The Project Gutenberg eBook of »Sie« am Seil

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Title: »Sie« am Seil

Author: Eva Gräfin von Baudissin

Illustrator: Josef Engelhart

Release date: October 29, 2021 [eBook #66630]

Language: German

Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This transcription was produced from images generously made available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State Library.)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK »SIE« AM SEIL ***

Eva Gräfin von Baudissin

»Sie« am Seil

Verlag Walter Schmidkunz
München und Wien

1·9·1·4

Druck: Münchner Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn

Dem Hochtouristen,
von dem
in diesem Buch
wenig Gutes und viel Böses
erzählt wird

Inhalt

I. »Sie« am Seil. Seite
Wie »Sie« Hochtouristin wurde 3
Hochtour mit allerlei Hindernissen 11
Spätherbst im Wilden Kaiser 25
Auf Deutschlands »Allerhöchstem« 31
Das Matterhorn von Ehrwald 39
Quer durch die Lechtaler Alpen 45
Auf Höhenwegen von Oberstdorf nach Bludenz 51
Vom Königspaar des Rhätikon 57
Streifzüge in Südtirol 67
Hüttenleben 81
Eine unterirdische Hochtour 87
 
II. »Sie« auf Ski.
Bei den »Säuglingen« 95
Die erste »Ausfahrt« 101
Aus der Winterfrische 107
Das Talbein 113
Die Erfindung 123
 
III. »Sie« im Süden.
Osterspaziergänge in Latium
I. Der Monte Soracte 135
II. In den Sabinerbergen 139
Frühlingsfahrten im Bereiche der italienischen Seen
I. Locarno 145
II. Vom Lago Maggiore zum größten Kalvarienberg der Erde  150
 III. Hochalpine Spaziergänge 157
IV. Im höchsten Tessin 168

I.
»Sie« am Seil.

Wie »Sie« Hochtouristin wurde.

Es kommt auf die Gelegenheit an, seine Fähigkeiten zu entdecken; viele, vielleicht große und rühmliche, schlummern unerkannt mit dem Menschen ins Jenseits hinüber, weil ihnen weder Zeit noch Ort günstig waren, sich zu offenbaren. Solch ein Moment war's, der die Basis für die Entwicklung einer neuen Eigenschaft bilden sollte, als ich an einem schönen Frühlingstage den Turm des Kapitols erstieg, mir aber nicht an der Aussicht von der letzten Plattform genügen ließ, sondern auf die höchste Spitze, neben die Figur der Minerva hinaufkletterte. Ich muß das, ohne Ahnung, überhaupt etwas Besonderes gemacht zu haben, ziemlich geschickt ausgeführt haben, denn der berühmte Hochtourist an meiner Seite, der mir die sieben Hügel Roms bezeichnen wollte, sagte mit einer bei Alpinisten selten zu findenden Anerkennung: »Wissen S', mit Ihnen ging ich auf alle Dolomiten –, da braucht' man nichts zu fürchten wegen dem Abstürzen.«

In dieser Minute spaltete sich mein Inneres wie die schönste, einfache Zelle, und aus dem Protoplasma meines gewöhnlichen Menschen ging der neue Zellkern hervor: Die Hochtouristin!

Alle Vorbedingungen waren plötzlich gegeben: starke Lungen, gesundes Herz, Schwindelfreiheit und Ausdauer beim Marschieren. Rom zu meinen Füßen, wurde mir klar, daß ich bisher mein Pfund vergraben hatte, und daß ich mich einer schweren Unterlassungssünde schuldig machen würde, wenn ich meinem Talent keine Gelegenheit gäbe, sich zu entfalten. Der Schauplatz für diese Betätigung konnte, wie sich ohne viel Nachdenken, was mir immer schwer fällt, ergibt, nur ein Berg sein; es galt also, einen zu finden, der in Gestalt und Art meinen alpinistischen Gaben entgegenkam.

Seite 15 im dritten Band des Purtschellerschen »Hochtourist«: »Große Furchetta (3027 m), der nordwestliche breitere Turm einer kühnen, doppelzinkigen Berggestalt im Hintergrunde des Wasserrinnentals. Interessante und exponierte, schwierige Kletterei.«

Das war, was ich suchte. Denn nach meinem Fähigkeitsnachweis am Kapitol wollte ich es nicht unter einer Hochtour tun und möglichst gleich alle Eindrücke auf mich wirken lassen, die man bei einer Bergbesteigung haben kann. Die äußeren Vorbereitungen wurden getroffen: Das G'wandl mit allen Zutaten, Beinkleid, Kniestrümpfen, Mütze, Sonnenhut besorgt, der Rucksack mit dem Notwendigsten, bis aufs Gramm abgewogen, sauber vollgestopft, ein mächtiger Eispickel erhandelt und als Letztes – die Stiefel ausprobiert. Sie sind das Wichtigste der Ausrüstung, hatte man mir gesagt. Es kam mir auch bald so vor, denn ich trat mir mit den schweren Dingern in der schmerzhaftesten Weise auf die eigenen Füße.

»D' Nägel san zu grob«, meinte der bäurische Hoflieferant, den ich betrübt um Rat fragte.

»Bewahre! Sie kann nur nicht gehen, sie ist noch ungeschickt«, beharrte der berühmte Hochtourist, der auch hier meine ersten Schritte überwachte.

Der Schuster lachte. »Wegen ein'm Paar Schuh braucht doch de Person nit's Gehen z'lernen!« erwiderte er mit köstlicher Philosophie.

Das tröstete mich wunderbar; nicht ich, sondern die Stiefel waren schuld, und deshalb lernte ich es bald, sie zu tragen, ohne mir ernsthaftere Verwundungen zuzuziehen.

Aber als wir dann eines Morgens zu einer Zeit, die es eigentlich gar nicht gibt, in Dunkelheit und Kälte, »um Schatten zu haben«, von der Regensburger Hütte aufbrachen, klopfte mir doch das Herz recht. Die Wiesen naß und schlüpfrig, das Tal voll Nebel, die näher und näher heranzukriechen schienen, ringsum eine atemlose, beklemmende Stille – und vor uns stolz und gewaltig aufragend die Furchetta. Drohend und steil schien mir der Gipfel, eine Vermessenheit, ihn erklimmen zu wollen, und während ich mich tapfer bemühte, meine Füße mit den Genagelten in die weit auseinanderliegenden Spuren des Führers zu setzen, sagte eine laute Stimme in meinem Innern wieder und wieder: »Du kommst da nie hinauf – nie hinauf!« Und nur deshalb äußerte ich nichts von meinen Bedenken, um das in mich gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen; ich glaube, die meisten Heldentaten werden in solch einem passiven, aus der Furcht vor Anderen diktierten Handeln vollzogen. Langsam, Schritt für Schritt, ging es die Serpentinlinien durch den Schutt hinan; vor mir die grünen Wadenstrümpfe des Führers, auf die ich hoffnungsvoll starrte: solange sich die in gleichmäßigem Abstand von mir aufwärts bewegten, genügten auch meine Kraft und mein Können – an sie klammerte sich instinktiv mein Blick. –

»Verschnaufen S' mal und schauen Sie sich mal um«, gebot die Hochtouristenstimme hinter mir.

Verwirrt und erschöpft blieb ich stehen: umschauen auch noch?! Tat ich denn noch nicht genug? – Aber gehorsam spazierten meine Augen nach oben und unten, nach rechts und links: Steine, nichts als Steine, große, kleine, glatte, bizarrgeformte, aus der Felswand emporwachsende und wieder lose, die treulos unterm Fuß nachgaben – ein wüstes, ödes, steinernes Meer – –

»Nun?! – Was sagen S' aber jetzt?! Zum Hinknien, nit wahr? Diese Größe – diese Stille – heilig ist's wie in der Kirch'.« – Meine grenzenlose Verwunderung setzte sich allmählich in eine Art Wut um, während neben mir die Begeisterung immer neue Nuancen fand: »Da 'nauf muß man kommen, um wieder zu wissen, daß ma' a Mensch is – da kriegt man wieder an Begriff von der Allmacht – da geht eims Herz auf – Aber Sie sagen ja nichts, Sie! Ja, ja, da verstummen auch Sie einmal – aber schließlich, wissen möcht' i schon, was' denn für einen Eindruck haben und was Sie nun denken« –

»Raumverschwendung,« sagte ich kurz, »eine kolossale Raumverschwendung«.

Die Stille, die nun folgte, war so drückend, daß ich aus eigenem Antrieb, um die letzte Ehre zu retten, bescheiden hinzusetzte: »Was könnte man da für Korn bauen, wenn's eben wäre und nicht so viel Steine!« –

»Sie stehen also glücklich noch auf dem Standpunkt der Naturempfindung vor hundert Jahren – von der Ästhetik des Gebirges haben Sie keine Ahnung«, unterbrach mich der Hochtourist im plötzlich angenommenen, reinsten Hochdeutsch.

Und dann wurde ich ignoriert; an mir waren doch Mühe, Aufklärung und Naturschönheiten verloren. Aber über meinen Kopf fort floß zwischen Führer und Bergsteiger, denen nun Herz und Mund geöffnet waren, ein Strom von Touristengeschichten; von alten Führern, von Erstbesteigungen, von Neulingen im Gebirg und Führerlosen, die auf die harmlose Menschheit unter ihnen Steine herabrollen ließen; von neu entdeckten gefahrvollen Anstiegen, von »Sportbergen« und wunderbaren Errettungen, das alles gewürzt mit immer wiederkehrenden technischen Ausdrücken, wie: Grat, Kamm, Wand, Griffe, Tritte, Kamin, Couloir, Schlucht, Platte, Band – dem Jargon der Alpinisten, dachte ich verzweifelt und ungerecht. Aber von dieser mir bis dahin gänzlich unbekannten Nomenklatur und der Erkenntnis, daß ich also eigentlich schon hundert Jahre alt sei (nach dem Stand meiner Naturempfindung!), wurde mir ganz schwindlig – zum ersten und einzigen Male im Leben.

In diesem Moment äußerster Schwäche erreichten wir den Einstieg. Ich durfte mich hinsetzen, denn aus der Quelle in unmittelbarer Nähe wurden einige Becher voll klaren Wassers geholt, und außerdem mußten hier die Genagelten gegen die Kletterschuhe eingewechselt werden. Welch ein behagliches Gefühl schon, das weiche, schmiegsame Segelleinen gegen das harte, schwere Leder! Mir fiel ein, daß der Mann, der die guten, nie gestörten Nerven der Chinesen auf ihre seidene Fußbekleidung zurückführt, sicher recht hat. Meine Müdigkeit war verflogen. Mit Vergnügen ließ ich mir das Seil um die Taille legen, »die moralische Hilfe«, wie mir lachend versichert wurde; jedenfalls wohnt diesem Zauberband eine merkwürdig beruhigende Wirkung inne.

»Nun klettern S' mir nur nach! Immer hübsch langsam und erst einen festen Tritt für den Fuß und einen sichern Griff für die Hand suchen«, gebot der Führer.

Die hoffnungsvollen Grünen tauchten über meinem Kopf auf, und von Zeit zu Zeit traf mich ein ermunternder Blick des allein vorauskletternden Hochtouristen. Sonst war ich mir allein überlassen, nur durch einen dünnen Faden mit der Menschheit verbunden.

Und plötzlich besaß ich wieder wie auf dem Kapitol Seelenruhe, Muskelstärke, Gewandtheit und Schwindelfreiheit. Hier oben, angesichts der Felsen und der lustigen Kletterei, krochen meine hochtouristischen Begabungen wieder ans Tageslicht. Wie von selbst fand ich Griffe und Tritte – lagen sie einmal weit auseinander, so brachte mich ein Schwung sicher über die gefährdete Stelle fort; das Auge schärfte sich und maß genau die Entfernungen ab, jedes Glied gehorchte dem Willen, und alle turnerischen Kenntnisse aus der Kinderzeit fanden sich wieder ein.

»Das geht ja wie g'schmiert«, meinte der Führer einmal.

Der Hochtourist äußerte sich nicht; ich nahm an, daß ihn meine Fähigkeit nach den übrigen Beweisen meiner Unkenntnis und Unfähigkeit bitter wurmte. – Beim »Band« wurde ich ernsthaft verwarnt: ich begriff nicht, weshalb. Was für eine einfache Sache, über eine freiliegende Stelle, neben der es rechts und links zwar in die Tiefe geht, die doch aber dem Fuß festen Halt bietet, zu steigen! Und dann wieder vorwärts am Felsen entlang – zum erstenmal konnte ich ohne Neid an die Affen im Urwald denken, die sich gemächlich von Baum zu Baum schwingen.

»Gleich san mer oben!« Richtig, noch ein paar kleine Anstrengungen bis zum Gipfelgrat – wenige Schritte auf der Höhe selbst, und da waren wir! Auf dem höchsten Punkt des Berges, der mir wenige Stunden vorher noch so unerschwinglich hoch vorgekommen war. Eine tiefe Befriedigung erfüllte mich; ich hatte also wirklich mal etwas geleistet, hatte mich auf meine Kräfte verlassen und allein durch sie mein Ziel erreicht. Aber dann sank mein ganzes Selbstbewußtsein in sich zusammen vor der Schönheit und der Gewalt des Panoramas, das sich vor meinen Blicken auftat. Ja, hier herauf mußte man kommen, um sich wieder eins mit der Natur zu fühlen – mir war, als sähe ich zum erstenmal der Welt voll ins Antlitz: so schön also war sie, so wunderschön – »Und er führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm die Herrlichkeiten der Welt zu seinen Füßen und sprach: ›Dies alles will ich dir geben‹« –

Aber in diesem Augenblick, in der heiligen Stille dort oben, besitzt man ja alles, was der Blick umfaßt; und in der demutsvollen Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit so vieler Größe und Allmacht gegenüber wird man wunschlos.

Der Hochtourist trat auf mich zu und gratulierte mir, er war ganz erschüttert. Aber seine Rührung entsprang einer anderen Quelle als die meine: er hatte mich ja entdeckt – auf dem Kapitol – und mit dem sicheren, nie zu täuschenden Blick des Kenners hatte er die verborgenen Talente geahnt. Freilich, daß sie so groß sein würden –! Es war erstaunlich. Und wenn ich mich bergrunter ebenso bewähren würde –

»Ich habe nie an mir gezweifelt«, sagte ich kaltblütig; wozu jetzt noch meine schwachen Momente verraten?! Überdies würde sie nach dem gelieferten Fähigkeitsbeweis niemand mehr glauben wollen; auch für mich traten sie endgültig in verschwimmende Fernen zurück.

Dann kam das Frühstück; und mit der Kräftigung des leiblichen Menschen wuchs mein Mut ins Ungemessene empor – bis hinauf zu den allerhöchsten Gipfeln der allerhöchsten und -schwierigsten Berge! So war ich zur »Hochtouristin« geworden.

Hochtouren mit allerlei Hindernissen.

Zell am See! Der Name trägt sicher für viele oder sogar fast alle, die es je besuchten, die Erinnerung an ein kleines alpines Paradies in sich. Welche Rundsicht, nicht wahr, von der Seite des Sees, diese Berge, die sich da aneinander reihen, die stolze Pyramide des Kitzsteinhorns, Brennkogel und Schwarzkopf, Grieskogel und Hocheiser und wie sie alle heißen; nicht zu vergessen die Schmittenhöhe, auf der sich's so herrlich Kaffee trinken läßt – und am »drüberen« Ufer das hübsche Bruck und Schloß Fischhorn. Und dann dieser See selbst mit seinem angenehmen Bad und der Möglichkeit, Kahn zu fahren. Ja, die Leute sind hier glücklich; das sieht man ihnen an, wie sie im Deandl- und Buamkostüm umherlaufen und sich ganz der ungebundenen Natur angepaßt finden. Aber in mir sitzt Ungeduld; was andere beneidenswert finden: einen längeren Aufenthalt an diesem Ort, an dem sich »fesches« Badeleben mit Primitivität verbindet, das macht mich allmählich nervös – zum Heulen! Der schöne See kommt einem fad vor, so ungerecht wie es ist, wenn man viele Wochen im Norden am Meer war, von den Klippen direkt in die Tiefe sprang, sich auf den Schären vom Schwimmen ausruhte und sonnte und nachts im Schlaf das ewige Brausen in gleichem Rhythmus hörte. Nein, man ist nicht des Sees wegen da, und es genügt einem nicht, die Berge so schön aufgereiht liegen zu sehen – hinauf möchte man, mitten hinein ins Herz der Berge! Aber es regnet tagelang; zärtlich, weich, beschwichtigend, als wenn man droben in den Wolken lache über den ohnmächtigen Zorn der Erdenkinder. Dann soll's eines Morgens losgehen: biegen oder brechen! Man hält die Deandl einfach nicht mehr aus, die Buam noch weniger – Einsamkeit will man und sich Wege suchen, auf die der große Fremdenstrom nicht fließen mag. Aber es biegt sich nicht, sondern bricht erst mal; nämlich das rechte Schlüsselbein meines Hochtouristen, der sich mit Grazie über Abgründe schwingt, Kamine durchklettert, als handle es sich um Verandatreppen, sich von den »unmöglichsten« Punkten selbst abseilt – und den nun das Schicksal ereilt, als er mit kräftiger Hand den neuen Bergschuh im Hacken ausweiten will! Des Himmels Beschlüsse sind unerforschlich. Neuer Aufenthalt; neue Geduld; neue Freude am »feschen« Badeleben. Aber der Bezirksarzt tröstet: nach seiner Meinung liegt kein Bruch vor, nur eine Zerrung der Muskeln; ein paar Tage Eisumschläge – dann ist alles wieder gut! Nur merkwürdig, daß das Schlüsselbein im Dreieck emporsteht – wozu hat man einen Arzt zum Vater gehabt?! Doch über das, was man behauptet, wird nur gelächelt – und schließlich glaubt man gern, was man glauben möchte. Man wandert los; der Hochtourist mit etwas hängender Schulter unterm Druck des Rucksacks, aber man geht ja schließlich nicht mit den Armen. Den berühmten »Kesselfall« nimmt man natürlich unterwegs noch mit und steigt über den »Moserboden«, ein wirklich wunderbares Tal mit sprudelnden Wasserläufen und einer Umrahmung großartiger Berge und Gletscher, und nach kurzer »Futterrast« im Hotel Moserboden zum Heinrich-Schwaiger-Haus hinan. Eine gute Leistung für einen Tag – besonders die letzten zweieinhalb »steilen« Stunden, vom Moserboden empor, werden reichlich sauer, wie immer die ersten Tage, bis das Herz wieder richtig funktioniert und seinen Hochgebirgsschlag annimmt; dafür ist das Gewissen beruhigter: man tat doch etwas, man saß doch nicht müßig da – und morgen, ja morgen geht's auf das lange mit Sehnsucht umworbene Große Wiesbachhorn!

Ein paar andere Leute wollen auch hinauf; in tiefer Nacht – in der Gebirgssprache: der Morgen – blüht schon der Handel in der Hütte mit Tee, Speck, harten Eiern und Sardinen zum Mitnehmen. Etwas mühsam, denn es stürmt und die Luft ist so merkwürdig eisigkalt, klettert man über den Fochezkopf und erreicht den vereisten, schneebeladenen Kaindlgrat. Die Steigeisen werden angeschnallt, vorsichtig stapft der Führer voraus, um eine Spur anzulegen, die man gewissenhaft aufnimmt. Der Wind wird schneidend, die ersten Schneeflocken fallen. Gesicht und Hände prickeln. Wir erreichen eben die Wielingerscharte, da bricht ein Schneesturm los mit einer Gewalt, daß man nur noch wenige Schritte weit sehen kann. Keine Möglichkeit, weiterzugehen! Wir hatten beabsichtigt, eine wunderschöne, im ganzen auf zwölf Stunden berechnete Gletscherwanderung über den Bratschenkopf und die Glocknerin zur Franz-Josephs-Höhe zu machen – und mein Hochtourist, der sowieso von Herzen geschimpft hat, daß er für die an und für sich nicht schwere Tour einen Führer nehmen muß, weil er mich wegen seines Armes nicht fest genug an der Strippe halten kann, sagt jetzt nichts als: »Nun geht's aber in den Süden – auf der anderen Seite ist das Wetter immer besser!« Wir kehren um; denselben Weg über den Kaindlgrat geht's zurück, am Heinrich-Schwaiger-Haus vorbei – unverrichteter Dinge umkehren müssen, ist das schmerzlichste für einen Hochtouristen, zumal, wenn man schon so nahe am Gipfel war; dreiviertel Stunden hätten genügt, ihn zu erobern. Im Hotel Moserboden beschließen wir diese Episode, und nach kurzer Rast geht's »dolomitenwärts«. Allerdings ist sich mein Hochtourist nicht ganz klar, wie's dort mit dem Klettern sein wird. Aber die Versicherung des Arztes: »Wenn's auch weh tut, es schadet nichts – es wird bald vergehen«, läßt ihn noch immer hoffen. Kein Weg soll uns zu weit sein, um uns dem Süden heute noch näher zu bringen.

Zuerst geht's ganz bequem über den »Austriaweg« vom Moserboden aus, am Karlinger See vorüber durch die »Wintergasse«, die sich durch den mit Recht beliebten Schutt auszeichnet; für Fußsohlen und Knöchel eine Extraprobe! Nach fast drei Stunden kommt das Kapruner Törl, das zwischen Torkopf und kleinem Eiser hindurchführt und eine schöne Aussicht auf das unerreichte Wiesbachhorn bietet – ein schmerzlicher Anblick trotzdem! Ob's oben noch schneit?! Hier, immer noch auf einer Höhe von über 2600 m, tropft es sanft, aber kalt. Man selbst ist mittlerweile doch warm geworden, dazu die nassen Kleider; die verschiedenen Zustände, kalt, warm, naß, vertragen sich nicht übermäßig gut miteinander. Nun geht's hinab zum Riffelkees und lange über eine Moräne, die allerlei Sprünge über Spalten und Felsen erfordert, bis ganz hinunter ins Tal, über den Bach fort und recht mühsam, zum Teil auf in den Fels gehauenen Stufen, zur Rudolfshütte hinauf. Die Hütte liegt sehr schön und bietet gute Verpflegung – und Ruhe! Wenn man an das überfüllte Schwaiger-Haus zurückdenkt! Hier sind wir die einzigen Gäste. Aber zu lange dürfen wir uns nicht aufhalten! Ja, wir fangen doch erst an mit dem Ausruhen? Bewahre, wir müssen weiter. Erst wieder empor bis zur kreuzgeschmückten Höhe des Kalser Tauern, dann hinab über recht steiles Geröll, am Dorfer See vorüber, und über die unheimlichen Reste eines alten Bergsturzes fort, am Kalser Bach entlang zur Dorfer Alpe, die mit ihren grünen, fruchtbaren Matten nach all dem sterilen Schutt und Geröll, das wir bis dahin passiert haben, wirklich wie eine Oase anmutet. Bald darauf, in der Schutzhütte auf der Rumesoi-Ebene, bekomme ich meinen Kaffee, das einzige, was ich auf Bergtouren, auf denen ich es sonst gelernt habe die bescheidensten Ansprüche zu stellen, ungern entbehre. Und trocknes Brot hineinbrocken, wie wir es als Kinder nur am Sonntag durften, das erlaube ich mir im Gebirge alle Tage; es hält bei mir Leib und Seele zusammen. Endlich, nachdem die »Stiegenwand« überwunden ist, erreicht man in ein paar Stunden, über den Teischnitzbach fort, und je nach der Marschfähigkeit das hübsch und freundlich gelegene Dorf Kals. Eine gesunde Wanderung jedenfalls, mit dem häufig wechselnden Auf und Ab dazu – und in dem kleinen, weißgetünchten Zimmer des »Glocknerwirts« schlafe ich so fest wie wenig Schritte vom Haus fort die Toten unter ihren weißen Steinen. Dafür geht's am nächsten Morgen ganz behaglich im Kalser Tal entlang bis nach Peischlach, von dort per Wagen neben der rauschenden, breiten Isel her bis Lienz. Abermals unfreiwilliger Aufenthalt in diesem an und für sich netten Städtchen, dem ich die Erinnerung an mein erstes und einziges collier de chien verdanke: fleißige Wanzen haben es nachts Stich um Stich auf meinen Hals genäht – anfangs, als ich des Morgens erwachte, fürchtete ich, über Nacht den hier ortsüblichen Kropf bekommen zu haben. Aber es waren nur Wanzen – weiter nichts!


Es regnete nicht, sondern goß in unermüdlicher Bravour. Mein Hochtourist klagte über seine Schulter – bei dem Wetter kamen sicher rheumatische Schmerzen hinzu – sobald der Himmel nur eine kleine Pause in der Besprengung der Erde machte, flohen wir auf und davon, zu einem der »Unholden« hinauf, wie die Lienzer Dolomiten ihrer zerklüfteten Formen wegen genannt werden, auf den »Hochstadl« (2678 m). Der Aufstieg ist nicht beschwerlich, in etwa sechs Stunden erreicht man das Hochstadlhaus, und am nächsten Morgen, nach einer sehr kalten Nacht, über die Rudnigsscharte in gut zwei Stunden den Gipfel, der eine wunderbare Aussicht – auch uns! – ins Oberdrautal über die nahen »Unholden« und die ganzen schneeglänzenden Tauern bietet. Einen Abstieg suchten wir uns nach Süden selbst, er war nicht unschwierig, da wir durch dick und dünn – in diesem Falle Gestrüpp und Bäche – mußten, ohne jeden Weg. Mittagsruhe neben einem kühlen Wasserfall und abends gegen sieben Uhr – also nach einer Tagesarbeit von gut vierzehn Stunden – sahen wir endlich im Gailtal Birnbaum, das erwünschte, vor uns liegen.

Im Dorf, vor allem in dem einzigen Wirtshaus, wimmelt es von Soldaten; sie sind sogar auf den Treppenabsätzen und Korridoren einquartiert. Im Staatszimmer, vor dem Vertikow mit Glas und Porzellan, wird mir eine Lagerstatt errichtet. Aber die Soldaten haben noch eine Einquartierung mitgebracht, sie ist braun und sehr behende – meine Nachtruhe ist durchaus getrübt. Ich bin froh, als ich in der Morgendämmerung wieder den Rucksack auf die Schultern lege – mein Hochtourist hat eine seltsame Art angenommen, den Riemen auf der rechten Seite um den Oberarm zu schieben.

Der entzückende Weg durch das Valentintal und über das Törl gleichen Namens und die Aussicht, morgen den Monte Coglians zu besteigen, tröstet über alles hinweg; auch über den Regen – wir sagen euphemistisch »Niederschlag« – der gerade einsetzt, als wir die Wolayerseehütte, am kleinen Wolayersee gelegen, betreten. Beim Hüttenwirt und seiner Genossin ist große Aufregung: der Maulesel, der die Vorräte heraufschafft, ist wieder auf und davon: »ins Ausland hinüber«, sagt der lustige Wirt und deutet mit dem Daumen zur nahen italienischen Grenze. Der Maulesel ist gar nicht so dumm: er sucht ein wärmeres, jedenfalls trockneres Klima auf. Und wir, die wir in die Karnischen Alpen wollten, in die Dolomiten von Sappada und Cadore, auf die Cridola und andere derartige Gipfel, täten wir nicht am Ende auch gut, dem Maulesel zu folgen?! – Zwei Tage belagern wir den Coglians von Norden aus; zwei Tage darben wir, denn der Maulesel weidet noch immer in Italien –, dann steigen auch wir hinab ins Gelobte Land, bis nach Collina. Ein echt friaulisches Dorf, dessen Männer im Sommer auswärts, meistens in Deutschland arbeiten, während die Frauen die geringe Feldarbeit auf den Miniaturfeldern – oft nicht viel größer als ein Bettvorleger – besorgen; die ganz alten und ganz jungen Mannsleute spielen Boccia. Zwei Wirtshäuser stehen uns zur Verfügung, wir wählen das größere – von außen sind beide nicht gerade vertrauenerweckend. Aber mit den Schlafstätten ist es solch eine Sache: der Herr Karabiniere ist auf Besuch da – eine wichtige, beliebte Persönlichkeit, natürlich, denn man ist der Grenze nahe und verdirbt es nicht gern mit ihm! Aber der Herr Karabiniere ist viel zu sehr galant' uomo, um einer Dame nicht Platz zu machen. Er holt sein Gewehr und seinen Kamm aus dem Zimmer und marschiert ab. Ich bleibe erwartungsvoll stehen, um das Bettüberziehen zu überwachen: es ist schwer, meinen Wunsch nach frischer Wäsche begreiflich zu machen, sie ist doch so gut wie neu, und nur zwei Nächte hat der Herr Karabiniere – – Ich bleibe fest. Wenn's denn sein muß –! Darauf wird getuschelt, aus dem Fenster geschaut: er ist schon weit fort, der Herr Karabiniere! Da wird gleich die Matratze des Riesenbettes emporgehoben und aus den Gurten die zwei Gewehre geholt, die man vor der Obrigkeit verstecken mußte! Der Herr Karabiniere hat ahnungslos auf den Waffen geschlafen – besser als die Prinzessin auf der Erbse.

Nun belagern wir den Coglians von Süden. Zwei volle Tage lang. Es regnet so stark, daß wir kaum bis ans kleine Kirchlein gehen können; und zu jeder Mahlzeit bekommen wir »manzo«, Rindfleisch, mit Salbei gewürzt – der Geschmack geht gar nicht mehr von der Zunge. Mein Hochtourist klagt auch über den schlechten Geruch in seinem Zimmer; ich habe es untersucht und ihn beruhigt: Einbildung! Denn es steht kein drittes zur Wahl. Heute fordert er Käse zum Nachtisch: um den Salbei loszuwerden. Der Wirt verneigt sich, ergreift Teller und Messer, eilt den Korridor entlang – wir sehen es durch die Glastür unserer sala da pranzo – und verschwindet im Zimmer des Hochtouristen! Ich sehe dessen befremdenden Blick, sehe auch den Wirt harmlos zurückkehren und uns den Käse mit Schwung servieren. »Wo kommt er her, der Käse?« donnert mein Hochtourist. Ach, ahnungsloser Engel, seit zwei Nächten schlummerst du über den großen, gelben Käselaiben, die unter deinem Bett zum Trocknen liegen! Er wollte keinen Käse mehr, mein Hochtourist. Manche Menschen sind eigentümlich launenhaft!

Die Abende sind ein Idyll. Wir sitzen mit den Frauen auf den alten Holzbänken, die auf dem niedrigen Herd selbst herumstehen. Der Kessel hängt an langer Kette von der Decke über der glimmenden Asche, alles in der Küche, Plafond, Wände, Geräte sind mit gleichmäßiger, glitzernder, fester Rußdecke überzogen. Der »Rentier« des Dorfes kommt, um mit uns zu plaudern; auch er hat sein Geld in Deutschland erworben, »in 'of« (Hof) – er besitzt ein wackliges Häuschen und zwei Ziegen und braucht nicht mehr zu arbeiten. »Denn Reichtum«, so philosophiert er, »hängt von den Ansprüchen ab, die man an ihn stellt.« Oh, hätte ich auch zwei Ziegen – oder mehr noch: wäre ich mit ihrem Besitz zufrieden! – Aber ich bin noch weit entfernt von der Abklärung des Collinaschen Rentiers. Der Coglians bleibt unsichtbar, hinter Nebeln – ich dränge zum Aufbruch; vor allem, weil unten im Tal die vorangesandten Wäschepakete unserer harren.

An schönen Dolomiten vorüber führt der Weg; und an seltsamen Bergnestern mit übereinandergeklebten Häusern und winkligen, dunklen Gassen – oft führen nur Stufen von einem »Stadtteil« zum andern. Elende Holzbalkone hängen an den brüchigen Mauern, keine Gardine an den Fenstern, keine Blume, nichts Grünes ist zu sehen. So viel Verwahrlosung und Schmutz befremdet selbst den, der Süditalien kennt – dieser abgelegene Winkel von Friaul übertrumpft es! In San Stefano finden wir glücklicherweise die Pakete vor – wir haben auch zu unterst auf dem Leibe keinen trockenen Faden mehr! Von dem reizend am Zusammenfluß von Padola und Piave gelegenen San Stefano nehmen wir die Königlich Italienische Post; sie führt uns über Lorenzago durch das Tagliamento-Tal, also nach der Versicherung glaubwürdiger Reisender durch eins der schönsten Täler der Alpen. Ich muß diesen Reisenden glauben; denn ich habe nichts von dieser Schönheit gesehen. Die Königliche Post zog ein Verdeck über meinen Kopf, stellte mir zu Füßen einen Riesenkorb voll Obst und setzte an meine Seite in der engen Viktoria einen italienischen Papa, dessen dickes, blondes Kind als blinder Passagier zwischen uns geklemmt war. Mein Hochtourist hatte sich auf den Bock gerettet – er zog die Launen des Wetters denen eines Kindes vor. Ab und an sprang der italienische Papa, der einen gestreiften Samtanzug trug und Lackstiefeletten, die mit falschen Knöpfen besetzt waren, aus dem langsam fahrenden Wagen und stürzte sich mit seinem Gewehr ins Dickicht, um womöglich noch nebenher ein paar Singvögel zu erjagen. Dann fiel das dicke, schlafende Kind jedesmal um, erwachte und heulte, bis ich es endgültig zu mir herüberzog; so war ich doch zu etwas nütze; sehen kann man immer weniger, es scheint Tinte zu regnen.


Von der Stazione per la Carnia nimmt uns die Bahn über Chiusaforte und Pontafel bis nach Tarvis mit, eine wunderbare Strecke im engen Felsental der Fella, durch Tunnels und über schwebende Brücken in reicher Abwechslung. Wir genießen dankbarst die Großartigkeit der sich rechts und links bietenden Szenerie; denn es klärt sich auf! Wir wagen noch nicht darüber zu sprechen, aber als uns ein leichter Wagen nach Raibl fährt, blicken wir uns hoffnungsvoll an: sollte es wirklich –? Vielleicht erweisen sich uns die Julischen Alpen entgegenkommender, umsonst sind sie wohl nicht so beliebt; auch der König von Sachsen besitzt hier Jagdgebiete.

Sie entsprechen wirklich unseren Erwartungen, die Julischen. Wir können uns von Raibl aus aufmachen zum Manhart. Über den Predilpaß, an starken Fortifikationen vorüber, steigen wir im »Manhartgraben« aufwärts und erreichen nach gut sechs Stunden glücklich den Gipfel (2678 m); seine Rundsicht ist weit und schön, zu den Karawanken hinüber, zum Triglav und der charakteristischen Fünfspitz bei Raibl. Der Abstieg über die Lahnscharte ist fürchterlich steil, man freut sich, als man unten den oberen der beiden entzückend gelegenen Weißenfelser Seen erreicht – mehr noch, als man am unteren die nette Restauration entdeckt und eine köstliche Forelle serviert bekommt. Den Manhart, der sich von hier aus großartig präsentiert, grüßt man mit dankbarem Blick – man hat seine besondere Beziehung zu Bergen, auf deren Gipfel man gestanden hat! Man ist überhaupt zufrieden; ein gutes Mahl und die Aussicht auf bequeme Weiterbeförderung sind wohltuende Faktoren. Denn von Weißenfels bringt uns die Bahn nach Krainburg, am Zusammenfluß von Kanker und Save gelegen. Der Ort gilt für die Hochburg des Nationalitätenkampfes und höchst deutschfeindlich – ich erinnere mich mit Vergnügen an seine anmutige Lage auf einer Anhöhe, an das gemütliche Abendessen im alten Garten der »Alten Post« unter hübschen Arkaden und das Gefühl vollkommensten Ausgeruhtseins beim Erwachen am nächsten Morgen in dem großen, von Sonne durchwärmten Zimmer. Ich bin mit dieser slawischen Behandlung höchst zufrieden!

Auf leichtem Wagen rollen wir über Kanker bis zum »Poschner-Wirtshaus« – denn Landstraßen geht ein ordentlicher Hochtourist nur ungern! Den Steiner Alpen wollen wir einen Besuch abstatten, und zwar dem höchsten Gipfel dieser mächtigen Kalkalpen, die sich auf der Grenze von Krain, Steiermark und Kärnten erheben und uns mit ihren malerisch bewaldeten Vorbergen schon von weitem locken. Aber im Poschner-Wirtshaus wird Station gemacht; ich bestehe darauf, daß wir die Rückkehr des Wirtes abwarten, der zugleich auch als Führer dient; er soll uns begleiten, um den Rucksack meines Hochtouristen zu tragen. Es ist seltsam, wie bleiern ihm der Arm herabhängt, Schmerzen hat er keine, oder doch nur wenig, wie er versichert, aber meine Energie scheint ihm trotzdem willkommen zu sein!


Gegen Mittag wanderten wir zu dreien los; es ist drückend schwül, und wir halten es für ratsamer, die Nacht auf der Zoishütte zu bleiben, zu der ein schöner, aussichtsreicher Weg durch den Suhadolnikgraben und unter den steilen Wänden des »Greben« entlang über den Kankersattel führt. Die Zoishütte, auf 1792 m Höhe, liegt entzückend; ein einsetzendes Gewitter treibt uns aber bald ins Haus zurück. Es ist nebelig am nächsten Morgen, aber es kann sich klären, meint der Führer. Wir wählen den »neuen Grintouzweg«, der zwar schwieriger ist als der alte über den Südkamm, uns aber unsern Berg, den »Grintouz«, von seiner schönsten Seite zeigt. Durch ein Felsentor betreten wir einen Alpenvereins-Steig, aber die Markierung ist im Nebel schlecht zu finden, der Aufstieg überhaupt nicht leicht. Vorsichtshalber werde ich angeseilt: »Der Herr hat's fast nötiger«, meint der Führer. Ich sehe selbst, wie ungeschickt mein Hochtourist heute klettert, nur die linke Hand benutzt er und schiebt sich langsam an den Felsen empor. Statt der drei Stunden zum Gipfel (2559 m) brauchen wir vier – im übrigen ist es einerlei. Denn als wir endlich oben sind, ist der Nebel so dicht, daß man die berühmte Hand vor Augen nicht sehen kann, geschweige denn etwas von der Aussicht, die ein Studium der Karawanken, des Koschuta-Gebirges und natürlich auch der Steiner Alpen gewähren soll. Ein graues Meer wallt um uns her, und uns ist nicht einmal das Frühstück noch die Gipfelzigarre und -zigarette ein Genuß: seltsam schwül ist uns zumute – liegt es an der Luft? Der Führer mahnt zum Aufbruch: »nit geheuer« scheint's ihm. Wir beginnen den Abstieg; vorsichtig, denn er ist recht schwierig, klettern wir von Griff zu Griff; ich, als »Ungeübte« voran, habe meine liebe Not, feste Tritte für meine Genagelten ausfindig zu machen. In einem engen Felsenkessel sind wir, unheimlich starr ragen die Wände rings um uns empor, fürchterlich steil und tief geht es zu unseren Füßen hinab. Da – ein furchtbarer Donnerschlag! Unwillkürlich klammere ich mich an den Fels, der Nebel zerreißt, mit grausamer Deutlichkeit erkenne ich die Abstürze – »vorwärts, vorwärts«, mahnt der Führer. Ich klettere Fuß um Fuß hinab und versuche Ruhe zu bewahren. Denn gerade in unserer Höhe, mitten im Felsenkessel, steht das Gewitter. Der Regen peitscht mir ins Gesicht, die Blitze sausen zischend vorbei, schlagen in die Wände, Steine brechen los und krachen in die Tiefe – dabei ist es stockdunkel, nur auf Sekunden erfüllt schwefelgelbes Licht den Höllenschlund, in den wir hinab müssen. Einmal ducken wir uns unter einem überhängenden Felsen nieder, die Finger sind verklamt vom eisigen Regen, ein pfeifender Blitz, der dicht an uns vorbeifährt, treibt uns wieder empor. Schutz gibt's nicht, wir müssen es dem Geschick überlassen, wie und ob wir davonkommen. Einmal noch machen wir kurzen Aufenthalt, der Führer seilt auch den Hochtouristen an, der mit zusammengebissenen Zähnen, den gebrauchsunfähigen rechten Arm von der linken Hand unterstützt, abwärts klettert. An diesen Weg über die Mlinaskoscharte werde ich mich noch oft erinnern – man war »zu sehr in Gottes Hand«, wie's sonst vom Meer heißt. Endlich erreichen wir die Böhmische Hütte, die dem Slawischen Alpen-Verein gehört. Wir sind zu durchnäßt, um lange zu rasten – auch der Führer kehrt um: an die Tour will er denken sein Lebenlang!

Wir machen uns wieder auf, noch sind wir in über 1500 m Höhe; aus der Untern Rauni, in der die Hütte liegt, müssen wir durch die Seeländer Kotschna, drei Stunden munter bergab bis zum Stuller Wirtshaus in Oberseeland, das wir mittags erreichen. So gut hat mir selten eine Suppe geschmeckt – und wie friedlich das fruchtbare, schöne Land, durch das wir nun gemütlich schlendern – doppelt wohltuend unsern Augen nach den Schrecken in der Einöde dort oben! Die 21 km, die zwischen Oberseeland und Bad Vellach liegen, dünken mich eine Kleinigkeit. Über den »Seeberg« (1218 m), der von seiner Kanzel noch einen letzten, erlösten Blick auf die Steiner Alpen erlaubt, geht die Straße; die Kehren hinunter kürzen wir uns durch Fußwege, bei heller Sonne noch sehen wir das anmutig in Grün gebettete Bad Vellach vor uns liegen. Ein Glas von seinem berühmten Eisensäuerling wird probiert, dann ein Wagen bestiegen, der uns nach Klagenfurt, Kärntens schöner Hauptstadt, bringen soll. Wie ich mich auf meinen Koffer freue, der dort für mich lagert – und auf die Bäder im Wörther See; nach etwas Ruhe wird der Himmel uns doch noch zu einigen Gipfeln verhelfen.

»Ich muß vor allen Dingen zum Arzt«, sagt da mein Hochtourist. Über meine Hoffnungen fällt ein leichter Meltau: sollte es mit all den Hindernissen und Enttäuschungen der diesjährigen Bergfahrt noch nicht genug sein?

Mein Hochtourist hat körperlich in aller Stille einen Zuwachs bekommen. Der Arzt nennt ihn einen ungebührlich großen »Kallus«, der sich an der Bruchstelle des Schlüsselbeins gebildet hat. Er verordnet Ruhe, Massieren und andere mit dem Bergsteigen unverträgliche Maßnahmen – vorläufig muß man sich damit begnügen, die Berge von unten anzusehen. Klagenfurt trägt seinen Namen – für uns wenigstens – nicht mit Unrecht.

Ein Rekord war's aber doch, vier Wochen mit gebrochenem Schlüsselbein Bergtouren zu machen!

Spätherbst im Wilden Kaiser.

Auch für den, der im Sommer versuchte, durch einen vierwöchigen Aufenthalt auf dem Lande, im Gebirge oder an der See die Schäden zu reparieren, die achtundvierzig Wochen in der Großstadt seinen Nerven zugefügt haben, kommt, wenn die Herbstsonne lacht, noch einmal eine unbezwingliche Sehnsucht, sich aus der einengenden Unruhe der Straßen in die stille Öffentlichkeit der Natur zu flüchten. Vielleicht trägt er in sich das Bild der Dolomiten mit ihren tausend großen und kleinen Freuden, aber ihm scheint, dem Objektiv fehle ein Zug: er möchte das Gebirge im Wechsel der Jahreszeiten – als Residenz des Herbstes – kennen lernen. Der um diese Möglichkeit vor anderen Großstädtern reichere Münchener darf seinen Wunsch in die Tat umsetzen: in zwei Stunden ist er in Kufstein – vor ihm liegt, ihm vorläufig nur zarte, mit Wald bestandene Ausläufer zuwendend, der »Wilde Kaiser«. Ein wundervoller Weg, steil ansetzend, dann am Berghang entlang, in gemütlichem Auf und Ab, führt ihn in wenig Stunden ins Herz des »Wilden« – nach Hinterbärenbad, dem Ausgangspunkt für alle schwierigen und gefährlichen Touren der großen Kletterer. Das Totenkirchl, der Predigtstuhl, die beiden Karl- und die Fleischbankspitze – all die Bergriesen mit ihren vielseitigen, berühmten Auf- und Abstiegen liegen lockend bereit; und hier und da trifft man noch auf die »Echten«, die, im Gras hockend, mit dem Fernglas einen neuen, fast unmöglichen Weg ausspionieren und ihrem Ziel einen noch größeren Reiz hinzufügen möchten.

Aber die Saison der höchsten Gipfel ist doch vorüber. Wir bescheiden uns damit, vom Stripsenjoch durch die einst gefürchtete »Steinerne Rinne«, die jetzt auch durch Steiganlagen und Drahtseile gezähmt ist, zur hintern Goinger Halt aufzusteigen und den Gratübergang zur vorderen gleichen Namens, eine nette Kletterei, zu vollführen, um endlich der Elmauer Halt, dem höchsten Gipfel des Kaisergebirges, unseren Besuch abzustatten. Der milde Herbst hat den Tatendrang und die Kampfeslust besänftigt – man möchte genießen, noch einmal aus tiefstem Herzen Höhenluft atmen, aber ohne gewaltige Anstrengungen machen zu müssen. Die Tage sind auch zu kurz, vor sechs Uhr wird es kaum hell und von fünf Uhr ab beginnt bereits die ungemütliche Dämmerung. Dazu kommt, daß man wieder und wieder stehen bleibt, um den Farbenrausch ringsum zu genießen: immer eine neue Nuance, das Graugrün der Fichten zwischen dem Goldgelb der Birken, dem Schwefelton der Eschen, dem Rostbraun der Buchen und Eichen; und immer neue Bilder der in diesen Rahmen gefaßten Sennhütten und Dörfer, in der klaren Luft so nahe gerückt, als könnte man sie mit wenig Schritten erreichen. Und welche Prachtaussicht von den Bergen! Bis in die fernsten Fernen reiht sich Gipfel an Gipfel, über den vorderen, wie mit dunklem Samt bezogenen Ketten erheben sich die weißen Linien der ewigen Gletscher. Ein Panorama, wie es zum Beispiel »die Elmauer Halt« bietet, ein sehr lustiger Kletterberg von nur 2344 m Höhe – also ein »G'lump« in eines Sportmanns Augen! – kann man kaum in den Dolomiten oder Hohen Tauern genießen. Der ganze Höhenzug der Zentralalpen, von den Niedern Tauern bis zu den Ötztaler Alpen, die Loferer Steinberge, der Karwendel, das Wettersteingebirge, breitet sich vor dem Blick aus; der Inn zieht seine glitzernde Schlangenlinie durchs Tal, und durch eine Lücke zwischen dem Treffauer und dem Kaiserkopf leuchtet in herrlichem Tiefblau der Hintersteiner See herauf. Die Gletschermeere des Großglockners und des Großvenedigers schließen mit ihrer feierlichen Schönheit den Horizont nach Süden – in lieblichster Anmut und bezauberndem Kontrast bauen sich fast am Fuß des Berges mit ihren weißen Kirchlein die Dörfer Going und Elmau auf, während weiter draußen in der Ebene der Häuserkomplex von Kitzbühel und ein Eckchen von St. Johann sichtbar werden. Die Glocken tönen mahnend herauf, ein leises Rollen in der Ferne erinnert daran, daß es dort unten Eisenbahnen, Unruhe, Städte und – Pflichten gibt – seufzend macht man sich daran, wieder in die Unterwelt hinabzusteigen.

Ein neues Vergnügen harrt des Herbstläufers: die Gruttenhütte ist schon geschlossen, ein Alpinist aber besitzt den Schlüssel; die Läden werden aufgestoßen, um noch möglichst viel Sonne hereinzulassen – und dann beginnt das Robinson-Crusoe-Spielen! Jeder bekommt sein Amt, der das Feueranmachen, jener das Zusammenstellen des Menus, dessen einzelne Gerichte den verschiedenen Rucksäcken entnommen werden, der dritte besichtigt oben die Lagerstätten, der vierte aber kommt mit der Trauernachricht zurück, daß es aus der Quelle nur sehr bescheiden tropfe: in einer halben Stunde ungefähr ein Viertellitermaß voll! – Aber wie können Reissuppe aus Tafeln, Tee aus Konserven, Zitronenlimonade aus Pastillen hergestellt werden ohne das göttliche Naß? Und einmal am Tage – wenn auch ohne jede Verbindlichkeit! – möchte man sich doch wenigstens die Hände waschen. Ja, ja, die negative Wassernot ist im »Kaiser«, wie in jedem Kalkgebirge, groß und nach der langen Trockenheit doppelt bemerkbar – –. Aber allgemeine Redensarten nützen nicht; und die beiden besten Bergsteiger, denen plötzlich neidlos von allen Seiten ihre hervorragenden alpinen Qualitäten zuerkannt werden, müssen sich entschließen, noch einmal die »Genagelten« gegen die bequemen Hausschuhe einzutauschen. Mit Eispickel, Kessel, Eimer und Pfanne ziehen sie aus – wie konnte man nur zaudern? Am Herd steht ja auf einem prunkvollen Zettel: »Man bittet, den Wassergrant (den Beikessel) vor dem Anfeuern mit Schnee zu füllen« – also! Da man selbst nicht mitzugehen braucht, findet man diese kleine Extratour zur nächsten Schneehalde – eine gute halbe Stunde hin und zurück – höchst amüsant.

Endlich ist nun auch das Mahl bereitet; beim besten Willen war ja an den Konserven nichts zu verderben, dennoch fühlt man sich stolz auf seine Produkte! Und die Konkneipanten finden den Tee besonders aromatisch, die Zitronenmischung auf der Höhe aller Limonaden; vielleicht ist der gute Bergappetit nicht ganz verdienstlos an dieser Begeisterung, denn sogar die pièce de résistance, die Mettwurst, die ihrem Umfange nach der »Wurst ohne Ende« auf dem berühmten Bilderbogen gleicht, wird, natürlich nur mit Rücksicht auf die Rucksäcke, bis zur letzten Scheibe gewissenhaft verteilt. Der enge Küchenraum und die heißen Getränke erwecken noch einmal den Wunsch nach frischer Luft; nur die Faulen, ganz Unpoetischen kriechen mit vollem Magen ins Bett. Aber draußen ist's wundervoll, warm und windstill, wie kaum je an einem diesjährigen Sommerabend, aus der Ebene blinken freundlich die Lichter herauf, und auf den Abstürzen des Treffauer liegen dunkle Schatten, die sich mehr und mehr verkürzen – ein silbernes Leuchten füllt die Luft. Atemlos wartet man: da, endlich, schiebt sich das volle, weiche Antlitz des Mondes um die tiefschwarze Spitze der vorderen Goinger Halt herum – und alle Berge umstehen das kleine Plateau, das die Hütte trägt, in klarstem, weißem und doch so köstlich zartem Lichte.

Rein und frei wie hier oben in der staublosen Luft erstrahlt der Zauber des Mondes in der Stadt niemals – nur auf den Höhen oder über der Unendlichkeit des Meeres enthüllt er den vollen Reiz seiner Schönheit. Die einfache Kammer, die man schließlich zur Ruhe aufsucht, verwandelt er in einen Raum mit Marmorwänden, und selbst im Schlaf glaubt man in einem Märchenlande zu sein, in dem alles, was man anrührt, sich in Silber und Gold verwandelt. – Der Ruf nach Befriedigung der materiellen Bedürfnisse erweckt die Schläfer etwas unsanft aus glücklichen Träumen. Aber ehe der Kampf mit dem widerspenstigen Herdfeuer neu begonnen wird, beobachtet man, trotz aller hungrigen Mahnrufe, den viel leidenschaftlicheren Krieg da draußen: noch immer segelt die silberne Scheibe sanft durch die azurnen Lüfte, aber im Osten ziehen glutrote Streifen auf und bereiten der großen Siegerin den purpurnen Triumphesweg – der ganze Himmel gerät in Aufregung beim Nahen seiner Königin! Unten im Tal lagern kalte, weißgraue Nebelschleier über Wald und Flur wie die Sorgen über den Stätten der Menschen. – Und für »die nach uns« mit ihren Ansprüchen und Bedürfnissen setzt man die Hütte großartig instand; mit dem Eifer einer sich plötzlich auf ihre Pflichten beim Abgang besinnenden Küchenfee: die Nachfolgerin soll ihr nichts Schlechtes nachsagen dürfen. Sogar die Lampe füllt man wieder voll Petroleum – es ist rührend! Oder ist man am Ende so voll Dank für die köstlichen Tage, daß man sich in solch unendlich naiver Weise dafür betätigt? – Doch in diese Abgründe des menschlichen Herzens läßt's sich nicht mit einer Petroleumlampe leuchten.

Abwärts geht's; durch goldgelbe Farren und ganze Korallenfelder des Blaubeerenkrauts; die Pilze tragen Krönchen, und die Brombeeren sehen mit melancholischen schwarzen Augen auf die Vorwärtshastenden. Was nutzt es? Zurück in die Alltäglichkeit, ihr Menschen! »Auf seligen Höhen wohnen die Götter ...«

Auf Deutschlands »Allerhöchstem«.

Für jemand, der das Gebirge liebt und Gipfel nicht nur von unten bewundern mag, ist es eine gelinde Folterqual, tagelang im Schatten eines prächtigen Bergmassivs zu sitzen und wegen andauernder Witterung, worunter in den letzten Sommern ja nur schlechte zu verstehen war, nicht hinaufzukönnen. Zudem lag mir jemand, dessen junge Beine ihn erst einmal bis zu einer »Hütte« hinaufgetragen hatten und der sich deshalb nach dem ersten Waffengang mit den Felsen sehnte, Tag und Nacht in den Ohren, daß eine ehrenhafte Mutter ihr Versprechen unter allen Umständen einlösen müßte. Aber ich, die Erfahrene, Erprobte, wartete, bis alle Umstände sich gut vereinen ließen, das Wetter wirklich aufklarte, der Barometer stieg und ein hellerer Schein, den man in weniger zweifelhaften Zeiten harmlos für Sonne erklärt haben würde, sich über die Matten breitete. Bis dahin war ich stets unter der Ägide eines sehr Bergkundigen gegangen – heute traf mich die Verantwortung allein. Ich wählte deshalb einen alten, treuherzigen Führer, mit Augen, in denen sich die stille Bergsonne gesammelt hat, von ruhigem, ungeheures Vertrauen einflößendem Wesen und im Besitz einer deutschen Aussprache, von der man wenigstens einige Brocken verstand. Das letztere schien mir für die Verständigung unterwegs auch nicht ganz gleichgültig zu sein. –

Wir unternahmen nachmittags in gemütlichstem Tempo den Aufstieg zur Wiener-Neustädter-Hütte, rasteten an den zwei traditionellen Plätzen, bewunderten die Aussicht auf Biberwier, Ehrwald und Lermoos, die nur ganz wenig verschleiert war, sahen einen Gamsbock, einen echten, lebendigen – nicht so einen, wie er in der Sächsischen Schweiz auf einem kleinen, winzigen Felsblock steht – bewegten uns kühn über die letzten, noch arg verschneiten Steige und standen bei einer plötzlichen Wendung dicht vor der Hütte – eine ihrer angenehmsten und bei Hütten seltenen Eigenschaften; denn gewöhnlich sieht man diese heißersehnten Stationen schon stundenlang vor sich liegen und scheint ihnen statt näher immer ferner zu rücken. – Durch ganz besondere Protektion erhielten wir eine schmale Dachseite, in der zwei Federmatratzen am Boden lagen, für uns allein. Ich empfinde den Mangel an jeglicher Bettwäsche immer noch als störend; heute war es wenigstens so kalt, daß man gern seine Kleider anbehielt. Nach warmer Suppe im überfüllten Speiseraum bildeten wir uns ein, uns nach Ruhe zu sehnen, und kletterten die Hühnerleiter zu unserer bevorzugten Ecke wieder empor. Aber mit dem Schlafen auf den Hütten ist es ja selten etwas. Entweder man friert oder man wird durch die leisesten Bewegungen des Nachbarn gestört, die sich durch die dünnen Wände verraten. Diesmal fror man und hörte rings die Unruhe; und als wir eben eindämmerten, brach unerwartet ein furchtbares Gewitter los, unsere Dachseite stand andauernd im Feuerzauber der Blitze – und dann ein Getöse, als sollte die Welt untergehen! Ein geisterbleiches Gesicht erhob sich von der Nachbarmatratze, und eine bängliche Stimme fragte: »O Gott, Mutter, was war denn das?!« Und wie im Märchen antwortete ich, meine eigene, eben überstandene Todesangst, die Lawine möchte uns mitsamt Hütte und Dachseite ins Tal wehen, mutig überwindend: »Das ist der Wind, mein Kind! Das klingt im Gebirge immer so!« Das Zähneklappern von nah und fern hörte während der kurzen Nachtzeit nicht auf; man war froh, als um drei Uhr zum »Wecken« geklopft wurde – eine fast überflüssige Prozedur!

»Glücklicherweise«, sagte der Führer, habe es Neuschnee gegeben. Deshalb wurden wir schon angeseilt, als die Kletterei begann, und die dicken Wollhandschuhe, die ich, die Erfahrene! mitgenommen hatte, kamen hoch zu Ehren. Der Schnee erleichterte aber den Aufstieg bedeutend – in knapp zwei Stunden waren wir auf der Spitze, die so in Nebel gehüllt war, daß wir uns am meteorologischen Turm und der Hauswand entlang fühlen mußten, um den Eingang zum schmutzigsten und verwahrlosesten aller Hüttenräume, die ich je gesehen habe, zu finden. Zudem war er so überfüllt, daß wir nur abwechselnd sitzen konnten; Leute von der Knorrhütte, sowie über Nacht hier oben gebliebene Touristen – vor deren Selbstüberwindung ich die größte Hochachtung hege! –, zahlreiche Führer, denen der Nebenraum zu kalt war, die beiden Wirtschafterinnen, die auf dem winzigen Herd, auf dem zugleich Dutzende von Pantoffeln getrocknet wurden, kochten und brieten, dazu die Luft voll Tabaksqualm und dem Dunst feuchter Kleider – nein, eine Erholung bot der Aufenthalt nicht, noch weniger die Speisen, die nur von den Preisen gewürzt waren. Aber – bald wird ein neues Haus erstehen – hoffentlich wird damit auf dem beliebtesten deutschen Gipfel auch sonst manches anders!

Wir warteten ein paar Stunden – auf Aussicht. Sie kam nicht. Berge, Täler, Ortschaften, Flußläufe – Nähe wie Ferne – alles ließ sich nur ahnen. Man deutete dort hin und sagte: »Da müssen die Stubaier liegen –«, wandte sich und behauptete, in der Richtung nach Partenkirchen zu sehen – es war Jacke wie Hose: Nebel, nichts als Nebel. Stumm saßen wir schließlich vor unserer blauen Emaille-Teekanne.

Da erschien in beschleunigterem Schritt unser Führer mit strahlenden Bergaugen: es hellte sich auf, der Eibsee sei eben aufgetaucht, kein Zweifel mehr, die Nebel verzögen sich und er riete doch nun dringend, da das Wetter so günstig sei, zum Abstieg durchs Höllental, von dem wir ja gestern bereits gesprochen. »Fein!« sagte mein Junge. – Ich aber als Erfahrene ging nach draußen, sah auf Sekunden den Eibsee aus der Tiefe aufschimmern und fand die übrigen Umstände tief verschleiert. Der Führer triumphierte: er habe es immer gesagt, es würde ein glorioser Tag. Dennoch zögerte ich: ob es denn auch ganz sicher sei –? Mein Junge puffte mich; Söhne haben eine besondere Art, ihre Mutter zu puffen: es liegt Aufmunterung und zugleich Verachtung darin. Zudem sagte er spöttisch: »Und Du willst eine Hochtouristin sein –?« Und dann stellten sie mir beide vor, wie amüsant und wie lustig der Abstieg und wie bald wir unten sein würden: in drei Stunden schon durchs Tal! – Ich gab nach. Aber während ich die acht Mark für unser Frühstück bezahlte, fragte man mich von rechts und links, welchen Abstieg ich wählte. Mit der ganzen Überlegenheit der gewiegten Touristin entgegnete ich: »Durchs Höllental.« Allgemeines Schweigen – stille Hochachtung, wie ich annahm. Ein liebenswürdiger Tourist, mit dem ich schon vorher gesprochen, trat auf mich zu und meinte, ich hätte mir doch eine starke Aufgabe gestellt: bei diesen Witterungsverhältnissen. – Lächelnd widersprach ich: der Führer und ich seien ganz überzeugt, daß der Nebel sich verziehen und uns der Abstieg keinerlei Schwierigkeiten bereiten würde – außerdem wüßte er ja, daß es die erste Hochtour meines Sohnes sei. Daraufhin schwieg der Warner.

Aber als wir angeseilt vom Ostgipfel herabklommen, durch Schnee, der mir bis an die Hüfte reichte – ich war schon zweimal gefallen und wäre ohne das Seil schon zweimal verloren gewesen –, erklang von oben dringendes Rufen. Ich wandte mich, erkannte den Warner und winkte ihm einen Abschiedsgruß zu – verstehen konnte ich kein Wort mehr –. Wir kletterten abwärts; zuerst in dichtem Nebel, der sich ja bald heben mußte. Wirklich, er zerriß ganz plötzlich – und ein furchtbares Gewitter, ganz unerwartet bei der Kälte, setzte mit großer Wucht ein, gerade als wir die ersten, ungemütlichen, vereisten »Stifte«, die quer über ein Stückchen Unendlichkeit führen, erreichten. Wir duckten uns eine halbe Stunde unter einen Felsen, der Blitze wie des schauernden Regens halber. Das Gewitter verzog sich; der Regen blieb, stürzend, unaufhörlich. Beim berühmten »Brett« – einer langen Reihe von Stiften über ein größeres Stück Unendlichkeit, ein zweites Gewitter; der Regen glich Sturzbächen – Wasser stürzte von allen Seiten auf uns herab. Bei der nicht minder berühmten »Leiter« – eisernen Sprossen, die an einer absolut senkrechten, hohen Felswand hinabführen, ein drittes Gewitter; zudem hatte sich gerade zwischen den Sprossen ein Wasserfall gebildet, der sich oben in meinen Kragen ergoß, um an den Knien wieder seinen Ausweg zu suchen. Ich war daher erschöpft und eine Pause willkommen. Sie trat gleich ein: ein tüchtiger Wolkenbruch zwang uns zu kurzer Rast – behaglich war sie nicht! – Der Führer tröstete uns: das Ärgste sei überstanden – jetzt nur noch durch die Höllenklamm! Ihre düstere Romantik war mir nie sympathisch – jetzt aber war sie zu einer wirklichen Hölle geworden! Der Hammersbach in einen reißenden Strom verwandelt, wilde Wasserstürze von rechts und links, den Weg überspülend, die zahlreichen Tunnels vereist, ihr Boden von Bächen benutzt – und diese waren es, die den letzten trokkenen Punkt an uns fanden und von oben in unsere Stiefel rannen – von unten waren sie längst durchweicht. Nach siebenstündiger Wanderung erreichten wir in aufgelöstem Zustand, ohne einen einzigen trockenen Faden am Leibe, das Wirtshaus zur Schmölz. Ich telephonierte nach Garmisch, daß das Automobil halten und uns aufnehmen möge. Die Antwort lautete unsicher: man wisse nicht, ob noch Platz sei. Zähneklappernd warteten wir eine Stunde: nahm der Motorwagen uns nicht auf, so blieb noch eine dreistündige Fahrt – und woher vor allem einen Wagen nehmen? –. Aber das Wunder, an das wir kaum zu hoffen wagten, geschah. Der Chauffeur sah uns zwar mißbilligend an – wir hinterließen auch kleine Seen auf dem roten Leder der Sitze – und nur mein letztes Geld, das ich noch außer den zwölf Mark für die drei Billette besaß, stimmte ihn milder. Unterwegs rechnete ich: in vier Stunden hätten wir über den kürzesten Weg unten sein können; statt dessen waren wir sieben Stunden bei viel anstrengenderem Abstieg unterwegs gewesen, mußten noch zwei Stunden frostdurchschauert im Automobil sitzen und hatten für diese Extravergnügungen dem Führer zehn Kronen mehr und für die Fahrt zwölf Mark zu bezahlen.

Ich sah zum Führer hin: er unterhielt sich treuherzig mit einem Touristen und pries unsere hervorragenden hochtouristischen Befähigungen. Wir aber tranken, endlich zu Hause, zwei Liter Glühwein, »um vorzubeugen!«

Am anderen Tage traf ich den Touristen von der Zugspitze. Er eilte auf mich zu: »Gnädige Frau,« sagte er, als ahne er unser Geschick, »hätten Sie doch nur auf mein Rufen geachtet. Ich hatte nämlich gehört, wie die Führer untereinander lachten und sagten: »Der nimmt die Dame nur da herunter, weil er zehn Kronen mehr bekommt – und die merkt fei' nix!« – Nein, ich hatte nichts bemerkt, ich gab es zu. Sonst hätte ich es vorgezogen, dem »treuherzigen« Führer zehn Kronen zu schenken und den kürzesten Weg zu wählen. Und ich, die Erfahrene, die Erprobte! lernte einsehen, daß man sich zwar gut auf die Fels- und Eistechnik verstehen kann und dennoch nichts von der Technik weiß, mit »treuherzigen« Führern umzugehen.

Das Matterhorn von Ehrwald.

Marschiert oder fährt man von Partenkirchen hinein in den von hohen Bergen umstandenen Kessel von Ehrwald, so fesselt vor allem eine Gipfelgestalt den Blick; wenn auch die übrigen Berge des Wettersteins und der Mieminger Gruppe höher sind, sie werden doch alle durch die wie ein Dolch in den Himmel ragende Sonnenspitze an Kühnheit übertroffen. Durch Gestalt und Lage bildet sie den Augenpunkt des ganzen Bergkranzes, der die liebliche, grüne, mit Lärchenwäldern durchsetzte Talsohle umgibt; nur mit dem Matterhorn oder der Cimone della Pala, freilich in verkleinertem Maßstab, läßt sich die Form der gebietenden Spitze vergleichen. Naturgemäß lockt ihr Gipfel jeden an, der überhaupt Fähigkeit und Ehrgeiz hat, auch noch andere Berge als die auf der Reiseroute liegenden »Aussichtsmuggel« zu besteigen. Dies Vordrängen in die Landschaft drückt förmlich ein »Versuch' es doch 'mal« aus – und tatsächlich ist auch der Gipfel der Sonnenspitze der am meisten besuchte unter den schwierigen in der Nachbarschaft. Allerdings wird auch zu ihm wie zu vielen andern manch Unberufener mit Hilfe des Seils »hinaufgezogen«. »Mehlsacktechnik« nennt sich diese Beförderungsweise, die bei den Führern nicht ganz unbeliebt ist; rechnen sie doch nicht mit Unrecht bei solchen Opfern des alpinen Ehrgeizes, die sich nachher einbilden, mit Hilfe des Führers Ungeheures geleistet zu haben, auf erhöhte Trinkgelder. Der Hochtourist allerdings rümpft über diese alpinen Gepäckstücke verächtlich die Nase; denn das Seil, der unentbehrlichste Freund des Kletterers, soll ihn nur sichern, ihm nur »moralische« Hilfe bieten, nicht aber, wie es bei Ungeübten der Fall, zur einfachen Beförderung durch des Führers Kraft dienen.

Die erste Besteigung der Sonnenspitze vollführte Hermann von Barth, der kühne Gipfelstürmer, im Jahre 1873 vom Sebensee aus, während der noch lange Zeit für unbezwinglich gehaltene Südgrat erst 1897 den Innsbrucker Alpinisten O. Ampferer und W. Hammer erlag.

Wochenlang rief auch uns der Berg seine Mahnung zu; immer und immer wieder rüsteten wir uns, ihr zu folgen. Aber da es in diesem Jahr umgekehrt wie im Sprichwort ging und auf etwas Sonnenschein wieder tagelanger Regen einsetzte, so war's lange ein Katz- und Mausspiel. Bis auch hier die Ausdauer siegen sollte! An einem etwas schwülen Nachmittag brachen wir von Ehrwald aus auf, mit Rucksack und Pickel, und beschlossen, da wir natürlich den Berg »traversieren« wollten, zur Hütte der Sektion Koburg aufzusteigen und dort zu übernachten. Der nächste Weg ist der beste – also wählten wir den über den »Hohen Gang«, der, nachdem man zuerst steil über sumpfige Matten und dann durch schattenspendenden Wald gewandert ist, an steiler Felswand emporführt. Nach gut zwei Stunden erreicht man den höchsten Punkt der Talstufe; gleichzeitig mit uns stieg ein Sohn Ganghofers, begleitet vom Jäger und einem »Bua«, zur abendlichen Gamspirsch empor. Ganghofer gehören dort weit und breit alle Jagden. Noch ein paar Minuten – und, dem Blick anfangs durch einen Lärchenwald verborgen, breitet sich das Oval des Sebensees aus, dessen grünblaues Wasser an Klarheit und Köstlichkeit der Farbe mit dem des Achensees wetteifern kann. Jenseits erhebt sich, auf bequem angelegten Serpentinen in einer halben Stunde zu erreichen, die Koburger Hütte, einen grünen Hang krönend; die Aussicht, die sie über den Sebensee wie über den in ihrem Rücken gelegenen blauschwarzen Drachensee bietet, ist einzig schön. Und doch wurde der Genuß durch die unruhvolle Frage getrübt: »Wird das Wetter halten – oder ist es auch morgen wieder nichts?!« Der Wetterstein lag wie immer von leichten Wolken umhüllt da; und das Barometer fiel sanft – beides untrügliche Zeichen in andern Jahren, aber heuer ohne Gewähr! »Heuer« bewies auch zum Glück diesmal seine Launenhaftigkeit: ein ganz wundervoller Morgen war uns beschieden, als wir in aller Frühe zur Ersteigung des »Südgrats« aufbrachen: rosige Wolken als Folie der Gipfel, und der Schnee an den Hängen leuchtend unter den ersten Sonnenstrahlen. Also guten Muts vorwärts! Mit der Gewißheit, seine Mühen belohnt zu sehen und droben eine klare Aussicht zu finden, klettert sich's nochmal so leicht.

Das eklige Geröll wurde in kurzer Zeit überwunden, ebenso die steilen Grashänge. Und nun nimmt mich der Führer barmherzig ans Seil, denn die eigentliche Kletterei beginnt. Zwar macht mein Hochtourist einige höhnische Bemerkungen darüber – ich nehme an, weil er um die Ehre kommt, mich selbst ans Seil zu nehmen! –; aber da er mich auf meine Bitten hin photographieren soll – Frauen können ja nie genug Bilder von sich bekommen! –, so vertraue ich mich lieber meinem Führer an, als allein auf die eigene Geschicklichkeit zu rechnen. Denn ohne nach dem Maßstab der modernen Klettertechnik gerade sehr schwierig zu sein, verlangt dieser Aufstieg über den Südgrat dennoch größte Aufmerksamkeit. Steile Kamine wechseln mit griffarmen, exponierten Felsbändern ab, und ein Ausgleiten würde an den haltlos »plattigen« Abstürzen, mehrere hundert Meter in die Tiefe, den sicheren Tod zur Folge haben. Aber bei allem Ernst – oder besser gesagt: aller Schwierigkeit der Situation, fehlt auch das heitere Moment nicht. Der Unangeseilte und der Führer sind einen Kamin hinangeklettert; ich kann sie beide nicht mehr sehen. Sobald sie oben einen sicheren Standpunkt erreicht haben, wird mir zugerufen, ihnen zu folgen. Die Stufen sind durchschnittlich für längere Beine berechnet als für meine, mit aller Kraft muß ich mich hinaufwinden – von oben wird mein Zögern mißverstanden: das Seil zerrt mich in die Höhe, fort aus der eben erreichten Stellung. Ich rufe: »Nicht ziehen!« – aber Tiroler und norddeutscher Dialekt scheinen auch für die einfachsten Dinge entgegengesetzte Ausdrücke zu gebrauchen: mit aller Wucht wird weitergezogen, ich bin in dem engen Schacht eingeklemmt und zapple in der Luft mit beiden Füßen. Ich bin nur froh, daß der Photograph diese »vorteilhafte« Pose nicht erwischt hat – keinenfalls hätte er sie mir geschenkt! Ein anderes Mal dagegen, da ich über grausiger Tiefe nur so auf den Zehenspitzen schwanke, ruft er gemütvoll: »Einen Augenblick halt, wenn ich bitten darf! Und nicht so sorgenvoll aussehen!« Was denn doch eine starke Zumutung ist. – Ganz plötzlich, viel eher, als man bei der allmählichen Ermattung zu hoffen wagt, ist man oben. Die Tatsache wird durch ein befreiendes »Ah!« ausgelöst – denn den Bergsteiger, selbst den enragiertesten, der schließlich nicht froh wäre, das Ziel erreicht zu haben, gibt's noch nicht. Mehr noch als vor alle anderen Erfolge haben die Götter vors Bergsteigen den Schweiß gesetzt! Wie köstlich ist es dann, sich am Gipfel zu sonnen, in aller Ruhe die wunderbare Aussicht auf die benachbarten Riesen und in die warmdurchleuchteten Täler zu genießen – und endlich an Kräftigem zu frühstücken, was der Futtersack enthält: Speck und derbes Brot, Limonade aus der Aluminiumflasche, zum Schluß die »Gipfelzigarre und -zigarette«! Alle Mühsal ist binnen kurzem vergessen, man hat ganz das Gefühl eines Siegers; die Erde mit ihren Nöten und kleinlichen Sorgen verschwindet – der große Friede, die köstliche Einsamkeit hier oben stempeln diese Stunde zu einer glücklichen und heiligen. Bis andere Partien nachrücken, denen man den beengten Platz einräumt. – Man rüstet sich von neuem, ich werde wieder ans Seil genommen; aber nun, beim Abwärtssteigen, bilde ich die Tete. Hinüber geht's zuerst zu dem nur etwa 50 m entfernten und um ein paar Meter niedrigeren Nordgipfel, zu dem ein äußerst exponierter Grat führt, der sich an einer Stelle so einschnürt, daß man zum »Reitsitz« gezwungen wird. Die Beine baumeln dabei nach beiden Seiten über den viele hundert Meter tiefen Abgrund – für leicht von Schwindel befallene Menschen keine empfehlenswerte Stellung! Sonst ist der Abstieg auf der Nordseite technisch bedeutend leichter als über den Südgrat, im oberen Teil jedoch über geröllbedeckte Platten, sehr steile Schroffen und Grasbänder führend, so daß immerhin größte Aufmerksamkeit erforderlich ist.

Zum Schluß geht's durch einige Geröllrinnen, für die ich eine besondere Vorliebe besitze!

So sicher ich auch im Fels und beim Klettern bin, die heimtückische Nachgiebigkeit des losen Schuttes habe ich immer noch nicht gelernt genügend auszunützen. Der Hochtourist dagegen erklärt mir, während er in großen Sprüngen durch das Geröll hinabsetzt, des Rätsels einfache Lösung bestände darin, schon wieder auf dem anderen Fuß zu stehen, wenn der Schutt gerade unter dem einen nachgäbe, so daß man mit dem beweglichen Geröll fortwährend in Bewegung sei und gleichsam »mitfließe«, wie er sich euphemistisch ausdrückt.

Ich sehe vollständig ein, daß auch dies für Leute, die es können, sehr leicht sein muß – ich dagegen, die ich noch nicht diese Geistesgegenwart der unteren Extremitäten erlangt habe, nehme mehrmals »fließend« Platz.

»Solch ein Moment war's –« und mein Hochtourist, der sich aufgestellt hatte, um den gerade sehr wirksam beleuchteten Tejakopf aufzunehmen, drehte sich flugs um und eignete sich, meiner hilflosen Empörung zum Trotz, meine »fließende« Lage auf den spitzigen Steinen an. Sobald man wieder ins Tiefland kommt, werden eben die Charaktere wieder schlechter!

Endlich werde ich »abgeknüpft«. – Man bemerkt sarkastisch, daß doch zu hoffen wäre, ich könne die steilen Wiesen ohne Katastrophe überstehen! Darauf verschmähe ich jede Antwort – und sitze gleich darauf wie festgeklebt und etwas schmerzhaft auf der klitschigen, von Wurzeln durchzogenen Erde eines »Latschengassels«.

Als sich der Hochtourist umdreht, habe ich die Hand voll braunköpfiger, nach Vanille duftender Brunellen, und erkläre in stoischer Ruhe, daß ich meine Sträuße immer sitzend zusammenstelle. – Er ist geschlagen! –

Drunten am Sebensee, dicht neben der Jagdhütte von Ganghofer, gibt's noch eine letzte Rast, wo dann der letzte Proviant großmütig verteilt wird. Rückwärts, voll Befriedigung, wandert der Blick dabei zur Sonnenspitze hinauf – von hier aus erscheint sie als ein breites, doppelt gegipfeltes Massiv.

Da oben war man – ist's zu glauben?!

»Um ganz alpin zu reden,« unterbricht der Hochtourist die stumme Selbstbewunderung, die wohl aus meinen Zügen spricht, »müssen Sie sagen: ich habe ihr den Fuß auf den stolzen Nacken gesetzt!«

Ich betrachte meine Füße in den derben Nagelschuhen, ohne mich auf das Symbolische dieser Ausdrucksweise einzulassen, und nachträglich noch überkommt mich eine fromme Scheu, daß ich es wirklich gewagt habe –!

Aber ich weiß auch, daß sie bald vergeht, und daß, wenn ein anderer Kletterberg lockt, es mich unwiderstehlich »auf seinen stolzen Nacken« ziehen wird.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich dann auch das »Mitfließen« besser kann.

Quer durch die Lechtaler Alpen.

Auf allen Gebieten des Lebens haben sich die Ansprüche gesteigert – je mehr Freunde und Anhänger die Touristik und die Bergbesteigung im Laufe der Jahre gewonnen haben, um so größer sind auch die Anforderungen an Bequemlichkeit geworden. Früher war man zufrieden, wenn sich eine anständige Alm fand, auf der man vor Besteigung eines Hochgipfels übernachten konnte; dann kamen die Unterkunftshütten des Deutschen und Österreichischen Alpen-Vereins, die allmählich, wenigstens die besuchteren, sich hotelmäßig gestalteten und mit zuführenden Wegen angelegt waren. Aber auch das genügte bald nicht mehr: die neueste Errungenschaft auf dem Gebiete der »Erschließung der Alpen« sind die »Höhenwege«. Sie führen über die Joche und ermöglichen die Begehung steilgefurchter, zerrissener Felsflanken und zerhackter Grate, dadurch in Tagemärschen Wanderungen von einer Hütte zur anderen gestattend, ohne daß man ins Tal hinabsteigen müßte. Gipfelstürmer können dabei immer noch einen oder den anderen Gipfel »mitnehmen«. Freilich sind diese Höhenwege nicht ganz so angelegt, wie mancher Anfänger es sich vorstellt: nämlich, daß solch ein Weg immer eben und stets den Gratlinien folgend dahinginge, nein, es bleibt auch hier noch immer nötig, öfters auf und ab zu steigen, da ein Tal hoch oben in seinem Ursprung zu queren, dort einen Sattel zu erklimmen und dergleichen. In Summa ist die Höhendifferenz, die man nach auf- und abwärts zurückgelegt hat, mindestens so groß wie bei einer Gipfeltour. Der besondere Reiz, den diese Höhenwege bieten, ist, daß sie es ermöglichen, von Hütte zu Hütte wandernd, nie unter etwa 2000 m herabsteigen zu müssen, ferner die fortwährend wechselnden Szenerien, auf die sie Ausblick gewähren. Merkwürdigerweise ist das am rationellsten durch Höhenwege erschlossene Gebiet der Alpen das der »Lechtaler Alpen«, jener bis vor wenig Jahren, mit Ausnahme der Parseierspitze, gänzlich vernachlässigten Gruppe, wenn sie auch den mit alpiner Literatur vertrauten Hochtouristen durch die Arbeiten Spiehlers, Uhde-Bernays usw. bekannt war; die Allgemeinheit wußte nichts von ihr. Diese schönen Berge, im Süden durch die Rosanna und den Arlberg, im Westen durch den Flexenpaß, im Norden vom Lech, im Osten durch den Fernpaß begrenzt, sind auch jetzt noch, trotz der prächtigen Höhenwege, ein vom großen Touristenstrom ziemlich unberührtes Gebiet. Glücklicherweise! Denn dort trifft man keinen alpinen Modebummler, sondern nur wahre Bergsteiger und Naturfreunde. Wir sind auf vieltägiger Wanderung nur ein paar Leuten, vier oder fünf, begegnet; auch die Hütten waren trotz der Hochsaison nur sehr mäßig besetzt. Und doch zeichnen sich die Gipfel dieser Gruppe durch größte Formschönheit aus; der ganze ernste Charakter wird erhöht durch die wilden Hochkare, in denen häufig tiefgrüne Seen eingebettet sind, und durch zerrissene Couloirs, in denen noch der Schnee haftet. Dazu sind in diesem Jahr die Kalkalpen, die sonst um diese Zeit schon »tot« zu sein pflegen, besonders belebt infolge des langen Schnees; überall rauschen Wasserfälle, immer neue, lustige Bäche überströmen den Pfad – und die Flora ist von einem Reichtum, wie ich sie noch in keinem Gebiet der Alpen getroffen habe. Die Hänge sind noch rot von Alpenrosen – ganz oben sind sie noch in Knospen – Seidelbast und wilder Thymian entsenden ihre Düfte zusammen mit eben erblühten Schlüsselblumen, gelben Veilchen, Anemonen, Enzianen aller Farben und Größen, dazu zarteste Glockenblumen, Stiefmütterchen von dunklem Lila, Vergißmeinnicht, kräftig wie kleine Bäume, Moose in den verschiedensten Schattierungen und Feinheiten, Löwenzahn und Sumpfdotterblumen – von den monumentalen Schönheiten des Panoramas kehrt das Auge immer wieder zu den lieblichen, vollendeten Gebilden in nächster Nähe zwischen dem Gestein oder auf dem Wiesengrund zurück! Eine wunderbare, stille Welt dort oben, die gewiß manchem höchste Wonne bringen würde – trüge ihn sein Fuß in die Einsamkeit!

Am bequemsten bricht man in dies Gebiet von der Bahnstation Pians an der Arlbergbahn ein. In vier Stunden führt ein guter Weg über Grins, dem einstigen Sommeraufenthalt der berühmten und berüchtigten Margarete Maultasch, das noch alte, außerordentlich interessante Häuser aufweist, bis zur Augsburger Hütte, die den Ausgangspunkt für die Besteigung der Parseierspitze, »der Königin der nördlichen Kalkalpen«, bildet. Die Parseierspitze ist der einzige Gipfel der nördlichen Kalkalpen, der die Höhe von 3000 m erreicht. Von der Hütte führt eine erst vor kurzem eröffnete kühne Weganlage, an der mehrere Jahre gearbeitet wurde, über ewigen Firn und schroffe, wildzerfurchte Felshänge in achtstündiger Wanderung zur Ansbacher Hütte. Der Weg übersteigt den 2972 m hohen Dawinkopf, der eine wundervolle Aussicht auf die Lechtaler Alpen und die firnbelastete Kette der Zentralalpen, von der Silvretta bis zu den Ötztaler Alpen, gewährt, bei stetig wechselnden Detailszenerien der nächsten Umgebung; aber das Grundmotiv bleibt immer der herrlich weite Blick während der ganzen langen Wanderung. Freilich ist es kein »Weg« im Sinne von Gebirgsbummlern; es gehört schon Ausdauer und ein gewisses alpines Können dazu, um ihn mit Führer zu begehen. Wer ihn führerlos machen will, muß trotz der zahlreichen Drahtseile und sonstigen Versicherungen schon eine ziemliche Gewandtheit und Erfahrung auf Fels und Schnee besitzen. Von der Ansbacher Hütte, von der aus man noch die in dreiviertel Stunden leicht zu erreichende Samspitze mitnehmen kann, geht's in sechs Stunden zur Memminger Hütte am Seebisee, wobei man das Flauschjoch, das Winterjöchl und die Grinslscharte zu überwinden hat – eine besondere Anforderung an Willen und Lust am Steigen: denn ist man eben glücklich oben, so sieht man schon wieder, wo man von neuem hinunter und jenseits abermals in die Höhe klimmen muß! Auch einen »Nachmittagsberg« kann man sich von der Hütte aus noch erlauben, den Seekogel, auf den man in einer halben Stunde gemütlich nach absolviertem Mittagsschlaf hinaufspaziert. Weiter zur Hanauer Hütte in acht Stunden, und über vier »Jöcher«! Und vor der letzten Scharte, nach siebenstündigem Auf und Ab noch ein Berg, das ist freilich bitter! Aber die Kofelseespitz (2674 m) oberhalb des noch mit Eis bedeckten Kofelsees entschädigt für die Anstrengung durch eine wundervolle Aussicht auf den östlichen Teil der Lechtaler, namentlich auf ihr wildestes Gebiet: das Parzinn.

Dann geht's steil hinab zur Hanauer Hütte, die im Herzen des Parzinn, einem durch kühngestaltete Gipfel gebildeten Zirkus, ganz in Latschen auf einem Vorsprung gebettet liegt. Nur ein schmaler Ausweg nach Norden zum Lechtal hinunter eröffnet sich vom Parzinn. Die vor etwa 15 Jahren eröffnete Hütte ermöglichte es erst, in diesem schönsten und abgelegensten Teil der Lechtaler Alpen Touren zu machen; namentlich reizt die im Augenpunkt des Hüttenpanoramas gelegene ebenmäßige Pyramide der Dremelspitze, die, lange als unersteiglich gehalten, als letzter Gipfel sich dem Nagelschuh der Hochtouristen beugen mußte. Die Innsbrucker Alpinisten Dr. Ampferer und Hammer bestiegen als erste die stolze Zinne 1896 in achtstündigem Ringen – später fand der ungeßliche Purtscheller einen etwas verwickelten, aber kurzen und verhältnismäßig unschwierigen Aufstieg, so daß man den Gipfel jetzt bequem in etwa dreieinhalb Stunden erreichen kann. Noch stehen ein paar die Route markierende »Steinmandl«, die Purtscheller selbst aufgerichtet hat. Nun am nächsten Tag übers Galtseitjoch, dann tief hinab und wieder hinauf in fünf Stunden auf den Muttekopf, den berühmten Aussichtsberg, der vielleicht die malerischsten Kontraste von seiner Höhe bietet: einen Rundblick über die Kalkberge, die Zentralalpen, dazwischen romantische Talansichten: den Kessel von Imst, das Inntal mit den einmündenden Pilz- und Ötztälern – kurzum, ein großartiges Panorama! Die Muttekopfhütte, in fünfviertel Stunden erreicht, bietet eine willkommene Verpflegstation – nun herunter nach Imst in drei Stunden! Der Fuß eilt – man drängt förmlich nach dem Stall – denn unten, im altbekannten Hotel zur Post, wartet der Koffer mit frischer Wäsche, wartet ein gutes Bett, Badegelegenheit und – frisches Fleisch! Welch ein Labsal nach sechstägiger Konservennahrung! Und so begrüßt man mit tausend Freuden alle die zur äußeren Kultur gehörenden angenehmen Dinge, vor denen man sich in die Berge flüchtete, um sie dann wieder um so intensiver zu genießen!

Auf Höhenwegen von Oberstdorf nach Bludenz.

»Grüß Gott, Herr Kronprinz,« sagte der Hirte treuherzig, der mich eben über Stand und Vermehrung seiner graubraunen Kuhherde unterrichtet hatte, und zog nach seiner Meinung sicherlich höchst devot die Mütze. Ich aber hoffte, daß »Kronprinzens« – denn sie waren es wirklich und ich in ihrem Jagdrevier – keinen Sinn für die Misere des Alltags haben. Denn die kriegt uns unter – mag man noch so korrekt und vorschriftsmäßig ausgerückt sein –, wenn man nacheinander eine Reihe von Hochtouren gemacht hat und seinen äußeren Menschen inzwischen nur mit den Schätzen aus dem Rucksack und den Toilettenmöglichkeiten der »Hütten« restaurieren konnte. »Kronprinzens« – jung und schön beide wie der Lenz – zogen an der Spitze ihrer Jagdgesellschaft vorüber; und ich sah am heißen Hochsommertag auf meine schweren Stiefel nieder, zog die am Felsen zerrissenen Spitzen meiner Handschuhe in nachträglicher Scham über die Fingernägel und dachte befriedigt, daß wenigstens das Riesendreieck, das ich mir »am Sitz«, als mir der nächste Tritt zu weit entfernt war und ich ihn eben liegend erreichen mußte, zugelegt hatte, unter dem im Tal wieder umgeknöpften weiblichen Attribut, dem Rock, verborgen sei. Aber wo gefällt wird, da fliegen Späne – wer sich in »die Unwirtlichkeit der Berge« begibt, wie die Poeten am Schreibtisch sagen, muß sich ihren Widerstand gegen unsere Eigenmächtigkeit gefallen lassen. Zum Schluß siegen wir – zwar mit zerzausten Federn – aber wir siegen! Und so ein Berg, zu dem man aufblickend sagen kann: »Da oben war ich einmal und sah vom Gipfel in die Lande« – zu dem behält man sein Leben lang ein verwandtschaftliches Gefühl.

Diesmal sind wir von Oberstdorf im Algäu aus gewandert; wie man weiß und ich mit Bedauern ersah: ein geschätzter Sommeraufenthalt. Mir sind solche Orte furchtbar; und für die Maskerade der Städter, die sich als »Deandl'n« und »Buam« kleiden und gebärden, fehlt mir der Sinn. Ein recht heißer Weg führt zum Freiberger See hinauf, in dessen schönem, klarem Wasser sich von dem etwas höher gelegenen Wirtshaus aus jede Bewegung der buntfarbigen Frösche – nein, Schwimmer und Schwimmerinnen – verfolgen ließ. Und versöhnend war am Abend die allgemeine Mahlzeit auf dem kleinen Marktplatz, vom Mondlicht überflutet und zur Seite von der stillen Kirche begrenzt – ein hübsches, idyllisches Kleinstadtbild! Wohin ich ginge? frug ein Bekannter. In die Lechtaler; näheres wußte ich noch nicht. Das ist sehr glaubhaft. Denn niemand macht sich ein festeres Programm als der Bergsteiger. Aber auch kein anderer Reisender ist so geneigt wie er, dem Kollegen auf Nägeln so viel gute Ratschläge zu geben und ihm in seine Pläne dreinzureden. »Von dort aus wollen Sie gehen? – Ach, da würde ich Ihnen doch vorschlagen, über den und den Paß und lieber von der und der Hütte aus.« – »Danke schön, ich weiß alles. Ich war nämlich schon im vorigen Jahr dort – auf der ›drübern‹ Seite der Lechtaler. Nachzulesen im ›Tag‹«. – »So, Sie wissen? – Dann freilich« –

Ich nicke – der Hochtourist hatte sich während dieses Gesprächs in abweisendes Schweigen gehüllt – greife nach Rucksack und Pickel und entsteige dem Postwagen, der uns die staubige Landstraße entlang geführt hat bis nach Spielmannsau. Landstraßen sind mir ebenso zuwider wie beliebte Badeorte. Und während die Mitpassagiere sich beim Kaffee von der Fahrt erholen, beginnen wir bei 30 Grad im Schatten den sonnigen Anstieg zur Kemptner Hütte. Mir ist in diesen wärmlichen Nachmittagsstunden, unter der Last meiner beweglichen Habe seufzend, eingefallen, daß Dante heutzutage eine andere Wahl für seine Fegefeuerstrafen treffen müßte; den Bergsteiger z. B., der dafür bestraft werden soll, daß er Steine auf seine Mitmenschen abgelassen hat, müßte man ewig der Hütte zuwandern lassen – etwas Bittereres kann es für ihn kaum geben! Und diese hat noch eine besondere Überraschung für den lieben Wanderer bereit: hofft man sie nach drei »steilen« Stunden nun vor sich zu haben, wenn man die Felsen verläßt, so liegt sie rechter Hand noch ein paar hundert Meter höher auf einem Graskopf! Auch einen Zweikampf hatten wir dort abends noch auszufechten: um 8½ Uhr – für eine Hütte also zu nachtschlafender Zeit – tauchte der Hüttenwart aus Kempten auf und verlangte, daß die Dame, der man das Sektionszimmer eingeräumt habe – das war ich! – sofort auszöge und sich zu den Dienstmädchen in die Kammer verfüge. Aber wozu ist das Recht da, wenn es sich nicht durchsetzen läßt? Ein Hüttenwart ist abends um 8½ Uhr auch nur ein gewöhnlicher Tourist, falls er sich ein Zimmer nicht reservieren läßt; ich parierte seine Ungastlichkeit mit eiserner Stirn; was ihm aber der Hochtourist sagte, davon will ich lieber schweigen.

Am nächsten Morgen vorwärts auf dem berühmten »Heilbronner Weg«. Er führt hart an der Mädelesgabel vorbei, auf der jeder Tourist im Algäu, der etwas auf sich hält, gewesen sein muß; wir überließen sie gutwillig der ungezählten Schar dieser Pflichtgetreuen, wanderten den Gletscher weiter aufwärts und turnten vorsichtig in die Felsen der Hochfrottspitz (2649 m) hinein. Sie bietet eine recht amüsante Kletterei – für mich das Schönste von allem Bergsteigen! – und oben herrschte köstliche Ruhe und Einsamkeit, im Gegensatz zum Gipfel der Mädelesgabel, von dem es lärmte, johlte und schrie – eine besondere Art der Kundgebung von Naturfreude, die dem Deutschen im Blute zu liegen scheint. Der Heilbronner Weg geleitet noch direkt über den Bockkarkopf (2608 m) und die Steinkarspitz (2653 m), gewährt also unter sehr hübschen Gratwanderungen den Ehrgeizigen einige Gipfel gratis. Man steigt zur Rappenseehütte ab, die ebenso wie die Kemptner Hütte der durch den Höhenweg ungeheuer angewachsenen Frequenz durchaus nicht mehr genügt. Ein gewaltiges Zelt, in dem trotz Sturm und Regen dreißig Personen Schutz suchen mußten, hilft nur wenig aus dem Dilemma; auch der Heuboden war ausverkauft. Die Bauern, denen das umliegende Areal gehört, verlangen jedoch solche Großstadtpreise für jeden Fuß Land, daß der geplante Um- und Neubau der Hütte schon seit Jahren verschoben werden mußte. Ja, die treuherzigen Bauern! In diesem Jahr geht's ihnen ohnehin gut – im Algäu brachten sie das dritte, prachtvolle Heu ein und gestanden zu, daß sie wohl seit hundert Jahren keine so gute Ernte gehabt hätten. – Wieder ganz einsam – denn die beliebten Berge dieser Gegend sind das Hohe Licht und der Rappenseekopf – zogen wir am anderen Morgen zum Biberkopf (2600 m) hinauf, gut drei Stunden von der Hütte aus. Ein merkwürdiger Berg: von einer Seite in schauerlichen, unüberwindlichen Platten aufgetürmt, von der anderen Seite in abgeschieferter Rinne bis zum Gipfel natürliche Stufen zum Klettern bietend. Oben, kaum genoß ich die Aussicht, erreichte uns ein Gewittersturm und trieb uns Hals über Kopf zur »Gufel« hinunter, einer schutzbietenden Höhle, zwanzig Minuten unterm Gipfel. Dort saßen wir klappernd und klatschnaß, bis die liebe Sonne uns befreite und das Geschäft des Auftrocknens während des Abstieges übernahm. Über Lechleiten ging's dann in glühender Mittagshitze am steilen Hang entlang in das hohe, öde Tal von Hochkrumbach, also in den Bregenzer Wald hinein, der sich wenigstens hier durch absolute Abwesenheit des Waldes auszeichnet. Der »Widderstein« (2536 m), von dem aus sich der Bodensee überschauen läßt, und der vom Wirtshaus aus so ein rechter Nachmittagsberg ist, versöhnt mit der beklemmenden Einöde des Tals. Aber ich war doch froh, nach einem halben Regen- und Rasttag abwärts über Schröcken, der »Perle des Bregenzer Waldes«, wandern und über den Schadona-Paß die allerliebste, neue Biberacher Hütte erreichen zu können. Ringsum ist alles Jagdrevier des Kronprinzen; als Aufenthalt dient ihm und seiner Familie das hübsche, kleine Jagdschloß in Hopfreben. Fast überall im Bregenzer Wald, allerdings in jedem Tal etwas anders, tragen die Frauen noch die alte Tracht. Die Kleider sind von oben bis unten in ganz feine Falten gelegt, »plissiert« würde man auf deutsch sagen, die Röcke in Kniehöhe mit einem ganz schmalen, hellblauen Streifen besetzt. Um Hals und Nacken geht eine reiche Silberstickerei, die Ärmel sind je nach Gelegenheit aus Seide, Wolle oder Kattun und von beliebiger Farbe. Die früher stets benutzte Pelzhaube wird jetzt im Sommer durch einen einfachen Strohhut mit Bandschleife, der aber einheitlich getragen wird, ersetzt; nur bei Prozessionen schmücken sich die Mädchen mit dem »Schäpeli«, einer flachen Goldkrone. Angelika Kauffmann, deren Vater aus Schwarzenberg stammte, und die hier nur ein Jahr als Mädchen verbrachte, bewahrte dem Lande größte Anhänglichkeit. Ihrer Jugendarbeit – sie malte die Seitenwände der Schwarzenberger Kirche aus – ließ sie später als Geschenk das schöne Hochaltarblatt folgen, obgleich, wie sie selbst sagte, ihr die Kraft fehlte, Gott-Vater so darzustellen, wie er in ihrem Herzen wohne. – Ich fand am herrlichsten vom Land das Große Walsertal. Eine befriedigende Expedition unternahmen wir vorher, von der Biberacher Hütte aus über das Fürkeln zur Braunarlspitz (2651 m), deren mächtiges Massiv uns schon lange lockte, und die eine der gewaltigsten Hochgipfel des Bregenzer Waldes ist. Eine herrliche Rundsicht belohnt für die Anstrengung, während die Hochkinzelspitze (2307 m), von der Hütte aus bequem in knapp zwei Stunden zu erreichen, hübsche Blicke in die nahen Täler gewährt. So, nachdem wir von allen Seiten ins Algäu und in den Bregenzer Wald geschaut hatten, wollten wir durch das Große Walsertal, über Buchboden und das entzückend gelegene, freundliche Sonntag absteigend, die Ebene zurückgewinnen. Aber schon in Garsella ging mir nach vielstündigem Marsch der Atem aus – und wir vertrauten uns einem kleinen Einspänner an. Denn wer in den Bergen denkt, bergab sei bergab, der irrt sich sehr; auch diese Landstraße stieg weiter und weiter empor, all die verstreuten Dörfer berührend, die sich auf den Terrassen der sehr steilen Talwände angesiedelt haben. Man hielt es für ausgeschlossen, daß man je ins Tal kommen würde, so tief unter uns rauschte das Wasser des wilden Lutzbaches. Endlich, nach zweistündiger Fahrt, geht es in steilen Serpentinen hinab, dem Örtchen Thüringen zu. Seit einer Woche wieder ein Postwagen – zivilisierte Menschen oder solche, die es sein wollen – ein Auto – Fabriken – die Bahn – – kleinlaut steigt man ein und fährt für 20 Heller – gottlob ist der erste Anspruch der Zivilisation an die Börse nicht groß! – bis Bludenz. Hier, in dem alten Städtchen, dessen Burg Hermann von Gilm, der bedeutendste Lyriker Tirols, entstammte, wartet man, bis sich der Himmel wieder klärt und das Fleisch so willig ist wie der Geist zu neuen Eskapaden in die Einöde – zu neuen, herrlichen Genüssen in der Bergwelt!

Vom Königspaar des Rhätikon.

Nicht des Reiters, aber des Reisenden »über den Bodensee« Auge wird am meisten gefesselt von der schneeschimmernden Scesaplana, dem höchsten Gipfel (2967 m) des Rhätikons, dieses zwischen Ill-Rhein-Gargellental und dem Prätigau aufragenden Gebirgsstocks, der sich durch die Formschönheit und Mannigfaltigkeit seiner Gipfel unter allen Gruppen der nördlichen Kalkalpen besonders auszeichnet. Die Königin dieser Kette ist die Scesaplana, um deren Schultern sich ein schimmernder Firnmantel als Hermelin schmiegt. Durch Weganlagen ist ihre Besteigung erleichtert, und ihr Gipfel, der eins der schönsten Panoramen der gesamten Alpen bietet, ist das Ziel Tausender von Bergsteigern, die je nach ihrer Befähigung leichtere oder minder leichte Aufstiege suchen. Ist hier der Preis der Besteigung die unvergleichliche Aussicht, so lockt den Hochtouristen die »Zimbaspitze« (2645 m), von den Einheimischen nur »Der Zimba« genannt, die kühnste und trotzigste Felszinne des Rhätikons; und ist die Scesaplana die liebenswürdige Königin, die den Gast entgegenkommend zu den Schönheiten der Hochalpen führt, so ist »Der Zimba« ein ablehnender Fürst, und viele, die sich an seinen Wänden und Graten versuchen, treffen bei ihm auf schroffe Zurückweisung!

Naturgemäß mußten unter den zahlreichen Gipfeln des Rhätikons diese beiden Hochzinnen unser Ziel bilden. Die »Wir« waren für »Den Zimba«, mein Hochtourist (den ich großmütigerweise mitnahm!), ein junger Führer und ich. Bei gewaltiger Hitze stiegen wir in drei Stunden von Bludenz über Bürserberg zur Sarotlahütte empor. Ich kann nicht sagen, daß ich die überaus primitiven Hütten wie diese, die nur ein Matratzenlager in einem allgemeinen Schlafraum bieten, besonders liebe; schon weil es ja keine Möglichkeit gibt, »Toilette« zu machen. Aber nach all den von bessern Spaziergängern überlaufenen Hütten der letzten Zeit war es direkt wohltuend, sich unter Leuten, die es ernst meinten und ihre ganze Expedition nicht bitter bereuten, wenn es kein »Bier vom Faß« gab, zu befinden. Jede weltliche Torheit, wie Bier überhaupt, lag dem einfachen Senn dort oben fern. Milch von seiner Kuh offerierte er und Eier konnte man haben, aus denen ich fürs Allgemeinwohl in einem schwarzgeräucherten Tiegel eine wunderbare Speise herstellte; und dann schliefen wir, zwei andere Partien, auch jede zu zwei Personen, auf dem Matratzenlager, auf dem nur das Gewissen weich war, in einer Reihe – der junge Führer als Paravent zwischen mir und den übrigen! Freilich, das Einschlafen ging nicht schnell, das pflegt auf Hütten so zu sein; und neben mir durchs Fenster funkelten die Sterne – und die andern beiden Partien hatten »große Sprüch'« geredet: wie schwer es sei – und wie unbequem eine Dame –, denn wegen Steinfalls müßte man größte Rücksicht auf einander nehmen! Wenn ich nun diese Probe auf Trittsicherheit usw. nicht bestand? Etwas zaghaft war mir zumute, und jedenfalls erleichterte es mich, daß wir am nächsten Morgen die Ersten fertig zum Aufbruch waren: so wie der Mensch nun einmal ist, mag man lieber der Schuldige sein am Steinfall (wenn es nun doch mal sein muß!) als der Unschuldige, den sie am Kopf treffen! Unsere Rucksäcke ließen wir, um beim Klettern nicht behindert zu sein, vom Sennen zum Zimbajoch hinauftragen, wo wir sie beim Abstieg aufnehmen wollten: länger als 5 bis 5½ Stunden rechneten wir nicht, da wir bei unserer »Fähigkeit« den Baedeker wie den Purtscheller in ihren Zeitangaben gewöhnlich schlagen.

Im gemessenen Schritt »Echter« begannen wir um halb fünf Uhr morgens den Aufstieg über sehr steile Gras- und Schutthalden – Fuß vor Fuß, ohne Pause, zwei Stunden lang, bis zum Einstieg in die Felsen. Hier nun wurde von dem jungen Führer mit großer Vehemenz der moralische Halt, das Seil, um die Stelle meines Körpers geschlungen, wo sonst die Taille sitzt; zugleich begann die erste Kontroverse zwischen ihm und dem Hochtouristen, der auf Grund seiner »literarischen Kenntnisse« einen andern als den vom Führer bezeichneten Weg einschlagen wollte. Doch da der Führer versicherte, in diesem Jahr schon mehrmals oben gewesen zu sein und »diese neue, leichtere Route« genau zu kennen, so gaben wir nach – leider! Denn das Resultat dieser »neuen, leichteren Route« war vollständiges Versteigen, wobei sehr schwierige und gefährliche Platten- und Traversierstellen zu bewältigen waren. Und dann überhaupt: dieser Berg! Er ist das Niederträchtigste, was man sich denken kann – »treu und fest wie ein Fels« ist ein Hohn auf ihn. Ich klettere gewiß gern, aber ich bin für Zuverlässigkeit im Leben. Bietet »Der Zimba« jedoch einen Griff – fast nur mit Grasbüscheln locker besetzte Steine – so rutscht einem plötzlich der halbe Berg entgegen – und bildet man sich ein, man hätte einen sichern Tritt, so kommt unterm Fuß sofort die ganze Wand ins Wanken. Alles ist brüchig, und dabei eine Steilheit, die oft peinlich wirkt! Bei der ersten, sehr schweren Plattenstelle stürzte der Führer beinahe ab – ich kann nicht behaupten, daß dies mein ohnehin schon sehr ins Wanken geratenes Vertrauen zu ihm erhöhte; denn auch von der Seiltechnik besaß er nur eine unbestimmte Ahnung, und gerade bei unbequemsten Stellen »vertüderte« es sich ihm, wie man in Schleswig-Holstein sagt, und unbekümmert um meine Situation schrie er dann unsichtbar von oben: »Sie, Frau, halten's Ihna fest!« Auch sonst richteten sich seine Umgangsformen nach Stand und Gefahr; das merkte ich besonders beim Abstieg. Ging es leicht, so flocht er ein »Gnädige Frau« in seine Ermahnung – in gefahrvollen Minuten riet er mir schmucklos, in den derbsten Ausdrücken unserer in diesem Punkt ja sehr reichen Muttersprache, mich einfach auf den mir von Gott dazu gegebenen Teil zu setzen und von dieser breiteren Basis aus die Hindernisse zu überwinden. Kurz und gut, der Hochtourist übernahm schon von »der« Platte aus die weitere Leitung und gab alle Anweisungen zur Seilsicherung usw. Ihm verdankten wir es jedenfalls, daß wir überhaupt, und zwar nach unendlich vielen Fährlichkeiten, bei denen ich zum Teil zwischen ihm und dem Führer am Seil eingespannt war, nach 2½ Stunden vom Einstieg aus – also im ganzen von der Hütte aus in 4½ Stunden – den Gipfel erreichten. Trotzdem hatte sich mein Selbstvertrauen neu befestigt, denn ich durfte mir sagen, daß das Seil nur zur Versicherung und nicht ein einziges Mal dazu gedient hatte, um mich »zu ziehen«, wie ein lebloses Paket – ein bei manchen Touristen nicht unbeliebtes Beförderungsmittel.

Die andern beiden Partien mit den »großen Sprüch'« hatten wir einmal in unsrer Nähe bei der Platte klappern hören. Die Armen mußten uns nachgestiegen sein, hatten das Rennen aber dort schon aufgegeben, denn wir hörten und sahen nichts mehr von ihnen, trotzdem wir fast eine Stunde am Gipfel rasteten. Eine schöne Fernsicht, wundervolle Talblicke ins Montafon, über steilabstürzende Wände hinab ins Rellstal und zu den anderen Vasallen des Rhätikons hinüber belohnten uns, gewiß; ich aber genoß diesmal besonders die Ruhe – und das Frühstück und befand mich glücklich bei dem Lob von Führer und Hochtourist, »daß ich meine Sache brav gemacht habe«. Das Ärgste, meinte ich auch, läge hinter uns. »Ja, Schnecken!« Wir nahmen den Abstieg über den Westgrat, »traversierten« also den Berg, da wir übern Ostgrat gekommen waren. Ein Versteigen war wenigstens unmöglich, da die Route immer am Grat entlangläuft – schwindelfrei muß man allerdings sein. Und seine kleinen Überraschungen bietet dieser Westgrat auch sonst; da ist z. B. eine schwierige Strecke über einen etwa 70° geneigten, von brüchigen Schroffen und lockeren Graspacken durchsetzten Hang. Die hat es in sich! Früher konnte man durch einen viel sichereren Kamin absteigen; seit dem letzten Winter ist er verschwunden, da ein großes Gratstück in die Tiefe gestürzt ist.

»Gengan S' nur zu,« sagte der Führer gerade an dieser Stelle ermutigend, viele Meter Seil über mir und durch Felsen versteckt, »der Herr wird Ihna schon zurufen, wo S' hintreten müssen!« Der Hochtourist war zu diesem löblichen Zwecke vorangeklettert. Aber kein Rat, keine Hilfe kam, und als ich endlich hochatmend innehalten mußte, weil des Seiles Länge erschöpft war, saß der Hochtourist gerettet und seelenruhig auf einem Vorsprung und versuchte den winzigsten Zigarrenstummel in Brand zu setzen, den ich je als noch brauchbar gesehen habe! Ja, man macht noch nebenher Charakterstudien in den Bergen. Eine ekelhafte, überhängende rote Nase kam; da ich mit den Füßen den spannbreiten Grat nicht erreichen konnte, sollte ich mich »einfach herunterlassen«. Ich streikte, der Hochtourist stampfte auf dem ohnehin schon wackligen Grat, der Führer schrie sinnloses Zeug von oben – ich kniete an einem senkrechten Abbruch auf einem Eck so groß wie eine Schwefelholzschachtel und wurde noch einmal energisch ersucht, diesen hervorragenden Stützpunkt nun »einfach« für die Ellbogen zu nehmen! Ich schrie alles zurück, was mir im Moment nur an tötlichen Beleidigungen einfiel – und dann entdeckte »man« – ich sage »ich«, der Hochtourist »er«, der Führer »wegen meiner« – die Idee eines Trittes an der Außenwand der Nase, auf die ich meinen rechten Fuß stemmen konnte – gewonnen hatten wir! Der Hochtourist zündete den Stummel frisch an. Nach zwei Stunden heißer Arbeit standen wir am Zimbajoch – die großen Schwierigkeiten hatten damit ein Ende. Immerhin aber folgte noch ein zweistündiger, zum Teil recht ungemütlicher Abstieg über steilen Schroffen und mit Platten durchsetzten Grashänge, die größte Aufmerksamkeit und vollständige Trittsicherheit erforderten, da es für die Hände so gut wie gar keine »Griffe« gab. Schon vom Joch aus, auf dem wir unsere Rucksäcke wieder vorfanden, winkte uns von unten die hübsche und allerliebst eingerichtete Heinrich-Hueter-Hütte, in der es wieder eine Ruhepause und eine Erfrischung gab.

Auf den grünen Matten, von der diese Hütte umgeben ist, sowie auf dem Übergang übers Säulejoch zur Douglas-Hütte habe ich übrigens zum erstenmal Murmeltiere nicht nur »pfeifen« hören, sondern spielen sehen und Männchen machen.

»Zum Abgewöhnen« kam also noch der »hochalpine Spaziergang« zur Douglas-Hütte hinüber, der eigentlich noch gar nicht eröffnet war – die offizielle Eröffnung der wirklich entzückenden Weganlage, die andauernd die schönsten Blicke bietet, ist erst einige Tage später erfolgt; in zwei Stunden erreicht man den köstlich blauen Lünersee, an dessen Ufer die berühmte, höchst originelle Douglas-Hütte »eingegraben« ist, könnte man sagen. Denn um sie vor Lawinengefahr zu schützen, ist sie von einer langen, festen Mauer bis zum Dach gedeckt, und alle Räume der drei wie unterirdisch wirkenden, nach Bedürfnis entstandenen Bauten haben nur Fenster zur Seeseite hin. Und hier gab es einbettige Zimmer – man vergißt ganz, daß so was Schönes auf der Welt existiert! – und schöne Waschtische – und die Möglichkeit, sich ungeniert aus- und anzuziehen! Man wird dankbar auf Bergeshöhen. Und wie das Essen schmeckte – nach elfstündiger »Arbeit« inklusive der Freundlichkeiten des »Zimba«.

Um neun Uhr nach notdürftiger Stopfung aller Löcher und Dreiecke in den »Unaussprechlichen« fällt man ins Bett. Aber lang wird der Schlummer doch nicht sein: »Um vier Uhr bereit – zur Scesaplana!« Il faut obéir – mitgegangen, mitgehangen!


»Der Morgen läßt sich schön an«, bemerkte ich im Dämmern des Frühmorgens am nächsten Tage. Zwischen besonderen körperlichen Anstrengungen finde ich es sehr wohltuend, mich einmal außergewöhnlicher Ausdrucksweise zu bedienen. Warum, weiß ich nicht. Und helfen tat es auch durchaus nicht. Der Weg von der Douglas-Hütte zur Scesaplana hinauf ist weder hervorragend anstrengend noch schwierig – dafür aber auch nicht unterhaltsam. »Er zieht sich«, in Volksmundart; und die Beine derer, die in unstillbarem Höhendrang lange vor der Sonne ausmarschiert waren, tauchten wieder und wieder über unsern Häuptern an den ewigen Kurven auf. Schade, man verlor sich gar nicht aus den Augen! Wir beeilten uns deshalb auch nicht; von der Serie der Frühaufsteher waren wir ohnehin die letzten – der zweite Schub sind die Bequemen, Langschläfer, der dritte die gegen jede Temperatur Immunen, die sich »in die Höh' schwitzen«, um dafür körperlich abzunehmen. Die Sonne erwischte uns übrigens auf halbem Wege und meinte es recht gut; auch lag mir der »Zimba« noch unvergessen in den Gliedern. Trotzdem waren wir nach knapp drei Stunden ans Ende aller Kurven gelangt, sahen eine Stange ragen, machten noch einmal: »Rechtsum – kehrt!« Voilà – der mit einer Art von Backofen geschmückte Gipfel; hinter einer richtigen Ofentür liegt das Gipfelbuch. »So recht 'ne Frau, die so etwas als erstes bemerkt«, meinte mein Hochtourist, der mit diesem Aufstieg nicht auf seine Kosten gekommen war, was »Bewegung« anbelangt nämlich. Sonst – der Berg ist wunderbar! Was bietet er nicht alles durch seine isolierte Lage: eine unbegrenzte Aussicht auf die Ostalpen (Tiroler) und Westalpen (Schweizer), auf deren Grenze er gerade emporsteigt. Von den Ötztalern und der Ortlergruppe im Osten bis zum Monte Rosa im Westen schaut man und nach Norden hinunter in die schwäbische Ebene, sieht die blaue Fläche des Bodensees aufleuchten, kann das ganze Rheintal verfolgen von der Quelle bis zur Mündung in den Bodensee, nickt der alten Bekannten, der Silvretta, zu, freut sich an der Bernina-Gruppe – und immer Neues, Fesselndes steigt aus blaudunstiger Ferne auf – man hat das Gefühl, man stände recht im Herzen der Alpen! – Nichts störte uns am Genießen; jetzt erst wurde es oben warm, Sachsen und Schweizer zogen schon längst wieder bergab – allein in Stille und Schönheit und vor dem immer wechselnden Spiel zartester Nebelwolken an den Bergwänden, zu schweigen von der Farbenskala, die der Morgen auf der Palette seiner Ebenen mischte. »Die Scesaplana ist die Königin des Rhätikons« – man beuge sich ihrer Würde! Aber schließlich muß man doch wieder »bergab«. Über den Brandnerferner ging's, dessen aufgeweichte, dunkle, »sumpfige« Flecken wir sorgsam vermieden. Gegen diesen Sommer nützt der beste Gletscher nichts! Aber rückwärts schauten wir und bewunderten die steilen, merkwürdig geschichteten Schroffen, in denen der Berg zu dieser Seite abfällt; und so harmlos ist er von der andern! In der Straßburger Hütte, die direkt am Ferner liegt und schon in einer Stunde zu erreichen ist, frühstückten wir. Auf kunstvoll in den Fels gesprengten Wegen, die zwar Schwindelfreiheit verlangen, für Geübte aber nur ein »alpiner Spaziergang« sind, erreichten wir den »Spusagang«, wie der letzte Teil des ganz großartigen, oft mit Drahtseilen und Leitern gesicherten Steiges heißt, der ins Gamperdonatal hinabführt. Viel erlebt man an solch einem Morgen: öde Hochgebirgsformationen, Gletscher, starre Felswände, die unbesieglich scheinen, und in die doch der Felswurm »Mensch« seine kleine Bahn gegraben hat –, Schutthänge, steile »Wasen«, wie das Gras heißt –, schließlich wieder Latschengestrüpp als neueinsetzende Flora, allmählich Kiefern, Ahorne – Matten neben dem zu Tal rauschenden Wildbach – und zum Schluß ein Idyll. Ein echtes, köstliches Idyll. Das ist der »Nenzinger Himmel« im Gamperdonatal mit seinem Sommerdorf Sankt Rochus. Unsymmetrisch verstreut auf den Matten stehen eine Menge kleiner Almhütten – es sind Sommerhütten der Bauern und Bewohner aus Nenzing, die hier oben her ihre Herden auf ihre vier großen Almen treiben, sie jetzt aber schon alle, ungefähr 700 Stück graubrauner Kühe, in Sankt Rochus vereint hatten. Selten habe ich so ein hübsches, friedliches Bild gesehen wie dieses Sommerdorf mit seiner kleinen Kapelle, dem hübschen Wirtshaus – den verstreuten Häuschen und dem Vieh, das sich durchaus als Hauptsache empfindet und ungeniert Nahrung, Wasser und Schatten sucht, wo es ihm paßt. In großen Ställen wird das Melken besorgt, und zwar nur durch Sennen – und Sommerfrischlerinnen, die das grüne Nest auch schon entdeckt haben, erscheinen in blauen Leinenhosen, um sich selbst ihre Milch zu holen. Aber der fremde Einschlag stört hier nicht – er ordnet sich der Stimmung unter.

Der Abstieg von diesem »Himmel« ins Tal, d. h. in die Ebene, dauert vier gute Stunden, vollzieht sich aber auf so schönem Wege, meistens durch Wald und höchst romantisch neben der wilden Klamm des Mengbaches, daß man Zeit und leisen Druck vergißt, den das »Bergab« allmählich in Knien und Füßen doch hervorruft. Und nun atmet man wieder die Luft des Tieflandes und möchte wie das mexikanische Tier mit dem schönen Namen Axolotl sich auch anpassen können: ein paar Lungen, weit und groß genug haben, um unendlich viel reinen Ozon dort oben auf den Bergen in sich aufzuspeichern, und zwei Kiemen, die hier unten allen Staub zurückzuhalten vermögen! Ob man nicht bei fleißigem Kraxeln dazu käme?!

Streifzüge in Südtirol.

Nein, das hatten wir nicht erwartet! Wozu waren wir denn über den Brenner gefahren, hatten uns die Tauern aus dem Sinn geschlagen und uns den südlichen Alpen zugewandt, wenn nicht in der bestimmten Hoffnung, dort Wärme, Sonne, Wohlbehagen zu finden?! Und nun saßen wir im dichtesten Schneesturm seit drei Tagen auf der Spitze des »Bechers«, zwar im gutgeheizten Zimmer des »Kaiserin-Elisabeth-Hauses«, das mit echt norddeutscher Sorgfalt von der Sektion Hannover bewirtschaftet wird, und als Unikum einer Hütte eine kleine Kapelle, die höchstgelegene Europas, besitzt. Sie ist durch das Verbot der Geistlichkeit Tirols, daß die Führer am Sonntag nicht auf eine Tour gehen dürfen, ehe sie die Messe gehört haben, entstanden; und während des ganzen Sommers finden sich junge und alte Pfarrer, die den Aufstieg nicht scheuen und in einer Höhe von 3203 m ihres Amtes walten. Aber die Nächte »dicht beim lieben Gott« und bei soundsoviel Grad Minus sind immer ungemütlich, im Wirtszimmer sitzt man Ellbogen an Ellbogen, und von den übrigen schönen Bergen, die man von hier aus noch besteigen wollte, ist auch nicht die kleinste Nasenspitze sichtbar – weißes Flockengestiebe ringsum! Da wurde schließlich auch mein Hochtourist, der mich »in die Schönheit der Stubaier« einführen wollte und der im allgemeinen zäh wie Bergmoos ist, von stiller Raserei ergriffen, die sich gegen den Eigensinn der Natur kehrte. Kurz hieß es: »Jetzt wird mir's z'dumm – jetzt wird gegangen!« Also gingen wir. Tiefbetrauert ob unseres Leichtsinns von den am warmen Ofen Hinterbliebenen, und sobald man wenigstens drei Schritte vor sich hin sehen konnte; des Morgens um sechs und bei dichtem Schneegestöber und einem Sturm, der sich von allen Gletschern in der Runde – und sie sind dort grade nicht selten! – neuen Atem und frische Kälte zu holen schien. Nachdem wir in aufreibendem Kampf die Schwarzwandscharte erreicht hatten, wo sich übrigens (Nachricht für Einbrecher!) eine Proviantstation fürs Becherhaus befindet, d. h. Kisten und Fässer lagern frei im tiefen Schnee, konnten wir wenigstens über ein paar spaltenlose Gletscher im Sitz abfahren, mir eine der liebsten Arten der Fortbewegung, und so in verhältnismäßig kurzer Zeit weniger arktische Umgebungen gewinnen, in denen gefühlvoll statt des Schnees – Regen einsetzte. Mit ihm plätscherten wir abwärts. Allmählich wurden einige Gipfel frei, unter andern der »Botzer«, der auf unserem Programm stand und uns nun auszulachen schien, auch die eisgepanzerten Recken des Seebertals. Auf der Timmel-Alm, auf der hauptsächlich Pferde gepflegt werden, gab es am rauschenden Bach das übliche Rucksack-Frühstück – inzwischen war es zehn geworden – und gestärkt geht's vorwärts, in der unberechtigten Annahme, die ärgste Arbeit des Tages hinter sich zu haben. Welch betrüblicher Irrtum! Endlos zieht sich der Weg dahin, durch einförmige Talgründe und entschieden in ein südlicheres Klima. Es wird warm, heiß – die Sonne brennt, der Wind verstummt, die Wege werden steiler und steiniger. Recht erschöpft trinkt man um drei Uhr nachmittags in Moos im Passeier diesen guten österreichischen Kaffee, den kein Land ähnlich herstellen kann und der auch diesmal die Kraft zum letzten Wegende geben soll. Trotz der prachtvoll angelegten neuen Straße nach Sankt Leonhard sind diese zwei Stunden recht bitter – und dann die Furcht, ob man den Autobus, der uns nach Meran befördern soll, noch erreicht, vor allem, ob es noch Freiplätze in ihm gibt! Kurz vor der Abfahrt kommt man in Sankt Leonhard an – und diesmal ist man dem schlechten Wetter von Herzen dankbar, das die anderen Touristen in Hütten oder Standquartieren festhält und eigenen mürben Gliedern behagliche Sitze beschert. Eine Stunde später bewundert man schon die subtropische Vegetation Merans an der Gilfpromenade, genießt den köstlichen Anblick der von Trauben behangenen Weingärten, der früchtereichen Obstbäume. Welch ein Kontrast zum Morgen – diese üppige Flora, diese angenehme Wärme – endlich, endlich hat man sie gefunden!

»Nach Meran«, meinte mein Hochtourist verächtlich, »ziehen mich im Sommer keine zehn Pferde!« Ein ausgiebiger Schneesturm hat ihn eines andern und bessern belehrt. Denn es ist hier einfach himmlisch; die Luft andauernd von leichter Brise erfrischt, prangende Fruchtbarkeit ringsum, auf den schönen Promenaden keine armen Kranken, sondern stämmige Touristen und jauchzende Meraner Kinder, die nun auch einmal die Vorteile dieses gesegneten Landes genießen. Die Kurverwaltung tut ihr Möglichstes, um die Passanten zum Bleiben zu bewegen; morgens und abends konzertiert die Kapelle wie zur Hochsaison, prächtige Waldspaziergänge hinauf zu den Schlössern Tirol, Lebenberg, Schönna locken – selbst das Steigen fällt bei der kühlen Temperatur nicht schwer – und wer dennoch reine Höhenluft möchte, fährt mit der im vorigen Herbst eröffneten Vigiljoch-Schwebebahn auf das Vigiljoch empor. Das reizende, kleine, im Bauernstil gehaltene Hotel dort oben liegt 1468 m hoch und bietet eine wundervolle Aussicht ins Etschtal, hinter dem sich die Dolomiten aufbauen. Die Fahrt mit der Schwebebahn an und für sich ist schon ein Genuß, da sich die Aussicht mit jedem Meter, den man steigt, immer mehr weitet; außerdem ist sie technisch in ihrer Länge von 2210 m, die einen Höhenunterschied von über 1150 m bewältigt, eine großartige Leistung. – Uns natürlich konnte das stille Rasten am Vigiljoch nicht genügen. Wir wanderten noch am Abend zum einsamen Gamplhof, der eine Stunde höher liegt als das Vigiljoch. Und von ihm aus beim nächsten Morgengrauen in aussichtsreicher Kammwanderung über den Rauhen Bühel und das Hochjoch zum Gipfel des Hochwart (2607 m). Er ist ein hervorragend schöner Aussichtspunkt. In gewaltigem Rund streift das Auge von den stolzen Eisriesen der Ortler-Gruppe über die Ötztaler und Stubaier Alpen zu den wildgezackten Dolomiten, der Presanella- und Adamello-Gruppe; selbst die Schweiz schickt durch die blinkenden Gipfel der Bernina-Gruppe einen Gruß herüber. Ganz entzückend ist der Tiefblick auf das grüne Vinschgau, das in seiner vollen Ausdehnung von Mals bis zur Töll tief zu Füßen liegt. – Den Abstieg, den wir teilweise pfadlos über steinige Hänge und kaum erkennbare rauhe Alpenpfade ins Ultental nahmen, kann ich nicht recht empfehlen. Er kürzt zwar den Weg zu unserm nächsten Ziel, irgendeinem behaglichen Gasthaus in Sankt Waldburg drunten nicht unbeträchtlich ab, doch nimmt er keinerlei Rücksicht auf ohnehin schon müde Füße und vom Auf und Ab leicht verbogene Glieder. Wer plagte sich nicht gern, um einen schönen Gipfel zu erreichen, aber im Almen-Terrain überläßt man jeden Ehrgeiz den Kühen und Ziegen. Viele, viele bittre Seufzer, bis man endlich, endlich den Rucksack abwerfen kann und nach der üblichen Portion »Tiroler Schöps«, unter der sich – wie immer – eine schamhafte Ziege birgt, in sein Bett kriecht. Ein vierzehnstündiger Marsch inklusive Berg genügt meinen bescheidenen Ansprüchen an Bewegung durchaus! – Schrecklich lang ist das Ultental, das wir am nächsten Tage aufwärts wanderten, und das von der Falschauer durchströmt wird. Die höchst romantische, schluchtenartige Mündung des Tales und Baches bei Lana heißt die Gaul und wird von einem großartig angelegten elektrischen Werk ausgenützt. Im obern Teil aber, der sich gegen die Ausläufer der südöstlichen Ortler-Gruppe erstreckt, ist dies Tal sehr einsam und von Touristen wenig besucht. Aber grade das zog uns an – und die Aussicht, einmal nicht in eine überfüllte, von der Mode, die ja leider auch auf die Berge steigt, bevorzugte Hütte zu kommen. Der Weg hebt und senkt sich an der Berglehne und durchschneidet bescheidene Dörfer: Kuppelwies, Sankt Nikolaus, Sankt Gertraud, und für die Heiligen dieser Ortschaften gibt's genug Kapellen und Kapellchen, mit Alpenblumen geschmückt; an einem Marienbilde steht der rührende Vers, dessen Original sich an der Gnadenbrücke im Etschtal befindet:

»Mein liebes Kind, wo gehst Du hin?
Weißt nicht, daß ich Dir Mutter bin?
Daß Keiner Dich liebt so wie ich?
So steh doch still und grüße mich!«

Nach dreiundeinhalb Stunden – sehr heiß! Aber »man« ist ja nie zufrieden, womit ich gemeint sein soll – Rast in Sankt Gertraud. Tiroler Schöps. Und dann wird's ernst. Mit der Hitze und mit der Steilheit. »Am Grünen See (2489 m) in der ›Neuen Welt‹, 3½ Stunden von St. Gertraud, oberhalb der Weißbrunner Alm die Höchster Hütte (2500 m) in prächtiger Lage,« liest man im Baedeker. Das klingt so einfach und nett, man geht, nicht wahr, und plötzlich ist man da! Wasserfälle rauschen neben einem, ein idyllisches Bild bietet mit ihrem Viehreichtum auch die große Alm – und dann geht man eben immer weiter, immer höher, immer steiler aufwärts. Die Hütte ist einzig in ihrer geschmackvollen Einrichtung, ihrer glänzenden Bewirtschaftung, und gewiß will ich auch die »prächtige Lage« an dem von Gletschern gespeisten See nicht leugnen. Aber ein klein wenig weiter hätten gerade die Serpentinen der letzten Strecke angelegt werden können – sie lagen da wie eine fest aufgerollte Schlange und mühsam dreht man sich auf ihr und um sich selbst empor. Das Kleinlautsein der »bekannten Hochtouristin« nimmt doch bedeutend zu, als sie oben von der Perle aller Wirtschafterinnen erfährt, daß der einzige Führer des Ultentales, den man vorzufinden hoffte, noch eine Partie macht: Rückkehr unbekannt! Und da sollte die Tagesarbeit umsonst gewesen sein, die geplante Tour über's Zufrittjoch und die Zufrittspitze hinab ins Martelltal auch in den Grünsee fließen –?! Der Hochtourist bewahrt männliche Fassung; aber auch er ist entschlossen, seinen Rucksack nicht selbst vier Stunden lang über die riesigen, steiglosen Trümmerhalden zum Joch hinauf zu schleppen – er studiert um. Und plötzlich tut er, als könne uns nichts Besseres passieren, ja, als wäre es schon lange unsere einzige Sehnsucht, eine große Gletschertour allein zu machen! »Die Hintere Eggenspitze,« sagt er und deutet aus dem Fenster auf den schönen, weißen Gipfel, »das ist sogar der höchste Berg in der östlichen Ortlergruppe! Und wie bequem, man geht von der Hütte aus hinauf, ohne andres Gepäck als den Proviant, kommt hierher zurück, ruht sich aus – steigt wieder ins Tal –! Dabei der Weg so einfach: eine Stunde lang grobes Moränengetrümmer, dann über den Weißbrunngletscher ohne jede technische Schwierigkeit empor. Ich seile Sie an – und damit gut!« Ce que homme veut – – ich ergab mich. Als erstes fehlte uns das Seil, das er schlauerweise oder aus Bequemlichkeit unten im Koffer gelassen hatte. Die Hüttenwirtin lieh uns das neue Fahnenseil, dessen 9-Millimeter-Stärke schlimmstenfalls ja genügt haben würde, mich zu halten. Zuerst also die einfachen Moränen, dann der einfache Gletscher. »Ist er auch gefahrlos?« fragte ich, als wir vom Fels auf den Firn hinübergingen und ich kunstgerecht als erste Fahne des Seils angeknüpft wurde. Dabei entdeckte ich, daß mein Hochtourist in die 15 m Seillänge, die zwischen uns Distanz halten sollten, eine Schlinge machte. »Da hinein,« befahl er, ohne direkt auf meine Frage zu antworten, »stoßen Sie sofort den Pickel bis zur Klinge, wenn ich einbreche, und bohren ihn fest in den Schnee, was Sie weiter tun müssen, sage ich Ihnen dann schon!« »Gern,« versprach ich mit übertriebener Freundlichkeit, plötzlich dessen bewußt, daß ich im Ernstfalle gar nicht die Kraft haben würde, ihn herauszuziehen. Verdient hätte er's ja auch keinesfalls – nur daß ich dann eben sanft nachgerutscht wäre! Anderthalb Stunden sondierte die Gestalt vor mir mit dem Pickel Schritt für Schritt; denn die Stirn dieses müden, alten Gletschers ist von Falten durchfurcht, die der tückische Schnee sorgsam zugedeckt hat. Aber wir mußten diese Schönheitsmängel aufspüren, Schritt für Schritt, und jeder sank dazu tief in die weiche Decke. Ein paarmal drehte sich mein Wegweiser in ziemlicher Hast zur Seite und sagte nur: »Dort nicht!« und ich empfand schaudernd das Gefühl nachträglich, das einen befällt, wenn der Pickel ins Leere, ins Bodenlose stößt; und dann brach er mit dem rechten Bein wirklich ein, rief über die Schulter: »Festhalten!« und krabbelte am Rand empor, während ich krampfhaft und todesmutig zog. Ich bilde mir auch heute noch ein, daß nur ich eine Katastrophe verhütet habe – bis heute habe ich aber weder einen Dank noch eine Rettungsmedaille bekommen! Aber dort: waren das nicht Spuren?! Ein Mensch mußte den Gletscher traversiert haben und zum Zufrittjoch hinübergewandert sein. Wir hielten tapfer auf die Trace los: und dann ergab sie sich als die zierlichen Abdrücke von acht Gamsfüßen, die mit untrüglichem Instinkt, wie es sich herausstellte, knapp vor jeder Spalte abgebogen waren. Auf meine innere Verzweiflung hin, die sich nur in Seufzern und kurzen Verwünschungen alles Bergsteigens äußerte, probierten wir einmal, im Fels aufwärts zu kommen; aber er war teilweise mit Schnee bedeckt und dazu so plattig und zertrümmert, so wenig Halt bietend für Fuß und Hand, daß wir reuig zu den immer noch zuverlässigeren Gletscherspalten zurückkehrten. Endlich der Grat! Er bietet keine Fährlichkeiten mehr; die anderthalb Stunden in seinem Schnee sind zwar noch mühsam und nicht gerade wohltuend, denn trotz des tiefblauen Himmels und der nun erscheinenden leuchtenden Sonne pfeift ein eiskalter Wind uns ins Gesicht; aber nun haben wir den Berg doch besiegt! Und er lohnt uns die Mühe reichlich. In greifbarer Nähe liegen die eisgepanzerten Riesen der zentralen Ortler-Gruppe, im Norden die Ötztaler, die Stubaier, im Süden die Adamello- und Brenta-Gruppe, in der Ferne die Gipfel der Bernina, im Osten die wildgezackten Dolomiten. Ja, köstlich ist die weiße Einsamkeit, die glitzernden Schneefelder, die große, erhabene Ruhe der Firnhäupter. Umsonst ist man nicht 3437 m hoch, der Stolz gibt dem Brot und echten Prager Schinken einen Extrawohlgeschmack – wenn nicht, ja wenn nur nicht, der Abstieg noch wäre –! »Sehr einfach,« bemerkt der Hochtourist, der sich für seine Anstrengungen durch reichliche Nahrungszufuhr selbst belohnt, »wir vermeiden den morschen Fels! Wir gehen nur durch den Schnee.« Ich versuche zu streiken; aber eine Frau an einem Fahnenseil, nach einer mehrstündigen Gletscherpartie, in leicht strapazierter Toilette (Beinkleid und Wollbluse!) mit Schneebrille und Fausthandschuhen, hat einiges von ihrer »Allmacht« eingebüßt. Sie muß, beim Abstieg vorangehend, den alten Spuren folgen, sinkt in dem jetzt noch viel weicheren Schnee bis an die Brust ein, klappt wie ein Taschenmesser vornüber, hat Nase, Augen und Ohren voll Schnee, besinnt sich, daß sie sich im Fels das rechte Knie verletzt hat, fühlt, daß es nun den Dienst versagt, schreit in die Lüfte, daß ihr Bein verrenkt, der Hüftknochen gebrochen und sie verloren sei – und erhält von dem in fünfzehn Meter Abstand von ihr gleichgültig ihre Hilflosigkeit Beobachtenden mit ruhiger Stimme den Rat: »Zieh'n S' das Bein raus und gehen S' weiter!«

Es ist seltsam, welch eine Suggestion in solchen durchdachten, feinempfundenen Worten liegt: man zieht das Bein wirklich heraus und geht schweigend weiter. Am Schluß des Gletschers wird die Fahne eingezogen, d. h. ich abgebunden. Aus den kleinen Wasserrinnen, die in frühester Morgenstunde bescheiden zwischen dem Geröll rieselten, hat der schmelzende Schnee nun reißende Bäche gemacht, mit großspurigem Auftreten. Und ein bißchen gewachsen nach dieser Gletschertour fühlt man sich selbst auch: ohne Führer – und bei der Möglichkeit (oder besser Unmöglichkeit!) im Ernstfall den Hochtouristen aus einer Spalte ziehen zu müssen – gar nicht schlecht! Man hat sich gut bewährt. Unten, bei der Hütte, ist man überzeugt, daß zwar alle Fähigkeiten zu großen Eistouren vorhanden sind, daß man jedoch, um nicht aus der Übung zu kommen, doch noch eine rechte, schöne Kletterpartie machen möchte. Und dazu gibt's ja immer nur eins: die Dolomiten!

Hinaus zum langen Ultental, das man wirklich gründlichst kennen gelernt hat, von Sankt Waltraud in der vollgestopften Post bis Oberlana bei Meran. Per Bahn nach Bozen und mit einem der unzähligen Hotelwagen, die täglich noch ungezähltere Fremde befördern, durch das Eggental, vorüber an der pompösen alten Burg Karneid der Münchener Erzgießerfamilie von Miller, von Birchabruck und Welschnofen, den köstlichen Blick auf den Latemar, den Rosengarten, die Ortler-Gruppe genießend. Das Wetter scheint etwas unsicher, und oben auf der Höhe des Karerpasses, die man vom berühmten Karerseehotel durch einen schönen Waldweg erreicht, regnet es sanft. Bedenken steigen in einem auf, wie sie nur zu berechtigt sind: setzt etwa eine neue Regenperiode ein, müßte man auch tagelang dasitzen in der Glasveranda des Karerpaßhotels und Patiencen legen oder Balkannachrichten lesen, von denen doch keine einzige wahr ist?! – Da kommt der Mond über den Paß und übersilbert dankbar diesen herrlichen Fleck Erde. In aller Frühe lockt der leuchtende Schnee der Gipfel ans Fenster, ein jauchzender Tag bricht an, und vorsichtig trappt man mit den Genagelten die Treppe hinunter, um ja die Schläfer nicht zu stören, die Armen, die von dem Wunder draußen nichts ahnen. Mögen sie nur Patiencen legen, wenn sie aufwachen! Viele schöne Wege gibt's in den Alpen; aber der schönste, unvergleichlichste, die Krone aller Wege ist der Hirzelweg vom Karerpaß zur Kölner Hütte, die am Südwestende der Rosengartenspitze liegt. In klarer Morgenluft und immer wechselnder, zarter, wunderbarer Beleuchtung lagen sie da in langer, endloser Kette, die göttlichen Gebilde: die Latemar-Gruppe, die Presanella, die Brenta, die Ortler-, Ötztaler- und Stubaier-Alpen, der Schlern, der Tribulaun; die zweieinhalb Stunden zur Hütte (2325 m) verfliegen im Genuß all der Pracht, die sich von der Hütte aus noch ebenso bewundern läßt. Und man begreift nur zu gut, daß die Sektion Rheinland noch ein Touristenhaus anbauen mußte, das einen Tag vor unserm Besuch eröffnet worden war: wer diese Hütte nicht gesehen hat, hat nichts gesehen! – Gleich hinter der Hütte geht's steil empor über das Tschaggerjoch (2644 m) und wenig abwärts zur vielbesuchten Vajoletthütte, dem Ausgangspunkt für die meisten Touren in der Rosengarten-Gruppe und auf die kühnen Vajolettürme. Wir wandern am nächsten Morgen zum Grasleitenpaß, deponieren unter Geröll die Rucksäcke und steigen auf den höchsten und zugleich aussichtsreichsten Gipfel des Rosengartens, den Kesselkogel (3001 m), der einen wunderherrlichen Blick über fast ganz Tirol bietet und im übrigen bei wenig Kletterei und einem ganz amüsanten Band eine nette Vormittagsunterhaltung gewährt. Durch den großartigen Grasleitenkessel, wo der Schnee noch eine lustige Abfahrt gestattet, geht's zur Grasleitenhütte hinunter, wo der Führer für den nächsten Tag engagiert wird. Direkt vor der Hütte, so daß man den unteren Teil des Aufstiegs durch die schwierigen Kamine ganz übersehen kann, erhebt sich der Grasleitenturm – ein paar Junge, Führerlose, durchklettern ihn grade, und heißes Verlangen nach ihm packt mich! Aber natürlich: der Hochtourist ist schon oben gewesen und fand es daher für mich peinlich, von den »Hüttenwanzen«, die auch jetzt an der Arbeit waren, kritisiert zu werden. Was mich aber im nächsten Jahr durchaus nicht verhindern wird! – Für diesmal war die Traversierung der mittleren und östlichen Grasleitenspitze beschlossen, »auch eine schwierige Tour mit Kletterschuhen«, wie ich getröstet wurde. Tatsächlich hat Gottfried Merzbacher, damals schon ein vorzüglicher Kletterer, vor ca. dreißig Jahren erklärt, daß die Grasleitenspitzen unersteiglich sein dürften – wie hat sich der Maßstab geändert! – und wirklich erscheinen sie von der Hütte aus wie eine geschlossene Mauer, die jeden Angriff abweisen muß. In der Nähe löst sich die steile Fläche allerdings auf und bietet gute Griffe und Tritte; immer aber ist sie außerordentlich exponiert und erfordert in den knapp drei Stunden, die man bis zum überraschend großen Gipfelplateau der mittleren und höchsten Spitze (2705 m) braucht, strengstes Aufpassen. Die Kletterschuhe legten wir diesmal schon in der Hütte an, und kraft ihrer Anschmiegsamkeit an den Fels, und der Überlegung, die sich schwierigen Situationen gegenüber plötzlich einstellt, ging alles vorzüglich. Meine Zwirnhandschuhe waren zwar »hin« – ich kletterte zum Erstaunen aller geaichten Alpinisten nie ohne Handschuhe –, denn die Felsen waren scharf und fest zugreifen mußte man schon; aber die Glieder gottlob heil! Ganz so gut ging's uns beim Abstieg zur Scharte zwischen der mittleren und östlichen Spitze nicht. Diese Tour ist außer Mode – entthront durch den Grasleitenturm! – und es fand sich deshalb viel brüchiges Gestein vor uns, das sonst von den Kletterern nach und nach beseitigt wird. So war bei der großen Exponiertheit doppelte Vorsicht geboten. Der Hochtourist entdeckte einen Kamin, der ihn stark anlockte, und grade stiegen wir in ihn hinein, er voran, ich in der Mitte, der Führer mich von oben bewachend, als ein entsetzliches Getöse über uns entstand. Ich blickte zum senkrecht über uns stehenden Gipfel, schrie: »Steinschlag!« – und drückte den Kopf in eine Felsspalte. Ein faustgroßer Stein traf mich schmerzhaft auf der Hüfte, und pflichtgemäß schrie ich auf; aber es war wohl mehr die Angst vor der Ungewißheit: »Kommt noch mehr – und kommen noch größere?« Recht peinliche Augenblicke sind das, die man da zubringen muß, als Spielzeug des Zufalls! Rasch wie er gekommen, war der Steinschlag vorüber – man atmete auf – und machte sich wieder an die Arbeit. Es erwies sich, daß meine Beine für einen Tritt im Kamin zu kurz waren, und ich hing daher einige Meter zwischen Himmel und Erde, was man euphemistisch »abgeseilt werden« nennt. Aber wenige Minuten später stand auch ich auf der mit Schnee bedeckten Scharte, und kaum eine halbe Stunde später erreichten wir den östlichen Gipfel, womit alle Schwierigkeiten ihr Ende gefunden hatten. Denn der Abstieg zum Molignonpaß ist nur ein Spaziergang von wenigen Minuten. Dort standen allein und in der Mittagsstunde bratend, unsere Genagelten, die ein Hüterjunge hinaufgetragen hatte, und die uns nun im Schutt hochwillkommen waren. Wirklich, eine schöne und schwierige Tour war's, die man weniger wegen der Aussicht – sie ist nur nach Westen und Norden lohnend, im Osten und Süden lagern sich höhere Gipfel vor – als um der reinen Kletterfreude willen macht. Eine Extrabelohnung ist noch der Weg von der Grasleitenhütte durchs Tschamintal. Wald und Matten dünken einem zwar immer besonders herrlich nach ein paar Tagen in den steinernen oder firnenreichen Wüsten des Hochgebirges. Aber der Blick rückwärts vom idyllischen Tal auf die von unten überaus kühn und steil aufragenden Valbuonköpfe, die Grasleitentürme und die Spitzen, die man nun stolz wie alte Bekannte grüßt, ist von einem großen und unvergeßlichen Zauber. Und ein letztes Mal noch umfaßt man die verlorene Herrlichkeit vom kleinen Kapellchen St. Cyprian aus, bei Weißlahnbad, einem willkommenen, oft benutzten Vorwurf für die Maler; und trägt die Erinnerung an so viel glückliche, wenn auch mühevolle Tage und Stunden mit sich, wenn man auf leise schmerzenden Füßen durchs Tierser Tal in die Welt der Alltäglichkeit und Flachheit zurückwandert.

Hüttenleben.

Die meisten Menschen, die im Sommer eine Erholung suchen, wollen's »gemütlich« haben. Je nach ihren Ansprüchen und Mitteln wählen sie den Aufenthalt in einem eleganten Bade, einem bescheidenen Kurorte oder, wie's jetzt »Mode« geworden ist, in abgelegenen, primitiven Bauernhäusern; Bedingung bleibt immer, daß man es sich eben nach seiner Auffassung »gemütlich« machen kann, jede geistige und körperliche Anstrengung vermeidet und alle vierundzwanzig Stunden einem Dolcefarniente weiht. Im Durchschnitt wird das ja nun das richtige sein, um die Nerven zu beruhigen – worauf es den Sommerfrischlern in der Hauptsache ankommt! Der einzige, der auf sein Programm nicht mit rosa Lettern und nachlässiger Schrift das Wort »Frieden« schreibt, ist der Hochtourist. Zwar bringt sicherlich ihm am ehesten die köstliche Bergeinsamkeit allmählich ein inneres Ausruhen und eine wirkliche Befriedigung, aber vor seinen Erfolg haben die Götter in Wahrheit viel Schweiß gesetzt – er muß täglich aufs neue kämpfen, mit sich selbst, mit der Natur, um den wohlverdienten Lohn zu empfangen. Von »Gemütlichkeit« ist bei ihm nicht viel die Rede. Schon seine Ausrüstung deutet auf die Anstrengungen, Gefahren und Entbehrungen, die seiner warten. Er allein löst sich in den Wochen seiner alpinen Tätigkeit von der Zivilisation; noch mehr: auch auf die ihm angeborene oder anerzogene Kultur muß er ein wenig verzichten, soweit sie seinen äußeren Menschen anbelangt. Das tägliche Bad, frische Wäsche, Kleiderwechsel zu jeder Tageszeit oder jedem Witterungsumschlag, das gibt's ebensowenig wie pünktliche Mahlzeiten, einen mit Luxus gedeckten und mit reicher Auswahl besetzten Tisch. Von vornherein läßt sich also annehmen, daß sich nur diejenigen den Bergsport zur Erholung erwählen, die von den elf Monaten ihres bürgerlichen Daseins nicht »untergekriegt« sind und einen Vorrat an unverbrauchten Nerven und fester Gesundheit besitzen, der sie befähigt, den kommenden Strapazen Trotz zu bieten.

Sieht man sich einmal die alljährlich stark anwachsenden Mitgliederlisten des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins wie der übrigen zahlreichen alpinen Klubs und Vereinigungen an, so darf man daraus wohl nicht mit Unrecht einen Schluß auf die Volkskraft und -gesundheit ziehen. Steigt von all diesen Hunderttausenden jährlich auch nur ein gewisser Prozentsatz wirklich auf die Berge, so genügt er doch, um uns nicht ganz hoffnungslos in die Zukunft unserer Rasse schauen zu lassen; wir sind darnach doch nicht so entnervt, verbraucht und dekadent, wie manche Schwarzseher uns in klugen, wissenschaftlichen, aber sehr schmerzenden Abhandlungen darzustellen belieben! Leute, die sich wochenlang auf ihre eigenen Füße verlassen, ihr Gepäck, oft auch den Proviant für mehrere Tage selbst schleppen und mit der einfachsten Lagerstatt und den simpelsten Mahlzeiten für die ganze Zeit vorliebnehmen – alles aus Begeisterung für die Natur und ihren Sport –, in denen lebt noch etwas von dem echten, so oft verspotteten und angefeindeten deutschen Gemüt und dem Wesen, an dem nach des Dichters Wort die Welt genesen sollte. (Was sie vorläufig allerdings vorgezogen hat, nicht zu tun!) Uns aber behüte dieser Beweis unerschütterter Gesundheit vor dem Verzagen. – »Aber auf den Hütten, nicht wahr, soll es doch so unterhaltend sein?« – Wie man's nimmt. Unterhaltend, ja; für Leute, die eben mit Leib und Seele Alpinisten sind. Denn erzählt wird fast nichts als von besonderen neuen Anstiegen, alpinen Erfolgen – oder Katastrophen. Heiter ist es deshalb nicht immer; dafür belehrend, auch durch die Art, wie erzählt wird. Man sieht aus ihr, wie rasch unter den Kundigen Prahler und Lügner entlarvt werden, wie nur wirkliche Energie und Intelligenz anerkannt und der fade, sich wiederholende Schwätzer bald zur Ruhe verwiesen oder zur Einsamkeit verdammt wird. Auch sonst wirkt das Hüttenleben durchaus erzieherisch. Keine Idee von den unsichtbaren Triumphbogen, die unten im Tal der Wirt und der Portier für jeden noch so harmlosen Gast in aller Devotion erbauen! Man mag von der eigenen Leistung bis zum Mützenrand erfüllt sein oder die Brust von den kühnsten Vornahmen für den kommenden Tag geschwellt haben – man rückt bescheiden vor der Hütte an, stellt den Pickel, der sich so schön ausnimmt, mit seinem vernarbten Stock nach allgemeinem Brauch vor der Tür auf, läßt den Rucksack im Gang auf die Erde gleiten und betritt möglichst unauffällig und ebensowenig von den Anwesenden irgendwie beachtet den inneren Raum. Ein »Grüß Gott!« mit dem Wirtschafter und den Gästen, an deren Tisch man Platz nimmt, ausgetauscht – das ist alles. Dann erfährt man so nebenher, daß die Einzelzimmer, falls solche überhaupt vorhanden, schon vergeben sind. Daß leider das frische Fleisch schon verzehrt wurde und von allen Konserven nur noch Gulasch, was einem schon wegen des folgenden Durstes zuwider ist, angeboten werden kann. Wasser zum Waschen gibt's schon seit mehreren Tagen nicht mehr – kein Regen und viel Besuch! Aber daß es morgen schlecht Wetter wird – wo man sich seit Jahren gerade auf diesen Gipfel gefreut hat – ja, das scheint Tatsache zu sein. Wie aufrichtig dankbar ist man, daß es doch noch einen Teller Erbssuppe gibt – wie sparsam geht man mit dem Töpfchen warm Wasser um, das den ganzen Abend zur Limonade reichen soll! Selten ist man sich so erquickt und ausgeruht vorgekommen wie nach einer halben Stunde auf der harten Holzbank, im Rauch verschiedensten Tabaks und dem Duft der Küche, deren Tür wegen der angenehmen Wärme nicht geschlossen wird. – Hat man dann ein Lager für die Nacht angewiesen bekommen, so wechselt man dort, auf der Pritsche sitzend, seine Bergstiefel gegen die Hausschuhe. Das Glücksgefühl hierüber kann nur der teilen, der neun bis zehn Stunden die Nägelbeschlagenen bergauf und bergab gesetzt hat. Unten findet man die Gaststube leer – alle sind hinausgeeilt, die eben noch todmüde, verhungert, unfähig, ein Glied zu rühren, waren, um den Sonnenuntergang zu sehen. Niemand spricht. Jeder schaut nur – ist versunken in den erhebenden, heiligen Anblick des langsam in einem Purpurmeer vertauchenden Gestirns. Wie noch hier und dort ein Hang in voller Pracht strahlt – im Tal ein Fensterchen wie ein mächtiger Diamant aufblitzt – die Wolken allmählich die stille, sanfte Glut annehmen, die das Herz mit Sehnsucht nach den Herrlichkeiten erfüllt, die sie verschleiern – und dann, von der Tiefe aufsteigend, Nacht und Schatten sich um den Fuß der Berge legen, höher und höher klimmen und schließlich die Welt ringsum in den Schoß der Unendlichkeit aufnehmen. Die Menschen hier oben, die vom Zufall zusammengeweht sind, stehen wie auf einer kleinen Insel. Leise streicht der Wind durch das magere, kurze Gras – kein Laut, kein Ton sonst! Ja, jetzt ist Friede. Der Friede, um den sie hier heraufgestiegen sind. Die großen Schauer der Einsamkeit rütteln an ihrer Seele; hier oben erwacht sie und füllt sich mit heiliger Freude, daß sie noch imstande ist, die Wunder ringsum bis ins kleinste zu empfinden und zu genießen.

Schweigend kehrt man endlich, wenn das Auge nichts mehr unterscheidet, in die Hütte zurück. Und nun kann's eine »gemütliche« Stunde geben – vielleicht! Nicht immer. Manche Menschen besinnen sich zu schnell auf die nüchterne Wirklichkeit und ihr Naturell zurück; nur wenige haben den richtigen »Hüttenton«, der eben einen geraden, harmlosen, ungekünstelten Charakter voraussetzt. Alles Gemachte, Unnatürliche hält dem schlichten Rahmen der Holzwände und weiter draußen dem der starren Felsen nicht stand. Hier ist Natur. Sie fordert unverfälschtes Menschentum. »Laß die Berge den Frieden bringen unter das Volk und die Hügel die Gerechtigkeit.« Ich glaube nicht, daß König Salomo das war, was wir heute einen Alpinisten nennen. Aber den Zauber wie die Allmacht der Berge auf das Menschenherz – die hatte er voll erkannt.

Eine unterirdische Hochtour.

Es regnete nicht: es goß. Das beliebte Münchener Schlackerwetter, das die Luft in undurchsichtige Rauchschwaden umwandelt und die Straßen mit zähem Brei überzieht, so daß man beständig, nur unpoetischer: »Schwan kleb' an« spielt, hatte einmal wieder von uns Besitz ergriffen, auch vom Herzen und allen Sinnen.

»Und doch ein Wetter, wie geschaffen für eine Bergtour«, sagte mein Hochtourist.

Ich sah ihn an: ein Meter Neuschnee wurde von allen Höhen gemeldet, bis tief ins Tal lag schon die weiße Decke, das Thermometer zeigte an meinem wärmsten Fenster (allerdings Nord-Nord-Ost!) vier Grad um die Mittagszeit und sank nachts in nicht zu berechnende Niederungen – und dann eine Hochtour?

»Gewiß – aber eine unterirdische. Dazu langt's grade. Oder vielmehr, da können einem endlich mal alle Wetterprophezeiungen und -nachrichten gleichgültig sein, da ist man unabhängig, frei – also?« Und auf mein Zögern und den nachdenklichen Blick in das braune Düster, das sich für Tageslicht ausgibt, lockert er mit geschickter Hand den letzten, im Bequemlichkeitskamin festgeklemmten Stein:

»Am 24. September haben sie's eröffnet – und wir waren noch nicht draußen!«

Der Stein rollt. So was kann man nicht auf sich sitzen lassen! Aber ich versuche am nächsten Morgen doch meine Genagelten recht graziös und unhörbar aufzusetzen, um von niemand beim Abstieg von meiner Etage in die Ebene überrascht zu werden – denn ein Badekostüm mit imprägnierter Fußbekleidung wäre immerhin noch passender als das Hochtouristenkostüm und der Rucksack. Bei der endlos langen Fahrt mit der Tram zum Isartalbahnhof hinaus lernt man jedoch einsehen, wie unnötig wichtig man sich wieder einmal vorkam, und daß sich der gute Münchener, der an die größten Kontraste in der Toilette seiner Mitmenschen gewöhnt ist, wegen einer, »die spinnt,« d. h. nicht ganz richtig im Kopf ist, nicht weiter aufregt. Der Hochtourist wandert rauchend am Zug auf und ab und ignoriert alle bescheidenen Einwürfe: »Ja, wer eben feig' ist, der soll daheim ›am Stuhl‹ sitzen bleiben.« Ich fahre also mit ihm ab; an den entzückenden, heute nur zu ahnenden Villenkolonien und Ortschaften des Isartales vorbei. Hinter Wolfratshausen – nicht eine Minute eher, denn von der Geburt bis zum Grabe speist der Münchener um 1 Uhr – dinieren wir kalt aus dem Rucksack. Kalte Gans, kalte Kotelette, kalte Äpfel, kalte Limonade – um uns als moderne Menschen harmonisch der kalten Umgebung anzupassen. »Jetzt fahren wir mit 'm Postauto – das wissen's doch?«

Ich habe es nicht gewußt und hätte nie eingewilligt – daher schweige ich.

In Kochel (sprich: Koh–chel) wartet es auf uns. Der Chauffeur heißt uns als einzige Passagiere herzlich willkommen, und – o Wunder! – es regnet nicht mehr, es sinkt nur noch feucht, aber äußerst durchdringend aus dem Nebel nieder. »Koh–chel« am gleichnamigen See durchfliegen wir und in ängstlichen Kurven die Landstraße auf und ab, an Obstgärten mit traurig leeren Bäumen vorüber – durch Wald, dem die Sonne fehlt, um seine rostbraune Schönheit aufleuchten zu lassen, an steilen Hängen hin, um schmale Kehren herum, bei denen es heißt: »Hier könnte man sonst den und den Berg sehen« – »da gäb's eine herrliche Talaussicht« – die Phantasie bekommt Spielraum genug – das hat auch sein Gutes. Den Walchensee, an dessen Ufer, in Urfeld, es eine erste Station gibt, sieht man wirklich. Und freut sich, daß er noch da ist. »Verschandelt« nach Münchener Ansicht soll er nach dem berühmten Projekt, das ihn einerseits als Staubecken vorsieht, um den Lauf der Isar zu regulieren, andererseits seine Wasserkräfte für elektrische Werke – man denkt an verschiedene Bahnlinien – ausnutzen will, vom nächsten Jahr an doch schon werden. Freilich, zur »Reisezeit« will man ihm seinen früheren Bestand gönnen, und tiefer als unter 4.60 m seines gewöhnlichen Standes soll er sowieso nie gesetzt werden! Aber es ist wohl leider so: die Poesie und Idylle muß der Nützlichkeit weichen; durch einen 1070 m langen Stollen, der durch den Kesselberg gebohrt werden wird, soll das Walchenseewasser zum 200 m tiefer gelegenen Kochel geleitet werden, wodurch natürlich auch hier große Umwälzungen nötig sein werden, um den Bestand des Kochelsees zu regulieren. Über Nutzen oder Schaden dieser Riesenpläne ist man sich in Bayern noch recht wenig einig – das Projekt jedoch wird verwirklicht und soll 19?? beendet sein. Heute sieht der vergewaltigte See recht friedlich aus; wie im Urzustand, ein Chaos von Wolken über ihm, als sei Wasser und festes Land um ihn her noch nicht geschieden. Aber unser Fuß fühlt eine etwas konsistentere Masse, als wir in Dorf Walchensee von Bord – nein, Verzeihung, es war doch ein Auto! – gehen. Und dann noch drei Viertel Stunden zu Fuß über den Katzenkopf, einen waldbestandenen Hügel, der reizend sein soll, wenn man ihn sieht, nicht nur fühlt, nach Einsiedl. Ein hübsches Gasthaus am Ende des Sees – aber sehr einsiedelhaft in der jetzigen Saison. Die Autos rasen seitwärts die »Staatsstraße« empor, die nur ein paar Meter vom Haus vorbeiführt und es dennoch vom Getriebe ausschließt. Zwar, wir sind dankbar für die Ruhe. Und zufrieden, dicht am Ziel zu sein.

Am nächsten Morgen segeln die Nebel unter gutem Wind über den See. Es hat stark gereift in der Nacht, und die Luft ist von köstlicher Herbe; vorläufig kann's uns ja noch egal sein – aber später! – Eine gute halbe Stunde geht es auf einem schmalen, frischausgehobenen Weg steil bergauf; wie ein schwarzes Land hebt sich die fruchtbare, schwere Erde vom Moosboden ab. Überall Markierungen, Pfeile, Schilder: »Es ist verboten –« und »es wird gebeten –«, ich fürchte, beides ohne viel Erfolg. Der Verein der »Naturfreunde«, dessen Arbeit uns diese Tour ermöglicht, wird bald sehen, daß es ein undankbares Geschäft ist, an das ästhetische Gefühl seiner Mitmenschen zu appellieren – schon jetzt finden sich genug häßliche Spuren des »Kulturmenschen« vor. Dann stehen wir vor der Höhle, der Angerhöhle am Simetsberg, der unser Besuch und die »Hochtour« gelten soll. Der obengenannte Verein hat sie erschlossen, weist aber am Eingang noch einmal darauf hin, daß ihr Besuch nur auf eigene Rechnung und Gefahr geschähe; in einem Prospekt, den ich erhielt, heißt es außerdem, daß die Höhle nur in Begleitung und mit Reservelicht zu betreten und ihre Begehung mit Schwindel behafteten, ungeübten und korpulenten Personen nicht zu raten sei. Man macht also wirklich eine alpin-touristische Kletterei, eine richtige Hochtour im Innern der Erde!

Wir zündeten unsere Laternen an, mein Stock wurde einem Baum am Eingang anvertraut – dann ging's an! Gleich mit zwei sehr steilen Leitern, dann durch einen schmalen Gang, der das Aufrechtgehen nicht erlaubt. Das Auge lernt bald, den kleinen Lichtkreis der Laternen auszunützen, denn vom Tageslicht dringt kein Strahl in dies unheimliche Dunkel. Man hat auch nicht auf »Korpulente und Ungeübte« Rücksicht genommen, man muß klettern, sich strecken, über Dutzende von senkrecht stehenden Leitern, über große Blöcke, schmale Steige, die über einen Abzugskanal für das von den Wänden tropfende Wasser gelegt sind, dann wieder auf eisernen Stiften über schaurige Tiefen fort, an gähnenden Spalten vorüber und an düsterblinkenden Wassertümpeln – kurzum, eine echte, rechte Hochtour macht man, ehe man nach einer Stunde bei bescheidenem Kerzenlicht das vorläufige Ende des Ganges bei einem etwa 15 m langen See erreicht. Hier gibt es sogar ein Höhlenbuch wie sonst ein Gipfelbuch, und ganz stolz über die Leistung schreibt man seinen Namen ein. Ich muß sagen, daß die »Angerhöhle« durch ihren alpinen Charakter von allen Höhlen, die ich je gesehen, am interessantesten ist. – Dann photographierten wir; der Mensch – diesmal der Hochtourist – ist ja nie zufrieden. Blitzlicht hatten wir mit; ich mußte es entzünden. Es ist eine empfehlenswerte Einrichtung. Abgesehen davon, daß mein »echter« Haselnußstock, an den ich die Tüten hängte, verkohlte, meine sämtlichen Fingerspitzen verbrannten, und ich mich in irgendeine Ecke nach vollbrachter Tat des Anzündens stürzen mußte, um meine Augen zu retten, erstickten wir fast an dem sich entwickelnden Rauch, der nirgends entweichen konnte und uns deshalb als Wegweiser nahm. Wir photographierten in verschiedenen Gängen – der neue Rauch sammelte sich zum alten, sogar unsere kleinen Kerzen in den Laternen starben beinahe. Und das wäre recht unangenehm gewesen! Ob die Bilder »etwas« geworden sind, ist fraglich – daß wir froh sein konnten, den »Naturfreunden« nicht zu begegnen, ist außer Zweifel. Als wir wieder ans Tageslicht kamen – es war nicht rosig, sondern blau und golden, von strahlender Schönheit! – zog der übelriechende Rauch noch immer neben uns her.

»Macht nix,« sagte der Hochtourist ungerührt, »jetzt ist es erst wirklich Fafners Höhle.«

Nun gab's noch einen wirklichen Gipfel, den des Simetsberges, und dann eine wunderbare vielstündige Wanderung bis hinunter nach Eschenlohe. Die glühenden Fackeln der Buchen zwischen dem Grün der Tannen, die Birken und Pappeln im zartesten Gelb – silberne Herbstfäden über den harten Brombeerblättern, wie leichte Wolken das weißballige Jelängerjelieber, im Volksmund »Gemsröckl« geheißen, im Buschwerk hängend. Dazu der wilde Schrei der Hirsche, die ihre Liebsten vom goldnen Lager aufjagen, die Lüfte zerreißend – im steinernen Bett das sanfte Lied des Waldbaches. Und ein Rauschen in den Baumkronen, verheißend, beseligend, daß auch nach diesem bunten Todesreigen die Natur zu neuem, ewig-schönem Leben erwachen wird.

II.
»Sie« auf Ski.

Bei den »Säuglingen«.

»Ausschau'n tun Sie, Säugling, als wenn S' heut' gebor'n wär'n!«

Sehr genau wußte ich, daß sich diese Schmeichelei nicht auf ein unerhört jugendliches Aussehen, sondern auf einen glühend roten Teint bezöge. Blendender Schnee, starke Anstrengung, scharfe Luft und leuchtende Sonne machen in wenig Tagen aus der zartesten Haut – die ich natürlich sonst habe! – ein Burgunderpergament. »Wie kann man nur,« sagten meine Münchener Freunde, »grade zur Faschingszeit! Wo S' am Montag zum Bühnenball wollen!«

Ich fürchte, es wird weder etwas mit dem Bühnenball noch mit einem andern. Denn außer einem Rote-Grütze-Teint bringe ich ein stark lädiertes Bein mit heim, das sich der kräftigste Herr des Kurses als Stützpunkt bei einem Fall ausersehen hat. Aber was tut das alles? Können die gestörte Schönheit oder ein verrenktes Körperglied ins Gewicht fallen gegen diese köstlichen, frohen Tage unter Zdarskys Leitung? Was dieser Mann mit 159 Personen, von denen die meisten blutige Anfänger in der hohen Kunst des Skifahrens sind, in wenig Tagen macht, wie er vor allem aus einer disziplinlosen Masse mit allen bösen Instinkten der Menge, als da sind: Ungehorsam, Unbotmäßigkeit, Widerspruch, Besserwissen usw., einen wohlgeschulten, gefügigen Körper ausbildet, der ihm aufs Wort gehorcht und immer mehr einsieht, welch ungeheure Nächstenliebe und Aufopferung dazu gehört, monatelang in jedem Winter ohne den geringsten Entgelt außer dem Dank der »Säuglinge« Hunderte mehr oder minder Geschickter anzulernen, das ist erstaunlich. Und scheint mir bei aller hohen Achtung vor der Kunst und dem selten vielseitigen Wissen dieses Mannes das bewundernswerteste. Es ist geradezu spaßhaft zu sehen, wie zahm auch die Kecksten werden; und wie man selbst auch nicht auf den Gedanken käme, irgend etwas anderes zu machen, als er es in unermüdlicher Geduld »vorturnt«. Dies genaue, schulgemäße Wiederholen aller Übungen tut auch dem Vorgeschrittenen gut – weshalb ich nur jedem raten kann, von Zeit zu Zeit einmal wieder an einem Kurs teilzunehmen – denn nur zu leicht wird man bei kürzeren Touren und gutem Schnee gegen viele Regeln gleichgültig und hat dafür in Ernstfällen zu leiden. Zdarskys Methode, die ja nur den Zweck verfolgt, Bergtouren im Winter zu ermöglichen, verlangt eben eine exakte Ausführung ihrer auf gründlichster Erfahrung und Berücksichtigung aller vorkommenden alpinen Verhältnisse aufgebauten Gebote. Da darf man sich gern einmal wieder als »Säugling« betrachten, wie er seine Schüler mit Vorliebe benennt, und sich in Reih und Glied mitaufstellen, um seinen militärisch gegebenen Kommandos präzise zu folgen. Für den vierten alpinen Ski-Kurs, der »heuer« vom 14. bis zum 21. Januar stattfand, war ein herrliches Gelände ausersehen, nämlich das um Oberammergau. Mit seinen mäßigen Hügeln, die auch dem Anfänger Mut zum »Stemmfahren« und »Stemmbogenfahren« machen, und den schönen Bergen für die üblichen Touren der letzten Tage, wäre es »ideal« gewesen – falls sich ein besserer Schnee vorgefunden hätte. Ich muß sagen, daß ich mir recht lächerlich vorkam, als ich vor acht Tagen mit voller Skiausrüstung die Reise zum Passionsdorf antrat und immer weiter in eine grünende Landschaft hineingeriet, über der schon Frühlingshoffnung zu schimmern schien. Von Schnee ka Spur! Ein Hamburger, der eigens zum Kurs aus seiner nebligen Stadt herunterkam – es sind übrigens Teilnehmer aus ganz Deutschland und Österreich vorhanden – kehrte schleunigst wieder um, angesichts des bißchen Rauhreifs, der da und dort in den Wäldern hing. Der ungläubige Thomas mag sich stark ärgern, wenn er nun erfährt, wie schön es besonders in den ersten Tagen war: köstlichster Pulverschnee, in dem sich die Stemmbögen wie von selbst schlugen. Nun freilich ist der Schnee bei starker Sonne am Tage und Frost des Nachts verharscht, und das »Abfahren – marsch!« löst keine reine Freude in der Seele auch des charakterfestesten Skifahrers mehr aus. Z. B. gestern, die erste Tagestour zum Laber-Joch hinauf. Zdarsky schont seine »Säuglinge« nicht. Mit größtem Geschick wählt er seinen Weg so, daß alles, was man gelernt hat: Hindernisse nehmen, Zäune überklettern, Bäche durchwaten usw., angewendet werden muß. Dann heißt's plötzlich: »Abschnallen«, und über eine Stunde hat man die Skier auf der Schulter einen steilen, vereisten Hohlweg emporzutragen. »Das zieht hin«, sagt man bei uns im Norden. Dann wieder: »Anschnallen«, und die freundliche Erlaubnis, nun eine Viertelstunde auf den Skiern auszuruhen. Aber die Sonne glitzert auf dem blauweißen Schnee, die Gipfel ringsum funkeln im Licht, wolkenlos spannt sich der Himmel über den Wäldern – da kommt mit dem ruhigeren Atem die Freude an all dem Schönen zurück – und das Vergnügen, mit frischen, gesunden Menschen zusammen zu sein, bei denen die Liebe zur Natur und zum Sport einmal glücklich alle kleinlichen eitlen Regungen ausgelöscht hat. Darauf geht's tapfer bergauf mit der Devise: »Spurhalten«, bis ein schöner, sonnenbeschienener Platz erreicht ist: »Eine Stunde Rast«. Ein Rieseneifer entwickelt sich; genau nach Vorschrift wird im Schnee ein Platz ausgetreten, die Skier dienen als Sitz, die Fäustlinge werden zum Wärmen über die Fußspitzen gezogen – wer ein Zdarsky-Zelt besitzt, zieht es mit zwei Griffen um sich her, andere suchen im Freien einen geschützten Punkt, um unter dem mit Schnee gefüllten Kochapparat den famosen Zdarsky-Brenner anzünden zu können. Ein lustiges Lagerleben entwickelt sich blitzschnell, Obst und Süßigkeiten werden ausgetauscht, nach dem alten Grundsatz, daß Fremdes immer besser schmeckt als das eigene. »Und die Photographen arbeiten fieberhaft.« Kocher sind bekanntlich dazu da, um im letzten Moment umzustürzen. Trotz des Vorwurfes meines Hochtouristen, ich hätte den Apparat »natürlich« falsch aufgestellt, nämlich nach genauer Vorschrift auf den flachgelegten Skiern, kochte mein Teewasser beinahe, und ich verschüttete nur ein Viertel des Inhalts. Nun übernahm er die Wacht – Männer können bekanntlich alles besser – auch kochen! – tat mit Riesenwichtigkeit gleich Zucker und Teekonserven in die schmelzende Masse, und sagte: »Wer mir nun an den Skier stößt, den –« Es kochte – und auf die Sekunde warf er den ganzen Apparat um! »Es ist leichter, Tee zu trinken als zu bereiten«, sagte ein Nachbar gefühllos und trank die mitgebrachte Flasche leer, während wir auf den braunen Teefleck im reinen Schneetischtuch starrten. Ich glaube, es ist einerlei, welchen Kocher man besitzt; sie besitzen alle dieselbe Eigenschaft, erst umzufallen, sobald es kocht.

»Anschnallen!« Die Rucksäcke werden gepackt und »modelliert«, damit sie nicht drücken, und weiter geht's, bis sich die Talmulde vor uns weitet. Lawinenstürze durchfurchen die weißen Hänge, und ruhig, von Zeit zu Zeit den Schnee prüfend, legt der stets voranschreitende Hirt eine flache Spur an, die allmählich, in langen Serpentinen, die Herde empor zum Joch führt. Mehrmals kreuzen wir die Lawinen, aber da ist niemand, dem auch nur ein Bedenken aufsteigt. Aus den Vorträgen, die Zdarsky allabendlich von acht bis zehn Uhr hält, und in denen er alle Themata, die dem Skifahrer wichtig sind, berührt, angefangen von der Haut- und Körperpflege, der Kleidung bis zu den alpinen Gefahren, weiß man, wie vertraut diesem Mann die Schnee- und Eisverhältnisse sind; unbedingt überläßt man sich seiner Führung. Eine lange Kolonne, noch immer über hundert Personen – die anderen sind aus irgendeinem Grund von dieser Tagespartie abgefallen – steigt aufwärts, »wendet« an den Kehren, eine Prozedur, deren glückliches Gelingen am Hang mehr als sonst irgendein menschliches Tun vom Zufall abhängig ist, und blickt sehnsuchtsvoll zum Joch hinauf: noch zwei Stunden, bis man jenseits in die Ebene hinabschauen kann – noch anderthalb – noch eine – da heißt es: »Halt!« Gute Läufer gebrauchen noch dreiviertel Stunden bis »hihnauf« – mit dem Gros der Säuglinge, dem Zeitverlust an den Kehren, würde es noch fünfviertel Stunden dauern. Es geht nicht, man käme in die Nacht hinein. Wer sich dazu imstande fühlt, mag den Aufstieg versuchen – für die übrigen heißt es »abfahren«. Aber wie?! Der Schnee ist tellerbrüchig, d. h. er bricht in großen, harten Stücken bei jedem Tritt ab; deshalb ist Stemmfahren unmöglich, ebenso »Reitsitz«. Bleibt nichts übrig, als die Spur einfach zurückfahren. Nun, das geht schneller als das Bergauf, ist nicht gerade das Ideal der Abfahrt und zeitigt auch noch viele Stürze. Durch den Wald geht's schöner als am Berg und gestattet zum Teil sogar Stemmbögen. Am Hohlweg wird man zum »Reitsitz« eingeladen. Mir scheint es eine vortreffliche, wenn auf die Dauer auch nicht angenehme Massage für den ganzen Körper. Am Schluß weiß man, wo jeder Knochen sitzt und jede Muskel angewachsen ist. Die von der Kleidung verdeckte Haut sticht überhaupt nach diesen Tagen von der roten des hehren Antlitzes ab; denn sie ist – nicht weiß, o nein, sondern blau und grün. Ein rosiger Abendhimmel liegt über dem stillen, kleinen Dorf zu unseren Füßen; die Glocken läuten schon den Sonntag ein. Man ist daheim; glücklich und ziemlich heil. Und morgen geht's fort. Eins hat nur gefehlt: Neuschnee. Aber der Mensch darf nicht alles wollen! – Von niemand besser als von Zdarsky, diesem seltsamen, großen Menschen, kann man ja Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit lernen. Das ist ein Extrageschenk an seine »Säuglinge« – ein größeres noch als seine Kunst, die uns die Herrlichkeiten des Wintergebirges erschließt.

Die erste »Ausfahrt«.

»Na ja«, sagte ich, zwar nicht ganz überzeugt davon, daß es für mich auf dem Übungshügel, zu dem wir täglich einen etwas steileren ausgesucht hatten, nichts mehr zu lernen gäbe, und daß ich meine Kenntnisse nun im Gelände erproben müsse, aber doch nachgiebig, um nicht in den Geruch der Feigheit zu kommen – dieser Eigenschaft, die jeder Berechtigung zu irgendeinem Sport sofort Grund und Boden abgraben soll. Und bis dahin hatte ich Mut bewiesen, viel Mut; nicht nur darin, daß ich gleich versucht hätte – was ja alle anderen auch müssen! – auf den unzuverlässigen langen Holzschuhen von einem Abhang in die Tiefe zu gleiten, sondern daß ich nach den Tausenden von Stürzen, von denen meine Übungen während einer ganzen Woche unterbrochen worden waren, mich immer von neuem erhob, meine Glieder einrenkte und unverdrossen wieder bergauf stieg, als sei mir nicht das geringste passiert.

Und doch herrschte nur eine Stimme darüber, daß ich im Fallen den Rekord erreicht habe! Ich kann nicht behaupten, daß mein Lebensziel: irgendwo und bei irgendeiner Leistung einmal die erste zu sein, sich gerade auf das Hinfallen konzentriert hätte, aber es scheint, daß man nicht nach der Art des Wunsches gefragt wird – eines Tages wird er einem erfüllt, und es bleibt nichts anderes übrig, als zufrieden zu sein. – Ich konnte jetzt aber nicht nur hinstürzen, sondern besaß die hohe Kunst der alpinen Technik, d. h. ich konnte »Stemmbogen« fahren, war mithin in der Lage, jeden Abgrund nicht von vornherein kopfüber, sondern erst nach verschiedenen Bogenlinien hinunterzusausen – denn daß man zum Schluß nicht hinfällt, das soll eigentlich nur Ausnahmemenschen passieren. Zu denen gehöre ich in keiner Beziehung.

Den Rucksack auf dem Rücken, den Bambusstock nach Lilienfelder Art (nicht die zwei schwedischen Zündhölzer nach Norweger Manier!) in der mit dickstem Fausthandschuh versehenen Rechten, so zogen wir also eines wirklich schönen Morgens bei 10 Grad Minus und prachtvollem Rauhreif von Neuhaus bei Schliersee durchs Josephstal bergauf. Vorläufig zogen wir auch die Skier am Tragriemen hinter uns her, denn eine steile, glatt gefahrene und -gefrorene Straße mit scharfen Kurven frißt die Kräfte zu sehr; man überwindet sie lieber mit Nagelschuhen! Um so schöner muß nachher die Abfahrt auf ihr sein. Wenigstens behauptete das mein über die Anfangsstadien des Skisports hinausgewachsener Hochtourist; und ich glaubte ihm natürlich. Wir Frauen haben trotz aller modernen Regungen noch immer viel Respekt vor männlichen Aussprüchen, und eine »blutige Anfängerin« tut außerdem am besten, blindlings den Worten eines Erfahrenen zu glauben. Das sagte der Hochtourist auch nicht ein-, sondern mehrmals.

Ich wanderte versonnen dahin, zögerte zuweilen an besonders schwierigen Stellen und war von Herzen dankbar, daß sie durch Geländer versichert seien. Nicht gerade für mich – aber mancher Unfähige konnte an diesen unbehaglichen Kurven doch leicht Schaden nehmen! An anderen Biegungen beschloß ich, den sich etwas unverschämt in den Weg drängenden Granitfelsen mit graziöser Schlängelung auszuweichen – kurzum, der Wald, der mit uns bis zum Spitzing-Sattel emporstieg, und ich, wir wurden recht gute Freunde, und ich empfand wieder einmal tief, daß es mir gegeben ist, schnell zu der mich umgebenden Natur ein Verhältnis zu finden.

»Gott sei Dank,« sagte der Hochtourist, als wir oben am zugefrorenen Spitzingsee eine kleine Rast machten, »daß die Alm oben bewirtschaftet ist! Der Proviant wiegt doch immer tüchtig – heute fühlt man den Rucksack kaum.« – Ich widersprach nicht, obgleich die Toilettesachen einer Frau immer etwas reichhaltiger sind, mag sie auch fast alle Ansprüche auf Luxus im Tal gelassen haben, und ich willigte ein, da es von nun an doch bedeutend steiler wurde, meinen Kleiderrock und mein Jackett mir noch in den Rucksack packen zu lassen. In Beinkleidern bewegt man sich bedeutend leichter, und warm genug würde es mir ohnehin schon werden!

Dies ist die einzige Prophezeiung, die eingetroffen ist! Sogar siedend heiß wurde mir, als ungefähr nach einer halben Stunde auf einem sehr schmalen, am steilen Hang entlang führenden Fußsteig der Schnee unter meinem linken Ski nachgab und ich nach meiner Meinung unaufhaltsam in die Tiefe kollerte. Ich schrie um Hilfe, ließ meinen Stock fahren, fiel immer tiefer in den Schnee, so daß ich weder wußte, wo meine Beine, noch wo meine Arme seien und musterte angstvoll die Bäume, um den zu entdecken, an dem ich zerschellen würde. Sie sahen alle gleich erwartungsvoll aus, und in meine Todesangst hinein sagte von oben die Stimme meines Hochtouristen:

»Erstens läßt man sich nicht hinunterkollern, sondern stemmt sofort den Stock vor den Skiern ein; zweitens haben Sie vergessen, sich quer zum Hang zu drehen, drittens – –«

Meine aufwallende Empörung gab mir die Kraft zum Sprechen zurück: gab man einem in Todesangst Schwebenden gute Lehren? Durfte noch von irgendwelchen Theorien die Rede sein, wenn höchste Gefahr im Verzuge war – schien es christlich oder auch nur menschlich denkbar, einem Verlorenen nicht beizuspringen –? – »Fällt mir gar nicht ein! Sie sind auch nicht in Todesgefahr: schauen Sie sich nur um, kaum zwei Meter sind Sie abgerutscht! Und das erste Prinzip beim Skifahren ist: niemand zu helfen –«

Selten im Leben habe ich solch eine Verachtung für einen Menschen empfunden. Er und seine Worte waren Luft für mich! Entgegen allen Lehren, sogar denen, die ich mir schon angeeignet hatte, krabbelte ich nach eigenem Ermessen, das natürlich bedeutend mehr anstrengte und mehr Zeit in Anspruch nahm, auf den Weg zurück.

Mein Hochtourist ignorierte mein Schweigen; mit der Beredsamkeit, die auch dem ruhigsten Sportsmann eigen ist, sobald er auf sein Gebiet kommt, schilderte er mir die zahllosen Möglichkeiten und Errettungen bei einem Absturz, illustriert durch mehr und minder passende Beispiele. An mir prallte alles ab; wie die andern sich retteten, mit welcher Umsicht, mit wieviel Energie, das galt mir nichts mehr. Mein Unfall hatte mir jedenfalls gestattet, einen Einblick in das alpine Herz meines Begleiters zu tun – und ich fand es stark verroht! Wenn der Sport dazu dienen soll –!

»Nun kommt die erste größere Abfahrt im Gelände,« ordentlich begeistert klang seine Stimme, »nun sollen Sie mal beweisen, was Sie gelernt haben!«

Ich –? Nichts! Ich würde es nicht können, ich bekam Platzfurcht, die Tannen mit ihren schneebedeckten Zweigen drehten sich vor mir, der Himmel verwandelte sein Kobaltblau in ein giftiges Grün – – –

»Wenn's ›Übungshügel‹ hieße, nachher wären Sie schon drunten! Und gar, wenn der Herr Lehrer dabei wäre oder die andern Anfänger –! Nur weil's eben 'was Neues ist, sind Sie feige –« – Mein Gott, war ich das wirklich?! Ich maß die Höhe ab, sie war geringer als all meine letzten Probiergegenden, ich sah auf meine Skier, ich biß die Zähne aufeinander und lehnte mich vornüber – – es ging nicht.

»Also nachher fahren S' da in die Wiesen 'nein und dann auf mich zu, im Bogen! Aber nicht nach links, denn da ist ein tiefes Loch – – –«

Ich fuhr geschwind und mit aller Gewalt in das tiefe Loch.

»Das haben Sie ja nur gewollt«, sagte ich zu meinem Hochtouristen. Und dann fuhren wir als Todfeinde in ziemlicher Entfernung voneinander zur Fürstalm hinunter.

Aber gemeinsames Leid, vor allem gemeinsames Schimpfen verbindet ungeheuer; es gab keinen Bissen Brot mehr in der Fürstalm, die Sonntagsgäste hatten alles verzehrt, und was noch übrig gewesen war, eine Abteilung Soldaten, die von ihren Offizieren im Sport unterrichtet wurden. Wir konnten froh sein, eine Tasse dünnen Kaffees und ein paar gesottene Eier zu bekommen – dafür saßen wir draußen in der schönsten strahlenden Sonne. Vor uns lag der Berg, den wir uns ausersehen hatten: der Stümpfling.

»Nur noch dreiviertel Stunden – bis dahinauf zu seiner runden Kuppe?!« Nein, ich wollte nicht hinauf, ich wollte überhaupt nur abfahren und den Sport ein für allemal aufgeben. Mir machte er keinen Spaß, das hatte ich heute erfahren, immer nur fallen, abstürzen, sich ängstigen – – –

Bis ich meinen Kaffee getrunken hatte. Und die merkwürdig frischen Eier gegessen – Eier, wie sie in München nur noch in alten Märchen vorkommen. Aber so dicht vorm Ziel umkehren – das ist wirklich feige! Und was ich mir im Leben vorgenommen und angefangen habe, das führe ich immer durch. Ein Prinzip muß der Mensch doch haben.

Ich ließ mich nicht auf Erörterungen ein, ich sagte nur: »Ich gehe doch hinauf!« und schnallte meine Skier wieder an. Der Hochtourist lachte.

Wir trugen die Rucksäcke hinüber und deponierten sie im Schnee, um sie bei der Rückkunft wieder mitzunehmen. Und trotzdem ja meine Last kaum zu spüren sein sollte, konnte ich die dreiviertel Stunden überwinden, als seien mir Flügel gewachsen.

Der Stümpfling bietet eine ganz schöne Aussicht über die Schlierseer Berge, aber übermäßigen Genuß hatte ich nicht davon: Die Abfahrt – Herrgott, wenn nur die Abfahrt nicht gewesen wäre! – Bis zu den Rucksäcken ging's; sie leuchteten vertrauensvoll aus dem Schnee wie düstere, aber doch Anhaltspunkte gebende Sterne. Auch die für Anfänger so berühmte und gute Abfahrt bis zum Spitzingsattel wurde ohne besondere Katastrophen überwunden. Ein paarmal Kopfüberstürzen, mit dem Gesicht in den Schnee, oder bis an die Schultern einsinken – das sind nicht nennenswerte Kleinigkeiten! – Die Platzfurcht war merkwürdigerweise auch überwunden. Aber dann – die liebe Straße durch den Wald, mit den Kurven, die ich am Morgen schon sorgsam studiert habe – die hat's in sich! Und noch Stemmfahren, d. h. ein Bein im Winkel zum anderen stellen, wenn ohnehin die Kniee schon zittern, an dieser Kurve das Geländer zum Absturz, an jener ein vorspringender Granitfels zum Kopfzerschellen lockt, wenn der Schnee zum größten Teil vereist ist und man gerade, wenn man langsam fahren oder sogar bremsen möchte, in rasendste Geschwindigkeit gerät, das ist ein Kampf mit dem Objekt, zu dem schon gute Nerven und Ausdauer gehören. Ich sah ein, daß die Freundschaft für den Wald nur von meiner Seite aus empfunden wurde, und daß die Bäume, die Felsen, die Abhänge wie Feinde auf mich lauerten. Aber ich bin ihnen entkommen; zwar mit farbigen Merkmalen des Ringens am ganzen Körper, mit einem Teint, als hätte ich wochenlange Hochtouren hinter mir und dem Gefühl, als wäre der Ausdruck »mit heiler Haut« reichlich optimistisch gewählt. Trotzdem bin vorläufig doch ich der Sieger. Und den nächsten Berg, auf den ich mit Skiern steige, den habe ich mir schon ausgewählt!

Aus der Winterfrische.

Fast mehr noch als im Sommer wird dem zur Natur bekehrten Kulturmenschen plötzlich im Winter die Stadt mit ihren tausend Ansprüchen »z'wider«. Weihnachten und Silvester haben seinem Magen, seiner Börse und seinen Gefühlen den Rest gegeben, in jeder Hinsicht ist er übersättigt. Die letzten Krümel Marzipan, wie die mit Dankesworten kunstlos durchwebten Neujahrsbriefe bringen ihm einen bittern Geschmack auf die Zunge. Hinterher scheint es ihm, »daß es mal wieder nichts war«, wenigstens kein Jungbad der Freude, mehr ein Untertauchen im Fango – und seine Seele zieht aus, um einen reinen Sprudel zu suchen. Setze dich in die Bahn und fahre von München aus nach Süden, Ost oder West, das Gute, das Schöne, das Herzerquickende liegt so nahe, nur eines kleinen Ruckes der Energie bedarf es, um dir vorzustellen, daß der Fasching ebenso froh ohne dich sein wird, daß man auf Soupers und den berühmten – bequemen Nachmittagstees kaum nach dir fragen wird, daß Konzerte und Theater, die du dir ohne deine Gegenwart nicht vorstellen kannst, genau ihren guten oder peinlichen Verlauf ohne dich nehmen werden. Ach, lieber Gott! du ahnst nicht, wie überflüssig du bist, wie bedeutungslos deine Persönlichkeit – aber diese Erkenntnis, die dich daheim zuweilen heimlich grämt, so daß du beflissen bist, sie ängstlich vor dir selbst und anderen zu verstecken, hier draußen lächelst du über sie: hier bist du ja noch viel, viel weniger, ein Fleckchen, das die Sonne bescheint, ein Atom, das sich preisen muß, bescheiden in der Stille zu stehen und die Pracht nicht in ihrer Harmonie zu stören!

Einen weltabgelegenen Platz habe ich gefunden, an dem man nichts von der Eisenbahn hört noch sieht, vor dem sogar die altmodische Post auf ihren Schlittenkufen in einer knappen halben Stunde haltmacht. Im Schatten der entzückenden, von Meisterhand bemalten Wallfahrtskirehe von Birkenstein liegt das Haus, der Waldbach an seiner Seite murmelt leise in deinen Traum hinein. Der Nußhäher klopft mit starkem Schnabel ans Fenster und bittet um sein Frühstück, Buchfinken, Goldammer und zierliche Spechtarten durchzwitschern schon den Garten, der Zaunkönig lugt vorsichtig aus dem Buschwerk. Schlage deine Augen auf, trinke die Sonne ein, die durch die glitzernden Scheiben flimmert! – der Tag ist dein, dein die Welt, die Höhen, der Wald, die stillen Marterln am Wegrand, die stolze Majestät der makellosen Schneefelder! Schnell deinen Kaffee; der Raum ist erfüllt von jungen, gesunden Menschen, die mit Leib und Seele ihrem Sport huldigen, und bei deren frohem Anblick man sich sagt: »Gott sei Dank, noch ist Deutschland nicht verloren!« – Dann holst du dir deine Skier, prüfst mit geübtem Blick Bindung und Schrauben, trittst hinein, nimmst als einzige Last den Bambusstock sorglos unter den Arm, und nun fort, fort. Anfangs über glattgefrorene »Ziehwege«, von den schweren Holzschlitten mit ihrer nachschleppenden Last schön ausgefahren, dann seitwärts hinauf an einem Hang, der dich lockt, und immer weiter hinein in die verschneite Einsamkeit. Da oben liegt ein Gipfel, dessen weiche Konturen rosa überstrahlt sind, tapfer setzt sich ein Ski vor den andern in die Wunderwerke der kristallenen Decke, und ohne Atemnot, leicht und frei die kalte, köstliche Luft in die Lungen saugend, stehst du auf der Höhe, die Erde mit ihrer Herrlichkeit zu deinen Füßen. Unten im Tal wogt noch der Nebelkampf, in weißen Massen schiebt's sich an den Hängen entlang, nur blitzartig Dörfer, Kapellen, Wälder entschleiernd. Aber die Sonne lacht ob dieser Spielerei wie eine immer geduldige, nachsichtige Mutter, schrittweise, als wollte sie niemand wehtun, erobert sie sich das Feld – und plötzlich taucht wie neugeboren und unverhüllt das gewaltige Bild des Tales vor dir auf. Und du durftest wieder einmal dabei sein bei der Offenbarung vollendetster Schönheit – was kann dich noch treffen, dich niederdrücken mit einem Schatz solcher Freuden im Herzen?!

Nicht nur deinen Mut, deine Energie stählst du auf diesen stillen Fahrten in das wirkliche Märchenland, wahre Lebensfreude und -fähigkeit nimmst du mit fort als besten Teil! Und nun die Abfahrt. Lange Zeit hieß es: »Stemmfahren – stemmfahren – und nicht verzweifeln!« Endlich löste sich das Rätsel, und zwar nach Art der meisten Rätsel auf die einfachste Weise: alles Überlegen, alle Theorie erscheint überflüssig, hemmend – eben weil sie in Fleisch und Blut übergegangen ist, und jeder bildet sich ein, diese zu alpinen Touren absolut notwendige Technik sich allein angeeignet und allein erfunden zu haben. Der »Meister« hier ist längst an die Ketzerei der Flüggegewordenen gewöhnt, er lächelt nur darüber. Man selbst fühlt sich verwachsen mit den langen, schlanken Eschenhölzern, nach Belieben setzt man sich in Bewegung, schlängelt sich in Serpentinlinien kreuz und quer durch den Wald hinunter und überläßt sich an freien Hängen dem Hochgenuß eleganter Stemmbogen, bald den Stock je nach der Wendung rechts oder links einsetzend, bald ihn bei ebenerem Terrain unterm Arm haltend. »Wer Stemmbogen fahren kann, beherrscht die Welt« – mindestens die winterliche, alpine; und wer zuerst mal ohne Sturz einen Hügel »besiegt« hat, kommt sich wie ein kleiner Napoleon vor. Freilich, mehr Mühe, als die Götter sonst vor den Erfolg gesetzt haben, braucht man zur vollkommenen Aneignung dieses »Sports des Fallens«, wie ich ihn anfangs voll Wut selbst getauft habe. Aber kaum ein anderer löst dafür solch eine Befriedigung aus, da er den Genuß sonst verschlossener Freuden im Winter ermöglicht.

Wenn Neuschnee fällt und es unaufhörlich vom grauweißen, kaum erkennbaren Himmel niederrieselt, gibt's zur Abwechslung frohe Rodelpartien. Daß man als Skifahrer dies Vergnügen verachten soll, ist ein törichtes Märchen; so einmal gedankenlos, flachliegend, nur an den Kurven mechanisch das Gewicht verteilend, in rasender Fahrt bergab zu fliegen, das tut außerordentlich wohl, und beim mühseligen Bergaufziehen des Schlittens muß man sich stoisch damit trösten, daß dies eben der gesündere Teil sei! Eine »Seeschlange« haben wir gemacht und alle rodelnden Jungen – und wer rodelte hier nicht, wo man seine Besorgungen, seien es Briefmarken oder Milch, mit dem Schlitten absolviert! – mit ihren Rodeln an den unserigen gebunden und so in langer Kette zu ihrem und unserem höchsten Gaudium zu Tal gefahren: »A Hetz' war's«, wie sie versicherten. Die kleinsten Kinder fahren hier von Höhen herunter – die Hände in den Muffen oder Hosentaschen, gelinde mit den Hacken ihrer winzigen, nagelbeschlagenen Schuhen steuernd –, bei deren Anblick Stadtmüttern alle Haare, falsche wie echte, zu Berge stehen würden. Hier sieht niemand hin, wenn sich ein paar der geborenen Sportsleute übereinanderkugeln, aber es weint auch keiner bei einem noch so derben Puff.

Wir sind aber nicht nur ländlich: gestern hatten wir einen Ball, beim Kramerwirt. Mit einer Musikkapelle auf dem Podium, einem mit Tannengirlanden geputzten Saal, und Blumensträußen aus München, die sich am seidenen Brusttuch der Vronis und Zenzis nicht schlecht ausnahmen. »Geschuhplattelt is worden« – und mit eisernen Mienen fanden sich die Tänzerinnen zu den Armen ihrer stampfenden, mit den Händen klatschenden Partner zurück. Der Tanz ist hier etwas sehr Ernstes, Würdevolles – niemand lacht, niemand spricht ein Wort dabei. Aber ist die Tour beendet, die im Laufe des Abends immer kürzer wurde, so traktiert »er« »sie« mit einem Trunk. Ich gestehe, daß ich etwas Kopfschmerzen habe, trotzdem ich nicht ein Achtel von den Musikern geleistet habe, die sich schließlich als gänzlich unabhängige Menschen entpuppten und nach eigenem Behagen und eigenem Takt ihren Part erledigten.

Ja, hier ist Freiheit, Schönheit, Lebensfreude! Es leben die Berge – es lebe der Winter!

Das Talbein.

Als Konny Bendemann ihr Fenster öffnete, um in ihr enges Zimmerchen die ihr anempfohlene Bergluft hereinzulassen, fesselte sie ein merkwürdiger Anblick: die ganze Straße, so weit sie nur sehen konnte, durchwanderte ein Zug schweigsamer Menschen, deren Köpfe von je zwei langen Hölzern überragt wurden, so daß ihre Erscheinungen aufrecht gestellten Riesen-Hirschkäfern glichen. Ach ja, heute begann der berühmte Kurs des Schneeschuhlaufens unter der Leitung des noch berühmteren Skiapostels, von dessen Künsten, auch den erzieherischen, man sich Wunder erzählte. Behaupteten doch seine Anhänger, daß es für die nach seiner Methode Fahrenden keinerlei Schwierigkeiten mehr gäbe, und ebenso, daß auch der Feigste steile Hänge spielend auf- und absteigen könne. Der Feigste! Konny schlug in Gedanken an die eigene Brust.

Nur eine Bergpartie hatte sie im Leben gemacht, zum Wendelstein hinauf; aber da sie sich beim Abstieg während eines Gewitters ungeheuer kläglich benommen hatte, so hatten ihre Bekannten geschworen, sie nie wieder mitzunehmen. Doch im Winter, wo auch Gewitter seltene Erscheinungen waren, da mußte es ganz herrlich sein, über den Schnee durch bereifte Wälder zu eilen und dann von oben abwärts zu sausen – z. B. von der Alpspitz drüben! Sie hatte ungefähr eine Vorstellung davon, als würde man über deren scharf abgeschrägten Rücken entlang geradenwegs zu Tal fahren können. Melancholischen Blickes verfolgte sie den Zug weiter: ja, wenn man nicht so allein wäre – wenn irgend jemand ihr zugeredet hätte – –.

Da rief eine übermütige Stimme zu ihr hinauf: »Geschwind, Fräulein! Sie werden ja sonst die Letzte – man immer vorwärts!«

Natürlich ein Norddeutscher: die hatten für ihre Ebenen ja auch diesen Sport besonders nötig, und bemerkbar machen mußten sie sich auch – wie immer! Dennoch freute sie der Gruß; und daß man als selbstverständlich annahm, auch sie würde sich beteiligen. – – Und weshalb denn nicht? Diese Menschen da, die noch immer paarweise an ihr vorüberzogen, kannten sich doch auch nicht alle, nur der Wunsch, dasselbe zu lernen, verknüpfte sie. Also – –. Und trug sie nicht auch Wickelgamaschen und Nagelschuhe und Mütze und Schleier zum fußfreien Kostüm?! Was fehlte, das waren die Skier – sollte an solcher Kleinigkeit das Unternehmen scheitern?

»Ich komme nicht zu Tisch«, rief sie im Vorbeilaufen ihrer Wirtin zu. Und eh' noch die Frau Deixlmair Protest einlegen konnte, weil nun doch das schöne »Ohchsenfleisch«, das vorher die köstliche Rindssuppe lieferte, umsonst gekauft worden sei, war sie bereits über die drei Steinstufen hinuntergesprungen und beim Nachbar, dem Herrn Ludl, in den Laden gestürzt. Und da besagter Herr Ludl »überhaupts und ohnehihn« dem »Kumité« angehörte und ungefähr tat, als sei er mit Skiern auf die Welt gekommen, so machte das Aussuchen eines passenden Paares keinerlei Schwierigkeiten, und sie nachträglich anmelden, das konnte er schon übernehmen – er durft's schon wagen!

Atemlos vom Laufen und dem ungewohnten und daher unbequemen Tragen der langen Schuhe kam sie als Letzte in der Ebene an, die im engern Kreise von niedrigen Hügeln umgeben war, und die sich der Herr Doktor daher als Übungsgelände ersehen hatte. Er selbst nahm jetzt einen etwas erhöhten Standpunkt ein und erläuterte seinen Zuhörern Zweck und Art des Sports und den richtigen Gebrauch und die Ausnutzung des Geräts. Alle schienen im Bann seiner Ausführungen zu stehen und sie absolut zu begreifen – nur Konny bemerkte mit Schrecken, welch' ein Chaos in ihrem Gehirn entstand. Sie versuchte, sich an einige technische Ausdrücke anzuklammern, aber sie war nie stark im Behalten gewesen, – und da sie ihnen keinen Sinn unterlegen konnte, zerstäubten auch diese Wörter wie Schneeflocken in ihrem Auffassungsvermögen. Plötzlich gab der Herr Doktor ein Zeichen, dessen Sinn er wohl vorher besprochen haben mußte, denn nun begannen alle sofort mit emsigen Händen, sich die vor ihnen am Boden liegenden Skier anzuschnallen.

Auch Konny versuchte es. Doch ihr waren Glieder und Hände steif vor Kälte, von ihren Zehen hatte sie das deutliche Gefühl, sie seien aus Glas. Sie riß und zog an den Riemen und endlich stand sie hilflos auf den beiden schmalen Brettern da. Inzwischen hatte sich das Unglaubliche vollzogen: während sie noch mühsam nach Balance suchte, krabbelte schon eine Unzahl von Menschen den Abhang hinauf, dem Doktor folgend, der sie in langen, flachen Serpentinlinien aufwärtsführte. Da hinauf sollte sie auch –? Die Vorstellung war so überwältigend, daß sie sich erst mal rückwärts in den Schnee und zugleich auf die Kante der Skier setzte. Das tat weh, und im Gefühl gänzlicher Machtlosigkeit blieb sie liegen.

Da erscholl aus den Lüften eine Stimme, mahnend – aufmunternd – ratend – und Konny blickte sich um, wem wohl diese sich immer noch steigernde Teilnahme gelten mochte.

»Na, Sie da unten, Fräulein, wollen's denn anfrieren?«

Gelächter von nah und fern und dann dicht an ihrem Ohr eine flehende Bitte: »Stehen Sie doch endlich auf – ich helfe Ihnen – er denkt ja sonst, es ist Eigensinn, daß Sie sich nicht rühren – –.«

Ach Gott, ihr galt diese versuchte Beeinflussung von oben? Aber aus Eigensinn, nein wahrhaftig, saß sie hier nicht.

Mühsam rappelte sie sich empor, brachte die Spitzen der Skier übereinander und wäre wieder gefallen, wenn die Hand ihres Nachbars sie nicht gestützt hätte.

»Lassen Sie die Dame nur gleich das Wenden üben,« erscholl von neuem die Stimme, »und nehmen Sie sich ihrer etwas an, Herr Architekt, wir gehen inzwischen weiter.«

»Was soll ich?« fragte Konny verzagt. »Wenden? Aber ich habe ja keine Ahnung.«

»Der Herr Doktor hat's aber doch erklärt! Also sehen Sie mir einmal zu.«

Diese gewaltsame, ungeheuer schwungvolle Bewegung sollte sie nachmachen?

»Versuchen Sie's doch wenigstens mal!«

Jetzt endlich sah sie ihrem Helfer ins Gesicht – bis dahin hatte sich ihre Aufmerksamkeit nur auf seine Beine konzentriert – und sie entdeckte, daß der Architekt derselbe Herr sei, dessen Zuruf am Morgen sie zu dieser Tollkühnheit verlockt hatte. Dann mußte er auch einen Teil der Verantwortung tragen.

Halblaut fragte sie: »Er ist ja schon so weit fort – er merkt es am Ende gar nicht, wenn ich nicht übe.«

Der Architekt lachte und antwortete herzlos: »Er sieht alles, Fräulein!«

Und wirklich erscholl es in diesem Augenblick aus den Lüften: »Nun, die beiden dort unten – wollen sich die denn gar nicht hinaufbemühen?«

»Bitte, bitte, einmal versuchen«, drängte der Architekt.

Und Konny, die es einsah, daß es hier kein Schummeln gäbe, schleuderte mit letzter Energie ihr rechtes Bein in die Luft, sah ihren gefesselten Fuß mitsamt dem senkrecht stehenden Skier unstät hin- und herschwanken, fühlte sich in zwei gleiche Portionen gerissen – und ließ sich auf die Seite fallen.

»Aber, aber,« meinte der Architekt, »das war ja alles verkehrt! Und da wir doch bergauf wollen, hätten Sie das obere Bein nehmen müssen, um gleich an Steigung zu gewinnen – und nicht das Talbein!«

Konny sah resigniert auf ihre beiden, unter ihr gekreuzten Beine. Sie hätte im Moment gewiß nicht angeben können, welches ihr rechtes oder welches ihr linkes sei – und nun sollte sie sogar den Unterschied zwischen Tal- und Bergbein wissen?!

Still begann sie sich zu entknäueln, stand endlich wieder aufrecht da und sagte zum Architekten: »Ich will es jetzt allein lernen, ohne Theorie. Sie stören mich nur – gehen Sie nur voran.«

Langsam und vorsichtig, dennoch von unendlichen Stürzen unterbrochen, begann sie dann bergan zu klimmen – er in mäßiger Entfernung vor ihr.

Plötzlich kam er zurück: »Darf ich mir eine Bemerkung erlauben?«

Und ohne ihre Einwilligung abzuwarten, sagte er: »Ihr Rock ist viel zu lang, der geniert Sie. Ziehen Sie ihn aus, ich nehme ihn in meinen Rucksack.«

Wenn's nur das sein sollte, was sie hinderte!

Sie zögerte eine Sekunde, dann zog sie mit seiner Hilfe den Rock aus, und zwar über den Kopf, da es über die Skier doch nicht gegangen wäre. Ganz heiß waren sie beide von der mühsamen Arbeit auf dem Hang und Konnys Unsicherheit geworden.

Dann stand sie in neumodischen Beinkleidern, aus demselben Stoff wie ihr Kleid, vor ihm; um die Hüften herum bildeten sie Tüten, an den Knien schlossen sie sich dagegen sehr eng, und er, dem ihre zarte Figur vorher so gut gefallen hatte, mußte ein Lächeln unterdrücken: etwas Rundes und Komplettes hatte sie angenommen und fast bereute er seinen guten Rat. Denn mit oder ohne Rock – viel Talent zum Sport schien sie nicht zu besitzen.

Endlich, nach mehreren Stunden, erreichten sie die übrige Gesellschaft, die sich auf einem Schneefeld zum Frühstück gelagert hatte und schon wieder im Aufbruch war. Mit lautem Halloh wurden sie beide begrüßt. Der Doktor eilte auf Konny zu und fragte, wie es denn gegangen sei. Und sie, im Bestreben, nicht gar so dumm zu erscheinen, besann sich auf die vorhin verworfene Theorie und antwortete fröhlich und gänzlich ahnungslos über den Sinn der Bezeichnungen: »Danke – mit dem Bergbein gut, mit dem Talbein schlecht!«

In das Gelächter ringsum stimmte sie harmlos mit ein – nur daß sie einen guten Witz gemacht haben sollte, begriff sie nicht. Nach ihrer Meinung blieb ein- für allemal das rechte das Talbein, weil der Architekt es beim ersten Wenden so genannt hatte. – Darauf, daß man so perfide sein könne, die Bezeichnung je nach der Richtung zum Berg zu wechseln, kam sie gar nicht.

Daß sie Humor verstände, schien allen, auch dem Doktor, eine ausgemachte Sache zu sein, und darauf bauend, gab er einem seiner Begleiter einen Auftrag.

Konny frühstückte inzwischen geschwind von den guten Sachen aus des Architekten Rucksack; sie selbst war ja mit nichts versehen und fand es schon fast selbstverständlich, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Unten im Tal schied man endlich am späten Nachmittag in vollster Harmonie. Am Abend wollte der Doktor in einem einfachen Wirtshaus einen theoretischen Vortrag halten, und wenn Konny auch im voraus sicher war, wieder kaum etwas zu verstehen, so freute sie sich doch herzlichst auf das Zusammensein mit all den frischen, jungen Menschen. Hatte sie bisher als einzige Unterhaltung doch nur ihre Wirtin gehabt, deren ausgeprägten Dialekt sie überhaupt nur in besonders glücklichen Momenten verstand – aber seit heute war ihr, als trete sie auch in ein besseres Verhältnis zur Natur; nichts mehr schien ihr fremd oder überwältigend, wie im Anfang, an dieser Hochgebirgsszenerie, und wie sie so zurückwanderte, den geschmähten Rock über der Schulter hängend, kam es ihr vor, als habe sie eigentlich ein neues Leben begonnen. Der Sport mußte doch von allgewaltiger Macht sein!

Am Abend, neben dem Architekten sitzend, hörte sie gespannt zu. Und da ihr Humor nun einmal fest anerkannt worden war, lachte er ungeniert über ihre leisen Bemerkungen, die sie in den Vortrag des Doktors einstreute, während Konny ein paarmal dachte, daß es, nach dem sinnlosen Lachen ihres Nachbars zu urteilen, in seinem Hirn nicht ganz richtig sein müsse.

Dann wurden Lichtbilder angekündigt. Der Doktor wandte sich verbindlich lächelnd an Konny, als wolle er ihre Zustimmung einholen – oder auch ihre Verzeihung – wies auf die weiße Leinwand und sagte unter lautem Gelächter ringsum: »Das Talbein«.

Konny lachte mit. Auf der Leinwand stand sie selbst, hilflos und schwankend, in einer wenig vorteilhaften Kleidung: einem oben zu weiten und unten zu engen Beinkleid. Sachlich konstatierte der Doktor die Fehler ihrer Haltung, der Fußstellung, der Handhabung ihres Stockes – und bewies auf allen folgenden Bildern, die immer nur wieder sie zeigten, daß sie ein vollkommen typischer Fall des Anfängertums sei. Darnach schien es ihr ja wirklich, als habe sie mit besonderem Instinkt alles und jedes verkehrt gemacht!

Ja, sie lachte fröhlich mit bei jedem Konterfei; und nur dem Architekten kam es ein paarmal vor, als zittere sie leicht. Aber sie mochte wohl übermüdet sein.

Wirklich erhob sie sich nach schicklicher Pause, als der Vortrag beendet war, und verabschiedete sich. Energisch lehnte sie die Begleitung des Architekten ab, doch er gab es nicht zu, daß sie den weiten Weg durchs Dorf allein machte. Zum Sprechen unterwegs aber konnte er sie nicht bewegen – was fehlte ihr nur?

Erst auf der obersten der drei Steinstufen schien sie wieder Atem zu bekommen.

»Haben Sie Dank, Herr Architekt,« sagte sie mit merkwürdig ruhiger Stimme, »Sie haben mir eine gute Lehre gegeben! Durch Sie bin ich veranlaßt worden, am Kurs teilzunehmen – durch Sie, meinen Rock abzulegen – und ich irre mich wohl nicht, wenn ich Ihnen auch das hinterlistige Photographieren verdanke.«

»Aber ich schwöre ...«, fiel er ein.

»Ach was,« entgegnete sie hastig, »schwören! Nachdem man falsch und verräterisch und – und – schadenfroh gewesen ist! Sie haben ja gewußt, daß ich auch nicht das geringste von allem verstanden habe – weder vom Bergbein noch vom Talbein – und dennoch haben Sie sich über mich lustig gemacht! Pfui!«

Er starrte noch immer Frau Deixlmairs tannene Tür an, als sie schon längst hinter ihr verschwunden war. Ein merkwürdiges Mädel, diese Pfälzerin! Eigentlich dumm oder doch begriffsstutzig – und wieder klug genug, um das einzusehen und noch mehr: um es sogar zuzugeben! Welche Frau tat das wohl sonst?! Gewiß nicht viele. Er pfiff zwischen den Zähnen und sah lange, lange die Tür an. Humor, wie sie alle gedacht hatten, besaß sie also nicht – und doch Taktgefühl, ungeheuer viel Taktgefühl. Eine andere, der plötzlich über sich selbst und ihre Leistungen so öffentlich ein Licht aufgesteckt worden wäre, hätte vielleicht eine Szene gemacht oder geheult – oder sonst irgend etwas. Diese da war sehr tapfer – das hatte sie eigentlich schon den ganzen Tag bewiesen, an dem sie sich so redlich mühte und nicht die geringste Hilfe durch Überlegungen gehabt hatte – schade! Denn nun würde sie natürlich nicht mehr wiederkommen! Schade! Der ganze Kurs war ihm verleidet.

Aber am andern Morgen stand sie tapfer wieder da, beim Treffpunkt. Und ihm nickte sie freundlich und harmlos zu.

»Donnerwetter,« dachte er wieder, »sie ist anders! Die meisten wären schmollend zu Hause sitzen geblieben oder hätten den Ärger benutzt, um sich zu drücken.«

Sie wurde auch keine Musterschülerin des Doktors. Aber menschlich gute Eigenschaften entdeckte der Architekt noch zahlreiche an ihr im Laufe des sechstägigen Kurses. Da fragte er sie zum Schluß, ob sie nicht auch weiterhin zusammen durchs Leben fahren wollten, sie seien so schön eingeübt. Womit er allerdings im stillen wohl meinte, daß sie an seine Hilfe beim Aufstehen gewöhnt sei. Ihre Kunst bestand eben – im Hinfallen.

Aber auch diesmal las sie seine Gedanken und antwortete fröhlich: »Gut! Wenn du mich bei schwierigen Fällen nie fragen willst, ob ich nun das Talbein oder das Bergbein nehmen muß –! Das könnte ich nämlich nie entscheiden: aber Vertrauen mußt du haben, daß ich es schließlich doch recht mache.«

Und das Vertrauen besaß er.

Die Erfindung.

Immer wenn Frau Ellen Mahder von ihrer Arbeit aufsah, was allerdings nur geschah, um die Augen ein wenig vom Mikroskop auszuruhen, bemerkte sie, daß sich der Kopf ihres Nachbarn tief über seine Hände beugte – nicht ein einziges Mal seit acht Tagen waren sich ihre Blicke begegnet. Aber diese scheinbare Unermüdlichkeit täuschte sie keinen Augenblick: ein so wenig ernsthafter Mensch, der wenigstens in ihrer Gegenwart noch kein vernünftiges Wort gesagt hatte, war nicht imstande, sich von seiner Aufgabe absorbieren zu lassen; sie mißtraute ihm und seinem wissenschaftlichen Eifer aufs höchste. Und ebenso ärgerte sie sich über sich selbst, daß sie an diesen »faden« Doktor Zerpfang einen Gedanken verschwendete – und kehrte sofort mit aller Inbrunst zu ihren botanischen Untersuchungen zurück. Sie mußte ja auch doppelt pflichtgetreu und genau sein, um ihre Zulassung in die dunklen Räume der alten Akademie, die unter anderen auch der botanischen Station Aufnahme gewährt hatte, zu rechtfertigen. Denn die Frage dieses »faden« Doktors, ob sie studiert oder wenigstens das Gymnasium absolviert habe, mußte sie verneinen; aber sie interessiere sich nun einmal stark für Chemie und Botanik, und sie hoffte, ihre mangelnde Vorbildung durch Lerneifer – –

Er hatte ernsthaft genickt und sie aussprechen lassen, trotzdem sie sich vor Verlegenheit ein wenig im Satzbau verwickelte. Als sie endlich fertig war, sagte er: »Na, da können S' mir am Ende gleich erklären, was das bedeutet: C, A – C, A, O

Unsicher und zweifelnd hatte sie erwidert: »C, A – C, A, O? – C vielleicht Kohlenstoff, A – Argentum, O Oxygenium –«

Ringsum war ein lautes Gelächter losgebrochen, so daß sie erschrocken mit der Zerlegung der chemischen Formel innehielt.

Mit heuchlerischem Ernst sagte der Doktor: »Ich würd's anders übersetzen: C, A – C, A, O – das ist Cacao.«

Sie brachte es zwar zuwege, über ihren Reinfall zu lachen, aber ganz vergeben konnte sie nach Frauenart dem Doktor diese Niederlage doch nicht. Und er mußte wohl ihre stille Abneigung fühlen, denn er begrüßte sie des Morgens nur mit stummer Verbeugung und verließ mittags den Saal erst nach ihr.

Als heute die Präparate für die kommende Woche verteilt wurden, sagte sie: »Ich danke, ich gehe auf ein paar Tage ins Gebirge.« Und auf den etwas erstaunten Blick des Professors setzte sie hinzu: »Ich bin überarbeitet – ich brauche eine Luftveränderung.«

Ihr Ton klang gereizt. Konnte man sich nicht vorstellen, daß es für ihre Arbeit nur vorteilhaft sei, wenn sie mit frischen Kräften an sie hinanginge?

»Man« lächelte unmerklich und gab ihr den väterlichen Rat, sich nur nicht durch irgendeinen dummen Sport noch mehr herunterzubringen oder sich gar eine Herzschwäche zu holen, die bei der jetzigen Unvernunft und Übertreibung an der Tagesordnung sei. »Man« redete ihr zu, lange zu schlafen, kräftig zu essen und ein wenig in der Sonne zu sitzen.

Sie setzte sich wieder auf ihren Platz, aber sie arbeitete nicht mehr.

»Geben S' nach – bleiben S' da?« fragte eine Stimme neben ihr.

Sie schüttelte den Kopf, ehe sie sich noch Rechenschaft darüber gab, wer zu ihr spräche: ah, der »fade« Doktor! Mochte er sich ebenso über sie lustig machen wie die andern. Aber vorläufig sagte er gar nichts, sondern sann vor sich hin. Und dann bat er hastig und scheu: »Mögen S' meine Erfindung anschauen, an der ich gebastelt habe alle Tag'?«

Mein Gott, augenblicklich lag ihr die ganze Arbeit hier so fern! »Gestohlen werden kann sie mir«, hätte sie am liebsten gesagt. Doch zwang sie sich zu einem Lächeln und entgegnete: »Gewiß – gern!«

Er führte sie an seinen Arbeitstisch, schob Bücher und Hefte beiseite und zog ein paar merkwürdige Eisenklammern hervor, deren Teile mit gewachstem Bindfaden verbunden waren. Triumphierend hielt er sie ihr hin.

Ratlos stand sie da und sah auf die Dinger. Sein Preisrätsel »Cacao« fiel ihr ein, und sie hütete sich wohl, irgend etwas zu äußern, was auch diesmal ihre völlige Unkenntnis verraten hätte. Infolgedessen konnte sie überhaupt nichts sagen – denn kein Lichtstrahl machte ihr klar, was diese Erfindung bedeute.

Er aber, mit dem blinden Entzücken aller Erfinder über ihr Produkt, sagte voll Begeisterung: »Das Ei des Kolumbus, nicht wahr? So einfach, so handlich, billig herzustellen, leicht zu transportieren – sehen S': in dem Tascherl da! – praktisch – und von einem Erfolg!! Na, den garantier' ich Ihnen! Eine großartige Erfindung, gelt? So was kann eben nur einer, der die Praxis kennt, der 's ausprobiert hat – der sich nicht abschrecken läßt von scheinbaren Schwierigkeiten! Und ich sag' Ihnen: immer simpler ist es worden, geradezu dahingeschmolzen in meine Händ' – und das werden S' zugeben müssen: von einer klassischen Einfachheit ist's worden – kein Hakerl z'viel, kein' Wirtschaft, kein Durcheinand' – höchste Einfachheit, gepaart mit größter Solidität und Sicherheit –.« Das letzte sagte er hochdeutsch, es klang wie eine Notiz aus einer Anpreisung. – Ihr wurde heiß und kalt und wieder heiß: wenn er um Gottes willen nur nicht fragen würde –! Sie hatte ja keine Ahnung, zu was die Dinger waren, die er nun mit einem »Schnapp« zuklappen ließ und wieder öffnete, obgleich ihr Geist sich an jedes Instrument klammerte, das ihr je in diesem Saal vor Augen gekommen war. Schlicht – ja, das konnte sie zugeben, das war dieser Apparat, fast primitiv in seiner äußeren Gestaltung und beinah roh in seinem Material. Aber sein innerer Wert mochte deshalb eminent sein, seine Hilfe für die Wissenschaft von unberechenbaren Folgen – wenn sie nur geahnt – wenn die unscheinbaren Dinger ihr nur einen einzigen Anhaltspunkt gewährt hätten! Hilflos starrte sie vor sich nieder und brachte endlich ein »Sehr hübsch – sehr praktisch« über die Lippen.

»Gelt?« fragte er zutraulich. »Das is was! Ja, so werden Meisterwerke geboren – so nebenher, so zufällig! Erst ist der Gedanke in mir gereift, dann habe ich mich mit ihm herumgeschlagen, denn eigentlich hab' ich nicht recht heranwollen, weil solch eine Idee doch immer etwas ablenkt – aber schließlich: das Erfindungsfieber ist über mich kommen, und kein' Ruh' nicht hab' ich gehabt, bis 's nicht da fertig vor mir gelegen ist am Tisch!«

Zwar hörte sie heraus, daß er sich ein wenig selbst persiflierte, aber stolz war er darum doch. Und konnte es ja auch sein: eine Erfindung machen, die Wissenschaft bereichern, das ist immer etwas Großes, fast Heiliges. So sagte sie denn auf gut Glück hin: »Die Zeit dürfen Sie doch nicht als verloren betrachten – da Ihnen die Erfindung gelungen ist, hat sich doch die sogenannte Untreue gegen Ihre Arbeit reichlich gelohnt.«

Er lachte. »Sogenannte« – ist gut! Sie haben eine famose Art zu trösten, Frau Kollega! Ich hätte Sie gar nicht für so vorurteilsfrei gehalten.«

Auch das verstand sie wieder nicht ganz, aber sie war nur froh, daß er keine präzisere Antwort von ihr verlangte.

Als er nun vorschlug, für heute die Arbeit aufzugeben und gemeinsam zu speisen, willigte sie gern ein. Gewöhnlich aß sie mittags in einer Pension mit streng modern denkenden und gekleideten Malerinnen; und sie, die noch so wenig leistete und in ihrer Arbeit ja auch kaum je eine Eigenart entwickeln konnte, saß recht gedrückt und bescheiden zwischen diesen selbstsichern Geschöpfen, die alle mit Bewußtsein auf dem richtigen Weg waren, wie sie sagten. Sie selbst sah nur ein stilles Eckchen vor sich, einen Tisch in einem Saal, an dem sie unbeachtet bis an ihr Lebensende sitzen, bestimmen, zeichnen, höchstens einmal etwas würde schreiben dürfen. Da durfte sie sich allerdings nie mit diesen Künstlerinnen in einem Atem nennen, die Ruhm und Erfolg in die Höhe tragen würden!

Neben des Doktors gutmütiger Art verlor sie ihre Scheu, ja, sie verriet ihm sogar von den Zweifeln an sich, die sich täglich am Mittagstisch erneuerten. Er lachte sie aus und sagte ein paarmal: »Da – schauen S' mich an! Bin ich hoffärtiger worden – oder gar stolzer?! Und bin doch ein großer Erfinder! Gelt, das bestellen S' Ihre Schwabinger Madeln von mir: je größer einer ist, um so bescheidener soll er sein.«

Er brachte sie nach Hause, und vor ihrer Tür sagte er plötzlich: »Wissen S', ich begleit' Sie morgen!«

Ja, das wäre nett! Zu zweien mußte es doch viel schöner sein, und so sicher war sie übrigens auch gar nicht auf ihren Skiern – in diesem Jahr war sie noch kaum hinausgekommen –.

»Um so besser«, entgegnete er etwas unverständlich. »Und da sprechen wir uns deutlich aus über meine Erfindung.«

Ach Gott, wenn er doch draußen nichts weiter wollte, als sich selbst bespiegeln und bewundern und von dem klassischen Stück Eisen reden, so sollte er nur lieber daheim bleiben! Etwas widerwillig nannte sie ihm Ziel und Abfahrtszeit, dann ging er fröhlich, mit richtiger Siegesmiene davon. Er schien doch schon auf dem besten Wege zur Hoffahrt zu sein!

Den ganzen Abend, während sich Frau Ellen Mahder die Skiausrüstung bereitlegte, die »Lauparstiefel« noch einmal einfettete, die Gamaschen fest aufrollte, um sie morgen tadellos binden zu können, und schließlich in den Rucksack zu allerlei appetitlichem Proviant den Zdarsky-Spirituskocher und den Seidenkragen, der sich zum Zelt gestalten ließ, eine andere Erfindung des Lilienfelder Skimeisters, zusammenpackte, plagte sie die Vorstellung von Doktor Zerpfangs Schöpfung. Ja, käme sie nur dahinter, ob er sie absichtlich hinhielte, sich vielleicht an ihrer Angst weidete – oder ob er sie wirklich für nicht so dumm hielte, als sie doch sein mußte! Diese letzteren Zweifel quälten sie besonders, und so verbrachte sie keine erquickende Nacht.

Er aber tat bei der Abfahrt gänzlich unbefangen. Seinen Schöpfer lobte er, der ihm den guten Einfall gegeben, gleich ihr dem dumpfen Saal zu entfliehen und in die Berge zu fahren. Den ganzen Weg vom Bahnhof in Schliersee, an Fischhausen vorbei und durchs Josephtal sang er und jubelte und konnte sich nicht genug tun, die Weiße des Schnees, die Bläue des Himmels – die wunderbare, in kristallene Reinheit getauchte Landschaft zu bewundern. So ein Tag – so ein leuchtender, jauchzender Tag! Ja, den brauchte man – da wurde man wieder gesund und froh, da fielen alle kleinen Erdennöte vom Herzen ab, so wie der stäubende Schnee vom schwankenden Ast. Und er schlug gegen die Bäume, daß es in lichten Wolken auf sie beide herniederrieselte: das Jungbad der Seele nannte er das. – Etwas schweigsam ging Ellen Mahder neben ihm her; sie kam sich selbst schwerfällig und »norddeutsch« vor, daß sie nicht aus vollem Herzen in sein Glück mit einstimmen konnte. Aber die Furcht vor seiner Erfindung fesselte ihr Zunge und Sinn – und ebenso die wachsende Erkenntnis seines Wesens: ein Kind war er, ein echtes, großes Kind wie alle Künstler, alle Genies. Hier, in der Sonne, in der belebenden, herben, köstlichen Luft, am größten gemessen, das es gibt: an freier Natur, offenbarte sich seine Ursprünglichkeit und Lauterkeit. Ein Erfinder – und doch so primitiv! Die Kompliziertheit ihres eignen Charakters wuchtete auf ihr.

Ehe es nun bergauf ging – sie wollten zur »Rotwand« hinauf – verlangte er, daß das Zelt aufgeschlagen und der Spirituskocher in Tätigkeit gesetzt würde. Ellen war noch gar nicht hungrig, aber sie gab nach: Launen eines großen Menschen soll man erfüllen, sie gehören zu ihm wie die Dornen zu den Rosen.

So hockten sie zu zweien, trotzdem sie beide groß waren, in dem winzigen Zelt nieder, kochten sich »einen Tee« und begannen sich von Herzen der Kameradschaft zu freuen. Früher, nein, da war diese Ungeniertheit zwischen zwei fremden Menschen und noch dazu zwischen Mann und Frau unmöglich gewesen – nur dem nivellierenden, von Vorurteilen befreienden Sport war das zu verdanken!

»Er soll leben«, sagte der Doktor mit dem letzten Schluck, und dann packten sie wieder zusammen.

Dabei kam eine Unruhe über den jungen Botaniker. Ein paarmal setzte er zum Sprechen an, endlich brachte er über die Lippen: »Wann's Ihnen recht ist, probieren wir sie nun aus, die Erfindung! Weil's ohnehin bergan geht!«

Hier – die Erfindung! Im Freien, im Schnee – auf einer Skitour! Mein Gott, er konnte doch nicht plötzlich geistig verwirrt sein. – Unmerklich trat sie einige Schritte von ihm zurück. Er kniete im Schnee hin und bastelte an ihren Skiern herum. Sie spähte inzwischen ringsum: sollte sie fortlaufen, um Hilfe rufen – ihre Angst wuchs ins Ungeheure! Eine einzelne Frau allein mit einem Mann, nein, es war doch nichts, sie verwünschte im Moment die eben noch gepriesene Kameradschaft: die Alten hatten recht, die vor ihr warnten, die ihr keine Existenzberechtigung gewährten – –

Da war er schon fertig und erhob sich mit einem scheuen Lächeln um den Mund, mit einem Rot stolzer Verlegenheit auf der Stirn.

»Da sehen S'! Ein Griff – klapp! Fertig is'! Und nun probieren Sie 's aus – Sie sollen die Erste sein – wie mich das glücklich macht!«

Die Skier lagen vor ihr, und dicht vor der Bindung waren sie umklammert – von der neuen Erfindung! Zutraulich erklärte er ihr, woran der Vorteil vor den kostspieligen, mühsam anzulegenden Fellen läge und daß, wenigstens für kürzere Touren, der gewachste Bindfaden dieselben Dienste leisten könne. – –

Er begriff gar nicht, warum sie nicht in seine Freude mit einstimmte. Sie hatte die Farbe gewechselt und sich an einen Baum gelehnt: ihre Enttäuschung, ihre Empörung – der Zorn gegen ihn, gegen sich selbst nahm ihr Atem und Besinnung. Also doch – also doch! Leichtsinnig, oberflächlich, unzuverlässig! Nicht an einer ernsten Erfindung hatte er all die Wochen intensiv gearbeitet, für diesen Unfug, diese Überflüssigkeit – dieses Nichts hatte er Zeit und Kraft geopfert! Und seine Kindlichkeit war kein Beweis seiner Genialität, sie war nichts als der Ausfluß seines unreifen, törichten Wesens.

Aber das Ärgste war und blieb, daß sie sich hatte düpieren lassen!

Mechanisch setzte sie die Füße in die Skier, ließ sie sich von ihm festschnallen und lief von ihm fort, so schnell es nur eben ging. Sie mußte allein sein, nachdenken, versuchen, ihre ungeheure Wut gegen ihn niederzukämpfen – ihn von ihrer schmerzenden Enttäuschung nichts merken lassen.

Die schwebende Enttäuschung blieb, als sie endlich die andern Gefühle besiegt hatte. Irgendwo in ihrem Herzen saß sie fest und ließ sich nicht vertreiben und sagte ihr wieder und immer wieder, daß auch dieser Mann nur einer wie alle sei, um kein Deut besser, um kein Lot wahrer – vielleicht, vielleicht auch so wankelmütig wie der andere, der sie nach kurzer Ehe verlassen und um dessentwillen sie einen Beruf gewählt hatte – um zu überwinden und zu vergessen. Längst überwunden war das alles; heute stiegen ihr dennoch bei der Erinnerung die Tränen in die Augen. Einer wie alle – alle wie der Eine!

Äußerlich wurde sie ruhig. Die gleichmäßige Bewegung bergan, die göttliche, kaum von einem Vogelschrei unterbrochene Ruhe, der stille Sonnenschein, der Wald und Schnee förmlich durchtränkte, die klare Luft – sie taten ihr Werk wie immer. Sie glätteten die hochgehenden Wogen ihrer Empfindung und zwangen sie, gerechter zu werden: war es seine Schuld, daß er sie enttäuschte? Hatte er sie über sich selbst im Unklaren gelassen? Nur sie, sie wollte mehr in ihm sehen; ihr genügte nicht der harmlose Mensch, der dennoch seinen Sport ernst nahm und ihm eine Verbesserung zur Ausführung wünschte – ein großer Erfinder, ein Genie hatte er sein sollen!

Wie schnell sie auf die Höhe gekommen war, und nicht ein bißchen atemlos oder erhitzt wie sonst beim gefürchteten Bergauf – alle Kraft gespart für die frohe, herrliche Abfahrt! Woran lag das nur –? Wahrhaftig: das mußte das Verdienst seiner Erfindung sein! Und darüber war sie so böse gewesen?! Lächelnd sah sie auf die »klassischen« Eisen hinunter: hatten nicht auch sie ihre Berechtigung?

Du lieber Gott, die großen Sachen waren ja schon fast alle erfunden – mußte es nicht auch Leute für die kleinen geben, denen man dankbar sein konnte für die angenehmen Erleichterungen des Lebens?

Als das Rotwandhaus mit seiner wehenden Flagge in Sicht kam, stand sie still. Nicht ein Wort hatte sie ihrem Begleiter auf dem ganzen Weg gegönnt – sie mußte es wieder gutmachen.

Aber als er sie erreichte, sagte er: »Famos sind Sie, Frau Kollega! Nicht geschwätzt beim Bergauf, das lernen die meisten Frauen nimmer!«

»Ich gebe das Lob zurück«, antwortete sie. »Und Ihre Erfindung ist großartig, Herr Doktor – ich gratuliere.«

Er warf die Mütze in die Luft und jauchzte.

»Famos sind Sie«, wiederholte er. »Nix geschmeichelt, nix schöngetan – 's Maul gehalten, Sie verzeihen! still ausprobiert, Erfahrung gesammelt – dann erst anerkannt, des nenn' ich gründlich! Ja, die Frauen von heuzutag' – des is was!«

Ellen Mahder fand es nicht an der Zeit, ihn aufzuklären, weshalb sie so lange geschwiegen. Einmal – es kam ihr vor, als würde es nicht mehr unerträglich lange bis dahin sein – wollte sie ihm die Wahrheit gestehen: ihre Enttäuschung über ihn – und ihr Zurückfinden. – Still und glücklich glitten sie nebeneinander her, bis sie das Haus mit der fröhlich wehenden Flagge erreicht hatten.

III.
»Sie« im Süden.

Osterspaziergänge in Latium.

I. Der Monte Soracte.

Die Gabe, Kunst ernsthaft zu studieren und zu genießen, ist recht verschieden bei uns armen Sterblichen verteilt; nirgends läßt sich diese Behauptung besser und einwandfreier beweisen als in Italien – und hier vor allem wieder in Rom. Florenz gestattet ein stilles, beschauliches Genießen, es gibt keine Entfernungen, man braucht fast immer nur von Haus zu Haus zu gehen. Rom bringt zu seiner kolossalen Ausdehnung und dem Übermaß seiner Sehenswürdigkeiten, die über sein ganzes Areal verstreut sind, noch die Unruhe und Hast der Großstadt – man ist immer auf der Eulenflucht, und hätte man auch lange Wochen zum Besuch der »Ewigen« vorgesehen. Darum hört man nicht selten – am häufigsten von unsern Landsleuten, die in 10-14 Tagen »alles« sehen möchten – den Stoßseufzer: »Gottlob, daß wir abreisen! Ich kann nicht mehr!«

Ich bemitleide diese Menschen nicht; ich bewundere sie. Denn ich hätte schon längst nicht mehr gekonnt! Für meine Aufnahmefähigkeit sind drei fleißige Museumsstunden schon ein gerüttelt Maß – darüber fort versagt sie vollständig. »Wie schade, nicht wahr, so viel Zeit zu verlieren – und womit füllen Sie sie dann aus?« – Ich gehe spazieren; ich laufe stundenlang durch die Campagna, ich suche zu Fuß all die kleinen Ortschaften auf, die wie leuchtende Punkte in der mächtigen Ebene verstreut liegen, ich klettere auf die Hügel- und Bergketten, die überall den Horizont in weiter Linie umsäumen, und ich entdecke, daß ihre Hänge mit Dörfern und Städtchen besetzt sind, grau und monoton, wie der Boden, aus dem sie emporwachsen, und doch ein jedes von ihnen stimmungsvoll – architektonisch schön – oder voll geschichtlicher Reminiszenzen, die ihre Patina auf verfallene Burgen und Paläste geworfen haben. Das ist meine geistige und körperliche Erholung, mein Schutz gegen allmähliches Abstumpfen angesichts Roms erdrückendem Reichtum: ein stunden- oder auch tagelanger Spaziergang und von Zeit zu Zeit ein weiterer Ausflug, der die überreizten Sinne ausruhen läßt und uns das herrliche Land trotzdem näher bringt, weil wir seine Natur lieben lernen.

Nördlich von Rom, mit fast geradem Rücken, in schwerem Massiv über die lieblichen Hügel dominierend, liegt der Monte Soracte. Wie lange schon zog er wieder und wieder meine Blicke und meine Sehnsucht auf sich – ein wenig wegen seiner schwermütigen Gestalt, ein wenig wegen seiner Höhe – etwa 700 m, aber direkt aus der Ebene aufsteigend, also doch eine bescheidene Bergpartie verheißend! – Hauptsächlich aber, weil man hoffen durfte, dort nicht vielen Menschen zu begegnen! Den Passanten raubt der Ausflug zu viel Zeit – ich bitte Sie, wenn man jede Statue in Rom gesehen haben will! – die andern sind wohl zu bequem. Denn trotz des himmlischen Frühlingstages – o Segen – sind und bleiben wir allein, mein lustiger Begleiter und ich! Und wie wir uns fühlen, einmal wieder mit dem leichten Gepäck für eine Nacht im Rucksack – fernab von Pensionen, Leuten mit Baedekern und der Gewißheit, abends beim Diner den Nachbar rechts und links und gegenüber seine Tageseindrücke nicht memorieren zu hören – nein, ein echter, rechter Ferientag ist es, ein Schuleschwänzen in ewigen Vakanzen! »Da kann ich Sie gleich auf Ihre Bedürfnislosigkeit prüfen«, meinte der Hochtourist. Denn es war unsere erste »Bergtour«, und der Hochtourist, dessen seherischer Blick meine bergsteigerischen Fähigkeiten erst wenige Tage vorher am Turm des Kapitols entdeckt hatte, konnte noch nicht ahnen, wie glänzend sie sich entwickeln würden.

Nur wir entsteigen in Stimigliano dem Coupé; nur wir zwei laufen querfeldein bis hinab zum »Bionde Tevere«, dem blonden Tiber, der hier so köstlich ländlich aussieht, so recht wie ein gemütlicher Bauernfluß, nicht ein bißchen, als trüge er später die Weltstadt auf seinen Ufern; und ganz primitiv, außer uns nur von ein paar Frauen und Kindern benutzt, ist auch die Fähre, die uns ans jenseitige Gestade befördert.

Die Sonne brennt heiß auf den noch brachliegenden Boden nieder, aber da bekanntlich die Götter vor jeden Erfolg den Schweiß gesetzt haben, so tragen wir frohen Muts und unverdrossen die göttliche Prüfung – sind wir doch des schönen Erfolges sicher!

Frühstücksstation: San Oreste. Weiten Rundblick gestattet es über die Sabiner- und die umbrischen Berge, aber »recht einladend«, wie es Gregorovius erschienen ist, der deshalb bedauert, es nicht besucht zu haben, ist es wirklich nicht. Ein Haufen eng aneinander gedrängter, unmalerischer Steinhäuser ohne die geringste Abwechslung oder Ausschmückung; und das Wirtshaus am Dorfeingang wohl noch genau so bescheiden wie zu den Zeiten jenes berühmten italienischen Spaziergängers. Aber das wenige, das man bekommt: Salami, Eier und Wein, so gut wie fast überall in den ländlichen Osterien. Die Befürchtung vieler Reisender, abseits der großen Heerstraßen »nichts« zu bekommen, ist wirklich überflüssig!

Und dann, nach kurzem Marsch, kommt ein Wald; ein schattenspendender, kühler Wald ernster Steineichen. Einmal mag der ganze Berg von ihnen bestanden gewesen sein – aber auch dieser Rest ist noch ehrfurchtgebietend genug – und so märchenhaft still – man wartet, ob nicht Böcklins Einhorn langsam zwischen den dunklen Stämmen hervortrabt.

Wenige Minuten unterhalb des Gipfels taucht das Kloster San Silvestro auf, genannt nach dem Papst Silvester, dem der Kaiser Konstantin »das ganze Abendland« schenkte – eine etwas unsichere Gabe! Und eine Zeitlang suchte Karlmann, Karl Martells kampflustiger Sohn, in diesen Mauern Ruhe – bis auch ihn die Menge der Besucher, die nach Rom pilgerten, verscheuchten – Gott sei Dank haben sie jetzt einen andern Weg gefunden!

Ganz oben auf dem Berge erhebt sich eine kleine Kapelle über einer schönen, alten Krypta, in der uns der alte Aufseher auf die Zelle des heiligen Silvester aufmerksam macht. Bedürfnislos genug mag er gewesen sein, Geschmack besaß er jedenfalls! Denn die Aussicht von diesem höchsten Punkt ist einfach superb: die ganze Campagna liegt zu unseren Füßen, dem Lauf des Tibers folgt man bis zu Roms Mauern, das Meer schimmert stahlblau in der Mittagssonne zu uns herüber, Bracciano und den gleichnamigen See glaubt man mit der Hand erreichen zu können – die weichen Linien der Albaner-, Sabiner- und umbrischen Berge umschließen das Bild nach Osten und Süden – kurzum, das Ganze ist so schön, so abwechselungsreich, daß man sich schwer losreißen kann. Aber die Schatten werden länger, eilig geht es auf der Westseite bergab durch Weinberge und Olivenhaine. Von der Haltestelle San Oreste aus benutzten wir die Bahn und erreichen im Abenddämmern, nach entzückender Fahrt, unser letztes Ziel: Cività Castellana. Die Stadt liegt auf einer Felsplatte, zu der sich die Bahn in hübschen Serpentinen hinaufwindet, immer neue Ausblicke in die merkwürdig tief einschneidenden Flußtäler gewährend. Die Treja und der Rio maggiore umströmen die Stadt von drei Seiten, d. h. wenn man so sagen darf: ihr Piedestal. Fast senkrecht, aber mit dichten Schlingpflanzen und Gebüsch romantisch geschmückt, steigen die Uferwände empor, eine natürliche Verteidigung bildend, wie man sie nicht besser, und vor allem, nicht schöner denken kann. Und aus diesem Grunde – der geschützten Lage wegen – wurde die Stadt immer wieder aufgebaut, trotzdem verschiedene Eroberer, zuletzt die Sarazenen, sie zerstört hatten. Aber der Fleck Erde ist auch zu verlockend – die Promenade um die alte Stadtmauer immer wieder überraschend an neuen Ausblicken. Freilich, im Hof der einst berühmten Zidatelle weiden nur noch ein paar Ochsen, nachdem das Gebäude jetzt nicht einmal mehr als Gefängnis benutzt wird. Die Zeit, wo hier mächtige Grafengeschlechter hausten und Päpste sich zum Sterben in das überaus pittoreske Städtchen zurückzogen, ist vorüber; nicht einmal mehr ein Räuberhauptmann, wie seinerzeit Gasparone, lebt in ihr. Ihr einziges, sehr sehenswertes Gebäude ist die Kathedrale Santa Maria mit romanischem Portal, gotischen Rundfenstern und Cosmatensäulen in der Vorhalle. Auf dem Platz vor der Kirche wurde abends ein Ständchen gebracht und am nächsten Morgen der Markt abgehalten, als wir auf einem mittelalterlichen Omnibus vorüberrumpelten, um uns nach Borghetto bringen zu lassen. Von der Bahnstation Cività Castellana, die anderthalb Stunden von der Stadt entfernt ist, benutzten wir die Bahn zur Heimfahrt nach Rom.

II. In den Sabinerbergen.

Wer hätte nicht von deutschem Besitz auf italienischem Boden gehört – von dem berühmten Eichenhain, der Serpentara, der einst von deutschen Künstlern vor dem Ausroden bewahrt und schließlich von ihnen mit gesammeltem Geld angekauft wurde?! Auch mich lockte dieses kleine »Deutschland«.

Ganz früh, im unaufgeräumten Wartesaal des römischen Bahnhofs, tranken wir unsere Schokolade. – Eine kurze Bahnfahrt bis Zagarolo – von hier mit dem Omnibus bis Genazzano. Vorn neben dem Kutscher erwischen wir noch Plätze; die Bauern hinter uns unter dem muffigen Verdeck des Wagens können nicht begreifen, daß wir die angebotenen Ehrensitze in ihrer Mitte verschmähen! Wir aber blicken über den mächtigen Federbusch eines auf Urlaub für die Festtage gehenden Bersagliere – der uns zu Füßen auf der Deichsel hockt, nach dem schönen Spruch: Besser schlecht gefahren als gut gegangen! – in das sonnengetränkte, köstliche Land hinaus. Nicht tot mehr scheint die Erde – duftend steigt es aus den braunen Schollen empor, in den Zweigen der Kastanien- und Ölbäume regt es sich leise, rötliche Augen zeigen sich an den Weinreben, die sich von Ulme zu Ulme ranken.

Und welch eine Volksmenge, je mehr wir uns der kleinen Stadt Genazzano nahen! Der Tag irgendeines Heiligen ist es, der zum Jahrmarkt benutzt wird – Frühaufsteher kommen uns schon mit ihren Einkäufen entgegen. Rechts und links am Stadttor hängen goldglänzende Kupfergeschirre an den Mauern; Bettladen, Wiegen und Truhen versetzen den Weg. Wir steigen aus und wandern durch den Ort, vorbei an einer Wallfahrtskapelle, die auch heute ihre Anziehungskraft beweist, vorbei am alten Palast der Colonna und den Überresten ihres Aquädukts, dessen von Efeu umsponnene Bogen malerische Rahmen für die Landschaft im Tal bilden. – Der Weg nach Olevano, nicht über die bequeme Landstraße, sondern quer durch die Felder, ist sehr schön; auf allen kleinen Anhöhen alte Klöster und Burgen, in weiterer Ferne Schneehäupter der Abruzzen und ringsumher ein Land, dessen historischen Reichtum man ahnt und fühlt. In der klaren Sonne ist es, als könnte man mit einem Schritt zu all den kleinen Ortschaften hinüber, die sich nur durch eckige Konturen vom Felsboden, dem sie entwachsen, unterscheiden.

Olevano liegt ebenfalls an einem Bergabhang und hat steile und schmutzige Straßen; aber überaus malerisch ist es: der Marktplatz mit seinem Brunnen, an dem die Esel getränkt werden, und zu dem im Abenddämmern prachtvolle Frauengestalten, die kupferne Conca (Krug) auf dem Kopfe, heranschreiten. Die Bewohner von Olevano haben überhaupt einen besondern, kräftigen und schönen Typ, und sind durch den Umgang mit liebenswürdigen Malersleuten zutraulich geworden.

Etwa eine halbe Stunde nördlich von Olevano, am Wege nach Bellagra, liegt die Serpentara, der deutsche Eichenhain, ein Künstlerhaus mit deutschem Namen am Eingang. Wie merkwürdig das ist: plötzlich auf deutschem Boden zu stehen! Die Namen der besten vaterländischen Künstler sind mit diesem Fleck Erde verknüpft, unsere größten »Landschafter« haben hier studiert und gelernt. Ein Felsblock trägt das Relief unsres Kaisers, neben der 1887 gepflanzten »Kaisereiche« – ein andrer das Viktor Scheffels, unter dem seine Worte prangen:

Hier im Zentrum des Gebirges
Lesen wir die alte Keilschrift,
Die der Haufe nie versteh'n mag,
Das Gesetz des Ewigschönen.

Einmal also, durch deutsche Künstler, haben wir im Lande unsrer ewigen Sehnsucht ein eignes, wenn auch bescheidenes Besitztum erreicht!

Am nächsten Morgen wanderten wir nach Bellagra, dem unheimlich schmutzigsten Ort, der mir in Italien begegnet ist und vielleicht durch diese Eigenschaft sehenswert, sonst nicht. Noch einmal steigen wir eine steile Anhöhe hinauf: nach Rocca San Stefano, dann geht es lange neben dem Anio, dem »immerkalten«, her, und ebenso lange liegt links vor uns auf einem Felsen, von einer Burg überragt, Subiaco. Die sechs Stunden von Olevano sind, ohne uns im geringsten zu ermüden, »vergangen«; das Land und die kleinen Orte, die wir durchschreiten, bieten so viel Reize und immer neue Abwechslung, daß man sich der Länge des Weges nicht bewußt wird.

Wer nun wirklich mit seiner Zeit geizen muß, lasse sich an dem äußern, reizvollen Eindruck Subiacos genügen und kehre eilig mit dem nächsten Zug über Tivoli nach Rom zurück. Vielleicht, um dort den Osterfeierlichkeiten in Sankt Peter beizuwohnen? Ach Gott, diese Enttäuschung ist ein Kapitel für sich! Ich feiere meine Ostern stets draußen, in irgendeinem kleinen Nest – weitab von den hastenden Touristen!

Denn um Subiaco recht zu würdigen, bedarf man der Ruhe. Die drei Klöster von Santa Scolastica, »die Wiege des Mönchtums im Abendlande«, sind so reich an Schätzen und historischen Erinnerungen, daß es schade und nutzlos um einen kurzen Besuch wäre. Zur Zeit der Goten in Italien, als das römische Reich sich auflöste, gründete der heilige Benedikt hier eine Zuflucht für weltmüde Menschen, während des ganzen Mittelalters stand es da, »ein einsamer Leuchtturm der Wissenschaft«, wie Gregorovius es nennt, und Deutsche, Arnold Pannartz und Konrad Schweinheim, druckten hier im Jahre 1465 das erste Buch in Italien, den Donatus, ehe sie in Rom, im Palazzo Massimi alle Colonne, die erste Buchdruckerei errichteten. Auch jetzt noch sind die Klöster überreich an Inkunabeln und alten Handschriften, trotzdem die Abtei mehrmals, z. B. von den Sarazenen wie von den Ungarn, zerstört worden ist. Aber die Macht des Klosters wurde durch Schenkungen reicher Barone immer wieder hergestellt, die Stadt Subiaco selbst geriet allerdings erst im Jahre 1068, als der Abt Johannes V. die Burg erbaute, in den Besitz des Ordens. Seit dieser Zeit rivalisierten die Benediktineräbte neben den Orsini und Colonna auch auf dem Kriegsfeld und waren leider wegen ihrer erbarmungslosen Justiz berühmt. Deshalb entzog Urban VI. im Jahre 1386 den Mönchen das Recht, den Abt selbst zu wählen, und setzte zum Teil dadurch ihrem Übermut eine Schranke. Dennoch empörte sich, fast hundert Jahre später, das Volk von Subiaco gegen die Mönche, die an fünfzehn jungen Leuten eine Art Lynchjustiz ausgeübt hatten, verwüsteten das Kloster und mordeten die Mönche. Auch in den ferneren Jahrhunderten spiegelt sich in der Geschichte dieser Abtei im kleinen das ewige Auf und Ab von Größe und Verfall wieder – und viel von dem steten Kampf zwischen geistlichen und weltlichen Würdenträgern!

Ein steiler Weg von fünfundzwanzig Minuten führt weiter aufwärts nach San Benedetto, einer aus Ober- und Unterbau bestehenden Kirche, in deren Garten der heilige Franz von Assisi die Dornen, in denen der heilige Benedikt sich wälzte, um sich gegen verführerische Vorstellungen zu schützen, in Rosen verwandelte. Noch jetzt ist der Garten von Rosenbüschen erfüllt. Die Grotte, in der Benedikt lebte, ist mit einer Statue des Heiligen aus der Schule Berninis geschmückt.

Frühlingsfahrten im Bereiche der italienischen Seen.

I. Locarno.

Eins wollen die seit undenklichen Zeiten an Italien-Sehnsucht krankenden Deutschen nie lernen: daß sie nämlich dieses Land, das wie kein anderes Sonne, Wärme und frisches Grün verlangt, stets viel zu früh aufsuchen und es gerade dann verlassen – wenn es erst anfängt schön zu werden! Den früher so viel beklagten Übelständen: schlechten Heizungsmöglichkeiten, Steinböden usw., ist zwar längst, wenigstens in den besseren, internationalen Hotels und Pensionen, abgeholfen; es gibt überall Zentralheizung, Parkettböden, mit Teppichen ausstaffierte Hallen und Lifts und Wintergärten, und der Deutsche findet es mit steinerner Stirn: »ebenso wie zu Hause« – aber natürlich, den echten, gemütlichen italienischen Albergos muß er aus dem Wege gehen, weil er eben in ihnen friert und sie deshalb für »unmöglich« hält. Das ist der zweite Nachteil seiner vorzeitigen Erscheinung jenseits der Alpen. Der erste, wie gesagt, die tote Natur. Eine nordische Landschaft kann durch schweren, bewölkten Himmel Ausdruck und Stimmung erhalten und malerisch wirken, die italienische wird ohne Sonne farb- und charakterlos. Und weshalb begnügt man sich mit ein paar warmen Mittagsstunden? – In der Hauptsache wohl, weil es diese auch zu Hause nicht gibt. Jetzt dehnt man sich schon morgens im Bett mit dem wohligen Gefühl, zu einem echten, rechten Sommertag erwacht zu sein; durch das weitoffene Fenster zieht laue Luft, durchsetzt vom wundervollen Duft der Glyzinien, deren schwere lila Trauben einen undurchdringlichen Baldachin über der Terrasse bilden. Man hat geschlafen, gewiß; aber bis in den Traum hinein hat man die Nachtigall gehört, die die Nacht durchschluchzte, und von der man ohne weiteres annimmt, daß sie poetisch genug war, ihr kleines Nest im Kamelienbaum aufzuschlagen; über und über bedeckt ist er mit leuchtenden, roten Blüten – und die Nachtigallenkinder werden ihr Leben lang vollauf zu tun haben, wenn sie auch nichts anderes lernen wollen, als ihn würdig zu besingen. Man lächelt vor sich hin, wenn man nun ans Fenster tritt und nach stillem Blick über den stahlblauen Spiegel des Sees die Wunder in der Nähe betrachtet: die Kletterrosen mit ihren Tausenden zartweißen, rosa oder gelben Knospen und Blumen, die prangenden Rhododendrons, die köstlich gefärbten und duftenden Azaleen, die alle in jeder Nacht an ihrer Vervollkommnung weiter arbeiten – aber mischte sich nicht in die langgezogenen Seufzer der Bülbül ein merkwürdig nüchterner Ton?! Man erinnert sich plötzlich: der Hahn war es, den die Kunst der grauen Sängerin nicht schlafen läßt, und der es in Locarno für nötig hält, noch vor Mitternacht die Menschheit an sein Dasein zu mahnen. Aber hier versteht man das; in diesem Zauberreich müssen die ältesten Gesetze ihre Kraft verlieren und aufgehoben werden. Die Natur befreit sich von allen Fesseln, und in ihrer unerhörten Verschwendung verleiht sie auch dem bescheidenen Haushahn die Gabe, über seine eigentliche Bestimmung hinaus zu krähen.

Drunten pfeift der erste Dampfer, deutlich kann man verfolgen, wie von allen Seiten Omnibusse heranrollen, etwas Gepäck verladen wird und einige Pärchen Hand in Hand den Weg, der zum Schiff hinüberführt, betreten. Der Dampfer gibt ein zweites, wehmütiges Signal: aber niemand kommt mehr. Schwerfällig legt er ab. Und der junge blonde Kontrolleur, der seit fünf Jahren täglich vom Morgen bis zum Abend die zwölf Dampfer seiner Linie kontrolliert, wird keine zu große Arbeit haben. Diese da, die letzten, allerletzten deutschen Hochzeitsreisenden haben richtige Billette, sitzen in der ihnen zukommenden Klasse, verlassen das Schiff ordnungsgemäß an der Isola bella, durcheilen Hand in Hand Schloß und Garten und stehen nach zwei Stunden Hand in Hand wieder bereit, um die Rückfahrt anzutreten. Nicht einen Schritt vom vorgeschriebenen Wege tun diese Leute – nichts sehen sie als die im Reisehandbuch verzeichneten Merkwürdigkeiten, und ohne Aufenthalt setzen sie ihre Tour fort: nach Lugano hinüber, oder gleich zurück über den Sankt Gotthard – und ahnen nicht, daß sie an den Hauptschönheiten vorübergegangen sind und sich ihnen nur eine Spalte des Allerheiligsten geöffnet hat! Nein, ich fahre nicht über den See; ich warte, bis auch die letzten Hochzeitsreisenden fort sind und sich die braven Italiener, die dann mit schwatzenden, lachenden Kindern Vor- und Hinterdeck in Beschlag nehmen, sich nicht mehr über die fabelhafte Ungeniertheit der Jungvermählten chokieren. Und abends kehre ich erst heim, wenn das Mondlicht ein glitzerndes Netz übers Wasser wirft und all die kleinen Uferstädte nur mehr durch die Perlenreihe der Lichter erkennbar sind und nach kurzem wieder in mystisches Dunkel zurücksinken. Jetzt wandere ich lieber die Höhen hinauf, in der tröstlichen Gewißheit, keiner Seele mehr zu begegnen, sobald ich den Stadtrayon verlassen habe. Am wilden Garten der Madonna del Sasso, die sich eher wie eine Festung als wie eine Kirche auf steilem Fels inmitten einer Schlucht erhebt, schlendere ich vorbei, über Orselina Brione und Contra bis zu dem entzückenden, weltvergessenen Mergoscia im Tal der Verzasca, die sich nicht genug tun kann an größeren und kleineren Fällen; oder zur anderen Seite nach dem malerischen Ascona, das noch seinen besonderen Reiz durch die Gruppe der »Naturmenschen« erhält, die sich auf der Höhe des Monte Verità in verlassenen Bauernhäuschen angesiedelt haben und ihren Individualismus durch vegetarische Kost, flatternde Haare, wenig Bekleidung und größte Saloppheit dartun. Ich nehme mir aber bestimmt vor, sobald es noch heißer wird, mich wenigstens »vegetarisch« zu frisieren und alle künstlichen Unterlagen fortzulassen. Ascona ist auf dem Land erbaut, das die Maggia angeschwemmt hat; in ihrem langen Tal ist wohl der schönste Punkt bei Ponte Brolla, wo der Bach durch schroffe Felsen bedrängt wird, und später bei Visletto. In Cevio mündet ein neues Tal ein, das Valle di Campo, von der klaren Rovana durchströmt, von dessen verschiedenen Ortschaften aus über zahlreiche Pässe leichte und etwas schwierige Touren sich nach Gefallen und Wanderlust ausführen lassen. Aber sieh, das Beste liegt so nah! Der köstliche Weg von Locarno nach Ronco, hoch überm See, mit stetem Blick auf seine Fläche und die anmutigen Inseln bei Brissago, führt durch schattenspendenden Wald; nicht durch immergrünen mit hartem, dauerhaftem Laub, sondern unter den zartgrünen Zweigen von Ulmen, Buchen und den lichten Schleiern der Birken hin. Und über allen Vorbergen, die im April noch so plump in ihrem farblosen Massiv dastehen, haben die Birken ebenfalls ihr beständig flimmerndes Grün geworfen; auf den höheren Gipfeln leuchtet noch der Schnee, von den Abhängen erstrahlen die Obstbäume in blendender Pracht, und die Weinreben strecken sich von Maulbeerbaum zu Maulbeerbaum grüne Blättchen auf verlangend wachsenden Armen entgegen. Ein reizender Winkel, verfallende, verlassene Bauernhäuschen, durch dichten Efeu zu malerischsten Ruinen umgewandelt, ist Fontana Martina, noch hinter Ronco gelegen und von Brissago aus über einen mörderisch steilen Pfad zu erreichen. Ein Deutscher wohnt hier einsam in dem toten Gemäuer, das für jemand, der wirklich Ruhe sucht, ein Dorado sein muß. Aber diese Jemande scheinen seltener zu sein, als man im allgemeinen annimmt: kein Liebhaber oder Räuber meldete sich bis jetzt, und der Deutsche, der ein wenig auf die Eigenbrödelei seiner Landsleute gerechnet hat, folgt am Ende eines schönen Tages – die hier ja nicht selten sind! – dem Beispiel seines Vorgängers und zieht sich mit einer reichen Frau in das Weltgetöse Mailands zurück. Die Kontraste liegen im Leben ja meistens dicht nebeneinander.

Auch hier. Denn neben den Kindern heißerer Sonne, den hohen Fächerpalmen mit ihren kraftstrotzenden, sich eben öffnenden Blütenkolben sendet unser nordischer Flieder seine lila und weißen Sternchen im leisen Wind hinüber zu dem unendlichen Reichtum der Mimosenbäume; die zarten Kerzen des Kirschlorbeers strecken sich neben den derberen der Kastanie vor, die Orangenblüten erstrahlen doppelt neben den schwarzen Kugelfrüchten der Zypressen, die Iris gesellt sich zum Calicanthus, dem »Erdbeerbaum« unserer Kindheit, und zu Füßen des spielerischen Bambus und des selbstbewußten Eukalyptus sehen uns unsere Stiefmütterchen mit ernsten und etwas größeren Augen als zu Hause an.

Ich will dem deutschen Frühling nicht seine Schönheit bestreiten; er hat längere Frist, sich zu entwickeln, und muß heftig genug um die hartgefrorene Erde und mit seinem Todfeind, dem Nachtfrost, ringen. Das mag seinen Kräften nur förderlich sein. Hier kommen sich Sonne und Erde in langem, heißem Kuß entgegen, es gibt kein Verweilen, nur ein Vorwärtsdrängen, ein Entfalten, Sprießen und Wachsen von Stunde zu Stunde. Und unter den glücklichsten Verhältnissen, vom hehren Rahmen der Berge umfaßt, lacht aus betörender Farbenpracht mit tausend Augen der Sommertag, und klingt sein Herzschlag aus dem Lied der Amsel und dem unablässigen Zirpen der Grillen.

Auf meiner Fensterbank liegt eine smaragdgrüne Eidechse. Sie genießt die Wonne ihres Daseins – sie ist wunschlos glücklich!

II. Vom Lago Maggiore zum größten Kalvarienberg der Erde.

Einen köstlichen »Aussichtsberg« überm Lago Maggiore gibt es, sagte man mir, und nachdem ich so lange darauf angewiesen war, allein oder in Gesellschaft von weder bergkundigen noch steigelustigen Genossinnen über bessere Hügel zu spazieren, wurde der Höhendrang von Tag zu Tag mächtiger. Sofort nach Ankunft des »Hochtouristen«, der auf Entdeckungsfahrten im »unbekannten Italien« auszog und sich, wie er sich bescheiden ausdrückte, »herabließ«, auf der Durchreise dem Lago Maggiore ein paar Tage zu »opfern«, wurde eine größere Tour vereinbart. Der Dampfer brachte uns nach Stresa, wo ein starker Gewitterregen die wichtige Frage nach bequemem Aufstieg, schöner Aussicht usw. zunächst so zweifelhaft machte, daß wir uns erst mal zum Bleiben entschlossen, an den pompösen Hotels und den noch schlafenden Villen der reichen Milanesen vorbeischlenderten und über einen der berühmten, herrlich angelegten Spaziergänge Doktor Georg von Siemens' wieder in das engmaschige Netz der Straßen des Städtchens zurückgerieten. Hallo, dort ist ein Auflauf vor einer Kirche! Wir stellen uns zwischen die anderen Neugierigen, und nach ein paar Minuten fährt – höchst modern! – ein Bischof im Automobil vor und nimmt große Sträuße, von Chiffonschleiern geschmückt, in Empfang. Eine Kapelle empfängt ihn mit dröhnender Musik – leider ist es die Marcia Reale, im Jubiläumsjahre römisch-klerikalen Ohren gewiß eine doppelt unsympathische Melodie. Aber der geistliche Herr findet sich mit Würde in diesen überraschenden Kunstgenuß, verschwindet unter dem feuerroten, mit breiten Goldstreifen umsäumten Baldachin und erscheint nach kurzem wieder, in voller Amtstracht, die Hand mit dem Hirtenring segnend nach links und rechts streckend. Der Zug ordnet sich; als Trägerin eines riesenhaften Kreuzes eine jüngere Person wie eine Schar ihr folgender, bedeutend älterer in blauem Überwurf und weißen Schleiern, dazu haben alle – sogar die Kreuzträgerin – trotz der Heiligkeit des Moments, ihre mächtigen baumwollenen Regenschirme am Arm, die wohl nur im Tode von den Italienern abgelegt werden. In langen Reihen folgen die Schulkinder, Knaben wie Mädchen, von Geistlichen und Schwestern geleitet; am anderen Tage gibt's eine große Firmelung, obgleich der eigentliche Zweck des Signor Vescovo nur eine visita pastorale sein soll, der Besuch des Hirten bei seinen Schäflein. Armselig genug sehen sie aus, die ihm in die nächste Kirche folgen, und sein ernsthafter Blick gleitet über die Fremden hin, die abseits stehen. Und in diesem ruhigen Blick und in der Bewegung der segnenden Hand liegt so viel Achtunggebietendes, daß sich die Köpfe derer, die eben noch über die bescheidene Prozession und den modernen Bischof im Auto gelächelt haben, demütig senken und ihren Teil an seinem Segen hinnehmen.

Am anderen Morgen hat es sich so weit geklärt, daß man nach Meinung der Eingeborenen den Aufstieg wagen darf: schlechtes Wetter hält sich hier ja nie länger als einen Tag, der Wind hat gewechselt, Gewitter kommt nicht – also! Und was man gerne glauben möchte, glaubt man ja einfach, obwohl der Hochtourist behauptet, die Einheimischen verstehen vom Wetter nie etwas. Zuerst geht's einen steilen Fosso, eine kleine Schlucht, empor; die Sonne brennt wahnsinnig, besonders, da ein fast senkrechter Bauern-»scorciatoio« zum Abkürzen verlockt hat und man sich mit Unterholz und Geröll herumplagen muß. Dann oben auf dem harmlosen Grat, zum Teil durch Wald, ist es recht hübsch; dann furchtbar langweilig, trotzdem man sich allmählich zur alpinen Flora emporgearbeitet und tiefblaue Enziane auf den sumpfigen Wiesen findet – denn natürlich hat man wieder »abgekürzt«, schon um nicht immer neben dem im Bau befindlichen Damm der Zahnradbahn herlaufen zu müssen. Im Mai dieses Jahres noch soll sie eröffnet werden, dann werden endlich auch die Italiener, die mit wenig Ausnahmen ja das Wandern verabscheuen, diesen Berg gewinnen, und seine Einsamkeit wird dahin sein. Denn jetzt haben wir in den vollen vier Stunden, die wir zum Aufstieg ohne Rast brauchten, nur ein paar Bahnarbeiter getroffen, sonst keine Seele. Dicht vorm Albergo lag noch Schnee, zugleich setzte ein Hagelschauer ein, dem ein heftiges Gewitter folgte; da wir nun doch schon naß waren, erklommen wir gleich den nur zehn Minuten vom Restaurant entfernten Gipfel, mußten aber durch meterhohen Schnee waten. Oben, unter dem 15 m hohen Kreuz, lagerten wir an einer schneefreien, aber leider nicht windfreien Stelle und warteten geduldig, bis das Wetter sich verzog und langsam, langsam die liebe Sonne wieder durch die schweren Wolken kam. Welch ein Wunder sich dann offenbarte, und wie aus der Riesenkette schneebedeckter Häupter allmählich in überwältigender Höhe die Gruppe des Monte Rosa emporwuchs, das wäre auch mit drei Gewittern und vier Meter hohem Schnee nicht zu teuer bezahlt gewesen! Und drüben, über den sieben Seen, die man von oben zählt, fuhren die gewitterschwangeren Wolken noch unruhig hin und her, ein ewig wechselndes, berauschendes Farbenspiel auf den Wasserspiegeln hervorrufend, während der Schnee ihrer Berge in schwefelgelbe Tinten getaucht war. Ich glaube kaum, daß es an besonders klaren Tagen, an denen sich in der lombardischen und piemontesischen Ebene von hier aus Mailand und Turin zeigen sollen, schöner sein kann, als wir es oben hatten. Aber leider haben manche Leute ja ein Vorurteil dagegen, bei Gewittern auf Berggipfeln zu sein!

Nach einer angenehmen Collazione im vortrefflich geleiteten Albergo, das den in Italien als Gastwirte bekannten Guglielminas gehört, stiegen wir dem westlichsten der oberitalienischen Seen, dem Lago d'Orta, zu, an der Südseite des Mottarone hinunter. Abkürzungswege, auf die wir an diesem Tage nun einmal geschworen hatten, brachten uns schneller ins Tal und dazu durch Gegenden, die absolut menschenleer waren, und in denen außer anderen Vogelstimmen sich sogar auch Nachtigallen hören ließen. Aber diesen wundervollen Weg, der allmählich wieder in die Region der immergrünen Gewächse hinabführte und zum Schluß an ganzen Narzissenfeldern vorbei, beschreibe ich nicht näher; aus Angst, ein Italiener könnte lesen, daß es bei ihm noch irgendwo Singvögel gibt! Dann wär's aus mit ihnen!

Nach gut vier Stunden tauchte endlich am Ende der Schlucht wieder der vom Gipfel des Mottarone schon begrüßte See auf, entzückend in seiner Stille, der malerischen Umrahmung und der Insel San Giulio mit der alten Kirche darauf in seiner Mitte. Zwar fielen jetzt wieder große Tropfen, während ich noch den imponierenden Sassina-Viadukt bewunderte und wiederholt meine Bedenken gegen die Wetterkenntnis der Eingeborenen äußerte. Aber weit vom Ziel konnten wir doch nun nicht mehr sein; ich verwandelte mich mit meinem Wetterkragen in eine der besonders beliebten »Lodendeutschen« und wanderte tapfer fürbaß – wohl noch fast eine Stunde in immer stärker strömendem Regen, unliebenswürdigem Donnergrollen und überflüssig häufigen Blitzschlägen. Manchmal ist einem doch ein heftiges Gewitter pro Tag genug. Jedenfalls war ich recht froh, als wir endlich beim Pranzo auf der kleinen Terrasse des Albergo Orta saßen und ich den Regen nicht mehr direkt ins Gesicht und auf den Kopf bekam. Übrigens ist die kleine Stadt Orta, die eigentlich nur aus einer Piazza und einer einzigen engen Straße, abgesehen von einigen an den Hängen verstreuten Villen, besteht, sehr reizvoll, und ihr Sacro Monte, in dessen Kapellen das Leben des hl. Franz von Assisi in den in dieser Gegend bevorzugten Terrakottafiguren dargestellt wird, bietet eine entzückende Aussicht.

Am nächsten Morgen in Frühe und Kühle brachte uns ein emsiger kleiner Dampfer in einer Viertelstunde ans andere Ufer, nach Pella hinüber, wo ich den Sitz auf dem mich schon im voraus klagend anschauenden Maulesel dankend ablehnte und auf einem Weg, den uns die Italiener als gänzlich unmöglich für Damenfüße schilderten, sehr bequem, zum Teil durch schattigen Wald, nach zwei Stunden den Paß la Colma erreichten. Als gewissenhafte Alpinisten – so ist man nun einmal! – nahmen wir gleich den Monte Briasco von hier aus noch mit, zu dessen Gipfel (1185 m, also fast 300 m weniger als der des Mottarone!) man in dreiviertel Stunden gelangt, und der mir den Monte Rosa einmal ganz ohne Wolken und durch seine Nähe von imponierendstem Eindruck zeigte. Dann ging's von la Colma an recht gemütlich hinab, durch prächtige Kastanien- und Nußwälder, an viel einsamen, von blühenden Obstbäumen umstandenen Gehöften vorbei. Nur wo in Italien immer die Menschen sind, möchte ich trotz meiner Vorliebe für ungestörtes Wandern doch oft gern wissen. Bis unten das Sesiatal auftauchte, kam es mir vor, als gehörte dies herrliche Land allein uns, so wenig wurde es von anderen beansprucht. Alles in allem haben wir vier und eine halbe Stunde bis zu dem durch seine Lage und Architektur überwältigend schönen Varallo gebraucht – warum also kennen Deutsche die kleine Stadt fast gar nicht und überlassen sie den Engländern fast ganz, die allerdings nicht ungeschickt im Aufspüren versteckter Kunststätten sind?!

Varallo ist ein altes Städtchen, überaus malerisch mit seinen Steinhäusern und dem lichten Grün der Laubbäume, dem dunklen der immergrünen Pflanzen dazwischen. Alte Dokumente, zwei Diplome Kaiser Konrads II. erzählen, daß es schon 1025 existierte. Zu größerer Bedeutung gelangte es aber erst, als Bernardo Caimi, ein Franziskanermönch, einer vornehmen milanesischen Familie entstammend, im Jahre 1481 nach seiner Rückkehr aus Palästina beschloß, in seinem Heimatlande ein Sanktuarium zu errichten, das allen heiligen Orten, die er besucht hatte, samt den Begebenheiten, die sich dort zugetragen haben, gleichen sollte. Er erwählte sich Varallo zu seinem frommen Werke und erhielt im Jahre 1486 vom Papst Innozenz VIII. die Erlaubnis, ein Kloster zu errichten. Aber erst nach einer zweiten Reise nach Jerusalem entwarf er die Pläne für das Heiligtum, und im Jahre 1491 wurde der Grundstein gelegt. Seit dem Besuche des Erzbischofs von Mailand, Karl von Borromeo, im Jahre 1578, der das Sanktuarium bedeutend erweiterte und den Beschluß faßte, in einzelnen Kapellen alle Mysterien des Lebens Christi darzustellen, gewann Varallo seine große Wichtigkeit als Wallfahrtsort. In den waldreichen Tälern und auf den kleinen Vorsprüngen des Berges verteilen sich 45 Kapellen um die Hauptkirche, vor der sich ein architektonisch höchst reizvoller Hof hinbreitet. Das Innere der Kirche ist reich, aber modern. In den Kapellen dagegen befinden sich die alten Fresken und Terrakottagruppen, die auf Befehl Karl Borromeos hergestellt wurden. Fast tausend Statuen, darunter unzählige Tiere, Vögel, Reptilien, von 80 Künstlern ausgeführt, veranschaulichen das Leben und Leiden Christi und gelten dem italienischen Volke noch heute als wunderbare künstlerische Leistung; während unser Geschmack wohl durch die ganze Anlage als solche, die Architektur der Kirche und der Kapellen sowie durch die entzückende landschaftliche Umgebung des Heiligtums mehr befriedigt wird als durch die oft sehr bunt bekleideten und daher unruhig wirkenden Gruppen. Einzelne allerdings, wie die »Kreuzigung« aus der Hand Gaudenzio Ferraris, werden auf jeden Beschauer eine erschütternde Wirkung ausüben. Auch darf man nicht vergessen, daß zur Zeit, als die Terrakotten entstanden, die Bauern weder lesen noch schreiben konnten und Bücher eine Seltenheit waren. Da mußte die anschauliche Darstellung der heiligen Geschichte von größtem Einfluß sein.

Am Fuße des Sacro Monte, zu dem man von der Stadt aus auf sehr steilen Wegen in zwanzig Minuten emporsteigt, liegt die äußerlich simple Chiesa Santa Maria della Grazie, die dem 15. Jahrhundert entstammt. Eine vornehme Familie aus Varallo, die Vincini, ließ auf ihre Kosten das große Wandgemälde malen, welches das Prespyterium von der übrigen Kirche scheidet. Es darf wohl als schönste Arbeit Gaudenzio Ferraris betrachtet werden und stellt in zwanzig Vierecken, in der Mitte als größtes die Kreuzigung, Christi Leben dar. Ein anderes Bild desselben großen Künstlers, die Vermählung der heiligen Katharina, befindet sich hinter dem Hochaltar der auf köstlichen Substruktionen sich erhebenden Pfarrkirche San Gaudenzio, zu deren Füßen der Wochenmarkt abgehalten wird. Auch über dem Portal der Chiesa della Madonna di Loreto, eine Viertelstunde von Varallo entfernt, hat Ferrari die Geburt Christi wunderbar al fresco gemalt.

Besonders anziehend wird das Stadtbild Varrallos durch die schönen Trachten der Frauen aus den naheliegenden Dörfern und Tälern. Die aus Fobello tragen breite, leuchtend rote Säume an den schwarzen Faltenröcken, während eine schmale rote, hinten grüne Einfassung die Rocksäume der Frauen aus dem Mastolonetal umgibt. Alle aber tragen sie unter den Jacken und Miedern weiße Hemden mit kostbaren gelblichen Macraméeinsätzen und -spitzen und breitgelegte seidene Tücher auf dem Kopf, die nur bei der Messe durch Schleier aus Spitzen oder feinem Leinen ersetzt werden. Als Beitrag zu einem aktuellen Thema möchte ich erwähnen, daß ebenso allen Frauen ein schwarzes Beinkleid gemeinsam ist, das die Beine eng bis zu den Knöcheln umhüllt; die nackten Füße stecken in den landesüblichen Holzpantoffeln, den »Zoccoli«.

So bringt der kleine Ausflug ins »unbekannte« Italien des Erhebenden, Neuen, Anregenden genug. Mir bleibt der Besuch des größten Kalvarienberges der Welt eine schöne Erinnerung. Und wer die Mühe scheut oder kein flotter Wanderer ist, dem verrate ich einen näheren, bequemeren Weg: eine zweistündige Bahnfahrt von Arona am Lago Maggiore aus bringt auch ans Ziel. Aber, »wem Gott will rechte Gunst erweisen,« der wandre!

III. Hochalpine Spaziergänge.

Für jemand mit der eingeborenen Lust zum Bergsteigen im Herzen ist es undenkbar, lange still an einem Platz zu sitzen, dessen nächste Umgebung Gebirgszüge sind. Sie locken täglich; und täglich dringender. Und nur schlechtes Wetter und die Gewißheit auf »Aussichtslosigkeit« lassen die Genagelten im Schrank stehen. Man hat also Zeit genug, sich vorher zu orientieren; das ist bei allen Bergen an den oberitalienischen Seen nicht leicht. Da gibt's keine schönen Wege wie in den Gebieten des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, auch sehr selten Markierungen. Unzählige Vieh- und Holzwege kreuzen sich und laufen nach allen Seiten, und erst wenn man aus der Waldregion herauskommt, wird es, wenigstens für den, der ein Auge fürs Gelände und für Bergformen hat, leicht, die beste Route zu finden. Im ganzen bieten die Berge keine Schwierigkeiten; es sei denn, daß noch Schnee liegt, der die Aufstiege im letzten Teil ermüdend macht. Denn natürlich besteigt man diese Berge am liebsten im Frühjahr, weil die Aussichten dann schöner sind als im Herbst, auch grade der Schnee die Linien der Gipfel veredelt. Abgesehen von den italienischen Sommergästen, die ja auch sehr bequem sind und sich nur selten zu einer Partie aufraffen, werden diese Berge fast nie bestiegen. Die Touristen, die alles an den Seen besuchen, was sie eben für »alles« halten, sind zu eilig, das internationale Reisepublikum bummelt herum, Hochtouristen erscheinen nicht auf der Bildfläche. Auf viele Berge, z. B. auf den Monte Generoso, auf den Mottarone, auf dem ich vor zwei Jahren noch zu Fuß war, führen jetzt Zahnradbahnen, so daß sich die »Faulen, die zu Hause liegen«, ohne weitere Anstrengung das Vergnügen einer Aussicht verschaffen können. Was ist das aber gegen eine selbst erkämpfte?! Freilich, die Bauern in den kleinen, jetzt in köstlichem Grün gebetteten Felsennestern warnen wie immer vor dem entsetzlichen Weg, der für eine Dame absolut unmöglich sei! und vor dem tiefen Schnee am Gipfel – Schnee bleibt nun einmal in der Vorstellung des Italieners die böseste Naturerscheinung! Trotz der gutgemeinten Ratschläge geht man im steten Schritt weiter; schließlich, steckte man sich nicht höhere Ziele, könnte man einen Aussichtsberg wie die Cimetta von Locarno aus als Morgenspaziergang behandeln, wenn man seinen Tag um fünf Uhr begönne. Denn es handelt sich um keine bedeutenden Höhen – die Cimetta z. B. ist nur 1676 m hoch –, da die Seen aber tief liegen, ca. auf 200 m, so hat man immerhin recht große Höhendifferenzen zu überwinden. Und ist man erst oben, so möchte man gleich mehr genießen!

Wir übernachteten daher in dem 1000 m über Locarno gelegenen »Alpenheim«, zu dem die Straße mit den berühmten 28 Kehren hinaufführt. Sie zeichnet sich durch die Verheißung aus, daß man ab der 22. den Monte Rosa sieht – allerdings zuerst in einem Umfang, daß man ihn mit der wirklich mitgenommenen Zahnbürste decken könnte – und durch ihre Pflasterung. Oh, diese Pflasterung, die man allen hochgelegenen Orten und den zu ihnen leitenden steilen Saumpfaden angedeihen läßt! Hinauf geht's noch – aber hinunter, wenn man ohnehin von seinem Berg-Tagewerk schon müde ist, und nun sich die runden, eckigen, immer aber gebuckelten Steine mit Vehemenz in die Sohlen drücken! Wozu sie noch niederträchtig glatt und rutschig sind, weil sie mit Holzschlitten, die das Holz von oben bringen, befahren werden und den Genagelten daher so gut wie keine Reibung bieten. Da heißt's bei jedem Schritt achtgeben, will man das Mosaikmuster nicht noch andern Körperteilen einpressen. – Im »Alpenheim« sind noch keine Gäste; man eröffnet mit uns die Saison. Die einzige Bedienung, der siebenjährige Sohn der Deutsch-Schweizer Wirtin, serviert uns die vorhandenen Genüsse: Rühreier, und Salami, in den italienischen Bergnestern das Ein-und-Alles! Wahrscheinlich aber bereitet die auch auf Höhen steigende Kultur der wohltuenden Primitivität hier oben bald ein Ende: die Quelle, aus der man beim Aufstieg ahnungslos trank, soll Radium enthalten. Schon naht ein Konsortium – und in einer Vision sieht man statt Hansi mit zu kurzen Hosen und bloßen Füßen befrackte Kellner und beknöpfte Liftboys. Fliehe, ehe es zu spät ist!

Um vier Uhr früh tranken wir deshalb den »Tourenkakao«, packten harte Eier und Salami in den Rucksack und ließen den zukünftigen Radiumpalast, den jetzt noch eine Stearinkerze erhellte, hinter uns. Empor durch Wiesen, vorbei an leerstehenden Almhütten. Nach gut zwei Stunden ein recht ekelhafter Grasbuckel, auf dem man immer wieder Terrain zu verlieren statt zu gewinnen scheint, so rutschig ist er; dann pfadlos zum Gipfel. Schön?! Unbeschreiblich! Der Lago Maggiore in lichter Morgensonne, gerade noch sieht man das goldene Gegitter des Mondes in den dunklen Fluten vertauchen – leichte, lila Wölkchen um die schneebedeckten Gipfel, als Glanzpunkt des Gebirgspanoramas der Monte Rosa in strahlender Pracht und jetzt jedem banalen Vergleich unerreichbar, dazu die Mischabel, in greifbarer Nähe der stolze Basodino – und dann die Talblicke! Rauschende Ströme, blitzende Wasserfälle, duftige Wälder und überall auf Terrassen und Hängen, vom Grün der Weinberge umschlossen und von malerischen Kirchen überragt, Ortschaften und Dörfer, die immer aus der Ferne wie königliche Residenzen wirken und in der Nähe, ach, von solch schmerzlicher Armut und Verkommenheit sind. Im Augenblick aber freut einen nur die kostbare Schönheit ringsum – man möchte mehr und mehr von ihr haben! Also hinunter zum Sattel – mühelos gewinnt man ihn – und wieder aufwärts über einen steilen Fels- und Schneegrat zum Gipfel des Poncione di Trosa (1874 m). Hier gibt's dieselbe, nur noch erweiterte Aussicht, ein Frühstück im Schnee und dann eine Abfahrt, im Sitz, die steilen Hänge hinunter im Schnee, höchst amüsant und sehr verwegen über die tiefvergrabenen Buchenäste und Alpenrosenbüschen fort – recht groß kommt man sich vor! Ja – bis man plötzlich bis über die Hüften im Schnee feststeckt und das rechte Bein weder rück- noch vorwärts bewegen kann, so zäh umklammert es das Gezweig. Es ist zum mindesten ungemütlich, und wäre man jetzt allein – und bis Mittag frören die Zehen ab und vom Nachmittag an brauchte man von einem Paar Strümpfen nur noch den linken – es nützt nichts, »der« Hochtourist, der unten am Sattel steht und schreit und brillante technische Ratschläge gibt, nach denen jedes bessere Bein ein Korkenzieher würde, muß noch einmal herauf und mit Pickel und freundlichen, auftauenden Worten »der« Bein ausgraben. Es gibt einen unvorhergesehenen Ruck und Bein mit Genageltem schnellen dicht am Antlitz des Befreiers vorüber ans Tageslicht. Daß man sich nun erst recht noch einen Gipfel erkämpfen muß, steht fest. Vom Sattel geht's ziemlich bequem – was man in den Bergen so nennt, wo glitschige Platten, fatales Gestrüpp, steiles Gras und schließlich wieder harter Schnee nur angenehme Begleiterscheinungen sind – zum Gipfel des Madone hinauf (2050 m). Dies Auf und Ab ist durchaus interessant und wohltätig für die Geschmeidigkeit des Körpers, die Aussicht von hier auch noch weiter, noch imposanter, und eventuell noch ein halbes Dutzend Gipfel bequem bei Hand und Fuß. Aber ich bedeute meinem Hochtouristen ernsthaft, daß ich im Leben nie unbescheiden gewesen sei und mir bis vormittags 11 Uhr drei Gipfel genügten, und meine Kousine, deren erste Bergtour es war, erklärt, daß sie sich die Sache überhaupt ganz anders vorgestellt habe und keinen Schritt mehr aufwärts steigen wolle. Darauf fuhren wir froh auf dem Teil, den der liebe Gott zum Sitzen eingerichtet hat, über den Schnee, zum Sattel hinunter, trockneten an einer noch verlassenen Almhütte einige Kleidungsstücke in der mitleidigen, aber doch leis verstimmten Sonne, aßen den Rest der Salami und marschierten ab, auf recht miserablen Alpenwegen, zum Tal der Verzasca hinunter. Was vorher leichter Nebel war, verdichtete sich zu feuchten Niederschlägen; die Feuchtigkeit zu sanftem, starkem – dann brausendem Regen. Bis zum hübschen Mergoscia, das immer noch 735 m hoch liegt, triefte es von meinem guten Hut, und aus meinen Handschuhspitzen lief das Wasser. Aber nach einer Stärkung an entsetzlichem Kaffee, bei dem einem mal wieder klar wurde, wie gut man's hat, daß man den nicht täglich zu trinken braucht, besannen wir uns darauf, daß wir schließlich erst gut acht Stunden marschiert seien, abgesehen von der durch Rasten und Ausgraben verlorenen Zeit, daß die am Nachmittag fahrende Post vielleicht schon besetzt wäre und wir inzwischen keinenfalls auf eine Trocknung unseres inneren und äußeren Menschen zu rechnen hätten. Ich setzte den guten Hut wieder auf und durch das wildromantische Tal, in dem sich die Verzasca durch starre Felsen ihre Bahn gräbt – das also bei schönem Wetter jeden Lyriker begeistern würde – eilten wir mit zusammengebissenen Zähnen heimwärts. Zwei volle Stunden lang im alpinen Schritt. Rucksack und Hut vermehrten ihr Gewicht bedeutend. Den Regen aber kümmerte das nicht. Er tat ganz, als sei er in dieser Umgebung zu Hause und begleitete uns gastlich bis zur Schwelle.


Man muß nicht nur die Feste feiern wie sie fallen, sondern in einer Periode, in der das Wetter höchst beständig, nämlich: beständig schlecht ist, sich zu seinen Unternehmungen sofort auf die auch nur einigermaßen guten Tage stürzen. Solch ein »einigermaßener« Tag war's, den wir von Locarno aus zur Fahrt nach Bellagio benützten, nicht um die Reize dieses Glanzpunktes aller italienischen Seen in gemächlicher Ruhe zu genießen, um Spitzen, Intarsien oder »echte« Antiken einzuhandeln – etwas »Höheres« lockte uns seit langem, der Monte San Primo, der höchste Punkt der Halbinsel, die an ihrer nördlichen Spitze Bellagio trägt. Nach einem wohltuenden pranzo (Mittagessen) im Freien, auf der Terrasse des Hotels Florenz, den herrlichen See zu Füßen, gegenüber im wunderbarsten Blumenflor die Villa Carlotta des Herzogs von Meiningen, und nach einem ausruhenden Bummel unter den Palmen des Parkes Serbelloni, machten wir uns ans Werk, angefeuert vom Studium der Karte, die ungefähr verrät, was einen auf diesem Gipfel erwartet. Der Rucksack ist gottlob nicht schwer, denn die Luft ist fürs Steigen auf der bequem angelegten Straße immerhin schwül. In den Weinbergen schlagen sich schon grüne Bogen von einem Maulbeerbaum zum andern, aus dem hohen Gras ihrer Terrassen glänzen die weißen Sterne der Narzissen. Man denke: es gibt hier Wegweiser! Und so landet man nach dem Durchwandern einiger kleiner Ortschaften ohne alle Fährnisse in Guello, das schon 600 m hoch liegt und uns zur Nacht beherbergen soll. Im Bädeker steht bei diesem Namen: (Whs.) – bedeutet Wirtshaus –, ein »Allogio« dort gäbe es nicht, hatte uns der Kellner in Bellagio versichert. Das schien auch fast so; obgleich der Ort, in dem es außer einigen übrigens über das ganze Dorf verstreuten Villen nur vier Häuser gibt, zwei mit der lockenden Aufschrift »Ristorante« und »Birraria«, zu verzeichnen hat. Die Dämmerung war hereingebrochen; so konnten wir nicht mehr auf des andern Gesicht lesen, was als Hochmut und unberechtigte Anspruchsfülle zu deuten gewesen wäre. Ich trat entschlossen auf das wenigst schlechte Haus zu, in dem eine padrona, die genau so schwarz und so rußig war wie ihr Kupferkessel überm offenen Feuer, uns bedeutete, daß wir nicht allein Eier und Salami, sondern auch, o Wunder, ein kleines, von uns unbeachtetes Häuschen, dass unten eine große, etwas modrig duftende Wirtsstube und, durch eine Außentreppe zu erreichen, oben zwei ganz nette Gastzimmer aufwies, haben könnten. Die Betten sind in Italien auch im bescheidensten Nest gut, auch hier; von der übrigen Einrichtung nenne ich nur einen großen Haufen Schafwolle in einer Ecke, in der andern das Sonntagszeug der männlichen Hausbewohner. Salami und Eier schmeckten vorzüglich, das Brot mußte man sich im herben vino da pasto (Landwein) erst aufweichen; serviert war, auch wie überall in Italien, auf reinem Tischtuch mit Zugabe von tadellosen Servietten. Das bunte Tischtuch bleibt, Gott sei Dank!, eine deutsche Erfindung, dafür ist in ähnlichen, elenden Wirtshäusern unseres Vaterlandes die Serviette, die der Italiener zum einfachsten Imbiß spendiert, z. B. zum Kaffee oder Tee, etwas total Überflüssiges, Luxuriöses. Um halb vier Uhr rasselte im Nebengemach die Taschenuhr »des« Hochtouristen los, die immer dann geht, wenn man am besten schläft; zugleich versicherte die padrona, daß das Wetter schön und der Kakao fertig sei. Umgekehrt hätte auch nicht gestimmt: das Wetter war trübe, der Kakao schlimm. Aber man muß guten Mut haben! Es klärte sich auch ziemlich auf, so daß man seine Freude an den hier oben noch blühenden Obstbäumen und den sich eben erschließenden, alle Wiesen und Hänge bedeckenden Bergschlüsselblumen haben konnte. Da der weite Talkessel bis hoch hinauf größere und kleinere Sommerhäuschen der Milanesen trägt, geht der Fahrweg am Sasso Lentina, einem berühmten eratischen Riesenfelsblock, vorüber, bis zu einem Wäldchen hinauf, von dem jenseits die Alpe del Borgo liegt. Nun führt ein rauher Bergsteig durch Erikabüsche aufwärts zum östlichen Gipfel des Monte San Primo, den man nach gut drei Stunden betrübten Herzens erreicht; denn die Aussicht wird, bei diesem Nebel, der zuerst das Tal nach links, dann auch die rechte Seite schließt, kaum nennenswert sein. Man konstatiert ärgerlich, daß hier oben noch Schnee liegt, die Christrosen noch grün sind, das kleine, struppelige Buchengestrüpp kaum Knospen ansetzt – und dann, am östlichen Gipfel, zerreißt der Nebel plötzlich, See, Wald, Halbinsel, Ortschaften, Berge tauchen auf, die Wanderung am Grat entlang bis zum Hauptgipfel (1685 m), die noch eine gute Stunde beansprucht, wird zu einem wunderbaren Genuß! Das Kapellchen oben ist zerfallen, der Schutzraum noch voll Schnee – aber der Blick, der wunderbare, unvergleichliche Blick! Die Seearme von Lecco und Como umschließen den Bergrücken, auf dem man steht, die ganze Halbinsel mit ihrem köstlichen Wechsel von Wald und Hang, Villen, Parks und Ortschaften, mit Bellagio und den Städtchen und Dörfern am andern Ufer breitet sich aus, umschlossen vom prachtvollsten Bergkranz, in dem besonders die nahe Grigna und die herrliche Pyramide des Monte Leone, das Wahrzeichen des Comosees, fesselt. Und dieses Bild bleibt, während man den langen Rücken des San Primo abschreitet, ungefähr noch zweieinhalb Stunden, in stetem Auf und Ab, von einem kleinen Gipfel zum andern. Diese gemütliche Gratwanderung mit der großartigen Fern- und Nahsicht ist der Hauptreiz dieser Tour. Am aller- allerschönsten Punkt wird gefrühstückt – Salami und Eier! Dann geht's vom westlichsten Gipfel zuerst weglos hinab. Die großen, blauen Enzianglocken geben den Matten einen blauen Schleier, seltene Orchideenarten gesellen sich zu großäugigen Vergißmeinnichten und unzähligen, zartgelben Stiefmütterchen. Die Nachtigallen können kein Ende finden ihres sehnsüchtigen Gesanges; der Kuckuck mahnt aus der Waldesstille. Und Menschen –? Von Guello ab keine Seele; beim Abstieg die ersten wieder in Nesso, das anmutig genug am See liegt und an dem uns der Dampfer wieder aufnimmt und nach Como trägt. Man mag auch diese Menschenleere einen Reiz des Abstiegs nennen, der übrigens dreieinhalb Stunden dauerte. Die letzte Stunde aber, auf den gepflasterten Wegen nach Nesso hinein – Damen mit empfindlichen Sohlen oder Zehen ist er nicht zu raten! Diesen Reiz des Ausflugs könnte man entbehren.

»Den Monte Nudo,« sagte mein Hochtourist, »ja, den können wir noch morgen machen! Zwei so kleine Touren wie die auf den San Primo und den Nudo hintereinander dürften Sie kaum anstrengen.«

Über das »Dürfen« sind die Touren selbst gewöhnlich eigener Ansicht. Vor einer Höhe aber von 1235 m darf man natürlich die Waffen nicht strecken. Also von Como per Bahn nach Laveno am Lago Maggiore, immer auf italienischem Gebiet. Und nach der Nacht mit der Schafwolle ein höchst kultiviertes Quartier im hübschen Hotel Bellevue von Laveno, das einst Kriegshafen der Österreicher war (1849-50) und das gerade der Papa dieses meines Hochtouristen seinerzeit befestigt hat. Eine Erinnerung, die wir pietätvoll verschwiegen, denn sie hätte hier nicht gerade beliebt gemacht, obwohl die Befestigungen schon längst nicht mehr existieren. Wir bezeugten nur dem Denkmal zur Erinnerung an Garibaldis Alpenjäger, die hier am 31. Mai 1859 beim Angriff auf das Fort gefallen sind, unsere Ehrerbietung. Am nächsten Morgen – ohne Rucksack, nur mit Apfelsinen und einem photographischen Apparat – »besiegten« wir in zweistündigem, steilen Marsch die Pflasterwege bis hinauf nach Vararo. Wir waren dankbar, daß die Sonne nicht noch heißer brannte und die Steine von den Holzschlitten nicht noch glatter gerutscht waren. Man sollte sich überhaupt immer die noch schlimmeren Möglichkeiten vorrechnen, als über eine nicht ganz bequeme Gegenwart zu nörgeln. Das Dörfchen Vararo ist sehr malerisch mit seinen eng ineinander geschachtelten Steinhäusern und einer kleinen Kirche, hinter der der Sasso di Ferro einen imposanten Hintergrund bildet. Vielleicht waren wir dieser Offenbarung auch besonders zugänglich, weil dicht vorm Dorf die Landstraße einsetzte und die Sohlen direkt Mutter Erde berühren durften. Die weiteren anderthalb Stunden zum Monte Nudo hinan erschienen einem darnach leicht, angenehm – das Ideal eines Morgenspazierganges! Was der Gipfel an Ausblicken über den Luganer See, den Lago Maggiore und den See von Varese bietet, ist noch dazu eine großartige Belohnung; die Walliser Alpen in ganzer Ausdehnung und weit, weit die Ebene. Der helle Punkt im undeutlichen Steinmeer dahinten soll der Mailänder Dom sein; das erfüllt zwar mit Ehrfurcht, daß man so weit sehen kann, aber für das gewaltige Gesamtbild ist es kaum von Bedeutung. Daß der Monte Nudo seinem Ruf als schönster Aussichtspunkt der Gegend alle Ehre macht, steht fest; daran konnten auch vorübergehende Wolkenschatten nichts ändern. Wäre das letzte Bergab mit seinem horriblen Pflaster, das nun in voller Vormittagssonne brannte, nicht gewesen, so »dürfte« diese Tour zu den leichtesten und zugleich lohnendsten meines Berglebens gehören; so hat sie am Ende einen Stachel der Erinnerung. Das Wetter hielt sich noch immer, nämlich mäßig, und ließ alle Möglichkeiten zu. Weshalb da nicht noch einmal etwas wagen? Hatten wir den Camoghe, den »hervorragendsten Aussichtsberg« des ganzen Tessin nicht bereits dreimal umsonst belagert? Das viertemal mußte es glücken! Zurück nach Lugano, denn auf der Nordseite gab's noch zuviel Schnee und der Zugang vom Süden bietet außerdem noch den Vorteil, den Monte Garzirola und den Monte Segor, die man traversieren muß, gleich noch mitzumachen, also drei Gipfel auf einen Schlag! Es ließ sich auch alles vorteilhaft genug an: mit der Elektrischen von Lugano nach Tesserete, von dort in anderthalb Stunden gemächlicher Wanderung nach Maglio di Colla (in der Val di Colla), das trotz seiner hohen Lage (850 m) ein sehr mildes Klima hat. Im ganzen Tal kommen bis zu 1200 m hinauf noch Kastanien und Wein fort; im übrigen gedeihen hier besonders gut die Schmuggler, die zur nahen italienischen Grenze hinüberwechseln und sich ihren ehrlichen Lebensunterhalt durch inoffiziellen Export von Zucker, Tabak usw. verdienen. Denn in all diesen Gebirgsdörfern, auf schweizerischer wie italienischer Seite, gilt der Schmuggel als anständiges Gewerbe. Es kommt auch hier nur auf die Anschauung an. Die Eisenöfen, die einst dem Orte den Namen gaben – Maglio heißt Hammerwerk – sind längst eingegangen und haben schuld an der Vernichtung des Waldes; was also sollen die armen Leute tun? Genug sind auch ausgewandert, die Frauen dominieren in allen Dörfern des Tales. Uns berechtigte ein klarer, köstlicher Abend zu den schönsten Bergsteigehoffnungen. Der Hochtourist stellte seine liebenswürdige Weckuhr auf 3½, in Anbetracht der sehr langen Tour: Garzirola 2119 m, Segor ca. 2100 m, Camoghe 2296 m und auf 1057 m waren wir erst. Man bereitete seine Beine auf drei Gipfel vor. Aber die Rekognoszierung um halb vier ergab Nebel um die Bergspitzen, die um fünf Nebel bis zur Talsohle, die um sechs strömenden Regen! Der Camoghe wollte zum viertenmal nicht – es gab wieder nichts als heimfahren. Ob er je wollen wird? Wir lesen die Wetterberichte; sie lauten aus allen Orten in edler Abwechslung: coperto (bedeckt), pioggia (Regen), nuvoloso (bewölkt). Wir haben viel vor den andern voraus, bei uns ist alles drei: coperto, pioggia, nuvoloso. Und augenblicklich gießt es, wie seit drei Tagen unaufhörlich. Auf Wiedersehen, Camoghe!

IV. Im höchsten Tessin.

Bei zweimaligen längeren Aufenthalten am Lago Maggiore habe ich fast alle Täler, deren brausende, klare Ströme in die Silberschale des Sees münden, durchstreift, habe die Höhen erklettert, die seinen kostbaren Rahmen bilden, und mich immer wieder an den armen und doch so anmutsreichen, in Weinbergen gebetteten Dörfern der Ufer und Hänge erfreut. Freilich, das Geschick ihrer Bewohner ist nicht so heiter und glücklich, wie man leicht nach der Schönheit der Landschaft und dem gesegneten Klima annehmen könnte. Auf wieviele ganz verlassene Weiler trifft man nicht, während es in anderen Dörfern nur Frauen, Kinder und alte Männer gibt, da die arbeitsfähigen Männer in der Fremde ihr Geld verdienen müssen, zum Teil auch nach Amerika ausgewandert sind. Die Arbeit auf den Feldern und in den Weinbergen wird daher meist von den Frauen verrichtet, die solch ein bescheidenes Leben führen, wie es allerdings auch nur in diesem Klima denkbar ist.

Einer meiner interessantesten Ausflüge war nun der ins »höchste Tessin«. Die kleine Bahn, die durch die Valle Maggia fährt, brachte mich eines frühen Morgens – Abfahrt von Locarno um 5 Uhr 5 Minuten – Ankunft in Cevio um 6 Uhr 26 Minuten – (das zeitige Aufstehen lernt man bei diesen Gelegenheiten so nebenher!) an die Mündung des Campotales, das vom wilden Lauf der Rovana durchströmt wird. Eine schön angelegte Poststraße – überhaupt eine Spezialität der Schweiz! – schlängelt sich in unendlich zahlreichen Krümmungen am Abhang des Madone di Camedo hinauf. Die Postkutsche, mit zwei starken Pferden bespannt, sah ganz vertrauenerweckend aus; aber da ich vor der Abfahrt in unstillbarem Tatendrang noch die beaux restes irgendeines ehrwürdigen Palazzo besichtigte, hatte ein verbindlich lächelnder Pater den begehrten Platz neben dem postiglione eingenommen und ersuchte mich, wieder verbindlich lächelnd, seinen Hut und sein Täschchen zu bewahren. Ich trat diesen Gegenständen, wie meinem Rucksack, lieber meinen Sitz auf den heißen Polstern ganz ab und wanderte – zur Abwechslung allein, denn der Hochtourist trieb sich irgendwo in Kalabrien herum – im selben Tempo wie die armen Pferde aufwärts, allerdings häufig die steilen scorciatoi benutzend, die quer über die Kehren fortführen. Nach gut zwei Stunden erreichten die Pferde und ich etwas atemlos Cerentino, ein wirklich reizend gelegenes Dörfchen, von grünen Halden und Wäldern umgeben. Nun begann erst »programmäßig« meine Arbeit, denn die Poststraße und -fahrt endet hier. Geduldig nahm ich meinen Rucksack auf die Schultern, frühstückte an der ersten Quelle – ein Teil des Tagewerks, der mir stets sehr lieb ist! – und wanderte über die Anhöhe, auf der die Kirche des römischen Märtyrers San Bonifazio steht, ins Tal von Bosco hinein, über eine primitive Holzbrücke das linke Ufer des Wildbaches gewinnend und immer seiner Quelle zu, dem schmalen Saumpfad folgend, der die einzige Verbindung mit meinem Ziel, dem Dörfchen Bosco, bildet. Der Weg war erst seit einigen Tagen schneefrei – auf der anderen Seite lagen sogar noch mächtige, mit Geröll und Baumstämmen durchsetzte Lawinen, deren Sturz der Bach aufgehalten hatte und deren unbehaglichen Nähe man doch gern auswich! Sonst gleicht dieser gemächliche Aufstieg, bis vielleicht auf sein letztes Viertel, das sehr steil durch einen schattigen Lärchenwald aufwärts führt, fast einem Parkspaziergang; so anmutig, an Wäldchen und blumenbedeckten Halden reich, ist das Tal und die wunderbare Luft, von Tannenduft gesättigt, befreit von allen Nöten, unter denen man sonst beim Steigen leidet. Der gute Pater hatte mir noch beim Abschied freundschaftlich geraten, diese Partie aufzugeben, sie sei für eine Dame wirklich unmöglich! Die Italiener haben eben über körperliche Leistungsfähigkeiten besondere Begriffe, und ich fürchte, mein Ratgeber selbst hat sich noch nie auf diese »via brutta« gewagt! Dann und wann traf ich auf primitive Sennhütten, von winzigen Kartoffel- und Rübenäckern, oft nicht größer als ein Bettvorleger, umgeben. Die meisten Hütten standen noch leer, bis ich dicht vorm Walde nach vielen Wochen zum ersten Male wieder ein deutsches Wort von einer Bäuerin hörte! Zwar mußte ich bei unsrer Unterredung manches erraten, denn es war ein »Schwyzer-Dütsch« allerärgster Sorte. Aber es ist rührend, mit welcher Treue und Zähigkeit sich die kleine Gemeinde von »Gurin«, wie sie selbst ihr Dorf nennen, während die Italiener es nach seinem Waldreichtum »il bosco« getauft haben, Sprache und Sitte auf fremdem Boden erhält. Auch das Dorf selbst, das sogleich jenseits des Lärchenwaldes beginnt, unterscheidet sich im Bau der Häuser stark von der sonst im Tessin gebräuchlichen Art; es erinnert an Oberwallis, von dem aus ja auch die Kolonie hier im zwölften Jahrhundert gegründet wurde. Die heutigen Bewohner sind durch ihre Zugehörigkeit zum Tessin wie durch die italienische Umgebung gezwungen, italienisch zu lernen; leider bewilligt man ihnen auch keinen deutschen Geistlichen. Aber untereinander reden sie nur deutsch, und es machte mir viel Spaß, in den engen Gängen zwischen den Häusern – »Straßen« kann man unmöglich sagen! – die Kinder bei ihren deutschen Spielen zu beobachten. Auch Gurin ist sehr arm; und da die Männer als Vergolder, Schnitzer und Maurer in die Fremde wandern, betreiben die Frauen die Viehzucht, schleppen die Holzlasten auf dem Rücken heim und bestellen die Felder, die hier oben einen etwas größeren Umfang besitzen. Die Seidenindustrie, die nach den Reisehandbüchern hier betrieben werden soll, ist dagegen längst erloschen. Die ziemlich große Kirche, dem heiligen Jakob und Christoffel geweiht, enthält als größtes Heiligtum die Gebeine des hl. Theodor, von dem sich auch ein ziemlich unglückliches Gemälde vorfindet. Die guten Fresken der Kirche scheinen dagegen vom Maler Lorynis zu stammen, dessen Arbeiten ich auf diesem Ausflug noch mehrmals begegnete. – Das Wirtshaus »Zum Edelweiß«, das ich mir zum Übernachten bestimmt hatte – ein zweites, von Cevio aus gegründetes neues Hotel war leider noch nicht eröffnet – erwies sich selbst für meine auf solchen Ausflügen sehr niedrig geschraubten Ansprüche als »einfach unmöglich«. Ich aß dort zwar vorsichtshalber nur gekochte Eier, an denen, falls sie frisch sind, ja nicht viel zu verderben ist; aber selbst diese frugale Mahlzeit wurde mir leid, als ich die verwahrlosten Hühner und die nähere Umgebung, in der dies »Edelweiß« wächst, betrachtet hatte. Es blieb mir also nichts übrig, als den kleinen alpinen Spaziergang, der hinauf 2½ Stunden gedauert hatte, noch einmal nach Cerentino zurückzumachen. Dort hatte ich des Morgens ein Wirtshaus mit einer Terrasse gesehen – eine Seltenheit bei Dorfwirtschaften! – und an diese dachte ich nun, um mich selbst zu ermuntern, und mir das »Vernünftige« der Rückkehr klar zu machen. Vorher ein Schlaf im Lärchenwald, blaue Enzianen zu Häupten und zu Füßen – und von der Schlucht herauf, denn hier hat der Bach sich durch Felsen zu zwängen, das Brausen des Wassers als etwas kriegerische Schlafmelodie.

Und die Wanderung im Nachmittagsfrieden war so köstlich, daß ich sie wirklich nicht bedauerte und genug zu tun hatte, um nur alle Schönheit ringsum, das Lichtspiel auf den von allen Seiten herantosenden Wassern, über den Felsen und in den sanft rauschenden Baumwipfeln zu bewundern. – In Cerentino fand ich die Terrasse wieder und außerdem vorzüglichen Barbara, den mir die schöne französische Wirtin »della posta« zu ihren höchst schmackhaften Gerichten kredenzte.

Am nächsten Morgen bestieg ich einen kleinen Wagen, den der rundliche Gatte der schönen Französin lenkte. Die Break war leider beim Renovieren, und ich saß da, wo sonst Kälber und Schweine mutlos ihrem traurigen Geschick entgegen zu sehen pflegen. Aber ich bildete mir ein, schlecht gefahren sei besser als gut gegangen, wenigstens auf der Landstraße. Wäre der Paß nicht noch verschneit gewesen, so hätte ich es natürlich als brave Hochtouristin vorgezogen, mein neues Ziel »über die Berge« zu erreichen, jetzt vertraute ich mein Leben diesem Wagen an. Es war leichtsinnig; solch eine unbehagliche Straße bin ich denn doch selten gefahren! Nicht, daß sie in schlechtem Zustande gewesen wäre; aber sie geht beharrlich an steilsten Abgründen vorbei, und ist so schmal, daß jede ungeschickte Bewegung an den Kehren, an denen sie überreich ist, das Gefährt in die Tiefe stürzen muß. Gleich im Anfang schlugen wir, trotzdem es stark bergauf ging, ein beschleunigtes Tempo an; und auf meine Frage, die einem geängstigten Gemüte entstieg, erhielt ich die trostreiche Antwort, es sei Eile geboten, um nicht mit dem Postwagen von Campo zu kollidieren, denn Ausweichen sei unmöglich! Ja, das mußte ich schaudernd zugeben. Schließlich warteten wir gleich hinter dem Weiler Pedigiodi auf einer breiten Kurve, bis oben über uns aus dem Wald der kleine Postwagen, durch seine schwarze Plane einem Leichenwagen sehr ähnlich, herauskam und vorsichtig an uns vorüberglitt. Er beförderte übrigens keine Menschen, sondern nur Pakete und Briefe. Wir ratterten weiter – Kälber und Schweine scheinen unbeschadet jeder Elastizität ihres Gefährtes entraten zu können! – an Riva vorbei, das anmutig auf grünen Wiesen am Rande der Rovana gebettet ist und als vis-à-vis das düstere Campellotal, vom unheimlichen Molineva verriegelt, ertragen muß. Nach gut zwei Stunden schwerer Arbeit für das Pferd sowohl wie für die eigene Beherrschung, denn ich fand, man sei wie auf dem Meer auch hier etwas zu sehr in Gottes Hand, erblickte ich von dem kleinen Dörfchen Piano aus: Land! Und zwar zuerst das noch hinter Campo, aber höher gelegene Cimalmotto. Und dann nach ein paar Wegbiegungen taucht Campo auf, aus der Ferne von ganz großartiger Wirkung mit seinen stattlichen Häusern, der schönen Kirche, den saftigen grünen Weiden ringsumher! Aber mein liebenswürdiger, dicker Kutscher bittet mich auszusteigen und den Fußweg ins Dorf einzuschlagen: – »Denn sehen Sie, Signora, wie sich die Straße schon wieder senkt und verdorben ist!« – Ja, ich sehe. Und noch mehr wehmütiges Bedauern ergreift mich, als ich die von unten so schöne St. Bernhardkirche betrete: zahllose Sprünge zerreißen ihre Wände und die feinen Fresken Lorynis; die Schwellen unter ihren Türen haben sich verschoben, die Fenster stehen schief. Ein Stukkateur ist an der Arbeit, die Hauptschäden oberflächlich auszubessern; mit der vollen Pietät des Italieners für Kunstwerke beklagt er mit mir den unaufhaltsamen Verfall der chiesa des Dorfes – des ganzen paese! Es ist verlorenes Land, auf dem ich stehe, ein Land, das dem Untergange geweiht ist. Seit der furchtbaren Überschwemmung des Jahres 1868 untergraben die Wasser die ganze Hochebene, auf der Campo steht, und reißen ein Stück nach dem andern ins Tal hinunter. Man kann sagen: der ganze Berg wandert in die Tiefe. Da ist kein geradestehendes Haus mehr, keine Wand ohne Riß; überall hängen Türen und Fenster in den Angeln, und die Heustadeln sehen traurig aus unter den schiefsitzenden Dächern. Eine Tragik liegt über dem Dorf trotz seiner heitern Umgebung; und was mag in den Seelen der Menschen vorgehen, die unbarmherzig ihren Besitz schwinden sehen? Einmal ist von der Regierung für viele Tausend Lire eine Schutzmauer im Tal errichtet worden; der erste Frühlingssturm riß sie ein. Ein anderes Projekt eines Berner Professors, Abzugskanäle anzulegen, würde Millionen erfordern. Das Stückchen Land ist nicht soviel wert – es muß geopfert werden!

Über einen kleinen Fußweg gelangt man in zwanzig Minuten zum kleinen Hochplateau hinauf, das auf seinem Rücken Cimalmotto trägt. Ein Haufen recht elendiger Steinhäuser, die auch zum Teil Spuren des Verfalls, wenn auch nicht so stark wie in Campo tragen. In der offenen Halle der Kirche befindet sich eine sehr schöne »Kreuzigung« von Lorynis, ursprünglich al fresco gemalt; doch hat man das Bild, um es vorm Untergang zu bewahren, durch ein chemisches Verfahren auf Leinwand übertragen. Es weist aber auch jetzt schon wieder Sprünge und lädierte Stellen auf. Keinem Menschen bin ich in diesem kleinen Dorf begegnet; mir wurde direkt unheimlich in dem verlassenen Ruinenhaufen. Galba, der Begründer des Ortes, wie eine Tafel an der Kirchhofsmauer erzählt, mag sich mit vollem Recht mit seinen Schätzen und seinem Weibe Pulcheria, der Tochter des Herzogs von Aquitanien, hierher geflüchtet haben, um allen Verfolgungen zu entgehen: man muß schon jemand sehr lieben oder sehr hassen, sonst stöbert man ihn hier nicht auf! – Vor der Kirche in Campo fand ich meinen Kälberwagen wieder; knapp vierzig Minuten brauchten wir für die Fahrt abwärts bis nach Cerentino zurück. Behaglicher als das Hinauf war sie keinesfalls, besonders da ein tüchtiger Gewitterregen einsetzte, wie es sich zwar zur Krönung einer richtigen Landpartie gehört, den wir vier: Wagen, Pferd, Kutscher und ich aber doch mit verbissenem Grimm erduldeten. Bis mir aus einem Weiler hilfreich ein mächtiger roter Regenschirm geliehen wurde. So liegen Freude und Leid doch immer nahe beieinander im Menschenleben; das bewiesen mir die Ausflüge ins »höchste Tessin« – auch Campo liegt noch 1200 m hoch – aufs neue. Deshalb liebe ich es und sage traurig auf gut tessinisch:

»Ciau Ticino!« Lebewohl, Tessin!


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Verlag
Walter Schmidkunz
Bayerstraße 25  München  Bayerstraße 25

Hinweise zur Transkription

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Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt. Textanteile, die abweichend in Antiqua gesetzt sind, wurden in dieser Transkription markiert, jedoch wurde für Römische Zahlen und die Maßeinheiten "m" und "km" auf eine Markierung verzichtet.

Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Antiqua.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Seite 26:
im Original: "erheben sich die weißen Linie der ewigen Gletscher"
geändert in: "erheben sich die weißen Linien der ewigen Gletscher"

Seite 33:
im Original: "Leute von der Knorrhüte"
geändert in: "Leute von der Knorrhütte"

Seite 65:
im Original: "schon alle, ungegefähr 700 Stück graubrauner Kühe"
geändert in: "schon alle, ungefähr 700 Stück graubrauner Kühe"

Seite 74:
im Original: "noch mühsam und nicht gerade wohltuend"
geändert in: "noch mühsam und nicht gerade wohtuend"

Seite 84:
im Original: "in einem Purpurmeer vertautauchenden Gestirns"
geändert in: "in einem Purpurmeer vertauchenden Gestirns"

Seite 108:
im Original: "von dem sogar die altmodische Post"
geändert in: "vor dem sogar die altmodische Post"

Seite 128:
im Original: "fielen alle kleinen Erdennöten vom Herzen"
geändert in: "fielen alle kleinen Erdennöte vom Herzen"

Seite 175:
im Original: "»Giau Ticino!« Lebewohl, Tessin!"
geändert in: "»Ciau Ticino!« Lebewohl, Tessin!"