The Project Gutenberg eBook of Die Hochzeit der Esther Franzenius: Roman

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Title: Die Hochzeit der Esther Franzenius: Roman

Author: Toni Schwabe

Release date: October 8, 2021 [eBook #66491]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE HOCHZEIT DER ESTHER FRANZENIUS: ROMAN ***

Die Hochzeit
der Esther Franzenius

Roman
von
Toni Schwabe

A L

Albert Langen
Verlag für Litteratur und Kunst
München 1902


Erster Abschnitt

I

Auf dem Fluß hingen des Morgens Nebel, die sich in zarten Tönungen auch noch über die Uferwiesen hin erstreckten. In den Straßen sangen nach altem thüringer Brauch die »Kurrendeschüler« mit ihren schwarzen Chormäntelchen angethan. Sie zogen von Haus zu Haus, sangen mit Engelsstimmen und schimpften einander dazwischen, als die Gassenbuben die sie waren. Von den Bäumen plauzten schon die reifen Kastanien, zerbarsten und rollten schillernd über den Weg.

In wenig Tagen würde man auch das Schwimmbad schließen müssen, denn schon traute sich niemand mehr in das abgekühlte Wasser, ausgenommen Fräulein Esther Franzenius. Fräulein Esther aber würde gewiß nicht eher aufhören ihre sehr schlanken, kraftvollen Glieder gegen das Wasser zu spannen, bis ihr das erste Nachteis die Haut ritzte.

Esther Franzenius ging über die Wiesen, da steifte sich ihr der Wind entgegen und zerrte an ihren vom Wasser feuchtdunklen Haarsträhnen, die immer zu lang in das Gesicht fielen. Und sie bog ein wenig den Oberkörper zurück, und eine Tragkraft ging durch ihren ganzen Leib, als sei er ein feiner, stolzer Bau, den festgefügte Steine gen Himmel heben.

Dann ging sie durch die grauen Gassen mit dem Pflaster von Anno dazumal und zuletzt die kleine Anhöhe hinauf.

Ja, ganz versteckt lag das Haus, in dem Esther wohnte. Eine hohe, breitbuchtende Ligusterhecke umsperrte den Garten.

Maria kam über den Weg ihr entgegen. Maria war schön und strahlend – auch in ihrem Mißmut. Maria nahm alle Herzen hin, und selbst die Baumwürzelein freuten sich, wenn sie vom Kleidersaum der Allerschönsten gestreichelt wurden. Ja, Maria hatte ein gesegnetes Angesicht.

»Ist er noch nicht bei Dir?« frug Esther die Schwester.

»Oh, er wird schon kommen.«

Und da war er auch schon.

Erst gingen seine Augen zu der blonden Maria, wie das ganz natürlich war. Sie verfingen sich förmlich in ihren Blicken, sie ließen nicht los, so daß die Hände ungeleitet zu einander tasten mußten.

In Esther klang das wieder, was er fühlte in diesem Augenblick: Es mußte ihm sein, wie ein Ausruhen nach langem ermüdendem Steigen – ein Erlösungsgefühl – und Dank.

Immer wußte sie, was er empfinden würde bei all den kleinen, feinen Anlässen, in denen sich das Leben unter der Hülle der Geschehnisse abspielt. Sie besaß zu seiner die Schwesterseele – aber das wußte nur sie.

Sie erschrak förmlich, und ihr war, als hätte nun auch er ihre Gedanken begleitet, als er plötzlich die Hände seiner Braut losließ und sich nun zu ihr wandte.

»Sie sind vorhin immer vor mir hergegangen, Esther – ich habe Sie gesehen.«

Sie erschrak, weil sie seine Worte wie die Brücke zu tieferem Sinn nahm – aber dann fiel ihr ein, daß ja nur sie es war, die ihn erkannt hatte. Da tauchte auch wieder die Wirklichkeit an die Oberfläche.

»Jetzt ist Esther das Hausmütterchen, ja?« wandte sich nun Maria zu ihr. – Und sie gingen hinein in das Haus, und Esther trug Obst auf den Tisch und Wein, der aus einem feinen, hohen Krug gegossen wurde. Und alles ordnete sie Maria zu Händen. Und alles sah aus, als sei es nichts als ein Opfer, Marias Schönheit gebracht.

»Die ungleichen Schwestern,« sagte Lothar; dabei hingen aber seine Augen selbstvergessen nur an der, die er liebte.

Und Esther übersetzte in Gedanken seine Worte: Wir demütigen uns vor ihr. – Und sie lächelte zu der schönen Schwester hinüber.

Maria erzählte von einem Lied, das sie gestern niedergeschrieben hatte. Sie dichtete in Tönen und Worten. Das stimmte auch zu ihrer Persönlichkeit. Esther und Lothar aber übten nur die schweigsame Kunst der Malerei, die sich im Bewundern und genießendem Verstehen bescheidet.

Dann setzte sich Maria an das Klavier und gab zu einer einfachen Melodie ihr Lied, das sie nur mit ganz leiser, halb sprechender Stimme sang:

»Legt Narzissen auf mein Grab,
Ich habe mich zu viel gesehnt –
Schwarze Tujazweige drüber,
Weil mir keiner Liebe gab.
Rote Rosen streut zu Füßen,
Die bedeuten meine Träume,
Und zu Häupten eine Lilie,
Daß mich eure Engel grüßen –
Und dann laßt mich dem Vergessen.«

Es klang so weich und rührend, wie die schöne Maria mit ihrer zu schwachen Stimme sang. Man vergaß darüber, daß sie die schöne Maria war, der ja alle Liebe stets zu Füßen lag, die nie eine vergebliche Sehnsucht gekannt hatte. Und das Herz that sich auf in Zärtlichkeit für diesen melancholischen Liebreiz.

Esther verstand nicht mehr. Ein häßlicher Gedanke drängte sich ihr auf. »Tändeln mit dem Schmerz,« dachte sie.

Sie sah hinüber zu Lothar. Der saß in die stumme Anbetung versunken, die man dem Leid eines geliebten Menschen weiht. Da stieg eine gegenstandslose Scham in ihr auf.

»Aber die Dichter lügen zu viel!« – Hatte sie selbst denn dieses spottsüchtige Citat gesprochen?

Lothar sah sie mit ganz erstauntem Mißfallen an. Und Maria – die arme, schöne Maria machte so hilflose Kinderaugen. – – –

Als Lothar dann fortging, sprach er. Er traf mit Esther im Hausflur zusammen, denn er war zuletzt allein mit Maria gewesen, und sagte: »Warum haben Sie ihr das angethan? Man darf ihr nicht wehe thun – Sie gehört zu den Menschen, denen man nicht weh thun darf.«

Und Esther senkte den Kopf. »Ich weiß es. Ich weiß es wohl.«


Zuweilen kam eine Sehnsucht nach starken, heißen Farben über sie. Am Berg standen Ebereschen. Dort war es am schönsten, wenn die brennroten Beeren durch den Nebel schimmerten. Das gab ein Gefühl der Abgeschlossenheit mit dieser einzigen Farbe.

Immer wieder mußte sie dorthin gehen wie zu einem Geheimnis. Sie lächelte über sich selbst.

Ihr Weg führte an vielen Wachholdersträuchen vorüber, die sich wie sagenhafte Linien entfernter Pyramiden abhoben. Und über Felsgeröll mußte sie klettern, bis endlich das Plateau mit den Ebereschen erreicht war.

Die roten Beeren aus dem Nebel leuchtend – mit der grellen Deutlichkeit einer verzückten Vision – – – –

Ein unbeschreiblicher, verschwiegener Genuß.

Zuweilen bettete der Nebel die Luft so dicht ein, daß sie unbeweglich lag – Dann war das Gefühl jener köstlichen Gemeinsamkeit am stärksten. – –

Anders war es in den klaren Tagen. Da lag alles wie ein Spiegel stiller und weiter Gedanken.

Das war eine gute und fruchtbare Einsamkeit, die auch oft zum Mitleben in andern, wesensfremden Naturen lockte.

Da war die Freundschaft mit Lydia.

Lydia besaß einen langen Hals und eine kränkliche Stimme. Und sie gehörte zu den Ausgestoßenen.

»Du mußt mir erzählen wie es dort ist, wo du jetzt bist,« sagte Esther.

Lydia errötete und schob das Kinn über den schwankenden Hals hinaus. »O, es gefällt mir ganz gut.«

»Du wünschest dir nichts anderes?«

»Nein.«

»Sind auch die Leute gut zu dir?«

»Was denn? Sie gehen mich nichts an. Ich will nichts von ihnen – sie wollen nichts von mir, als daß ich ihren Kindern Stunden gebe. Warum sollten sie gut zu mir sein?«

»Wolltest du nie jemanden, den du liebst, und der dich lieb hat, Lydia?«

»Ich habe ja dich. Ich möchte niemand sonst.«

»Möchtest du keinen Mann, wie die andern Mädchen?«

Da kam eine plötzliche Energie in die Haltung des blassen Mädchens, und sie richtete ihre, sehr schönen, ausdrucksvollen Augen auf Esther: »Wer auch zu mir käme, ich wollte niemand als dich. Du bist gut zu mir gewesen wie sonst kein Mensch. Und ich habe alles von dir bekommen – alles!«

Esther dachte: Ich habe ja so wenig zu geben – es ist alles so fest in mich eingewachsen, daß nicht Wort und nicht Gebärde es lösen könnte. – Ich gehöre ja zu denen, die schweigen müssen. Weshalb glaubt sie nur an mich? – Und sie sagte: »Wenn du nur nicht einmal siehst, daß ich dir nicht genüge.«

»Ich will nichts von dir. Ich will dich nur lieb haben dürfen,« sagte die andre.

Und sie saßen nieder an einer Hügelböschung. Vor ihnen lief der Fluß, und das Wasser war so blank wie Glas. Drüben am andern Ufer wurde Heu gemacht. Das Uferschilf rasselte manchmal in die Stille hinein, wie ein wohlbewaffnetes Heer, das unversehens aus seinem Versteck brechen will. –

Ganz plötzlich kam ihr der Wunsch wohlzuthun. Sie nahm die Hand des häßlichen Mädchens und küßte sie.


Später, zum Frühling hin, geschah es.

Da war Esther einmal im Nebenzimmer, wie Maria und Lothar in der Dämmerung zusammensaßen. – Ja, es war in der Dämmerung, wo sich die Seelen näher kommen, wo jenseits alles Fremden und Irreleitenden ein Ich zum andern findet.

Esther hörte es.

Sie hörte ihre freien, glücklichen Zärtlichkeiten und ihre Worte der Zusammengehörigkeit.

Da streifte Maria das leichte Gewand der Melancholie herunter, und sie zeigte sich ihm, wie sie im Grunde war: die Glückspendende – die Priesterin der Seligkeit.

Sein Herzschlag mußte sich jetzt mit ihrem einen – –

Wie denn? – Er lachte – denn er konnte mit all seiner Schwermut und Herbe versinken in ihrem leichten Glückswagemut.

Esther fühlte ihm nach –

Nein, sie fühlte ihm nicht mehr nach! Zum erstenmal löste sich ihre Persönlichkeit von seiner, nicht um zurückzutreten, sondern sie stellte sich ihm entgegen. Sie fühlte, wie es sein müßte, wenn er zu ihr, zu Esther gefunden hätte. So ganz anders wäre das gewesen: Schwer und mit Thränen müßten sie zusammenkommen – und es würde sein wie ein tiefes Leid. – Und sie würden ringen aneinander, weil keiner zum andern fände – weil sie zu ähnlich waren und keiner den andern auslösen könnte. –

Und drüben hörte sie seine entzückte Stimme. – »Maria Liebe – Liebste du –«

Da war ihr, als müßte sie das Gesicht verbergen. Und sie lief hinaus in ihre Kammer. Und sie konnte nicht weinen – und saß auf ihrem Bett und starrte in das Dunkel. – Ja, sie sah das Dunkel von Angesicht zu Angesicht, wie es ihr schweigend entgegenblickte.

Und da fand sie einen neuen Willen.

II

Esther wollte sich Neuland erobern.

Doch es wurde Frühling und Sommer, bis sie ihren Plan ausführte. Sie hing so stark an der Heimatserde. Und sie dachte an die süße Hilflosigkeit Marias, und auch die praktische Abhängigkeit des Vaters, der als Gelehrter jeder Änderung seiner Gewohnheiten angstvoll, ratlos gegenüberstand, fiel ihr aufs Herz.

Aber ihrer Familie gegenüber fand sich Ersatz für ihre Abwesenheit.

Lydia kam in ihrer bescheidenen Selbstverständlichkeit. Lydia zog ein in Esthers Zimmer, und es war, als hätte sie nie einen andern Wunsch gehabt, als nun Hintergrund für Marias Schönheit zu sein.

Am letzten Abend ging Esther mit Lydia durch den Garten. – Sie strich ganz heimlich mit der Hand über die Zweige der Büsche und sah das Bild ihrer einstigen Heimkehr. Sie sah sich wiederkommen – getrieben vom Heimweh nach alten Schmerzen – und wollte doch davon nichts wissen, denn sie ging ja in das neue Leben, um zu überwinden.

»So schwer wird mir das Fortgehen,« sagte sie müde.

Und Lydia darauf: »Ich weiß, du läßt deine Jugend zurück.« – – – –

Den ganzen andern Tag hörte sie in sich dieses Wort nachklingen, stieß es zurück, holte es mit einer seltsamen heimlichen Lust an seinem Klang wieder hervor und verläugnete es um so heftiger.

Sie reiste ganz nach dem Norden von Dänemark. Die Fahrt von Hamburg nach der kleinen Küstenstadt machte sie in der Nacht.

Sie konnte nicht zum Schlafen kommen, saß die ganze Nacht über am geöffneten Fenster und spürte den tragischen Reiz der hellen nordischen Sommernacht.

Lange, lange Wiesen mit dem weidenden Vieh, das jetzt zum Schlafen hingestreckt lag, aber gleich darauf vom Lärm des Zuges geschreckt in die dämmernde Ebene hineingaloppierte.

Und am Himmel wechselte ein leuchtendes Farbenspiel. Dort glühten die sehnsüchtigen Wünsche über der verhaltenen Resignation der Ebene.

Nach Mitternacht wehte Seeluft herüber. Und dann lag im Morgennebel der bläuliche Fjord mit seinen verträumten grünen Ufern.

Weiter noch gen Norden blühte die Heide, wie in einem weiten, jubelnden Ton des Erwachens.

Nun kamen die kleinen Ortschaften, alle durch eine hohe grüne Baumhecke gegen die Windseite geschützt, zuweilen aus ihrer Mitte den kahlen und nüchternen Bau einer Missionskirche förmlich ausstoßend. – Und einzelne Bauernhöfe lagen am Weg mit den tiefgedachten Häusern, die sich ganz niederkauern im üppigen Grün ihrer Gärten, die in Wohllustschlaf versunken scheinen ob all dem Blühegeruch ringsum.

Endlich, gegen Mittag kam das Reiseziel.

Vor dem Bahnhof waren grüne Anlagen, in die man beim Einfahren hineinsah. Und ganz plötzlich kam bei diesem Anblick die wunderliche Vorstellung einer Heimkehr über Esther. Sie fühlte einen Augenblick lang diese Ankunft im fremden Land wie eine Wiederkehr zu alt vertrauter Umgebung. Ja, sie glaubte sogar die Wege schon zu kennen, die hinter den verdeckenden Bäumen in die Stadt hineinführen mußten.

Sie stieg aus und wurde von fremden Menschen empfangen, und ging doch lange noch wie von einem Traum verwirrt.


Esther verstand reichlich wenig von der Tischunterhaltung, obschon ihre Mutter eine Dänin gewesen und früher zuweilen mit den Kindern in ihrer Muttersprache geredet hatte. – Es war so ein großer lärmender Kreis, und es lag wie Kinderlust über den Menschen, eine Atmosphäre der Harmlosigkeit und leichtesten Lebensfreude, die Esther nicht sogleich aufzufassen vermochte. Doch das alles kam ihrem Herzen nahe.

Da gab es noch fünf Gäste außer ihr, und sie alle waren mit einer schier unglaublichen Eß- und Lachlust angethan.

Neben Esther saß Louise, die Tochter des Hauses. Sie hatte einen feinen, leicht vorgebeugten Nacken und eine liebliche Art, sich zu bewegen. – Esther sah immer wieder zu ihr hin, und dann war es, als ob eine ganz leise Melodie zwischen ihnen anhebe – durch all den frohen Lärm hindurch eine ganz heimliche, einsame Melodie der Harmonie. – – – –

Esther wachte auf und hörte Musik.

Es war ganz ruhig im Haus und schon dämmerig. Sie erinnerte sich, nach Tisch auf ihrem Bett eingeschlafen zu sein.

Ein feiner, klagender Singsang erfüllte die Stille, und sie besann sich vergeblich, von welchem Instrument der wohl herrühren mochte.

Dann ging sie den Klängen nach: durch den dämmerigen Hausflur, eine Treppe hinauf und zu einer angelehnten Thür hinein. Da stand sie nun in einem Zimmer voll altväterischer Möbel, zwischen denen ein Spinett, an dem Louise saß und spielte.

Es war, als lägen die Erlebnisse weiter Vergangenheiten in diesem Raum, und wer auch zu den Fenstern hinaus auf das Meer sah, bekam ganz unwillkürlich den Blick gereifter Erfahrung in die Augen. –

Luise brach plötzlich und scheu ihr Spiel ab, wie sie Esther kommen hörte.

Sie sagte: »Oh, ich glaubte mich allein im Haus,« und strich mit einer verlegenen Bewegung über die Tasten, gleich als hätte sie einen entblößten Körper zu verdecken.

»Und wolltest du nicht spielen, wenn jemand es hörte?«

»Doch – ja – nur zuweilen darf niemand zuhören.«

Esther antwortete nicht. Sie setzte sich an das Fenster, von dem aus man so weit über das Meer sehen konnte, daß es den Leuten einen gereiften Blick gab. Sie sagte erst nach einer Weile: »Was für ein Lied hast du gespielt – wenn du mir das sagen magst –?«

»Ein ganz altes Volkslied ist es – das Lied vom ›Herre Peder‹ und der Helelide.«

»Willst du mir sagen, wie es geht?«

Luise gab leise die Melodie in den zitternden Tönen des Spinetts an und sprach dazu:

»Junkherr Peder warf Runen über den Pfad,
Den Helelidens Fuß betrat.
Dann lichtet' er sein Anker,
Er hatte guten Wind,
Und segelte von Dänemark
Und seinen Frauen lind. –
Holde Worte
Erfreuen die Herzen,
Holde Worte
Verschulden die Schmerzen –
Holde Worte!
 
Helelide ging am Strande harrend,
In die tiefen, salzen Wasser starrend.
Dann lichtet' sie ihr Anker,
Sie hatte guten Wind,
Und segelte von Dänemark
Mit ihren Frauen lind.
Holde Worte
Haben mich tief bethört,
Holde Worte
Haben mein Herz versehrt –
Holde Worte!
 
Da rief der Wächter, als das Schiff in Sicht:
›Uns bringt der Wind das Sonnenlicht!‹
D'rauf hat der Junkherr Peder
Vor Freuden schier gelacht,
Als Helelide Ehre
Und Treue ihm gebracht.
Holde Worte
Bringen viele Freuden,
Holde Worte
Schaffen manche Leiden –
Holde Worte.«

Luise stand auf und trat zu Esther ans Fenster. – Esther fragte: »Waren die Runen Liebesworte, die Junkherr Peder zu Helelide sprach?«

Und Luise: »Ich weiß es nicht. Aber ich meine, wir hören zuweilen einen Menschen etwas sagen, das kaum für uns berechnet war, das gewiß in keiner persönlichen Absicht zu uns gesprochen wurde, und doch kommt es zu uns, ja es – ›verführt‹ uns.«

Esther mochte nicht Louise ansehen. Sie neigte nur den Kopf und sah wie bisher weit hinaus auf das Meer. Und ganz da draußen, dort wo die Unendlichkeit beginnt, konnten sich vielleicht ihre Blicke begegnen. Und vielleicht wurde dort das Schweigen gebrochen, das sich hier jetzt über sie legte.


Am andern Tag wurde ein Ausflug nach einem benachbarten Gutshof gemacht.

Man ging die braun-violetten Heidehügel bergan und bergab. Der Wind strich in unausgesetztem, immer gleich starkem Zug über das Land, so daß es klang wie der thränenlose Jammer des Wahnsinns.

Stärker wurden die Stimmen und klang voller in der kräftigen Luft. Auch gab der weite Horizont dem Blick eine stolze Kühnheit.

Am Gipfel des »Himmelsberges«, ein Hügel, der die andern Buchtungen um weniges überragte, lagerte man sich.

Frau Olga Bergsö, die immer Lebensvolle, versammelte ihr kleines Heer um sich. Da lag sie halb aufgerichtet an einen hohen Merkstein gelehnt, mit ihrem seltsamen Dreimaster einem Feldherrn gleichend. Feine, energische Linien begrenzten ihr Profil wie einen Schattenriß am weißlich hellen Himmel.

Ihr zur Seite rangen Julie und Alexandra, die beiden Sechzehnjährigen, im liebevollsten Zweikampf miteinander in den weichen Büscheln des Heidekrautes.

Herr Bergsö ging mit der vierzehnjährigen Tule Arm in Arm, denn sie waren sehr gute Freunde.

Hinter Frau Olga jedoch kauerte die zarte, stets von Bewunderung erfüllte Fräulein Missus. Sie war Olgas Lehrerin gewesen und besuchte diese nun in jedem Sommer, um ganz im Innern ihrer kleinen zerknirschten Gouvernantenseele wahre Orgien der Bewunderung für ihre frühere Schülerin zu feiern. Alexandra erzählte in Bezug auf sie die sehr seltsame Geschichte, daß sie, Alexandra, einmal zu noch morgendlicher Stunde am Fenster von Fräulein Missus' Stube vorbeigegangen sei. Zu ihrem großen Entsetzen hätte aber auf dem Kopfkissen des Fräuleins, statt deren wohlfrisiertem Haupt, nur ein großes, nacktes, gelbliches Ei gelegen. – Diese denkwürdige Historie reizte fortan die jüngeren Bewohner des Hauses Bergsö zu morgendlichen Spaziergängen vor den nunmehr hoffnungslos verhängten Fenstern des armen Fräuleins. –

»Für jeden sind zwei ›Boller‹ mitgebracht und Brot so viel ihr wollt,« erklärte Olga ihren Gästen.

Und die Gäste griffen gehorsam zu, um sich ihr Anrecht auf die beiden zudiktierten Boller zu sichern. – –

Nun gab es nur noch einen kurzen Weg, und ganz unvermutet sah man »Eriksgaard« in einer kleinen Senkung liegen.

Man trat aus der wehenden Haide ganz unversehens in das Schweigen eines sommerlichen Blumengartens ein. Hohe, grüne Mauern ließen hier den Wind verstummen. Und mitten auf dem Rasenplatz wiegte sich in üppigster Schönheit eine große rote Rose. – »Sie heißt Camille de Rohan,« sagte Herr Adam Rude zu seinen Gästen.

In dem weiten, steifmöblierten Saal des Hauses hatte Eliza Rude den Tisch gedeckt und die übliche Chokolade aufgetragen.

»Eliza ist meine kleine Hausmutter,« sagte der alte Rude. Und das schlanke Kind mit den etwas zu weit auseinanderliegenden breiten Augen und dem keuschen Madonnenkinn lächelte in beginnender Koketterie. Sie nahm die Art einer Dame an und bat die Gäste würdevoll, einzutreten.

Für »das deutsche Fräulein« hatte Eliza eine große und plötzliche Liebe gefaßt. Jene auf unfehlbarem Instinkt beruhende Leidenschaft der Seele, wie sie heranwachsende Menschen oft zu Personen des eigenen Geschlechtes überkommt. Ein Gefühl, das weder unter dem Begriff »Liebe« noch »Freundschaft« steht, vielmehr eine unendlich verfeinerte Essenz dieser beiden Empfindungen darstellt. Man könnte denken, es sei eben nur ein Vorrecht der ganz reinen Seelen, weil die vernünftigen und gereiften Menschen nur mit dem vernünftigen und gereiften Spott darauf herabzulächeln pflegen, den sie für alle hohen, der baren Nutzbarkeit entfremdeten Dinge bereit halten. –

Eliza saß neben Esther und strich ihr heimlich unterm Tisch über die Hände. Sie war von Ungeduld erfüllt, die andere möge sich mit tieferen und innerlichen Worten ihr nähern, und wartete nur auf das erlösende bedeutsame Wort. – Und sie quälte Esther mit wunderlichen Fragen und Forderungen.

Endlich sagte sie noch: »Wie reden bei Ihnen die Leute, die sich lieb haben? Giebt es ein Lied, das von ihrer Liebe erzählt? Sagen Sie mir eins, das Sie selbst leiden mögen.«

Esther fiel ein altes kleines Liedchen ein, und sie sprach es lächelnd:

»Ich bin dein,
Und du bist mein –
Des sollst du gewisse sein.
Du bist geschlossen in mein Herze ein,
Verloren ist das Schlüsselein,
Drum mußt du ewig drinnen sein.«

Eliza ließ es sich zweimal sagen und Worte, die sie nicht verstand, übersetzen. Dann meinte sie nachdenklich: »Es ist ein schönes Lied. Ich werde es mir für Sie merken, Fräulein Esther.«

Und dann: »Kommen Sie ein wenig mit mir, wo die andern nicht sind. Ich möchte einmal mit Ihnen allein gewesen sein.«

Esther folgte ihr mit einem ernsten Lächeln. Sie stand noch nicht der Kindheit fern.

So saßen sie in einer Lindenlaube und sahen durch das grüne Licht hinaus in den Garten, wo sich Camille de Rohan einsam in selbstbewußter Schönheit vor der Sonne neigte.

»Dem Vater haben Sie auch gefallen,« fing das Kind wieder an. »Ich kann es an seinen Augen sehen, wenn ihm jemand gefällt. Hat er nicht schöne Augen, mein Vater? Und ist er nicht ein schöner Mann?«

Esther sagte: »Ja, er ist ein schöner alter Herr.«

»Und meinen Bruder Arne sollten Sie sehen! Er ist jetzt nicht hier. In Kopenhagen ist er. – Schriftsteller!« Das letzte Wort sprach sie mit nachlässig verstecktem Stolz. – »Aber wenn Sie ihn sehen würden – er ist der schönste junge Mann, den ich kenne!«

»Wie alt bist du eigentlich?« fragte Esther.

»Im September ist mein sechzehnter Geburtstag.«

Esther war erstaunt, sie hatte Eliza für jünger gehalten. Aber gleich darauf begriff sie. – »Ah, du wirst also fünfzehn, wenn dein sechzehnter Geburtstag ist?«

»Nein, nein! – Ja, es ist schon so, aber Sie müssen nicht immer alles gleich entdecken!« Eliza war sehr indigniert und auf einmal eine zürnende junge Dame geworden. Aber gleich darauf erklärte sie – wieder Kind –: »Ich wollte ja nur nicht so viel jünger sein als Sie – ich dachte, daß man sich um jüngere Kinder weniger kümmert. Aber wenn Sie mich auch so ein wenig gern haben, ist schon alles gut – – –«

»Ja; ich habe dich ›auch so‹ gern!« –

Drüben, im Sonnenlicht schaukelte Camille de Rohan. – – – – –

»In nächster Zeit wollen wir Ihnen einen Besuch wegnehmen, Frau Bergsö,« sagte Herr Rude, als die Gäste sich verabschiedeten. Und Eliza drückte Esther bedeutungsvoll die Hand, denn es war zwischen ihnen schon ausgemacht, daß Esther den »sechzehnten Geburtstag« mit auf Eriksgaard feiern sollte.

III

Das war zu Ende des August, als Esther nach Eriksgaard kam.

Sie wollte den Weg allein gehen. Eine plötzliche und starke Sehnsucht nach Einsamkeit drängte sie dazu. Denn schon lag alles Frohe und Leichte ihrer Umgebung wie am andern Ufer. Und es war wie ein zögerndes Umwenden und Zurückgrüßen, als sie das Haus am Meer verließ.

Sie ging über die weiche, nun schon verblühende Heide wie über das zottige Fell jener Märchenungetüme, die vor verwunschenen Schlössern liegen. Sie sah am Himmelsrand in grauer Wolkenferne die Erdriesen kämpfen, und sie vernahm die Seufzer unstillbarer Sehnsucht aus dem Reich der Unterirdischen.

Ja, alle Dinge sprachen zu ihr. Aber sie ging mit den stillen Augen des Lauschenden, und in ihr erstand eine zarte und weltfremde Liebe – eben zur Welt. – – – – –

Da lag Eriksgaard. Und Eliza kam mit ihrem keuschen, erwartungsvollen Lächeln ihr entgegen.

»Du kommst allein über die Heide, Esther? Jeden Tag habe ich auf dich gewartet! Jeden Tag bin ich dir entgegengegangen.« – Sie bemerkte gar nicht, daß sie plötzlich das Du brauchte.

Dann faßte sie Esther bei der Hand, und sie traten ein in das Haus. In die Thür war ein Herz geschnitten, man konnte dadurch in das Innere des Hauses blicken, aber man sah nur das Dämmern des dunkleren Raumes, weil man im hellen Tageslicht stand. – Esther dachte: ein Herz ist in die Thür geschnitten – – – –

»Vater! da ist sie!« rief Eliza.

Adam Rude kam aus einem halbdunklen Zimmer und begrüßte den Gast. Seine Augen waren wie im Traum gewesen.

»Dort hängt das Bild meiner Mutter,« sagte Eliza später. »Er geht zuweilen hin und ist mit ihr allein.« Sie sprach wie von einer lebenden Person von dem Bild der Toten.

»Wie war deine Mutter?«

»O – zart und fein. Nicht sonderlich schön, aber voll Anmut. Und sie war gut gegen ›Gerechte und Ungerechte‹. Ich entsinne mich, wie unser Haus eben gebaut war, kam ein Bettelweib – eine alte Frau, die oft betrunken war. Die hat meine Mutter nun überall herumgeführt und ihr alles gezeigt und sprach mit ihr, wie mit einer guten Bekannten. Dann hat sie ihr auch etwas gegeben – wohl nicht viel, denn die Eltern waren nicht reich damals und meine Mutter ängstlich und sparsam. Aber ich habe die Frau dann fortgehen sehen – mit einem so glücklichen Gesicht.«

Eliza hatte eine seltsame frühreife Art zu sprechen. Die Art sehr gewissenhafter und beobachtender Menschen: es war wie eine plastische Nachgestaltung der Geschehnisse. – Sie dachte ein wenig, wobei sie ganz unerwartet ihrem Vater ähnlich wurde und sprach fort: »Ja – und dann erzählte Mutter uns aus der Geschichte. Aber alles, was schrecklich und traurig darin war, verschwieg sie uns. Ich weiß gar nicht, wie sie das möglich machte, aber wir erfuhren nichts über Tod und Entsetzen. So, daß wir es dann später gar nicht verstehen konnten, als sie uns starb. Wir hatten einfach den Schmerz nicht begreifen gelernt.«

»Du und dein Bruder?«

»Nein, der war schon von Hause fort. Ich und eine Schwester, die jetzt tot ist. Sie war zarter als ich und hat nie das Entbehren lernen können – obschon wir nicht sehr traurig waren, als Mutter starb.«

Über Elizas Hände ging die letzte Sonne. Es waren überzarte Hände. Esther dachte: sie haben einen Zug der Unwirklichkeit.

»Du verstehst alles so sehr,« sagte sie zu dem Kind und strich ihr über die Hände. Ja, es lag über diesen Händen wie die Ahnung von künftigem Leid.

Da ließ das Mädchen mit einer sonderbar hilflosen Bewegung den Kopf auf Esthers Schulter sinken und weinte. –

Sie weinte immer mehr und sagte dazwischen: »ich weiß gar nicht, warum es ist – ich verstehe mich gar nicht.« – Und Esther zog sie zu sich heran. Sie fühlte die Wärme ihres Körpers zu der andern übergehen wie im instinktiven Beschützenwollen erwachender Mütterlichkeit und spürte, daß Eliza ruhig wurde und auf ihren Herzschlag hörte.

Doch da geschah etwas ganz Seltsames: Esther erhob die Augen von dem Kind, das da an ihrer Brust weinte und sah plötzlich in ein Gesicht, das mit dem Ausdruck verzehrender Sehnsucht zu ihr gewandt war. Sie sah ratlos zur Seite und dann wieder hin – aber da stand im beschatteten Rahmen der Thür Adam Rude mit seinem gewohnten verschlossenen Gesichtsausdruck. Er nahm sich in der Dämmerung aus wie ein alter Van Dyck. Langsam kam er jetzt auf die beiden Mädchen zu und strich seiner Tochter über das Haar. Dabei sah er mit einem verlorenen Blick zum Fenster hinaus und sagte: »Kind – Kind.« – Und wieder: »Kind, Kind!«

Dann wandte er sich schwerfällig und verließ das Zimmer. – –

Zwischen den beiden Mädchen blieb es jetzt still. Draußen ging die Dämmerung und verhüllte das Land. Und an dem dichtgrünen Schutzzaun nagte der Wind, vergebens mit seinem leisen, gierigen Stöhnen Einlaß suchend. – Über die Menschen kam ein Gefühl der Geborgenheit.


Esther war schon einige Wochen auf Eriksgaard und fühlte sich mehr und mehr mit der seltsamen Eintönigkeit des Hauses und seiner Bewohner verwachsen.

Sie gewöhnte sich an Adam Rudes absonderliche Art, durch das Haus zu irren und zerstreute Worte zu stammeln. – Sie wurde vertraut mit dem überreifen, so oft das Unwirkliche streifenden Wesen Elizas.

Und in dieser traumhaften Umgebung versank ihre Kraft fast unmerklich aber stetig im erschlaffenden Nachgeben.

Seltsame heiße Bilder, die nur ganz entfernt die Wirklichkeit berührten, kamen zu ihr. Die unterdrückte Sehnsucht nach dem einen geliebten Menschen lebte sich in ziel- und gestaltlosen mystischen Phantasien aus. –

Und dann gab es eine Nacht, in der sie nach schlaflosem Hindämmern ganz plötzlich in ihrem Bett kniete – den Kopf vornübergebeugt und die Hände verschränkt – und immer liefen Thränen vor ihr nieder. Und sie warf den Kopf zurück und senkte ihn wieder und wollte – beten? – –

Und immer liefen Thränen vor ihr nieder.

Aber es gab kein Wort und keinen Gott – nur allertiefste Verlassenheit war um sie.

Und das Zeitgefühl schwand, und der Körper wurde wesenlos. Es war wie der Tod im Leben. –

Und dann fand sie sich wieder: mit zurückgeworfenem Kopf und schlaff herabhängenden Armen – schon lange thränenlos. Die Glieder waren ihr ganz kalt und taub geworden und gingen schwer zu bewegen. Und sie fand sich allmählich wieder ganz zurück in die Wirklichkeit und legte sich ruhig nieder – ja ganz ruhig und – gebrochen.

IV

Esther saß im Gartenzimmer und malte. Sie war allein im Haus geblieben, während Eliza mit ihrem Vater hinüber zu den Pächtersleuten ging, die den vom Wohnhaus ziemlich entfernt gelegenen Gutshof verwalteten.

Über der stillen, weiten Stube lag etwas Festliches. Vielleicht war es nur der Sonnenschein und die Einsamkeit.

Esther legte Pinsel und Palette nieder und betrachtete die Leinwand vor sich. Sie hatte ein Phantasiestück zu malen begonnen, das wenig Zeichnung und recht viel Farbenreiz enthielt. Es war nichts als Heide und Himmel: ein rechtes Motiv für Gedanken der Schwermut und Leidenschaft. – – –

Esther errötete plötzlich und schob das Bild zur Seite. Sie stand auf und trat hinüber in den Sonnenschein. Sie streckte die Hände aus und fühlte darauf die prickelnde Wärme. Da beugte sie auch den Kopf, denn höher oben lag Schatten, bis sie im vollen Lichte stand.

Die Einsamkeit machte es, daß sie auf ihr Atmen zu horchen begann – und dann plötzlich fing sie an zu singen.

Sie schloß die Augen vor dem Licht und ließ es über sich gleiten – und sang dazu eine Melodie, die sie irgendwann einmal gehört hatte, von der die Worte längst vergessen waren.

Da hörte sie die Hausthür gehen und war still. Sie setzte sich wieder zu ihrer Malerei, doch in ihr blieb eine leise, festliche Freudigkeit zurück.

Und dann stand dort, wo sie eben noch gewesen war, ein anderer drüben im Sonnenschein.

»Ich bin Arne Rude,« sagte er und verbeugte sich mit einem harmlosen kleinen Gut-Jungen-Lächeln.

Esther war ein wenig verwirrt. »Herr Rude und Eliza sind ausgegangen,« sagte sie.

»Sie werden wiederkommen,« meinte Arne in zuversichtlichem Ton. Und dann mußten sie beide lachen über den allzugroßen Geistesaufwand seiner Antwort.

»Darf ich mich so lange ein bischen zu Ihnen setzen, Fräulein – Esther? – Sie müssen nämlich wissen, daß man mir immer nur von ›Esther‹ schreibt, so daß ich gar nicht zweifeln kann, nun ›Esther‹ vor mir zu sehen –«

»Ja, ich bin ›Esther‹,« sagte sie freundlich. Dabei sah sie zufällig nieder und auf die langen, sehr modischen Schuhe des jungen Mannes. Sie mißfielen ihr ein wenig, und deshalb stieg ihr Blick an der ganzen elegant umschneiderten Person empor, bis sie an diesem gutmütig lächelnden, hübschen Jünglingsgesicht haften blieben, das recht wenig mit der leichten Geziertheit der Kleidung in Einklang stand.

»Und das Ganze ist also ein ›Dichter‹,« zog sie für sich das Resumée ihrer Betrachtungen.

Arne ließ sich im Bewußtsein seiner Vorzüge beruhigt mustern. Dabei stand der Ausdruck des innigsten Wohlgefallens sowohl an sich selbst, wie an der jungen und schönen Dame auf seinem Gesicht.

»Sie haben gemalt?« fragte er dann und wollte sich dem Bild nähern.

Esther schob es aber wie achtlos zur Seite. Um keinen Preis sollte er es sehen! – Sie war selbst ganz erstaunt über die Heftigkeit dieses inneren Widerstrebens.

Um abzulenken richtete sie rasch eine Frage an ihn: »Sie kommen direkt von Kopenhagen?«

»Ja; ich pflege immer meine Familie recht unversehens zu überfallen. – Sie wissen, wir Leute der Feder sind gewöhnlich ein Stück bohémien. Mir besonders sind lange Vorbereitungen entsetzlich. Leute, die sich den einen Tag überlegen, was sie an den sechs andern essen wollen, sind mir noch gruseliger, als Papierkragen und wollene Hemden – Sie verzeihen!«

»O, ich habe nichts zu verzeihen, ich trage ja keine,« erklärte Esther, die von seiner knabenhaften Lustigkeit angesteckt wurde, was über ihre sonst zu herbe Erscheinung eine ungewöhnliche Anmut brachte.

»Wollen Sie nicht lieber den andern entgegengehen?« fragte sie bald darauf.

»Ah – Sie schicken mich fort?«

»Nicht doch – ich dachte nur –«

»Ach, wenn Sie nur das nicht dachten, dann mögen Sie vielleicht auch Eliza entgegengehen – und ich darf Sie begleiten?«

»Nein,« sagte Esther. Und dann, um die Schroffheit der Antwort zu mildern: »Nein, ich muß noch eine Kleinigkeit fertig malen, sonst trocknen die Farben ein.«

Arne ging also allein. –

Esther war plötzlich verstimmt.

Weshalb hatte sie diese kleine dumme Höflichkeitslüge gesagt?

Da kam ein fremder großer Junge in Lackschuhen, mit dem redete sie allerhand alberne intime Sachen, und zuletzt glaubte sie noch eine kleine Zurückweisung mit einer Höflichkeitslüge umkleiden zu müssen.

Sie packte die Malgeräte zusammen, trug sie hinauf in ihr Zimmer und stellte die Leinwand zum Trocknen auf. Dann sah sie mit mancherlei kleinen, zerstreuten Gedanken hinaus in den Abendhimmel, wo die große rote Sonne sich feierlich dem Horizont zuneigte. – – – –

Am Abendbrottisch dozierte Arne. – Er besaß einen nach jeder Richtung hin unfehlbaren Geschmack.

Unter anderm gab es da ein Buch von Peter Nansen – »Gottesfriede«. – Esther hatte es schon vor einigen Jahren gelesen, Arne durch Zufall erst jetzt.

»Ich bereue die Zeit, in der ich dieses Buch nicht kannte,« erklärte Arne.

»Es ist das Hohelied vom Weibe. Es ist das holdeste und keuscheste Buch, das ich kenne. Wer dafür kein Verständnis hat, mit dem ist von vornherein nicht zu reden!«

Esther lächelte. »Dann müssen Sie mit mir gewiß nicht drüber sprechen – mich hat es unwahr berührt.«

Arne runzelte ungnädig die Stirn. »Was ist ›unwahr‹ daran?«

»Es ist nicht ›rein‹, wenn ein Mädchen nichts anderes von der Liebe will, als Mutter werden –«

»Das ist die Reinheit der Natur!«

»Doch wohl nicht so ganz –« Esther zögerte ein wenig sich auszusprechen, aber dann sagte sie: »Das ist vielleicht die Natur des Tieres und ursprünglich des Menschen auch – wie wir aber jetzt sind, haben wir zu sehr die zweite Natur: die Seele in uns entwickelt, als daß uns nicht andere und – göttlichere Dinge zusammenführen. Mir scheint, eine vollkommene Liebe ist Sehnsucht nach der andern Seele – nicht nur Mittel zu einem Zweck der Natur.«

Arne lächelte überlegen.

Esther dachte: Wie nur alles Feine und Unantastbare so in die Verachtung der Menschen geraten kann – nur weil es vielleicht zu lange schon ein mißverstandenes und mißbrauchtes Ideal gewesen sein mag? – Und sie dachte weiter: alles, woran die Menschen eine Zeitlang mit ihren Gedanken rühren, wird so schmutzig und verbraucht, daß es ihnen zuletzt selbst zum Ekel und zum Wegwerfen ist. Und dann kommen ein paar Nachzügler, sammeln es aus der Verachtung heraus und machen es zu neuen und wieder verspotteten Heiligtümern. – – So dachte sie und vergaß wirklich dabei sich gegen das überlegene Lächeln zu wehren.

Doch Arne begann noch einmal: »Verzeihen Sie, aber wie läßt sich eine ›Seele‹ erkennen? Die Menschen haben edle und unedle Aufwallungen – ein Fazit läßt sich da kaum ziehen –, sie haben ansprechende und abstoßende Gesichtszüge – und oft spiegelt ein bißchen Bleichsucht eine schöne Mädchenseele vor. Der Körper ist das einzige, was sich erkennen läßt – und der erotische Instinkt ist von vornherein göttlich!«

Esther schwieg noch immer. Der junge Mann wußte alles so genau. Er sprach mit einer so verblüffenden Sicherheit, die jede Gegenrede auszuschließen schien. – So sagte sie nur noch ganz zögernd mehr für sich selbst als im Anschluß an das, was gesprochen wurde: »Ich meine, man müßte an einer Liebe, die nie die höchste Vereinigung erreichen kann oder doch will, zu Grunde gehen.«

»Wir sind alle für die Einsamkeit geschaffen,« klang da die eintönige Stimme des alten Rude hinein.

Diese Worte legten sich für den Augenblick wie eine trostverlassene Prophezeiung auf alle Anwesenden.

Eliza blickte schutzflehend von einem zum andern.

Aber da setzte die kraftfrohe, junge Stimme Arnes ein. Und er sagte so zuversichtlich: »Der Trost hierfür ist eben die Liebe – die Liebe auf Gnade und Ungnade – die Liebe um jeden Preis und über alle Unzulänglichkeiten hinaus!«

Eliza lächelte ihrem Bruder zu. Sie stand mit der Zwanglosigkeit eines unerzogenen Kindes vom Tisch auf und ging mit ihren leichten, leichten Schritten hin vor einen Spiegel. Sie sah dort lange und ernsthaft sich selbst ins Gesicht, wandte sich dann um und sagte im Ton eines Babys: »Eliza bekommt Kummerfalten von euren traurigen Gesprächen!«

»Eliza soll herkommen zu mir!« bat Arne.

Eliza lehnte sich an seine Schulter. Da strich er ihr zärtlich über das Gesicht und sah sie mit guten, frohen Augen an.

Diese Berührung schien das Mädchen seltsam wohlthuend und beruhigend zu empfinden. Es war, als ginge von seiner Hand Lebensfreude aus. –

Esther dachte plötzlich, diese Hand müßte warm und trocken sein und ein wenig hart. In der Bewegung des Handgelenkes lag Energie und eine gewisse nervöse Sensitivität.


Arne war es, der neben Esther über den Kamm des Heidehügels ging. Er machte pompöse Handbewegungen, die rings das ganze Land einschlossen und philosophierte.

»Es giebt eine neue Religion – die Religion der Wissenschaft,« sagte er. »Die sollte man verbreiten im Volk, und der alte Aberglauben von einer Belohnung im Jenseits muß ihnen genommen werden. Sie müssen die Wahrheit verstehen lernen.

Einen neuen Messias brauchen wir, der sie auf das Leben weist, der aus Stubenhockern Leute der Freiheit und Freude macht.«

»Es könnten nicht alle die Hoffnung auf das Jenseits entbehren.«

»Wollen Sie denn einen Himmel?«

»Ich habe nicht von mir gesprochen.«

Er fuhr fort: »Wir brauchen nicht mehr die trügerische Hoffnung. Wir haben die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse. Wir wissen, daß ein Fortleben unmöglich ist, weil das Leben nicht mehr ist, als die Wärme, die beim Zusammenreiben von zwei Steinen erzeugt wird. Sie entsteht und verflüchtigt sich. Die tote Materie bleibt zurück.«

Esther dachte: Ob es nicht vielleicht in der Natur des Glückes liegt, sich die Ewigkeit erzwingen zu wollen – über alle Erkenntnis hinaus? –

Da sagte er: »Mich würde kein Schmerz fahnenflüchtig machen.«

Sie lächelte vor sich hin. Wie war es doch gekommen, daß sie einzig Glück als ein Gegenargument genommen hatte, sie, die doch das Glück nie kannte? – Freilich, es mochte wohl meist der Schmerz sein, der die Menschen zwang, eine Hoffnung auf das Jenseits zu bauen – der Schmerz, den sie keine Stunde tragen möchten, wenn nicht die mystische Wandlung zu ewiger Freude bevorstände. – –

Arne hielt ihr Schweigen für widerstandslose Einsicht. Er war sehr zufrieden mit dem Sieg der Wissenschaft und ein bißchen auch mit dem seines Geistes.

Er sah sie an, folgte ihren Bewegungen, und das Gefühl seiner Überlegenheit steigerte nur die Freude an ihrer jungen und anmutigen Weiblichkeit.

»Übrigens liebe ich es, wenn Frauen ein wenig Christentum haben,« sagte er da gönnerhaft.

Sie hatte plötzlich Lust, ihn an den Ohren zu reißen und einen kleinen, dummen Jungen zu nennen. Sie sagte aber nur mit ironischer Demut: »Ich danke Ihnen im Namen aller Frauen!«

Er schielte herüber, ob sie auch nicht zu sehr den Sinn seiner Worte verstanden habe und wurde verlegen. Er wurde so verlegen, daß es ihn nach einer Kraftäußerung gelüstete, und da kam ihm ein sumpfiger Kuhpfad zu statten, der hier den Weg überquerte.

Eifrig rief er: »Sie müssen es schon erlauben!« und hob Esther auf seine Arme. Mit der leichten Kraft eines jungen Centauren trug er seine Last über den Sumpf.

»Bin ich Ihnen denn nicht zu schwer?« fragte sie.

Er lachte glücklich und verneinte.

Sie sah nieder auf seinen jünglingshaften Hals. Sie war ihm gut – und dankte ihm für etwas Unbestimmbares – vielleicht daß so viel Jugend von ihm ausging.

Neben einer Weide, die sich, aus einer Böschung herauswachsend, tief über den Weg bückte, ließ er sie wieder zu Boden gleiten.

»Glaubten Sie denn, ich könnte nicht auf eignen Füßen gehen?« fragte sie lachend.

Er errötete wie ein Knabe. »Doch – Sie sind ein guter Kamerad,« sagte er.

Sie wurde auf einmal ernst. »Lassen Sie mich das bleiben,« sagte sie frei.

Er schüttelte heftig ihre dargebotene Hand.


»Heute abend geben wir ein Fest,« erklärte Arne eines Tages.

»Vater mag nicht, wenn so viele Menschen kommen,« meinte Eliza.

»Dummerlein! Gar keine Menschen sollen kommen! Wir geben das Fest ganz für uns allein.

Diese Zimmer sind so ganz versunken in Traurigkeit und Langeweile – man muß sie ein bißchen fröhlich machen!« – –

Nach dem Pachthof zu lag ein Wald. Die drei jungen Menschen machten sich auf zu einer Entdeckungsreise – Ein Fest braucht Blumen und Kränze.

Sie bahnten sich einen Weg durch Brombeerhecken und Haselnußgebüsch, sie gingen bis zu den Knöcheln im weichen, modernden Laub und wählten das Froheste unter den frohen Farben des Herbstes.

Ein kleiner Hügel kam; auf dem gab es ein Rankengewirr aus Jelängerjelieber und Waldrebe, das schon von feinen staubweißen Samenperücken übersponnen war.

Arne trat vor und schnitt ein paar lange Guirlanden herunter. An der einen saß noch ein Blütenbüschel. Er brach dieses rötliche Sträußchen und überreichte es Esther ganz feierlich. »Je länger – je lieber.«

Esther nahm es, drehte es zwischen den Fingern und lächelte. Sie lächelte und sah zwischen den Baumzweigen hindurch nach dem Himmel; der war von blauem Glas. – Es roch gut nach feuchter Erde, fast wie Veilchen, und kräftig nach welkem Buchenlaub und Baumrinde, die schon des Nachts bereift gewesen. – Beim Stillstehen fühlte sie das Blut wie heißen Wein durch ihren Körper rinnen.

Und sie lächelte und drehte den Blütenstiel zwischen den Fingern – ging ein paar Schritte – drehte – und ließ achtlos die Blüten fallen.

Nur Eliza hatte es gesehen.

Sie hob sie auf, trat hin zu Esther und fragte: »Warum thust du das?«

Wie ein schmerzlicher Vorwurf klang dieses »Warum thust du das?« – Und dann: »Wenn du sie nicht haben willst, gieb sie mir – aber du darfst nicht fortwerfen, was er dir giebt.«

Esther zog die Augenbrauen hoch, antwortete nichts und ging zur Seite. Eliza folgte ihr niedergeschlagen.

Sie kamen auf einen Feldweg. Am Waldrand rief Arne: »Fräulein Esther! Eliza! Hier diesen Weg müssen wir zurück! Sie gehen falsch!«

Eliza berührte mit den Fingerspitzen Esthers Arm und sagte ängstlich: »Er meint, wir gehen falsch!«

Esther wandte ihr Gesicht, das in übermütiger Lustigkeit einen knabenhaften Zug erhielt, zu dem Kind und sagte: »Laß ihn nur – er wird uns schon nachkommen!«

»Das thut er nicht,« meinte Eliza zweifelnd.

Aber da sahen sie schon wie Arne, den Kampf gegen die Ackerschollen aufnehmend, querfeldein herübergestiegen kam.

Eliza bog den Kopf zur Seite und sah Esther sanft und verwundert an.

Esther lächelte nur – ein ganz kleines, spitzbübisches Lächeln.

»Du bist anders geworden,« sagte Eliza.


Das Gartenzimmer stellte einen prächtigen Tanzsaal vor. – Ein ganz besonderer Luxus war mit den hohen, dicken Wachskerzen getrieben, die ihr Licht so seltsam einschmeichelnd verteilen, wie eine Stimme, die von verborgner Liebe redet.

In einer halberhellten Ecke saß der alte Rude in seinem steifen hochlehnigen Sessel. Er saß steif und aufrecht und glich mehr als je einem Gemälde der niederländischen Schule – jenem Typ voll Charakter und fast einfältiger Würde, von dem man jedoch sicher ist, daß er klug zu reden und klug zu schweigen versteht.

Eliza trug ein weißes Kleid. Sie mochte nie tanzen, saß auf einem Tisch und geigte. Sie machte große ernste Augen und spielte so ungewöhnlich leise. Ein recht eigenartiges Spiel war es: ganz ohne Kraft und Temperament – nur eine Tonreihe kleiner überzarter Liebkosungen.

Es gab nur das eine Paar, das tanzte. – Sie waren zusammengeheftet – konnten nicht aufhören.

Die Lichter schwirrten – warme Luft zog wellengleich vorüber. Esther fühlte sich ermatten – so ganz weich, langsam, leise. – Sie tanzte mit gelösten Gliedern.

Und da war der, der sie hielt und leitete. Sie spürte seine warme, ruhige Kraft. – Sie sah zu ihm auf und lächelte ein wenig unsicher. – Plötzlich sah sie – rote Beeren durch den Nebel schimmern? – Ja, es war dieses alte, alte Gefühl der Lust, das sie einmal überkam, wenn sie die roten Beeren der Eberesche durch den Nebel leuchten sah.

Das Blut lief ihr mit einem heißen, schmerzhaften Ruck durch den Körper – – Rote – Beeren – durch den – Nebel – leuchten –

»Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein Esther?«

»Nur ein bißchen schwindelig.«

»Sie waren so blaß geworden. Setzen wir uns hier.« –

»Woher haben Sie die rote Rose, die Sie mir vorhin gaben?«

»Es ist die letzte Blüte von Camille de Rohan.«

»Ich weiß noch, wie sie in der Sonne stand – –«

Sie waren still – saßen nebeneinander und schwiegen. Auch Eliza hatte die Geige sinken lassen. Für einen Augenblick hörte man nur das Brennen der Kerzen wie einen leisen Atem durch den Raum.

Esther dachte: Etwas kommt zu mir – eine tiefe Angst. Ich verliere mich, und alles ist fremd und seltsam und bethörend – –

Sie sagte: »Ich bin müde – möchte hinauf gehen.«

Sie ging langsam durch das Zimmer und fing das Licht in ihren Augen auf, die vielen kleinen stolzen Flammen. Sie erhob den Kopf und war froh, und ein Gefühl der Macht ging ihr durch den Körper.

»Gute Nacht, Herr Rude.«

Der Alte hielt ein wenig ihre Hand. – »Gute Nacht, Kind,« sagte er, gab aber ihre Hand noch nicht frei – fügte dann ganz leise hinzu: »Kind – Kind – Königin Esther!«

Ihr erschien das nicht einmal wunderlich.

Und sie beugte sich zu Eliza: »Gute Nacht, Eliza –«

Das Kind bog sich leise zurück. – »Gute Nacht.«

»Du bist anders zu mir?«

»Du bist es, die anders geworden ist. Ich kenne dich nicht mehr.«

Esther senkte den Kopf. Das Weinen preßte ihr plötzlich die Kehle. Es war heute so, daß ein jedes Wort sie tief und innerlich traf und wie mit einer geheimnisvollen Bedeutung.

Und ihr war, als schickte sie sich an zu einem Verbrechen. Scham und Entsetzen waren in ihr. – Was denn? – Aber sie that doch nichts Häßliches?

Nur die Schwermut war es, die von ihr wich – nur diese glücksfremde, von Jugend und Leben gewandte Seele schwieg endlich einmal –

Es starb – es starb in ihr. – –

Auf der Treppe traf sie noch einmal mit Arne zusammen. Er sagte nichts – nahm nur ihre Hände und küßte sie.

Und sie ließ ihm die Hände. Gab sie ihm wie einen Trunk und schaute zu. – Und sie fühlte seine Liebe kommen. Und seine Liebe trat bis heran zu ihrem Herzen.

Und es war wie ein stiller, seliger Trost in ihr: nicht mehr allein – endlich nicht mehr allein sein – – – –

Dann zog sie leise die warmgeküßten Hände zu sich.

Und seine frohe, junge Stimme kam ihr noch einmal im Gutenachtgruß nach.

V

Am nächsten Morgen kam Esther früher als die andern Hausbewohner ins Eßzimmer herunter. Erst stand sie ein wenig am Fenster und sah in den Garten. Dort, wo sich einst Camille de Rohan in der Sonne wiegte, graste jetzt der Wind am welken Laub der Beete. Ja, eingedrungen war der Sturm in den stillen Garten und hastete suchend um das Haus.

Esther blickte fremd auf die beginnende Zerstörung. Sie fühlte nur das Geborgensein.

Dann trat sie vom Fenster zurück, ging langsam durch das Zimmer. Immer noch schien niemand außer ihr aufgestanden zu sein.

Sie wollte aber so gern mit irgend jemand reden – gleichgültig was und mit wem. So eine Unruhe war in ihr. Vielleicht war die alte Karen in der Küche! –

Nein, auch Karen war nicht zu finden. Nur das friedliche Summen von kochendem Wasser ließ sich hören. Über einen Nagel am Thürpfosten war ein Rock Arnes zum Ausbürsten aufgehängt. Esther trat hin und strich mit der Hand über den Ärmel. Dann horchte sie, ob auch niemand käme. Und sie that noch einmal dasselbe – wie eine scheue Liebkosung war es. Und plötzlich drückte sie auch ihre Stirn hinein.

Dann ging sie leise und wie mit einem kindlich bösen Gewissen wieder hinaus. Dabei war ihr im Innersten eine stille keimende Freude.

Sie kam am Postkasten vorbei, der unter dem freien Herzausschnitt der Hausthür angebracht war. Man hatte ihn gestern vergessen zu leeren –

Sonst würde sie diesen Brief von Lydia schon einen Tag früher gelesen haben.

Sie that ihn zögernd von einer Hand in die andere. Plötzlich kam es ihr: Wenn sie ihn nun gar nicht öffnete? Wenn sie so alle Verbindung mit der Vergangenheit abbrechen könnte? So daß ihr Leben gleichsam neu wurde und rein von Schmerzen – –

Aber was waren das für sinnlose Gedanken! Nein, standhalten wollte sie von nun an allem, was dort drüben her ihrer Sehnsucht winkte. –

Sie ging in die Stube zurück und las den Brief –

Lydia erzählte allerhand Kleinigkeiten aus der Heimat, ihre eigne Person immer nur nebensächlich berührend.

Da fand sich auch eine Stelle, als Esther die las, war der ganze übrige Brief vergessen. Sie las noch einmal – da war schon das alte Herzweh wieder eingedrungen.

»– – ja, es ist noch das alte Glück. Ich hörte ihn zu deiner Schwester sagen: ›Du bist es, die für mich ist‹. Und sie antwortete: ›Und du für mich‹ –«

Weiter kam Esther nicht. Sie mußte dasselbe immer wieder lesen.

Und da stieg ein Bild des Glückes vor ihr auf – des Glückes in seiner Vollkommenheit. Es war nicht mehr die Liebe zu diesem Mann, der so gesegnet rein und voll empfinden konnte – Sie hätte nur seine Worte nehmen mögen, stehlen mögen, um sie dem andern zu schenken, den sie liebte –

Sie hätte zu dem kommen mögen, den sie liebte und allen Reichtum dieser Worte über ihn ausschütten: »Du bist es, der für mich ist.«

Aber das – das würde ja für sie nur eine neidische Lüge sein. Denn sie war genügsam geworden bei einem halben Verstehen, bei einschläfernden Zärtlichkeiten. Sie hatte gewußt, daß sich ihr nirgends Heimat bot – und da nahm sie die warme Hand, die sich ihr entgegenstreckte –

Ja, der Wille zu einem Götterglück war allzufrüh in ihr gebrochen – und da griff sie nach einem kleinen frohgemuten Trost. – – –

Sie hatte nicht bemerkt, daß jemand eingetreten war.

Arne ging auf sie zu mit einem frohen fragenden Blick.

Sie gab ihm flüchtig die Hand. Seine Augen wurden ernst und die Frage darin eindringlicher.

Sie spürte die Verpflichtung, etwas zu sagen, fand kein Wort und wurde dadurch verlegen.

Er bemerkte den Brief in ihrer Hand. »Sie haben Nachrichten von zu Hause, Fräulein Esther?«

»Ja, sie schreiben – ich werde bald reisen müssen.«

»Sie wollen wieder fort, Fräulein Esther? Hier im Hause hofft man, daß Sie immer bleiben möchten.«

»Ich bin so lange schon fort,« sagte Esther eintönig.

Er antwortete gar nicht, sah sie nur mit dem traurig befremdeten Blick eines Hundes an, der Güte und immer nur Güte von seinem Herrn zu erwarten gewohnt war und sich nun getäuscht sieht. Er ging. Es war ein stummes Richten.

Aber sie dachte nichts als: es ist gut so, denn es wäre eine Lüge gewesen.

Doch nun würde sie auch nicht länger in diesem Hause bleiben können.

Die Heimkehr stieg vor ihr auf – nicht die Heimkehr mit den tausend Masten der Sehnsucht – es würde die stille dumpfe Heimkehr des Ausgestoßenen vom fremden Lande sein. Und wie gegen das Schicksal gerichtet erhob sich bei diesem Gedanken eine flehende Abwehr in ihr. Nur nicht zurück auf den Ausgangspunkt ihres Leides!

Eine alte Sage fiel ihr ein: Der Tod kommt zu einem Mann und spricht: »In dieser Nacht noch schickt mich der Herr, dich zu holen.«

Und von Entsetzen und Widerstand gegen das Schicksal ergriffen, will der Mann dem Gebot Gottes entfliehen. Er besteigt sein schnellstes Pferd und jagt über das Land. Er spornt das Tier, daß es die Luft schneidet, als bräche ein Sturm entgegen, daß es schäumt und keucht, lange Wolkenzüge von aufgewirbeltem Staub hinter sich läßt im rasenden Ritt.

Und wie Mitternacht kommt, ist der Mann weit im Innern der Wüste angelangt, wo kein andrer Mensch mehr nah und fern zu finden ist.

Da läßt er das erschöpfte Tier Schritt gehen, selbst in Mattigkeit zusammenbrechend.

Doch plötzlich – gar nicht weit von sich – sieht er eine dunkle Gestalt in wartender Ruhe. Es zieht ihn hin – da steht der Tod.

»Wahrlich des Herrn Wege sind wunderbar,« spricht der Tod. »Fast zweifelte ich heute an der göttlichen Allwissenheit, als der Herr mir befahl, dich hier an dieser Stelle der Wüste zu erwarten.« – – – – –

»Wollen Sie mit mir eine Tour über Land gehen?« fragte später am Nachmittag Adam Rude.

Esther war gleich bereit. Eliza und Arne saßen schon seit Stunden überm Schachbrett, Esther hatte ein Buch genommen, aber die gelesenen Worte bekamen keinen Sinn in ihren Gedanken.

Nun schritt sie neben dem alten Rude über das Heideland. Er hatte ihre Hand durch seinen Arm gezogen, »damit Sie nicht ermüden, denn wir wollen weit gehen«.

»Wohin gehen wir?«

»Nach einem Bauernhof, drüben im Rottbüllwald. Recht merkwürdige Leute sitzen dort, hören Sie nur:

Vor zwanzig Jahren starb der Bauer. Er hatte aber ein Testament gemacht, nach dem die Bäuerin den Hof verlieren sollte, wenn sie innerhalb zwanzig Jahren wieder heiraten würde. So sehr hatte er sich ihrer Treue versichert!

Kaum aber ist der Mann tot, so hat die Bäuerin nichts Eiligeres zu thun, als ihre Gunst dem Großknecht zu schenken. Aber heiraten dürfen sie nun ja mal nicht, weil sie sonst den Hof verlieren. Also sie warten zwanzig Jahre, und jetzt im Frühling hielten sie Hochzeit.

Weil aber im Laufe dieser Zeit an zwölf Kinder gekommen waren, schlug ihnen der Pfarrer vor, die Hochzeit doch wenigstens etwas in der Stille zu feiern. Das war aber nun gar nicht nach ihrem Sinn – es mußte im Gegenteil eine ganz große Hochzeit sein, denn sonst, wissen Sie, wären die Brautleute ja um die schon lange entbehrten Hochzeitsgeschenke gekommen!«

Esther amüsierte sich. Der Alte konnte mit so viel verstecktem Humor erzählen, wie sie es seiner feierlichen Art gar nicht zugetraut hatte.

Aber es that ihr wohl – gerade heute. Und sein kräftiger Schritt unterstützte so harmonisch den ihren. Sie schmiegte sich an ihn und sah zutraulich zu ihm auf.

Ein herber Wind ging über die abgeernteten Felder; er trug den Geruch von Erde und Gras, das auf sandigem Boden wächst. Auch überreife Brombeeren mochten dazwischen sein.

Alles ringsum war klar und einfach – allem heißen Zweifeln der Sinne und der Seele fremd.

Was heute früh geschehen war, klang nur noch wie ganz aus der Ferne herüber. Ein hohes Bild verblaßte. Eine überzärtliche Sehnsucht entblätterte im Nordlandswind.

War hier nicht alles gesund und stark und gut? Redeten nicht alle Dinge in einer herzlichen und bekannten Sprache zu ihr? Wozu dann einen festen und treuen Gewinn des Lebens aufgeben, um sich selbst ins Ungewisse zu verstoßen?

Wie denn? Das waren alles Worte, um einen Willen zu verkleiden. Ja, ganz einfach: sie wußte, daß sie sich hier nicht loszureißen vermochte – sie wollte hier bleiben.

Wieder sah sie mit einem freudigen und zuversichtlichen Ausdruck auf den Menschen, der neben ihr ging. Sie wollte ihm so gern etwas Liebes sagen. »Erzählen Sie mir ein wenig von sich selbst,« meinte sie plötzlich.

»Das kann ich so schlecht,« antwortete er. »Ich bin nicht gewohnt, von mir zu sprechen.«

Sie glaubte, daß er nun nicht weiter reden würde, aber er fing nach einem gewaltigen Besinnen wieder an, und es war, als müßte er erst die Worte aus schlafender Versunkenheit wecken.

Und dann kam eine Geschichte von Arbeit und Entbehren. Absichtslos erzählt, ohne zu verdecken oder zu übertreiben – von der einfältigen Wahrhaftigkeit eines Menschen, der noch vor keinem Spiegel in müßige Selbstbeschau versunken gewesen, und der in natürlicher Vornehmheit nichts zu verheimlichen oder zu verschönen an sich weiß.

Und in diese Geschichte der Arbeit und des Enbehrens trat eine Frau. Sie ging einfach und klar hindurch – und doch wie etwas Ungeahntes und Überirdisches. – Sie erschien ihm so fein, daß er sie nicht anzurühren wagte mit seinen rauhen Arbeitshänden. Aber sie neigte sich ihm. Doch immer wenn er fort von ihr war, konnte er es noch nicht glauben, daß sie ihm gehörte – wirklich ihm! Und er dachte die ganze Zeit, während er arbeitete, an sie, und daß er sich eilen wollte, wieder zu ihr zu kommen. Und auf seinem Heimweg sah er sie dann, wie sie ihm entgegenkam. Sie ging ihm entgegen mit dem sorgenvollen Blick, der ihr eigen war. Und sein Glück war es dann, zu erwarten, daß sie ihn erkannte: dann sah er, wie sich ihre Züge zur Freude veränderten. Ja, diese Wandlung immer wieder zu sehen, war das köstliche Glück seiner Tage. – Er erzählte und kam immer wieder darauf zurück, und dann lächelte er – und schwieg einen Augenblick – und erinnerte sich.

Esther ging neben ihm und nahm sein Vertrauen wie ein Heiligtum entgegen, denn sie verstand wohl seinen Wert.

Und wie er zu Ende war, da wußte sie nichts zu sagen, blieb an einem Berberitzenstrauch stehen und brach sich Zweige voll der roten Beeren.

Und er griff auch in die Dornen und half ihr. Aber seine Hand zitterte, so daß ihn die Dornen verletzten. Und er wußte nicht, daß er ihr mit blutenden Händen den kindlichen Schmuck überreichte.

Und sie nahm den Hut herunter und krönte sich mit den Zweigen in einer unbewußt feierlichen Gebärde. Und die roten Beeren hingen in ihrem Haar, wie Blut, das unter einem Dornenkranze niedertropft.


Späte, warme Tage kamen, so daß die langverblühte Heide noch einmal purpurn schillerte vor lauter Sonnenlicht.

Nicht weit von Eriksgaard lag ein kleiner Friedhof. Gräber mit alten, verwitterten Steinen, in die so wunderliche Namen eingeschnitten waren, gab es dort. Esther ging oft allein dorthin und las die Geschichten von »Jung-Svend«, von »Eike« und »Gerdine«. Sie lasen sich einfältig und überzeugend wie alte Märchen. Mit trocknen Wirklichkeitsworten war dort von der Liebe über den Tod und vom Wiedersehen im Jenseits erzählt. Man wußte, weder Jung-Svend, Eike oder Gerdine, noch ihre Nachredner hatten diese Hoffnung auch nur in den Bereich des Geheimnisvollen verlegt – sie war ihnen so selbstverständlich wie das Tagewerk und das Kinderzeugen gewesen.

Reseden gab es noch auf den Gräbern und die nachzüglerischen Rosen des Kirchhofs. Über die Schutzmauer aus Feldgestein hob sich nur ein untersetzter Nußbaum mit seinen glatten blankflimmernden Blättern.

Einmal, wie Esther durch das Kirchhofspförtchen trat, fand sie Arne unter dem Nußbaum. Er sah verlegen aus und war bemüht, das Zusammentreffen als ein zufälliges hinzustellen, denn sie waren sich in einem stillen Übereinkommen seit jenem Morgen ausgewichen.

Esther ging auf seine Bemühungen ein. Es war etwas Hilfloses über ihm, das sie rührte. Sie setzte sich sogar neben ihm an die kleine Hügelböschung unter der Steinmauer und redete ein paar Gleichgültigkeiten, ihn dabei ernst und freundlich ansehend.

Er schien ihr ein wenig verändert in dieser letzten Zeit, wenigstens war seine Kleidung nicht mehr so dandy like, und auch der sonst so wohlfrisierte Scheitel war in wirren Knabenlocken verloren gegangen. Eine leichte Unrast lag in seinen Bewegungen.

Plötzlich begann er ganz unvermittelt und vor unterdrückter Bewegung fast automatenhaft redend: »Wir sprachen neulich einmal über die Möglichkeit eines immateriellen Fortbestehens, Fräulein Esther.

Wissen Sie noch, ich leugnete das Jenseits und die Seele? – Ich habe Unrecht gehabt. Ich weiß jetzt, daß ich Unrecht hatte.

Es giebt eine Seele, und es giebt einen Himmel, in dem uns wird, was wir auf Erden entbehrt haben. Das läßt sich nicht mit Sätzen der Wissenschaft beweisen – das muß man gefühlt haben.

Man muß nur einen Menschen über alles lieb haben, dann will man auch mit ihm die Ewigkeit. Dann will man nichts von der ewigen Seligkeit, als diesen einen Menschen – dann glaubt man an das Jenseits und die ewige Vereinigung der Seelen – trotz aller Erkenntnisse der Wissenschaft.«

Er schwieg und sah sie erwartungsvoll an. Doch als sie nichts sagte, nur den Kopf tiefer senkte, fragte er wie mit zugeschnürter Stimme: »Fräulein Esther, wollten Sie keinen Himmel?«

Sie sah ihn nicht an, antwortete nur still vor sich hin: »Menschen wie ich bin, wollen keinen Himmel. Es ist ihnen kein Verzichten auf Erkenntnis – es giebt ja zu viele unerklärliche Dinge, an die sie glauben, als daß nicht auch der Traum von einem Jenseits zur Wirklichkeit werden könnte. – Wir wollen nur keinen Himmel, weil wir dort drüben nicht zu leben verstünden. Denn wir sind nicht zur Freude geschaffen – wir würden den Kampf entbehren – und den Schmerz – und die Einsamkeit. Denn das alles haben wir lieben gelernt, als uns die Erde nichts anderes zu bieten hatte.

Wir können nie mehr in der Freude zu Hause sein.«

Und wieder war es still zwischen ihnen, bis auf das heimliche, bebende Leben über den Gräbern. Ein leichter Wind rührte die Blätter des Nußbaums. Das war wie ein Aufseufzen der Toten, die Rede begehrten.

Doch zwischen den Lebenden blieb das Schweigen. Nur war es Esther plötzlich, als würde sie weit fortgetragen – weit, durch ein stürmisches, sonniges Land. Felsen sah sie ragen und rote, heiße Blumen an Abhängen blühen. Und das wilde Lied des Lebens klang um sie. –

Sie sah auf und in ein bleiches, vor Erregung verzerrtes Gesicht.

»Esther! Esther! Sie wissen, was ich sagen will – Esther, deine Seele will ich – –«

Sie sah ihn starr und wie ganz aus der Ferne an. »Meine Seele?« sagte sie, und langsam gingen Thränen aus ihren Augen. Sie vergaß in diesem Augenblick den Menschen neben sich.

Doch der sprach weiter: »Esther, ich glaubte zu wissen – ja, Sie haben es mir gezeigt, daß ich Ihnen nicht gleichgültig bin – Esther – –«

Sie sah plötzlich wieder sein gequältes Gesicht über sich – und da legte sie ganz leise den Arm um seinen Hals und sagte: »Ja, ich habe dich lieb.«

Und sie küßten einen leisen, zitternden Kuß.

Und keines von ihnen wiederholte die Zärtlichkeit. Schweigend gingen sie nebeneinander zurück über die Heide, die purpurn schillerte vor lauter Sonnenlicht.

VI

Purpurn schillerte die Heide vor lauter Sonnenlicht.

Sie gingen nicht mehr zusammen auf den kleinen Kirchhof – sie suchten alles auf, was froh und leuchtend war.

Wie die Kinder gingen sie miteinander Hand in Hand. Und sie machten Entdeckungen in der altgewohnten Umgebung, ihre Blicke waren so sonderbar für alle Außenwelt geschärft, und sie fanden auf einmal wundersam schön, was sie früher gar nicht beachtet hatten.

In den Wald kamen sie am oftesten. Es gab da so viel Buschholz, daß man sich schon verirren konnte, oder sich doch auf Augenblicke der aufregenden Vorstellung hingeben, man wüßte nicht mehr den Heimweg zu finden, und wenn auch das einmal nicht möglich war, so konnte man wenigstens dem andern diese Möglichkeit vortäuschen.

Esther gab sich in dieser Zeit ganz der Gegenwart hin.

Eine übermütige Knabenlust, ihre Körperkräfte zu erproben, überfiel sie manchmal. Dann forderte sie Arne zum Ringkampf heraus und sie balgten sich miteinander wie Gassenbuben.

Dann lagen sie wieder ausgetobt und beschaulich geworden am Waldsaum.

»Ach wenn ich doch lieber ein Mann wäre!« seufzte Esther.

»Dann wärst du kaum erst mit dem Gymnasium fertig – ein Student in den ersten Semestern!«

»Ja, das ist wahr: man kommt sich als Frau älter vor.

Eine Zeitlang war ich ganz alt. Nun ist es aber wieder, als sollte alles erst anfangen – fast als ob ich noch nicht mitrechnete unter den ›Erwachsenen‹.

Weißt du noch, wie man als Kind die Erwachsenen sieht: so unendlich weise und interessant und eingeweiht in die Geheimnisse des Lebens.

Und man denkt daran, wie an eine ferne bevorstehende Ehrung, daß man auch einmal zu ihnen gehören wird.«

Er sah sie an mit seinem strahlenden, frohgemuten Blick. »Mir ist es nun doch lieber, du bist eine Frau und kein Mann,« sagte er mit recht viel Überzeugung.

Sie wurde nachdenklich. »Hast du noch nie eine Frau vor mir geliebt?« fragte sie ernst.

»Nie,« sagte er. »Und wenn ich es wagte zu dir zu kommen, so ist es nur, weil du die erste bist.«

Da beugte sie sich nieder und küßte seine Hand.


Adam Rude hatte wieder seine Tage, wo er in »böser Laune« umherging.

Des Vaters »böse Laune« war ein nahezu geheiligter Zustand. Keinem fiel es ein, nach ihrer Ursache zu fragen – man nahm einfach die Thatsache hin, beugte sich darunter wie unter das Schicksal.

Mit finsterem Gesicht wanderte Adam Rude durch das Haus. Den größten Teil des Tages schloß er sich in dem Zimmer ein, wo das Bild seiner Frau hing – gleich einem Priester, der sein Leben im Marienkult verzehrt.

Auch zu der Verlobung seines Sohnes mit Esther hatte er erst kein Wort geäußert. Kaum wußte man, ob er wirklich verstanden hatte, bis er plötzlich bei Tisch auf eine zugleich feierliche und finstere Art den beiden zutrank.

»– und dann ist es jetzt wohl an der Zeit,« fuhr er fort, »daß man auch mich nicht mehr ausschließt, wenn alle sich du nennen.«

Er blickte zürnend um sich. Esther hatte im ersten Augenblick diese wunderliche Ausdrucksweise nicht verstanden, bis Arne über den Tisch rief:

»Der Vater möchte dich du nennen, Esther!«

Esther errötete. Sie sah Adam Rudes Blicke so unbegreiflich zornig und schmerzlich auf sich gerichtet, wurde davon ganz verwirrt und wußte keine Antwort. Sie hob nur in schweigender Erwiderung ihr Glas gegen ihn.

Eine quälende Stille wurde nur ab und zu durch Arnes ungedämmte Fröhlichkeit unterbrochen. Eliza duckte sich ganz verstört zusammen wie ein Vogel im Gewitter.

Nach Tisch ging Esther dem Alten nach. Sie sagte: »Sie sollen mir nicht böse sein, ich wollte ja so gern, daß Sie mich Du nennen – aber ich habe es lieber, wenn ich zu Ihnen Sie sagen darf.«

Vielleicht sah sie recht hilflos aus mit ihrer Bitte. Auf jeden Fall war etwas in ihrer Art, das seine Ritterlichkeit hervorrief.

Er sagte: »Wie du willst, Kind – wie du willst.«

Und als sie nicht gleich wieder ging, beugte er sich mit einem seltsamen Ausdruck von Güte und Wehmut über sie und berührte mit den Lippen ihre Schläfe. – Dann sagte er: »Wie du es willst, so wird es gut sein.«

Danach aber versank er wieder in seine »böse Laune«.


Sie saßen allein zusammen in der Abenddämmerung und machten Zukunftspläne.

Fast vergaßen sie die Gegenwart über den Gedanken an das Kommende. Esther sagte: »Du mußt erzählen, wie es dann sein wird.«

»Dann« war nach der Hochzeit.

Sie wollte immer hören, wie es »dann« wäre – sie hatte eine feste und gläubige Zuversicht in dieses zukünftige Ereignis gefaßt, als ob damit durch eine magische Gewalt die letzten zögernden Vergangenheitszweifel vernichtet werden müßten.

Ja, sie wollte ihm gehören – sich ihm so mit allem Willen hingeben, daß einmal jenes letzte, seligste Wort auch zwischen ihnen zur Wahrheit werden könnte. – – – –

»Du mußt erzählen, wie es dann sein wird!«

Er hatte die Hände in die Hosentaschen versenkt und lehnte sich zu ihr hinüber, so daß sie sein Haar roch, aus dem irgend ein künstlicher Wohlgeruch stieg. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern, das Esther ein wenig affektiert klang, und erzählte die Geschichte mit den Worten, wie er sie jedesmal begann: »Am Abend kommen wir in Kopenhagen an – und am andern Morgen zeige ich dir die Stadt.«

Sie verspürte so eine unwiderstehliche Lust, über ihn zu lachen. Durch die Dämmerung sah sie aber, daß er jenen aus Zufriedenheit und Sentimentalität gemischten Ausdruck hatte, den zu unterbrechen man nicht leicht einem Menschen gegenüber genug Grausamkeit aufbringt.

Sie bemühte sich also ernst zu bleiben, während er, an ihre Schulter gelehnt, lispelnd und mit gefühlvoller Betonung ein gefühlvolles Glück unter den Sensationen der Großstadt beschrieb.

Nein, sie konnte es nicht mehr aushalten, ohne zu lachen! Sie griff irgend einen kleinen motivierenden Einfall auf, lachte und sagte: »Weißt du noch, Arne, was für kluge Dinge in deiner Novelle standen, die du mir neulich zeigtest?«

»Welche?« fragte er unwillig über die Unterbrechung.

»Sie hieß ›Moderne Frauen‹. Und die moderne Frau – sie trug einen ›high life-Gürtel‹, weil die Novelle im Jahre 95 geschrieben war – war so ungehalten über die ungesellschaftliche Pose, in der sie ihren Ehemann überraschte – ich glaube, er saß rittlings über einer Stuhllehne –, daß sie sich von ihm scheiden ließ.«

Er fuhr aus seiner nachlässigen Haltung auf und setzte sich kerzengerade. »Unsinn! Das hast du ganz falsch verstanden!« berichtigte er scharf. »Deshalb war es doch nicht, daß sie sich scheiden ließ!«

»Ich dachte!« meinte Esther und trat leise vor sich hinsummend zum Fenster.

Er ging ihr nach, und nun sah sie im hellen Mondlicht, daß er ein überaus beleidigtes Gesicht machte. Ja doch – sie hatte ja seine Dichterwürde gekränkt!

Wenn sie doch nur dieses dumme Lachen überwinden könnte! – Sie sah ja, wie es ihn immer mehr reizte.

Sie trug einen weißen Shawl; den schlang sie jetzt in nervöser Hast bald um die Schultern, bald um den Kopf. Das Heliotrop im Fenster roch stark zu ihnen herauf. Dicht vor ihr war das helle, nun durch den Zorn ein wenig ins Antike veredelte Gesicht Arnes.

Fortwährend wurde sie von dem Gedanken gepeinigt, er werde nun gleich in Worte des Vorwurfs ausbrechen – sein Schweigen begann sie schon zu quälen – aber trotzdem zwang diese Erregtheit sie, immer weiter zu lächeln.

Sie zog den Shawl wieder über die Augen, so daß nur noch ihr lachender Mund im Mondlicht stand. Und da – fühlte sie plötzlich seine schweren und heißen Lippen auf ihrem Mund – fühlte sie ganz unerwartet und wie eine unerhörte Beleidigung seinen Kuß. Und er ließ sie nicht los, preßte seine Zähne nur fester gegen ihre Lippen, so daß sie aufstöhnte vor Schmerz und Empörung.

Und sie riß sich los und lief in ihr Zimmer. Dort fing sie an sich zu waschen – wusch sich immer wieder den Mund – rieb und wusch, als wäre der Kuß eine äußerliche Verunreinigung gewesen.


Am andern Morgen begegneten sie sich mit einer zornigen Scheu. Esther versuchte anfänglich den Vorgang des letzten Abends zu ignorieren und ging mit ihm, wie sie sonst immer gethan, den alten Weg über die Heide nach dem Walde zu.

Aber sie fanden kein zusammenführendes Wort – gingen nur immer schneller, wie hastend nach einem rätselhaften Ziel.

Da, wo Wald und Heide sich scheiden, ruhten sie nach alter Gewohnheit.

Vielleicht suchte er nach einem versöhnenden Wort – vielleicht sie –

Aber beide vermochten sie das Schweigen nicht mehr zu entwirren, und wie von einem dumpfen Schicksalszwang getrieben warf er sich über sie und drückte ihren Kopf nieder in das Heidekraut und seine Lippen wühlten an ihrem Mund.

Und da kam es, daß sie seine Küsse erwiderte, und ihr Körper zitterte unter ihm. –

Und dann lösten sie sich langsam und sahen mit bethörten Augen weit, weit hinaus, wo sich die Heide vor ihnen hinstreckte – purpurn schillernd vor lauter Sonnenlicht –

Gleich dem lockenden Bild der Leidenschaft.

VII

Graue Tage kamen. Über der Heide hob und senkte sich der Nebel wie Atemzüge.

Arne legte seinen Arm um Elizas Schulter und sah ihr in das kleine blasse Gesicht. »Was fehlt unserm Kleinsten?« fragte er zärtlich.

»Es geht umher und friert.« Das Kind lächelte müde zu seinen Worten.

»O nein, frieren lassen wir es doch nicht!« meinte Arne. »Wir wollen uns einmal recht amüsieren, daß wir die häßlichen Regentage ganz unvermerkt überspringen; dann wird dir auch schon wieder schön warm werden.«

»Was wollen wir denn thun?« fragte Eliza zweifelnd.

»Nun – spielen wir vielleicht Theater? Wir bitten die Bewohner von Villa Marina dazu und spielen ein nettes, lustiges Stück.«

Eliza war wie umgewandelt. »Ja! ja! Theater spielen wir!« rief sie und schlenkerte vergnügt mit den Armen durch die Luft.

»Sind Ihrer Majestät, der Königin Esther, unsre Pläne angenehm?« wandte sich nun Arne zu Esther. Seine Augen leuchteten immer so zärtlich, wenn er mit ihr sprach.

Ja, Ihre Majestät genehmigte den Vorschlag, und nun schleppte man alles herbei, was das Haus an dramatischer Litteratur bergen mochte.

Vor allem mußte der gute alte Holberg herhalten, dem sein unvergleichlicher Humor nun einmal die ewige Jugend verliehen hat. Die große Schwierigkeit blieb nur, daß kein Stück die gebührenden Rollen für die Bewohner beider Häuser vereinigte. Man verfügte zwar recht kategorisch über die Abwesenden, kam aber doch zu keinem befriedigenden Beschluß.

»Wenn wir nun ein paar Akte aus einem modernen Drama spielten und danach eine kürzere Holberg-Komödie?« meinte Esther endlich.

Ja, so ging es.

Man wählte ein Stück aus Hedda Gabler, das sich ganz gut außer Zusammenhang spielen läßt, und danach Holbergs »Der verwandelte Bräutigam«.

»Ich bin Pernille!« bestimmte Eliza eifrig. Die andern mochten ihretwegen sehen, wie sie auskamen. Eliza begann im kokettesten Kammerzofenschritt umherzuwandeln, schon jetzt ihre Rolle vorkostend.

»Aber wer ist Hedda Gabler?« meinte Esther nachdenklich.

»Die bist du – und er ist Ejlert Lövborg, der Dichter, natürlich!« erklärte Eliza.

»O nein, dann bin ich schon lieber dein Tesmann, Frau Hedda – du sollst mir auch im Spiel mit keinem andern verheiratet sein!«

Eliza sagte: »Aber Ejlert ist doch er, den sie liebt!«

»Aber Tesmann ist es, der sie hat,« entschied Arne selbstzufrieden.

Esther dachte: geht denn auf einmal alles im Gleichnis?

»Ich mag nicht Hedda Gabler sein!« sagte sie plötzlich.

»Aber Esther! liebe, kluge Esther, verdirb es uns jetzt nicht!« bat Eliza.

»Nun – wenn Ihr es denn wollt – –«


Mit dem Spiel kam Leben und Heiterkeit nach Eriksgaard.

Da waren die vielen Proben, die wechselseitig in den beiden Häusern abgehalten wurden. Man spielte flüchtig die beiden Stücke durch, denn es war doch gewiß nicht nötig, daß sie schon so bald in untadeliger Glätte gingen und diesen angenehmen Zusammenkünften durch die Aufführung ein Ziel gesetzt wurde. Und nach den Proben kam erst noch die eigentliche Unterhaltung.

Das weite Zimmer mit dem Spinett wurde zum Tanzsaal. Da klangen nun nicht mehr die alten sehnsüchtigen Liebeslieder unter verträumten Mädchenhänden – Es war jetzt das Fräulein Luise, die junge wohlerzogene Dame, die ihre gut eingeübten Walzer der tanzlustigen Gesellschaft zum besten gab.

Und spät in der Nacht dann fuhr man heim. In diesen kalten Spätherbstnächten, wo man die Sterne zucken sieht, so kalt ist es, und wo der Atemdampf des Pferdes den ganzen Wagen einhüllt, und wo die Töne scharf klingen und kurz abbrechen. – –

Ja doch – man spielte »Hedda Gabler.«

Da gab es einen neuen Gast bei Bergsös, das Fräulein Thora Ingermann. Zart und zierlich war sie und trug eine hellgelbe Lockenmähne – darunter ein keckes freundliches Gesicht. Sie war wie geschaffen für die Rolle der Frau Elvsted.

Und dann führten sie diese Scene auf, in der Hedda, die den Mann ihrer Liebe verloren hat, zusieht, wie sich ein leises, noch so harmloses Verständnis zwischen dieser kleinen harmlosen Frau und dem ehrbaren, allerharmlosesten Tesmann anspinnt. Wie auch der, dem sie die Treue eines Lebens geben wollte, ihren Händen entgleitet. – – – –

Fräulein Thora Ingermann war verlobt. Sie hatte eine Menge Bilder ihres Verlobten mit. Er war ein Seeoffizier mit prächtigem Schnurrbart.

»Tesmann! Sehen Sie, ist er nicht einzig? Haben Sie schon je einen so schönen Mann gesehen?«

Tesmann-Arne betrachtete das Bild und stimmte freundlich, wenn auch vielleicht nicht aus überzeugtem Herzen, zu.

Das Fräulein machte ein schmachtendes Gesicht und sah Arne verführerisch an. »Ich liebe ihn so!« sagte sie. »Sie können es nicht begreifen, wie ich ihn liebe!« – –

Auf dem Rückweg meinte Arne zu Esther: »Ist es nicht ein liebes kleines Ding, der neue Besuch bei Bergsös? Sie hat so eine schöne rührende Liebe für ihren Verlobten.«

»Ja, es ist rührend,« sagte Esther.


Arne suchte zwischen seinen Manuskripten. Sie lagen schön geordnet in einer geschnitzten Eichentruhe und waren stoßweise mit goldenen Schnüren umwickelt.

Er war sehr eifrig. – »Esther, was rätst du mir Fräulein Thora zu geben?«

»Gieb ihr doch dein letztes Buch.«

»Das will sie eben nicht. Sie sagt, sie möchte etwas Handschriftliches von mir lesen. Da wühle ich nun immerzu in meinen Sachen und weiß wirklich nichts Passendes zu finden!«

»So schreibe ihr etwas Passendes.«

»Ja, meinst du, daß ich das kann?«

»Warum nicht, wenn du es willst?«

Arne besann sich. »Ich werde etwas über sie und ihren Verlobten schreiben,« sagte er endlich.

»Thu das, lieber Arne.«

Arne zog sich für ein paar Stunden zurück. Dann kam er erhitzt und triumphierend mit einem kleinen Manuskript herein, das bereits recht sauber mit einer Goldschnur geheftet war.

Esther las:

»Im Frühsommer.

»Eine ganze Bucht von Heckenrosen hängt über den Rand des Hohlweges, bauscht sich in blühender Fülle und wölbt lange, geschmeidige Zweige von einer Wand hinüber zur andern – ganz, als sei für den einziehenden Sommer ein Triumphbogen errichtet. – Und so zahllos sind die Blüten – sie wetteifern mit dem Abendhimmel, wer das köstlichste Rot aufweisen kann.

»Aber da, wo der Sommer einziehen sollte, kommt jetzt ein junges Menschenpaar. Wie im Traum gehen sie beide, und er hat ganz zaghaft den Arm um ihre Schulter gelegt. So leise berührt er sie, daß bei jedem Schritt seine Hand ein wenig zittert – denn sie haben sich ja eben zum erstenmal von Liebe gesprochen. Nun wissen sie plötzlich nichts mehr zu reden. Es ist, als ob ringsum alles Stimmen bekommen hätte: Von den Rosen tönt eine ganz leise, feine, süße Melodie, und das Gras zu ihren Füßen seufzt – nur die Luft im Hohlweg hält den Atem an und staut sich in dichten, berauschenden Duftwolken.

»Und jeder Schritt, den sie vorwärts thun, führt tiefer – tiefer in diese seltsame Märchenwelt hinein.

»Nun kommt das Ende der Rosenhecke, schon sehen sie das Korn, welches dahinter steht, in blausilbernem Schimmer hindurchblinken – und dazwischen die feurigen Mohnen. – Ein leichtes Zurückschauern durchbebt das Mädchen – –: der brennend, brennend rote Mohn – – –

»Dann gehen sie ruhig weiter – zwischen dem sommerduftenden Korn mit den heißroten Blumen – immer noch schweigend – nur seine Hand hat sich fester um ihre Schulter gelegt.«

Esther gab es ihm zurück. – »Ich dachte, du wolltest von Fräulein Thora und ihrem Verlobten schreiben?«

Er lächelte verlegen. »Ja, aber von dem Verlobten weiß ich doch nichts Genaues – so habe ich nur an Fräulein Thora gedacht – und wie sie wohl sein könnte, wenn ein Mann sie liebt.

Und dann ist nur so ganz im allgemeinen ein Bild der Liebe daraus geworden.

Aber wie gefällt es dir?«

Er sah mit herausfordernder Selbstgefälligkeit um sich. Sie hatte ihm sagen wollen, es sei das beste, was sie von ihm kannte. Zum erstenmal war er ihr seelisch nähergetreten durch seine Kunst – fast als ob er mit ihren Worten spräche – Nun war sie plötzlich unfähig, das verlangte Lob zu geben.

»Es wird Fräulein Thora schon gefallen,« sagte sie nur.

Er runzelte die Stirn: »Aber dein Urteil, Esther – hast du auch daran wieder etwas auszusetzen?«

»Du meinst, ob ich es fehlerlos finde?«

»Nun?« Er sah sie mit der spöttischen Überlegenheit eines Handlungsgehilfen an.

Sie hielt eine heftige Antwort zurück und gab dafür nur eine kühle Verstandeskritik.

»Es stört mich nur eine Kleinigkeit – das ist diese Zusammenstellung von Mohn und Heckenrosen, die in Wirklichkeit recht schlimm aussehen würde.«

Arne wurde immer gereizter. »Du verstehst mich nicht. Ich brauche Heckenrosen und Mohn ja nur als Allegorie für die zarte Brautliebe und die Ahnung künftiger Leidenschaft.«

»Ich weiß wohl – aber ich meine, daß man auch beim Schreiben ein wenig die malerische Wirkung beachten müßte – das heißt, wenn man Bilder gebraucht, muß man sie sich so vergegenwärtigen, daß man die Wirkung voll beurteilen kann.«

Er antwortete nicht gleich, stand erst eine Weile mit gesenktem Kopf und klimperte nervös an seiner Uhrkette.

»Es ist eben nur das eine, daß dir schon im vorhinein nichts gefällt, was ich arbeite,« sagte er dann mißmutig und verließ das Zimmer.

Eliza hatte dem Gespräch schweigend zugehört. – »War es denn so schlecht, was er geschrieben hatte?« fragte sie.

»Nein – es war gut.«

»Und warum sagtest du ihm davon kein Wort?«

Esther schwieg.

»Du solltest ihm ein wenig Anerkennung geben. Er braucht das, glaube ich.«

Esther antwortete wieder nicht. Sie wußte es ja – er brauchte das. Er brauchte Bewunderung oder – Nachsicht. Doch immer Lob.

Sie sahen einander an, und ihre Augen hielten und verstanden sich.

Esther dachte: Woher weißt du es nur – weiß ich es denn schon selbst? Muß ich mich nicht schämen, daß du es weißt?

Und plötzlich stand Eliza auf, hängte sich Esther um den Hals und weinte. Ganz stumm – bis die Dämmerung sank.

»Kommst du wieder zu mir, mein Liebling?« fragte Esther leise.

Das Kind sagte: »Ja, weil du wieder traurig bist.«

»Hast du mich denn nur lieb, wenn ich traurig bin?«

»Ich weiß nicht –

Ich verstehe alles Traurige –«


Arne kam herein – jung, strahlend, liebenswürdig.

»Seid Ihr denn schon zurück?« fragte Esther.

»Ja; zu schade, daß du zu dieser Probe nicht mitfahren konntest! – Aber wie geht es deinem Kopfschmerz?«

Esther lächelte ein wenig müde. »Komm, setze dich zu mir und erzähle, wie es war.«

»O, so lustig sind wir gewesen! Bis es Fräulein Luise zu viel wurde. Findest du nicht, daß sie ein bißchen altjüngferlich ist? Vor der Zeit – so ein klein wenig?«

»Das habe ich nie gefunden.«

»Na – ja – freilich. Ich mag nun die Leute nicht, die keinen kleinen Scherz vertragen können.

Da ist Fräulein Thora ganz anders. Temperament hat sie – das reine Zigeunerblut – und ist doch zart und fein und rührend, wie ein kleines Kind!«

»Hat sie wieder von ihrem Verlobten erzählt?«

»Diesmal nicht. Wir machten nur lauter Tollheiten. Zuletzt war sie so müde davon, daß sie neben mir saß und beinahe schlief. Fast wäre sie gegen meine Schulter gesunken und eingeschlafen!«

»Was sagte sie denn zu deinem Manuskript?«

»Sie fand es schön. Sie sagte nicht viel, aber ich sah es an ihrem Gesicht.

Aber etwas anderes hat sie gesagt. Wir sprachen von meinen andern Sachen, und sie hat alles gelesen. Und da sagte sie: ›Ich bin gewiß ein schlechter Kritiker – aber mir gefällt alles so unmäßig, was Sie schreiben‹.«

Er saß eine Weile ganz ruhig und sah vor sich hin. Dann redete er plötzlich wie aus einem Traum, und seine Stimme hatte einen gebrochenen Ton. »Ist das nicht das Zeichen, daß sie mich ganz verstanden hat,« sagte er, »daß sie es ist, die mich so ganz versteht –«

Esther erhob sich und trat dicht zu ihm hin. In ihr war eine eigentümliche, fast unpersönliche Liebe.

»Du mußt zu ihr gehen,« sagte sie. »Ihr gehört zusammen.«

Er sah sie an. Es war, als könnte er nicht verstehen, als fühlte er nur hinter einem Verstehen das Entsetzen dämmern.

»Was – was sagst du da?

Ja, ist es denn, daß du mich nicht mehr willst? Schickst du mich denn fort?«

Und plötzlich kniete er vor ihr, und seine Arme schlangen sich zuckend um ihren Körper. »Geh nicht fort von mir! Geh nicht! – Ich kann nicht ohne dich leben!«

Sie war ganz ratlos. Alles schien ihr plötzlich unverständlich. Sie fühlte nur immer seine Küsse auf ihren Händen – und dann auf dem Mund –

Und unter diesen Küssen wurde sie so seltsam kühl und gleichgültig. – –


Die Aufführung war überstanden. Man hatte auch getanzt und Bowle getrunken, bis die allgemeine Stimmung ihren Höhepunkt erreichte. Jeder beschäftigte sich nun nur noch mit sich selbst, und wenn es hoch kam, mit seinem Nachbar.

Herr Nyblom aus Hönegaard stand neben Esther in der Fensternische.

»Ihre fremdartige Aussprache paßte so gut für die Rolle der Hedda,« sagte er. »Sie haben sie noch anziehender und eigenartiger dadurch gemacht, gnädiges Fräulein.

Überhaupt liebe ich so den deutschen Accent und alles Ausländische. Sie sind viel feuriger dort unten im Süden, als wie hier oben.

Ho! Sie haben Feuer für Blut – Wir sind Fische dagegen!

Aber ich bin auch einmal in Deutschland gewesen – bis hinunter nach Heidelberg. Meine Frau und ich, wir haben unsre Hochzeitsreise dorthin gemacht.

Und die Studenten gaben gerade ein Fest – mit Pechfackeln zogen sie vorbei – und da schielten sie nun immer herüber zu meiner Frau – hahaha! – –«

Esther bemerkte, daß die Geschichte von Herrn Nybloms Hochzeitsreise nach Heidelberg sich auch ohne nachhelfende Antworten abzuwickeln vermochte und wandte ihre Aufmerksamkeit mehr der übrigen Gesellschaft zu.

Nicht weit entfernt saß Arne neben Fräulein Thora auf einem Ecksofa. Sie hatten traurige Gesichter und schwiegen beide. Aber ihre Augen hingen ineinander.

Dann sagte Fräulein Thora: »Ja, das ist es wohl – es ist nun wohl das letzte Mal. Wir werden uns nie wiedersehn.«

»Wir werden uns nie wiedersehn,« sprach Arne wie mechanisch nach und senkte seinen hellen Lockenkopf.

»Ich hätte Ihnen noch etwas zu sagen,« fing Fräulein Thora wieder an, »wenn wir nur in andern Verhältnissen wären –

O Gott! Ich werde selbst nicht aus mir klug – es ist alles so wunderlich – –!«

Arne nickte stumm und sah mit einem demütig-sehnsüchtigen Ausdruck zu Fräulein Thora auf – mit diesem rührenden Blick eines treuen Hundes, den Esther so wohl an ihm kannte. –

»Ist das nicht komisch?!« hörte Esther Herrn Nybloms amüsierte Stimme neben sich. Und gleich darauf wiederholte er: »Gnädiges Fräulein, finden Sie das nicht auch recht toll?«

»Ja, es ist toll,« sagte Esther und wandte sich langsam nach dem Fenster um.

Und drüben lag das Meer – weit und schwerdunkel – nur nach den Ufern zu schäumten die Wellen weiß auf im Mondlicht.

Lange stand sie so und sah hinaus, und als sie die Augen wieder zurückwandte, war alles so klein und vergänglich um sie her geworden, wie ein kurzes Komödienspiel. – Und sie sah auf diese Menschen mit denen sie lebte – und alles war fremd und ferngerückt. – Und sie fühlte ihr Herz leer – aber weit vor Sehnsucht zum Unbekannten. – –

VIII

Und sie sprach noch einmal mit Arne.

Sie sagte: »Zwischen uns ist ein Mißverständnis, Arne, wollen wir es nicht fortthun?

Wir waren bestimmt Kameraden zu sein – gute Kameraden, die einer am Leben des andern teilnehmen, aber nicht das Leben teilen. Wir haben uns geirrt.«

Arne sah finster zu ihr auf. »Was willst du mir denn sagen – mit deinen schöngewählten Worten – du?«

Das Blut stieg ihr heiß ins Gesicht. Er hatte sie so getroffen mit seiner verborgenen Anklage: sie wählte die Worte, weil sie nichts mehr fühlte.

Sie sah ihn hilflos an und wartete, ob er noch sprechen wollte – aber er schwieg.

Zwischen beide drängte sich wie entschleiernd das helle, kalte Licht des Vormittags. Esther konnte jeden Zug seines Gesichtes deutlich unterscheiden – und er wurde ihr immer fremder. Zuletzt sah sie nur noch die malerische Wirkung der Linien.

»Ich habe es ja gesehen – gestern abend –« sagte sie endlich nur unter dem Gefühl, daß eine Antwort von ihr erwartet würde. Ihre Stimme war fast tonlos.

»Was hast du gesehen?

Du hast gesehen, daß mir jemand Kamerad und Freund wurde, weil du es nicht sein wolltest. Weil du mir nichts gegeben hast von deiner Seele – und für meine kein Verstehen.

Und trotz alledem ist mir noch jetzt ein gutes Wort von dir lieber, als die ganze Seele jeder andern Frau –

Verstehst du das? Es ist, weil ich dich liebe! – Und nur, weil ich weiß, daß ich deine Liebe nicht habe, war ich fortgegangen.«

Da fühlte sie, wie seine Worte eine Schuld auf sie luden. Und sie preßte die Hände ineinander und wagte nicht mehr aufzusehen. Ja, das war es: ihre Liebe war der seinen nicht ebenbürtig.

»Ich fühle mich so arm vor dir,« sagte sie endlich ganz leise und demütig.

Er starrte sie an – ohne zu begreifen. Ganz überrascht und entsetzt sah er aus, wie jemand, der ganz unvorbereitet etwas Unglaubliches erfährt.

Esther sah das und dachte: So hat er nur seine Vorwürfe gemacht, um widerlegt zu werden? – hat gar nicht daran geglaubt, daß alles dieses, was er sich selbst und mir zur Entschuldigung vorbringt, sich wirklich so verhalten könnte?

Und sie erkannte ihn plötzlich, wie er sich unter der stets bereiten Selbstverzeihung einem Wohlgefallen hingegeben hatte, das bald der Liebe glich. Und dann war er plötzlich nach beiden Seiten gebunden, denn er konnte weder ihre Liebe, noch Thoras Bewunderung entbehren. Und – er würde nicht lange einsam bleiben, wenn sie ihn jetzt verließ.

Sie sah ihm ruhig, wie einem Fremden in das verstörte Gesicht. Eine leichte, fast mehr physische als seelische Abneigung stieg in ihr auf.

»Also du – du liebst mich nicht? Du hast mich nur in dieser ganzen Zeit betrogen?!« brach er gegen sie aus.

Sie fühlte gar nicht seinen Zorn und die Absicht zu beleidigen – »Ich habe dich nicht mehr betrogen, als mich selbst,« sagte sie. »Denn ich habe dich zu lieben geglaubt. Und ich habe keinen andern Willen gehabt, als die Liebe zu dir. Aber ich habe mich in mir selbst getäuscht.«

»Das siehst du ein bischen spät ein!« fuhr er sie herausfordernd und höhnisch an. Er war ganz kampfbereit.

Sie sah fremd und verwundert auf ihn und ging still aus dem Zimmer.


Nun kamen noch wenige Tage von jener quälenden, niederdrückenden Trostlosigkeit, wo wir das Leben ohne den Maskenstaat der Wünsche und Hoffnungen nur mehr in seiner plumpen Alltäglichkeit sehen – wo wir uns fürchten aufzublicken, weil uns alle Dinge mit fremden, verzerrten Gesichtern anschauen könnten – wo uns vor der köstlichsten Speise graut, weil wir den Ekel dahinter spüren. – – – –

Esther erwartete nur die Antwort einer Berliner Pensionsdame vor ihrer Abreise.

Gleichgültig und ohne den kleinsten Aufschwung der Phantasie hatte sie den Beschluß gefaßt, sich dort im Malen auszubilden.

Selten wohl ist jemand mit so geringen Erwartungen der Kunst entgegengegangen. – –

»Ich kann dich nicht halten, Kind – ich weiß, daß ich dich hier nicht festhalten darf,« sagte der alte Rude zu Esther – und dabei sah er sie doch suchend an, als könnte sie ihm jetzt noch sagen: alles soll gut werden.

Und wie sie stumm blieb, wiederholte er sein altes Wort: »Wie du es willst, wird es schon recht sein.«

Da trat sie mit einer leichten scheuen Bewegung zu ihm hin und lehnte sich an ihn. Und er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich, bis sie ganz leise weinte an seiner Brust. Es war jedoch nicht lange gewesen, dann machte sie sich schon wieder los.

Er sagte aber: »Ich danke dir.«


Eliza kam am letzten Abend zu ihr. Sie schlüpfte zu Esther ins Bett, weinte viel und ließ sich gerne trösten. Sie wollte immer neue Liebkosungen von Esther haben und spielte stundenlang eine kleine, sanfte Komödie des Schmerzes. Es war so schön, wenn Esther sie küßte und ihr gute Worte sagte! –

So kam es, daß sie erst im letzten Augenblick die Trennung wirklich begriff. Und nun stand sie, mit ihren seltsamen Augen, die alles Traurige verstanden, starr vor sich hinblickend in stummer Erschütterung.

Es wird erst kommen, wenn ich fort bin, dachte Esther, und ihr Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen, daß sie nun nicht mehr dieses Kind schützen und trösten dürfe – daß diese Seele mit der frühen Todesahnung dem Leben preisgegeben war. –

Neben ihr im Wagen saß Arne. Er hatte darum gebeten, sie nach der Bahn fahren zu dürfen. – Adam Rude hatte sich eingeschlossen und durch Arne einen Brief geschickt, den Esther erst unterwegs lesen sollte. »Es steht alles drin,« mußte Arne ausrichten.

Arne hatte den hellen Kopf die ganze Zeit gesenkt, und Esther wunderte sich plötzlich, warum es ihr früher nie aufgefallen sei, daß seine Traurigkeit etwas so Unreifes, Knabenhaftes hatte – es war jene Traurigkeit, für die ringsum die ganze Erde ein Garten des Trostes bleibt.

Und sie wünschte ihm, schon wie aus der Ferne, ein künftiges Glück, als sie sich mit einem einfachen »Lebewohl« trennten. Sie saß schon im Zug und sah noch einmal zum Fenster hinaus, da wollte er noch etwas sagen – aber die Thränen nahmen seine Stimme. »Leicht getrocknete Jugendthränen,« dachte Esther. Und plötzlich sah sie ihn wieder, wie er mit seiner warmen, strahlenden Jugend zu ihr gekommen war – zu ihr, die nur Schmerz und Schweigen kannte. Und ihr Herz füllte sich mit einem Dank, der ohne Bitterkeit war. –

Neben ihr saß als einzige Reisegefährtin eine Pflegeschwester. Sie las erst aus einem kleinen, schwarzen Gebetbuch, wobei sie die Lippen bewegte und andächtig vor sich hinsah.

Dann begann sie ein Gespräch. – »Reisen Fräulein weit?«

»O ja,« sagte Esther zerstreut.

Die Schwester ließ sich nicht einschüchtern. »Wohl gar bis Kopenhagen?« fragte sie.

»Bis Berlin.«

Die Schwester machte andächtige Augen. »Ja, waren Sie denn schon einmal in Deutschland, und können Sie die Sprache verstehen?«

»Ich bin Deutsche,« sagte Esther.

Da drückte sich die Schwester ängstlich in eine Wagenecke und sah erschrocken und unentwegt auf das junge Mädchen. –

Esther nahm den Brief des alten Rude heraus und öffnete ihn – und las:

»Mein einzig liebes Kind!

Nun gehst Du fort, und ich konnte Dir nicht Lebewohl sagen. Ich konnte es nicht, weil ich meiner nicht sicher war, weil ich mich vielleicht verraten hätte. Und was soll die Liebe eines alten Mannes zu einem Kind?

Du bist durch mein Leben gegangen wie ein lichter Traum; das ist es, was ich Dir zu danken habe.

Zuerst sah ich Dich wie ein Kind – ein schönes, liebes Kind, an dem ich meine Freude haben durfte. Aber Du bist vor mir gewachsen – mit jedem Tag gewachsen zu dem einzig begehrten Weib.

Du bist mir alles geworden, und ich hätte alles für Dich hingegeben, wenn ich nicht immer gewußt hätte, wie vergeblich solche Liebe ist. Und ich wollte Dir nichts anthun, Dich nicht damit erschrecken, mein einzig liebes Kind, darum habe ich immer geschwiegen.

Aber heute, nun Du gehst, will ich Dir meine Liebe mitgeben wie einen Dank, und Du darfst sie nehmen, weil sie so ganz anspruchslos ist und nichts will, als Dich feiern.

Lebe nun wohl, Du, die alles Glück zu vergeben hat – und mögest Du den finden, der dieses Glückes würdig ist.

Dein
Adam Rude.«

Zweiter Abschnitt

IX

In einem kleinen schleswigschen Grenzort wollte Esther nach der zehnstündigen Bahnfahrt übernachten.

Es war ein langer, mühseliger Weg von der Bahnstation bis zum Gasthof. Esther ging ihn ganz allein, eine verschneite Landstraße hinauf, die nur durch Räderspuren kenntlich war. Sie trug ihre kleine Reisetasche bald in der einen, dann in der andern Hand. In der Kälte schmerzte der metallene Griff ihre Finger.

Weithin über dem Schneeland stand ein purpurner Mond.

Ein schwacher, gläserner Klang kam aus dem Dorf herüber: die Turmuhr schlug eine späte Abendstunde.

Esther ging immer langsamer. Eine schwere, herabziehende Müdigkeit erfüllte sie mehr und mehr. Sie konnte kaum mehr denken, empfing nur dumpf die Außeneindrücke, an die sich zerflatternde Reflektionen knüpften.

Neben der Straße lief ein halb zugeschneiter Graben. Da mußten im Sommer die vielen Feldstiefmütterchen wachsen – so immer zu hunderten auf einem Fleck, daß es aussah, wie ein großer, schwellender Strauß. Aber jedes Blümchen hat sein eignes ernstes Gesicht unter der violetten Haube – und wenn der Wind ja einmal durch den Graben fährt, dann reiben sie sich rischelnd aneinander, wie Kinder, die sich in die Ohren flüstern – – – –

Dicht und hoch lag jetzt der Schnee – – So ein paar Schritte zur Seite machen und sich da hinein fallen lassen – –

Kein Mensch würde wissen –

Und was ging sie überhaupt irgend ein Mensch an?

Doch – das ist ja nicht wahr –

Wie ein fremdes Heiligtum stieg die Liebe Adam Rudes vor ihr auf. Doch ihr war, als müßte sie in Ehrfurcht wegsehen. Als dürften auch ihre heimlichsten Gedanken nicht daran rühren. –

Eine ferne Sehnsucht kam über sie – kam und ließ sich schwer niedersinken auf ihr Herz –

Und dann war wieder alles wie einem andern Menschen angehörend – oder so wunderlich vereinzelt, ohne inneren Zusammenhang.

Und wieder kam eine lange, bittere und kummervolle Sehnsucht nach Eliza, dem Kind. Wie hatte sie es nur fertig gebracht sie allein zu lassen? Wenn sie schnell umkehrte? Morgen noch zurückreiste?

Ein Ruck ging durch ihren Körper: Adam Rude! – Aber das war ja Wahnsinn – Unmöglichkeit! –

Sie griff nach dem Brief, den sie in der Kleidertasche trug –

Und dann war plötzlich wieder alles Begreifen ausgelöscht – nur noch eine träge dämmernde Sehnsucht nach diesem Haus, das sie lieb hatte, in das sie hätte zurücklaufen mögen, wie eine Katze, die man fortgetragen hat. –

Und immer ging sie mechanisch weiter, den endlosen zugeschneiten Weg hinauf.

Dann kam das Gasthaus.

Sie mußte die Wirtsleute erst herausklopfen. Es waren freundliche Bauern, die sich in ihrem rauhen jütischen Dialekt nicht genug über die Ankunft einer Dame erstaunen konnten. Es schien, als gäbe es für diese Wirtschaft nichts Verwunderlicheres, als einen Gast!

Esther wurde in die Familienwohnstube geführt. Dort mußte sie sofort ein paar riesige Filzsocken für die nassen Stiefel eintauschen. Die Wirtin befahl das mit einer Autorität, die jeden Widerspruch vergeblich machte. Dann wurde ihr ein Kübel voll schwarzbraunem Thee zudiktiert.

Über dem Sofa hing das Bild des deutschen Kaisers neben einem andern, das die Photographie eines jungen Soldaten, wahrscheinlich der Sohn des Hauses, umgeben von allerlei »Scenen aus dem Soldatenleben« enthielt. Als Überschrift prangten die Worte: »Aus meiner Soldatenzeit.«

Die Frau folgte Esthers Blicken, dann erklärte sie entschuldigend, er, der Sohn, wollte »das« dort haben. Und voll Groll und Verachtung: »Seit er gedient hat, ist er ja ein Deutscher!«

Der Wirt, der mit einer langen Pfeife jenseits des Tisches saß, zog die Stirn in kummervolle Falten. Er sagte: »Die dort in Berlin, die werden sich freuen, daß sie ihn herumgekriegt haben! Bei der Leibgarde ist er gewesen – so 'ne Schande!«

Esther bekam ein ganz böses Gewissen, daß sie sich nicht als Deutsche eingeführt hatte; ganz gedankenlos hatte sie noch dänisch gesprochen. Sie fühlte sich recht bedrückt im Gedanken an die warmen Filzsocken und das Wohlwollen der Wirtin, die sie immer schlechtweg »Kind« anredete, – das alles wäre der Deutschen gewiß nicht zugefallen!

Und am nächsten Morgen gar, wie die Alte gehört hatte, daß Esther auch der entsetzlichen Stadt patriotischer Verführung zureiste, gab es so viele gute Wünsche und Ermahnungen, daß Esther vor Beschämung nicht mehr die Augen aufzuschlagen wagte.

Aber sie konnte doch wirklich nicht jetzt auf einmal mit ihrer Enttäuschung herauskommen?


Und gegen Abend gelangte Esther an ihr Reiseziel.

Die Droschke hielt vor einem hohen, eingezwängten Haus, dessen Eingang in der Pracht verschiedenster Imitationen strahlte. Eine imitierte Eichenthür öffnete sich in eine imitierte Marmorhalle, die mit imitierten Gobelins und imitierter Glasmalerei ausgestattet war.

Der Hausmeister bemächtigte sich des Koffers, und in feierlich langsamer Fahrt hob sich der Lift zu seinem Endziel, der fünften Etage.

»Also hier wohnt Fräulein Schulze?«

»Jawoll, klingeln Sie man!«

Nach einer Weile kam ein ältliches, verblaßtes Mädchen und öffnete. Sie führte Esther über einen kurzen, düsteren Flur, der nur in einer Ecke durch ein kleines stark riechendes Lämpchen erhellt wurde und dann durch ein langgestrecktes Zimmer.

»Bei uns müssen wir immer durch die Berliner Stube gehn,« erläuterte das Mädchen.

Eine große, starke Dame in Lahmannkleidung sah Esther mit unverhohlener Neugier nach und erwiderte ihren Gruß mit einem resoluten Nicken.

Dagegen bemerkte sie erst im Hinausgehen, daß sich ein kleines, dunkelgekleidetes Geschöpf auf sie zu bewegte.

»Verzeihen Sie – ich bin Fräulein Schulze,« sagte die kleine Dame und sah Esther fragend unter einem spanisch drapierten Kopfputz hervor an.

»Ich bin Esther Franzenius.« Esther mußte unwillkürlich dem kleinen fragenden Gesicht der Spanierin zulächeln.

Fräulein Schulze machte ein paar ratlose Bewegungen nach rechts und links, dann kam es ihr wie eine Erleuchtung: »Darf ich Sie nach Ihrem Zimmer führen?« Und sie trippelte Esther und dem Kofferträger voran, zur Thür hinaus, über einen langen und niedrigen Korridor, den man gar nicht in dem prunkvoll imitierten Marmorpalais erwarten durfte, und öffnete die Thür zu einem kleinen viereckigen Zimmerchen, das durch ein winziges schräges Dachfenster nach dem Hof hinaus lag.

Während Fräulein Schulze noch ein paar Fragen über die »gute Reise« an Esther richtete, bemühten sich das Mädchen und der Dienstmann, für den Koffer einen Platz zu ermöglichen.

Endlich waren alle Ankunftsfeierlichkeiten bewältigt, und auch die Spanierin verließ das Zimmer.

Esther nahm den Leuchter mit der dünnen übelriechenden Kerze und beleuchtete ihre Umgebung. Da gab es nur die allernötigsten Gebrauchsgegenstände, denen allen es wie ein Ausdruck schamhaftester Dürftigkeit anhing. Und jedes Ding schien sich zu bemühen, etwas anderes zu imitieren. Sogar das Bett hatte die Aufgabe, tagsüber ein Sofa darzustellen, und der Waschtisch war unter dem Äußern einer Komode verborgen. Als der Koffer untergebracht war, konnte man sich nur noch in einer kleinen Schlangenlinie durch das Zimmer winden. Esther lehnte sich unwillkürlich weit zum Fenster hinaus – dort sah man in den Hof hinab, wie in einen spärlich beleuchteten Schacht. Dann führte sie das Licht an den Wänden entlang – die Tapete trug ein Muster von lauter Lilien.

Eine stumpfe Trostlosigkeit überkam Esther in diesem imitierten Liliengarten.


»Nancy! Nancy!«

Esther erwachte. Wer rief denn da? Und wo war sie?

Weshalb verflog doch so schnell der Traum von einem Frühlingsgarten und dem weißen Haus im Mondlicht? – Sie wollte so gern weiterschlafen. Sie fürchtete das Erwachen. –

»Nancy! Nancy! Schläfst du noch?«

Das war wieder diese rauhe Stimme, und nun folgte ein endloser Hustenanfall.

Esther sah sich um. Das war ja das Lilienzimmer. Diese kahlen und dürftigen Gegenstände, die aussahen, als seien unzählige verschwiegene Sorgen in sie gebettet, schienen ein kraftloses Grauen auszuströmen.

Nancy mußte inzwischen geantwortet haben, denn die gequälte Stimme des Zimmernachbars begann von neuem: »Hast du gut geschlafen, Nancy? Wie fühlst du dich heute?«

Und wieder nach einer Weile, während der Esther aufzustehen begann: »Mußt du nicht über die Hofjagd referieren? Wir könnten zusammen einen Wagen nehmen, wie?« – Hier eine Pause für Nancys Antwort – Und wieder: »Nancy! Nancy! Mir fällt etwas Köstliches ein! Paß auf: Ein Wagen kostet 10 Mark – zu zahlen von meiner löblichen Redaktion! Ein Wagen für dich zu 10 Mark – haben deine Braven zu blechen. Daß wir uns zusammenthun, geht niemanden was an. – Bin ich nicht ein Rechengenie?! Hahaha!!«

Und wieder ein gräulicher Hustenanfall.

Esther machte ihre Anwesenheit bemerkbar und die nachbarlichen Stimmen verhandelten gedämpfter.

»Wer wohnt da nebenan?« fragte Esther das Mädchen, das Feuer machte. Es baute mit virtuoser Vorsicht ein paar Holzspähne aneinander und deckte das spärliche Flämmchen mit den drei für »eine Heizung« abgezählten Preßkohlen.

Ida warf über die Schulter einen verächtlichen Blick auf das Nachbarzimmer. »Ach, das ist man bloß Redakteur Engel,« sagte sie im Ton würdevollster Herablassung.

»Ist der Herr sehr leidend?«

»Ja – er hat es auf der Brust. Seine Verlobte, das Fräulein Maceday auch. Schon den ganzen Winter. Und wie sie zu uns gekommen sind, sahen sie auch halbverhungert aus. Das Fräulein wohnt ja doch neben ihm, und sie pflegen sich immer nur einer den andern.«

»Aber das ist ja schrecklich,« sagte Esther in bedauerndem Entsetzen unwillkürlich vor sich hin.

Das Mädchen mißverstand die Worte. Es wurde plötzlich vertraulich und gesprächig. »Ja, nicht wahr, Fräulein? Uns ist das auch recht peinlich. Verlobt sind sie und wohnen Thür an Thür! – Und dann wollen sie sich immer noch das Essen allein besorgen! Sie können es gar nicht billig genug kriegen. Und was für Sachen sie dann kochen! Ach Gotte doch! puh!«

Ein unbestimmter Ekel – vor diesem Geschwätz – vor ihrer ganzen Umgebung – vor der Lage, in der sie sich befand, erfüllte Esther. Sie verließ die Stube und ging nach dem Eßzimmer, um zu frühstücken. Auf dem Gang begegnete ihr eine kleine abgehärmte Person mit den glühroten Backenknochen der Schwindsucht. Sie sah auf Esther mit glänzenden, argwöhnischen Augen.

Und Esther hätte ihr etwas Gutes sagen mögen – irgend eine kleine, gleichgültige Freundlichkeit erweisen. Sie grüßte höflich. Die andere dankte kurz, abweisend, höhnisch.

Esther fiel eine kleine Begebenheit aus ihrer Kindheit ein: Wenn sie zur Schule ging, kam sie immer an einem vergitterten Hof vorüber, an dessen Thür ein mageres, jämmerliches Hündchen stand und giftig auf die Vorübergehenden bellte. Dann warfen die Jungen mit Steinen nach ihm, reizten und höhnten es; das nahm es aber nur wie die gebührende Antwort auf sein Gebell entgegen. Das Tier that Esther so leid. Sie versuchte es einmal, sich ihm freundlich zu nähern, es zu streicheln. Da geriet es aber ganz außer sich vor Wut. Und jedesmal, wenn Esther wieder vorüberging, wußte es sich in seinem Zorn gar nicht mehr zu lassen. Es hatte die Freundlichkeit augenscheinlich als unvergeßliche Beleidigung empfunden. –

»So 'ne einjebildte Jöhre!« hörte Esther das Fräulein Nancy noch in der Stube des Verlobten in accentuiertem Berliner Jargon ausrufen. – – – –

Das war der Beginn der freiwillig angetretenen Epoche der Arbeit und Entbehrung.

Später gab es Stunden, in denen Esther sich fragte, warum sie nicht einmal den Versuch gemacht hatte, diese besonders antipathische Umgebung mit einer andern zu vertauschen. Und sie kam auf die wunderliche Erklärung, daß die Macht des Ekels sie fesselte.

Ja, wir haben diese seltsam kraftlosen Zeiten, in denen wir wie gelähmt vom Abscheu und unfähig zur Gegenwehr, auf eine krankhafte Weise angezogen auf das starren müssen, was unsern Ekel erregt.

Wir sind unfähig, uns durch einen Entschluß loszureißen, ja irgend einen Entschluß zu fassen vermögen wir nicht einmal. Nur noch ein alter Wille leiert sich mechanisch in stumpfen Handlungen ab. Wie im Traum gehen wir da – und das kraftlose Entsetzen des Traumes bedrückt uns, während wir ganz im geheimen eine andere Wirklichkeit wie die Ahnung des Erwachens in uns tragen. Und so versäumen wir die Empörung gegen das Traumschicksal.

X

Arbeit – Arbeit –

Trübe, matte Tage schleppen sich in sinnloser Gleichförmigkeit vorüber. Es ist wie das Abschnurren eines aufgezogenen Rades.

Die Seele schweigt. Nur kleine Erinnerungen ziehen vorbei – der Zeitbegriff ist von ihnen genommen – Begebenheiten aus der Kindheit scheinen ebenso nahe zu liegen, wie eben erlebte Geschehnisse. Doch ihre Verbindung mit der eignen Persönlichkeit ist gleichsam abgeschnitten.

Arbeit – Arbeit –

Ein stumpfes, langsames Vorwärts – ohne Kampf, ohne Ehrgeiz, ohne Zielbewußtsein. –

Viele andere sind Esther voraus. Auch welche, die zu gleicher Zeit angefangen haben. Sie arbeiten so merkwürdig reinlich und abgerundet. Es ist, als wären sie schon mit dieser gewissen Manier zur Welt gekommen. So tadellos fertig sieht alles aus, was unter ihren Händen hervorgeht. Fast scheint es, sie verlieben sich in diese eintönigen mechanischen Schwierigkeiten der Anfangsgründe. Und das ist ihr gutes Recht. Es muß sie im voraus entschädigen für alle späteren Enttäuschungen. Denn sie werden versagen, sobald die Beweglichkeit der Natur im Gegensatz zu der methodischen Steifheit der Musterblätter sie zu verwirren beginnt.

Arbeit – Arbeit –

Nicht zur Seite schauen. Stumpf abgeschlossen nach innen – gleichgültig nach außen. Ein langsames, zähes Vorwärtskriechen – ohne Kampf, ohne Ehrgeiz, ohne Zielbewußtsein. – – – –

Esther benutzte jede freie Zeit, besonders die langen Abende zu Zeichenstudien.

In ihrem Lilienzimmer saß sie bei einer kleinen Stehlampe, die fortwährend Petroleum aus dem Behälter schwitzte. Vom Nachbarzimmer herüber drangen zuweilen vorsichtig gedämpfte Unterredungen des schwindsüchtigen Brautpaars.

Fräulein Nancy schminkte sich jetzt seit einiger Zeit, und Herr Engel lebte nur noch von Morphium.

Wenn sie miteinander sprachen, so schien es sich stets um irgend welche Berechnungen zu handeln, die sie mit ihren rauhen, kranken Stimmen aufstellten.

Esther mußte daran denken, daß sie einmal »halbverhungert« hier aufgetaucht waren. Woher mochten sie kommen? Welchen Weg durch Entbehrungen mußten sie gegangen sein?

Mißtrauisch und argwöhnisch zeigten sie sich gegen jeden, der sich ihnen nicht feindlich näherte, denn sie glaubten sofort, der wollte etwas von ihnen. Warum sollte er denn sonst auch freundlich sein?

Unter jenen hatten sie gelebt, die sich auf den Fußbreit Erde drängen, den einer unter ihnen strauchelnd verliert. Sie hatten jeden Glauben an uneigennützige Güte verloren. Güte war ihnen nichts als Dummheit oder Verstellung. Selbst Fräulein Nancys Toilettenkünste mochten nicht weiblicher Gefallsucht, sondern einzig dem Ehrgeiz entspringen, noch als vollzählige Konkurrentin zu gelten – vollwertig an Kraft und Gesundheit, eine nicht zu übersehende Nummer unter denen, die neiden und beneidet werden. Sie wollte bis zuletzt als Rivalin im Kampf um die Arbeit mitrechnen.

Und doch gab es einen Funken von Güte auch unter ihnen. Das war die seltsame Liebe, die sie für einander hatten, diese rührende, oft grotesk wirkende Zärtlichkeit, deren unfreiwilliger Zeuge Esther zuweilen wurde. Die Besorgnis, die einer für das Wohlsein des andern hatte, und die sich oft im allernaivsten Materialismus ausdrückte.

Esther beschäftigte sich so viel mit dem möglichen Schicksal dieser Nachbarschaft, daß sie es zuletzt förmlich noch zu allem andern sich selbst auflud – zu allem Dumpfen und Erdbedrückten, was sie schon zu tragen hatte.

Mit den andern Bewohnern der Pension kam sie selten außer den Mahlzeiten zusammen.

Da gab es ein »Fräulein Doktor«, die nächst dem Baron Ehrhard von Dunkelmann den Stolz des Hauses bildete. Ja hier war sowohl der Geburtsadel wie der Adel des Geistes vertreten, wie Fräulein Schulze Esther gleich anfangs versicherte. Außerdem erschien noch eine kleine, zarte und sehr bescheidene Musikschülerin bei Tisch, die Fräulein Schulzes Wohlwollen unter der unausgesprochenen Voraussetzung besaß, daß sie sehr wenig aß.

Fräulein Doktor Obenauf, Assistentin an der Frauenklinik des Professors D., führte zumeist die Unterhaltung. Sie war sehr aufgeklärt und benutzte gewöhnlich die mittäglichen Zusammenkünfte, um auch der übrigen Tischgesellschaft den Segen geistiger Freiheit zu gewähren.

»Stellen Sie sich einmal vor,« schrie sie mit ihrem weithintönenden Organ, »wo sollte denn eine Seele sich verstecken? Das ist alles Humbug, alles!

Glauben Sie nicht, ich habe genug Menschenleiber zersäbelt, um wissen zu können, wo eine Seele Raum haben könnte? Da ist ganz einfach kein Platz sage ich Ihnen, kein Platz!«

Fräulein Schulz, die eine Pastorentochter war, machte hier einen Einwand: »Es glauben aber doch so viele Leute daran,« sagte sie und machte eine abwartende schiefe Kopfbewegung.

»Glauben! Hahaha glauben! Als ob das nur der allergeringste Beweis wäre!« trompetete die Obenauf. »Ich als Ärztin sage Ihnen, daß kein Platz für eine Seele ist, und damit Punktum.«

»So, so – ja gewiß,« sagte Fräulein Schulze und kroch in sich zusammen. »Als Ärztin müssen Sie das natürlich wissen.«

Esther hielt sich gern von solchen Debatten fern. Die kleine Musikschülerin schwieg, weil sie sich vor der Stimme der Ärztin zu fürchten schien, und weil sie sich vielleicht auch noch nicht weiter über seelische Angelegenheiten beunruhigt hatte. Der wirkliche Baron aber lächelte vielsagend.

Man wußte sehr wenig über das Leben des Barons. Er hatte jedoch einmal den Ausspruch gethan, daß ein Künstler die moralische Verpflichtung habe, sich nie durch eine Ehe zu binden, denn in diesem Falle würde er durch den heiligen Egoismus des Genies sowohl sich als seine Frau unglücklich machen, denn er sei infolgedessen nicht fähig, die Verantwortung auch noch für eine andre Individualität zu übernehmen.

Er sah sehr bewegt aus bei dieser Erklärung, und so schloß man fortan, daß er selbst zu jenen leidgekrönten Egoisten gehöre. Sobald die Rede auf eine Streitfrage der Kunst kam, mußte seine Autorität zur Entscheidung aufgerufen werden.

Und er hatte dann eine ganz eigenartig rätselhafte Art, in der er seine Aussprüche hervorbrachte.

»Die Dekadence vergleiche ich mit dem müden, rosigen Licht der Ampel,« sagte er. »Und ist dieses gedämpfte Licht der Nacht nicht sinnberückender als der grelle, plumpe Sonnenschein?«

Fräulein Schulze horchte andächtig auf, wagte aber nichts zu antworten, weil sie befürchtete, es möchte vielleicht nicht zart genug ausfallen.


Zuweilen kamen die Briefe aus Dänemark. Esther öffnete sie immer wie unter einer dumpfen Angst.

Es war kaum die Furcht vor schlimmen Nachrichten. Sie wußte ja, daß dort alles in dem lieben alten Gleichmaß vor sich ging. Aber die Erinnerung war es, die mit der Zeit immer mehr etwas unsäglich Bedrückendes für sie hatte – ein unbestimmtes Schuldbewußtsein kam nach und nach an Stelle jenes Gefühls, nur nach einer Notwendigkeit gehandelt zu haben.

Aber hätte es denn für sie eine andere Möglichkeit überhaupt gegeben? Hätte sie die Pflicht gehabt, dieses Verhältnis weiter zu tragen, weil sie es einmal eingegangen war?

Ihre Begriffe begannen unsicher und schwankend zu werden.

Und doch: Hier lag nicht das Verfehlte – aber dann wo? – –

Heftete sich das Unglück an ihre Person wohin sie trat? Gehörte sie zu den Vom-Schicksal-Gezeichneten, die überall das Unheil mit sich führen – ungewußt und ungewollt? – –

Ein Brief von Eliza kam, einer ihrer süßen unschuldigen Briefe, die ihre Art so unvermittelt übertragen konnten.

Und sie erzählte diesmal von einer großen Neuigkeit in Eriksgaard: Arne hatte sich verlobt.

Esther unterbrach sich im Lesen. Das war ja wie eine Erlösung!

Also war sie doch im Recht gewesen, wenn sie geglaubt hatte, daß eine noch unbewußte Liebe zu Thora ihn in jene zwiespältige Lage gebracht hatte! Sie selbst war nur zur rechten Zeit gegangen, wo das Ende sich schon vorbereitete.

Sie griff wieder zu dem Brief und las weiter –

Aber was war denn das?

»Seine Verlobte ist ein Fräulein Ingeborg Peersen, die er diesen Winter in Fredensborg kennen gelernt hat.«

Esther ließ den Brief sinken.

Sie schämte sich plötzlich. Es war kein großes, quälendes Schamgefühl – nur ein peinliches Erröten – jenes Empfinden, unter dem ein anständiger Mensch immer den Wunsch hat, zur Seite zu sehen. –

XI

Esther war jetzt über die mechanischen Vorübungen hinausgekommen. Die Arbeit fing an ein tieferes Eingehen zu beanspruchen.

Ihre Gedanken konnten nicht mehr wie bisher beständig die alten, ausgetretenen Wege, an toten und niedergehaltenen Empfindungen vorüber, gehen. Sie brauchte den ganzen Intellekt für ihre Thätigkeit, der sie sich mit immer größerem Eifer hingab.

Fast unwillkürlich gewann sie sich aus den Eindrücken ihrer Umgebung nur mehr Studien über Licht- und Farbenwirkungen und beobachtete die Gesetze der Plastik, die so eigentümlich von der Beleuchtung abhängig sind.

Erst jetzt verstand sie, wie viel Drangabe des reinen Intellektes jede Kunst beansprucht, die sich der Dilettant immer als eine mühelose Himmelsgabe vorstellt, wie viel Arbeit vor allem dazu gehört, den Zufall zu beherrschen.

Denn was ein einziges Mal unwissend wohlgelungen ist, soll wieder und wieder gelingen können unter der Leitung eines bewußten Willens. Das erst ist Können – Kunst!

Und so kam es, daß sie nach und nach mit ihrer ganzen Persönlichkeit überging zur Arbeit.

Ihr Gefühlsleben schrumpfte gleichsam zusammen bis zu jenen kleinen Alltagsempfindungen, die sozusagen zu den Anstandspflichten des Herzens gehören.

Sie war Zuschauer, nichts als Zuschauer gegenüber dem Leben.

Und das Leben rächte sich, so daß ihr jeder menschliche Eindruck zur hohlen, seelenlosen Karrikatur wurde.


In den freien Zeiten schlenderte sie oft durch die Straßen, ohne viel zu denken. Zuweilen erregten die Vorübergehenden ihre Aufmerksamkeit. Dann dachte sie noch einen Augenblick über sie nach, bis diese lässige Müdigkeit alles mit Gleichgültigkeit zudeckte.

Und doch war es in diesen Stunden körperlicher und geistiger Abspannung, daß ein Erlebnis an sie herantreten wollte.

Sie kam an einer der großen Kunsthandlungen vorüber, in deren Schaufenstern an jedem Sonnabend eine neue Ausstellung für die kommende Woche arrangiert wird.

Nach ihrer Gewohnheit blieb sie stehen, um die Bilder zu betrachten.

Und heute –

Sie sah und sah –

Und da war alles vergessen, was schwer auf ihr gelegen.

»Die Schönheit,« dachte sie nur, »die Schönheit!«

Auf der Höhe des Berges küßt der Mann in der Tracht eines fahrenden Sängers das Weib. Ganz zart berührt er ihre nackte Schönheit. Seine Augen sind geschlossen, um den Mund die Keuschheit des Betenden. Und über allem der stille, ruhende Ausdruck der Erlösung.

In dichter Fülle schlingen sich Rosen unter der goldenen Leiste hin, die den Abschluß des Bildes angiebt. Schwere brokatene Vorhänge, die in ihrer massigen Farbenauftragung den Vordergrund bilden, sind wie vor einem Heiligenbild zurückgezogen.

»Auf freier Höhe« heißt das Bild.

Und Esther stand davor und sah bald in den zart verblassenden Himmel, von dem sich eine kleine zitternde Birke abhebt – und dann auf die ruhige Schönheit der Frau, die mit einem entrückten Ausdruck ins Weite sieht, und sie betrachtete das Gesicht des Mannes, in dem noch die Qualen verflossener Jugendzweifel zu kennen sind hinter der Ruhe der Befreiung.

Endlich riß sie sich los.

Und es war, als sei noch einmal ihre Seele im Erblühen gewesen unter dem tiefen Eindruck der Schönheit.

Sie sagte sich: das ist es, was ich einmal können will – Aber giebt es denn noch etwas zu wollen, wenn das geschaffen ist? Ist nicht alles damit ausgesprochen, so daß jedes, was noch kommen kann, nur ein Stammeln und Nachbeten bleibt?

Und dann kam eine kurze Zwischenzeit, die ein scheues Glück für sie brachte.

An jedem Tag ging sie zu den Schaufenstern der Kunsthandlung. Und dort stand sie vor dem Bild, das in ihr die Sehnsucht geweckt hatte, auf die freien Höhen der Kunst zu gelangen.

Immer wieder ging sie dorthin und träumte von einem kühlen, lichten Glück – von der klaren, sanften Erlösung aus bedrückendem Menschentum – durch die Kunst. –

Aber die Kunst will die freie Lust und den heißen Lebenswillen eines übervollen Herzens, und es heißt ihre Göttlichkeit beleidigen, wenn man ihr auf den Trümmern eines zerbrochenen Schicksals den Tempel erbauen will. –

Als einmal das Bild nicht mehr im Fenster hing, sank Esther müde in sich zusammen – wie beim Erlöschen des Lichts.


Noch in den ersten Tagen des März erweiterte sich Fräulein Schulzes Pension um einen neuen Gast.

Um seinetwillen hatte man eine Tafel in den alten Ausziehetisch eingefügt, und der Braten erschien fortan auf einer noch pomphafteren Schüssel als bisher und lag in einem förmlichen Wald von Petersilienkraut versteckt, der seine Blätter üppig über den Schüsselrand hängen ließ.

Ja, Fräulein Schulze wußte, was sie dem Rufe ihrer Pension schuldig war.

Ihr kleines, bleiches Gesicht unter dem Spitzentuch erstrahlte förmlich bei der Vorstellung: »Fräulein von Preller – Schriftstellerin.«

Fräulein von Preller hatte ihren Platz zwischen Esther und der Ärztin bekommen.

Esther sah flüchtig auf und begegnete dunklen Augen mit einem guten Blick, die den Haupteindruck in dem etwas fahlen Gesicht machten. Der Mund war stark und tiefgekerbt in den Winkeln. Es war eine ursprünglich rohe Form, die beim Sprechen durch den Ausdruck von Grazie und Lieblichkeit veredelt wurde.

Die Doktor Obenauf nahm gleich Beschlag von ihrer Tischnachbarin.

»Sie kommen hierher, um Studien in der Großstadt zu machen, nicht wahr? O, da könnte ich Sie mit Verhältnissen bekannt machen – mit Verhältnissen –!«

Sie ließ durch einen Augenaufschlag die Art dieser Verhältnisse ahnen, fuhr jedoch, als keine Nachfrage entstand, von selbst mit einer Schilderung fort:

»Ich sage Ihnen, da kommt man manchmal in Häuser – Menschliche Wohnungen – nein! menschliche Wohnungen ist nicht der passende Ausdruck für solche Viehställe!

Denken Sie mal, da hat man kürzlich ein Gesetz erlassen, daß es verboten ist Schweine und Geflügel auf der Etage zu halten. Denn es ist vorgekommen, daß man in einem Zimmer den Hausherrn, die Hausfrau, zwei erwachsene Töchter, einen Zimmerherrn und ein Schwein einquartiert fand –

Faktisch, ich sage Ihnen: das alles ganz gemütlich in einem Zimmer!

Es lohnt sich wirklich, so was anzusehen!«

Wie sie jetzt einen Augenblick schwieg und beifallsuchend über die verlegene Tischgesellschaft hinsah, erwiderte Fräulein von Preller mit ruhiger Liebenswürdigkeit im Ausdruck:

»Ach nein, um solche Studien zu machen, bin ich keineswegs hergekommen. Es wäre mir zu unerträglich, derartige Zustände mit anzusehen, ohne da helfen zu können.

Ich könnte mir denken, daß einen das ganz mut- und kraftlos macht für jede gewohnte Thätigkeit, wenn man einsehen muß, daß man so machtlos davorsteht.

Ich wenigstens möchte einen solchen Versuch mir nicht zutrauen.«

Doktorin Obenauf lachte dröhnend. »Das müssen Sie sich aber abgewöhnen, wenn Sie Schriftstellerin sein wollen! Man muß alles sehen können! Leute mit Nerven taugen nichts!« schrie sie, so daß die kleine Musikschülerin entsetzt zusammenzuckte.

Ehrhard, Baron von Dunkelmann lächelte überlegen.

Als keine Antwort von seiten der Angeredeten erfolgte, knüpfte Doktorin Obenauf mit einer neuen Frage an:

»Sie können gewiß gar nichts vertragen, nicht wahr?

Da müßten Sie sich mal zur Abhärtung die Bilder in einem meiner medizinischen Werke betrachten! Donnerwetter, da würden Sie schön Ihre Nerven bekommen!

Die könnten Sie nicht ansehen – und da die Fräulein Franzenius auch nicht, – das versichere ich Ihnen!«

Die beiden also Zusammengestellten betrachteten sich unwillkürlich lächelnd. Dann wandte sich Fräulein von Preller zu der Doktorin.

»Sie könnten vielleicht in Ihren Voraussetzungen recht haben, Fräulein Doktor,« sagte sie. »Darin nämlich, daß es nicht das Ziel meiner Wünsche ist, physiologische Abnormitäten mit Wohlgefallen betrachten zu lernen. Im übrigen kann ich Sie aber über den Zustand meiner Nerven vollkommen beruhigen.«

Die Obenauf fühlte nun doch eine Zurückweisung durch und lenkte ein:

»Wie wollen Sie denn aber als Schriftstellerin das Leben, wie es nun einmal ist, richtig beschreiben, wenn Sie sich vor jedem dritten Eindruck fürchten?«

»Ich glaube, so viele Schriftsteller es giebt, aus so viel verschiedenen Gründen schreiben sie – und eben so verschiedenartig sind die Eindrücke, die sie dazu veranlassen. Ich kenne zum Beispiel ein junges Mädchen, der es möglich ist, sich jeden Kummer wegzuschreiben. Manchmal fängt sie weinend an und über dem Arbeiten wird sie ganz froh und ruhig. Ihren Sachen sieht man es aber keineswegs an, daß sie alle unter Thränen und Traurigkeit entstanden sind – sie reden alle von dem, wohin sich nur eines Menschen Sehnsucht gern verlieren mag.«

»Das ist aber nicht das richtige. So egoistische Leute, die nur für sich allein was schaffen, sind keine Künstler,« erklärte die Ärztin. »Die Kunst muß social sein in allererster Linie.«

»Es mag wohl sein, daß sie keine wirkliche Künstlerin ist,« sagte Fräulein von Preller. »Man kommt ja oft ganz von ungefähr zu seinem Titel – So verdanke ich ihn im Augenblick nur Fräulein Schulzes Liebenswürdigkeit die –«

»Aber gnädiges Fräulein!« rief hier Fräulein Schulze ganz ängstlich, »entschuldigen Sie doch, aber ich habe Ihnen heute selbst einen Brief gebracht, der so adressiert war!«

Fräulein von Preller lachte. »Ja dann wird am Ende so eine fremde Redaktion besser wissen, was ich bin, als ich selbst!

Den Titel aber überlasse ich trotzdem lieber denen, die sich einen Beruf aus dem machen, was mir etwa nur – Erleichterung ist.«

Da bekam die Ärztin ein ganz strenges Gesicht. Sie drückte ihren ausgestreckten Zeigefinger in die Schulter ihrer Nachbarin und fragte ausdrucksvoll: »Jetzt sagen Sie mir aber mal, mein bestes Fräulein, mit welchem Recht machen Sie mit ihren leichtsinnigen Anschauungen da denen Konkurrenz, die von nützlichen und angebrachten Dingen aus selbstgeschöpfter Erfahrung zu reden wissen, und die auch die Unannehmlichkeiten ihres Berufs nicht scheuen?«

Da bekam das junge Mädchen einen ganz eigen hoheitsvollen und abweisenden Ausdruck.

Es giebt Menschen, die ihre Wahrheiten in keiner Stunde der Intimität verraten, denen es aber nicht darauf ankommt, sie in freier Willkür gleichsam denen vor die Füße zu werfen, die ihnen mit unverständigen Angriffen begegnet sind. Es ist das ein unerklärliches Bedürfnis, sich gerade da auszusprechen, wo man gewiß ist, tauben Ohren zu begegnen.

So sagte sie: »Ich schreibe, weil es so viele Dinge giebt, nach denen ich mich sehne – Und ich schreibe, weil ich alles das loswerden will, was in meinem Leben traurig und verfehlt gewesen ist.

Zu lange und zu schwer an den Dingen tragen entkräftet – da wird man ihrer ledig – in der Kunst –

Und Ideale giebt es, die sind schön und zart über die Maßen – aber sie taugen nicht in das Leben – da trägt man sie hinüber in die Kunst.

Denn es gilt vor allem, das Leben zu hüten, weil nur von einem ganzen Menschen ganze Kunst kommen kann.

Aber sollte es dennoch eine Wahl geben zwischen Leben und Kunst, so würde ich immer sagen, ›das Leben ist das bessere – das Leben!‹«

»Welche Lästerung der Kunst!« schrie die Ärztin entsetzt, wandte sich ab und vertiefte sich fortan nur mehr in die Genüsse, die der Wald aus Petersilienkraut verbarg.

XII

Esther konnte oft des Nachts nicht schlafen. Sie hörte dieses gequälte Husten des Schwindsüchtigen, und wenn es so ganz unerträglich wurde, fühlte sie sich immer versucht, aufzuspringen und irgendwie zu helfen.

Sie litt mit unter diesen entsetzlichen Anstrengungen des Atemholens. Sie machte jeden Anfall mit durch, der ihn mit einem leisen, keuchenden Husten durchschüttelte, und sie selbst atmete erleichtert auf, wenn sich endlich dieses verzweifelte Ringen nach Luft wieder legte. –

In einer Nacht, da mußte es wohl besonders schlimm sein. Sie hörte ihn nach der Verlobten rufen:

»Nancy! Nancy! Hilf –«

Und nach einer halben Minute wieder: »Kommst du nicht?« –

»Sei still, sei still!

Bleib nur ganz ruhig liegen. Ich bin schon da.«

Die Stimmen und Geräusche klangen mit einer hohlen Deutlichkeit durch die Stille der Nacht.

Esther konnte hören, wie Nancy ihm sein Morphium gab und sich dann ans Bett setzte und hüstelte.

»Ist dir auch nicht kalt, Nancy?«

»Bewahre, ich bin abgehärtet.«

Eine Weile war alles ruhig, dann: »Mir ist so gut jetzt – aber magst du noch ein bißchen dableiben?«

Esther verstand diesmal keine Antwort.

»Erzähle mir, Nancy, sprich davon, wie es sein wird, wenn wir verheiratet sind und drüben in Königs-Wusterhausen in dem kleinen Häuschen am Walde wohnen –«

»Ja, das wird gut sein,« sagte Nancy – »gut für uns beide. Dann haben wir uns ein nettes bißchen Geld zusammengekratzt und können auf die elende Hetzerei mit den Redaktionen pfeifen.

Dann schreibst du in aller Gemütsruhe an deinem Roman, und wenn die Hofjagden sind, dann verständigen wir uns mit ein paar Zeitungen und können in aller Bequemlichkeit das Material für die interessantesten Berichte sammeln.«

»Ach Gott ja, mein Roman! – Elend lange liegt der nun schon!«

»Na Schatz, dann hast du ja doch Zeit die schwere Menge!« –

»Famos ist Wusterhausen – findest du nicht?

Der Park mit den Linden –

Und so überall diese Ruhe –

Man sollte denken, da könnte eins in aller Geschwindigkeit wieder zu Kräften kommen!«

»Sprich nicht so viel. Ich erzähle dir lieber –

Weißt du noch, wie wir zum ersten Mal dort waren und über die Heide fuhren? So viele gelbe Blumen blühten gerade. Der Kutscher sagte, daß es Ginster wäre. Wir haben dann ja auch 'n ganzen Packen abgerupft, aber in der Bahn haben wir sie vergessen.

Und dann bei der Mühle. Da hingen die Zweige von den Kastanienbäumen bis ganz ins Wasser – höchst malerisch! muß man sagen. Man hätte 's gleich für 'n Gedicht verwenden können – wenn man nicht die Lyrik so schlecht bezahlt wäre.«

»Das elende, elende Geld!«

»Gut genug, wenn man's hat!«

»Nancy, rechne mal: wann haben wir genug zusammen?«

»Na, warte mal –

Wenn wir uns vielleicht an dem Preisausschreiben beteiligen – wir können ja gut zusammenarbeiten – und wenn wir dann vielleicht den dritten Preis zu 5000 Mark bekommen, dann steht doch überhaupt nichts mehr im Wege, dächt' ich?

Dann gingen wir vielleicht erst noch den Winter über nach Davos – Du weißt ja, da ist jetzt die großartige Einrichtung für unbemittelte Lungenkranke. Und wenn wir dann unser bißken los sind – und 's wird recht schön warm bei uns hier – so gegen Mai hin – dann siedeln wir über.«

»Nancy, weißt du's noch genau: wie heißen gleich die Bedingungen für das Preisausschreiben?«

»Ein moderner Stoff, der Tagesfragen berührt – nicht über 20.000 Zeilen –«

»Nicht über? – Das ist gut! Als ob jemand mehr schriebe, wenn nicht Zeilenweise bezahlt wird!«

»Tagesfragen – liegen uns ja nahe.«

»Können wir – mit Leichtigkeit.«

»M. w. – m. w.!« sagte Fräulein Nancy.

»Nancy – war nicht neulich in der ›Litterarischen Praxis‹ nicht auch ein Preisausschreiben zur Reklame für eine Strumpfwirkerei?«

»Jawohl: 300 Mark als erster Preis. M. w. ebenfalls.«

»Nancy – ich bin – jetzt – müde.«

»Na, dann gute Nacht, mein Schatz!«

Esther hörte Fräulein Nancy in ihr Zimmer zurückgehen. – – – –

Am nächsten Morgen kam Fräulein Schulze ganz verstört zu Esther hereingestürzt.

»Ach Gott, mein liebstes, bestes Fräulein,« rief sie, »ich möchte ja nicht, daß es jemand anders erfährt, aber zu Ihnen muß ich mich nun aussprechen – sie haben es auch am Ende so dicht nebenan schon selbst gehört: Ihr Zimmernachbar ist heute früh gestorben – an einem Blutsturz – so ganz auf einmal!«

Esther fühlte, wie sich ihr die Kehle zusammenschnürte vor Mitleid und Entsetzen.

»Weiß es denn schon die Braut?« fragte sie endlich.

»Jawohl, die sitzt bei ihm und will niemand bei sich haben. Sie sagt, daß sie ausziehen will, sowie er unter der Erde ist.«

»Kann man denn nichts für sie thun?« fragte Esther mechanisch. Und dann noch einmal voll Wärme: »Besinnen Sie sich doch, Fräulein Schulze, was man da thun könnte!«

»Da kann nur unser Herrgott helfen – für mich ist dieses ganze Vorkommnis ja auch sehr peinlich – wer weiß, ob niemand deshalb auszieht,« sagte Fräulein Schulze und wischte sich mit dem Taschentuch die Augen.

»Ach nein, vielleicht ist es doch möglich,« meinte Esther, »ich will jetzt gleich vor der Malstunde einmal hinübergehen.« –

Sie klopfte an und trat auf ein rauh hervorgestoßenes »Herein!« in das Zimmer.

Es war ein ganz winziges Kämmerchen – ungleich dürftiger noch als das ihre.

Der Tote lag ausgestreckt auf seinem Bett. Er hatte ein leidensverzerrtes Christusgesicht.

Esther ging auf Fräulein Nancy zu, die ihr feindlich entgegenstarrte. Sie wagte kein Wort des Beileids zu sagen, bot nur ganz schlicht ihre Hilfe an.

»Lassen Sie mich in Ruhe,« sagte Fräulein Nancy, »ich gehe Sie nichts an, und Sie gehen mich nichts an. Das hier ist allein meine Angelegenheit.«

Esther ging still wieder hinaus. Sie traf Fräulein Schulze im Gang. »Nun,« fragte die, »haben Sie was erreicht?«

Esther verneinte niedergeschlagen.

»Ich sagte es Ihnen ja, liebes Fräulein, da kann nur unser Herrgott helfen!«

XIII

In den Straßen ging die Luft weich und wehend. Esther spürte diesen feinen, durchdringenden Geruch des einbrechenden Frühlings, und da stieg es plötzlich in ihr auf wie eine leise Neugier nach fernen, fernen, halbvergessenen Dingen.

Wie ist doch das?

Man geht an Frühlingstagen wie durch ein Feld, auf dem Erwartung und Sehnsucht nach künftigem Genießen sproßt.

Ist es wohl so? –

Aber sie – sie gehörte doch zu denen, die für sich selbst nichts mehr zu erwarten haben – denen sich das Leben geweigert hat. Zu denen, die nur noch tapfer sein wollen.

Doch der Wind streifte sie wie ein verwehter Klang der Heimatssprache.

Wie träumend ging sie von dem gewohnten Rückweg aus der Malschule ab und verfolgte die Richtung nach dem Tiergarten.

Überall standen an den Straßenecken Blumenverkäufer mit italienischen Anemonen und Mimosenzweigen, deren linder Geruch gleichsam die Luft verjüngte.

Esther trat in einen Blumenkeller und kaufte ein paar Narzissen – ihre Lieblingsblumen. Sie trug sie sinnend vor sich her.

Über den Straßen des Tiergartenviertels glänzte weißes, trocknes Licht. Aus den Gärten herüber drang üppiger Blumenduft der ausländischen Pflanzen, vermischt mit dem herben Geruch von jung keimendem Grün.

Und dann war der Tiergarten erreicht.

Ein zartgrünes, durchdringendes Licht spiegelte von den jungen Blattknospen auf den Weg herab.

Wie schön das alles war. Ja, sie wußte, daß alles das schön war, was sie umgab – aber sie vermochte es nicht zu fühlen. Eine lähmende Starrheit lag über ihrer Seele, die der alte leichtbewegliche Schönheitssinn vergeblich zu durchbrechen suchte.

Wie Scham über ein heimliches Gebrechen empfand sie diese Starrheit plötzlich. Und sie quälte sich damit und suchte nach Gründen.

Sie dachte: Wie kann es nur sein, daß eine bloße Enttäuschung, die uns nicht einmal im tiefsten traf, so zu töten vermag, während ein großer, echter Schmerz lebenschaffend wirkt?

Sie erinnerte sich, wie sie einmal das Leid getragen hatte wie ein heimliches Glück. Wie ringsum alles zu Leben erstand – geheimnisreich und tief. Wie jeder Vorgang bedeutungsvoll wurde, weil er sich in einem heißen Herzen spiegelte.

Doch dann war jener Irrtum des Fühlens gekommen, der die Lebenskraft langsam, fast unmerklich in sich sog, der sie ganz im geheimen leer und unfähig machte, während ihr schien, sie habe kaum etwas daran gesetzt. – –

Sie ging an den Teichen entlang, dann über eine Brücke.

Schwäne kamen fauchend und mit erhobenen Flügeln angeschwommen. Wie ein hellgrünes Netz über schwarz-goldenem Grund spiegelten sich die jungen Knospen im Wasser.

Esther blieb stehen, senkte den Kopf immer tiefer, lehnte sich an den Brückenpfeiler.

Da kamen ihr ein paar Worte – arme, geborgte Worte – sie hatte wohl keine eigenen mehr: Verfehlte Liebe – verfehltes Leben – –

Und die Schwäne reckten sich zischend zu ihr herauf, und die Worte fielen wie eine geheimnisvolle Last in das golden schwarze Wasser. – – – –

»Fräulein Franzenius, da stehen Sie nun immer und unterhalten sich mit den Schwänen?«

Esther sah auf. Fräulein von Preller stand neben ihr.

»Ich habe Sie gar nicht gesehen,« sagte Esther mit einem scheuen Lächeln.

»Natürlich nicht,« meinte die andre und sah ihr mit einem sonderbar guten und warmen Blick entgegen.

Esther dachte: »Sie ist schön.« Und dann: »Hat sie mir auch jetzt eben gewiß nichts ansehen können?«

Nein, gewiß ahnte sie nichts dergleichen. Sie fragte ganz harmlos: »Darf ich nun mit Ihnen zurückgehen? Denn wir müssen doch gewiß recht pünktlich zum Mittagessen kommen, sonst machen wir das arme Fräulein Schulze ja unglücklich.«

»Gern, wenn Sie mögen.«

Esther war ganz erleichtert, daß sie sich nicht durchschaut fühlen mußte.

So gingen sie nebeneinander durch den Tiergarten zurück.

Fräulein von Preller machte kleine Bemerkungen über die Umgebung. »Schade, daß ich kein Brot für die Schwäne mithabe,« sagte sie. »Sie erwarten es eigentlich nicht anders von jedem Vorübergehenden. Sie stellen sich auf und fordern Zoll. Und wer nichts zu geben hat, den verfolgen sie höchst ärgerlich noch ein Stückchen auf dem Land, dort wo es ihnen eigentlich schon fast unmöglich ist, sich fortzubewegen. Alles das, weil sie sich recht sehr enttäuscht fühlen.«

Dann kam ein Kinderfräulein vorbei mit einer Schar kleiner aufgeputzter Judenkinder. Sie trippelten alle ganz vorsichtig in ihrem Staat einher und hatten traurige, müde Augen.

Fräulein von Preller sagte: »Es thut mir immer weh, wenn ich Kinder sehe, die nicht laufen und springen dürfen. Mir scheint, solche Kinder haben für ihre kleinen beständigen Entsagungen mehr zu dulden, als irgend ein Erwachsener über seinen reifen Kummer, den ihm das Schicksal auferlegt. Immer wenn ich solchen kleinen unglücklichen Wesen begegne, wünsche ich mir nichts mehr, als an Stelle dieser leeren Holzpuppen zu sein, und dann würde ich selbst mit den Kindern um die Wette Kinderstreiche machen. – Natürlich wäre ich dann bald genug von der betreffenden gnädigen Mama entlassen,« setzte sie lachend hinzu.

Esther hörte gern zu. Die alleralltäglichsten Sachen klangen gut und warm durch die Art, wie sie gesprochen wurden, und die etwas tiefliegende Stimme war wie von Leben durchzittert.

Da plötzlich nach einer kleinen stummen Pause brach Fräulein von Preller in die Worte aus: »Ich wollte, alle Geheimnisse wären so schön wie die eines Frühlingstages. Kein Mensch dürfte etwas Trauriges verbergen – dann würde ein jeder umhergehen und den andern glücklich machen mit dem, was er verschweigt.«

»Was kann ein Mensch dazu thun, wenn er trübe Geheimnisse tragen muß?« sagte Esther leise.

»Sie tot machen! Sie ganz ertöten und überwinden, und dann – ein neues Glück darauf bauen!«

»Glauben Sie nicht, daß es Verhältnisse giebt, die kein neues Glück zulassen – die das Glück nicht zulassen?«

»Nein – nie!«

»Sie meinen?«

»– daß jedes Glück gewollt und erzwungen werden kann.«

»Glauben Sie nicht, das ergäbe eine recht billige Moral?«

»Ich weiß, daß sich das, was ich jetzt sagen will, sehr leicht mißverstehen läßt – trotzdem: ich glaube, daß für jeden Menschen, auch für den, der gewohnt ist, nie nach billigen Moralen zu handeln, einmal der Augenblick kommt, wo er sich jenseits der Moral stellt. Es ist für ihn der Ausnahmefall – das Zugeständnis an die Forderung des brutalen Lebens. Wann diese Zeit aber gekommen ist, hat jeder anständige Mensch allein mit sich selbst abzumachen. Er allein muß wissen, wie viel Kampf und Schmerz er einzusetzen hat, ehe er sich sein Glück nimmt.

Man hat viel von einer Moral gesprochen, die im Namen der Schönheit und Freiheit verkleideten Häßlichkeiten das Wort redet. Darüber sind wir jetzt hinaus. Unsre ganze Zeit ist darüber hinaus. Wir wissen nur mehr von einer Ästhetik, die sich mit Ethik deckt.

Wir haben uns von den mißverstandenen Idealen der Freiheit entfernt und lassen wieder die Gesetze der Güte und Großmut über uns stehen, die im Grunde stets für den besseren Menschen gegolten haben. Und an wen es nun kommt, daß er abweichen muß, von dem, was er für gut hält, der hat einen strengen Kampf mit sich selbst zu führen – und er wird ihn hart kämpfen – nur sich nicht zerstören lassen.«

»Aber könnte es nicht einmal – die Pflicht eines Menschen sein, sich in diesem Sinn zerstören zu lassen!«

»Nie. – Allein schon darum nicht, weil ein gebrochener Mensch – ganz objektiv geurteilt – durch seine Person ebensoviel Unheil anrichten muß, wie er sonst Glück geben könnte. Sein Bestes kann ja nur noch Resignation sein.«

»Und das Unglück, das er anrichtet, wenn er sich nimmt, was ihm nicht zukommt?«

»Das – muß er als ehrlicher Streiter thun. Und noch einmal: Er muß wissen, wann er es thun darf – er allein.

Ein guter und ganzer Mensch wird immer von guten Instinkten geleitet – ein gebrochener kann nur noch Unheil anrichten – ganz unbewußt und ungewollt vielleicht.« –

Sie gingen nun das letzte Stück schweigend nebeneinander. Das helle Frühlingslicht floß zitternd an ihnen herab. Esther war es, als hörte sie ganz von ferne Glocken klingen. Feiertagsglocken waren das – wurde nicht das Leben eingeläutet?

Das alles drängte sich ihr so heiß zu Herzen. Und auch das Traurige wurde milde.

Esther dachte: »Das war es – ja, das war es: ich mußte Unheil anrichten – überall wohin ich kam. Ich hatte nichts Ganzes und Gutes einzusetzen, weil ich dort nicht kämpfen durfte, wo meine Seele begehrte. – –

»Mit meiner ganzen Seele begehre ich nach dir!«

Ja, mit diesen Worten dachte sie plötzlich an den alten Wunsch. Lebensvoll wie nur je trat er hervor aus langem, langem Schweigen.

Der Kampf war zu Ende.

Dritter Abschnitt

XIV

So oft hatte Esther sich die Heimkehr in Gedanken vorgestellt, daß nun die Wirklichkeit für sie gar kein Leben gewinnen wollte.

Sie ging immer nur vor sich hin und dachte, ob es dies eine Mal auch gewiß kein Traum sei, wie so oft schon vorher.

Es war ein weicher Märztag gegen die Dämmerung zu, und überall lag noch ein Duft von Sonnenwärme. Kein bekannter Mensch begegnete ihr unterwegs. So kam sie bis an den Garten.

Sie konnte sich Zeit lassen. Niemand ahnte ja, daß sie schon hier war. Leise klinkte sie das Pförtchen auf und ging über die regenfeuchten Wege. Bräunlich war noch der Rasen von vergangenem Schnee, nur einzelne frischgrüne Lichter lagen darüber.

Aber da – hinter den großen Erlen wuchsen Schneeglöckchen!

Wie oft hatte sie sich den Garten vorgestellt und immer gemeint, so bis auf alle Einzelheiten noch alles genau zu wissen. Und nun wuchsen da Schneeglöckchen, an die sie nie mehr gedacht hatte.

Nein, es war kein Traum, diesmal!

Ein unendlich zärtliches Gefühl – eine kindliche, kindliche Freude erfüllte sie. Und sie meinte, es hätte ihr kein lieblicheres Erlebnis werden können, als daß daheim die Schneeglöckchen blühten.

Weich und fast heiter war sie, während ihr stille, warme Thränen über das Gesicht liefen. Alle großen, leidenschaftlichen und dunklen Empfindungen schwiegen vor der kleinen, kindlichen Freude.

Alles war gut und milde in ihr, und sie war bereit, unter glückliche Menschen zu treten. –

Sie ging langsam auf das Haus zu. Amseln rannten vor ihr über den Weg und versteckten sich zwitschernd in den kahlen Büschen. Das Haus lag stolz und feierlich vor ihr. Alles war ihrem Herzen ein weiches Entzücken.

Da trat jemand auf die Veranda heraus. War das Lydia? Sie schien so viel weiblicher, anmutiger.

Sie ging hin und her, dann blieb sie am Geländer stehen, und ihre Finger spielten in den dürren Weinranken.

Esther kam langsam auf sie zu. »Lydia!«

Das Mädchen griff sich nach dem Herzen. Dann schritt sie zögernd die Stufen hinunter in den Garten, während Esther unwillkürlich stehen blieb.

»Ach du, mir war es, als müßtest du da sein,« sagte Lydia. »Deshalb bin ich herausgekommen.«

Sie gaben sich die Hand, denn es waren nie nähere Zärtlichkeiten zwischen ihnen üblich gewesen. Aber Esther fühlte die ganze alte Treue in dieser einfachen Begrüßung.

Dann gingen sie miteinander, sich noch immer bei der Hand haltend, ins Haus hinein.

»Ich bringe sie Euch!« sagte Lydia, und Esther sah die beiden zusammen, die sie in Gedanken hatte trennen wollen.

Sie waren schöner noch geworden – beide. Und es schien, als könne man sich keinen ohne den andern denken. Sie paßten zusammen, wie ein Bildwerk, das der Künstler aus einem einzigen Marmorblock gemeißelt.

Fast schien es, daß eine körperliche Ähnlichkeit zwischen ihnen entstanden war.

Maria nahm die Schwester in ihre zarten Arme und küßte sie. Esther fühlte einen warmen, schmeichelnden Hauch im Gesicht.

Wie war es doch? War sie nicht gekommen, um dieser da das Glück zu rauben?

Das alles lag so fern.

Sie fühlte sich auf eine neue, feinere Art eins mit ihnen allen. Das tödliche Begehren schwieg.

»Wie schön, daß Sie gekommen sind, Esther,« sagte Lothar.

Esther fühlte etwas Fremdes an ihm – vielleicht, daß seine Freudigkeit leichter, harmloser als früher war. Er hatte ja auch im Glück gelebt.

»Ja, wir wollen es jetzt gut miteinander haben – und nie wieder gehst du fort, Schwesterlein, ja? Versprich uns das!«

Und Maria hob sich ein wenig auf die Fußspitzen, während ihre Hände auf Esthers Schultern ruhten. So waren sie gleich groß, daß sich die Gesichter gegenüberstanden. Maria lächelte zärtlich.

»Wenn du wüßtest, wie glücklich ich bin, wieder hier zu sein,« sagte Esther.

»Ja – nicht wahr? Ich habe nie begreifen können, daß du fort mochtest.«

Nun mußte Esther erzählen. Sie wunderte sich selbst, wenn sie so leicht über die vielen Kleinigkeiten reden konnte, die teils aus einem allzubedeutungsvollen Leben stammten, teils aus jener toten Zeit, wo alles Äußerliche an ihr vorüberging, wie ein gelesenes Wort, das nicht zum Herzen dringt.

Zuweilen begegnete sie Lydias gutem Lächeln.

»Aber ich will nun zum Vater,« sagte Esther.

Ach richtig, der Vater! Ihn hatte man ja ganz vergessen.

»Mein liebes Kind – mein liebes Kind,« sagte der alte Franzenius immer wieder und schüttelte seiner Tochter die Hand.

»Vater –« Esther sprach es ganz leise, gleichsam, wie um sich zu erinnern.

»Wie geht es dir denn, mein liebes Kind?« Er besann sich sehr, um etwas zu reden. Eigentlich gab es ja gar nichts zwischen ihnen, was sie sich mitteilen mußten. Sie hatten eben nur immer nebeneinander hergelebt und nur das besprochen, was der Alltag mit sich führte. –

Und dann saßen sie alle zusammen um den großen runden Tisch. Und Lydia hatte die Theemaschine vor sich und sah sehr hausmütterlich aus. Alle behandelten sie mit sehr viel Respekt und zugleich mit einer Art, als ob sie ganz schrecklich abhängig von ihr wären.

Lydia hatte Würde bekommen.

Es lag etwas Zufriedenes, Beglücktes über einem jeden von ihnen. Esther fühlte, hier war sie nicht entbehrt worden.


Am nächsten Tag ging sie mit Maria durch den Garten.

Maria ließ die knospenschweren Zweige durch ihre Finger gleiten. »Bald werden wir Blüten haben,« sagte sie. »Und auch heiraten können wir dann.«

Esther traf es so tief und schneidend. Sie hätte sich aufbäumen mögen, wie ein verwundetes Tier.

Sie blieb vor Maria stehen.

»Hör' mich, Maria, ich muß dir etwas sagen –«

Maria sah ihr ruhig und unschuldig ins Gesicht.

Nun mußte sie der Schwester gestehen, daß sie gekommen war, um ihr den Geliebten zu nehmen. Ja, das mußte sie jetzt, damit es ehrlich war, zwischen ihnen.

»Hör' mich, Maria, ich muß dir etwas sagen,« wiederholte sie zögernd.

Und dann zitterte ihr Blick fort von den klaren, fragenden Augen der andern – und sie ging wortlos weiter.

»Was war es, das du mir sagen wolltest?« fragte Maria neben ihr hinschreitend.

»Nichts – o, nichts von Bedeutung.«

»Arme Esther, du siehst so gequält aus – du mußt viel gelitten haben,« sagte die schöne Maria. Und über ihr wiegten sich segnend die blütenverheißenden Zweige, und die Blümlein freuten sich, wenn sie das Kleid der Allerschönsten streifte. –

Lothar kam in den Garten. Und wie von je suchten seine Augen Marias gesegnetes Angesicht. Aber nicht mit dem müden, schweren Ausdruck von einst kam er zu ihr – die Frohheit und Sicherheit des Glückes hatte auch ihn durchdrungen.

Esther dachte: wir sind uns so viel fremder geworden. Ich muß ihm ja nicht mehr wie damals mit Schmerzen folgen – er ist glücklich.

Und das Gefühl der Einsamkeit, das vor der ersten Heimatsfreude zurückgewichen war, durchdrang sie wieder.

Nie wird es sich aus einem Menschen löschen, wenn er einsam gewesen ist in jener bittern, schweren, sehnsüchtigen Einsamkeit, die zu keusch ist, um nach »Menschen« zu greifen.

Die lieber ihr Leid trägt, als sich an ihrer Schmerzen Heiligkeit vergreift.

Und die doch so arm und tiefgebeugt werden kann, daß sie sich sehnt, mit weggewandtem Gesicht die Hand auszustrecken, bettelnd, ohne den Geber zu sehen – um dann doch immer nur die Gabe verschmäht aus den Händen gleiten zu lassen.

Denn heiliger sind alle Schmerzen der Sehnsucht, als jede Erfüllung aus fremder Hand. –

Und sie dachte: Ich möchte dich hinabziehen zu meinen Schmerzen, zu meinen Entbehrungen und Kümmernissen. Nur daß ich dich für mich allein hätte.

Du bist mir fremd geworden in deinem Glück. Ich aber sehne mich nach Schmerz und Erdenschwere an deiner Seite.

Alle Güte war von ihr gewichen. Sie sah auch nicht die Lieblichkeit der Schwester mehr.

Sie sah Lothar mit einem dunklen Blick an. »Ich muß dich zu mir sehnen können,« dachte sie.

Seine Augen aber glitten an ihr vorüber. Und er verstand sie nicht. –

O sie wußte wohl, er war nicht von jener feilen Art, die sich durch ein Wohlgefallen von ihrer Liebe ablocken läßt, wie jener, an dem sie sich geirrt hatte –

Aber das was sie ihm bot, mußte er doch fühlen als das Kostbarste, was je ein Mensch dem andern bewahrte – die Sehnsucht eines ganzen Lebens –

Diese todesstarke Sehnsucht mußte ihn zu ihr zwingen. –

XV

Und der Frühling kam so mit Macht!

Einmal noch hatte der Winter das frühe Grün überdeckt, aber nun tauten schon wieder die Wasser von den Bergen und schossen durch das Flußbett. Weidenruten wurden im raschen Vorüberbrausen ergriffen, bogen sich, wehrten sich, wurden von der Strömung in die Länge gezogen und schnellten das Wasser peitschend zurück. Die Wiesen aber glichen Teichen, aus denen das Erlengesträuch mit hilflos erhobenen Armen emporstarrte. Und fortwährend war ein Rauschen in der Luft, als stürme die Sehnsucht durch das Land.

Ja, alle Einsamkeit wollte sterben, und in jedem Auge war Hoffnung. –

Esther fühlte sich so eng verbunden mit ihrer Heimat, mit diesem Land, wo der Frühling so anders kommt als anderwärts. Wo er kommt wie ein plötzlicher starker Wille nach langer Beherrschung, wie ein Wille, der niedergekämpft lag in langen Zeiten – niedergehalten mit ehrlicher Kraft. Und nun steht er auf – wild und riesenstark geworden, während er gebändigt darniederlag.

Esther fühlte sich so eng verbunden mit ihrer Heimat, mit diesem Land. – – – –

Und das Wasser trat zurück und leuchtete in der stolzen schimmernden Ruhe der Blütenzeit.

Wie mit weißem Schaum bedeckt standen die Bäume. Und war es nicht, als hörte man die Erde knistern unter dem Hervorbrechen der Blumen?

Alle Farben waren blank und glatt vor Unberührtheit. Ein feiner, schwebender Duft ging wie Liebesahnung durch die Natur, wurde voller und stärker und strömte zuletzt wie ein einziger tiefer Klang über alles Land. –

Hätte jetzt jemand Esther gefragt: »Ist es so? Ist es das: Du gehst umher und suchst den mit Gewalt an dich zu reißen, den du liebst – du bist schön geworden, weil du siegen willst, ist es das, Esther?« – Hätte jemand so gesprochen, so würde sie antworten müssen: »Ja, so ist es.« Und sie hätte auch noch gesagt: »Sieht mir das nicht ein jeder an? Ich bin schön geworden, weil ich seiner begehre!«

Wie eine köstliche Gewißheit trug sie es in sich, daß er zu ihr kommen würde, kommen mußte eines Tages. Ihr schien, sie hätte nicht mehr gejubelt und nicht mehr geweint, wäre es so gekommen – sie hätte es souverän entgegengenommen, als das was ihr gebührte.

Da war kein Zweifel mehr und auch kein Zurückschrecken vor dem Leid, das sie der Schwester damit thun wollte –

Es gab nur noch das eine Recht, das sie sich kraft einer todesstarken Sehnsucht errungen hatte. – –

Sie ging im Garten und hörte auf seinen Schritt. Sie wußte immer im voraus, wenn er kommen würde. Sie brauchte sich nicht einmal nach ihm umzusehen – sie kannte ein jedes Geräusch, das mit seinem Kommen zusammenhing.

An den Fliederbäumen blieb sie stehen, die ihre kleinen Blüten noch wie Fäustchen ballten.

»Bis der Flieder blüht, sollst du mir gehören,« dachte sie.

Und wenn er vor ihr stand, sagten ihre Augen: »Komm zu mir! Komm zu mir!«

Und sie ging hinaus in die Berge. Und dort, wo alle verschwiegenen Plätze ihre alten Geheimnisse kannten, warf sie sich an den Erdboden – mitten hinein in die honigduftenden, sonnengelben Schlüsselblumen und dehnte ihre festen jungen Glieder und that die Augen weit auf vor dem Licht.

Und dann fühlte sie die Liebe wie ein leises Beben am Herzen und horchte – horchte hinein in den Frühlingstag. – – – –

Einmal aber, wie sie draußen vor dem Gartenzaun vorbeiging, hörte sie dort drinnen Lothar zu Maria sprechen. Und er sagte: »Esther ist so schön geworden – anders noch als früher. Man möchte immer von ihr denken, daß sie ein beglückendes Geheimnis in sich trägt.«

Und Maria lachte. Leicht und sorglos lachte Maria. Maria, die Schönste, Maria, die Geliebteste hatte keine Antwort als ein kleines Lachen.

XVI

Und es kamen die stillen, schweren Tage des Frühsommers.

Alles Blühen wurde farbenreicher und üppig, und die Luft stand zitternd und hell über der Erde.

Es war gegen Abend.

Esther saß mit der Schwester und Lothar im Garten.

Die Vögel stießen schrille, scharfe Locktöne aus, die in der unbewegten Luft wie erstickt abbrachen.

»Es ist noch immer so heiß,« sagte Maria. »Die Büsche sind so dicht geworden und halten die Tageshitze gefangen. Wollen wir nicht einmal nach dem Berggarten sehen?«

Und sie gingen den grünen Heckenweg hinter der Stadt hinaus und erstiegen einen Berg, an dessen Hang sich Weingärten hinzogen.

Es war schon ein wenig dämmerig im Thal, droben aber lag noch das weißliche, schon abgetönte Licht des Sommerabends.

Ganz hinauf stiegen sie, bis zu einem kleinen Steinbruch, der von Schlehengestrüpp durchwachsen war.

Da hatten sie unter sich den weiten, blühenden Hang, der einmal ein wohlgepflegter Weinberg gewesen. Jetzt aber wucherten die tiefen Farben der Akelei zwischen den Reben, und weiße, scharfduftende Rosen waren im Erblühen.

Weit, weit unten lag die Stadt, aus deren Dämmern sich kleine, unsichere Lichtfunken hoben, und aus den fernen bläulichen Kornfeldern, die sich mit dem Sinken des Abends entfärbten, roch es frisch herüber.

Das Schönste aber waren die weißen Irisblüten.

Hell und gleißend erhoben sie sich dicht vor ihnen gegen den Abendhimmel.

Der Mond kam leicht und durchsichtig hinter den jenseitigen Bergen hervor und strich zögernd über den Himmel.

Die Irisblüten waren wie weiße, flackernde Flammen. Esther beugte sich tief hinab zwischen die glatten, glänzenden Stiele, die sich knirschend aneinander rieben und atmete den kühlen, unsagbar feinen Duft. Von der Nachtluft leicht bewegt, flatterten die Blütenblätter mit einem sirrenden Ton, der wie Seidenrauschen klang.

Maria erhob sich von dem steinernen Sitz und trat unter die Schwertlilien. Sie bog die Stengel auseinander und legte sich mitten unter sie.

Esther sah hinüber zu Lothar. Der blickte weit hinaus in das nächtige Land.

Aber der Nachtwind strich vorbei wie eine Sehnsucht nach kühlen, rätselhaften Geheimnissen.

»Ich liebe dich,« dachte Esther. »Ich liebe dich – –

Dringt es denn nicht zu dir? Kann meine Liebe noch für dich schweigen in dieser Nacht?«

Doch er schwieg und sah weit hinaus in das nächtige Land.

Da war ihr, als müsse sie sich jetzt erheben und zu ihm gehen und seine Hand fühlen. Als müsse sie sagen: »Komm nun zu mir, denn du bist bei mir zu Hause – bei mir allein.«

Aber sie regte sich nicht, folgte nur seinem fernen Blick.

Und es wurde ganz ruhig in ihr, ruhig wie zu einem angestrengten Horchen. Und ihr war, als sehe sie dort draußen im unbestimmten Licht zwei Seelen zusammenfließen – dort draußen – weit – zwischen Himmel und Erde.

Und ein tiefes, geheimnistrunkenes Glück verschleierte alle Wirklichkeit. Sie gab sich ganz dem Entzücken des Traumes hin.

Sie dachte: »Was geht mich die Erfüllung an und die Ewigkeit der Seligen? Liegt nicht alle Ewigkeit in diesem Augenblick?« –

Maria richtete sich halb zwischen den Irisblüten auf. »Was denkst du jetzt?« fragte sie Lothar.

Der wandte sich wie zögernd ihr zu.

»Ich dachte, wie leicht es sei, auf die Ewigkeit zu verzichten, da man sie doch fühlen kann in einem Augenblick.«

Da wußte Esther, es gab keine Täuschung mehr: Fern von der Welt der Wirklichkeit und des Bewußtseins hatten sich ihre Seelen berührt.

Und sie weinte ganz still – sie weinte die wunderbaren Thränen um eine erste bräutliche Berührung. – – – –

Maria war es, die zuerst sagte: »Es wird spät, wir müssen heim.«

Und wie sie wieder den Weg hinabgingen, schmerzte es Esther gar nicht mehr, daß Lothar und Maria sich an der Hand hielten wie Menschen, die allein für einander bestimmt sind.

XVII

Die Schwermut des Verblühens lag über dem Land.

Im Garten beugten sich die Lilien, die Reseda wucherte in den Rosenbeeten, und das Grün der Blätter vertiefte sich.

Ein schwerer Duft rang sich aus der Erde los, und die Schatten waren sehr dunkel. –

In dieser Zeit traf es sich einmal, daß Esther mit Lothar allein war.

Sie gingen nebeneinander den Kiesweg auf und ab, der ganz unten im Garten an der Ligusterhecke entlang führte.

Und Esther fühlte die Zeit verrinnen, als sei sie kostbar wie das Wasser, das der Durstende in der hohlen Hand geschöpft, und das nun Tropfen um Tropfen zwischen den Fingern hindurchgleitet.

Endlich sagte Lothar: »Sie muß bald kommen.« Er dachte an Maria.

»Ja, sehr bald,« antwortete Esther. Sie dachte: Tropfen für Tropfen verrinnt – Tropfen für Tropfen. Aber was will ich denn noch? Ist nicht jeder Wunsch zur Ruhe gegangen in jenem geheimnisvollen Glück?

Und sie fühlte, wie ihr die schwermütige Lieblichkeit des Spätsommertages zu Herzen ging – sie gleichsam heimatlich berührte.

Lothar sagte: »Ich liebe diese Zeit in der Natur mehr als irgend eine andere. Sie ist mir näher, vertrauter als manche, die ich schöner finde.«

Esther lächelte nur, wie er ihre Gedanken aussprach. Sie sagte: »Es giebt so viele Dinge, mit denen es so ist. Wir gehen vielleicht von ihnen fort, um etwas anderes über die Maßen schön zu finden – aber dann treibt es uns eines Tages doch wieder zurück zu dem, was uns heimatlich ist.«

Lothar fiel ihr ins Wort. »Und dann das – es ist das Sonderbarste: Wir wissen uns verwandt mit irgend einer fernen Zeit – einer Zeit, die lange vor uns lag. Und alles, was uns im Leben von dorther berührt, macht uns Heimweh.«

»Ja,« sagte Esther, »ich habe auch zuweilen gedacht, daß es jene Zeit ist, der wir angehören sollten. Nun glaube ich aber mehr noch, es ist die Verlassenheit, die auf allem Zurückgebliebenen aus fernen Zeiten liegt, es ist die Vergangenheit an sich, die so bethören kann.

Dort suchen wir uns dann eine Heimat, wohin wir alle erträumte Schönheit tragen können – eine Heimat, die sie mit uns vor den Menschen verschweigt.«

Esther sprach nicht weiter und fühlte nun seinen Blick. Sie hörte auch seinen Atem wie in Erregung tiefer gehen, sah aber nicht auf zu ihm.

»Esther – Sie sagen das – was in mir ist –«

Seine Worte waren zögernd, wie eine Frage gesprochen.

Esther dachte: »Warum soll er es nicht wissen, daß wir einander ähnlich sind wie nie zwei Menschen zuvor? –«

Und sie erwiderte ihm nichts.

Da sagte er, und seine Stimme klang seltsam bewegt: »Ja, Esther, wir sind uns sehr gleich. Und es thut gut, einen Kameraden im Leben zu wissen, zu dem die Dinge kommen wie zu uns selbst.

Maria ist anders.

Marias Heimat liegt in dieser Zeit und doch in einer höhern Welt. Zu ihr kommen die Geschehnisse schon geläutert und vergeistigt – gleichsam wie mit Engelsflügeln.

Aber alles Frohe und Leichte bedarf der Schonung. Es giebt so viele Freudenzerstörer. Sie braucht jemand, der sie schützt vor allem Schmerz – einen von uns Schweren, die in der Erde wurzeln und die Heimat in irdischen Vergangenheiten suchen. Einen von uns, die wir noch die Sehnsucht als Schmerz und Vereinsamung empfinden – und eben deshalb lieben müssen, was strahlend und leicht und erdenfern ist.

Einen von uns, dem sie Erlösung und Erhöhung ist.

Niemand kann wie Sie meine Liebe zu Maria verstehen, Esther –«

»Ja, das kann ich,« sagte Esther so langsam und leise, daß ihre Stimme klang wie ein verwehter Ton. –

Marias weißes Kleid schimmerte schon durch die Büsche –

Und dann kam sie selbst – schön und gütig wie das Licht.

XVIII

Da kam ein Brief aus Dänemark von Eliza.

Sie schrieb zuweilen diese kleinen Briefe, die klangen wie zärtliches Vogelgezwitscher. Und Esther waren sie immer eine schmerzliche Freude.

Als Esther den Umschlag öffnete, fiel aus dem zusammengefalteten Briefbogen eine Karte Adam Rudes. Die las sie zuerst, denn sie fürchtete schlimme Nachrichten.

Er schrieb:

»Mein liebes Kind!

Wenn es Dir möglich ist, thue es Eliza, worum sie Dich bittet. Sie ist recht krank und meint immer, daß sie durch Dich gesund werden kann.

Denke nicht an die Worte eines alten Mannes, die Dir vielleicht Deinen Entschluß erschweren könnten.

Ich verspreche Dir, das Vergangene soll Dir nichts anhaben, und ich selbst will Dich rein halten von meinem Schicksal, wie es geschah – bis auf das eine Mal.

Dein
Adam Rude. –«

Zitternd faltete Esther Elizas Brief auseinander.

Da stand:

»Meine süße Esther!

Wenn Du es doch thun wolltest und zu mir kämst. Ich sehne mich so sehr nach Dir.

Ich bin krank und sehne mich, daß Du gut zu mir bist. Komm doch!

Deine
    Eliza,
die sich so schrecklich freuen würde,
wenn Du kämst!«

»Was hast du denn, Esther?« fragte Maria, die der Schwester allein gegenübersaß.

»Fort – ich muß gleich fort!« sagte Esther wie geistesabwesend.

Sie fragte niemand, sie zog niemand zu Rate – es war, als sei ihr ganzes Wesen schon dorthin enteilt, wo ihre sorgenden Gedanken waren.

Maria klagte: »Aber dann wirst du ja nicht hier sein zur Hochzeit!«

»Nein, das werde ich dann nicht,« sagte Esther mit einem seltsamen Lächeln und strich sich das Haar aus den Schläfen.

»Ach – aber – gelt, du bist doch nicht böse, wenn wir nicht warten bis du wiederkommst, Schwesterchen?

Du weißt doch, wir haben schon so lange warten müssen, bis Lothar die Anstellung bekam.

Lydia kann ja –«

»Ja, ich weiß, Lydia kann mich hier ersetzen,« sagte Esther und ging hinaus, ihren Koffer zu packen.

Dann telegraphierte sie nach Eriksgaard: »Ich reise morgen früh ab.« –

Am Abend saß sie mit Lydia und dem Brautpaar noch zusammen.

Lydias liebevolle Besorgnis nahm sie heute ungerecht auf. Es erinnerte sie so sehr daran, daß Lydia sie so ganz, so lückenlos ersetzen würde. Keiner würde sie, nicht einmal äußerlich, entbehren.

Man sprach sehr wenig. Es lag auf allen wie eine scheue Ahnung, daß eines unter ihnen war, das Schmerzliches in sich trug.

Lothar erbot sich schließlich, vorzulesen.

Und er nahm eins der Bücher, die er immer für Maria mitbrachte. Esther sah, daß es von selbst aufblätterte, nach Art der Bücher, die eine oft gelesene Lieblingsstelle enthalten.

Und er las ein Gedicht von Clemens Brentano:

Einsam will ich untergehn,
Keiner soll mein Leiden wissen,
Wird der Stern, den ich gesehn,
Je vom Himmel mir gerissen,
Will ich einsam untergehn
Wie ein Pilger in der Wüste!
 
Einsam will ich untergehn
Wie ein Pilger in der Wüste!
Wenn der Stern, den ich gesehn
Mich zum letzten Male grüßte,
Will ich einsam untergehn
Wie ein Bettler auf der Heide!
 
Einsam will ich untergehn
Wie ein Bettler auf der Heide!
Giebt der Stern, den ich gesehn,
Mir nicht weiter das Geleite,
Will ich einsam untergehn
Wie der Tag im Abendgrauen.
 
Einsam will ich untergehn
Wie der Tag im Abendgrauen!
Will der Stern, den ich gesehn,
Nicht mehr auf mich niederschauen,
Will ich einsam untergehn
Wie ein Sklave an der Kette!
 
Einsam will ich untergehn
Wie ein Sklave an der Kette!
Scheint der Stern, den ich gesehn,
Nicht mehr auf mein Dornenbette,
Will ich einsam untergehn
Wie ein Schwanenlied im Tode!
 
Einsam will ich untergehn
Wie ein Schwanenlied im Tode!
Wird der Stern, den ich gesehn,
Mir nicht mehr ein Friedensbote,
Will ich einsam untergehn
Wie ein Schiff in wüsten Meeren!
 
Einsam will ich untergehn
Wie ein Schiff in wüsten Meeren!
Wird den Stern, den ich gesehn,
Jemals meine Schuld verscherzen,
Will ich einsam untergehn
Wie der Trost in stummen Schmerzen!
 
Einsam will ich untergehn
Wie der Trost in stummen Schmerzen!
Soll den Stern, den ich gesehn,
Jemals meine Schuld verscherzen,
Will ich einsam untergehn
Wie mein Herz in deinem Herzen!

Er schwieg und sah mit einem verlorenen, träumerischen Ernst auf Maria.

Jenes leichte, lässige Gefühl der Glückssicherheit, das ihn in dieser Zeit meist an der Oberfläche gehalten hatte, war plötzlich von ihm gewichen.

Esther fühlte, ihm war nicht die Kraft verloren gegangen und nicht der Ernst, schwer am Leben zu tragen.

Und sie wußte, daß diese Worte, die er eben gelesen hatte, das Tiefste in ihm berührten – daß es das Glaubensbekenntnis seiner Liebe war zu Maria, der Einzigen.

Wie eine Nachtwandlerin that sie noch, was geschehen mußte.

Sie verabschiedete sich von Lothar, ohne den Ausdruck einer starren Ruhe, der den ganzen Abend über ihrem Gesicht lag, zu verändern.

Und während sie ihm die Hand gab, sah sie ganz tief in seinen Augen etwas wie ein leises Verstehen aufglimmen – ein fernes, unterdrücktes Verstehen, das nicht erst jetzt entstanden sein konnte.

Und sie fühlte wie ihr eigner Blick so ganz fest und ruhig wurde – wie um ein jedes Einverständnis abzuweisen.

Wenn er später an diesen Augenblick zurückdenken würde, so sollte es ohne die niederziehende Last einer Gemeinsamkeit zwischen ihnen sein. Sie konnte ihn so ganz verstehen: Seine Liebe mochte keine fremde Berührung auf sich dulden.

Ja, sie gab ihm mit diesem ruhigen, kühlen Blick die Fremdheit wieder, die zwischen ihnen bestehen sollte. –

Dann ging sie hinauf in ihr Zimmer.

XIX

Sollte es schlimmer mit Eliza gehen? Da war niemand zur Bahn gekommen, um Esther abzuholen, wie es sonst gewiß geschehen wäre.

Esther fühlte, wie sich ihre Kehle in einer plötzlichen Angst zusammenpreßte.

Und dann lief sie, ohne um sich zu sehen, den wohlbekannten Weg über die Heide. Zuweilen tauchte ganz in der Ferne eine menschliche Gestalt auf. Vielleicht war es nur eine Verspätung, und sie würde unterwegs noch einem Bewohner von Eriksgaard begegnen. – Aber jedesmal war es ein Fremder, ein Bauer, der mit hervorgestoßenem »go' dau!« vorüberstolperte, oder ein neugieriger Sommerfrischler, der den Hut zog und sich dann heimlich umblickte.

Esther lief immer schneller gegen den Wind an, der einen süß-scharfen Geruch vom blühenden Heidekraut aufwühlte.

Endlich kam Eriksgaard.

Der Hof lag wie ausgestorben, und die Thür mit dem Herzeinschnitt war nur angelehnt.

Esther ging durch den Hausflur in das Gartenzimmer. Dort lag nur das Sonnenlicht über dem einsamen Raum.

Sie ging hinaus in den Garten.

Dort wiegte sich wie einst Camille de Rohan in üppigem Blühen vor der Sonne.

Die Erinnerung preßte ihr das Herz zusammen. –

Aber da – drüben aus der Lindenlaube kam jemand auf sie zu –

War das Arne?

So totenblaß im vollen Sonnenschein – und neben ihm – das war wohl seine junge Frau –

»Nicht Thora, sondern die Letzte,« dachte Esther ganz mechanisch.

Sie war ganz hellblond und lieblich, und wie es schien in gesegneten Umständen.

Das alles nahm Esther mit einem Blick in sich auf, dann schritt sie auf Arne zu –

»Um Gottes willen, Arne, was ist?«

»Hast du denn mein Telegramm nicht bekommen?« fragte der mit verhaltenem Entsetzen.

»Nein. – Sprich doch, sprich!«

Er machte nur eine stumme Bewegung der Abwehr.

»Ist – Eliza – was ist – tot –?« stammelte Esther verwirrt.

Er machte eine bejahende Bewegung, doch ohne, daß sich der starre Ausdruck des Entsetzens in seinen Zügen löste.

»Wo ist sie?« fragte Esther tonlos. »Wo ist der Vater?« fügte sie dringender hinzu.

Da – wieder diese entsetzenschwere Pause –

»Er ist verschwunden,« sagte da eine dünne, hohe Stimme hinter Arne. Es war seine junge Frau.

»Er war zuweilen so verstört in den letzten Jahren – wir fürchten das Schlimmste,« sagte Arne. »Die Leute sind immer aus, ihn zu suchen.«

»Ja, hat er denn zu keinem was gesagt?«

»Nein.«

»Dann laß mich jetzt zu Eliza.«

»Sie liegt noch in ihrem Zimmer.« –

Esther trat an das Bett der Toten.

Da lag sie in ihrer unsagbaren Lieblichkeit, jungfräulicher geworden, und der Ernst des Todes hatte ihr jenen Ausdruck gegeben, mit dem sie einmal zu Esther gesagt hatte: »Ich verstehe alles Traurige im Leben.«

»Wie – wie ist es denn nur gekommen?« fragte Esther.

»Sie war nicht krank, schien es uns. Sie wurde schwächer – und starb.«

Esther war thränenlos in ihrem Schmerz. Sie rang nur immer die festgefalteten Hände ineinander, so daß die Fingerknöchel weiß heraustraten.

Eine stumme Verzweiflung, die nicht zu begreifen vermag, was sie vor sich sieht, beherrschte sie.

Und dann fiel ihr wieder das andere ein. Und aufschreckend fragte sie sinnlose Dinge, wie: »Hat man ihn noch immer nicht gefunden?« Als ob zwischen diesem Augenblick und jener Mitteilung lange Stunden gelegen hätten.

Da sagte Arne plötzlich: »Sie wollte immer mit dem Vater allein sein und von dir sprechen, Esther.«

Und nach einem langen, langen Schweigen ganz leise: »Morgen müssen wir sie begraben.«


Eliza wurde begraben, ohne daß man von ihrem Vater eine Spur auffand.

Der kleine Kirchhof dehnte seine letzte Gräberreihe um einen Hügel näher nach dem Nußbaum aus.

Im Hause begann wieder jene unheimliche, tote Geschäftigkeit des Wartens, die mit der Trauer um die Verschiedene gemischt, die Gestalt eines Wartens auf den Tod annahm.

Und immer noch war keine Spur zu entdecken. –

Einmal war Arne mit Esther allein im Zimmer.

Er hatte jetzt etwas so Schlaffes, Haltloses bekommen.

Plötzlich beugte er sich nieder und zog Esthers Hand an seine Stirn.

»O Gott, Esther, ich habe dich so sehr geliebt,« klagte er.

Esther fuhr entsetzt zurück.

»Das – jetzt –?« fragte sie von Grauen und Ekel überwältigt.

»Nun – was willst du – ich bin so unglücklich –

Warum kannst du nicht gut zu mir sein, wenn ich so unglücklich bin.«

Von Widerwillen geschüttelt, sah sie auf ihn nieder, stand auf und trat von ihm weg ans Fenster. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, das Zimmer zu verlassen. Er sank stöhnend in sich zusammen.

Erst als sie eine ganze Weile darüber gedacht hatte, empfand sie, wie ihr dieser peinliche Zwischenfall nun das Hierbleiben unmöglich machte. Sie hatte Arne noch zu sehr als Nebenperson gefühlt.

Sie würde nun das Haus verlassen müssen – und diese entsetzliche Ungewißheit mit sich nehmen.

»Ja, es bleibt nichts andres, als daß ich gehe,« dachte sie. »Aber wohin?«

Und sie horchte hinaus auf jeden Schritt, der durch das Haus schallte.

Würde er kommen?

Würde er einmal wieder da sein, wo alles von ihm sprach –: der Garten, den er mit schweigsamer Fürsorge gepflegt hatte – das Haus, das die Geheimnisse seines schwermütigen Lebens barg?

Würde er wiederkommen und durfte sie noch ein Wort des Trostes für ihn haben? –

Die junge Frau ging mit langsamen, schlürfenden Schritten über den Flur und kam herein.

Sie trat auf Arne zu, der immer noch in sich zusammengesunken saß.

»Arne, du darfst dich nicht zu sehr dem Kummer hingeben,« sagte sie und strich ihm über die Stirn.

Er nahm mit einer ritterlichen Bewegung ihre Hand, küßte sie und sagte: »Du hast recht, Liebste.«

Seine Augen irrten dabei zu Esther. Die errötete tief, als trüge sie eine Schuld. Sie verließ das Zimmer.


Gegen Abend kam der Postbote vorbei und brachte einen Brief für Esther.

Sie fühlte ihr Herz zusammenzucken und stille stehen, wie sie die Aufschrift sah. Es war die Schrift Adam Rudes.

Sie riß den Umschlag auf und las:

»Du brauchst nicht mehr zu kommen. Eliza ist tot, und der dies schreibt, lebt nicht mehr, wenn Du seinen Brief erhältst.

Ich weiß es: Gott nimmt mir mit dem Kind die letzte Pflicht, mit dieser unseligen Liebe weiterzuleben. Das Meer soll mich aufnehmen.« –

Ganz so – ohne Anrede und Unterschrift stand es da. Wie ein zorniger Ruf – wie eine Anklage?

Esther drehte den Bogen hin und her, als müßte sich noch etwas ganz anderes – irgend eine Aufklärung finden.

Erst dann begriff sie ganz: Sie hielt ja die letzten Worte eines Toten in der Hand. –

Sie betrachtete den Poststempel: Der Brief war erst nach Deutschland geschickt und dann an seinen Ausgangsort zurückgekehrt.

Esther ließ ihn fallen.

Sie dachte gar nicht daran, es den andern mitzuteilen.

Sie wußte nur noch eins: Sie gehörte zu dem, der ihr diese Worte aus dem Tode nachsandte.

Sie nahm die Schuld auf sich.

Sie gehörte zu ihm.


Es waren die hellen, kurzen Sommernächte, die sich über das Land legen und wie mit brennenden Küssen den Duft, den versehrend starken Duft aus der Erde saugen.

Es waren jene Nächte, die sind wie ein Seufzer der blühenden Erde, die ihren heißen, sehnsüchtigen Atem an die Brust des Himmels haucht.

Es waren jene Nächte, da Tod und Liebe einander in die Augen lächeln. – – – –

Als Esther über die Heide ging, war es noch hell um sie her, trotz der späten Abendstunde.

Niemand wußte, daß sie das Haus verlassen.

In Eriksgaard gingen sie nur ratlos wie die Verdammten umher und kannten noch nicht den Inhalt des Briefes –

Ja, den Inhalt des Briefes hätte sie ihnen wohl erst noch mitzuteilen gehabt –

Gleichviel – jetzt gab es kein Umkehren mehr.

Sie würden den Zettel schon selbst finden – kein Umkehren gab es mehr. –

In der Heide wühlte raschelnd der Nachtwind. Er roch nach dem weiten salzigen Wasser und dem blühenden Kraut –

Wie Perlen waren die rötlichen Blüten ringsum verstreut.

Am Himmel stieg langsam und pomphaft das heiße Farbenspiel der Dämmerung auf. Dann verblaßte es zögernd in die weiche, helle Tönung der Nacht.

Und Esther ging durch diese duftende, duftende Sommernacht, – ja, wie Garben mähte der Wind den Duft –

Sie ging, das Gesicht zum Himmel erhoben.

Sie ging und ging über die dämmerbleichen Hügel – dort auf den verschwimmenden Streifen des Wassers zu.

Sie wußte: Der vor ihr war denselben Weg gegangen.

Und sie sah vor sich das Ufer mit dem abgebrochenen Steg, der ziellos hinausführte – hinaus in die Unendlichkeit.

Ohne Anhalten ging Esther –

Ging und ging vorwärts –

Unter ihren Tritten bogen sich die Bretter – gaben nach – – – –

Weich – weich umfing sie das Wasser – – – – –

Zärtliche, starke, hochzeitliche Arme umfingen sie –

Dicht an ihrem Ohre klang es: »Kommst du doch noch zu mir – Geliebte« – – – –

Albert Langen Verlag für Litteratur und Kunst München

Deutsche Autoren

  Geheftet
*Franz Adamus Familie Wawroch Drama Mark 2.––
*Hermann Bahr Der Apostel Schauspiel " 3.––
*  –   –  Der Krampus Komödie " 3.––
Leo Berg Der Übermensch in der modernen Litteratur Essay " 3.50
*F. A. Beyerlein Das graue Leben Roman " 3.50
*Karl Bleibtreu Die Edelsten der Nation Komödie " 2.50
*Hans Blum Persönliche Erinnerungen an den Fürsten Bismarck " 6.––
*Emanuel von Bodman Jakob Schläpfle Novellen " 1.––
   –   –  –   Erde Ein Gedichtbuch " 2.––
*Der Burenkrieg Album " 1.––
Paul Cahrs Josef Geiger Roman " 2.50
*Etzel und Ewers Ein Fabelbuch " 3.50
Marcel Herwegh 1848 Briefe von und an Georg Herwegh " 3.––
Arthur Holitscher An die Schönheit Trauerspiel " 2.––
   –   –   Weiße Liebe Roman " 3.––
*  –   –   Der vergiftete Brunnen Roman " 4.––
*Korfiz Holm Schloß Übermut Novelle " 1.––
*  –  –  Mesalliancen 12 Liebes- und Ehegeschichten " 1.––
   –  –  Arbeit Schauspiel " 2.––
*  –  –  Die Könige Dramatisches Gedicht " 2.––
*Mia Holm Verse " 2.––
  –  –  Mutterlieder ill. Prachtausg. geb. " 10.––
* –  –   –  –  wohlfeile Ausgabe " 1.––
Martin Langen Edith Drama " 2.––
   –   –   Drei Dramen " 3.––
*Lieber Simplicissimus 100 Simplicissimus-Anekdoten " 1.––
   –    –    Neue Folge  –  – " 1.––
*Heinrich Mann Das Wunderbare Novellen " 1.––
*  –   –  Im Schlaraffenland Roman " 4.50
*Fritz Mauthner Der wilde Jockey Novellen " 1.––
*  –   –   Die böhmische Handschrift Roman " 3.––
*  –   –   Die bunte Reihe Berliner Roman " 4.––
Adolf Paul Ein gefallener Prophet Roman " 3.––
*Anton von Perfall Die Malschule Novelle " 1.––
*Rainer Maria Rilke Das tägliche Leben Drama " 2.––
*Hugo Salus Gedichte " 2.––
*  –  –  Neue Gedichte " 2.––
*  –  –  Reigen Gedichte " 1.50
*  –  –  Susanna im Bade Schauspiel " 2.––
*Peter Schlemihl Grobheiten Simplicissimus-Gedichte " 1.––
*Freiherr von Schlicht Alarm Militär-Humoresken " 1.––
*  –   –     Der nervöse Leutnant " " 1.––
*  –   –     Der Parademarsch   " " 3.––
*Ludwig Thoma Assessor Karlchen Humoresken " 1.––
   –   –  Die Medaille Komödie " 1.50
*Jakob Wassermann Schläfst du, Mutter? Ruth Novellen " 1.––
*  –   –    Die Schaffnerin. Die Mächtigen. Novellen " 1.––
   –   –    Melusine Ein Liebesroman " 2.50
*  –   –    Die Juden von Zirndorf Roman " 4.50
Frank Wedekind Die Fürstin Russalka Novellen und Gedichte " 3.––
   –   –   Der Erdgeist Tragödie " 2.50
*  –   –   Marquis von Keith Schauspiel " 2.50
*  –   –   Der Liebestrank Schwank " 2.––
*  –   –   Die junge Welt Komödie " 2.––
*  –   –   Der Kammersänger Drei Scenen " 1.––
*Alois Wohlmuth Gedichte " 2.––
*Ernst von Wolzogen Vom Peperl u. anderen Raritäten Humoresken " 1.––
Theodor Wolff Die stille Insel Schauspiel " 1.––
   –   –  Niemand weiß es Schauspiel " 1.50

Jeder Band mit mehrfarbigem künstlerischem Umschlag
*Auch elegant gebunden vorrätig

Druck von Hesse & Becker in Leipzig


Hinweise zur Transkription

Der Schmutztitel wurde entfernt.

Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.

Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Antiqua, fett.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Seite 6:
im Original "Warum hahen Sie ihr das angethan?"
geändert in "Warum haben Sie ihr das angethan?"

Seite 81:
im Original "»Aber wer ist Hedda Gabler?"
geändert in "»Aber wer ist Hedda Gabler?«"

Seite 116:
im Original "sie pflegen sich immer nur einer den andern."
geändert in "sie pflegen sich immer nur einer den andern.«"

Seite 135:
im Original "daß einem das ganz mut- und kraftlos macht"
geändert in "daß einen das ganz mut- und kraftlos macht"