen, du ungeschickter Esel, du!

Nicola [reißt das Gepäck an sich und flieht in das Haus hinein]: Sehr wohl, gnädiger Herr!

Katharina: So beruhige dich doch, Paul, sei nicht so aufgebracht!

Petkoff [brummend]: Der Schuft ist in meiner Abwesenheit außer Rand und Band geraten. Ich werde ihn schon lehren…[Er erinnert sich seines Gastes.] Ach, entschuldigen Sie! Kommen Sie, Bluntschli, und sprechen Sie nicht mehr vom Fortgehen. Sie wissen ganz gut, daß Sie nicht sofort in die Schweiz zurückkehren, Sie können also vorerst getrost bei uns bleiben.

Raina: Ach ja! Bitte, bleiben Sie, Hauptmann Bluntschli.

Petkoff [zu Katharina]: Hauptmann Bluntschli zögert am Ende noch, weil er glaubt, daß du sein Bleiben nicht wünschest? Bitte du ihn, und er wird nachgeben.

Katharina: Aber selbstverständlich! Ich werde mich glücklich schätzen, wenn Hauptmann Bluntschli wirklich bleiben will. [Ihn mit Blicken beschwörend]: Er kennt meine Wünsche.

Bluntschli [in seiner trockensten militärischen Art]: Ganz wie Sie befehlen, gnädige Frau.

Sergius [freundschaftlich]: Und damit abgemacht!

Petkoff [herzlich]: Abgemacht!

Raina: Sie sehen, daß Sie bleiben MÜSSEN!

Bluntschli [lächelnd]: Nun, wenn ich muß, dann muß ich wohl.
[Gebärde der Verzweiflung von Katharina.]

[Vorhang]

DRITTER AKT

[Nach dem Mittagessen in der Bibliothek.—Nicht viel darin berechtigt zu dieser Bezeichnung. Die literarische Einrichtung dieses Raumes besteht bloß aus einem einzigen Bücherbrett, das mit alten ungebundenen, zerrissenen, kaffeebefleckten und mit Daumenabdrücken versehenen Romanen angefüllt ist. Ferner ein paar hängende Wandetageren mit einigen Geschenkbänden. Die andern Wände sind mit Jagd- und Kriegstrophäen bedeckt, es ist im übrigen ein äußerst behagliches Wohnzimmer. Eine Front von drei breiten Fenstern gestattet den Ausblick auf ein Bergpanorama, das man eben in sehr freundlichem, mildem Nachmittagslichte bewundern kann. In der Ecke neben dem rechtseitigen Fenster verspricht ein viereckiger Kachelofen, ein wahrer Turm farbiger Kacheln bis fast zur Zimmerdecke, behagliche Wärme. Die Ottomane in der Mitte ist rund, mit gestickten Kissen bedeckt, und in den Fensternischen stehen gut gepolsterte kleine Diwane. Kleine türkische Tische—auf einem liegt eine gutgearbeitete Wasserpfeife—und ein sie verbindender Wandschirm vervollständigen den angenehmen Eindruck der Einrichtung. Nur ein Möbelstück ist da, das gar nicht in den Rahmen des Zimmers paßt,—das ist ein kleiner, sehr abgenützter, in einen Schreibtisch umgewandelter Küchentisch. Eine alte, mit Federn gefüllte Blechbüchse, ein mit Tinte gefüllter Eierbecher und ein elender Fetzen ganz verbrauchten rosaroten Löschpapiers liegen darauf. An diesem Tische, der dem linksseitigen Fenster gegenübersteht, sitzt Bluntschli, in Arbeit vertieft. Er hat ein paar Landkarten vor sich und schreibt Befehle aus. An der Schmalseite sitzt Sergius, der auch so tut als ob er beschäftigt wäre, der aber eigentlich nur an seinem Federhalter kaut. Er beobachtet Bluntschlis raschen, sicheren, berufsmäßigen Fortschritt bei der Arbeit mit einer Mischung von neidischer Erregung in Anbetracht seiner eigenen Unfähigkeit, und ehrfürchtigem Erstaunen über eine Geschicklichkeit, die ihm beinahe überirdisch erscheint, obgleich der prosaische Charakter der Arbeit ihm verbietet, sie zu achten. Major Petkoff lehnt behaglich mit einer Zeitung auf der Ottomane, in erreichbarer Nähe steht die Wasserpfeife. Katharina sitzt am Ofen, kehrt der Gesellschaft den Rücken zu und stickt. Raina lehnt in den Kissen des Divans unter dem rechtsseitigen Fenster und blickt träumerisch auf die Balkanlandschaft hinaus, ein vernachlässigter Roman liegt in ihrem Schoße. Die Tür ist auf derselben Seite wie der Ofen, weiter vom Fenster entfernt. Der Knopf der elektrischen Klingel befindet sich zwischen der Tür und dem Ofen.]

Petkoff [blickt von seiner Zeitung auf und beobachtet, wie es auf dem
Tische vorwärts geht]: Sind Sie ganz sicher, daß ich Ihnen in keiner
Weise behilflich sein kann, Bluntschli?

Bluntschli [ohne seine Arbeit zu unterbrechen oder aufzusehen]: Ganz sicher, ich danke. Saranoff und ich, wir werden die Sache schon fertigkriegen.

Sergius [grimmig]: Jawohl, WIR werden die Sache schon fertigkriegen.
Er tiftelt heraus und bestimmt, was zu geschehen hat, schreibt die
Ordres aus, und ich unterschreibe sie, das heißt Arbeitsteilung,
Major. [Bluntschli reicht ihm ein Papier.] Noch eins? Ich danke
Ihnen. [Er breitet den Bogen vor sich aus, setzt seinen Stuhl
sorgfältig davor zurecht und unterschreibt mit der Miene eines Mannes,
der entschlossen eine schwierige und gefahrvolle Tat vollbringt.]
Diese Hand ist mehr an das Schwert gewöhnt als an die Feder.

Petkoff: Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Bluntschli, wahrhaftig, daß Sie sich in dieser Weise ausnützen lassen. Sind Sie GANZ sicher, daß ich gar nichts weiter helfen kann?

Katharina [in leise verwarnendem Ton]: Du könntest aufhören zu unterbrechen, Paul.

Petkoff [fährt auf und blickt zu ihr hinüber]: Was? Wie? Ganz richtig, meine Liebe, ganz richtig. [Er nimmt die Zeitung wieder auf, läßt sie aber sofort fallen.] Ah, du hast keinen Feldzug mitgemacht, Katharina, du ahnst nicht, wie angenehm es uns ist, nach einem guten Mittagessen hier zu sitzen, mit keiner andern Verpflichtung, als es uns wohl sein zu lassen. Etwas fehlt mir allerdings zu meiner vollständigen Behaglichkeit.

Katharina: Und das ist?

Petkoff: Mein alter Rock—ich fühle mich nicht zu Hause in diesem da.
Ich komme mir vor wie bei der Parade.

Katharina: Mein teurer Paul, wie töricht du nur wegen dieses alten Rockes bist. Er muß noch in der blauen Kammer hängen, wo du ihn zurückgelassen hast.

Petkoff: Meine liebe Katharina, ich versichere dir, daß ich dort gesucht habe. Darf ich meinen eigenen Augen glauben oder nicht? [Katharina erhebt sich ruhig und drückt auf die elektrische Klingel neben dem Ofen.] Wozu führst du diese Klingel vor? [Sie sieht ihn majestätisch, an, setzt sich schweigend in ihren Stuhl und nimmt ihre Näharbeit wieder auf.] Meine Liebe, wenn du glaubst, daß der Eigensinn einer Frau aus zwei alten Schlafröcken Rainas, aus deinem Regenmantel und meinem Mantel einen Rock machen kann, dann irrst du ganz gewaltig, und DAS ist zu dieser Stunde einzig und allein der Inhalt der blauen Kammer! [Nicola erscheint auf der Schwelle.]

Katharina [ganz ruhig, trotz Petkoffs Ausfall]: Nicola! geh in die blaue Kammer und bringe deines Herrn alten Rock hierher, den mit Borten besetzten, den er gewöhnlich im Hause trägt.

Nicola: Zu Befehl, gnädige Frau.

Petkoff: Katharina!

Katharina: Ja, Paul.

Petkoff: Ich wette mit dir um jeden Schmuck, den du in Sofia bestellen willst, gegen das Haushaltungsgeld einer Woche, daß der Rock nicht in der blauen Kammer ist.

Katharina: Abgemacht, Paul!

Petkoff [aufgeregt durch die Aussicht auf eine Wette]: Kommt, es gibt hier einen Sport. Wer will noch darauf wetten? Bluntschli, ich halte Ihnen sechs gegen eins.

Bluntschli [gelassen]: Das hieße Sie ausrauben, Major. Die gnädige Frau hat sicher recht. [Ohne aufzusehen reicht er Sergius abermals einen Stoß Papiere.]

Sergius [gleichfalls aufgeregt]: Bravo, Schweiz! Major, ich wette mein bestes Chargenpferd gegen eine arabische Stute für Raina, daß Nicola den Rock in der blauen Kammer findet.

Petkoff [eifrig]: Dein bestes Chargenpferd?

Katharina [ihn rasch unterbrechend]: Sei nicht verrückt, Paul, eine arabische Stute kann dich fünfzigtausend Leu kosten.

Raina [plötzlich aus ihrer träumerischen Bewunderung der Landschaft erwachend]: Wahrhaftig, Mama, wenn du bereit bist, den Schmuck anzunehmen, so sehe ich nicht ein, warum du mir meinen Araber vorenthalten willst.

[Nicola kehrt mit dem Rock zurück und bringt ihn Petkoff, der kaum seinen Augen traut.]

Katharina: Wo war er, Nicola?

Nicola: Er hing in der blauen Kammer, gnädige Frau.

Petkoff: Na, ich will verdammt sein…

Katharina [einfallend]: Paul!

Petkoff: Ich hätte schwören mögen, daß er nicht dort war. Das Alter fängt an, bei mir anzuklopfen, ich bekomme schon Halluzinationen. [Zu Nicola]: Da, hilf mir! Entschuldigen Sie, Bluntschli. [Er wechselt seinen Rock, Nicola hilft ihm dienstbeflissen.] Ich mache dich darauf aufmerksam, Sergius, daß ich deine Wette nicht angenommen habe. Du könntest lieber selbst Raina die arabische Stute schenken, da du nun schon einmal solche Erwartungen erweckt hast. Nicht wahr, Raina? [Er wendet sich nach ihr um, aber sie ist wieder in den Anblick der Landschaft vertieft; mit einem kleinen Ausbruch väterlicher Liebe und Eitelkeit macht er die andern auf seine Tochter aufmerksam und sagt]: Sie träumt schon wieder, wie gewöhnlich.

Sergius: Keinesfalls soll sie dabei zu kurz kommen.

Petkoff: Um so besser für Raina. Ich fürchte, ich werde nicht so billig loskommen. [Nun ist der Kleiderwechsel vollzogen, Nicola geht mit dem abgelegten Rock hinaus.]

Petkoff: Ach, nun fühle ich mich endlich zu Hause! [Er setzt sich und nimmt seine Zeitung mit behaglichem Grunzen wieder zur Hand.]

Bluntschli [zu Sergius, ihm ein Papier reichend]: Das ist der letzte
Befehl.

Petkoff [aufspringend]: Was—schon fertig?

Bluntschli: Fertig!

Petkoff [geht zu Sergius, sieht neugierig über seine linke Schulter zu, wie er unterzeichnet, und sagt mit kindischem Neide]: Soll ich denn gar nichts unterzeichnen?

Bluntschli: Es ist nicht nötig, seine Unterschrift wird genügen.

Petkoff: Nun gut, ich denke, wir haben ein verflucht anständiges Stück Arbeit vollbracht. [Er entfernt sich vom Arbeitstisch]: Kann ich sonst noch etwas tun?

Bluntschli: Gut wäre es, wenn Sie beide die Kerle ansehen würden, die diese Befehle zu überbringen haben. [Zu Sergius]: Schicken Sie die Leute gleich fort und zeigen Sie ihnen, daß ich auf der Marschroute die Zeit angegeben habe, in der sie ausgehändigt sein MÜSSEN. Sagen Sie ihnen auch, daß ihnen die Haut über die Ohren gezogen werden wird, wenn sie trinken und schwatzen und sich dadurch auch nur um fünf Minuten verspäten.

Sergius [erhebt sich entrüstet]: Das werde ich ausrichten! Und wenn einer von ihnen Manns genug ist, mir dafür ins Gesicht zu speien, weil ich ihn beleidigt habe, so will ich ihn loskaufen und ihm eine Pension bezahlen. [Er geht mit großen Schritten ab, in seiner Menschenwürde tief verletzt.]

Bluntschli [vertraulich zu Petkoff]: Sie passen auf, daß er mit den
Leuten richtig spricht, Herr Major, nicht wahr?

Petkoff [diensteifrig]: Gewiß, Bluntschli, gewiß, ich will mich darum kümmern. [Er geht gewichtig zur Tür, zögert aber an der Schwelle]: Apropos, Katharina, du kannst auch mitkommen. Dein Anblick wird sie weit mehr einschüchtern als der meine.

Katharina [ihre Stickerei niederlegend]: Ich glaube selbst, daß es besser sein wird; du wirst dich höchstens blamieren. [Petkoff öffnet ihr die Türe, sie geht ab und er folgt ihr.]

Bluntschli: Was für ein Volk! Sie zimmern Kanonen aus Kirschbäumen, und die Offiziere schicken nach ihren Frauen, um die Disziplin aufrechtzuerhalten. [Er fängt an, die Papiere zusammenzufalten und zu verzeichnen; Raina, die sich vom Diwan erhoben bat, geht im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken geballt, blickt sie Bluntschli mutwillig an.]

Raina: Sie sehen jetzt viel netter aus als damals, da wir uns zuletzt getroffen haben. [Er blickt überrascht auf.]—Wie haben Sie das nur angestellt?

Bluntschli: Mich gewaschen, gebürstet, nachts gut geschlafen und gefrühstückt—weiter nichts, gnädiges Fräulein.

Raina: Sind Sie an jenem Morgen gefahrlos durchgekommen?

Bluntschli: Vollkommen, ich danke Ihnen.

Raina: Waren Ihre Vorgesetzten ungehalten darüber, daß Sie bei
Sergius' Attacke davongelaufen sind?

Bluntschli: Nein, sie waren darüber froh, weil sie alle genau dasselbe getan hatten.

Raina [geht an den Tisch und beugt sich über den Tisch zu ihm hinüber]: Es muß eine lustige Geschichte für SIE gewesen sein—all das von mir und meinem Zimmer!

Bluntschli: Ein famoses Abenteuer. Aber ich habe es nur einem einzigen Menschen erzählt, einem alten Freunde.

Raina: Auf dessen Verschwiegenheit Sie unbedingt zählen durften?

Bluntschli: Unbedingt.

Raina: So! Nun denn, er hat meinem Vater und Sergius alles erzählt
an jenem Tage, an dem Sie den Austausch der Gefangenen vornahmen.
[Sie wendet sich ab und schlendert nachlässig auf die gegenüberliegende
Seite des Zimmers.]

Bluntschli [sehr betroffen und halb ungläubig]: Das ist doch nicht
Ihr Ernst—das ist unmöglich!

Raina [mit plötzlichem Ernst, indem sie umkehrt]: Es ist so; aber die beiden wissen nicht, daß SIE es waren und daß Sie in DIESES Haus geflüchtet sind. Wenn Sergius das erführe, er würde Sie fordern und im Duell töten.

Bluntschli: Gott behüte, dann erzählen Sie es ihm nur nicht!

Raina [vorwurfsvoll wegen seines Leichtsinns]: Können Sie sich vorstellen, was es für mich bedeutet, ihn betrügen zu müssen? Ich möchte ganz eins sein mit Sergius. Keinerlei Niedrigkeiten, nichts Verwerfliches, kein Betrug sollte zwischen uns stehen. Meine Beziehung zu ihm ist das wahrhaft schönste und erhabenste Ereignis meines Lebens—ich hoffe, Sie können das begreifen.

Bluntschli [skeptisch]: Sie wollen sagen, daß es Ihnen nicht angenehm wäre, wenn er herausfände, daß die Geschichte mit dem Eispudding eine—eine…na—Sie wissen schon.

Raina [zusammenzuckend]: Ah, sprechen Sie darüber nicht in so leichtfertiger Weise! Ja, ich habe gelogen, ich weiß es, aber ich habe gelogen, um Ihnen das Leben zu retten—er würde Sie getötet haben! Es war das zweitemal, daß ich in meinem Leben gelogen habe.

[Bluntschli erhebt sich rasch und blickt Raina zweifelnd und etwas strenge an.]

Raina: Erinnern Sie sich an das erstemal?

Bluntschli: Ich? nein. War ich denn zugegen?

Raina: Jawohl! Und ich sagte dem russischen Offizier, der nach Ihnen suchte, daß Sie nicht zugegen wären.

Bluntschli: Bei Gott, das ist wahr, ich hätte mich daran erinnern sollen.

Raina [sehr ermutigt]: Ah, ich begreife, daß SIE das vergessen haben; Sie hat es ja nichts gekostet, aber mich kostete es eine Lüge—eine Lüge! [Sie setzt sich auf die Ottomane und blickt starr vor sich hin, die Hände über das Knie gekreuzt. Bluntschli nähert sich ihr sehr ergriffen und setzt sich mit ganz besonders beruhigender und rücksichtsvoller Gebärde neben sie.]

Bluntschli: Verehrtes gnädiges Fräulein, machen Sie sich darüber keine Gedanken! Bedenken Sie, ich bin Soldat! Nun welches sind die beiden Dinge, die einem Soldaten so oft passieren, daß er schon gar nicht mehr darauf achtet? Daß er Leute Lügen erzählen hört, ist das eine. [Raina fährt zurück.] Das andere, daß ihm auf alle mögliche Art und Weise von allen möglichen Leuten das Leben gerettet wird.

Raina [protestiert entrüstet und erhebt sich]: Und so wird er ein undankbares, treuloses Geschöpf.

Bluntschli [ein saures Gesicht schneidend]: Lieben Sie Dankbarkeit?
Ich nicht. Wenn Mitleid mit der Liebe blutsverwandt ist, so ist die
Dankbarkeit verwandt mit dem Gegenteil.

Raina: Dankbarkeit! [Sich nach ihm umwendend]: Wenn Sie nicht dankbar sein können, dann sind Sie überhaupt jeder edlen Regung unfähig—selbst Tiere sind dankbar! Oh, jetzt weiß ich genau, was Sie über mich denken! Sie waren nicht überrascht, mich lügen zu hören, Sie waren überzeugt, daß ich das täglich, ja stündlich täte! So denken Männer über Frauen. [Sie geht im Zimmer melodramatisch umher.]

Bluntschli [mißtrauisch]: Nicht so ganz ohne Berechtigung. Sie behaupten, daß Sie in Ihrem ganzen Leben bloß zweimal gelogen haben! Verehrtes Fräulein, ist das nicht gar zu wenig?! Ich bin ein recht wahrheitsliebender Kerl; aber bei mir würde das nicht für einen einzigen Vormittag reichen.

Raina [ihn von oben herab ansehend]: Sie beleidigen mich, Herr
Hauptmann!

Bluntschli: Dafür kann ich nichts. Wenn Sie diese edle Haltung annehmen und in so hohem Tone sprechen, dann bewundere ich Sie—aber es ist mir unmöglich, Ihnen auch nur ein Wort zu glauben!

Raina [stolz]: Hauptmann Bluntschli!

Bluntschli [unbeweglich]: Sie befehlen?

Raina [geht ihm ein wenig entgegen, als ob sie ihren Ohren nicht traute]: MEINEN Sie das, was Sie eben gesagt haben? WISSEN Sie, was Sie eben gesagt haben?

Bluntschli: Ganz genau.

Raina [keuchend]: Ich! Ich!! [Sie zeigt ungläubig auf sich, als wollte sie sagen: "Ich Raina Petkoff, bin eine Lügnerin." Er begegnet ihrem Blick unerschütterlich, plötzlich setzt sie sich neben ihn und geht mit vollkommenem Wechsel ihres Benehmens von ihrer aufgebrachten zu einer vertraulichen Art und Weise über.] Wie haben Sie mich so schnell durchschaut?

Bluntschli [sofort]: Instinkt, gnädiges Fräulein, Instinkt und
Welterfahrung!

Raina [verwundert]: Wissen Sie, daß Sie der erste Mann in meinem
Leben sind, der mich nicht ernst genommen hat?

Bluntschli: Sie meinen, nicht wahr, daß ich der erste Mann bin, der
Sie ganz ernst nimmt?

Raina: Ja, ich glaube, das meine ich. [Gemütlich und sehr unbefangen]: Wie sonderbar das ist, wenn mit einem so ehrlich gesprochen wird! Wissen Sie, ich hab' es immer so getrieben!—ich meine die edle Haltung und den hohen Ton, so habe ich mich schon als kleines Kind meiner Amme gegenüber aufgespielt. Sie hat daran geglaubt. Ich tue es vor meinen Eltern; sie glauben auch daran, Sergius gegenüber tue ich gleichfalls so, er glaubt auch daran.

Bluntschli: Jawohl, er posiert selbst ein wenig in dieser Art, nicht wahr?

Raina [auffahrend]: Glauben Sie?

Bluntschli: Sie müssen ihn besser kennen als ich.

Raina: Ich wäre begierig, zu erfahren, ob er wirklich auch so ist!
Wenn ich dächte, daß er—! [Entmutigt:] Doch wozu, was liegt daran?
Ich fühle, daß Sie mich jetzt verachten, weil Sie mich erkannt haben.

Bluntschli [erhebt sich, warm]: Durchaus nicht, mein verehrtes
Fräulein,—o nein, nein, tausendmal nein. Ihr Gehaben macht einen
Teil Ihrer Jugend, Ihres Reizes aus. Ich bin genau wie alle übrigen,
wie Amme, Eltern und Sergius,—ich bin Ihr betörter Bewunderer.

Raina [erfreut]: Wirklich?

Bluntschli [sich nach deutscher Art auf die Brust schlagend]: Hand aufs Herz, wahrhaftig!

Raina [sehr glücklich]: Aber was haben Sie dazu gesagt, daß ich Ihnen mein Bild geschenkt habe?

Bluntschli [erstaunt]: Ihr Bild? Sie haben mir doch nie Ihr Bild geschenkt.

Raina [rasch]: Wollen Sie behaupten, daß Sie es NICHT erhalten haben?

Bluntschli: Gewiß will ich das! [Er setzt sich mit erneuertem
Interesse neben sie und sagt mit einer gewissen Selbstgefälligkeit]:
Wann haben Sie es mir denn geschickt?

Raina [entrüstet]: Ich habe es Ihnen nicht geschickt! [Sie wendet den Kopf ab und fügt zögernd hinzu]: Es war in der Tasche jenes Rockes…

Bluntschli [beißt sich auf die Lippen und rollt die Augen]: Oh, oh, oh, und ich hab' es nicht gefunden! Es muß jetzt noch darin sein.

Raina [aufspringend]: Noch darin?! Damit mein Vater es findet, sobald er die Hände in die Taschen steckt? Nein, wie konnten Sie nur so dumm sein!

Bluntschli [erhebt sich gleichfalls]: Machen Sie sich nichts daraus, es ist doch nur eine Photographie,—wie kann er wissen, für wen sie bestimmt war? Sagen Sie ihm einfach, daß er sie selbst hineingetan hat.

Raina [ungeduldig]: Ich danke Ihnen für den guten Rat! Sie sind gar so gescheit! Ach, ach, ach, was soll ich nur beginnen?

Bluntschli: Ah, ich verstehe: Sie haben etwas darauf geschrieben.
Das war freilich unvorsichtig.

Raina [fast bis zu Tränen verdrossen]: Nein, daß ich so etwas für Sie tun konnte,—für Sie, dem gar nichts daran liegt! Der sich höchstens über mich lustig macht! Sind Sie wenigstens sicher, daß bis jetzt niemand es berührt hat?

Bluntschli: Nein, ganz sicher kann ich nicht sein. Bedenken Sie doch: ich konnte den Rock ja nicht immer mit mir herumtragen, man darf im aktiven Dienst nicht viel Gepäck mitführen.

Raina: Was haben Sie denn aber damit gemacht?

Bluntschli: Als ich nach Pirot kam, da mußte ich ihn irgendwo in
Sicherheit bringen, ich dachte an das Garderobezimmer der
Eisenbahnstation,—aber das ist bestimmt ein Platz, der bei unserer
modernen Kriegführung ganz ausgeplündert wird. Da zog ich vor, den
Rock zu—versetzen!

Raina: Versetzt haben Sie ihn!

Bluntschli: Ich weiß, es klingt nicht nett, aber das Versatzamt war gewiß der sicherste Ort. Vorgestern habe ich ihn wieder ausgelöst; weiß der Himmel, ob der Pfandleiher die Taschen ausgeleert hat oder nicht.

Raina [wütend, ihm die Worte ins Gesicht schleudernd]: Sie haben eine niedrige Krämerseele. Sie denken an Dinge, die einem Ehrenmann niemals einfallen könnten.

Bluntschli [phlegmatisch]: Das ist der Schweizer Nationalcharakter, verehrtes Fräulein.

Raina: Oh, wäre ich Ihnen nie begegnet! [Sie wendet sich heftig ab und setzt sich wütend ans Fenster.]

[Louka kommt herein, einen Pack Briefe und Telegramme auf ihrem Servierteller. Sie geht mit ihrem kühnen, freien Wesen an den Tisch; ihr linker Ärmel ist mit einer Brosche an die Schulter hinaufgeheftet; man sieht ihren bloßen Arm, dessen blauer Fleck durch ein breites vergoldetes Armband verdeckt ist.]

Louka [zu Bluntschli]: Das ist für Sie; [sie leert ihre Platte unbekümmert auf den Tisch aus:] der Bote wartet. [Sie ist entschlossen, gegen einen Serben nicht höflich zu sein, selbst wenn sie ihm seine Briefe bringen muß.]

Bluntschli [zu Raina]: Wollen Sie mich einen Augenblick entschuldigen? Die letzte Post hat mich vor drei Wochen erreicht—diese Anhäufung ist die Folge davon,—vier Depeschen—eine Woche alt. [Er öffnet eine davon:] Oho! schlechte Nachrichten!

Raina [steht auf und nähert sich etwas reumütig]: Schlechte
Nachrichten?

Bluntschli: Mein Vater ist gestorben. [Er blickt auf das Telegramm mit geschlossenen Lippen, in Gedanken vertieft über den unerwarteten Umschlag in seinen Plänen.]

Raina: Oh! wie traurig.

Bluntschli: Jawohl! Da werde ich in einer Stunde heimreisen müssen.
Mein Vater hat eine Menge großer Hotels hinterlassen, um die ich
mich nun bekümmern muß. [Er greift ein dickes, langes, blaues
Kuvert heraus.] Da ist auch schon ein großer Brief von unserm
Familienadvokaten. [Er reißt die Papiere heraus und überfliegt sie.]
Großer Gott, siebzig—zweihundert—[mit wachsender Bestürzung:]
vierhundert—viertausend—neuntausendsechshundert…was, um des
Himmels willen, soll ich denn damit anfangen?!

Raina [schüchtern]: Neuntausendsechshundert Hotels?

Bluntschli: Hotels! Unsinn! Wenn Sie nur wüßten,—aber es ist zu
lächerlich, entschuldigen Sie, ich muß Anordnungen wegen meiner
Abreise treffen. [Er verläßt rasch das Zimmer, die Papiere in der
Hand.]

Louka [spöttisch]: Er hat nicht viel Herz, dieser Schweizer, obwohl er die Serben liebt; er hat kein Wort der Trauer, des Kummers für seinen seligen Vater.

Raina [bitter]: Der und Kummer! Ein Mensch, der jahrelang nichts anderes getan hat, als Leute umbringen,—was liegt dem daran, wenn sein alter Vater stirbt! was liegt einem Soldaten an irgend etwas? [Sie geht zur Tür, ihre Tränen nur mühsam zurückhaltend.]

Louka: Major Saranoff hat auch gekämpft, und es ist ihm doch sehr viel Herz übriggeblieben. [Raina blickt sie von der Tür aus hochmütig an und geht hinaus.] Aha, ich habe es mir gedacht, daß du wenig Gefühl aus DEINEM Soldaten herauskriegen würdest. [Sie ist im Begriff, Raina zu folgen, da tritt Nicola ein, Holz in den Armen, um nachzulegen.]

Nicola [sie verliebt anlächelnd]: Den ganzen Nachmittag habe ich mich umsonst bemüht, dich allein anzutreffen, mein Schatz. [Sein Gesichtsausdruck verändert sich, als er ihren Arm bemerkt.] Was ist das für eine neue Mode, deine Ärmel zu tragen, mein Kind?

Louka [stolz]: Meine eigene Mode.

Nicola: In der Tat—! na! wenn dich die Frau so erwischt, wird sie dich lehren. [Er wirft das Holz auf die Ottomane und setzt sich bequem daneben.]

Louka: Ist das ein Grund für dich, mich zu lehren?

Nicola: Geh, sei nicht so widerspenstig gegen mich; ich habe eine gute Nachricht für uns. [Er nimmt etwas Papiergeld aus der Tasche, Louka kommt mit gierigem Augenblitzen näher, um es anzusehen.] Schau, ein Zwanzigleuschein! Sergius gab mir das Geld aus reiner Prahlerei—so ein Narr! Narrengeld ist bald dahin. Und da sind noch zehn Leu,—die gab mir der Schweizer dafür, daß ich der Gnädigen und Rainas Lügen auf mich genommen habe. Der ist kein Narr! Du hättest die alte Katharina nur unten hören sollen, wie höflich sie mich bat, mir nichts daraus zu machen, daß der Major etwas ungeduldig gewesen sei, denn sie wüßten ganz gut, was für ein prächtiger Diener ich sei—nachdem sie mich vor allen zu einem Narren und Lügner gestempelt haben! Die zwanzig Leu sind für unsere Ersparnisse bestimmt, und dir gebe ich die zehn, die kannst du nach Belieben ausgeben, wenn du dafür mit mir nur so sprechen willst, als ob ich auch ein Mensch wäre. Manchmal habe ich es doch satt, Diener zu sein.

Louka [verachtungsvoll]: Ja, geh hin und verkaufe deine Manneswürde für dreißig Leu und kaufe mich für zehn Leu dazu! Behalte dein Geld! Du bist zum Diener geboren, ich nicht! Wenn du deinen Laden eingerichtet hast, dann wirst du jedermanns Diener sein, statt, wie jetzt, eines Mannes Diener.

Nicola [nimmt sein Holz auf und geht zum Ofen]: Pah, wart' es nur erst ab, du wirst schon sehen! Wir werden unsere Abende für uns haben, und ich werde der Herr in MEINEM Hause sein,—das verspreche ich dir! [Er wirft das Holz hinunter und kniet vor dem Ofen.]

Louka: Du wirst nie der Herr in meinem Hause sein. [Sie setzt sich stolz auf Sergius' Stuhl.]

Nicola [wendet sich um, immer auf den Knien, und kauert sich etwas trostlos auf seine Fersen nieder, entmutigt von Loukas unerbittlicher Mißachtung.] Du bist sehr ehrgeizig, Louka; wenn dir irgendein unverhofftes Glück widerfahren sollte, dann vergiß nicht: ich war es, der eine Frau aus dir gemacht hat.

Louka: Du?

Nicola [mit hartnäckiger Selbstverteidigung]: Jawohl, ich. Wer hat dir abgewöhnt, deinen Kopf mit falschen schwarzen Haaren zu behängen und deine Lippen und Wangen rot zu schminken wie alle andern bulgarischen Mädchen? Ich war das. Wer lehrte dich deine Nägel putzen und deine Hände pflegen und dich fein und sauber halten wie eine große russische Dame? Ich! Verstehst du mich? Ich! [Sie wirft den Kopf verachtungsvoll in die Höhe und er erhebt sich übellaunig und fügt kühler hinzu:] Ich habe mir oft gedacht, wenn Raina nicht im Wege stünde und du bloß ein klein wenig klüger wärest und Sergius bloß ein klein wenig dümmer, du könntest einmal zu meinen größten Kunden zählen, statt daß du nur meine Frau wirst und mich Geld kostest.

Louka: Ich glaube, du würdest lieber mein Diener sein als mein Mann! Du könntest dann auch mehr aus mir herausschlagen,—ich kenne deine schöne Seele.

Nicola [tritt nahe an sie heran, um mit größerem Nachdruck zu sprechen]: Laß meine Seele aus dem Spiel, ein für allemal, aber höre auf meine Ratschläge! Wenn du eine Dame werden willst, dann ist dein augenblickliches Benehmen zu mir durchaus nicht angebracht, ausgenommen, wenn wir allein sind; es ist zu scharf und zu frech, und Frechheit verrät gewissermaßen eine Vertraulichkeit, die als Gunstbezeichnung ausgelegt werden könnte! Dann werde ich dich auch sehr bitten, nicht hochnäsig und von oben herab mit mir zu verkehren! Du bist darin wie alle Landgänschen. Du glaubst, es ist vornehm, einen Diener so zu behandeln, wie ich einen Stalljungen behandele; daran ist aber nur deine Unbildung schuld; vergiß das nicht und sei nur nicht immer gar so bereit, jedem Menschen Trotz zu bieten! Benimm dich, als ob du erwartetest deinen eigenen Willen durchzusetzen, und nicht, als ob du gewohnt wärst, daß mit dir herumkommandiert wird. Der Weg, sich als Dame oder als Diener vorwärts zu bringen, ist ganz der gleiche. Man muß wissen, was sich gehört, das ist das ganze Geheimnis. Und auf mich kannst du dich verlassen: ich weiß, was sich für mich gehört, wenn du aufrückst. Denke an mich, mein Schatz, ich will auch zu dir halten! Ein Diener sollte dem andern immer behilflich sein.

Louka [erhebt sich ungeduldig]: Oh, ich muß mich auf meine eigene Art benehmen, du nimmst mir mit deiner kaltblütigen Weisheit nur alle Unbefangenheit. Geh, wirf das Holz ins Feuer, das ist eine Sache, die du verstehst. [Bevor Nicola etwas erwidern kann, tritt Sergius ein; er hält inne, als er Louka erblickt, dann geht er an den Ofen.]

Sergius [zu Nicola]: Ich hoffe, ich bin dir nicht im Weg bei deiner
Arbeit.

Nicola [glatt, den alten Diener spielend]: O nein, ich danke sehr; ich habe nur mit diesem närrischen Ding über ihre Gepflogenheit gesprochen, bei jedem Anlaß in die Bibliothek zu laufen, um die Bücher anzusehen. Es ist ein Fehler ihrer Erziehung, Herr Major; sie gab ihr Gewohnheiten, die über ihrem Stande sind. [Zu Louka.] Mache den Tisch für den Herrn Major zurecht, Louka. [Er geht gesetzt hinaus; Louka beginnt, ohne Sergius anzublicken, die Papiere auf dem Tisch zu ordnen; er kommt langsam auf sie zu und studiert aufmerksam die Anordnung ihres Ärmels.]

Sergius: Lassen Sie mich sehn, haben Sie da noch einen blauen Fleck? [Er nimmt das Armband ab und betrachtet den Fleck, der durch den Druck seiner Finger entstanden ist. Sie steht unbeweglich und sieht ihn nicht an, sie ist wie bezaubert, aber auf ihrer Hut. Er bläst auf die Stelle.] Tut's noch weh?

Louka: Jawohl!

Sergius: Soll ich es heilen?

Louka [zieht sofort ihren Arm stolz zurück, ohne ihn anzusehen]: Nein, jetzt können Sie's nimmermehr.

Sergius [herrisch]: Sind Sie dessen ganz sicher? [Er macht eine
Bewegung, als ob er sie umarmen wollte.]

Louka: Bitte, spielen Sie nicht mit mir; ein Offizier sollte nicht mit einer Dienerin tändeln.

Sergius [berührt ihren Arm mit einem unbarmherzigen Streich seines
Zeigefingers]: Das war kein Getändel, Louka.

Louka: Nein? [Sieht ihn zum ersten Male an:] Tut es Ihnen leid?

Sergius [mit gemessenem Pathos, seine Arme kreuzend]: Mir tut NIE etwas leid.

Louka [sehnsüchtig]: Ich wollte, ich könnte glauben, daß ein Mann einer Frau so wenig ähnlich sein könnte. Sagen Sie mir, sind Sie wirklich ein tapferer Mann?

Sergius [einfach, seine Positur aufgebend]: Ja, mutig bin ich wirklich. Mein Herz schlug beim ersten Schuß wie das eines Weibes, aber bei der Attacke fand ich meine ganze Tapferkeit wieder; ja, das wenigstens ist wahr und echt an mir.

Louka: Fanden Sie bei der Attacke die Leute armer Herkunft, wie meinesgleichen, weniger tapfer als die, die reich waren wie Sie?

Sergius [bitter, leichthin]: Nicht im geringsten. Sie fochten und fluchten und schrien alle wie Helden! Pah, der Mut zu wüten und zu töten ist billig. Ich habe einen englischen Bullterrier, der von dieser Art Mut so viel besitzt wie die ganze bulgarische Nation und die ganze russische Armee dazu, aber er läßt sich trotzdem von meinem Stallknecht prügeln. So sind eure Soldaten ganz genau. Nein, Louka, eure armen Teufel können zwar Hälse abschneiden, aber sie fürchten sich vor ihren Offizieren, sie lassen sich Beleidigungen und Schläge gefallen, sie stehen dabei und sehen ruhig zu, wenn ihre Kameraden bestraft werden wie kleine Kinder, ja und was noch schlimmer ist, sie helfen selbst mit, wenn sie dazu befohlen werden. Und die Offiziere erst, na… [Mit einem kurzen und bitteren Lachen:] Ich bin Offizier, ach! [Feurig:] Zeigen Sie mir einen Mann, der jeder Macht auf Erden oder im Himmel, die ihn zwingen wollte, gegen seinen Willen oder sein Gewissen zu handeln, Trotz bietet bis in den Tod! Nur ein solcher Mann ist tapfer.

Louka: So zu reden, das ist leicht. Mir scheint die meisten Männer bleiben zeitlebens Knaben. Sie haben alle Ideen wie die Schuljungen. Sie wissen auch nicht, was wahrer Mut ist.

Sergius [ironisch]: Wirklich? Ich lasse mich gerne belehren.

Louka: Sehen Sie mich an! Wie oft darf ich mir den Luxus eines eigenen Willens gestatten? Ich muß Ihr Zimmer in Ordnung bringen, muß abstauben und fegen, holen und laufen. Wie kann mich das erniedrigen, wenn es Sie nicht erniedrigt, für den das alles geschieht?! Aber [mit unterdrücktem Zorn] wenn ich Kaiserin von Rußland wäre, über alle Menschen erhaben, dann—wenn ich auch Ihrer Meinung nach gar keinen Mut beweisen könnte,—na, Sie sollten schon sehen.

Sergius: Was würden Sie dann tun, edle Kaiserin?

Louka: Ich würde den Mann heiraten, den ich liebte, wozu keine Königin Europas den Mut findet. Wenn ich beispielsweise Sie liebte, der Sie dann so tief unter mir stünden, wie ich jetzt unter Ihnen stehe, ich würde es wagen, mich meinem Untergebenen gleichzustellen! Würden Sie diesen Mut finden, wenn Sie mich liebten? Nein! Wenn Sie fühlten, daß Sie mich zu lieben beginnen, so würden Sie dieses Gefühl unterdrücken, Sie würden nicht wagen, mich zu heiraten. Sie würden die Tochter eines reichen Mannes heimführen aus Angst, was "die Welt", was andere Leute dazusagen könnten!

Sergius [hingerissen]: Sie lügen, das ist nicht der Fall—beim Himmel
nicht! Wenn ich Sie liebte, und wäre ich selbst der Zar, ich würde
Sie neben mich auf den Thron setzen. Sie wissen, daß ich eine andere
Frau liebe, die so hoch über Ihnen steht, wie der Himmel über der
Erde. Und Sie sind eifersüchtig auf sie.

Louka: Dazu habe ich ja gar keinen Grund. Sie wird Sie doch niemals heiraten. Der Mann, von dem ich Ihnen sprach, ist zurückgekehrt. Sie wird den Schweizer heiraten!

Sergius [zurückfahrend]: Den Schweizer!

Louka: Einen Mann, der zehn Ihresgleichen aufwiegt. Dann können Sie zu mir kommen, aber ich werde Sie auch abweisen. Sie sind mir nicht gut genug. [Sie wendet sich zur Türe.]

Sergius [springt ihr nach und fängt sie wild in seinen Armen auf]: Ich werde den Schweizer töten, und mit Ihnen werde ich dann machen, was mir beliebt.

Louka [in seinen Armen, ruhig und gefaßt]: Vielleicht wird der Schweizer Sie töten. In der Liebe hat er Sie schon geschlagen, er kann Sie vielleicht auch im Kampfe besiegen.

Sergius [gequält]: Halten Sie es für möglich, daß ich jemals glauben werde, daß—"sie", deren ärgste Gedanken noch höher stehen als Ihre besten, daß "sie" fähig wäre, hinter meinem Rücken mit einem andern Mann zu tändeln!?

Louka: Halten Sie es für möglich, daß "sie" dem Schweizer glauben würde, wenn er ihr jetzt erzählte, daß ich in Ihren Armen liege?

Sergius [läßt sie verzweifelnd los]: Oh, zum Henker! Verdammt! Spott und Hohn überall! Meine eigenen Taten machen meine erhabensten Gedanken lächerlich. [Er schlägt sich heftig vor die Brust.] Feigling, Lügner, Narr! Soll ich mich töten wie ein Mann, oder soll ich weiterleben und vorgeben mich selbst zu verhöhnen? [Louka wendet sich abermals der Tür zu.] Louka! [Sie bleibt in der Nähe der Tür stehen.] Merken Sie sich: Sie gehören zu mir!

Louka [ruhig]: Was heißt das? Soll das eine Beleidigung sein?

Sergius [befehlend]: Das heißt, daß Sie mich lieben und daß ich Sie hier in meinen Armen gehalten habe und Sie vielleicht wieder so halten werde. Ob das eine Beleidigung ist, das weiß ich nicht, das ist mir auch ganz einerlei,—nehmen Sie das, wie's Ihnen beliebt; aber [heftig:] ich will kein Feigling und kein Lump sein! Wenn es mir gefällt, Sie zu lieben, so wage ich es auch,—ganz Bulgarien zum Trotz—Sie zu heiraten. Wenn diese Hände Sie jemals wieder berühren, dann werden sie meine angelobte Braut berühren.

Louka: Wir werden ja sehn, ob Sie es wagen, Ihr Wort zu halten; aber nehmen Sie sich in acht, ich werde nicht lange warten.

Sergius [verschränkt seine Arme wieder und bleibt unbeweglich in der Mitte des Zimmers stehen]: Ja, das werden wir sehen, und Sie werden warten, solange es mir beliebt! [Bluntschli kommt, sehr beschäftigt, seine Papiere noch in Händen, herein und läßt die Tür für Louka offen. Er geht hinüber an den Tisch und wirft ihr im Vorübergehen einen flüchtigen Blick zu. Sergius, ohne seine entschlossene Stellung aufzugeben, sieht ihn fest an, Louka geht hinaus und läßt die Tür offen.]

Bluntschli [zerstreut, sitzt am Tisch wie zuvor und legt sein Papiere nieder]: Das ist eine auffallend hübsche junge Person.

Sergius [ernst, ohne sich zu rühren]: Hauptmann Bluntschli!

Bluntschli: Sie wünschen?

Sergius: Sie haben mich betrogen, Sie sind mein Nebenbuhler; ich dulde keinen Rivalen! Um sechs Uhr werde ich allein zu Pferd, mit meinem Säbel, auf den Exerzierplatz an der Straße nach Klissura sein! —Verstehen Sie mich?

Bluntschli [starrt ihn an, bleibt aber ganz gemütlich sitzen]: Ich danke Ihnen. Das ist der Vorschlag eines Kavalleristen. Ich bin Artillerist und habe die Wahl der Waffen. Wenn ich komme, so bringe ich eine Mitrailleuse mit. Aber diesmal wird kein Irrtum mit der Munition sein, verlassen Sie sich darauf.

Sergius [errötend, aber mit tödlicher Kälte]: Nehmen Sie sich in acht,
Herr, es ist nicht unsere Gewohnheit in Bulgarien, mit solchen
Einladungen Scherz treiben zu lassen.

Bluntschli [warm]: Bah, reden Sie mir nicht von Bulgarien, Sie wissen ja gar nicht, was "kämpfen" heißt. Aber meinetwegen. Bringen Sie Ihren Säbel mit. Ich werde dort sein.

Sergius [sehr entzückt, in seinem Gegner einen Mann von Mut zu finden]: Schön gesprochen, Schweizer. Soll ich Ihnen mein bestes Pferd leihen?

Bluntschli: Nein, der Teufel hole Ihr bestes Pferd! Immerhin danke ich Ihnen, lieber Freund. [Raina kommt herein und hört den nächsten Satz.] Ich werde Sie zu Fuß erwarten; zu Pferde ist das zu gefährlich; ich will Sie nicht töten, wenn ich es vermeiden kann.

Raina [läuft ängstlich nach vorn]: Ich habe gehört, was Hauptmann
Bluntschli eben gesagt hat, Sergius! Ihr wollt euch schlagen! warum?
[Sergius wendet sich schweigend ab, geht nach dem Ofen und
beobachtet sie, während sie, zu Bluntschli gewendet, fortfährt]:
Weswegen?

Bluntschli: Ich weiß nicht, er hat es mir nicht anvertraut. Mischen Sie sich lieber nicht ein, verehrtes Fräulein, es wird kein Unglück geschehen; ich habe schon oft als Fechtlehrer gedient. Er wird nicht imstande sein, mich zu berühren, und ich werde ihm nicht weh tun. Das wird immerhin Auseinandersetzungen ersparen. Morgen früh werde ich dann auf der Heimreise sein, und Sie werden mich niemals wiedersehen oder je von mir hören. Sie werden die Sache dann schon mit ihm ins reine bringen; und nachher werden Sie glücklich miteinander leben.

Raina [wendet sich tief verletzt ab; beinahe mit einem Seufzer in ihrer Stimme]: Ich habe nie gesagt, daß ich Sie wiederzusehen wünsche.

Sergius [vorwärtsschreitend]: Ha, das ist ein Geständnis!

Raina [hoheitsvoll]: Was meinen Sie damit?

Sergius: Sie lieben diesen Mann!

Raina [empört]: Sergius!

Sergius: Sie haben ihm gestattet, Ihnen hinter meinem Rücken
Liebeserklärungen zu machen, genau so wie Sie mich hinter seinem
Rücken zum Gatten haben wollten. Bluntschli, Sie kannten unsere
Beziehungen und betrogen mich, das ist der Grund, warum ich von Ihnen
Genugtuung verlange,—nicht, weil Sie Begünstigungen empfangen haben,
die mir verweigert worden sind.

Bluntschli [empört aufspringend]: Blödsinn, Unsinn! Ich habe keine Begünstigungen empfangen. Das gnädige Fräulein weiß ja nicht einmal, ob ich verheiratet bin oder nicht.

Raina [sich vergessend]: Oh! [Auf die Ottomane hinsinkend:] Sie sind verheiratet??

Sergius: Sie sehen, welchen Eindruck diese Möglichkeit auf die junge Dame macht! Hauptmann Bluntschli: Leugnen ist vergeblich, Sie haben den Vorzug genossen, spät nachts in Fräulein Rainas Schlafzimmer empfangen worden zu sein.

Bluntschli [unterbricht ihn heftig]: Ja, Sie Dummkopf, sie hat mich empfangen, weil ich ihr meine Pistole auf die Brust gesetzt habe. Eure Kavallerie war mir auf den Fersen. Ich hätte sie getötet, wenn sie einen Laut von sich gegeben hätte.

Sergius [verblüfft]: Bluntschli—Raina—ist das wahr?

Raina [richtet sich in majestätischem Zorn auf]: Wie können Sie es wagen?

Bluntschli: Entschuldigen Sie sich, Mann, entschuldigen Sie sich!
[Er nimmt seinen Platz am Tische wieder ein.]

Sergius [mit altgewohnter Übertreibung, seine Arme kreuzend]: Ich entschuldige mich nie!

Raina [leidenschaftlich]: Das verdanke ich Ihrem famosen Freunde, Hauptmann Bluntschli, er hat diese empörende Geschichte über mich ausgesprengt. [Sie geht sehr erregt auf und ab.]

Bluntschli: Nein, der schweigt, er ist tot, verbrannt bei lebendigem
Leibe!

Raina [einhaltend, entsetzt]: Lebendig verbrannt?

Bluntschli: Wurde auf einem Holzhof in die Hüfte geschossen. Konnte sich nicht fortschleppen. Da setzten die Granaten der Bulgaren das Holz in Flammen und er verbrannte mit einem halben Dutzend anderer armer Teufel, die in derselben Lage waren.

Raina: Wie schrecklich!

Sergius: Und wie lächerlich! O Krieg, Krieg, Traum der Patrioten und
Helden! Du bist ein Schwindel, eine hohle Phrase, wie die Liebe!

Raina [außer sich]: Wie die Liebe?! Das sagen Sie vor mir?

Bluntschli: Lassen Sie's gut sein, Saranoff, die Sache ist erledigt!

Sergius: Eine hohle Phrase, sage ich. Wären Sie hierher zurückgekehrt, Herr Hauptmann, wenn sich zwischen Ihnen nichts als die Geschichte mit der Pistole zugetragen hätte? Raina täuscht sich über unseren verbrannten Freund: er war es nicht, der mir die Mitteilung machte!

Raina: Wer denn? [Plötzlich die Wahrheit ahnend:] Ah, Louka, mein Mädchen, meine Dienerin! Sie waren ja mit ihr die ganze Zeit nach dem Frühstück allein—oh, so also sieht der Gott aus, den ich angebetet habe! [Er begegnet ihrem Blick mit sardonischer Freude über ihre Ernüchterung; um so geärgerter tritt sie näher an ihn heran und sagt in leisem, heftigem Tone:] Wissen Sie, daß ich vom Fenster aus, als ich mich umwandte, um noch einen Blick auf meinen Helden zu werfen, etwas gesehen habe, was ich vorhin nicht verstand? Jetzt weiß ich, daß Sie mit Louka angebandelt haben!

Sergius [mit grimmigem Humor]: Haben Sie das bemerkt?

Raina: Nur zu gut. [Sie wendet sich weg und wirft sich ganz überwältigt auf den Diwan unter dem Mittelfenster.]

Sergius [zynisch]: Raina, unser Roman ist zu Ende. Das Leben ist eine Posse.

Bluntschli [gutmütig zu Raina]: Sehen Sie, jetzt hat er sich endlich selbst durchschaut.

Sergius: Bluntschli: ich habe Ihnen erlaubt, mich einen Dummkopf zu nennen; jetzt können Sie mich auch noch einen Feigling schelten: ich weigere mich, mich mit Ihnen zu schlagen. Wissen Sie, warum?

Bluntschli: Nein, aber das macht nichts. Ich habe nicht gefragt, warum Sie mich gefordert haben, und ich frage auch jetzt nicht, warum Sie wieder abwinken. Ich bin Berufssoldat, ich kämpfe, wenn ich kämpfen muß, bin aber immer sehr froh, nicht kämpfen zu müssen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Sie sind nur ein Amateur; Sie glauben, Kämpfen ist ein Vergnügen.

Sergius: Trotzdem will ich Ihnen den Grund sagen, Sie Berufssoldat, Sie: Zu einem echten Kampf gehören zwei Männer, wirkliche Männer, Männer von Herz, Blut und Ehre. Mit Ihnen könnte ich mich ebenso wenig schlagen, wie ich einer häßlichen Frau Liebeserklärungen machen könnte. Ihnen fehlt der Magnetismus für ein Duell, Sie sind kein Mann,—Sie sind eine Kampfmaschine.

Bluntschli [als wollte er sich entschuldigen]: Das ist vollkommen richtig! Wahrhaftig! So ein Kerl war ich immer, ich bedaure! Aber jetzt, da Sie wieder entdeckt haben, daß das Leben keine Posse, sondern etwas ganz Vernünftiges und Ernsthaftes ist,—welches Hindernis gibt es jetzt noch für Ihr Glück?

Raina [sich erhebend]: Sie scheinen sehr besorgt um unser Glück.
Haben Sie seine neue Liebe vergessen—Louka? jetzt soll er nicht mit
Ihnen kämpfen, sondern mit seinem Nebenbuhler—Nicola.

Sergius: Nebenbuhler!! [Sich an die Stirne schlagend.]

Raina: Wissen Sie nicht, daß die beiden verlobt sind?

Sergius: Nicola? Öffnen sich neue Abgründe?…Nicola?

Raina [sarkastisch]: Ein empörendes Opfer, nicht wahr? Diese Schönheit, dieser Geist, diese Anmut, vergeudet an einen Diener in mittleren Jahren! Wirklich, Sergius, Sie dürfen das nicht länger dulden. Das sind Sie Ihrer Ritterlichkeit schuldig.

Sergius [seine Selbstbeherrschung ganz verlierend]: Natter! Schlange!
[Er läuft schäumend auf und ab.]

Bluntschli: Hören Sie, Saranoff, Sie ziehen den kürzeren.

Raina [zorniger]: Begreifen Sie, was er getan hat, Hauptmann Bluntschli? Er hat uns dieses Mädchen als Spionin auf den Hals geschickt, und zum Lohn dafür macht er ihr den Hof.

Sergius: Das ist nicht wahr! Das ist ungeheuerlich!

Raina: Ungeheuerlich? [Ihn mit den Blicken messend:] Können Sie leugnen, daß Louka Ihnen gesagt hat, Hauptmann Bluntschli sei in meinem Zimmer gewesen?

Sergius: Nein, aber-Raina [unterbrechend]: Können Sie leugnen, daß
Sie ihr Liebeserklärungen gemacht haben, als Sie Ihnen das sagte?

Sergius: Nein, aber ich sage Ihnen-Raina [ihm heftig und verachtungsvoll ins Wort fallend]: Es ist ganz überflüssig, uns noch irgend etwas zu sagen. Das genügt uns vollkommen! [Sie wendet sich von ihm ab und schwebt majestätisch zurück an das Fenster.]

Bluntschli [während Sergius aufs tiefste beleidigt und empört auf die Ottomane sinkt und abgewandt seinen Kopf zwischen die Fäuste nimmt, sehr ruhig]: Ich habe Ihnen doch gesagt, Saranoff, daß Sie den kürzeren ziehen.

Sergius: Pantherkatze!

Raina [läuft aufgeregt zu Bluntschli]: Sie hören, wie dieser Mensch mich beschimpft, Hauptmann Bluntschli.

Bluntschli: Was soll er denn anfangen, verehrtes Fräulein? Irgendwie muß er sich doch verteidigen. [Mit viel Suada:] Gehen Sie; nicht streiten! was nützt das? [Raina setzt sich schwer atmend auf die Ottomane, und nach vergeblicher Anstrengung, Bluntschli böse anzusehen, fällt sie ihrem Sinn für Humor zum Opfer und kann sich kaum des Lachens enthalten.]

Sergius: Verlobt mit Nicola! [Er erhebt sich.] Haha! [Geht nach dem Ofen—steht mit dem Rücken dagegen.] Jawohl, Bluntschli, Sie tun wirklich gut daran, diese schwindelhafte Welt ruhig aufzufassen.

Raina [schelmisch zu Bluntschli, mit unwillkürlichem Begreifen seines
Gedankenganges]: Mir scheint, Sie halten uns für zwei große Kinder.

Sergius [lacht höhnisch und grimmig]: Natürlich, natürlich Schweizer
Zivilisation bemuttert Bulgariens Barbarei, nicht wahr?

Bluntschli [errötend]: Durchaus nicht, ich versichere Ihnen, ganz gewiß nicht. Ich bin nur froh, daß Sie beide sich endlich etwas beruhigen. Na, gehen Sie, wir wollen vergnügt sein und die Sache freundschaftlich besprechen. Wo ist die andere junge Dame?

Raina: Wahrscheinlich horcht sie an der Tür.

Sergius [zuckt zusammen, wie von einer Kugel getroffen; ruhig, aber mit tiefer Entrüstung]: Ich will beweisen, daß dies wenigstens eine Verleumdung ist. [Er geht mit Würde zur Tür und öffnet. Ein Wutschrei entringt sich seiner Brust, nachdem er hinausgesehen. Er springt in den Gang und kommt zurück, Louka nachschleppend, die er heftig gegen den Tisch stößt. Er ruft aus:] Richten Sie diese Elende, Bluntschli,—Sie, Sie, der kalte, unparteiische Mann! Richten Sie die Horcherin an der Wand! [Louka bleibt aufrecht, stolz und ruhig.]

Bluntschli [den Kopf schüttelnd]: Ich darf sie nicht richten. Ich habe selbst einmal vor einem Zelt gehorcht, als darin eine Meuterei beschlossen wurde. Es kommt immer auf die Veranlassung dazu an, und was auf dem Spiele steht,—es ging um mein Leben!

Louka: Es ging um meine Liebe. [Sergius zuckt zusammen und schämt sich ihrer gegen seinen Willen.] Ich brauche mich nicht zu schämen.

Raina [verachtungsvoll]: Ihre Liebe? Sie meinen Ihre Neugier!

Louka [blickt ihr ins Gesicht, und gibt ihr ihre Verachtung mit Zinsen zurück]: Meine Liebe—die größer ist als alles, was Sie fähig sind, zu empfinden, selbst für Ihren Pralinésoldaten!

Sergius [mit plötzlichem Verdacht zu Louka]: Was soll das heißen?

Louka [heftig]: Das heißt-Sergius [sie geringschätzig unterbrechend]:
Oh, ich entsinne mich! Der Eispudding! Was für eine armselige
Stichelei! [Major Petkoff kommt in Hemdärmeln herein.]

Petkoff: Entschuldigen Sie die Hemdärmel, meine Herren! Raina! Einer hat meinen Rock angehabt, ich könnte darauf schwören, einer, der breitere Schultern hat als ich. Am Rücken ist die Naht ganz aufgetrennt, deine Mutter näht sie eben zu. Hoffentlich wird sie bald fertig sein, ich werde mich sonst erkälten. [Er sieht aufmerksam nach ihnen hin:] Ist etwas los?

Raina: Nein. [Sie setzt sich an den Ofen, mit ruhiger Miene.]

Sergius: Gar nichts. [Er setzt sich an das Tischende wie zuvor.]

Bluntschli [der schon sitzt]: Nichts, nichts!

Petkoff [der sich an seinen früheren Platz auf die Ottomane legt]:
Das ist recht. [Er bemerkt Louka.] Ist etwas los Louka?

Louka: Nein, gnädiger Herr.

Petkoff [gemütlich]: Das ist auch recht! [Er niest:] Sei so gut, geh zu meiner Frau und verlang meinen Rock, hörst du? [Sie wendet sich um und will gehorchen, aber Nicola tritt eben mit dem Rock ein. Sie tut, als hätte sie Arbeit im Zimmer, und stellt den kleinen Tisch mit der Tabakspfeife an die Wand in die Nähe des Fensters.]

Raina [erhebt sich rasch, als sie auf Nicolas Arm den Rock erkennt]: Hier ist dein Rock, Papa; gib ihn mir, Nicola, und leg' im Ofen etwas nach. [Sie nimmt den Rock, bringt ihn dem Major, der aufsteht, um ihn anzuziehen. Nicola macht sich beim Feuer zu schaffen.]

Petkoff [zu Raina, sie liebenswürdig neckend]: Schau, schau, du sorgst ja sehr lieb für deinen armen alten Papa! Wohl heute mal zur Feier seiner Rückkehr aus dem Kriege?

Raina [mit feierlichem Vorwurf]: Oh, wie kannst du nur so etwas sagen,
Papa!

Petkoff: Es ist schon gut, nur ein kleiner Scherz—gib mir einen Kuß.
[Sie küßt ihn:] Jetzt gib mir den Rock.

Raina: Nein, ich will dir helfen, wende dich um. [Er dreht sich um und sucht mit den Armen nach den Ärmeln. Raina nimmt geschickt die Photographie aus der Tasche und wirft sie Bluntschli auf den Tisch zu, der sie vor Sergius' Augen mit einem Bogen Papier bedeckt. Dieser sieht sprachlos vor Erstaunen zu, während sein Verdacht den Siedepunkt erreicht. Raina hilft dann Petkoff in den Rock hinein.] So, mein lieber Papa…Fühlst du dich jetzt wohl?

Petkoff: Vollkommen, mein Schatz, ich danke dir. [Er setzt sich, Raina kehrt zu ihrem Platz an den Ofen zurück.] Apropos, ich habe etwas Merkwürdiges in meiner Tasche gefunden! Was soll das bedeuten? [Er greift mit der Hand in die leere Tasche.] Was ist denn das? [Sucht in der anderen Tasche:] Nein, ich hätte schwören mögen…[Sehr verdutzt sucht er in der Brusttasche.] Ich begreife nicht…[Wieder in die erste Tasche greifend.] Wo kann sie nur sein—?[Ein Licht geht ihm auf, er erhebt sich und ruft aus:] Deine Mutter wird sie herausgenommen haben!

Raina [sehr rot]: Was denn?

Petkoff: Deine Photographie mit der Inschrift: "Raina ihrem Pralinésoldaten zum Andenken". Es ist klar, daß da mehr dahintersteckt, als man auf den ersten Blick sieht, und das muß ich herausbringen. [Laut rufend:] Nicola!

Nicola [läßt ein Stück Holz fallen, wendet sich um]: Gnädiger Herr!

Petkoff: Hast du heute morgen Fräulein Raina irgendeine Speise verdorben?

Nicola: Wie Sie gehört haben, gnädiger Herr; Fräulein Raina hat es gesagt.

Petkoff: Das weiß ich, du Trottel! Aber ist es wahr?

Nicola: Ich bin überzeugt, daß Fräulein Raina unfähig ist, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen, gnädiger Herr.

Petkoff: Bist du das? Wahrhaftig? Dann bin ich es nicht. [Sich zu den anderen wendend:] Geht! Glaubt Ihr, daß ich nicht längst alles durchschaut habe? [Er geht zu Sergius und klopft ihm auf die Schulter.] Sergius, du bist der Pralinésoldat, nicht wahr?

Sergius [fährt zusammen]: Ich! ein Pralinésoldat? Gewiß nicht.

Petkoff: Nicht? [Er sieht sich um; sie sind alle sehr ernst und sehr verständnisvoll.] Willst du damit sagen, daß Raina auch andern Männern Photographien zum Andenken schenkt?

Sergius [rätselvoll]: Die Welt ist kein so unschuldiger Ort, wie wir früher glaubten, Petkoff.

Bluntschli [sich erhebend]: Schon gut, Herr Major: ich bin der Pralinésoldat. [Petkoff und Sergius sind beide erstaunt.] Diese liebenswürdige junge Dame hat mir das Leben gerettet! Sie gab mir Schokolade, als ich am Verhungern war; werde ich jemals ihren Duft vergessen! Mein verstorbener Freund Stolz hat Ihnen die Geschichte in Pirot erzählt—der Flüchtling bin ich!

Petkoff: Sie? [Er schnappt nach Luft.] Sergius, erinnerst du dich, wie sich die beiden Damen benommen haben, als wir die Geschichte heute morgen erzählten? [Sergius lächelt zynisch, Petkoff mustert Raina strenge.] Du bist mir ein nettes Frauenzimmer, das muß ich schon sagen!

Raina [bitter]: Major Saranoff hat seine Ansicht geändert, und als ich diese Worte auf mein Bild schrieb, da wußte ich nicht, daß Hauptmann Bluntschli verheiratet ist.

Bluntschli [fährt heftig protestierend auf]: Ich bin nicht verheiratet!

Raina [sehr vorwurfsvoll]: Sie sagten doch, daß Sie verheiratet wären.

Bluntschli: Das habe ich nicht gesagt, ganz bestimmt nicht; ich war in meinem ganzen Leben nie verheiratet.

Petkoff [außer sich]: Raina! Willst du mir gefälligst sagen,—wenn es nicht zu unbescheiden ist, daß ich frage—mit welchem von diesen beiden Herren du verlobt bist?

Raina: Mit keinem von beiden. Diese junge Dame, [zeigt auf Louka, die sie alle stolz ansieht,] ist jetzt der Gegenstand von Major Saranoffs Neigung.

Petkoff: Louka!? Bist du verrückt geworden, Sergius?—das Mädchen ist doch mit Nicola verlobt.

Nicola [nach vorne kommend]: Entschuldigen Sie, gnädiger Herr, das ist ein Irrtum; Louka ist nicht mit mir verlobt.

Petkoff: Nicht mit dir verlobt, du Schuft—was? Du hast doch von mir am Tage deiner Verlobung fünfundzwanzig Leu bekommen, und sie bekam dieses goldene Armband von Fräulein Raina.

Nicola [mit kalter Salbung]: So haben wir angegeben, aber es war nur ein Schutz für Louka; sie ist zu Höherem geboren, und ich war nichts anderes als ihr vertrauter Diener. Ich habe die Absicht, wie gnädiger Herr wissen, später einen Laden in Sofia aufzumachen: und ich hoffe auf Loukas Kundschaft und Empfehlung für den Fall, daß sie in den Adel hineinheiraten sollte. [Er geht mit sichtlicher Diskretion hinaus, alle starren ihm nach.]

Petkoff [das Schweigen brechend]: Na, ich bin…hm!

Sergius: Das ist entweder edler Heroismus oder kriecherische
Niedrigkeit! Entscheiden Sie, Bluntschli, was ist es?

Bluntschli: Kümmern Sie sich nicht darum, ob es Heldentum oder
Niedrigkeit ist. Nicola ist der fähigste Mann, den ich bis jetzt in
Bulgarien kennen gelernt habe. Ich werde ihn zum Leiter eines Hotels
machen, falls er Deutsch und Französisch sprechen kann.

Louka [bricht plötzlich gegen Sergius los]: Ich bin hier von jedermann beleidigt worden. Sie gingen sogar mit dem Beispiel voran. Sie sind zu einer Entschuldigung verpflichtet! [Sergius kreuzt sofort die Arme über der Brust, wie eine Repetieruhr, deren Feder berührt wurde.]

Bluntschli [bevor Sergius etwas sagen kann]: Vergebliche Mühe—er entschuldigt sich nie!

Louka: Nicht vor Ihnen, seinesgleichen und seinen Feinden; mir, seiner armen Dienerin, wird er eine Entschuldigung nicht versagen.

Sergius [zustimmend]: Sie haben recht. [Er beugt das Knie; in seiner pathetischesten Weise:] Verzeihen Sie mir.

Louka: Ich verzeihe Ihnen. [Sie reicht ihm schüchtern ihre Hand, die er küßt.] Diese Berührung macht mich zu Ihrer Braut.

Sergius [aufspringend]: Oh, das habe ich vergessen!

Louka [kalt]: Sie können Ihr Wort zurücknehmen, wenn Sie wollen.

Sergius: Zurücknehmen? Niemals! Sie sind mein. [Er umarmt sie, Katharina kommt herein, findet Louka in Sergius' Armen und sieht, wie alle Louka und Sergius fassungslos anstarren.]

Katharina: Was soll das heißen? [Sergius läßt Louka los.]

Petkoff: Nun, meine Teure, es scheint, daß Sergius jetzt die Absicht hat, statt Raina Louka zu heiraten. [Katharina will eben entrüstet gegen ihn losbrechen, er hält sie zurück und ruft mürrisch aus:] Gib mir nicht die Schuld, ich habe nichts damit zu schaffen. [Er zieht sich nach dem Ofen zurück.]

Katharina: Louka heiraten?! Sergius, Sie sind gebunden! Wir haben
Ihr Wort!

Sergius [seine Arme kreuzend]: Mich bindet nichts.

Bluntschli [sehr erfreut über dieses vernünftige Vorgehen]: Saranoff, Ihre Hand! Ich gratuliere Ihnen, Ihr Heldentum ist in manchen Fällen gut angebracht. [Zu Louka.] Schönes Fräulein, empfangen Sie die herzlichsten Glückwünsche eines guten Republikaners. [Er küßt Louka die Hand, zu Rainas größtem Widerwillen.]

Katharina [drohend]: Louka, du hast getratscht!

Louka: Ich habe Raina nicht geschadet.

Katharina [hochmütig]: Raina?! [Raina ist gleichfalls empört über diese Frechheit.]

Louka: Ich habe das Recht, sie Raina zu nennen, sie nennt mich ja auch bloß Louka. Ich habe Major Saranoff gesagt, daß sie ihn nie heiraten würde, falls der Schweizer Herr jemals wiederkommen sollte.

Bluntschli [überrascht]: Was ist das?

Louka [wendet sich zu Raina]: Ich dachte, Sie hätten ihn lieber als
Sergius; Sie müssen am besten wissen, ob ich recht habe.

Bluntschli: Was ist das für ein Unsinn? Ich versichere Ihnen, mein lieber Major, verehrte gnädige Frau, Ihr reizendes Fräulein Tochter hat mir nur das Leben gerettet, nichts weiter; es war ihr niemals etwas an mir gelegen. Wie könnte das auch sein, um Gottes willen! Sehen Sie sich bloß einmal diese junge Dame an, und dann sehen Sie mich an! Sie: reich, jung, schön, ihre Phantasie voller Märchenprinzen und Heldentaten, Kavallerieattacken und weiß Gott was noch! und ich, ein gewöhnlicher Schweizer Soldat, der sich kaum mehr vorstellen kann, was ein geregeltes Dasein ist, nach fünfzehnjährigem Kasernen- und Schlachtenleben, ein Vagabund, ein Mann, der alle seine Lebensaussichten durch eine unverbesserliche romantische Veranlagung verdorben hat, ein Mann, der…

Sergius [auffahrend; wie von einer Tarantel gestochen unterbricht er Bluntschli mit ungläubiger Verwunderung]: Verzeihen Sie, Bluntschli: was, sagen Sie, hat Ihre Lebensaussichten verdorben?

Bluntschli [sofort]: Eine unverbesserlich romantische Veranlagung. Ich bin schon als Knabe zweimal von Hause durchgebrannt. Ich ging zur Armee statt in meines Vaters Geschäft. Ich kletterte auf den Balkon dieses Hauses, statt mich wie ein vernünftiger Mensch im erstbesten Keller zu verstecken! Ich kam hierher zurückgeschlichen, um diese junge Dame noch einmal zu sehen, wo jeder andere Mann in meinem Alter den Rock einfach zurückgeschickt hätte…

Petkoff: Meinen Rock?

Bluntschli:—Ja, Ihren Rock! Jeder andere würde ihn zurückgeschickt haben und wäre dann ruhig nach Hause gereist. Glauben Sie wirklich, daß ein junges Mädchen sich in so einen Menschen verlieben wird? Vergleichen Sie bloß einmal unser Alter—ich bin vierunddreißig! Ich glaube nicht, daß Fräulein Raina viel über siebzehn ist. [Diese Schätzung ruft eine bemerkbare Sensation hervor, alle wenden sich um und blicken einander an; er fährt unschuldig fort:] Dieses ganze Abenteuer, dessen Ausgang für mich Leben oder Tod bedeutet hat, war ihr bloß das Spiel eines Backfisches mit Schokoladenbonbons, ein Versteckenspiel. Hier ist der Beweis! [Er nimmt die Photographie vom Tisch.] Ich frage Sie: würde mir eine Frau, die unsere Begegnung ernst genommen hätte, das geschickt haben mit dieser Inschrift: "Raina ihrem Pralinésoldaten zum Andenken"? [Er hält die Photographie triumphierend in die Höhe, als ob er die Angelegenheit nun über allen Zweifel erhaben geschlichtet hätte.]

Petkoff: Dieses Bild habe ich ja gesucht. Wie zum Teufel kam es dorthin?

Bluntschli [zu Raina, wohlgefällig]: Nun habe ich aber hoffentlich alles schön in Ordnung gebracht, verehrtes Fräulein?

Raina [in unbeherrschbarer Kränkung]: Ich stimme vollkommen mit allem überein, was Sie über sich erzählen. Sie sind ein romantischer Idiot. [Bluntschli fährt sprachlos zurück.] Das nächste Mal, hoffe ich, werden Sie den Unterschied zwischen einem Schulmädchen von siebzehn und einer Frau von dreiundzwanzig bemerken.

Bluntschli [verblüfft]: Dreiundzwanzig? [Sie reißt ihm die Photographie verachtungsvoll aus der Hand, zerreißt sie und wirft ihm die Stücke vor die Füße.]

Sergius [sehr erfreut über die Niederlage seines Nebenbuhlers]:
Bluntschli, mein letzter Glaube ist dahin,—Ihr Scharfsinn ist
Schwindel, wie alles andere—Sie sind noch dümmer als ich.

Bluntschli [überwältigt]: Dreiundzwanzig! dreiundzwanzig! [Er denkt
nach:] Hm! [Schnell einen Entschluß fassend:] In diesem Falle, Major
Petkoff, bitte ich Sie in aller Form um die Hand Ihrer verehrten
Tochter, an Stelle des zurückgetretenen Major Saranoff.

Raina: Sie wagen es?

Bluntschli: Wenn Sie dreiundzwanzig Jahre alt waren, als Sie mir heute nachmittag jene Dinge sagten, dann nehme ich sie ernst.

Katharina [stolz, höflich]: Ich zweifle sehr, mein Herr, ob Sie sich der Stellung meiner Tochter sowie der Stellung des Major Sergius Saranoff, dessen Platz Sie einzunehmen wünschen, bewußt sind. Die Petkoffs und die Saranoffs sind bekannt als die reichsten und angesehensten Familien unseres Landes. Unser Name ist beinahe historisch, wir können bis auf nahezu zwanzig Jahre zurückblicken.

Petkoff: Oh, laß das, Katharina. [Zu Bluntschli:] Ihr Antrag würde uns sehr glücklich machen, Bluntschli, wenn es sich bloß um Ihre Stellung handelte. Aber verwünscht! Sie wissen, Raina ist an eine sehr großartige Lebensführung gewöhnt. Sergius hält zwanzig Pferde.

Bluntschli: Aber was sollen ihr denn zwanzig Pferde? Das ist ja ein wahrer Zirkus?

Katharina [strenge]: Meine Tochter ist an einen Stall ersten Ranges gewöhnt, Herr Hauptmann.

Raina: Aber Mama, du machst mich ja lächerlich!

Bluntschli: Na, gut! wenn es sich um wirtschaftliche Einrichtungen handelt, da stelle ich meinen Mann! [Er geht rasch, an den Tisch und nimmt seine Papiere aus dem blauen Umschlag.] Wieviel Pferde, haben Sie gesagt?

Sergius: Zwanzig, edler Schweizer!

Bluntschli: Ich habe zweihundert Pferde. [Sie sind erstaunt]:
Wieviel Wagen haben Sie?

Sergius: Drei.

Bluntschli: Ich habe siebzig. In vierundzwanzig davon haben je zwölf
Leute Platz und noch zwei auf dem Bock, ohne den Kutscher und den
Kondukteur zu rechnen. Wieviel Tischtücher haben Sie?

Sergius: Wie, zum Teufel, soll ich das wissen?

Bluntschli: Haben Sie viertausend?

Sergius: Nein.

Bluntschli: Ich habe so viel; ferner neuntausendsechshundert Betttücher und Bettdecken, mit zweitausendvierhundert Eiderdaunenkissen. Ich habe zehntausend Messer und Gabeln und die gleiche Anzahl Dessertlöffel. Ich habe sechshundert Diener, sechs palastartige Gebäude, außerdem zwei Mietstallungen, ein Gartenrestaurant und ein Wohnhaus. Ich habe vier Medaillen für hervorragende Dienste, ich habe den Rang eines Offiziers, und den Stand eines Gentleman, und drei Muttersprachen. Zeigen Sie mir irgend einen Mann in Bulgarien, der so viel bieten kann.

Petkoff [mit kindischer Scheu]: Sind Sie am Ende gar der Kaiser der
Schweiz?

Bluntschli: Mein Rang ist der höchste, den man in der Schweiz anerkennt: ich bin ein freier Bürger.

Katharina: Wenn dem so ist, Kapitän Bluntschli, so will ich, da meine
Tochter Sie auserkoren hat, Ihrem Glück nicht im Wege stehen.
[Petkoff will sprechen.] Major Petkoff teilt dieses Gefühl.

Petkoff: Oh, ich werde mich glücklich schätzen… Zweihundert
Pferde—Donnerwetter!

Sergius [zu Raina gewendet]: Und was sagen Sie?

Raina [tut, ab ob sie schmollte]: Ich sage, daß er seine Tischwäsche und seine Omnibusse behalten kann. Ich lasse mich nicht an den Meistbietenden verkaufen.

Bluntschli: Diese Antwort nehme ich nicht an. Ich wandte mich an Sie als Flüchtling, als Bettler, als Verhungernder! Sie haben mich aufgenommen und mir Ihre Hand zum Kusse, Ihr Bett für meine müden Glieder und Ihr Dach zu meinem Schutze angeboten.

Raina [unterbricht ihn]: Dem Kaiser der Schweiz hab' ich das alles nicht geboten!

Bluntschli: Das ist es ja gerade, was ich sage! [Er ergreift ihre Hand rasch und sieht ihr fest in die Augen, während er, seiner Macht vertrauend, hinzufügt:] Bitte, sagen Sie uns nun, wem Sie dies alles gaben?

Raina [ergibt sich mit scheuem Lächeln]: Meinem Pralinésoldaten.

Bluntschli [mit knabenhaft entzücktem Lachen]: Das genügt mir, ich danke Ihnen! [Er sieht auf seine Uhr und wird plötzlich Berufssoldat.] Die Zeit ist um, ich muß nun fort, Major! Sie haben die Regimenter so trefflich dirigiert, daß Sie überzeugt sein können, man wird Sie ausersehen, um einige Infanterieregimenter der Timoklinien loszuwerden. Senden Sie die Leute auf dem Weg von Lom-Palanka heim; Saranoff, verheiraten Sie sich nicht, bevor ich zurückkomme; ich werde pünktlich Dienstag in vierzehn Tagen um fünf Uhr abends hier sein!—Meine verehrten Damen, ich wünsche einen guten Abend! [Er macht ihnen eins militärische Verbeugung und geht ab.]

Sergius: Was für ein Mann! was für ein Mann!

Vorhang