The Project Gutenberg eBook of Heimat: Erzählungen This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Heimat: Erzählungen Author: Anna Schieber Release date: March 24, 2022 [eBook #67701] Language: German Original publication: Germany: Eugen Salzer Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIMAT: ERZÄHLUNGEN *** Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. Heimat Erzählungen von Anna Schieber Elftes bis zwanzigstes Tausend [Illustration] Verlegt bei Eugen Salzer in Heilbronn 1915 Inhalt Seite Der Tunichtgut 3 Zum zweitenmal 55 Von der stummen Kreatur 115 Nichts Besonderes 145 Heimat 163 Der Tunichtgut Das Glöcklein an der Ladentür der Schmidbergerin bimmelte heut den ganzen Tag. Es hatte ein helles, hohes Stimmlein, und wenn es angestoßen wurde, konnte es lange nicht zur Ruhe kommen. Es war so geschwätzig, wie die Weiber, die sich in dem niedrigen Lädchen trafen und einander die Stadtneuigkeiten erzählten. Es war das Gegenteil von der Schmidbergerin selber, die nicht viel redete um einen Kreuzer, wie die Leute sagten. Sie sagte auch heute nicht viel, wo es doch wahrhaftig wichtige Dinge zu bereden gab. Der Büttel war durchs Städtlein gegangen und hatte es ausgeschellt, daß Krieg sei. Krieg, und die Männer und die Buben mußten fort, ein ganzer Trupp schon heute, die anderen morgen und übermorgen, je nach dem Alter und der Dienstzeit. Krieg gegen die halbe Welt, wenn man alles glauben durfte, was von Mund zu Mund ging. Der Hutmacher Haas kaufte ein halbes Pfund Tabak und sagte, so lang die Schmidbergerin ihn auswog (denn er nahm immer vom offenen): »Wer da wieder heimkommt, das weiß kein Mensch. Man kann froh sein, wenn man Mädle hat und keine Buben, einmal ich bin froh.« Der Hutmacher Haas hatte ein Gallenleiden und darum fast immer einen üblen Humor und seine drei Töchter hatten es nicht am besten bei ihm. Aber als er das sagte, da nickte die Kreuzbäurin, die zwei Söhne und einen Schwiegersohn hinauslassen mußte, und neben ihr die Schreiner Hübnerin ließ einen tiefen Seufzer fahren, denn sie hatte nur einen einzigen Sohn, der in Ulm bei den Pionieren gedient hatte und der heute nacht noch fortmußte. Der alten Schullehrerin aber liefen ganz still zwei große Tränen herunter, als sie an ihre vier Enkel dachte, an denen ihr Herz hing. Aber in die entstandene kleine und bedrückte Stille hinein fuhr die Stimme des jungen Polizeidieners Ruckhaber, der sich ein Paar Hosenträger holen wollte und grad noch die Rede vernommen hatte. »Ihr Leut, jetzt ist keine Zeit zum Kopfhängen,« sagte er frisch, »und wer Buben hat, soll Gott danken, daß sie mitkönnen. Zum Vergnügen geht keiner, das ist gut wissen, aber doch möcht ich den sehen, der sich halten ließ’, wenn’s gegen den Feind geht und fürs Vaterland.« »Jawohl,« fiel der Fuhrmannsknecht Schorsch Weidler ein, der ein Kistchen Wetzsteine auf der Achsel hatte und sich nach einem Platz umsah, wo er es abstellen könne. »Und im Gegenteil kann man froh sein, wenn man ein Mannsbild ist und muß nicht daheim hinsitzen, wie die Weiber, sondern kann vorne hinstehen und zu den Franzosen sagen: ›Aus dem Weg da, denn nach Deutschland hinein kommt ihr nicht, da muß alles im guten Alten bleiben.‹« »Fest steht und treu die Wacht am Rhein,« sagte der Polizeidiener dazu, und nun konnte man sehen, wie über die ernsten und stillen Züge der Schmidbergerin ein Lächeln und ein Aufglänzen ging und wie sie vor sich hinnickte, wie eine, die jetzt das gehört hat, was sie selber gern gesagt hätte. Die Leute gingen nach und nach, und andere kamen herein und draußen vor dem Laden sagte die Schlosserin ein bißchen giftig: »Die Schmidbergerin hat gut lachen. Ihr Mann ist tot und ihr Lausbub, ihr verkommener, ist in Amerika in guter Sicherheit, die braucht niemand ins Feuer zu schicken.« Aber die Weiber waren selber erbaut und gerührt von der guten Rede der zwei jungen Männer und sie spürten auch selber etwas von dem Großen, das da auf schweren Flügeln herangesaust kam, und sagten nur: »Ein Kreuz ist so und das andere anders, es hat ein jedes sein Päckle,« und strebten eilfertig ihren Häusern zu, denn da war die Arbeit zu Haufen, ungerechnet das, daß man noch jeden Augenblick da sein wollte, so lange die Ausziehenden daheim waren. Die Schmidbergerin hatte aber nicht »gut lachen«, und lachte auch nicht. Sie tat den ganzen Tag ihre Schuldigkeit im Laden und schenkte denen, die zum b’hüet Gott sagen unter ihre Tür traten, ein paar Zigarren oder auch eine gute Münze auf unterwegs je nach ihrem Stand und Vermögen, und gab ihnen mit stillen Gesicht gute, feste Händedrücke mit auf den Weg. Aber als sie am Abend die Holzläden vor das Schaufenster und vor die Tür getan und die Riegel geschlossen hatte, da ging sie in ihr Gärtlein hinter dem Haus, beugte sich zu einem rotblühenden Nelkenstock herunter und sagte mit schwerer Stimme: »O Gottlieb!« Und in dem Wort lag so viel Kummer und so viel Liebe und so viel vergebliche Sehnsucht und Sorge, als ein volles, zugeschlossenes und geduldiges Mutterherz nur fassen kann. Der Nelkenstock nahm ein paar große, warme Tropfen in seine offenen Blüten auf, obgleich der Abendhimmel klar und licht war, und vielleicht duftete er darauf noch stärker als vorher. Der Nelkenstock stammte noch von ihrem Gottlieb; er war aus einem Ableger von demjenigen gezogen, der das Mansardendach vor seiner Bubenkammer mit seinen purpurnen Blüten überschüttet hatte. Darum war er der Mutter ans Herz gewachsen. Aber Antwort konnte er doch nicht geben auf das dringliche Fragen ihres Herzens: Bub, lieber Bub, wo bist du? und was schaffst du? und wenn du noch lebst, wie mag dir’s zu Mut sein, wenn du es hörst, daß das Land in Gefahr und Not ist? Gleich ist dir’s nicht, so wenig wie mir. Wenn ich dir’s nur sagen könnt’! Wenn ich dir nur einen Strauß von den Nelken an den Helm stecken könnte und einen in den Gewehrlauf, und hinter dir drein gucken, wie andere Mütter ihren Buben. Ich tät’ dich nicht halten, wenn ich auch dürfte, und ich könnt’ auch nicht. So einen Hitzkopf, wie dich. Da mußte die Mutter in all ihre suchenden Gedanken hinein lächeln, wenn sie dachte, daß sie ihren Buben vom Kriege zurückhalten wollte, falls er da wäre; den und halten, wenn er etwas wollte! Sie stand auf und ging das Gartenweglein hinunter, bis da, wo der kleine Garten an die Wand des Nachbarhauses anstieß. Dort setzte sie sich müde auf das Bänklein, das der Gottlieb noch gemacht hatte, eh’ er fortging von ihr. Das war jetzt sechs Jahre her. Damals war er sechzehn gewesen, klein und mager, ein leibarmes Bürschlein. Kein Mensch hätte vom bloßen Ansehen wissen können, wie wild und hitzig und ungefügig er war, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Höchstens an dem steil aufstehenden Haar sah es, wer es wußte, und an den Augen, die aus tiefen Höhlen heraus Funken schießen konnten. Wie er jetzt wohl aussah? Sie besann sich oft darüber. Im Traum und im Wachen sah sie ihn vor sich. Aber immer wie damals, und sie hätte doch so gerne sein jetziges Bild gehabt. Seine Schulkameraden hatten jetzt Schnurrbärte und waren ausgewachsene junge Männer. Als die Mutter mit ihren Gedanken so weit war, sah sie ihre Tochter von weitem die Gasse heraufkommen. Sie hatte eine breite, gedrungene Gestalt, so jung sie war, und sie ging ein wenig schwerfällig, denn sie stand vor der Geburt ihres ersten Kindes. Unter einer Haustür blieb sie stehen und sprach zu jemanden, den man nicht von hier aus sehen konnte, ins Haus hinein. In dem Haus wohnte eine Freundin von ihr, deren Mann morgen fort mußte. »Die Lene wird froh sein, daß der Jakob nicht in den Krieg muß,« dachte die Schmidbergerin. Denn der Tochtermann hatte einen stark verkürzten Fuß und war militärfrei. »Ich weiß nicht, ich gönn’s ihr, zumal jetzt, wo das Kind um den Weg ist. Aber ich, wenn ich jung wär, ich glaub’ es wär mir ein Leid, wenn meiner nicht mitkönnte. Grad wenn ich ihn gern hätte und einen Stolz auf ihn haben möchte.« Die Mutter fühlte sich oft nicht recht eines Blutes und einer Art mit der Tochter, die ihr doch nie Sorgen und Kummer gemacht hatte. Die Lene war wohl mehr ihres Vaters Tochter, brav, nüchtern und ein wenig phlegmatisch. Den Flaschner Bäuerle hatte sie genommen, weil er ihr ähnlich war und weil er ein gutes Geschäft hatte. Von dem Bruder sprach sie nicht gern. Sie schämte sich seiner, denn er war als ein Tunichtgut in aller Leute Mund und hatte mehr Streiche verübt als sonst irgend ein Bub im Städtlein, noch eh’ er seiner dritten Meistersfrau bloß aus Zorn über ein paar empfangene Ohrfeigen einen Stein durchs Fenster und an den Kopf geworfen hatte. Der Vater hatte damals den Gottlieb halb tot geprügelt und am andern Morgen war der Bub fortgewesen und hatte noch Geld mitgenommen. Seither prophezeiten alle Schluderbacher, daß er ein böses Ende nehmen werde, und nur seine Mutter hielt an ihm fest und meinte, es sei doch ein guter Kern in ihm, der eines Tages herauskommen werde. Wie eben die Mütter sind, besonders wenn sie, wie die Schmidbergerin, so ein Büblein schon mit in die Ehe gebracht haben und nun ihrer Lebtag meinen, sie haben etwas an ihm gutzumachen. Die Lene hielt aber zu ihrem Vater, der darüber verstorben war, daß der Bub, den er gehalten hatte wie seinen eigenen, seiner Meinung nach, ein Tunichtgut sei und bleibe. Auch wollte der Flaschner Bäuerle nicht viel von dem Schwager wissen und war froh, daß er fort sei. So war die Mutter allein mit ihrem heimlichen Kummer und ihrer großen Liebe und auch allein mit ihrem warmen und raschen Herzen, das sie aus ihrer Jugend mit herübergebracht hatte und das immer noch feurig schlagen konnte, wo etwas Großes und Lebendiges geschah. Sie hätte gern einen Helden aus ihrem Haus und Blut dem Vaterland gestellt, dem sie sich plötzlich mit allen Sinnen verwachsen und verwandt fühlte, seit es angegriffen und in Not war. »Wenn nur auch gewiß alle gehen und ihre Schuldigkeit tun,« dachte sie ein wenig sorgenvoll und ließ ihre Gedanken in allen Häusern, die sie kannte, herumgehen. »Ach was, sie werden schon,« wies sie sich zurecht. »Wenn Not an Mann geht, weiß ein jeder, wo er hingehört.« Und wie zur Bestätigung dieses Gedankens klang von weitem ein Lied auf, von vielen Männerstimmen im Marschieren gesungen. »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.« Da schossen dem einsamen Weib die Tränen in die Augen vor einer heiligen Freude und Liebe. Wie die Stimmen vorüberzogen und verklangen, schlug eine einzelne Stimme an ihr Ohr. Sie kam aus dem offenen Fenster des Nachbarhauses, in dessen Nähe sie saß. Es war eine tiefe Männerstimme und sie gehörte dem Weber Boßhardt, der das Haupt der kleinen Pietistengemeinde des Städtleins und der Stundenhalter war. Die Schmidbergerin horchte auf. Boßhardt betete den Abendsegen mit seiner kleinen Hausgemeinde. Sein Sohn und der Knecht mußten heut in der Nacht noch fort, dann blieb der alte Mann, der ein Witwer war, allein mit der Hauserin. Die Schmidbergerin tat unwillkürlich die Hände zusammen beim Zuhören. Es waren die großen, feierlichen Worte eines Psalms, die in die tiefe Dämmerung herausfielen. »Denn er hat seinen Engeln befohlen, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen, daß sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stößest. Auf den Löwen und Ottern wirst du gehen, und treten auf den jungen Löwen und Drachen. Er begehret meiner, so will ich ihm aushelfen, er kennet meinen Namen, darum will ich ihn schützen.« Als der Vorleser so weit war, fiel wieder naher Soldatengesang in die Stille hinein, und das Fenster wurde von innen leise zugemacht. »Jetzt segnet der Jedele seinen Sohn und seinen Knecht zum Auszug,« dachte die Schmidbergerin. »Er läßt einen jeden ein Blättchen aus dem Ziehkästlein mit den Bibelsprüchen herausgreifen als Wegzehrung. Und er sagt ihnen zum Abschied, daß er daheim tun wolle, wie Aaron bei der Amalekiterschlacht, der oben auf dem Berge die Arme zum Himmel streckte, so lang unten im Tal die Schlacht tobte. Da nehmen sie einen Rückgrat mit von daheim und im Kugelregen fällt ihnen auf einmal ein, daß der alte Mann in Schluderbach für sie zu Gott ruft und daß sie siegen müssen.« Sie seufzte. »Mein Gottlieb ist bei Nacht und Nebel aus dem Fenster gestiegen und hat den Rücken voll blutiger Striemen gehabt von seinem Stiefvater. Seinen rechten hat er nicht gekannt. Und seine Mutter hat ihn müssen laufen lassen ohne ein b’hüt Gott. Und was aus ihm geworden ist, weiß sie nicht.« Sie zog ihren Geldbeutel aus der Tasche, und aus einem verschlossenen Fach desselben einen ganz zerlesenen Zettel. Sie konnte ihn auswendig, aber sie wollte die Schriftzüge ansehen. Sie waren alles, was sie seitdem von ihrem Buben hatte. »Liebe Mutter, ich bin in Amerika. Das Geld kann ich noch nicht schicken, aber sobald es mir möglich ist, schicke ich es. Ich schaffe in einer Ziegelei, es ist streng, aber schlagen tut mich niemand und auch niemand sagt, daß ich ein Lump werden müsse. Liebe Mutter, ein Lump werde ich nicht, und an Dich denke ich immer. Wenn ich etwas Rechtes geworden bin, schreibe ich wieder. Dein Sohn Gottlieb.« Es war dunkel geworden. Die Mutter tat den Zettel, den sie nicht gelesen, nur hergesagt hatte, wieder an seinen Platz. Das Gartentürlein knarrte. Die Tochter kam den Weg herunter; sie hatte ihren Schwatz beendigt und wollte noch nach der Mutter sehen. Seit sie das Kind unter dem Herzen trug, zog sie es eher als vordem einmal zu ihr. »Ich hab’ Dir bloß noch guten Abend sagen wollen, Mutter,« sagte sie. »Lang aufhalten kann ich mich nicht mehr. Der Jakob will noch an den Bahnhof gehen und ich geh’ auch mit. Um zehn Uhr fährt der Zug ab mit den Unsern, unser Geselle ist auch dabei. Den Jakob kenn ich gar nicht mehr. Er schimpft den ganzen Abend über seinen kurzen Fuß. ›Wenn ich den nicht hätte, könnt’ ich mit hinaus,‹ sagte er. ›Wie an der Kette komm’ ich mir vor.‹« Sie gingen miteinander aufs Haus zu. Im Gehen bückte sich die Tochter hie und da zu den Blumen, die in schmalen Rabatten längs des Weges blühten. Ein voller Strauß entstand unter ihren Händen. »Den will ich dem Christoph geben, unserem Gesellen. Er ist fremd hier und hat keinen Schatz und keine Mutter. Man kann ihn doch nicht so hinauslassen.« Die Mutter sah sie beifällig und freundlich an. »Nimm auch von den Nelken,« sagte sie. »Was, von deinem heiligen Nägelesbusch?« staunte die Tochter. »Den hat sonst kein Mensch anrühren dürfen! Als der Jakob mein Bräutigam war, hab’ ich ihm einmal eine Nelke anstecken wollen, da hast du gleich gesagt: Laß den Stock in Ruh’, der ist mein allein. Der Jakob hat sich geärgert damals, wenn er auch nichts gesagt hat!« »Das ist heut eine andere Sache. Hörst du, wie sie singen auf der Landstraße drüben? »O Deutschland, hoch in Ehren,« singen sie. Das sind die von Holderwies und vielleicht die von Ambach dabei. Die kommen vom Acker weg und vom Hof und Haus. Alles lassen sie hinter sich und singen noch, wie wenn sie zu einem Fest gingen. Das Herz möcht’ man sich aus der Brust nehmen und ihnen geben, nicht bloß ein paar Blumen.« Der Mutter Stimme zitterte vor Bewegung. Die Tochter suchte durch die Dunkelheit ihr Gesicht. »Dich kennt doch auch kein Mensch,« sagte sie. »Immer bist du anders, als man jetzt meint. Du lachst anders und heulst anders als andere Leut. Hast doch auch schon viel durchgemacht, und jetzt, wenn Krieg ist, und du könntest froh sein, daß du niemand fortschicken mußt, tust du, wie wenn dich alles am meisten anginge. Was ist? was hast denn?« Es drang ein leise schluchzender Laut durch die Stille. »Laß mich nur sein, wie ich bin,« sagte die Schmidbergerin, und schluckte ihre Bewegung hinunter. »In dich geht alles langsamer hinein, als in mich. Du wirst’s schon auch noch spüren, wie das ist, was wir jetzt erleben, und daß wir alle aneinander hangen, alles was deutsch ist, wie einer Mutter Kinder, und daß wir der Mutter nichts geschehen lassen. Ich hab’ immer alles so stark spüren müssen, meiner Lebtag schon. Ich mach mich nicht mehr anders. Gut’ Nacht, Lene.« »Gut’ Nacht, Mutter.« * * * * * Wie die Tage nun kamen, einer nach dem andern, schwoll ihr Inhalt und das Geschehen, das sie brachten, zu einer unerhörten, ungeheuren Fülle an. Wer hat sie miterlebt und wird sie je vergessen? Da sei Gott vor, daß aus Deutschlands Herzen jemals schwinde, was da Offenbarung wurde aus den Tiefen der Volksseele herauf: wir gehören zusammen; wir stehen, wie eine Mauer gegen die Feinde. Laßt sie zuhauf kommen, so viele ihrer sind, Deutschland geht nicht unter. Es ist ein innerstes Wissen geworden, daß wir siegen werden. Ein leidenschaftliches Sich-Hingeben von allen, ein Sich-Opfern können, ein stilles, tiefes Gott-Gedenken: Du hilfst uns. Der alte, engbrüstige Schneider Merz, der schon lang nach dem Tod gejammert hatte, machte sein Fenster auf, wenn die singenden Militärzüge an seinem Haus vorbeifuhren, und sagte zu dem Weber Boßhardt, der ihn besuchte: »Jetzt das muß ich sagen, das tät mich jetzt reuen, wenn ich schon gestorben wäre. Daß ich das noch erleben darf, das freut mich. Jetzt bloß noch so lang, wenn’s Gottes Will’ ist, bis man sieht, wie’s geht.« »Gehen tut’s gut,« sagte der Weber Boßhardt. »Grad weil’s so viel Feind’ sind, denen wir nichts getan haben, und die sich alle ins Unrecht setzen gegen uns, darum muß es gut gehen. Daß das Wunder und die Hilf’ um so größer ist. So ist’s im Alten Bund auch gewesen. Gib einmal das Buch her.« Der Schneider gab »das Buch« her und der Weber las: »Wohl her, sprechen sie, laßt uns sie ausrotten, daß sie kein Volk seien, daß des Namens Israel nicht mehr gedacht werde. Denn sie haben sich miteinander vereinigt und einen Bund wider uns gemacht. Die Hütten der Edomiter und Ismaeliter, der Moabiter und Hagariter, der Gebaliter, Ammoniter und Amalekiter, die Philister samt denen zu Tyrus.« Da ging die Tür auf und die Schmidbergerin kam herein mit einer Suppe für den Schneider, der ihr nächster Nachbar war. »Wißt ihr’s schon?« fragte sie, »die Japaner tun jetzt auch mit und der Landsturm muß fort.« »Assur hat sich auch zu ihnen geschlagen und helfen den Kindern Lots,« murmelte der Weber. »Es ist, wie ich sag’! Für das deutsche Volk ist’s eine Heimsuchung, keine leichte. Aber wenn’s wettert, so machen die Kinder, daß sie unter Dach kommen und heim, und so ist’s bei uns auch. Sie kommen alle, man sieht’s jetzt schon. Nicht bloß zum Militär, auch zu unserm Herrgott. Aber für die Feinde ist’s das Verderben.« Als er das sagte, da glänzte sein trockenes, verknittertes Webergesicht über alle tausend Fältchen hin, wie von einem inwendigen, starken Licht und der Schneider sah ehrfürchtig zu ihm auf. Die Schmidbergerin ging gleich wieder, denn sie mußte ihren Laden versorgen, und hinter sich drein hörte sie noch den Weber sagen: »Gott, mache sie wie einen Wirbel, wie Stoppeln vor dem Winde.« Aber sie hatte ein anderes Wort ins Herz gefaßt, das was der Weber von den verlaufenen Kindern gesagt hatte, die heimkommen, wenn’s wettert. Das kam zu einer heimlichen Hoffnung, die schon all die Tage daher in ihrem Herzen das Wort haben wollte, und die Hoffnung wurde stärker und froher daran, so still sie auch vor andern Leuten sein mußte. Es kamen die Nachrichten von draußen herein, von Schlachten und Siegen und von vielen Verlusten. Die Verluste sah man nicht, man hatte nur ein blutiges und feuriges Bild von so einem Schlachtfeld vor den Sinnen, bis einmal ein Sanitäter auf einen Tag heimkam, der junge Provisor Mergentaler, der einen Lazarettzug begleitet hatte und der im Ochsen den aufhorchenden Männern erzählte, wie es da eigentlich herging. Die Wirtstochter, die ihn gern hatte, sah, daß sein Gesicht sich stark verändert hatte, es sah immer so gerade vor sich hin, wie in eine Ferne, und in der Ferne war Grausiges. Vom Ochsen kam es im Städtlein herum, was er erzählt hatte: ganze Bäche von Blut sah man rinnen, und am Abend, wenn man das Schlachtfeld absuchte, lagen viel stille Leute da unter den jammernden Verwundeten drin. Einer hatte ein Bild von seiner Frau in der Hand. Und neben einem andern lag ein Büchlein, das war rot gefärbt mit seinem Blut, und manche hatten sich in den Grasbüscheln festgekrallt. Aber das Ärgste war, daß der Sanitäter gesagt hatte: »Ihr Leut, es sind da Sachen, die kann kein Mensch wiedersagen, wer die sieht, der verlernt das Lachen für immer.« Jetzt hätten die Weiber gern die Sachen gewußt, die man nicht sagen kann, denn wer konnte wissen, ob sie nicht gerade einen von den ihrigen angingen. Davon redeten sie hin und her und machten sich schwere Gedanken. Es war aber nicht nur eine, die, wenn sie die Schmidbergerin ansah, dachte, die habe es gut, und habe ihren Buben weit vom Schuß, und sie brauche ihre Lippen nicht so fest zusammenzupressen, sondern könne froh sein, obgleich es wahrhaftig nicht schad wäre um ihr Früchtchen. Aber am selben Tag, als die Nachricht kam, daß von den vier Enkeln der alten Schulmeisterin zwei gefallen seien, bekam die Schmidbergerin auch einen Brief, und als sie ihn gelesen hatte, ging sie merkwürdig aufrecht und hellsichtig herum, und das Pfarrersbüblein, das Essig holte, hörte sie hinten im Laden am Essigfaß vor sich hinsummen: »Frankreich, o Frankreich, wie wird es dir ergehen, wenn du die deutschen Soldaten wirst ersehen.« Da wunderte sich das Büblein, weil die Schmidbergerin sonst nie so etwas tat, und weil sie aussah, als ob sie etwas von Herzen freue. Am Abend aber, als sie den Laden geschlossen hatte, ging die Schmidbergerin auf das Bänklein unter dem Fenster des Webers Boßhardt und wartete, bis er heraussah. Da reichte sie ihm fast verschämt den Brief, den sie hinter ihrem Schürzenlatz stecken hatte, und sagte: »Wenn Ihr ihn lesen wollet, Boßhardt; der Mensch braucht einen Menschen, nicht bloß im Leid, auch wenn er eine Freud’ erlebt.« Der Weber sah sie mit seinen kleinen, hellblauen Augen freundlich an. Denn sein Herz ging über die kleine Gemeinde der Stundenleute hinaus und spürte, wo etwas Lebendiges um ihn her gleich ihm aus unsichtbaren Quellen trank oder sich nach ihnen hinsehnte. »Kommt aber doch ins Haus, Nachbarin,« sagte er. »Die Lampe brennt schon und ich brauch’ meine Brille zum Lesen.« Gleich darauf saß die Schmidbergerin auf der langen Bank, die drinnen in der Stube an der Wand hinter dem Tisch entlang lief, neben der Haushälterin, und der Weber saß oben am Tisch bei der Lampe, hatte die Brille auf und las mit der gleichen tiefen Stimme, wie er ein Kapitel aus der Bibel las: »Lissabon, den ... Liebe Mutter! Da wirst Du staunen müssen, daß ich hier bin im Königreich Portugal, das in Europa liegt. Ich bin aber bloß auf der Durchreise hier, denn Du kannst Dir denken, daß ich heimpressiere und zwar nicht nach Schluderbach, sondern sogleich zum Militär, wo man jetzt hingehört. Denn, liebe Mutter, wenn man im Ausland hört, daß alle zusammenstehen und wollen einem sein Vaterland verhauen, dann schießt einem das Blut in allen Adern herum und sucht einen Ausweg, so heiß wird es einem, und man merkt auf einmal, daß man ein Deutscher ist, an was man vorher oft nicht gedacht hat. Und man muß sich keinen Augenblick besinnen, daß man heim muß und mittun. Liebe Mutter, als ich erfahren habe, daß Krieg ist, da bin ich mit meinem Herrn, der ein Ingenieur ist, hoch im Gebirge in Argentinien gewesen, wo mein Herr eine große Wasserleitung hat bauen sollen. Er ist auch ein Deutscher; ich bin außer ihm der einzige Deutsche an dem Werk gewesen. Als die Botschaft kam, da sind wir beide die Nacht durch gelaufen, manchmal in Sprüngen den Berg hinunter und weiter, immer weiter, und haben fast nichts geredet. Nur einmal hat mein Herr gesagt: »Jetzt kann ich’s wieder wett machen.« Aber was er wett machen wollte, daß weiß ich nicht, bloß das von mir selber. Liebe Mutter, es hat mich schon oft umgetrieben, das muß ich jetzt sagen, daß Du hast um mich leiden müssen. Das reut mich, weil ich spüre, daß Du und ich zusammengehören und sonst zu niemand. Wenn man in der Fremde ist und hart durch muß, fallen einem viele Sachen ein. Ich hätte Dir auch oft gern geschrieben. In der Nacht hab’ ich’s mir oft ausgedacht, was ich Dir schreiben will. Aber bei Tag hab’ ich gedacht: wartest noch eine Weile, bis du sagen kannst: das und das bin ich geworden. Liebe Mutter, ich hätt’ es schon lang weiter gebracht, aber es ist mir immer wieder zur Unzeit der Zorn aufgefahren und habe ein paarmal meine Stellen verloren und einmal bin ich auch gesessen, weil ich einen halbtot geprügelt habe. Lügen will ich nicht, darum sage ich es Dir. Er ist aber ein Schuft gewesen, er hat es verdient. Jetzt aber, liebe Mutter, wie wir nach ein paar Tagen an den Hafen gekommen sind, mein Herr und ich, da haben wir erfahren, daß die Deutschen nirgends durch können, weil die Engländer alle Schiffe absuchen und die Deutschen gefangen nehmen. Es sei alles umsonst. Da ist mein Herr ganz still hingesessen und hat vor sich hingebrütet und übers Meer hinausgesehen. Aber ich habe gesagt: »Es muß zu machen sein, daß wir hinüber kommen, da soll uns kein Teufel und kein Engländer hindern.« Liebe Mutter, es ist das einzigemal, daß ich gestohlen habe, nämlich zwei Pässe von Portugiesen, die mit mir in der Kammer geschlafen haben. Es reut mich aber nicht, denn die können wieder Pässe kriegen. Als ich damit zu meinem Herrn kam und ihm sagte, daß ich mir ausgedacht habe, wie wir reisen wollen, sah er mich traurig an und sagte: »Nein, nein, so kann ich nicht heimfahren, es würde nicht gut ausfallen bei mir. Ich kann nicht Komödie spielen; es liegt nicht in mir. In Gibraltar gefangen sitzen möchte ich aber nicht.« Dabei sah er aber aus, wie das Heimweh selber, und wenn ich an ihn denke, so sehe ich ihn immer so sitzen, den Kopf in der Hand, da brennt es mich im Herzen für ihn. Aber ich bin anders. Wenn ich etwas muß, so muß ich. Den einen Paß warf ich ins Feuer, denn zurück konnte ich nicht mehr. Mit dem andern habe ich mich als Kohlenschaufler auf einem Schiff anwerben lassen, das nach Europa gefahren ist. Portugiesisch kann ich zur Not und auch ein bißchen Englisch. Die Haut und das Haar habe ich mir dunkel gemacht und habe einen alten Seemannsanzug gekauft und dann ging es los. Als das Schiff heimzu schwamm, da hätte ich jauchzen mögen; denn das weiß kein Mensch, wie ich Heimweh gehabt habe in der Zeit vorher. Aber ich habe mich nicht mucksen dürfen und kein deutsches Wörtlein verlieren, sonst wäre ich verloren gewesen, denn überall waren Aufpasser von den Engländern. Liebe Mutter, da habe ich mich aber zusammennehmen müssen, bei Tag und Nacht. Es ist mir oft angst gewesen, ich könnte im Traum deutsch reden. Oder wenn die Leute auf dem Schiff über Deutschland geschimpft haben, dann habe ich meine Fäuste im Sack ballen müssen, daß ich nicht losgefahren bin. Denn je näher heimzu, desto besser habe ich gespürt, daß ich eine Heimat habe und ein Vaterland. Liebe Mutter, es ist das allerärgste, wenn man nirgends hingehört. Es ist schwer gegangen mit dem Verstellen, aber dennoch habe ich es fertig gebracht. In den Häfen, wo englische Offiziere aufs Schiff gekommen sind, da ist es am schwersten gewesen. Denn sie haben Verdacht auf mich gehabt und haben mich deutsch angeredet, ob ich mich vielleicht verrate. Aber ich habe getan, als ob ich sie nicht verstehe und habe den Kopf geschüttelt, da haben sie mich gelassen. Es ist ein Heizer auf dem Schiff gewesen, der hat mir nicht getraut und hat mich immer den Engländern angezeigt. Ich habe ihn aber hier in Lissabon, als wir glücklich an Land waren, in eine stille Seitenstraße geführt und habe ihm vor Gott eine solche Ohrfeige hingehauen auf deutsch und ohne Worte, daß er an ein Haus hingetaumelt ist. Liebe Mutter, das reut mich auch nicht. Denn wenn ein Mensch heim will und seinem Vaterland beistehen, so soll man ihn lassen; das geht niemand etwas an. Einen solchen langen Brief habe ich in meinem Leben noch nicht geschrieben und schreibe auch keinen solchen mehr. Morgen fahre ich mit der Eisenbahn heimzu. Sobald ich an der deutschen Grenze bin, stelle ich mich beim Militär. Eingelernt will ich bald sein, denn ich kann schießen und reiten wie ein Alter, und Strapazen bin ich auch gewöhnt. Wenn ich im Feld bin, schreibe ich Dir eine Karte. Wenn der Krieg aus ist und ich lebe noch, dann komme ich zu Dir. Dein Sohn Gottlieb.« Der Weber hatte zu Ende gelesen. Er gab der Mutter den Brief zurück und sah sie freundlich an. »Der Herr wolle ihn segnen und heimbringen,« sagte er. Die Schmidbergerin war seine Sprache nicht recht gewohnt, denn sie ging nicht in die Stunde, aber es war ihr doch, als gebe ihr der Weber etwas Heiliges mit für ihren Gottlieb. Doch wußte sie nicht gewiß, ob mit dem Heimbringen das Wiederkommen nach dem Krieg gemeint sei und sie sagte fast schüchtern: »Man darf es schier nicht verlangen, daß man grad den seinigen gesund behält, wo so viele fallen; wenn er aber nur seine Schuldigkeit tut, das ist jetzt die Hauptsache. Ich bin ja froh genug, daß er überhaupt noch lebt, und daß er heimkommt und weiß, wo er hinstehen muß, jetzt.« Sie sah so froh aus, als sie ging, daß die Haushälterin, die ihr leuchtete, nicht das Herz hatte, ihr zu sagen, daß in dem ganzen Brief nichts von einer Bekehrung des Buben oder auch nur von einer bürgerlichen Tüchtigkeit stehe, und daß die Schmidbergerin scheint’s noch lange nicht wisse, was die Hauptsache sei. Die Haushälterin hatte ein etwas säuerliches Gemüt, aber seit sie dem milden Weber den Haushalt führte, schluckte sie hie und da eine Schärfe hinunter, die ihr sonst leicht über die Lippen trat. So sagte sie nur: »Er hat’s schlau angestellt, dein Gottlieb, daß er die Engländer getäuscht hat, es hätt’ ihm können schlecht gehen unterwegs. Leut’ wird man brauchen können da draußen im Krieg. Auf dem Berg, sagt der Sailer, habe man heut wieder den ganzen Tag schießen hören vom Elsaß her.« »Ich denk’s, daß man Leut’ brauchen kann,« sagte die Schmidbergerin so stolz und heiter, daß es der Haushälterin schier leid tat, ihren Stich nicht angebracht zu haben. Stolz brauchte sie nicht zu sein, die. Man wußte schon noch etwas von ihr, aus der leichtsinnigen Jugend her. Aber da schritt sie schon die Gasse hinunter, dem Haus ihrer Tochter zu, die im Kindbett lag und einen Buben an der Brust hatte. Und die Haushälterin schützte ihr Lämplein vor dem Nachtwind und ging ins Haus zurück, denkend, daß Reden Silber gewesen wäre, und daß es nicht allemal Gold sein müsse. * * * * * In Schluderbach ging gegen den Spätherbst hin die Rede, die Schmidbergerin tue seit neuerer Zeit, als ob der Krieg ihr gehöre. Geradewegs gesprächig war sie geworden. Zwar wo man im voraus jammerte um böse Dinge, die kommen könnten, und schlechte Aussichten eröffnete, da tat sie nicht mit. »Unsere Männer werden’s schon schaffen,« sagte sie, »es ist mir gar nicht angst. Die stehen hin wie eine Mauer.« »Unsere Männer,« sagte sie und niemand konnte ihr wehren, sozusagen. Denn sie hatte ja auch einen draußen im Feld, und man mochte sonst über ihn sagen, was man wollte, er hielt sich scheint’s nicht schlecht. Ja, die Meistersfrau, die dazumal den Stein an den Kopf bekommen und dem Gottlieb seither Galgen und Rad zugeschworen hatte, verzog ihr Gesicht zu einem halb ärgerlichen Lachen und sagte: »Da kann er seinen Jäst vertoben.« Denn er hatte bereits das Eiserne Kreuz bekommen, weil er ganz allein seinen Hauptmann aus lauter Farbigen herausgehauen und wie wütend mit dem Gewehrkolben um sich geschlagen hatte. Der Hauptmann hatte an die Schmidbergerin geschrieben: »Ihr tapferer Sohn,« hat in dem Brief gestanden. »Ihr tapferer Sohn hat mir das Leben und meinen Kindern ihren Vater gerettet.« Nicht, daß die Schmidbergerin damit groß getan hätte. Sie sagte zu keinem Menschen etwas darüber. Es stand aber in der Zeitung, dafür konnte sie nichts. Aber sie ging umher, wie eine Junge, mit heiter-hellem Gesicht, besuchte die Soldaten in dem kleinen Lazarett, das in der Turnhalle eingerichtet war, und tat mit ihnen, wie eine Mutter: weil doch meiner auch draußen ist. Sie hielt zwei Zeitungen und las sie andächtig und mit Überlegung und wenn man vom Stand der Dinge sprach, so konnte sie Auskunft geben und hatte eine Meinung darüber, so gut wie der Stadtschultheiß, obgleich sie nicht mit ihm zusammen kam. In ihrem Lädlein ging es oft hitzig zu, denn die Ansichten gingen manchmal auseinander, besonders wenn die Blätter die feindlichen Tagesberichte brachten, die den deutschen zuwiderliefen, oder wenn sie gar Erzählungen von deutschen Greueln im Ausland abdruckten, die irgendwo in Paris oder London erfunden worden waren. »Ist nur gut, daß es nicht wahr ist,« sagte dann die Schmidbergerin so ruhig als möglich, obgleich es in ihr kochte, daß man »Unseren« so etwas nachsagte. Dann war gewöhnlich einer da, der achselzuckend sagte: »Ha alles wird auch nicht erlogen sein. Unsere sind auch keine Engel. Überhaupt kommt man nicht mehr draus, wer lügt. Meine Frau hat einen Vetter, zu dem hat ein Unteroffizier gesagt, bei uns kommen auch Sachen vor --« Aber da kam ihm die Schmidbergerin in die Rede. »Das ist mir ganz eins, was eurer Frau ihr Vetter gesagt hat.« -- »Nein, ein Unteroffizier hat’s zu meiner Frau ihrem Vetter gesagt.« »Was der Unteroffizier zu eurer Frau ihrem Vetter gesagt hat; wir tun so Sachen nicht, das brächten wir gar nicht übers Herz. Wenn einer einmal im Zorn zuschlägt, wo’s nicht sein müßte, das ist noch lang kein Greuel. Aber mit Fleiß und Bosheit tun wir’s nicht. Und Lügenmeldungen bringen wir auch nicht, das braucht’s nicht bei uns.« Immer »wir« sagte sie, und darum redeten die Schluderbacher davon, daß die Schmidbergerin tue, als ob der Krieg ihr gehöre. Aber sie rechnete sich nur ehrlich mit Leib und Leben dazu. Sie stand hinter ihrem Ladentisch mitten drin in den Schützengräben, in die das Wasser hineinlief, daß die Stiefel nicht mehr trocken wurden, und patrouillierte freiwillig auf gefährlichen Pfaden gegen die feindliche Stellung hin, und hörte das höllische Geknatter der Maschinengewehre und der großen Geschütze, bei dem man sein eigenes Wort nicht verstand, und stand nachts einsam auf vorgeschobenem Posten Wache, und litt tausend Schmerzen mit den Verwundeten, und suchte verborgene Gräben und Hecken ab, ob nicht einer drinnen liege, der sich verblute, wenn man ihn nicht bald finde. Das alles tat und erlitt sie durch die tausend Fäden, die von ihrem Herzen hinausgingen zu den Söhnen ihres Volkes, von denen einer ihr eigener war, wie das die Mütter so tun und erleiden, denen in ihren wachen, hinaushorchenden Herzensgedanken allmählich alle, die draußen sind, so zu eigen werden, als wären sie alle ihres Blutes Kinder, unter sich verbunden, und ihnen innig nah verwandt. Es war an einem Abend am Ende des Oktobers, da kam grad als die Schmidbergerin schließen wollte, noch ein kleines Dirnlein in den Laden und holte, was ihm die Mutter auf einen Zettel geschrieben hatte und gab das Geld dazu aus seinem zusammengepreßten Fäustlein her. Die Schmidbergerin machte ihm die Tür auf zum Hinausgehen, denn es hatte Düten in beiden Armen, da flog ein lauer, starker Windstoß die Gasse herauf, der das Kind schier umgeblasen hätte. Es taumelte gegen die Schmidbergerin hin und diese sagte: »Ei, was für ein Wind auf einmal. Geh’ nur ganz nah an den Häusern hin, Dorle, sonst kommst du nicht heim.« »Der Wind kommt von Belgien her,« sagte das Kind wichtig, und lachte, als ob es etwas Schönes wisse. »Von Belgien? woher weißt du denn das?« fragte die Schmidbergerin erstaunt. »Von meiner Mutter. Sie hat gesagt: Immer wenn der Wind über den Kälberkopf herbläst, dann kommt er von Belgien. Da ist mein Vater. Vorhin hat sie gesagt: Laß dich nur durchblasen, das tut dir nichts, den Vater bläst er auch durch.« Das Kind sprang unverzagt in den Wind hinaus und die Schmidbergerin fühlte eine seltsame Lust, sich auch von dem Wind aus Belgien her durchblasen zu lassen. Sie tat ein Tuch um und schloß den Laden. Ihr Lämplein stellte sie brennend in den Hausflur, dann ging sie dem Wind entgegen die Gasse entlang. Am Haus ihrer Tochter stand sie still. Aus der Schlafstube kam das klägliche Weinen des Kleinen; die Lene war scheint’s bei ihm und trug ihn herum, man hörte sie hin und her gehen. Im Wohnzimmer saß der Tochtermann am Tisch und las die Zeitung. Man konnte von der Straße her die Stube übersehen. Einen Augenblick dachte sie daran, einzutreten. Aber sie ging weiter. Es war den ganzen Tag schon etwas in ihr, dem mußte sie jetzt ins Gesicht sehen, ganz allein für sich. Gleich hinter dem Städtlein ging eine stille Staffel in die Höhe, die stieg sie hinan. Als die Staffel aufhörte, breitete sich ein freier Platz aus, der war mit Gebüsch und Ruhebänken angelegt. In der Mitte stand eine junge Linde, die bog der Wind hin und her und sie ließ es sich schlank und ruhig gefallen, daß er mit ihrem Stamm und mit ihren weichen, fast nackten Ästen ein derbes Spiel trieb und ihr die letzten gelben Blätter entführte. Die Schmidbergerin setzte sich auf die Bank unter der Linde und tat ein paar tiefe Atemzüge. Aber aus dem Haus, das den freien Platz auf einer Seite begrenzte und das allein von allen im Städtlein so hoch gestiegen war, fielen Töne einer Ziehharmonika, die sie wieder vertrieben, denn sie mußte jetzt gerade etwas anderes hören. So stieg sie noch höher hinan, den schmalen Fußweg bis zu der Eiche, die oben an der Anhöhe mit weit ausladenden Ästen stand und über das Tal hinblickte. Hinter ihr ging ein Weglein an den Wald hinüber, der schwarz dastand, eine dunkle, lebendige Mauer. Der Vordergrund war ein breiter, großer Acker. Er war umgebrochen und die Schollen rochen herb und stark. Am Himmel flogen die Wolken hin, große, zerrissene, eilige Heerhaufen. Der Wind aus Belgien trieb sie vor sich her. Wie ein geschlagenes Heer. Oder war es anders? Mußten sie sich sammeln zu einem großen, gemeinsamen Angriff? Zwischen den flüchtigen Gebilden sahen die Sterne heraus, ruhig, groß und klar. »Die sehen über alles hin und lassen sich’s nicht anfechten,« dachte die Schmidbergerin. Sie zog ihr Tuch fester an sich, daß es der Wind nicht fortnehme. Also das war es, was sie umtrieb und was sie nicht zwischen Schmierseife und Heringen ausdenken konnte: seit sich ihr Gottlieb so wacker hielt im Feld draußen und auch anerkannt wurde von seinen Mitkämpfern und Vorgesetzten, wuchs immer stärker der Wunsch und das Verlangen in der Mutter, daß er möchte am Leben bleiben und ein rechter, tüchtiger Mann werden in der Heimat. Jetzt war dann doch ein dicker Strich zwischen seinem früheren und seinem neuen Dasein. Die Mitbürger würden ihn achten lernen, und er würde es auch verdienen, gewiß, wenn er jetzt im Krieg so den Ernst und den Tod kennen gelernt hatte. Die Lene sprach schon jetzt in einem anderen Ton von ihm und ihr Mann auch. »Mein Bruder hat das und das geschrieben, das ist einer, der.« »Mein Schwager ist Unteroffizier geworden, er meint, mit Belgien werde es vollends schnell gehen.« Ihr, der Mutter, schrieb er fleißig Postkarten, wie andere Söhne ihren Müttern auch. Sie hatte sich noch nie so an ihm freuen dürfen, wie jetzt. Darum wallte eine Leidenschaft in ihr auf: sie wollte ihn behalten. Und neben der Leidenschaft eine zunehmende Angst: es trifft ihn. Du wirst sehen, es trifft ihn. Das war vorher nicht gewesen. Da war alles lauter Freude und Stolz, daß er mittat, und daß sie nicht nebendraußen stehen mußte, wenn alle dem Vaterland ihre Söhne gaben. Mit den Wolken flog schnell, in gleitenden Bildern und ohne Aufenthalt, ihr Leben an ihr vorbei. Ihre Mädchenjugend und der Dienst in der Stadt, und die hitzige Verliebtheit in den »besseren Bürgerssohn« und ihr Glaube an ihn. Und seine Heirat mit einer Kaufmannstochter, und das Büblein, das keinen Vater hatte, und das Abfindungsgeld, das sie dem Treubrecher gern an den Kopf geworfen hätte, und der junge Schmidberger, der das Geld und das tüchtige Mädchen gut in seinem Geschäft brauchen konnte und der nach langem Sträuben auch das Büblein dazu nahm und ihm sogar seinen Namen gab. Das hitzige Blut, das der Bub geerbt hatte, nur im höheren Grad, und der Vater, der »es ihm austreiben wollte«. Die tausend Streitigkeiten um ihn, die brave Lene, die schon mit fünf Jahren ein Tugendböldlein war und den Bruder beim Vater verpetzte; sie selber, die Mutter, die sich nicht recht zu helfen wußte, weil man ihr tausendmal sagte, sie solle Gott danken, daß der Bub eine feste Hand über sich habe, er könne es brauchen, wahrhaftig. Gott danken dafür, das tat sie nicht, denn sie meinte oft, die feste Hand mache ihr den Buben noch ganz zunichte. Aber sie wurde still und verschlossen, und bat nur ihren Gottlieb von Zeit zu Zeit: »Gelt, werd mir recht. Werd’ mir brav, Gottlieb. Der Vater meint’s gut, er meint’s gewiß gut.« Einmal, als sie das sagte, streckte der Bub die Zunge heraus, breit und lang, da erschrak sie im tiefsten Herzen, denn es war wie eine lange Antwortrede auf alles, was sie gesagt hatte. Da tat sie ihrem Herzen Gewalt an und gab ihrem Buben eine Maulschelle von großer Kraft und er lief fort und kam vor Abend nicht wieder. Tausend Bilder, mehr als tausend, vorüber mit Gedanken-, Wind- und Wolkenschnelle. Also ja, sie hatte viel um ihn gelitten, um ihren Buben, und am meisten dadurch, daß sie wußte: Er hat selber nichts Gutes. Gar nichts. Wer weiß, vielleicht käm’s jetzt? Vielleicht dürfte sie, die Mutter, ihm noch Liebe antun, und er ihr, und es würde noch schön, und er brächte eine brave, gute Frau ins Haus, die mit ihr, der Mutter, auch gut wäre. Und darum, weil noch so viel zu richten und zu schlichten wäre in des Gottlieb Schmidbergers Leben, und alles im besten Zuge damit, darum soll das Vaterland so gut sein und soll ihn wieder hergeben. Nicht jetzt, behüte, erst nach dem Krieg. Die Mutter hat so eine große Angst in sich, die läßt sie nicht im Haus, und läßt sie nicht schlafen bei Nacht. Sie hat ihren eigenen Krieg in sich, von dem die Schluderbacher nichts wissen, und überhaupt niemand als, ja, vielleicht unser Herrgott. Mit dem probiert sie als einmal drüber zu reden. Sie paktiert sogar mit ihm: »Verwundet, wenn er das würde, da wollte ich nichts sagen. Durch Kreuz zur Krone, sagt man allemal; es muß ihm nichts geschenkt sein. Grad einen Arm oder Fuß wird’s ja nicht kosten. Obgleich, ich will gar nichts verlangen, im Notfall hat er ja eine Mutter. Nur grad, daß er heimkommt, weil ich auch gar nicht weiß, wie er aussieht, seit er ein Mann ist.« Aber unser Herrgott, oder was da in ihrem Herzen sich regt, geht auf gar nichts ein. »Ich versprech dir nichts, gar nichts. Die Sachen, die ich verspreche, sehen ganz anders aus. Was weißt denn du, was ich mit dem Gottlieb Schmidberger im Sinn habe?« Das ist oft so eine Antwort, die sie in sich spürt. Darauf getraut sie sich’s und sagt, sie sei halt doch die Mutter und habe so viel Schmerzen um ihn gehabt und sie müsse es zugeben, sie habe auch manches versehen an ihm, das müsse sie wieder gut machen. Zum Beispiel, daß sie ohne alle Liebe den Schmidberger genommen habe, bloß um eine Frau zu werden, da sie doch gesehen habe, daß er das Büblein als Last empfinde. Und daß sie nicht besser für den Gottlieb eingetreten sei, wenn der Mann ihn geschlagen habe. Auch habe er das heiße Blut von ihr geerbt, dafür könne er nichts. Solche Sachen hält sie in ihrem Herzen dem Herrgott vor und horcht begierig, was er sagt. Aber er sagt gar nichts. Er schweigt. Heut abend, da oben, ist ihr’s, er fahre auf dem Wolkenwagen dahin und sei der Feldmarschall und übersehe das Ganze. Es wird ihr, als müsse sie knieen und schier ohne daß sie es weiß, tut sie es auch. Die Wolken bilden jetzt ein großes Heerlager auf der einen Seite des Horizonts. Da scheinen sie stillzustehen und auf etwas zu warten. Dann kommt eine große, lichte Stelle, von der die Sterne niederfunkeln und die sich zusehends vergrößert. Ein langes, schmales Wolkenschiff aber löst sich aus der Gruppe, die hinten über den Wald hängt, segelt langsam durch das dunkle Blau und über die Sterne hin, und gesellt sich zu dem stummen Heer. In der lebendigen Mauer des Waldrandes regt es sich gewaltig. »Singen!« befiehlt der Wind, da stimmen die Wipfel einen mächtig brausenden Chorgesang an, der pflanzt sich weiter, tausendstimmig. Die Schmidbergerin spürt, wie ihr eine Welle mächtig vom Herzen nach den Augen emporsteigt und auf der Welle zittert etwas: ein sich Hingebenwollen, ein Stillseinwollen, ein Drang, das bißchen Ich mitsamt den großen Schmerzen und der großen Liebe da mitströmen zu lassen. »Ich bin ein dumm’s Weib,« denkt sie in ihrer Kleinheit. »Für mich könnt’ ich’s ja nicht verlangen, aber auf den Gottlieb wird unser Herrgott schon ein Aug’ haben, von ihm selber aus, wenn’s auch schon« -- da wallt es doch bedenklich im Innern -- »wenn’s auch schon so viele sind, auf die er achten muß.« * * * * * Das Singen wurde mächtiger und schwoll ungeheuer an. Kam der Gesang wohl auch aus Belgien her mit dem Wind? Gestern war im Tagesbericht ein Satz gestanden, der kam der Schmidbergerin nun wieder in den Sinn. Er sprach von Flandern: Heute drangen unsere jungen Regimenter, »Die Wacht am Rhein« singend, unaufhaltsam in die Stellungen des Feindes ein und nahmen dieselben. Da, als sie die vielen, vielen Gesellen singend in den Kampf und in den Tod gehen sah und den Gesang aus dem Wald heraus zu hören meinte, und ihr Herz sich wieder weitete, daß es nicht mehr an den Gottlieb allein dachte, da brach auf einmal das Grundwasser aus der Tiefe herauf mit Macht; warme Tränen flossen ihr stromweis übers Gesicht, ohne daß ihnen gewehrt wurde, und während sie flossen, fand die Schmidbergerin wieder ihr altes Wörtlein »wir« und »unser« und sagte in ihrem Herzen ganz von selber: »Es sind doch Prachtskerle, unsere. Mit Singen gehen sie ins Feuer. Da müssen wir freilich siegen.« Das Grundwasser aber trug auch das hinweg, bis nichts mehr war, als ein großes Wohlmachen und ein Leichtwerden, ein Getröstet- und ein Beruhigtsein, da versiegte es nach und nach und zuletzt hing nur noch die eine oder andere Träne an den Wimpern und erglänzte matt im Sternenlicht. Die Schmidbergerin ließ mit sich geschehen, was geschah und tat nichts dazu und nichts davon. In die letzten Tränen hinein lachte sie ein bißchen und sagte gutmütig zu sich selber: »Jetzt das sollte die Lene gesehen haben.« Darauf fing sie sachte an, niederzusteigen und war froh, daß niemand kam und fragte, was sie da oben so spät noch geschafft habe, da sie es ja doch niemand hätte sagen können. Es war jetzt alles still und von einer linden Gelassenheit in ihrem Innern, sie meinte, ihrer Lebtag noch nie so wohlmachend geweint zu haben, und ihr Gottlieb samt seinen Kameraden hätte spüren müssen, wie sie ihnen ein »gut Nacht« hinüber sandte in das fremde Land, wenn nicht eben der Wind in umgekehrter Richtung gegangen wäre. Als sie in ihrer Kammer lag, hob es sachte an, zu regnen. Da horchte sie, wie es leise plätscherte, und sagte: »Es hat’s gebraucht. Es hat schon den ganzen Tag regnen wollen und nicht können.« Am andern Tag kam ein Brief vom Gottlieb, den die Mutter niemand lesen ließ, so dringlich auch die Lene danach fragte. »Nimm mir’s nicht übel,« sagte sie, und ihr Gesicht hatte einen seltsamen Glanz, »er ist bloß für mich. Weißt, wenn dein Büble einmal groß ist, und wer weiß, vielleicht auch fort, oder, kann sein, im Krieg, dann gibt’s einmal eine Stund’, da redet er mit seiner Mutter ganz allein. Mutterseelenallein. Und das ist vielleicht das Schönste, was du überhaupt erlebst an ihm.« Die Lene schüttelte den Kopf. Vielleicht ging eine Ahnung künftiger Schmerzen und Schönheiten durch ihr Herz. Es ging nur, wie die Mutter sagte, alles langsamer in sie hinein. »Schreibt er denn gut?« fragte sie. »Bloß, daß ich’s sagen kann, wenn mich die Leut’ fragen.« »Er schreibt gut,« sagte die Mutter. »Paß auf, was wir noch an ihm erleben. Er ist nicht umsonst im Krieg gewesen.« Sonst kam nichts mehr. Da trat der Besitzer vom Wochenblatt in den Laden. Er kaufte Zigarren und zündete gleich eine an. »Was ich noch sagen wollte, Frau Schmidberger, haben Sie gute Nachrichten von Ihrem Sohn?« »Dank’ der Nachfrage, ja das hab’ ich.« »Da ist man froh in solchen Zeiten.« »Jawohl, das ist man schon.« »Wäre es unbescheiden -- es interessiert einem doch auch, was die tapferen Söhne der Stadt angeht -- er hat gewiß viel erlebt in letzter Zeit?« »Ja,« sagte die Mutter, »er schreibt, was man jetzt erlebt, das wäre genug für ein ganzes langes Leben.« Da sah der Zeitungsmann, daß nichts mehr folge und empfahl sich höflich und ein bißchen ärgerlich. Denn er brachte gern gutgeschriebene Feldpostbriefe in seinem Blatt und wer wußte, ob ihn jetzt nicht die Konkurrenz bekomme? * * * * * Drei Tage nachher bekam die Schmidbergerin wieder zwei Briefe, die konnte jedermann lesen, der Lust dazu hatte. Der eine kam von des Gottliebs Regiment und meldete, daß der Unteroffizier Schmidberger am 28. des Monats bei einem Sturmangriff gefallen sei, und es tue seinen Vorgesetzten und Kameraden leid, denn er sei ein tapferer und beliebter Soldat gewesen. Der andere war von schreibungewohnter Hand, die mühsam die Buchstaben nebeneinander hingestellt hatte und hieß: »Indem wir es einander versprochen haben, daß der eine dem andern den Dienst tut, und wenn er fällt für ihn heimschreibt, so schreibe ich Ihnen, daß mein Kamerad Schmidberger heute Abend um sieben Uhr einen Schuß in die Brust bekommen hat, und in einer Viertelstunde tot gewesen ist. Ich habe nicht bei ihm bleiben können, denn wir haben müssen die Stellung vollends nehmen, aber wie wir sie gehabt haben, bin ich zu ihm hingegangen, da war er schon verschieden ohne Kampf, denn er lag ganz freundlich da. Und haben wir ihn mit zwölf andern sogleich begraben und das sind lauter gute Kameraden gewesen und liegen gut beieinander im Feindesland. Und umsonst sind sie nicht gefallen, denn die Stellung haben wir, und haben sie nötig gebraucht. Nun schreibe ich Ihnen bloß noch das, daß mein Kamerad Schmidberger für das Vaterland gestorben ist, einen schönen Tod. Mit freundlichen Gruß Ihr Paul Seidenschwanz, Musketier.« Die Tochter Lene empfing die Leute, die kamen in die Ladenstube, hatte ein schwarzes Kleid an, und schluchzte hie und da ein bißchen. »Erst vorige Woche hab’ ich ihm noch ein Feldpostpaket geschickt,« sagte sie, als einmal ein Häuflein beisammen war. »Das wird er wohl nicht mehr bekommen haben.« »Jetzt hätt’ er’s erst noch zu etwas bringen können,« sagten die Schluderbacher, und das war das Höchste, was sie sagen konnten. Der Weber Boßhardt war auch grad gekommen, um der Mutter die Hand zu geben, als sie das sagten. Die Schmidbergerin war aber nicht in der Stube, sie war ins Gärtlein gegangen, um einen Augenblick für sich zu sein, obgleich das Gärtlein kahl und abgeblüht dalag. Da ging er ihr nach, denn er wollte nicht vor vielen mit ihr reden. Und er besann sich im Hinausgehen auf ein gutes Wort, das er ihr sagen wollte. Er hatte einen Zettel aus seinem Kästlein gezogen, suchenderweise. Darauf stand: wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen. Aber der Weber kam sich nicht stark vor und wußte nicht, ob die Schmidbergerin schwach sei. So legte er den Zettel wieder beiseite. Je länger sein Sohn draußen im Feuer stand, je sparsamer wurde der Vater mit allen großen und hohen Worten. Als er das Gartentürlein aufklinkte, sah er, wie sie den Nelkenbusch mit der Hand streichelte und hörte sie mit schwerer Stimme sagen: »O Gottlieb! O mein Büble!« Da wußte er, daß sie nun klagen mußte um ihr Kind, wie reiche und stolze und glückliche Mütter klagen müssen, wenn sie beraubt werden. Und er wußte, daß das ihr Reichtum werde, später dann, daß sie solchermaßen um ihren Sohn klagen konnte. Sie sah ihn aber zögernd herkommen, richtete sich auf und sagte, wie wenn sie ihn erwartet hätte: »Weber, ich muß Euch etwas zeigen von meinem Buben, das hat er mir zuletzt geschrieben. Ich hab’s wollen für mich behalten. Aber er braucht’s nicht mehr, daß man’s ihm hütet.« Sie zog ein Blatt aus ihrer Schürze, zeigte mit dem Finger auf eine Stelle, und der Weber las: »Das eine muß ich Dir auch noch sagen, liebe Mutter, daß ich mir heut nacht auf der Wache, als ich habe eine Sternschnuppe fallen sehen, schnell gewünscht habe: einen ehrlichen Soldatentod. Denn ich passe nicht in den Frieden hinein, es wird mir oft alles zu eng und dann muß ich in etwas dreinschlagen. Jetzt weiß ich nicht, wie es wird. Denn aufs Wünschen kann man nicht gehen. Wie aber der Morgen gekommen ist, hätt’ ich doch auch gern noch gelebt, denn ich bin doch auch noch jung. So ist es hin und her gegangen. Wie der Feldgeistliche am Sonntag gesagt hat: es hat ein jeder noch extra seinen Krieg in sich selber. Da hab’ ich’s mit dem Herrgott ausgemacht: meine Mutter soll noch eine Freud’ an mir haben. Sonst soll mir’s gleich sein.« »Und jetzt?« fragte der Weber, als er gelesen hatte. »Und jetzt muß ich halt eine Freud’ an ihm haben. Kann ich denn anders?« sagte die Schmidbergerin und lächelte in ihre Schmerzen hinein. Da war der Weber froh, daß er seinen Zettel daheim gelassen hatte. Er ging still wieder in die Stube zurück, um seine Kappe zu holen. Dort waren sie immer noch an den Zukunftsaussichten, die der Gottlieb vielleicht gehabt hätte. Zum zweitenmal Als die Schuhmacher Bernerin vom unteren Eck in Hirzenbach in grauer Morgenfrühe das Haus verließ, tat der Hund an seiner Kette wie unsinnig. Er stieg kerzengerad in die Höhe, an der Schuhmacherin hinauf und zerrte an der Kette, am liebsten hätte er die ganze Hundehütte mitgenommen. Denn mit wollte er, koste es, was es wolle. Aber die Schuhmacherin war auch eine von denen, die nichts verstehen, und wenn man es ihnen noch so laut in die Ohren brüllt. Auf diese Meinung, die er schon öfters gehabt hatte, kam der Nero heut wieder, denn sie gab ihm kurzerhand einen gehörigen Patscher auf die Vorderpfoten, so daß er sich verdutzt draufstellte, und sagte: »Viech dumms, unvernünftigs. Und wer soll dann vielleicht das Haus hüten und die Kinder, wenn ich dich mitnehm’, he? Also da leg’ ich den Schlüssel unter den Schuhkratzer, im Fall die Pfarrmagd kommt und ihre Milch holen will. Und außer der Pfarrmagd läßt du mir niemand ins Haus.« Der Nero konnte winseln, eine ganze Tonleiter herauf und hinunter, die Schuhmacherin fragte nicht so viel darnach, als unter den Nagel geht. Sie nahm ihren Korb mit dem Morgenessen für den Mähder an den Arm und schritt hurtig zu, denn es war weit an die Hölzleswiese und wenn einer von zwei Uhr an gemäht hat, will er um fünf Uhr sein Essen, das ist leicht wissen. Auch war der Mähder keine bezahlte Kraft, sondern eine freiwillige, der Dötlesvetter, der Pate der drei Bernerskinder, der für den im Feld stehenden Hausvater eingesprungen war. Den durfte man schon gar nicht warten lassen. Als die Schuhmacherin die Häuser hinter sich hatte und am oberen Eck den steilen Stich zum Dornbühl hinanstieg, hinter dem es dann auf die Hölzleswiesen geht, war es ihr aber doch, als höre sie den Nero immer noch heulen. »Was der nur hat heut?« dachte sie. »Es wird doch nichts unrecht’s um den Weg sein? Man hat schon so Sachen gehört, wenn’s irgendwo hat brennen wollen, oder wenn eingebrochen worden ist, oder eh’ der Blitz an einem Ort eingeschlagen hat, daß ein Hund so wüst getan hat. Die Leut’ sagen, so einem Tierle lieg’ es in den Gliedern.« Aber es war etwas ganz anderes, was dem Nero in den Gliedern lag, als brennen oder einbrechen oder gar ein Blitzschlag. Es war um und um sicher, und wer etwas vom Wetter verstand, der dachte auch heut an kein Gewitter. Der Tau lag dick auf allen Gräsern und Halmen und es wehte ein frisches Morgenlüftchen vom Berg herunter. Auch sangen die Vögel von Herzensgrund in den Kirschbäumen links und rechts am Weg und es war keiner darunter, der schütt, schütt schrie. Wenn die Schuhmacherin hätte eine halbe Stunde Wegs voraussehen können, dann wäre ihr alles klar gewesen. So aber ließ sie ihren Gedanken den schweren Lauf, den sie jetzt einmal hatten. Dreiviertel Jahr ausgerechnet war’s jetzt, daß der Mann im Krieg war. Wenn man ihr damals gesagt hätte, als er ging, daß es so lang dauern werde, bis er wieder komme, dann hätte sie glaub’ ich gesagt: dann lieber gleich hinlegen und sterben. Denn sie war eine verzagte Natur von Haus aus; denn Frohmut im Haus hatte immer der Mann besorgt und ohne ihn wußte sie gar nicht wie man’s macht, daß man auf der Welt den Kopf aufrecht trägt. Zudem hatte sie damals im siebenten Monat den Schorschle unter dem Herzen, der jetzt daheim im Kinderwagen lag. Aber der Mann hatte sie über alles hinaus getröstet. »Zur Tauf’ bin ich wieder da. Kann sein, schon vorher. Ich hab’ mir sagen lassen, der Kaiser hab’ gesagt, das gehe schneller, als man denke. Auch haben die schon gut vorgeschafft draußen in den sechs Wochen, seit der Krieg ist. Man liest’s ja alle Tage im Blatt.« Vom Draußenbleiben, vom Fallen, da hatte er gar nichts gesagt. Immer: »Wenn ich wiederkomm’, dann.« Und jetzt war es schon so lange her. Der Schorschle war geboren worden und getauft. Christtag war gewesen und Neujahr. Die Sau hatte man gemetzget und ihm immer wieder Würste und Speck ins Feld geschickt. Die zwei Großen hatten die roten Flecken gehabt und waren wieder gesund geworden. An Georgi war der Daniel mit seinen sechs Jahren in die Schule gekommen. Der Schorschle lernte das Lachen und fing an zu zahnen. Ostern war gewesen, und man gärtelte, und die Baumblüte ging ins Land. Und jetzt war der Heuet und die Kirschen wurden rot. Aber vom Heimkommen war gar keine Rede mehr; nicht in der Zeitung und nicht im Wirtshaus, soviel die Schuhmacherin wußte, war die Rede davon, daß bald Friede werde und die Männer heimkommen. Es war, als ob es sich um den Frieden gar nicht mehr handle, als ob der weiß kein Mensch wohin verbannt wäre und man sich auf der Welt ohne ihn einrichten müsse. Fragte die Schuhmacherin hie und da zaghaft jemand, etwa den Kaufmann Schnorr im Laden, oder den Metzger Schwegler: »Was meinet Ihr auch -- kann sein der Sommer geht noch herum, eh’ die Feierabend machen da draußen?« so bekam sie zur Antwort: »O je, wenn’s bloß der Sommer wär, da möcht’ man noch nichts sagen. Das kann noch lange gehen, bis das ein End’ nimmt. Jetzt sind noch die Italiener gekommen. Weiß kein Mensch, wer noch kommt. Das geht nicht so im Handumdrehen, Schuhmacherin.« Da fragte sie lieber gar nicht mehr. Endlos, endlos sah das alles aus. Die Werkstatt war still und leer. Und das andere Bett in der Kammer und der Stuhl oben am Tisch war leer. Sie sah im Geist eine lange Zeit vor sich, in der das nicht anders wurde, und darüber hinaus war ihr die Welt mit Brettern vernagelt, weiter konnte sie nicht hinaussehen. Jetzt waren auch schon sechs oder sieben Hirzenbacher gefallen und ihrer noch mehrere verwundet worden und es packte die Schuhmacherin manchmal an, wie wenn eine Faust nach ihrem Herzen langte: das könnte dem Johann auch noch passieren. Dann tat sie geschwind Buß und Reu über aller Ungeduld und gab sich zufrieden mit dem Beharren: bloß wiederkommen soll er, dann soll mir alles recht sein und wenn’s Martini wird. Neben dem allem her aber war sie unvermerkt recht resolut und meisterhaft geworden. Wenn man den Kindern Vater und Mutter zugleich sein muß und zu allem, was Haus und Herd betrifft, allein hinstehen, da lernt auch ein weichmütiges und zaghaftes Frauelein manches. Zum Beispiel wurde sie dem Daniel, der ihr früher nie recht hatte folgen wollen, so daß der Vater manchmal hatte bedeutsam nach dem Knieriemen gucken müssen, ganz gut Meister, und auch sonst stellte sie ihren Mann, wenn man so von einer Frau sagen darf. Es war alles im Stand, die Haushaltung und die Kuh, der Gemüsplatz und der Kartoffelacker; bloß die Schuhe waren alle durch. Die aber blieben aus einem gewissen Trotz heraus ungeriestert und ungesohlt. Es geschah dem deutschen Reich grad recht, wenn die Bernerskinder keinen guten Schuh mehr hatten; warum behielt es den Schuhmacher so lang draußen? oder auch war eine geheime Hoffnung dahinter: wer weiß, eh’ es einherbstet, so daß man die Kinder um keinen Preis mehr Barfuß laufen lassen kann, kommt er wieder. Jetzt nachdem man das alles weiß, kann man sich so ungefähr die Gedanken zusammen addieren, die die Schuhmacherin unterwegs hatte, nur muß man dabei auch bedenken, daß der Schorschle die halbe Nacht durchgeschrieen und sie ihn herumgetragen hatte, bis er endlich gegen Morgen wieder das Trömle zum Schlafen fand. Wie gesagt, der Nero wußte mehr als sie; denn hätte sie gewußt, was er, so wäre sie leichteren Herzens den Berg hinauf gekommen. Aber endlich war sie doch oben. Da war die Sonne schon auf und guckte ihr in den Korb, ob sie auch genug Essen für zwei Mähder bei sich habe. Der Morgenwind spielte mit den Birken, nach denen, da sie ein leichtes Gehölz bildeten, die Wiesen, die hinter ihnen lagen, die Hölzleswiesen hießen. Die Schuhmacherin mußte durch das Gehölz hindurch. Es wogte und säuselte darin, es wäre ein Garten gewesen, in dem ein Hochzeitspaar nach Herzen hätte spazieren und zärtlich sein können, es hätte gar nichts Schönes gefehlt dazu. Unter dem hellgrünen Dach mit den schlanken weißen Säulen breiteten hohe Farren ihre Wedel aus, und allerlei blühendes stand daneben und dazwischen: Goldrute, Johanneskraut, Weidenröschen und hochstengelige, weiße Doldenblütler, von denen die Schuhmacherin natürlich keine Namen wußte und sich auch nicht darum absorgte, obgleich sie Freude und Wohlgefallen an allem Blühenden hatte von Haus aus. Ein Kuckuck mußte ganz in der Nähe sein, denn zum Greifen nah tönte sein: kuckuk, kuckuk. Sie nahm sich zusammen, daß sie nicht fragte: wie lang dauert’s noch, bis der Krieg aus ist? Denn sie fürchtete, er möchte gar zu lang fortschreien und dann hätte sie die Bescherung, obgleich sie gleich nachher dachte, als er richtig gar nicht aufhörte: es sei ja gar nicht ausgemacht, ob Tage, Wochen oder Monate gemeint seien. Mittlerweile nahm aber das Holz ein Ende. Die freien Wiesen, nur an den Rändern mit einem und dem andern Kirsch- oder Birnbaum besetzt, lagen vor ihr auf der weiten Hochfläche. Hinten am Horizont sah man die Albberge in bläulichem Duft. Aber die Schuhmacherin sah nicht nach den Albbergen hin. Sie rieb sich die Augen, als ob ihr etwas hineingeflogen wäre, so daß sie das Doppelsehen hätte, und sagte geschwind die Wochentage her, zur Sicherheit, daß sie nicht im Traum wandle. Denn da vor ihr auf der übernächsten Wiese waren unzweifelhaft zwei Mähder. Der eine war der Dötlesvetter, da war nichts übersinnliches dabei. Er fuhr gerade ein paarmal mit dem Wetzstein über seine Sense und dann mit dem Sacktuch übers Gesicht. Das war mit einem Augenwink festgestellt. Aber wer, du lieber himmlischer Vater, mähte zehn Schritt hinter ihm mit lang ausholendem Schwung, daß die Sense wie ein Blitz durch die Schwaden fuhr? Wer hatte so rötlich-gelbes Haar auf dem Kopf, aufrecht und bolzgerade wie eine Wurzelbürste, und so eine Statur, kurz und postiert? Die Schuhmacherin traute sich keinen Schritt vorwärts. Denn so etwas, wie es ihr mit Jubel und Tirelieren durch die Seele flog, gab es ja nicht in Wahrheit auf Gottes Erdboden. Auch hatte der Mann dort einen Vollbart, aber ihr Johann war nur mit einem kleinen Schnurrbart ausgezogen. Doch aber hing ein feldgrauer Rock in den untersten Ästen des Kirschbaums und dabei etwas, das eine Mütze und ein Seitengewehr sein konnte. Ein Urlauber also. Aber so etwas zu erzählen, dauert viel zu lang, denn mit zwei, drei Schlägen hatte das Herz es schon heraus. Es tat einen Ruck und Zuck, sagte: er ist’s, und ließ sich sonst auf gar nichts ein. Der Mähder aber hatte scheint’s ein ähnliches Herz, den Kameraden zu dem der Schuhmacherin. Er fuhr mit einem Schwung herum, als sein Herz sagte: paß auf, sie kommt, und dann pflanzte er den Sensenstiel in den Erdboden hinein wie eine Fahnenstange und war mit ein paar Sätzen bei ihr. Der Dötlesvetter stand von ferne und lachte, denn es gefiel ihm wohl, zu sehen, wie die zwei Leute mit hellen und frohen Gesichtern das Wunder erlebten, auf einmal wieder heil und gesund nebeneinander zu stehen, da sie seither so lange in zwei Welten gelebt hatten, weit voneinander geschieden und ohne Sicherheit des Wiedersehens. Dann, als er ein paar Augenblicke von weitem verharrt hatte, trieb es ihn doch, daß er herankam und der Schuhmacherin erzählte, es habe ihn fast der Schlag getroffen, als er um zwei Uhr aus dem Holz herausgekommen sei und im Zwielicht einen Mähder an der vollen Arbeit gefunden habe. Der Mond sei noch hinter ihm am Himmel gestanden und er habe einen langen Schlagschatten auf die Wiese geworfen, und ihm, dem Dötlesvetter, sei es einen Augenblick gewesen, das sei der Johann, aber im Geist, und melde sich, daß er gefallen sei. Man habe solche Beispiele schon des mehreren gehabt. Aber es habe ihn angetrieben, den Mähder auf alle Fälle beim Namen zu rufen. Da sei es leibhaftig und im Fleisch der Johann gewesen, der in Urlaub vom Gossenstadter Bahnhof her über den Berg gekommen sei, und, da die Sense im Baum gesteckt sei von gestern her, nicht habe vorbei können, ohne ein paar Züge zu tun. Dann freilich habe er nicht mehr aufhören können, wie das so sei, wenn man einmal im Zug sei mit einer gut gedengelten Sense. Darauf habe er, der Dötlesvetter, sich im Reuthof noch eine Sense geholt und sie haben selbzweit gemäht, bis sie, die Schuhmacherin, gekommen sei. Aber gelt, so eine Überraschung in aller Herrgottsfrühe treffe man nicht alle Tage! Es war einesteils gut, daß der Dötlesvetter so redselig war. Das half den beiden Leuten übers allererste hinüber, da sie wie auf den Mund geschlagen waren und keines anfangen konnte, etwas rechtes zu sagen, oder dann meinte, seiner Lebtag nicht mehr aufhören zu können mit Erzählen, wenn einmal angefangen sei. Wie, dem Hörensagen nach, einem Ertrinkenden in ein paar Sekunden zusammengedrängt sein ganzes Leben, Bild auf Bild, erscheint und abschnurrt wie von einer Spindel, so kam dem Urlauber und seinem Weib geschwind alles auf einen Haufen, was sie erlebt und erlitten hatten in der Zwischenzeit und es nahm sie wunder, wie sie durch den Berg gekommen waren, der nicht von Pfannkuchen gewesen war wie im Schlaraffenland, sondern von zähem Lehm und sprödem, hartem Stein mit Erz und Blei darin. Die Schuhmacherin, als die ersten Ausrufe, wie: »Ja grüß dich auch Gott!« und: »Gelt, da guckst!« und: »An dich hätt’ ich jetzt zuletzt gedacht!« gefallen und verklungen waren, ergriff zuerst das Wort bei einem Zipfel und das Hemd ihres Mannes bei einem klaffenden Riß, der unterm Arm einsetzte und in der Mitte des Rückens verlief, und sagte halb lachend und halb in Angst: »Bei euch muß es schön hergegangen sein dem Anschein nach.« Denn sie dachte nicht anders, als der Riß sei im Kampf und Handgemenge entstanden, etwa wie es bei einer Kirchweihrauferei gehen kann, nur natürlich im blutigeren Ernst, aber doch ausdenklich und begreiflich. Aber ihr Johann berichtete, das Hemd sei ihm beim Mähen verkracht, als er geschwitzt habe und es habe ihn schon vorher ein wenig gespannt im Armloch, und mit diesem spielte sich die Unterhaltung sogleich auf das Sichtbare und Gegenwärtige hinüber. Die Herzklappen, die gemeint hatten, es müsse hier und auf der Stelle alles ausgeräumt sein, schlossen sich wieder über ihrem Inhalt bis auf eine gelegene Zeit. Die Schuhmacherin tat das Morgenessen aus dem Korb: Musmehlsuppe, Grundbirnen, Speck und ein kleines Fläschlein mit Kirschenwasser, und es fand sich, daß es gut für zwei reichte. Das Warme hatte sie sorglich in wollene Tücher eingeschlagen, es dampfte den Hungrigen angenehm entgegen. Die Wahrheit zu gestehen, hatte sie gedacht, selber mit dem Dötlesvetter da oben zu frühstücken, um ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten. Jetzt aber tat sie sehr verwundert, daß sie zwei Löffel im Korb habe, es gehe manchmal merkwürdig zu. Einmal vergesse man das wichtigste und ein andermal habe man es doppelt und beides sei, weil man so vielerlei im Kopf habe, an was man denken müsse. Aber anrühren wollte sie nichts, keinen Bissen. Die Freude sei ihr in den Magen gefallen, sie sei so satt, wie wenn sie grad erst gegessen hätte. Zusehen aber wolle sie, sie müsse doch auch sehen, ob der Mann noch wisse, wo man den Löffel hineinschiebe und wie man ihn halte, sie habe sich schon sagen lassen, da draußen verlernen sie alles. Als sie einmal das Trömle gefunden hatte zum Reden, fiel ihr immer wieder etwas ein, das sie rasch und lebhaft vorbrachte. Der Nero habe doch etwas gewußt, er habe mehr als Menschenverstand und werde sie schön auslachen, wenn sie heimkomme. Sie sei bloß begierig, was die Kinder machen. Zwar vom Daniel wisse sie’s schon. Bei dem sei das erste, daß er des Vaters Kappe aufsetze und nach dem Seitengewehr lange, der sei im Schlaf und im Wachen Soldat. Aber das Lenele tue vielleicht zuerst fremd wegen des Bartes und der Schorschle wisse noch gar nicht, was das sei, ein Vater. Der kenne bis jetzt bloß eine Mutter und auch die hauptsächlich des Schoppens wegen, und die Welt sei ihm noch eine neue Gegend, er staune immer so mit den Augen um sich her. Das letztere tat aber der Vater selber auch. Er sagte fast gar nichts, das Weib mochte vorbringen, was es wollte. Es probierte noch dies und das, ob es besser verfange. Aber er gab zu allem nur ein kurzes Wörtlein oder auch gar keins, machte ein freundliches Gesicht dazu, das wie ein Dank aussah, weil sie es so wohl und gut meinte, und ließ dann seine Augen wieder hinausgehen. Es war die Heimat, die er wieder sah. Lieblich und schön trat sie an sein Herz, das im wilden Graus und Schreck des Krieges, in der lähmenden, aufzehrenden Mühsal des Schützengrabens gewesen war. Hoch und heiter stand der Himmel über ihr; in dem leichten Morgenlüftchen wogte das Gras der weiten Wiesenfläche wie ein Meer, eine Grasmücke sang unweit von hier auf einem schwanken Halm, helle und dunkle Baumwipfel grüßten vom ferneren Waldrand herüber, Kirchturmspitzen, Hausdächer, leichter, heller Rauch aus den Schornsteinen zeigten, wo Menschen friedlich wohnen und hantieren, die Albberge leuchteten still, und nirgends war ein wilder und frecher Laut, ein Krachen, Donnern oder Stöhnen. Eine Kirchenuhr schlug, und ihre Schwestern in der Runde kamen ruhig und gelassen hinter ihr drein. Der Urlauber strich sich mit der Hand übers Gesicht und der Atem kam und ging ihm hörbar. »Er ist müd,« sagte der Dötlesvetter. »Ein Wunder ist’s nicht. Nacht und Tag hindurch fahren, dann von Gossenstadt herüber laufen und gleich mähen. Bleib’ noch ein bißle sitzen, Johann, ich mach’ derweil weiter.« Aber: »Was werd’ ich denn müd’ sein,« sagte der und stand auf, reckte die Arme und nahm die Sense wieder. »Es ist bloß, wenn man so sieht, wie alles daheim ist, und man ist so lang fortgewesen und hat Sach’ gesehen, o je, Sach’, daß es einem graust, dann muß man sich zuerst ein Stückle wundern, daß man da ist.« Die Schuhmacherin packte ihr Geschirr zusammen. »Ich muß heim,« sagte sie, »der Schorschle wird aufgewacht sein und schreien und der Daniel muß in die Schule. Ich komm wieder, so schnell als möglich komm’ ich wieder, mit dem Fuhrwerk und dem Mittagessen und den Kindern.« Ob der Mann mit heimgehe, fragte sie gar nicht. Was wird denn der Hausvater davonlaufen mitten im Heuet, und was soll er denn daheim tun? Sie kehrte sich aber noch ein paarmal um, ehe sie im Hölzle verschwand und strich mit den Augen am Mann hinauf und hinunter. Denn diese wollten sich nicht gern von seinem Anblick trennen, erst recht nicht, da sie sahen, auch er schicke die seinen hintendrein so lang als möglich. Er hatte ein anderes Gesicht mitgebracht, als er fortgenommen hatte und das machte der Bart nicht allein. Man sah es, wenn er still war, und darum hatte die Schuhmacherin immer wieder etwas zum Reden aufs Tapet gebracht, weil ihr das Gesicht weh tat. Weil etwas Fremdes drin war. »Der Dötlesvetter hätt’ nicht gleich dabei sein sollen,« sagte sie plötzlich, und dann überfiel sie auf einmal nachträglich noch das Heimweh, das sie um ihn getragen hatte, so stark, daß es ihr ein paar Herzstöße gab und ein warmer Regen niederging aus den Augen ohne vorherige Anmeldung. Aber es war doch nur ein Sonnenregelein. Denn: »Was heulst denn jetzt, dumms Weib,« sagte sie sich; »hättst lang Zeit dazu gehabt, jetzt ist er da und du brauchst nicht alles auf einen Sitz zu wissen, was ihn angeht. Es kommt schon nach und nach heraus. Jetzt bringst ihm seine Kinder und machst ihm das Herz warm. Er wird’s nötig haben, denk’ ich.« Und damit war auch schon die Steige erreicht, die fußelte sie hinunter, wie ein ganz Junges, und wer sie sah, der brauchte nicht zu fragen: »Was ist dir auch Gutes passiert, Schuhmacherin?« denn immer von neuem tat sie es ungefragt kund: »Mein Johann ist im Urlaub da. Droben heuet er auf der Hölzleswiese.« * * * * * Jetzt wenn man ein Herz hätte für die Schuhmacherin und wäre zufällig gerade in Hirzenbach, so möchte man ihr wohl ein bißchen zur Hand gehen. Denn sie muß ruhig dasitzen und den Schorschle stillen, der aufgewacht ist und bloßgestrampft, und der schreit, als ob er die ganze Welt zum Zeugen aufrufen möchte, daß er Hunger hat und daß die Mutter nicht da ist. Für ihn ist alles recht und in Ordnung, so bald er an der Quelle liegt, umfangen von Mutterarmen. Er nimmt sich auch recht herzlich Zeit zum Sattwerden, setzt hie und da ab und guckt ausruhend um sich her. Zum Beispiel der Bändel an der Mutter Leibchen, der ist ihm neu, nach dem langt er und spielt damit. Es wäre am schönsten, wenn man’s grad immer so ließe, wie es jetzt ist. Dem Schorschle gefällt es so am allerbesten. Aber die Mutter ist heute nicht so bei der Sache wie sonst manchmal. Sie sagt von Zeit zu Zeit: »Mach’, Büble, meinst ich hab’ nur so Zeit zum hinsitzen?« Alle Arbeit rings umher steht auf und ruft: Schuhmacherin komm! Sie sollte drei Paar Hände und Füße haben, daß sie die Großen fertig macht und mit Essen versorgt, die Stuben sauber macht, so daß der Mann, wenn er heimkommt nach so langer Zeit, sieht, sie hat die Sache im Stand. Und so ist’s mit Werkstatt, Stall und Küche. Alles soll grüß Gott zu ihm sagen, wenn er kommt. Da oben sind Spinneweben über dem Fenster, die sieht sie, so lange der Schorschle ganz pomadig schmatzt, und möchte aufstehen und den Besen holen. »Mach’ ein bißle, Schatzenkind.« Zum Mittagessen muß sie auch etwas rechtes herschaffen. Denn was mag er draußen gegessen haben? Sie muß ihn jetzt herpflegen, es muß ihm wohl sein. Und daneben muß sie sich regen, daß sie zeitig wieder hinauskommt, nicht bloß weil das Heu gespreitet sein muß, auch sonst, überhaupt. Wenn doch der Mann da ist. Der Daniel, das Lenele und der Nero stehen um sie herum und staunen, als sie die Botschaft vom Vater hören. Das heißt, der Nero staunt nicht. Er ist bloß zu höflich, als daß er sagt: Ich hab’ dir’s doch schon lang gesagt. Er wedelt ganz anständig mit dem Schwanz, wie ein Diplomat, der in einem Salon von einer Sache hört, die er längst weiß, aber nicht wissen darf sozusagen, und der sich verbeugt: »Ach, was Sie nicht sagen. Das ist mir ja sehr interessant.« Gern aber sähe man dem Daniel und dem Lenele ins Herz, was wohl in der Zeit seines Fortseins aus dem Vater geworden ist bei ihnen. Sie haben ihn noch nie in der Uniform gesehen. Er ist abgereist mit einem steifen Hut, im braunen Anzug und mit einer blaugrün gestreiften Krawatte, einen Reisesack in der Hand. In dem Reisesack hat er sonst Schuhe ausgetragen auf die Höfe in der Umgegend. Nun aber ist er, dem Hörensagen nach, ein Soldat und wird wohl ein Gewehr haben und einen Säbel, und mit beiden wird er wohl Franzosen oder Engländer oder Russen, oder auch alle Arten, die schwere Menge umgebracht haben. Das ist hochinteressant, aber auch ein bißchen grausig, bloß ein bißchen. Eigentlich ist es prachtvoll; man muß machen, daß man ihn sieht, denn wie er aussieht, das weiß man nicht mehr recht, es ist schon so lang her, daß er fort ist. Als der Schorschle endlich einmal fertig ist und im Wagen liegt und die zwei Großen zum Waschen und Kämmen drankommen, wundert sich die Mutter, wieso sie denn immer die Köpfe zusammenstrecken, wie ein paar junge Wagengäule, und es miteinander wichtig haben mit Wispern und Flüstern. Aber sie ist zu stark überlenkt mit der Arbeit, als, daß sie viel früge, entläßt den Daniel in die Schule und das Lenele zur Dötlesbas um einen Strauß aus dem Garten für die blaue Blumenvase, und fährt im Haus herum wie auf Rädchen, um allem nachzukommen. Wenn sie aber die Gabe hätte, ein bißchen weiter hinauszusehen, als bis an die Stubenwand, so sehe sie gleich darnach einen Buben, der listig und verstohlen seinen Schulsack in das Häuschen im Schulhof legt, dann auf seinen Barfüßen springt, so schnell sie ihn tragen wollen, bis an den großen Nußbaum vor dem letzten Haus, und dort umheräugt, ob ihm niemand auf den Fersen ist. Und sähe ein Mädelein mit zwei frischgeflochtenen Zöpfen, das nichts weniger als zur Base, das gleichfalls, durch Grasgärten und Hecken hindurch, zu dem Nußbaum hintrottet und dort den Bruder findet. Sähe, wie die zwei miteinander die Steig hinauflaufen, der Hölzleswiese zu, wo der Vater ist. Vielleicht ist es gut, daß sie’s nicht sieht. Denn Schand- und ehrenhalber müßte sie ihnen nachlaufen und sie zur Pflicht zurückführen. Auch macht sich’s vor dem Vater immerhin schlecht, wenn sie die zwei Großen so wenig am Leitseil hat, daß sie nur grad durchgehen, wenn’s ihnen einfällt. Und sie hat doch keine Zeit zum Nachlaufen und keine Lust zum Ärgern. So aber ist’s den zwei flüchtigen zumut, wie sie miteinander durch das Hölzle streichen und sich hie und da umsehen, ob niemand hinter ihnen ist: es gibt eine schöne Geschichte, da wirft sich die Heldin dem Helden an die Brust und sagt: »Ich weiß, daß ich sündige, aber ich tue es willig und gern.« * * * * * Ein paar Minuten später wußten sie, wie der Vater aussah. Nicht viel anders als sonst, abgerechnet den Bart. So wie jetzt, im gestreiften Hemd, die Ärmel hoch hinaufgeschlagen, rüstig mähend, hatten sie ihn noch irgendwo in einem Gehirnschublädchen von früher her. Den Bart hatte ihnen die Mutter schon angekündigt. Er hatte gar nichts grausiges an sich. Als er seine Jugend sich daherschlängeln sah, lachte er übers ganze Gesicht, ein grüß Gott ums andere. Sie spürten beiderseits, daß sie nah zusammen gehörten; die Kinder schneckelten sich an ihn hin und umfaßten seine feldgraue Hose, und der Vater spürte mit Herzklopfen, was es gewesen wäre, wenn er diese beiden nicht mehr gesehen hätte. Es war nah genug dran gewesen. Er sah in ihre Gesichter hinein. Das Lenele war ein feines, blondes Dinglein mit einem Schelmenzug um das rote Mäulchen und krummen Haaren rings um das Gesichtlein herum, und es fiel dem Vater auf einmal wie von fernher ein, daß seine blauen Augen schon einmal in einem Gesicht gestanden seien. Aber in welchem? Er hatte doch seine Mutter nicht als Kind gekannt, begreiflich, aber sein Herz beharrte drauf, das Lenele habe die Augen von seiner Ahne, von des Vaters Mutter. Er hatte das Köpflein in seine beiden großen Hände genommen, aber es schüttelte sich darin, es war nicht gern eingesperrt. Da ließ er’s los und das Kind hüpfte um ihn herum, wie ein Gaislein, nur daß es hie und da einen Fuß hinaufzog, der frischen Stoppeln wegen, die in seine Barfüße schnitten. Der Daniel hatte einen kurzgeschorenen Bubenkopf, wie alle Hirzenbacher Buben einen Kopf haben, möchte man sagen, wenn nicht darauf der Vater sofort sagen würde, daß er den von seinem Buben unter hunderttausend herauskennen würde. So eine lustige und trotzige Stumpfnase habe nicht bald wieder einer und so ein paar Augen im Kopf, ehrlich und treu, wie ein Haushund, und dann eine breite und feste Stirn mit einem ganzen Sternenhimmel von Sommersprossen, »Roßmucken« heißt man sie in Hirzenbach. »Ja Daniel, ja Büble, da bist?« sagte der Vater und hatte einen Ton in der Stimme, wie man ihn bloß an hohen Festtagen im Leben hat, so ganz von unten herauf. Der Daniel nickte bloß. Er dachte geschwind streifweise an seinen Ranzen drunten im Schulhof. Aber er warf ihn weit hinter sich und guckte den Vater an, »ehrlich und treu, wie ein Haushund.« »Bist auch brav gewesen?« fragte der Vater, immer noch in dem Festtagston. Da mußte ihm der Daniel doch die Freude machen, mit einem herzhaften Ja zu antworten. Wenn man grad vom Feld heimkommt. Hoffentlich fragte er auch nicht ins einzelne. »Soll ich derweil anfangen mit Gras verstreuen?« Es war vielleicht doch sicherer, das Gespräch ein bißchen zu unterbrechen. Der Vater staunte über den Eifer des sechsjährigen Buben. »Pressiert nicht so arg,« sagte er. »Bleib’ nur noch ein bißle bei mir. Kannst dein Sach’ in der Schul’?« »Mhm.« Das kam ein bißchen gedrückt heraus. Da dachte der Vater, es pressiere auch nicht mit der Lernfrage, die könne man später besprechen. So ein kleines Büble habe es noch nicht so wichtig damit. Irgendwo schlug es acht Uhr. Der Vater zählte und stutzte. »Ja wie ist mir’s denn?« fragte er. »Die muß falsch schlagen, oder wie? Die Mutter hat doch gesagt, du müssest in die Schule. Die kann doch noch nicht aus sein? jetzt kommt mir’s erst.« Da las er die Sündenschuld auf dem Gesicht seines Buben. Und es fiel ihm auch einiges aus seiner eigenen Kindheit ein. »Mändle, Mändle,« sagte er, aber aus einem andern Ton, »wenn mich nicht alles täuscht, bist du hinter die Schul’ gegangen. Hm? sag’s nur. So, so macht’s mein Bub’, wenn ich fort bin im Krieg?« Er zog noch ein tieferes Register. »Ich hätt’ gute Lust und tät dich gleich ’rüberlegen. ’S wär ’s einfachste. Ich denk’ aber, dein Lehrer tut’s morgen, ich will’s zu ihm sagen, daß er dir dein Sitzleder versohlt.« Dem Daniel fiel der ganze Himmel ein. »Lehrer hab’ ich kein’n, bloß eine Lehrerin.« sagte er mit wackeliger Stimme. »Die haut mich nicht, wenn ich’s ihr sag’, daß« -- da warf die Stimme vollends um und tat ein paar Schluchzer, »daß ich dich hab’ sehen wollen, weil du bist vom Krieg kommen, und -- und weil ich dein Gewehr noch gar nicht gesehen hab’ und dein’n Säbel.« Das Lenele hatte auch nicht das sauberste Gewissen und besann sich grad, ob es zur Gesellschaft mitschluchzen solle. Da hellte sich auf einmal des Vaters Gesicht wieder auf, als ob es ihn über alles hinüber inwendig freue. »Die Liebe decket auch der Sünden Menge,« sagte er in seinen Bart hinein, denn er war ein bibelfester Mann. Und dann nahm er seinem Buben mit einem Schwung auf die Achsel. »Also dann muß ich dir’s halt zeigen, Alterle,« sagte er laut. »Wenn du mir’s versprichst, daß du nicht mehr hinter die Schul’ gehst, wenn ich fort bin.« »Auf Ehr’ und Seligkeit,« sagte der Daniel. »Nein, so mußt nicht sagen, Büble,« verwies ihm der Vater. »Du könntest’s einmal vergessen, dann wär’s eine Sünd’.« »So sagen bei uns alle Buben,« beharrte der Daniel. »Dann komm, aber halt was du versprichst.« Als die Mutter kam, fand sie eine helle Glückseligkeit: ihres Mannes Gesicht aufgeschlossen und gegenwärtig und die Kinder um ihn herum, wie die Honigbienen um einen Lilienstengel. Da fiel ihr ein Stein vom Herzen. »Er ist noch der nemlich’ gleich’,« sagte sie zu sich selbst und bot ihm seinen jüngsten Sohn dar, daß er ihn annehme und herze. * * * * * Alte und heuerfahrene Leute sagen, es sei in langen Jahren nicht so gewesen, wie heuer, daß man das Heu in einem Tag fertig gebracht habe. Die Sonne helfe schaffen, weil sie wisse, daß die Männer im Feld stehen fürs Vaterland, und weil unser Herrgott nicht zugebe, daß Deutschland verhungere. Auch keine Kuh und keine Gais im ganzen deutschen Vaterland. Am Abend dieses Sommertages fuhr der Landwehrmann Johann Berner mit seiner Familie auf dem hochgeladenen Heuwagen in Hirzenbach ein. Als er es liegen sah im geschützten Tal, das Häuflein Häuser um die Kirche her, wie Küchlein um die Gluckhenne, und sah den Rauch aus den Kaminen aufsteigen, und die Kühe zur Tränke gehen an den großen Brunnen und die Kinder spielen auf dem Gänswasen, da ergriff ihn aufs neue das große, andächtige Staunen, das in den letzten geschäftigen Stunden ein wenig geschlafen hatte: Daß da Friede war und unversehrtes Daheimsein. Nirgends auf den Bergen standen Geschütze und richteten ihre drohenden Schlünde gegen das Tal, nirgends brannten Gehöfte und lagen Häuser in Schutt und starrten Heimatlose auf den Fleck, wo sie glücklich gewesen waren. Nirgends war der fruchtbare Boden umgegraben, in Gräben und Wälle verwandelt, und sperrten Drahtverhaue den Weg. Die Abendglocke auf dem Turm hob ein sanftes Läuten an, das hallte friedlich durch das Tal. Da sprangen die Kinder vom Spiel weg den Häusern zu, wo ihre Mütter auf sie warteten. An solchen Dörfern vorbei und an arbeitsamen blühenden Städten war er gestern den ganzen Tag gefahren, wie im Traum. Das alles war Deutschland, war Vaterland, Heimat, und das alles lag in treuer Hut. Noch nie hatte er das Wort Vaterland so inbrünstig gedacht wie auf dieser Fahrt. Er hätte zu jedem Menschen, der ihm begegnete, sagen mögen: Weißt du auch, wie gut du’s hast? Weißt du auch was Krieg ist? Nein, Gott Lob und Dank weißt du’s nicht. Aber es ist doch schad, daß du’s nicht weißt. Noch um eine Ecke, dann hielten die Kühe (eine davon gehörte dem Dötlesvetter) an der heimatlichen Scheuer. Ein Haus daneben, keins von den stattlichsten, aber doch das liebste von allen, Blumenbretter vor den Fenstern mit Nägelein, Kapuziner und Winden, ein Nero, der am längsten gewartet hatte und der still und außer sich vor Freude an seinem Herrn emporstieg und inbrünstig schnaufte und wedelte. Daheim, daheim. Die Kinder strebten herunter. Er hob mit starkem Schwung eins ums andere vom Wagen. Der Schorschle schlief und hatte die Fäustlein an den Schläfen, die Mutter hatte ihn im Arm. Da nahm er sie mitsamt dem Büblein. Wenn die Hirzenbacher nicht zugesehen hätten, er hätte sie miteinander ins Haus getragen, es wäre aber gegen allen Brauch gewesen. * * * * * Es war eine mondhelle Nacht. Die Schuhmacherin lag wach und sah zu ihrem Mann hinüber, der schlief tief und fest. Lange, volle Atemzüge tat er, es war ein Staat. Zwischen ihnen lag der Schorschle und schnäufelte kurz und leicht, wie halt so ein Kindlein tut, man merkt’s kaum. Die Mutter hatte ihn ins Bett genommen, weil er schrie und nicht mehr einschlafen wollte. Nun war er wieder hinüber ins Traumland. Die Schuhmacherin hätte auch wieder einschlafen können, sie hatte jetzt alles um sich herum, was zu ihr gehörte. Freilich, auf wie lang? Das war der Wurm im Apfel. Drei Tage war der Mann jetzt da, vier kamen auch. Über die vier hinaus konnte sie noch nicht denken. Der Mann sagte zwar, das sei noch nicht nötig. Sonst seien die vier auch noch verdorben. Wenn ihn nicht alles täusche, stehe in der Bibel etwas davon, daß der Mensch das Leben tagweis nehmen solle, nicht wochenweis. Aber das sagte er wohl, und es stand auch in der Bibel, ob er es aber selber so mache, dessen war sie doch nicht sicher. Er war oft weit weg mit seinen Gedanken, so daß man ihn errufen mußte; ob er aber hinter sich oder vor sich sah, das wußte dann kein Mensch. Das Weib dachte, es werde beides sein, einmal dies und einmal das. Gestern Abend hatte sie ihm den Schorschle eine Weile zum halten gegeben, so lang sie in den Keller ging. Da hatte er das Bürschlein lustig an seinem Bart herumspielen lassen, so lang sie in der Stube war. Als sie aber wieder hereinkam, merkte er’s gar nicht, guckte dem Schorschle tief in die Augen und sagte ein paarmal hintereinander: »Du arms Büble.« Sie hätte ihn gern gefragt, warum der Schorschle ein arms Büble sei, aber wußte sie es denn nicht selber? es war doch genug, daß sein Vater wieder in den Krieg mußte. Die Schuhmacherin erhob sich ein wenig, stützte sich auf den Ellbogen und sah dem Mann ins Gesicht. Es lag in einer fahlen Helle, weil der Mond jetzt vorrückte. Die Helle machte ihn vielleicht ein bißchen unruhig, denn er bewegte die Lippen, wie eins manchmal vor dem Aufwachen tut. Es wäre einfach gewesen, den Vorhang zuzumachen, aber der Schuhmacherin war es, als ob sie jetzt etwas erfahre, was sie wissen müsse. Die Sache war nämlich so: Der Schuhmacher sprach nicht gern vom Krieg und von seinen Erlebnissen draußen überhaupt. Weder im Wirtshaus, noch auf der Gasse, noch daheim. Er konnte manchmal sagen: »Ihr könnet gar nicht genug Gott danken, daß der Krieg draußen ist und nicht hier. Wenn ich denk’, wie es da aussieht.« Fragte man ihn aber: »Ja, wie sieht’s denn aus?« so sagt er nur: »O wüst, wüst, seid froh, daß ihr’s nicht sehen müsset.« Sagte jemand: »Was meinst auch, Schuhmacher, wie’s ausgeht? Du kommst doch draußen herein. Die Zeitungen schwätzen viel, wenn der Tag lang ist,« so wiegte er bedächtig den Kopf: »Ich kann bloß sagen: hereinkommen sie nicht, die Franzosen nicht und die Engländer nicht. Und wenn sie auf den Kopf stehen. Wir lassen sie nicht herein. Mehr kann ich nicht sagen.« Das war viel, aber es war den Hirzenbachern nicht genug. Er hätte erzählen können, was er wollte, man hätte ihm alles geglaubt, weil er von draußen herein kam. Aber kein Mensch wußte, wo sein heiteres, schlagfertiges Mundwerk von vordem hingekommen war. Vom Heuet und von der Ernte und vom Obst, da sprach er gern mit, und gegen die Kinder war er wie immer. Die gingen ihm nicht vom Fuß. Er schaffte den ganzen Tag. Als es regnete, saß er in der Werkstatt und flickte und sohlte alles Schuhwerk im ganzen Hause. Dem Weib machte er ein Paar Sonntagsschuhe. Ihrem Essen tat er alle Ehre an und sagte: »Dich sollt’ man als Feldköchin haben, da wär’ man versorgt,« und lachte sie an dazu. Wenn der Daniel seine Kameraden in die Werkstatt schleppte, weil sie den Soldaten sehen wollten, so tat er ihnen den Gefallen und legte Ahle und Pechdraht weg und schnallte um, daß sie ihn anstaunen konnten. Auch sang er mit ihnen auf Begehren: »Heimat, o Heimat, bald muß ich dich verlassen« und: »O Deutschland hoch in Ehren« und was sie sonst noch anstimmten. Aber so scharf die Mutter aufpaßte: es ging kein einziger Kanonenschuß los in seinen Reden. Immer redete er von andern Sachen mit den Kindern. Und das war, das wußte sie für gewiß, weil es ihm grauste, davon zu reden. Sie kannte doch ihren Johann. Er trug etwas mit sich herum, das war so, daß er manchmal tief aufschnaufen mußte. Aber er lud es nicht bei ihr ab. Vielleicht dachte er, sonst müsse sie es nachher schleppen, wenn er fort sei, und es wachse dann ins Ungemessene. »Was magst du auch erlebt haben ohne mich da draußen?« dachte sie, als sie ihn so ansah. »Das machen viele Jahre an meinem Herzen nicht mehr wett.« Da wurde auf einmal das tonlose Geflüster laut und der Mann sagte ganz laut: »Ach du barmherziger Gott.« Sonst gar nichts. Aber er sagte es in einem Ton, in dem alles hilflose Grauen und aller Jammer und alles Entsetzen der ganzen Welt beschlossen lag. Da war es dem Weib, als habe er ihm nun sein ganzes Herz ausgeleert und es wisse von diesem Augenblick an, wie es im Krieg aussehe. Es war so vieles in der Zeitung gestanden und vieles auch von Mund zu Mund geredet worden, das hatte sie teils fassen können, teils auch nicht, aber nun drang ihr der Schrecken ins Herz mit Schießen, Hauen und Stechen, mit Bluten, Stöhnen und Sterben. Ach du barmherziger Gott. Jetzt wußte sie es nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. Das schlug und hämmerte wild. Der Mann war wieder still und schlief ruhig weiter. Das Weib aber, das ihn gern geweckt und mit aller Liebe getröstet hätte, zog sich die Decke übers Gesicht, daß er nicht gestört sei, und weinte bitterlich. * * * * * Aber was der Schuhmacher in der Nacht herausgestöhnt hatte, das war nicht alles gewesen, was er aus dem Krieg mit heimgebracht hatte und was er davon zu sagen wußte. Es kam ein Weib drei Stunden weit über Berg und Tal daher, um ihn zu fragen. Da fand sich’s, daß er Dinge erlebt und in sich gesammelt hatte, von der Art, die die Engel Gottes gelüstig machen könnte, Mensch zu sein auf Erden, weil sie in ihrer friedlichen Seligkeit nicht wissen können, was es ist, wenn Brüder das Leben für einander geben, und wenn blutige Streiter noch Herz und Milde für den Feind haben, und wenn Väter überall Väter sind, wo sie auch hinkommen und wo Kinder sind auf der Welt. Es war am Sonntag nachmittag auf der Hölzleswiese. Der Kirschenbaum bot seine braunroten Früchte an zur Schnabelweide. Auf der Leiter stand der Vater und über ihm in einer Gabel saß der Daniel und ließ die Füße baumeln. Beide brockten eifrig, ohne zu dem Baum zu sagen: mit Verlaub, ich bin so frei, aber mit dem Unterschied, daß der Daniel alles gleich da hinein versorgte, wo es am sichersten ist und nur die Steine hinunterspuckte, und der Vater ein Weidenkörblein anhängen hatte, das sich nach und nach füllte, für die Familie nämlich, die unter dem Baum saß. Von Zeit zu Zeit rief er: »Paß auf, Lenele,« und warf eine Handvoll als Abschlagszahlung in das aufgehobene Schürzlein, versprechend, bald komme er hinunter, es sei jetzt einstweilen genug. Die Mutter hatte den Schorschle im Schoß und ließ ihn, der seine Füße in Gebrauch nehmen wollte, auf sich herumsteigen, gab ihm liebe Namen und dachte drunterhinein, wenn es morgen nicht Tag würde und sie könnten alle miteinander schlafen bis zum Friedensschluß, so hätte sie nichts dagegen. Denn morgen war derjenige Tag, man weiß schon welcher. Da kam ein Weib aus dem jenseitigen Wald heraus, nicht aus dem Hölzle, sondern aus dem Frauenzeller Staatswald, der sich lang und dunkel auf der Hochfläche hinstreckt. Es trug schwarze Kleider und hatte ein Körblein am Arm, ging so sachte für sich hin und wiegte manchmal den Kopf, wie wenn es seinen Gedanken im stillen Red’ und Antwort stände. Das sahen sie unter dem Kirschenbaum und dachten: wo mag sie auch hinwollen? sie sieht aus, als ob sie mit einer Leich’ gehen wollte. Es ist aber unseres Wissens keine in der Nachbarschaft. Als die Wallerin -- sie mußte nämlich an dem Kirschenbaum vorbei -- herzu kam, bot ihr die Schuhmacherin die Zeit mit der Frage: »Auch unterwegs heut?« und empfing mit dem Dank die Gegenfrage: »Da bin ich doch recht nach Hirzenbach?« Die Schuhmacherin wies ihr Weg und Steg, nicht ohne auf den Busch zu klopfen, wem etwa in Hirzenbach der Besuch zugedacht sei, schon wegen der Wegweisung ins Unter- oder Oberdorf. Aber sie staunte nicht schlecht, als sie vernahm, daß ihr eigenes Haus vermeint sei, und daß der Weg ihrem Mann zulieb gemacht sei. »Da könnet Ihr gleich dableiben, Weib,« sagte sie, »der Johann Berner, das ist mein Mann, und er steht da oben auf der Leiter.« Eh’ sie aber den Mann herunterrief, kam er, der alles gehört hatte, schon Schritt für Schritt die Leiter herunter, machte im währenden Absteigen die Hemdärmel zu und stand gleich darauf vor der Fremden. »Drum bin ich die Hansenbäuerin von Bergzell,« sagte diese, »und meines Manns selig Vetter hat mir geschrieben, Ihr seiet im Urlaub und Ihr seiet dabei gewesen, wie man meine Buben begraben hat. Jetzt, wenn Ihr mir halt sagen könntet, wie es gewesen ist,« -- sie sah mit kummervoll fragenden Augen dem Mann ins Gesicht: sag’ mir alles, was du weißt, aber gelt sag’ mir nicht so Schreckliches, daß ich’s nicht zu tragen vermag. Tot sind sie, das weiß ich, aber ob sie halt schwer gelitten haben, wenn ich das wüßte. Sie saßen miteinander unter dem Kirschbaum. Der Daniel lag im Gras dabei, stützte den Kopf mit Ellenbogen und Fäusten und hörte zu mit Augen, so groß und rund wie Pflugräder. »Brave Buben habt Ihr gehabt,« sagte der Vater, »rechte Buben. Ich werd’s doch wissen, wir sind ja in einer Kompagnie gewesen. Alle haben sie gern gehabt. Das Zwiegespann hat man sie immer geheißen, weil sie immer gewesen sind wie zusammengeschirrt. Keinen hat man gesehen ohne den andern.« »So sind sie von klein auf gewesen,« sagte ihre Mutter und sank in die Vergangenheit hinein, wie in einen tiefen See. »Ich habe einmal dem Joseph den Hintern verhauen, da hat der Vinzenz überlaut geschrieen: Mutter, gib mir auch. Und wenn der Große ins Feuer und Wasser gegangen wär’, so wär’ der Kleine auch hinein. Wie sie in den Krieg gegangen sind, hat der Joseph zu mir gesagt: »Mutter, ich paß’ dir auf deinen Kleinen auf, so wahr ich leb’.«« »Das hat er auch getan,« bestätigte der Berner. »Da ist nichts dran auszusetzen. Also so ist es gegangen: Wie wir im ärgsten Feuer gewesen sind bei einem Sturmangriff und auch das Zwiegespann wie wild drauf los, fährt auf einmal dem Vinzenz« -- »das ist mein Kleiner« -- schob die Mutter ein, »fährt ihm auf einmal eine Kugel durch den Fuß, daß er stolpert und hinfällt und auch nicht mehr aufstehen kann. »Joseph, verlaß mich nicht,« schreit er hell hinaus. »Was werd’ ich dich denn verlassen,« sagt der Joseph, wie wenn nichts wär, ganz ruhig. Der Feldwebel schreit: voran, drauf! Aber der Joseph sagt bloß: »Der muß auch mit« und lädt den Bruder auf den Rücken. Und wie das jetzt der Fall sein mag, ob der Feldwebel gedacht hat: mit dem ist doch vorher nichts anzufangen, eh’ der andere versorgt ist oder ob’s ihm grad so natürlich vorgekommen ist wie uns, kurzum, er läßt ihn richtig laufen. Und der Joseph schleppt den Vinzenz -- es sind ja beides Kerle wie die Bäum’ -- fünfzehn Schritt vor, durch einen Geschoßhagel hindurch, bis an eine steinerne Ruhebank, die er von weitem erspäht hat, es ist ein Kruzifix dabei gestanden. Dort hat er ihn wohl in Deckung hinlegen und dann wieder an seine Schuldigkeit gehen wollen, denn er ist keiner von denen gewesen, die an sich denken im Gefecht, da trifft ihn ein Geschoß in den Hals und fährt ihm durch und durch und dem Vinzenz noch in die Brust. So weiß ich’s von denen, die nach ihnen kamen und denen der Vinzenz im Niederfallen noch zurief: »Behüt’ euch Gott, ihr Brüder, wir zwei tun nimmer mit.«« Die Schuhmacherin drückte ihren Schorschle ans Herz und sah von der Seite den Mann an, der jetzt den Vorhang ein Stück weit auftat, um einer betrübten Mutter zu geben, was ihr gebührte, und der im gleichen Feuer gewesen war. Ja und der, hilf Gott, auch wieder hineinging. Aber sie tat keinen Schnaufer, um ihn nicht drauszubringen. Die Hansenbäuerin saß ganz still und aufrecht da und sah vor sich hin, wie in eine weite Ferne. Wahrscheinlich kniete sie nieder ins Gras zu ihren beiden Buben und horchte, ob ihr Herz noch schlage und ob etwa noch ein letztes, armes Wörtlein von den blutigen Lippen falle. Und vielleicht legte sie einen nach dem andern -- was gingen sie die fliegenden Kugeln an? -- ausgestreckt zu den Füßen des stillen Mannes am Kreuz, der grad auf sie heruntersah, und der einstmals auch sein Leben für die Brüder gelassen hat. »In der Zeitung sei damals gestanden,« fuhr der Schuhmacher fort, »der Sturmangriff sei glänzend durchgeführt worden. Ich weiß nicht. Wenn man selber mittut, merkt man allemal nicht so viel von dem Glanz. Das macht, daß er so viel gute Kameraden kostet. Das wissen die nicht so, die es schreiben. Aber nach vier Stunden haben wir die Stellung doch gehabt: eine steile Anhöhe; es ist ein Wallfahrtskirchlein droben gestanden, das war bös zerschossen, aber es hat doch noch etwas von einem Dach gehabt. Innen lag alles voll von Verwundeten, Deutsche und Franzosen durcheinander, außen drum herum legten wir die Toten, die kein Dach mehr gebraucht haben. Da sind auch Eure Buben gelegen. In dem Kirchlein ist auch eine Orgel gewesen. Und in der späten Dämmerung ist einer von den Verwundeten aufgestanden, es ist ein Schullehrer gewesen, er hat einen Kopfschuß gehabt, keinen so schweren, und hat auf der Orgel ein Lied gespielt, das hab’ ich von daheim gekannt; unser Organist hat’s immer am Karfreitag unters Nachtmahl hineingespielt. »Liebe, die für mich gestorben,« heißt es, hat er gesagt. Da haben wir alle mit Graben aufgehört und die Mützen heruntergetan; nämlich wir sind gleich dran gegangen, den Toten das Bett zu machen und das Lied ist ihr Schlaflied gewesen. Unser Feldwebel ist ein Rauhbauz und hat einen oft elend kuranzen können. Aber wie er das Zwiegespann gesehen hat: »Das hat man sich denken können, daß für die Zwei eine Kugel langt,« hat er gesagt und hat mit den Augen gezwinkert, daß man’s nicht merken soll, daß es ihm schwer fällt. Er hat auch sein Teil; der Arm wird wohl hin sein.« An den Daniel dachte kein Mensch, bis er auf einmal patzig sagte: »Aber gelt, Vater, bloß die Deutschen habt ihr hineingetan in das Grab, die Franzosen nicht!« Da sahen sie alle nach dem kleinen Kerl hin, der ganz mit seinen eigenen Gedanken bei der Sache war. »Was denkst auch, Büble,« sagt der Vater. »Wir haben sie doch erschossen gehabt. Das wär noch schöner. Wir haben ein großes, großes Franzosengrab gemacht und zwei, auch keine kleinen, für unsere Kameraden.« »Drum,« seufzte die Schuhmacherin befriedigt auf. Denn es dünkte sie doch immerhin erträglicher, wenn die Unseren wenigstens nicht Brust an Brust mit dem Feind liegen mußten. Was zuviel sei, sei zuviel, dachte sie. Aber schon tat ihr der Mann den Deckel vom Hafen. »Ganz grad ausgegangen ist’s freilich nicht,« fuhr er fort. »Solang wir an der Arbeit gewesen sind, sind noch drei Franzosen gestorben. Die haben wir, weil im Franzosengrab kein Platz mehr gewesen ist, zu den Unseren hineingetan. Sie tun einander nichts mehr.« Die Hansenbäuerin nickte schwer. »Werden auch arme Leut’ gewesen sein, die den Krieg nicht angefangen haben,« sagte sie gut und lind. »Kann sein, sie haben auch Weiber und Mütter daheim gehabt. Von mir aus, bei meinen Buben dürfen sie wohl liegen, die armen Tropfen.« Dem Daniel gefiel’s nicht. Er stand auf und machte sich über den Kirschenkorb her, an dem das Lenele schon lang mit stillem Eifer saß. Die Hansenbäuerin stand auf. Sie gab dem Schuhmacher und seinem Weib die Hand. »Ich hab’ weit heim,« sagte sie. »Und was ich hab’ wissen müssen, weiß ich jetzt. Ich sag’ vielmals vergelt’s Gott.« Die Freude war wohl ausgelöscht in ihrem Herzen, aber die Ergebung nicht. Sie sah in allem Kummer stolz und vornehm aus. So sehen viele Frauen aus im deutschen Vaterland. Sie sahen ihr nach, bis sie wieder in die dunkle Waldestür einging. »Vater, erzähl’ noch mehr vom Krieg,« bettelte der Daniel. »So etwas von einem Gewitter.« Das war nämlich so: Vorgestern war ein Gewitter gewesen, bei dem eine zeitlang Blitz auf Blitz und Schlag auf Schlag einander folgten. Der Daniel war der Mutter am Kleid gehangen, denn es war ihm etwas bänglich bei dem Krachen. Die Mutter aber (es war nach jener Mondnacht) gab ihm einen Puff: »Sei kein so Hasenfuß. So kracht’s im Krieg immer, wenn nicht noch ärger.« Jetzt an dem friedlichen Sonnentag unter dem Kirschbaum hätte der Daniel gern etwas von Blitz und Schlag und wildem Tosen gehört, es hätte arg sein dürfen, es hätte ihm nichts gemacht. Da begann der Vater: »Denk’ einmal, in Frankreich drin hab’ ich auch einen Buben gekannt, in deinem Alter, und bin gut Freund mit ihm gewesen. Er hat meiner Quartierfrau gehört. Der Vater ist schon ganz im Anfang in den Krieg gekommen. Seither haben sie nichts mehr von ihm gehört. Vielleicht ist er schon lange tot. Seine Mutter ist ein kleines, zierliches Weiblein und hat zuerst eine Heidenangst vor uns gehabt. Sie hat vom Hörensagen gewußt, wir seien schier so arg wie Menschenfresser. Wir sind zu dritt bei ihr im Quartier gelegen. Wie wir eingezogen sind, hat sie ihre Schubladen und Kästen vor uns aufgesperrt und gesagt: »Nix da, nix da, nix Geld, nix Essen,« und hat ihr Büblein an sich gepreßt, als wenn wir’s opfern wollten wie den Isaak. Da haben wir unser Brot auf den Tisch gelegt und was wir so bei uns gehabt haben und haben ihr begreiflich gemacht, daß sie mit uns essen sollen alle beide, und haben dagegen angezeigt, daß wir Durst haben. »Auch nix dü Wäng?« hat einer gefragt. Da ist sie in den Keller gegangen und hat einen Krug voll Wein heraufgeholt und wir haben friedlich miteinander gegessen und getrunken. Wir haben ihr Dach geflickt und sie hat unsere Hemden gewaschen. Damals sind wir fast drei Wochen hinter der Front gewesen und noch gar nicht im Gefecht. Später ist’s anders gekommen. Jetzt, wie sie nach und nach zutraulich geworden ist, hat sie mir anvertraut, daß ihr der Pierre, so heißt der Bub, gar nicht folgen wolle. Sie habe einen braven Mann und der Bub verkomme ihr. »So, was tut er denn?« hab’ ich gefragt. »Ha, er geht hinter die Schule und strolcht mit bösen Buben herum,« sagte sie. »Ich tät’ ihn verhauen, wenn ich Sie wär’,« sag’ ich. Da sagt sie, er sei ihr zu stark und zu wild, sie sei nicht so bei Kraft die Zeit daher, und er sei auch das Ebenbild von seinem Vater, ihrem lieben Léonard, das könne sie doch nicht schlagen. Da hab’ ich mir im stillen gelobt: ›Ich besorg’s ihm einmal. Vielleicht tut mir daheim auch einmal einer den Dienst bei meinem Buben.‹« Der Daniel kroch vorsichtig ein bißchen näher zur Mutter hin. Die legte ihm liebreich die Hand auf den Arm. »Ich hau’ dich schon selber, wenn’s nötig ist,« sagte sie beruhigend. Da war’s ihm recht. »Es hat sich auch bald begeben,« fuhr der Vater ruhig fort. Kann sein, er hatte das Zwischenspiel gar nicht gesehen. »Der Pierre ist ein ganz netter Schlingel gewesen mit kohlschwarzen Augen und einem Wald von schwarzem Lockenhaar. Aber er hat einen Kameraden gehabt, drei, vier Jahre älter, einen durchtriebenen Strick, dem hat er alles tun müssen, was er gewollt hat. Und einmal find’ ich die zwei beisammen, wie sie der alten Madlene, das ist eine Wäscherin gewesen, ihren großen Waschzuber angebohrt haben, daß die Seifenbrüh’ auf die Gasse gelaufen ist. Heißt das, der Pierre hat’s getan, der andere hat bloß zugesehen und gehetzt: »Mach’, mach’ voran, sie kommt; das ist ein Hauptspaß, wenn sie schimpft.« Und hat gelacht wie ein junger Teufel. Da hab’ ich mein Gewehr -- ich bin grad von der Wache gekommen -- an eine Hauswand gelehnt und hab’ den Pierre ’rübergelegt und durchgewamst. Alle Fenster sind aufgegangen vor seinem Geschrei. Und alle Leut’ sind auf die Gasse gekommen, aber ich bin jetzt schon im Zug gewesen und hab’s gründlich gemacht. »Was, Kerle,« hab’ ich gesagt, »dein Vater ist im Krieg und läßt sich totschießen für sein Vaterland, und daheim hat er so einen Strick? Meinst, das tät’ ihn freuen, wenn er’s wüßte?«« Der Vater unterbrach sich. »Nein, nein, meine Wort’ hat er nicht verstanden,« sagte er auf die Frage der Mutter, ob denn der Bub deutsch verstanden habe, da ihres Wissens dem Mann das französische nicht so herauslaufe wie Brunnenwasser. »Meine Wort’ hat er nicht verstanden, aber meine Hieb’ sind deutlich gewesen.« »Ungefähr acht Tage nach dir ist die Frau in die Wochen gekommen, wieder mit einem Buben. Den hat sie Jean taufen lassen, das ist wie bei uns Johann, »zur Erinnerung an die brave deutsche Einquartierung,« hat sie gesagt. Sie hat uns nicht ungern gehabt.« Die Schuhmacherin rückte ein bißchen unruhig hin und her. So arg es ist, es muß gestanden sein, daß sie dachte, jetzt könnten die Männer auch einmal genug im Quartier gelegen sein, sie müßten doch auch wissen, zu was sie im Krieg seien. Aber sie schluckte jegliche Bemerkung hinunter, es war ihr selber ein Kreuz, daß sie so dachte. Es kam auch gleich anders. »Wir haben zusammengelegt zu einem kleinen Tauffest,« erzählte der Mann weiter. »Ich hab’ gesagt, das gelte für mein Büble daheim, das ich noch nicht gesehen hab’. Da, wie wir grad gemütlich dasitzen und auf alles Mögliche daheim anstoßen, bläst draußen ein Hornist zum Sammeln und wir müssen auf und fort. Behüt’ uns Gott, der Krieg ist etwas arges, man mag sagen, was man will. So haben wir in der Kürze Abschied genommen. Feind ist Feind, aber Mensch ist Mensch. Es wird keine Sünd’ sein, daß ich das sag’. Der Pierre und eine ganze Horde anderer Buben sind mit uns marschiert bis an den Wald und haben überlaut die Wacht am Rhein gesungen. Die haben wir sie gelehrt. Kann sein, ’s ist ihren Vätern nicht recht. In selbiger Nacht sind wir noch ins Gefecht gekommen.« Der Vater brach den Faden ab und sah vor sich hin. Die Mutter kam sich schier gar schuldig vor, so, als habe sie den Befehl zum Abmarsch erteilt. »Ich bin’s nicht wert, daß er damals gesund geblieben ist,« dachte sie ehrlich. Der Daniel zupfte den Vater am Ärmel. »Vater, das ist doch nicht vom Krieg gewesen,« sagte er. »Jetzt kommt’s, jetzt mach weiter.« Der Vater sah seine Lieben im Kreis herum an. »Wenn’s Gott’s Will’ ist, daß ich gesund wieder heimkomm’ -- oder halt überhaupt heimkomm’, und ’s sind vielleicht ein paar Jahr’ drüber hin, und ’s ist manches versurrt und über manches Gras gewachsen, dann will ich’s erzählen. Ich vergess’ es nicht, ihr brauchet keine Angst zu haben, es ist alles blutig tief hineingeschrieben.« Da, als der Daniel sah, daß nichts mehr kam, lief er einem Falter nach, der schon eine Weile in der Nähe herumwirbelte. Das Lenele schlief neben der Mutter. Den Schorschle nahm der Vater auf den Arm. »Es ist doch gut, wenn man wieder einmal sieht, für was man ficht,« sagte er. »Da draußen will’s einem manchmal vergehen.« Es war still um und um. Heißt das, wenn man das Grillengezirpe und das Heuschreckengeigen und das Mückensummen nicht rechnen will, das man erst in der Stille auf einmal zu hören beginnt. Und nicht das vielstrophige Lied der Drossel im nahen Hölzle. Die Sonne kam auf ihrer weiten Sommertagsbahn nahe zur Erde her, so viel man von hier aus sah. Da fing alles an zu flimmern und zu leuchten. Er saß still und ließ lange Blicke um und um gehen. »Seh’ ich dich wieder, Heimat, oder seh’ ich dich nicht mehr? Das zweitemal ist das Gehen herber als das erste. Nicht daß ich daheim bleiben möcht’, so lang draußen Krieg ist. Gott verhüt’s. Um kein Geld und Gut und nicht um Kuß und Liebe von Weib und Kind blieb’ ich da. Ich könnt’ keine Nacht schlafen in meinem Bett. Ich müßt’ immer hinaushorchen, ob’s regnet oder stürmt, und ob’s kracht und donnert. Ihr Brüder im Feld draußen, ich gehör’ zu euch mit Leib und Leben. Und zu euch daheim gehör’ ich auch. Weiß Gott, es zerreißt mir das Herz. Ich kann nicht hier sein und dort zugleich. Das ist der Krieg. Wenn Frieden ist, kann man an einem Platz sein ganz und gar. Aber hier muß es bleiben, wie es ist. Deutsch muß es bleiben und friedlich. Das ist sicher. Daß man schaffen kann und seine Kinder aufziehen und daß das Land unser bleibt.« »Hast etwas gesagt?« fragte das Weib. »Es ist mir so gewesen.« »Nein, ich hab’ nichts gesagt mit Wissen. Gedacht hab’ ich so manches. Man kann nicht alles sagen. Horch, Weib: es ist mir lieb, daß du fest hinstehst. Ich hab’s wohl gesehen, daß du’s tust. Es ist jetzt eine andere Zeit als sonst. Man muß die Zähn’ übereinander beißen und auf Gott vertrauen. Den Kopf hängen lassen darf man nicht. Es ist, wie wenn man zum zweitenmal auf der Welt wär’. Das, was vor dem Krieg gewesen ist, das ist das erstemal. Und jetzt ist’s wie eine andere Welt.« Sie sagte nichts dazu. Vielleicht gab sie sich Mühe, seine Anweisung auszuführen: die Zähn’ übereinander beißen und auf Gott vertrauen. »Und horch, Weib: du hast die Hansenbäuerin gesehen. Das ist eine rechte Frau. So wie die muß eins sein, wenn --« »Sag nichts; ich weiß schon, was du meinst. Sag nichts. Man tut halt, was man kann. Der Pfarrer hat heut gesagt: Dein Wille geschehe, das heiße nicht immer hergeben, das heiße auch manchmal geschenkt kriegen.« »Ja, ja, das ist auch wahr. So kann man’s auch ansehen. So wollen wir denn heimgehen. Es wird mondhell heut nacht. Um drei Uhr muß ich fort. Du gehst mir keinen Schritt zum Haus hinaus. Man darf der Katz’ den Schwanz nicht stückweis abschneiden. Wir machen’s kurz. Die Kinder schlafen dann, bei denen bleibst.« Gesang ertönte von weitem her, junge Stimmen von Burschen und Mädchen; der leichte Abendwind trug sie herzu, noch ehe man die Lustwandelnden erblicken konnte. Sie sangen das Lied vom schönsten Wiesengrunde, in dem der Heimat Haus steht. Das war, als hätte die Heimat selber eine Stimme bekommen und locke ihre Kinder zu sich her, damit sie ihr tief ins Auge und ins Herz sähen. Das war für die unter dem Kirschbaum nicht von nöten. Sie hätten mitsingen können, wenn es ihnen ums Singen gewesen wäre: »Müßt’ aus dem Tal ich scheiden, Wo alles Lust und Klang. Das wär mein herbstes Leiden, Mein letzter Gang.« Aber sie horchten still, bis die Stimmen verhallten. Dann wandelten sie miteinander heimzu. Er trank noch einmal alles mit den Augen in sich hinein. Sie tat desgleichen für ihn. Gute Nacht, Hirzenbach. Heimatwelt, gute Nacht. * * * * * Der Mond war schon am Niedergehen. Der Röhrenbrunnen plätscherte wie im Traum. Ein erster Hahnenschrei. Ein Gaulsgewieher in einem Stall. Ein kühler Morgenwind. Ein Lämpchen an einem Fenster und ein Weib dahinter mit verweinten Augen. Feste, starke, hallende Tritte, die durch die Nacht hingehen und in ihr verschwinden. Ein Mann, der sich das Liebste vom Herzen genommen hat und ausgeht, weil das Vaterland ruft. Zum zweitenmal. Von der stummen Kreatur Ein Märzabend dämmert herunter. Der lange Saal liegt schon im Schatten, nur vorne an den Fenstern sind noch ein paar Betten bleich beschienen vom sinkenden Tageslicht. Es hängt eine Wolke in der Luft, sie webt hin und her und will zum Fenster hinaus. Aber sie kann nicht. Die draußen in den Schützengräben gelegen sind, lange Wintermonate hindurch, immer in der freien Luft, die wollen jetzt in der warmen Stube, in der Dämmerstunde, wo das Rauchen erlaubt ist, ihr Pfeifenrüchlein beisammen behalten. Die Wolke wird immer dicker; es wäre entschieden gesünder, wenn man ein Fenster aufmachte. Aber wenn’s ihnen so behaglich ist. Sie haben genug Unbehagliches, um jetzt grad nicht mehr zu sagen, erlebt. Es soll ihnen so wohl als möglich sein. Mit dem Doktor könnte es allenfalls etwas setzen. Aber erstens vermeidet er weislich, um diese Zeit zu kommen, und zweitens ist er kein Unmensch. Grad weil er kein Unmensch ist, kommt er jetzt nicht. Sonst müßte er aus seinem ärztlichen Gewissen heraus die Fenster aufreißen, daß die kalte, klare Märzenluft hereinströmen könnte. Licht wollen sie auch noch nicht. Es sei gemütlicher so. Der Schwester kann’s recht sein; es ist ohnehin nicht mehr viel Petroleum da, der Lazarettinspektor hat in allen Sälen herumgeschickt, man solle äußerste Sparsamkeit walten lassen. Die Ofentür hat einer ein bißchen aufgemacht, daß der Flackerschein vom Feuer auf den Boden fällt. Er hat’s mit der linken Hand getan, denn die rechte ist nicht mehr da. Unsereins könnte es alterieren, zuzusehen, wie er sich behilft bei allen Verrichtungen. Aber er sagt, bei ihm mache es nicht so viel. Er sei Briefträger, und die Postverwaltung nehme ihn wieder. Und überhaupt. -- Ja, immer dieses überhaupt. Wenn man das in Worte fassen könnte. Es ist nicht auszusagen, was dieses überhaupt alles sagt. Wer’s spürt, der spürt’s. Die Saalschwester spürt’s. Sie macht sich im Saal zu tun. Da vorne am Fenster liegt einer, dem sie den Fuß massieren muß. Dazu ist’s gerade noch hell genug. In der Dämmerstunde, da ist allerlei zu hören, was bei Tag nicht herauskommt, da spinnen sich Fäden hinaus zu denen, die noch im Kampf stehen, und heim zu denen, die warten, bis sie wiederkommen. Da kommt auch heraus, was überhaupt heißt. Es heißt: »Ich leb’ doch noch. -- Und wenn ich nicht mehr lebte, so müßte doch Deutschland siegen. Und es siegt auch. Auf mich kommt’s nicht an. Aber ich bin doch froh, daß ich noch lebe. Es ist noch gut gegangen. Ja, es ist noch gut gegangen. Denn wie viele liegen draußen. Und viele siechen langsam hin, oder sind blind, oder -- o Gott, nicht ausdenken darf man, was gelitten wird. Aber bei mir ist’s doch noch gut gegangen und hätte können schlimmer sein.« Und überhaupt. Der Briefträger mit dem einen Arm und noch zwei aus dem Saal, die »wenigstens gute Füß’« haben, sind heute bei einer Beerdigung gewesen. Davon reden sie nun. Ein Hauptmann ist es gewesen, den man begraben hat. Er hat keine Frau und keine Kinder hinterlassen, man weiß es für gewiß. Er hat nur einen Bruder, der in Tsingtau gefangen genommen wurde, und eine Schwester, die als Missionarsfrau irgendwo »unter englischer Obhut« sitzt. Er hat schwer gelitten; es ist ihm gut gegangen, daß er gestorben ist. Seine Geschwister wissen’s noch nicht. Es trauert heut niemand um ihn. Die Schwester gönnt sich und ihrem Patienten eine Pause und fragt, schier zaghaft: »Niemand? er wird doch auch Freunde haben? und seine Mannschaften? Die trauern doch um ihn?« Es erbarmt sie immer so tief, wenn die Menschen da draußen sterben, an der Reichsgrenze, schon im deutschen Land, und doch in der Fremde. Die Kanonen donnern zum Grabgesang von den Vogesen her, und von den Grenzgefechten jenseits der schwarz-weiß-roten Pfähle. Der Krieg schreit noch hinein in ihre Stille, trotzdem sie ihm schon entronnen sind. Und ihre Eigenen sitzen oft weit weg und können nicht kommen. Es ist ihr dann, man müsse sie doppelt mit Liebe umgeben, die Toten, die doch nichts mehr spüren, mit Kränzen, mit Grabgeleit, mit Tränen. »Seine Freunde und seine Mannschaften steh’n draußen. Die wissen’s nicht, daß er grad heut begraben wird. Die sind hart an der Arbeit, o je.« Was sich so eine Schwester wohl denkt? »Ein Leidtragender ging aber doch hinter seinem Sarg her,« sagte der Einarmige. Er heißt Christoph Volz. »Ein Leidtragender! wer denn?« »Ja. Er heißt Mingo. Er ist dunkelbraun und hat eine weiße Blässe vor der Stirn. Sein Gaul.« Sie nickten ernst mit dem Kopf. Es fällt keinem ein, das mit dem Leidtragenden für einen unzeitigen Scherz zu nehmen. »Ja, so ein Tier,« sagen sie. Sie sehen es alle vor sich. Sie sehen den ganzen Leichenzug vor sich. Sie hören die Trommel, die keiner mehr vergißt, der sie gehört hat. Langsam, langsam fallen die Schläge. Jeder schlägt einem aufs Herz. Drom drom, drrom dom dom, dom dom dom. Es ist wie eine Musik, die der Tod selber macht. Der Sarg schwankt hinterher. Die Träger bleiben im Schritt, den ihnen die Trommel vorschreibt. Sie tragen schwer; es ist, als trügen sie alles Herzeleid mit. Hinter dem Sarg kommt das Pferd. Der Bursche führt es am Zügel. Es weiß es, o es weiß es gut, daß man da seinen Herrn hinträgt, denselben, den es so oft auf seinem Rücken getragen hat. Es ist nur alles so unbegreiflich. So eine stumme Kreatur kann niemanden fragen. Niemand von den Leuten, die hinter dem Sarg herschreiten, nicht den Pfarrer, nicht die Offiziere der Garnison, die gerade hier liegen und dem Kameraden die letzte Ehre antun. Es weiß nicht, warum sich Schüsse lösen an der Grube, in die sie den Herrn versenken, oder doch das Etwas, das ganz sicher mit dem Herrn zusammenhängt. Die Schüsse hallen lang nach, an den Bergen hin. Und alle Leute treten noch einmal an die Grube und sehen hinunter, und auch Mingo steht nahe dabei und reckt den Hals. Aber dann nimmt ihn der Bursche wieder am Zügel und führt ihn von da hinweg. Er läßt ein langes, unwilliges Wiehern hören. Aber es versteht’s kein Mensch. Oder doch, ja, der Bursche versteht’s. Er legt seinen Kopf an den schlanken, braunen Hals, als es niemand mehr sieht, und heult los. Denn sie haben nun beide keinen Herrn mehr, und was werden sie für einen neuen kriegen! Aber der Bursche geht dann aus dem Stall und gesellt sich zu andern Leuten, und nimmt einen braven Trunk zu sich und macht sich vernünftige Gedanken. Dazu ist er ein Mensch. Mingo aber bleibt allein, und er ist auch nicht so leicht beweglich. Er kennt nur einen Herrn. Und es ist ihm mehr und mehr, als sei mit diesem Herrn etwas gar nicht in Ordnung. Als habe der ihn ganz und gar verlassen. Das geht alles schnell und wie mit den Augen sichtbar an den Leuten vorbei. »Ja, so ein Tier,« sagt noch einmal einer nachdenklich. Der Hauptmann hat noch von ihm Abschied genommen, sie haben es erfahren. Er hat eine so große Unruhe in sich gehabt am letzten Tag und der Doktor hat ihn gefragt, ob er einen besonderen Wunsch habe. Da hat er gesagt: »Wenn es möglich wäre, möchte ich wohl mein Pferd sehen.« Der Sanitäter, der dabei war, hat gemeint, er sei vielleicht nicht ganz bei Bewußtsein, aber der Doktor hat’s gut verstanden und hat gesagt: Das muß möglich sein. Da haben sie das Pferd hereingeführt; sechs Stufen hoch ging’s vom Hof in den Saal. In dem Saal liegen Mannschaften, und in einem kleinen Nebenzimmer der sterbende Hauptmann. Das Pferd hatte keinen Raum dort drinnen. Es stand unter der offenen Tür und sein Herr hob mühsam die Hand nach ihm hin. Da führten sie es so weit hinein, daß er seine Nase und den schönen Hals streicheln konnte. Das Pferd schnoberte an der blassen Hand herum und als sie müde zurücksank, wieherte es leise. Der Bursche soll gesagt haben, dem Herrn seien Tränen in den Bart gelaufen. Und das Pferd -- wenn es nur gekonnt hätte -- aber so ein Tier kann nicht weinen. »Es muß alles in sich hineindrücken,« soll der Bursche gesagt haben. Als sie es wieder hinausführten durch den Saal, schrie auf einmal ein Ulan, der einen Kopfschuß hatte und eine Eisblase auf dem Kopf: »O meine Lisel.« Die Lisel war ihm unter dem Leib weggeschossen worden, aber sie war nur schwer verwundet, nicht tot. Und er hatte sie hinter sich gelassen, um sein Leben zu retten. Nicht einmal einen Gnadenschuß hatte er ihr gegeben, da schrie sie hinter ihm drein. Im ärgsten Kugelregen glaubte er sie noch schreien zu hören. Jetzt, seit er den Kopfschuß hatte, kam sie ihm immer im Fieber und in Träumen vor. Wie einer, der seinen besten Kameraden hat müssen totwund liegen lassen, kam er sich vor. Aber der Kamerad versteht’s doch, daß man nichts anderes machen kann. Die Lisel jedoch -- kann das so ein treues Tier begreifen --, daß man’s in der bitteren Not verläßt? in der tobenden Hölle, in die es den Herrn hineintragen mußte? Die Schwester kam und erneuerte das Eis. Denn der Ulan sagte nun immer vor sich hin: »Das Tier hat ihn getragen, bis daß es niederfiel« -- und konnte keinen Schluß von dem Vers finden. Das alles erzählen die Leute, die bei dem Begräbnis gewesen waren, und die Schwester weiß, daß sie nun zurücksehen in das, was im Krieg am grausigsten und schrecklichsten ist: das Hinstürmen müssen über die hinweg, die zu einem gehört haben. Als ob sie einem nichts mehr angingen. Man muß bedenken: es ist bei ihnen noch nicht lang her, erst kurze Tage, daß sie es in der Wahrheit miterlebt haben. Aber der lustige Schübel-Max, der nicht lange bei traurigen Dingen verweilen mag, weil sie einem, wie er sagt, »das Gemüt anfressen,« bringt unverzüglich eine andere Saite zum Erklingen. »Also so ein Tierle,« sagt er, »hat Menschenverstand. Es kann’s bloß nicht sagen, daß es alles versteht. Aber es versteht rein alles. Zum Beispiel mein Fuchs, wenn die Proviantwägen nicht nachgekommen sind und wir haben beide Hunger gehabt, er und ich, und ich hab’ ihn ein bißchen getätschelt und gesagt: ›Fuchs, heut ist’s nichts mit der Verpflegung,‹ dann hat er mich vorher angeguckt, ob ich’s im Spaß sag’ oder im Ernst und hat mit dem Maul an meinen Taschen herumgeschnobert, ob nicht doch noch eine alte Brotrinde drin sei. Aber dann hat er, wenn nichts drin war, ganz gottergeben mit dem Schwanz gewedelt und das hat geheißen: Mag’s sein wie’s will, also du kannst einmal nichts dafür. Soviel ist sicher. Und anhänglich ist ein Gaul. Ein treuer Schatz kann nicht anhänglicher sein.« »Du hast ja gar kein’n, was weißt denn du?« wirft einer ein, der aus dem gleichen Ort ist. Denn der Schübel-Max ist nicht fürs Weibliche. Das heißt, er verehrt es schon, aber er kann nichts rechtes damit anfangen, er »kriegt den Rang nicht,« wie er selber sagt. Aber er läßt sich durch die Einrede nicht draus bringen. »So?« sagt er. »Das mit den Schätzen, das weiß ich vom Zusehen; aber das mit den Gäulen, das weiß ich vom Praktizieren. Da kann ich dann auch wieder sagen: Du hast ja gar kein’n, was weißt denn du?« Denn der Kamerad aus dem gleichen Ort ist ein Infanterist, ein Sandhase, aber der Schübel-Max ist Kavallerist. »Ich will gar nicht von mir sagen,« fährt er fort. »Von meinem Fuchs und mir. Wiewohl, als ich bin verwundet worden und die ganze Nacht in einem Graben am Waldrand gelegen, da ist er keinen Schritt von mir weggegangen. Wir sind ganz allein gewesen, heißt das, was Lebendige anbetrifft. Tote sind schon dagewesen,« er macht eine Handbewegung, als ob er etwas wegwischen wollte. Denn von ihnen will er jetzt nicht reden. »Ich hab’ mich nicht regen können, denn ich hab’ zu viel Blut verloren, als ich bis zu dem Graben hingekrochen bin. »Fuchs, sag’ ich, armer Kerle, du hast Hunger. Geh’ doch da ’nunter, an das Waldeck, da ist eine Wiese mit schönem Gras.« Aber er tut keinen Ruck. »Und du? hast du vielleicht keinen Hunger?« sagt er. Der Infanterist aus dem gleichen Ort fährt auf: »Was lügst denn so? kann vielleicht ein Gaul reden?« »Du hast ja gar kein’n, was weißt denn du? Also ich hab’ ihn halt so verstanden.« Es ist eine kalte Nacht gewesen. Die Stern’ sind am Himmel gestanden und haben mir zugewinkt, wenn ich mit den Augen geblinzelt hab’, wie wenn sie sagen wollten: über deinem Dorf und über der Kirch’ und dem Kirchhof scheinen wir auch. Aber du, du kommst nimmer heim. Wie man halt ist,« der Schübel-Max gab schier ungern sein menschliches Gefühl preis, »es hat mich doch erbarmen wollen, daß ich da draußen allein verkommen soll. Da hat mich auf einmal mein Fuchs angestoßen mit seinem Maul und hat an mir herumgeschnobert und hat gesagt« -- »Jetzt hältst aber dein Maul. Schwätz, was wahr ist und halt dich nicht so mit Lügengeschichten auf,« sagt der Kamerad aus dem gleichen Ort. »Also mir ist’s halt gewesen, er hab’ gesagt: bin ich vielleicht nicht auch noch da? bin ich vielleicht nicht auch ein Mensch? -- bald hätt’ ich gesagt: ein Mensch -- also bin ich vielleicht nicht auch eine lebendige Seele? Das hat mir gut getan in meiner Schwachheit. Überdem ist der Morgen heraufgekommen und mich in meinem Graben hat ein Streifen Sonne getroffen, da hab’ ich gedacht: kann sein, du kommst doch noch einmal heraus. Wie man halt ist. Man hängt doch am Leben. Mein Fuchs aber, der hat mehr gesehen als ich. Der hat über dem Viereck drüben, am andern Waldrand, eine Patrouille reiten sehen; es sind von den Unsern gewesen, und hat laut hinausgewiehert, drei- oder viermal. Sind halt auch Kameraden von ihm dabei gewesen, das hat ihn gefreut. Ich hab’ aus meinem Graben heraus mein Sacktuch geschwenkt. Und kurzum, sie haben mich gefunden. Sonst, behüt dich Gott, Schübel-Max. Wo mein Fuchs jetzt ist, das möcht’ ich wissen.« Der Schübel-Max schweigt ein Weilchen. Dann sagt er: »Das hab’ ich eigentlich gar nicht sagen wollen, das von mir und dem Fuchs. Es ist mir nur so zwischenhinein gekommen, weil wir von der Anhänglichkeit geredet haben.« »Was hast denn sonst sagen wollen?« fragte der Landwehrmann Gröhl, der sich gern gut unterhält, aber nur, wenn er selber nichts dazu tun muß. Zuhören, das kann er stundenlang. »Ach, da ist doch gestern ein Kamerad bei mir gewesen, dem hat’s seine Frau geschrieben. Bei ihm daheim ist’s passiert, im Schwarzwald. Jetzt mag er nicht mehr essen und nicht mehr schlafen. Bloß heim möcht’ er, wie seine Gäul. Die sind, ein Gespann von Braunen, zwei Tage nach ihm selber ausmarschiert, nach Frankreich, wie er auch. Die Frau und der Bub sollen, als die Braunen fortkamen, ärger geweint haben, als bei des Vaters Abschied. Der eine von den Gäulen soll immer wieder den Kopf nach dem Hof hingedreht haben, solang man ihn gesehen habe. Der Hof liegt auf einer Höhe, nicht so gar weit von Oberndorf. Also das war im August. Jetzt, im Frühjahr, haben sie in Oberndorf Militärgäule versteigert, gefangene Franzosen und Belgier, und auch eine Partie deutsche Kriegsuntaugliche. Die Schragenbäuerin und ihr Bub sind auch zur Versteigerung gegangen, weil sie gern wieder ein Gespann zum Ackern gehabt hätten. »Mutter, Franzosen nehmen wir keine,« sagt der Bub, der im Zorn noch keinen Unterschied weiß zwischen einem französischen Mann und einem französischen Gaul. »Ha, das macht mir nichts aus,« sagte die Mutter. »Hist und hott werden sie auch verstehen. Die Gäul haben den Krieg nicht angefangen. Kann sein, man kriegt sie billig.« Sie haben aber nicht gesehen, daß ein paar abgetriebene Braune unter den deutschen Kriegsuntauglichen immer die Köpf’ zusammengestreckt und untereinander verhandelt haben. Gespürt haben sie auch nicht, daß da etwas um den Weg ist, was zu ihnen gehört. Man kann’s ihnen nicht übel nehmen. Menschen haben keinen so feinen Riecher, wie so ein Tierle. Da ist auf einmal ein schwerer, klapperiger Schritt auf die zwei Leut’ zugekommen, und eh’ sie sich’s versehen haben, hat sich ein Kopf über die Schranken geschoben, hinter denen sie gestanden sind, und hat sich zwischen die Frau und den Buben gedrängt, wie wenn er alle beide auf einmal begrüßen wollte. Da haben sie zu gleicher Zeit die Blässe in Form eines Blattes auf der Stirn des Braunen, und die Art, wie er die Nüstern aufgeblasen und wie er mit dem Fuß gescharrt hat, erkannt, und gerufen: »Ja, Hans, o Hans, grüß Gott! ja, du bist’s und bist wieder da aus dem Krieg?« Der Braune aber hat sich schier in das Brusttuch der Frau verkrochen vor lauter Zärtlichkeit und weil er sonst nichts hat sagen können. Mittlerweile ist sein Mitgespann hinter ihm drein und auch herzugekommen, mit hinkendem Schritt, denn er hat an der linken Hinterhand eine tiefe, schlecht verheilte Narbe gehabt, und -- ihr glaubet’s ja doch nicht, wenn ich’s auch sag’ -- und hat das Maul auf- und zugemacht, wie wenn er die längste Red’ halten wollte über das, was er derweil erlebt hat, und bloß nicht könnte. Die Bäuerin hat einen um den andern umhalst wie einen Schatz, der wieder gekommen ist und das ist ihrem Mann vermeint gewesen, oder, ich weiß nicht, hat sie für die Gäule so ein Mutterherz gehabt; und der Bub hat mit seiner Geißel geknallt, weil er nicht hat hinausjuchzen können; denn das Schluchzen ist ihm im Hals gesteckt, er hat nicht recht gewußt, warum. Da haben sie bei der Versteigerung die zwei alten Familienglieder erstanden und noch einen Franzosen dazu. Den haben sie hist und hott gelehrt und an der Wagendeichsel eingefahren, daß es die Kriegskameraden nicht so streng haben sollen. Und seit der Schragenbauer das alles weiß, guckt er bloß noch heimzu.« Soweit der Schübel-Max. Die andern sind still. Vielleicht haben sie’s wie der Schragenbauer. Die Schwester hat vor einer kleinen Weile, eh’ sie hinausging, sachte das Fenster aufgemacht. Jetzt sehen sie auf einmal, daß draußen schon die Sterne am Himmel stehen. »Die scheinen auch über die Schlachtfelder, und auch über die Heimat.« Die Heimat ist behütet und liegt im Frieden. Ganz deutlich sehen sie sie vor sich. Stille Dorfgassen, Mütter, die Kinder ins Bett legen, einen plätschernden Röhrenbrunnen, einen mächtigen Nußbaum an einer alten Scheuer, Kühe im Stall, eine Schreibstube, einen gedeckten Tisch, an dem eine blonde Frau sitzt, einen Zaun, an dem ein Mädchen mit hängenden Zöpfen steht. Die behütete Heimat, das ist der Preis für alles, für Mühe und Schweiß, für eisige Nächte im Freien, und tobendes, höllisches Feuer im Gefecht, für brennende Wunden und versehrte Manneskraft. »Grüßet die daheim, ihr Sterne, grüßet die draußen. Einmal, einmal muß doch wieder Friede sein.« Das sagt keiner. Solche Sachen sagen sie nicht. Wenigstens nicht mit solchen Worten. Aber wer sie kennt, versteht sie doch. * * * * * »Mein Tyras ist auch so ein Kerle.« Kein Mensch fragt, was für ein Kerle der Tyras des Landsturmmannes Möschenmoser aus Denglingen im badischen Oberland sei. Es wird schon kommen, wenn man’s abwartet. Der Möschenmoser macht nicht leicht den Mund auf. Es muß schon dunkel sein und es müssen die Sterne scheinen und es muß von Tieren die Rede sein. Im Frieden ist er nämlich Schäfer. Wenn er etwas sagt, dann kommt es wie aus einem langen Gedankengang heraus. Es wird wohl auch so sein. Er ist noch nicht lang im Krieg gewesen. Zwei Brüder sind ihm schon gefallen, einer in Rußland und einer in den Vogesen. Er ist der Letzte. Im Februar ist er ausgerückt und im März verwundet. Als ihn niemand frägt, hält er’s für ein Zeichen, daß er fortfahren soll. »Also es gibt nämlich Sachen, die kann kein Mensch erklären. Zum Beispiel, wieso es kommt, daß ein Tier etwas von weitem spürt und ein Mensch nicht. Und der Mensch soll doch das Höchste sein in der Schöpfung. Aber er hat zuviel gelernt, das ist der Fehler, er ist zu gescheit geworden. Er ist von der Natur entwöhnt. Darum ist ihm der feine Merks verloren gegangen. Ein Tier hingegen ist ganz Natur und hat gute Augen und Ohren und eine scharfe Witterung. Und ist auch treu und unveränderlich, weil es nicht so vielerlei bedenkt und will, sondern bloß seinen einen Herrn und was dem recht und lieb ist. Zum Beispiel mein Tyras -- jetzt gehört er mir, vorher hat er meinem Kleinen gehört -- der hat, seit er von der Mutter weg ist, seiner Lebtag nicht anders geguckt, als mein Kleiner gewollt hat.« Soviel wußten alle im Saal von den Familienverhältnissen des Möschenmosers, daß sein Kleiner der jüngste Bruder war, der in Rußland gefallene. Möschenmoser hatte ihn aufgezogen, auch »von der Mutter weg« und hatte ihm »sein Herz geschenkt.« »Also, mein Kleiner ist doch auch Schäfer gewesen und hat immer mit dem Tyras gehütet, seit der erzogen war. Und er hat immer gesagt: ›Dieses Tier ist klüger als ein Mensch; es versteht rein alles. Man muß es nicht einmal zu ihm sagen, es spürt, was man will und wie es einem ums Herz ist. Es ist auch nicht stumm; es kann reden; mit dem Schwanz und mit den Ohren kann es alles sagen.‹ Und also dann ist der Krieg gekommen. Am zweiten August ist mein Kleiner abmarschiert, mitten in der Nacht. Ich hab’ ihn begleitet bis an den Kreuzweg, Hirzenbach zu, und der Tyras war auch dabei. Dort ist mein Kleiner mit den andern Burschen aus den Raithöfen zusammengetroffen, da haben wir zwei umgekehrt, der Tyras und ich. Der Hund hat gewinselt und gebettelt ums Mitdürfen. Aber sein Herr hat ihm bloß den Kopf gestreichelt und hat gesagt: ›Du bleibst da und folgst dem Xaver. Wenn ich wieder komm’, und sei’s mitten in der Nacht, so kommst du mir wieder entgegen. Und somit b’hüet Gott.‹ Das b’hüet Gott hat uns beiden gegolten. Der Tyras ist langsam mit mir heimgegangen, aber er hat die Ohren gehängt. Er hat nicht herumgesucht nach seinem Herrn. Er hat’s ja wohl gewußt, daß er fort ist. Aber ein altes Schäferhemd von ihm hat er hinten im Stall gefunden und von seinem Nagel herabgezerrt. Das ist fortan immer sein Lager gewesen. Die Zeit ist so herumgegangen. Mein Philipp ist am Donon gefallen, und ich bin natürlich im Kummer drum gewesen und hab’s auch dem Tyras gesagt. Da ist er einen ganzen Tag lang nicht von mir weggegangen, weil er gespürt hat, daß ich eine Teilnahm’ brauchen kann. Aber sonst ist er ruhig geblieben. Elend mager ist er geworden gegen den Winter hin, und seine Kunststücke, die ihn mein Kleiner gelehrt hat, hätt’ er um keine Wurst und keine Liebe mehr gemacht. Ich hab’ angefangen, auch mit ihm zu schwätzen, wenn wir an den Winterabenden ganz allein am Ofen gesessen sind. Wie man halt ist, man braucht eine Ansprach’. Und der Hund hat doch meinem Kleinen gehört und ich hab’ gewußt, daß er an ihn denkt. Wenn ich gesagt hab: ›Tyras, was macht jetzt auch unser Kleiner?‹ dann hat er gewinselt und mit dem Schwanz auf den Boden geklopft, wie wenn er sagen wollte: ›Ich wär’ selber froh, wenn ich’s wüßte.‹ So ist der Januar gekommen. Ich hab’ schon ein paar Wochen keinen Brief mehr aus Rußland gekriegt und hab’ mir viel Sorgen gemacht. Aber der Tyras ist ganz ruhig geblieben. Da hab’ ich mir gedacht: vielleicht dürfen sie bloß nicht schreiben. Oder die Feldpost kommt nicht recht nach, oder es ist ein Brief verloren gegangen. Da, am achtundzwanzigsten Januar, wie es Abend wird und ich will das Haus und die Läden schließen und gehe außen ums Haus herum, hör’ ich den Tyras von weitem bellen, wie er allemal gebellt hat, wenn sein Herr heimgekommen ist. Sonst hat er einen ganz andern Ton gehabt. Mir hat das Herz geschlagen bis an den Hals herauf. Wenn’s jetzt auch möglich wär, daß er käm’, hab’ ich gedacht, und bin dem Hund nachgegangen bis an den Kreuzweg, wo wir selbigesmal Abschied genommen haben. Da ist der Tyras gestanden und hat ins Tal hinunter gebellt. Aber auf einmal ist es kein Bellen mehr gewesen, sondern ein Heulen, und er ist fortgeschossen, an mir vorbei, nach einer andern Richtung, weit, bis an den Wald. Darauf ist er wieder gekommen und hat immer ein Geheul ausgestoßen, wie im höchsten Schmerz, und wieder fort in einer Aufregung. Mir ist’s ganz unheimlich gewesen. Ich hab’ gepfiffen, und als er wieder einmal gekommen ist, hab’ ich ihn am Halsband gefaßt und auch richtig bis ans Haus gebracht. Aber hinein wär’ er um keinen Preis gegangen. Ich hab’ ihm gut zugeredet, und als das nichts geholfen hat, hab’ ich kurz befohlen: marsch jetzt, hinein. Denn das Getue hat mich mehr aufgeregt, als ich sagen kann. Aber er hat nicht gefolgt, so pflichtig er sonst gewesen ist. Es war, als ob er sagen wollte: Begreifst du denn gar nichts? hast du denn gar keinen Merker? Aber ich hab’ in Gottesnamen nicht gewußt, was er hat und bin ohne ihn ins Haus gegangen und später auch ins Bett. Aber geschlafen hab’ ich nicht, denn das Tier hat die ganze Nacht fortgemacht mit Bellen und Heulen und Suchen. Um ein Uhr bin ich wieder aufgestanden und ums Haus herum gegangen. Da ist ein schöner, heller Sternenhimmel hoch über mir gestanden und gerade auch der große Wagen. Den hat mein Kleiner immer so gern gesehen und ich bin mit meinen Gedanken nach Rußland hinein gegangen, heißt das, in die Karpathen, wo mein Kleiner gegen die Russen gestanden ist, und hab’ gedacht: Am End’ wacht er auch und sieht die Stern’ am Himmel, und denkt heim. Wer weiß? Aber kein Gedanke, kein einziger hat mir gesagt, daß er in selbiger Nacht ist schwerverwundet irgendwo im Schnee gelegen und hat vielleicht gerufen nach einer Hilfe, und niemand hat ihn gehört, noch gewußt, wo er ist. Eine Woche später habe ich den Bescheid bekommen, daß er gefallen ist, und ein Kamerad hat mir auch geschrieben, daß man ihn drei Tage nach seiner Verwundung im tiefen Schnee gefunden hat, tot. Er ist erfroren, er ist nicht verblutet. Mein Tyras ist am selbigen Morgen nach der unruhigen Nacht heimgekommen, matt und müd und ganz still. Von mir hat er gar nichts gewollt, es ist gewesen, als ob er sein Sach hätt’ ganz allein erleben müssen, weil wir zwei nicht haben miteinander hören und riechen und fühlen können. Er hat’s damals schon gewußt, sag’ ich. Vielleicht hat er ihn rufen gehört, oder was weiß ich? Er hat mich manchmal so angeguckt, als ob er sagen wollte: das muß man noch erfinden, daß wir miteinander reden können; vorderhand hat’s keinen Wert, wenn ich mich mit dir abgebe, denn du verstehst mich ja doch nicht. Jetzt ist mir’s immer, der Tyras sei noch näher verwandt mit meinem Kleinen, als ich. Ich sag’ bloß, es gibt Sachen. Sachen gibt es --« -- -- -- -- In die entstandene Pause hinein sagt eine junge Knabenstimme: »Der, wenn er mit in den Karpathen gewesen wär’, der hätt’ ihn gefunden.« Ganz begeistert sagt es die junge Stimme. Sie gehört dem Kriegsfreiwilligen Rau, einem frischen, blonden Buben, den die Kameraden mit einer gewissen Zärtlichkeit »Bürschle« heißen. Er steckt in Gips bis über die Hüften, aber er ist vergnügt, daß er wenigstens die Hände frei hat. In den Händen hat er immer entweder eine Mundharmonika oder einen Band Gottfried Keller. So eine dämmerige Plauderstunde aber ist ihm noch lieber als ein Buch. »Mein Bruder ist auch in den Karpathen. Er ist Arzt,« fährt Bürschle fort, »und er hat mir geschrieben, -- ach was, es ist gleich, halt auch von einem Hund.« Denn auf einmal kommt es ihm vor, als ob das, was der Bruder geschrieben habe, nicht ganz direkt auf die geheimnisvoll-dunkle Geschichte des Möschenmosers hin zu genießen sei. »Sag’s doch, Bürschle, wirst dich doch net schenieren,« ermunterte ihn sein Nebenmann. »Jetzt hast gegackert, jetzt mußt auch legen.« Da nimmt er einen neuen Anlauf. »Von einem Sanitätshund hat er geschrieben, der ganz neu zu seiner Sanitätskolonne gekommen ist. Es war an einem späten Abend, da waren sie alle, die Ärzte und die Sanitäter, sehr müde, und draußen stürmte es, als ob der Wind ihre Baracke wegtragen wollte. Und sie meinten, sie wären für heute fertig. Aber der neue Hund wollte durchaus noch einmal hinaus und begehrte sehr heftig, daß jemand mit ihm gehe. Da waren zwei Sanitätsmänner, an denen war die Reihe für den Nachtdienst, die gingen mit, aber nicht gern, und mein Bruder ging auch mit, weil es ihn interessierte, was da noch lebendig sei heute nacht. Der Hund führte sie durch dichtes Gestrüpp und dann einen steilen Hang hinunter, und wieder hinauf, und endlich blieb er bellend an einem tiefen Graben stehen. Und in dem Graben lag ein verwundeter Mann, der streckte flehentlich die Hände nach ihnen aus. Der eine von den Sanitätern aber war mißgelaunt aus irgend einem Grund und ärgerte sich über den späten Weg und sagte, als er in den Graben sah: »’s ist ein falscher, ein Russ’. Der dumm’ Kerle kennt sie noch nicht auseinander.« Da sagte der andere: »Sei still, schimpf nicht. Der wird recht, der Hund. Der hat’s wie unser Herrgott, der ist auf diese Weis’ auch neutral.«« So weit das Bürschle. Sie loben es aber um seine Geschichte, denn sie haben es auch wie der Hund und der Herrgott. Gegen verwundete Leut’, die ihre Hände ausstrecken, sind sie auch neutral. Davon wüßte ein jeder zu sagen. Aber eh’ noch ein Wort fällt, geht die Tür auf und die Schwester kommt herein mit der Lampe, und hinter ihr der Doktor. Der spürt den frischen Lufthauch vom Fenster her, in dem der Pfeifenrauch sich sachte verdünnt und verzogen hat, und sieht in lauter blinzelnde, zufriedene Gesichter, und sagt -- er ist ein Bayer --: »Habts an Guat’n g’raucht, ihr Leut’?« Und fängt an, pflichtlich von Bett zu Bett zu gehen. Nichts Besonderes Es waren »Neue« gekommen. Am Morgen hatte sich der Saal geleert; ein Lazarettzug hatte alles, was transportabel war, nach irgend einem Heimatlazarett geführt; jetzt, am Nachmittag, füllte er sich wieder. Das ist nicht ganz so einfach, als es hier erzählt wird. Es gäbe ein trauriges und blutiges Blatt, wenn geschildert werden sollte, wie sie ankamen. »Auf Bahren und auf Wagen getragen und geführt.« Wie sie aussahen, ehe man ihnen die Kleider auszog oder auch nur vom Leibe schnitt, ehe man sie wusch und bettete und verband, ehe man sie, ermattet wie sie waren, speiste und tränkte. Wie der Saal aussah, so lang das wirre Durcheinander von zerrissenen, blutigen, bestaubten Dingen haufenweise den Boden und die Stühle bedeckte. Aber das soll hier nicht geschehen. Wozu das alles noch einmal heraufholen? Das lag nun alles hinter ihnen. Lärm, Feuer, Rauch und Blut, Stöhnen und Geschrei war draußen. Nun hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen und es geschah ein Aufatmen des Geborgenseins, trotz Schmerzen und Wunden. Man darf sich nicht vorstellen, daß hier in diesem Saal viel gejammert wurde. Das haben unsere Leute nicht im Brauch. Sie sähen es auch nicht gern, wenn auf diesem Blatt viel von ihren Wunden die Rede wäre. Das ist auch nicht die Absicht. Es soll von etwas ganz anderem erzählt werden. Zwar es beginnt mit dem schwersten und letzten der Erdendinge, mit dem Tod. Da lag ein schöner, blonder Jüngling, fast ein Knabe noch. Bauchschuß. Er hatte nur noch Stunden zu leben. Marmorbleich die Züge, merkwürdig hoch und klar die Stirn, feucht und wirr das Kraushaar, um den jungen Mund ein Schmerzenszug. Ab und zu hob er mühsam die Lider, dann leuchtete es tiefblau darunter hervor; aber nur einen Augenblick, so fiel der Vorhang wieder zwischen ihm und den andern. Aus dem Saal nebenan kam einer herüber. Er wußte, die Neuen waren Holsteiner und Jäger gleich ihm. Vielleicht daß er Kameraden fand. Er war so jung wie der andere, der Schwerverwundete. Als er an dessen Bett stand, ging ein jähes Erschrecken über sein Gesicht, »Du?« sagte er, »das bist du?« Der andere öffnete die Augen. Sie erkannten den Freund und versuchten ein Grüßen. Das wollte nicht gelingen. Die Schwester kam von einem andern Bett herüber. »Sie kennen ihn, Düring?« »Er ist mein bester Freund, mein -- mein Kamerad.« Er brachte es schwer heraus, es würgte ihn im Halse. Sie fragte ihn nichts mehr. Die andern auch nicht. Er setzte sich auf den Bettrand und legte seine warme Hand auf die feuchte, kühle, blasse. So tat er lange. Die andern schliefen in der Dämmerung ein, müde, erschöpft. Hie und da schreckte einer auf, rief ein wirres und hastiges Wort in die Stille hinein, man merkte, in seinen Träumen wogte der Kampf. Dann, auf ein beruhigendes Wort, ward wieder Stille. Die Nacht kam herbei. Der Doktor sah die zwei Freunde beisammen. »Lassen Sie mich hier sitzen,« bat der eine. Seine Augen sagten das Übrige. Er tat keinen Wank von dem Bettrand weg. Der Doktor nickte Gewähr. Er hatte hier selber nichts mehr zu tun; es dauerte auch wohl nicht mehr lange. Der Atem ging leicht und leise, das Herz tat zögernde Schläge. Hie und da ein Flüstern; dann beugte sich der Kamerad zu dem blassen Munde. Aber es war gleich wieder still. Wie die Nacht vorrückte, ging auch der letzte Hauch in ihre große Stille über. »Hast du etwas gesagt, Richard?« Des Wächters Gedanken waren einen Augenblick in ihre gemeinsame Kinderheimat gegangen, in die sorglosen Sonnentage. Wie lang das wohl her war? Drei waren sie gewesen. Der dritte Freund war noch daheim und härmte sich, daß er noch nicht genommen wurde. Als die Gedanken, von einem Ton in Hauchesstärke angerufen, köpflings zurückkehrten, war es vorbei. Am Morgen sah die Schwester mit Staunen, wie schön, trotzig-kühn und sieghaft das Gesicht des jungen Schläfers war, und daß ein fast heiteres Lächeln die schmerzlich gepreßten Lippen geteilt hatte. Und auch mit Staunen sah sie, daß seines Freundes knabenhafte Züge über Nacht ein Stück reifer und tiefernster Männlichkeit bekommen hatten. * * * * * Düring, der Kamerad, hatte Uhr und Brieftasche seines Freundes, und ein Büchlein, das er in der Brusttasche getragen hatte, zusammengepackt, um alles den Eltern zu schicken, und trug sich nun mit der Arbeit, ihnen zu schreiben, was sie wissen mußten und was ihnen das Herz schwer machen würde. Er wußte, sie würden nicht kommen. Sie konnten sich die weite Reise nicht gestatten. Als er die herben und schweren Worte niederschrieb, mochte er nicht in seinem Bericht fortfahren. Denn er sah wie mit Augen vor sich, wie die beiden beraubten Alten, deren Jüngstes und letztes hier lag, in Jammer ausbrechen würden, und sein Auftrag fiel ihm schwer. Er schob das halbfertige Blatt zurück und fing einen Brief an den gemeinsamen Freund an. Da kam der Sanitäter herein. Er hatte einen beschriebenen Briefbogen in der Hand, der war zerdrückt und blutbefleckt. »Ich weiß nicht, ob das noch einen Wert hat?« fragte er und gab das Blatt dem Freund. »Ich fand es in seiner Tasche.« Es war ein Brief, dessen Anfang fehlte, er trug die Handschrift des Verstorbenen. »Heute, den dreiundzwanzigsten fahre ich fort, zu schreiben,« begann das Blatt. »Ich schreibe in der grauenden Morgenfrühe. Die andern schlafen noch; mich hat in der Nachtwache der Gedanke begleitet, daß heute dein Geburtstag sei; ich will diese eine, stille Morgenstunde bei Dir sein, Maria. Wer weiß, wie es den Tag über sein wird? Ob Du es weißt, wie ich an Dich denke? Ich wollte es Dir sagen, eh’ ich ging. Aber als ich im Garten auf Dich wartete, kam Deine Mutter und war gütig und freundlich mit mir und sagte fast zärtlich: Du bist noch solch ein Knabe, Richard, und willst schon in den Krieg ziehen? kannst Du es gar nicht erwarten, bis sie Dich rufen? Da dachte ich, auch Du würdest mich noch für einen Knaben halten, und mich auslachen, wenn ich Dir von meiner Liebe sage. Und ich tat es nicht. Aber, Maria, wenn ich an Deine Augen denke beim Abschied, und an den Rosenstrauß, den Du mir gabst, und an Dein: komm’ wieder, komm’ gewiß wieder, dann wünsche ich fast, ich hätte es getan. Nun muß ich warten, bis ich wieder komme. Und Du? vielleicht wartest auch Du. Wir sind noch so jung, Maria, so jung. Alles Schöne wartet noch auf uns. Und auch wir warten auf alles Schöne. Ich habe nicht gewußt, daß das Leben so etwas Prachtvolles ist, bis jetzt, wo so viele sterben. Ich wollte, ich könnte Dir diesen Morgen zeigen. Hoch über der ...höhe steht noch der funkelnde Morgenstern. Aber vom Osten her kommen kleine, rosige Wölkchen gesegelt, dort bereitet sich schon etwas vor, und die lange, flache Hügelreihe hat einen roten Saum. Im Tal unten aber wogt der Nebel wie ein Meer. Wenn der Vorhang aufgeht, ist der Krieg wieder da. Eigentlich ist er immer da, nur -- manchmal versucht man, ihn wegzudenken, nur auf eine Weile, versucht das Schöne zu denken, das noch irgendwo ist, und einmal wieder Gegenwart sein muß. Ich sage Dir, Maria (aber Du wirst diesen Brief nicht bekommen) ich bin kein Knabe mehr. Ich -- ich sage Dir alles, wenn ich heimkomme, am selben Tag noch, in derselben Stunde. Im Blockhaus regt es sich, der Tag beginnt. Nun bin ich bei Dir gewesen und Du weißt es nicht, Du wirst ...« Hier war das Blatt zu Ende. »Wer weiß, Maria, vielleicht bekommst Du ihn doch.« Düring wußte, wen der Freund meinte. Er hatte nicht von ihr geredet. Aber man kannte einander doch; man brauchte doch nichts zu sagen, wenn man sich seit der frühesten Kindheit kannte. Sie wohnte in dem schönen, alten Hause, das einst ein Kloster gewesen war und dessen Gartenmauer von einem einzigen uralten Rosenstock übersponnen war. Wenn er nun eines Tags in diesen Garten träte und ihr das blutige Blatt brächte -- falls er nämlich selber zurückkäme -- und sagte: das ist das Letzte, was mein Freund geschrieben hat und es ist für Sie, Maria. Ob sie dann weinen würde? Sie war ein schönes, stolzes Mädchen und trug den dunklen Kopf immer sehr hoch und aufrecht. Hoffentlich würde sie weinen; hoffentlich tat es ihr weh und schuf es ihr eine Wunde, daß er, der sie heimlich im Herzen trug, hinweg gemußt hatte, eh’ er auch nur einen einzigen Schritt zu all’ dem Schönen hin hatte machen können, zu dem Schönen, das er auf sich warten sah. Es tat ihm wohl im Herzen, zu denken, sie sei dann tiefbetrübt und neige ihr Haupt mit den schweren Zöpfen, und sage zu ihm, dem Freund ihres Liebsten: o warum mußte gerade er es sein? Als er solchergestalt seinen Gedanken nachhing, hörte er die andern neben sich von einer Sache reden, die ihn aufhorchen ließ. »Es hätt’ nicht sein müssen,« sagte der bärtige Unteroffizier. »Aber wie es oft geht, er hatte den Rotenburger so ins Herz geschlossen und wachte so über ihn, als ob er der Ältere wäre und der Rotenburger das halbe Kind, nicht umgekehrt. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, dem Mann, dem in den letzten Wochen daheim ein Bub geboren worden war, dürfe nichts geschehen.« »Und dann?« fragte die Schwester, die neben ihm den Jäger mit den zerschossenen Armen fütterte. »Dann? Am Abend vorher bekommt der Rotenburger mit der Feldpost einen Brief von seinem Weib und ein Bild, auf dem sie, das Jüngste auf dem Schoß, mit ihren Vieren abgebildet ist. Das Bild geht von Hand zu Hand, und es ist wahr, sie sieht darauf aus wie eine Gluckhenne mit ihrem Volk. Dem Jungen, dem Munk, aber zeigt er den Brief. Wie die Weiber manchmal sind, es steht -- ich hab’s nicht gelesen, aber allem nach ist es so der Fall -- viel von Heimweh drin und Sehnsucht nach seinem Kommen, und Fragen, ob der Krieg nicht bald aus sei. Und der Rotenburger läßt den Kopf hängen, wie die Leute das nach solchen Briefen an sich haben -- der Kuckuck soll sie holen, wenn sie ins Feld nichts anderes zu schreiben wissen, die Weiber. Aber der Junge ist immer um ihn her und studiert an dem Bildchen herum und macht Witze, daß der Kleinste die Nase seines Vaters habe, eine Nase, in die es bequem hineinregnen könne, und daß das große Mädchen, das Älteste, scheint’s aus dem Mohrenland stamme, wenn der Photograph nicht beschummelt habe, so schwarz sei es. Und solche Sachen mehr, bis der Rotenburger wieder aufgeräumt ist und mittut. Soweit ist es also ganz gut. Aber am andern Morgen kommt Befehl an uns, das Gehölz links am Schrägabhang bei unserer Stellung nach feindlichen Truppen abzusuchen, die sich dem Anschein nach drin versteckt halten. Und der Feldwebel kommandiert mich mit meinem Zug dazu, da ist der Rotenburger auch dabei, der Munk aber nicht. Alles was wahr ist, so ein Gehölz ist nicht das sicherste Land. Denn eh’ ihr euch verseht -- na ihr wißt’s ja, wie die Franzosenkerle auf den Bäumen hangen und herunterpfeffern, und ihr wißt nicht, wohin ihr schießen sollt, ihr seht sie nicht. Die Leute machen ja auch ihre Sprüche darüber, wie sie sich richten zum Antreten. Und einer sagt zum andern: Also du weißt, wohin zu schreiben ist, wann ich nicht mehr komme. Da, wie wir schon beisammen sind, -- der Rotenburger fährt geschwind noch in die Tasche und guckt sein Bildchen an, -- man kann ja nie wissen -- kommt auf einmal der Junge herbei, der Munk, und meldet sich zum Mitgehen. Der Rotenburger solle dableiben, das sei keine Sache für den. Der Feldwebel fährt auf, kommandiert sei kommandiert und man habe nicht nach Freiwilligen gefragt. Der Rotenburger fährt auch auf, aber bloß schwach, der Munk solle keine Geschichten machen, er habe auch bloß ein Leben. ›Das schon,‹ sagte der, ›aber du hast mehr als eins, du hast fünf bis sechs.‹ Da ist der Rotenburger still und der Junge steht stramm vor dem Feldwebel und sagt noch einmal, als ob noch nichts geredet wäre: ›Melde mich ganz gehorsamst zum Mitgehen, Herr Feldwebel,‹ und guckt den so an, na ihr wißt ja, wie, ihr habt ihn ja gekannt. Er konnte so ein Gesicht machen, wie wenn er sagte: ›Du schlägst mir ja doch nichts ab, du tust bloß so.‹ Also der Feldwebel winkt denn auch mit der Hand Gewähr und der Rotenburger tritt zurück und der Junge ins Glied und marschiert mit ab. Wie wir uns am Waldeingang verteilen, steht er grad neben mir und ich sage, im Spaß -- aber ich hab’s im Ernst gemeint: Du, Munk, es kann aber direkt lebensgefährlich werden. Da schießt dem das Blut ins Gesicht und bis unters Haar und er funkelt mich an mit seinen blauen Lichtern: ›eben drum.‹ Sonst nichts. Na, das Übrige wißt ihr.« Düring war schon längst mit allen Sinnen bei der Sache. Also das war gleich nach dem Brief gewesen. Gleich nachdem er geschrieben hatte: »Wir sind noch so jung, Maria. Alles Schöne wartet noch auf aus. Und auch wir warten noch auf alles Schöne.« Das ging ihm als Unterton immer durchs Herz. »Wie ging es weiter?« fragte die Schwester, die »das Übrige« nur von dem Augenblick an wußte, da sich der leere Saal gefüllt hatte, und da der blonde Junge hier in dem Bett, das jetzt frei stand, lag. Der Erzähler zauderte. Die »Neuen« sprechen frisch Erlebtes, das Graus und Schrecken trug, nicht gern wieder durch. Es muß zuerst geschweigen und verzittern, dann vielleicht. »Er war am weitesten voran,« sagte er nach einer Weile. »Er schlüpfte, schmal und rank, durch alles Buschwerk, schnitt Wege ab und vermied Lichtungen, legte sich in einer engen, trockenen Wasserrinne der Länge nach auf den Rücken und spähte nach links und rechts alle Wipfel ab. Da ging auf einmal ein Geknatter los, richtig von den Bäumen herunter. Ich sag’s ja, man sieht sie nicht, sie hangen da oben wie die Eichhörnchen, die. Der ganze Wald war voll von ihnen. Der Junge hatte auch gleich sein Teil. Na, wir haben ihn ja herausgekriegt. Ein paar von denen haben wir heruntergeschossen; ein paar von uns sind auch geblieben. Unsere Meldung haben wir noch erstattet. Beim Säubern nachher,« er wies mit dem Kopf nach den andern Betten hin -- »waren die dort dabei.« Die letzten Sätze kamen immer karger heraus; man spürte, er hätte am liebsten mittendrin aufgehört. Was weiß so eine Schwester? Sie ist nie dazwischen gewesen, sonst wüßte sie, daß man über alles eine Zeitlang schweigen muß, sonst steht es wieder auf und fängt an, zu toben. Sie ist immer da hinten, wo es still ist und sauber und geborgen. Sie sieht bloß die Wunden, aber wie man sie empfing, -- nein, es ist besser, man ist still. Düring, der Freund, saß und sah vor sich hin. Er sah in das alles hinein. Er wußte, das mußte alles so sein. Es wurde etwas ganz still in ihm. Es sank etwas ganz tief hinunter, das war sein Eigenes, seine Jugend, das, was man sich so ausgedacht hatte für die Zukunft. Der Freund war da immer mit dabei gewesen. Der war nun tot. Und er hatte zu dem andern gesagt: Nein, laß mich dahin, wo es gilt. Das mußte so sein, er spürte es deutlich. Es war eine neue Art von Dasein jetzt, das Vorige lag irgendwo weit dahinten, da, wo man noch gesagt hatte: Dies freut mich und jenes will ich oder will ich nicht. Man gehörte einem Ganzen an, nicht sich selbst, das legte Beschlag auf einen, nicht nur äußerlich, nein, bis tief innen hinein, und schuf Richtlinien in einem ... »Das ist doch nichts Besonderes,« sagte er auf einmal laut und wußte kaum, daß er es tat. »Das macht man so, das ist doch deutsch-natürlich.« Eigentlich wußten sie, was er meinte. Aber sie fragten doch: »Was ist denn? was sagst du?« »Ach, daß wir Jungen vorgehen und -- wir sind doch jung und ledig -- und auf uns kommt’s doch weniger an, als auf die Familienväter. Das macht man so. Das ist so.« Da nickten die andern und sagten nichts dazu. Die Schwester aber entwischte mit guter Manier aus dem Saal. Denn eine Schwester, der das Wasser aus den Augen läuft, bloß weil ein junger Mensch sein Leben statt eines andern hergibt, wie eine Blume vom Hut, nicht weil er muß, sondern weil er will, -- nein, weil das »doch nichts Besonderes« ist, weil »man es doch so macht«, eine solche Schwester käme den Leuten in Saal 37 doch als etwas Besonderes vor. »O Deutschland, du reiche Mutter solcher Kinder,« sagte sie, und ein glückliches Lachen trocknete schnell die paar Tränen der Herzbewegung auf, »dich segnet Gott in allem Streit schon jetzt ins tiefste Herz hinein.« -- Heimat Es war am Morgen und noch grau um und um, als Jungfer Christiane Kies am Klang ihrer eigenen Stimme zu sich kam, die Augen rieb und verdutzt um sich sah, daß sie nicht draußen auf dem See, daß sie vielmehr in ihrem Bett und Stübchen sich befand, und daß ihre Antwort nicht an ihr Gegenüber im Fährboot, nicht einmal in den frischen Morgenwind, den sie soeben noch gespürt hatte, sondern nur an die grüne Wand ihrer Schlafkammer geredet war. Sie sah den Haussegen über sich an der Wand hängen, wie von Alters her, hörte draußen in der Dachrinne eine Amsel den ersten Schlag tun und den Botenfuhrmann vor dem Nachbarhaus seine Gäule anschirren und sagte: »Es hat mir geträumt, so deutlich, man könnte es mit Pelzhandschuhen greifen.« Darauf tat sie noch einmal die Augen zu und ließ den Traum an sich vorübergehen, damit er ihr nicht insgeheim entschwinde auf einer Morgenwolke, solange sie etwa unversehens noch einen Nachschlaf tue. Das war ihr, da sie es stark mit dem Träumen hatte, schon hie und da geschehen. Sie hatte aber alle Ursache, das Bild zu bewahren, das aus den Schatten heraus zu ihr getreten war. Denn sie hatte ja wahrhaftig den lieben Gott bei sich im Fährboot gehabt und ihn ein Stück weit gerudert. Zwar, wie er eingestiegen war, das wußte sie nicht mehr, da die Träume meistens keinen Anfang haben. Kurzum, sie sah sich im Nachen auf der Höhe des Sees, da, wo schon die Berge vom andern Ufer herüberleuchten, und sah ohne große Verwunderung einen schönen alten Herrn sich gegenüber sitzen auf der Bank, der ihr mit freundlichen Augen zusah, wie sie rüstig die Ruder regte. Er kam ihr bekannt vor. Zwar wußte sie nicht recht, sah er mehr dem alten Kaiser Wilhelm gleich, den sie freilich nur im Bilde kannte, oder mehr dem Medizinalrat, der ihre Mutter einst behandelt hatte. Vielleicht war von beiden etwas an ihm. »Alleweil fleißig?« fragte er. »Passiert,« sagte sie. »Es ist bis jetzt noch ruhig am See. Luftkurgäste sind schier noch keine da. Kann sein, sie kommen heuer überhaupt nicht. Es wird ihnen nicht so arg ums Verreisen sein.« »So so,« sagte der alte Herr, »und was schaffst du alsdann den ganzen Tag?« Da spürte sie wieder den Druck, den sie schon aus dem Wachen mit in den Schlaf herein genommen hatte. »Ach,« sagte sie, »da sitz’ ich an der Badanstalt und stricke Socken. Immer Socken fürs Militär. Kann sein, es kommt jemand zum Baden, kann sein, es will jemand nach Lindau hinüber gerudert sein. Man muß halt da sein. Die Männer sind im Krieg. Verzeih’ mir’s Gott, ich denk’ oft, die haben’s gut, daß sie was Rechtes zu schaffen haben in so einer schweren Zeit. Ich denk’ oft, ich sei grad für gar nichts da.« »So hat gestern auch ein Landstürmer zu mir gesagt, der seit sechs Wochen Bahnwache hat,« sagte der alte Herr sehr ernst. »Es muß ein jedes an seinem Platz stehen, sonst kann ich euch nicht siegen lassen. Aber ich weiß wohl, du denkst halt, du möchtest etwas verrichten, was grad bloß du tun kannst, die Christiane Kies, wie sie ist mit ihrem ganzen Gemüt.« Da sagte sie: »Der Herr siehet das Herz an; grad so ist’s bei mir, Majestät, oder wie muß ich sagen?« Der Fährgast lächelte groß und gut. »Sag’ nur du zu mir. Alle Welt sagt du zu mir.« Da merkte sie auf einmal, daß sie den lieben Gott bei sich im Nachen hatte, und ein solches Staunen und eine solche Ehrfurcht ergriff sie, daß sie die Ruder fallen ließ mitten im heftigsten Fahren und anfing zu beten. Aber kaum hatte sie angefangen, so erwachte sie und hörte sich noch sagen: »Ach du Herr und Gott, in die ewige Sockenstrickerei kann ich mein Herz nicht hineinlegen.« Als Jungfer Christiane ihren Traum so weit überdacht hatte, was bald geschehen war, da er kurz und ohne Verwicklung geraten war, spann sie den Faden, dessen Anfang dort hinein ging, aus ihrem Herzen heraus weiter. Wenn sie nicht des Glaubens gewesen wäre, daß der Herr so wie so das Herz ansehe, es hätte sie reuen können, daß die Fahrt gar so kurz und das Gespräch abgebrochen war, ehe sie recht nach der Schnur alles hatte sagen können, was auf ihr lag. Denn sie machte viel mit sich durch die Zeit daher, es hätte ihr gut getan, es einmal herauszureden. »Er wird jetzt sein Teil über mich denken, daß ich so herausgeschwätzt habe,« dachte sie bei sich selbst. »Wenn eins auch vorbereitet wäre, man könnte sich die Sache besser überlegen. Ich hätte sagen können, daß es mir schwer fällt, daß ich kein Eigenes im Krieg habe. Daß niemand ist, um den ich Sorgen und Angst haben und auf den ich stolz sein kann. Oder auch hätte ich sagen können, was ich die Zeit daher immer denke, wenn ich am See draußen sitze: ich sehe einen großen Strom vor mir, der ist aus lauter Herzblut zusammengesetzt. Die einen werfen sich selber hinein, ihr Leben oder ihren gesunden Leib, und viel, viel Mühe und Last, die sie tragen in Hitze und Frost, in Hunger und Durst und Wachen und Feuer und Getöse. Und die anderen geben ihre Liebsten her, ihre Männer und Brüder und Söhne, die wissen sie immer in Gefahr und Not bei Tag und Nacht. Wenn die Sonne scheint und wenn es regnet und stürmt, dann horchen sie hinaus ins Feld, wie es auch draußen sei; und wenn es läutet auf den Türmen, weil ein Sieg gemeldet ist, so greifen sie zuerst nach ihren Herzen, da fährt ein Schwert hindurch: ob die Unsern dabei gewesen sind? und ob sie noch leben? Und wenn einer das Eiserne Kreuz hat oder hat sich sonst tapfer gehalten, so gehen die Seinen aufrecht einher und sind froh und stolz. Und wenn eine Todesnachricht kommt, daß einer gefallen sei, so weinen sie auch stolz, und frömmer und aufrechter ist noch nie ein Leid getragen worden. Das alles, ihre Liebe und ihre Angst und Freude und ihre traurigen Schmerzen werfen sie alles auch in den Strom und jedes ist eine Welle darin von lauter Herzblut. Und auf dem Strom kommt dann schließlich und endlich das große Schiff gefahren, das den Sieg und den Frieden bringt. Aber ich stehe nebendraußen und habe nichts hineinzuwerfen. Das kränkt mich im Herzen, je länger es dauert, desto mehr. Dann, wenn mich der liebe Gott gefragt hätte: ja hast du denn gar nichts, was du hineinwerfen kannst, daß es zu Herzblut wird? Dann hätt’ ich sagen müssen: also ich will dir grad alles herlegen vor Augen, dann kannst du’s selber sagen. Ich schicke öfters einmal Feldpostpäckchen an Bekannte. Viele von ihnen habe ich schon als Kinder gekannt. Die Kinder kommen gern zu mir an die Schifflände, weil ich ihnen Geschichten erzähle. Wir sind gut Freund miteinander. Auch stricke ich immer Soldatensocken. Was ganz arme Leut sind, von denen nehme ich nichts dafür. Die Birnen von meinem Baum habe ich ferndig gedörrt und ans Rote Kreuz geschickt, heuer trägt er nicht viel. In die Kriegsbetstunde geh’ ich auch alle Mittwoch, da singe und bete ich andächtig mit. Zweihundert Mark Kriegsanleihe habe ich auch genommen. Aber das ist doch alles nichts. Ich möchte gern etwas tun ganz aus meinem Herzen heraus und wenn es auch nur ein einziges rotes Tröpflein gäbe.« Dann hätte der liebe Gott vielleicht gesagt. »Ja, muß es denn aber grad ein Soldat sein, dem du das tun willst aus deinem Herzen heraus?« Und dann hätt’ ich in Gott’snamen mein Herz in zwei Hände genommen und hätt’ gesagt: »Ja, Herr und Gott, weil du doch einmal fragst, es muß grad ein Soldat sein. So ist mir’s, ich mach’ mich nicht anders.« Als Jungfer Christiane so weit gekommen war, klopfte es sachte an ihrer Herzenstür an, und als sie aufmachte, stand ein Büblein davor, das sie mit Freuden hereinließ. Sie kannte es schon von Mutterleibe an, es war eines Lehrers Sohn und ihr nächstes Nachbarskind gewesen. Seine Mutter war gestorben, als er sich von ihr hinweg die Tür in diese Welt herein suchte. Eine Ahne hatte ihn aufgezogen, die war alt und müd von Arbeit und Kummer gewesen und hatte nicht viel Kinderfreude mehr fassen und austeilen können. Aber das Büblein war sonnenhungrig gewesen und war aus seines Vaters Haustür gegangen, um einzufangen, so viel sein Herzlein brauchte. Da war er auf Jungfer Christiane gestoßen, die hatte damals noch eine Freude am Zeithaben und ein warmes, geruhiges Herz, kein brennendes. Grad so eins, wie ein Kind es braucht. Und es war eine Freundschaft entstanden: es gibt irgendwo ein schönes Bilderbuch, da guckt eine dicke, runde, strahlende Frau Sonne über einen Gartenzaun, und in dem Garten steht eine Sonnenblume und lacht ihr grad ins Gesicht und sieht ihr so sonnenähnlich, grad als ob sie ihr Junges wäre. So war die Freundschaft. Jungfer Christiane hatte immer einen Schwanz von Kindern an sich hängen, aber das waren so Kinder, die kamen und gingen, eine Geschichte und eine Birne holten, und im übrigen mit einem kurzen Bändel am Herzen ihrer Mütter angebunden waren. Die Mütter durften nur einen kleinen Zuck an dem Bändel tun, so sprangen sie ihnen zu, von allem weg und auch von der Jungfer Christiane weg, da war gar nichts zu wollen, und das mußte auch so sein. Aber so war es mit dem Lehrersbüblein nicht. Sein Vater meldete sich vom See weg, denn er war ihm zu traurig geworden, und das Büblein ließ er vorderhand da; eigentlich ließ er es der Jungfer Christiane. Das war nicht die Meinung, aber es machte sich so, da kam es auf die Meinung nicht an. Sie pflanzten miteinander Frühjahrs- und Sommer- und Herbstblumen auf das Muttergrab und auf noch ein paar andere Gräber, die der Jungfer Christiane am Herzen lagen. Die hießen sie ihre Gärtlein. Da war ein Muttergärtlein, das blühte den ganzen Sommer lang von Herzensgrund wie ein lebendiges Mutterherz; und ein Herkules-Davidsgärtlein, das gehörte einem alten Pfarrer. Von dem wußte Jungfer Christiane viel zu erzählen, denn er war blind geworden und hatte als blind immer noch gepredigt und sein Hund hatte ihn herumgeführt. In diesem Gärtlein blühte Immergrün, das war ganz wie ein Teppich darüber hingezogen, und ein paar weiße Lilienstengel wuchsen dazwischen heraus. Und da war noch ein Urschelesgärtlein, das gehörte einem ganz kleinen, schneeweißen Engelein, das war bloß ein einziges Jahr auf der Welt geblieben und dann wieder fortgeflogen. Es bekam in jedem Frühling ein Teppichlein von Vergißmeinnicht und Tausendschönchen, und in der Mitte saß ein Busch mit fliegenden Herzen, die man Kinderherzen nennt. Und das mußte alles so sein, wie es war, und alles hatte seinen guten Grund, warum es so sein mußte. Den wußten sie miteinander. Das heißt, Jungfer Christiane wußte ihn und sie erzählte alles, was drum und dran war, ihrem Büblein. Wenn sie an schönen Sommerabenden ihre Gärtlein begossen hatten, so saßen sie wohl noch eine Weile ins Dunkelwerden hinein auf der Kirchhofsmauer. Die war hoch und fest und hatte breite Öffnungen wie Fenster gegen den See hinaus. Darin saßen sie und hörten, wie das Wasser leise gegen das Ufer hergezogen kam und wie die Wellchen mit dem losen Kies spielten. Und sahen, wie die Sonne tief und tiefer sank und das Wasser vergoldete. Eine lange, schimmernde Bahn zog sie darüber hin, darauf hätte man in den purpurgoldenen Himmel hineinschreiten können, wenn man ganz, ganz leichte Füße gehabt hätte. Ein Schifflein schwamm vielleicht weit draußen und fuhr über die goldene Bahn hinüber. Ein Dampfschiff kam gefahren und viele Menschen waren drauf, die fuhren alle irgendwohin, heim etwa, aber wo war ihr Heim? Da gab es viel zu berichten. Das Büblein hörte gläubig zu und zweifelte nie und war ihm alles Wahrheit und lebendiges Leben. Und jenseitige Ufer glänzten herüber. Wenn es dunkel wurde auf der Welt, brannten tausend Lichter in die Nacht hinein. Dann fing irgendwo eine Glocke an zu läuten über den See hin und rief eine andere an, die gab ihr Antwort. Eine um die andere kam und auch die in dem Kirchlein, das in dem schönen Totengarten stand, sang ein frommes Lied in den Abend hinein. Da sangen die beiden Freunde auch eins, eh’ sie heimgingen. Sie hatten aber ein Lieblingslied, das sangen sie Sommer wie Winter am öftesten, obgleich es ein Sommerlied war und ganz in die helle Sonne gehörte und auch aus ihr heraus entstanden war. Das war das Lied: Geh aus, mein Herz, und suche Freud’. Das liebten sie sehr. Sie sangen aber nur die Verse, die zum Sommer gehörten und ihn vor Augen malten, denn für die andern war das Büblein noch zu klein. Jungfer Christiane hatte eine tiefe und etwas rauhe Stimme, schier wie eine Männerstimme. Damit wurde sie viel geneckt, daß sie einen veritablen Baß habe. Aber ihrem Büblein kam ihr Singen schön vor und ihr Erzählen auch. Ja, aber wo war es jetzt? und warum mußte es bei Nacht und aus weiter Ferne her an ihr Herz treten und anklopfen? Darüber ist nur zu sagen, daß Jungfer Christiane das mit dem Anklopfen geträumt haben muß, denn es saß bei Tag und Nacht, Sommers und Winters darin, doch aber in einer verschlossenen Kammer, denn es brauchte keinen freien Aus- und Eingang, da es nur eine schöne und liebe Erinnerung war seit langem. Es lebte irgendwo auf der Welt, in Sachsen, wenn man es hier am See recht wußte, und war ein junger Mann, wahrscheinlich schon ein beinah’ ausstudierter, und war wohl auch im Krieg. Da wußte man dann freilich auch nicht, ob es noch lebte, das Büblein nämlich von ehedem. Eines Tages, es war schon ein fleißiger Schüler gewesen, wurde im Kirchhof ein neues Gärtlein angelegt, das gehörte der Ahne. Aber Jungfer Christiane mußte es allein pflegen. Denn ehe noch die frischen Kränze auf dem Hügel welk waren, fuhr ihr Büblein mit seinem Vater auf dem Dampfschiff davon, denn es mußte jetzt eine rechte Erziehung bekommen von Männerhand, es war höchste Zeit dazu. Es kam dann in verschiedenen Männerhänden herum, denn der Vater starb auch bald. Man wußte etwas von einem reichen Vetter in Sachsen, der es geholt hatte. Dann waren noch ein paar Spuren da: Ansichtskarten von Ferienreisen, die waren auch schon alt. Das letzte war ein Gruß, den hatte ein Reisender gebracht, der war mit dem jungen Studenten irgendwo, in Leipzig glaub’ ich, auf eine merkwürdige Weise zusammengetroffen vor ein paar Jahren. Dem hatte er gesagt: ich muß wieder einmal an den See. Sobald ich frei bin, komme ich. Aber er war nie gekommen. Als Jungfer Christiane am andern Morgen erwachte, beschloß sie, keiner Menschenseele, auch ihren Hausleuten nicht, ein Wort von ihrem Nachterleben mitzuteilen. Denn sie hätte jetzt nicht mehr schwören können, was Traum und was Wachen gewesen war, es war ihr untereinander gekommen wie Samen aus aufgegangenem Säcklein. Bloß den ersten Anfang hatte sie beizeiten auf die Seite getan und der war ihrer Meinung nach nichts zum Erzählen. Sie hatte einen guten Grund zur Vorsicht in diesen Dingen, denn sie stand im Verdacht, daß sie hie und da aus eigenem dazutut, wenn sie eine Sache wiedererzähle. Es werde unversehens eine Geschichte daraus. Er sei ihr angeboren, ihre Großmutter habe es auch so gehabt, die habe es aus dem Ärmel schütteln können. Es war schon lange ein Wort für sie geprägt, das sie durch die Welt schleppen mußte. Das riefen ihr die Alten und manchmal sogar die Kinder entgegen, wenn sie sich verstieg, etwa ein verblaßtes Träumlein ein bißchen aufzufärben oder dergleichen. »G’schichtleslügere,« riefen sie dann lachend und freuten sich sehr, daß sie alles viel deutlicher und fadengerader wußten. Das war, behüte Gott, nicht bös gemeint. Im Gegenteil, es lag ein bißchen gutmütige Neckerei darin und ein bißchen Staunen: wie bringt sie jetzt das auch alles zusammen? und eine Aufforderung: »Sag’s nur, sag’ dein Sach’, man braucht’s ja nicht zu glauben.« Aber das war dennoch alles der Jungfer nicht recht. Denn sie träumte und erlebte, fühlte und dachte so manche Dinge, die ihr ganz unzweifelhaft und gewißlich wahr erschienen, und die sie nicht verspottet wissen wollte, auch nicht im Guten, gar und überhaupt nicht. »Wenn nur ich weiß, was ich weiß,« dachte sie manchmal stolz für sich, wenn ihr ein Absonderliches niemand von Grund aus glauben wollte. Aber als sie sich das Stillschweigen vornahm an diesem Morgen, spürte sie schon halb und halb, daß doch nichts daraus werde. Es brauchte nur jemand zu fragen: »Gut geschlafen, Jungfer Nane?« oder so, dann sah man es ihr schon auf hundert Schritte an, daß etwas mit ihr umging. Denn sie hatte ein Gesicht wie ein Spiegel, sie konnte nichts verstecken. Zweitens aber beschloß sie, und das konnte eher etwas werden, nicht zu rasten, bis sie die Adresse von ihrem Büblein habe, und wenn sie sie habe, und es sei richtig im Feld, ihm ein Paar selbstgestrickte Socken zu schicken. Denn es möge ein Mensch reich sein oder nicht, so brauchte er Socken, und es sei dann noch die Frage, ob man auf allen gleich gut laufe, auf gekauften wie auf selbergestrickten mit allen Segenswünschen drin. Überhaupt sei jetzt eine andere Zeit als vordem. Man trete wieder näher zusammen, wie die Berge bei einem Gewitter und -- Zeit hin, Zeit her -- ihr Büblein und sie seien noch lang nicht die Entferntesten. * * * * * Es steht ein Haus auf einer weltfernen, waldigen Höhe. Still ist es da, still. Wenn der Pfiff einer Lokomotive durch die klare Sommerluft heraufgetragen wird, oder der ferne, fast verklingende Hall einer Glocke oder das Schlagen einer Uhr von irgend einem Turm, so sagen die Bewohner des Hauses zu einander: ’s gibt ander Wetter, es ist so hörsam. Sie haben es gelernt, Luft, Wind und Wetter zu beobachten. Lange genug sind sie unter freiem Himmel gewesen und haben ihre Sinne geschärft vor dem Feind, die vielleicht vordem verkümmert waren in der Fabrik, in Stuben, Werkstätten und Schulen. Wer unter ihnen hat vor dem Krieg mit scharfem Aug’ die kleinste Bewegung auf einer kleinen Bodenwelle wahrgenommen? oder einen sich verändernden Punkt auf einer fernen Felskuppe? wessen Ohr hat das leiseste Knacken im Gebüsch gemeldet oder ein kleines Summen in der Luft? vielleicht das der Jäger, Wanderer oder Pfadfinder unter ihnen. Aber derer sind nicht allzuviele. Die hierher gebracht wurden, das sind die mit mürben Lungen und versagenden Herzen, mit zitternden, zersägten, verbrauchten Nerven, die, denen keine Kugel oder Granate ins Gebein fuhr und die dennoch wund sind, totwund mancher unter ihnen. Die Sinne sind wohl scharf geworden, bis zur Schmerzhaftigkeit, aber die Kräfte sind verbraucht. Doch ist es ihnen schier zu still hier oben. Nur nach und nach geschweiget sich die innere Unruhe, die noch aufs Horchen, Lauern, Beobachten gespannt ist. Manch einer fährt aus dem Schlaf, wenn ein Uhu schreit oder wenn das Käuzlein mit flatterndem Flügelschlag gegen die Scheiben fährt, vom früh brennenden Nachtlicht angezogen. »Hier« schreit er und sucht tastend nach der Waffe. Zwei Gewalten sind es, die die Unruhe stillen und das Leben auf der Höhe, in der großen, einsamen Weite, lieb machen: das wiederkehrende Leben, dessen erstes Stadium, eine wohlig tiefe Müdigkeit, der leise keimenden Kraft vorangeht und so sanft streichelt und den fernen Höllenlärm vertosen läßt -- und der nahende Tod, der ungesehen von dem einen, den er erlösen will, dennoch schattende Flügel über ihn breitet, daß ihm Fernes und Nahes versinkt auf eine stille Weile, eh’ der letzte, schwere Kampf anhebt. Einer von ihnen, der letzteren einer, lag eines Tages am Rand der sonnigen Waldwiese unter den rotleuchtenden Föhren. Sie hatten ihn hier herausgetragen, weil er gemeint hatte, er könne hier draußen leichter atmen als in der engen Stube. »Es geht mir besser,« sagte er und ließ sich einen Sonnenstrahl, der auf seiner Decke spielte, durch die Hände scheinen. »Da doch das Fieber vorbei ist und das Bluten aufgehört hat. Nun geht es wieder aufwärts, nicht?« Die Schwester nickte ihm gut zu, mütterlich. Sie hatte die letzten schweren Tage mit ihm durchlebt, er hatte ein Zutrauen zu ihr. Sie hätte ihm sagen können: »Nein, es geht nicht aufwärts. Es ist die Stille vor dem Sturm,« oder so etwas. Aber das tat sie nicht. Wo sollte sie den Mut hernehmen, ihm die leichte, linde Sonnenstunde zu verkürzen? Ein paar Leute gingen auf dem schmalen Fußweg in der Nähe vorbei, Touristen. Man hörte sie reden und sah ihre Kleider, ihre leicht ausschreitenden Füße. »Sind das Verwundete da drüben?« fragte einer. »Die Soldaten dort?« »Nein, es sind nur Kranke,« sagte der andere. Dann waren sie vorüber. Die Schwester sah ihren Kranken an. Der lächelte, ein wenig bitter zwar, aber er lächelte doch. »So etwas hätte mich früher rasend gemacht,« sagte er. »Nur Kranke! Ach was, was wissen denn die? Am besten, man ist ganz still. Man kann’s ihnen doch nicht in die Ohren schreien, was man durchgemacht hat. Ein Fuß weg oder ein Arm -- es braucht nicht einmal so viel zu sein -- allen Respekt -- aber krank, das kann doch jeder werden, das ist noch lang nichts. Na« -- er machte eine wegwischende Handbewegung. »Sind dumme Leut,« sagte die Schwester. »Sie verstehen’s nicht besser. Dumm und gleichgültig. Wer’s nicht in sich hat, den macht auch der Krieg nicht anders. Lassen wir’s. Aber was ich schon fragen wollte, Roland, haben Sie eigentlich keine Verwandten, die Sie einmal besuchen könnten? Der Doktor erlaubt’s, daß jemand kommt. Sie wissen, er ist Ihnen gut gesinnt. Er meint, es würde Ihnen Freude machen.« Der Kranke schüttelte leise den Kopf. »Ich habe einen männlichen Verwandten, der kann nicht kommen. Es ist ein Fabrikant weit weg in Sachsen. Er steckt bis über die Ohren im Geschäft. Wissen Sie, Kriegslieferungen. Nein, ich wüßte niemand.« Er hatte ein junges Gesicht; seit der Bart entfernt war, sah man erst, wie jung. Aber es war schmal und hart und hatte gar nichts Frohes. »Dummheit, woher soll es denn froh sein?« dachte die Schwester. »Er ist totkrank und ganz aufgebraucht.« Aber sie vermißte es dennoch. Sie hätte ihm gern irgendwo einen Arm voll Freude gelangt. Sie meinte, es müßte leicht zu durchsonnen sein, wenn da etwas wäre, so recht zum Freuen. »Sind Sie denn in Sachsen daheim?« fragte sie. »Ihre Sprache ist nicht so, daß man’s denkt. Ich weiß nicht recht, wo ich Sie hintun soll.« »Ich weiß es auch nicht,« sagte er. »Nein, ich bin nicht in Sachsen daheim, und wo bin ich’s denn eigentlich? Wenn ich das Wort Heimat denke, dann denke ich an den Bodensee. Dort hat mich meine Mutter auf den Boden gelegt und hat sich davon gemacht. Nein, nein, sie konnte nichts dafür,« -- er sah den schreckhaft staunenden Blick der Schwester, -- »sie starb an meiner Geburt. Ich habe schon gedacht, es wäre besser gewesen andersherum. Ich statt ihrer. Aber das läßt sich scheint’s nicht ändern, so etwas. Das ist, wie es ist.« Er sagte das alles mit vielen Pausen, er hatte nicht sehr viel Atem zu verbrauchen. »Ich kann mich auch nicht beklagen,« fuhr er einmal fort. »Es waren da Hände, die mich aufhoben. Eine alte Ahne, die mich immer sehr warm anzog. Ich entsinne mich einer dicken wollenen Mütze, die tief über die Ohren ging. Die schien ihr ein Schutzmittel gegen alle Gefahren zu sein. Einmal raffte ich mich zu einem Bubentrotz auf und warf sie in den See, so sehr haßte ich sie. Aber sie ward wieder aufgefischt und getrocknet. Man kann seinem Schicksal nicht entgehen.« Die Schwester mußte ins Haus zurück. Da war noch viel Arbeit. »Nein, warten Sie,« sagte der Kranke. »Das muß ich noch sagen. Da war noch eine Nachbarin, das war die Badefrau, sie versorgte die Seebadeanstalt. Die hatte, scheint mir, etwas wie Mutterliebe für mich. Ich war fast immer bei ihr. Ich hatte schreckliches Heimweh nach ihr, als ich vom See fortkam. Damals war ich sieben Jahre alt.« »Nun müssen Sie still sein,« sagte die Schwester. »Sonst wird’s zuviel. Und ich muß auch ins Haus. Sie wissen wohl, da sind noch andere, die auf mich warten. Ich komme bald wieder.« Er sah ihr nach, wie sie über die Waldwiese ging. Es war so etwas Beruhigendes in ihrem Anblick, sogar von hinten noch, so etwas ganz und gar Zuverlässiges, Festes, Tüchtiges. Es war, als könne sie sogar den Tod abhalten. Der war ihm nahe gewesen, das wußte er. Es war behaglich, jetzt so dazuliegen in linder Schwäche; bald, dachte er, würde auch diese sich heben. Dann kam das Leben wohl wieder dran. Als die Schwester im Haus verschwunden war, ging sie stehenden Fußes zum Doktor. »Er hat niemanden, den er kommen lassen kann,« sagte sie. »Er steht so ziemlich allein.« »Ja, dann müssen wir ihm eben allein das Letzte tun,« sagte der Doktor. »Er weiß es nicht?« »Nein.« Sie machte eine zugreifende Bewegung mit beiden Händen, die der Doktor an ihr kannte. Sie hatte die Schwerkranken. Die Bewegung machte sie immer, wenn sie im Geist eine Sache ganz und gar auf sich nahm. Ihr Kranker spann derweil seine Gedankenfäden weiter. Der Himmel war hoch und dunkelblau, ein paar Krähen flogen über die Föhren hin, Falter wirbelten herum, Insektenvolk summte um blühendes Heidekraut, ein paar Ameisen marschierten hintereinander drein an dem Baum hinauf, unter dem der Liegestuhl stand. »Sie wußte über alles eine Geschichte,« dachte er. »Wenn ich sie gefragt hätte: was schaffen die Ameisen da droben? sie hätte es gewußt. Wohin fliegt die dicke Hummel? Warum schreien die Raben so? Nie hätte ich umsonst gefragt. Wer weiß, sie wüßte mir jetzt auch Antwort auf so manches. Also sie lebt noch. Sie hat mir ja Socken ins Feld geschickt, dicke, feste Socken. Daß ich sie nicht mehr brauchen konnte, dafür kann sie nichts. Sie kamen mir hierher nach.« Da durchfuhr ihn ein Gedanke. Wer weiß, sie käme mir auch nach, sie selber. So ist sie, so war sie wenigstens, wenn ich mir’s noch recht denken kann. Wenn man ihr einen Gefallen tun will, muß man sie um etwas bitten. Vielleicht bild’ ich mir’s auch ein. Das macht jetzt, daß der Doktor mich fragen ließ, ob ich mir Besuch wünsche. Ja, ja, wünschen könnt’ ich mir’s wohl, Herr Doktor. Es fällt aber keine Mutter vom nächsten Baum, auch keine aus dem blauen Himmel. Sie aber, die Spielmutter, sie käme vielleicht. Ich weiß noch, daß ich zu ihr sagte: du sollst meine Mutter sein. Ich bin’s aber nicht, sagte sie. Also, dann spielen wir, du sollst sie sein, sagte ich. Grüß Gott, Mutter. »Denn ich hätte doch gern eine gehabt. Welches Kind hätte nicht gern eine?« Der Gedanke kam und ging. Nein. Ja. Nein. Es ist so lang her. Nie mehr hast du ihr geschrieben. Nie bist du an den lieben See gefahren. Wie konnte ich? ich war doch nicht mein eigener Herr. Und ich vergaß es auch bei Tag, daß ich nächtlicher Weile oft dort war. Und ich erlebte so viel anderes. Menschen und Dinge waren da, Schulen und Bücher und die junge Männlichkeit, und andere schöne Gegenden. »Ja, aber keine Mütter und keine Heimaten.« Als die Schwester kam mit dem Wärter, um ihn zu holen, sagte er, fast verlegen: »Ich möchte nun doch um einen Besuch bitten. Es ist die frühere Nachbarin, von der ich Ihnen sagte. Ich habe mir’s überlegt. Ich hatte sie fast vergessen, aber nun möchte ich sie doch da haben.« »Die alte Badefrau?« Die Schwester sah ihn kopfschüttelnd an. Sie hatten manchmal so sonderbare Wünsche, die Leute in den letzten Stadien. Er war ein gebildeter junger Mann und offenbar aus guter Familie. Wenn er irgend jemanden aus seinen Kreisen verlangt hätte, eine noch so entfernte Verwandte, »eine mütterliche Freundin,« das hätte man verstehen können. Aber dies hier war doch offenbar nur ein plötzlicher Einfall, eine Laune. Und die Schwester, die ihm vorhin noch gern einen Arm voll Freude irgendwo her gelangt hätte, sagte nun lächelnd: »Das ist nicht Ihr Ernst, nicht wahr? Das ist wohl schon lang her, daß Sie dort als Kind waren. Und auch: was soll sie hier?« Sie war nicht zufrieden; sie war nicht damit einig. Aber der Kranke sagte mit plötzlicher Heftigkeit: »Doch, es ist mir Ernst. Ich will sie da haben. Was sie hier soll? Das werden Sie ja sehen. Warum fragen Sie mich, ob ich Wünsche habe, wenn Sie nicht darauf eingehen wollen?« Er hustete und bekam rote Flecken hin und wieder im Gesicht, so erregt war er. Da hoben sie den Stuhl auf und trugen ihn ins Haus. »Wir werden sie schon herkriegen, nun seien Sie nur zufrieden,« sagte die Schwester. »Wo werd’ ich denn nicht darauf eingehen?« Im Stillen dachte sie: »Er erlebt’s ja nicht. Vielleicht will er sie morgen schon nicht mehr. Und zudem: hundertmal für eins kommt sie gar nicht. Das sind Launen.« Aber vor Nacht noch mußte ein Kamerad den Brief schreiben. Er war ein schreibgewandter Mensch, er schrieb Briefe für das halbe Lazarett. »Schreib’ aber, gleich soll sie kommen. Laß sehen, ob du es geschrieben hast.« Aber er bekam es nicht zu sehen. Der Bote gehe gleich ab und es eile, und es sei hier im Zimmer zu dunkel zum Lesen. Auf Ehre, es stehe in dem Brief: wenn sie zu kommen gedenke, solle sie sogleich kommen. Der Doktor habe diesen Zusatz auch angeordnet. * * * * * Nach zwei Tagen war sie da. Sie war immer noch die Sonne aus dem Bilderbuch. Sie hatte sich gar nicht verändert. »Ich hätte dich überall erkannt. Unter tausend Menschen, auf einer Weltausstellung, wo es sei, gleich, ohne Frage,« sagte er. Sie lächelte ihm etwas mühsam zu. Sie hätte ihn nicht mehr erkannt. Das war ihr Büblein, das? Er lag im Bett oder vielmehr er saß, von allen Seiten gestützt. Seine Augen glänzten. Der Atem pfiff. »Das laß’ ich mir gefallen, daß du mir hast schreiben lassen,« sagte sie. Sie sagten ohne weiteres du zu einander wie ehedem. »Gestern Abend kam der Brief. Den ganzen Tag ist’s mir gewesen: es kommt etwas, es liegt etwas in der Luft. Ein Floh ist mir auf der Hand gesessen. Weißt du das nicht, daß man sagt: »Floh auf der Hand, ein Brief im Land?« Darauf kann man gehen. Dann hat mir die Katze den Butterteller hinuntergestoßen. Es hat schon lang ein Stück vom Rand gefehlt, es ist nicht schad drum. Er ist in tausend Scherben gegangen. Das bedeutet ein Glück. Und so noch mehr Sachen. Ich kenn’ mich da aus. Das linke Aug’ hat mich gejuckt. Das soll Tränen bringen. Dann ist der Brief gekommen, da hab’ ich’s gewußt.« Er lachte leise. »Das war doch nichts zum Weinen?« »Nein, nein,« sagte sie, »nicht grad. Aber weißt, ich bin so, mir läuft gleich das Wasser herunter. So hat’s meine Mutter auch gehabt. Weil du doch krank bist, das ist mir nicht recht. Dann wär ich am liebsten in der Nacht noch fortgegangen. Ich habe gemeint, es müsse noch ein Zug gehen oder ein Schiff. Du bist doch immer der gleich’ Hurra, haben die Leut’ gesagt. Jetzt habet ihr einander vierzehn Jahr’ nicht gesehen, es wird’s morgen auch noch tun. Aber mir ist es gewesen, als seiest du erst vorgestern von mir fort.« Da breitete sich nach und nach ein glücklicher Schein auf seinem Gesicht aus. Er deutete auf den Stuhl an seinem Bett: »Da setz’ dich hin und rühr’ dich nicht vom Fleck. Du brauchst mir nichts zu tun, die Schwester tut schon alles; sie ist gut und kann alles. Du brauchst nur da zu sein. Das ist so schön. Es ist, als ob du den ganzen See mitgebracht hättest.« Er atmete schwer und mühsam. Grau und verfallen sah er aus. »Er wird nicht sprechen dürfen, gelt Schwester?« fragte Jungfer Christiane. »O doch, er darf schon, so viel es ihn freut. Er spürt schon, was ihm gut tut.« Da wußte Jungfer Christiane genug, und daß es zu Ende ging. So hatte der Doktor auch gesagt, als ihre totkranke Mutter noch räsen Most verlangt hatte. »Schaden kann da nichts mehr.« Das brannte sie tief im Herzen. »Es ist ein Glück zum Heulen,« dachte sie. »Da haben die Zeichen recht geredet. Nun find’ ich ihn wieder, und so.« Sie ließ sich aber nichts anmerken. »Weißt du noch?« sagte sie, »wie du als Kind einmal krank gewesen bist und hast nicht reden sollen, und ich bin die Nacht bei dir gesessen, denn man hat dir wachen müssen. Da hab’ ich dir Geschichten erzählt, eine um die andere, um dich damit einzuschläfern. Und du bist auch ruhig gewesen, solang ich erzählt habe, wenn ich aber gedacht habe: jetzt ist’s gewonnen, dann hast du angefangen: mm -- mm -- und hast mir einen Puff gegeben; das hat geheißen: weiter. Und so hab’ ich die Nacht mit dir herumgebracht und am Morgen ist’s besser gewesen. Der Doktor hat aber gesagt (er ist keiner von den Feinsten gewesen) -- ein paar tüchtige Patscher seien auch ein gutes Schlafmittel und hätten nichts geschadet. So? hab’ ich gesagt, und wer hat denn gesagt, das Kind dürfe keinen Muckser tun und müsse mäusleinsruhig sein? Das ist von altersher so, daß Kinder schreien, wenn man sie haut. Er ist ein Junggesell gewesen; das ist nichts für einen Doktor.« Ein Lachen ums andere flog über das blasse Gesicht. »Das wird heut wieder so,« sagte der Kranke. »Ich will wieder einmal rücksichtslos sein dürfen und quälgeistig und alles. Immer sich beherrschen, das hält ja kein Mensch aus. Dazu hast du herkommen müssen. Ich habe das Schlafen ganz verlernt. Wenn sie mir Schlafmittel geben, träume ich schreckliche Dinge. Ich will wach liegen und du sollst mir erzählen. Bist du müde, Spielmutter?« »I wo werd’ ich denn müde sein,« sagte Jungfer Christiane. »Ich bin doch den ganzen Tag in der Eisenbahn gesessen, da hab’ ich mich auf lang hinein ausgeruht.« Die drei Stunden den Berg herauf zählte sie nicht. Die Schwester rückte einen Lehnstuhl her. »Die Nachtwache kommt von Zeit zu Zeit herein,« sagte sie. »Wenn Sie etwas brauchen, so läuten Sie nur. Wollen Sie denn aber wirklich dableiben?« Ja, ja, natürlich wollte sie. Da tat die Schwester einen langen Blick über ihren Kranken hin, weil sie nicht wußte, ob sie ihn am Morgen wieder finde. Sie sah aber, daß hier nun dennoch der Arm voll Freude für ihn war, den sie ihm gewünscht hatte. Und sie machte ihre Hände wieder auf und ließ die liebe Sorge der Frau, die bei ihm war. Da waren ja auch noch andere, die ihrer bedurften. Es kam sie aber nicht ganz leicht an. Denn eine Schwester hat auch ein menschliches Herz, sozusagen. * * * * * Jungfer Christiane saß in dem Lehnstuhl, hatte Filzschuhe an und ein Tüchlein um den Kopf gebunden. Denn die Nachtluft wehte kühl herein und das Fenster mußte weit offen sein, sonst konnte der Kranke nicht atmen. Das Herz wollte nicht mehr recht, die Lunge auch nicht. Wenn der kühle Strom über ihn hinging, so täuschte der ihm unermeßliche Luftreichtümer vor. »Also schlafen, das lernst du wieder,« sagte Jungfer Christiane. Das log sie nicht, sie dachte aber ja freilich an den Schlaf, den ihre Pfleglinge daheim in ihren Gärtlein schliefen. Er war in einer erregten Wachheit und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich’s lerne,« sagte er. »Probier’s einmal und erzähl’ mir Kindersachen. Keine Märchen, sondern von daheim, von damals, wie ich bei dir und am See daheim war. Nichts von jetzt und nichts vom Krieg, ganz friedliche Sachen. So Sachen zum Zudecken, zum Nicht-denkenmüssen.« Sie gab ihm ihre gute, hartgeschaffte Hand und er behielt sie. »Sei nur still, mach’ deine Augen zu. Weißt du noch, wie ich dich einmal mit nach Winggisreute nahm zu meiner Base Döderlein? Da warest du so selig den ganzen Tag und als die Nacht kam, geschah noch das Allerschönste: zwischen den zwei großen Betten, in denen wir Alten schliefen und die hart aneinander standen, war ein Gräbelein und in dem Gräbelein lag ein Tragkissen, ein blaues Kopfpölsterlein und ein Deckbettlein mit lauter rosa Pfingstnägelein darauf. »Für wen ist das?« hast du gefragt. Und ich: »Das ist ein Hasennest, glaubst du’s? oder eins von den sieben Geislein schläft darin? oder wer?« »Oder ich?« hast du ganz glückselig gesagt, denn so etwas Schönes, wie ein Bett in einem Gräbelein zwischen zwei Müttern, das hat es sonst nirgends gegeben, so viel dir bekannt gewesen ist. Und gar die Pfingstnägeleinsdecke: man hat dran riechen können und hat dann niesen müssen, so stark hat sie nach Nägelein geduftet. Und als wir wieder heimgekommen sind und du hast in dein Gitterbett liegen sollen, da hat sich deine Ahne gar nicht zu helfen gewußt, denn du bist neben dem Bett auf dem Boden gesessen und hast an einem fort gejammert: »ich will wieder ins Gräbele liegen.« Es ist aber weit und breit keins dagewesen. Ich bin aber grad am Haus vorbeigegangen, da hat sie mich angerufen: »du hast mir etwas Schönes angerichtet, der Bub’ will partout nicht mehr in sein Bett.« »Ach warum nicht gar,« hab ich gesagt. »Wo ist er denn? so, Richardle, jetzt machst du einmal deine Augen zu, ganz fest, dann trag ich dich ins Gräbele.« Und hab dich auf den Arm genommen und die Stiege hinauf und wieder hinunter getragen und durch die Stube und Küche hindurch und wieder in die Schlafkammer und ganz sachte in dein Bett gelegt. »Laß die Augen zu, ganz fest,« hab ich gesagt, »und dann riechst du die Nägelein. Ich muß selber schon niesen davon. Hazi.« Und richtig, du hast sie auch gerochen und die Augen fest zugedrückt dabei in der Angst, es sei am End sonst nichts. Dann bist du eingeschlafen, denn die Heulerei ist auch nur Übermüdung gewesen. Am Morgen aber war alles recht: das Gitterbett und das Daheimsein, alles. Mach’ die Augen zu. Weil ich grad vom Niesen sage: einmal hast du mich ins Herz hinein gedauert. Ich hab’ deine Ahne in die Kirch’ gehen sehen. Sie ist bald gegangen, schon beim Anderläuten, das hat sie immer so gehabt. Dich hat sie im Höflein gelassen, da hat dir nichts passieren können, denn die Tür ist zugewesen und du hast dort drinnen mit Holzscheitlein gespielt, daraus hast du Häuser und Türme gebaut. Wie ich vorbeigegangen bin, hab’ ich in das Höflein hineingeguckt. Da hat dich grad ein Niesen angewandelt und weil kein Anrufen erfolgt ist, hast du um und um geguckt, ob niemand da ist, und dann hast du ganz gottergeben selber gesagt: helf’ dir Gott, Richardle. Denn so hat sonst immer deine Ahne gesagt. Und hast wieder weiter gespielt. Mich aber hat’s verbarmt, ich kann’s nicht sagen, wie. Denn ein Kind, das zu sich selber helf dir Gott sagen muß, wenn es niest, das ist mir als das allerverlassenste vorgekommen. Von da an hab’ ich dich noch viel mehr bei mir gehabt.« Er schlug die Augen auf. Es lag ein Schein von Kinderglück darin, ein leises, fernes Streiflein Sonne. »Das ist wie gestreichelt.« »Schlaf, Kind, mach die Augen zu. Einmal hat mich’s angewandelt, daß ich dich mit in die Kirch’ genommen habe. Mußt aber ganz ruhig sein, hab’ ich gesagt und hab’ dir ein Helglein aus meinem Gesangbuch zum Ansehen in die Hand gegeben. Das ist auch so weit gut gewesen, so lang man gesungen hat und so lang der Pfarrer am Altar gewesen ist. Aber dann ist er verschwunden und auf einmal hoch an der Wand wieder aufgetaucht auf der Kanzel. Hinter ihm eine Säule und die Kanzel wie angepappt an die Säule, denn man hat die Treppe von uns aus nicht gesehen. Da hast du zuerst eine Weile ganz starr hingesehen und dann hat neben mir eine Unruh’ angefangen, es ist mir angst und bang geworden. Hin und her bist du gerutscht und auf einmal -- ich hab’ dir nicht mehr den Mund verheben können -- hast du mit deinem hellen Stimmlein hinausgerufen: wie kann denn der wieder runter? Der Pfarrer ist schier aus dem Text gekommen, er hat sich müssen schneuzen und räuspern, und die ganze Kirch’ hat sich umgedreht und den Hals gestreckt. Es ist mir gewesen, ich solle in den Boden sinken. Aber ich hab’ mich schnell gefaßt. Jetzt in Schanden mit dir abziehen zur Kirche hinaus? hab’ ich gedacht. Grad’ nicht. Und hab’ schnell und leis zu dir gesagt: wenn du ganz ruhig bist und kein Schnäuferle mehr tust, dann zeig’ ich dir’s nachher, wenn er fertig ist mit Predigen. Ich weiß wie, sei ganz leis. Und es ist alles vollends gut vorbeigegangen. Aber in die Kirche hab’ ich dich nicht mehr mitgenommen. Dagegen an den See. Das wirst du alles noch wissen, oder nicht?« Er nickte nur ein klein wenig, ganz sachte, wie um etwas Schönes nicht zu verscheuchen. »Du holst mir das alles wie aus einem tiefen Brunnen herauf, da war es zugedeckt und hat geschlafen. Weck’ es auf. Es wird mir ganz leicht davon, es ist mir viel besser, mein Herz schlägt ganz ruhig, so ruhig hat es lang nicht geschlagen.« Da hob sie Bild um Bild aus dem treuen Schrein ihres Herzensgedächtnisses. »Weißt du noch das kleine Brigittlein, es ist ein ganz feines, blondes gewesen und hat eine schöne, schöne Mutter gehabt, die ist mit ihm an den See gekommen zum baden. Und sie hat das Brigittlein auf ihren Rücken genommen, wenn sie hinausgeschwommen ist. Da bist du in deinem dicken Anzug vor mir gestanden und hast begehrt: schwimm auch mit mir hinaus. Aber ich hab’ mir’s nicht getraut, denn was hätten die Leut’ dazu gesagt? Was aber eine rechte Mutter ist, die nimmt auch zwei Kinder auf den Buckel. Die schöne Frau hat nicht viel Werks gemacht, wie sie dein großes Verlangen gesehen hat. Die Kleider herunter und dich hinter das Brigittlein gesetzt, rittlings auf ihren Rücken. Und hinaus in den blauen See. Das Brigittlein hat sich an ihrem Hals gehalten und du dich an dem Kind. Das ist eine Seligkeit gewesen und ein Bild zum malen. Aber auch ein Gezeter von den Nachbarsleuten, daß ich das erlaube. Sie sei eine berühmte Zirkusreiterin, hab’ ich nachher gehört. Aber eine gute Mutter und eine liebe und schöne Frau ist sie gewesen, mag sein was will. Mach’ die Augen zu. Weißt du noch den Schifferhannes? er hat ein ganz krummes Maul gehabt. Hannes, warum hast du so ein krummes Maul? hast du ihn gefragt. Da hat mich einmal der Blitz gestreift, hat er gesagt. Das glaub’ ich nicht. Dann läßt du’s bleiben. Hannes, was hast du in deinem Sack? -- (Denn er hat immer alle Taschen voll gehabt, mit Schnüren und Angeln und weiß kein Mensch was.) Was ich in meinem Sack hab’? Ein Nixle in einem Büchsle und ein silberigs Warteinweile und ein goldigs Haltdeinmäule. Und im andere? Im andern? einen Hummeler an einem Faden. Er hat dich gern mögen. Wie du so krank gewesen bist, hat er dir etwas gebästelt: einen Holzspälter und einen Säger mit beweglichen Gliedern. Wenn man sie auf den Ofen gestellt hat, daß sie warm geworden sind, so haben sie gesägt und gespalten. Weißt du noch, wie er dich einmal nach Lindau genommen hat im Nachen? Lindau ist eine wüste Stadt, da geh’ ich nimmer hin, hast du am Abend gesagt beim Heimkommen. So, warum denn? wie sieht sie denn aus? Ha, zuerst steigt man aus an einem Stäffele, wenn man da hinaufsteigt, dann kommt gleich eine Gasse mit einem Haus, da hängt ein Fisch an einem Stecken heraus. In dem Haus ist eine Stube, da sitzen lauter Männer und trinken Wein und Most und essen Käs. Und auf der Gasse regnet es den ganzen Tag. Ich geh’ nicht mehr hin. Weißt du’s noch? Ich hab’ dich dann einmal mitgenommen an einem schönen Frühlingstag, als alles voller Blüten gewesen ist, in den Gärten und überall. Und hab’ dir den Löwen gezeigt am Hafen und am Leuchtturm und die vielen Schiffe, und die Möven. Soldaten sind gekommen, und Musik hat gespielt und viel geputzte Leut’ sind herumgelaufen und alles ist voller Sonne und Leben gewesen. Da hast du gesagt: der Hannes ist mit mir an einen letzen (falschen) Ort hingefahren, oder du. Oder gibt es zwei Lindau, ein Sonntags- und ein Werktagslindau. Weißt du’s noch?« »Daß du das alles noch weißt und alles für mich aufgehoben hast,« staunte der Kranke. »Mir ist oft etwas eingefallen, eine Geschichte, die du mir erzählt hast, oder ein Mensch oder ein Ding aus jener Zeit. Aber an der Geschichte hat der Schluß gefehlt und an den Menschen etwa grad das Gesicht oder der Name. Es war wie ein zerrissenes Bilderbuch. Deines aber ist noch ganz und wie neu. Träumst du denn auch noch so merkwürdig wie einst? und kannst es nachher noch erzählen? das weiß ich noch besonders gut. Du hast es mir immer erzählt, und gern, denn ich habe dies abgenommen wie eine Blume oder einen Apfel. Sag?« Da freute sich Jungfer Christiane aus ihrem Herzen heraus, daß er das noch wußte. »Ja,« sagte sie, »das hab’ ich an mir behalten. Darüber mag eins sagen was es will, das ist halt so bei mir, daß ich absonderlich träume und auch, daß ich’s oft noch weiß.« Und sie schmunzelte, wie eins, das mit Mühe etwas zurückhält, das heraus will. »Sag’s,« ermunterte er. »Also zum Beispiel da neulich ist mir meine Großmutter im Traum begegnet, ganz frisch und vergnügt und hat ein Fest angerichtet in ihrem Haus. Und wie man so heiter beisammen ist, erfahr’ ich, daß sie sich mit einem jungen Soldaten verlobt hat. Der ist auch dagewesen, da bin ich schwer erschrocken und hab’ gesagt: ach ihr Zwei, tut doch das nicht, es gibt ein Unglück und ist eine Unnatur. Meine Großmutter aber hat mich ein bißchen spöttlich angelacht, und er auch, und er hat gesagt: »es ist ein Kreuz, wenn man nichts sieht. Sie ist doch in der Ewigkeit wieder jung geworden. Und jetzt freut sie’s halt wieder.«« Aber weil Jungfer Christiane jetzt schon am Erzählen war und weil um den Mund ihres Bübleins so ein Lachen spielte, lud sie noch ein wenig ab und berichtete noch einmal einen Traum, der war ihr erst vor ein paar Nächten widerfahren, und sagte: »Vor kurzem ist es so gewesen: es ist ein ganzer Strom von Menschen miteinander ausgezogen, einem Berg zu, durch Wiesen und Felder hindurch. Ich mittendrin. Auf einmal hab’ ich gewußt, daß wir alle miteinander zu meiner Hinrichtung gehen, und daß ich soll geköpft werden. Das ist mir befremdlich gewesen, denn ich bin es grad jetzt erst inne geworden und habe keinen Schimmer gehabt, warum. Also ich hab’ den Schultheißen gefragt, der ist neben mir gegangen. »Ach,« hat er gesagt, »Jungfer Christiane, fraget mich nicht, denn ich darf’s euch nicht sagen, es ist ein Geheimnis. Aber seid nur ganz getrost, denn es wird eure Ehr’ und Ansehen durchaus nicht davon gestört. Es betrifft das Vaterland.« Da ist es mir auch recht gewesen und ich bin ganz getrost dahingewandelt. Es sind aber meine Leut aus der Freundschaft hastig an mir vorbeigestürmt und wie ich gesagt habe, sie sollen doch mit mir gehen, so haben sie vorausgedeutet, daß sie mich dort erwarten und sich einen guten Platz erobern wollten zum Zusehen. Überdem kommen wir an ein scharfes Eck am Wege und wer steht dahinter? eine ganze Gesellschaft von Männern in roten Kitteln und Hosen, die haben sich tief geneigt. »Darf ich, Jungfer Christiane,« sagte der Schultheiß, »euch euer Henkerkollegium vorstellen?« Und will anfangen, die Namen herzuzählen. »Ach,« sag’ ich, »lasset es gut sein, Herr Schultheiß. Wenn mein Kopf jetzt dann herunterkommt, kann ich’s doch nicht behalten.« Da ließ er’s. Darauf nach einer Weile flammt ein helles Feuer auf einem Hügel auf. »So soll ich dann verbrannt werden?« frag’ ich. »Ich habe doch gemeint, enthauptet.« »Das sollet ihr auch,« sagt der Schultheiß. »Aber weil ein kühler Morgen ist, so habe ich ein bißchen einbrennen lassen.« Und so kommen wir mit der Weile an eine Wand, davor ist ein schräges Brett gelegen und hat oben an einem Loch in der Wand geendigt. Auf das Brett habe ich mich unverzagt hingelegt und den Kopf wie auf ein Kissen in die Wand hinein und hab’ die Augen zugemacht. »Jetzt kommt’s,« hab’ ich gedacht. Da ist von innen etwas heruntergesaust und hat mir den Kopf abgeschlagen. Den Schlag hab’ ich noch gespürt im Nacken, wie ich aufgewacht war.« Da kam dem Kranken ein Lachen von innen heraus, so mühsam und hart auch sein armer Leib rasselte und klopfte und die Luft aus- und einzog, wie durch ein rostiges, löcheriges Sieb. Es war doch noch schön auf der Welt, es freute ihn, es lächerte ihn. Er sah die Jungfer Christiane an und seine Lippen formten ein Wort, das war ihm soeben aus einem tiefen Geheimfach heraus entgegengesprungen. »G’schichtleslügere,« sagte er zärtlich und innig. Wenn er gesund gewesen wäre und hätte einen Schatz gehabt und hätte zu ihm gesagt »Herzensschatzele« oder »Seelenmockele«, er hätte es nicht herzlicher und traulicher sagen können. Und auch: es wäre ihm nicht freudiger abgenommen worden. Das war das erstemal in Jungfer Christianens Leben, daß ihr das Wort süß einging und gar keinen Stachel hatte und keine Ehrenkränkung war, auch nicht die mindeste, obgleich es diesmal gar nicht paßte. Denn es hatte ihr wirklich und wahrhaftig so geträumt, jedes Wort hell und klar. Aber mochte sie doch so geträumt haben und mochte es doch wahr sein, das kam ja hier gar nicht in Betracht. Fortan war ihr das Wort innerstes Verstehen, Freude, Wundern und zärtliche Neckerei, alles in einem, und ein Ehrentitel, ja Stempel auf ihre eigene Wesenheit. Darauf geschah es bald, daß sich trotz der langen Ruhe in der Eisenbahn ein Schlaf auf ihre Augenlider senkte und auch der Kranke, die mütterliche Hand in der seinen, ein Weilchen in sich hinein schlummerte, so daß die Nachtwache, als sie geräuschlos und mit abgeblendetem Licht die Türe aufmachte und hereinsah, dieselbe still wieder schloß, beiden den ruhigen Augenblick gönnend. Er war ihnen auch zu gönnen und war nicht lang. Jungfer Christiane kam jäh zu sich an einem Stöhnen, das in ihr Ohr drang und sah ein hilfloses Leiden neben sich. Ein Gesicht voller Angst und Grauen, ein stürmisch schlagendes Herz und ein kämpfendes Atmen. Das war erst so recht das Leiden und das heftig sich wehrende Leben. Was sie bislang gesehen hatte, war eine sanfte Pause gewesen, eine kleine freundliche Insel, an der das Schifflein ausruhend angelegt hatte, eh’ es der Strommündung entgegenfuhr, die es in ihre brausenden Wirbel zog. Sie wollte läuten, die Nachtwache rufen. »Nein, laß,« keuchte er. »Es läßt nach -- es ist im Schlaf gekommen -- es ist immer so. -- Ich muß dich etwas fragen -- sobald ich’s kann. Bleib’.« Da setzte sie sich wieder nieder und sah hilflos zu, und spürte auch selber ihr angstvoll klopfendes Herz, das mitfühlte, als ob ihr ein leibliches Kind litte. Nach einer Weile wurde es ruhiger. Die krampfhaften Züge lösten sich in einer großen Mattigkeit, alles war schlaff und lapp und große Schweißtropfen standen auf der blassen Stirn. Die trocknete sie ihm sorglich ab. Draußen standen in hoher, stummer Herrlichkeit die Sterne am Sommernachthimmel. In den Föhren rauschte es, es hätte können auch ein Wasserrauschen sein für einen, der es in sich hatte, nach einem Wasser hinzuverlangen. »Ich meine, ich höre den See,« flüsterte geschlossenen Aug’s der Kranke. »Ich habe ihn oft gehört im Schlaf. Es ist mir leid, daß ich ihn nicht wieder gesehen habe. Ich wollte immer einmal hinfahren. Ich habe so vieles tun wollen in meinem Leben. Davon ist nichts geschehen. Ich habe noch gar nicht gelebt.« Es kam alles so mühsam heraus, es war ihr, sie müsse ihn geschweigen, wie einst als Kind, weil ihm das Sprechen schwere Arbeit war. Aber sie tat es nicht. Sie neigte nur ihr Gesicht nah zu ihm hin. Er mußte sie ja vollbringen, die Arbeit. »Immer habe ich studiert. Das war alles Vorbereitung aufs Leben, noch kein Tun, nur ein Aufnehmen. Dann kam der Krieg. Da war ich lauter Begeisterung und wollte siegen helfen, in die Schlacht stürmen, alles. Davon geschah auch nichts. Ich war in keiner Schlacht. Wir haben immer nur Stellung gehalten. Die Granaten schlugen herein in unsere Gräben und nahmen Kameraden weg. Die Hölle tobte über uns hin. Stehendes Wasser war in den Gräben oft und lang, und Schmutz und Kälte. Alles blieb zurück, was das Leben schön gemacht hatte, langsam, langsam entglitt einem alles. Auszuhalten, o vieles, auch Schreckliches genug. Aber keine Tat. Ich wurde krank und verbarg es und schleppte mich hin. Und nun --« er stockte. Er hatte fragen wollen: sag’ mir, ob es wahr ist, daß ich sterbe? ich spüre es, aber täusche ich mich, wenn ich dennoch ans Gesundwerden glaube? oder täusche ich mich, wenn ich den Tod in mir spüre? Aber er fragte nun doch nicht. Ein scharfes Lüftlein war über ihn hingefahren, vorhin, mitten im ärgsten Kampf und Krampf. Das hatte irgendwo hergeblasen, wo er noch nie gewesen war. Aus einer weiten Ferne, aus einer großen Tiefe oder Höhe. Das geschweigete ihm das Wort im Munde. Ein hoher, gestrenger und bitterer Ernst trat unausweichlich an ihn heran. Er durfte nicht fragen. Er mußte ihn zuerst anhören. »Nun komme ich nicht mehr hin,« vollendete er seinen Satz. »Nun kann ich von allem, was ich wollte, nichts mehr tun.« Da übernahm es ihn, daß er um sein junges Leben weinen mußte. Jungfer Christiane wußte ihm keinen Widerspruch. Allzutief verstand sie seine große Not. Auch war sie, mochte sie nun G’schichtleslügere heißen oder nicht, von großer Wahrhaftigkeit und hätte um keinen Preis ihr liebes Kind belügen können, es werde schon bald wieder gesund sein und dann an den schönen See gehen. Sondern sie sagte zu ihm: »Komm, komm, sei ruhig, mach’ deine Augen zu. Jetzt bin ich doch zu dir gekommen. Alles will ich dir sagen, wie es am See aussieht und wie es da zugeht, dann ist dir’s, du sehest ihn und seiest dran. Stellung halten, das ist auch geschafft. Das müssen viel Leut. Die daheim müssen auch Stellung halten. Wär’ traurig, wenn das für nichts gälte.« Und sie nahm schöne, zarte und kräftig leuchtende Farben aus ihrem Herzen heraus und malte ihm alles vor Augen. Wie die Möven mit ihren weißen Schwingen über das blaue Wasser hinfliegen und in der Sonne glänzen und wie sie schreien in den frischen Morgen hinein. Wie die Rebgelände so grün und lustig dastehen, und wie sie vor Kurzem in der Blütezeit so starken Duft ausgehaucht haben, daß man meinen mußte, ein Krankes, wenn es ihn einatme, müsse dran gesunden. Und wie die Stöcke jetzt voller Trauben hangen, klein und grün noch, aber im Herbst -- weißt du’s noch? -- durchsichtig, goldengrün und blauschwarz, süß und kräftig. Wie die Kornfelder, landeinzu, in schweren Ähren stehen. Wie eine Mauer, noch nie sind sie so gestanden, jetzt sind sie gelb wie altes Gold und erntereif. Wie die Lindenbäume in Blüten sind und duften, stark und gewürzig und wie vieltausend Bienen darin summen und konzertieren, dieweil sie den Honig in ihre Stöcke sammeln. Und als sie sah, daß die bittere Trauer und die scharfe, angstvolle Spannung in dem jungen Gesicht sich milderte und ein liebes Aufhorchen Platz nahm, da gewann sie größeren Mut und bessere Worte und sagte ihm von den friedlichen Gassen, auf denen Nachts der Lichtschein aus den Heimaten liegt, und von dem Kirchlein, um das sich die Schlafenden unter ihren Gärtlein gesellen. Jetzt blühen da die Rosen, Lilien, Rittersporn und Akeley. Von der hohen Mauer mit den Fensterbögen, durch die man auf See und Himmel hinaussieht und von der goldenen Bahn der sinkenden Sonne. Von sonnigen Wiesen, Brunnen und Kindergeschrei. Ganz tief hinunter langte sie in ihr Herz und Gemüt. Alle Sinne und Gedanken mußten ihm dienen und Farben, Bilder und Worte herzutragen. Wenn sie sich selber nicht ganz und gar vergessen hätte, sie hätte wohl staunen müssen über sich selber und daß sie zu dieser Stunde mit allen Dichtern in der Welt hätte Hand in Hand gehen können, und war doch alles lautere Wahrheit, was sie sagte. Sie hielt aber inne, als der Kranke auf einmal lächelte wie erlöst und wie ein Mensch, von dem eine große Qual abgefallen ist. »Das habe ich alles beschützen helfen,« sagte er glücklich. »Daß das alles im Frieden liegt --«, er atmete befreit auf. »Das ist doch auch der Mühe wert.« Da hatte Jungfer Christiane nun ihren großen Wunsch erfüllt und aus ihrem Herzen heraus etwas getan, was sonst niemand als sie tun konnte, und es war ein Soldat gewesen, dem sie es getan hatte, ganz wie es sein mußte. Und sie war in dieser Nacht in den Strom untergetaucht, dessen Wellen aus rotem Herzblut bestehen, da war sie auch darin zu einer Welle geworden und hatte auch ihr Büblein zu einer werden lassen. Aber sie dachte nicht daran, daß es so sei und wußte es nicht. Doch aber sah sie aus der Ferne das Schiff daherfahren, das den Sieg und den Frieden bringt und sah das beides, Sieg und Frieden, noch einen Tag lang sich in den Augen und auf dem Gesicht des jungen Kämpfers ausbreiten, dem sie den schweren Stein aus dem Weg geschafft hatte. Dann, als der nächste Abend niedersank, drückte sie ihm die Augen zu. * * * * * Es ging ein stiller Zug durch Wald und Wiesen und grünes Gelände talabwärts zu einem Kirchhof, der lag an einer sonnigen Halde und war anzusehen wie ein freundlicher Garten. Kameraden trugen den Sarg, der war mit ein paar Kränzen geschmückt. Was gehen konnte, ging mit. Mit den Schwestern ging Jungfer Christiane. Im Tal unten gesellten sich Leute dazu, viele Frauen und auch ein paar Männer und ein Lehrer mit Schulkindern, die sangen am Grabe ein andächtig schönes Lied. Neben ein paar frischen Hügeln war ein Bett gemacht, da hinein senkten sie den Sarg. Es sei Heimatboden, sagte der Pfarrer und gedachte auch derer, die draußen starben in der Fremde und im Feindesland. Da hoben die Weiber an zu schluchzen, denn die Ehre, die sie dem Fremden antaten, war auch den ihrigen vermeint. Es waren ihrer schon viele gefallen, die hatten sie nicht zur Ruhe geleiten können. Nun ließen sie ihr Herz walten und weinten über die Gräber der Unbekannten hin und gelobten sich auch, sie zu pflegen. Das alles, und daß man über das Grab hinschoß, Beten und Singen und Glockenläuten, und die Blumen, die hinunterfielen, nahm Jungfer Christiane als einen reichen Zins ihrer Reise und ein Erbe in sich hinein, da sie die Einzige war, die ihm nahe stand, den man hier begrub mit Dank und Ehren. Als sie aber vom Grab hinweggingen, hörte sie hinter sich eine Stimme sagen: »Das wird, denk’ ich, die Mutter sein?« und eine andere antworten: »Behüte, es sind keine Verwandten gekommen. Es ist, soviel ich weiß, eine alte Kindsmagd oder Nachbarin von früher her, sie geht ihn nicht näher an.« Da hatte sie gleich ihr Teil und einen kleinen Stich ins Herz. Der Lehrer kam aber zu ihr her und fragte, ob sie nicht wolle in die Kirche kommen, es sei da eine schöne Musik zu hören auf der Orgel und Gesang von einer Sängerin, lauter ernste, schöne Lieder, und es sei noch Zeit vor dem Zug. So etwas höre man nicht alle Tage. Da ging sie hinter den Leuten drein und saß andächtig unter ihnen und die brausenden Orgeltöne strömten über sie hin. »Das ist,« sagte sie zu sich selber, »vorhin gewesen, daß du nicht hochmütig wirst.« Und zog sich den Splitter aus dem Gemüte. »Das tät dir passen, wenn man dich als die Mutter ansehen möchte. Oder auch gar, wenn du sie wärest.« Mit dem kam die Sängerin und sang mit einer Stimme wie eine Glocke ein Halleluja übers andere in die Kirche hinein. Und dann wieder die Orgel, ganz zart und fein und manchmal wie aus weiter Ferne. In diese linden Töne eingehüllt, zog Jungfer Christiane das Fazit ihrer Kriegstätigkeit. »Also es ist eine Gnad’ von Gott, daß ich hab’ dürfen dem Büblein helfen seinen Abschied machen. Soviel hätt’ ich mir gar nicht geschätzt. Wir können nicht alle große Dinge tun. Und jetzt geh’ ich heim an meinen Platz. Weil doch alle müssen helfen Stellung halten.« Über dem allem vergaß sie die Leute um sich her und auch ein wenig die Musik, doch aber nicht so, daß ihr nicht etwas tröstlich und hoch den Sinn erhoben hätte. Sie wurde es nur nicht so recht gewahr. Es war auch wie ein Strom, der trug sie durch eine Stunde hindurch lind auf seinen Wellen dahin. Auf einmal aber brauste ein Jubelsturm von oben herunter und nach dem Sturm gingen die Türen auf, da strömte Licht und Sonne hinein und die Leute standen auf und verliefen sich. Da stand auch Jungfer Christiane auf und ging durch die Leute hindurch an die Bahn. Dann kam der Zug, der trug sie heimzu. Im gleichen Verlag sind von Anna Schieber erschienen: Alle guten Geister ... Roman. 43.--45. Aufl. Ungeb. Mk. 4.--, gebunden Mk. 5.--. =Velhagen & Klasing’s Monatshefte=: »Mit heller Freude und daneben mit einem verwunderten Kopfschütteln muß ich heute von einem Buche erzählen, das anders ist als andere Bücher, das wie eine schöne Predigt ist und doch mehr als eine Predigt, das Menschen vor uns hinstellt, die wir zu Vätern, Brüdern, Schwestern, Freunden haben möchten, das alles Gute in uns anspannt, das uns fröhlich und getrost macht, und das nach diesem Leben, in dem die Geigen oft so unrein klingen, uns ein anderes ahnen läßt, wo sie rein tönen. Wie ein Märchen aus einer schönen, verlorenen Heimat ist das Buch, aber vielleicht wie jedes gute Märchen voll der höchsten Wahrheit, und hinter ihm steht eine so tröstliche Zuversicht, eine so tapfere Gewißheit, eine so klare Menschlichkeit, daß unser Herz längst Ja und Amen zu dem Buche sagt, wenn der kritische Verstand mit leisem Vorbehalt noch bei dem »Ja -- aber« ist!« »... All denen, die sich an Raabe erquicken, die aus dem Jörn Uhl einst »Mut des reinen Lebens« tranken, sei dieses Buch empfohlen, das gewiß einen Abstand von den genannten Meisterwerken hält, aber verwandter Art und einen Teil ihrer Kraft in sich hat.« =Dr. C. Busse.= Wanderschuhe und andere Erzählungen 11.--15. Tausend. Ungeb. Mk. 2.50, gebunden Mk. 3.50. =Basler Nachrichten=: »Es sind feine stille Geschichten ohne viele und große Ereignisse; aber es ist eine so trauliche Zwiesprache mit den einfachsten Dingen, eine solche Verklärung des Krähwinklichen, Kleinstädtischen, so viel Andacht zum Unbedeutenden, so viel »Achthaben auf die Gassen«, daß man wohl stellenweise von einem süddeutschen Raabe sprechen darf. Was sie aber bietet, trägt nicht den Stempel talentierter Gefolgschaft, sondern läßt höchstens auf vorhandene Wesensverwandtschaft schließen«. Ferner: ... und hätte der Liebe nicht Weihnächtliche Geschichten. 41.--50. Tausend. In Lwd. geb. Mk. 1.--, in Leder geb. Mk. 2.50. =Dr. C. Busse in Velhagen und Klasing’s Monatshefte=, Febr. 1913: »Es sind kleine Erzählungen, rührend, herzstärkend, gütig; sie predigen von der Liebe, die das Höchste ist, in der wir brennen und verbrennen sollen, die sich selbst gibt. Reinstes Christentum, vor dem wir alle uns beugen, weil es ja nichts anderes ist als reinstes Menschentum, strahlt hier durch erzählerische Verkleidung, und wer auch _nach_ Weihnachten noch weihnachtlich gestimmt ist, soll das Büchlein mitnehmen.« Amaryllis und andere Geschichten. 21.--30. Tausend. In Lwd. geb. Mk. 1.--, in Leder geb. Mk. 2.50. =Nationalzeitung= (Basel): »Wieder genießen wir die schönen Vorzüge der Dichterin: lebendige und liebe Beobachtung, oft starke Stimmung, oft feinen Duft und einen eigentümlich anziehenden ganz romantischen Klang.« Sum, sum, sum! Ein Liederbüchlein für die Mütter und ihre Kinder. Mit farbigen Bildern von _Else Rehm-Vietor_. 3. Tausend. Geb. Mk. 2.20. =Freie Bayerische Schulzeitung=: »Bei unserer Ausschau nach neuen Bilderbüchern begegnen wir zunächst einem lieblichen Bändchen, das gar nicht groß tut. In feinbuntem modischem Format kann es sich als Bilderbuch wohl mit den besseren Sachen von Mauder und Caspari messen. Neben kräftig Landschaftlichem fällt die Milderung der Buntheit durch Verwendung origineller Halbtöne und die drollige Naivität angenehm auf. Und erst die Texte! =Hier erleben wir etwas ganz selten gewordenes: Die Verse heben die Bilder noch. Ja, es sind wirklich wieder einmal echte Dichtungen darunter, die das Thema von Kind, Vögelein und Blümlein in einer neuen Tonart geben, und Mutter wie Kind zu wohlig warmer Herzenszwiesprache anzuregen vermögen.=« Druck: Christliches Verlagshaus, Stuttgart. Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Korrekturen: S. 59: hinliegen → hinlegen dann lieber gleich {hinlegen} und sterben S. 143: mißlaunt → mißgelaunt war {mißgelaunt} aus irgend einem Grund *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIMAT: ERZÄHLUNGEN *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for an eBook, except by following the terms of the trademark license, including paying royalties for use of the Project Gutenberg trademark. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the trademark license is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. Project Gutenberg eBooks may be modified and printed and given away—you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. 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