Title: Mensch und Erde: Skizzen von den Wechselbeziehungen zwischen beiden
Author: Alfred Kirchhoff
Release date: January 4, 2020 [eBook #61101]
Language: German
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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1901 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.
Im Original finden sich Teile der Buchwerbung für die Reihe ‚Aus Natur und Geisteswelt‘ sowohl am Anfang als auch am Ende des Buches. In der vorliegenden Fassung wurden vom Bearbeiter beide Teile vereinigt und an das Ende des Texts gestellt.
Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt. Passagen in Antiquaschrift werden im vorliegenden Text kursiv dargestellt. Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original gesperrt gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt erscheinen.
Aus Natur und Geisteswelt.
Sammlung
wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen aus allen Gebieten des Wissens.
31. Bändchen.
Skizzen von den Wechselbeziehungen zwischen beiden.
Von
Alfred Kirchhoff.
Leipzig,
Druck und Verlag von B. G. Teubner.
1901.
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.
Otto Jonassohn
in treuer Freundschaft
gewidmet.
Vorliegende Skizzen waren ursprünglich gar nicht für den Druck bestimmt. Ich hatte sie vielmehr als Unterlagen zu Vorträgen vor einem weiteren Hörerkreis ausgearbeitet. Einer der Vorträge, gehalten im März d. J. am Institut für Meereskunde zu Berlin, ist bereits in Hettners Geographischer Zeitschrift veröffentlicht worden; alle übrigen wurden im Auftrag des Hamburger Senats im Oktober 1899 vor der Hamburger Bürgerschaft gehalten und erscheinen hier zum erstenmal im Druck.
Indem ich nun, um mehrseitigen Wünschen nachzukommen, diese anspruchslosen Skizzen der Öffentlichkeit übergebe, kann ich ihnen nur den einen Wunsch mit auf den Weg geben, daß sie ebenso freundlich teilnehmende Leser finden mögen wie sie sich aufmerksamer Hörer zu erfreuen hatten.
Halle a. S., im Juli 1901.
Der Verfasser.
Seite
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I.
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Das Antlitz der Erde in seinem Einfluß auf die
Kulturverbreitung und die tellurische Auslese seitens der einzelnen
Länder
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II.
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Das Meer im Leben der Völker
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III.
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Steppen- und Wüstenvölker
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IV.
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Der Mensch als Schöpfer der Kulturlandschaft
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V.
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Geographische Motive in der Entwicklung der
Nationen
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VI.
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China und die Chinesen
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VII.
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Deutschland und sein Volk
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Schon aus dem griechischen Altertum erklingt der Streit über die Vormacht zwischen Erde und Menschheit. Die neuere Erdkunde hat ihn unparteiisch geschlichtet. Plato, zufolge der idealistischen Richtung seiner gesamten Weltanschauung in dieser Streitsache entschieden Parteimann, fällt das Urteil: Nicht das Land hat sein Volk zu eigen, sondern das Volk sein Land. Gründlichere Betrachtung enthüllt uns jedoch überall ein stetes Wechselverhältnis von Land und Volk, Menschheit und Erde. So gewiß die Menschheit zu keiner Zeit in allen ihren Zuständen, in allen ihren Thaten unmittelbar abhängig war von der Mutter Erde, so vermag sie sich doch nie und nimmermehr aus deren Banden zu lösen.
Und wer könnte heutzutage bezweifeln, daß die Gewalt unseres Planeten über unser Geschlecht größer sei als diejenige des letzteren über jenen? Wohl trifft gegenwärtig mehr denn je der Sophokleische Triumphgesang zu: „Nichts ist gewaltiger als der Mensch“, indessen doch nur im Vergleich mit den übrigen Geschöpfen, unter denen er sich kraft seiner Geistesentfaltung die Oberhand gewann. Mit den niedersten Organismen des Tier- wie Pflanzenreiches teilt der Mensch so zu sagen die Rangliste im Weltall: er ist ein Geschöpf, eine Geburt des Erdplaneten. Er bleibt wie alle die anderen Lebewesen dieses kleinen Weltkörpers an bestimmte Oberflächenteile desselben gekettet; schon in mäßiger Tiefe unter unseren Sohlen läßt uns die Gluthitze des Erdinneren nicht leben, und selbst vorübergehend als Luftschiffer vermag der Mensch nur wenige Kilometer ins Luftmeer sich zu erheben, weil ihn furchtbare Kälte nebst Sauerstoffmangel aus den ätherischen Höhen zurückscheucht. Ja, dies räumlich so eingeschränkte Dasein der[S. 4] Menschen auf Erden ist nicht einmal von Ewigkeit zu Ewigkeit; nein, es fügt sich auch zeitlich in enge Schranken, wie sie von der Erdnatur bestimmt werden. Wie gern träumen wir davon, die Erde sei nur für uns erschaffen! Aber wir wissen doch jetzt, daß der Erdball einstmals Millionen von Jahren durch den Weltenraum in kreisähnlichen Bahnen dahinsauste, ohne irgend welches organische Leben zu beherbergen; endlich, nachdem sich seine Lavaschmelzglut durch Ausstrahlung gekühlt, der Ozean aus der Atmosphäre auf die nun erstarrte Steinkugel des Erdpanzers niedergeregnet war, tauchten Geschöpfe auf, als Spätling auch der Mensch. Indessen er wird gleich allen Mitgeschöpfen sein Leben nur so lange fristen, als die unentbehrlichsten Lebensbedingungen nicht versiegen, vor allem das nötige Maß von Wärme und das Wasser. Seit kurzem erst kennen wir die gänzliche Unbeständigkeit jeglicher Ortstemperatur; wir wissen, daß in größeren Zeiträumen Eiszeiten mit wärmeren Perioden wechseln und das polare Eis schon einmal z. B. den nordamerikanischen Boden bis in süditalienische Breiten gänzlich überzog. Wie, wenn diese Wärmeschwankungen dereinst das Eis des Nord- und Südpols im äquatorialen Gürtel sich zur Vernichtung alles Lebens zusammenschließen lassen? Oder wie, wenn schon vorher die Erkaltung des Erdinneren das Wasser, jetzt noch untief im Untergrund durch Dampfspannung gehalten, daß es Quellen bilden, Meeresbecken füllen kann, in den Abgrund des Erdinneren versinkt, wie auf solche Weise offenbar der Mond, als kleinere Kugel rascher erkaltet, das Wasser von seiner Oberfläche verloren hat? In dem einen Fall ist eisige Polarlandschaft, im anderen fahle Wüste der Schauplatz des Hinsterbens der letzten unseres Geschlechts. Aber, als sei gar nichts verändert, wird dann die Erde gleichwie vormals weiterrollen in ihrer Bahn ohne Leben, ohne Menschenherzen.
In dieser flüchtigen Phase des Menschendaseins auf Erden nun spendet uns der irdische Wohnraum Nahrung, Wohnung, Kleidung und giebt unserem Thun die Richtung. Schon darum, weil alle jene Darbietungen nicht ins Unge[S. 5]messene wachsen können, ist das Grundmaß aller Menschenleistung, die Gesamtzahl der Menschheit, an die Flächengröße des Landraums der Erdaußenseite notwendig gebunden. Und wie viel der Menschheitsschicksale läßt sich aus der Verteilung, aus der Bauweise der Landmasse herauslesen, was man mit Eduard Sueß’ geflügeltem Wort „das Antlitz der Erde“ zu nennen pflegt! In drei großen Weltinseln ragt das Festland aus dem alles umspannenden Ozean, als Ostfeste, Westfeste und Australkontinent. Auf darwinistischer Grundlage beruht die gesicherte Einsicht, daß die weitaus größte der drei Weltinseln, die unsrige, als Ursprungsstätte des Menschen betrachtet werden muß. In so entlegener Urzeit jedoch, allem Anschein nach vor Ausbildung der artikulierten Sprache, ist der Mensch nach den beiden anderen Erdfesten hinübergezogen, daß im Lauf ungezählter Jahrtausende nach dem Gesetz des Variierens organischer Formen zumal beim Ausschluß der Vermischung mit der unveränderten Form drei Hauptgruppen von Völkern und von Sprachen sich herausbildeten nach Maßgabe des Küstenzugs der drei Weltinseln. Was man auch beibringen mag von vermeintlichen Zügen näherer Verwandtschaft zwischen den Mongolen Asiens und den Indianern, zwischen den Negern Afrikas und den Australiern, jedenfalls befaßte Amerika bis 1492, Australien bis 1788 eine körperlich, noch weit mehr sprachlich und sittenkundlich geschlossene Sondergruppe der Menschheit im Gegensatz zur Ostfeste, deren Größe und vielfache Trennung durch Meere, Wüsten, gewaltige Bodenerhebungen zwar gleichfalls zur Dissoziierung der ursprünglich völlig gleichartigen Menschheit in Völker, ja in Rassen führte, nur ohne diese hermetisch voneinander abzusondern.
Vornehmlich kulturell ist die Trennung in die drei Erdfesten aufs schärfste umgeprägt worden auf die Menschheit. Einzig unsere Ostfeste erfand die Kunst der Tierzüchtung behufs Melkerei und entdeckte das Geheimnis, das nützlichste aller Metalle, das Eisen, aus seinen Erzen darzustellen. Dermaßen wirkungsreich erwies sich der Verschluß der Festen durch das Meer, bis der Wagemut europäischer Schiffahrt die fliegenden[S. 6] Brücken über alle Ozeane schlug, daß nicht einmal über die Beringsenge Eisenverhüttung oder Züchten von Melktieren aus Nordasien in die neue Welt eindrang. So hoch die Gesittung der Altamerikaner in Mejiko und Peru gediehen, nie hat man dort Stahl und Eisen gekannt vor Hinkunft der Spanier; und dasselbe Renntier, das von Lappland bis nach Ostsibirien seit alters gemolken wurde, haben Eskimo wie Indianer immer nur gejagt.
Der nördlichen Halbkugel gehört das meiste Land, darum war sie von jeher die hauptsächlichste Heimstätte der Menschheit. Besonders umfangreich ist ihr Anteil an dem gemäßigten Erdgürtel, dieser glücklichen Zone, in der des Menschen Leibes- und Willenskraft gestählt wird, ohne wie im arktischen Raum aufzugehen im Kampf gegen die Unbilden der polaren Natur; nach Süden pflegen die Erdteile in zipfelförmige Halbinseln oder in kompakte Keilgestalten auszulaufen, so daß nur verschmälerte Teile von Südafrika und Südamerika in die südliche gemäßigte Zone tiefer hineinragen. Somit kann sich unsere Erdhälfte des Doppelvorzugs rühmen, zugleich die meisten und die thatkräftigsten Bewohner zu besitzen. Auch in Südamerika rafft sich zur Zeit der an Chile und Argentinien aufgeteilte außertropische Süden zu kraftvollerer Haltung auf. Wie viel gewaltiger jedoch stehen in wirtschaftlicher, staatlicher, geistiger Größe innerhalb des Nordgürtels menschlicher Schaffungskraft Europa, China, Japan, die Vereinigten Staaten!
Wüsten und Polarlande werden ihre Bewohner nie zu höheren Verdichtungsgraden gelangen lassen. Zwischengelagert zwischen Landen fruchtbareren Klimas bilden wüsten- oder steppenhafte Trockenräume dauernde Schranken für Kulturausbreitung und Völkermischung, weil sie den Verkehr nur von Oase zu Oase, im günstigsten Fall längs eines Flußlaufs, immer also bloß auf beschränkten Linien zulassen. So hielt die Sahara durch die Jahrtausende unsere Rasse von der Negerrasse getrennt, bildete mit der arabischen Wüste zusammen die nie überschrittene Äquatorialgrenze des Römerreichs. Der centralasiatische Trocken[S. 7]raum, dessen Unwegsamkeit durch den massigen Hochlandcharakter, durch die höchsten Gebirge noch wesentlich gesteigert wird, sperrte von jeher die indische Welt ab von der sibirischen, die chinesische von der des Abendlandes. Umgekehrt begrüßen wir in schiffbaren Strömen wertvolle Leitlinien der Erschließung und Gesittung der Länder. In wenigen Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts drangen die Europäer auf dem Orinoko, dem Amazonenstrom, dem Parana ins Herz von Südamerika ein; Jahrtausende hingegen währte es, bis man in Afrika mit seinen von Stromschnellen verriegelten Flußstraßen ebenso weit kam. Nicht voll vierzig Jahre brauchte die kleine Kosakenschar, Sibirien für den Zaren zu erobern, indem sie die feine wurzelartige Stromverflechtung im Süden des Landes benutzte, um die unermeßlichen Nadelholzwälder bis zum ochotskischen Busen zu durchmessen; und genau längs diesen Strömen hat danach die russische Kolonisation sich ostwärts vorgeschoben, den nur von zwei Meereslücken unterbrochenen Ring der Europäisierung des Nordens unserer Erde bei Wladiwostok schließend.
Das Gesicht der Erde zeigt weit größere Verschiedenartigkeit als das des Mondes. Neben den eintönigen Flächen Afrikas, vollends Australiens erblicken wir scharfe Ländergliederung, vor allem im breiten Norden der Ostfeste; gröbere auf weiterem Raum in Asien, feinere, gleichsam in Miniatur gearbeitet, in Europa. Daher stammen die großen Gegensätze von asiatischen Völkerindividualitäten, zu denen die beiden Riesenvölker der Erde, das Vorderindiens und das Chinas gehören, neben der reizvollen Vielheit europäischer Nationen in so viel engeren Grenzen. Dem Umriß nach nichts als eine größere, vom Uralgebirge aus westwärts vorgestreckte Halbinsel Asiens, bekam dies Europa eben dadurch das Gepräge eines selbständigen Erdteils, daß es in seiner unvergleichlich zierlichen Ausgliederung, seiner Fülle von Meerbusen und Sunden, seiner teilweisen Auflösung zu Halbinseln sowie Inseln, seiner Durchzogenheit mit Gebirgen, die den Halbinseln stärkeren Abschluß gegenüber dem Rumpf verleihen und auch diesen wieder in sich zergliedern, ein ganzes System von Ländern vorstellt. Dieses System euro[S. 8]päischer Länder deckt sich mit dem der Hauptvölker Europas. Auch das bestimmt einen gleichartigen Charakterzug zwischen beiden, daß die Einheit in der Mannigfaltigkeit künstlerisch gewahrt blieb. So viel gleichmäßiger Bodennatur, Klima, Pflanzen- und Tierwelt das kleine Europa einigen im Gegensatz zu Asien, so viel winzigere Meeresspiegel sich in seine Zackengestalt einfügen, so viel leichter überschreitbare Gebirge die Lande scheiden, so giebt es auch eine gesamteuropäische Kultur, keine gesamtasiatische.
Daß so oft Wohnflächen von Völkern mit natürlich geschlossenen Landräumen zusammenfallen, ist ein wissenschaftlich noch wenig untersuchtes Problem. Nur Stumpfsinn kann es für selbstverständlich erachten, in Portugal lauter Portugiesen zu finden, aber auch nur dort echte Portugiesen, in der Apenninenhalbinsel bloß Italiener, in Frankreich bloß Franzosen, auf den britischen Inseln wesentlich nur Briten. Das alles sind doch nicht von Urbeginn her gegebene, sondern geschichtlich gewordene Thatsachen. Rein geschichtliche Zufälligkeiten sind es indessen auch nicht gewesen, die in Gestalt von Völkerwanderungen, Eroberungen, Staatsschöpfungen jene Länder mit ihrem Volk erfüllten. Dazu half die Ländernatur selbst mit, teils durch die Bestimmtheit ihrer Grenzumhegung, teils durch gewisse Beeinflussung der in diesem Grenzgehege dauernd Angesiedelten. Es giebt Wahlverwandtschaften zwischen dem Volk und seiner Heimat. Sie können sich natürlich erst an Ort und Stelle entfaltet haben, und gleichwohl greifen sie so tief ins Wesen der Volkstümlichkeit ein, daß wir sie gar nicht mehr vom Volksgenius zu trennen vermögen. Das Russenvolk wäre uns z. B. undenkbar auf englischem Boden, das britische auf russischem. Der russische Bauer, der seit unvordenklichen Zeiten sich an das in Sommerhitze und Winterkälte schwankende Klima Osteuropas, ohne es zu wissen, immer von neuem angepaßt, indem er sich in seinem Dampfbad krebsrot erhitzt und danach unbekleidet in arg durchkältetem Schnee wälzt, ist ein natursinniges Kind der centralrussischen Waldung; bei lange Jahrhunderte hindurch einsamem Weilen in kleinen Walddörfern[S. 9] wurde er Zimmermann, Wagner, Kunstschnitzer in einer Person, gewann Geschicklichkeit auch für allerlei anderes Handwerk, da er meist für allen Bedarf allein zu sorgen hatte, und ward im endlos erscheinenden Raum abenteuerlustiger Wanderer; im Winter nutzte er Frost und Schnee, selbst pfadlose Moräste zu Fuß oder im Schlitten weithin zu durchziehen, im Sommer war er wagehalsiger Flößer und Flußschiffer, nur das Meer kannte er von Haus aus gar nicht. So wurde er der rechte Festlandkolonist, dessen praktischer Sinn sich nach Maßgabe der Ausdehnung des Zarenreichs bis ans japanische Meer an immer größeren Aufgaben erfolgreich bethätigte. Wie anders der Brite, dem auf seiner für Weltschiffahrt wie geschaffenen Insel der Seemannsberuf nun im Blut steckt und der jene von diesem Beruf großgezogenen Charaktervorzüge scharfen Ausspähens, zäher Ausdauer, mutigen Unternehmungsgeistes einsetzte zur Begründung seiner Seemacht, seiner durch alle Erdteile verzweigten Handels- und Kolonialstellung!
In einigen Fällen läßt sich schon heute der Nachweis erbringen, wie die Landesnatur eine förmliche Musterung unter den Einzüglern hält, um nur den für sie Geeigneten das Bürgerrecht zu erteilen. Eine solche „tellurische Auslese“, wie ich es nennen möchte, scheint mir vorzuliegen in der höchst merkwürdigen Beobachtung, daß der größte Brustumfang, also die umfangreichste Ausbildung der Lunge, allein diejenigen Völker auszeichnet, die die drei höchsten Hochländer bewohnen: Tibet, Mejiko und Hochperu. Beim Verweilen in größeren Seehöhen muß der Mensch naturgemäß mehr Luft einatmen, weil dort die dünnere Atmosphäre in gleichen Raumteilen weniger Sauerstoff enthält als auf niedrigeren Höhenstufen. Selbst auf deutschen Mittelgebirgen ist daher das Atmen der Bewohner tiefer als bei denjenigen am Gebirgsfuß, wie die betreffenden Messungen der Stellungspflichtigen ergeben. Der Mensch vermag sich auch bei plötzlichem Versetztwerden auf Bergeshöhen außer durch tiefere durch häufigere Atemzüge, als Begleiterscheinungen rascheren Blutumtriebes, unbewußt dem Höhenklima anzuschmiegen; so bemerkte der französische Natur[S. 10]forscher Vallot, als er sein Montblanc-Observatorium bezogen hatte, bereits nach wenigen Tagen an sich eine größere Zahl von Pulsschlägen in der Minute als er vorher in Genf gezählt. Daß es sich nun aber bei den in Rede stehenden drei Hochlandvölkern nicht um eine durch bloße Atmungsgymnastik erzielte Lungenvergrößerung handelt, das lehrt der anatomische Befund: ihre Lungenflügel bestehen aus einer größeren Anzahl von obendrein umfänglicheren Lungenbläschen. Welche andere Deutung also wäre für diesen anziehenden Kongruenzfall von Hochlage des Wohnraums und abnormer Brustweite zu ersinnen als „tellurische Auslese“? Verscheucht durch Bedränger oder etwa als streifende Jäger auf jene tibetanischen, bezüglich amerikanischen Höhen gelangt, waren die Vorfahren von deren heutigen Bewohnern nur dann ohne Beschwerde zum Fortleben in der sauerstoffarmen Luft befähigt, wenn der glückliche Zufall es fügte, daß ihnen der erwähnte reichere Ausbau der Lunge eigen war. Solchen allein mochte Gesundheit und längeres Leben beschieden sein; von ihnen werden die Nachkommen den Vorzug geerbt haben, und von Geschlecht zu Geschlecht wird sodann fortgesetzt natürliche Auslese die entscheidend bedeutungsvolle Eigenart der Lunge stetig erhalten haben. Diese Erklärungsweise hat neuerdings eine gewissermaßen experimentelle Bestätigung erfahren. Als nämlich im Osten von Hochperu, wo der Amazonas bereits im Tiefland strömt, Goldwäschen am Stromufer eröffnet wurden, lockte der gute Verdienst auch die breitbrüstigen Aimara, Nachkommen der alten Inkaperuaner, von ihren alpinen Höhen dorthin. Bald jedoch erlagen sie dem Klima: die Niederungsluft war ihnen zu dicht. Nur einige wenige Aimarafamilien erhielten sich am Leben, ja sie arbeiteten schon in der zweiten Generation auf den Goldwäschen, als der englische Arzt Dr. Forbes sie besuchte. Und was fand er? Aimaras von durchweg schmalerem Brustbau, deren Lungen mithin kein Übermaß von Sauerstoff zur Verarbeitung aufgebürdet bekamen! Man sieht demnach: tellurische Auslese hatte sich sofort ans Werk gemacht, die nicht in den neuen Wohnraum Passenden unerbittlich ausgemerzt, hingegen die zufällig[S. 11] von der Stammart Abweichenden, für diese Örtlichkeit Lebensfähigen in züchterische Pflege genommen.
Westindien liefert uns ein anderes Beispiel solcher von der Landesnatur geübten Auslese. Dem auf dieser herrlichen Inselflur beständig umschleichenden gelben Fieber erliegen die Eingebornen viel weniger als Neuankömmlinge. Wie haben nun jene ihre größere Widerstandskraft gegen das schlimme Krankheitsgift erworben, da sie doch alle, Weiße wie Neger, von Voreltern stammen, die gar nicht hier zu Hause, sondern im Lauf der letztvergangenen 400 Jahre eingewandert waren? Das Geheimnis entschleiert sich, sobald wir den unter unseren Augen noch gleichmäßig andauernden Auslesevorgang beobachten. Die Erfahrung nämlich lehrt, daß Zuwanderer aus Klimaten mit strengerer Winterkälte dem Gelbfiebermiasma Westindiens schlechter widerstehen; es wählt sich somit dieser Archipel einen größeren Prozentsatz von afrikanischen Negern aus dem Einzüglerangebot als von Europäern, innerhalb letzterer wieder einen größeren von Südeuropäern als von Franzosen, einen größeren von Franzosen als von Deutschen oder gar Osteuropäern; die übrigen werden den Friedhöfen überlassen. Gemäß der auch unter Angehörigen derselben Nation vorhandenen individuell verschieden hohen Immunität gegen das gefährliche Fieber werden z. B. selbst Andalusier in Kuba oder Portoriko von ihm befallen, jedoch sie kommen leichter durch als solche aus Gegenden mit Schneewinter, und bei allen Neulingen auf westindischem Boden bestätigt es sich, daß jede Periode einer heftigeren Gelbfieberepidemie den Organismus gegen das Miasma immer besser feit, selbst wenn er vom innerlichen Kampf seiner Säfte gegen dieses nichts verspürte, also gar nicht aufs Krankenlager gestreckt wurde. Ganz analog stehen ja auch in den Burenstaaten Südafrikas diejenigen Pferde, die ausnahmsweise das jährlich wiederkehrende „Pferdesterben“ überstanden haben, als sogenannte „gesalzene“ d. h. nun immun gewordene viel höher im Preis, obwohl sie gleichzeitig mit dem sieghaften Kampf gegen jenes tückische Leiden ein eigentümlich blödes Wesen annehmen. Auch von uns pflegt ja gegen[S. 12] Masern- und Scharlachinfektion sich widerstandskräftiger zu bewähren, wer die Masern- oder Scharlachansteckung schon einmal siegreich überstand. Die Europäer haben indessen ihre stärkere Festigkeit gegen diese unter Naturvölkern bei der leisesten Ansteckung so gräßlich verheerend auftretenden Krankheitsgifte gleichfalls erst errungen und behaupten sie nur durch unerbittliche Ausmerzung der Untüchtigen. Bei uns, den Hartgesottenen, merkt man diesen fort und fort anhaltenden Ausleseakt bloß an etwas erhöhter Kindersterblichkeit während einer Scharlach- oder Masernepidemie; grausig dagegen offenbart sich der nämliche Vorgang, wenn er ein erstes Mal einsetzt in einem vorher von dem Miasma noch unberührt gewesenen Volk. So raffte unmittelbar nach Besitzergreifung der Fidschi-Inseln seitens der Engländer 1874 Ansteckung durch ein so mäßiges Maserngift, daß es die übertragenden Briten an sich selbst gar nicht merkten, nicht weniger als 60000 der braunen Insulaner dahin, Alt und Jung.
Der hohe Norden Amerikas hat in den Eskimo ein wahres Idealvolk von Anpassung an die harten Lebensbedingungen der Arktis groß gezogen. Kein Schwächling wurde an den kärglich mit Speise beschickten Tisch der Eskimolande zugelassen. In Kleidungs- und Wohnweise erklügelte sekulare Erfahrung ein unübertreffliches System von Gegenwehr gegen eine so häufig bis unter den Quecksilberfrostpunkt erniedrigte Temperatur; die Dänen, die sich an Grönlands Westküste häuslich niedergelassen haben, können dort ihr Dasein nur fristen, indem sie sich genau so wie die Eingebornen in eng anschließende Pelzkleidung hüllen mit der ruhenden Luftschicht zwischen Pelz und Oberhaut als trefflichem Warmhalter nach dem Prinzip der Doppelfenster. Ausschließlich an der Seeküste zu wohnen gestattet dem Eskimo seine Heimat, weil nur hier auch im Winter Seehunde zu erlegen sind. Robbenschlag, weiß der Eskimo, ist für ihn das alleinige Mittel, durch alle Jahreszeiten hindurch sich zu beköstigen. Wie bei uns der junge Jurist zumeist erst sein Assessorexamen bestanden haben muß, ehe er die Verlobungskarten drucken lassen darf, so ist es darum dem Eskimojüngling[S. 13] durchaus erst nach dem Fang seines ersten Seehundes gestattet, seiner etwas thranigen Geliebten die Hand zum Ehebund zu reichen.
Doch welch scheinbar unbegreiflicher Gegensatz! Unter diesem Gorgonengesicht eisiger Polarnatur mit ihrem grauenhaften Winter, der auf Monate den belebenden Sonnenstrahl der Erde mißgönnt, — da erfreuen sich die Eskimo habituellen Frohsinns! Eben hierin offenbart sich uns eine psychische Naturauslese. Besonders der andauernde Lichtmangel stimmt die Lebensgeister der Menschen herab und untergräbt bei dem tief innerlichen Zusammenhang zwischen Leib und Seele gar bald auch die körperliche Gesundheit. Das veranlaßte ja Julius Payer nur aus den lustigsten Quarneroli die Mannschaft seines Tegetthoff zu wählen, und wie viel Kurzweil mußte er trotzdem aufbieten, letztere vor stumpfer Verzweiflung zu retten, als das Schiff, vom Eis gepackt, ziel- und willenlos in die anscheinend ewige Polarnacht hinaustrieb! So geht denn unser Schluß kurz dahin: nur ganz besonders mit Gemütsheiterkeit begnadete Menschen blieben bei gelegentlichem Eindringen in jene nördlichsten Breiten, wie sie allein die Westfeste erreicht, am Leben; gemäß der bekannten Erblichkeit gerade auch der Temperamentsstimmung vererbten sie diese durch nichts zu beugende Fröhlichkeit auf fernere Geschlechter, denen dies kostbare Gut, obschon bloß in wenigen Tausenden von Herzen, dadurch behütet bleibt, daß jedem zufällig zu Trübsinn Ausartenden von der Natur das Todesurteil gesprochen wird.
Eine andere beneidenswerte Charaktertugend dieser „Letzten Menschen“ gen Norden, ihre Friedfertigkeit, wurde erst recht ersichtlich tellurisch gezüchtet. Denn ohne Feuerungsstoff zu besitzen mußten sich die Eskimo durch Abgabe der eigenen Körperwärme vor dem Erfrieren unter ihrem Obdach wechselseitig bewahren. Der wenn auch deshalb eng und niedrig gehaltene Innenraum ihrer Hütte ließ sich aber doch nur auf den erforderlichen Wärmegrad bringen, wenn er durch Halbverschläge zum Wohnen einer Vielzahl von Familien verwendet wurde. Da hieß es denn: Vertragt euch hübsch oder erfriert! Die[S. 14] Eskimo zogen verständig genug das erstere vor und wurden somit trotz ihres vielmehr cholerischen als phlegmatischen Wesens eine so verträgliche Menschenvarietät, daß sie selbst Rechts- und Ehrenhändel satirisch-lyrisch ausfechten, indem beide Parteien vor versammelter Gemeinde mit den unblutigen Waffen recitativer Spottlieder aufeinander eindringen und derjenige als Sieger aus dem Streit hervorgeht, der den lachenden Beifall der Genossen schließlich auf seiner Seite hat.
So erkennen wir beim unbefangenen Verfolgen ursächlicher Zusammenhänge überall den Menschen, ob unmittelbar oder in weiterer Vermittlung, bis zu seines Herzens Tiefen als echtes Kind seiner Heimat.
Die einzige absolute Großmacht auf Erden ist das Meer. Aus dem Meeresschoß erst ist das Land geboren worden, das noch heute in insularer Zerstückelung bloß hie und da den allumfassenden Ozean unterbricht. Nur das Meer bildet zwischen der Lufthülle und dem Gesteinspanzer der Erde ein Ganzes, und der Hauptsache nach ist die Erde immer noch ein vom Ozean umwogter Planet. Auch den geheimnisreichen Ursprung des organischen Lebens werden wir uns als ein folgenschweres Begebnis innerhalb der Meeresflut aus jener Zeit zu denken haben, da es noch kein Land gab und unzertrennt ein einziger Ozean den Erdball umgab als koncentrische Hohlkugel gleich der ihn selbst einschließenden der Atmosphäre. Ist aber die Weiterentfaltung des irdischen Lebens einheitlich erfolgt, so entstammen selbst die landbewohnenden Gewächs- und Tierformen bis hinan zum Menschen marinen Verfahren.
Durch äonenlange Anpassung an die Daseinsbedingungen außerhalb des Meeres hat sich indessen eine tiefe Kluft herausgebildet zwischen land- und meerbewohnenden Geschöpfen. Zwar Flüsse und Seen, durch ihre Wassernatur dem Meer wahlverwandte Elemente des Landes, verwischen in Ausnahmefällen die sonst so streng eingehaltene Grenze des ozeanischen Faunareichs; manche Fische sind wie Aale und Lachse geradezu Doppelwohner in Salz- wie Süßwasser, andere Seefische gewöhnen sich allmählich an das minder salzige Gewässer der Flußmündungen, bis ihre Nachkommen, die Stromadern hinaufschwimmend, schließlich für die Dauer im Süßwasser verbleiben, gleichwie der kleine Keulenpolyp in jüngster Zeit erst aus der Nordsee durch das Brackwasser der Elbmündung in die Elbe und Saale, ja bis in den Süßen See bei Eisleben eindrang.[S. 18] Wale gebären am Land, flugkräftige Fischräuber, so der Fregattvogel, der Albatros bewegen sich mit ihren mächtigen Schwingen tagelang über hoher See, Tausende von Kilometern entfernt von der Küste. Trotzdem bleibt der Küstenzug die durchgreifendste Scheidelinie in der Verbreitung der Lebewesen auf Erden. Und der Mensch, dessen ganze Organisation darauf hinweist, daß seine Ahnen im Tertiäralter früchteverzehrende Waldinsassen gewesen, war selbstverständlich von Anfang an ausschließlicher Landbewohner. Der Küstenring der Ostfeste darf als weitgesteckte Außenmauer des Heimatshauses der Urmenschheit gelten.
Das Meer kann auf den Menschen, als er es zuerst erblickte, nur abschreckend gewirkt haben mit seiner Ungastlichkeit, mit den jähen Gefahren, durch die es den nährenden Mutterboden des Festlandes bedrohte in der Gestalt von hoch aufspringender Brandung, überschwemmenden Fluten, furchtbarem Sturmwetter. Dem weit überlegenen, mit elementarer Gewalt andrängenden Feind gegenüber sah sich der wehrlose Mensch zuvörderst in die Verteidigungsstellung gedrängt, zumal an Flachküsten, wo das Steigen und Fallen des Meeresspiegels bei Flut und Ebbe Gezeitenströmungen erzeugt, die weit über die Küstenniederung daherfegen. Plinius hat uns ein dramatisches Bild dieses an Urzeiten gemahnenden Kampfes mit dem Ozean vom deutschen Nordseegestade überliefert, als dieses zur römischen Kaiserzeit des schirmenden Deichbaus noch entbehrte. Alltäglich, berichtet Plinius, setzte der Flutstrom dies Land der germanischen Chauken unter Wasser, daß die Bewohner, in ihre Hütten geflüchtet, Seefahrern glichen, bis dann der Ebbestrom einsetzte und die Leute wie Schiffbrüchige aus ihren engen Behausungen lockte, um Fische aus dem zurückweichenden Meerwasser zu fangen oder ausgeworfenen Seetorf vom feuchten Wattengrund aufzulesen. Wir sehen hier den Daseinsstreit des Menschen mit dem Meer schon mit vervollkommneten Hilfsmitteln geführt; die Chauken hatten sich bereits auf selbst aufgeführten Hügeln, auf „Wurten“, einen festen Baugrund für ihre Hütten geschaffen, wie noch heute die Halligleute auf den kleinen, darum[S. 19] uneingedeichten Marschlandinseln vor Schleswigs Westküste solche benutzen. Es brauchte nur noch der „goldene Reif“ des Deichwalles längs der Küste gezogen zu werden, um den amphibischen Gürtel des Wechselspiels der Gezeiten als weide- und weizenreichen schweren Marschboden dauernd dem deutschen Festland zu gewinnen. Man weiß es aus der Geschichte, wie viel Segen dieser Triumph unseren und den niederländischen Küstenbewohnern eingetragen hat, seitdem der Friese nach dem letzten Spatenstich stolz dem in feste Schranken zurückgewiesenen „blanken Hans“ d. h. dem Meer das Siegeswort zurief: „Trutz nun, blank Hans!“ und es heißen durfte: Deus mare, Batavus litora fecit. Der über den sonst so allmächtigen Gegner erzielte Erfolg steifte den freiheitsstolzen Nacken und je unablässiger der Deichbau gemeinsame Arbeit forderte für seine fernere Instandhaltung, wie er nur zu gründen gewesen durch thatkräftiges, entsagungsvolles Zusammenwirken vieler, desto zählebiger entfaltete sich hinter dieser Festungsmauer gegen den Tyrannen Okeanos der den selbstsüchtigen Einzelwillen bändigende ehrenfeste Gemeinschaftsgeist, der alle staatliche Ordnung trägt, ganz ähnlich wie Jahrtausende früher hinter den Damm- und Kanalbauten am unteren Huangho, in Babylonien oder am ägyptischen Nil.
Ungleich wichtiger jedoch erscheint jener entscheidungsvolle Schritt, den der Mensch in entlegener Vorzeit that, als er, das Grauen vor dem Unbekannten bezwingend, sich kühn dem feindlichen Element selbst anvertraute, um die wogende, endlos vor ihm liegende See zu befahren auf gebrechlichem Floß, im ausgehöhlten Baumstamm oder im roh aus Hölzern gezimmerten Boot. Mehr als einmal mag unser Geschlecht, durch ausgedehnte Wanderungen längst zerspalten in variierte Horden, die einander nicht kannten, angelangt an der Küste des Meeres, diesen gewichtigen Fortschritt vollzogen haben, der den Keim zur Herrschaft des Menschen über die Erde in sich barg. Wo Ströme ins Meer mündeten, konnte man den Versuch wagen, auf Flußbooten die hohe See zu erreichen, anderwärts erzeugte der Trieb, auf dem Rücken des Meeres sich dauernder als bloß[S. 20] schwimmend zu bewegen, unmittelbar jene nachmals so staunenswert hoch entwickelte Kunst des Baues wie der Führung mariner Fahrzeuge, durch die der Mensch, unter allen Geschöpfen allein, die Schranke der Küstenlinie nach allen Seiten und in die weitesten Fernen zu durchbrechen vermochte.
Was in aller Welt trieb ihn denn aber zu dem tollkühnen ozeanischen Wagnis? Recht oft wohl der Hunger, dieser finstre, allgewaltige Erzieher der Menschheit, wie uns schon die nach Fischbeute im Ebbestrom ausspähenden Chauken ahnen lassen; oft auch mag die Flucht von einem überlegenen feindlichen Stamm in Todesangst erfinderisch gemacht haben, um die trügerische See als zeitweiligen Zufluchtsraum dem sicheren Ende vorzuziehen. Schlug dann aber ein Volksstamm seinen Wohnsitz für die Dauer am Meeresstrand auf, so vermochte zweierlei ihn zu allmählicher Vertrautheit mit dem anfangs gefürchteten Element zu erziehen: der Schatz des Küstenmeeres an verwertbaren Seetieren und winkende Gegenküsten oder beides zusammen. Der Nahrungsmangel der Polarlande hätte die Eskimo wohl nie bis gegen und über den 80. Parallelkreis vordringen lassen; das erwirkte vielmehr allein die Nahrungsspende des tierreichen arktischen Meeres; wesentlich der Seehundsfang war es, der diese beherzten Polarmenschen über die eisigen Sunde Amerikas bis in den höchsten jemals von Menschen bewohnten Norden geleitete und sie zu so unübertrefflichen Meistern im Kajakfahren heranbildete, daß ein geschickter, ausdauernder Eskimo die Strecke von Rügen nach Kopenhagen im Einmannsboot an einem Tage zurücklegen könnte. Die Kolonisation der Hellenen rückte, den Thunfischzügen entgegengehend, vom ägäischen Meer längs dem pontischen Strand Kleinasiens vor, wie diejenige ihrer nautischen Lehrmeister, der Phönizier, durch das Vorkommen der für ihre Färberei unentbehrlichen Purpurschnecke an den verschiedensten Uferstrecken des Mittelmeers beeinflußt worden war. Wo auch außerhalb der Polarwelt das Binnenland durch Felsenwildnis, Moor und Walddickicht den Menschen zurückscheucht, das Meer dagegen durch Fische, Muscheltiere und Krebse eine gut beschickte Tafel ihm aufthut, da begegnen wir[S. 21] Völkern, die gleich Seevögeln sogar fast ausschließlich von Seekost leben, am Land nur wohnen; so am äußersten Südende der bewohnten Erde den Feuerländern, in dem ganz skandinavisch von Fjorden zerschnittenen, zu Küsteninseln zerrissenen Südosten Alaskas den Tlinkit-Indianern, die dermaßen mit ihren trefflich gebauten schlanken Fahrzeugen verwachsen sind, daß sie nur ungern und ungeschickt zu Fuß sich bewegen. Bei uns in Europa hat sich gleichfalls ein ganz überwiegend der Küste angehöriges Schiffervolk aus den Dänen herausgebildet, seitdem ein Teil derselben an Norwegens Strand unter dem treffenden Namen der Wikinger d. h. der Fjordenleute Siedelungen gründete zwischen einem überaus fischreichen Meer und den öden Fjelden. Die Normannengeschichte entrollt uns dazu ein eindrucksvolles Bild, wie kühne Seefahrer immerdar auch leicht Seeräuber wurden; als solche verlegten die Normannen ihre Raubzüge bald vom heimischen Strand in ferne Lande, wozu die freie Weite des Meeres den Mutigen einlud, fuhren die ostenglischen Flüsse, die Seine, die Elbe, den Rhein hinauf, um Köln zu brandschatzen, betraten erobernd den Boden Siziliens. Gleichwie in den Wüsten gilt auf dem Meer der Satz, daß verführerisch reiche Beute den Wagehals zum Überfall lockt, zumal wenn Ortskunde und ein sicherer Bergeplatz des Raubes Erfolg verheißt. Die dalmatinische Küste, die in der ganzen Flanke der adriatischen Schiffskurse eine solche Fülle günstiger Ausfallsthore wie Schlupfwinkel durch ihre versteckten Felsbuchten und engen Seegassen darbietet, war deshalb schon im Altertum ein ständiger Sitz der Piraterie; und wenn die illyrische Königin Teuta den Sendboten Roms auf deren Forderung, das Raubhandwerk einzustellen, stolz erwiderte, das gehe Rom nichts an, es sei einmal bei ihrem Volk so Brauch, hatte das eine gewisse geographische Berechtigung. Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern erzieht auch Räubervölker.
Daß Buchten- und Inselfülle der Küstenmeere die Bewohner nautisch anregt, ist neuerdings etwas überkritisch angezweifelt worden. Hinter den glatt verlaufenden, inselleeren Küsten des australischen und afrikanischen Festlandes wohnten[S. 22] die Eingeborenen seit Alters ohne jede Fühlung mit dem Meer. Man sage doch nicht, der Neger zeige keine Anlage zum Seemannsberuf! Wie mancher schwarze Afrikaner hat schon wackre Matrosendienste am Bord unserer Schiffe geleistet! Der ganze Küstenstamm der Kruneger bei Kap Palmas ist sogar dadurch weltbekannt, daß aus ihm die besten Schiffsknechte der westafrikanischen Kauffahrtei stammen, allerdings erst seit diese „Kruboys“ in neuerer Zeit von vorüberfahrenden Schiffen der Europäer zu solcher Arbeit gedungen wurden. Bedeutsam jedoch dünkt es, daß die Papelneger Portugiesisch-Westafrikas südlich von Senegambien, dieses einzige selbständig Schiffahrt treibende Negervolk, eben dort sich entwickelt hat, wo der Bissagos-Archipel der Schlauchmündung des Rio Geba dicht vorlagert. Am insel- wie halbinselarmen Küstensaum Südamerikas trafen die europäischen Entdecker nichts als Floßfahrt, abgesehen von den Rindenkähnen der Feuerländer; wo dagegen unfern der Orinokomündung die westindische Inselreihe an das Festland ansetzt, hatten die Kariben bereits seetüchtige Schiffe, die sie mit Steuerruder lenkten und unter Baumwollsegeln dahingleiten ließen; sie waren gefürchtete Seeräuber und hatten die Eroberung der Antillen begonnen. An der Westseite Nordamerikas grenzte wiederum Seeunkunde der Indianerstämme und hochgesteigerte Seetüchtigkeit genau da aneinander, wo mit der de Fuca-Straße der Fjordencharakter der Küste anhebt. Asien wie Europa zeigen uns erst recht die Hauptgebiete ihrer nautischen Entfaltung an ihren am reichsten gegliederten Außenseiten. Unter den asiatischen Seefahrervölkern von Arabien bis Japan stehen diejenigen des umfangreichsten Tropenarchipels in der Mitte dieses Länderzugs schon frühzeitig den übrigen insofern voran, als wir hier bei den Malaien den Ursprung zu suchen haben für einen ausgezeichneten Bootsbau und den Ausgangspunkt für die ungeheure Verbreitung der Malaienrasse über die zahllosen Inseln der Südsee. Seit vorchristlichen Zeitfernen hat diese allmählich vollzogene Völkerwanderung über den größten aller Ozeane den nämlichen Typus des schlanken, oft mit Ausleger gegen das Kentern geschützten Bootes mit dem scharfen[S. 23] Kiel verbreitet, dessen Ruderkraft durch Mattensegel verstärkt wird und das die plumpe Walzenform des Einbaums hier nirgends hat aufkommen lassen. Erstanden aber ist dabei die polynesische Abart der lichtbraunen Rasse, die von allen Zweigen unseres Geschlechts am allseitigsten und tiefsten verknüpft ist mit dem Weltmeer, im materiellen wie im geistigen Leben bis hinan zu Dichtung und Mythus; ewig die balsamische Seeluft atmend, früher schwimmen lernend als gehen, indem sie als Säuglinge schon auf dem Mutterarm durch den Gischt der Brandung geführt werden, leben diese Menschen auf ihren schmalen Koralleneilanden ein ganz amphibisches Dasein, fast wie auf festgeankerten Schiffen in hoher See. Blicken wir auf den indisch-arabischen Südwesten Asiens, so offenbart uns das ewige Wechselspiel der Monsune die großartige Förderung des Schiffsverkehrs über den indischen Ozean; weil immer zur Winterzeit der nördlichen Erdhälfte die Segler so ständig vom Monsun nach Afrikas Ostküste getrieben wurden, wie dann im Sommerhalbjahr wieder heimwärts nach dem indischen oder arabischen Hafen, vollzog sich in diesem Raum früher als irgendwo sonst ein befruchtender Völkerverkehr zwischen zwei Erdteilen und ganz verschiedenen Rassen über landferne See. Von ihm stammt der Armschmuck der indischen Braut aus afrikanischem Elfenbein, die Ausdehnung des indischen Reisbaus durch arabische Sklavenhändler bis zum Kongo, das Kisuaheli als arabisch durchsetzte Bantunegersprache, der noch heute regen Handelsverkehr zwischen Deutsch-Ostafrika und Bombay, das ständige Wohnen kapitalkräftiger indischer Händler an unserer Schutzküste. Endlich welch eine glänzende Reihe nautischer Thaten tritt uns im Wandel der Zeiten vor die Seele, wenn wir hinüberblicken nach Griechenland, Italien, der iberischen Halbinsel und nach den atlantischen Gestadeländern Westeuropas! Die Mittelmeerschiffahrt ward früher erweckt, indessen die atlantische wuchs schon im Altertum höher, denn sie hatte zu ringen mit einem ungleich gefährlicheren Meer. Mit den soliden Keltenschiffen der Veneter in der heutigen Bretagne aus dicken Eichenplanken mit eisernen Ankerketten und Ledersegeln konnten[S. 24] griechische oder römische Kauffahrer nicht wetteifern. Die Jahrhunderte hindurch fortgesetzten Überfahrten der Normannen in ihren großen Ruderkähnen, den schwarz geteerten „Seerappen“, von Norwegen nach Grönland und zurück sind mannhaftere Leistungen gewesen als die freilich geschichtlich folgenreichere Fahrt der Kolumbus-Karavelen im ruhigeren Südmeer mit dem Kompaß als Leiter. Den großen Vorzug der Lage am verkehrsreichsten aller Ozeane nutzten indessen erst in der Neuzeit für Welthandel und Gründung überseeischen Besitzes die vier mittelständigen Lande voll aus: Frankreich, die Niederlande, England, Deutschland. Für diesen gewaltigsten Aufschwung des Seewesens mußte vor allem erst Amerika als weckendes Ziel den Blicken Europas entschleiert werden. Und wenn sich sodann auch innerhalb der neuen Welt die moderne Größe von Schiffsbau und Seeverkehr dort entfaltete, wo unendliche Waldungen prächtiges Schiffsbauholz lieferten, namentlich aber eine feine Küstengliederung Buchten und Sunde, bergende Flußmündungshäfen nebst weit ins Land hinein für mäßige Seeschiffe befahrbaren Strömen darbot, also in Kanada und im Nordosten der Vereinigten Staaten, so wird man hier ebenfalls der ursächlichen Verknüpfung inne, die zumeist besteht zwischen Naturbegabung der Küstenlande und seemännischer Bethätigung ihrer Bewohner.
Allerdings wäre es geistlos pseudogeographischer Fanatismus, wollte man dieses Verhältnis wie einen naturgesetzlichen Zwang deuten. Der Mensch ist kein willenloser Automat; er verhält sich zu Naturanregungen seiner Heimat bald wie ein gelehriger, bald wie ein teilnahmloser Schüler. Das Wasser des heutigen Welthafens von New-York diente einst den Indianern bloß zum Sammeln eßbarer Muscheln; an derselben Schärenküste, die die Norweger zu so kühnen Schiffern erzog, leben die Lappen weiter als armselige Fischer. Die Angelsachsen vertieften sich nach der Landung in Britannien so ganz in die Kämpfe mit den dortigen Kelten, danach in Landbau und Viehzucht, daß sie der See völlig den Rücken zukehrten, Alfred der Große seine Schiffe auf deutschen Werften bauen lassen mußte. Die[S. 25] meisten Insulaner auf den Kykladen denken heutzutage nicht an Seefahrt, sondern bauen Weizen, pflegen die Rebe oder weiden ihre Ziegen. Seit die Holländer wohlhabend wurden, vernachlässigten sie die von ihren Vorfahren im härteren Daseinskampf so viel energischer betriebene Schiffahrt, ja in den belgischen Nachbarprovinzen Brabant und Flandern überließ der Niederländer den auch dort recht beträchtlichen Seeverkehr seit Alters vorzugsweise Ausländern, da ihn auf seinem fruchtbaren Boden Ackerbau, Gewerbe, Landhandel weit bequemer nährte.
Wagt es aber der Mensch, seine Kraft zu messen mit der elementaren Übergewalt des Meeres, erwählt er als Seemann dieses Ringen mit Sturm und Wogenschwall sogar zu seinem Beruf, dann gilt von ihm vollauf das Dichterwort: „Es wächst der Mensch mit seinen höhern Zielen.“ Das Seemannshandwerk stählt Muskel und Nerv, übt Sinnesschärfe, Geistesgegenwart, steigert mit jedem neuen Triumph menschlicher Klugheit über rohe Naturkraft den Mut überlegten, furchtlosen Handelns. Wie scharf beobachtend späht ganz habituell das verwetterte Antlitz unserer Matrosen unter dem Südwester in die Ferne, wie wortkarg, aber tüchtig und thatbereit ist ihr ganzes Wesen; dem scheinbaren Phlegma im Ruhezustand entspricht vom Augenblick der Auslösung der bisher latent zusammengehaltenen Kraft die Energie und die erstaunliche Ausdauer der Leistung. Wenn der Seemannsberuf wie in Norwegen oder Großbritannien sehr weite Bevölkerungskreise umschließt, wenn er dazu als ein Grundpfeiler der gesamten Volkswirtschaft hohe Achtung genießt und bei geringem Abstand der Küste selbst vom innersten Binnenlandkern allen Leuten in seiner klar ausgeprägten Eigenart vorschwebt, so zünden die Charaktervorzüge des Seemanns auch innerhalb der nicht seemännischen Bevölkerung durch Nachahmung. Ergreift dann, wie bei größeren Kulturnationen so oft, im Gefolge wachsender Vertrautheit mit dem Ozean, mit dem Erdganzen überhaupt, Seehandel, überseeische Kolonisation immer ausgedehntere Kreise, so teilt sich gar viel von dem frischen Unternehmungsgeist, dem Wagemut, dem durch Berührung mit Fremden erweiterten geistigen Horizont[S. 26] dem gesamten Volk mit. Typisch hierfür leuchtet uns aus dem Altertum der Gegensatz auf zwischen dem braven, jedoch engherzigen Spartaner, der, durch sein im Ausland nicht kursfähiges Geld der Eisenstifte vom Überseeverkehr auch künstlich abgeschrankt, zwischen den Gebirgsmauern seines Eurotasthals konservativ fortlebte, und andrerseits dem ionischen, fortschrittlichen Schifferstamm, den in ägäischer Seeluft gebadeten Athenern voll fröhlichster, in schrankenlose Weite strebender Thatenlust.
Der Urmensch wird das Weltmeer kaum gekannt haben; späteren Geschlechtern war es ein Gegenstand von Furcht und Schrecken. Als man jedoch nachmals für die Dauer an seinem Ufer wohnte, seine Schätze ausschöpfte, seinen breiten Rücken sich dienstbar machte, um nach Herzenslust die fernsten Küsten anzufahren, da trat man ihm näher und näher, freilich ohne ihm jemals Sklavenfesseln anlegen zu können. Als schöpferische Gottheit begann man es zu verehren. Die bezaubernde Schönheit des Meeres, wenn es bei stiller Luft friedlich die Segler dahin gleiten läßt über seinen Spiegel, aus dem des Tages freundlich der Sonnenglanz, nachts der Sternenhimmel silbern widerscheint, oder wenn im Gewittersturm die Wogen aufgepeitscht werden, flammende Blitze das Düster von Seegewölk und Wasser durchzucken, — der Anprall der Wogen gegen die Steilküste, der Kampf des Schiffes mit dem Sturm, dann die verklärte Natur, nachdem das rasende Wetter sich verzogen, das stets wechselnde Farbenspiel in einer Harmonie von Himmel und Wasser, wie sie dem Land in solcher Vollkommenheit mangelt, — das alles hat die dichterische Naturschilderung nicht bloß in Homers und Ossians Gesängen begeistert, nein, selbst aus schlichten Stegreifliedern von Naturvölkern des Strandes klingt das naturfrisch uns entgegen, und die Maler aller in der Kunst höher gestiegenen Seefahrernationen haben uns in herrlichen Bildern die Andacht des Menschen im Anblick ozeanischer Größe verewigt.
Wissen und technisches Können wurde schon dadurch beim Umgang mit dem Meer mächtig angeregt, weil dieser zum Bau des nötigen Fahrzeugs sowie zu dessen immer höherer Voll[S. 27]endung hintrieb. Und wie vielseitig wurde Wissenschaft und Technik für den Schiffsbau vollends in Anspruch genommen, seitdem das 19. Jahrhundert die Dampfer schuf, um selbst gegen Wind und Strömung die Ozeane zu durchkreuzen! Mittelbar hat ferner die Sicherung der Schiffsführung eine Mehrzahl von Wissensgebieten segensvoll beeinflußt. Noch leben auf karolinischen Eilanden einige greise Glieder jener merkwürdigen Gilde, in der sich genaue Kenntnis der Fixsternlage zum Sommer- und Winterhorizont für Verwertung bei der Bootssteuerung vererbt und zugleich eine so genaue Bekanntschaft mit der Ortslage der Inseln in weitestem Umkreis, wie sie die zeitgenössische Geographie der Kulturvölker lange noch nicht besaß.
Italienischen Nautikern danken wir die Einführung des Kompasses in unseren Schiffsdienst auf grund der zuerst in China erkannten Richtungskraft der Magnetnadel. Er hat nicht bloß zahllosen Tausenden von Schiffen, denen in Nacht und Nebel kein Gestirn schimmerte, den rechten Weg gewiesen, sondern ohne die am Kompaß durch alle Zonen von den Schiffern gemachten Massenbeobachtungen hätte auch kein Gauß erfolgreich am Problem des Erdmagnetismus zu arbeiten vermocht. Und wenn schon vor Jahrhunderten die Markscheider im Klausthaler Bergwerk ihre unterirdischen Gänge zielsicher ausbauten, beim Grubenlicht den Kompaß befragend, so klingt selbst in diese wahrlich seeferne Arbeit ein verhallendes kulturgeschichtliches Echo vom Wogengetümmel.
Zum Größten jedoch führte das Weltmeer den Menschen hinan, indem es ihm die einzige Möglichkeit erschloß, die Erde als Ganzes auf dem Weg der Entschleierung des irdischen Antlitzes kennen zu lernen, durch den Welthandel die Wirtschaft der einzelnen Völkerkreise zur Weltwirtschaft zu verknüpfen, endlich durch dieses Mittel allseitigen Verkehrs, wie ihn allein der alle Lande umschlingende Ozean zu schaffen vermag, die urzeitliche Trennung der Menschenstämme nach den einzelnen Kontinenten zu überwinden, auch eine geistige Verbindung der gesamten Menschheit anzubahnen. Daß der Welthandel hierbei[S. 28] die Führung übernahm, versteht sich aus der nicht bloß bösen Macht der Gewinnsucht. Rief doch schon Strabo aus, da er im entsetzlichen Tanz der Wellen die Seeleute ihr Leben einsetzen sah, um die nach Rom bestimmten Waren auf hoher See vor der schon damals zu seichten Tiber aus dem Kauffahrer in die Leichterboote überzuladen: „Ja, die Sucht nach Erwerb besiegt alles!“ Das Meer öffnete von jeher die freisten und, was sehr schwer wiegt, die billigsten Wege um den Erdball. Wir werden bald aus den unfernen Schantungwerken billigere Steinkohlen nach Tsingtau liefern, als man von England dort feilbieten könnte; dagegen schon Mailand, geschweige denn die italienische Küste liegt uns zu fern, um dort die englische Kohle auszustechen, weil diese fast schon vom Förderungsplatz bis nach Italien den Seeweg vor unserer deutschen Binnenlandkohle voraus hat. Apfelsinen aus Italien werden in Hamburg billiger feilgeboten als in München oder in Wien, weil die Seefracht von Sizilien nach Hamburg nicht einmal ganz so teuer zu stehen kommt wie z. B. die Landfracht von Hamburg nach Berlin. So wirft allerwegen der Seehandel wegen wohlfeilster Fracht den meisten Verdienst ab; um die billige Seestraße nicht um ein Kilometer unnütz zu verkürzen, sind ja die größten Seehandelsplätze eben in den innersten Nischen von Meereseinschnitten ins Land erblüht; und der Millionenverdienst des Welthandels wirft genug ab, um die Unsummen herzuliefern, die der Schiffsbau verschlingt, und um jene Millionengarde wackerer Schiffsbemannung zu lohnen, auf daß sie fern der süßen Heimat harte und mit steter Lebensgefahr bedrohte Arbeit leiste, selbst den Taifunen trotzend.
„Unfruchtbar“ nannte Homer die See, und doch wie viel Güter beschert sie den Menschen, aus eigenem, nimmer versiegenden Schatz, mehr noch dadurch, daß sie die Schätze der ganzen Erde über ihre spiegelnde Fläche geleitet mit denkbar geringster Beeinträchtigung ihrer Marktfähigkeit. Über die Gestadeländer des Meeres, zumal der am intensivsten arbeitenden gemäßigten Zonen, schauen wir einen Abglanz dessen sich ausbreiten: die verkehrsreichsten Städte, die dem Welthandel als[S. 29] Hafenorte dienen, Werfte, Industriestätten, die überseeisch erzeugte Rohstoffe aus erster Hand haben wollen, um sie in Kunstprodukte umzusetzen, vereinigen sich an den Küstenstreifen mit einer Fülle kleinerer Siedelungen, teils auch vom Seehandel oder von Küstenfahrt und Fischerei lebend, umgeben von meist wohlbestellten Fluren, über denen der milde Seehauch befruchtend waltet. Der leichter zu erringende Wohlstand ist es, was die Menschen an die Küste zieht. Darum zeichnen sich Inseln so oft vor dem benachbarten Festland, kleinere Inseln unter sonst gleichen Verhältnissen vor größeren aus durch stärkere Volksverdichtung zufolge ihres relativ größeren Küstenanteils. Wo Land und Meer einander berühren, da zeigt sich mithin naturgemäß am offenkundigsten des Meeres Segen für die Menschheit.
Werfen wir zum Schluß noch einen raschen Blick auf die Bedeutung des Meeres für den Staat, so versteht es sich aus dem eben Gesagten zunächst von selbst, daß jeder Staat, falls er sich der Vorteile des Seewesens für seine Angehörigen bewußt wird, nach Ausdehnung seines Gebiets bis zum Meer streben wird, und wäre es auch bloß um einen so winzigen Küstenstreifen zu erwerben wie neuerdings Montenegro an der Adria erhielt. Denn wer einen Fuß am Strande hat, kann seine Schiffe um die ganze Erde senden. Welche Machtfülle in Seehandel, Seeherrschaft und Kolonisation bis an die entlegensten pontischen Gestade hat im Altertum Milet, im Mittelalter Genua von einem einzigen Hafen aus entfaltet! Die Schweiz steht uns als einziger Wunderbau eines Staates vor Augen, der, auf den Alpenzinnen inmitten Europas gegründet, durch den rüstigen Industrietrieb seiner Bewohner Handel über die ganze Welt hin treibt, ohne je eine Küsteneroberung hoffen zu dürfen. Aber wie peinlich abhängig fühlt sich darum auch die Schweiz für Warenabsatz nebst Warenfracht von den Zolleinrichtungen, den Tarifsätzen der Eisenbahnen seitens der vier Großstaaten, die sie umklammern! Rußland hingegen bietet uns das weltgeschichtlich größte Beispiel eines ursprünglich rein binnenländischen Staates, der in zielbewußten Vorstößen die[S. 30] Küsten seiner sämtlichen Umgebungsmeere sich angliederte, daß nun sein Banner weht von der Ostsee bis zum Huanghai.
Aber dem Staat als solchem verleiht das Meer drei der besten, ja der unentbehrlichsten Gaben: Unabhängigkeit, Einheit und Machtfülle. Das Meer ist das schlechthin Unbewohnbare, betont mit Recht Ratzel, somit die allersicherste Schutzmauer für einen Staat. Wie viel minder gewährleistet erschiene des größten Freistaats Freiheit, hätte die Union zum atlantischen Littoral nicht auch das pazifische errungen! Ein allseitig meerumschlungenes Staatsgebiet wie das britische, das japanische und nun auch Australien, der neue Weltinselstaat, kann nie anders als punktweise, nämlich allein durch Flottenangriff berannt werden. Frankreich erscheint durch Überwiegen der Seegrenze besser gedeckt als Deutschland. Weil gleichfalls der friedliche Verkehr nur stichweise zu Schiff über die Küste ins Innere eines Staates zu dringen vermag, haben die vom Meer gebildeten Staatsgrenzen auch ethnisch etwas schärfer Umrissenes vor den verschwommeren Landgrenzen voraus: sie helfen besser die Vereinheitlichung nationaler Volksmischung zu fördern und zu erhalten. Im römischen Weltreich bewährte sich umgekehrt ein einzigesmal in der Geschichte das Mittelmeer als die von innen her den gewaltigen Staat zusammenhaltende Kraft. Unablässig jedoch bringt das Weltmeer von außen allen Staaten, an deren Saum es brandet, und die seinen Weckruf verstehen, Einheit und Macht. Griechenland, die Apenninen-Halbinsel verlegen bei ihrem gebirgigen Inneren einen guten Teil ihres Gesamtverkehrs auf die Küstenfahrt, die Tag für Tag Bewohner und Güter von Nord und Süd zusammenführt, die Interessengemeinschaft steigernd und immer von neuem den Blick auch weiter lenkend auf die hohe See jenseits des heimatlichen Strandes.
Seehandel wie jede über See drängende Thätigkeit, sei das Großindustrie, technische Bethätigung über See oder Kolonisation, führt mehr als irgend etwas sonst zur Verflechtung einer Nation mit der weiten Welt, schweißt aber zugleich die binnenländischen Staatsteile aufs festeste zusammen mit der[S. 31] Küste, über die allein der lebendige Austausch zwischen daheim und draußen geschehen kann, schmiedet folglich mit den Hammerschlägen des Begreifens der Zusammengehörigkeit die Teile zum Ganzen. Das fühlen wir Deutsche kräftiger denn jemals in der Gegenwart. Kein Hohenstaufe kehrt mehr den deutschen Küsten gleichgültig den Rücken, um Romzüge über die Alpen zu führen; keine Hanse streicht mehr unmutig die Flagge, weil es ihren ruhmwürdigen Thaten an Sicherung durch Reichsschutz gebricht. Eine wachsende Panzerwehr unter deutscher Reichsflagge schirmt unsere Handelsschiffe auf allen Meeren, leiht jeder redlichen Unternehmung deutscher Reichsbürger in und außer unseren Schutzgebieten ihren schützenden Arm bis zum fernsten Strand. So strömen, vor feindseligen Unbilden bewahrt, die von deutscher Betriebsamkeit verdienten Güter der Welt über die Schwelle des Meeres in alle Gaue unseres Vaterlands, steigernd den Wohlstand unseres Volkes zu vordem nie erreichter Höhe, segensvoll erweiternd seinen geistigen Gesichtskreis, nährend die staatliche Macht. Auch unseres Reiches Herrlichkeit liegt stark verankert im Weltmeer.
Es wäre sehr unkritisch, jedwede Harmonie zwischen dem Wesen eines Volkes und seiner Naturumgebung durch letztere verursacht zu denken. Leichtgläubig pflegt man den Satz hinzunehmen, die lachende, sonnenbestrahlte Landschaft Südeuropas habe „natürlich“ die lachende Heiterkeit der Hellenen, der Süditaliener und Südspanier hervorgebracht. Aber obschon die Leichtigkeit des Erwerbes des Wenigen, was in diesem Süden zum Leben nötig ist, von dem mild subtropischen Klima mitbedingt wird, und ein vollends etwa schon ursprünglich zu frohsinniger Lebensanschauung geneigtes Volk unter einem solchen Himmelsstrich dieser Neigung, unbedrückt durch materielle Sorgen, sich hingeben, bei nur einigermaßen künstlerischer Anlage gewiß auch durch die farbenglänzende Pracht von Himmel, Land und Meer bei holder Muße sich zu Kunstschöpfungen anregen lassen wird, so muß uns doch schon ein einziges klassisches Beispiel aus der neuen Welt von dem voreiligen Schluß abschrecken, die Gemütsstimmung der Völker sei ein unmittelbares Spiegelbild seiner Umgebung: die Nachkommen des erlauchten Kulturvolkes der Azteken haben unter dem Azurblau des strahlenden Firmaments von Mejiko in einer Landschaft, die bis hinan zu den herrlichen Riesenvulkanen mit ihren Schneezinnen ungleich reizvoller ausschaut als die Gegend am Fuß des Vesuv oder des Etna, die Schwermut bewahrt, die ihnen wie den meisten Indianerstämmen als ein Rassenerbe auf die Stirn geprägt ist.
Schiffervölker müssen ihre Kunst einbüßen, sobald sie in wasserlose Binnenräume versetzt werden, Temperamente dagegen können den Ortswechsel überdauern. Zum vertrauenswürdigen Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Landes- und Volksart kann uns erst eine vorsichtige Anwendung ver[S. 36]gleichender Methode führen. Wir müssen untersuchen, ob Landschaftsarten, die in möglichst scharfer Individualisierung an den verschiedensten Stellen der Erdoberfläche wiederkehren, auf Bewohner der mannigfachsten Herkunft, also wahrscheinlich auch der mannigfaltigsten Begabung von Haus aus gleiche oder doch ähnliche Wirkung geäußert haben. Solche scharf ausgeprägte Eigenart der Landschaft bei günstigster Verteilung über sämtliche Erdteile finden wir nun vor allen in den Trockengebieten, d. h. in den nur zeitweilig, doch alljährlich benetzten Landstrichen, die wir nach dem russischen Ausdruck stjep für Grasflur Steppen nennen, und in den so gut wie niederschlagslosen, den Wüsten.
Steppen, mehr noch Wüsten, haben zunächst dadurch das Völkerleben immerdar mächtig beeinflußt, daß sie durch Spärlichkeit von Trinkwasservorrat und die daher rührende Seltenheit, teilweise sogar völlige Abwesenheit menschlicher Ansiedlungen in ihnen den Verkehr erschwerten, deshalb ganze Völkerkreise, die von entgegengesetzten Seiten sie berührten, dauernder auseinanderhielten als Ozeane das zu thun pflegen. Wie lebhaft verkehren Europa und Amerika miteinander, seitdem die Seeschiffahrt zwischen beiden die Brücke schlug, während zwischen den afrikanischen Gestadeländern des Mittelmeers und dem Negerland, dem Sudan, die große Wüste heute wie vor Jahrtausenden eine Trennung bewirkt, die der schleppende Gang der Kamelkarawane nicht aufhebt. Die antike Kultur, das römische Weltreich fand an der Wasserarmut der Sahara wie der arabischen Wüste die von der Natur gesetzte Äquatorialgrenze. Der mit der Sahara an Größe vergleichbare Trockenraum Centralasiens, der freilich zugleich die allerhöchsten Gebirge zwischen dem Süden und Norden des Erdteils aufrichtet, hat nicht allein die indischen und die sibirischen Völker von jeder wechselseitigen Berührung abgehalten, sondern auch in westöstlicher Richtung, wo Bodenerhebungen viel weniger hemmten, Turan von China geschieden, daß äußerst selten erobernde Chinesenheere zum Sir und Amu herabstiegen; selbst das Tarimbecken Ostturkistans erscheint in der Geschichte zumeist nur als eine lose angegliederte,[S. 37] gern zum Abfall neigende auswärtige Provinz des chinesischen Reiches. Kaliforniens Küste lag infolge der Quellenarmut des „fernen Westens“ dem Osten der Vereinigten Staaten bis zur Eröffnung der ersten pazifischen Eisenbahn so fern, als gehörte das Land einem fremden Weltteil an. Die durchglühten, wasser- und schattenarmen Wüsten oder Halbwüsten Australiens durchmißt noch gegenwärtig keine einzige andere Verkehrslinie von Küste zu Küste als die des elektrischen Telegraphen.
Daß aber Steppen und Wüsten neben der trennenden Wirkung, die sie überall auf ihre Umgebung äußern, ihre Bewohner selbst vielseitig beeinflussen, lehrt schon der flüchtigste Blick auf ihre Pflanzen- und Tierwelt. Diese ist durchweg vor allem der Dürre der Luft und der Seltenheit oder doch der allzu einseitigen Verteilung der Niederschläge auf die Jahreszeiten angepaßt. In solcher Anpassung beobachten wir die saftarmen Holzgewächse Australiens mit ihren schmalen, gegen Verdorrung durch dicke Oberhaut geschützten Blättern, ihrem erstaunlich tiefdringenden Wurzelwerk, das noch Bodenfeuchtigkeit ergattert, wenn bereits Monate hindurch kein Tropfen Regen fiel; so die wunderbaren, blattlosen Saxaulbäume, die wie große, umgekehrte Reiserbesen aus den sonst so kahlen Flächen Turans hervorragen; so die Dattelpalme, die wie der Araber naturwahr sagt, „den Fuß im Wasser, das Haupt im Feuer“ haben will, d. h. den Regen geradezu scheut, nur von der Bodenfeuchtigkeit sich nährend; so den riesenhohen Säulenkaktus in der düsteren Mohavewüste, ferner die Fülle der über den Boden rankenden Kürbis- und Gurkenarten, die durch ihr saftstrotzendes Fruchtfleisch die Samen vor dem Eintrocknen bewahren. Auch die Harzausschwitzung so vieler Holzgewächse der Trockenräume dient ihnen als Schutz gegen den Verschmachtungstod, nicht minder die Dufthülle, die viele Kräuter durch Verdunsten aromatischer Öle aus winzigen Drüsen ihrer Oberhaut sich schaffen gleich unserem Salbei oder der Krauseminze; das Experiment hat nämlich erwiesen, wie sehr diese Dufthülle die stetig sich vollziehende Abgabe der Säftemasse aus dem Pflanzenkörper in Gasform an die Luft einschränkt.
Und welch ein genügsames, feinsinniges und flinkes Heer verschiedenartigen Getiers haben sich diese Trockenlande erzogen. Grabende Nager bevölkern zu Tausenden alle Steppen, begnügen sich zur Kost mit den unterirdischen Teilen, den Knollen, Zwiebeln oder Wurzelstöcken der dort wachsenden Pflanzen, wenn die brennende Sonne der Trockenzeit das Grün der Gräser samt der bunten Blumenschar vergilbt, ja in Zunder verwandelt hat. Dem niedlichen Bobak, einem Verwandten des Murmeltiers in den südrussischen Steppen, dient oft Monate lang der Morgentau an den Grasblättern als einzige Labe. Im prachtvoll durchsichtigen, weil dunstfreien Luftmeer zieht der Geier seine weiten Kreise und erspäht auf unvergleichlich ausgedehntem Gesichtsfeld am Boden seine Beute mit einer Scharfsichtigkeit, daß man sein Auge mit einem Teleskop vergleichen darf. Die Fennekfüchschen der Sahara erlauschen mit ihren breitdreieckigen Ohren, die das Spitzköpfchen so hoch überragen, das fernste Geräusch und sind gleich den wild lebenden Kamelen des Tarimbeckens bis zur Unerkennbarkeit ihrer Bodenumgebung gleichfarbig, hier graugelb, dort mehr rötlich. Kamele, Pferde, Antilopen und Strauße zeigen sich vor allem dadurch ans Trockenklima angeschmiegt, daß sie schnellfüßig die gänzlich wasserleeren Strecken durcheilen und teilweise wunderbar lange Zeit des Wassers völlig entbehren können. Hält doch das zweihöckrige Kamel das Tragen zentnerschwerer Theelasten durch die Gobi im härtesten Winter aus, selbst wenn es bis zum zehnten Tag kein Futter erhält und nur auf gelegentliches Schneelecken angewiesen ist, um den Durst zu löschen. Das einhöckrige Kamel hält selbst in der Wüstenglut Arabiens den Karawanenmarsch bis zum fünften Tag ohne Wasser aus, im Frühjahr, wenn warme Regen ihm genug „Haschisch“ (Grünfutter) ersprießen lassen, sogar mehr als drei Wochen.
Wie sollte da der Mensch als Bewohner des Trockenraums nicht gleichfalls dessen Gepräge tragen! Lenken wir den Blick zuerst nach dem Morgenland. Der eigentliche Orient, also was, etwa von Rom aus betrachtet, den Ostrand des geographischen Gesichtskreises der Alten ausmachte, von Palästina bis zum[S. 39] indischen Fünfstromland, und was ihm in Arabien, sowie in Nordafrika gleichartig sich anschließt, fällt in jenen gewaltigsten Steppen- und Wüstengürtel der ganzen Erde, der am atlantischen Meer mit der Sahara beginnt und erst mit der Kirgisenheimat und an der centralasiatischen Grenze gegen Sibirien, die Mandschurei und China endet. In der Regel führt man die bekannten Charakterzüge orientalischen Lebens auf den Islam zurück, als wenn die Lebensregeln des Koran nicht selbst erst zum guten Teil der arabischen Wüste entsprossen wären. Oder wenn man sich darauf besinnt, daß ja dies orientalische Wesen vor Mohammed zurückreicht, mindestens bis in Abrahams Zeit, so macht man gern die den Orientalen nun einmal angeborene Sinnesrichtung dafür verantwortlich. Das dünkt zwar recht bequem. Aber so gewiß die Gewohnheit bei den Völkersitten eine sehr große Rolle spielt, so handelt es sich für die Wissenschaft doch eben um Aufdecken des Ursprungs der habituell gewordenen Gewohnheiten. Da nun Syrer wie Perser, Araber wie Türken, mithin Sprossen ganz verschiedener Verwandtschaftsgruppen, der semitischen, indogermanischen, mongolischen, innerhalb des Orients die Eigenart ihres Lebens in den Grundzügen gemein haben, so ist nichts wahrscheinlicher von vorn herein, als daß sie eben erst in diesem Trockenraum und durch ihn sich in ihrem Sittenschatz verähnlichten. Diese Wahrscheinlichkeit erhebt sich überall da zur Gewißheit, wo wir die nämlichen Lebenszüge bei Australiern und Prärieindianern, Patagoniern und Hottentotten gewahren, die nie mit Orientalen Sittenaustausch zu üben vermochten, wohl aber wie sie in waldleeren, offenen Fluren mit trockenem Klima wohnen.
Was zuvörderst die Körpereigenschaften betrifft, so hat die trockene Luft etwas Zehrendes. Die in ihr lebenden Menschen bekommen deshalb, je mehr sie sich ihr aussetzen, straffe Muskeln, setzen aber wenig Fett an. Durchweg sind somit Steppen- und Wüstenbewohner hager und sehnig; bei den Kalmücken spricht eine berühmte Ausnahme für die Regel: ihre Priester, die Gällunge, weil sie unthätig den ganzen Tag im Zelt zu sitzen pflegen, sind Ausbunde von Fettleibigkeit. Ferner bräunt das[S. 40] grelle Licht der schattenarmen, dunstfreien Luft die Haut; das beweisen die ungarischen Pußtenhirten, die Hirten der pontisch-kaspischen Steppe Südrußlands, die Gauchos der Pampas. Die Haut wird durch ihre Trockenheit der Luft leicht rissig; gegen dies schmerzhafte Aufspringen der Haut salbten sich die alten Griechen bei minder umfänglicher Gewandung mit Olivenöl, der Pußtenhirt reibt sich mit Speck ein und hängt seinen zottigen Schafpelz über den Hirtenstab nach der Windseite, der Buschmann ringelt sich schlangenhaft zur Abendrast in die flache Erdgrube, in der er ein glücklich erbeutetes Häslein mit Haut und Haar vorher geschmort hat, um des andern Morgens mit der fettdurchtränkten Aschenkruste als einziger Bekleidung weiterzuwandern. Buschmänner und Hottentotten zeichnen sich ganz besonders durch eine zur Runzelung neigende, fettarme Haut aus; darum erhält ihr Gesicht schon in der Jugend ein faltiges, sauertöpfisches Aussehen, weil sie zum Schutz gegen die blendende Lichtfülle ihrer Umgebung bestrebt sind die Augen zusammenzukneifen wie wir, wenn wir aus dem Dunkeln plötzlich ins Helle treten. Welch bezeichnender Gegensatz, diese schlitzartig verengten Augen des Kalacharimannes gegenüber dem weit geöffneten Phäakenauge des Negers!
Durch eudiometrische Untersuchung von Luftproben aus der libyschen Wüste wissen wir, zu einem wie hohen Grad der Ozongehalt der Luft in Trockengebieten sich steigern kann. Vermutlich beruht auf der Vernichtung der krankheitserregenden Mikroben, insonderheit der Tuberkelbazillen durch das Ozon die gesundende Kraft des Trockenklimas, wohl auch das Belebende, was z. B. die Saharaluft auf den europäischen Wanderer ausübt. So lange die Bewohner von Steppen und Wüsten ihre ozonreiche, freie Luft einatmen, kennen sie den Würgengel der Schwindsucht nicht; er hielt in die nordamerikanischen Prärien erst mit der Stadtsiedelung seinen traurigen Einzug.
So beneidenswert wie die Gesundheit ist die Sinnesschärfe unserer Völker. Sie wurde tellurisch gezüchtet, weil zum Erspähen der Jagd- oder Räuberbeute, zum lebenrettenden Heimfinden zu den Seinen in diesen menschenöden Landen alle Sinne[S. 41] im alltäglichen Daseinskampf zur entscheidenden Mitwirkung berufen waren.
Das Gehör spürt noch die leisesten Schallwellen, von denen unser Ohr nicht das Geringste empfindet. In Australien unterhalten sich einander begegnende Schwarze, wenn sie längst in entgegengesetzter Richtung fortwandern, und der begleitende Europäer einen Monolog zu hören meint. Ungefähr ein halbes Kilometer nennt der Kalmücke eine Hörweite, denn auf solche Entfernung ist ihm menschliche Rede ohne Stimmverstärkung verständlich. Wie seltsam doch die Sitte kirgisischer Mütter, den Kleinen die Ohrmuscheln auszuweiten, damit sie dereinst durch besseres Auffangen der Schallwellen besser ins Leben passen! Am Geruch erkennen die Leute menschliche wie tierische Fährte, wenn sie auf unbewachsenem Felsboden keinen Eindruck zurückließ, mitunter noch nach Tagen. Aimara-Indianer finden sich in finsterer Nacht zum Lagerplatz zurück durch den Geruch der Fluren, von dem der stumpfsinnigere Weiße gar nichts spürt. Der Australschwarze wird gern in die austral-englische Polizei eingestellt wegen seines äußerst feinen Witterungsvermögens, das ihn Menschen- wie Tierfährten weithin auf hartem, keinerlei Eindruck verratenden Felsboden verfolgen läßt, selbst wenn etwa der Schafdieb bereits tags vorher über ihn fortgeeilt ist. Wie südrussische Steppenrinder Tränkplätze auf weite Ferne wittern, so tritt wohl auch im Osten der großen Wüste der Araber voll Sehnsucht nach dem Abschluß seines Karawanenzugs auf eine Hügelspitze, schlürft, das Antlitz gen Osten, gierig die Luft ein und kündet frohlockend: „Ich rieche den Nil!“ Er hat den Strom entdeckt, ohne ihn zu erblicken. Doch freilich die Schärfe des Gesichtssinns erweckt noch mehr unser Staunen. Des Menschen Auge ist ja ein Organ steter Anpassung, hochgradiger Fernblick kann sich mithin nur entwickeln innerhalb dunstfreier, weiter Horizonte, so beim Gemsjäger, beim Steppen- und Wüstenmenschen. Letzterer aber lernte im unablässigen Daseinskampf diesen weitesten Horizont aufs vollkommenste beherrschen mit seinem Falkenauge, und dieser wunderbare Späherblick vererbte, verfeinerte sich von Geschlecht zu Geschlecht. So sind[S. 42] Trockenräume die Gebiete der größten Sehschärfe durch alle Kontinente. Der Buschmannknabe in Liechtensteins Begleitung auf der Rückfahrt vom Kap erkannte noch ziegengroße Antilopen an der afrikanischen Küste auf Stundenferne, was Liechtenstein nur mit dem Fernrohr zu kontrollieren vermochte. Der Targi der Westsahara zählt bereits die Kamele einer eben in den Horizont eingetretenen Karawane, wenn der Weiße neben ihm ohne Fernglas noch gar nichts von ihr sieht. Der Australschwarze verfolgt die kleine Biene seiner Heimat, nicht größer wie unsere Stubenfliege, bis auf 18 m Höhe ins Dunkel eines Baumwipfels, um den wilden Honig zu ergattern. Die größte uns bekannte Späherleistung möchte indessen von jenem rosseweidenden Kalmücken auf der ciskaukasischen Steppe erzielt worden sein, der die Russen vor einem Überfall bewahrte, indem er den aufwirbelnden Staub eines heranziehenden feindlichen Heerhaufes auf 30 km Ferne erkannte, d. i. die Entfernung Potsdams vom Ostende Berlins.
Die urälteste Form des Menschenlebens, der Nomadismus, hat sich bis zur Gegenwart in den Steppen und Wüsten erhalten, weil hier der Mensch unter der Bedingung heroischer Marschausdauer, beherzter Waffenführung, genügsamer Kost, auch gelegentlichen Hungerns und Durstens der uralten Wonne unseres Geschlechts sich weiterfreuen durfte: der goldenen Freiheit, ohne als Arbeitsknecht Hacke oder Pflug führen zu müssen. Stets haben diese Freischweifenden mit der Verachtung des kühnen Recken auf die Seßhaften herabgesehen, so die Beduinen d. h. die Wüstensöhne auf die feisteren Bauern des arabischen Küstenrandes, die ihnen nur zum Brandschatzen, wenn nicht zu dauernder Knechtung da zu sein schienen, ebenso die Kurden der armenischen Alpmatten auf die Armenier, die drunten im Thal Feld und Garten berieseln mußten im Schweiß ihres Angesichts; bis zur russischen Besitzergreifung auch die freiheitsstolzen, türkischen Ösbegen Turans, die, wenn sie als Herren der persischen Siedler der Flußchanate ihr Heim in diesen selbst aufschlugen, doch lieber ihre Filzjurte im viereckigen Freihof des Wohnhauses aufschlugen als wie Feiglinge in den Lehmmauern eines Hauses zu wohnen.
Australiens eingeborene schwarzbraune Rasse hält noch gegenwärtig an ihrer uralten frei schweifenden Lebensweise fest, wie sie dereinst bedingt war durch das nahezu gänzliche Fehlen anbaulohnender Gewächse und die Spärlichkeit jagdbaren Getiers in den wasserarmen Ödungen des Landes neben völliger Abwesenheit melkbarer Tiere. Auch nachdem nun die europäischen Ansiedler mit bestem Erfolg unsere Kulturgewächse und Haustiere nach Australien gebracht haben, verbleibt der Australschwarze lieber der alten Freiheit treu, so sehr sie mit dem Jammer des bloßen Sammelns von kümmerlichen Brosamen am Tisch der Wildnis naturnotwendig verknüpft ist. Die Männer des Stammes schweifen auf der täglichen Wanderung weiter aus, etwa eine Känguruherde aufzutreiben, einen Vogel mit dem Bumerang herabzuholen, die Erdhügelnester des Tallagallahuhns auszunehmen; die Weiber ziehen auf kürzerer Linie, mit dem armseligen Hausrat und den kleinen Kindern bepackt, nach eßbaren Wurzeln grabend, wilden Honig, Baumharz, kaum genießbares Gewürm zur Stillung des nagenden Hungers auflesend, einem noch nicht ganz erschöpften Wasserloch zu, an dem sie abends das Feuer entfachen vermittelst des brennend unter der Glut des Tagesgestirns mitgeschleppten Holzscheites, auf daß der gestrenge Gatte nicht zürne über zu langen Aufschub, wenn erst durch Aneinanderreiben von Hölzern das Feuer entzündet werden müßte, und jener dann unsanft den langen Wanderstab auf den Kopf der Gattin niedersausen ließe.
In dem wildreicheren Afrika ist selbst der Buschmann nicht bloß Nahrungssammler, sondern Jäger, ein gewandter Bogenschütze. Doch kein Land der Welt ist ein solches Jägereldorado, daß der Mensch anders als hin- und herziehend von seiner Jagdwaffe den Unterhalt erzielen könnte. Auch der Hirt ist in Steppen mit gar zu kärglicher Benetzung, also schlechten Futterwuchses, oder in Gegenden, wo ein anhaltender Schneewinter die Gebirgsweide nimmt, folglich die Herde in benachbarten Niederungen zu überwintern zwingt, ein Nomade. Hingegen führen Oasen und die Trockenräume durchströmenden Flüsse — man denke nur an den nubisch-ägyptischen Nil, diesen[S. 44] einzigen Strom, der die Sahara in ihrer ganzen Breite durchzieht — zu fester Siedelung, weil hier das Quell- oder Flußwasser Garten- und Ackerbau mittels künstlicher Bewässerung zu treiben gestattet auch an Orten oder zu Zeiten, wo kein Tropfen Regen fällt. Darum war ja Zoroasters Lehre eine solche Wohlthat für Irans und Turans dürstende Gelände, weil sie die Berieselungswerke heilig sprach, unter deren Segen der sonst gar nichts tragende Boden tausendfältig Feld- und Baumfrucht spendete.
Wo vollends Steppen regenreich genug sind, um auch ohne Bewässerung Feldbau zu gestatten, da sind sie teilweise schon vor Alters, in weitem Umfang vollends in neuerer Zeit vielfach ins Gebiet seßhaften Völkerlebens einbezogen worden, indem gewöhnlich von außen ackerbautreibende Stämme hereinzogen, sei es, daß der Boden unbewohnt angetroffen wurde, sei es, daß er ihnen zufiel nach dem gerechten Schiedsspruch tellurischer Auslese: jedes Land gehört dem, der es am besten zu verwerten, am tapfersten zu verteidigen weiß. Die englischen Weizenbauer und Schafzüchter dringen immer tiefer ins Innere Australiens ein; die Buren verdrängten Hottentotten wie Kaffern; die Prärien, wo noch vor kurzem die Rothäute die zahllosen Büffel jagten, wogen gleich den argentinischen Pampas von unabsehbaren Getreidefeldern. Dort, wo im Altertum skythische Skoloten und Sauromaten mit ihren Herden Südosteuropas Steppen durchzogen, führt jetzt der russische Ansiedler den Pflug. Und eben da, dicht am südlichen Uralgebirge, vollzieht sich jüngst ein lehrreicher Vorgang des Obsiegens der Seßhaften über die Schweifenden. Die Baschkiren nämlich mögen nur ungern ihr freies Wanderleben in der Steppe aufgeben; eingeengt jedoch durch die Uralwälder im Osten, die wüstenhafte kaspische Salzsteppe im Süden, das leise Vorrücken der russischen Bauern in West und Nord, fühlen sie sich außer stande allein durch Vermittlung ihrer Herden vom Steppengras zu leben, darum verpachten sie gegen Kornzins einen Teil ihrer Länderei an russische Bauern und erkaufen sich damit noch auf eine Galgenfrist die Adelsfreiheit des Nomaden. Aber ihr[S. 45] Schicksal ist besiegelt, denn um von Weidewirtschaft in der Baschkirensteppe zu leben braucht man für den Kopf 120 Morgen, bei Landbau nur 20–30. Derselbe Flächenraum, der einem einzigen Baschkiren genügend Milch und Fleisch liefert, ernährt also vier bis sechs Russen.
Allerwegen indes, wo das alte Hin- und Herziehen verblieb, erhielt sich auch Sitte und Brauch fast unverändert. In den echten Wüsten führt erst ganz neuerdings der Eisenbahnbau einen gänzlichen Umschwung des Verkehrs hier und da herbei. Sonst zieht dort noch wie vor Alters der Mensch von einer Wasserstelle zur andern, als Hirt, falls zu günstiger Jahreszeit flüchtiges Grün den Boden überzieht, als Karawanenführer, als Weidmann oder als lauernder Räuber. Wüsten züchten Räubervölker, denn sie sind von Natur immer arm, es sei denn, daß sie stellenweise Steinsalz bergen oder Salpeter wie die Atacama; oft liegen nun beiderseits reiche Landstriche, wie die Mittelmeerküste Afrikas und der Sudan, die einander ihre Güter durch Frachtzüge quer durch die Wüste zusenden, und dauernd locken Quell- oder Flußoasen mit winkenden Dattelhainen, mit Fruchtfeldern aller Art; Obst- wie Mehlzukost wünscht sich aber der Steppen- und Wüstenmensch gar sehr zu seinem ewigen Einerlei animalischer Nahrung. Was Wunder also, daß letzterer bei seiner überlegenen Ortskunde, die Angriff wie Rückzug deckt, seiner körperlichen Kraft, seiner fliegenden Eile zu Roß oder Kamel gern wenigstens nebenbei das Räuberhandwerk treibt, weshalb jeder Oasenort sich mit Lehmmauer umgürtet?
Das stete Wanderleben auf dürrer Fläche erzeugt eine Fülle von Gewohnheiten, die gänzlich abweichen von denen seßhafter Menschen, und sich darum weit weniger wandeln, weil hier eine Natur von unbeugsamer Starrheit gebietet. In der syrisch-arabischen Wüste fühlt man sich noch heute in die Tage der Erzväter Israels versetzt. Der Reichtum besteht wie zu Abrahams Zeit in Vieh und Silbergeschmeide, in Waffen und Teppichen. Außer dem unentbehrlichen Zelt, dessen Gestänge nebst härenen Tüchern die Lasttiere auf dem Marsch zu schleppen[S. 46] haben, muß die sonstige fahrende Habe aufs sparsamste bemessen werden. Man darf sich nicht Tisch, Stuhl oder Bettstatt gönnen. Man hockt und schläft auf platter Erde; auf den hingebreiteten Teppich wird die große Schüssel mit dem einfachen Mahl gesetzt, in die greifen die Herumhockenden mit den Fingern wie Christus und seine Jünger, denn die Israeliten behielten gar manche Sitten des alten Nomadenlebens bei, auch als sie in Palästina seßhaft geworden, nannten sie doch für immer ihr Heim ohel d. h. Zelt. Die Geräte müssen dauerhaft sein, weil man sie nicht so oft beim Händler erneuern kann; aus hölzernen, womöglich mit Metallreifen geschützten Schalen trinkt der Mongole seinen gemüseartig gekochten Thee mit reichlicher Zuthat von Hammeltalg. Geringer geschätzt als der Mann ist das Weib; es verrichtet niedere Dienste, bleibt ausgeschlossen vom Mahl der Männer. Sobald abends das Zelt aufgeschlagen, begiebt sich Frau oder Tochter zum Wasserholen, und damit sie den oft nicht so kurzen Weg nicht mehrmals zurücklege, muß der thönerne Wasserkrug recht umfangreich sein, darum wieder läßt er sich nur auf der Schulter oder auf dem Kopf tragen, was zu straff aufrechter Haltung des Körpers viel beiträgt. Das Bild der Rebekka am Brunnen kehrt allabendlich im Orient hundertfältig wieder. Es fesselt stets durch die Verbindung von Anmut und Kraftübung; wie spielend hebt die Wasserträgerin den schweren Krug empor und trägt ihn elastischen Schritts von dannen. Mitten in der syrischen Wüste begegnete unser Wetzstein einer wassertragenden Beduinenfrau, die unterwegs geboren hatte in menschenleerer Öde, und nun rüstig dahinschritt, den Wasserkrug auf dem Haupt, das Neugeborene im Arm. Auch die Prärie-Indianerin wird zuweilen wohl auf dem Ritt durch die meerähnliche totenstille Grasflur von ihrer schweren Stunde überrascht; sie bindet dann ihr Pferd etwa an einen einsamen Baumstamm und schwingt sich nach ein paar Stunden Rast heldenhaft mit dem Säugling auf ihr Roß.
Körperliche Ausdauer und Rüstigkeit sind diesen Nomaden in jahrtausendelangem Daseinskampf anerzogen worden. Die Patagonier, allerdings wohl die langbeinigsten aller Menschen,[S. 47] unternehmen Erholungsspaziergänge von mehr als 60 km. Der Tubu legt seine heroischen Wüstenmärsche mit der notdürftigsten Tagesration weniger Datteln zurück; im äußersten Fall öffnet er dem Kamel eine Ader an der Schläfe, formt sich aus den zerstoßenen Knochen am Weg bleichender Skelette von verschmachteten Menschen, häufiger von gefallenen Kamelen und aus den paar Tropfen Kamelblut eine Paste zur Fristung seines Lebens; Wasser kann er, falls er tagsüber regungslos im Schatten ruht und nur nachts mit seinem treuen Tier weiterzieht, vier Tage lang entbehren, dann erst bindet er sich todesmatt auf das Kamel, seine Rettung dem unvergleichlich scharfen Spürsinn desselben überlassend. Der Kalmücke vermag auf Karawanenreisen wenigstens drei Tage lang zu hungern und zu dursten; findet er dann noch kein Trinkwasser, so rupft er Haare aus der Mähne des Pferdes und kaut daran.
Langes Fastenkönnen und erstaunliche Gefräßigkeit entspricht vollkommen dem auf Mangel an Speise oft folgenden Überfluß des Jägers, der entbehrungsvollen Wanderung und späten Abendrast des Hirten-Nomaden. Der Mongole kann mehrere Tage ohne Speise bleiben, jedoch einen viertel Hammel sieht er als gewöhnliche Tagesration des Mannes an, ja er vertilgt bei festlichem Gelage einen Hammel mittlerer Größe an einem einzigen Tage für sich allein. Zu starkes Essen gilt übrigens bei diesen Völkern oft als des Mannes unwürdig. Auf Fehdezügen läßt sich der Kalmücke an ein paar Bissen Fleisch genügen oder er kaut geröstete Tierhaut; am Tage der Schlacht pflegt er nur die Brühe vom Fleisch zu trinken. Nordamerikanische Steppenindianer vermeiden selbst bei reichlichen Vorräten übermäßiges Essen (das sie nur Weibern, Kindern und Hunden nicht verargen), um sich straff zu halten für Mannesthaten bei Waffenspiel oder ernster Gegenwehr.
Zum Spiel ist dem Nomaden viel Zeit übrig, und er liebt auch im Spiel Körperkraft nebst Gewandtheit zu zeigen. Zum Bogenschießen oder Ballspiel lockt die baumleere Weite; letzteres erfreut den Teke-Turkmenen wie den Dakota und Tehueltschen. Im Zelt wird leidenschaftlich gewürfelt; der[S. 48] Gaucho schlägt die Faulheitsstunden mit Kartenspiel tot, während der Araber lieber in lauer Abendluft, nachdem im Purpur des westlichen Himmels die Sonne niedergesunken, dem Märchenerzähler oder dem Sänger der Ruhmesthaten seines Stammes lauscht. Nicht von ungefähr trägt das Schachspiel einen persischen Namen. Herrlich gelingen den Männern überall die Reiterkunststücke und das Wettrennen; im Morgenland befeuern die zuschauenden Frauen durch ihren Zuruf, jauchzen den Siegern zu, wehklagen über das Zurückbleiben der Ihren. Es sind das segensreiche Volksfeste, in denen unentbehrliche Tugenden durch den Sporn des Ehrgeizes ihre Pflege finden. Aus den südrussischen Grasfluren kamen die wagehalsigen Bereiterstückchen in die Kosakenregimenter der russischen Reiterei; Baschkiren, in Ostturkistan selbst würdige Priester vergnügen sich daran, im rasenden Galopp einen Stein vom Boden aufzuheben, ohne den Bügel loszulassen; die Turkmenen rennen auf 160 km um die Wette und stiften dem ersten Sieger den ansehnlichen Preis von zwölf Kamelen. Das malerischeste Schauspiel bietet aber ein Renntag in der syrisch-arabischen Wüste oder eine Falkenbeize, sei es auf Reiher, sei es auf Gazellen am Hauran. Da bricht die Jagd- und Reitlust der Beduinen am feurigsten aus; wie toll stürmen sie ins Weite, und wenn dann die silberweißen Jagdfalken im blauen Äther mit den Reihern im Knäuel sich verschlingen, da schauern sie wild empor, und jede Fiber zuckt den bronzefarbenen Männern, die trotz aller Nervenstählung hochgradig nervös sind, wie so oft die Menschen, die dauernd in elektrisch gespannter, trockener Luft leben.
Manche Eigentümlichkeiten treffen wir in diesen Landen, die nicht aus ihrer Eigenart hervorgegangen, sondern hier nur besonders treu erhalten sind, weil eben der Zeiger auf dem Zifferblatt der Kulturgeschichte dort so viel langsamer vorrückt als bei uns. Dahin zählt u. a. der vielfach noch nicht eingebürgerte Gebrauch des Kochsalzes. Man könnte zwar meinen, Fleisch und Blut der Wüstentiere sei durch deren salzreiches Futter schon salzig genug; in der That schmeckt trocknes Kamelfleisch wie gesalzen. Die Sträucher und Kräuter des so selten[S. 49] benetzten Bodens, in dessen Kruste die verdunstenden Tropfen von Tau oder Regen ausgelaugte Salzteile aufspeichern, sind oft nicht minder salzhaltig, folglich genießt z. B. der Namahottentotte, wenn er sich Knollen oder Zwiebeln zur bescheidenen Kost ausgegraben, schon etwas salzreichere Nahrung als wir, wenn wir Brot oder Kartoffeln verzehren. Indessen so viele von der Berührung mit unserer Kulturentfaltung bisher ausgeschlossen gebliebene Völker, darunter auch unsere Schutzbefohlenen auf Neuguinea und den Karolinen, wissen nichts vom Salzen der Speisen, daß wir gleichfalls bei den uns beschäftigenden Völkern hierin nur einen Nachhall der Urzeit erblicken möchten, in der unser Geschlecht sein stets vorhandenes, aber recht mäßiges Salzbedürfnis mit dem geringen Salzgehalt seiner Nahrung im ungesalzenen Zustand befriedigte, hingegen Zugabe von überflüssigem Salz als bloßem Gewürz zur Speise, an die wir uns nun als an eine Notwendigkeit so gewöhnt haben, noch nicht kannte.
Andere Einzelzüge haben jedoch die Bewohner der Trockenräume offenbar erst diesen in näherer oder weiterer Vermittlung entlehnt. So zeigen sie gern ihre Waffen, um feindlichen Angriff schon durch die Furcht vor diesen womöglich im Keim zu ersticken. Meist in offener Ebene dahinziehend, führen sie daher in weite Ferne drohende Waffen, mit Vorliebe Lanzen, die Kurden z. B. 8 bis 10 m lange Bambuslanzen, die Beduinen die längsten Flinten der Welt, während die Tuareg bei Speer und altertümlichem Schwert mit Kreuzgriff verharren, die Schußwaffe mit Pulver und Blei als Schutzmittel des Feigen von sich weisend. Die Waldlosigkeit ladet sonst gerade zur Verwendung weit tragender Schußwaffen ein. Mit der Sicherheit ihrer Pfeilschüsse bei jagendem Ritt machten sich Hunnen, Awaren, Magyaren unseren Vorfahren furchtbar, als sie aus den Steppen des Ostens nach Deutschland einfielen. Der Tubu bringt mit seinem wagerecht geworfenen zackigen Wurfeisen dem Gegner gleichwie mit einer Zackensense am Riesenstiel gefährliche Wunden bei. Die Schleuder spielt seit alters in den Trockengebieten der alten Welt eine ähnlich große Rolle wie Lasso und Bolas in denen der neuen.
Eine glückliche Sondererfindung der Saharavölker ist der sogenannte Gesichtsschleier oder Litham, ein blaubaumwollener Shawl, der so um den Kopf gewunden wird, daß er nur einen schmalen Schlitz für die Augen frei läßt. Wie wir uns im Winter mittels des cache-nez durch die eigene Atmung wieder Wärme zuführen, ebenso erwirken Tuareg wie Tubu durch ihren Litham, daß die schmachtend trockene Wüstenluft durch die selbstausgeatmete Feuchtigkeit, die sich im Litham verfängt, durchfeuchtet wird, ehe sie sie einatmen. Die Araber scheinen einen gleichen Schutz nicht zu kennen, pflegen aber bei Smum wohl nicht bloß gegen den Wüstensand, sondern zu dem nämlichen Zweck einen Zipfel ihres Mantels vor Mund und Nase zu ziehen.
Den Kopf tragen viele der Völker zum Schirm gegen die schroffen Temperaturwechsel, oft auch gegen den Regen, bedeckt: die Kirgisen mit einem buntgestickten Käppchen, die Iranier mit der hohen, schwarzen Lammfellmütze, andere Morgenländer mit turbanartigem Kopftuch oder Fez, die Hottentottin mit der Fellhaube. Letztere abzulegen öffentlich gilt bei den Hottentotten als schamlos, wie auch der Morgenländer vor dem Höherstehenden oder gar im Gotteshaus nie die Kopfbedeckung abthut, wohl aber der Schuhe oder Sandalen sich entledigt. Christus stets barhäuptig abzubilden ist ganz unhistorisch. Der dicke Burnus des nordafrikanischen Kabilen sowie des Beduinen ist als schlechter Wärmeleiter gegen Tageshitze ein ebenso guter Schutz wie gegen Nachtkälte. Beinkleider treffen wir nur, wo Steppen und Wüsten von kalten Wintern heimgesucht werden, so in den Prärien, in Patagonien und Innerasien; der Mongole legt sie sogar nur im Winter an. Hohe Stiefel sind eine beliebte Zuthat zu den Beinkleidern bei Reitervölkern; manchen Völkern sind Hosen nebst hohen Stiefeln bei beiden Geschlechtern eigen; daher reiten auch Frauen und Mädchen, z. B. bei den Ostturkistanern, den Tanguten am Kuku-Nor, rittlings nach Männerart. Die Tehueltschen ziehen über ihre hohen Reitstiefel noch Überschuhe, um den Fuß auch im Schmelzwasser des Schnees trocken zu halten. Auf dem bis über 70° C erglühenden Fels- und[S. 51] Sandboden der Sahara zieht die nackte Fußsohle leicht Brandblasen, daher das dortige Bedürfnis, Fellschuhe oder Sandalen aus Kamelleder zu tragen, obwohl der sparsame Tubumann, wo es irgend geht, seine Sandalen an die Spitze des über der Schulter getragenen Speers knüpft, mit dem er leichtfüßig über den glühenden Boden dahinschreitet, ohne daß seine nackten, freilich hornüberzogenen Sohlen auf dem scharfen Gestein zerschnitten werden, während die Stiefel des Europäers auf demselben in Fetzen zerreißen.
Die allgemeine Seltenheit des Wassers hat die Neigungen der Völker geradezu gegensätzlich beeinflußt. Dem Araber ist der Anblick großer Massen von Süßwasser eine ersehnte Augenweide, das Plätschern eines Springquells die liebste Musik; die Fontäne gehört deshalb als Hauptstück in den Mittelpunkt seines gartenartig ausgeschmückten Innenhofs, ohne Baumesschatten und rauschende Quellen kann er sich das Paradies nicht denken. In Centralasien hat dagegen die Seltenheit des Anblicks von fließendem Wasser eine völlige Idiosynkrasie gegen alles kalte Wasser herbeigeführt. Der Mongole schlägt seine Jurte niemals dicht bei der Wasserstelle auf, so nötig er für sich und seine Tiere das Wasser braucht; er trinkt nur gekochtes Wasser, und es wird ihm übel, wenn er den Fremden etwa eine Wildente verspeisen sieht, weil diese zum Wassergeflügel gehört. Die Chinesen sind wahrscheinlich aus der Takla-Makan Innerasiens erst nach China eingewandert. Daraus wird es sich erklären, daß sie nur abgekochtes Wasser zu sich nehmen. So wurden sie die Erfinder des Theetrinkens, und man darf schon die Behauptung wagen: Wir trinken Thee, weil die Chinesen aus Centralasien stammen.
Wo das Wasser so kostbar, wird es nicht leicht zum Waschen benutzt. Daher starren die Menschen oft von Schmutz. Herodots Ausspruch über die Skoloten „Sie waschen sich nie“ gilt auch von den heutigen Mongolen, die sich sogar stolz hierauf kara hunn, d. h. schwarze Menschen, nennen. Die Sitte der Skolotinnen, die, um zu gefallen, sich nachts über eine aus zerriebenen wohlriechenden Hölzern hergestellte Paste[S. 52] auflegten, so daß sie des Morgens als duftige Huldinnen erschienen, ausnahmsweise auch ohne Schmutzkruste im Gesicht, erinnert uns an eine bisher ganz übersehene Geschmacksrichtung, die unseren Völkern offenbar durch ihre Heimat zu teil ward. In allen Trockenlanden nämlich walten, wie wir schon bemerkten, aromatische Gewächse zufolge natürlicher Züchtung auffallend viel mehr vor als anderwärts; ist doch Arabien, zu deutsch das Wüstenland, von jeher durch seine Aromata berühmt gewesen. Dieser Umstand machte die also stets von solchen Wohlgerüchen umhauchten Steppen- und Wüstenvölker zu leidenschaftlichen Freunden derselben; auch ihren Göttern schrieben sie natürlich diese Vorliebe zu. Aus dem Morgenland empfingen wir selbst die Sitte des Parfümierens; Mohammed trug stets ein Etui mit Wohlgerüchen bei sich, wir könnten sagen ein Schnupftabaksdöschen; wenn die braune Nubierin das Entzücken ihres Gatten sein will, nimmt sie ein förmliches Rauchbad aus lauter aromatischen Stoffen. Mit nichts wurde im salomonischen Tempel so viel Geld verpraßt, als um Jahve die köstlichsten Spenden von Myrrhen und Weihrauch zum Himmel empor zu senden; ganz ebenso zündeten die mittelalterlichen Tataren Asiens ihrem Gott duftige Opfer und bringen noch immer die Indianer der Prärie ihrem „großen Geist“ Salbeiopfer. Der Weihrauchduft der christlichen Kirchen ist mithin ein echt geographischer Hinweis auf den Orient als Ursprungsstätte des Christentums.
Ein gewisser schwermütiger Zug geht durch diese Völker; er entspricht wohl dem vereinsamten Weilen in einer einförmigen, schweigenden Natur. Bis zu finsterster Stimmung steigert sich der freudlose Ernst, wenn der karge Boden wie im Tubuland Tibesti selbst an Quellorten nur wenige Datteln und kaum weich zu klopfende Dumpalmenfrüchte trägt. Da macht der nagende Hunger die Herzen hart wie die Steine der Wüste. Sonst jedoch verklärt ein freundlichstes Erbe uralter Vorzeit auch das dürftigste Nomadenzelt: die sogar vom Räuber in Ehren gehaltene selbstlose Gastfreiheit. Handel und Wandel, Verführung durch Kulturgenüsse hat Biederkeit und ritterlichen[S. 53] Sinn meist noch nicht angetastet. „Griechische Treue“ ist Satire, „türkische Ehrlichkeit“ hingegen Wahrheit. Dazu stählt Nüchternheit Leib und Seele; sie nicht zum letzten führte die Khalifenheere wie die Osmanen von Sieg zu Sieg. Trockenräume geben aus ihrem Gewächsreich wenig Zuckerstoff zur Herstellung berauschender Getränke; das bewahrte ihre Söhne vor dem Trunklaster, impfte ihnen Verachtung ein gegen die Weichlinge, die sich nicht genügen lassen am ältesten und gesundesten Getränk der Menschheit, Wasser und Milch, oder dem heißen Labetrunk von Kaffee oder Thee, die sich berauschen wie die verachteten Knechte der Ackerarbeit. „In ein Haus, unter dessen Dach ein Pflug steht, kehrt der Engel Gottes nicht ein“ heißt es nomadenstolz im Koran. Mohammed, dieser Lykurg der Wüste, hat die Abscheu gegen Trunksucht nicht erst eingeführt, nein er fand sie vor und weihte sie nur wie so viele andere uralte Wüstensitten als aus Allahs heiligem Willen geboren.
Wald- und Seevölker pflegen Polytheisten zu sein, Steppen- und Wüstenvölker neigen vielmehr zum Monotheismus. Vom Sinai, aus Palästina und Arabien empfing die Welt die drei wirkungsreichsten Lehren vom einen Gott. Dschingiskhan gebot, als wäre er ein Prophet des alten Bundes: „Du sollst glauben an den alleinigen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, den Herrn über Leben und Tod.“ Nicht anders denkt der Mandan-Indianer der Prärie von dem „großen Geiste, der im Himmel wohnt“. Wir alle suchen die Einsamkeit, wenn wir unsere Gedanken sammeln wollen. Das nämliche Streben trieb Johannes den Täufer und Christus in die Stille der Jordanwüste, Mohammed in die Wüstenklippen abseits von Mekka. Nur wenige, aber gewaltige Eindrücke sind es, mit denen die Wüste in feierlichem Schweigen das sinnende Gemüt des Menschen erfüllt. Über der starren Gesteinsfläche schaut das Auge nur eine, aber eine stetige, ruhig gleichmäßige Bewegung: die der Gestirne. Nicht Menschenhand lenkt sie, es muß eine übermenschliche, jedoch einheitliche Macht sein, die das erwirkt; und was der Forschung das Naturgesetz der Gravitation, ist dem kindlichen Sinn der einige Gott, „der die[S. 54] Sterne lenket am Himmelszelt“, der die ganze Welt regiert, zürnend daher fahrend im Gewittersturm, vernichtende Blitze schleudernd, dann aber mild lächelnd seine Sonne wieder scheinen lassend über Gerechte und Ungerechte.
Die Freude der Orientalen, gedankenvoller Rede zu lauschen, nicht bloß bei abendlicher Rast im Nomadenzelt, nein auch am hellen Tag, etwa auf der grünen Matte am See Genezareth gelagert, wie bei der Bergpredigt, das war der rechte Boden, solche erhabene Lehren volkstümlich werden zu lassen, aus ihnen menschenbeglückende Religionen zu gestalten.
Die Entwicklung der Erdkunde während der letzten drei Jahrzehnte, wo sie bei uns in Deutschland nach so langem Harren endlich überall unter die Universitätswissenschaften Aufnahme fand und somit auf ihre Methode und ihre Abgrenzung gegen andere Gebiete des Wissens gründlicher geprüft wurde, lief einmal wirklich Gefahr auf einen Abweg zu geraten. Hatte Karl Ritter in seinem monumentalen Werk „Die Erdkunde im Verhältnis zur Natur und zur Geschichte des Menschen“, wie schon diese Titelworte verkünden, das physisch-historische Doppelantlitz der Wissenschaft von der Erde von neuem enthüllt, wie es im engeren Umkreis antiker Länderkenntnis 18 Jahrhunderte vor ihm bereits Strabo gethan, hatten manche Jünger der Ritterschen Schule in dem Interregnum der deutschen Erdkunde, wie es 1859, mit Humboldts und Ritters Tod, einsetzte, das historische Element dieser Wissenschaft sogar überwuchern lassen, so erreichte die naturgemäß folgende Reaktion eines umgekehrt etwas einseitig naturwissenschaftlichen Betriebs der Geographie ihren Gipfelpunkt, als Georg Gerland in Straßburg die Losung ausgab: die Erdkunde ist reine Naturwissenschaft, die Werke des Menschen darf man nicht in sie hineinziehen, denn sie sind Sondergegenstand der historischen Disziplinen.
Es darf wohl ein Glück genannt werden, daß dieser revolutionäre Weckruf, der für den ersten Augenblick viel Bestrickendes hat und ernsthaft methodologischer Erwägung entstammt, keine allgemeinere Nachachtung in Deutschland und, dürfen wir stolz dazufügen, somit auch in der übrigen Welt erfuhr. Selbst unser führender Geograph, F. v. Richthofen, unter dessen Banner die Geologie die ihr gebührende Stellung gewann, der Erdkunde als Fundament zu dienen, erklärte sich rückhaltlos gegen Ausschluß des Menschen aus der Geographie.
Gerland hatte freilich vollkommen Recht mit seinem mahnenden Hinweis darauf, daß die Erdkunde gleichsam ihre methodische Sauberkeit, bloß mit Naturkräften und Naturgesetzen zu rechnen, preisgebe, sobald sie den Menschen in ihr Bereich ziehe, denn unrettbar tritt dann sogleich menschliche Willkür in die Betrachtung ein, man muß dann bald mit den Methoden des Naturforschers, bald mit denen des Historikers oder des Volkswirtschaftlers operieren. Aber liegt das nicht eben in der eigenartigen Natur der Erdkunde begründet? Nicht von ungefähr hat ihr der Altmeister Ritter die centrale Stellung zugewiesen mitten inne zwischen den naturwissenschaftlichen und den geschichtlichen Fächern. Wäre die Erde nichts weiter als ein Naturkörper, so wäre selbstverständlich die Erdkunde thatsächlich reine Naturwissenschaft; weil wir uns jedoch namentlich das landerfüllte Viertel der Erdoberfläche gar nicht vorstellen können ohne die ihm tief eingeprägten menschlichen Züge, so wird es wohl bei dem Schiedsspruch verbleiben: die Erdkunde ist eine wesentlich naturwissenschaftliche Disziplin, indessen mit integrierenden historischen Elementen.
Auch die Meere sind jetzt sämtlich eingesponnen in das Thun und Treiben der Menschheit. Nähme der Mensch seine Hand von ihnen, so wären sie nicht mehr, was sie sind, nicht mehr lebenerfüllte Räume, auf denen die Flaggen aller seefahrenden Nationen sich entfalten, damit das Adersystem, wie es erst seit kurzem die Wirtschaftsthätigkeit unseres Geschlechts zu einem Ganzen zusammenschließt, unablässig seinen Segensdienst leiste. Ohne den Menschen würden die Ozeane wieder rückfällig werden in jenen Zustand, da Ichthyosauren und Plesiosauren zur Jurazeit ihr Wesen in ihnen trieben, sie würden wieder wüstenhafte Ödungen, auf denen an Stelle von Schiffen nur noch Eisberge ihre kalten Pfade zögen.
Freilich hinter dem Kiel selbst der mächtigsten Kauffahrer, der gewaltigsten Panzer verwischen die zusammenschlagenden Wogen stets wieder die Spur der Wasserstraße. So allgemein fühlbar die Wirkungen des Verkehrs in jenem Geäder der großen Seestraßen auch sind, in dem die Schiffe gewissermaßen[S. 59] die Blutkörperchen vertreten, — diese Straßen selbst bleiben unsichtbar, nur der Kartograph zieht sie in Liniengestalten auf seinen Weltbildern aus. Anders das Netz der Landverkehrswege! Wie zeigt es uns in seinen engeren oder weiteren Maschen, in der Güte des Straßenbaus, im Vorhandensein von Eisenbahnen neben glatten Kanallinien den Maßstab für Beurteilung der Gesittungshöhe des bewohnenden Volkes! Welch ein Abstand zwischen solchen Bildern des wimmelnden Menschen- und Güterverkehrs auf den nach einem Punkt zusammenstrahlenden Land- und Wasserwegen, wie sie sich um unsere Handels- und Industrie-Metropolen alltäglich darbieten, gegenüber den bloß vom Menschenfuß ausgetretenen zitterigen Wegen durch die unabsehbaren Grasfluren des tropischen Afrika, auf denen die schwarzen Träger in langem Karawanenzug nur einzeln hintereinander ihre armseligen Warenbündel dahinschleppen, oder gar gegenüber den Urwaldgründen im Gebiet des Amazonenstroms, wo sich noch heute wie seit grauer Vorzeit der braune Jäger seinen Weg immer von neuem mühsam durch das Dickicht bricht!
Je mehr sich die wirtschaftliche Kultur eines Volkes hebt und je mehr sich dessen Zahl steigert, desto vielseitiger spiegelt das von ihm bewohnte Land seine Thätigkeit wieder, indem zuletzt wenig mehr übrig bleibt von dessen ursprünglichem Antlitz als das Relief des Bodens. Das großartigste Schauspiel fast urplötzlicher Umwandlung von Wildland in Kulturland haben uns im Laufe der Neuzeit Nordamerika und Australien geboten. Während noch im vorigen Jahrhundert das große Viereck der Vereinigten Staaten von heute im Ostdrittel bis über den Mississippi hinaus von prachtvollen, bunt gemischten Wäldern rauschte, im ebenen Mitteldrittel, das allmählich zum hochgelegenen Fuß des Felsengebirges ansteigt, ein Gräsermeer sich ausbreitete, das nur dem Wild zu statten kam, donnerartig durchdröhnt vom tausendfältigen Hufschlag der Büffel, und dann die kahle Hochlandwüste, die Stätte der ungehobenen Gold- und Silberschätze, folgte, bis an das pazifische Küstengebirge mit seinen riesigen Mamutbäumen und der noch völlig[S. 60] toten herrlichen Hafenbai am Goldenen Thor, — da ist jetzt der Wald ungefähr wie bei uns in Deutschland auf etwa ein Viertel der Gesamtfläche eingeschränkt worden. Goldene Weizenfelder wogen an Stelle der Steppengräser, die größten Mais- und Baumwollenernten der Welt spendet der nämliche Boden, der vordem öde Wildnis war; aus zahllosen Gruben fördert man Eisenerz und Kohlen samt Erdöl an den Alleghanies, in deren Umgebung wahre Wälder von rauchenden Schornsteinen die Industriebezirke kennzeichnen; der centrale Riesenstrom ist gebändigt, daß er bis zum Meer die größten Flußdampfer gehorsam auf seinem Rücken dahingleiten läßt, das großartigste Netz von Eisenbahn- und Kanallinien verflicht das Mississippithal mit der atlantischen Küste wie mit den kanadischen Seen, wo Chicago als ein Seehafen mit Weltverkehr mitten im Kontinent zu einer Millionenstadt erwuchs; selbst durch die vorher in Todesschweigen liegenden Jagdgründe der Indianer des fernen Westens zieht das Dampfroß schrillen Pfiffs seine transkontinentale Eisenstraße zum wirtschaftlichen Zusammenschmieden der früher kaum sich kennenden atlantischen und Südseefront; die weiße Kalkwüste am blauen Salzsee von Utah ist durch künstliche Bewässerung in ein grünes Gartengefilde verwandelt, Nevada nebst Kalifornien schütten ihre Milliarden aus, wo vorher kaum ein paar streifende Horden von Rothäuten ein kümmerliches Dasein fristeten; San Francisco erstand in 50 Jahren aus dem Nichts zur stolzen Königin der Westküste, ein strahlendes Gegenüber zu New York, der merkantilen Beherrscherin des Ostens, dieser volkreichsten Stadt der Welt nächst London, wo vormals an der Hudsonmündung die Wigwams eines Indianerdörfchens standen. Noch rascher, erst seit 1788, ist Australien aus einer gottvergessenen Armutsstätte des Hungers und Durstes, ohne einen Getreidehalm, ohne Fruchtbäume und Melktiere, ja bis auf die spärlichen Känguruherden fast auch ohne jagdbares Wild, durch englische Thatkraft umgestaltet worden zu einer beneidenswerten Schatzgrube von Reichtümern aller drei Naturreiche. Klassisch wurde daselbst die graue Theorie, der zufolge die Geschöpfe vom Schöpfer selbst überall da heimisch gemacht[S. 61] seien, wo sie fortzukommen vermöchten, durch die frische That der Versuchs widerlegt. Alle unsere Getreide- und Obstarten wie unsere Nutztiere gedeihen vortrefflich unter dem australischen Himmel; an Stellen, die dem Australschwarzen nicht mit einem Tropfen Wasser die Zunge lechzten, hat Moseskunst Quellen angeschlagen oder sammeln tief ausgebrochene Felscisternen die Regenwasser umgebender Höhen, um jene ungeheuern Schafherden zu tränken, deren Vließ im Trockenklima Australiens so seidenweich auswächst, daß die Squatter bereits heute dort vom Schafesrücken eine größere, vor allem aber eine ungleich dauerndere Einnahme sich gesichert haben als Goldwäscher und Goldgräber. Dieser einzige Erdteil, der bis vor etwa 113 Jahren keine Stadt, ja kein Dorf trug, ist nun mit blühenden Ortschaften übersät, ja sein Melbourne ist analog, aber noch schneller und höher emporgekommen wie San Francisco, denn diese vornehme Kapitale der Südhemisphäre gleicht Rom an Bewohnerzahl und wird Dank seiner unvergleichlichen Hafenbai die Haupthandelspforte Australiens bleiben, wenn längst auch die letzte Goldader Viktorias ausgebeutet worden.
Hatte der europäische Ansiedler dem amerikanischen Boden vieles von daheim mitgebracht, vornehmlich den Weizen und das Pferd, dazu Rind, Schaf, Schwein, Esel, Ziege, aus Asien den Kaffeebaum, so bekam also Australien überhaupt erst durch die Kolonisten sein Kulturgewand angethan, und zwar ein so gut wie ganz europäisches. Doch auch unsere Ostfeste hat nicht ganz unähnliche Verwandlungswunder in seiner Kulturscenerie erlebt. Javas Bedeutung für den Welthandel beruht fast allein auf dem Massenertrag an ursprünglich ihm fremden Erzeugnissen; der immergrüne Pflanzenteppich seines Kulturlandes, wie er sich über die Niederungen zu Füßen seiner alpenhohen Vulkane und über die Unterstufe seiner Gebirge ausbreitet, besteht neben dem seit alters einheimischen Reis aus Zuckerrohr vom indischen Festland, aus Tabakstauden von der Habana, aus dem Theestrauch Ostasiens, dem ursprünglich nur afrikanischen Kaffeebaum und den herrlichen Cinchonen Perus, die uns in ihrer Rinde das fieberbannende Chinin schenken. Die nächst Java ertrag[S. 62]reichste Tropeninsel Asiens, Ceylon, büßte unter der Hand seiner englischen Herren das prächtige Urwaldkleid seines Südgebirges großenteils ein, um in unseren Tagen sogar zweimal umgekleidet zu werden: zuerst überzog man den gerodeten Waldboden mit lauter Kaffeepflanzungen und nun aus Furcht vor dem verheerenden Blattpilz mit lauter Theepflanzungen. Wer könnte sich die Sahara heute ohne das Kamel denken? Gleichwohl ist dieses für die große Wüste wie geschaffene Tier erst durch den Menschen dorthin eingeführt worden; man erblickt es nirgends unter den mannigfaltigen Tierbildern Ägyptens aus der Pharaonenzeit, es scheint vielmehr den Ägyptern bis zur Ptolemäerzeit ganz fremd geblieben zu sein und hat seinen das Verkehrswesen Nordafrikas umgestaltenden Einzug in die ganze Sahara und darüber hinaus sicher erst im Gefolge der Ausbreitung des Islam bis in den Sudan gehalten. Religionen sind auch sonst bei der Metamorphose des landschaftlichen Kulturbildes mehrfach mit beteiligt gewesen, nicht allein durch bauliche Anlagen wie Moscheen mit schlanken Minarts, Pagoden und Buddhistenklöstern, die geradeso wie christliche Wallfahrtskirchen und Klöster aus einem tief im Menschenherzen begründeten Zug die Berggipfel suchen, wo sie dann landschaftlich um so bedeutender wirken; und was wäre uns die Ebene am Niederrhein ohne den Kölner Dom, die oberrheinische Ebene ohne Straßburgs Münster? Um uns aber bewußt zu werden, wie Religionen z. B. unmittelbar eingriffen in die vegetativen Landschaftstypen, brauchen wir nur dessen zu gedenken, daß die Weinpflanzungen überall zurückwichen, wo Mohammeds puritanisches Nüchternheitsgebot erschallte, selbst in dem einst so weinreichen Kleinasien, das Christentum hingegen den Anbau der Rebe nach Möglichkeit förderte, schon um den Weihekelch des Abendmahls rituell zu füllen. Mit dem Athenakultus war der der Göttin heilige Ölbaum untrennbar verbunden; mit dem Apollodienst wanderte der Lorbeerbaum um das Mittelmeer. Die Verdienste gewisser Mönchsorden um den Wandel des finstern Waldes in lichtes, fruchttragendes Gefilde während des Mittelalters sind hoch zu preisen. Ja wir haben geradezu den[S. 63] urkundlichen Beleg eines solchen Wandels immer vor uns, sobald uns nur bezeugt wird, daß zu bestimmter Zeit an dem betreffenden Ort ein Cistercienserkloster gegründet sei; denn das durfte nach der Ordensregel gar nicht wo anders geschehen als da, wo noch bare Wildnis den Anblick der Urzeit bot, damit alsbald dort mit Rodung, Entsumpfung, Anbau begonnen werde. Wo jetzt die Thüringer Eisenbahn uns so gemächlich durch die grünen Fluren des Saalthals an Weingeländen und hochragenden Burgruinen bei Schulpforta vorbei dem inneren Thüringen zuführt, kann beispielsweise im 12. Jahrhundert nur eine versumpfte Thalsperre bestanden haben, die zu umgehen die Fahrstraßen auf benachbarten Höhenrücken hinzogen, denn — die Porta Coeli ward damals als Cistercienserabtei angelegt. Gerade von ihr ist uns kürzlich durch einen hübschen geschichtlichen Fund die gärtnerische Bedeutung der alten Mönche in helles Licht gerückt werden; man verstand früher nie, warum in Frankreich der auch dort weit und breit geschätzte Borsdorfer Apfel pomme de porte heißt, — nun wissen wir den Grund: die fleißigen Mönche von Pforta hatten auf ihrem Klostergut Borsdorf unweit von Kamburg an der Saale eine neue feine Geschmacksvarietät einer kleineren Apfelsorte entdeckt und verteilten alsbald Pfropfreiser derselben an ihre Ordensbrüder weit über Deutschland hinaus, und nur die Franzosen bewahren zufällig durch den ihnen selbst nun unklar gewordenen Herkunftsnamen pomme de porte die Erinnerung daran, daß die rotbäckigen Borsdorfer alle Nachkommen sind von Stammeltern, die in einem stillen Klostergarten an der thüringischen Saale gewachsen.
Ganz Europa ähnelt einem Versuchsfeld, auf dem nützliche Gewächs- und Tierarten gezüchtet wurden, um sie dann mit dem alle übrigen Erdteile durchflutenden europäischen Kolonistenstrom nach systematischer Auslese auch dort einzubürgern, wo es die geologische Entwicklung nicht hatte geschehen lassen. Nicht ein Erdteil wird vermißt unter den Darleihern von Zuchttieren, Nutz- oder Ziergewächsen an Europa. Am schwächsten ist Afrika vertreten, nämlich bloß mit Schmuckpflanzen wie[S. 64] Calla und Pelargonien; Australien schenkte uns in seinem Eucalyptus einen kostbaren raschwüchsigen Baum, der durch die energische Saugthätigkeit seines mächtig ausgreifenden Wurzelwerks u. a. in den pontinischen Sümpfen Wunder thut zur Austrocknung des Bodens, zur Vernichtung des Fiebermiasmas; Amerika verdanken wir den Truthahn, die Tabakpflanze, den Mais, vor allem aber die Kartoffel, ferner die eigenartig fremdländische Staffage der Mittelmeerländer: Agave nebst Opuntie; am meisten jedoch spendete uns Asien, mit dem Europa zufolge seines breiten Landanschlusses im Osten sowie der bequemen Schiffahrt über das Mittelmeer stets im engsten Bunde gestanden hat durch Wanderungen der Völker und durch Warenaustausch. Jeder Hühnerhof stellt eine asiatische Geflügelkolonie dar, innerhalb deren nicht selten der Pfau eine echt indische Farbenpracht entfaltet. In vor- oder doch frühgeschichtliche Zeitfernen reicht die Einführung des Weizens und der Gerste aus Asien, noch während des Altertums folgten Walnuß und Kastanie, Mandel, Pfirsiche und Aprikose, erst durch Lucullus die Kirsche. Oberitalien, vormals ein sumpfiges Urwaldgebiet rein europäischer Baumformen, ward zu einem prangenden Fruchtgefilde, wo hier asiatischer Reis, dort amerikanischer Mais blüht und aus China gekommene Seidenzucht tausend emsige Hände beschäftigt; nur die Weinrebe, die im Poland so reizend sich von Ulme zu Ulme schlingt, darf als alteuropäisches Eigengut gelten. Der Büffel, so heimisch er sich jetzt in den Donausümpfen Rumäniens wie in den Morästen am tyrrhenischen Gestade Italiens fühlt, ist doch erst im frühen Mittelalter durch Nomadenstämme aus Westasien zu uns gelangt. Das Land, „wo die Citronen blühn, im dunkeln Laub die Goldorangen glühn“, ist Italien noch in Cäsars Tagen nicht gewesen, ja die Apfelsine, die schon durch ihren Namen „Apfel von Sina“ ihre chinesische Heimat verrät, wurde sogar erst durch die portugiesische Kauffahrtei des 16. Jahrhunderts über Südeuropa ausgebreitet.
Allein, um den Landschaftswandel durch Menschenhand zu gewahren, brauchen wir uns gar nicht im Geist ans blaue[S. 65] Mittelmeer zu versetzen, etwa nach Sizilien, dieser Lieblingsstätte der Ceres, wo man nun nicht mehr bloß Weizen, Wein und Oliven wie vor Alters erntet, sondern ganze Schiffsladungen von Hesperidenäpfeln von Palermo nach Nordamerika und halb Europa verfrachtet, den Opuntienkaktus die Etnalava in fruchtbaren Humusboden verwandeln und gleichzeitig dem armen Volk eine billige, labende Frucht schaffen läßt, — nein, unser eigenes Vaterland offenbart uns das eindringlich genug.
Als Tacitus seine Germania verfaßte, gab es zwar im römischen Provinzialgebiet links vom Rhein, an Donau und Inn, auch im Zehntland zwischen Donau und süddeutschem Rhein schon mannigfachen Anbau; auf den Schieferfelsen längs der Mosel und des norddeutschen Rheins pflegte man bereits die Rebe, auf Donau und Inn schwammen Getreideschiffe, wenn auch der Bodenanbau sich mehr an die Thalweitungen der Ströme hielt, sonst meist nur eine lichte Oase im Dunkel des Waldes bildete, etwa um ein einsames Römergehöft, angeschmiegt an einen sonnigen Thalhang mit Auslage gen Süden. Dort im Donausüden und im rheinischen Westen bewegte sich schon reger Verkehr auf den für den festen Tritt der Legionen solid gebauten Römerstraßen; auf dem Markt der vindelicischen Augusta, des heutigen Augsburg, trafen sich die verschiedensten Volksstämme, man redete in germanischer, keltischer, römischer Sprache; Mainz war ein wichtiger Waffenplatz, im freundlich mit Weingärten und Obsthainen umschmückten Thalkessel von Trier schlugen gelegentlich römische Kaiser ihren Sitz auf, um von wohlgeschirmter Stelle aus die Rheingrenze gegen Freigermanien zu überwachen. Aber eben dies Land der freien Germanen lag noch überwiegend im Waldesschatten, der nur von weiten Moorflächen und wohl auch stellenweise von offenem Wiesenland unterbrochen wurde, wo leicht austrocknender Lößboden den Waldwuchs weniger begünstigte als den von Gras und Kraut. Städte sah man gar keine, kaum geschlossene Dorfschaften, gewöhnlich bloß verstreute Blockhäuser, um sie her wohl etwas Feld, grasende Kühe, Schafe oder Ziegen, ein grunzendes Schwein, von Eichelmast genährt, aber keinen Baum[S. 66]garten. Holzäpfel und Holzbirnen brach man sich aus dem nahen Wald, der in malerischem Durcheinander Laub- mit Nadelholz mischte; die schöne Eibe war an ihrem dunkelgrünen Wipfel schon von weitem erkennbar neben dem helleren Grün der Fichte oder der Kiefer; Eichen und Buchen walteten unter den nur sommergrünen Waldbäumen vor, aber auch Lindenbestände mengten sich ein, auf den Gebirgshöhen turmhohe Edeltannen. Bär und Luchs lauerten im Dickicht, in dem die wilde Taube gurrte und über dem krächzende Raubvögel ihre Kreise zogen; der Wolf ging auf Beute aus, fiel auch wohl weidende Wildpferde an; Wildschweine durchwühlten das Erdreich, neben Hirsch und Reh sah man das Elen mit seinem Schaufelgeweih das Geäst der Bäume und das Gestrüpp des Unterholzes geräuschvoll zur Seite drängen, um sich Bahn zu schaffen; in kleinen Gruppen durchzog das Geschwister des amerikanischen Bison, der Wisent, Niederungs- wie Bergwald, in größeren Herden weideten Renntiere die grauen Flechten des Waldbodens ab; an den morastigen Flußufern führten Biber ihre Wasserbauten auf im Schatten von Erlen, Eschen und Zitterpappeln.
Heute würde Tacitus sein Germanenland kaum wiedererkennen. Der Deutsche ist nicht mehr bloß Jäger und Viehzüchter mit nebensächlichem Feldbau, seine weit intensiver gewordene Arbeit gehört dem Ackerbau und der innig mit ihm verknüpften Viehhaltung, dem Gewerbe bis zur Großindustrie, dem Bergwerksbetrieb, dem Handel und der Schiffahrt. Das kündet Deutschlands Antlitz mit der nahezu die Hälfte der Bodenfläche einnehmenden Feldflur, den zur menschlichen Nutzung regulierten Flüssen, der Fülle von Städten, den Fabrikschornsteinen und Hochöfen, den See- und Stromhäfen, den Leuchttürmen und Deichbauten längs der Küstenlinie, dem umfassendsten Eisenbahnnetz in ganz Europa. Nur annäherungsweise haben sich Reste altgermanischer Landschaft noch erhalten auf den höchsten Zinnen unserer Gebirge und in den Mooren, soweit diese noch nicht der Brandkultur unterworfen wurden, oder durch Abtragen des Torfes bis zum festen Untergrund einer[S. 67] am Kanalgezweig in sie eindringenden Fehnkolonie den Platz räumten. Der Urwald ist, wo man ihn nicht durch Feuer oder Axt zerstörte, zum Forst geworden, also zum Kunstwald, der in eintönig gleichmäßigen Beständen solche Holzarten enthält, die rasch wachsen und gut bezahlt werden. Darum hat besonders auf unseren Gebirgen die Fichte die Vorherrschaft erlangt, die hauptsächlich unser Bauholz liefert; selbst die stolzen Edeltannen, von denen einige Patriarchen am obersten Schwarzathal noch aus der Stauferzeit stammen mögen, finden wegen ihres langsamen Aufwuchses keine Gnade bei der Forstverwaltung. Die Eibe treffen wir sogar meist nur noch als seltenes Relikt der Vorzeit an schwerer zugänglichen Stellen, so an der jähen Granitwand des Harzes, die vom Hexentanzplatz zur Bode abfällt; sie wächst erst recht langsam nach und erlag daher, allzu viel geschlagen wegen ihres für Schnitzerei trefflich geeigneten Holzes, bei uns wie in Skandinavien frühzeitig allmählicher Ausrottung. Renntier und Wisent verschwanden aus Deutschland schon während des Mittelalters, das Elen hält sich nur noch in ein paar preußischen Forsten unseres äußersten Nordostens, das mäßig große Wildpferd wird zuletzt in der Reformationszeit am Thüringerwald erwähnt, Wolf und Bär wurden in den Folgejahrhunderten ausgerottet, vom Biber führt ein kleines Häuflein an der untersten Mulde und in dem benachbarten Stück des Elbthals oberhalb Magdeburg ein beschauliches Dasein, anderwärts sind dem merkwürdigen Nager unsere Gewässer durch Befahrung und industrielle Anlagen zu unruhig geworden.
Unsere flüchtige Überschau hat ergeben, daß sich der umgestaltende Eingriff des Menschen in die Naturwildnis teils richtet auf Veränderung der Pflanzen- und Tierwelt je nach dem Bedarf seiner vornehmlichen Beschäftigung, teils auf Ausführen von Wege-, Wasser- und Hochbauten. In beiden Richtungen stellt sich die Wasser- und die Waldfrage in den Vordergrund. Bei beiden wollen wir noch einen Augenblick verweilen.
In der Wüste schafft sich der Mensch Kulturboden, indem er den in lichtloser Tiefe schlummernden Wasservorrat durch artesische Bohrung an die Oberfläche herauffördert, um bald im[S. 68] Schatten von Dattelhainen zu wandeln, wo sonst der Verschmachtungstod drohte. Im amphibischen Sumpfgelände gilt es im Gegenteil des Übermaßes von Wasser sich zu entledigen, um dann mitunter den allerfruchtbarsten Boden zu gewinnen. Letzteres war der Fall in Ägypten; in der Deltaflur des Nil war nicht zu leben als Fischer, Jäger oder Hirt, nur als seßhafter Ackerbauer, dann aber auch in hohem Wohlstand und wachsendem Volksgewimmel, das zur Arbeitsteilung, folglich zu hoher Kultursteigerung führte. So zogen die Altägypter den Kulturboden durch Entwässerung und Dammbauten aus dem Nilschlamm empor und schufen die eine Hauptwurzel der nachmals in Europa ausgestalteten Weltkultur. Die andere Hauptwurzel leitet weiter hinaus in das Mündungsland des Euphrat und Tigris. Hier ward in ganz ähnlicher Weise Kulturboden als Grundlage erstaunlich früh gesteigerter Menschheitsgesittung dem Sumpfdelta der beiden Zwillingsströme enthoben. Aber der ältere, darum höher an den Flüssen hinauf gelegene Deltaboden lag doch schon zu hoch über dem Stromspiegel, er wurde deshalb nicht mehr vom Hochwasser erreicht wie der am ägyptischen Nil, man mußte das Wasser durch Schöpfwerke emporheben und in zahlreiche Kanäle leiten, die zugleich der Schifffahrt wie der Felderbefruchtung dienten. Das war es, was das uralte Sumeriervolk und seine Nachfolger in diesem Deltaland, die Chaldäer, zu weit mühevollerer Leistung stachelte als die Ägypter. Indessen eben weil dieser Kulturboden von keinem Nil alljährlich von selbst getränkt und gedüngt wird, verlor er seine Erzeugungskraft, als der gedankenöde, die Thatkraft lähmende Kismetglaube des Islams das Leichentuch über das Land breitete. Babylonien versank in den Wüstenzustand; trauernd blickt der Birs Nimrud, der einzige turmartige Trümmerrest Babels, dieser größten Stadt des Altertums, auf eine sonnendurchglühte Ebene, der nun das Wasser fehlt, das einst die Heidenvölker so schaffensfroh heraufholten. Hier also harrt eine seit mehr denn tausend Jahren erstorbene Kulturlandschaft ihrer Auferstehung, sobald nur das rechte Volk kommt. Glorreicher erscheint darum die Bezeugung menschlicher[S. 69] Macht über rohe Naturgewalt in den Niederlanden, weil da noch zur Stunde das Siegeswort Wahrheit spricht: „Gott schuf das Meer, der Bataver aber den festen Wall der Küste.“ Wo einst die nordwestlichsten Deutschen, die Chauken, ein kaum menschenwürdiges Dasein fristeten, täglich zweimal zur Flutzeit vom einbrechenden Meer umgarnt, daß sie wie Schiffbrüchige in ihren auf künstlichen Hügeln erbauten Hütten als Flüchtlinge lebten, da hat der goldene Reif des Deichbaus, den ihre Nachkommen aufführten, fette Wiesen, besten Ackerboden in dessen Schutz gewinnen lassen, und Hunderte von Kanälen durchziehen wie weiland Babylonien zur Be- und Entwässerung das gesegnete Gefilde, aus dem man künstlich das Wasser zum Meer geleiten muß, denn reichlich ein Viertel der Niederlande, der ganze Raum von der Südersee bis zur Schelde, liegt tiefer als der Meeresspiegel. Dies ganze Land ist mithin echtester Kulturboden sogar seinem Ursprung nach, ihn hat der Mensch nicht meliorierend umgeschaffen, sondern erschaffen, dem Meere abgerungen.
Schulter an Schulter mit den Niederländern haben wir auch auf deutschem Boden den Deichbau zur Wehr gegen die anstürmende Nordsee ausgeführt, am Dollart unterseeische Polder erworben und innere Landeroberungen durch Urbarmachen der Moore, Trockenlegung von Sumpfstrecken erzielt; ja Friedrichs des Großen Trockenlegung des Oderbruchs steht auf ähnlicher Höhe wie diejenige des Haarlemer Meeres, die neuerdings 18000 Hektar ausgezeichneten Fruchtbodens lieferte, die Heimstätte von zur Zeit 14000 zu ansehnlichem Wohlstand gelangten Holländern. In den deutschen Mittelgebirgen, deren Begehung vielfach durch Torfmoore erschwert wurde, hat der Abstich letzterer freilich die Wasserkraft der aus ihnen gespeisten Bäche beeinträchtigt, denn jene gaben vorzügliche Reservoire ab für den Niederschlag: Regen- wie Schmelzwasser speicherte sich in ihnen wie in einem Schwamm auf und erhielt die Gewässer selbst bei Trockenheit und Hitze stark. Mancher unserer Gebirgsbäche, der jetzt zur Sommerzeit nur als dünner Wasserfaden durch sein Felsenthal niederrieselt, hat noch vor wenigen Jahr[S. 70]hunderten selbst unweit seines Ursprungs rastlos die Räder von Sägemühlen getrieben.
Eben in dieser Wasserökonomie haben wir nun auch die Hauptbedeutung des Waldes zu erkennen. Daß Entwaldung stets zum Niedergang eines Landes führen müsse, kann man allerdings nicht zugeben. Das hängt ja ganz von seiner Naturbegabung ab. Die britischen Inseln sind durch ihre Bewohner zum waldärmsten Glied des europäischen Körpers geworden und trotzdem eins der regenreichsten geblieben, weil ihnen der Südwest vom Golfstrom her Regenwolken in Fülle zutreibt, gleichviel ob diese Wälder antreffen, oder irische Viehtriften, englische Feldflur und Parklandschaft. Waldrodung ist in jedem Waldland die unerläßliche erste Kulturthat des Ansiedlers, denn er braucht geklärten Boden zu Hausbau wie Aussaat. Indessen wehe dem Volk, das ohne Verständnis für die Eigenart seiner Heimat vermessen antastet dessen Waldmitgift! Wie wir jetzt in Deutsch-Südwestafrika dazu schreiten, das Beispiel der Australengländer zu befolgen, den bisher nutzlos verlaufenden Wasserschatz sommerlicher Platzregen vorsorglich zu sammeln in Cisternen oder Stauteichen, daß er der Viehzucht wie dem Landbau zu gute komme, so beschirmt die Mutter Natur in glücklicher ausgestatteten Erdräumen das als Regen oder Schnee vom Himmel bescheerte Wasser durch das grüne Dach des lieben Waldes gegen zu rasche Verdunstung, gegen verheerenden Ablauf zumal im Gebirge. Frankreich, noch weit schlimmer die südlicheren Länder ums Mittelmeer, bezeugen, was geschieht, wenn zufolge fahrlässiger Waldverwüstung das Naß nicht mehr im schattigen Wald niedertropft auf moosigen Boden, um entlang den Baumwurzeln wie in tausend Kanälchen ins Erdreich zu sickern, Quellen nährend. Wo sind sie hin die schiffbaren Flüsse der Apenninen-Halbinsel zur Römerzeit? Im Süden vielfach zu tobsüchtigen Fiumaren geworden, liegen sie in der regenarmen Sommerzeit trocken, reißen dagegen bei winterlichen Gewittergüssen wie mit den Krallen eines Ungeheuers immer neue, immer tiefere Risse in die nackten Felswände, von denen die für den Pflanzenwuchs so nötige Verwitterungskruste[S. 71] krumiger Erde durch das nämliche Unwetter hastig in ihr Bett entführt wird, bloß zur Versumpfung der Niederung, zur Verstopfung der Flußmündung. So ist aus dem Land, da Milch und Honig floß, das skelettartig kahle Palästina geworden; das Fett des Bodens, besonders die kostbare Roterde, die aus der oberflächlichen Auflösung des palästinensischen Kreidekalks durch den Regen zurückblieb und in der Terrassenkultur der Israeliten sparsamst bewahrt blieb, mußte beim Verfall pflegsamer Bodenbehandlung, beim Abhieb der immergrünen Eichenhaine, von denen die Bücher des alten Bundes melden, der bleichen Steinwüste weichen.
Stets sind die Länder das, was ihre Völker aus ihnen machen. Das Aussehen jener verkündet untrüglich den Grad der Werkthätigkeit dieser. Immer höher klimmt der Mensch empor, die Natur seiner Umgebung in seinen Dienst zu zwingen und seine Herrschaft ums ganze Erdenrund auszudehnen. Boden wie Wasser sind beide längst die Schemel seiner Macht, und sie werden es von Tag zu Tag mehr. Aus der mechanischen Kraft des Flußgefälles holen wir uns elektrisches Licht, Triebkraft für unsere Maschinen und übertragen sie vom Gebirge in die Niederung. Hier versetzen wir gewissermaßen Gebirge, dort tunnelieren wir sie; wir durchstechen Landengen und lassen im künstlich erschlossenen Wasserweg Meere sich verbinden, wo es unser Verkehrsbedürfnis erheischt. Ja wir lassen auf Schienen- wie Dampferlinien die irdischen Fernen in der Praxis mehr und mehr sich kürzen, wir heben sie völlig auf in der Telegraphie.
Aber es ist nicht wahr, daß der Fortschritt der Kultur den Menschen loslöst von der mütterlichen Erde; nein, sie verknüpft ihn nur immer inniger und umfassender mit ihr. Wir fühlen uns immer heimischer auf dieser Erde, immer glücklicher in der Verwertung ihrer Güter, ihrer Kräfte, stets jedoch bleibt sie das Grundmaß menschlichen Schaffens.
Wir gebrauchen das romanische Lehnwort „Nation“ nicht gleichbedeutend mit dem viel allgemeineren Ausdruck „Volk“. Volk bedeutet uns keinen recht bestimmten Begriff: „Viel Volks“ brauchen wir in dem nämlichen Sinn wie „eine Menge Menschen“. Die Bewohner jeder Thalung, jeder Insel, jeder Stadt und jedes Staates dürfen wir im zusammenfassenden Sinn „Volk“ nennen, selbst wenn sie von ihren Nachbarn nicht oder kaum verschieden sind. Auch Nationen sind Völker, indessen nicht jedes Volk ist uns eine Nation. Es giebt keine hamburgische, württembergische, sächsische oder preußische Nation, wohl aber eine deutsche, französische, russische; etwa auch eine belgische und niederländische, eine schweizerische oder österreichische?
Schon bei dieser Frage stutzt man. Die Österreicher wird nicht leicht jemand eine Nation nennen; den meisten wird das auch schwer ankommen bei den ihrer Abkunft und Sprache nach ganz und gar deutschen Holländern, vollends bei den Belgiern und Schweizern mit ihrer teils deutschen, teils romanischen Muttersprache. Wir ertappen uns auf großer Unsicherheit, wenn wir die Frage beantworten sollen: machen die Bewohner der Vereinigten Staaten von Amerika eine Nation aus? Viele werden das verneinen mit dem Hinweis darauf, daß diese Nordamerikaner doch nur ein Gemisch aus den verschiedensten Völkern Europas und Afrikas darstellen. Können indessen nicht aus der Verschmelzung von recht unverwandten Völkern Nationen geboren werden? Ist nicht die chinesische hervorgegangen aus der Vermischung der aus Innerasien vormals an den Huangho hinabgezogenen Urchinesen mit einer Menge ihnen von Haus aus fremder Vorbewohner Nordchinas und vollends Südchinas,[S. 76] wo noch bis zur Zeit des zweiten punischen Krieges keine Chinesen hausten und wo bis zur Stunde Reste unchinesischer Stämme zu Hunderttausenden von Köpfen weiterleben? Zeigt uns die russische Nation nicht noch in der Gegenwart ganz den nämlichen Umschmelzungsvorgang durch Aufgehen finnischer wie türkischer Völker im alles aufschlürfenden Russentum? Ist nicht geradezu jede Nation ohne Ausnahme ein Mischungserzeugnis?
Keiner braucht sich zu schämen, wenn er bekennen muß, über solche Skrupel sich noch nicht recht klar geworden zu sein. Beweisen doch zwei unserer größten Geister aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, wie völlig gegensätzlich sogar man damals noch über den Sinn des Wortes Nation bei uns dachte. Schiller ruft in einem Distichon aus:
Und gleich nachher, als Deutschland dem korsischen Sieger zu Füßen lag, hielt Fichte unter dem Trommelgetöse einer französischen Besatzung zu Berlin unter den Linden seine Flammenreden „an die Deutsche Nation“!
Schiller meinte unter Nation offenbar eine im Nationalstaat geeinte Volksschar, Fichte dagegen hatte den Mut, selbst im zeitweilig niedergetretenen, staatlich völlig zersplitterten Deutschtum die nationale Kraft der Gemeinsamkeit anzurufen in prophetisch zuversichtlichen Worten, als hätte ihn die stolze Ahnung erfüllt, daß eben in mannhafter Gegenwehr gegen den französischen Erbfeind das deutsche Volk sich dermaleinst den nationalen Staat erkämpfen werde!
Aber es dünkt doch sehr an der Zeit zu sein, daß wir den Begriff „Nation“ in befriedigender Klarheit erfassen, weil er eine so mächtige Rolle im täglichen Leben spielt und bei seiner ursprünglichen Mehrdeutigkeit leicht als bestrickende Parteiparole von den verschiedensten Seiten mißbraucht werden kann. Man denke nur an die antisemitische Bewegung, an die mörderischen Kriege, die unter dem Vorwand der Nationeneinung im vorigen Jahrhundert geführt wurden!
Kein Zweifel freilich, daß das lateinische Wort natio einen Volksstamm bezeichnet, der zufolge gemeinsamer Abkunft seiner Glieder sich gleich zeigt in Aussehen und Sprache, in Brauch und Sitte. Jedoch die Geschichte lehrt, daß keine Nation eine solche natio, eine solche genealogische Einheit darstellt. Jede im Gegenteil gleicht einem Strom, der aus um so zahlreicheren Quellen sein Gewässer mischt, je gewaltiger er im Lauf zum Meere hin anwächst. Gleich sein von jeher dichten nur oberflächliche Beurteiler den Nationen an; gleich werden aber ist allerdings ihr unablässig betriebenes Werk. Eben weil Nationen sich in stets lebendigem Fluß befinden, ist es so verkehrt, doktrinär aprioristisch von einer starren Definition für den in Rede stehenden Begriff auszugehen und nachher schulmeisterlich zu Gericht zu sitzen, um alle diejenigen Völker als Nichtnationen abzuweisen, die dem im voraus festgestellten Begriff sich nicht fügen. Das ist regelmäßig der Fehler einseitig urteilender Historiker, Sprachforscher, Anthropologen oder Staatsrechtslehrer. Da sagen die einen: die Stammeseinheit macht die Nation. Nun dann wären Engländer und Deutsche nicht zwei Nationen, sondern nur eine, denn die Angelsachsen waren rein deutsch und mischten sich auf britischem Boden nicht viel mehr mit Kelten als unsere Vorfahren auf süddeutschem Boden, den doch bis zum Beginn unserer Zeitrechnung ausschließlich Kelten inne hatten, was noch heute daran ersichtlich wird, daß die Süddeutschen weit häufiger dunkel von Auge und Haar sind als die Norddeutschen. Andere behaupten: die Sprachgleichheit sei der richtige Ausweis nationaler Zusammengehörigkeit. Aber dann gehörten ja Engländer und Nordamerikaner zu einer und derselben Nation, ebenso Dänen und Norweger, die ja nach Sprache wie Abkunft völlig eins sind. Endlich heißt es: der Staat erst macht ein großes Volk zu einer rechten Nation. Das hat gewiß mehr für sich, denn Niederländer wie Portugiesen, Schweizer wie Nordamerikaner haben sich erst durch Gründen eigener Staaten zu nationaler Selbständigkeit erhoben, ja sogar losgelöst von ihren stammes- und sprachverwandten Brüdern außerhalb der von ihnen gezogenen Staatsgrenze.
Die Niederländer sind reinblütigere Deutsche als die Reichsdeutschen selbst, ihr Holländisch ist eine niederdeutsche Mundart so gut wie das Platt der Gegend von Düsseldorf oder Köln. Nichts deutete bis gegen Ausgang des Mittelalters auf nationale Abkehr dieser für uns so wichtigen Rheindeltaflur vom deutschen Mutterland. Da bricht der Krieg aus gegen die spanische Zwingherrschaft. Wir lassen die Holländer in diesem echt deutschen Kampf um Nacken- wie um Glaubensfreiheit thöricht genug im Stich und — fertig steht ein niederländischer Staat von vollgültiger nationaler Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten des schaffenden Lebens. Ein Aufschwung ergreift das Volk, ähnlich dem der Hellenen nach ihrem Obsiegen über den Koloß der Persermacht. Aus den friedlichen Bauern und Heringsfischern geht eine kühne Seefahrernation hervor, die eine Zeit lang die Hegemonie auf dem Weltmeer inne hat; man gewinnt in überseeischem Handel und Kolonialbesitz eine wahre Großmachtstellung, schafft in der nun zum Adel einer Schriftsprache erhobenen heimischen Mundart eine hochansehnliche Litteratur, eigene Kunstschulen und ein Gemeinwesen, das auch heute noch sein wieder zu friedlicher Arbeit in engerem Kreise zurückgelenktes Volk sich eines beneidenswert gleichmäßig verteilten Wohlstandes erfreuen läßt, durchaus nicht gewillt, die seiner Eigenart angepaßte Verfassung durch Eintreten in den deutschen Reichsverband preiszugeben. Ganz ähnlich Portugal! Auch hier regte sich durchaus kein Streben nach Loslösung aus dem so fest in sich geschlossenen iberischen Halbinselkörper bis ins 11. Jahrhundert; der lusitanische Wohnraum deckte sich gar nicht mit dem heutigen Portugal; ethnisch wie sprachlich war die Absenkung Hispaniens zur heute portugiesischen Westküste vom Kernland der Mitte nicht tiefer unterschieden wie dieses vom Ebroland oder vom fröhlichen Andalusien. Portugiesisch war von jeher bloß eine spanische Mundart, die man übrigens auch heute noch im spanischen Galicien spricht. Der Staat Portugal erst brachte den Umschwung. Begründet dadurch, daß König Alfons VI. seinem Eidam, dem ritterlichen Heinrich von Burgund, das Küstenland zwischen Minho und[S. 79] Doiro als selbständige Grafschaft überweist, wächst Portugal, Schulter an Schulter mit Kastilien, im siegreichen Kampf gegen die Mauren südwärts aus, bis ihm an der Küste Algarves das Meer eine natürliche Grenze setzt. Seit 1256 hat kein anderes Königreich so fest seine Grenze eingehalten wie Portugal, ein Beweis naturgemäßer Umgrenzung. Die nur auf portugiesischem Boden, nicht ins spanische Hinterland schiffbaren Flußstrecken bilden samt der Küstensee treffliche Verkehrsstraßen zu innigerem Zusammenschluß des seiner ganzen Natur nach Kastilien entgegengesetzten, weit hinaus ins Weltmeer blickenden Landes. Das gab dem Volk sein eigentümliches Gepräge und schied es samt seiner auch hier zur vornehmen Litteratursprache entwickelten Mundart national von Spanien.
Doch wir blicken in die Frühepoche europäischer Gesittung zurück und vernehmen zwei merkwürdige Wahrsprüche der Geschichte über die gar nicht immer gleichmäßige Beziehung zwischen Staat und Nation. Die alten Griechen waren eine echte Nation in der wesentlichen Gleichartigkeit des Typus, der Sprache, der Sitte und Gottesverehrung, in ihrem stolzen Sichabsondern von allen übrigen Völkern, der Welt der „Barbaren“, im ruhmreichen Kampf zur Verteidigung ihrer nationalen Freiheit gegen den persischen Großkönig, indessen — nie brachten sie es zu einem nationalen Staat. Die Römer hingegen erweiterten Schritt für Schritt ihre festgefügte Staatseinheit vom römischen Weichbild auf Latium, auf Italien, auf die ganze Länderkette rings um das Mittelmeer, und gleichwohl hinterließ dieser Römerstaat, als er in Trümmer sank, keine einige Nation, sondern bloß vereinzelte Ansätze zu abgesondert voneinander sich entfaltenden Nationalitäten.
Ist somit doch nicht immer der Staat Grundlage oder Endziel nationaler Ausgestaltung, so führt uns wohl am sichersten ein Wink des berühmten Franzosen Ernst Renan der Lösung des Rätsels entgegen. In einem glänzenden Vortrag, den Renan in der Pariser Sorbonne am 11. März 1882 über das Thema hielt: „Qu’est ce qu’une nation?“ — der Vortrag liegt längst auch gedruckt vor, blieb jedoch in Deutsch[S. 80]land fast unbeachtet — weist derselbe alle bisherigen Versuche, den Begriff Nation zu erklären, mit meist durchschlagenden Gründen zurück und überrascht zum Schluß mit der ganz neuen Deutung: „Eine Nation ist eine große Gemeinschaft, die sich gründet auf das Bewußtsein opferwillig für die Gesamtheit vollbrachter Thaten und auf das Einverständnis, auch künftig in dieser aufopfernden Gemeinsamkeit weiterzuleben.“ Er ruft aus: „Die Existenz einer Nation ist ein Tag für Tag fortgesetztes Plebiscit.“
Das kennzeichnet richtig die Nation als etwas in steter Entwicklung Begriffenes und legt das Schwergewicht mit Recht auf das thatkräftige Wollen. Thaten sind uns geradezu Berechtigungsnachweis dafür, daß eine Volksschar eine Nation ausmacht; eine herdenhafte Menschenmasse von Millionen und aber Millionen Köpfen, dabei so gleichartig, als stelle sie eine einzige Familie dar, wäre uns doch keine Nation, wenn sie thatenlos dahin vegetierte. Unklar bleibt nur bei Renan, worauf eigentlich dieser Wille der Zusammengehörigkeit beruht, aus dem die großen Thaten fließen. Vortrefflich eröffnet Renans Nationalbegriff die Perspektive auf die im gesunden Fortgang des nationalen Zusammenschlusses begründete Vollendung des letzteren, die Aufrichtung des nationalen Staates; denn nichts vermag besser den Willen der Absonderung von den Nichtgenossen zu verwirklichen als Abstecken einer möglichst gesicherten Staatsgrenze, nichts vermag andererseits den Willen des festen Zusammenstehens gründlicher in die That umzusetzen als das gesetzmäßig ausgebildete Pflichtensystem staatlicher Einrichtungen. Doch wenn wir fragen nach dem Urquell eben dieses Wunsches zusammenzuhalten, zu bethätigen das „alle für einen, einer für alle“, so läßt uns der geistvolle Franzose im Dunkeln. Er hellt dieses Dunkel auch nicht auf mit der Redewendung: „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip.“
Nein, das Wünschen und Wollen im bloßen Sinn subjektiven Beliebens führt gewiß nicht zu dauerndem nationalen Zusammenschluß. Es handelt sich um den objektiven Grund[S. 81] des Wollens, und ich denke, wir entdecken ihn, wenn wir den Renanschen Satz geographisch vertiefen.
Ist es an dem, daß vor allem der ausdauernde feste Wille des Zusammenhaltens in bewußtvoller Abkehr von den übrigen ein Volk zur Nation stempelt, so bilden z. B. die Schweizer entschieden eine Nation. „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,“ so läßt der Dichter die Schweizer auf der Rütliwiese ihren Bund besiegeln. Ja, sie wollen eins sein auch die Schweizer der Gegenwart, sie wollen wie Brüder zusammenstehen, so deutlich auch die welsche Zunge im Südwesten und Süden, die deutsche Zunge im übrigen größeren Raum ihrer Eidgenossenschaft laut es künden, daß sie nicht von gleicher Herkunft sind. Und warum wollen sie es? Weil sie ein und dasselbe Haus bewohnen, dies einzig schöne Haus von den Juraketten bis zu den firngekrönten Alpenhöhen, vom grünen Bodensee zum blauen See von Genf. Gar verschieden hat die Natur das Land ausgestattet. Wo im Südost die Alpen ragen, da thront naturgemäß die Sennerei; mit den Erträgen seiner Rinderzucht ist der Alpenschweizer auf das Hügelgelände des Nordwestens, auf die Molasseschweiz zwischen Jura und Alpen gewiesen, wo man Getreide und Obst baut, wo man Wein keltert. Schon damals, als die Melkbauern um den Vierwaldstättersee den urältesten, noch so eng umschränkten Eidgenossenbund gründeten, nahmen sie Luzern in ihn auf als ihren Marktort am Austritt der Reuß ins schweizerische Kornland. So klar erkannten sie, daß einem Dauer verheißenden Bund die materielle Wirtschaftsgrundlage nicht fehlen dürfe. Und dieser reale Grund, daß Alpen- und Molasseschweiz bei ihrer entgegengesetzten Begabung aufeinander angewiesen sind zu wechselseitiger Ergänzung, leitete den ferneren Ausbau der Eidgenossenschaft und hat bis zur Stunde diese Schweizer zusammengehalten. Das Bewußtsein solcher Zusammengehörigkeit aber erfuhr eine mächtige Steigerung durch äußere Widersacher: durch die habsburgischen Versuche, die alte Bauernfreiheit zu verkümmern, durch die blutigen Angriffe des eroberungslustigen Karl von Burgund, durch die Teilnahmlosigkeit des[S. 82] Deutschen Reichs in jenen schweren Tagen der Gefahr. So lernten die Schweizer, daß, wenn sie Herr in ihrem hehren Hause bleiben wollten, sie treu zusammenstehen müßten ohne Unterschied der Abkunft, der Sprache, des Glaubens. Sie erwuchsen zu einer Nation und schufen sich zur Wahrung ihrer nationalen Güter den immerdar festesten Hort, den nationalen Staat.
Das Beispiel der Schweiz ist ein Typus für Nationalentwicklung überhaupt. Wie in einem klaren Spiegel schauen wir es da, daß leibliche Verwandtschaft und daher stammende Sprachgemeinschaft durchaus nicht unerläßlich sind zum Entfalten einer Nation, so gewiß sie imstande sind das machtvoll zu fördern, ferner daß der eherne Panzer der staatlichen Einheit gar sehr benötigt wird, ja unter Umständen unentbehrlich ist, den Körper der Nation zu schirmen; vornehmlich aber erkennen wir an dem Muster der Schweiz die bisher allzu sehr übersehene Bedeutung der wirtschaftlichen Faktoren in ihrer Bedingtheit durch die Landesnatur.
In der Verkennung der leitenden Kraft dieser geographischen Einwirkungen liegt die Hauptschwäche der Renanschen Ausführungen. Er giebt zu, daß „die Geographie“ (er will sagen: die tellurische Beeinflussung) ihren gewichtigen Anteil habe an der Trennung von Nationen, indessen, nachdem er von der scheidenden Kraft der Gebirge, der verknüpfenden der Flüsse geredet hat (ohne des Meeres auch nur mit einem Wort gedacht zu haben), verkündet er: „Die Erde liefert doch nur die Unterlage, das Kampffeld für den Wettbewerb mit den Waffen oder in friedlicher Arbeit; der Mensch liefert die Seele.“ Und dann verflüchtigt er alsbald wieder den eben eingeräumten Einfluß geographischer Bedingnisse, indem er erklärt: „Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, hervorgewachsen aus tiefen Komplikationen der Geschichte, eine geistige Familie, keineswegs eine durch den Bodenbau bestimmte Gruppierung.“
Das letztere hat auch wohl noch niemals jemand behauptet. Staaten wie Nationen sind keine Naturerzeugnisse, sondern jedesmal Schöpfungen der Menschen. Es wäre jedoch[S. 83] eine Verkennung thatsächlicher Verhältnisse, wollte man den Menschen so unumschränkt in seinen Neigungen und Willensäußerungen sich denken, daß er hierin von seiner irdischen Heimat gar nicht abhinge. Im Gegenteil, so gewiß im Pulsschlag des Lebens einer Nation Blutsverwandtschaft, Gleichheit von Sprache und Sitte, Glaubensgemeinschaft sehr wohl fühlbar sein kann, — am dauerndsten wie am allgemeinsten ruht doch die Vereinigung zu diesen umfassenden Volksgenossenschaften in dem Bewußtsein, daß man neben geistigen auch materielle Interessen gemein habe, die man darum mit geeinter Kraft zu vertreten habe. Und eben weil materielle Interessen am Boden zu haften pflegen, ist ein unlösbares Band geschlungen zwischen einer Nation und ihrem Wohnraum. Geschichtliche Strömungen mögen bald diese, bald jene Länder national verknüpfen, aber vom Boden losgelöste Nationen hat es nie gegeben. Mag eine Nation ihre Stätte wechseln, oder mag sie wie die russische in Sibirien ihren Wirkungsraum auf benachbarte, ganz neue Lande ausdehnen, stets wird sie sich dem neugewonnenen Boden innig vermählen, geistig ebenso wie durch Anbau, Handel und Gewerbe, Verkehrs- und Staatseinrichtungen. Das militärische Schutzbedürfnis kann sogar Hauptgrund werden für eine Nation, etwa ein zeitweilig außerhalb ihrer Staatsgrenze gelegenes Gebiet zu besetzen. Wir Deutsche haben „aus nationalem Interesse“ das Elsaß nebst Deutsch-Lothringen für uns reklamiert, nicht weil dort uns abtrünnig gemachte Volksgenossen wohnten oder weil diese Territorien einst dem verflossenen Deutschen Reich angehörten, sondern weil uns Metz als Sperrfeste des zum Rheinstrom ausmündenden Moselthals, vor allem aber die Wasgaumauer hocherwünscht sein mußte zur Deckung unserer Westgrenze. Mit freilich nicht ausgesprochener Bezugnahme auf diese vermeintliche Gewaltthat bemerkt Renan, eine Nation habe nicht mehr Recht als ein König zu einer Provinz zu sagen: „Du gehörst mir, ich nehme dich.“ Denn, heißt es weiter: „Niemals besitzt eine Nation ein wirkliches Interesse, ein Land gegen dessen eigenen Willen sich anzugliedern oder für sich zu behalten. Der Wille der Nationen ist schließlich[S. 84] das einzige gesetzliche Schiedsgericht, auf das man dabei immer zurückzukommen hat.“ Das soll also heißen: Man lasse sich die Bewohner von Elsaß und Deutsch-Lothringen frei äußern, ob sie lieber zu Frankreich oder zu Deutschland gehören wollen, und regele nach solcher Entscheidung die Karte Europas! Machen denn aber die teils französischen, teils deutschen Insassen unseres heutigen Reichslandes jenseit des Rheins, denen niemals die zu nationaler Sonderbethätigung notwendige Selbstständigkeit zu eigen sein konnte, eine „Nation“ aus? Das wollte doch gewiß auch Renan nicht behaupten. Hörten wir aber nicht eben erst sein Urteil, eine Nation beruhe auf einem stetigen Plebiscit der Zusammengehörigkeit? Nun, dann gilt bei dieser lediglich zwischen Deutschland und Frankreich schwebenden Streitfrage der Wahrspruch deutscher Nation: Wir brauchen diese unsere zurückeroberte Reichsmark, um im Frieden sicher zu leben! Und Renan, der begeisterte französische Patriot, muß nach obigem sogar selbst die Zuständigkeit eines solchen Schiedsgerichtes als des „einzigen gesetzlichen“ anerkennen!
Derartige Beispiele, wie der Besitz eines verhältnismäßig schmalen Landstreifens sogar für die Existenzfrage einer Nation von hohem Belang sein kann, zeigen deutlich genug, daß die Landesnatur doch nicht als bloße Äußerlichkeit betrachtet werden darf, wenn man sich über das Werden von Nationen klar werden will. Wahrhafte Nationalstaaten benutzen ihr Gebiet niemals als bloße Schaustätte ihrer Thaten. Der glücklichste Wurf zu einer nationalen (d. h. hohen Sonderaufgaben eines Volkes gerecht werdenden) Staatsgründung wird stets der sein, der den richtig erkannten Zielen des Volkes das rechte Werkzeug in die Hand giebt, sie zu erreichen, vor allem also das rechte Staatsgebiet in der national zweckgemäßesten Umgrenzung.
Das Römerreich war ein Weltreich, verbunden außer durch den eisernen Herrscherwillen der Römer allein durch die herrliche Verkehrsbrücke des Mittelmeers. Doch so verschieden wie die Natur Italiens und Syriens, Ägyptens und Galliens, ebenso verschieden gestaltete sich das Völkerleben in diesen Provinzen des Reichs, so daß nimmermehr, auch bei noch weit längerer[S. 85] Reichsdauer von einer nationalen Vereinheitlichung hätte die Rede sein können. Noch machtloser hierzu erwiesen sich so gewaltsame Staatsschöpfungen wie die der mongolischen Großkhane des Mittelalters oder die Napoleons I., bei denen zur Unvereinbarkeit der Länder und Völker sich auch die Kürze der zwangvollen Vereinigung gesellte. Wenn dagegen wie in den Vereinigten Staaten die Natur große Einheitszüge aufweist, und der Mensch die vorhandenen Gegensätze wie dort zwischen dem wohlbenetzten, an den nützlichsten Fossilschätzen reichen Osten und dem dürren edelmetallreichen Hochlandwesten samt den riesigen Entfernungen von atlantischer bis pacifischer Küste, samt dem argen Verkehrshemmnis der Felsengebirge, der Nevadakette durch Eisenbahnen zu überwinden versteht, dann mag in jenes gewaltige Viereck unter dem Sternenbanner ein Schwall verschiedenartigsten Volkes einströmen, — es kann die nationale Einung doch nicht ausbleiben. Dem durch die englische Besiedlung früherer Jahrhunderte begründeten Stamm der Neusiedler schmiegten sich in Sprache und Lebensgewohnheiten so gut wie alle späteren Nachzügler aus Europa an nach dem Gesetz der Ausgleichung an der Hand des täglichen Verkehrs; das Leben auf demselben Boden, in derselben Luft wirkte nicht minder ausgleichend auf körperliche Ausbildung und Temperament, Eheschließungen verwischten ethnische Gegensätze, namentlich aber flößte das gemeinsame Wirken auf der gleichen Grundlage der Bodenmitgift nach den gleichen Zielen in Ackerbau, Gewerbe, Handel den Wunsch ein nach gleichartiger Regelung der wirtschaftlichen Einrichtungen durch den nationalen Staat, unabhängig von Fremden, und seien sie auch die daheim in England gebliebenen Väter oder Brüder. Der weltgeschichtliche Abfall der Kolonien an der atlantischen Seite Nordamerikas von England war nur der Ausdruck des frisch erwachten nationalen Sonderinteresses der englischen Amerikaner auf dem den Indianern und der Wildnis auf eigene Faust entrissenen Neuland. Man faßte den Willen der Loslösung einerseits, des selbständigen Zusammenhaltens der Kolonisten andererseits, d. h. man fühlte sich als Nation.
Wenn der erste Kanzler des Deutschen Reichs einmal im Reichstag äußerte, „ein Deutscher, der sein Vaterland abstreift wie einen alten Rock, ist für mich kein Deutscher mehr, ich habe kein landsmannschaftliches Interesse mehr für ihn“, so atmet dieser nur scheinbar herzlose Ausspruch die ganze Schärfe Bismarckscher Realpolitik, die auf der Überzeugung ruht: das Vaterland bestimmt die Nation, weist ihr die ganze Lebensrichtung, giebt einem jeden das Pfund, mit dem er wuchern soll, verleiht ihm dafür indessen auch nur so lange Schutz, als sein Wirken ihm zu gute kommt.
Was wir hier zu erweisen suchen, daß eine Nation gar nicht auf wirklicher Blutsverwandtschaft aller ihrer Angehörigen von Uranfang beruht, so gewiß dauerndes Beisammenwohnen infolge von unvermeidlicher Blutmischung schließlich sogar nach Millionen zählende Nationen familiär vereinheitlicht, wird kaum jemals die Überzeugung der Masse, des gemeinen Mannes werden. Der wird sich nach wie vor, schon unter Einwirkung des trügerischen Namenschalles, unter einer Nation die naturgegebene große Familie denken, die von einem Adam und einer Eva herstammt, wenn man auch deren Eintragung in das Standesamtsregister nicht mehr vorzuweisen vermag, ebenso wenig wie den ordnungsmäßig bis zur Gegenwart fortgeführten Stammbaum. Unsere eigenen Vorfahren, die sich erst seit der Regierungszeit Ludwigs des Deutschen den Gesamtnamen „Deutsche“ beilegten, müssen ihren Verwandtschaftszusammenhang doch schon lange vor jeder staatlichen Vereinigung erkannt haben, denn sie hielten sich für eine weit ausgezweigte Germanenfamilie, und ihrem Kausalitätsbedürfnis genügte die kindliche Vorstellung, es sei zur Gründung dieser Familie gar kein Ehepaar erforderlich gewesen, sondern allein der „Urmann“ (mannus, wie Tacitus sagt), der, aus der Erde hervorgesprossen, das blonde Germanengeschlecht aus sich erzeugt habe. Viel mag auch in unseren Schulen der Unterricht in biblischer Geschichte dazu thun, daß man sich in früher Jugend bereits unter dem Eindruck der schlicht klassischen Erzählungen von den Erzvätern das Entstehen von Völkern vollkommen so geschehen denkt wie das einer Einzelfamilie, ohne zu ahnen, daß die angeblichen[S. 87] Abrahamsöhne schon in der Periode, da sie mit ihren Herden im Land Kanaan hin und her zogen, sicherlich nicht reinblütig d. h. nicht von völlig gleicher Abstammung waren, geschweige denn in der Folgezeit, als sie seit dem Einzug in das ihnen „verheißene“ Land den langwierigen Verschmelzungsvorgang durchmachten, der aus ihnen und all den Vorbewohnern des eroberten Landes zu beiden Seiten des Jordan, mithin aus einer nicht mehr analysierbaren Mischung von semitischen wie nichtsemitischen Elementen die jüdische Nation hervorbrachte.
So wird wohl in den Köpfen weiter spuken der Wahn von der Familiennation, eben weil er für so selbstverständlich wahr hingenommen wird, obwohl er eine Fülle irriger, gar nicht ungefährlicher Schlußfolgerungen mit sich führt ähnlich wie der schöne Satz: „Der Mensch besteht aus Leib und Seele“, woraus ganz harmlos das Gleichnis von Hülle und Inhalt herauswächst, dieser vom gräßlichsten Aberglauben übervoll wuchernde Boden des Wähnens einer Trennbarkeit der Seele von ihrem „Wohnhaus“. Man wird sich auch fernerhin eine Nation zumeist wie die eigene Familie entfaltet denken, von der sie sich eigentlich gar nicht wesentlich, sondern nur in der ungeheuer viel größeren Kopfzahl unterscheide. Man wird demzufolge auch gern geneigt sein, sentimentale Erwägungen anzustellen über Bruderpflichten, die man habe selbst gegen späte Nachkommen von Nationalgenossen, die einst in wer weiß wie weite Fernen dahingezogen sind. Wer möchte spotten über echten Brudersinn? Wurzelt er doch in der edeln Selbstlosigkeit der Nächstenliebe, ist ja nur eine ganz naturgemäße Steigerung letzterer. Ein solches geistiges Band aufrichtig familienhafter Zuneigung wird gerade die Besten der Nation auch mit den Auszüglern verbinden, so lange sie ihre Nationalität bewahren (unter „Nationalität“, diesem noch nicht genügend begrifflich gefestigten Wort, hier die Summe der Eigenschaften verstanden, die vom Wesen der Nation bei jedem einzelnen wiederkehren, besonders Sprache, Charakter, Denkart und Sitte). Wenn die aus unserer Mitte nach Nordamerika Gezogenen und dort in dem gewaltigsten Freistaat der Welt zu hohem Wohlstand[S. 88] Gelangten ihre milde Hand aufthun, um den von arger Überschwemmung heimgesuchten Bewohnern der oberrheinischen Niederung einen Teil ihres Vermögensverlustes hochherzig zu ersetzen, oder wenn sie edelsinnig von ihrem Reichtum spenden zur Unterstützung der Hinterbliebenen jener tapfern Streiter, die uns das neue Reich erkämpften, so findet solche Handlungsweise einen dankbaren Widerhall in unser aller Herzen. Unzweifelhaft fühlen wir uns auch zu Gegenleistung verpflichtet. Mit freudigem Stolz verfolgen wir die Laufbahn der Unsrigen, die dort drüben deutsche Art zu hohen Ehren gebracht haben wie Karl Schurz auf dem Gebiet des Staatswesens, Joh. Aug. Röbling, der Erbauer der Eastriverbrücke, und so viele andere auf den Feldern der Technik und der Wissenschaft. Vollends eint uns noch ein lebendiges Band gleichen Strebens insbesondere bei wissenschaftlichem oder künstlerischem Schaffen dermaßen innig mit unseren Volksgenossen in der deutschen Schweiz, in Österreich-Ungarn, als gehörten sie noch heute der deutschen Nation an. Viele unter uns werden da in feuriger Erregtheit einwenden: „Noch immer gehören sie ihr an!“ Jedoch eben hier klafft der Zwiespalt zwischen der am Wort haftenden traditionellen Auffassung vom Begriff Nation und der hier vertretenen. Manche bringen es freilich fertig, begeisterungsvoll von der „nun im Deutschen Reich vereinten Nation“ zu reden, und gleichzeitig den Angehörigen „deutscher Nation“ in Österreich Jubelgrüße hinüberzusenden. Indessen da liegt doch der innere Widerspruch klar zu Tage. Gewiß wird man im Anschluß an die eben erst hier versuchte Deutung dessen, was man etwa unter „Nationalität“ verstehen dürfte, ohne chauvinistischen Beigeschmack die Deutschen in Österreich, die wackern Sachsen in Siebenbürgen deutscher Nationalität zuzählen, man wird auch nicht vergessen, daß sie aus unserem alten Reich hervorgesproßt sind, die Deutsch-Österreicher als ruhmwürdige Kämpfer im Grenzbereich unserer alten bayrischen Mark, die Sachsen auf der ungarischen Akropolis des fernen Südostens als unsere weitaus treueste Kolonie noch aus dem staufischen Zeitalter. Ob aber hinausgezogen über unsere ehemalige Volksgrenze nach[S. 89] Osten, wie es ja auch die Ahnen der Deutschen in Rußlands Ostseeprovinzen gethan, oder ob auf dem Boden der Väter sitzen geblieben wie die Deutschen der Schweiz, Nordbelgiens, der Niederlande, — sie sind im Lauf der Geschichte in eigenartige Staatsgebilde, folglich in uns fremde Interessenkreise einbezogen worden, sie zählen also in diesem realpolitischen Sinn entschieden nicht mit zur deutschen Nation. Wenn jeder von uns sagt, ein Werk wie der Nord-Ostsee-Kanal sei eins „von hoher nationaler Bedeutung“, wenn niemand unter uns den oben von uns gebrauchten Ausdruck bemängeln wird, wir hätten der Erwerbung des Elsasses samt Deutsch-Lothringen „aus nationalem Interesse“ benötigt, — so ist hiermit stillschweigend eingeräumt, daß sich bei solcher moderner Abklärung des Begriffes „national“ gar nichts verschwommen Genealogisches mehr in ihm findet, sondern der deutlich geographisch umrissene vaterländische Gedanke ihm innewohnt. Bismarck war gewiß urdeutsch bis ins Mark hinein, indessen seine klare Realpolitik hätte nie das Schwert Germaniens aus der Scheide lockern lassen zum Schutz der Deutschen in Siebenbürgen oder in Rußland, in Südbrasilien oder Südaustralien.
Aber wie? Hängen denn die englischen Koloniallande im kanadischen Amerika, in Südafrika, in Australien nicht eng mit dem britischen Mutterland zusammen? Ja, dieser nationale Verband ist in der That erhalten geblieben, aber nur dadurch, daß infolge der ununterbrochen thätigen Dampfer- und Seglerverbindung diese Tochterländer in einem regen Wechselverkehr mit dem Mutterhaus Britannien verharren, ihm ihre Roherzeugnisse liefernd, von ihm ihre Fabrikwaren empfangend und, in Erinnerung an den schweren Fehler, den England vor mehr denn hundert Jahren mit dem Versuch einer Besteuerung seiner nordamerikanischen Kolonien machte, frei geblieben sind in der Verwaltung der eigenen Angelegenheiten. Nicht einen Penny unmittelbarer Abgabe liefern sie in den Staatsschatz nach London und bilden doch eine Hauptgrundlage britischer Größe durch den gewaltigen Umsatz von Milliarden im Familienkreis dieses „Greater Britain“, dieses Nationalkörpers von noch[S. 90] nie vordem dagewesener Lagerung über den Erdball durch alle vier bewohnten Zonen, mit dem Herzen in Europa, den Gliedern in sämtlichen Weltteilen, dem Adersystem interkontinentaler Schiffahrtslinien.
Wohl gemahnt dieses britische Reich an das Weltreich der Römer im Altertum; was diesem das Mittelmeer war, ist jenem der Ozean. Der tiefgreifende Unterschied jedoch liegt darin, daß die Römer fremde Nationen von großenteils älterer, ureigener Kultur unter ihr Joch zwangen, die Engländer dagegen ihre Koloniallande, abgesehen von Indien, mit dem eigenen Blut erfüllten, im stetigen Blutaustausch mit ihnen blieben und sie paritätisch behandeln.
Das Britenreich lehrt uns also, wie bei weiser Schonung materieller Sonderinteressen eine stark ausgeprägte Volksindividualität selbst bei Überwanderung über das Weltmeer bis in die fernsten Lande den nationalen Zusammenhang bewahren kann an der Hand des Schnellverkehrs, der die Entfernungen kürzt. Der Deutsche hingegen zerschneidet in der Regel als Auswanderer seinen Zusammenhang mit der Heimat; er findet nirgends überseeische Länder für deutsche Massenansiedelung unter deutschem Banner, er geht im fremden Volk auf, zumal im englisch redenden. Wie viele Millionen der Unsrigen sind hinübergezogen nach den Vereinigten Staaten, aber so wenig haben sie als Deutsche dem Absatz deutscher Waren dort drüben Bahn gebrochen, daß nächst der englischen Zufuhr nach dem vereinsstaatlichen Gebiet die französische die bedeutendste blieb, obwohl doch die französische Einwanderung daselbst ganz untergeordnet erscheint. Jüngst zwar hat Deutschland auch auf diesem Feld Frankreich überflügelt, jedoch offenbar nicht darum, weil seine Einwanderer dort auf einmal nationaler sich bethätigen, sondern weil seine industrielle Machtstellung sich schon vor dem glorreichen Triumph von Chicago der französischen überlegen zeigte.
Ein trübes Gegensatzbild zum britischen Weltreich, wo nationale Kraft bis auf einen gewissen Grad trotz der verschiedenen Landesnatur, trotz der riesigen Entfernungen sich einheitlich und dadurch stark erhält, bietet Österreich-Ungarn. Eine[S. 91] mächtige Schlagader für die Einheit seines Wirtschaftslebens ist ihm durch den Donaustrom beschieden; an ihm liegen seine beiden prächtigen Großstädte, nach ihm gravitiert der Hauptverkehr, selbst der böhmische, denn offen liegen die Wege von Böhmen nach der mährischen Donauprovinz, somit nach Wien, wogegen nach Norddeutschland bloß der eine Engpaß des Elbthals als natürliche Verbindungsstraße führte, bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts obendrein wenig benutzt. Indessen es stoßen hier unversöhnte Völkergegensätze in engem Gehege aufeinander. Ungarn haben wir so gut wie unabhängig werden sehen, und die Magyaren sind rüstig dabei, ziemlich schonungslos ihren Staat national auszubauen bis zum trefflich grenzenden Mauerbogen der Karpaten. In Österreich aber tobt der Unfriede zwischen Deutschen, Tschechen, Polen, Slowenen und Italienern weiter; die wie zum Spott sogenannte Versöhnungspolitik des verflossenen Ministeriums Taaffe hat einen wechselseitigen Völkerhaß dort ins Kraut schießen lassen, der die jetzt erhoffte Verknüpfung der Reichsteile auf der Grundlage realer, vornehmlich wirtschaftlicher Interessengemeinschaft recht fern rückt; und wie lose sind in der That an diesen Donaustaat angeschlossen Länder wie Galizien und Dalmatien!
Doch man behaupte ja nicht: da sieht man, wie Nationen wesentlich doch aus Blutsverwandtschaft hervorgehen! Nein: Österreich beweist nur, daß thörichte innere Politik und andere unglückliche Umstände, vor allem auch eine ungeographisch am grünen Tisch zurechtgeschmiedete Zusammenschweißung von Ländern die Verschmelzung verschiedenartigen Volkes hemmt, zumal wenn die Gemeinsamkeit der Wirtschaftsinteressen bei peripherischen Gliedern eine so geringe ist wie beim adriatischen Litoral und dem galizisch-bukowinischen Außenrand der Karpaten. Rußland war ethnisch noch viel buntscheckiger als das heutige Österreich, bis Peter der Große und Katharina II. dem ursprünglich nur im Centrum der großen osteuropäischen Niederung wohnenden Großrussenvolk die Herrschaft über die ringsum gelagerten Völker, die Küsten der Ostsee und des Schwarzen Meeres gewann, so daß nun der umfangreichste aller National[S. 92]staaten der östlichen Erdfeste sich ausgestalten konnte, alles Nichtrussische allmählich russifizierend, unterstützt durch die Österreich fehlende Bodenform des weiten Tieflands ohne jede Gebirgsscheide, was sich für Ausgleichen volkstümlicher Gegensätze, für Aufrichtung straffer Staatseinheit zufolge schrankenlosen Verkehrs stets so günstig erweist.
Wollen wir schlagende Beweise, daß nicht Blutsverwandtschaft, sondern Eigenart des Wohnraums in erster Linie nationaler Ausbildung die Wege weist, so brauchen wir gar nicht über Europas Grenzen hinauszublicken. Wie schwer würde es fallen, Siebenbürgen mit dem rumänischen Nachbarland unter einen Hut zu bringen, trotzdem doch beide Lande so gut wie allein von Rumänen bewohnt werden! Ganz wie von selbst haben wir es dagegen geschehen sehen, daß die Moldau und Walachei als linksseitiges Uferland der unteren Donau sich staatlich einten, während Siebenbürgen beim karpatischen Donaureich Ungarn verblieb. Portugal löste sich aus dem spanischen Nationalverband heraus wie die Niederlande aus dem deutschen einzig und allein auf der Grundlage litoraler Sonderinteressen; so wurden die Portugiesen eine eigene Nation, erhoben ihre spanische Mundart zur Schriftsprache, wurden früher seegewaltig als ihr spanisches Hinterland; und ganz dem entsprechend die Niederländer, deren Kolonialbesitz 280 Jahre älter ist als der deutsche. Die englische Nation entstand, wie jeder weiß, dadurch, daß deutsche Angeln, Sachsen und Friesen nach Britannien hinüberzogen, die norwegische dadurch, daß die dänischen Normannen an der ozeanischen Fjordenküste Skandinaviens heimisch wurden.
Frankreichs wie Italiens nationale Einheit beruht mitnichten auf ursprünglicher Blutsverwandtschaft, sondern auf dem natürlichen Zusammenschluß jedes der beiden Länder, ihrem Abschluß nach außen durch Meer und Gebirge. Die Völkergruppe der Kelten, aus der die Franzosen hervorgingen, breitete sich auch über Hispanien, die britischen Inseln, West- und Süddeutschland, ja über Oberitalien aus; nur ein Teil dieser Völker hatte Frankreich inne und verschmolz daselbst mit ganz[S. 93] fremden Völkerschaften: Iberern und Ligurern, Römern und Griechen, Franken und Burgundern. Nicht anders wuchs die Nation Italiens aus den verschiedensten Bevölkerungselementen, auch deutschen, hellenischen und arabischen hervor; zweimal hat sie uns das fesselnde Schauspiel gewährt, daß sie genau innerhalb des nämlichen Raums von den Alpen bis nach Sizilien sich ausgestaltete: einmal im Altertum bis unter Augustus, dann wieder nach der Zerstörung durch die Stürme der Völkerwanderung.
So gleichen natürlich geschlossene Landräume Hohlformen, in welche die bildsame Masse verschiedenster Volksart sich einschmiegt, um zur nationalen Einheitsform zu verschmelzen. Die Masse kann wechseln, die Form bleibt. Flußthäler, die Schiffahrt längs den Küsten, offene Ebene, bequem überschreitbare Gebirge erzeugen in dem nämlichen Landraum immer wieder die nämlichen Verkehrs- und Handelslinien; größere Meeresflächen, höhere Gebirge schranken von der Fremde ab. Handel und Verkehr aber sind die einflußreichen Bildner der Völker; sie greifen nicht so geräuschvoll ein wie Naturkatastrophen oder Völkerschlachten, dafür sind sie alltäglich bei ihrem Werk, kleine Ursachen in milliardenhafter Summierung zu großen Wirkungen hinanführend.
Ernste Pflicht dünkt es uns, der Störung des Völkerfriedens entgegenzutreten, die da heuchlerisch einherschreitet unter der Lügenmaske eines Napoleon III. vom „Nationalitätsprincip“, nach dem die Staaten Europas sollten zurecht geschnitten werden. Der schlaue empereur zog mit dieser klangvollen Fanfare nach Italien, nur um Österreich zu demütigen und sich mit der Abtretung von Savoyen nebst Nizza ein gutes Trinkgeld von Italien zu holen, das französische prestige mit etwas neuer gloire zu vergolden. Am liebsten bekanntlich hätte er uns die linke Rheinseite nach der unendlich fadenscheinigen Anwendung des Nationalitätsgrundsatzes abgenommen, weil, wie er in seiner Vie de Jules César laut betont, die französischen Gallier einstmals bis an den deutschen Rhein heranreichten. Wenn dergleichen Weisheit genügen soll, den Länderbestand anzutasten,[S. 94] dann mag man der italienischen Irredenta nur gleich Südtirol ausantworten und Triest dazu. Mehr aber als die Thatsache, daß man in Triest italienisch redet, gilt doch das historische Recht, die Erinnerung daran, daß Triest, um im Wettbewerb gegen Venedig Hilfe zu erlangen, im 14. Jahrhundert freiwillig unter Habsburgs Schutz trat und alles, was es heute ist, Österreich verdankt; noch schwerer aber wiegt es, daß wohl Italien, jedoch nicht Österreich Triest entbehren kann, diese seine Weltmeerpforte, das österreichische Hamburg.
Es muß der Überzeugung Raum geschaffen werden, daß gesunde Staaten reale Interessengemeinschaft vertreten und in diesem Sinn, aber nicht im ethnologischen Nationalstaaten darstellen. Wahr also bleibt der Satz des verdienstvollen französischen Anthropologen Quatrefages: Toute repartition politique, fondée sur ethnologie, est absurde. Auch unser neues Reich ist zuerst als ein engerer Verkehrs- und Handelsbezirk aus dem alten Deutschland herausgetreten, denn es erscheint 1834 als Zollvereinsgebiet fast schon genau in seinen heutigen Grenzen. Ohne Blut und Eisen vermochte es freilich nicht seine Losgliederung von dem in ganz andere Interessenkreise hineingezogenen Österreich zu erringen und zuletzt im gerechtesten und herrlichsten aller Kriege die Kaiserkrone zu erwerben. Dafür steht es nun auch um so geachteter da, ein treuer Schutz und Schirm des echtesten Deutschtums, ein eherner Verband zwischen Nord und Süd, vom Fels der Alpen bis zum Meer, ein wohlbewahrtes Haus für friedliche Bewohner, die sich zusammenthaten, weil’s ihrer Arbeit frommte und weil sie auch zumeist sich rühmen können als Söhne und Töchter Germanias verschwistert zu sein, ja allesamt sich eins fühlen, da sie seit Jahrtausenden schon Freud und Leid miteinander geteilt haben. Doch vergessen wir es nicht: weder Blutsgenossenschaft noch geistiges Verwandtschaftsgefühl allein gewährleistet uns das Glück unserer Zukunft, einzig der thatenfeste Wille, die Brüderlichkeit fest und ehrlich zu wahren, erhält eine Nation.
Das Land China, früher den verhaßten Fremden so fest verschlossen, ist jüngst das Ziel des Wettlaufs europäischer Großmächte geworden, von denen eine jede möglichst großen Anteil erstrebt an dem materiellen Aufschwung, wie er sich dort durch den endlich begonnenen Eisenbahnbau vorbereitet. Denn dieser Aufschluß Chinas für den Verkehr muß zu einer gewaltigen Steigerung seines Außenhandels führen, und was bedeutet das bei einer Bevölkerung, die sicher an Zahl diejenige von Afrika und Amerika zusammengenommen weit übertrifft! Was für Summen sind allein schon durch den Bau und Betrieb von Eisenbahnen, durch die rationelle Ausbeutung der ungeheuern Steinkohlenlager in diesem Menschengewimmel von China zu verdienen! Auch uns Deutschen winkt ein guter Gewinnanteil hieran seit unserer rechtzeitigen Besitzergreifung von Kiautschou, dieser trefflich gelegenen marinen Eingangspforte ins Innere von Nordchina.
Jedoch ganz abgesehen von seiner wirtschaftlichen Bedeutung schon für die allernächste Zukunft, ist China auch rein geographisch eins der interessantesten Länder der Welt.
Zuvörderst imponiert das Land China, das zugleich im wesentlichen den Staat China bildet, da die Außenbesitzungen in der Mandschurei, Mongolei, im Tarimbecken und Tibet ihm doch nur lose anhängen, durch seine Raumerfüllung. Es giebt nur wenige Länder auf Erden, die China an Größe übertreffen, drei in Amerika, in Afrika die Sahara, in Asien Sibirien, in Europa Rußland. Indessen bloß einige Randstücke des europäischen Rußlands würden hervorragen, könnten wir China auf Osteuropa decken. China kommt von sämtlichen kontinentalen Ländern der Kreisgestalt am nächsten, die insofern[S. 98] für einen Staat am günstigsten erscheint, als nach Ausweis der Geometrie diese Gestalt die im Vergleich zur eingenommenen Fläche kleinste Umrißlinie besitzt, kreisförmige Staaten mithin die kleinstmögliche Angriffslinie bieten. Chinas Grenze ist dabei ziemlich gleich verteilt auf Land und Meer: die Nordwesthälfte der Grenze zieht von der noch zum eigentlichen China gehörigen Provinz Schöngking im Liaugebiet der südlichen Mandschurei in etwas willkürlichen Zacken und Einbuchtungen durch die Übergangszone, in der die Natur des abflußlosen Centralasien anhebt, durchweg vor Länderräumen hin, die wie China von Völkern der mongolischen Rasse bewohnt werden und der Macht der chinesischen Regierung unterstehen; die Südostküste wölbt sich als selten gestörter Halbkreisbogen hinaus in das stille Weltmeer. Die ungefähre Mitte des chinesischen Kreises liegt da, wo der Jangtsekiang aus der großen Westprovinz, dem roten Becken von Sötschuan, übertritt in die Provinz Hupe. Von hier aus läßt sich ein Kreis mit einem Halbmesser von 1130 km beschreiben, über den nur das nordöstliche Tschili (jenseit Peking) nebst Schöngking weiter herausragt, falls wir die neuerdings zu den 18 alten Provinzen des Kaiserreichs geschlagene ostturkestanische Mulde des Tarim, wie wir geographisch müssen, bei Centralasien belassen. Und jener Halbmesser gleicht der Entfernung des äußersten Südwestens Deutschlands von der Nogatmündung ins frische Haff oder dem Abstand Hamburgs von Kap Landsend an der Westspitze Südenglands.
China bildet ein uraltes Bestandstück des asiatischen Festlandes, das seit der Juraperiode nie wieder vom Ozean überflutet wurde. Sein Felsgerüst besteht aus altkrystallinischen Gesteinen, aus paläozoischen Schiefern, Kalk- oder Sandsteinlagen und älteren mesozoischen Schichten; dagegen fehlen Kreideformation und marines Tertiär gänzlich, nirgends blinken weiße Kreideklippen hervor wie bei uns in Rügen, nirgends schaut man die schluchtigen Thäler und mit Plattenform gipfelnden Kreidesandsteingebirge wie bei uns in der sächsischen Schweiz; ebenso wenig erblicken wir jüngst erloschene Vulkane[S. 99] neben noch thätigen wie in dem großen Gürtel fortgesetzter vulkanischer Thätigkeit, der sich vom Malaien-Archipel über Formosa und Japan bis zum Beringsmeer hinzieht.
Eine weite Tiefebene besitzt China bloß im Nordosten; das ist die gelbe Lößniederung, aus der die gebirgige Schantung-Halbinsel spornartig hervorragt. Im übrigen ist China überwiegend gebirgig; und zwar bedingt sein Gebirgscharakter eine strenge Scheidung des Landes in eine Nord- und eine Südhälfte. Als eigentlichen Reichsteiler hat uns Richthofen eine Fortsetzung des uralten Kuenlun, dieses echten Rückgratgebirges von ganz Asien, kennen gelehrt. Es ist der Tsin-ling-schan, der, die Hauptrichtung des Kuenlun, Ost zu Süd, aus Innerasien nach China übertragend, mit nur geringer Unterbrechung quer durch Chinas Mitte bis gegen Nanking reicht. Dieser Reichsteiler scheidet nun nicht allein die Gebiete der zwei Riesenströme, die China aus dem fernen Quellenschoß Centralasiens mit östlichem Abfluß empfängt, den Huangho und den Jangtsekiang, sondern er trennt auch zwei wesentlich verschiedene Gebirgssysteme voneinander ab. Nordchina stellt ein verschüttetes Gebirgland dar; hier haben in entlegener Vorzeit trockne Winde feinkrumige, lehmige Verwitterungsmassen, sogenannten Lößlehm, in gelben Wolken über Berg und Thal gebreitet, und Graswuchs hat jede neu aufgewehte Lößdecke durch das Wurzelwerk in sich wie mit der älteren Unterlage verfestigt, so daß gewöhnlich nur die Kämme der Gebirge mit ihren festen Felsmassen anstehenden Gesteins aus der bis auf Tausende von Metern aufgeschütteten braungelben Lößumhüllung aufragen wie Dachfirsten eines deutschen Gebirgsdorfes, wenn es zur Winterzeit in tiefem Schnee begraben worden. Trotzdem ist die nordchinesische Gebirgslandschaft keineswegs bloß aus abgerundeten Gebirgskämmen mit dazwischen gelagerten flachen Hochlandmulden ungeschichteten Lößes zusammengesetzt; vielmehr haben die fließenden Gewässer ein äußerst vieladriges System schluchtiger Thalwege in den weichen Lößschutt eingearbeitet, dessen senkrecht verlaufende Haarröhrchen, herstammend von längst abgestorbenen Graswurzeln, die geradezu groteske Aus[S. 100]bildung immer ganz steiler Thalwände bedingen. Von diesen nackten Gehängen der Lößschluchten heben noch gegenwärtig bei trockener Witterung die Winde gelben Staub empor, daß die Sonne dann bleich durch eine fahlfarbene Atmosphäre schimmert, Fußgänger wie Fuhrleute samt ihrem Geschirr, die unten im Lößthal ihres Weges ziehen, über und über lößgelb werden. Natürlich tragen die Flüsse den von ihnen so leicht abgenagten oder in sie hineingewehten Löß seewärts; von seiner deshalb stets lehmfarbigen Wassermasse führt der Huangho d. h. der gelbe Fluß seinen Namen, er schüttete die gelbe Deltaflur des Nordostens auf, in der er bald süd-, bald nordwärts der Schantung-Halbinsel seine Mündung suchte, wie ein ungebärdiges Ungetüm sich in seinem Bett hin und her wälzend, die ihn einengenden Schutzwälle von Menschenhand durchbrechend, und stiftete dem seine trüben Fluten aufnehmenden Innengolf des ostchinesischen Meeres den Namen Huanghai d. h. gelbes Meer.
Anders in Südchina! Hier halten die Gebirgszüge noch weit allgemeiner als in Nordchina sinische Streichung ein, also die Richtung Südwest zu Nordost; in langen Parallelreihen ziehen sie so gegen jene chinesische Fortsetzung des Kuenlun, gegen den Tsin-ling-schan hin, in dessen Nähe sie ostwärts umbiegen, da ihre Auffaltung an dem bereits vorhandenen alten Querriegel offenbar ein Hemmnis fand; und, was die Hauptsache ist, sie sind ohne Lößverschüttung geblieben. Unverhüllt recken sie mithin ihre Gipfelzinnen gen Himmel, keine Lößwehen haben die Böschungen ihrer Gehänge verkümmert, in hurtigem Schuß eilen von ihren Höhen die Gewässer hernieder und verbinden sich zu klaren, unvertrübten Strömen. Allen voran steht der Ta-kiang, der „große Strom“, den wir Jangtsekiang zu nennen pflegen; nachdem er, der hochgeborene Tibetaner, innerhalb des Sötschuan-Beckens durch Aufnahme ansehnlicher Seitenflüsse vollkräftig geworden, durchtost er gegen die Landesmitte hin, in eine wundervolle Thalschlucht eingeengt, zwischen hochragenden Felswänden noch eine ganze Staffelreihe von Stromschnellen, um sodann, majestätisch ruhig seinen Vor[S. 101]zug, der schiffbarste Strom Chinas zu sein, zur vollen Geltung zu bringen, bis er in dem seenreichen Delta mündet, das im Norden der tumultuarische Huangho Jahrhunderte lang mit ihm bauen half, ehe er sich 1852 launisch von ihm abwandte. Der schönste Schmuck wird Südchina verliehen durch seine immergrüne Pflanzenwelt. Während der Löß Nordchinas wie der in anderen Ländern dem Waldwuchs sich abhold zeigt, durch die außerordentliche Fruchtbarkeit seines fein aufgeschlossenen, völlig steinfreien Bodens hingegen Feld an Feld reiht von dem Niveau der Niederung bis zu St. Gotthardshöhe, hält sich der Bodenanbau Südchinas mehr an die Thalsohlen und die unteren Gehängestufen, darüber aber prangt noch eine ursprüngliche Vegetation immergrüner Strauch- und Baumarten mit einer für China überhaupt bezeichnenden Fülle von Holzgewächsen, unter denen die Kamelien, die Verwandten des Theestrauchs, eine tonangebende Rolle spielen.
Wenn der Wintermonsun aus Nordwest die furchtbar kalte Luft Ostsibiriens und der Mongolei über China breitet, so erwärmt sich dieser Luftstrom nur langsam beim Vorrücken in diesem Land, das doch mit Italien und Nordafrika die Breitenlage teilt. Selbst in Kanton, obwohl es bereits innerhalb des Wendekreises liegt, giebt es noch gelegentlich Schneefälle. Immerhin hat Südchina noch verhältnismäßig milde Winter; in seinem Tropenanteil erinnern Palmen und Elefanten an Indien, es gedeihen auch noch weiterhin Orangen und Zuckerrohr, Theebau findet überall seine Stätte. In Nordchina wird dieser durch den anhaltenden Frost ausgeschlossen; Peking, trotzdem es südlicher liegt als Neapel, hat einen Winter wie Petersburg, Mukden in Schöng-king, die große Stadt der Kaisergräber, genau unter Roms Breite, erduldet im Januar weit härtere Kälte als Moskau. Dreht sich dann aber im Frühjahr der Wind in die entgegengesetzte Richtung, setzt der ebenso anhaltende Sommermonsun aus Südost ein, so lagert sich eine aus dem Tropengürtel kommende heiße Luft über ganz China, und befruchtende Regen ergießen sich über seine Reis- und Baumwollenfelder, am reichlichsten naturgemäß über Süd[S. 102]china. Der thermische Gegensatz zwischen Süd und Nord, wie er im Winter bestand, ist dann ganz ausgetilgt; man spürt kaum einen meßbaren Wärmeunterschied zwischen Kanton, Schanghai und Peking, denn die Wärme nimmt während des Hochsommers in China überhaupt nicht von Norden nach Süden zu, sondern vielmehr gegen das Glutgebiet des südasiatischen Inneren hin, also gen Westen. Schon von Hankau, der wichtigen Handelsstadt in Hupe, wo die große nordsüdliche Verkehrsstraße den Jangtsekiang kreuzt, heißt es: „Wenn der Teufel dort eine Zeit lang im Sommer verweilte und dann wieder in seine Hölle zurück käme, so würde er seinen Überzieher brauchen.“ Nur noch einmal begegnet auf Erden ein Land, das unter einem ähnlichen Einfluß jahreszeitlicher oder Monsunwinde schwankt zwischen arktischer Kälte und tropischer Hitze, begleitet von tropenhaften Regengüssen vom nahen Meer her. Das sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Während indessen hier die Segensgaben des heißfeuchten Sommerwindes fast ausschließlich dem östlichen Landesdrittel beschert werden, erfährt China in seiner Gesamtheit den Wechsel erfrischender Winter und tropischer Sommer im regelmäßigen Wandel der Horen, mithin die Gunst der gemäßigten und der heißen Zone in seltenster Verknüpfung.
Jahrtausende hindurch sind nun die Chinesen den Einwirkungen der Natur dieser ihrer endgültigen Heimat ausgesetzt gewesen. Mögen sie also auch manchen Zug ihres Wesens schon von ihrem früheren, wie man vermutet, ostturkestanischen Wohnsitz mitgebracht haben, es verlohnt sich gewiß zu prüfen, inwiefern China seine Chinesen auf dem Wege tellurischer Züchtung ausbilden half. Ja man hat hier sogar den nirgends sonst wiederkehrenden Fall vor Augen, daß ein nach Hunderten von Millionen zählendes Volk so lange Zeit immer den nämlichen Natureinflüssen unterstanden hat. Ein wahres Massenexperiment, wie es sich der Geograph nicht besser wünschen kann!
Da drängt sich uns zuerst im Anschluß an das kurz vorher Erörterte die Schlußfolgerung auf, daß der alljährlich[S. 103] von den wechselnden Monsunen gebrachte Gegensatz zwischen polarer Winterkälte und tropischer Sommerhitze keinerlei Menschen in diesem Reich der Mitte duldete, die allzu zärtlich nur mäßige Temperaturschwankungen vertrugen, daß mithin auf diesem Boden nur diejenigen sich lebensfähig erwiesen, die der Kälte gleiche Widerstandskraft entgegensetzen wie der Hitze, gewissermaßen also in dieser Hinsicht die Körperleistung von Jakuten oder Tschuktschen verbinden mit der des Negers. Thatsächlich bewähren das auf Erden einzig und allein die Chinesen. Darum sind sie die einzigen Menschen, die beim Hinauszug in die Fremde, läge sie unter hohen oder ganz niederen Breiten, so gut wie niemals dem Klima zum Opfer fallen. Der Chinese trotzt in der Mandschurei und Ostsibirien einer Kälte, bei der das Quecksilber erstarrt, und arbeitet ebenso frohgemut unter der scheitelrechten Sonne Javas, Singapores oder in der siedeheißen Luft am Kessel der Rohrzuckerfabriken Kubas. Bringt er es doch daheim fertig in der Julihitze von 30–40° C von früh bis abend ein schweres Boot stromaufwärts zu rudern, höchstens mit dem Fächer dem glühenden Kopf dann und wann etwas Kühlung zuführend, und nach Halbjahrsfrist mit der nämlichen Ausdauer noch größere Lasten auf dem Eisspiegel desselben Stroms bei schneidender Kälte im Schlitten zu befördern. Emin Paschas Idee, Chinesen als Kolonisten ins tropische Afrika einzuführen, war physiologisch wohlberechtigt, denn auffallenderweise erliegen die Chinesen nächst den Negern auch am wenigsten dem Malariafieber, wie sich beim Bau der Panama-Eisenbahn gezeigt hat.
Was nun aber die psychischen Eigenschaften dieses ältesten Kulturvolks der Gegenwart betrifft, so möchten diese wohl zum guten Teil auf die Thatsache der seit unvordenklicher Zeit hohen Volksverdichtung in China zurückführbar sein, und diese selbst müssen wir ableiten von zwei ständig zusammenarbeitenden Faktoren: einem in der Landesnatur begründeten und einem religiösen. Chinas Nordhälfte, so lehrt die Geschichte, war die Ursprungsstätte der chinesischen Gesittung, des chinesischen[S. 104] Staatswesens. Nordchina, sahen wir, ist das lößbedeckte China, wo die außerordentliche Fruchtbarkeit dieser gelben Erde für den Anbau von Getreide zusammentrifft mit den beiden Segensspenden des chinesischen Sommers, der hochgradigen Wärme und den mit nie aussetzender Regelmäßigkeit diese begleitenden Monsunregen. Hier war auf unabsehbaren Flächen von der Natur die Möglichkeit also gegeben, daß ein kopfreiches Ackerbauvolk unter dem Schutz staatlicher Ordnung sich entfaltete, zuerst in der Lößmulde des zum Huangho fließenden Weiho sowie in den übrigen Gebirgs- und Thalgauen des Binnenlandes, nachmals auch in der für Anhäufung von Massenbevölkerung noch besser geeigneten Niederung, die sich im Nordosten zum Gelben Meer abdacht, aber als jüngst geborene Deltaflur der Entsumpfung bedurfte, die ihr als die älteste Kulturthat chinesischen Geistes und chinesischer Thatkraft zuteil ward, deren Glanz in den Annalen des Reichs der Mitte noch heute unverblichen strahlt. Daß nun die von der Natur gebotene Möglichkeit, auf so günstigem Boden, unter einem so gütigen Himmel ein großes Volk im Schweiß des Ackermanns erwachsen zu lassen, der Verwirklichung zugeführt werde, dafür sorgte ein seit Alters den Chinesen tief eingeprägtes Pietätsgefühl gegen ihre Vorfahren. Kongfutse, der große Weise, der zur Zeit, als Cyrus das Perserreich gründete, die Sittenlehre seiner Nation zu jenem wirkungsvollen System ausgestaltete, das bis zur Stunde Millionen als heilsame Richtschnur dient, fand diese Ehrfurcht vor den Ahnen schon als längst bestehend vor. Sie geht auf den Totenkultus zurück, der so zahllosen Völkern eigen war und vielen immer noch eigen ist. So nüchtern realistisch der Zopfmann sich sonst überall zeigt, er ist angeerbter Maßen durchschauert von dunkeln Ahnungen über ein mystisches Weiterleben in einem Jenseits nach seinem irdischen Ableben; ihn bangt vor den Strafen, die seiner harren nach Überschreiten der düsteren Grabesschwelle, doch ihn tröstet die allgemeine Zuversicht, selige Ruhe im Jenseits zu finden, wenn nur die hierfür unerläßliche Bedingung erfüllt wird, daß ihm bei jeder Wiederkehr des Jahrestages seines Todes die[S. 105] Totenopfer dargebracht werden. Diese aber darf nach altgeheiligter Vorschrift niemand erbringen als der leibliche Sohn oder dessen männliche Sprossen. Daher die heiße Sehnsucht der Chinesen, in die Ehe zu treten, um Söhne zu erzeugen und diese sobald wie möglich wieder zu vermählen. Nur die allergräßlichste Armut vermag einen Chinesen von der Heirat abzuhalten. Junggesellen giebt es deshalb in China fast gar nicht, Großväter von 34–36 Jahren dagegen nicht selten. Die Geburt eines Knaben wird in der dürftigsten Chinesenhütte mit hellem Jubel begrüßt, die Geburt einer Tochter selbst im Hause des Reichen mißliebig, fast wie ein Trauerfall angesehen. Die Ehefrau, die Jahr um Jahr keinem Sohn das Leben schenkt, muß sich ohne zu murren es gefallen lassen, daß ihr Gatte neben ihr eine zweite Frau ehelicht oder Konkubinen sich zugesellt; nie vermißt sich dort eine Sarah zu der Forderung, eine Hagar mit ihrem Sohne zu verstoßen, nein, sie muß demütig die Hagar auszeichnen und ehren, weil sie es ist, die ihrem Gemahl zur Erfüllung des höchsten Lebenswunsches verholfen hat. Ziehen wir dazu den Umstand in Betracht, daß es eine überseeische Auswanderung von Chinesen, so sehr sich eine solche bis nach Amerika und Australien neuerdings fühlbar gemacht hat, fast nur in den beiden Südostprovinzen Fokien und Kuangtung giebt, chinesische Auswanderer noch dazu stets bestrebt sind nach Aufbesserung ihrer Vermögenslage heimzukehren, weil es ihrer leidenschaftlichen Anhänglichkeit an den vaterländischen Boden entsetzlich dünkt in fremder Erde bestattet zu werden, so kann es uns nicht Wunder nehmen, daß China immerdar der Raum der stärksten Volksanhäufung auf Erden gewesen ist. Bis zum kürzlichen Emporkommen von Philadelphia und Chicago war China das einzige Land mit einer Mehrzahl von Millionenstädten; an großen, mit viereckiger Backsteinmauer wie das alte Babel umgebenen Städten zählt es rund 1500, manche mit einer Mauerlänge von 20 bis 30 km und dazu noch mit menschenwimmelnden Vorstädten außerhalb der Thore. Und welch ein Hin- und Herströmen des Landvolkes nach und von diesen Städten begiebt sich all[S. 106]täglich, wenn sich ihre Thore bei Sonnenaufgang unter Kanonenschüssen, Gong- oder Glockenschlag aufthun, desgleichen bei Einbruch der Abenddämmerung schließen! Sowohl im Menschengewoge der städtischen Straßen als in den stadtgroßen Dörfern tritt uns die beträchtliche Kinderzahl der chinesischen Familien leibhaftig vor Augen, noch überraschender die große Zahl im Greisenalter stehender Männer, denn das Chinesenvolk ist bei aller Vielheit von Krankheiten, die es plagen, bei all seiner jämmerlichen Quacksalberei dank seiner staunenswerten Seuchenfestigkeit eins der langlebigsten.
Nun ist zwar China nicht ganz so dicht bevölkert wie das Deutsche Reich, denn es wohnen dort wohl kaum über 80 Menschen auf 1 qkm, bei uns 103. Aber man bedenke, daß China erst jetzt seinem großindustriellen Aufschwung entgegengeht, wenn, wie sicher zu erwarten, dem Beginn seiner Eisenbahnära die Einführung der Dampfmaschine und der elektrischen Triebkraft in seine Industrie auf dem Fuß folgen wird. Bisher lebten die Chinesen wie wir im Mittelalter überwiegend vom Ackerbau, vom Handwerk und Kleinhandel. Und hierfür war seine Volksdichte, die sich z. B. in Kiangsu, der an Reis und Seide ertragreichsten Provinz zu beiden Seiten der Mündung des Jangtsekiang, mindestens aufs Doppelte des mittleren Wertes steigert, eine verhältnismäßig sehr hohe.
Wir sollten China ob seines patriotischen Stolzes nicht verlachen, selbst wenn er sich in Verachtung der Fremden äußert. Sein Staatswesen hat wie kein anderes Bestand gehabt von der Pharaonenzeit bis heute; Religionen erwuchsen, Religionen verschwanden um das Reich der Mitte her, aber Kongfutses Lehre blieb in Vollkraft durch die Jahrtausende. China genügte sich auch wirtschaftlich selbst; wie es, allen Nachbarreichen überlegen, seine sieghaften Waffen unter dem Drachenbanner mehrmals bis zum Kaspischen Meer trug, das ungeheure Innerasien fast stets in ganzem Umfang zu seinen Füßen sah, — so bedurfte es nichts von den Fremden weder für seine Ernährung noch für seine Kleidung; stolz wies es selbst die Waren der rothaarigen Teufel, die unter europäischen und amerikanischen[S. 107] Flaggen an ihrer Küste landeten, von der Hand, daß sich die Engländer durch Anstacheln des Opiumlasters eine schnöde Einfuhr ersinnen mußten, um Thee und Seide nicht bloß mit Silber bezahlen zu müssen.
So bestand bis in die jüngste Vergangenheit das chinesische Wirtschaftsleben wie das keines zweiten Kulturstaats in einem steten Versuch das Gleichgewicht zu halten zwischen einer zu grenzenloser Vermehrung drängenden Volkszahl und einer durchaus nicht ins unendliche vermehrungsfähigen Summe ausschließlich heimischer Landeserzeugnisse. Das brachte den großartigsten Kampf ums Dasein hervor, den je eine Nation gekämpft hat. Er ist es, der die größten Vorzüge des Chinesentums erschuf und fortdauernd vervollkommnete: den unvergleichlichen Arbeitsfleiß, die geduldigste Ausdauer und die bescheidenste Einschränkung der Ansprüche an die Genüsse des Lebens.
In China allein ist es ermöglicht worden, die uralte Lust unseres Geschlechts am ungebundenen, müßigen Dahinleben in ihr Gegenteil zu verkehren. In diesem riesigen Arbeitshaus China, wo man keine Sonntagsrast kennt und nichts vom Evangelium des Achtstundentages weiß, weil man sonst verhungern müßte, ist der Trieb zum emsigen Schaffen den Menschen zur anderen Natur geworden. Selbst dem gründlich gehaßten Herrn in San Francisko, bei dem der Chinese etwa Dienerstelle angenommen, leistet er unbeaufsichtigt pflichtmäßige Arbeit, einfach weil ihm leben arbeiten heißt. Und trotz aller Rastlosigkeit, trotz aller staunenswerten Geschicklichkeit bei der Arbeit, wie sie sich bei Benutzung einfachsten Geräts in so vielen Zweigen auch der Kunsttechnik staunenswert zu erkennen giebt, bringt es der Chinese daheim unter der Masse des Angebots von Arbeitskraft und Arbeitsleistung doch nach unseren Begriffen durchschnittlich nur zu einem Hungerlohn. Es klingt uns wie ein Märchen, daß ein erwachsener Chinese den Tag über mit acht Pfennig für seine Kost auskommt, ja in Zeiten durch Hungersnot gebotener Einschränkung sogar mit sechs Pfennig. Damit bestreitet er seinen Bedarf an Reis, Gemüse, Fisch und[S. 108] Thee, behält auch noch eine Kleinigkeit für Tabak übrig. Das erklärt sich einerseits aus der großen Billigkeit der Lebensmittel, andererseits aus der trefflichen Kochkunst, die schlechte, fast ungenießbare Ware genießbar und gut verdaulich macht, dabei nicht das mindeste fortwirft, freilich außerdem auch aus der Genügsamkeit des Chinesen und seiner Freiheit von Ekel, die ihm Hunde-, Katzen- und Rattenbraten, ja das Fleisch an Seuchen verstorbener Pferde oder Esel als willkommenste Zukost erscheinen läßt.
Die Tugend der Sparsamkeit übt kein Volk in so hohem Maße wie das chinesische; sie ist neben Arbeitsamkeit und Genügsamkeit die Hauptwaffe in seinem Ringen um Leben und Gründung eines eigenen Herdes. Der nordchinesische Bauer wühlt sich wie ein Murmeltier ein unterirdisches Obdach unter seinem Hirsen- oder Weizenfeld in die steile Lößwand an dessen Abhang, damit er seine Ernte nicht durch den Hüttenbau auf der Oberfläche um den Ertrag einiger Quadratmeter alljährlich verkürze. Ein rührendes Beispiel echt chinesischer Sparsamkeit und zugleich über das Grab hinausschauenden ehrenwerten Familiensinns teilte vor kurzem aus eigener, in China gemachter Erfahrung ein amerikanischer Missionar mit. Er sah eine hochbetagte, blutarme Frau, die sich kaum fortzuschleppen vermochte, mühsam an den Hauswänden einer Straße sich hintasten: sie befand sich auf dem letzten Ausgang, sie wollte, den Tod vor Augen, ihre einzige Verwandte aufsuchen, um von deren Haus beerdigt zu werden, damit die Sargträger nicht so viel forderten wie bei dem weiteren Weg von ihrer eigenen Behausung.
Wenn ein Volk, das über ein Fünftel der Menschheit ausmacht, in so eintönig freudlosem Schaffen vom ersten Tagesgrauen bis zum späten Abend, ja vielfach bei nächtlicher Weile, den Schlaf scheuchend, sich um so kümmerlichen Verdienst abmüht, so beschleicht uns bei Betrachtung dessen wohl ein wehes Mitgefühl. Ist nicht die goldene Freiheit des Wilden beneidenswerter als dieses Arbeitselend des Kulturmenschen? Hat unser Geschlecht nicht eben durch Übernahme des Arbeitsjoches, wie es höhere[S. 109] Gesittung unweigerlich mit sich bringt, an Lebensfreude eingebüßt? Indessen da messen wir unbedachtsam nach unserem Maß! Wir täuschen uns in der Annahme, der Chinese müsse bei seinem ewigen Hasten fast um nichts stumpfsinniger Trübsal verfallen. Weit gefehlt! So mannigfaltig Temperamente und Talente nebst körperlichem Aussehen wechseln durch die 18 Provinzen, von den gelben, etwas zu Fettleibigkeit neigenden Südländern bis zu den braunen, schlanken und höher gewachsenen Nordchinesen, — ein harmloser Frohsinn, eine selbst durch harte Schicksalsschläge nicht leicht zu beugende stillvergnügte Heiterkeit ist dem Volk fast allerwegen eigen. Auch darin dürfen wir eine Spur tellurischer Auslese erkennen. Wie die Winternacht der Polarlande nur die unverwüstlich Fröhlichen bei sich aufnahm, so brachte der chinesische Daseinskampf nicht nur die Faulen und Üppigen ums Leben, nein, von den Helden des Fleißes und Darbens auch alle die, denen ein solches Heldentum Lebensüberdruß bereitete. Und so sehen wir eine uralt vererbte Munterkeit dem darbenden Arbeitsernst der Chinesen wie ein versöhnender Engel zur Seite stehen.
Allerdings hat das Streben, so zahlreiche Mitbewerber um den kärglichen Verdienst auszustechen, auch unlautere Seiten beim Chinesen entwickelt. Mit der von allen Kennern gerühmten Tüchtigkeit im Handels- und Bankierfach, in Gewerbe und Landbau geht Arglist, Lug und Trug Hand in Hand. Enges Zusammenwohnen in schlecht gelüfteten Räumen hat neben weit verbreiteter Armut eine widerliche Gleichgültigkeit gegen Reinhaltung von Körper und Kleidung verursacht. Das Erpichtsein auf materiellen Verdienst im Nährstand oder in Beamtenstellung, welche letztere wieder nur durch eifriges Studium der chinesischen Klassiker zu erzielen, ließ höhere als im Dienst der Technik stehende Künste, wahre d. h. nach dem inneren Zusammenhang der Dinge forschende Wissenschaft nicht aufkommen. Die Musen und Grazien waren nie in China heimisch.
Einseitige Größe ist die Signatur chinesischer Nationalentwicklung. Es gab eben bisher zweierlei Kulturmenschheiten, eine mit europäischem Kulturgepräge und eine chinesische. Die[S. 110] innigere Berührung zwischen beiden wird eins der folgenschwersten Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts bilden. Die Schranke, die Europa und China trennte, schwindet; an ihre Stelle tritt die ungeheure Brücke der ersten pazifischen Eisenbahn der Ostfeste, der südsibirischen. Wie wird sich die Lohnfrage stellen, wenn die gelbe Rasse auf dem Arbeitsmarkt Europas auftritt? Welcher Umschwung wird im Welthandel eintreten, wenn China mit seinen Steinkohlenschätzen, seinem billigen Arbeitslohn zur Großindustrie übergeht? Harmonischer mag sich das Chinesentum ausgestalten, manche Schattenseite seiner bisher starr selbständigen Kultur freundlich durchlichten unter Befruchtung durch den Genius des Abendlandes. Aber weiterdauern wird der demantne Kitt seiner Gesellschaft, der ehrenfeste Familiensinn, weiterleben seine nervenstarke Ausdauer in allen Klimaten und die schier unerschöpfliche Arbeitskraft, vervielfacht durch Übernahme unserer Methoden in die Technik seines Wirtschaftsgetriebes. Eine große Zukunft steht dieser Nation zweifellos bevor. Denn auch von ganzen Völkern gilt das Dichterwort: In deiner Brust steh’n deines Schicksals Sterne.
Zwischen Dänemark und Italien, Frankreich im Westen, Rußland und Ungarn im Osten liegt das Herzland Europas. Man könnte diesen ungefähr quadratischen Raum noch heute Deutschland nennen, denn deutsch ist die Hauptmasse seiner Bevölkerung, aus dem Schoß des mittelalterlichen Deutschen Reichs sind seine Staaten herausgewachsen. Weil aber seit 1871 dem jüngsten dieser Staaten, unserem neuen Deutschen Reich, schon durch seine Verfassungsurkunde der traulicher, geographischer klingende Name „Deutschland“ als gleichbedeutender zweiter Name beigelegt wurde, so empfiehlt es sich wohl, jenes Herzland unseres Erdteils nur als Mitteleuropa zu bezeichnen.
Nicht die geometrische, aber die morphologische Mitte Europas ist es ganz und gar. Jedes andere Glied des europäischen Körpers könnten wir wegdenken, es bliebe immer noch ein verstümmeltes Europa übrig. Stoßen wir dagegen Mitteleuropa aus dem Reigen der europäischen Länder aus, so haben wir bloß noch peripherische Glieder ohne Zusammenhang vor uns. Auch darin offenbart sich die Centrumsnatur Mitteleuropas, daß allein hier die drei Hauptvölkergruppen unseres Erdteils sich berühren, die germanische, slawische und romanische.
Physisch-geographisch dürfen wir Mitteleuropa kennzeichnen als die Abdachung vom westöstlich verlaufenden Hauptwall der Alpen zur Nord- und Ostsee, als ein Gebiet, dem Europas Adelszüge, Einheit in der Mannigfaltigkeit und Maßhalten ganz besonders zuteil geworden sind. Alle Bodenformen vereinigen sich hier in zonenweiser Lagerung: wir steigen von den firn[S. 114]bedeckten Zackenkämmen der Alpen hernieder auf die Hochflächen des Alpenvorlands, wo die Gewässer wie in den Alpen im Westen schon dem Rhonegebiet, im Osten dem der Donau angehören, treten dann ein in die vielgestaltige Welt der Mittelgebirgslandschaften mit Wasserabfluß nach allen Seiten, indessen doch zusammengehalten durch Zubehör ihres ganzen Flußnetzes allein zur Nord- und Ostsee, schließlich durchmessen wir das weite Tiefland mit seinen schiffbaren Strömen, unter denen der aus Gletscherwassern sich entspinnende Rhein der einzige ist, der alle vier Zonenstreifen miteinander verklammert, dem Westen Mitteleuropas eine ungleich bessere Verknüpfung spendend, als sie dem Osten nachgerühmt werden kann, wo außer der schmalen Elbpforte kein Strom Bresche gelegt hat in den Gebirgszug vom Fichtelgebirge bis zu den Karpaten, die Donau aber den geschichtlich so verhängnisvoll gewordenen Weg gen Osten weist.
Die Abstufung des Bodens in der Richtung von den Alpen zur Küste gleicht die Temperatur von Süd und Nord aus; München z. B. hat eine Juliwärme gleich der von Königsberg. Im allgemeinen nimmt die Wärme wie in Europa überhaupt vielmehr von Südwest nach Nordost ab. Die europäische Frostlinie des Januar zieht aus der Gegend der Elbmündung im Bogenlauf quer über den Main und die süddeutsche Donau nach Bosnien. Nur im Osten dieser Grenzscheide hat man also anhaltenden Winterfrost, bleibende Schneedecke auch außerhalb der Gebirge. Am längsten und meisten wird der Boden in der Südwesthälfte Mitteleuropas erwärmt; dort finden wir neben Weizen- und Spelt- schon Maisbau; Schwalben und Störche treffen zuerst durch die burgundische Pforte in der oberrheinischen Tiefebene ein; an Rhein und Neckar, Mosel und Main sehen wir unsere besten Weinlagen verteilt. In Ostpreußen verkürzt sich dagegen die warme Jahreszeit bereits so sehr, daß die Rotbuche wie aus dem nämlichen Grund in Rußland nicht mehr fortkommt. Glücklich beschirmt durch das südliche Hochgebirge gegen die nordafrikanisch heißtrockenen Sommer des Mittelmeerbeckens, wohnen wir auch den atlantischen Hauptquellen des europäischen Regens fern genug, um nicht eine Überfülle von[S. 115] Niederschlag zu empfangen wie die Westseite der britischen Inseln, und doch auch jenen wiederum nahe genug, um frei zu sein von der Steppendürre Südosteuropas. Mitteleuropa entrollt uns somit auch landschaftlich wie in seinem Wirtschaftsleben echt europäische Mannigfaltigkeit in seinen grünen Bergen und Thälern, auf seinen ebenen Fluren voll saftiger Weiden, fruchtbarer oder wenigstens den Bauernfleiß zur Genüge lohnender Felder, umfangreicher Laub- und Nadelholzwaldung. An Ertrag vom Getreidebau wie von der Viehzucht wird Europas Mittelland innerhalb unseres Erdteils allein durch Rußland ob seiner Raumgröße übertroffen, in Wein- und Obstsegen nähert es sich Frankreich und den sonnigen Südlanden, in seiner industriellen Bethätigung steht es bloß noch hinter England zurück, seitdem es im 19. Jahrhundert mit immer gesteigerter Energie den Vorzug gründlicher ausbeuten lernte, daß es bei Anteilschaft an allen geologischen Formationen verfügt über gewaltige Rohstoffmassen an Metall, Kohlen und Salzen; seine Küstenlinie mit trefflichen Häfen, namentlich den fast gänzlich eisfreien Nordseehäfen, sichert ihm die Osteuropa versagten ununterbrochenen Welthandelsbeziehungen durch Schiffahrt auf allen Ozeanen bis zu den fernsten Erdenwinkeln.
Als ostfränkisches Reich löste sich Mitteleuropa staatlich aus dem Verband der Monarchie Karls des Großen heraus, die es so eng mit Frankreich verknüpft hatte. Seine Osthälfte war freilich nach der Völkerwanderung an die nachrückenden Slawen verloren gegangen, wurde jedoch nachmals durch Zurückfluten des Deutschtums nach Osten zum größten Teil wiedergewonnen. Einem losen Bund der das westliche Mitteleuropa bewohnenden deutschen Stämme glich unser altes Reich, da es vom Sachsenherzog Heinrich nach dem Aussterben der Karolinger aus den ostfränkischen Trümmern organisiert ward. Es gliederte sich durchaus ethnographisch: dem niedersächsischen Kernstamm im Norden schlossen sich an die Thüringer und Hessen, die im Herzogtum Lothringen vereinigten Franken des nördlichen Rhein- und des Scheldegebiets, also die Bewohner[S. 116] der heutigen Rheinprovinz, Luxemburgs, Belgiens und der Niederlande, ferner die Mainfranken samt den wesentlich fränkischen Pfälzern, die Schwaben und die Bayern.
Aber es ist eine bisher zu wenig beachtete Thatsache, daß die staatliche Weiterentwicklung sich nicht im Rahmen dieser Stammesgebiete vollzogen hat, sondern je länger je mehr hierbei Leitmotive zu Tage traten, die dem Zusammenwohnen in physisch geschlossenen Verkehrsprovinzen erwuchsen. Das geographische Moment erwies sich mithin machtvoller als die Stämmegliederung. Das Stammland der Sachsen blieb zwar bis zum territorialen Zerfall des spätmittelalterlichen Deutschland überhaupt noch längere Zeit eine politische Einheit, befaßte es doch bis auf den ins rheinische Schiefergebirge reichenden Südzipfel, den heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, das gut geeinte Stück Tiefebene von Holstein bis gegen den Niederrhein. Ihm schlossen sich die wahlverwandten ostelbischen Slawenlande zum guten Teil an, die durch ihr Plattdeutsch noch zur Stunde die Macht der niedersächsischen Kolonisation verkünden. Auch Hessen und Thüringen gaben in der so ungeographischen, meist rein dynastisch bedingten Herausschälung kleiner und kleinster Sondergebiete ihre Landeseinheit noch einigermaßen zu erkennen. Indessen der im Bodenbau gar nicht wurzelnde Grenzzug des lothringischen Herzogtums verschwand gar bald, auch die Pfalz schied sich von Mainfranken, das Schwabenland zertrennte sich in seine geographischen Elemente, die fast ausschließlich von den Bayern besiedelten deutsch-österreichischen Lande, die darum ursprünglich nur Marken unter der Oberhoheit des bayrischen Stammesherzogtums ausmachten, verselbständigten sich als alpine Wohnräume dieses Stammes, nur durch den Donaustrom verknüpft mit dem nunmehr auf das Alpenvorland nebst den ihm durch Isar und Iller angeschlossenen Randgliedern der nördlichen Kalkalpen beschränkten Herzogtum, dem fortan allein der Bayernname verblieb.
Die Entfaltung des mitteleuropäischen Staatensystems unserer Tage hat gar nichts gemein mit der Grenzabsonderung[S. 117] der Teilstämme unserer Nation. Bruchstückweise sind letztere an die fünf Staaten aufgeteilt. In den Niederlanden, Flämisch-Belgien und Luxemburg wohnen außer den friesischen Strandleuten Niedersachsen und Franken, in der Schweiz, mit Romanen unter einem Dach, Schwaben, in Österreich mit Slawen in friedloser Ehe Bayern. Nur die innerdeutschen Stämme der Thüringer und Hessen sind dem im neuen Deutschland zusammengefaßten Hauptrest Mitteleuropas ganz treu geblieben. Unser heutiges Deutsches Reich ist der Inbegriff sämtlicher Stämme unserer Nation, soweit sie nicht ausgerankt sind in die peripherisch abgegliederten mitteleuropäischen Staaten oder hinausgezogen nach Großbritannien, Siebenbürgen, Rußland und in transozeanische Fernen.
Wohl haben einstmals Stammesinteressen der politischen Einung unseres Volkes widerstrebt, als es noch keine mitteleuropäische Pentarchie gab. Der Sachsenstamm trägt noch immer seinen Widukind im Herzen, der ihm Freiheit und Glauben gegen den mächtigen Frankenkönig verteidigen half. Im Süden waren es die Bayern, die besonders gern der Centralgewalt des Reichs Widerpart leisteten, ja bis ins achtzehnte Jahrhundert traten bayrische Sympathien mit dem stammes- und glaubensverwandten habsburgischen Nachbarstaat so stark hervor, daß ein Anfall Bayerns an Österreich nicht ganz ausgeschlossen schien. In letzter Stunde siegten aber doch die realen Interessen, wie sie schon vor der Gründung des neuen Reichs im preußischen Zollverein, 1866 in der Zollvereinigung des norddeutschen Bundes mit den süddeutschen Staaten zum Ausdruck kam. Ganz deutlich verrät sich die Bedeutung von natürlich gegebenen Verkehrsbezirken für Vereinheitlichung der gesamten Lebensziele ihrer Bewohner, folglich für die allergesundeste Anbahnung staatlichen Zusammenschlusses darin, daß die beiden großen Verkehrshälften Mitteleuropas, die wir im antiquierten großdeutschen Sinn die norddeutsche und die süddeutsche nennen mögen, sich abspiegeln in der Staatengeschichte durch alle Jahrhunderte von Armins und Marbods Tagen her. Die für die Staatenkarte der Gegenwart entscheidende Los[S. 118]gliederung der Niederlande und Belgiens einerseits, der Schweiz und Deutsch-Österreichs andererseits vollzog sich eben deshalb als eine rein norddeutsche, bezüglich rein süddeutsche, weil es überhaupt bei Ausbildung der Teilstaaten Mitteleuropas nie eine dauernde Überschreitung der nord-süddeutschen Wende gegeben hat, die sich längs der Sudeten und des Erzgebirges zur Mainquelle hinzieht, um dann auf der Wasserscheide zwischen Main- und Wesergebiet sich dem Rhein zu nähern, die Pfalz Süddeutschland zuzuweisen. Auch der in unserem Reich am meisten fühlbare Gegensatz ist der zwischen der nord- und süddeutschen Staatengruppe.
Zum Glück ist er nicht so wesentlich verursacht durch die leise an Rassenhaß gemahnende wechselseitige Abneigung verschieden begabter Stämme, wie fast allgemein geglaubt wird. Zwar sind Schwaben und Bayern fast ausnahmslos nur in Süddeutschland heimisch, Franken dagegen wohnen vom preußischen Rheinland bis in die Pfalz, ja sie siedeln seit mehr als tausend Jahren sowohl an der lothringischen Mosel wie im gesegneten Mainland. Nein, der Abstand unseres Deutschtums in Süd und Nord wurzelt wahrlich nicht in Blutsfeindschaft. Sind doch die Germanen der Südhälfte Mitteleuropas allesamt erst aus Norddeutschland als echte Brüder der blondhaarigen Norddeutschen eingewandert! Mit einer Menge kleiner Absonderlichkeiten in Mundart und Gebräuchen hat sich allerdings auch ein gewisser Antagonismus gegen norddeutsches Wesen dort im Süden allmählich festgewurzelt; im näheren Verkehr mit Schwaben und Bayern als mit Norddeutschen sind auch die Mainfranken, so zweifellos sie ihrer Herkunft nach dem norddeutschen Frankenstamm angehören, zu Süddeutschen geworden. Aber ist es nicht ein bedeutungsvoller Zug im Leben unserer Nation, daß am meisten längs den Ufern des Rheinstroms die Grenze süd- und norddeutscher Volkstümlichkeit sich verwischt? Süddeutsches „le“ für die Verkleinerungssilbe „chen“ hört man ebenso gut am norddeutschen Rhein, „nit“ statt „nicht“ weit über Köln hinaus. Der Rhein bildet das wertvollste Einheitsband für den Westen unseres Reichs, ja er ist[S. 119] dessen eigentliches Rückgrat. Indem der Vater Rhein so leibhaftig uns alle Tage vor Augen hält, was der Verkehr auf seinen grünen Fluten, auf den Schienenwegen zu seinen beiden Seiten für den Austausch von Süd und Nord leistet, erbringt er uns den besten Beweis, daß die Einheitskraft unseres Reiches um so sicherer partikularistische Strebungen besiegen wird, je mehr die Schranken der alten Zeit mit ihrem schläfrigen Verkehr, meist nur im engen Bezirk, fallen, je mehr Güter- und Personenbewegung den Gesichtskreis der Deutschen über ganz Deutschland erweitert und sie alle begreifen lehrt, daß die Stärkung der gesamten Reichskraft jedem, auch dem kleinsten Teil des Reichskörpers zu gute kommt, während die Insassen eines solchen in seiner Vereinzelung höchst ohnmächtig ihre Freiheitshymnen singen würden.
Sein Vaterland kennen lernen ist unerläßliche Vorbedingung dafür, es richtig zu würdigen. Es fällt indessen bei Deutschland und seinem Volk nicht eben leicht, jene Vorbedingung zu erfüllen, da uns von Gau zu Gau stark individuelles Gepräge aufstößt. Versuchen wir in flüchtiger Wanderskizze zu zeigen, wie vielfach dieser reizvolle Wechsel von Landschaft und Volkstum auf der gegenseitigen Beeinflussung beider beruht.
Im Allgäu an den Quellbächen der Iller und weiter östlich in den bayrischen Alpen erhebt sich der Boden unseres Reichs wie nirgends sonst bis über die Schneegrenze. Hier allein jagt man die Gemse, wohnen halbnomadisch die Sennhirten in wettergebräuntem Blockhaus nur sommersüber auf der grünen Alpmatte, die sich einschaltet zwischen die schneebedeckten Zinnen des Hochgebirgsgrates und die tannendunkle Zone der unteren Gehängestufe. Auch letztere wird häufig unterbrochen vom lichteren Grün der Weideländerei, während Feldfluren ganz zurücktreten im Landschaftsbild, beschränkt gewöhnlich auf die Thalsohle in der Umgebung der Dorfschaften. Tiefer Naturfrieden lagert über dem Ganzen. Rinderzucht nebst Waldwirtschaft ernährt eine spärliche Anzahl genügsamer Menschen. Gleichviel ob Schwaben im Westen, Bayern im Osten, — die Alpennatur drückt den Bewohnern ganz gleich[S. 120]artigen Stempel auf. Gesundheit und Kraft spricht ihnen aus dem Antlitz, aus dem rüstigen Gang selbst auf schwindelndem Pfad an jäher Felswand. Stets von Gefahr bedroht durch übermenschliche Mächte, ist der Älpler ein aufrichtig frommer Mensch, nur kein Kopfhänger. Das erhebende Bewußtsein des Gelingens, der Überwindung von Gefahren ist hier mehr als anderwärts in Deutschland mit den einfachsten Arbeiten verbunden, mit dem Niederbringen einer Kötze Heu, dem Holzflößen, dem Botenweg. Das stimmt zur Fröhlichkeit, die sich im Echo weckenden Juchzer und Jodler Luft macht, genährt von der körperlichen Frische in dieser herrlichen, Gesundheit spendenden Natur.
Noch eine Strecke weit erfreuen uns ins nicht mehr hochgebirgige Vorgelände hinaus, soweit es noch wesentlich von alpenhaftem Klima beherrscht wird, die dem letzteren angepaßten Lebensformen: die Zerstreutheit der Einzelgehöfte in noch vorwiegend für Viehhaltung verwendeter Flur, ihr Holzbau mit dem weitvorspringenden, gegen den Sturm steinbeschwerten Dach, unter dem auf zierlicher Holzgallerie die vom Regen so oft benetzten Kleidungsstücke trocknen, der Tiroler Kremphut bei beiden Geschlechtern, das Lodenwams, der kurze, das Ausschreiten nicht hemmende Frauenrock, der feste Bergschuh. Dann aber wird die Landschaft eben, das Klima minder niederschlagsreich, je mehr wir uns längs den rauschenden Alpenflüssen Iller, Lech und Inn der Donau nähern. Da wohnt ein ackerbauendes, bierbrauendes Volk in geschlossenen Siedelungen. Inmitten ihrer Felderflur liegen ansehnliche Dörfer mit hohen roten Ziegeldächern, und manche altberühmte Stadt mit ehrwürdigen, hochragenden Gotteshäusern erinnert an eine große Vergangenheit. Regensburg und Augsburg erzählen schon durch ihren Namensklang, wie hier der Germane einst römische Städte nach seiner Weise ausbaute. Die Blüte von Augsburg und dem münstergekrönten Ulm wurzelte in der vormaligen Bedeutung der süddeutschen Donauhochfläche für den Handel zwischen den Mittelmeerhäfen und dem viel früher als Ostdeutschland kulturmächtigen rheinischen Westen. Augsburg ver[S. 121]rät durch den modernen Aufschwung seiner Webeindustrie den regeren Sinn für gewerblichen Fortschritt, der die Schwaben vom Lech westwärts überhaupt vor den behäbigeren Bayern auszeichnet.
Über alle Städte des Alpenvorlands aber kam München empor, dieses glänzende Zyklopenauge auf der breiten Stirnfläche unseres Südens, das lebensvolle Verkehrscentrum dieser Ebene, die stets berufen war zwischen Nord und Süd, Ost und West zu vermitteln, der große Getreidemarkt für die getreidearmen Alpengaue, die erste Bierbraustadt der Welt.
Bloß das Donauthal über Passau hinaus verbindet die süddeutsche Hochfläche mit Österreich, eine Vielzahl bequemer Thalwege hingegen, die durch den Jura führen, verklammern mit dem übrigen Deutschland. Sie führen uns ins südwestdeutsche Becken, ganz eingesponnen ins süddeutsche Rheinsystem, mit dem Rheinstrom von Basel bis Mainz in seiner tiefsten Rinne. Im Maingebiet wohnen die nach ihm benannten südöstlichsten Franken. Sie haben auf dem mageren Keupersandboden inmitten des Regnitzlandes unter dem Schutz der noch heute die Stadt auf steilem Felsen überragenden alten Kaiserburg ihr Nürnberg gegründet, die einzige Stadt des Reichs, die durch das erfindungsreiche Schaffen ihrer Bürger die Blüte seiner mannigfachen, durchaus nicht bodenständigen Gewerbe seit dem Mittelalter bis zur Gegenwart bewahrt hat. Sonst ist der Mainfranke werkthätiger im Anbau seines fruchtbaren Triasbodens. In der Bamberger Gegend bis gegen Schweinfurt hin bilden Hopfenberge eine Landschaftszierde, im wärmeren Unterland, so um die alte Bischofsstadt Würzburg, Weinberge. Im lieblichen Neckarland haben die Nachkommen schwäbischer Juthungen ihre Heimat zu einer Stätte harmonischer Durchdringung von Anbau und Gewerbefleiß umgeschaffen. Der Ackersegen der Felder, der glänzende Obst- und Weinertrag der Bodenabstufung bis zu den Thalsohlen des Neckargeflechts ist es nicht allein, was die Menschenfülle des Ländchens ernährt; überall sehen wir das starke Flußgefälle zu industriellen Anlagen verwertet und die Steinkohlen vom norddeutschen Rhein[S. 122]land auf Schienen- wie Wasserweg heranfahren zum maschinellen Großbetrieb.
Mehr gesondert nach den Bodenformen erweist sich Anbau und Gewerbe auf der süddeutschen Rheinebene gegenüber ihren beiderseitigen Einschlußgebirgen. Jene hat sich von jeher den Namen „Deutschlands Garten“ verdient bei ihrem ertragreichen Boden, ihrem milden Klima. Bis zur Pfalz hin hält der hier noch für Bootfahrt etwas zu ungestüme Rhein die Uferlande im Ost und West auseinander; deshalb waren sie trotz gleichartiger Wirtschaftsweise ihrer Bewohner staatlich immer getrennt, erst die Pfalz vermählt auch politisch die beiden Uferseiten.
Getrennt entfaltete sich die wie immer von so vielen Zufälligkeiten abhängige Geschichte des Gewerbes in den schön bewaldeten Umrahmungsgebirgen: der Schwarzwald wählte sich die Holzschnitzerei, aus der sich dann Uhrenmanufaktur und Herstellung von Musikinstrumenten, selbst kostbarer Orchestrien entwickelte, der Wasgau die Baumwollweberei, deren Hauptsitz jedoch Mülhausen blieb, wo das Vorbild der Textilindustrie der Schweiz, der Mülhausen früher angehörte, noch heute nachwirkt.
Die von Saarbrücken und Aachen bis nach Sachsen und Oberschlesien verbreiteten Steinkohlenlager bewirkten es aber, daß die moderne Großindustrie Deutschlands doch eine ganz vorwiegend norddeutsche wurde. Süddeutschland ist auch hierin dem Norden nur dort mehr angeglichen, wo der Kohlenbezug aus dem norddeutschen Rheinbezirk, zumal aus dem für den Wasservertrieb so günstig gelegenen Ruhrkohlenbecken nicht zu teuer ist. Darum sind im südwestdeutschen Becken so jugendliche Städte wie Mannheim, Ludwigshafen norddeutsch rasch gewachsen, Landstädtchen des Donaugebiets wie Straubing oder Amberg in der Oberpfalz dörflich klein geblieben.
Krupps weltberühmte Gußstahlwerke in Essen holen sich ihr Eisen aus Nähe und Ferne, selbst aus Spanien, jedoch durch ihren Kohlenbedarf sind sie an die Ruhrgegend gefesselt;[S. 123] verschlingen doch die Kruppschen Maschinenöfen jährlich 1¼ Millionen Tonnen Steinkohle. Älterer Bedeutung für gewerbliche Anregung der Bewohner unseres rheinischen Schiefergebirges sind allerdings die Erzvorkommen gewesen. Die Schwertfegerei von Solingen ist so alt wie die Bleicherei und Weberei an der Wupper, aus der jene gewaltige Industrie der Doppelstadt Elberfeld-Barmen mit dreimal Hunderttausend Einwohnern hervorging. Überhaupt haben die drei Faktoren, Kohlenreichtum, großer Vorrat an Eisen-, Zink- und Bleierz nebst angeerbter Neigung des Volks zu gewerblichem Verdienst, dort am Nordsaum des Schiefergebirges und ins bergisch-märkische Land hinein an der Hand der Großindustrie die größte Massenverdichtung der Deutschen gezeitigt.
Das gefeiertste Stück des Rheinthals von Bonn aufwärts bis Bingen entrollt uns das lebensvolle Bild der verjüngten Schaffensthätigkeit unseres Volkes auf fast allen Gebieten. Eng aneinander reihen sich um den verkehrsreichen Strom die schiefergedeckten Städte und Dörfer, letztere oft nur in einer einzigen Häuserzeile eingeklemmt zwischen dem grünen Rhein und den nicht hohen, aber steilen Felsen seines gewundenen Thales, deren düsteres Grau von Rebengrün und stellenweise von Eichenwald verhüllt wird. Alles atmet Frohsinn und fortschreitenden Wohlstand; hier und da schaut noch ein römischer Wachtturm ins frisch pulsierende Leben der Gegenwart, neben Bergruinen aus dem Mittelalter grüßen vornehme Landsitze, schmucke Schlösser von den Höhen. Es ist das rechte Heim des weinfröhlichen Franken, der hier seit zwei Jahrtausenden haust und seinerseits dieser gottgesegneten Thalung den Stempel seiner energischen Schaffenslust aufgeprägt hat. Doch dieselben Rheinfranken wohnen doch auch auf den plattigen Flächen zur Seite von Rhein, Mosel und Lahn; indessen wie zurückgeblieben, wie weltabgeschieden und arm, wo der naßkalte Fels- oder Thonboden der Eifel, des Hunsrücks, des Westerwalds, über den der Nordwest Regenschauer und Schneewehen treibt, die Aussaat so kümmerlich lohnt!
Ostwärts folgt das hessische Bergland, das seit alters ein fleißiges, tapferes Bauernvolk ernährt, ohne Steinkohlen- und Erzschätze im grellen Gegensatz zum Rheinland bis ins 13. Jahrhundert völlig der Städte entbehrte, auf seinen anmutigen, aussichtsreichen Basaltkuppen, wie dem Petersberg bei Fulda, der Milseburg, dem Kreuzberg der Rhön, aber alte Andachtsstätten besitzt zum Beleg des nur scheinbar barocken Satzes „Basalt macht fromm“.
Wo in den noch weiter östlichen Gliedern unseres Mittelgebirgsraumes, dem thüringischen, dem sächsischen, dem schlesischen, für den Ackerbau gut geeigneter Niederungsboden rauheren Höhen benachbart liegt, da meldet meistens schon das Fichtengrün der letzteren und die falbe Flur mit den langgezogenen Rechtecken der Äcker zu ihren Füßen, wie die Bodenerhebung die Beschäftigung der Menschen regelt. Besonders schön aber kann man eben dort bei den Bergbewohnern die Wahrheit des Satzes kennen lernen: „Not ist die Mutter der Künste!“ Läge da fetteres Erdreich, das die Waldrodung zum Feldbau lohnte, und wäre der Winter dort nicht zu lang und zu rauh, so würden die armen Leute auf dem Harz, dem Erzgebirge nicht so emsig in den lichtlosen Erdenschoß eingedrungen sein, um mit Lebensgefahr Metalladern anzuschlagen in immer höher gesteigerter Kunst, wodurch diese Gebirge zu Musterschulen des Berg- und Hüttenwesens für die ganze Welt geworden sind; es würde ebenso wenig jene großartige Fülle hausgewerblicher Industriezweige erwachsen sein, die Kunst der Glasfabrikation eine so hohe Vervollkommnung erreicht haben wie es der Fall ist vom Thüringerwald bis in die Waldgründe der Sudeten. Die Regel, daß die Volkszahl nach den höheren Gebirgsstufen sich mindert, ist durch den Bienenfleiß und die mit Kunstsinn gepaarte hochgradige Geschicklichkeit dieser Gebirgsbewohner mehrfach ins Gegenteil verkehrt worden. So leben die Erzgebirgler auf der fast keine Feldfrucht neben der Kartoffel tragenden Kammhöhe ihres Gebirges in dichteren Scharen, volkreicheren Dörfern als unten die Bauern auf dem fruchtbaren Löß des ebenen Vorlandes an der Pleiße, Mulde und Elbe. Ihre Vor[S. 125]fahren kamen als Bergleute auf die luftigen Höhen; als dann die Erzschätze allzubald versiegten, blieben die Nachgeborenen mit leidenschaftlicher Heimatsliebe auf der armen Gneisscholle, suchten und fanden Verdienst durch Schnitzerei, Tischlerei, Spitzenklöppeln und Feinstickerei, so daß sie mit fast chinesischer Anspruchslosigkeit bei Kartoffelkost und Blümchenkaffee ein zahlreiches, auskömmlich lebendes, sangeslustig fröhliches Völkchen wurden.
Großartiger freilich offenbart uns zu guterletzt das norddeutsche Tiefland den Sieg unserer Nation über eine von Haus aus kargende Natur. Wie hat es der Deutsche verstanden, selbst dem dürftigsten Diluvialsand in steigenden Mengen Nahrungsmittel abzugewinnen, sogar in den Mooren sich ein sauber wohnliches Obdach, ja Wohlstand zu schaffen. Eben bei der harten Arbeit, die sich Jahr um Jahr erneuert, wenn hier der Landmann sich und den Seinen das Dasein fristen will, ist der harte Menschenschlag groß geworden, der in Treue und Tüchtigkeit, Ausdauer und Kraft den Kern des preußischen Staates ausgestalten, mithin die Grundlage unseres Reiches legen half. Die Wegsamkeit der Ebene schon als solcher, die Schiffbarkeit ihrer Ströme, die Zwischenlage zwischen den Gebirgen mit ihren der Niederung versagten Kohlen und Metallen auf der einen, dem Meer auf der andern Seite erzeugte eine Entfaltung von Handel und Industrie, die im Zeitalter des Dampfer- und Eisenbahnverkehrs eine vordem ungeahnte Höhe erklomm. „Arbeit schafft Wohlstand und Macht“, das lehrt uns das Emporkommen gerade dieses Nordens unseres Vaterlandes aus den früheren ärmlichen Zuständen besonders vernehmlich. Dem Wirtschaftsfortschritt dieses Raumes vor allem, gar nicht bloß der politischen Vorrangstellung Preußens ist es beizumessen, daß das Schwergewicht des neudeutschen Reiches im Nordosten liegt. Bis tief ins Mittelalter koncentrierte sich das geistige Leben, das Aufblühen größerer Gemeinwesen hauptsächlich auf den Südwesten Deutschlands. Nunmehr ist die Pflege von Kunst und Wissenschaft bis in unsere östlichsten Grenzmarken vorgedrungen, und große wie mittlere Städte sind über unser[S. 126] ganzes Tiefland verteilt. Sie ordnen sich namentlich in drei Reihen. Eine verfolgen wir von Aachen über Leipzig bis ins Vorland der Sudeten; sie hält sich in der Nähe des Gebirgsfußes, wo der Boden der Niederung thonhaltiger, deshalb fruchtbarer ist, und nutzt den Marktvorteil aus, wie er sich überall darbietet durch den Erzeugungsgegensatz zwischen Gebirge und Ebene. Eine zweite fällt in die große mittlere Verkehrsaxe, die zugleich ein Stück der gesamteuropäischen von Paris über Moskau ausmacht: sie besteht vorzugsweise aus Brückenorten wie das steinalte, doch ewig jugendfrische Köln, Hannover, Magdeburg, das natürliche Hauptcentrum des Verkehrs der Nordostniederung Berlin, ferner Frankfurt a. O., Posen. Die dritte befaßt die Küstenstädte, die erst durch den Kaiser Wilhelm-Kanal an einen einheitlichen, rein deutschen Schiffahrtsweg gelangten. Sie waren zum guten Teil schon zur Hansezeit Deutschlands Stolz als Organe seines Überseehandels nach England, Skandinavien, Rußland. Bei vorzugsweiser Richtung dieses Seeverkehrs über das baltische Meer mußte Lübeck das Venedig des Hansebundes werden. Nun schaut unser weltumspannend gewordener Handel naturgemäß zumeist gen Nordwest, wo in der innersten Nische des einzigen Weltmeergolfes mit deutschem Küstenanteil das deutsche London durch seine thatkräftige Bürgerschaft zum ersten Handelshafen des europäischen Festlandes entwickelt ward. Was wäre Deutschland ohne Hamburg! Aber wir dürfen hinzufügen: Was wäre Hamburg ohne Deutschland mit seiner riesenhaften Arbeitsleistung, mit seinem machtvollen Reichsschutz!
Wir Deutsche im Reich gehören eben zusammen nicht bloß durch uralte oder erst auf diesem Boden geknüpfte Verwandtschaftsbande und eine mehr denn tausendjährige gemeinsame Geschichte, nein vor allem durch unser Vaterland. Das haben wir zu Nutz und Frommen friedlichen Schaffens gemeinsam zu schirmen durch unser starkes Heer, und an der allertreusten unserer Grenzen, an der Küste, durch unsere endlich erlangte, der Kauffahrerflotte unter schwarz-weiß-roter Flagge auf allen[S. 127] Meeren der Welt als Schild dienende herrliche Kriegsflotte. Aber dies Vaterland fordert nicht bloß unser einmütiges Zusammenhalten als die nötige Schutzfeste unseres Daseins. Es heischt auch unsere Dankbarkeit. Ihm danken wir über alle kleinen Stammessonderungen hinaus die ernste Zucht zu Arbeit, Sparsamkeit und guter Sitte, den gemeinsamen Pulsschlag eines treuen Herzens.
Aus Natur und Geisteswelt.
Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen aus allen Gebieten des Wissens.
12 monatlich erscheinende Bändchen
von 130–160 Seiten in farbigem Umschlag zu je 1 Mark, geschmackvoll gebunden zu je 1 Mark 25 Pf.
Geschmackvolle Einbanddecken werden zum Preise von 20 Pf. geliefert.
Jedes Bändchen ist in sich abgeschlossen und einzeln käuflich.
Die Verlagsbuchhandlung sah sich infolge der erhöhten Herstellungskosten leider genötigt, den Preis für das Bändchen um den geringfügigen Betrag von 10 Pfennig zu erhöhen. Sie wird dafür, wie es bei den letzten Bändchen bereits geschehen ist, die Ausstattung durch Abbildungen reicher gestalten und so den Wert der Bändchen, der schon in ihrer inhaltlichen Vortrefflichkeit begründet ist, womöglich noch weiter zu erhöhen suchen.
Die Sammlung will dem immer größer werdenden Bedürfnis nach bildender, zugleich belehrender und unterhaltender Lektüre entgegenkommen. Sie bietet daher in einzelnen in sich abgeschlossenen Bändchen in sorgsamer Auswahl Darstellungen kleinerer wichtiger Gebiete aus allen Zweigen des Wissens und damit eine Lektüre, die auf wirklich allgemeines Interesse rechnen kann.
Eine erschöpfende allgemeinverständliche Behandlung des Stoffes soll auf wissenschaftlicher Grundlage ruhen, die die Mitwirkung angesehener und bewährter Fachmänner gewährleistet. So wird eine Lektüre geboten, die wirkliche Befriedigung und dauernden Nutzen verspricht.
Wie der Inhalt, so soll auch in jeder Weise den Zweck der Sammlung erreichen helfen die trotz des billigen Preises sorgfältigste Ausstattung: die in bester Ausführung beigegebenen Abbildungen, der mit trefflicher Zeichnung versehene Umschlag, der geschmackvolle Einband.
Es erschienen bereits:
Acht Vorträge aus der Gesundheitslehre. Von Prof. Dr. H. Buchner. Mit zahlr. Abb. i. T. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Unterrichtet in klarer und überaus fesselnder Darstellung über alle wichtigen Fragen der Hygiene.
Soziale Bewegungen und Theorien bis zur modernen Arbeiterbewegung. Von G. Maier. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Will auf historischem Wege in die Wirtschaftslehre einführen, den Sinn für soziale Fragen wecken und klären.
Bau und Leben des Tieres. Von Dr. W. Haacke. Mit zahlreichen Abbildungen im Text. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Vermag zu einem besseren Verständnis unserer Umgebung, unserer Freunde in Haus und Hof, in Feld und Wald zu führen.
Schrift- und Buchwesen in alter und neuer Zeit. Von Prof. Dr. O. Weise. Reich illustr. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Verfolgt durch mehr als vier Jahrtausende Schrift-, Brief- und Zeitungswesen, Buchhandel und Bibliotheken.
Palästina und seine Geschichte. Sechs volkstümliche Vorträge von Prof. Dr. von Soden. Mit zwei Karten und einem Plan von Jerusalem. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Ein Bild nicht nur des Landes selbst, sondern auch alles dessen, was aus ihm hervor- oder über es hingegangen ist im Laufe der Jahrhunderte.
Luft, Wasser, Licht und Wärme. Acht Vorträge aus der Experimental-Chemie. Von Prof. Dr. R. Blochmann. Mit 103 Abbildungen im Text. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Führt unter besonderer Berücksichtigung der alltäglichen Erscheinungen des praktischen Lebens in das Verständnis der chemischen Erscheinungen ein.
Deutsche Baukunst im Mittelalter. Von Prof. Dr. A. Matthaei. Mit zahlr. Abb. i. T. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Will mit der Darstellung der Entwicklung der deutschen Baukunst des Mittelalters zugleich über das Wesen der Baukunst als Kunst aufklären.
Das deutsche Volkslied. Über Wesen und Werden des deutschen Volksgesanges. Von Privatdozent Dr. J. W. Bruinier. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Einer der wichtigsten Erscheinungen deutschen Volkslebens gewidmet, nicht zu steifer akademischer Erörterung, sondern zu herzlich warmer Schilderung.
Neuere Fortschritte auf dem Gebiete der Elektrizität. Von Prof. Dr. Richarz. Mit 94 Abbildungen im Text. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Behandelt leicht verständlich, zugleich aber für jeden Fachmann interessant, die neuesten vielbesprochenen Fortschritte auf elektrischem Gebiete.
Unsere wichtigsten Kulturpflanzen. Von Privatdozent Dr. Giesenhagen in München. Mit zahlreichen Abbildungen im Text. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Vermittelt durch die Schilderung der wichtigsten Kultur der Getreidepflanzen zugleich in anschaulicher Form allgemeine botanische Kenntnisse.
Das deutsche Handwerk in seiner kulturgeschichtlichen Entwicklung. Von Dr. Ed. Otto. Mit 27 Abbildungen auf 8 Tafeln. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Eine Darstellung der historischen Entwicklung und der kulturgeschichtlichen Bedeutung des deutschen Handwerks von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart.
Das Theater. Von Privatdozent Dr. Borinski in München. Mit 8 Bildnissen großer dramatischer Dichter. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Läßt bei der Vorführung der dramatischen Gattungen die dramatischen Muster der Völker und Zeiten thunlichst selbst reden.
Die Leibesübungen und ihre Bedeutung für die Gesundheit. Von Prof. Dr. R. Zander. Mit 19 Abbildungen im Text und auf 2 Tafeln. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Will darüber aufklären, weshalb und unter welchen Umständen die Leibesübungen segensreich wirken, indem es ihr Wesen, andererseits die in Betracht kommenden Organe bespricht.
Verkehrsentwicklung in Deutschland. 1800–1900. Sechs volkstümliche Vorträge über Deutschlands Eisenbahnen und Binnenwasserstraßen, ihre Entwicklung und Verwaltung, sowie ihre Bedeutung für die heutige Volkswirtschaft von Prof. Dr. Walther Lotz. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Erörtert nach einer Geschichte des Eisenbahnwesens insbesondere Tarifwesen, Binnenwasserstraßen und Wirkungen der modernen Verkehrsmittel.
Die deutschen Volksstämme und Landschaften. Von Prof. Dr. O. Weise. Mit 26 Abbildungen. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Schildert, durch eine gute Auswahl von Städte-, Landschafts- und anderen Bildern unterstützt, die Eigenart der deutschen Gaue und Stämme.
Ernährung und Volksnahrungsmittel. Sechs Vorträge gehalten von Prof. Dr. Johannes Frentzel. Mit 6 Abbildungen im Text und 2 Tafeln. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Behandelt die Ernährungslehre, den Verdauungsapparat und die Zubereitung der Nahrungsmittel, die einzeln ausführliche Besprechung erfahren.
Aufgaben und Ziele des Menschenlebens. Von Dr. J. Unold in München. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Beantwortet die Frage: Giebt es keine bindenden Regeln des menschlichen Handelns? in zuversichtlich bejahender, zugleich wohlbegründeter Weise.
Der Kampf zwischen Mensch und Tier. Von Prof. Dr. Karl Eckstein. Mit 31 Abbild. i. T. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Der hohe wirtschaftliche Bedeutung beanspruchende Kampf erhält eine eingehende, ebenso interessante wie lehrreiche Darstellung.
Am sausenden Webstuhl der Zeit. Übersicht der Wirkungen der Entwicklung der Naturwissenschaften u. der Technik. Von Launhardt, Geh. Reg.-Rat, Prof. a. d. Techn. Hochschule zu Hannover. Mit vielen Abbild. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Heute, wo wir in den Naturwissenschaften und der Technik einen alle vergangenen Zeiten weit überragenden Standpunkt einnehmen, ist ein Rückblick auf ihre Entwicklung, wie sie das vorliegende Bändchen in geistreichen Ausführungen giebt, gewiß vielen willkommen. Indem er sie den Weltwundern der Alten gegenüberstellt, weiß der Verfasser treffend das Wesen der Wunder unserer Zeit klar zu stellen. Vorbereitet durch naturwissenschaftliche Entdeckungen, die die Sinne verschärfen und vervollkommnen, haben diese Erfindungen unsere Herrschaft über den Raum in ungeahnter Weise ausgebreitet, die modernen Schußwaffen wie die Fernrohre, die Eisenbahnen, die Dampfschiffe und die Luftschiffe. Eine eingehende Darstellung erfährt insbesondere die Entwicklung des Eisenbahnwesens. Im letzten der Vorträge werden die meistens zu entgegengesetzten Erscheinungen führenden Wirkungen der Verkehrsvervollkommnung dargestellt.
Das Eisenhüttenwesen erläutert in acht Vorträgen von Prof. Dr. H. Wedding. Mit 12 Figuren im Text. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Das Eisen ist das unentbehrlichste Metall, ohne dessen Gebrauch das gegenwärtige Leben gebildeter Völker nicht zu denken ist. Wie von jedem gebildeten Menschen erwartet werden darf, daß er weiß, auf welche Weise Brot hergestellt wird, so sollte auch von jedem eine wenigstens allgemeine Kenntnis der Vorgänge vorausgesetzt werden dürfen, vermittelst derer Eisen erzeugt und in seine Gebrauchsformen gebracht wird. Das ist der Gegenstand der Eisenhüttenkunde. In den vorliegenden acht Vorträgen wird das Eisenhüttenwesen in gemeinfaßlicher Weise von einem der bedeutendsten Fachmänner erörtert.
Die ständischen und sozialen Kämpfe in der römischen Republik. Von Leo Bloch. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Es giebt schwerlich einen gleich interessanten und gleich bedeutungsvollen Vorgang in der Weltgeschichte wie die Entwicklung der römischen Weltmacht. Die sozialen Erscheinungen, die inneren Kämpfe der Stände, unter denen sich die Entwicklung vollzieht und die in erster Linie agrarischen Charakter tragen, haben aber für uns heute besonderes Interesse, und so ist eine — von allem philologischen Detail absehende gemeinverständliche Darstellung dieser Kämpfe wohlberechtigt, wie sie das vorliegende Bändchen giebt.
Einführung in die Theorie und den Bau der neueren Wärmekraftmaschinen. Von Ingenieur Richard Vater. Mit zahlreichen Abbildungen. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Das Verständnis der immer wichtiger werdenden neueren Wärmekraftmaschinen, das heißt der Gas-, Petroleum- und Benzinmaschinen, will dies Bändchen einem weiteren Kreise zugänglich machen, sowohl dem Nichtfachmanne, wie demjenigen, der mit geringerer Vorbildung in engere oder losere Berührung mit den Maschinen gelangte, Interesse und Verständnis für die Sache erwecken. Der Zweck des Bändchens ist somit nicht ein rein technischer, sondern zugleich ein allgemein bildender. Nach einer Gegenüberstellung der älteren und neueren Wärmekraftmaschinen wird zunächst die Gasmaschine behandelt, dann die Petroleum- und Benzinmaschinen; zum Schlusse wird auf die neueste Wärmekraftmaschine, auf die Maschine von Diesel, etwas näher eingegangen.
Das Licht und die Farben. Sechs Vorträge, gehalten im Volkshochschulverein München. Von Professor Dr. L. Graetz. Mit 113 Abbildungen. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Die Vorträge gehen von den im Druck durch die Abbildungen ersetzten wichtigsten optischen Erscheinungen aus, aus denen sie die Gesetze des Lichtes herauszuziehen und dadurch, schrittweise vom Einfacheren zum Komplizierteren fortschreitend, immer tiefer in das Wesen des Lichtes einzudringen suchen. Ausgehend zunächst von den einfachsten Erscheinungen der scheinbar geradlinigen Ausbreitung, Zurückwerfung und Brechung des Lichtes wird dann das Wesen der Farben behandelt. Die Frage nach der Natur der Seifenblasenfarben leitet zur Einführung in die Wellennatur des Lichtes. Danach wendet sich die Darstellung der Photographie zu. Die letzte Vorlesung endlich macht die Einsichten in die Natur des Lichtes präziser, indem sie das Licht als eine spezielle elektrische Erscheinung anschließt an das große Gebiet der Elektrizität.
Der Bau des Weltalls. Von Prof. Dr. J. Scheiner. Mit zahlreichen Abbildungen. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Dieses Bändchen beabsichtigt, in allgemeinverständlicher Darstellung in das Hauptproblem der Astronomie, das auf lebhaftestes Interesse bei einem jeden Menschen rechnen darf, die Erkenntnis des Weltalls, einzuführen. Das erste Kapitel ist der Aufgabe gewidmet, den Leser an die wirklichen Verhältnisse von Raum und Zeit im Weltall zu gewöhnen, ihm hierüber eine klare Anschauung zu ermöglichen, die unbedingt zum Verständnis des Ganzen erforderlich ist. Das zweite Kapitel lehrt, wie das Weltall von der Erde aus erscheint; die drei folgenden Kapitel sind dem inneren Bau des Weltalls gewidmet, d. h. in ihnen ist die Struktur der selbständigen Himmelskörper mit Hilfe der Spektralanalyse auseinandergesetzt. Das letzte Kapitel giebt als Schlußstein eine Lösung der Frage über die äußere Konstitution der Fixsternwelt.
Die Metalle. Von Prof. Dr. K. Scheid. Reich illustriert. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Das Bändchen will, ohne daß irgend welche Kenntnisse der Chemie und Gesteinkunde vorausgesetzt werden, eine Erklärung geben, wie die Metalle in der Erde sich als Erze abgelagert haben mögen und wie die Erze sich in das reine Metall umwandeln lassen; wie die Metalle auf den Hüttenwerken dargestellt werden, ist unter Beigabe von Abbildungen erklärt. In den letzten Abschnitten werden sodann die Metalle hinsichtlich ihrer Eigenschaften verglichen und das Allgemeine über Darstellung und Verarbeitung zusammenfassend erklärt.
Meeresforschung und Meeresleben. Von Dr. Janson. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Gerade jetzt, zu einer Zeit, wo unser deutsches Volk seine Blicke weit hinaus in die Ferne richtet, erschien eine den Absichten der Sammlung entsprechend im engsten Rahmen gehaltene Zusammenfassung der hauptsächlichen Erfolge und der zunächst ins Auge genommenen Ziele der modernen systematischen Meeresuntersuchung. — Einer kurzen Darstellung der Entwicklungsgeschichte der modernen Meeresforschung und ihrer Ziele folgt eine Betrachtung der Verteilung von Wasser und Land auf der Erde, der Tiefen des Meeres, der Erhebungen seines Bodens und der ihn bedeckenden Ablagerungen. Daran schließt sich eine Behandlung der physikalischen und chemischen Verhältnisse des Meerwassers an. Den Schluß bildet eine kurze Beschreibung der wichtigsten Organismen des Meeres, der Pflanzen und Tiere, der Werkzeuge und Methoden ihres Fanges und ihrer Anpassungserscheinungen an die so eigenartigen Lebensverhältnisse der Ozeane.
Die moderne Heilwissenschaft. Wesen und Grenzen des ärztlichen Wissens. Von Dr. E. Biernacki. Deutsch von Dr. S. Ebel, Badearzt in Gräfenberg. Geh. M. 1.—, geschmackv. geb. M. 1.25.
Die Abhandlung bezweckt, in den Inhalt des ärztlichen Wissens und Könnens von einem allgemeineren Standpunkte aus einzuführen. Sie behandelt die geschichtliche Entwicklung der medizinischen Grundbegriffe, die Leistungsfähigkeit und die Fortschritte der modernen Heilkunst, die Beziehungen zwischen der Diagnose und der Behandlung der Krankheit, sowie die Grenzen der modernen Diagnostik in allgemein verständlicher Weise. Eine ausführliche Besprechung erfährt insbesondere auch das kulturgeschichtlich so interessante medizinische Sektenwesen (Homöopathie, Volksmedizin u. Naturheilkunde u. s. w.).
Das Zeitalter der Entdeckungen. Von Prof. Dr. S. Günther in München. Mit einer Weltkarte. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Wenig Zeitalter dürfen heute, wo kühne Forschungsreisen unsere Teilnahme und Bewunderung immer aufs neue erwecken, wir immer lebhafteren Anteil an der Nutzbarmachung neuer Entdeckungen nehmen, wohl in weiteren Kreisen auf so lebhaftes Interesse rechnen, wie das Entdeckungszeitalter. Von einer Übersicht über den geographischen Wissensstand des Altertums und Mittelalters ausgehend, behandelt der Verfasser dann das Entdeckungszeitalter im engeren Sinne, von dem Auftreten Heinrichs des Seefahrers, des ersten zielbewußten Organisators der Entdeckungsarbeit, bis zu den Bestrebungen der germanischen Völker, um Asien oder Amerika herum einen neuen Seeweg nach Indien zu finden; die Auffindung des Weges um das Kap der guten Hoffnung und die Begründung der portugiesischen Kolonialherrschaft in Asien, sodann die Fahrten des Columbus, die Erdumsegelung von Magalhaẽs, die Entdeckungen und Eroberungen der Spanier in Süd-, Mittel- und Nordamerika und endlich das Hervortreten der französischen, britischen und holländischen Seefahrer.
Schöpfungen der Ingenieurtechnik der Neuzeit. Von Bauinspektor Curt Merckel. Mit zahlr. Abbild. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Die „Schöpfungen der Ingenieurtechnik der Neuzeit“ dürfen heute auf ein weites Interesse rechnen. Das vorliegende Bändchen führt eine Reihe von hervorragenden Ingenieurbauten aus dem Gebiete des Verkehrs vor; die Gebirgsbahnen, die Bergbahnen, die transkaspische und transsibirische Eisenbahn, sowie die chinesischen Eisenbahnen gelangen zur Besprechung; die Vorläufer der Gebirgsbahnen, die bedeutenden Gebirgsstraßen der Schweiz und Tirols, anderseits die großen in Asien bereits entstandenen oder in der Ausführung begriffenen und projektierten Eisenbahnverbindungen werden eingehend geschildert, endlich in kurzen Zügen die modernen Kanal- und Hafenbauten mit den bereits zur Ausführung gekommenen Neuerungen oder den im Entwicklungsstadium befindlichen Umgestaltungen behandelt.
Die fünf Sinne des Menschen. Von Dr. Jos. Clem. Kreibig in Wien. Mit 29 Abbild. im Text. Geh. M. 1.—, geschmackvoll geb. M. 1.25.
Der Verfasser sucht die Fragen über die Bedeutung, Anzahl, Benennung und Leistungen der Sinne in gemeinfaßlicher Weise zu beantworten. Nach einer kurzen allgemeinen Charakteristik des einzelnen Sinnesgebietes bringt er zunächst das Organ und seine Funktionsweise, dann die als Reiz wirkenden äußeren Ursachen und zuletzt den Inhalt, die Stärke, das räumliche und zeitliche Merkmal der Empfindungen zur Besprechung. Am ausführlichsten behandelt er den Gehör- und Gesichtssinn, insbesondere die Gebiete der Töne und Farben. Überall verwertet er maßvoll und selbständig die neuesten Ergebnisse der Wissenschaft.
Weitere Bändchen befinden sich in Vorbereitung.